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German Pages 396 Year 2016
Kurt Röttgers Identität als Ereignis
Sozialphilosophische Studien Herausgegeben von Thomas Bedorf und Kurt Röttgers | Band 11
Editorial Die Reihe Sozialphilosophische Studien siedelt sich auf einem Problemfeld an, das durch das Soziale im weitesten Sinne markiert ist – auf einem offenen Feld, auf dem sich Überschneidungen und Konvergenzen, Konfliktzonen und Kritikpotenziale mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen begegnen. Sozialphilosophie, wie sie die Reihe vertritt, versteht sich demnach nicht als eine philosophische Disziplin unter anderen, sondern als Querschnittsprogramm. Wie »die Kultur« in den Kulturwissenschaften, so ist »das Soziale« ein Operator und kein Gegenstand: Das Soziale lässt sich nicht sagen, sondern es zeigt sich in seinen Vollzugsformen. Entsprechend werden in der Reihe sowohl grundlegende systematische Studien zu den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Sprechens über das Soziale als auch materiale Untersuchungen publiziert, an denen sich Erscheinungsweisen und Strukturformen des Sozialen ablesen lassen. Die Reihe wird herausgegeben von Thomas Bedorf und Kurt Röttgers.
Kurt Röttgers (Professor i. R.), lehrte bis 2009 an der FernUniversität in Hagen. Er ist Ehrenmitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und Mitherausgeber der »Sozialphilosophischen Studien« (transcript). Sein Forschungsschwerpunkt ist Sozialphilosophie.
Kurt Röttgers
Identität als Ereignis Zur Neufindung eines Begriffs
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Inhalt 0. Die Identität des medialen Selbst – Problemaufriß
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0.1 Identität in der Spätmoderne 7 0.2 Der Neueinsatz bei der Problematik in der medialen Postmoderne 11 1. Geschichte und Identität in sozialen Prozessen 2. Medialität
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9
Zum Begriff des Mediums Zwischenbilanz Was ist ein Medium? In der Mitte: Das Medium. Mittel – Mitte – Mit Das Netz Ansätze der Medienphilosopien Luhmanns Medienbegriff Andere Theoretiker der Immanenz von Kommunikation Die Angeletik (Capurro)
3. Sozialer Wandel und die Frage der Identität 4. Das Selbst in Kommunikation
4.1 Seelenleiden im kommunikativen Text 4.2 Kritik 5. Identität, sozial
5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8
Vorbemerkung Hermeneutik Selbst-Verfügung Der Dritte Wer hat überhaupt Identität? »Erzähle dich selbst« Erzählungen und Handlungen Risiken der Nähe, Risiken der Distanz
13 49
49 59 60 94 106 116 143 147 154 157 161
161 167 177
177 185 186 190 191 193 205 207
6. Identität und Synchronisierung
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8
Mythos – Logos – Narration Individuelle Synchronisierung und objektive Geschichte Symptomatik /Authentizität Synchronisierung als Disziplinierung Tanz und andere Synchronisierungen Synchronisation und Identität Gleichzeitigkeit Synchronizität
7. Spruch und Widerspruch (Dialektik?)
7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6
Identität – Text – Selbst Identität in der Zeit Abweichung in Geschichten – Historische Experimente Kommunikation, synchronisierend Kommunikationsstörungen Dialektik
8. Identität als Ereignis
8.1 8.2 8.3 8.4 8.5
Transitorische Identität »ICH ist ein anderer« Identität als Prozeß im Rahmen des kommunikativen Textes Identität als Ereignis Folgerungen und Rückblicke
Literaturverzeichnis Index nominum et rerum
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211 220 223 224 225 228 229 232 237
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0. Die Identität des medialen Selbst – Problemaufriß
0.1 I DENTITÄT
IN DER
S PÄTMODERNE
1976 stellte Thomas Luckmann im Arbeitskreis »Poetik und Hermeneutik« mit Bestimmtheit fest: »Es wird kaum bestritten werden können, daß über persönliche Identität und verwandte Begriffe noch nie so viel geredet und geschrieben worden ist, als heutzutage.«1 Und die Herausgeber des Bandes zu der Tagung nennen das Thema »Identität« »ein gegenwärtig breit und heftig diskutiertes Thema.«2 Zwar stellt Luckmann als Grundsatz fest: »Persönliche Identität als Daseinsform des Menschen wird wohl überall dort angenommen werden müssen, wo man überhaupt vom Menschen sprechen will.«3 Aber als »Daseinsform« gehöre sie zu den Selbstverständlichkeiten, über die man eigentlich nicht zu reden braucht. In den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts änderte sich das: Alle Welt redete über Identität und Identitätskrisen. Warum? Und daher fragt Luckmann weiter: Haben die Menschen (»massenweise«) keine anderen Lebensprobleme, so daß »sie sich selbst zum Problem werden können?«4 Er unterstellt sogar, daß eine derartige Problematisierung von Identität in der Menschheitsgeschichte »außerordentlich selten« gewesen seien. Noch 2011 stellt Norbert Meuter fest, daß sich der Begriff der Identität »zu einem der zentralen Grundbegriffe der Kulturwissenschaften« entwickelt habe.5
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Th. Luckmann: Persönliche Identität, soziale Rolle und Rollendistanz. In: Identität, hrsg. v. O. Marquard u. K. Stierle. München 1979, p. 293-313, hier p. 293. l. c., p. 11 Th. Luckmann: Persönliche Identität, soziale Rolle und Rollendistanz, p. 293. ibd. N. Meuter: Identität. In: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hrsg. v. P. Kolmer u. A. G. Wildfeuer. Freiburg 2011, II, p. 1199-1214, hier p. 1207.
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Angesichts der ausufernden Diskussion um Identität in den Siebzigerjahren bemerkt Odo Marquard6 süffisant: die Diskussionsfreude zum diesem Thema »bringt nicht nur Ergebnisse, sondern auch Verwirrungen.« Heute aber ist Identität kein vieldiskutiertes Thema mehr. Daher stellen sich zwei Fragen: Erstens, wie kam es damals zu dieser Dramatisierung der Identitätsthematik? Zweitens, was widerfuhr dem Thema, daß es heute als »alter Hut« erscheint? Ist es nur so, daß das Thema »ausgelutscht« ist, also entweder die Verwirrungen endgültig beseitigt oder aber so sehr gesteigert wurden, daß es unsinnig wurde, sich weiter an der Diskussion zu beteiligen? Und: was heißt es für die Postmoderne, daß Themen in ihr gewissermaßen einfach absterben können und wie Epidemien einfach aufhören, weil alle jetzt hinreichend gegen das Thema geimpft sind? Zur Beantwortung der zweiten Frage soll das vorliegende Buch einen Beitrag liefern. Zur Beantwortung der ersten Frage ist ein kurzer Blick auf die philosophische Zeitgeschichte (die Spätmoderne also) angebracht. Was also machte im Ausgang der Moderne Identität zu einem Problemfeld? William James führte in seinen »Principles of Psychology« (1890) verschiedene Begriffe von »Selbst« ein, das »soziale Selbst« (=Identität) beruhe auf sozialer Anerkennung. Aber erst George Herbert Mead,7 der ebenfalls den Begriff »Identität« für die Problematik noch nicht verwendete, präzisierte das Konzept in der doppelten Perspektive erstens einer Konstanz oder Kontinuität von sozial bestimmten Verhaltensmustern und zweitens einer reflexiven Selbstdeutung; Mead verwendete dafür die Termini »I« und »Me«; diese Tradition wird in Amerika von Anselm Strauss und Erving Goffman fortgeführt (symbolischer Interaktionismus). Erst der Einfluß der Theorie Freuds führte in der Rezeption der psychoanalytischen Theorie zu dem bekannten Identitätsbegriff, wie er sich dann vor allem bei Erikson findet. Erikson8 stellt die Persönlichkeitsentwicklung als eine Folge von Krisen der Identifikation und ihrer Bewältigung dar. Sein Ausgangspunkt war der von ihm entdeckte Befund der »Identitätsdiffusion« bei amerikanischen Jugendlichen, die das Gefühl hatten, »daß das Leben geschieht, statt aus eigener Initiative gelebt zu werden […]«9Aber Erikson nimmt nicht mehr an, daß es einen Identitätskern »gibt«, der nun in den pathologischen Fällen zerborsten sei, sondern die Pathologie resultiert aus mißlungenen Bewältigungen der sozial erforderlichen Identitätskrisen-Bewältigungen. In den nichtpathologischen Fällen resultiere aus diesen Bewältigungen das erwachsene, autonome Subjekt, das volle Identität, d.h. Kontinuität seiner selbst hat.
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O. Marquard: Identität: Schwundtelos und Mini-Essenz – Bemerkungen zur Genealogie einer aktuellen Diskussion. In: Identität, p. 347-369, hier p. 347. G. H. Mead: Mind, Self, and Society. Chicago 1934; erst die deutsche Übersetzung, erstmals 1969, führt für »Self« den Begriff »Identität« ein. E. Erikson: Identität und Lebenszyklus. 11. Aufl. Frankfurt a. M. 1989. l. c., p. 158.
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Diese sogenannte Ich-Identität ist dann getragen von der Überzeugung, »[…] daß das Ich wesentliche Schritte in Richtung auf eine greifbare kollektive Zukunft zu machen gelernt hat und sich zu einem definierten Ich innerhalb einer sozialen Realität entwickelt.«10 Solcherart Identität besteht also einerseits aus einer Einpassung in die soziale Realität, andererseits in der Selbstgewißheit seiner selbst und deren Kontinuität. Diese beiden Aspekte werden dann auch als »soziale Identität« und »personale Identität« unterschieden;11 sie bilden in der Weise einen Kreuzungspunkt des Temporalen und des Sozialen, wie es die Sozialphilosophie des kommunikativen Textes auch für diesen reklamiert, so daß sich die Frage auftut, der unsere gesamte Untersuchung gewidmet ist, nämlich ob Identität, statt in den Individuen beheimatet zu sein (wenn auch sozial bedingt und veranlaßt), vielmehr im Zwischen, im Medium zwischen den Individuen zu lokalisieren sei. Für Habermas aber faßt Helmut Dubiel folgendermaßen zusammen: »Die persönliche Identität äußert sich in der Einheit einer unverwechselbaren Lebensgeschichte, die soziale Identität in der Zugehörigkeit eines Individuums zu verschiedenen Bezugsgruppen. Persönliche Identität sichert ›vertikal‹ die Konsistenz eines lebensgeschichtlichen Zusammenhangs, soziale Identität garantiert ›horizontal‹ die Erfüllbarkeit der differierenden Ansprüche aller Rollensysteme, denen die Person zugehört. Ich-Identität ist für Habermas so die Balance von sozialer und persönlicher Identität. Hergestellt und aufrechterhalten wird diese Balance durch eine nur paradox zu beschreibende Interaktionstechnik: Einerseits insistiert die Person auf ihrer sozialen Identität, indem sie mit den Gegenspielern der jeweiligen Interaktionssituation im Rahmen normierter Erwartungen identisch zu sein versucht (phantomnormalcy); andererseits versucht sie, diese Identität als eine nur scheinhafte zu signalisieren, um nicht den Anspruch auf individuelle Unverwechselbarkeit aufgeben zu müssen (phantomuniqueness). Ich-Identität ist schließlich – und damit vereinigt Habermas alle vorläufigen Definitionen – die Fähigkeit, die gestörte Balance jener zwei Fiktionen wiederherzustellen.«12
In seiner »Theorie des kommunikativen Handelns« von 1981 bindet Habermas dann sein Identitätskonzept erneut stark an Meads Theorie an und verknüpft sie zugleich mit der Idee der »idealen Kommunikationsgemeinschaft«. Dieser entspreche »eine
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l. c., p. 17. So explizit und einflußreich J. Habermas: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a. M. 1968, p. 178-203; s. auch ders.: Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden? In: ders.: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. 6. Aufl. Frankfurt a. M. 1995, p. 92-126. 12 H. Dubiel: Identität, Ich-Identität. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. J. Ritter (†) u. K. Gründer, IV. Basel, Stuttgart 1976, Sp. 148-151; cf. auch ders.: Identität und Institution. Düsseldorf 1973, p. 77-92.
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Ich-Identität, die Selbstverwirklichung auf der Grundlage autonomen Handelns ermöglicht. Sie bewährt sich in der Fähigkeit, der eigenen Lebensgeschichte Kontinuität zu gewähren.«13 Die in den folgenden Kapiteln entwickelte Begrifflichkeit der Identität als Ereignis als der der Postmoderne angemessenen Begrifflichkeit hat als einen der zentralen Punkte, diese enge Kopplung von Identität und Kontinuität, aufzulösen. Bei Habermas hat das Identitätskonzept sehr starke normative Untertöne. Wir werden demgegenüber im folgenden zu fragen haben, ob und wie Identität in einer sozialphilosophisch begriffenen Postmoderne Bestand haben kann und dann in genealogischer Einstellung, welchem Wandel das Identitätskonzept in diesem Übergang unterlegen ist. In einem normativitätskritischen Sinn diagnostiziert beispielsweise auch Alfred Schäfer eine »Ungleichzeitigkeit der Identität«14 und folgert kritisch, daß Identität die Forderung impliziere, »dass das Ich immer und unter allen Umständen mit sich identisch sein solle.«15 Er hält dem entgegen, daß jede Selbstthematisierung qua Differenzerzeugung Abgründe der Fremdheit eröffnet, sowohl für das Selbst als auch für den Anderen. In dieser alle Identität begleitenden Differenzerfahrung der Nichtidentität mit sich erscheint die postmoderne Struktur der Dezentrierung des Subjekts. Die Parole kann daher nicht mehr sein ›Sei identisch‹, sondern sie wird vorrangig sein ›Erspüre deine Nichtidentität‹, oder anders gesagt, nicht ›Erkenne dich selbst‹ (sc. in einem langwierigen Prozeß der Selbsterfahrung), sondern ›verkenne dich selbst‹ (im lebendigen Moment der Selbstverkennung). Es scheint mir aber ein theoretischer Irrweg zu sein, aus den Befunden zu folgern, daß das Individuum sich heutzutage einfach mehrere Identitäten zuzulegen habe. Denn dann kommen schnell die Einheitsfanatiker und machen zu recht geltend, daß diese Vielheiten doch durch eine sie organisierende Einheit zusammengehalten werden müßten und diese Einheit dürfe man dann als die eigentliche Identität bezeichnen. Das ist beispielsweise die theoretisch fatale, abschließende Konsequenz, die Norbert Meuter zieht: »[…] sichern dem Identitätsbegriff wohl auch weiterhin seine zentrale Stellung in der philosophischen und kulturwissenschaftlichen Theorie der Person.«16 Aus psychologischer Sicht – die zwangsläufig anthropozentriert verfahren muß – sagt angesichts der angeführten Erfahrungen unserer Zeit Jürgen Straub: »Viel wichtiger für die Theorie personaler Identität ist der Begriff der ›Kohärenz‹. Damit ist ein stimmiger Zusammenhang bzw. Verträglichkeit von sozialen Positionen und Rollen
13 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns II. Frankfurt a. M. 1981, p.150. 14 A. Schäfer: Abwesende Anwesenheit. In: Transitorische Identität, hrsg. v. J. Straub u. J. Renn. Frankfurt a. M., New York 2002, p. 392-408. 15 l. c., p. 393. 16 N. Meuter: Identität, p. 1213.
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gemeint, die ein Mensch in verschiedenen Lebensbereichen und Handlungsfeldern […] in der aktuellen Gegenwart einnimmt.«17 Aus den Befunden wäre zu allererst die Konsequenz zu ziehen, Identität nicht mehr auf das Individuum zu beziehen, sondern die Perspektive auf das Soziale selbst, den sozialen Prozeß im Zwischen, d.h. den kommunikativen Text, umzustellen, um nicht Gefahr zu laufen, die neuen Erfahrungen in der Postmoderne (z.B. der Medialität) mit den alten Kategorien (mißzu)deuten.
0.2 D ER N EUEINSATZ BEI DER P ROBLEMATIK MEDIALEN P OSTMODERNE
IN DER
Wenn das Soziale über das Zwischen, m.a.W. über Medialität definiert ist und wenn die Positionen dieses relationalen Prozesses, des kommunikativen Textes, als Selbst, Anderer (und Dritter) definiert sind, dann stellt sich die Frage, ob überhaupt und wie dann von einer Identität eines solchen Selbst gesprochen werden darf oder wie Identität gegebenenfalls anders zu lokalisieren sei. Denn die Funktionspositionen im kommunikativen Text sind nicht fest an bestimmte Personen vergeben, sondern die Besetzung der Positionen wechselt. Können wir dann überhaupt noch von einer Identität des Selbst sprechen, oder bleibt uns nur die Redeweise, daß sich in den wechselnden Positionen eine Identität einer Person trotz verschiedener Positionseinnahmen durchhält? Schließlich bleibt die Option, dem Prozeß und nur dem Prozeß die Identität zuzuschreiben. Selbst die funktionale Bestimmung von Identität, die Luhmann vorschlägt,18 meint eine »Nichtaustauschbarkeit im Hinblick auf eine einzelne Funktion und strukturell als Kompatibilität verschiedener Strukturen«. Vielleicht bleibt am Ende nichts anderes übrig, als zufolge der Prozessualität Identität nicht mehr als Kontinuitätsgewähr, sondern im Gegenteil als ein die Kontinuität brechendes Ereignis zu begreifen. Im ersten Kapitel jedoch werden wir den klassischen Linien einer Identität in Prozessen folgen, die dann Positionen im Prozeß zugeschrieben werden kann. Und das heißt zunächst, Geschichte als Rahmen für Identitätskonstruktionen zu verstehen. Kurz gesagt, es wird im ersten Kapitel ausgegangen vom modernen Begriff der narrativen Identität. Zur Vorbereitung der Umstellung der Theorie von der Subjektzentrierung auf die Medialitätszentrierung wird im zweiten Kapitel der Begriff des Mediums und der Medialität entwickelt. Im dritten, kurzen Zwischenkapitel wird es dann gehen um die Folgen der Umorientierung für den Begriff des sozialen Wandels. Das
17 J. Straub: Identität. In: Handbuch Kulturphilosophie, hrsg. v. R. Konersmann. Stuttgart, Weimar 2012, p. 334-339, hier p. 338. 18 N. Luhmann: Rechtssoziologie. Reinbek 1972, p. 358.
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vierte Kapitel widmet sich der Ausformulierung eines Begriffs des Selbst in derjenigen Medialität, die wir den kommunikativen Text nennen. Das fünfte und das sechste Kapitel werden dann den Identitätsbegriff in der temporalen und der sozialen Dimension des kommunikativen Textes behandeln. Im siebten Kapitel werden Folgerungen aus der Sozialphilosophie des kommunikativen Textes für den Begriff der Dialektik gezogen. Im abschließenden achten Kapitel wird dann als Konsequenz aus den vorhergehenden Kapiteln der Begriff der Identität als Ereignis entwickelt und begründet.
1. Geschichte und Identität in sozialen Prozessen
Die Fähigkeiten, Geschichten zu erzählen, hängen ebenso von der Entwicklung eines Identitätskomplexes ab, wie die Identität sich als präsentierend, d.h. anderer Identität begegnend, vom Geschichtenerzählen hervorgebracht wird. Identität ist hier konfiguriert stets vor der Folie von Nicht-Identität. Ein Selbst, das sich erzählend als Nichtidentität gibt, unterscheidet sich zeitlich von sich selbst als einem Vergangenen, und es unterscheidet sich von sich und anderen sozial als ein Anderer. Verstärkt werden kann diese Absetzung in der Identitätsformation, indem die (gewollte oder erwünschte) Zukunft zum Maß der Vergangenheit wird und indem der äußere Andere am inneren Anderen gemessen wird. Solche Korrespondenzen zwischen Vergangenheit und Zukunft und zwischen innerem und äußerem Anderen sind nicht nur nicht ungewöhnlich, sie sind zur Gewährleistung eines Minimums an Kontinuität in der Erfahrungskonstitution auch erforderlich. Im Diskursiven des kommunikativen Textes ist diese Absetzung die Kritik falschen Wissens, der Irrtümer oder Lügen; und verstärkt wird diese Absetzung durch eine Moralisierung des Wissens, dann dürfen wir im Sinne einer durchmoralisierten politischen Korrektheit nicht mehr wissen, daß Neger »Neger« heißen, weil sie eine dunklere Hautfarbe haben (von lat. niger = schwarz), sondern nun haben wir den komplexen Sachverhalt zu präsentieren, daß irgendwelche Vorfahren eines betreffenden Menschen als Sklaven aus Afrika in die angebliche Heimat der Menschenrechte, den USA, verschleppt wurden und daß solche Menschen nun als militärische Besatzer in Deutschland ihren Dienst tun müssen. Das Aufrechterhalten der Redemöglichkeit von »Negern« statt irgendeiner, dann alsbald auch wiederum als diskriminierend (= unterscheidend) perhorreszierten Spreche einer »political correctness« ist eben an sich noch gar kein Rassismus; denn wie man weiß, gibt es unter Nubiern und Hereros gewaltige Hautfarbendifferenzen, und es gibt auch unter den »Weißen« die unterschiedlichsten Tönungen zwischen Iren und Griechen beispielsweise, ohne daß sich daraus irgendetwas folgern ließe. Und daß
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die »Rothäute« keine rote Haut haben und die Chinesen nicht gelb1 sind, ist ebenso klar. Man kann, um zu unterschieden, d.h. nichts anderes tun als zu diskriminieren, auch auf die die seltsamen Eßgewohnheiten der Anderen referieren, dann unterscheiden sich die »Spaghettis« von den »Krauts« und die »Fleischfresser« von den Vegetariern, und diese wiederum von den »Eskimos« (wörtlich in der Sprache der benachbarten Indianer: die Rohfleischesser). Irgendwelche differenzierenden Stereotypisierungen werden gebraucht, um nicht alles im unterschiedslosen Einerlei eines vermeintlich guten Universalismus untergehen zu lassen. Rassistisch werden diese Unterscheidungen erst dort, wo diese Unterscheidungen mit anderen als zwangsläufig verbunden unterstellt werden, z.B. alle »Krauts« seien (auch heute noch) Nazis.2 Diese engen Verknüpfungen erweisen sich dann als besonders hartnäckig, wenn sie biologisch fundiert werden, wie es seit der Physiognomik des 18. Jahrhunderts, dann seit dem evolutionstheoretisch begründeten Rassismus des 19. Jahrhunderts sehr exzessiv stattfand. Dieser Biologismus3 kann sich nicht nur auf die Physiognomie beziehen (Hautfarbe, Haarfarbe, Augenfarbe), sondern sogar auch auf die Eßgewohnheiten. Dann gilt: Je mehr Fleisch eine Nation verzehrt, desto tatkräftiger und mutiger ist diese Nation, und umgekehrt, je mehr eine Nation sich vegetarisch ernährt, desto fauler und weibischer wird sie sein.4 Zu recht kann man dann jedoch fragen, warum die – soweit man weiß – nur Fleisch verzehrenden Neandertaler dem Gemischtfresser Homo sapiens unterlegen waren und dieser – einstweilen – überlebt hat. Der Text, in dem diese identitätsfigurierende Absetzung von der Vergangenheit, von den Anderen und von dem kritisierten Wissen geschieht, ist nun die Narration. 1
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W. Demel: Wie die Chinesen gelb wurden. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Rassentheorien. Bamberg 1993; zur Hautfarbe der Zigeuner in Theorien des 18. Jahrhunderts s. K. Röttgers: Kants Kollege und seine ungeschriebene Schrift über die Zigeuner. Heidelberg 1993. Zur Kritik solcher Identifikations-Kurzschlüsse s. überzeugend A. Sen: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt. München 2007; auch wenn der Rassismus in Deutschland die schrecklichsten Auswirkungen im Nationalsozialismus fand, darf nicht übersehen werden, daß der Rassisismus des 19. Jahrhunderts in Europa weit verbreitet war, der die angebliche Minderwertigkeit bestimmter Rassen als ideologische Legitimation des Kolonialismus einsetzte (Gobineau, Chamberlain u.v.a.). Selbstentlarvend kurios wird das z.B. bei Burton, der Afrikaner, Juden und Iren zur Gruppe der minderwertigen Rassen zählte. Strittig bis in UN-Resolutionen hinein ist, inwieweit auch der Zionismus des 19. Jahrhunderts (Herzl) eine rassistisch begründete Ideologie sei oder mit einem allein religiös fundierten Volks-Begriff auskomme. Zur Kritik des Biologismus im Nationalsozialismus s. auch M. Heidegger bereits während seines Rektoratsjahres 1933/34: Gesamtausgabe 94. Frankfurt a. M. 2014, p. 143 (»trüber Biologismus« als »Ideologie« des Vulgärnationalsozialismus und als »ödeste Spießbürgerei«, sowie »Biologismus», überkommen aus dem Positivismus des 19. Jahrhunderts, p. 157, sowie passim.) So etwa F. Chr. E. von Vaerst: Gastrosophie oder Lehre von den Freuden der Tafel. 2 Bde. München 1922; E. von Hartmann: Was sollen wir essen? In: ders.: Moderne Probleme. Leipzig 1886, p. 1-20; dazu K. Röttgers: Kritik der kulinarischen Vernunft. Bielefeld 2009, p. 90-129.
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SOZIALEN
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Insofern ist ein solches Geschichtenerzählen etwas anderes als ein Fabulieren aus Realitätselementen, auch wenn diejenigen Lügengeschichten, die man Biographien nennt, oftmals genau das tun und trotzdem für authentisches Material für Geschichten gehalten werden. Wissenschaftlich gepflegtes Geschichtenerzählen ist immer auch qua kritischer Reflexion (neben der sozialen und der temporalen Reflexion) rationale Präsentation eines vernünftigen, weil sinnhaften Wissens, anders als Jörn Rüsen argwöhnte, als er vermutete, die Festlegung der Geschichtswissenschaft auf historische Narration sei »Regression«.5 Allerdings ist dann Rüsens eigener Theorievorschlag nicht so weit von unserem entfernt, wie es aufgrund dieses Verdikts erscheinen könnte. Nur setzt er den Begriff »Geschichtsbewußtsein« als Zwischenbegriff ein.6 Und seine fast poetische Konsequenz lautet: »Historische Identität ist die Fähigkeit von Menschen, auf dem Strom der Zeit zu schwimmen. […] Geschichtsbewußtsein ist nichts anderes als die Schwimmbewegungen der Seele und des Geistes, die der Mensch sein Leben lang macht, um seine eigene Geschichtlichkeit […] lebensermöglichend zu bewältigen.«7 Das Geschichtenerzählen hat Funktionen, die in sozialen Zusammenhängen kaum ersetzbar sind. Die Texte, die Vergangenes präsentieren (temporale Reflexion), präsentieren in diesen Geschichten auch die Anderen (soziale Reflexion) und das Wissen und die Moral (diskursive Reflexion), und zwar die gebrochene, entferntere Vergangenheit, den gesellschaftlichen Anderen und die distanzierteren Formen von Wissen und Ethischem. Diesen Komplex aus kritisch-reflektierter Distanz von Vergangenheit, Gesellschaft und Diskursivem mag man nun »Geschichtsbewußtsein« nennen, insofern das Bewußtsein als Projektionsfläche auch der Zukunft (einer Vergangenheit) und auch eines Wissens (von Moral) als Hintergrund von Zeit, Anderem und Diskurs dienlich ist. Die soziale Funktion der Identität im Geschichtenerzählen kann ausgelegt werden als • • • •
Stiftung Stabilisierung Modifizierung und Präsentation
von Identität.
5 6 7
J. Rüsen: Geschichtsbewußtsein und menschliche Identität. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B41/84, p. 3-10, hier p. 5. l. c., p. 6. l. c., p. 7; bei diesen Schwimmbewegungen könnte man auch denken an jene Fliege, die, in ein Milchgefäß gefallen, gleichwohl in der Milch nicht ertrank, sondern ihre Schwimmbewegungen so lange fortsetzte, bis die Milch zu Butter geworden war – ist das die Tätigkeit des Historikers?
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Der Begriff der Identität, darin ist sich die einschlägige Forschung nahezu einig, ist in diesem Sinne nicht auf Einzelpersonen beschränkt, sondern kann ebenso sehr auf Kollektive angewendet werden. Die kürzeste präsentable Identitätschiffre ist der Name, so daß man sagen kann: Alles, was nicht nur unter einen Allgemeinbegriff fällt, sondern einen Namen führt, der (cum grano salis) nur ihm zukommt, hat eine Identität. Wenn jemand sich vorstellt oder vorgestellt wird, dann steht da nicht nur »ein Mensch« (wie jeder andere), sondern unverwechselbar Herr XY (und keine andere). Aber das Mehrfachvorkommen bestimmter Namen zeigt, daß der bloße Name durch eine Geschichte aufgefüllt werden muß. In diesem Sinne sagt die Geschichtentheorie von Wilhelm Schapp: »Die Geschichte steht für den Mann.«8 Der Name (und letztlich auch die Personenkennziffer oder das individuelle DNA-Profil) ist dann ein Kürzel für eine Geschichte. Anders gesagt: ein Name erfüllt dann die Funktion eines Namens, wenn eine im Prinzip erzählbare Geschichte dahinter steht. Oder erneut anders: diese Geschichte macht nur Sinn als seine, ihm eigene und eigentümliche Geschichte. Geschichten konstituieren Eigenheit und sind daher angewiesen auch auf Fremdheit als das Andere der Eigenheit. Seine von ihm selbst erzählten Geschichten und die Geschichten, die man sich über ihn erzählt, explizieren seine soziale Identität. Durch dieses Zusammenkommen selbsterzählter und über ihn erzählter Geschichten, die ihn also zum Gegenstand machen, im Identitätskonzept sind Eigenheit und Identität als die entscheidenden Eigen-schaften der Funktionsposition des Selbst im kommunikativen Text. Wie beim Klatsch kommt es bei diesen Geschichten des zweiten Typs weniger auf Wahrheit an (als könne er sie selbst erzählt haben, wenn er wahrhaftig wäre oder sein könnte) als vielmehr auf illustrative Einzelheiten. Überdies sind beide Arten, die selbsterzählten und die von anderen erzählten Geschichten, nicht so verschieden, wie man meinen möchte. Im einen Fall erzählt ein Selbst ja nicht sich selbst – wie sollte das möglich sein, nämlich mitsamt seinem Erzählen?–,9 sondern es erzählt seine von dem Erzählenden durch einen Reflexionsbruch getrennte Vergangenheit, die das Selbst ohnehin nicht, der Erzählende noch oder nicht mehr oder nicht mehr so ganz ist. Dabei kommen Lügen, Beschönigungen und Vergeßlichkeiten ebenso ins Spiel wie auch im zweiten Fall des Geschichtenerzählens, nämlich daß über den Betreffenden etwas erzählt wird. In der sozialen Reflexion kommen pure Identitätsbehauptungen – der Einfachheit halber – viel wahrscheinlicher vor als in den selbsterzählten: Behauptungen von der Art ›so war er immer schon‹. Selbsterzählte Geschichten präsentieren eher eine Nichtidentität vor dem Hintergrund stets als mitlaufend zu unterstellender Identität, sonst brauchte ja in sozialen Beziehungen zwischen Bekannten gar nicht erst erzählt zu werden: Früher war ich anders, und ich 8 9
W. Schapp: In Geschichten verstrickt. 2. Aufl. Wiesbaden 1976, p. 103. – Wichtiger Hinweis: Das grammatische maskuline Genus wird in meinem Buch immer inkludierend verwendet, d.h.weibliche Wesen sind immer mitgemeint, K.R. Was präsentiert ein Selbstbildnis? Diese Aporetik der Porträts des Selbst gilt gerade auch für die Selfies.
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kann euch erzählen, wie ich geworden bin, was ich bin, bzw. als was ich – wie ich weiß – euch heute erscheine. Die fremderzählte Geschichte aber nimmt die gegenwärtige merkwürdige Erscheinung zum Ausgangspunkt und begnügt sich dann oft mit der das Erstaunliche weginterpretierenden Erklärung, daß er »eigentlich« immer schon so war, d.h. sie präsentiert Identität vor dem Hintergrund scheinbarer Nichtidentität. Das sind freilich Typisierungen, die Ausnahmen nicht nur zulassen, sondern letztlich besonders markant für ein Identitätsmanagement erscheinen lassen, z.B. die zelebren Fälle von Bigamie, die ein Doppel-Leben inszenieren. Daran ist weniger erstaunlich, daß jemand zwei verschiedene Geschichten von sich zu erzählen vermag, das ist in komplexen Gesellschaften ziemlich normal, sondern erstaunlich ist, daß er die Kontextualisierungen seiner Geschichten (die Erzählsituationen) so voneinander isolieren konnte, daß über ihn zwei inkompatible Geschichten erzählt werden. Geschieht ihm das Unglück, daß die Kontexte sich zusammenfügen, d.h. der Bedarf entsteht, zwei Geschichten in eine einzige, eine neue Geschichte zusammenzufügen, dann kann es wohl vorkommen, daß der Betroffene, wie es in Jacques Rivettes Film »L’amour par terre« geschieht, keinen anderen Ausweg mehr sieht, als seine Geschichte und seine Identität überhaupt zu leugnen: »Je suis une illusion.«10 Keine Identität zu haben wie der, der behauptet, selbst nur eine Illusion zu sein, ist nur eine der Möglichkeiten des Umspielens von Identität. Vier andere seien erwähnt: der Doppelgänger, der Kopflose, die multiple Personalität in Netzstrukturen und die pathologische Depersonalisierung. In der Moderne – insbesondere in der Romantik – ist der Doppelgänger eine existentielle Herausforderung gewesen. Wie kann einer mit einer durch seine Geschichte und seine sozialen Anderen gesicherten Identität jemandem begegnen, der identisch dasselbe zu bieten hat?11 Zunächst also zum Doppelgänger, speziell unter dem Aspekt, welchen Veränderungen die Figur des Doppelgängers in der Postmoderne unterliegt. Dazu könnte man exemplarisch die Philosophie Derridas auswählen.12
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Gebrochen ist dieses Arrangement bei Rivette freilich dadurch, daß der Film nicht das sogenannte Leben zeigt, sondern eine Theaterinszenierung, in der sich dieses ereignet; dadurch wird der Satz allerdings in dem Sinne doppeldeutig, daß nicht klar ist, ob die Rolle das sagt oder der schauspielernde Mensch; cf. K. Röttgers: »Ich bin eine Illusion«. Die Bühne als Modell postmoderner Sozialphilosophie. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2013/1, p. 147-170. Der Doppelgänger bei Derrida ist der Falle einer Philosophie der Repräsentation enthoben. Zur Dekonstruktion der Repräsentationsfigur bei Derrida s. J. Derrida: Signatur Ereignis Kontext. In: ders.: Randgänge der Philosophie. 2. Aufl. Wien 1999, p. 325-351. Ob es sich bei Frau Igel im Märchen um eine(n) Doppelgänger(in) handelt, wie die Interpretation von Ralf Konersmann nahelegt, muß fraglich bleiben: der Hase geht bis zu seinem Tode von der Einheit eines einzigen Igels aus, für den Igel ist seine Frau jedenfalls nicht beängstigend, wie es normalerweise Doppelgänger sind. R. Konersmann: Die Unruhe der Welt. Frankfurt a. M. 2015, p. 145.
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Doch zuvor zur Reflexion in der Moderne. Als zentrale Metapher der Selbstkonstitution in der Reflexionsphilosophie repräsentiert der Spiegel ein Selbst in einem anderen Medium.13 Mittels des Spiegels kann sich ein Selbst seiner ihm selbst fragwürdig erscheinenden Identität vergewissern, allerdings immer nur vorläufig und gewissermaßen als imaginierter Abbruch eines im Prinzip unabschließbaren Vorgangs der Reflexion. In der Selbstreflexion unterscheiden sich Reflektierender und Reflektierter, so daß in der Spaltung wegen der Ebenendifferenz doch immer auch die Einheit-in-der-Spaltung mit erscheint. Anders der Doppelgänger: er beraubt ein Selbst seiner Selbstgewißheit, seine Provokation ist schrecklich, gerade weil er nichts repräsentiert, weil er reine Immanenz ohne Ebenendifferenz ist; dieses Doppel eines Selbst zeigt, daß dem Selbst etwas ganz Wesentliches zur Identität fehlt, daß es weniger ist als es selbst. Der Spiegel bereichert das Selbst und vergewissert es durch Verdopplung seiner selbst wie eine Paraphe. Der Doppelgänger beraubt das Selbst dieser Gewißheit und dieser Möglichkeit der Selbstvergewisserung. Daher der enigmatische Satz Derridas in »Glas«: »Wenn ich unterzeichne, bin ich bereits tot.«14 Soviel vorwegnehmend, kann jetzt schon gesagt werden: Das Signieren, d.h. die Performanz der Einzigkeit qua Einzigkeit des Namens, trägt den Tod schon in sich. Es stellt sich ferner die Frage, ob der Brudermord von Kain bis zur Fraternité der Französischen Revolution (»Sois mon frère ou je te tue«15) einer der vergeblichen Versuche ist, den Doppelgänger sozusagen in effigie loszuwerden. Auf der anderen Seite kann der Doppelgänger aber auch verstanden werden als das Ideal der Theorien des Verstehens des Anderen. Wenn ich den Anderen ganz verstehe, ist der Andere wie ich, ist er mein Double. Wäre er nicht wie ich, könnte ich ihn nicht verstehen; nur weil er meine mir eigene Sprache (i.w.S.) spricht, verstehe ich ihn und, so werde ich unterstellen, auch er mich. Wären seine Ausdruckformen außerhalb meiner Sprache, könnte ich ihn nicht wirklich verstehen, und das wäre schade, sagen die Verstehenstheoretiker. In Sartre-Parodie spielt Derrida diese Situation in der Erfahrung durch, daß Derridas Katze ihn nackt sieht:16 das radikalisiert die Frage der Selbstvergewisserung im Spiegel der Anderen. Kann ich annehmen, daß ich im Blick der Katze zum Objekt gemacht werde, und wird meiner Subjektivität nicht etwas ganz Wesentliches fehlen, wenn die Katze es nicht tut? Die Transzendentalphilosophen haben uns sogar versichert, daß es ein und dieselbe Vernunft ist, die 13 14 15
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Dazu einschlägig R. Konersmann: Von Angesicht zu Angesicht. In: Neue Rundschau 100 (1989), H. 4, p. 103-121; ders.: Spiegel und Bild. Würzburg 1988. J. Derrida: Glas. München 2006, p. 24. Die Formel stammt in dieser hier kritisch gemeinten Form (es sei die »Brüderlichkeit« von Kain und Abel) von demselben Chamfort, dem die Parole »guerre aux chateaux, paix aux chaumières« zugeschrieben wird. Zu diesem Satz als Begleitformel der Parole der Brüderlichkeit s. M. David: Fraternité et Révolution française. Paris 1987, p. 103, 171, passim. Derrida: L’animal que donc je suis, ed. M.-L. Mallet, Paris 2006; cf. dazu G. L. Bruns: Derrida’s Cat (Who Am I?). In: Research in Phenomenology 38 (2008), p. 404-423.
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alle Subjekte, alle, die sich Subjekte nennen dürfen, eint. Nicht: Ich ist ein Anderer,17 der Andere ist ein Ich, der Andere, das bin ja ich. Bei dieser Einsicht angekommen, beginnt der Doppelgänger zu erschrecken.18 Und das hat ganz wesentlich mit dem Widerspruch in der Selbstattribution zu tun, derjenigen als Subjekt und derjenigen als Individuum. Das Individuum ist – ganz im Widerspruch zu den Ursprüngen des Begriffs als atomon – seit Leibniz und Goethe von innerer Unendlichkeit und Differenziertheit und daher von allen anderen Individuen unterschieden. Begegnet nun ein solches Individuum der Moderne seinem Doppelgänger, wird damit seine identitäre Einzigkeit fraglich. Wozu leistete es sich die Mühen der Individualisierung und damit der Abgrenzung von allen anderen, wenn da plötzlich jemand auftauchen kann, der mich als an zwei Orten lokalisiert darstellen kann, so daß das Individuum sich selbst begegnen kann in einer Weise, die mehr ist als ein Spiegelbild und unendlich viel mehr als ein Schatten? Der in den heutigen Intersubjektivitätstheorien modisch-konjunkturelle Begriff der Anerkennung ist daher dem Begriff des Doppelgängers diametral entgegengesetzt. Die sich gegenseitig als Subjekte Anerkennenden wollen qua ihrer sie einenden Vernunft dasselbe, nämlich das Vernünftige. Der Doppelgänger dagegen stellt die Frage auf Leben und Tod: von einem Individuum, weil es einzig ist, darf es nur eines geben. Das Double muß vernichtet werden; aber – da setzt sich der Schrecken aporetisch – da ich selbst es ja bin, ist seine Vernichtung zugleich meine. Wie also mit dem Doppelgänger leben – und wie mit ihm sterben? Dieser Frage möchte ich, wie gesagt, anhand einer Theorie nachgehen, die wie kaum eine andere die Spaltung zum Movens des Denkens gemacht hat: Derrida. Ihr kann man allerdings nur gerecht werden, wenn man ihr nicht jenseits des Spalts eine verborgene Einheit unterstellt,19 sondern indem man wie in der différence/différance-Spaltung die Spaltung in ihr selbst vorkommen läßt, d.h. nicht von Derrida redet, sondern von ihm und seinem Doppelgänger.20
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So der unendlich oft zitierte Satz, den A. Rimbaud in zweien seiner Briefe verwendete: 1. an Georges Izambard, 13.5. 1871, 2. an Paul Demeny, 15. 5. 1871, abgedruckt in A. Rimbaud: Prosa über die Zukunft der Dichtung, hrsg. v. T. Trzaskalik u. Ph. Beck. Berlin 2010, p. 17-35. Cf. auch Niklas Luhmanns Hinweis auf J. H. van den Berg: Divided Existence and Complex Society. Pittsburgh 1974, und seine These der parallelen Entstehung von Subjektivitättheorie und Doppelgängermotiv in der Romantik, N. Luhmann: Die Tücke des Subjekts und die Frage nach den Menschen. In: Der Mensch – das Medium der Gesellschaft?, hrsg. v. P. Fuchs u. A. Göbel. Frankfurt a. M. 1994, p. 40-56, hier p. 45, Anm. 11. Das ist ein bißchen die Tendenz von A. García Düttmann: Derrida und ich. Bielefeld 2008; in dem sehr stark biographisch geprägten Abschlußkapitel gesteht er es sogar ein, nennt sich dabei mit eingestandener Hybris einen »Retter in der Not«, der »dem Spuk der gespenstischen Verdoppelung ein Ende« bereiten möchte (p. 152). Zur Problematik der vorausgesetzten Einheit s. aus psychoanalytischer Sicht J. Benjamin: Der Schatten des Anderen. Frankfurt a. M., Basel 2002, bes. p. 103-135. Und der trägt eben nicht den Namen García Düttmann; denn das wäre ein Rückfall in die Intersubjektivitäts- und Alteritätstheorien der Moderne.
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Einer der bemerkenswerten und vielzitierten Sätze Derridas lautet: »Es ist einer Kultur eigen, daß sie nicht mit sich identisch ist. […] mit sich differiert. Es gibt keine Kultur und keine kulturelle Identität ohne diese Differenz mit sich selbst.«21 Gewiß, der Satz ist ein Satz über Kultur und, daß Kulturen weder einen einzigen und einfachen Ursprung haben, aus dem sie hervorgehen, noch daß sie sich homogen erhalten können, solange sie noch Kulturen sind. Aber es ist ebenso sehr ein Satz über Identität. Identität in dem Sinne einfacher Sichselbstgleichheit ist nicht zu haben. In der Moderne war, wie gesagt, der Doppelgänger die Figur, die in der Selbstreflexion des Subjekts als Verselbständigung des Reflektierten zurückbleibt und damit die Selbstvergewisserung durch Reflexion fraglich werden läßt und das Selbst so verunsichert. Zwar glaubt sich das Selbst noch als das Original, d.h. als den einfachen Ursprung, und den Doppelgänger als illegitime Kopie; aber es spricht nichts gegen die Annahme, daß der Doppelgänger dasselbe glaubt. Das Selbst glaubt sich als Original, weil es sich ungeachtet eines Doppelgängers spiegeln kann und glaubt, der Doppelgänger könne das nicht, was freilich nur der Doppelgänger wissen könnte. Nur scheinbar ist es beruhigend zu sagen, der Doppelgänger ist wie ich, nur tot; denn genau darin verweist er mich ja auf mein eigenes Totsein, das mein Leben begleitet. Was aber wird aus dieser »eigenen Frage als Gestalt«22 in jener Iterationskette, in der Röttgers sich auf Derrida, dieser sich auf Carl Schmitt und dieser sich auf Theodor Däubler bezieht, was wird aus dieser eigenen Frage als Gestalt in der Postmoderne? Was wird aus diesem Doppelgänger, wenn das autonome Subjekt als Orientierungsgröße hinfällig geworden ist,23 wenn sich das ehemalige Spiegelbild in den virtuellen Welten verselbständigt hat, wenn es eine »Welt hinter den Spiegeln« gibt, die von eigener Dignität ist.24 Dann – das ist die These, der im folgenden nachgegangen werden soll – rücken das Selbst und sein Doppelgänger näher zusammen, dann werden Kopie und Original als Momente der originalen Spaltung ununterscheidbar. Der Vertrag mit dem Doppelgänger wurde in der Moderne nur von einem unterzeichnet, und der Unterzeichnende wurde durch die Unterzeichnung als das originale Selbst identifizierbar. Im postmodernen Text ist das anders, am konsequentesten schon im Schriftbild lesbar in Derridas »Glas«25, in dem zwei Kolumnen ein Original 21
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J. Derrida: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Frankfurt a. M. 1992, p. 12f.; zur Philosophie der Differenz bei Derrida s. auch H. Kimmerle: Philosophien der Differenz. Würzburg 2000, p. 136-160; F. Dastur: Philosophie et Différence. Chatou 2004, p. 107114. Das ist bekanntlich Carl Schmitts Definition des Feindes, die er von Theodor Däubler übernimmt, C. Schmitt: Ex captivitate salus. Köln 1950, p. 89f.; dazu J. Derrida: Politik der Freundschaft. Frankfurt a. M. 2000, p. 227. K. Röttgers: Autonomes und verführtes Subjekt. In: Proteus im Spiegel. Kritische Theorie des Subjekts im 20. Jahrhundert, hrsg. v. P. Geyer u. M. Schmitz-Emans. Würzburg 2003, p. 65-85; auch H. Meißner: Jenseits des autonomen Subjekts. Bielefeld 2010. L. Carroll: Durch den Spiegel und was Alice dort fand. Stuttgart 2010. J. Derrida: Glas. Paris 1974, dt. München 2006; s. auch G. Hartmann: Homage to Glas. In: Critical Inquiry 33 (2007), p. 344-361.
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in Spaltung präsentieren und in dem beide unterzeichnet sind und damit authentifiziert. »Glas« realisiert den Doppelgänger-im-Text. »Glas«, und zwar, soweit ich mich erinnern kann, ohne den Doppelgänger als Gestalt zu thematisieren, dieses Buch, das nach Derrida kein Buch ist und das einige Buchhändler und Bibliothekare die Vermutung entwickeln ließ, daß es sich bei ihrem Exemplar um ein Mängelexemplar handele, weil der Text nicht anfängt, wie Texte anzufangen pflegen, sondern mit den ersten Zeilen (rechts und links als zwei parallele Kolumnen) schon mitten drin ist und schon anfänglich geteilt. Es gibt keinen ungeteilten Anfang, also keine ursprüngliche Einheit. Es sind von Anfang an zwei, sie sind ungleich, keiner ist Derrida selbst, und beide sind schon vor dem Anfang, der schon gemacht worden ist, vor dem Anfang untereinander geteilt als Hegel-Dekonstrukt und Genet-Dekonstrukt. Die beiden Kolumnen verhaken sich ineinander, umschließen einander – auf »unkalkulierbare Weise«26 sagt die Genet-Kolumne, die andere, die Hegel-Kolumne sagt auf derselben Seite, daß sie sich in keinem Fall überschneiden. Aber jede Seite ist auch die andere (in sich selbst), beide sind Übergänge ins Andere; drucktechnisch erscheint diese Verdopplung der Verdopplung erstmals auf S. 6, wo es streckenweise vier parallele Kolumnen gibt, inhaltlich begegnet es in der Hegel-Kolumne, wo sie sich wortspielerische Doppeldeutigkeiten erlaubt, die sich auf die Genet-Kolumne hin öffnen. Diese nimmt jeden Anlaß wahr, Hegel zu sexualisieren, das Sa (Abkürzung Derridas für das »Savoir absolu«, das absolute Wissen Hegels) ist zugleich das »Ça« Lacans, d.h. das Es bei Freud. In der »Einführung« in die Phänomenologie wird die Penetration zum Mitklingen gebracht; und was der Fall ist, ist der Phallus. Aber auch diesem Requisit der Lacanschen Theorie wird die Eindeutigkeit genommen, indem in der Hegelschen Ästhetik an jene indischen Phallus-Säulen erinnert wird, die die Löcher in sich selbst haben. Gleiches geschieht in der Genet-Kolumne: nie ist das Wort das einfache Es-Selbst, immer ist es in sich geteilt, jedes Sagen führt das Ungesagte seiner selbst mit sich. Eine etwas andere Verdopplung liegt in dem Text »Überleben«27 vor. Das TextDoppel erscheint hier als »Bord-Journal«, d.h. läuft wie eine unendliche Anmerkung am unteren Rand des Textes immerfort mit. Er verdeutlicht damit etwas, was »Glas« zu kaschieren sich bemüht, nämlich daß selbst wenn die Spaltung vor dem Anfang liegt, die Praxis des Lesens zwangsläufig eines vor dem anderen liest, und in unserer Kultur heißt das, daß wir die linke Spalte zuerst lesen und in »Überleben« zuerst den oberen, dann den unteren Text. Aber, wie wir später am Begriff der Quelle sehen werden, hat das keine textontologische Bedeutung; nur das Später-Gelesene macht das Früher-Gelesene zum Früher-Gelesenen. Nicht um Links oder Rechts geht es, sondern um den Spalt der Spaltung. Insofern wäre es interessant zu wissen, wie eine arabische Übersetzung von »Glas« verfährt, konsequent wäre es, wenn sie Hegel 26 27
l.c., p. 5. J. Derrida: Überleben. In: ders.: Gestade. Wien 1994, p. 119-217.
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links beließe und Genet rechts; die Lesepraxis würde dann mit Genet beginnen. Und erst beide Lektüren zusammen, d.h. die Verdopplung, würden die Verdopplung vor dem Anfang realisieren. Kann man noch für die Moderne die enorme Herausforderung durch den Doppelgänger konstatieren, die das Selbst mit der existentiellen Frage an sich selbst konfrontiert, so ist eben jenes Selbst in der Postmoderne selbst zum Doppelgänger geworden. Wir alle sind nichts anderes mehr als Doppelgänger, weil ein Selbst nur noch verdoppelt vorkommt. Schon Carl Schmitt hatte bemerkt, allerdings mit Bedenklichkeit, daß es ein Zeichen von innerer Gespaltenheit sein müsse, wenn es mehr als einen Feind gäbe.28 Derrida kann dem ohne Bedenklichkeit zustimmen, ja genauso ist es: wir sind immer schon gespalten, der Doppelgänger ist unsere Natur. In diesem Sinne stellt Derrida über den »traditionellen Diskurs der Moderne« in Europa fest, daß seine Identität, obwohl immer noch aktuell, doch zugleich die »beunruhigende Falte« erkennen läßt, »das Stigma einer Anachronie«.29 In dem Moment, in dem wir erkennen, daß wir sowohl der Moderne wie der Postmoderne zugehörig sind, ergehen alle Forderungen nach einer Antwort auf unsere Fragen in der Form des »double bind«. Auf sie kann nur ein verdoppelter Doppelgänger antworten, nicht mehr das authentische Subjekt der Moderne. In dem Moment, in dem wir versuchen, diese Situation als Krise der Moderne zu begreifen, die durch eine Selbst-Besinnung oder gar durch eine Besinnung auf die alten Werte oder die uneingelösten Versprechen der Moderne zu bewältigen sei, haben wir schon den Sinn der Situation verfehlt. In der Wiederholung des Alten und Bewährten oder in der vergangenen Zukunft30 des immer noch zu Bewährenden und zu Bewahrenden ist es schon nicht mehr dieses Alte, dieses Uneingelöste; solche Konsequenz war schon das Dilemma der nach- und antirevolutionären Reaktion31 und Restauration. Es wird heute in aller Radikalität von Deleuze entwickelt32 und stimmt auch zu Derridas Diagnose. Aber wenn das Alte im Neuen nicht mehr das Alte ist, wie es gewesen ist, dann ist auch das Neue im Alten nicht das Neue, auf das wir gewartet haben. Der Doppelgänger, der wir nun sind, ist eben alles andere als ein Messias, der uns aus dem Doppelgängertum zu reiner Authentizität befreien könnte. Die grundsätzliche Iterabilität sozialer Prozesse, d.h. des kommunikativen Textes, verhindert, daß Wiederholung eine Identitätsgewähr sein könnte, im Gegenteil. Sie verhindert aber auch, daß die Iteration als Reflexion die Rückkehr zu sich selbst, zum Heil seiner selbst geraten
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C. Schmitt: Theorie des Partisanen. Berlin 1963, p. 87f. J. Derrida: Das andere Kap, p. 25. R. Koselleck: Vergangene Zukunft. Frankfurt a. M. 1979. B. Constant: Des Réactions Politiques. o.O. an V, dt.: Über politische Reaktion. In: ders.: Werke, hrsg. v. A. Blaeschke u. L. Gall, Berlin o. J., III, p. 119-202. G. Deleuze: Differenz und Wiederholung. 3. Aufl. München 2007; dazu K. Röttgers: Es wiederholt sich. In: Philosophie und Nicht-Philosophie, hrsg. v. F. Balke u. M. Rölli. Bielefeld 2011, p. 209-225.
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könnte. Schon die Moderne, etwa in Schlegels »Lucinde«33 oder noch mehr in Constants »Adolphe«34, war in der Reflexion eher zur Verzweiflung, denn zur Selbstvergewisserung gelangt. Jetzt aber, wo Iteration nicht, oder nur ausnahmsweise, als Reflexion erscheinen kann, müssen wir eingestehen: »Ich ist ein Anderer«, um wieder einmal Rimbaud zu wiederholen und in der Wiederholung zu variieren, – nämlich: der Doppelgänger. Vor dieser Einsicht hatte sich die Moderne geschützt, indem sie mit dem Subjekt zusammen Intersubjektivitätstheorien entwickelt hatte, in denen ein anderes Subjekt als das Selbst aufhörte, eine Selbstverständlichkeit zu sein und sich zu einem schwierigen theoretischen Problem auswuchs, oder – das »Kind mit dem Bade« – das Subjekt sich erst als durch den Anruf des Anderen konstituiert sah. So sagt Gasché: »[…] iterability is the possibility of self-duplication, of redoubling […]«35 Iterabilität, so führt er in Derrida-Interpretation weiter aus, ist eine Verdopplung, durch die das Wiederholte schon in sich selbst doppelt ist.36 In ihrer phänomenologischen Musik-Ästhetik hat Gisèle Brelet den Zusammenhang von musikalischer Wiederholung mit dem vom Cogito postulierten Identitätskonzept herausgestellt: »[…] toute œuvre musicale […] est une certaine structure imposée au temps, qui n’a de sens qu’en fonction du temps même parce qu’en elle s’expriment une expérience et une conception du temps originale qu’elle a pour mission secrète de nous réléver. L’œuvre musicale, c’est, incarnée dans le sensible et immédiatement disponible à qui veut la vivre et l’éprouver, une philosophie du temps […]«37
Wir halten fest: Musik ist die Sinnlichkeit der Zeit selber, Geschichte ist die Sinnlichkeit der Zeit und ihre Vergegenständlichung im Inhalt, Philosophie ist die Vergegenständlichung von Inhalten und ihre Versinnlichung in der Darbietung, daher ihre Nähe zu Dichtung, Rhetorik und Metaphorizität. Kommen wir zur zweiten Form des Umspielens von Identität, der Kopflosigkeit. Kopflosigkeit ist die Struktur eines Denkens, das auf ein Identität vergewisserndes Organ verzichtet. Azephalität ist, wenigstens bei Bataille, der Bizephalität und der Polyzephalität engstens verwandt. Nur die Einkopfigkeit wäre abzulehnen, folglich seine Forderung einer Pluralisierung durch Köpfung. Manchmal aber ist das Abschlagen von Köpfen keine unproblematische Sache, die mit einem Schlage des Schwerts Eindeutigkeit herstellen würde. Herakles wüßte davon zu berichten. Der Hydra,
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G. Dischner: Friedrich Schlegels Lucinde und Materialien zu einer Theorie des Müßiggangs. Hildesheim 1980. B. Constant: Adolphe. München1982. R. Gasché: The Tain of the Mirror. Cambridge/Mass., London 1986, p. 215f. l. c., p. 215f. G. Brelet: Le temps musical. Essai d’une esthétique nouvelle de la musique. 2 Bde. Paris 1949, I, p. 16.
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schlug man ihr einen der Köpfe ab, wuchsen an der Stelle unverzüglich zwei neue: Pluralisierung durch Köpfung. Aber vielleicht ist dieses Arrangement ja nicht eine besonders raffinierte Plage, wie Herakles glaubte,38 sondern der Weisheit letzter Schluß: Pluralisierung durch Köpfung, immerhin war ja die Hydra eine Schwester der Sphinx, deren Rätsel gerade die Vielgestaltigkeit zum Thema hatte. Im Jahre 1936 gründete Georges Bataille eine Geheimgesellschaft »Les Acéphales«, die so geheim war, daß man nur weniges von ihr weiß.39 Dem Vernehmen nach trafen sich die Mitglieder nachts unter einer durch Blitzschlag kopflosen Eiche; ein besonderer Feiertag war für sie der 21.1., der Tag, an dem Ludwig XVI. geköpft worden war. Dieses Ereignis war für sie die Präfiguration einer Menge ohne Chef. Denn den Forschungen von Marcel Mauss über afrikanische Geheimgesellschaften und über die Bedeutung des Opfers folgend, waren die Verschwörer der Überzeugung, daß dem Faschismus in Europa nicht durch eine Steigerung des Appells an Rationalität zu begegnen sei (also noch mehr Kopf), sondern nur durch einen starken, sakralen Gegen-Mythos, der Köpfe wie Hitler oder Mussolini nicht mehr vorsah. Das soziale Band von Gruppen und Gemeinschaften wird nicht gestiftet durch einen Konsens der Vernünftigen, sondern durch ein sakrales Opfer eines Kopfes. In diesem Sinne soll – so sagt man – Bataille sich selbst als Opfer angeboten haben. Niemand jedoch wollte ihn tatsächlich enthaupten; aber vielleicht ist ja das Angebot bereits das Opfer (siehe Abraham40), und das reale Blutopfer kann unterbleiben.41 Die Philosophie, die sich selbst »Oben ohne« bewahren möchte, ist also keine Erkenntnistheorie oder Metaphysik für Geköpfte. Es ist vielmehr die Auslotung eines Denkens der radikalen Immanenz, für die der Körper ohne Organe auch ein Körper ohne Kopforgan ist und nicht etwa die Ersetzung des ach so lästigen Körpers durch den reinen Kopf ohne Organe. Der Kopf, der sich einbildet, einen Körper zu haben, ist von diesem immer schon getrennt; dieser Körper ist immer schon geköpft/gekopft. Ein Nicht-kopfiges Denken ist ein dezentrales, ein postanthropologisches Denken, für das Medialität und Prozessualität zentrale Gesichtspunkte sind.42
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Auf dieser Linie liegen allerdings auch noch die häufigen Rezeptionen dieses Motivs in der Druckgraphik der Französischen Revolution: Das französische Volk (alias Herakles) kämpft gegen die Hydra der Aristokratie. S. dazu: M. Höppl: Druckgraphik der Französischen Revolution. Kunstgeschichte, Kulturanthropologie und Kollektivpsyche. In: Helikon. A Multidisciplinary Online Journal 1 (2010), p. 144-183, hier p. 157f. http://www.helikon-online.de/2010/Hoeppl_Druckgraphik.pdf. M. Galetti: Histoire d’une société secrète (Le chapitre biffé de la Somme athéologique).URL: http://hdl.handle.net/10138/25803. Nicht besonders hilfreich ist dagegen – ungeachtet des verheißungsvollen Titels – A. R. Boelderl: Georges Bataille. Über Gottes Verschwendung und andere Kopflosigkeiten. Berlin 2005. Dazu S. Kierkegaard: Furcht und Zittern. In: ders.: Die Krankheit zum Tode und anderes. München 1976, p. 179-326; dazu auch J. Derrida: Donner la mort. Paris 1999, p. 79-114. Detaillierter in: K. Röttgers: Kopflos im Labyrinth. Essen 2013, p. 9-29. K. Röttgers: Das Soziale als kommunikativer Text. Bielefeld 2012.
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Während der Doppelgänger, jedenfalls in der verendenden Moderne, eine Bedrohung der Identität darstellte, ist der Kopflose das Bild eines erstrebenswerten Verzichts auf ein einziges Indentitätszentrum. In der multiplen Persönlichkeit des Netzes – die dritte Form des Umspielens von Identität – kommt beides zusammen.43 Es ist dann die Frage, ob eine Immanenzphilosophie, die die Übergänge als immer problematische, d.h. eben nicht transzendental abgesicherte Übergänge konzipiert (die also »kopflos im Labyrinth« operiert), über eine Einzigkeit von Identität noch verfügen kann. Ist die transversale Intermedialität der postmodernen Noetik nicht von der Identitätsobsession befreit? Ist dann nicht Identität eine fallweise einsetzbare und verschieden besetzbare Spielmarke und, da asubjektiv, ein Ereignis? Wenn es so wäre, wären wir allerdings damit nicht davon entlastet, die Reichweite des Konzepts der Identität unter diesen neuen Bedingungen zu prüfen. Was jedenfalls nach Fortfall einer im Subjektbegriff metaphysisch gesicherten Identität bleibt, ist eine qualitative oder relationale Identität, die sich über je spezifische Identifikationen im kommunikativen Text vollzieht. Diese ist deswegen erforderlich, weil nur sie das Fortbestehen der kommunikativen Situationen über Situationsretentionen und Situationsprotentionen gewährleisten kann. In diesem qualitativrelationalen Sinn behält dann auch der Satz des englischen Historikers seinen Sinn: »History is not something we have, it is something we are.«44 In der relationalen Sicht heißt das dann: Geschichte ist nicht die Relation zu etwas von der Art eines Besitztums, sondern sie ist selbst eine Relationierung zum Anderen eines Selbst. So erscheint dann Identität in verschiedenen (Kon-)Texten als in verschiedenen Geschichten situiert und durch sie definiert. Solche voneinander geschiedenen und verschiedenen Geschichten könnten nicht von einer jeweils weiteren Position aus, die dann als Dritter in den kommunikativen Text intervenierte, als »Lügen« demaskiert werden, weil die Demaskierungs-Intervention selbst kein höheres Recht beanspruchen kann, sondern, wenn die Intervention gelingt, selbst nichts anderes als ein anderer Textanschluß ist, in den seinerseits mit Fug und Recht interveniert werden kann. Die divergenten Identitätspräsentationen bewegen sich u.U. in (teil-)identischen Diskursen, und sie enthalten zwecks Kontinuitätsstiftung zwischen den verschiedenen Geschichten transferierbare Faktenbehauptungen, die dadurch als Elemente der »objektiven« Geschichte erscheinen. Darüber hinaus ist der verschiedene Identitäten seiner selbst (seines Selbst) präsentierende Geschichtenerzähler darauf angewiesen, für sich selbst, d.h. in Selbst-Reflexion, ein Organisationsprinzip dieser Varianten bereitzuhalten. Dieses Selbst muß »ich« sagen können und damit einen identischen Geschich-
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Sh. Turkle: Identität im Zeichen des Internets. Reinbek 1998. H. W. Carr: ›Time‹ and ›History‹ in Contemporary Philosophy; with Special Reference to Bergson and Croce. In: British Academy, Proceedings IV. London 1918, p. 331-349, hier p. 347.
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ten-Arrangeur meinen. Gerade deswegen, weil man nicht überall und jederzeit »alles« und alles Mögliche über sich erzählen kann/darf, ist die Differenz in die Identität eingebaut. Die Partizipation an einem gemeinsamen Diskurs schafft ferner eine Grundgemeinsamkeit von Selbst und Anderem in der Gegenwart des kommunikativen Textes. So ist der Identitätswandel mehr als die Identitätsstabilität Grund aller Textualität. Dieser Identitätswandel beruht auf der temporalen, der sozialen und der diskursiven Differenz in Identität. Die Einheit des kommunikativen Textes ist diese Einheit der Differenz, die genau dadurch auch als Einheit permanent infrage steht; die Textanschlüsse proliferieren. Der Dritte im Sozialen, das Ereignis im Temporalen und die Metapher im Diskursiven sind Abzweigungen, die immer möglich sind und durch den unverständlichen Fremden, die sprachlose Gewalt (und Mystik) und die abgründige Uchronie (Ewigkeit) im Fortbestand gefährdet sind. Mit diesen Gefährdungen ist Identität nicht nur ihrer Wandelbarkeit ausgesetzt, sondern durch Gewalt45, Mystik (in einem Aufgehen in einem Universum des Schweigens46), Wahnsinn und Wildheit47 und den Tod (des Selbst oder der Anderen48) permanent grundsätzlich herausgefordert. Selbsterzeugter Identitätswandel wird nur partiell von den mitbetroffenen Interaktionspartnern akzeptiert. Die Prozeß-Struktur des kommunikativen Textes, der Selbst und Anderen verbindet, kann ein Selbst, bzw. die Besetzung dieser Position nicht einfach entlassen oder beurlauben. Die Beteuerung, man sei durch Konversion ein anderer geworden, vom Saulus zum Paulus, wirkt nur dann, wenn es den textuellen Zusammenhang bzw. den Diskurs, in dem man als Paulus sprechen kann, schon gibt. Wenn man aber der einzige ist, der je diese (a-)diskursive Welt betreten hat, dann bleibt nur die abstrakte Beteuerung, daß »mein Reich« nicht von dieser Welt sei, was eine Kreuzigung im wörtlichen oder im übertragenen Sinne zwangsläufig zur Folge haben muß. Nur Tod, Wahnsinn oder sinnlose Gewalt oder sinnloses mystisches Schweigen bleiben für den selbsterzeugten Identitäts-Ausstieg, bzw. die Verweigerung sämtlicher Identitäts-Zumutungen übrig, dann nämlich, wenn es keinen alternativen Text-Zusammenhang, bzw. Diskurs gibt, in dem sich durch Metaphorizität ein Asyl finden läßt. Zur Absicherung der Identität gibt es nicht nur diejenigen Geschichten, die ein Selbst einem Anderen erzählt, sondern auch diejenigen, in denen dieselbe Person, die 45 46 47 48
E. Scarry: Der Körper im Schmerz. Frankfurt a. M. 1992, macht eindringlich aufmerksam auf die Nichtkommunizierbarkeit von Schmerz, z.B. unter der Gewalt der Folter. »Schweigen ich kenne dich vom Hörensagen.« M. Blanchot: Vergehen. Zürich 2011, p. 73; über das Schweigen, speziell des Schweigen mystischer Erfahrung, läßt sich nichts aussagen, ohne es zu verstellen, aber es sagt sich auch nicht selbst, ohne sich zu brechen. K. Röttgers: Wildnis und Wahn. In: Die Fremde, hrsg. v. K. Röttgers u. M. SchmitzEmans. Essen 2007, p. 97-112. M. Blanchot: L’instant de ma mort. Paris 2002 ; s. dazu J. Derrida: Demeure. Paris 1998, p. 60-139; ders.: Aporien. München 1998, p. 123.
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sonst ein erzählendes Selbst war, als Signifikat des Textes vorkommt, das also, was man sich über ihn erzählt: den Klatsch. Da Klatsch den betroffenen Personen nicht bekannt sein muß, oft nicht bekannt ist, ist diese Identitätsabsicherung das Gegenteil der selbsterzeugten Identität. Diese Tatsache ist nicht unwichtig. Man bleibt, vielleicht ohne es zu wissen, auf diese Weise »im Gespräch«, auch wenn man selbst nicht daran beteiligt ist. Bestimmte Kontexte haben sich vom ablaufenden kommunikativen Text, in dem ein Selbst sich darstellt, abgekoppelt. Darin kommt nur zur Erscheinung, daß der kommunikative Text immer intermedial verkoppelt ist, d.h. daß es immer Paralleltexte zu ablaufenden Texten und partielle Berührungen beider gibt. Die Parallelität kann temporal sein, dann geht es um andere (auch vergangene, teilvergangene, zukünftige oder teilzukünftige) Gegenwarten; sie kann sozial sein, dann geht es um andere Selbste und andere Andere; und sie kann diskursiv sein, dann geht es um anderes Wissen und andere Moralen. Und in der Regel ist der Paralleltext alles zugleich, wie ja jeglicher Text (mehr oder weniger) in allen drei Dimensionen beheimatet ist; aber die Abweichung in das Paralleluniversum kann auch auf eine einzige Dimension begrenzt sein. So ergibt sich die Notwendigkeit, eine Vielheit von Selbsten anzusetzen, um Identitätszurechnungen in Gegenwart und Zukunft zu ermöglichen, z.B. für Versprechen; diese müssen ferner untereinander differenziert sein als verschiedene Typen von Selbst.49 Wenn ein Selbst mit den Identität konstruierenden Klatschgeschichten als ein Objekt dieser Texte konfrontiert wird, dann kann er sie nicht als Klatsch abtun; aber immer wird er so auch etwas über sich als einen Anderen erfahren. Immerhin ist der diverse Klatsch als solcher auch, sobald man ihn zur Kenntnis nehmen kann, auch eine Identitätszumutung. Insbesondere die Stars der Öffentlichkeit tun gut daran, klatschförmige Identitätszumutungen nicht gänzlich zurückzuweisen oder handelnd gegen sie zu verstoßen. Soll dagegen eine im Klatsch präsente Identitätszumutung korrigiert oder variiert werden, so wird es sich oft empfehlen, auf die Subtexte der Texte zu achten, auf das Ungesagte zwischen den Zeilen. Oft bieten sie Ansatzpunkte für eine Intervention in den Text, z.B. Gestik, Mimik, Tonfall, Darbietungsmodi etc. Ähnlich gelagert ist das Verfahren, Klatschgeschichten selbst in die Welt zu setzen, d.h., streng genommen, für eine alternative Thematisierung zu sorgen. Auch das wird vorrangig subtextuell ablaufen müssen, z.B. durch Andeutungen, denen dann die kontextuelle Umwelt neugierig nachgehen wird.50
49 50
J. Ogilvy: Many Dimensional Man: Decentralizing Self, Society, and the Sacred. New York 1977, p. 154-160; Ogilvy zitiert auch Gurdjieff: »Man has no individuality. He has no single, big I. Man is divided into a multiplicity of small I’s.« (zit. p. 155) All dieses hat Hermann Lübbe kürzer und pointierte in den Worten ausgedrückt, »[…] weil die Identifizierung anderer über ihre Geschichte eine Funktion der sich ändernden Geschichte ist, über die wir uns in Anhängigkeit von anderen selbst identifizieren.« H. Lübbe: Wer kann sich historische Aufklärung leisten? In: Wozu noch Geschichte?, hrsg. v. W. Oelmüller. München 1977, p. 310-329, hier p. 319. Und er hat auch gezeigt, daß all dieses die Frage der Möglichkeit historischer Objektivität nicht tangiert.
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Für die anzudenkende Übertragung auf Gruppen-, bzw. Kollektividentitäten gilt es einiges zu beachten. Für das durch das »Wir« sich aussprechende kollektive Selbst ist es erheblich, ob der im Text Mitgemeinte ein Teil dieses Selbst ist, für das der Sprecher repräsentativ oder präsumtiv-repräsentativ spricht, oder ob er den Mitgemeinten als einen Anderen im kommunikativen Text anspricht und so von der Opposition »wir« – »ihr/du« Gebrauch macht. In Sprachen wie der deutschen, die keine Unterscheidung im Gebrauch des »wir« vorsehen, ergibt sich ein schleichender und auch rhetorisch nutzbarer Übergang; dann kann z.B. der Angeredete präsumtiv in das Wir eingeschlossen werden; insbesondere in Moralisierungen läßt sich davon Gebrauch machen: wir, die Guten, wir die Vernünftigen … und du willst doch auch ein solcher sein. Aber schon in der Französischen Revolution blieb es ungeklärt, bzw. ein Politikum, ob in die »Fraternité« alle Mitglieder der Grande Nation wie in einer Familie (die Konnotation der familialen Bruderschaft) eingeschlossen sind oder aber ob qua Vernunftanspruch der Revolution (zusammen mit égalité, liberté und den Menschenrechten) die ganze Menschheit in diese Verbrüderung eingeschlossen ist. Die Sentimentalität der allgemeinen vernünftigen Menschheitsverbrüderung (»alle Menschen werden Brüder …«) erlaubt es eigentlich nicht, Könige und andere Verdächtige zu köpfen. Köpfungen setzen nicht nur voraus, daß der zu Enthauptende keiner von »uns« (dem redenden und dekretierenden Selbst im Text) ist, sondern auch kein möglicher Adressat des kommunikativen Textes; sein Körper mitsamt seiner »Seele« wurde zum Fremd-Körper erklärt.51 Insofern kann selbst die Todesstrafe52 in einem ansonsten als kommunikativem Text zu beschreibenden Verfahren nicht ausgesprochen werden; denn die Exekution bedeutet den absoluten und nicht revidierbaren Ausschluß aus jeglichem Text: mit dir redet hinfort keiner mehr! Das hat aber nicht ebenso durchschlagende Konsequenzen für die Identität, die sich im Reden-über ausdrückt. Es gibt eben jene Fälle, in denen sich nach der Exekution des Delinquenten dessen »Unschuld« herausstellt, nun ergibt sich die virtuelle Möglichkeit, weiter über, ja mit ihm zu reden. Genau deswegen ist die Praxis der USA nur konsequent, des Terrorismus verdächtigte Nicht-Amerikaner in aller Welt ohne förmliches Rechtsverfahren hinzurichten. Ihre Namen stehen auf Todeslisten, und sie werden exekutiert, sobald man ihrer habhaft werden kann.53 Wer auf einer Todesliste steht, wird es in der Regel gar nicht wissen; aber wenn er es wüßte, könnte er dagegen gar keinen Einspruch erheben. Er ist nämlich aus dem kommunikativen
51 52 53
Cf.: Der Fremdkörper, hrsg. v. Chr. Hoffstadt u.a. Bochum, Freiburg 2008. Trotz der Resolution »A/RES/62/149: Moratorium für die Anwendung der Todesstrafe« der Vereinten Nationen aus dem Jahre 2007 wird sie von un- oder halbzivilisierten Staaten weiter exekutiert, z.B. USA, Kongo, Afghanistan u.a. Deswegen war es ein peinlicher »Unfall«, als ein »Terrorist« im Jemen hingerichtet wurde und sich dann herausstellte, daß er amerikanischer Staatsbürger war, der Anspruch auf ein Rechtsverfahren gehabt hätte.
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Text von »uns Guten« a priori ausgeschlossen. Folglich hat er um sein nacktes Überleben zu kämpfen; insofern ist er gezwungen, das zu bestätigen, was man ihm unterstellte, nämlich daß man mit ihm als Gewalttäter gar nicht reden kann. Daß es auch Überläufer zu »uns Guten« gibt, ändert an dieser Sachlage nichts Entscheidendes; denn der Überläufer muß beweisen, daß er zu »uns« gehört, indem er andere verrät, d.h. das Textformular »Verrat« ist ihm vorgegeben, es ist nicht sein Text, sondern er muß lediglich in dieses Formular glaubwürdige Eintragungen vornehmen. Kollektive Identitäten sind also noch problematischer als die individuellen. Aber die Mechanismen der Erzeugung sind durchaus ähnliche: Geschichtenerzählen. Das angesprochene »Ihr« einer »Wir«-Identität ist eines, mit dem sich noch reden läßt. So sind Gespräche mit »dem« Iran weiter möglich, auch wenn dieser seine Identität dezidiert – anders als Europa, und da vor allem England und Deutschland – als eine nicht-amerikanisierte will. Kollektive Identitäten bilden Kulturen aus. Und Kultur ist – wie Identität – immer zugleich auch Interkulturalität. So ist etwa »der« Iran, ungeachtet der festen Verankerung seiner Kultur im Isam – sehr daran interessiert, den interkulturellen Dialog mit der nicht-amerikanisierten abendländischen Kultur Europas, den es seit altgriechischen Zeiten gibt, fortzuführen und zu intensivieren und die Distanz zur arabischen Welt aufrechtzuerhalten.54 Darin ist aktuell, daß der kommunikative Text der Identitätspräsentation immer die Differenz in sich birgt. Nähe und Distanz, Gemeinsamkeit und Unterscheidung sind immer nur zugleich zu haben. In der Interkulturalität äußert sich das als die Zulassung von Unverständlichkeit. Die andere Kultur, der wir im interkulturell angebundenen kommunikativen Text begegnen, ist potentiell teilweise eine fremde Kultur in dem radikalen Sinn von Fremdheit, wie wir ihn skizziert haben und wie er auf Unverständlichkeit hinausläuft. Wenn uns ein Moslem erklärt, daß nur der Islam, nicht aber das Christentum eine streng monotheistische Religion sei, dann könnten wir das vielleicht wegen der Dreifaltigkeit verstehen, ohne zu verstehen, wieso das ein Vorzug sein sollte. Zwar sind wir – teils immer noch – davon überzeugt, daß es nur eine Wahrheit gibt und in ihren Diensten nur eine Vernunft, und nur eine Logik und Methodik der Zugangssicherung zu dieser Einen Wahrheit durch diese Eine Vernunft; aber für einen relevanten Teil unserer Kultur, unseres Wissens und unserer Moral, haben wir seit dem Beginn der Neuzeit zugestanden, daß Kritik und Hermeneutik, und damit die Pluralisierung, die Kultur ebenso sichern. Aber auf diese Weise gerieten Traditionsscherung und kritisches Fragen in eine immer wieder neu aufbrechende Spannung. Aus dem erkenntnistheoretischen Bruch mit der Vergangenheit folgt allerdings nicht zwangsläufig eine anti-traditionalistische Identitätsaufbereitung. Man weiß,
54
Wer meint, darin ginge es nur um die religiöse Differenz Schiiten vs. Suniten, der irrt.
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daß spätestens seit dem Historismus des 19. Jahrhundert Traditionalismus und Konservativismus gute Verbündete der Geschichtsforschung sein konnten.55 Es ist also sicherlich einseitig und insofern falsch, pauschal zu behaupten, die Geschichtswissenschaft sei durch einen Traditionsbruch erkenntnistheoretisch charakterisiert; so setzt etwa einerseits die Begriffsbildung »Ancien Régime« die Ablösung dieser Herrschaftsform durch die Revolution voraus; aber Geschichte kann andererseits ebenso wohl sagen, wer wir immer noch sind.56 Wie gesagt, verweisen Identität und Differenz wechselseitig aufeinander, nicht nur in der eher trivialen Form, daß jede Bestimmung eine Negation des Unbestimmten impliziert, sondern vielmehr auch in der Weise, daß Identität nur als in sich differenzierte Identität zu haben ist, als »différance« im Ursprung. Ferner aber ist das Differente als Differentes nur in seiner mit sich als identisch zu unterstellenden Bestimmtheit zu haben. U.a. ist eine Kommunikation mit dem Teufel deswegen so kompliziert, weil er sich nicht darauf einlassen will, als Differenter mit sich identisch zu sein. All das gilt für kollektive Identitäten hochkpomplexer Gesellschaften der Moderne, der Spätmoderne und der Postmoderne in verstärktem Maße. Dagegen ist die undifferenzierte Masse der Totalitarismen daran interessiert, differenzierte Identitäten zu unterbinden. Die Kultur der Einzelheiten, die dem historischen Sinn entspricht, widersprach jedoch den Homogenisierungstendenzen der verwalteten Gesellschaft in der Spätmoderne, die u.a. zum Zweck der Verwaltungsvereinfachung Differenzen ignorieren oder gar eliminieren mußte. In diesem Sinne schloß das klassische Werk des französischen Historikers Philippe Ariès »Le temps de l’histoire« von 1949 mit den Worten: »A une civilisation qui élimine des différences, l’Histoire doit restituer le sens perdu des particularités.«57 Die Kultur der Besonderheiten habe ihren Platz im historischen Diskurs; er sei zugleich der Topos der Selbstverständigung und Selbstvergewisserung derjenigen Identität, die sich als den Anderen der Anderen weiß.58 55 56
57 58
E. Schulin: Rückblicke auf die Entwicklung der Geschichtswissenschaft. In: Die Funktion der Geschichte in unserer Zeit, hrsg. v. E. Jäckel u. E. Weymar. Stuttgart 1975, p. 11-25. Cf. M. de Certeau: L‘écriture de l’histoire. Paris 1975, p. 59; cf. auch die auf die geschichtswissenschaftliche Erkenntnis übertragbare Beschreibung der Komponenten psychoanalytischer Theorie und Praxis, in der erstens »eine objektiv-distanzierte Verhaltens›Erklärung‹, welche den partiellen Abbruch der Kommunikation voraussetzt« und zweitens eine nachfolgende »Aufhebung« der »Erklärung« in ein »vertieftes Selbstverständnis« vorliegt. Beides aber müsse nach K. O. Apel »dialektisch vermittelt« werden K. O. Apel: Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik. In: Hermeneutik und Ideologiekritik. Frankfurt a. M. 1971, p. 7-44, hier bes. p. 43. Ph. Ariès: Le temps de l’histoire. Monaco 1954, p. 325. Cf. zu diesem thematischen Komplex A. Strauss: Spiegel und Masken. Frankfurt a. M. 1968, bes. p. 156ff., zu Recht hat Hans Michael Baumgartner davor gewarnt, das Biographiemodell von Geschichtsschreibung mitsamt seiner Annahme personaler Identität auf
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Aber in der Postmoderne stellt sich noch ein anderes Phänomen ein. Die Kapazitäten der elektronischen Datenverarbeitung sind so angewachsen, daß Menschenverwaltung nahezu alle Differenzen verarbeiten und in »Profilen« neu arrangieren kann. Diese Profile führen aber keineswegs dazu, daß die individuellen Identitäten in ihrer historischen Gewordenheit Berücksichtigung finden könnten. Der Kapazitätszuwachs beruht ja nicht nur auf einer Verbesserung der Hardware, sondern vielleicht vorrangig auf netzförmiger Strukturbildung. Das ist den historischen Wissenschaften eigentlich immer schon, verstärkt aber seit der Schule der »Annales« bewußt. Die elektronische Bildung von Profilen besteht ja nicht in der Anerkennung der individuellen Identität, sondern diese wird auseinandergenommen und neu zusammengesetzt. Profile sind demnach abstrakte und virtuelle Identitäten. Im Abfragen von Merkmalen zwecks Profilbildung sind daher Antworten wie »Ja, aber …«, »einerseits – andererseits« oder »mal so – mal so« nicht ohne weiteres verarbeitbar, Antworten, die jede persönliche Identität als besonnen abwägend charakterisieren würden. Diese Nichtverarbeitbarkeit von Individualität im Sinne der inneren Unendlichkeit des Individuums (Leibniz, Goethe) führt schließlich dazu, daß die Individuen sich selbst als profilfähig stilisieren und präparieren. Für sie hat das den illusionär-positiven Effekt, daß ihre sogenannten Bedürfnisse und Wünsche schon erkannt werden, noch bevor sie sie selbst kennen, d.h. sie dürfen »sich« »verstanden« fühlen. Nur die wenigsten Menschen können sich noch darüber empören, daß z.B. Amazon aufgrund bisheriger Käufe dieses Kunden ein Profil angelegt hat, aus dem dann die Empfehlung abgeleitet wird: »Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch […]« In postmodernen Gesellschaften werden Identitäten anders, abstrakter zugerechnet.59
59
die Vorstellung der Kontinuität von Geschichte zu übertragen. H. M. Baumgartner: Kontinuität und Geschichte. Frankfurt a. M. 1972, p. 299. Baumgartner kritisiert triftig die immer wieder aktuell (natürlich gerade im Medium der Geschichterzählens) zu erbringende Herstellung personaler Identität zu übertragen darauf, daß im Geschichteninhalt eine kontinuierliche Identität verbürgt sei, die für jedes Erzählen von ihm die Kontinuitätsgarantie übernehmen könne. In dem Sinne, in dem die Identität selbst immer problematisch ist und für das Individuum zu einer immer wieder zu leistenden »historischen« Aufgabe wird (l. c., p. 19), in dem Sinne ist dann eben doch das Biographiemodell ein brauchbares Modell. Die eigenerzählte Geschichte eines individuellen oder eines kollektiven Selbst ist zweifellos fundierend für jedes andere Geschichtenerzählen. In diesem Sinne fragt Jeremy Rifkin: »Was passiert mit dem Wesenskern der menschlichen Existenz, wenn sie von einem allumfassenden Netz kommerzieller Beziehungen aufgesaugt [sic!] wird?« J. Rifkin: Access. Das Verschwinden des Eigentums. 2. Aufl. Frankfurt a. M., New York 2000, p. 151. » IBM nutzt sein kognitives Computersystem Watson, um aus Social Media, Online-Foren, Blogs, Kommentaren, Bewertungen und Produktrezensionen aktuelle Shopping-Trends abzuleiten und Verbrauchern Entscheidungshilfen anzubieten. Die vor der Weihnachtssaison angebotene Einkaufsberatung Watson Trend basiert auf der Auswertung von rund 10.000 Quellen. Sie soll daraus die Meinung anderer Verbraucher als die letztlich entscheidende Information herausfiltern.« http://www.zdnet.de/88252498/ibm-watson-erkennt-shopping-trends/, gesichtet 28.11.2015.
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Es geht nicht nur die reale Entwicklung über die traditionelle, Identität stiftende, stabilisierende und modifizierende Funktion des Geschichtenerzählens hinaus, sondern es tauchen Zweifel auf, ob dieses jemals so gewesen sei. Michel Foucault hat – gestützt auf Zweifel Nietzsches – bestritten, daß Geschichte der Stabilisierung oder Modifizierung von Identität dienen könne oder solle. An demjenigen Organisationspunkt, der als »Ursprung« einer spezifischen Geschichte definiert sei, stünde nicht die Wahrheit, sondern »die Äußerlichkeit des Zufälligen.«60 »Wissen bedeutet auch im historischen Bereich nicht ›wiederfinden‹, und vor allem nicht ›uns wiederfinden‹. Die Historie wird ›wirklich‹ in dem Maße sein, in dem sie das Diskontinuierliche in unser eigenes Sein einführen wird.«61 Foucault fordert daher von einer neu ansetzenden Historie vor allem drei Momente: »wirklichkeitszersetzende Parodie«, »identitätszersetzende Auflösung« und »wahrheitszersetzendes Opfer«.62 Identität soll von Geschichte deswegen aufgelöst werden, weil Identität unter den Masken nichts anderes als Parodie sei. Was Foucault hier wirklich angreift und zu recht angreift, ist eine substantialistische Vorstellung von Identität, als wäre Identität so etwas wie das Wesen eines Selbst. Wenn dann die Geschichte an der Vermittlung von Identität mitwirkt, dann erhält sie den Stellenwert eines »Trödelmarkts fehlender Identitäten«. Wenn nämlich Identität im Sinne von Wesen (Eigentlichkeit) nicht unterstellt werden darf, dann könne sie durch Geschichte immer nur scheinhaft gewährleistet werden. Diese These ist freilich keine aufregende Erkenntnis, sondern eine Annahme, zu der wir immer schon genötigt waren, nur etwas provozierender formuliert. Daß es keine Identitätsgarantie durch eine radikale, d.h. gründende Ursprünglichkeit gibt, gerade das erklärt ja die Notwendigkeit des Geschichtenerzählens. Noch einmal Foucault: »Historie will nicht die Wurzeln unserer Identität wiederfinden, vielmehr möchte sie sie in alle Winde zerstreuen […] möchte sie alle Diskontinuitäten sichtbar machen, die uns durchkreuzen.«63 Es ist anzunehmen, daß Foucault mit diesem zentralen Satz folgendes sagen will: Geschichte soll nicht den Versuch machen, die vermeintlichen Wurzeln unserer Identität aufzuspüren, vielmehr möchte sie dazu beitragen, die Vorstellungen von einem identitätsgarantierenden Ursprung des Geschehens aufzulösen und zu zerstören, indem sie erzählt, wie so manches rein zufällig und widersinnig entstand, wenn man die Vorgegebenheiten und damaligen Voraussehbarkeiten in betracht zieht. Auf diese destruierende Weise trägt sie dazu bei, die Vorstellung zu verabschieden, es gebe im Geschehen selbst eine Garantie für Kontinuität der Geschichte und nicht etwa allein durch die Konstruktionen, die wir vornehmen. Das leistet die Geschichte, indem sie besonders auf die Diskontinuitäten aufmerksam wird und diese in die konstruierte
60 61 62 63
M. Foucault: Von der Subversion des Wissens. München 1974, p. 90. l. c., p. 97. l. c., p. 104. l. c., p. 106.
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Kontinuität des Erzählens abbildet. Gerade die Foucaultschen Analysen benötigen aber eine Auffassung von Identität, die er selbst gar nicht thematisiert. Die Diskontinuitäten, »die uns durchkreuzen«, setzen doch vielleicht die Identifizierbarkeit des Ortes einer solchen Durchkreuzung voraus. Außerdem können aber die Linien der Durchkreuzung, die den Ort bestimmen, so verlängert werden, daß die anzunehmende Identität auch eine ist, die in Relation zu anderen, vergleichbaren Durchkreuzungen stehen, seien die Orte solcher anderen Durchkreuzungen nun im Einzelfall individueller oder kollektiver Art. Aus dem Interesse heraus, den kommunikativen Text des Geschichtenerzählens als Ort der Identitätsableitung darzustellen, verbünden wir uns mit der Foucaultschen Kritik der Vorstellung der Identitätsgarantie durch den Ursprung. Aber ein zweiter Einwand trifft ihn. Identitätsvergewisserung durch Ursprungssicherung ist eine geläufige Methode der Stiftung und Stabilisierung von sozialer Wirklichkeit durch Geschichten. Ein jeweils bestimmtes Erzählinteresse kann dem entgegenlaufen wollen, nämlich dann wenn Identität aufgelöst oder modifiziert werden soll. Aber man kann die Wirksamkeit von Ursprungsmythen für Geschichte zwar theoretisch anfechten, aber aus praktischen Gründen kann man sie nicht für alle Fälle abschaffen wollen. Die Bestreitung von mythischer Ursprungsidentität ist eine bestimmte Negation, die intervenierend die Wirklichkeit verändern will. Für solche Veränderungen gibt es bekanntlich hinreichend Anlässe, so daß die Kritik der Ursprungsidentität ebenso legitim ist wie diese selbst. Nichtstun64 dekompensiert psychisch und sozial in der Arbeitsgesellschaft der Moderne. Das kann aber bereits hier durch ein Zusammensein mit anderen in einer gemeinsamen Praxis, in einem reziproken Füreinanderdasein und durch ein gemeinsames Gefühl der Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen aufgehoben sein. Im Ethos, der verbürgten Sitte, Dinge so und nicht anders gemeinsam zu tun,65 ist eine Stabilität gemeinsamer Handlungsorientierung niedergelegt, im Mythos andererseits haben solche Selbstverständlichkeiten ihre bildhafte Qualität gewonnen, die sozialisiert. Der Mechanismus der Erzeugung von Handlungserwartungsstabilität vermittelt sich nicht nur über Geschichten und die in ihnen vermittelten Identitäten und durch Mythen, die den sozialen Ort eines Selbst bestimmen helfen, sie ist nicht einmal nur auf der Grundlage gemeinsamer Ethnien gesichert. Man wird wohl allgemein annehmen dürfen, daß Handlungskontinuitätssicherung in einem Sozialzusammenhang und letztlich auch diejenige einer Person, in Strukturmerkmalen des kommunikativen Textes anschaulich wird, deren Kontinuität ihrerseits sozial ausreichend plausibel
64
65
Zu unterscheiden von Muße; s. K. Röttgers: Muße und der Sinn von Arbeit: Ein Beitrag zur Sozialphilosophie von Handeln, Zielerreichung und Zielerreichungsvermeidung. Heidelberg 2014; cf. auch H. Mai 2015 der Zs. »philosophie magazine« mit dem Thema: »Peut-on être heureux sans travailler?« Siehe K. Röttgers: Das Soziale als kommunikativer Text, p. 107ff.
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ist.66 Solche Sicherungen wirken oftmals durch Vergleichgültigung der individuellen Existenz, d.h. der kontingenten Besetzungen der Funktionspositionen des kommunikativen Textes. Drastisch anschaulich wird das dort, wo das Leben in der Position zur Disposition steht, z.B. im Krieg. Dann setzt der Mythos einer überindividuellen Existenz eines kämpfenden Verbandes (»Nation«, »Volk«) zu außergewöhnlichen Taten frei, die deswegen individuell gleichgültig sind, weil sie das »armselige« Leben des Einzelnen mythisch zugunsten eines Kollektivs vergleichgültigen. Weniger erhebliche und überhebliche Zusammenhänge können auch in weniger totalisierenden Einheiten (Institutionen und Quasi-Institutionen) festgemacht werden und können gleichwohl von ähnlich harter Selbstverständlichkeit sein, sie folgen der Maxime »Das haben wir immer schon so gemacht.« Dieses »Immerschon« ist nicht über eine erzählbare Geschichte ausweisbar (denn diese würde qua Reflexion ja gerade den Bruch voaussetzen), sondern kan höchstens durch einen Ursprungsmythos glaubhaft gemacht werden. Aber im fraglosen Funktionieren von Handlungsabläufen wirkt selbst dieser auf verborgene Weise. Da Institutionen Institutionen qua Stabilisierung von Handlungserwartungen stabilisieren, ist die progressive Institutionalisierung auch ein Prozeß der Ablösung von Mythen und selbst von Geschichten. Das institutionelle Beziehungsgeflecht macht die Sinn- und die Kontinuitätsfrage technisch lösbar. Man kann sich daher fragen, ob nicht das, was Niklas Luhmann als positive Qualität der Systemtheorie preist, bzw. einer Gesellschaft, die ihre Systemtheorie hat und ihre Probleme mit ihrer Hilfe löst, nicht auf dasselbe hinausläuft, was Christian Meier in seiner vergleichenden Analyse von Strukturproblemen von Gesellschaften als einen Zusammenhang diagnostiziert, in dem »strukturbedrohende Mißstände nicht auf die Tagesordnung zu bringen sind, in denen sich die Politik, was ihre Thematik angeht, an der Krise vorbeibewegt.«67 Institutionen erlauben eine traditionale soziale Orientierung und eine Orientierung an Autorität. Das schließt übrigens wiederum nicht aus, daß auf weniger erheblichen Ebenen die Handlungsorientierungprobleme »rational« gelöst werden, also z.B. durch gemeinsames Pläneberaten und Entscheiden. Mythos – Institution – Rationalität lassen sich wesentlich definieren über Fristen, über die Handlungsfolgen abgesehen und kalkuliert werden können. So hat zwar jeder Krieg auch Folgen im Prozeß, die individuelle Katastrophen sein mögen, aber sie »zählen nicht«.
66 67
»Für Marx ist Subjektivität eine Positionszuweisung« (R. Konersmann: Die Unruhe der Welt, p. 256) – und nicht nur für Marx! Chr. Meier: Der Alltag des Historikers und die historische Theorie. In: Seminar: Geschichte und Theorie, hrsg. v. H. M. Baumgartner u. J. Rüsen. Frankfurt a. M. 1976, p. 36-58, hier p. 48; in Beziehung zu N. Luhmann: Weltzeit und Systemgeschichte. In: dass., p. 337-387.
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Traditionale Autorität und die sie tragenden Institutionen werden dort brüchig, wo charismatische Autorität den unmittelbaren Bezug zur Transzendenz der Kontinuität des kommunikativen Textes durch den Begriff Ewigkeit, d.h. des Außerhalbs der temporalen Dimension herstellt. Dann werden Mythos und Rationalität kurzgeschlossen. Das neuzeitliche Naturrecht totalisiert eine Struktur, die der vorneuzeitliche Markt präfigurierte, nämlich eine Struktur mit durch Ort und Zeit festgelegten, durch Privilegien garantierten allseitiger Vertragsfähigkeit aller auftauchenden Subjekte, dem Feilschen und dem Tausch zu beiderseitigem Vorteil, also einer relativ formalen Institution, innerhalb derer sich kurzfristige Handlungsabläufe abspielen konnten. Dem abgelesen, gibt auch das Naturrecht qua Vernunft, die in allen Subjekten dieselbe ist, einen Rahmen ab, der zuläßt, daß die »rationalen« Handlungsorientierungsmuster der Markttätigkeit diejenige langfristigere Orientierungsfunktion übernehmen können, die zuallererst den Mythen anvertraut war. Das kann sie aber nur unter der Bedingung, daß auch die langfristige Kontinuität von überindividuellen Identitäten suggeriert zu werden vermag. Diesem Zweck dient u.a. die Geschichtsphilosophie, die das Wirken der Tradition ideologisch abkürzt. Aber ineins damit entwickelt sie auch ein distanzierendes, ein kritisches historisches Wissen von der Geschichte, das je nach der Zeitspanne, die eine konkrete Geschichte umspannt, im Zusammenhang kurz- oder mittelfristiger Kontinuitäts- und Identitätssicherung stehen kann. Der Bruch mit der Tradition ist in historischem Wissen und dem Geschichtenerzählen immer schon vollzogen, und die Geltung von Autoritäten und der Autorität von Institutionen steht in Frage. Die Antwort auf diese Frage ist dann eine Neubestimmung des Verhältnisses eines Sozialzusammenhangs zu »seiner« Vergangenheit. Für den Rationalisten bleibt die Vergangenheit ein distanzierungsfähiges Buch, dessen Lehren nutzbringend verwertbar sind; der Leser des Buches aber ist nicht selbst ein Teil des Buches; wer aber ein Teil des Buches ist, kann es nicht lesen. Der radikale Rationalismus einer solchen Sicht trifft auf die (konservative) Kritik, daß eine solche Vergangenheitsvorstellung extrem konstruiert sei, indem sie die Kontinuität bloß als eine epistemisch konstruierte Kontinuität begreifen möchte. Wenn die Geschichte der Fluß ist, in den man nicht zweimal steigt, dann steigt der Rationalist, gemäß dieser Kritik, nicht einmal ein einziges Mal hinein. Aus einem grenzenlosen Vernunftvertrauen privilegiert der Rationalist die Gegenwart gegenüber der Vergangenheit in unzulässiger Weise.68 Das kann zwei Gründe haben: 1) Der Kontinuitätsgewißheitsbedarf ist in einer Gesellschaft gering, bzw. wird rein technisch gelöst, und so ist die Gesellschaft stabil; 2) Kontinuität wird »unzeitlich« produziert durch Charismata, ewige Werte, Unantastbarkeiten, z.B. des
68
Cf. J. G. A. Pocock: Time, Institutions and Action. An Essay on Traditions and their Understanding. In: ders.: Politics, Language and Time. Essays on Political Thought and History. London 1972, p. 233-272, bes. p. 269f.
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menschlichen Gewissens und seiner Würde. Ein Sozialzusammenhang, der den zweiten Grund der Geschichtsfunktionalisierung in Wissensbeständen zuläßt, ist auf dem Wege, Geschichte durch Geschichtsphilosophie abzulösen. In beiden Fällen bedeutet Geschichte als Wissen einen Rückgang narrativer Prozesse zugunsten von Gesetzesoder Regelwissen. Die antirationalistische, narrative Einstellung dagegen steigert die Fähigkeit und Zulässigkeit von Abweichungen ohne die Gefahren, die im Übergang von 1) zu 2) als Grund der Erzählunfähigkeit liegen. Komplexe Gesellschaften brauchen komplexe Erzählsituationsstrukturen und bilden komplexe Identitäten heraus, zwischen deren Komponenten Widersprüche generell zulässig sind – schon das ein Skandal für gründliche Rationalisten. Wichtig in einem Zusammenhang narrativer Identitätsvergewisserung ist einzig und allein, daß wir den Text unserer Geschichtenerzählungen fortsetzen können und daß stets zum Zweck der Identitätsmodifikation andere, neue Geschichten präsentabel sind. Statt vom Selbst als einer Funktionsposition hat die abendländische Philosophie vom »Subjekt« oder gar vom »Ich« geredet und diesem teils mehr teils weniger anthropologische Qualitäten beigemessen. Wegen dieser Substantialisierung (die allein Qualitäten-Zuschreibungen erlaubt) kann sie daher dieses »Subjekt« als Ursprung des Phänomens der Identität annehmen. Dieses Ich-Subjekt vermag dieses, das hat Emmanuel Lévinas überzeugend herausgestellt, weil es in Akten der Identifikation den oder das Andere(n) als eine Modifikation des Ich darstellt (»enthüllt«); jenseits der Hülle der Andersheit ist der Andere genau wie »Ich«, auch ein »Ich«. Dieses Zusammenfallen des Ich mit dem Ursprung aller Andersheit-Identifizierung zeigt aber nach Lévinas nichts anderes als eine Angst vor dem Anderen und die Angst, daß das Ich ein Anderer sein könnte69 oder in der hier gewählten Darstellungsweise: daß Selbst und Anderer asymmetrische, aber wechselbare Positionen im kommunikativen Text sind. Wenn man aber weiter von Identität im klassischen Sinne reden wollte, dann käme es darauf an, die Darstellungsbegrifflichkeit von der Funktionspositionalität von Selbst und Anderem umzustellen auf die von Eigenem und Fremdem und damit auch Anschluß zu finden zu Heideggers Rede vom Er-eignis und der Befremdung angesichts eines abgründigen Gründens eines anderen Anfangs des Denkens.70 Diese Umstellung auf die Rede vom Eigenen und Fremden befähigt dazu, beides zusammenzudenken: die im Geschichtenerzählen erzeugte (aber eben nicht als Ursprung vorausgesetzte oder als Ziel vorgesetzte) Identität des Eigenen und die miterzeugte Differenz, die das Eigene vom Fremden trennt.
69 70
E. Lévinas: Die Spur des Anderen. Freiburg, München 1983, p. 209ff. M. Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Frankfurt a. M. 1989 (Gesamtausg. Bd. 65), p. 5, passim.
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Differenzierung und Integration stehen in einem Komplementärverhältnis und sind aufeinander angewiesen, es gibt keine Identität des Eigenen, wenn die Ausbildung der Erfahrung von Fremdheit blockiert ist. Daher ist umgekehrt die kulturelle Globalisierung (z.Zt. als weltumspannende Amerikanisierung) nicht wegen der Flachheit der amerikanischen Kulturindustrie bedenklich, sondern allgemeiner noch wegen der Tilgung des Differenzbewußtseins. Dafür gibt es historische VergleichsLehrstücke, z.B. in der Spätantike, die eine Rückentwicklung vorheriger Differenzierungen war. Aber die historische Entwicklung kennt auch eine Vielfalt von Kompensationen. So besteht z.B. das Bewußtsein oder das Gefühl, daß im Inneren nicht nur die Wurzel der Identität besteht, sondern auch der beunruhigende Abgrund von Fremdheit im Eigenen, das dieses nicht einfache Identität sein läßt, sondern sich als der eigene Tod, das Dämonische oder die mit der »Erbsünde« der mit sich identisch scheinenden Eigenheit fremdartige Verworfenheit äußern kann. Eigenheit ist nicht nur mit sich identisch, sondern auch stets begleitet von seinem bedrohlichen Doppelgänger: Identität von Eigenheit und abgründiger Fremdheit. Der Spalt, die Spaltung des Einen, ist schon im Ursprung, ist selbst in der Idealgestalt des Schönen z.B. gegeben. Aphrodite, die Schönste, entspringt nicht nur einer Muschel, hat also die Gespaltenheit als Ort ihres Ursprungs, sondern in der Form ihrer Scham hat sie, diese Figur der Einheit der Schönheit, die Muschel, den Spalt an sich selbst. Abstrakter gesprochen: Die Arché ist von Anfang an An-Archie, ist Doppelheit von Anfang an.71 Als Gott den Menschen erschuf, da schuf er ihn in Doppelheit »als Mann und Frau«. Erst als der (Sonnen-)Gott glaubte, der Einzige zu sein und sein Komplement, die Mondgöttin, entthronte und verstieß, da korrigierte sich auch der Text des Menschen und Adam bekam als sein Supplement eine »Gefährtin«. Die Frau, die der Mondgöttin (Lilith) ähnelte, welche dem Sonnengott unverständlich fremd war, diese Frau war auch dem Mann ganz und gar unverständlich und fremd. Als er sie aber »erkannte«, da wurde sie seine Begleiterin, Dienerin und Gebärerin (Eva) seiner Kinder. Ein Urspalt aber wiederholt sich und erzeugt iterativ anarchische Strukturen.72 Wenn nämlich der Ursprung der an-archische Spalt ist, dann genau wird die Subjekt/Objekt-Trennung und ihre spezifische Asymmetrie hinfällig, dann bedarf es keiner angeblichen kopernikanischen Wendung durch den Kantianismus mehr. Dann ist Subjekt weder mehr das einer Herrschaft (arché) Unterworfene, noch das in seiner
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Cf. K. Röttgers: Die Möglichkeit einer an-archischen Praxis. http://www.fernuni-hagen.de/imperia/md/content/philosophie/textdokumente/an-archisch.pdf Daß der Spalt ein Effekt der Zeit ist, betont Gilles Deleuze: »So geht die Zeit ins Innere des Subjekts ein, um in ihm das Ich und das ich zu unterscheiden. […] ›Form des Inneren‹ [bei Kant: des inneren Sinns, K.R.] bedeutet nicht nur, daß die Zeit uns innerlich ist, sondern daß unser Inneres uns selbst unentwegt spaltet, uns fortwährend entzweit: Eine Spaltung, die nicht bis zum Ende gelangt, das die Zeit kein Ende hat.« G. Deleuze: Kants kritische Philosophie. Berlin 1990, p. 11.
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Autonomie übermütig Mächtige, sondern dann ist es das, was es im Französischen und Englischen immer noch sein kann: der Sachverhalt, von dem im kommunikativen Text als Selbst die Rede ist. Das soziale Band ist der uns verbindende Text, solange nicht einer von uns zum Herrscher erklärt wurde, entweder von sich selbst oder im Sozialvertrag von allen anderen. Wenn wir das Band (den Text) auflösen, individualisieren wir einen »von uns« zum Individuum, nicht mehr verwechselbar mit »uns« und nicht mehr »zu uns« gehörig; er darf dann die Einheit jenseits aller Gespaltenheit für sich und als Geltung »für uns« beanspruchen. Diese Individualisierungsmarkierung (seine »Identität«), hält den Prozeß an, der uns verbunden hatte. Spaltung hatte in der Moderne bis in die Spätmoderne oft die Struktur von Kritik;73 Kritik aber ist in ihrer Begründung in der Reflexionskultur der Wende um 1800 die Abgrenzung und damit die bezeichnende, stigmatisierende Ausgrenzung (Unterscheidung, Diskriminierung). In diesem Sinne hat man dann in der Spätmoderne auch Identifikation als unkritisch, als »Einübung oder Nachahmung«, als Integrationsemphase statt Konfliktkultur beargwöhnt.74 Was aber geschieht mit dem kritisch Verworfenen, dem Abgegrenzten und Ausgegrenzten? Kann es aus sich heraus, aus der Tiefe seines Inneren heraus so etwas wie Selbst-Identität entwickeln? Um aber diese Frage anzugehen, muß man zuallererst den Fetisch eines substantiellen Selbst als Quelle einer solchen Identität verwerfen, von dem aus so etwas wie eine »Selbst-Verwirklichung« entspringt und das vom ausgrenzenden Kritiker der Moderne daran gehindert wird. Das Selbst ist eine Funktionsposition im kommunikativen Text: es kann sich nicht »verwirklichen« und braucht es auch nicht. Es ist in seiner Funktion im kommunikativen Text wirklich. Trotzdem, wir wissen es, erzeugt Ausgrenzung für die betroffenen Besetzungen der Positionen (menschliches) Leid, aber nicht weil eine sich verwirklichen wollende substantielle und damit a-priori-Identität irritiert, gestört oder gar zerstört würde. Die Erfahrung belehrt uns, daß Ausgrenzung jeden »von uns« treffen kann, und zwar weil Ausgrenzungskriterien ad hoc und kontingent immer wieder neu bestimmt werden. Angesichts eines die Öffentlichkeit durchstimmenden gutmenschlichen unbegrenzten Integrationswillen geraten die neuen Ausgrenzungen oft aus dem Blick. Wer z.B. von der 68-er Generation, die es als soziale Emanzipation ansah, in den Universitätsseminaren zu rauchen, und empört den Raum verließen, wenn der autoritäre Semi-
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K. Röttgers: Kritik. In: Enzyklopädie Philosophie, hrsg. v. H. J. Sandkühler. Hamburg 1999, I, p. 738-746. So etwa J. Kocka: Gesellschaftliche Funktionen der Geschichtswissenschaft. In: Wozu noch Geschichte?, hrsg. v. W. Oelmüller. München 1977, p. 11-33, hier p. 31f.; zur Politik der Ausgrenzung s. auch Alain Badiou: »[…] Ausschließung […]weil das Ganze der Gemeinschaft ein bestimmtes Kollektiv nicht als einen seiner Teile zählt. Das Ganze zählt dieses Kollektiv für nichts. Wenn dieses Nichts sich äußert […], gibt es Politik.« A. Badiou: Über Metapolitik. Zürich, Berlin 2003, p. 126.
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narleiter darum bat, das Rauchen einzustellen, hätte sich träumen lassen, daß die Diskriminierung der Raucher heute so weit geht, daß sie ihre einzelgenutzten Arbeitszimmer verlassen müssen und in Regen und Kälte vor dem Gebäude stehen müssen oder daß sie auf den Bahnhöfen in kleine, gelb begrenzte Kästchen gepfercht werden, auch diese oftmals außerhalb der Überdachung, ungeschützt vor Regen und Schnee. Kontingente Moralisierungen können heute jeden treffen. Mobiltelefonie in Ruhezonen und anderswo führt dagegen, auch wenn der Belästigungsumfang oft größer ist als das Rauchen, keineswegs zu einer Ausgrenzung. M.a.W. die Ausgegrenzten haben keine Qualitäten ihrer Identität, die sie dazu machen, vielmehr kann Opfer einer Ausgrenzung in unvorhersehbarer Weise, mal dieser, mal jene sein.75 Michel Serres hat diese Funktionsstelle im System kritischer Abgrenzungen und Ausgrenzungen als »Joker« bezeichnet. »Dies weiße Objekt hat […] keinen Wert, damit es alle Werte annehmen kann. Wohl gibt es eine Identität, aber seine Identität, sein besonderes Merkmal, seine Differenz, wie man sagt, ist es gerade, indifferent zu sein, jeweils die eine oder andere Besonderheit aus einer bestimmten Menge annehmen zu können.«76 Seine Identität ist seine Funktionsidentität. In der Linguistik nennt man diese Leerstelle das Zero-Phänomen, bzw. auch den »Shifter«. Dieses Phänomen hat z.B. keinen bestimmten Lautwert, z.B. der Glottisverschluß im vokalischen Anlaut in der deutschen Sprache, der es, anders als in den romanischen Sprachen, unmöglich macht, einen gleitenden Übergang vom Endkonsonanten des vorhergehenden Wortes vorzunehmen; aber so tritt das Zero-Phonem gleichwohl in die Funktion eines Phonems ein. Solche Identität sowohl des Außerhalb wie des Innerhalb konstituiert sich über (variable) Negationen. Das Nichts inmitten des Seienden. Insofern ist das Grundphänomen die Differenz, sei es zwischen irgendwie substantiell Gegebenem, sei es auch der reinen Relationen und Funktionen. Foucault stellt fest, »daß wir Unterschiede sind, daß unsere Vernunft der Unterschied der Diskurse, unsere Geschichte der Unterschied der Zeit, unser Ich der Unterschied der Masken ist. Daß der Unterschied, weit davon entfernt, vergessener und wiedererlangter Ursprung zu sein, jene Verstreuung ist, die wir sind und die wir vornehmen.«77 Die Beschreibung des von Foucault so benannten Archivs, d.h. der diskursiven Praktiken, gestattet es, den Bruch zu markieren von dem, was »wir« nicht (mehr) sind, d.h. also Kontinuitäten aufzubrechen, die uns suggerierten, daß es in der Zeit eine sich durchhaltende Identität gäbe / geben müsse: »[…] da, wo das anthropologische Denken nach dem Sein des Menschen oder seiner Subjektivität fragte, läßt sie [die
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K. Röttgers: Kontingente Moralisierungen. In: Journal Phänomenologie 12 (1999), p. 1517; ders.: Wertepolitik. In: Zs. f. Kulturphilosophie 3 (2009), p. 135-150. M. Serres: Der Parasit. Frankfurt a. M. 1981, p. 243. M. Foucault: Die Hauptwerke. Frankfurt a. M. 2008, p. 616.
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Beschreibung des Archivs, K.R.] das Andere und das Außen aufbrechen. Die so verstandene Diagnose erreicht nicht die Feststellung unserer Identität durch das Spiel der Unterscheidungen.«78 Freud hat darauf hingewiesen, daß die vorsprachlichen »Primärprozesse« keine Negation (und keine Temporalität) kennen; im Kern des Unbewußten gibt es demzufolge nur nebeneinander bestehende »Triebrepräsentanzen«, die sich selbst dann, wenn sie in verschiedene Richtungen gehen, nicht widersprechen. »Es gibt in diesem System keine Negation, keinen Zweifel, keine Grade von Sicherheit. All dies wird erst durch die Arbeit der Zensur zwischen Ubw und Vbw eingetragen. Die Negation ist ein Ersatz der Verdrängung von höherer Stufe. Im Ubw gibt es nur mehr oder weniger stark besetzte Inhalte.«79 M.a.W. die Primärprozesse sind rein analog, erst die Sprache führt die Digitalisierung (a ˅ ¬a) ein. Nach Rousseau80 waren die ersten Worte des Menschen »aimez moi« oder »aidez moi«. Ersteres in den südlichen Ländern, letzteres in den nördlichen. Da kann man sich dann freilich schon einmal verhören; entscheidend ist aber in beiden Fällen, daß ein Appell an einen Anderen aufgrund eines Mangels erfolgt. Und das erste Sprechen ist so ein Netz von Verführung (zu Liebe oder Hilfe), Verführtwerden, und von Verführen-Wollen und Verführtwerden-Wollen.81 Anders als Freuds Begriff des negationslosen Unbewußten unterstellt, nimmt Lacan an, daß das Unbewußte wie eine Sprache strukturiert sei. Zu dieser Annahme wird er dadurch gebracht, daß er – im Unterschied zu Freud – keinen Primärprozeß aus reinem Triebgeschehen – also quasi Natur pur – anerkennt. Nichts ist im Jenseits des Kulturellen. Das hat Folgen für die Interpretation des psychoanalytischen Prozesses. Freud mußte noch annehmen, daß der Psychoanalytiker dem Patienten die Geheimnisse seines Unbewußten zu enthüllen hilft, welche also, wenn auch verschüttet und verdeckt, schon da sind und nur darauf warten, wie ein Geheimcode geknackt zu werden. Die kulturalistische Deutung der Psychoanalyse dagegen geht davon aus, daß sich das Unbewußte des Patienten nicht im Jenseits des Prozesses vorfindet. Vielmehr wird das jeweils spezifische Unbewußte im psychoanalytischen Prozeß konstituiert. Alles spielt sich im Diesseits ab. Die Heilung besteht daher nicht in einer Art wie das Trockenlegen der Zuiderzee (wie Freud es einmal bezeichnete), sondern die Heilung ist der Prozeß des Erprobens und Erlebens einer neuen Kommunikationsform und
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l. c., p. 615f.; cf. A. Hetzel: Zwischen Poiesis und Praxis. Würzburg 2001, p. 40; allgemein dazu P. Gehring: Foucault – Die Philosophie im Archiv. Frankfurt a. M. 2004. S. Freud: Werkausg. in 2 Bden., hrsg. v. A. Freud u. I. Grubrich-Simitis. Frankfurt a. M. 1978, I, p. 143. J.-J. Rousseau: Essai sur l’origine des langues, ed. Ch. Porset. Paris 1969, p. 131. Cf. J. Starobinski: Jean-Jacques Rousseau. La transparence et l’obstacle. Paris 1971, p. 356-379.
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-chance. Der psychoanalytische Prozeß findet nicht etwas Verschüttetes/Verdrängtes (wieder), sondern er erfindet neue Möglichkeiten, die bislang blockiert waren. Wenn schon das Unbewußte nicht in einem transkulturellen Jenseits liegt, sondern in den kommunikativen Prozeß (Text) gehört, dann ist von diesem Zwischen des kommunikativen Textes zu sprechen. Und dann ist die Frage, was die Struktur dieses Medialen ist, das die Identitäten verteilt. In den Zeiten des Internets dürfte nun ein klareres Bewußtsein darüber möglich sein, daß diese medialen und intermedialen Verflechtungen, Vernetzungen und multimedialen Texturen die Mitte/das Medium netzförmig und transversal strukturieren. Netzförmig heißt dabei, daß zwischen zwei Bezugspunkten bzw. funktionalen Positionen im kommunikativen Text stets mehr als zwei Verbindungen möglich sind und daß damit die einfache Linie aufgehört hat das Bild der kürzesten Verbindung zwischen ihnen abzugeben; und transversal heißt, daß zwischen zwei solchen konsistenten Netzen stets mehr als drei Richtungen möglich sind. Dadurch ist die Hierarchie (arbor porphyriana) keine brauchbare Denkstruktur mehr. Diese, aber auch das Modell der Kritik zwecks Beseitigung von Mängeln und Herbeiführung eines Besseren, das Modell einer Dialektik oder das Modell einer Grund-Legung unterstellen immer noch Linearität von Abfolgen von einer Arché zu einem Telos, gesichert durch eine Methode eindeutiger und richtiger Schritte. Die Arché ist ursprungsbezogene Gründung und Beherrschung, und das Ziel ist die (Wieder-)Gewinnung des Heils. Diese Auffassung ist immer noch handlungstheoretisch und anthropozentrisch diktiert. Danach verliefen soziale Prozesse ab wie das Leben des einzelnen Menschen: es beginnt mit der Geburt des Einzelnen und endet mit dem Tod ebendieses Einzelnen, zusammengehalten durch den linearen Prozeß der Identität. Daran arbeitet dieser Einzelne unaufhörlich und methodisch geleitet, so daß er am Ende noch »derselbe« ist wie am Anfang. Dieser Arbeitsprozeß wird hierarchisch geleitet durch den »Kopf«, d.h. eine Befehlszentrale. Die sozialen Prozesse werden unter solchen Voraussetzungen dann genau so gedacht: Es gibt (nicht: il y a, sondern: man gibt uns) eine Befehlszentrale, den Kopf, die Metropole, das ZK oder den Führer. Immer käme es darauf an, eine Einheit (des Volkes, der Nation, der Arbeiterklasse oder was auch immer) durch Vereinung zu bilden und von dem Oben beherrschen zu lassen, um die Vielfalt und das Komplexe in eine in der Zeit kontinuierliche, identitäre Form zusammenzuführen. Netzförmiges Denken entzieht sich alldem. Es ist an-archisch und ateleologisch. Gewiß, das Internet hat irgendwann angefangen, aber Anfänge sind etwas anderes als Gründungen. Anfänge begründen keine Herrschaftsstrukturen. Anfänge kommen als Vielheit vor, am Anfang steht nicht das Eine.82 Die Mitte ist nicht eine einfache Einheit, sondern eine sich ordnende Vielfalt in sich durchkreuzenden Ordnungsstrukturen.
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Daher ist dem entschieden zu widersprechen, daß »sich die Welt geteilt [habe] und neben die Einheit die Vielheit treten lassen […]« (R. Konersmann: Die Unruhe der Welt, p.
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Insoweit es sich dabei um die diskursiven Dimensionen des kommunikativen Textes handelt, kann man mit Jean-Luc Nancy sagen, daß die Welt keinen, d.h. nicht den Einen Sinn hat. Die Welt und damit der Sinn der Welt beginnt an jedem Punkt des Netzes neu. Der Begriff des Ursprungs oder des Grundes im Sinne von Heidegger83 wird obsolet; stattdessen wird man nun von einem pluralen, jeweils singulären »Auftauchen« von Sinn und Welt sprechen müssen.84 Eine Harmonisierung oder wenigstens Korrespondenz des inneren und äußeren Anderen verleiht einem Selbst eine gewisse Sicherheit, die sich in der temporalen Dimension des kommunikativen Textes als Kontinuität im Verlauf der Zeiten und in der diskursiven Dimension als die Sinn-Stabilität einer gemeinsam geteilten Welt auswirkt. Oder in der klassischen, subjekttheoretischen Sprache ausgedrückt: »The faith that my feelings can be communicated, that my ideas can be understood and spread, makes me feel secure.«85 Wenn Ganguly, von dem das Zitat stammt, aber ferner meint, mißverstanden zu werden, werfe das Subjekt zurück in eine Welt des Schweigens, so verallgemeinert er eine und nicht unbedingt die produktive Form des Mißverstehens. Normalerweise geht der kommunikative Text trotz Mißverstehens weiter, z.B. um das Mißverstehen auszuräumen oder sogar trotz, ungeachtet oder wegen des Mißverstehens. Das totale Mißverstehen, so daß eine weitere Kommunikation überhaupt nicht mehr möglich ist, sondern nur das resignative Schweigen, ist ausgesprochen selten. Zudem aber ist ein totales Verstehen gar nicht feststellbar, von wem auch? Also ist das partielle Mißverstehen als der kommunikative Normalfall anzunehmen. Eine der Formen der Fortsetzung des Textes ist das taktvolle Übergehen der (vielleicht auch nur von einer Seite) bemerkten Differenz, eine andere die Metakommunikation, um die Bedingungen der Fortsetzbarkeit der Kommunikation zu diskutieren. Das reicht von einem Dialog wie ›Du hörst mir ja gar nicht zu‹ – ›Doch!‹, in dem das Mißverstehen auf der metakommunikativen Ebene reproduziert wird, bis zu expliziten, reflektierten Klärungen der Begriffsverständnisse (wobei die erreichte Klarheit sehr wohl auch ein unbemerktes einvernehmliches Mißverstehen sein kann, das dann nur der Dritte feststellen kann, allerdings auch seine Beobachtung anfechtbar). Noch eine andere Form ist jenes produktive Mißverstehen, das gerade
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113). Schon im Paradies war der Mensch nicht Einheit, sondern Zweiheit, der Geschlechter nämlich; in mythologischer Hinsicht steht neben Jahwe, dem Sonnengott, die Mondgöttin Lilith, ganz zu schweigen von der griechischen Göttervielfalt. In kosmologischer Hinsicht steht für Lukrez beispielsweise die Vielheit der Atome und die Vielheit ihrer Relationen am Grund des Seins. Abgesehen vom späten Platon war erst Plotin der Begründer der Einheitsphilosophien, ihr Höhepunkt vielleicht Cusanus. Allerdings wird man zu diesem Grund/Abgrund, der im Ereignis die Wahrheit des Seyns ereignen läßt, bei Heidegger hinzufügen müssen, daß dieser »andere Anfang« eben nicht einmalig ist; er wiederholt nicht nur den ersten Anfang, sondern er kann auch immer wieder sich ereignen. M. Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). J.-L. Nancy: Le Sens du monde. Paris 1993, p. 80. S. N. Ganguly: Culture, Communication and Silence. In: Philosophy and Phenomenological Research XXIX (1968/69), p. 182-200, hier p. 184.
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die Fortsetzung der Kommunikation sichern kann, wo eine Aufklärung des Mißverstehens die Möglichkeit der Fortsetzung gefährden würde.86 Das Normative der Sprache, das sie zur Diskursivität qualifiziert, ist, daß sie ein Medium bereitstellt (den Text), in dem sich wiedererkennbare soziale Situationen ereignen. Die Medialität der Sprache, auf die seit Herder, Benjamin und Cassirer immer wieder hingewiesen worden ist, macht sie, gemäß der Unterscheidung Kultur vs. Zivilisation,87 zu einem Moment der Kultur. Eine Zuordnung zur Zivilisation würde eine instrumentalistische Sprachauffassung nahelegen. Diese Sicht hatte der frühe Walter Benjamin in die Formel gekleidet: »Was teilt die Sprache mit? Sie teilt das ihr entsprechende geistige Wesen mit. Es ist fundamental zu wissen, daß dieses geistige Wesen sich in der Sprache mitteilt und nicht durch die Sprache. Es gibt also keinen Sprecher der Sprachen, wenn man damit den meint, der durch diese Sprachen sich mitteilt.«88 Sprechen ist keine Technik, sondern eine Praxis. Wie macht sie das, diese Mitteilung? Die Praxis, die die Subjekte in den kommunikativen Text verwickelt und verstrickt, läßt sich auf drei Ebenen analysieren: •
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Als Aktualisierung von Sinn: nur das Sagbare läßt sich sagen, insofern ist Sinn in der Sprache eine Vorgegebenheit, die sich im Fundus der Wörter und der grammatischen und diskursiven Regeln ihrer Verknüpfbarkeiten ausgestaltet. Dieser Aspekt ist ausgesprochen konservativ: Der Sprecher ist unter diesem Aspekt nur ein Funktionär, ein Rädchen im unendlichen Sprachgetriebe. Als sei es von Gesetzen getrieben, unterliegt das Sprachgeschehen Normierungen; Ist es auch wie von Gesetzeskraft geregelt, ist das Sprechen jedoch immer auch zugleich die Befreiung vom Gesetz. Das poetische sowieso, aber auch das philosophische Sprechen, allgemein jedes Sprechen, das auf Metaphorisierungen nicht verzichten kann, aber auch der Witz der Alltagssprache sind solche For-
Solche Fälle habe ich untersucht in: K. Röttgers: Die Einheit deutsch-französischer Mißverständnisse - oder: der Pumpernickel-Effekt. In: Hagener Universitätsreden 12 (1988), p. 49-60. Nach der eingängigen Entgegensetzung von R. M. MacIver: The Modern State. London 1966, p. 325, ist Kultur das, was wir sind, Zivilisation aber das, was wir gebrauchen oder benutzen. Diese Definition MacIvers weicht in bemerkenswerter Weise von der ab, die in Deutschland seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gebräuchlich geworden ist. Danach wird Zivilisation mit Oberflächlichkeit und gefälligem Schein assoziiert, d.h. mit den Franzosen und später den Amerikanern, Kultur aber mit derjenigen Tiefe, wie sie nur die deutsche Seele (und vielleicht aber auch die russische) kennt. Das schlägt auf die Deutung des Schauspielertums durch, in dem es ja prima vista um die Erzeugung eines Scheins geht; s. W. von Humboldt: Über die gegenwärtige französische tragische Bühne. In: Texte zur Theorie des Theaters, hrsg. v. K. Lazarowicz u. Chr. Balme. Neue Aufl. Stuttgart 2000, p. 182-191, L. Tieck: Soll der Schauspieler während der Darstellung empfinden? Soll er kalt bleiben? In: dass., p. 212-216. (Das ist natürlich eine Auseinandersetzung mit Diderots »Das Paradox des Schauspielers«). W. Benjamin: Gesammelte Werke. Frankfurt a. M. 2011, I, p. 207.
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men der Befreiung. Förderliche Bedingungen sind allgemein die Heterogenisierung, die produktive Disziplinlosigkeit, die Diskursuntreue, aber auch z.B. die Kulturbegegnung mit ihren reizvollen Mißverständnissen. Diffus und diskret ist dieses Sprechen, bzw. dieser Aspekt, unter dem mehr oder weniger jedes Sprechen betrachtet werden kann. Es gilt nicht mehr: clare et distincte, sondern es gilt die Mélange, die Begegnung, in der sich das Sprechen transformiert.89 Dessen Subjekt ist nicht mehr der Alleinige (All-Einige); dessen Sprechen im kommunikativen Text kann nicht mehr als monologischer Aus-druck (Herausdrücken) eines Meinenden, der Sprache anwendet, betrachtet werden. Als sprechendes Selbst ist es immer auf den Anderen bezogen (vor dem Hintergrund des Dritten). Der dritte Aspekt forciert gerade den Aspekt dieser Figur des Dritten. Es ist auch der Aspekt der immer mitlaufenden Möglichkeit von Reflexion des Primärprozesses in der dialogischen Situation. Dieser dritte Aspekt macht aus dem kommunikativen Text etwas Raffinierteres als die simple Linearität von Textualität zu suggerieren scheint.
Und gerade dieser dritte Aspekt löst auch das klassische Identitätskonzept auf. Kulturell sind wir niemals einfach und identisch, sondern immer schon Vielheiten. Anders gesagt, wir brauchen ein Identitätskonzept, das in sich heterologisch und hybrid ist. Aus dieser Forderung leitete Simon Critchley das Postulat einer kontrapunktischen Philosophiegeschichtsschreibung ab: »[…] this would mean studying the history of philosophy not as a unified, universal, linear, narratable and geographically delimitable (i.e. European) procession stretching from the Athens of Socrates to Western late modernity, but, rather, as a series of constructed, contingent, invented and possible non-narratable contrapunctual ensembles that would disrupt the authority of the hegemonic tradition.«90
Bevor in diesem Kapitel der nicht festgelegte Dritte näher in Betracht gezogen werden soll, werden zwei Vorbemerkungen nötig sein, um die Notwendigkeit der Nichtfestlegung zu verdeutlichen. Die erste bezieht sich auf zwei Varianten des Alteritätsverständnisses; denn ersichtlich hängt die Deutung der Rolle des Dritten von dem Grad der Andersheit des Anderen ab. Die zweite Vorbemerkung bezieht sich auf die Konsequenzen einer Entscheidung für Immanenz; denn läßt man eine nicht-imma-
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Michel Serres hat auch den Enkulturierungsprozeß der wechselseitigen Domestizierung der Menschen und ihrer Haustiere als eine solche Mélange beschrieben. M. Serres: Hominiscence. Paris 2001, p. 125ff. S. Critchley: Ethics. London, New York 1999, p. 137.
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nente Transzendenz zu, dann kann – wie letzten Endes bei Lévinas und seinen Adepten – der Dritte naheliegenderweise als Gott identifiziert und dadurch nicht-austauschbar gemacht werden. Ad 1) Interpretiert man den Anderen als den ganz-Anderen, in seinem Ursprung und in seinem Wesen different, d.h. aber auch ignoriert oder negiert man den kategorialen Unterschied zwischen dem Anderen und dem Fremden, weil der Andere ganz und gar anders und damit fremd ist, dann gibt es eigentlich keine Kommunikation mit ihm; eine unendliche Distanz, ja eine unüberwindbare Grenze trennt uns für immer von ihm. Nie werden wir verstehen. Dann gilt eben nicht nur der sozialphilosophisch gerechtfertigte Satz ›Abwesend ist immer der Andere‹, d.h. nie das Selbst, sondern dann auch die Umkehrung ›Der auf immer Abwesende, also der Fremde, das ist der Andere.‹ Aus einer solchen solipsistischen Alteritätskonzeption rettet auch kein Dritter, weil auch er, ja vielleicht gerade er noch mehr unendlich fremd bleibt. Und wenn er etwas zu sagen hätte, verbliebe sein Gesagtes doch jenseits jeder Verständlichkeit. Der kommunikative Text ist unter dieser Bewandtnis ein Monolog und ein autistisches Delirieren. Die verständigere Alteritätskonzeption nimmt den Anderen als den Anderen eines Selbst im kommunikativen Text. Selbst und Anderer sind vermittelt, und sie verstehen sich – mehr oder weniger, aber nicht niemals. Die Ethiker unter den Philosophen sind sich nun uneins darüber, ob das Ethische gründet im Anspruch des Anderen oder im Einspruch des Dritten.91 Für die Anspruchs-Ethiker wird der Dritte dann herbeigerufen, wenn mehrere Andere mit verschiedenen Ansprüchen an ein Selbst auftreten, und zwar jeweils mit unbedingten Ansprüchen. Für diese Ethiker ist der Dritte dann der gerechte Schlichter zwischen unnachgiebigen Unbedingheiten; das hat zur Folge, daß seine Position im Text nicht austauschbar ist, sintemal es nur eine, nur eine einzige wahre und gerechte Gerechtigkeit geben kann, bzw. geben darf. Anspruchsethiker sind im Ursprungsdenken befangen oder gefangen. Der einspruchsethische Dritte dagegen hat die Gerechtigkeit nicht gepachtet. Zwar macht sein kritischer Einspruch einen Appell an Gerechtigkeit im Streit moralischer Ansprüche, aber er kann sich irren, sein Einspruch kann von den Betroffenen einvernehmlich zurückgewiesen werden. Und er kann auf diese Weise auch aus der Position des Dritten vertrieben werden und zum Anderen einer ausgeschlossenen Metakritik werden. Hier ist die Besetzung der Position des Dritten nicht festgelegt, sondern rotiert im Ensemble der Positionen von Selbst, Anderem und Drittem.
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Ersteres behaupten bekanntlich Lévinas und die Levinasianer; letzteres hat z.B. Heike Kämpf als Charakteristikum einer postfeministischen Ethik herausgearbeitet: H. Kämpf: Perspektiven einer postfeministischen Ethik jenseits einer geschlechterspezifischen Moral. In: Ethica 11 (2003) 2, p. 115-138.
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Ad 2) Nun also zur Frage der Überschreitung in einer Immanenzphilosophie.92 Eine Immanenzphilosophie hat es als eine Unterströmung in der europäischen Philosophiegeschichte immer gegeben; aber die Dominante war ein vom Neuplatonismus ausgehendes Denken der Einheit und der Hierarchie als Ordnung des Einen. Sowohl die himmlischen wie auch die irdischen Sphären waren danach durch Hierarchien geordnet. Anti-hierarchisches Denken rückt in die Nähe zur An-archie, und Anarchie bedeutet Unordnung, meinen die Herrscher und die Beherrschten. An-archie bedeutet jedoch zunächst nichts anderes als den Verzicht auf eine von einem Ursprung (arché) her begründete Herrschaft (ebenfalls: arché). An-archisches Denken bezweifelt, daß soziale Ordnung nur denkbar sei als die Differenz von Herrschenden und Beherrschten. Die Unterscheidung sei, behaupten die Hierarchiker, die Grundunterscheidung, die die Politik definiere. Dagegen steht die These, daß die politische Verfassung derjenige Zustand sei, der die maximale Machtentfaltung aller (gemeinsam oder nebeneinander) gewährleistet. Diese gemeinsame Macht wird nicht durch Gehorsam an irgendeiner Stelle erwirkt. Diesen zwei Politikmodellen liegen verschiedene Ontologien zugrunde. Deleuze verdeutlicht den Unterschied durch verschiedene Konzeptionen von Kausalität. Plotin und seine Nachfolger kennen eine emanative Kausalität. Das Eine kompliziert (= umfaßt) alle Seienden. Und umgekehrt: Jedes partikulare Seiende expliziert das Eine. Man könnte bereits bei ihm eine immanente Kausalität erkennen wollen, weil dieses Enthaltensein des Seienden im Einen als eine innere Beziehung des Einen zu sich als den Seienden verstanden werden könnte. Tatsächlich aber ist es eher eine Schöpfungskausalität, die die Geschöpfe außer sich haben wird. Das heißt, hier liegt eine Folgeordnung vor. Und so war der Immanenzgedanke zwar (immanent!) verborgen immer schon da; aber erst bei Spinoza wird er ausdrücklich formuliert. Die immanente Kausalität, deren Vorbild die göttliche causa sui im Gegensatz zur causa efficiens ist, läßt Ursache und Wirkung nicht mehr, vor allem nicht als eine zeitliche Folge, auseinandertreten. Die schöpfungstheologische Konsequenz ist gravierend: Schöpfer und Geschöpf verhalten sich nicht mehr wie Verursacher und Verursachter, als Wirkender und Bewirkter zueinander. Spinozas Grundannahme ist, daß es nur eine einzige, unendliche Substanz gibt. Diese eine Substanz besitzt daher alle möglichen Attribute. Was vormals die geschöpften Geschöpfe waren, sind nunmehr die Modi oder Seinsweisen dieser einen Substanz. Wenn das aber so ist, dann ist eine
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Die Erörterung wird hier angelehnt an die Spinoza-Interpretation von Gilles Deleuze: G. Deleuze: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie. München 1993.
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von Natur aus gegebene Hierarchie undenkbar geworden. Alle Wesen sind unhierarchisch gleich. Das gilt auch für Körperlichkeit und Geistigkeit: kein Vorrang des Geistes mehr, totale Immanenz, insofern kein Modus der einen Substanz, durch die die Ebene, auf der sich alle befinden, verlassen werden könnte: kein Oben – kein Unten. Deleuze nennt diese Ebene in Anlehnung an seinen Lehrer Maurice de Gandillac eine Immanenzebene. Alle Bewegung, alle Aktivität findet in dieser Ebene statt.93 Immanenzebene bedeutet keineswegs, daß alles einerlei sei. Im Gegenteil: es gibt immer Unterschiede in der Entfaltung der Macht (Seinsmöglichkeit). Daß einer (vielleicht nur in einer Hinsicht) mächtiger/vermögender/könnender ist als ein anderer, verleiht ihm keine Erhabenheit. Und wenn einer seine Macht erweitert, heißt daß mitnichten, daß ein anderer deswegen eingeschränkt wird. Sie können ihre Seins- und Handlungsmöglichkeiten auch gemeinsam steigern.94 In diesem ersten Kapitel hatten wir gezeigt, daß Identität nicht an substantiellen Subjekten haftet, sondern daß sie im Prozeß erzeugt wird. Ihr genuiner Ort ist daher die Medialität, das Zwischen, in dem der kommunikative Text sich ereignet. Wir werden also im folgenden Kapitel zu klären haben, was Medialität heißt. Dabei werden wir ausgehen von einer Kritik weit verbreiteter Vorstellungen von Medien als handlungstheoretisch einsetzbaren Mitteln, um Ziele zu erreichen. Hinauslaufen wird das auf einen Medienbegriff, einen Begriff von Medialität, dessen Ort die verbindende und trennende Mitte im Prozeß ist, d.h. das Zwischen zwischen Selbst und Anderem als den Fuktionspositionen im kommunikativen Text.
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G. Deleuze: Spinoza und das Problem des Ausdrucks, p. 151-165; ders.: http://www.webdeleuze.com/pdf/fr/Spinoza/020078.zip; daran anknüfend: K. Röttgers: »Oben ohne« – Denken ohne Kopf. In: ders.: Kopflos im Labyrinth, p. 9-29, bes. p. 23ff.; cf. auch R. Konersmann: Die Unruhe der Welt, der bei Marx ein »Hervortreten jenes Immanenzraums« erschließt, »der den privilegierten Standpunkt nicht mehr kennt […]« (p. 26).t Dazu auch K. Röttgers: Spuren der Macht. Freiburg, München 1990, p. 154ff.; was das für Kommunikation bedeutet, behandelt D. Wyss: Mitteilung und Antwort. Göttingen 1976, p. 370f.
2. Medialität
2.1 Z UM B EGRIFF
DES
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Das erste und hervorragende Beispiel für Medialität ist die Sprache. Aber was verstehen wir denn überhaupt unter »Sprache«? Das deutsche Wort bezeichnet dreierlei, was das Französische unterscheiden kann und die Linguistik zu trennen lehrt: langue, parole, langage. Im Deutschen kann man diese semantischen Differenzen in drei Beispielen verdeutlichen. ›Ich spreche die deutsche Sprache‹ (langue) – ›das verschlägt mir die Sprache‹ (parole) – ›ein Baby verfügt noch nicht über die Sprache‹ (langage). Die Sprache besteht, so sagt man, aus Zeichen; aber am Zeichen ist zweierlei zu unterscheiden: der Zeichenkörper und das Bezeichnete, das Zeichen selbst ist die Einheit von Zeichenkörper und bezeichnetem Inhalt. Daß der Franzose ›dieu‹ sagte, wo der Deutsche von ›Gott‹ redet, ist dieser Unterschied des Zeichens, wobei das Bezeichnete (sofern es die gleiche Religionsgemeinschaft ist) identisch ist, und zwar unabhängig davon, ob diesem Bezeichneten in der Realität irgendetwas entspricht oder nicht. Aber ferner, was wir mit Zeichenkörper meinen, ist nicht eindeutig: das mit ›pain‹ Gemeinte (Brot oder Schmerz) können wir sprechen, auf Papier schreiben, oder als digitale Zeichenkette in den Computer eingeben. Das Geschriebene hängt wiederum von dem Schriftsystem ab, so meint die Zeichenfolge TYP in der lateinischen Schrift »Typ«, in der kyrillischen Schrift aber »Tur« (=Tour). Im Hinblick auf den Vorrang von Mündlichkeit oder Schriftlichkeit ist ein jahrhundetelanger Streit zu verzeichnen, was das Primäre sei und was Übersetzung. Platon übt in seinem Dialog »Phaidros«1 die berühmte Schriftkritik. Für ihn ist eindeutig die gesprochene Sprache das Primäre und auch das Höherwertige. Dem steht gegenüber Derridas Kritik des »Logozentrismus« und die These, daß die Schrift das Ursprüngliche ist, daß 1
Platon, Phaidros 176 C, Platon: Sämtliche Dialoge, hrsg. v. O Apelt. Hamburg 1988, II, p. 105: schreiben ist »[…] für sich selbst Erinnerungen aufspeichernd auf die Zeit, da er das vergeßliche Greisenalter erreichen wird, und für jeden, der derselben Spur folgt […]«, dem steht entgegen das »lebendige und beseelte Wort […], wovon das geschriebene mit Recht als ein Nachbild bezeichnet werden könnte?«, fragt Phaidros und Sokrates bekräftigt: »Allerdings.«– Das ist uns allerdings nur als Schrift, nicht als »lebendiges und beseeltes Wort« überliefert.
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nicht gesprochene Sprache in Schrift übersetzt wird, sondern die différance der niemals gegebene oder gegeben gewesene »Ursprung« ist.2 Oder ist das Bild das Grundmedium (der pictorial turn, die postliteraricy oder »sekundäre Oralität«)3, oder der Tanz (d.h. ein körperliches Bewegungsphänomen), oder wollen wir von Medien erst sprechen, wenn eine gewisse Technizität hinzutritt, die es erlaubt, Fernen in Raum und Zeit zu erreichen: erster Schritt: die Schrift, zweiter Schritt der Buchdruck, bis hin zur Digitalisierung. Die Laute (Phoneme) einer Sprache sind auf dem Prinzip der Differenz aufgebaut (Unterschiede, die Unterschiede machen).4 Die erste digitalisierende Informationsübertragung ist das Morse-Alphabet, das alle Buchstaben als eine Folge von langen und kurzen Tonsignalen auflöst. Nicht-digital dagegen war jedenfalls ursprünglich die Telephonie, durch die die analogen Laute des Sprechens und des begleitenden Rauschens analog übermittelt wurden. Hier bereits, aber erst recht dann bei der drahtlosen Übermittlung durch Rundfunk taucht die Frage auf: was ist hier das Medium? Ist es der technische Apparat, oder ist es das Zwischen zwischen den Apparaten: Sind es die elektrischen Impulse in den Leitungen, oder sind es die Leitungen oder beides zusammen oder zusammen mit den Apparaten? Sind es die elektromagnetischen Wellen oder die ihnen aufgelagerten Schallwellen, und beide sind begleitet von einem Rauschen, sollen wir es mit zum Medium zählen? Oder zählt nur die reine Botschaft, nach jenem vielzitierten Wort McLuhans »the medium is the message«. Wenn wir aber die Apparate mit dazuzählen wollen, so müßten wir bei dem reinen Sprechen Zunge, Zähne, Stimmbänder und die ganze Komplexität des Ohrs mit hinzurechnen. Wenn wir aber das täten, spräche wenig dagegen, beim Tanz den ganzen menschlichen Körper mit zum Medium zu rechnen. Was eigentlich wäre dann kein Medium mehr? Die Verwirrung ließe sich noch etwas steigern, wenn man vergleichbare Fragen nun an Fax, SMS, Radio, Grammophon, Voice-over-IP, Bilder, Camera obscura, Diaskop, Episkop, Overhead-Projektion, bewegte Bilder vom »Daumenkino« über die Kinematographie, Fernsehen bis zu DVD, oder beides im Computer, im Internet stellte. Wenn man so an den Alltagssprachgebrauch anknüpft, entstehen heillose Verwirrungen. Angesichts einer solchen Verwirrung wußte sich die Philosophie traditionell entweder so zu helfen, daß sie mit einer beliebig festgesetzten Nominaldefinition 2 3 4
J. Derrida: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M. 1976; ders.: Grammatologie. 6. Aufl. Frankfurt a. M. 1996. K. Nyíri: Zeit und Bild. Bielefeld 2012; zur »sekundären Oralität« s.u. Cf. R. Jakobson / M. Halle: Fundamentals of Language. The Hague1956, die (p. 29ff.) zwölf distinktive Merkmale aufzählen, durch die ein Phonem von einem anderen unterschieden sein kann, angefangen vom Unterschied »vocalic / non-vocalic« als SonoritätsMerkmal bis zu »sharp / plain« als Tonalitäts-Merkmal. Nicht alle Distinktionen werden für alle Phoneme in allen Sprachen gebraucht. So wird etwa in den meisten deutschen Dialekten kein Unterschied zwischen »tense / lax« und »voiced / voiceless« gemacht, weswegen das hessische »p« Sprechern der anderen Dialekte als ein »b« gehört wird, weil sie »lax« mit »voiced« zusammengehen lassen.
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weiterarbeitete, also zu sagen »Ich verstehe unter Medium dieses und jenes«. Dann kann entweder jeder andere kommen und etwas anderes definieren; oder es bestehen machtvolle Definitionsmonopole, die aber in der Regel nur gesellschaftliche Teilbereiche ordnen und regeln können, wie z. B. die DIN-Normen technische Zusammenhänge in Deutschland so regeln, daß »alle« sich darauf einigen können. Oder wenn man im Angesicht der sich solchen Regelungen entziehenden Alltagssprache die Willkür der Nominaldefinitionen vermeiden möchte, dann ist die zweite Option, die philosophische Reflexion zu befragen. Philosophen sind, als Kurz-Aufgabenbeschreibung gesagt, diejenigen in den Gesellschaften ausdifferenzierten Experten für die Arbeit an denjenigen Begriffen, mit deren Hilfe wir uns in der Welt und im Handeln orientieren, nicht etwa, indem sie nun ihrerseits autoritativ Nominaldefinitionen festsetzten, sondern indem sie z.B. begriffsgeschichtlich nach Übereinstimmungen, Konsistenzen und Inkonsistenzen, suchen und Familienähnlichkeiten zwischen Gebrauchsweisen eines Begriffs suchen und so eine Verständigungsbasis erarbeiten. So werden sie zwar Konfusionen nicht verhindern, aber sie werden die Aufmerksamkeit darauf lenken können, wo Konfusionen unkontrolliert zu Fallen werden können, z.B. wenn wir alle die genannten Beispiele des Redens über Medien mal so mal so zulassen würden. Das taucht nicht nur an der meist belanglosen Frage auf, ob zwischen uns Kupferdrähte, Glasfaserkabel liegen oder ob es wireless oder gar telepathisch zugeht. Viel virulenter wird dieses Entscheidungsproblem durch den Netzcharakter des Internets. Wenn jemand eine in seinem Staat durch Gesetzgebung verbotene Seite im Internet aufruft, dann ist diese Seite ja nicht einfach irgendwo ganz anders und er davon unbetroffen. Im Cache seines Browsers, d.h. auf seiner eigenen Festplatte ist diese vorhanden. Kinderpornographie ist die eine Sache; aber viel virulenter sind die Zusammenhänge des sogenannten »Geistigen Eigentums«.5 Durch das Herunterladen oder Kopieren von durch Copyright oder Gebrauchsmusterschutz geschützten Inhalten sind nach einschlägigen Schätzungen ca. 80% der deutschen Bevölkerung Kriminelle. Bekannt ist die manchen DVDs vorgeschaltete Szene, in der zwei kleine Kinder ihrem Vater ein Geburtstagsständchen durch die Gefängnisgitter hindurch darbringen, Vater hatte DVDs kopiert; die Botschaft ist: Raubkopierer sind Kriminelle und gehören ins Gefängnis. Aber niemand wird 80% der deutschen Bevölkerung ins Gefängnis bringen wollen. Aber ist der Begriff des »Geistigen Eigentums« ein problematischer Begriff: Kann Geistiges zu Privateigentum werden, oder ist es nicht vielmehr per se Gemeineigentum? Historisch gesehen, ist dieser Begriff keineswegs
5
Die Debatte um geistiges Eigentum. Interdisziplinäre Erkundungen, hrsg. v. Th. Eimer, K. Röttgers u. B. Völzmann-Stickelbrock. BieIelefeld 2010.
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selbstverständlich; niemand wird den Nachdruck der Bibel (»Gottes Wort«) strafrechtlich verfolgen wollen.6 Zudem ist der Begriff zwischen den USA und Kontinentaleuropa durchaus strittig ist, ganz zu schweigen von China. Nichtphilosophische Medientheoretiker haben die Konfusion im Medienbegriff dadurch zu bewältigen versucht, daß sie einfach sortieren: sie unterscheiden dann Wahrnehmungsmedien, Kommunikationsmedien und Verbreitungsmedien. Aber eine solche Sortierungspraxis verschiebt nur das Problem, und sie bricht zusammen, wenn wir uns nicht unberechtigt zu fragen erlauben: Strukturieren die Verbreitungsmedien etwa nicht unsere Wahrnehmung, und sind die Verbreitungsmedien nicht strukturell abhängig von den Kommunikationsmedien? So also sollte man nicht vorgehen, wenn man an begrifflicher Klärung interessiert sein muß. Wir werden also zu klären haben, was ein Medium ist. Zuvor aber sollen einige ganz einseitige, unphilosophische und unbrauchbare Medientheorien kurz kritisiert werden. Da ist zunächst die Thematisierung der Medialität von Seiten der Informationstheorie. Die Informationstheorie ist eine von dem Mathematiker Shannon entwickelte mathematische Theorie der Information oder Datenübertragung. Seine »Mathematical Theory of Communication« von 1948 ist im Grunde überhaupt keine Kommunikationstheorie, sondern eine mathematische Theorie der Datenübertragung, die sich dem Problem einer verlustfreien Übermittlung von Daten durch Datenkanäle widmet. Da das Rauschen im Kanal nicht unterbunden werden kann, ist die Lösung die Übermittlung von Redundanzen, die dem decodierenden System eine Verifikation ermöglicht. Auf diese mathematische Theorie selbst braucht an dieser Stelle nicht eingegangen zu werden. Wohl aber stehen die Hintergrundannahmen im Hinblick auf eine Theorie der Medien kritisch zur Debatte. Die vielleicht etwas laxe Verwendung des Begriffs »communication« für »Datenübertragung« hat nämlich manch einen dazu verleitet, diese Theorie für eine Theorie der Kommunikation und der Kommunikationsmedien zu halten. Das zugrunde liegende Modell geht dann von einem Sender aus, der eine »Information«, d.h. einen unwahrscheinlichen Gehalt, »hat«, diese in eine Signalfolge codiert und diese durch einen Kanal an einen Empfänger sendet, der sie seinerseits decodiert und dann ebenfalls »hat«. Das »Kommunikationssystem« wird dann durch folgendes Modell symbolisch dargestellt: Informationsquelle → Sender → Kanal → Empfänger →Informationsziel Codierung → Nachricht →Nachricht+Rauschen → Decodierung
6
Ausnahme ist die St. James-Übersetzung der Bibel ins Englische, für die es ein »ewiges« Copyright gibt.
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In den Anfängen der Nutzung des Internets konnten die heute Älteren das noch hautnah und anschaulich erleben mit den sogenannten Akustik-Kopplern. Die Signale kamen als akustische Signale über das Telefon, so wie heute noch beim Fax, und wurden vom Akustik-Koppler, in den der Telefonhörer zwecks Rauschminimierung hineingepreßt wurde, decodiert; wenig später gab es dann die Modems, die das gleiche etwas eleganter taten. Heute haben wir mit DSL und den Splittern eine ganz andere Nutzung der Telefonleitungen. Es muß natürlich auf beiden Seiten dieser Datenübertragung derselbe Code verwendet werden. Aber da bekämen wir schon das erste Problem, wenn wir dieses primitive Modell als ein Modell medialer Kommunikation verwenden wollten. Wenn wir miteinander nur sprechen, woher sollten wir wissen, ob unser Gegenüber denselben »Code« verwendet, d.h. ob für ihn die Worte dieselbe Bedeutung haben wie für uns, siehe die obigen Beispiele für den Gebrauch des Wortes »Medien«. Verstehen ist niemals Identität, woher sollten wir auch davon wissen? Und oft ist Mißverstehen sehr heilsam, z.B. zwischen Männern und Frauen, aber auch anderweitig.7 Was wie eine Decodierung im mathematischen Sinne aussieht, ist doch in normaler Kommunikation gleich welchen Mediums zumeist eine Übersetzung. Als die christlichen Missionare den zu taufenden Germanen verständlich machen wollten, was der spiritus sanctus sei, da gab es zwei abweichende Übersetzungsversuche: im Norden sagte man, wie auch heute noch: Heiliger Geist; Geist aber ist, wie auch heute noch, damals in der Sprache der Germanen ein Gespenst und war jedenfalls nichts »Geistiges«,8 und »heilig« geht wahrscheinlich auf die Grundbedeutung »bezaubert« zurück; d.h. man erklärte den Germanen den spiritus sanctus als eine Art von Spuk. Im Süden dagegen setzte sich zunächst wîho âtum als Übersetzung durch, also der geweihte Atem, was größere Ansprüche an das Vorstellungsvermögen stellte und tatsächlich auch dem lateinischen spiritus- und dem griechischen pneuma-Begriff näher kam. In dieser Übersetzungsproblematik steckt aber eine mindestens doppelte Decodierungsproblematik. Das sei an einem anderen Beispiel erläutert. Als die Spanier die Indios Mittelamerikas nach deren »freier« Entscheidung entweder tauften oder erschlugen, da wollte einer der Missionare, Durán mit Namen, sicherstellen, daß die also Getauften, das Ave Maria nicht nur herplapperten, sondern daß die Decodierung so störungsfrei sei, daß sie nicht insgeheim sich unter Maria eine ihrer heidnischen Gottheiten vorstellten und also diese insgeheim anbeteten. Er setzte sich also zum (unerreichbaren) Ziel, die Decodierungsinstanz in den Seelen der Indios so perfekt umzukrempeln, daß das Evangelium »unverfälscht« dort ankäme.9 Wir wissen, daß das nicht funktioniert hat und nicht funktionieren konnte. Es gibt ein gesprächstherapeutisches Design, nach dem der Angesprochene vor seiner Antwort zunächst 7 8 9
K. Röttgers: Die Einheit deutsch-französischer Mißverständnisse – oder: der Pumpernickel-Effekt. In: Hagener Universitätsreden 12 (1988), p. 49-60. Cf. J. Derrida: Vom Geist. Frankfurt a. M. 1992; dazu auch K. Röttgers: Derridas Doppelgänger. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie 6 (2012), p. 137-159, bes. p. 151-153. T. Todorov: Die Eroberung Amerikas. Frankfurt a. M. 1985, p. 240-259.
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in eigenen Worten das Gehörte wiederholen muß.10 Dieses Design ist nicht gegen die Obstruktion gefeit, daß der erste Sprecher negiert, daß die Wiederholung das Gesagte »richtig« wiedergegeben habe, es dann in anderen Worten noch einmal sagt, und der Angeredete erneut in die Falle der Nichtidentität tappt, und zwar ohne daß man einen Obstruktionswillen unterstellen müßte, sondern allein auf der Grundlage, daß das Codierungs- Decodierungsmodell medialer Kommunikation ein viel zu primitives Modell der Darstellung von Medialität und medialer Kommunikation ist. Sybille Krämer nennt in ihrem Buch »Medium, Bote, Übertragung« dieses Modell der Kommunikation das »postalische Prinzip«, unterscheidet es von einem »personalen Prinzip« und sagt vorläufig abschließend dazu: »Das postalische Prinzip technischer Kommunikation scheint als theoretischer Rahmen für die Beschreibung und Erklärung menschlicher Kommunikation unangemessen – und zwar restlos. Zugespitzt ausgedrückt: Der Briefträger kann unmöglich für eine philosophisch anspruchsvolle Kommunikationstheorie eine erklärungswürdige Figur abgeben.«11 2.1.1 Kritik der Medienwirkungsmodelle 2.1.1.1 S-R- und S-O-R-Modelle Ähnlich primitiv ist ein ebenfalls in der Medientheorie angekommenes Modell, das dem psychologischen Behaviorismus entstammt und das auch das Reiz-Reaktionsoder Stimulus-Response-Modell genannt wird. Der Behaviorismus beschränkt seine Aussagen strikt auf Beobachtbares, und da das Bewußtsein nicht beobachtet werden kann, wird es als »Black Box« behandelt, und es wird nur beobachtet, welche Reize auf es einströmen und welche Reaktionen daraus erfolgen. In der Medientheorie kam dieses Modell in der Form an, daß unterstellt wurde, daß mediale Reize auf jedes Bewußtsein die gleiche Wirkung haben werden, so daß die zu erwartenden Reaktionen nahezu gleich sein würden. Auch wenn man dieses Modell neobehavioristisch zu dem S-O-R (Stimulus-Organismus-Response)-Modell fortentwickelt hat, wonach der Organismus als mögliche intervenierende Variable aufgefaßt wird, bleibt es doch ein für die Medientheorie viel zu primitives Modell. Allerdings bleibt das an den beiden Modellen Bedenkenswerte, daß in der Tat das Innere eines Bewußtseins nicht beobachtet werden kann trotz aller von den Hirnforschern verbreiteten Hoffnungen und Gerüchte, so daß wir eine Theorie der Medialität nicht von dieser Möglichkeit abhängig machen dürfen, und daß das, was die Informationstheorie den »Kanal« nennt, ein Hinweis sein könnte, in welche Richtung eine Medientheorie weiterdenken müßte.
10 11
C. R. Rogers: Partnerschule. Zusammenleben will gelernt sein - das offene Gespräch mit Paaren und Ehepaaren. Frankfurt a. M. 1991. S. Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Frankfurt a. M. 2008, p. 18.
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Das Sender-Empfänger-Modell verbindet das Stimulus-Response-Modell mit der Theorie der Massengesellschaft. Nach diesem Modell wird jedes Individuum durch Stimuli über sogenannte Massenmedien in gleicher Weise erreicht und nimmt diese in gleicher Art wahr, wodurch bei allen Individuen eine ähnliche Reaktion erzielt werde. Dabei werden der Inhalt der Kommunikation und die Richtung des Effekts (die Wirkung) im Sinne des Reiz-Reaktions-Modells gleichgesetzt. Die Massenmedien werden als mächtige Propaganda- und Manipulationsinstrumente gesehen, mithilfe derer man ganze Gesellschaften lenken kann.12 Diese simple mechanistische Vorstellung einer Reiz-Reaktions-Wirkungsweise der Massenmedien konnte sich nicht halten; seit den 1990er Jahren wird sogar bezweifelt, daß dieses Modell zu Beginn des 20. Jahrhunderts Einzug in den kommunikationswissenschaftlichen Diskurs gehalten habe – vielmehr hätte es als Kontrastmodell nur zur Veranschaulichung einer Tendenz zu immer differenzierteren Konzepten in der Geschichte der kommunikationswissenschaftlichen Modelle gedient.13 Das Stimulus-Response-Modell, also die Gleichsetzung von Inhalt und Wirkung, wurde daher sowohl in der Psychologie als auch in der Medienwissenschaft verworfen, da es keinen gültigen Schluß von der Kenntnis des Reizes auf eine entsprechende Reaktion des Rezipienten geben kann. Die S-R-Theorie wurde, wie gesagt, zwar zum S-O-R-Konzept weiterentwickelt, wodurch das Individuum als »Objekt« wirkungsrelevanter Faktoren von Beeinflussungsversuchen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte. Anwendung fand das Modell, im Sinne einer Aufwertung der individuellen psychischen Disposition im massenkommunikativen Wirkprozeß, insbesondere in den 1940er Jahren in der Einstellungsforschung. 2.1.1.2 Zweistufen-Modelle Das Kommunikationsmodell basiert auf einer Untersuchung des Präsidentschaftswahlkampfes in den USA von 1940 durch die Soziologen Paul F. Lazarsfeld u.a.14 Nach diesen Forschungen wurde die Entscheidung der Wähler weniger durch den Einfluß der Medien bestimmt als durch persönliche Kontakte mit anderen Personen. Medien wurden eher zusätzlich und selektiv genutzt, um die eigene Meinung zu bestätigen. Die Forschungen kamen zu dem Ergebnis: Meinungen gehen von Medien zu »opinion leaders« und erst von diesen zu den Massen. Diese Hypothese vom Zweistufenfluß der Massenkommunikation beinhaltet eine Abkehr von der Vorstellung allmächtiger Medien. Wirkungen der Medien hängen von Bedingungen ab, die im sozialen Kontext – also prinzipiell außerhalb der Medien selbst – liegen. Trotzdem wurde auch in diesem Zweistufenmodell das Denken in einem Stimulus-Response12 13 14
S. J. Schmidt / G. Zurstiege: Orientierung Kommunikationswissenschaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek 2000, p. 63f. R. Burkart: Kommunikationswissenschaft. Wien, Köln, Weimar 2002, p. 195. P. F. Lazarsfeld / B. Berelson / H. Gaudet: The People’s Choice. How the Voter Makes up His Mind in a Presidential Campaign. 2. Aufl. New York 1948 (zuerst 1944).
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Modell nicht aufgegeben, d.h. es wurde nicht zwischen der Zuwendung zu Medieninhalten und dem Einfluß auf die Einstellungsveränderung unterschieden; d.h. die Prozesse der Übermittlung und Verbreitung wurden gleichgesetzt mit dem Prozeß der Beeinflussung. Eine Weiterentwicklung dieser noch zu einfachen Vorstellung eines in sich wenig differenzierten Zweistufenprozesses (Two-Step-Flow) hin zu einem Multi-StepFlow-Modell erfolgte in den 1950ern durch die Erkenntnis, daß auch die sogenanten Meinungsführer durch persönliche Kontakte stärker beeinflußt werden als durch Medien, d.h. es gibt »Opinion-Leaders der Opinion-Leaders«.15 Auch die Trennung von »Opinion-Leader«, als jemand der Informationen weitergibt, und »Non-Leader«, der ausschließlicher Empfänger von Informationen wäre, konnte nicht aufrechterhalten werden. Nach dem sogenannten »Opinion-SharingModell«16 verläuft die Weitergabe von massenmedial verbreiteten Informationen und Meinungen im Rahmen persönlicher Gespräche nicht einseitig, sondern wechselseitig, also als gemeinsamer kommunikativer Text, wodurch nun diese einseitige Medientheorie kurz vor ihrer Auflösung stand. Der Amerikanerer David M. White übertrug 1950 den Ansatz des Sozialpsychologen Kurt Lewin, demgemäß es in nahezu allen gesellschaftlichen Institutionen strategisch wichtigen Pforten, Schleusen oder Schaltstellen gibt, an denen einzelne Entscheidungsträger (»Gatekeeper«) Schlüsselpositionen einnehmen und Einfluß ausüben auf den Prozeß der Nachrichtenselektion, und entwickelte so den GatekeeperAnsatz. 2.1.1.3 Theorie der Wirkungslosigkeit der Medien Der amerikanische Kommunikationswissenschaftler Joseph Klapper übernahm 196017 die Erkenntnis des »Zweistufenflusses der Kommunikation«, wonach die Massenmedien keine Einstellungsänderung bewirken können, sondern vielmehr bereits bestehende Einstellungen lediglich verstärken. Klapper stützt sich außerdem auf die Theorie der Kognitiven Dissonanz des Psychologen Leon Festinger. Festinger nahm an, daß Menschen das Empfinden von Widersprüchen im Wissen und Meinen zu vermeiden trachten. Daraus leitete er die These einer selektiven Mediennutzung ab, d.h. daß Individuen aktiv jene Informationen suchen, die ihre Überzeugungen stützen und ihren Überzeugungen widersprechende Informationen vermeiden. Dieser Ansatz hatte erheblichen Einfluß auf die Erforschung der Wirkung von Werbung.
15 16 17
R. Burkart: Kommunikationswissenschaft, p. 211. V. C. Troldahl / R. Van Dam: Face-to-Face-Communication About Major Topics in the News. In: Public Opinion Quarterly 29 (1965), p. 626-634. J. T. Klapper: Effects of Mass Communications. Toronto 1960.
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2.1.1.4 Kognitive Medienwirkungen Andere Ansätze verfolgen das Konzept der Medienkompetenz. Es wird in diesen Ansätzen davon ausgegangen, daß medial vermitteltes Wissen von unterschiedlichen Teilen der Bevölkerung in unterschiedlicher Weise genutzt wird: Menschen mit höherem sozio-ökonomischen Status oder einer höheren formalen Bildung verarbeiten Informationsangebote der Massenmedien besser und schneller als solche, bei denen diese Eigenschaften in geringerem Ausmaß vorliegen. Als Folge vermehrter Medienangebote wächst die Wissenskluft zwischen beiden Schichten tendenziell. Elisabeth Noelle-Neumann formulierte in den 1970ern mit der Theorie der Schweigespirale ein Konzept, in dem den Medien erneut starke Wirkungen unterstellt werden.18 Um soziale Isolation zu vermeiden neigen nach Noelle-Neumann Menschen dazu, ihre Meinung zu verschweigen, wenn sie einer vermuteten Mehrheitsmeinung widerspricht. Glauben Menschen hingegen, die Mehrheitsmeinung zu vertreten, neigen sie dazu, ihre Meinung auch öffentlich zu äußern. So wird die (scheinbar) vorherrschende Meinung immer häufiger geäußert, die (scheinbar) schwächere immer seltener. Die Massenmedien vermitteln ein Bild von der vermuteten Mehrheitsmeinung und übernehmen eine Artikulationsfunktion, indem sie scheinbar vorherrschende Standpunkte symbolisch vermitteln. 2.1.2 Die Sprachphilosophie nach Karl Bühler Karl Bühlers Organonmodell der Sprache versucht, ein konkretes Sprechereignis mit den Lebensumständen adäquat zu erfassen. Das Organon fungiert als etwas, das eine Mitteilung von einem zum anderen transportiert. Die sprachliche Mitteilung ist die reichste Erscheinungsform des konkreten Sprechereignisses. Bühler unterscheidet drei Relationen, die zwischen den Beteiligten des Sprechereignisses bestehen: Sender, Empfänger und die »Mitteilung«. Als viertes wäre noch zu erwähnen das akustische Phänomen, das ebenso einen Einfluß auf die Sprechsituation haben kann. Das vermittelte Sprachzeichen durch den Sender erfüllt drei Funktionen: Symbol, Symptom und Signal. Das Sprachzeichen fungiert als Symbol durch die Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten. Als Symptom ist es abhängig von dem Sender, der sich mitteilen und seine Ideen ausdrücken möchte. Ein Signal ist das Sprachzeichen, insofern es als Appell an den Empfänger gerichtet ist. Bühler macht dadurch drei Leistungen der menschlichen Sprache aus: Ausdruck, Appell und Darstellung: »Sie [Sender und Empfänger] sind nicht einfach ein Teil dessen, worüber die Mitteilung erfolgt, sondern sie sind die Austauschpartner, und darum letzten Endes ist es möglich, daß das mediale Produkt des Lautes je eine eigene Zeichenrelation zum einen 18
E. Noelle-Neumann: Die Schweigespirale. Über die Entstehung der öffentlichen Meinung. München 1980; zur Würdigung s. Demoskopie und Aufklärung, hrsg. v. Institut f. Demoskopie Allensbach. München, New York, London, Paris 1988.
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und zum anderen aufweist.«19 Diese drei Leistungen sind voneinander abgegrenzt und einer je einzelnen Untersuchung zugänglich. Bühler unterscheidet weiter Sprechhandlungen vom Sprachwerk. Sprechhandlungen werden wie alle Handlungen eines bestimmten Zieles wegen ausgeführt: »Dies also ist ein Merkmal, welches im Begriff ›Sprechhandlung‹ unterstrichen werden muß und nicht wegzudenken ist, daß das Sprechen ›erledigt‹ (erfüllt) ist, in dem Maße, wie es die Aufgabe, das praktische Problem der Lage zu lösen, erfüllt hat.«20 Das Sprachwerk hingegen enthebt sich der konkreten Sprechsituation: »Ob ein Stoff ein äußeres Ereignis oder sonst etwas ist, jedenfalls zielt die sprachliche Werkbetrachtung in allen Fällen auf die Fassung und Gestaltung als solche ab.«21 Innerhalb des Sprechereignisses ergibt sich ein weiteres Phänomen: die Zeigfelder. Ein Zeigfeld ist ein Sinnbild für ein Weg- oder Richtungszeichen. Wie ein Wegweiser an einer Straßenkreuzung können in der Sprache ebensolche »Wegweiser« identifiziert werden – sogenannte Zeigwörter. Zeigwörter sind z.B. »hier«, »du«, »jetzt« oder »dort«. Der entscheidende Unterschied zu dem Wegweiser an der Straßenkreuzung ist, daß die Zeigwörter in einem Sprechereignis, also in einer Handlung verwendet werden, d.h. in einer komplexen menschlichen Handlung. Das Problem, welches in einer Sprechsituation auftritt, liegt in der Position des Senders und des Empfänger, die erst einmal aufeinander abgestimmt werden müssen, d.h. für die bzw. von denen ein gemeinsamer Sinnhorizont gefunden werden muß. Das Symbolfeld der Sprache dient neben den drei Leistungen wie Ausdruck, Appell und Darstellung sowie dem Zeigfeld als eine weitere Verständigungshilfe. Das Symbolfeld dient der Interpretation der Sprechsituation und stellt den Kontext der Situation dar. Die sprachlichen Symbole brauchen einen Bezugsrahmen, in denen sie verwendet werden. Diesen Bezugsrahmen nennt Karl Bühler das Symbolfeld. Das sprachliche Zeigfeld kann am besten an der Sprechhandlung und das Symbolfeld am besten am Sprachwerk nachvollzogen werden: »Heute würde ich sie so formulieren: Daß das Sprechdenken und mit ihm jedes andere im Dienste des Erkennens vollzogene Operieren mit Gegenstandssymbolen genau so eines Symbolfeldes bedarf wie der Maler seiner Malfläche, der Kartograph seines Liniennetzes von Längen- und Breitengraden und der Notenschreiber seiner noch einmal anders hergerichteten Papierfläche oder allgemein gesagt wie jedes Zweiklassensystem darstellender Zeichen.«22
19 20 21 22
K. Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena 1934, p. 31. l. c., p. 53. l.c., p. 55. l. c., p. 254.
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2.2 Z WISCHENBILANZ Auch wenn dieses Modell viel anspruchsvoller ist und für eine Medientheorie brauchbarer erscheint, liegt sein erkennbares Defizit doch darin, daß es die Medien nicht von den Medien her zu denken erlaubt, sondern, wie Psychologen nun einmal so sind, von den Subjekten her, und zwar von den Subjekten als Ursprüngen von Handlungen incl. sprachlichen Handlungen. Warum das Probleme erzeugt, darauf wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. Nur ein Hinweis sei vorläufig erlaubt. Walter Benjamin bezeichnete eine derartige Auffassung als die bürgerliche Sprachauffassung und charakterisierte sie wie folgt: »Das Mittel der Mitteilung ist das Wort, ihr Gegenstand die Sache, ihr Adressat der Mensch.«23 Er setzte dagegen: »Es ist fundamental zu wissen, daß dieses geistige Wesen sich in der Sprache mitteilt und nicht durch die Sprache.« Und: »Jede Sprache teilt sich selbst mit.«24 Als dritte und vorläufig letzte einseitige Medientheorie werde ich diejenige anführen, die vom Strukturalismus ausgeht; denn der Strukturalismus empfiehlt sich zunächst einmal dadurch, daß er auf eine handlungstheoretische und damit subjektzentrierte Fundierung verzichtet. Der Strukturalismus, eine ursprünglich linguistische Theoriekonzeption, die von Ferdinand de Saussure, Roman Jakobson und Louis Hjelmslev maßgeblich geprägt wurde, ist von Claude Lévi-Strauss und Roland Barthes als Methode auf andere kulturelle Bereiche ausgedehnt worden. Lévi-Strauss hat Verwandtschaftssysteme und ihre Tauschakte (»Frauentausch«) und später kulinarische und mythische Ordnungen untersucht, Barthes Mythen und Moden.25 Insgesamt geht es schon darum zu untersuchen, welche Medialität bei bestimmten Kommunikationen ins Spiel kommt. Aber das große Handicap strukturalistischer Theoriebildung besteht durchgehend darin, daß sie keinen Bezug zur Geschichte herstellen kann, Zeit kommt nur als Exekutionsprozeß der vorgegebenen Strukturen ins Spiel, nicht aber als Wandel der Strukturen selbst. Einen Ausweg versprach der Begriff des sozialen Wandels; aber daß dieses Versprechen seitens der Soziologie nicht trägt, wird im nächsten Kapitel gezeigt werden.
23 24 25
W. Benjamin: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. In: Gesammelte Schriften II.1. Frankfurt a. M. 1977, p. 140-157, hier p. 144. l. c., p. 142. F. de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, hrsg. v. Ch. Bally. 2. Aufl. Berlin 1967; R. Jakobson / M. Halle: Fundamentals of Language; L. Hjelmslev: Prolegomena to a Theory of Language. Madison 1961; C. Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie. Frankfurt a. M. 1967; ders.: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Frankfurt a. M. 1982; ders.: Mythologica. 4 Bde. Frankfurt a. M. 1971ff.; R. Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt a. M. 1964; ders.: Die Sprache der Mode. Frankfurt a. M. 1985.
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IST EIN
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Nicht nur die oben geschilderte Unsicherheit im Reden über Medien zwingt dazu, über den Begriff des Mediums erneut nachzudenken, sondern in besonderem Maße ist dieses Nachdenken auch erzwungen durch die sogenannten »Neuen Medien«. Es könnte doch sein, daß von einer Analyse dessen, was die neuen Medien sind, ein neues Licht auf das fällt, was die alten Medien waren und sind. So sagt etwa Stefan Weber in Darstellung der Theorie von Siegfried J. Schmidt: »[...] Netzkommunikation, Netzmedien und Netzkultur führten zu veränderten Modi der Wirklichkeitskonstruktion und damit zu veränderten Realitäten.«26 Vielleicht ist es nicht übertrieben zu sagen, daß die alten Medien nur dann noch eine Überlebenschance haben werden, wenn sie sich in irgendeiner Weise mit den neuen Medien in Verbindung setzen, bzw. vernetzen. Und meine Vermutung ist, daß durch diese Schlüsselstellung der neuen Medien auch der Begriff des Mediums und noch allgemeiner der Begriff der Kommunikation neu bestimmt werden muß. Und schließlich wird dieser epochale Wandel auch unser Verständnis des Sozialen transformieren. Die Globalisierung als ökonomischer Prozeß ist z.B. ganz erheblich getragen von diesen Transformationsprozessen; und auch die globale Finanzkrise, sagen wir die Zweite Weltwirtschaftskrise, ist ohne diese Wandlungsprozesse nicht denkbar. Aber auch Skurriles ist im WWW erstmals möglich, so z.B. daß sich die Anhänger extrem behaarter weiblicher Oberschenkel weltweit miteinander austauschen können, ja sich als eine formierte Randgruppe der Weltgesellschaft formieren können. Gehen wir einmal mit Niklas Luhmann davon aus, daß die Gesellschaft nicht aus einer Ansammlung von Menschen besteht, sondern aus Kommunikation, dann ist das zentrale Problem, den Bestand einer Gesellschaft zu sichern, die Sicherung der Kommunikationsanschlüsse. Bei den einfachsten, den Face-to-face-Kommunikationen der bloßen Intersubjektivität, ist die Fortsetzung hoch riskant. Wenn mein Kommunikationspartner Blödsinn redet oder ich ihn nicht verstehe oder nichts dazu zu sagen weiß, bricht die Interaktion ab, und die Situation ist beendet. Das Soziale im eigentlichen Sinne beginnt deshalb mit der Figur des Dritten, der die grundlegende Figur der Anschlußsicherung von Kommunikation ist und damit des Sozialen. Jede solche Kommunikation ist erstens geprägt von der Anwesenheit und der Austauschbarkeit der Position des Dritten; sie findet zweitens auf mehreren Ebenen statt: zu unterscheiden sind der propositionale Gehalt, d.h. das, was ich sage; die performative Inszenierung, d.h. das, was ich damit tue, indem ich etwas sage; die emotionale Atmosphäre, d.h. die mit Mimik, Gestik, Stimmintonation usw. mittransportierte Botschaft der Gemeinsamkeitserzeugung. Diese Ebenen dürfen nicht allzu sehr voneinander abweichen. Ein Satz wie »Ich liebe dich« muß neben dem vielleicht dominanten performativen Charakter, nämlich mit dem Satz eine bestimmte Situation zu erzeugen bzw. zu 26
St. Weber: Medien – Systeme – Netze. Bielefeld 2001, p. 34.
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stabilisieren, auch einen davon nicht allzu sehr abweichenden propositionalen Gehalt haben, also irgendeiner Einstellung meinerseits entsprechen, selbst im Fall der Lüge, und er darf nicht mit einem Gesichtsausdruck der Verachtung oder des Ekels gesagt werden. Der (anwesende oder ausgeschlossene) Dritte, (der reale oder der virtuelle Dritte) definiert im übrigen, ob und wie eine der Ebenen angemessen ist. Nicht daß man einem Staatsanwalt nicht sagen dürfte, man liebe ihn, aber vor Gericht verbietet sich das. Genereller gesagt, das Soziale differenziert sich danach aus, welche Gestalt der Dritte annimmt, die gesellschaftlichen Subsysteme sichern spezifische Kommunikationsanschlußformationen, die man auch Diskurse nennen kann. Wenn man von Kommunikationsanschlüssen als Grundproblem des Fortbestands des Sozialen und der Gesellschaft als ganzer redet, dann ist nicht mehr der Mensch der Ausgangspunkt. Jeder konkrete Mensch ist in dieser Funktion ersetzbar. Es ist zwar wahr, aber trivial und nichtssagend, festzustellen, daß Kommunikation nicht ohne Menschen möglich sei; da nun aber Menschen nicht ohne Eiweißmoleküle möglich sind, könnte man ebenso sehr sagen, Kommunikation ist nicht ohne Eiweißmoleküle möglich. Jeder einzelne Mensch in seiner Besonderheit ist im Kommunikationssystem ersetzbar, so wie im Organismus jedes einzelne Einweißmolekül ersetzbar ist, ohne daß der Bestand gefährdet wäre. Sehr wohl aber wäre der Bestand einer Gesellschaft gefährdet, wenn es nicht gelänge, Anschlußkommunikationen zu sichern: the text must go on. Man kann sogar im Hinblick auf das WWW davon sprechen, daß seine Struktur die der Selbstorganisation des Netzes ist, der Autopoiesis, einer charakteristischen Eigenschaften von Organismen. Daher ist auch der Begriff der Viren so treffend. Auch ein Organismus kann sich nicht durch eine Befehlszentrale (den Willen, philosophisch gesprochen) davor schützen, daß Viren ihn befallen und sich in ihm ausbreiten, der Organismus leistet das durch Abwehrkräfte (Immunsystem), das Netz durch die »Wächter« (guards) der diversen Virenscanner. In den bisherigen Überlegungen stand unhinterfragt die Sprache als Medium im Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Sprache als Mitte der Kommunikation ist in der Tat unbezweifelbar ein Medium. Es verbindet den Redenden mit dem Angeredeten in einem gemeinsamen oder kommunikativen Text. Andere Medien ersetzen und sie privilegieren bestimmte Aspekte der sprachlichen Face-to-face-Kommunikation. Die Schrift beispielsweise privilegiert das Auge und ersetzt das Ohr, letzteres allerdings erst so nach und nach. In der Antike war es absolut normal, laut zu lesen. Erst Augustin soll auf erstaunliche Weise gelesen haben, nämlich nach innen »sprechend« und nach außen stumm. Die Erfindung der Innerlichkeit erst koppelt Auge und Ohr voneinander ab, so daß nun beim stummen Lesen, Laute die das Ohr treffen, als störend empfunden werden. Wenn man in der Lektüre eines Buches in der Bundesbahn durch ein lautes Handy-Telefonat des Nachbarn gestört wird, dann kann man heutzutage nicht mehr dazu übergehen, nun selbst laut aus dem Buch vorzulesen.
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Die erwähnten anderen Ebenen verschwinden in der Schrift nicht gänzlich und ebenso nicht der Dritte, aber sie erscheinen in Indirektheit transformiert. (Emotionalität der Handschrift oder der Wortwahl; Performativität der Überzeugungskraft/Verführungskraft … Rhetorik und Sophistik; der Dritte im »Principe« von Machiavelli). Die wichtigste Errungenschaft der Einführung der Schrift aber ist die Ersetzung der Präsenz. Als Paulus nicht mehr oder noch nicht wieder in Korinth war, schrieb er die Briefe an die Korinther, heute Bestandteil der Bibel. Schriftstücke richten sich an einen anderen Raum und an eine andere Zeit. Das brachte übrigens den Philosophen Derrida dazu, die Schrift und nicht die mündliche Rede als Grundform der Kommunikation anzunehmen. Die Schrift nämlich markiert die Differenz zu einer Präsenz, die nie hier und jetzt war, sondern immer schon gewesen. Die reine Präsenz ist nach Derrida ein Mythos. Jenes erwähnte »Ich liebe dich«, das doch scheinbar die reine Präsenz wäre, ist, eingelassen in eine Kommunikationssituation, ist immer schon Vergangenheit, so daß die Anschlußkommunikation sein könnte: »Ja, eben war das so, aber gilt das auch jetzt noch?« Und eine daran anschließende Wiederholung wäre eben nicht dasselbe wie der erste Satz, es wäre Beteuerung, Bekräftigung, vielleicht gemischt mit etwas Unmut über die Frage usw. Die reine Präsenz, ist gar nicht zu haben, oder in einer anderen Terminologie, Unmittelbarkeit gibt es nur als vermittelte Unmittelbarkeit, oder noch anders gesagt: das Paradies gibt es nur als verlorenes Paradies, diese unsere Vergangenheit war niemals Gegenwart.27 Wenn die Medialität sich ändert, ändert sich die Gesellschaft. Als die »Ilias« aufgeschrieben wurde, brauchte man sie nicht mehr auswendig zu lernen. Als der Buchdruck erfunden war, brauchte man nicht mehr jemanden zu suchen, der eine Abschrift der Paulusbriefe besaß, um sie dann seinerseits abzuschreiben. Seit es die Datenbanken im Internet gibt, braucht man die Bücher nicht mehr zu kaufen oder zu entleihen, sondern kann auf dem heimischen PC auf sie zugreifen. Ja seit es Suchmaschinen und Suchprogramme gibt, so meint so mancher, braucht man die analogen oder digitalen Bücher gar nicht mehr zu lesen, sondern kann die Maschinen lesen lassen. Zugriffsgeschwindigkeiten und nicht mehr angeeignetes Wissen werden dann über den gesellschaftlichen Erfolg entscheiden. Schon heute haben Professoren Schwierigkeiten, in den Hausarbeiten ihrer Studenten, Leistungen der Studenten von den Leistungen ihrer Suchmaschinen zu trennen und nur ersteres zu bewerten. Die Leistungen aber sollen immer noch Individuen erbracht haben, und sie und nicht die Suchmaschinen sollen am Ende benotet werden. An späterer Stelle werde ich auf den Strukturwandel der Individualität unter dem Einfluß der neuen Medien zurückkommen. Aber schon hier wird deutlich, wie der Begriff der Medien, gewandelt durch die
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Zum Paradies als mythischem Ort der nun verlorenen Ruhe und zum verlorenen Paradies als mythischem Ort der Unruhe s. R. Konersmann: Die Unruhe der Welt. Frankfurt a. M. 2015.
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neuen Medien, in Konflikt gerät mit dem immer noch aufrechterhaltenen ideologischen Bild des bewerteten und als Student auch benoteten Individuums als Grundbestandteil der Gesellschaft und dem Bild des autonomen Subjekts als des Ursprungs des Handelns und damit allen sozialen Geschehens. Mit Gerhard Preyer könnte man sagen, daß die global vernetzte Gesellschaft ein »autonomes Kommunikationssystem [ist], das nicht auf Bewußtsein und lebende Systeme zurückführbar ist, sondern das auf der Basis von elektronischen Systemen operiert. Es ist nicht beherrschbar, sondern nur durch rekursive Operationen vernetzbar.«28 Dieses System folgt einem neuen Paradigma von Rationalität. Nach Preyer ist dieses durch folgende Merkmale gekennzeichnet: •
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Es ist nicht linear, weder als zeitliche Folge noch als methodische Abfolge, sondern es ist simultan und netzförmig – alles was geschieht, geschieht gleichzeitig und es ist immer auch anders möglich – klassisch war Bewegung die Veränderung der Raum-Zeit-Situierung; heute kann ich per Mausklick auf einen Link im Louvre sein, hätte ich den anderen Link angeklickt, wäre ich in der Eremitage. Die Zeitlichkeit ist nicht mehr dominant die einer Sukzession, sondern ist bestimmt durch eine Tiefendimension des Moments, d.h. Historizität löst sich auf in eine simulierte Abrufbarkeit jeden Moments, meine Irrtümer von gestern werden vom Netz und seinen Archiven nicht vergessen werden und ich bin potentiell in jedem Moment mit ihnen konfrontiert. Schriftlichkeit wird, jedenfalls partiell, ersetzt durch Bildlichkeit.
Auf all diese Punkte werden wir im folgenden zurückzukommen haben, um sie eingehender zu reflektieren. Hier hatte ihre Erwähnung die Funktion zu verdeutlichen, daß die neuen Medien in verstärktem Maße zu der Frage Anlaß geben, was eigentlich ein Medium sei. 2.3.1 Wer oder was ist also ein Medium? Indem diese Frage auf die spiritistische Bedeutung des Wortes »Medium« anspielt, scheint diese Überschrift fast ein billiger Effekt zu sein. Aber wenn es das nur wäre, hätte ich ihn vermieden. Es soll vielmehr mit dieser für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Medialität eher ungewöhnliche Titelwahl auf eine Problematik aufmerksam gemacht werden, die nicht etwa mit dem Spiritismus in irgendeiner sachlichen Verbindung steht, wohl aber mit der Art, nach Medialität zu fragen, auf die der Spiritismus eine, wenngleich unseriöse Antwort bereithält. 28
G. Preyer: Die kopernikanische Wende der neuen Medien. In: Politische Meinung 391 (2002), p. 43.
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Wenn wir Wer-oder-Was-Fragen stellen, dann erwarten wir Antworten von der Art, daß auf Personen oder Dinge verwiesen wird. Wenn wir etwa nach den »Neuen Medien« fragen, dann könnte uns jemand antworten, der Computer oder das Fernsehen oder für die ganz Alten unter uns oder diejenigen, die mehr als nur fünf Jahrzehnte im Blick haben, das Telefon sei ein Neues Medium. Wer so antwortete, setzte ein substantielles Etwas an die Stelle, wo die Frage nach einem Medium war. Damit hat seine Antwort genau die gleiche Struktur, wie die spiritistische Behauptung, Frau Mustermann sei ein Medium im Umgang mit Verstorbenen – vom Wahrheitswert sehe ich im Moment ab und achte nur auf die Struktur der Aussage. Die Behauptung, der Computer sei ein Medium, hängt ersichtlich mit einer Mehrdeutigkeit des Begriffs »Medium« zusammen.29 Zunächst einmal ist Medium wörtlich gesehen ein Mittleres. Und genau damit hängt die Mehrdeutigkeit zusammen; denn dann fragt sich sofort: Mittleres wo Zwischen? Gemäß einer langen Tradition, die philosophiegeschichtlich bis auf Aristoteles zurückführt, ist das Gute in der Mitte zu suchen, die Mitte ist die Mäßigung und der Ausgleich zwischen den Extremen. Dazwischen, und meistens unvereinbar damit, schiebt sich ein anderer Begriff von Medium, den man im Deutschen zweckmäßigerweise meistens mit Mittel wiedergibt. Und dann erscheint das Medium zumindest seit Beginn der Neuzeit dominant auf Handlungszwecke bezogen.30 Solche Zusammenhänge können wir dann optimieren, wenn wir über Wissen über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge verfügen und die Wirkungen als Zwecke setzen, für die als Mittel diejenigen Ursachen dienen können, über die wir handelnd verfügen können. Hier könnte eine Mediendidaktik ansetzen, die bestimmte Bildungsziele als Zweck ihres Handelns gesetzt hat und sich nun fragt, welches die angemessenen Mittel zur Erreichung dieser unzweifelhaften Zwecke seien.31 Selbst wenn man die Zweck-Mittel-Relation als grundsätzlich wichtige Struktur unserer Handlungs-Orientierung konzedierte, kann man doch immer noch die Mitte nicht selbstverständlich als Mittel ansetzen, sondern man könnte sie auch als eigentlichen Zweck ansehen, wie es etwa bei Aristoteles vorgedacht ist. Das Gute, d.h. das immanente Ziel des Handelns, das der Handlung immanente Telos also, liegt immer in der Mitte dessen, was ein Handelnder an Handlungsalternativen hat. Diese Struktur
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R. Burkart: Was ist eigentlich ein Medium? In: Die Zukunft der Kommunikation, hrsg. v. M. Latzer u. a. Innsbruck, Wien 1999, p. 61-71; St. Weber: Medien – Systeme – Netze, bes. p. 22-27. G. Dux: Das Problem der Logik im historischen Verstehen. In: Dilthey-Jb. 7 (1990/91), p. 44-70, vertritt die These, daß alle Logik des Erkennens ihren genetischen Ursprung in einer Handlungslogik habe, gemäß der für alles Geschehen ein Ursprung oder ein Grund in den Intentionen eines Handlungssubjekts zu vermuten ist; dazu gehört freilich auch, daß in diesem Ursprung eine Zwecksetzung erfolge. Chr. Hubig: Mittel. Bielefeld 2001, p. 23: »Inwiefern geben Mittel als Medien einen Möglichkeitsraum von Zwecksetzungen in Erwartung ihrer Realisierung vor?«
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bedeutet nicht nur, wie G. Dux ausgeführt hat,32 daß zu allem Geschehen ein Ursprung gesucht wird analog zu dem Ursprung des Handelns in den Intentionen des Handlungssubjekts, obwohl ja auch dieses Denken von Nietzsche bereits erfolgreich in Zweifel gezogen worden ist, sondern diese Struktur bedeutet auch, was Dux nicht ausführt, die fast unvermeidliche Neigung, Mittel selbst als Zwecke, zu deren Erreichung wiederum Unter-Mittel eingeführt werden, zu interpretieren.33 Solches führt dann zu einem Denken in Akkumulationen und Konzentrationen, der Grundlage von Schatz- und Kapitalbildung. Von Joseph in Ägypten bis zur Festplatte im Computer wird der Begriff des Speicherns zu einem Zentralbegriff sozialer Organisation. Nur wer etwas gespeichert hat, ist demnach ein ernstzunehmender Partner in Kommunikations- und Austauschprozessen. Hier nun ist aber der entscheidende historische Wandel der Medialität zu beachten. Waren es früher Subjekte, seien es individuelle – im individuellen Gedächtnis als Kulturspeicher vor Erfindung und Durchsetzung von Schriftlichkeit als Medialität –, seien es kollektive – im Familienvorrat der Hausfrau (Einweckgläser oder Tiefkühltruhe), oder im Lager des Supermarkts –, so ist mit öffentlichen Bibliotheken und mit dem Internet, soweit es nicht privatisiert ist, die Speicherung auf asubjektive Kollektive übergegangen. Niemand besitzt die Wissensvorräte des Internets und niemand vermag sie zu kontrollieren. Das alte soziale Problem der Speicherung und Akkumulation hat eine nicht-konzentrierte, eine netzförmige, d.h. wesentlich dezentrale Lösung gefunden. Informationen sind im Prinzip nicht mehr lokalisierbar; denn die Information aus dem Internet, die man sich auf dem Bildschirm seines Arbeitsplatzrechners anzeigen läßt, ist sie hier, oder ist sie dort? Das Wort »Fernleihe« ist im Internet unanwendbar geworden, denn nichts im Internet ist fern; aber – das muß man hinzufügen –: nichts auch wirklich nah, so daß die Nahsinne Geruch oder Geschmack etwas zu tun bekämen. Jede Information ist in jedem Moment, in dem sie abrufbar ist, in beliebiger Anzahl kopierbar, ja im CacheSpeicher des Rechners wird sogar ohne Zutun des Nutzers eine Kopie abgelegt. Bei vielen dieser Verdopplungen ist nach einer Weile nicht mehr feststellbar, wo oder was das sogenannte Original ist.34 Speicherung wird also in der neuen Medialität ersetzt durch Übertragung mit einer gegen Null tendierenden Übertragungszeit. Und es geht nicht mehr darum, Dinge zu speichern oder auch nur Bits. Mit den »Lesezeichen«, mit den Verknüpfungen (»links«), mit Java werden nur noch Relationen und oftmals nur noch Relationen auf Prozesse gespeichert. Das entwertet den Begriff der Akkumulation und ebenso den einer Herrschaft, die sich in Metropolen konzentrieren
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G. Dux, l.c. P. Lorenzen: Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie. 2. Aufl. Mannheim, Wien, Zürich 1975, p. 148ff., bes. p. 165ff. Das hat natürlich auch die Entstehung bestimmter Mythen begünstigt, z.B. was die Herkunft bestimmter Viren betrifft. Zur »Bulgaren-Mafia« s. J. Röttgers: Sie lieben uns.txt.vbs. In: Netz-Piraten, hrsg. v. A. Medosch u. J. Röttgers. Hannover 2001, p. 5372.
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ließe. Die Metropole des Internets ist überall, wo das Netz besteht, d.h. wo es funktionierende Hardware gibt. Die Metropole ist ersetzt durch die Distribution.35 Damit ist eine wesentliche Struktur abendländischen Denkens seit der griechischen Antike infrage gestellt. Dieses Denken war orientiert an Ursprung und Ziel, griechisch an Arché und Telos. Weil sie so sehr darauf fixiert waren, konnten die Griechen das Labyrinth der minoischen Kultur nicht verstehen. Sie glaubten sich im Labyrinth verirren zu müssen, obwohl alle antiken Labyrinthe Einweglabyrinthe waren, in denen man sich gar nicht verirren konnte, wenn man sich mit der Bewegung auf die Struktur des Labyrinths einzulassen imstande wäre. Das aber konnten die Griechen nicht, wenn sie die Orientierungspunkte von Ursprung und Ziel aus den Augen verloren oder aus dem Sinn, dann glaubten sie sich verloren. In der Neuzeit ist dieses Denken heruntergebrochen worden darauf, daß allem Handeln ein Ursprung in einem Subjekt zugrunde liege, das sich dann Ziele oder Zwecke seines Handelns setzt und die geeigneten Mittel dafür auswählt. Die Dominanz dieser unterstellten Zweck-Mittel-Relation führte dazu, daß einer eigentlichen Bewertung, einer moralischen Bewertung nur die Zwecke unterliegen; denn sie liegen in der Verantwortung des Subjekts. Die Mittel dagegen liegen objektiv in technischer Form vor und brauchen nur zur Optimierung der Zielerreichung benutzt werden. Daß die Ungarn beispielsweise den grammatikpolitischen Feminismus um Ungarn und Ungarinnen nicht mitmachen können, weil im Ungarischen die Unterscheidung der Genera nicht vorkommt, ist nicht in der Verantwortung des einzelnen UngarischSprechenden. Seine Sprache ist nur sein – in dieser Sicht – wertfreies Mittel, »sich« auszudrücken. Von daher ist es aber auch verständlich, daß die Kommunikations- und Medientheorien zunächst allein auf dieses Zweck-Mittel-Verhältnis gedanklich fixiert waren und Medien als bloße Mittel auffaßten, wie in all den Medientheorien, die wir oben dargestellt haben. Wie gesagt, unter dem Einfluß der Neuen Medien mit ihren vielfältigen Formen asubjektiver Interaktionen haben wir aber Anlaß, dieses simple Modell infrage zu stellen. Schon Nietzsche gab zu bedenken, ob wir nicht auf die Sprachstruktur hereinfallen, wenn wir zu jeden Geschehen einen »Täter« suchen. Er sagte, der Täter ist nicht vor der Tat, so als wäre er Täter auch ohne die Tat; sondern der Täter ist nur in der Tat.36 So wie wenn wir auf die Aussage »Es blitzt« hin fragen wollten »wie denn, wer oder was ist ›Es‹?«, dann als Antwort nur erwarten können »Der Blitz blitzt«, so als gäbe es ihn, ohne daß er blitzte. Aber unter der Dominanz der ZweckMittel-Orientierung heißt es etwa im Fischer-Lexikon Publizistik: »Im Kern bezeichnet der Begriff Medium die technischen Mittel, die für die Massenkommunikation notwendig sind.«37 Wegen der Beschränktheit dieses Begriffs von Medium könnte 35 36 37
Cf. M. Serres: Hermes IV: Verteilung. Berlin 1993. F. Nietzsche: Kritische Studienausg., hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari. München, Berlin, New York 1980, V, p. 279. Fischer Lexikon Publizistik Massenkommunikation, hrsg. v. E. Noelle-Neumann. Frankfurt a. M. 1989, p. 96.
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man das auch den »schwachen« Medienbegriff nennen und ihm einen »starken« oder »vollen« Medienbegriff gegenüberstellen. Um ihn zu rekonstruieren, brauchen wir nicht auf die minoische Kultur des Labyrinths als Tanz, d.h. als Bewegungsform,38 zurückzugehen, sondern die deutsche Frühromantik und Hegel sind Anregungen, dem Begriff der Vermittlung eine stärkere Bedeutung zu geben als den der bloßen Übermittlung von einer Seite eines Kommunikationskanals auf die andere. Ich werde darauf zurückkommen. In Zeiten gravierenden Wandels kommen die Kulturkritiker ans Tageslicht, lamentieren über Kulturverfall und gemahnen an die alten Werte. Kein Schüler, ja kein Lehrer könne heute mehr eine Ballade Schillers auswendig hersagen, geschweige denn die »Ilias« in der Originalsprache. Das Auswendiglernen langer Texte war anfangs eine wichtige Kulturtechnik, nämlich als die Schrift noch nicht erfunden war, auch dann noch, als Pergament teuer und nicht überall verfügbar war, auch noch als Bücher teuer waren und nicht jedermann und überall zur Verfügung standen. In dem Maße aber, in dem Bibliotheken in Metropolen verfügbares Wissen speicherten, brauchte man nur noch zu wissen, wo die Bücher zu finden waren, in denen die gesuchten Texte zu finden wären. Heute muß man nur noch wissen, wie eine erfolgversprechende Suchanfrage in einer Suchmaschine auszusehen hat. Auf diese Weise kann man auf einen immensen dezentralen und kollektiven Wissens-Speicher zurückgreifen, an den weder ein individuelles Gedächtnis noch eine Stadt- oder Staatsbibliothek je heranreichen werden. Wollte man eine Gewinn- und Verlustrechnung für diesen Wandel aufmachen, wie es die Kulturkritiker nahelegen, so scheint mir der Zeitpunkt für eine Bilanz im Moment verfrüht. Mit Verweis auf den Anthropologen Leroy-Gourhan macht Michel Serres auf die Verluste aufmerksam, die seinerzeit der Übergang zum aufrechten Gang für die beginnende Menschheit mit sich brachte39: Dieses Wesen wurde unfähig, die Hände effektiv zur Fortbewegung und das Gebiß zum Ergreifen der Dinge zu nutzen; aber was wiegen diese Verluste im Vergleich zu den enormen Vorteilen des Übergangs zum aufrechten Gang? Hätte es damals schon Kulturkritiker gegeben, sie hätten gewiß vor dem Übergang zum aufrechten Gang gewarnt, weil die Folgen teils damals schon absehbar waren, die viel größere Gefahr des Stürzens zum Beispiel, teils aber auch erst heute einschätzbar sind, auf jeden Fall aber irreversibel, wie z.B. die Wirbelsäulenschäden. Der Übergang zur kollektiven Speicherung statt der individualisierten müßte und wird vermutlich in Zukunft Konsequenzen für das Lernen im Medium haben (»Elearning«). Die ursprüngliche Zuversicht und Selbstgewißheit, daß es nur eine deutsche FernUniversität, nämlich die in Hagen, gibt und keine anderen Götter neben ihr – 38 39
K. Röttgers: Kopflos im Labyrinth. Essen 2012, p. 31-54. M. Serres: Der Mensch ohne Fähigkeiten. In: Süddt. Zeitung 28.3.2002, mit der Konsequenz: »Frei von jedem Zitat, befreit von der erdrückenden Verpflichtung zur Fußnote, bleibt uns nichts anderes übrig, als intelligent zu werden.« ... wie man sieht: an dieser Stelle noch ohne Konsequenz...
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machen wir uns nichts vor –, wankt bereits. Alle realen Orte der Welt werden in Zukunft als Lernorte gleichwertig sein, aber – das ist die unvermeidliche Kehrseite derselben Medialität – ebenso die Lehrorte.40 Die feste Adresse, der feste Wohnsitz, die feste postalische und polizeiliche Erfassung als Gewähr herrschaftskontrollierbarer Seßhaftigkeit ist für Medialität irrelevant geworden. Die Adresse im Internet ist eine bloß logische Adresse und per WLAN, Mobilfunk oder variabler Einwahl von jedem beliebigen Punkt der Welt aus erreichbar. So wie Engel keine Füße brauchen, um jeweils dort zu sein, wo sie gebraucht werden, so ist auch die Präsenz im Internet eine ubiquitäre.41 Nicht nur hier, aber hier besonders deutlich, werden bestimmte philosophische Vorentscheidungen sichtbar, das Mittlere bloß als ein Mittel zu vereindeutigen. Besonders kraß wird diese Vereinseitigung, wenn wir ganz normale Kommunikationssituationen betrachten. Unter der Dominanz der Zweck-Mittel-Deutung von Kommunikation müßten wir nämlich sagen: Da sei irgendein, womöglich substantiell aufgefaßter Akteur, und dieser entwickle bei sich den Plan, etwas zu erreichen, nämlich ein Gesagtes aus sich heraus zu entlassen, und dann ergriffe er zur Verfolgung dieses Zwecks Mittel, die ihm geeignet erscheinen, also z.B. ein Medium, eine Sprache, und sagte dann, wozu er zuvor die Sagens-Intention entwickelte hätte. Wenn er dann tatsächlich sagen könnte, was er sagen wollte, dann hätte sich das Medium als Mittel seiner Äußerung bewährt. Das im großen und ganzen vollständig Unpassende einer solchen Beschreibung von Kommunikation in terminis von Zweck-Mittel-Relationen könnte man gewiß noch steigern, aber das wäre im Moment ein etwas schales Vergnügen.42 In vergleichbarem Sinn spricht Roland Barthes vom »Tod des Autors«43; mit Bezug auf eine bestimmte Stelle bei Balzac sagt er: »Wer spricht hier? Ist es der Held der Novelle, um den Kastraten zu ignorieren, der sich hinter der Frau verbirgt? Ist es das Individuum Balzac mit seiner persönlichen Philosophie der Frau? Ist es der Autor Balzac, der ‚literarische‘ Ideen über das Weibliche verkündet? Ist es die Weisheit schlechthin? Die romantische Psychologie? Wir werden es nie erfahren können, einfach deswegen, weil die Schrift [›écriture‹] jede Stimme, jeden Ursprung zerstört. Die Schrift ist der unbestimmte, heterogene, unfixierbare Ort, an dem unser Subjekt entflieht, das Schwarzweiß,
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Cf. J. C. Nyíri: Open and Distance Learning in an Historical Perspective. In: European Journal of Education 32 (1997), p. 347-357. Schon spricht man von »mobile e-learning«. Zu dieser Analogie zu den Engeln s. M. Serres: Die Legende der Engel. Frankfurt a. M., Leipzig 1995. Z. B. so wie in K. Röttgers: Ça parle – wer sagt das?– In: Diesseits des Subjektprinzips, hrsg. v. St. Blank u. Th. Bedorf. Magdeburg 2002, p. 69-85. R. Barthes: Der Tod des Autors.– In: Performanz, hrsg. v. U. Wirth. Frankfurt a. M. 2002, p. 104-110.
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in dem sich jede Identität aufzulösen beginnt, angefangen mit derjenigen des schreibenden Körpers. Das ist sicherlich schon immer so gewesen: Sobald ein Ereignis ohne weitere Absichten erzählt wird – also lediglich zur Ausübung des Symbols, anstatt um direkt auf die Wirklichkeit einzuwirken –, vollzieht sich diese Ablösung, verliert die Stimme ihren Ursprung, stirbt der Autor, beginnt die Schrift. Allerdings ist dieses Phänomen unterschiedlich verstanden worden. In archaischen Kulturen rührte eine Erzählung niemals von einer Person, sondern von einem Vermittler (einem Schamanen oder Erzähler) her, an dem man höchstens die ›Ausführung‹ [›performance‹] (nämlich die Beherrschung des Erzählcodes) bewundern kann, aber niemals das ›Genie‹. Der Autor ist eine moderne Figur, die unsere Gesellschaft hervorbrachte, als sie am Ende des Mittelalters im englischen Empirismus, im französischen Rationalismus und im persönlichen Glauben der Reformation den Wert des Individuums entdeckte – oder, wie man würdevoller sagt, der ›menschlichen Person‹.«44
Und weiter Roland Barthes: »Für Mallarmé (und für uns) ist es die Sprache, die spricht, nicht der Autor. Schreiben bedeutet, mit Hilfe einer unverzichtbaren Unpersönlichkeit – die man keineswegs mit der kastrierenden Objektivität des realistischen Romanschriftstellers verwechseln darf – an den Punkt zu gelangen, an dem nicht ›ich‹, sondern nur die Sprache ›handelt‹ [›performe‹].«45
Hier zeigt sich der Analyse eine Eigenschaft solcher Medialität, wie sie beispielsweise jahrhundertelang die Schrift realisierte. Ein Geschriebenes ist aus vielem anderen Geschriebenem zusammengesetzt, sei es als direktes Zitat, das einen Link auf einen anderen Text setzt, sei es als Anspielung, durch die der Leser des geschriebenen Textes einen Link selbst finden soll, sei es indem es Wiedergabe, Anknüpfung an einen Forschungsstand etc., d.h. ein gewisses kulturelles Niveau darstellt. Ein Schriftstück ist nicht einfach ein Schriftstück, es ist Teil eines umfassenderen kommunikativen Textes. Wenn aber Barthes vom Tod des Autors spricht, so läuft das so wenig wie die Rede vom »Tod Gottes« auf die Behauptung hinaus, es hätte den Autor nie gegeben. Im Gegenteil: wer eindrucksvoll tot sein möchte, muß zuvor eindrucksvoll gelebt haben. Und auch Tote leben ja ihr virtuelles Leben. Sie sind der Zielpunkt von Zurechnungen. Tod des Autors kann nur heißen: es gibt nicht (mehr) jenes als Genie tätige autonome Subjekt, das der Ursprung oder Urheber eines Textes zu sein vermöchte. Aber die Autopoiesis des Textes bedarf einfach solcher partiell zentrierender Zurechnungen, die den toten Autor im Text weiter begehren. Dieses leserzentrierte Begehren generiert im Medium dessen Autorschaft, wobei freilich auch die Leserposition eine im Text erzeugte ist ebenso wie die Autorfunktion. Das Bild des 44 45
l. c., p. 104f. l. c., p. 106.
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texterzeugenden Genies suggerierte, daß das Subjekt alles, was es zu sagen hatte – und das sollte seine im Inneren quellende Unendlichkeit sein –, dann in den Text exkrementierte. Literaturgeschichte unter diesem Modell war die Nacherzählung von solchen Exkrementationsprozessen und Aufzählung der Exkremente. Unter dem Leitbild der Medialität wird man in der Philosophie nicht mehr schauen, was sogenannte große Denker als vermeintlichen Ausdruck aus sich herausquälten, sondern man wird auf diejenigen Prozesse des Symphilosophierens46 zu achten haben, in denen der Gedanke als Gestaltung eines transzendentalen und pluralen Wir, dessen Ort das Zwischen ist, erscheint. Originalität, d.h. der Gestus, man selbst sei ein Ursprung, ein bedeutender zudem, wird nicht mehr prämiert, sondern die erfolgreiche Vernetzung eines Gedankens. Sind Medien also keine Mittel? Würden wir uns nun vorschnell auf eine Bejahung dieser Frage einlassen, so würden wir uns in die Falle der Titelfrage dieses Abschnitts begeben haben. Als Philosophen kommt es uns aber nicht darauf an, neue Antworten auf falsche Fragen zu finden, sondern die Fragen umzuformulieren, die unseren geläufigen Antworten unbefragt zugrunde liegen. Aus diesem Grunde soll jetzt eine radikale Perspektivenänderung explizit vorschlagen werden, von der implizit schon eine Weile Gebrauch gemacht wurde und die darin liegt, daß man nicht zuerst an die Seienden denkt, zwischen denen sich dann etwas, d.h. seinerseits ein Seiendes, als ein Medium befindet, d.h. ich möchte vorschlagen, jene Perspektive aufzugeben, durch die auf meine Frage »Wer oder was ist ein Medium?« eine mehr oder weniger passende Antwort (z.B. »Frau Mustermann« oder »die Printmedien« oder »der Computer«) gegeben werden mag. Die Perspektive, unter der Medialität zu denken wäre, liegt freilich in anderer Gestalt seit mehreren Jahrhunderten vor. Eine der Komponenten, an der ich dieses zunächst veranschaulichen möchte, ist der Begriff des Feldes, des Magnetfeldes zuerst, dann des elektromagnetischen Feldes, der dann bei Kurt Lewin breiten Eingang in die Sozialwissenschaften und im Strukturalismus seine allgemeinsten Formulierungen gefunden hat. Das Eigentümliche dieser Perspektivenverschiebung ist es, nicht von Substanzen auszugehen, die dann sekundär in Beziehungen eintreten und damit erst Medien ermöglichen, sondern von dem Zwischenbereich des Medialen auszugehen, dann zu schauen, welche Funktionen, welche Relationen etc. sich dort abspielen und dem Medium seine spezifische Struktur geben.47 Eine der vielleicht wichtigsten Veränderungen ist, daß das Gedächtnis nirgendwo mehr eine durch besondere Individuen
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Zu diesem frühromantischen Begriff und der Prüfung seiner Aktualisierbarkeit s. K. Röttgers: Symphilosophieren. In: ders.: Texte und Menschen. Würzburg1983, p. 84-118. Dann wird auch der Aussage, daß Medien definieren, was Kommunikation ist, ihre Dramatik genommen – wo denn sonst sollte das definiert sein? Es ist jedenfalls keineswegs in das Belieben der Kommunikationsakteure gestellt. Und so schließlich ist auch das bestimmt, was als das Soziale und seine Formen zu bestimmen wäre. S. G. Preyer: Die kopernikanische Wende der neuen Medien, p. 39: »Wir leben heute in einer Situation, in
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realisierte Funktion ist, sondern eine durch und durch kollektive Veranstaltung geworden ist – mehr dazu unten. Eine andere Veränderung besteht darin, daß globale Kommunikationsstrukturen entstehen, die nicht mehr auf eine Basis im Bewußtsein, nämlich von Menschen, angewiesen sind,48 sondern als Strukturen ausschließlich technisch bestimmt sind. Wollen wir diese Medialität angemessen denken, so ist jedenfalls ein Denken in Urhebern von Kommunikation als Handlungssubjekten obsolet geworden. Es wird etwas nicht mehr deswegen kommuniziert, weil ein autonomes Subjekt es so wollte, sondern es wird kommuniziert, was kommunizierbar ist. Nicht mehr Verursachung, Mitteleinsatz und Zweckerfüllung sind die Leitbegriffe zur Interpretation solcher Prozesse, sondern die Rekursivität von Funktionen. Entsprechend ist nicht mehr der Überblick von einem überlegenen Standpunkt aus die Garantie des Gelingens, sondern die effektive Anschließbarkeit und Fortsetzbarkeit von Kommunikationen, m.a.W. die Vernetzung von Perspektiven, wie es ja keinen Algorithmus gibt, der die Richtigkeit eines anderen Algorithmus beweisen kann: man muß es ausprobieren. Problemlösung gleicht im Medium nicht mehr der Auffindung des Oberbegriffs und der Identifizierung der differentia specifica und auch nicht mehr dem nomologisch-deduktiven Erklären mithilfe von Gesetzen und Randbedingungen, sondern Problemlösen im Medium ist Mustererkennung und sehr viel mehr dem Knacken eines Codes oder Passworts vergleichbar. Es ist strategisch und nicht axiomatisch. In der Kulturphilosophie hat m.W. zuerst Ernst Cassirer diese Perspektivenänderung vollzogen. Folgt man seinen Spuren, der er bereits vom Medium spricht, so läßt sich eine Philosophie der Medialität nur als kulturalistische, nicht als naturalistische aufbauen. Das soll heißen, das Medium ist kein Mittel, das etwa einer benutzt, um eine Botschaft auf einen anderen zu übertragen; denn dieses wäre eine naturalistische Deutung, die zwar immer möglich ist, in ihrer Einseitigkeit die eigentliche Sache aber ebensowenig trifft, wie wenn man ein Gemälde Cézannes als eine bestimmte Verteilung eingetrockneter Ölfarben verschiedener Färbungen auf einem Leinengewebe beschriebe. Das ist zwar nicht falsch, trifft aber die eigentliche Sache nicht, die wir meinen, wenn wir uns auf ein Werk Cézannes beziehen. Medien als Mittel zu beschreiben, gleicht diesem äußerlichen Zugang zu einem Werk. Cassirers vorrangiges, wenngleich nicht einziges Beispiel ist die Sprache als Medium. Und jetzt möchte ich Cassirer selbst ausführlich zu Wort kommen lassen, weil sich das Entscheidende
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der die neuen Medien und die modernen Kommunikationstechnologien ›Kommunikation‹ neu definieren und verändern. Dies wird unser Verständnis von Sozialem betreffen.« Dazu in provozierender Formulierung, aber der Tendenz nach eines der Vorbilder unserer Überlegungen N. Luhmann: Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? In: Materialität der Kommunikation, hrsg. v. H. U. Gumbrecht u. K. L. Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1988, p. 884-905.
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nicht besser sagen läßt: Er spricht allerdings von den Kommunikationspartnern als »Ich« und »Du« und sagt: »Beide können jetzt nicht mehr als selbständige Dinge oder Wesenheiten beschrieben werden, als für sich daseiende Objekte, die gewissermaßen durch eine räumliche Kluft getrennt sind und zwischen denen es nichtsdestoweniger, unbeschadet dieser Distanz zu einer Art von Fernwirkung, zu einer actio in distans, kommt. Das Ich wie das Du bestehen vielmehr nur insoweit, als sie ›füreinander‹ sind, als sie in einem funktionalen Verhältnis der Wechselbedingtheit stehen. Und das Faktum der Kultur ist eben der deutlichste Ausdruck und der unwidersprechlichste Beweis dieser wechselseitigen Bedingtheit. […] Eine kritische Kulturphilosophie kann sich keiner der beiden Erklärungsarten gefangengeben. Sie muß ebensowohl die Scylla des Naturalismus wie die Charybdis der Metaphysik vermeiden. Und der Weg hierzu eröffnet sich hier, wenn sie sich klarmacht, daß ›Ich‹ und ›Du‹ nicht fertige Gegebenheiten sind, die durch die Wirkung, die sie aufeinander ausüben, die Formen der Kultur erschaffen. Es zeigt sich vielmehr, daß in diesen Formen und kraft ihrer die beiden Sphären, die Welt des ›Ich‹, wie die des ›Du‹, sich erst konstituieren. Es gibt nicht ein festes, in sich geschlossenes Ich, das sich mit ebenso solchen Du in Verbindung setzt und gleichsam von außen in seine Sphäre einzudringen sucht. Geht man von einer derartigen Vorstellung aus, so zeigt sich am Ende immer wieder, daß die in ihr gestellte Forderung unerfüllbar ist. Wie in der Welt der Materie, so bleibt auch im Geistigen jedes Sein gewissermaßen an seinen Ort gebannt und für das andere undurchdringlich. Aber sobald wir nicht vom Ich und Du als zwei substantiell getrennte Wesenheiten ausgehen, sondern uns statt dessen in den Mittelpunkt jenes Wechselverkehrs versetzen, der sich zwischen ihnen in der Sprache oder in irgendeiner anderen Kulturform vollzieht, so schwindet dieser Zweifel. […] Der Abgrund läßt sich nicht füllen; jede Welt gehört letzten Endes nur sich selbst an und weiß nur von sich selbst. […] Im Sprechen und Bilden teilen die einzelnen Subjekte nicht nur das mit, was sie schon besitzen, sondern sie gelangen damit erst zu diesem Besitz. An jedem lebendigen und sinnerfüllten Gespräch kann man sich diesen Zug deutlich machen. Hier handelt es sich niemals um bloße Mitteilung, sondern um Rede und Gegenrede. Und in diesem Doppelprozeß baut sich erst der Gedanke selbst auf. […] Das Denken des einen Partners entzündet sich an dem des anderen, und kraft dieser Wechselwirkung bauen sie beide, im Medium der Sprache, eine ›gemeinsame Welt‹ des Sinnes für sich auf. Wo uns dieses Medium fehlt, da wird auch unser eigener Besitz unsicher und fragwürdig. […]«49
Sprache als Mittel aufzufassen und nicht als Medium im hier vorgeschlagenen Sinn hat nach Sybille Krämer eine lange Tradition, die in ihren letzten Ausläufern bis zu Chomsky und Habermas reicht, die aber am Ende des 20. Jahrhunderts durch drei Tendenzen aufgebrochen worden ist, nämlich den Poststrukturalismus, die mediengeschichtlichen Forschungen zu Oralität und Literalität und die kulturwissenschaft-
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E. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Darmstadt 1971, p. 49-54.
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lichen Debatten um Performanz. Alle drei Tendenzen konvergieren zu dem, was Krämer die »verkörperte Sprache« nennt im Gegensatz zu einer Auffassung von Sprache als einer Instanz »hinter« dem Sprechen, d.h. also der klassischen repräsentationslogischen Zwei-Welten-Ontologie des Sprachzeichens. Die Quintessenz dieser Umorientierung ist: Sprache ist immer medial, es gibt keine Sprache im Jenseits der Medialität. Oder mit Krämers Worten gesagt: »[...] gibt es auch keine sprachliche Form, die nicht immer Form-in-einem-Medium ist.«50 »Medien sind an der Entstehung von Sinn und Bedeutung also auf eine Weise beteiligt, die von den Sprechenden weder intendiert, noch von ihnen völlig kontrollierbar ist und als eine nicht-diskursive Macht sich ›im Rücken der Kommunizierenden‹ zur Geltung bringt. Es ist die Medialität der Sprache, die alle Vorstellungen, das Sprechen sei ein intentionales, intersubjektiv kontrollierbares Zeichenhandeln, zu kurz greifen läßt. ›Verkörperte Sprache‹ wird so zu einem Suchbegriff nach den materialen, den vorprädikativen Formgebungen unserer Sprachlichkeit.«51
Ersichtlich ist dann also Individualität keine Voraussetzung von Kommunikationsprozessen, und Medien sind nicht ihre nach Zweckmäßigkeitserwägungen einsetzbaren Mittel. Sondern wir werden dann gewahr, daß an medial bestimmten Kommunikationen nur bestimmte Funktionalitäten von Individuen beteiligt sind. An Vertragsverhandlungen über ein bestimmtes Wirtschaftsprojekt könnte austauschbar jeder teilnehmen, der die Prokura der betreffenden Firma hat, unabhängig von der für seine Individualität vielleicht viel wichtigeren Frage, ob er glücklich verheiratet ist oder nicht. Noch radikaler werden die Beispiele, wenn man etwa an die Beteiligung oder fiktive Neukonstruktion von Individualität in Chat-Räumen denkt. Dort gilt nicht mehr: wir alle spielen Theater, sondern dort gilt: das Theater spielt (mit) uns. Eine Sozialhilosophie, in deren Mittelpunkt der Begriff des kommunikativen Textes gestellt wurde,52 wird nicht mehr von der Fiktion bewegt werden können, als ereigne sich das Denken tief im Inneren einer Subjektivität und als wäre Kommunikation nur eine Sekundärerscheinung, um solche Tiefenereignisse für andere Menschen nachvollziehbar zu machen. Ginge man nämlich von einer solchen Fiktion aus, d.h. ginge man heute noch von ihr aus, so brauchte man sich um Medialität keine großen Sorgen zu machen. Das Medium, welches es auch immer wäre, hätte stets nur den Effekt des Einbruchs des Rauschens in die reine Botschaft; allenfalls könnte man die Medien nach dem Ausmaß ihres Rauschens sortieren. Diese Grundfiktion ist aber für falsch zu erachten und ihre Konsequenzen als nicht besonders interessant. Geht 50 51 52
S. Krämer: Sprache - Stimme - Schrift: Sieben Gedanken über Performativität als Medialität.– In: Performanz, l. c., p. 323-346, hier p. 332. ibd.; cf. auch in ähnlicher Stoßrichtung: Chr. L. Hart Nibbrig: Die Auferstehung des Körpers im Text. Frankfurt a. M. 1985. K. Röttgers: Kategorien der Sozialphilosophie. Magdeburg 2002.
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man dagegen davon aus, daß der eigentliche Ort des Geschehens der Philosophie und a limine jeglicher Wissenschaft die Kommunikation ist,53 dann rückt dieses Zwischen in das eigentliche Interesse, dann ist das Medium nicht das Mittel im Sinne einer Zweck-Mittel-Relation, für die ja doch immer die Zwecke das eigentliche sind, sondern dann ist das Medium die notwendige Form, ohne die es den Inhalt überhaupt nicht gibt. So einfach die Auskunft zu sein scheint, nämlich daß das Medium erstens dasjenige ist, von dem in der Analyse auszugehen wäre, zweitens aber kein substantielles Etwas von der Art, daß nach seinem Sosein gefragt werden könnte und seiner Eignung zum Einsatz für bestimmte Zwecke, so unbestimmt bleibt doch zunächst ein solcher Medienbegriff. Wenn wir also die Frage »Wer oder was ist ein Medium?« aufgegeben haben zugunsten der Frage nach der Struktur von Medialität, dann müssen wir nun das Pluriversum solcher Medialität von vornherein in Betracht ziehen. Da gibt es einerseits jenes erwähnte simple informationstheoretische Modell, demgemäß Information sich durch ein als Kanal angesprochenes Medium hin und her bewegt. Und je nach Richtung dieses Informationsflusses unterscheiden wir als seine Endpunkte den Sender und den Empfänger. Im Kanal selbst gibt es außerdem nur noch das Rauschen, das nicht zur Information gehört und diese in ihrer Eindeutigkeit bedroht. In seiner Bipolarität ist dieses Modell allzu einfach; denn auch jede Redundanz zur Absicherung der Information gegen das Rauschen verändert: Keine Wiederholung ist identisch mit dem erstmaligen Performieren, einfach weil sie in einem anderen Kontext steht und in diesem, auch wenn sie es sollte, nicht dieselbe sein könnte. Selbst also der einfache bipolare Kanal enthält bereits den Dritten, den Störer – oder wie Michel Serres sagt: jede Beziehung ruft ihren Beziehungs-Parasiten auf. Er ist dabei und nimmt teil und nimmt sich seinen Teil.54 Und nun macht es einen ganz erheblichen Unterschied aus, ob die Struktur der Medialität bipolar organisiert ist und also den Dritten stets als Störer auszuschließen trachten muß oder ob die Medialität von vornherein als Zweierbeziehung in Anwesenheit eines Dritten konzeptualisiert ist. Dieser Dritte, der ein- oder ausgeschlossen werden kann, ist dann Katalysator der Beziehung. Dieser Dritte hat eine Beziehung zu einer Beziehung; dadurch wird er nicht gleich zum transzendentalen Dritten, weil seine Beziehungsbeziehung natürlich seinerseits zum Gegenstand einer Beziehung werden, ja auch zum Gegenstand einer solchen Beziehung werden kann, in die sich einer der ursprünglichen Beziehungskorrelatoren begibt, so daß die Form, in die sich
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Das ist bekanntlich die These von N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1990. M. Serres: Der Parasit. Frankfurt a. M. 1981.
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Medialität begibt, die des Netzes ist. Das Eigentümliche eines Netzes in diesem medienstrukturalen Sinne ist es, daß die Frage gleichgültig wird, ob die Linien den Knoten oder die Knoten den Linien vorausgehen, sie definieren sich nämlich gegenseitig. In der Beschreibung der Folgen kann man dann etwas konkreter werden. Man könnte z.B. darauf achten, was passiert, wenn Kommunikation vom Medium der Oralität zum Medium der Literalität übergeht. Erstens ist dieser Übergang nur ein Differenzierungszugewinn, keine Metabasis, kein radikaler Übergang; denn die Leute reden ja weiter miteinander und übereinander, auch wenn sie stattdessen schreiben könnten. Zweitens sind einige wichtige Vorgänge auf Schriftlichkeit festgelegt: Beurkundungspflichten, aber auch – nach einer gewissen Weile und mit gewissen Toleranzen an den Rändern – der Diskurs der Philosophie. Das hat – drittens – erhebliche Folgen z.B. für die Art des Philosophierens selbst.55 Daß der Diskurs der Philosophie auf Schriftlichkeit festgelegt zu sein scheint, hat Folgen, die jedoch über lange Zeit hinweg in diesem Diskurs nicht oder nur teilweise thematisiert wurden. Ausnahme ist z.B. das Bewußtsein der Zeichenbedingtheit des Denkens, soll heißen, daß sich das Denken im Zeichen ereignet, nicht aber sich der Zeichen bloß zur Übermittlung des zeichenfrei Gedachten bedient, so etwa bei Leibniz, der auf diese Weise zu einem Referenzautoren einer Medienphilosophie avancieren könnte. Als Platon seinerzeit sich daran machte, das sokratische gesprächsweise Philosophieren aufzuschreiben und als dann Schüler diese platonischen Dialoge lesen konnten und mußten, da hatte sich über den Wandel des Mediums, nämlich vom Gespräch zur Schrift, auch ein ganz entscheidender Wandel der Inhalte ereignet. Das sophistische Gespräch nämlich – so noch bei Gorgias56 und selbst im platonischen Dialog »Gorgias«57 nachweisbar – war ein Gespräch, für das die Anwesenheit des Dritten konstitutiv war.58 Zwei disputierten, um die Zustimmung des Dritten rhetorisch-argumentativ und seduktiv, möchte man sagen, zu gewinnen. Die Schrift aber schließt den Dritten aus.59 Die Schrift ist an den Anderen, den Leser in diesem Falle adressiert, ein Dritter kommt nicht mehr vor; wenn scheinbar ein Dritter auftritt, wie der Lehrer, der einen Text für den Schüler/Leser erläutert oder den Text benutzt, um den Schüler das besser 55 56
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S. dazu auch S. Krämer, l. c.; ebenso zuvor K. Röttgers: Der Wandel der Inhalte im Einflussfeld der Multimedialisierung universitärer Lehre. In: LernOrt Universität, hrsg. v. G. Simonis u. Th. Walter. Wiesbaden 2006, p. 281-295. Insbesondere seine Lobrede auf Helena ist hier zu beachten: Die Fragmente der Vorsokratiker, gr. u. dt. v. H. Diels, hrsg. v. W. Kranz. 6. Aufl. Berlin 1952, II, p. 294-303; s. dazu auch: S. Ijsseling: Macht, taal en begeerte. In: Tijdschrift voor filosofie 41 (1979), p. 375-404; ferner: K. Röttgers: Der Sophist. In: Das Leben denken - Die Kultur denken, hrsg. v. R. Konersmann. Freiburg, München 2007, I, p. 145-175. Platon: Sämtliche Dialoge, hrsg. v. O. Apelt. 6. Aufl. Hamburg 1923, I, p. 35ff. Zum Ausschluß der Dritten im frühen Griechentum s. auch: M. Serres: Le troisième homme ou le tiers exclu.– In: Les Etudes philosophiques. N.S. 21 (1966), p. 463-469. Zur sozialkonstitutiven Bedeutung des Dritten s. Th. Bedorf: Dimensionen des Dritten. München 2003; sowie: Theorien des Dritten, hrsg. v. Th. Bedorf, J. Fischer, G. Lindemann. München 2010.
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beizubringen, was dieser lernen soll, dann ist er kein konstitutiver Dritter, sondern nur eine Verlängerung des Text-Leser-Verhältnisses. (Dyaden-Verkettungen kennen den Dritten noch nicht und begründen daher noch nicht das Soziale, sondern bleiben in der Sphäre bloßer Intersubjektivität.) Aber dieser Ausschluß des Dritten in der Niederschrift der platonischen Dialoge wirkt in die Inhalte, die Gespräche haben die oft lächerlich wirkende Form, in der sich der Gesprächspartner von Sokrates so nach und nach zur Einsicht in die Eine Wahrheit bequemen muß. Das agonale Gespräch kennt nur die Kapitulation vor der überwältigenden Kraft der Wahrheit, die nur auf jeweils einer Seite sein kann (das sogenannte Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten). Oder wie ein zeitgenössischer Sophist, nämlich Habermas, es einmal in unnachahmlicher rhetorischer Qualität ausgedrückt hat: den »zwanglosen Zwang des besseren Arguments«.60 Insofern sind die platonischen Dialoge ein sehr kräftiger Hinweis auf die Tatsache, daß das Medium erhebliche Konsequenzen für die Inhalte haben kann. Aber aus diesem angeführten Beispiel läßt sich auch noch ein weiteres lernen. Obwohl die Schrift, und durch den Buchdruck noch in gesteigertem Maße, das Medium der Entfaltung des philosophischen Gedankens par exellence geworden ist, ist der Ausschluß des Dritten nicht unwiderruflich gewesen. Die Pragmatik der Texte kann den Dritten auch im Medium der Schrift erneut inkludieren. Als Beispiel kann vielleicht Machiavellis »Principe« dienen.61 Rein äußerlich betrachtet, ist dieser ein Text, der einem Fürsten Ratschläge für ein kluges politisches Verhalten gibt, also eine eindeutige Zweiersituation ohne jeden Dritten; gestattet man sich jedoch die Frage, warum diese Ratschläge als Buch (allerdings erst postum zwanzig Jahre nach der Entstehung) für eine breite und unkontrollierbare Öffentlichkeit gedruckt wurden, dann gerät diese zuvor klare Situation ins Zwielicht. Wenn einem Fürsten nämlich in aller Öffentlichkeit Ratschläge gegeben werden, die – so die einschlägige historische Forschung – unter italienischen Renaissancefürsten ohnehin gang und gäbe waren, dann haben diese Ratschläge, die zum Teil nur dadurch wirken, daß sie nicht allgemein bekannt sind, einen entlarvenden Charakter. Durch die Öffentlichkeit wird der Dritte in die Zweiersituation der Politikberatung eingeführt. Dieses Beispiel mag uns lehren, daß die Folgekosten der Einführung eines bestimmten Mediums auf einer anderen Ebene der Entfaltung eben dieses Mediums sehr wohl wieder eingefangen werden können, ja sogar an Raffinement gewinnen.62 Ein zweites Beispiel führt uns näher an die Problematik der heutigen Medien heran, es geht um Bildlichkeit. Das philosophische Denken ist am Wort, am Begriff
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J. Habermas: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M. 1984, p. 161. N. Machiavelli: Der Fürst. Stuttgart 1961; zu der hier geäußerten Vermutung hinsichtlich der Pragmatik von Machiavellis Text s. K. Röttgers: Buchphilosophie und philosophische Praxis.– In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 38 (1990), p. 1187-1201. Unter diesem Blickwinkel könnte sich der Antimachiavellismus Friedrichs II. als bloß durch Reflexivität gesteigerter Machiavellismus erweisen.
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orientiert. Das Wort ist die Form der Artikulation der Vernunft. Diese Vernunft braucht keine Bilder, da sie ja über die Begriffe verfügt. Manchmal, aber selten sind Bilder in die Texte eingestreut, kaum je mehr als bloße Veranschaulichungen dessen, was der Begriff an sich schon sagt, also als didaktische Aufbereitung, aber nicht, weil der Gedanke selbst sich in der Logik der Bilder entfaltete. Im Gegenteil, es ist oft genug der Verdacht geäußert worden, daß die Bilder eigentlich nur lügen, so erstmals bei Augustin.63 Das ist in der Folgezeit so perfekt durchgeführt worden daß es undenkbar wäre, eine bebilderte Ausgabe der »Kritik der reinen Vernunft« oder der Hegelschen »Logik« vor sich zu haben; allenfalls wird die Bildlichkeit zugelassen, die als mathematische Figuren zulässig sind. Kant selbst kritisiert, sogar unter Berufung auf das alttestamentarische Bilderverbot, die Verwendung von »Bildern und kindischem Apparat«; nur derjenige könne in dergleichen – er sagt nicht: – Medien Zuflucht finden, der nicht auf die sich selbst durchsetzende Kraft der Vernunft vertraue.64 Aber auch in diesem Beispiel hat sich das ereignet, was wir oben als Rückkehr des Ausgeschlossenen auf einer weiteren Ebene erkennen konnten. Als sprachliche Bilder, d.h. als nicht begrifflicher Sprachgebrauch kommen die Bilder allenthalben in den Texten der Philosophie vor, gerade auch in der »Kritik der reinen Vernunft«. So heißt es dort an wichtiger Stelle: »Wir haben jetzt das Land des reinen Verstandes nicht allein durchreiset und jeden Theil davon sorgfältig in Augenschein genommen, sondern auch durchmessen und jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt. Dieses Land aber ist eine Insel und durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten und stürmischen Oceane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt und, indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann. Ehe wir uns aber auf dieses Meer wagen, um es nach allen Breiten zu durchsuchen und gewiß zu werden, ob etwas in ihnen zu hoffen sei, so wird es nützlich sein, zuvor noch einen Blick auf die Karte des Landes zu werfen, das wir eben verlassen wollen, und erstlich zu fragen, ob wir mit dem, was es in sich enthält, nicht allenfalls zufrieden sein könnten, oder auch aus Noth zufrieden sein müssen, wenn es sonst überall keinen Boden giebt, auf dem
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Aurelius Augustinus: Die Lüge und Gegen die Lüge. Würzburg 1953, p. 3ff.; zum Zusammenhang von Autorschaft und Lügen im Text s. auch K. Röttgers: Lügen(-)Texte oder nur Menschen.– In: »Dichter lügen«, hrsg. v. K. Röttgers u. M. Schmitz-Emans. Essen 2001, p. 37-60; s. auch St. Dietzsch: Kleine Kulturgeschichte der Lüge. Leipzig 1998, der auch besonders die Bedeutung Augustins für die Durchsetzung der Moralisierung des Lügens betont. I. Kant: Gesammelte Schriften, hrsg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1910ff., V, p. 275.
78 | I DENTITÄT ALS E REIGNIS wir uns anbauen könnten; zweitens, unter welchem Titel wir denn selbst dieses Land besitzen und uns wider alle feindselige Ansprüche gesichert halten können.«65
Es ist eine seit Hans Blumenberg überwundene Illusion, als hätte sich die Philosophie um eine klare und präzise Sprache zu bemühen, wie ihr Descartes einstmals vorschreiben wollte, als wäre jede Bildlichkeit der Sprache aus der Philosophie zu verbannen.66 Vielmehr sind neue Erkenntnisse gerade durch eine solche Nichtpräzision zu erlangen, die auf Metaphorizität hinauslaufen, d.h. auf die Verwendung eines Begriffs in einem Diskurs, in dem er nicht beheimatet ist. Neuere Tendenzen in der Philosophie gehen gerade daraufhin, sowohl der Bildlichkeit des philosophischen Textes als auch seiner Rhetorizität ein neues Gewicht beizumessen. Man könnte die Vermutung ableiten, daß auch der uns gegenwärtig betreffende Wandel in der Medialität der philosophischen Kommunikation nach dem Muster der Aufhebung auf einer erweiterten Ebene, d.h. in der Figur der Reflexion erfolgen werde. Ich halte diese Vermutung für voreilig; denn ich glaube, daß dieser Wandel in der Medialität der Kommunikation durchkreuzt wird von einem Komplex weiterer Wandlungsprozesse, deren Insgesamt die Rede vom Ende der Moderne gerechtfertigt erscheinen läßt. Dieser Komplex läßt als dominante Textanschlußregel nicht mehr – wie durchgehend in der Moderne – die kritische Reflexion erscheinen, sondern eine eher bunte und flexible Vielfalt von Regeln, zu deren Charakterisierung viel weniger als bisher der Begriff der Methode, d.h. des geregelten Fortschreitens auf einem Wege, als vielmehr diejenige von Strategie oder sogar Taktik taugen. So wird beispielsweise der Lernraum »Virtuelle Universität« an einer ganz bestimmten Stelle, an der sich ein Nutzer befindet, eine Vielfalt von Fortsetzungsmöglichkeiten, und zwar unterschiedlichster Art, beinhalten. Nach der Lektüre eines Textes könnte er z.B. einen verlinkten Anschlußtext lesen oder ein verlinktes Bild oder eine Grafik aufrufen, oder er könnte eine Email an irgend jemanden schicken, der dort als möglicher Ansprechpartner genannt ist, er könnte das Angebot nutzen, in eine Newsgruppe oder einen Blog zu dem Thema einzutreten, er könnte sich aber auch an einer Tratschgruppe (»Chat«) beteiligen oder zwitschern (»twitter«). Schließlich könnte er auch einen Text mit anderen gemeinsam erstellen. Man wird nicht sagen wollen, daß eine dieser Anschlußmöglichkeiten dem Inhalt des gelesenen Textes angemessener sei. Das aber hat tatsächlich gewaltige Konsequenzen für die Art des Textes, der diese Vielfalt von Anschlußmöglichkeiten soll gewährleisten können. Der Text muß sich selbst als auf mehrfache
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I. Kant: Kritik der reinen Vernunft B 294f., l. c. III. H. Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik.– In: ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Stuttgart 1981, p. 104-136; ders.: Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit.– In: ders.: Schiffbruch mit Zuschauer. Frankfurt a. M. 1993, p. 75-93; ders.: Das Lachen der Thrakerin. Frankfurt a. M. 1987; ders.: Die Sorge geht über den Fluß. Frankfurt a. M. 1987.
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Weise nutzbar präsentieren. Nun könnte man sich bei dem Gedanken zu trösten versuchen, daß das ja nicht den philosophischen Gedanken als solchen betreffe, dieser sei wie eh und je methodisch-linear oder allenfalls dialektisch-linear. Der Leser muß dem in seiner Linearität folgen, was der Autor in seiner Linearität ihm vor-schrieb, wenn er denn nicht die Eine Wahrheit als Lohn seiner Mühe verspielen will. Dagegen ist folgendes einzuwenden: Erstens ist die Linearität nicht zwangsläufig, weil der Ausschluß des Dritten, wie gesagt, sich nicht von selbst versteht. Der Dritte präsentiert aber immer die zweite Dimension, die die Linearität schon verlassen hat. Zweitens war eigentlich fast jeder philosophische Text ein Mehrebenentext, der dem Lesen stets die Optionen der Ebenentreue oder des Ebenenwechsels freigab: Anmerkungen, Digressionen, Lemmata etc. konnte man folgen, oder man konnte es bleiben lassen. Ein philosophisches Lexikon wird niemand von vorne bis hinten durchlesen; man wird ein Stichwort suchen, Querverweise, so sie interessant erscheinen, folgen, Literaturhinweise nutzen etc. Das hatte immer schon Konsequenzen für das Schreiben solcher Philosophie, wie sie sich in philosophischen Enzyklopädien findet.67 Und so müssen auch die Neuen Medien im Schreiben der Texte selbst ihre Spuren hinterlassen, wollen sie sich nicht extrem unsensibel und rücksichtslos erweisen. Der Philosoph Michel Serres hat daher schon vor einiger Zeit, sagen wir vor den Zeiten des Internets, die ja in Frankreich wegen Minitel später angebrochen sind, die in der Schriftkultur dominante Privilegierung linearer Verknüpfungen zwischen Punkten der Kommunikation kritisiert und auf die verschiedenen nicht-linearen Formen von kommunikativen Anschlüssen hingewiesen und das Netz, statt des Leit-Fadens, als Kommunikationsmetapher propagiert. Und sein großes Werk68 über die Kommunikation behandelt neben der Übertragung, die aber stets in einem Medium stattfindet, in dem der Dritte anwesend ist, die Negation, die Interferenz, die Übersetzung, die Determination, die Reflexivität, die Ableitung, die Hervorbringung, die Verteilung, den Übergang, um nur die wichtigsten Textanschlußvariationen zu erwähnen. Wenn er in seinem Werk über die Engel69 die Gestalt des Engels als Mittlers herausgreift, so ist das in keiner Weise wörtlich zu nehmen, da auch Flugzeuge oder Emails in diese Medialitäts-Funktion eintreten können. Selbst dieses Werk, das die Engel als Mittler herausstellt, verweigert sich der Form unserer Titelfrage: »Wer oder was ist ein Medium?«, unter Umständen konsequenter als mancher Mediendidaktiker. Die Frage, die wir als Ersatzfrage vorsehen sollten, lautet stattdessen: Welche Orte sieht die Medialität vor, oder spezifischer: welches Medium sieht welche Orte 67
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S. dazu Dialektik Bd. 16: Enzyklopädie und Emanzipation: Das Ganze wissen. Köln 1988; zur Vieldeutigkeit enzyklopädischer Vorhaben s.: Enzyklopädien des Imaginären. Jorge Luis Borges im literarischen und künstlerischen Kontext, hrsg. v. M. SchmitzEmans, K. L. Fischer u. Chr. B. Schulz. Hildesheim, Zürich, New York 2011. M. Serres: Hermes I-V. Berlin 1991ff. ders.: Die Legende der Engel.
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vor? Also z.B. welche Medien sehen den Ort einer Referenz auf Wirklichkeit vor? Welche Medien kennen den Ort des Autors? In welchen Medien spielt Wahrheit eine Rolle, in welchen nicht (im Büroklatsch kommt es bekanntlich nicht auf Wahrheit an, sondern auf Einzelheiten)? In welchen Medien ist eine Verdopplung von Orten, von Ironie, ja von Lügen möglich? Welche Medien kennen Orte für Praxis-Kurzschlüsse usw., d.h. den Abbruch aller medialen Vermittlungen und den Übergang zur Unmittelbarkeit? Interessanter noch als der drop out aus jeglicher Medialität z.B. in Gewalt oder Mystik, ist der im propagierten Medien-Mix nahegelegte Übergang aus einem Medium in ein anderes. Wie bei der optischen Brechung des Bildes des Stabs, der teilweise ins Wasser gehalten wird, haben wir uns ernsthaft zu fragen: Was passiert z.B. beim Übergang vom Text zum Bild oder umgekehrt70: einerseits die Beschreibung der Gemälde der Dresdner Galerie in den Gemäldegesprächen der Frühromantiker,71 andererseits die Verbildlichung von Philosophie in den Gemälden Magrittes.72 Was passiert mit dem philosophischen Gedanken im Hypertext oder was passiert dort mit der logischen Figur des Modus ponens? Hier stellen sich für die Grundlagenforschung wichtige und voraussetzungsreiche Fragen. Immer schon waren Medien auch Alternativen zu zeitverbrauchenden raumdurchquerenden Bewegungen: Wenn ich von einem Berg zum anderen laut rufen kann, dann brauche ich u.U. nicht das Tal zu durchqueren, um drüben irgend etwas zu erreichen; wenn ich die »Kritik der reinen Vernunft« in Tübingen kaufen kann, dann brauche ich nicht nach Königsberg zu fahren, um mich in die Vorlesungen des Prof. Kant zu setzen.73 Das Internet ist dabei, den Zeitaufwand, den im letzteren Fall immerhin noch die Versendung des Buchs vom Verleger Hartknoch in Königsberg
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Zur vielfältigen Literatur zur Thematisierung von Bild und Text in der Philosophie s. u.a. R. Konersmann: Das wahre Stilleben oder die Wirklichkeit der Malerei. Sprachbilder und Bildersprache bei René Magritte. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 34/2 (1989), p. 196-212; W. Welsch: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt a. M. 1996, p. 660-662; zum dialektischen Bild bei Walter Benjamin s.u. im 7. Kap.; daß nur Begriffe clare et distincte seien, die Bilder aber diffus, wird von Jean-Luc Nancy geradezu umgekehrt: nur die Bilder sind clare und distincte, damit evident, J.-L. Nancy: Am Grund der Bilder. 2. Aufl. Zürich, Berlin 2006, p. 26, cf. p. 44f.; und Bildung ist nur mit Bildern zu haben, s. J. Derrida: Theologie der Übersetzung. In: Übersetzung und Dekonstruktion, hrsg. v. A. Hirsch. Frankfurt a. M. 1997, p. 15-36, einschlägig p. 16. Die Gemählde.– In: Athenaeum II (1799), p. 39-151 (Nachdr. Darmstadt 1977). Dazu R. Konersmann: Die verbotene Reproduktion. Frankfurt a. M. 1991. In der Tat ist Kant der erste Philosoph, dessen Schule sich fast ausschließlich der schriftlichen Kommunikation verdankt: K. L. Reinhold, von dem man sagen kann, daß er mit den »Briefen über die Kantische Philosophie« im »Teutschen Merkur« die Kantschule in Deutschland begründete, hat Kant selbst nie gesehen. Zu dieser Durchsetzung von Schriftlichkeit als alleinigem Medium der Philosophie, bzw. zu der nicht mehr möglichen Alternative s. auch K. Röttgers: Kants Kollege und seine ungeschriebene Schrift über die Zigeuner. Heidelberg 1993.
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zu einem Buchhändler in Tübingen erforderte, also die Überbrückung von Raumdifferenzen durch Bewegungen gänzlich zu ersetzen. Wenn jemand heute einen Text am Bildschirm liest, der auf einem Server in Japan liegt, ist der Leser dann »dort«, oder ist der Text »hier«? – Solche Orientierungsunsicherheiten in Ortszuweisungen im Raum sind eine zwangsläufige Folge der Primordialität medialer Funktionalität im Gegensatz zum klassischen Denken in Substanzen mit eindeutiger raumzeitlicher Lokalisierung. Wenn ich die Bilder des Louvre an meinem Bildschirm eins nach dem anderen in schöner Linearität betrachte, als würde ich durch den Louvre gehen, bin ich dann »dort«, oder ist der Louvre nun etwa in meinem Arbeitszimmer? Das Medium als Alternative zur Bewegung zu entfernten Orten läßt erneut das Bild des Engels als Mittlers auftauchen; denn Engel brauchen – als wären sie Avatare – nicht den Raum zu durchqueren, um dort zu sein, wo sie sein sollen oder »wollen«; daher ist sogar darüber gestritten worden, ob sie überhaupt Füße haben, da ja Gott nichts Überflüssiges geschaffen hat, und was sollen sie mit Fortbewegungsapparaten. Just so wie die Email keinen Briefträger braucht, so sind auch Engel sofort da, wo sie gebraucht werden.74 Und so ist die Zeit, die das Medium benötigt, eine, die tendenziell gegen Null geht, ja durch die Inkongruenz von erlebter und Handlungszeit ist es bekanntlich möglich, daß eine heute abgeschickte Email »gestern« bei ihrem Empfänger jenseits der Datumsgrenze ankommt. Aber auch abgesehen von solchen Alltagswelt-Paradoxien, tendiert die Zeit des Mediums im Internet tatsächlich gegen Null, bzw. die Geschwindigkeit gegen die Lichtgeschwindigkeit. – Ferner aber wird die Zeit im Medium reversibel.75 War es bei den analogen Medien noch so, daß jede Kopie »schlechter« war als das Original, selbst bei den Abschriften mitdenkender und Fehler ausmerzender Abschreiber, so war doch durch diese Fehlerakkumulation in späten Abschriften die temporale Ordnung der Abschreibegenealogien nach der Gesetzmäßgkeit der Entropie identifizierbar. Das fällt bei digitalen Kopien weg, so daß Original und Kopie ununterscheidbar werden; denn der Datumsstempel u.ä. ist natürlich im Prinzip manipulierbar. Die Zeitrichtung im digitalen Medium wird umkehrbar. Die Entropie, bekanntlich das einzige Mittel, eine Richtung der Zeit zu identifizieren, wird partiell außer Kraft gesetzt, so daß Medialität organismusähnliche Eigenschaften der autopoietischen Prozeßgewähr durch eine System/Umwelt-Differenz erhält. Ist jedoch bei Organismen die Selbstreproduktionsfähigkeit durch Altern und Sterben begrenzt und diese Begrenzung hinwiederum durch die Fortpflanzung kompensiert76 und schließlich durch den objektiven Geist kultureller Gebilde aufgehoben, so ist gerade dieser letzte Aspekt durch die Autopoiese digitaler Medialität noch um eine 74 75 76
K. Röttgers: Teufel und Engel. Bielefeld 2005. Ob das allerdings zu einer »Vertiefung« der Zeit führt, wie P. Virilio es vermutet, scheint mir eher fraglich; cf. G. Großklaus: Medien-Zeit Medien-Raum. Frankfurt a. M. 1995. Zu diesem Zusammenhang von Fortpflanzung und Tod s. G. Bataille: Der heilige Eros. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1979, p. 51ff.
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Stufe gesteigert. Und so altert in diesen Medien nichts mehr. Lediglich die Rechner, die Server und die Nutzer müssen, weil sie als Materie weiter der Entropie unterliegen, ab und zu ersetzt werden. Die Zeit des Mediums selbst vergeht nicht mehr.77 War der Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit des Kommunikationsmediums auch eine Steigerung von Irreversibilität gewesen, weswegen für bestimmte insbesondere normative Kommunikationsakte wie Rechtsakte Schriftlichkeit vorgeschrieben war, so fragt sich, ob das digitale Medium überhaupt noch ein Schreiben in diesem Sinne der Steigerung von Verbindlichkeit kennen kann.78 Für den kommunikativen Text im Zeitalter der Schrift war es die Figur des Autors, die als Instanz der Textverantwortlichkeitszuschreibung fungierte. Das digitalisierte Medium mit seiner Irreversibilitätstilgung kann den Autor nicht mehr identifizieren. Natürlich hantieren weiter allerlei Personen am und im Medium herum, schreiben Programme mit Hilfe von Programmen, die ihrerseits in Programme eingehen, teilweise auch solche, die am Bildschirm ausgegeben werden und die dort aussehen, als hätte eine Schreibmaschine dieses Erscheinungsbild erzeugt. Für dieses Textbild einen Autor finden zu wollen, ist müßig in dem Sinne, wie wir den Schriftsteller oder Schreiber eines Textes vom Autor als einer Textfunktionsstelle unterscheiden. Das digitale Medium kennt zwar weiter Menschen außerhalb des Mediums, sei es als Programmierer, sei es als bloße Nutzer, sei es als beides, es kennt aber nicht mehr eine im Medium identifizierbare Funktionsstelle, die man einen Autor nennen dürfte. R. Queneau hat mit seinem Buch »Hunderttausend Milliarden Gedichte«79 eine Sonettmaschine vorgelegt, die es ermöglicht, ohne jeden sinnintendierenden Urheber 1014 Sonette abzuleiten, die freilich auch keinen Leser mehr haben, da die Lektüre so unendlich viel länger dauerte, als Menschen leben. Die 14 Zeilen der Sonettform mit entsprechender Anzahl von Varianten jeder Zeile, mit all den Varianten aller anderen Zeilen ohne Einschränkungen kombinierbar, vertreiben den Autor aus dem Text. Jede Verantwortungszuschreibung für einen per Zufall aus diesem Textuniversum generierten Text ist sinnlos, nicht aber ein so generiertes Sonett. Das gälte noch viel mehr für die Textfortsetzungsmöglichkeiten, die das Internet bereithält. Insofern sind das Spiel mit Identitäten etwa in Chaträumen sowie die Verwendung von Avataren, Spyware, Viren, Trojanischen Pferden und dgl. nicht nur ein Mißbrauch, sondern zugleich auch die Entfaltung der eigentümlichen Logik des Mediums. 77
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Auch diese Tendenzaussage müßte eigentlich vielfältig spezifiziert werden, wie jeder weiß, der versucht hat, alte Dateien mit neuen Programmversionen zu öffnen; allerdings eröffnen auch Softwarehersteller mittlerweile die Möglichkeit der Abwärts-Konvertibilität, auch eine Art der Zeit-Umkehr. So wie schon bisher Mündlichkeit oder Handschlag Verträge begründen konnten und Internetgeschäfte das nur fortsetzen, so gilt aber nach wie vor, daß die Kündigung, auch der Internetverträge, die explizite Schriftform erfordern. R. Queneau: Hunderttausend Milliarden Gedichte. Frankfurt a. M. 1984; der Vorläufer ist natürlich die »Swift-Maschine«, s. dazu B. J. Dotzler: Papiermaschinen. Berlin 1996, p. 188f.
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Daher schreibt Wolfgang Hagen zu recht: »Computer repräsentieren den realen Anfang einer Politik ohne Subjekt, ohne klassische Werte, ohne aufklärerisches Telos. Seine instabilen Systeme implantieren einen Begriff von Information, der in agonaler Instabilität zwar, aber dennoch umso wirksamer zur puren Dezision tendiert.« 80 Es gibt Kritiker solcher Annahmen über den Wandel der Philosophie unter dem Einfluß multimedialer Lehre; so sagt etwa Hubert Dreyfus in seinem Buch »On the Internet«81, daß es zu einem solchen Wandel nicht kommen werde, weil, wenn er käme, es schlimm wäre. Gegenüber solchen Diagnosen, in die konstitutiv ein Wunsch eingebaut ist, ist Skepsis angesagt. Dreyfus’ Gründe sind folgende. Er sagt, je mehr der Mensch sein Leben und Lernen durch das Internet gestaltet, desto mehr muß er ein Gespür für das wirklich Wichtige verlieren und damit das eigentliche Ziel des Lebens und Lernens im Internet. So sagt Dreyfus diagnostisch-kritisch: »People took an interest in everything but were not committed to anything.«82 Mit der Folge: »Nothing is too trivial to be included. Nothing is so important that it demands a special place.«83 Nicht mehr um Sinn und Bedeutung gehe es, so Dreyfus, sondern um Verknüpfung mit gegen Unendlich gehenden Informationsmengen. Wenn man aber keine Bedeutungen mehr schaffen könne, dann könne man auch nicht mehr handeln; denn für die hinreichende Quantität von Informationen als Handlungsgründen gibt es kein Kriterium. Damit aber fehlt auch die Möglichkeit einer Übernahme von Verantwortung für Handeln, was bleibt, ist eine Beliebigkeit von Entscheidungen. Denn das endlose Fließen von Informationen mache praktische Urteilskraft überflüssig. Wandel der Inhalte wäre also in dieser Diagnose gleichbedeutend mit zunehmender Beliebigkeit allseits erreichbarer Informationseinheiten. Die Menschen verlieren ihre für ihre Lebensführung entscheidende Fähigkeit, Dinge mit Bedeutung, mit Sinn auszustatten, mit Sinn für ihr eigenes Leben und das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden zu können.84 Das betrifft nach Dreyfus auch generell das Fernstudium: Indem die Anwesenheit des Lehrers und das risikoreiche Lernen aus Fehlern 85 ersetzt würden durch eine beliebig abrufbare Telepräsenz ohne jedes Risiko schmerzhafter Erfahrungen, ereignet sich ein Lernen unter Realitätsverlust und unter gänzlichem Verlust von Vertrauen in irgendwelche persönlich verantwortlichen Autoritäten. Die Anonymität und Beliebigkeit der Lerninhalte führten auf Seiten des Lernenden zu 80 81 82 83 84 85
W. Hagen: Computerpolitik. In: Computer als Medium, hrsg. v. N. Bolz, F. A. Kittler, Chr. Tholen. München 1994, p. 139-160, hier p. 159. H. Dreyfus: On the Internet. London 2001. ders.: Kierkegaard on the Information Highway. Bezeichnenderweise findet sich dieser Beitrag des Internet-Kritikers im Internet, und zwar unter: http://www.ieor.berkeley.edu/~goldberg/lecs/kierkegaard.html ibd. H. Dreyfus: On hte Internet, p. 6f. l. c., p. 7: »our sense of the seriousness of success and failure that is necessary for learning [...]«
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einem Verlust ernsthafter Hingabe und damit auch zu einem Verlust dessen, was man ehemals den Sinn des Lebens nannte. Hingabe und Lebenssinn sind elementar verbunden mit der Leiblichkeit unserer Existenz, die im medialen Lernen minimalisiert werde. Der Leib wird bei Dreyfus zum Garanten der Unmittelbarkeit. Wo Materialität durch Virtualität ersetzt werde, werde das Einüben von Fertigkeiten erschwert, die immer den Widerstand des Materiellen und das Nachahmen in Gegenwart des Lehrers implizierten. Die Abstraktion von der Leiblichkeit der Erfahrung finde des weiteren ihr Pendant in einer Ausschaltung des affektiven Hintergrunds von Lernprozessen. Allerdings ist Dreyfus in seiner Kritik konsequent; denn er muß zwangsläufig die Medialität als solche beargwöhnen, d.h. seine Kritik auch auf die Schriftlichkeit beziehen, das heißt, und da wird es inkonsequent, auch auf seine eigenen diesbezüglichen Veröffentlichungen als Buch und im Internet. M.A.n. überleben in solchen Rundum-Kritiken mythische Vorstellungen von Unmittelbarkeit, die schon die Leiblichkeit in Frage stellt, wie die leibzentrierte Philosophie eines Merleau-Ponty86 lehren könnte. Vier Hauptpunkte sind es also, die Dreyfus in der Internet-Lehre beargwöhnt: • • • •
Die Leibabstraktion virtueller Lehre führe zum Sinnverlust, Fernunterricht verhindere die nachahmende Einübung leiblich gebundener Fertigkeiten, die physische Abwesenheit von Menschen und Dingen führe zum Realitätsverlust der Lernenden, die Anonymität führe zu einem Leben nihilistischer Verantwortungslosigkeit.
Im Mythos der direkten Kommunikation87 verdichten sich zwei Vorstellungen, nämlich einerseits die seit Leibniz und Goethe vertretene Vorstellung der inneren Unendlichkeit von Individualität, dergemäß gilt »individuum est ineffabile«, und zweitens das Thema der Intersubjektivität.88 Im ersten Vorstellungskomplex werden zwischen den Individuen sehr wohl Gemeinsamkeiten und Vergleichbarkeiten unterstellt; im Ausgleich dazu wird ihnen – damit sie dadurch zugleich nicht verwechselbar werden – eine innere Unendlichkeit zugesprochen. Dann mag noch so sehr zwischen den
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M. Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception. Paris 1945, bes. p. 81ff.; cf. F. Dastur: Chair et langage. La Versanne 2001 u. A. Zielinski: Lecture de Merleau-Ponty et Levinas: le corps, le monde, l’autre. Paris 2002. Der krasseste Verteter dieses Mythos war natürlich Jean-Jacques Rousseau, s. meine Kritik in K. Röttgers: Kopflos im Labyrinth, p. 145ff. folgend J. Starobinski: Jean-Jacques Rousseau. La transparence et l’obstacle. Zu den Herausforderungen des Internets für den Begriff der Individualität s. K. Röttgers: Philosophie der vernetzten Kommunikation.– In: Transitorische Identität, hrsg. v. J. Straub u. J. Renn. Frankfurt a. M., New York 2002, p. 409-440.
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einzelnen Bestimmungen oder Qualitäten der einzelnen Individuen Gleichheit herrschen, im Ganzen gilt: individuum est ineffabile.89 D.h. das Individuum in der Unendlichkeit seiner Bestimmungen kann nicht ausgesprochen werden, ja kann sich selbst nicht aussprechen und daher gibt es eine alle Gleichartigkeit transzendierende Unendlichkeit. Seit der Romantik haben sich zunächst Genies, dann Menschen in dieser Weise als Individuen erlebt. Der unauslotbare Reichtum im Inneren läßt jeden Begriff, der stets aufs Allgemeine geht, zerschellen. Von einem Individuum gibt es keinen Begriff.90 Der zweite Vorstellungskomplex, derjenige der Intersubjektivität,
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Goethe in einem Brief an Lavater vom 20.09.1780: »Hab‘ ich dir das Wort ›individuum est ineffabile‹, woraus ich eine Welt ableite, schon geschrieben?« Cf. F. Jannidis: Individuum est ineffabile.– In: Aufklärung 9 (1996), p. 77-110. Der Begriff des Individuums wurde bekanntlich von Cicero in die philosophische Sprache eingeführt, (Cicero: De finibus I, 17. Werkausg. der Loeb Classical Library. Cambridge/Mass., London 1983, p. 18; dort bezieht er sich auf die Atomtheorie Demokrits und erläutert den Begriff »atomos« durch »corpora individua propter soliditatem«. Cf. A. G. M. van Melsen: Atomtheorie.– In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. J. Ritter u. a. Basel, Stuttgart 1971 ff., I, Sp. 606-611; und: Th. Kobusch / L. Oeing-Hanhoff / T. Borsche: Individuum, Individualität.– In: dass. IV, Sp. 300-323.) und zwar als lateinisches Äquivalent zu dem griechisch-philosophischen Begriff des Atoms, des Unteilbaren. Dieser zunächst unspektakuläre Begriff, der in der Lehre des Demokrit seinen allerersten Ort hat, besagt nichts anderes, als daß die Teilbarkeit der Dinge der Welt eine untere Grenze hat in den unteilbaren Elementen, aus denen alles Zusammengesetzte sich zusammensetzt. (Die Fragmente der Vorsokratiker, hrsg. v. H. Diels. 6. Aufl. Berlin 1952, II, p. 79, wo diese Lehre Leukipp, Demokrit und Diogenes von Smyrna zugeschrieben wird.) In der Konstitution des Zusammengesetzten können die einzelnen Atome sich gegenseitig ersetzen und sind daher untereinander austauschbar. In der platonischen Seelenlehre im »Phaidon« wird daraus der Gedanke, daß die Seele unteilbar ist. (Platon: Phaidon 78c, Sämtliche Dialoge, hrsg. v. O. Apelt. 2. Aufl. Nachdr. Hamburg 1988 II, Phaidon, p. 65 f.) Gerade der Gedanke der Austauschbarkeit führt hier zu der Begründung dafür, daß die Seele mit dem Körper nicht in notwendiger Weise verbunden ist und also die Seele den Körper im Tod verläßt. Bereits bei Aristoteles, mehr noch aber durch die christliche Aufwertung der Seelenvorstellung entwickelt sich der Begriff des Individuums zum Begriff dessen, was in sich einzig und unersetzbar ist. Bei Aristoteles gilt es, daß das substantielle Wesen des individuellen Seienden nicht definierbar und nicht beweisbar ist, weil es in seiner Zusammensetzung kontingent ist, Wissenschaft aber kann es nur vom notwendig Seienden, d.h. vom Allgemeinen geben. Daraus ergibt sich die Paradoxie, daß einerseits nur das Individuelle das Reale ist, andererseits aber gerade von diesem ein sicheres Wissen nicht möglich ist. Die Kenntnis von dem Individuell-Seienden ist immer nur eine empirische und technische. Das individuelle Seiende ist von allem anderen individuellen Seienden unterschieden, es ist einzig; in sich selbst aber ist es notwendigerweise ohne alle Unterschiede, weil unteilbar. Erst Leibniz überwand diese klassisch-aristotelische Lehre, indem er Individualität als das Einheitsprinzip einer Substanz faßte. Leibniz nannte diese Einheiten Monaden, wodurch das Einzigkeitsprinzip verstärkt akzentuiert wird (monas = einzig). Auf diese Weise rekonstruiert Leibniz den Gedanken strengen und notwendigen Wissens von den Substanzen, denn jede Monade spiegelt auf ihre einzigartige Weise den Gesamtzusammenhang der Welt in ihrer Notwendigkeit, mit dem Gedanken der Einzigkeit und Unteilbarkeit. Von den Monaden, von den Individuen also ist eine Wissenschaft möglich, weil sie in ihrer Einzigkeit eben gerade nicht Produkte des Zufalls sind. Seit Leibniz gerät der Begriff des Individuums daher in eine vielfältige
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stellt sich seit der Problematik der Selbstbegründung des Subjekts bei Descartes dar als Problematik der Existenz oder der Präsenz oder mindestens der Erkennbarkeit anderer Subjektivität neben dem einen seiner selbst gewissen Subjekt. Wie können zwei in sich selbst gegründete Tiefen miteinander kommunizieren? Nun, wir wissen, wie wir normalerweise miteinander kommunizieren, nämlich sprachlich, d.h. medial. Stellt sich die Frage nach der Kommunikation von Tiefen, dann ist – gemäß dem Credo »individuum est ineffabile« – Sprache nur ein Hilfsmittel, ein oft, ja wesentlich unzureichendes Hilfsmittel, das Eigentliche zu sagen. Jede sprachliche Kommunikation wäre demnach eine Nivellierung und Verzerrung des eigentlich zu Sagenden. Hinter diesem kommunikativen Notbehelf stünde die regulative Idee eigentlicher Kommunikation, in der Individuen sich einander offenbaren. Aber: Jede Kommunikation ist medial – und es gibt keinen vernünftigen Grund, das zu bedauern oder hinter dieser Tatsache die kritische Folie einer direkten Kommunikation aufzubauen und jede reale Kommunikation am Maß dieser vermeintlich idealen Kommunikation zu messen. Mythisch wird die Kombination beider Ideen dort, wo angenommen wird, in Kommunikation gehe es darum, die inneren Unendlichkeiten zweier solcher Individuen so in eine störungsfreie Verbindung zueinander zu bringen, daß die Individuen füreinander effabile werden; das wäre dann die eigentliche, aber zugleich auch die nichtmediale Kommunikation, oder besser Kommunion. Freilich ist diese Form des Wissens voneinander, in der zwei Individuen sich tief in die Augen schauen, vielleicht noch stammelnd ein »Du« hervorzubringen verstünden und doch in diesem Augenblick ALLES voneinander wissen, eine absolut mystische Form, die selbst als dieses Erlebnis, nachher nicht mitgeteilt werden kann. Man braucht nicht zu bestreiten, daß es solche Erlebnisse gibt, ja sogar nicht einmal, daß es vielleicht die tiefsten Erlebnisse sind, derer wir teilhaftig sein können; aber was ich energisch bestreite, ist, daß diese ekstatischen Momente zum Modell oder zum Kriterium des Gelingens der Kommunikation gemacht werden dürften. Medialität ist unhintergehbar. Allerdings kommunizieren wir nicht nur mit Worten, sondern alle unsere Sinne können an Kommunikation beteiligt sein. Und hier ist sofort klar, daß die sogenannte Multimedialität auf die Beteiligung bestimmter Sinne verzichten muß, insbesondere der Nahsinne des Geruchs und des Geschmacks, aber auch das ist gar nichts Neues, sondern galt schon für die Schrift ebenso wie auch für das Telefon, Spannung zu demjenigen des Subjekts. Während die Transzendentalphilosophie den erkenntnis- und handlungskonstitutiven Charakter des Subjekts herausstellt, der, da er objektive Erkenntnis und sittliches, d.h. allgemeingültiges Handeln ermöglichen soll, seiner Struktur nach ein allgemeiner sein muß, setzen Herder und Goethe dem Begriff des Individuums seine innere Unendlichkeit und damit auch begriffliche Unauslotbarkeit entgegen: individuum est ineffabile. Diese Unaussprechbarkeit kann sowohl als unergründbares Geheimnis, das sich höchstens in vieldeutigen Bildern ausdrücken kann, gedeutet werden, als aber auch als Geschichtlichkeit, die sich ebenfalls einer Bestimmung entzieht, weil das Individuum kein Seiendes, sondern ein Werdendes sei, das in jedem Moment seines Aussprechens schon ein anderes ist.
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und wenn die Bücher muffig riechen, hat dieser Geruch gar nichts mit ihrem Inhalt zu tun, der nur über die Augen erschließbar ist. Wenn man dieses für ein echtes Defizit multimedialer Kommunikation im Internet hält, sollte man bedenken, daß Menschen seit ihrer Urgeschichte, in der sie die Urwaldheimat verließen und die Steppe als Lebensraum erschlossen, sich aufrichteten, um die Gefahr frühzeitig zu sehen, Wesen sind, deren Sinnlichkeit zu ca. 80% aus dem Sehen besteht; insofern verzichten wir mit der Sinnlichkeitsreduktion der Medialität der Kommunikation am Computer auf weit weniger als Hunde es täten, wenn sie den gleichen Weg einschlügen. Darüber hinaus werden die fehlenden Sinnlichkeitseindrücke oftmals durch prothetische Phantasmata von Sinneseindrücken ergänzt. Wir erwarten doch gar nicht, daß wir alles, was wir sehen können, auch über den Geruchssinn erschließen können. Insofern glaube ich nicht, daß die Sinnlichkeitsreduktion von Wissenserwerb über Multimedialität irgendeine Einbuße unserer Erfahrungswelt darstellen muß. Vorausgesetzt bleibt dabei, vermutlich realistischerweise, daß Menschen auch in Zukunft auf verschiedene Weise Erfahrungen machen werden und der Computer nicht der einzige Zugang zur Welt wird, wie Kritiker vom Typus Dreyfus es offenbar annehmen. Die freilich von solchen Kritikern aufgeworfene ernstzunehmende Frage ist die nach der Materialität des Mediums. Hatte seinerzeit F. A. Kittler in bewußt provozierender Weise festgestellt »There is no Software«91, so ist damit die Frage nach der Materialität des Mediums aufgeworfen, auf die freilich eine Antwort vom Typ »Wer oder was ist eine Medium?« ein Atavismus wäre, wie ja schon die Medialität oraler Sprache nicht zu vermuten gab, daß da nichts Materielles im Zwischenraum der Kommunikation wäre, und ebenso wenig, daß es die Schallwellen als Träger der Oralität wären, die die Kommunikation aufrechterhielten. 2.3.2 Vermittlung und Mitte ohne Vermittlung Man muß nicht nur, wie wir es bisher getan haben, die beiden Medienbegriffe der Mitte und des Mittels einander entgegensetzen, sondern man kann auch vom Gedanken der Vermittlung durch Mittel ausgehen. Das tut Christoph Hubig; seine diesbezügliche Ausgangsfrage lautet: »Inwiefern geben Mittel als Medien einen Möglichkeitsraum von Zwecksetzungen in Erwartung ihrer Realisierung vor?«92 Er verweist darauf, daß Medien ja nicht nur Dinge technisch arrangieren, um Zwecke zu erreichen, sondern daß dieses auch ein »Weben« (web, textum) einer Struktur sei, in der sich Dinge, aber auch Symbole und Praktiken zusammenfügen und einen Möglich-
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F. A. Kittler: There is no Software. http://www.ctheory.com/article/a032.html (zuletzt ges. 9.3.2001, aber auch in: ders.: Draculas Vermächtnis. Leipzig 1993, p. 225-242). Chr. Hubig: Mittel, p. 23.
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keitsraum konfigurieren. Ein solcher Möglichkeitsraum schreibt keine Realisierungen vor, er schließt aber auch bestimmte aus. Wenn wir also schon Medium als Mittel begreifen, so scheidet die simple handlungstheoretische Konzeption eines einzelnen Typs von technischem Apparat aus. In dem technischen Möglichkeitsraum oder wie Gerhard Gamm es genannt hat »Transformationsraum« gehen Zwecke und Mittel ineinander über und bilden als Insgesamt das technische Medium. Gamm sagt: »Charakteristisch für das Medium ist seine Intelligibilität oder Konvertibilität, ein Zustand, in dem Verschiedenes (Orte, Gegenstände usf.) miteinander in Beziehung gesetzt und getauscht werden können.«93 Und weiter: »Die Vorstellung von einem Medium hat genau betrachtet zwei Grundbedeutungen; sie lassen sich nicht vollständig ineinander überführen. Medium ist nicht nur — abstrakt gesprochen — globales Mittel zum Austausch gesellschaftlich verabredeter Zeichen, nicht nur Transformationsraum von Information und Macht, Wissen und Energie, Medium ist auch das, was dazwischen ist, dazwischentritt, die Mitte oder das Vermittelnde. Es verweist auf Mitten und Räume, die sich zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Natur, Mensch und Kultur, dem Menschen und sich selbst geschoben haben. Das Medium dämpft, es moderiert; es hält — mit Hegel zu reden — ›vom Menschen sein materielles Vernichten ab‹[94] es bricht der Unmittelbarkeit der Erfahrung die Spitze, die uns aus der direkten Konfrontation mit der inneren und äußeren Natur erwächst. […] Spitze, Technik ist Medium oder die unsichtbare Mitte als Beziehungsform, über die in postindustriellen Gesellschaften die soziale Kommunikation, der Nachrichtenfluß und der Austausch von Erfahrung ebenso läuft wie die Versorgung mit Elektrizität und Wasser, Nahrung und Gesundheit. Man kann das vielleicht überzeugendste Argument für die mediale Natur der Technik darin sehen, daß uns im täglichen Umgang mit den Gegenständen deren technische Wirklichkeit nicht zu Bewußtsein kommt, wir aber in dieser Abstraktion leben wie Fische im Wasser. Das Medium ist Mitte, weil sie in dieser Funktion die Selbstvermittlung der Gesellschaft übernimmt oder die Netze, Bahnen und Bindungen beschreibt, die die Gesellschaft zusammenhalten. Besser noch wäre die Mitte als Mischung zu fassen, weil sie Totes und Lebendiges, Geistiges und Materielles, Probleme und Programme, Handlungsgemäßes und Automatenhaftes füreinander durchlässig macht. Die Mitte ist unbestimmt, sie hat nur mehr wenig gemein mit dem unbewegten Ort zwischen zwei gleich weit entfernten Äußersten, wie die Euklidsche Geometrie sie zu fassen sucht; sie ist auch Lichtjahre entfernt vom konnotativen Zusammenschluß von Maß und Mitte, wie ihn
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G. Gamm: Technik als Medium. In: Naturerkenntnis und Natursein. Frankfurt a. M. 1998, p. 102. G. W. F. Hegel: Anhang zur Jenaer Realphi1osophie. In: ders.: Frühe politische Systeme, hrsg. u. kommentiert v. G. Göhler, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1974, p. 322. Cf. dazu G. Gamm: Der Deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling. Stuttgart 1997.
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die aristotelische Idee des Guten ins Auge faßt. Mitte ist, wie Nietzsche sagt, überall. [95] In Systemen von zirkulärer Kausalität und Rückkopplungsschleifen ist die Mitte das Vermittelnde auf Zeit, stationäre Verdichtung von Energien, Interessen und Ideen, nur auf Zeit, nach Zwecken und Mitteln geschieden. Sie ist treibende Kraft. In der Sprache der Biologie bzw. der Chemie würde man sagen, Technik als Medium wirke ›autokatalytisch‹, sie sei der Stoff, der gesellschaftliche und kulturelle Veränderungsprozesse auslöst und/oder beschleunigt ablaufen läßt und sich in diesem Prozeß selbst stetig regeneriert. Als das Vermittelnde auf Zeit ist es über die klassischen Gegensätze der philosophischen Tradition hinaus: Das Medium ist seiner Funktion nach intelligent, es repräsentiert menschliches Können, insofern sich intersubjektive Beziehungen in ihm objektiviert haben.«96
So spricht Hubig davon, daß der genannte Möglichkeitsraum des Medialen als ganzer nicht vorstellbar ist, sondern daß er sich in der Praxis eröffnet, ich würde sagen als Raum der Möglichkeiten der Textanschlüsse und –fortsetzungen, und sich in der Praxis konkret aufbaut. Als Effekt der Objektivität im Zwischen ist selbst den Medien als Mittel eigen, daß sie nicht nur den objektiv, d.h. intersubjektiv und sozial, gegebenen Möglichkeitsraum strukturieren, sondern auch die Subjekte als Effekte dieses Möglichkeitsraums in ihrem Sosein, d.h. ihrer Wirklichkeitskonstruktion und damit auch ihrer Erwartungen definieren. Subjekte im Internet sind User, was sie als Menschen in der Fülle ihres Menschseins außerdem noch sein mögen, z.B. die Hautfarbe, fällt durch diese Definition ihres Subjektseins als User aus. Daher lassen sich hier auch Menschen durch Avatare ersetzen, oder Menschen definieren ihre Identität um in Umstrukturierung ihres medialen Möglichkeitsraumes. Solche Umdefinitionen sind aber nicht autonomer Entschluß eines freien Subjekts, sondern Medieneffekte, die sich autopoietisch selbst reproduzieren. »Eine solche Dekonstruktion im Sinne von Jacques Derrida wird möglich, weil diese Organisationsstrukturen in ihren Aktualisierungen ›Spuren‹ hinterlassen als ›différance‹, ›Inskriptionen‹ einer selbst unanschaulichen Medialität als ›Dispositiv‹. Als konzeptualisierte Medialität kann sie selbst nicht zum Gegenstand einer Vorstellung werden (wie auch nicht der ›logische Raum‹ bei Ludwig Wittgenstein). Sie kann sich nur zeigen. Über eine solchermaßen gefasste Medialität kann man nur in einem paradoxen Stil, in uneigentlicher Rede, philosophieren. Bleibt man bei einer unreflektierten Unterscheidung zwischen jenen beiden unterschiedlichen Fassungen von Medialität stehen, gerät man in die Kontroverse zwischen einem ›Medienmaterialismus‹ (etwa Luhmanns) oder einem neukantianischen ›Medienidealismus‹ (etwa Cassirers), wie er als späte Hinterlassenschaft des alten Streites der Metaphysiken gegenwärtig das Lager der Medientheoretiker spaltet.
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F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra. In: ders.: Werke in drei Bänden, hrsg. v. K. Schlechta. München 1966, II, p. 463. Chr. Hubig: Mittel, p. 102-104.
90 | I DENTITÄT ALS E REIGNIS Ein Zusammenhang zwischen äußerer und inneren Medialität wird in der neueren Diskussion unter dem Titel ›Performativität des Medialen‹ diskutiert: Medien im Sinne von äußeren Medien geben die materiellen Bedingungen dafür ab, daß Medien im inneren Sinne ihre Spuren hinterlassen können, über deren differance-Erfahrung der dialektische Widerspruch offenkundig und reflektierbar wird: der Widerspruch zwischen dem naiven Bewusstsein, welches intentional Mittel einzusetzen glaubt[...], und eben jenen indisponiblen, kategorialen Strukturen des Organisierens. Als erfahrener Widerspruch kann er aber zum Gegenstand einer Reflexion des Medialen werden.«97
Soweit der Medialitätsbegriff bei Hubig. Er ist natürlich, insofern er auf die Dialektik der Komponenten des Begriffs abstellt, von Hegel beeinflußt, der bereits explizit auf den Begriff eines Mediums rekurriert und dabei etwas thematisiert, was in seiner Bedeutung bis heute Bestand hat. Bei Hegel wird das Medium ebenfalls nicht als bloßes Werkzeug, tool sagt man heute, konzipiert, sondern als ein Dazwischen, das selbst konstitutiv für das Handeln der Subjekte ist. Man wird so auch bei ihm von einer vermittelnden Medialität der Medien sprechen dürfen. Doch schauen wir etwas genauer hin: Hegel spricht in der »Phänomenologie des Geistes« von dem »Medium vieler bestehender Materien« einerseits und deren in sich reflektierter Einheit andererseits.98 Im Medium aber ist die an sich bestehende Selbständigkeit der Materien vernichtet; im Medium sind sie aufeinander bezogen. Aber diese Qualität der Materien ist das Medium, oder anders gesagt: » […] dies Allgemeine ist durchaus die Vielheit solcher verschiedenen Allgemeinen.« Das Allgemeine ist in Einheit mit der Vielheit. Die Selbständigkeit der Unterschiede der Vielen voneinander macht die Medialität aus. Man sieht hier und auch wenig später, wie Hegel den Begriff des Mediums nicht selbst als ein Bestehendes, sondern als eine Qualität des Bestehenden faßt: »[…] ist vielmehr selbst dies allgemeine Medium des Bestehens der Momente als Materien[…]« Im »Medium von Materien« sind diese in ihrer Selbständigkeit als Vielheit aufgehoben. Allerdings ergibt sich insofern ein zusätzliches Problem, als die Einheit nicht allein bleibt, sondern dem Anderen begegnet, das ebenfalls diese Struktur des Medialen hat, es begegnen sich so auf dieser Darstellungsebene zwei Medien (»[…]aus seiner Einheit in die Zweiheit herausgegangen[…]«). Über den Begriff des Sollizitierens (von Kräften) ergibt sich für Hegel eine Asymmetrie in der Begegnung der zwei Medien, eines sollizitierend, das andere sollizitiert. Aber das Sollizitieren des Sollizitierenden wird vom Sollizitierten als ein solches gesetzt, was nichts anderes heißt, als daß die Asymmetrie eine doppelte ist, jede Seite ist für die andere das »allgemeine Medium«.
97 98
l. c., p. 27f. G. W. F. Hegel: Werke. Frankfurt 1970, III, p. 108ff.
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Nur wenn wir das Medium auch als Mitte und nicht bloß als materielles Werkzeug begreifen, läßt sich auch auf die Vorstellung von Aristoteles Bezug nehmen, dergemäß das Gute als ein Mittleres bezeichnet werden darf. Das Medium, griech. das méson oder die Mitte als mesóthV (Mesotes), ist ja nur dann als der Ort des Guten auszuzeichnen, wenn es gerade nicht das Mittel im Sinne der neuzeitlichen ZweckMittel-Relationen wahrgenommen wird. Das Medium, méson ist vielmehr deswegen das Gute, weil es uns verbindet zu einer gemeinsamen Lebensform. Die aristotelische Ethik ist im Kern eine nicht-individualistische Ethik, eine des gemeinsam gelingenden Lebens. Nicht die Erfüllung des Egoismus der Bedürfnisse ist für Aristoteles der Inbegriff des Glücks, sondern die Gemeinsamkeit einer Praxis. Solche Gemeinsamkeit ist aber auch nicht in dem Modell gedacht, wie sich die Neuzeit das vorstellte: als Vereinbarung oder Vertrag zwischen Subjekten, die auf der Grundlage eines unendlichen egoistischen Begehrens und der daraus sich ergebenden Feindschaft aller gegen alle zu einem modus vivendi gelangen will. Die Gemeinsamkeit ist vielmehr objektiv vorgegeben in den Lebensformen, z.B. der Polis oder des Oikos. Die Mitte, die uns verbindet, macht die Erfüllung auch des Lebens der Einzelnen und damit ihres Glücks aus. Die Verbindlichkeit vorgefundener Lebensform war schon zu Aristoteles’ Zeiten fraglich geworden, und seine Philosophie ist in gewissem Sinne eine Beschwörung einer untergehenden Lebensform. Umso weniger können wir heute unterstellen, daß sie noch motivierende Kraft haben könnte. Worauf ich jedoch hier hinaus wollte und was uns als Gedanke dann auch weiter begleiten wird, ist, daß es eine Alternative zu Hubigs Weg gibt, nämlich vom Begriff des Mittels über die damit aufgerufene Vermittlung zum starken Begriff des Mediums als Mitte zu finden, eine Alternative nämlich, die darin besteht, von der Mitte selbst auszugehen. Dieser Weg wird besonders dann attraktiv, wenn man dem dialektischen Begriff der Vermittlung, wie er von Hegel angedacht wurde, mißtraut, entweder weil man der bewegenden Kraft der Negation und der Versöhnung mißtraut, oder wenn man umgekehrt meint, Dialektik sei nur einer von vielen Wegen der Anschlußsicherung, weil auch die Bewegung der dialektischen Negation ein im Prinzip lineares und dann sogar hierarchisches Verknüpfungssystem ist, wohingegen das Netz ohne Zentrum und in ihm die konkrete Gestalt des Hypertextes einer ganz anderen Logik folgt. Wir gehen also zunächst den Spuren zweier Philosophen des 20. Jahrhunderts nach, die beide eine Mitte ohne Vermittlung der Mittel denken. Der erste ist Maurice Merleau-Ponty. 99 Der zuvor angeführten Bemerkung Nietzsches über den Täter vor der Tat entsprechend, kritisiert Merleau-Ponty den verbreiteten Gedanken, daß Sprechen die Übersetzung eines zuvor ausgebildeten Gedankens in die Sprache sei. Der Autor hat keinen Text vor dem Text, keine Sprache der Innerlichkeit vor der Sprache der Äu-
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M. Merleau-Ponty: Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens. In: ders.: Zeichen. Hamburg 2007, p. 53-116.
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ßerungen. Daher ist Sprache kein Mittel, sondern wir sind, uns gibt es nur als Sprechende. Die Sprache macht den Sprecher. Merleau-Ponty sagt, daß ich nicht über meine Gedanken (oder Gefühle) spreche, sondern daß ich sie spreche (je les parle). Wenn aber der Sprecher meint, nicht alles gesagt zu haben, nicht alles sagen zu können, so ist das kein Verweis auf die Tiefe eines Meinens, dem mit der Sprache unzulängliche Mittel zum Ausdrücken des Gemeinten zur Verfügung stünden. Vielmehr ist alles Sprechen von einem Schweigen begleitet, so wie alles Sehen als perspektivisches Sehen zugleich auf ein spezifisches Unsichtbares verweist. Nur im Fortgang, im Prozeß des Textes läßt sich dieses Schweigen zum Wort kommen, nicht ohne daß allerdings anderes dem Schweigen anheimfällt. Insofern liegt der Sinn nicht in etwas bestimmtem Substantiellem, sondern im Prozeß. Im jedem Bezeichnen wird zugleich negiert. Das läßt sich veranschaulichen an den Aporien von einem aus eine political correctness motiviertem Versuch nichtdiskriminierenden Sprechens. Vor langer Zeit nannte man die Mohren »Mohren«, etwa im »Struwwelpeter«. Als das unerwünscht war, nannte man sie »Neger«, als auch das unerwünscht war, nannte man sie »Farbige«, wo auch immer wir angekommen sein werden, ist das Sprechen, das auf ein ganz bestimmtes Merkmal abhebt, diskriminierend, es verschweigt alles andere einer Person. Aber als ein Unterscheiden ist allgemein jedes Bezeichnen diskriminierend, es abstrahiert immer von anderem. So mag man die »Mohren« von ehedem nunmehr »Stärker-Pigmentierte« nennen, die ehemals »Blinden« nun »Anders-Sehende«, es ändert nichts daran, daß man im Unterscheiden abgrenzt, d.h. diskriminiert. Erst wenn man alle Menschen nur noch Menschen nennt, d.h. den einen von dem anderen nicht mehr unterscheiden kann, ist jegliche Diskriminierung aufgegeben, aber auch jede Möglichkeit, etwas Bestimmtes über einen jeweiligen Menschen auszusagen. Merleau-Ponty prägte den Ausdruck »l’être-au-monde« (vielleicht war es auch Yvonne Picard100), d.h. des Zur-Welt-Seins. Ich bin nicht, was ich bin, und realisiere dann, daß es da auch noch eine Welt gibt, sondern ich bin immer schon »zur Welt«, werde von ihr gezogen zu dem, als was ich dann bin. Das gleiche gilt auch für die Anderen. Ich bin immer schon mit ihnen. Kompräsenz ist das Stichwort. Gegenwart haben wir gemeinsam, nicht erst jeder für sich und dann auch noch zusammen. Dieses Zwischen zwischen uns nennt Merleau-Ponty auch ein Relief, oder noch deutlicher einen Stil, der nichts Individuelles ist. Einen Schritt weiter in der Aufwertung der Mitte geht die soziale Ontologie von Jean-Luc Nancy. Im gesteigerten Ausgang von Heideggers Begriff des Mitseins als einer Modalität des Daseins geht Nancy davon aus, daß das Mit die Grundmodalität des Daseins sei. »Das Sein kann nur als Mit-ein-ander-seiend sein, wobei es im Mit und als das Mit dieser singulär-pluralen Ko-Existenz zirkuliert.«101 Das heißt auch,
100 Zu Yvonne Picard s. K. Röttgers: Picard, Yvonne. In: Die französische Philosophie im 20. Jahrhundert, hrsg. v. Th. Bedorf u. K. Röttgers. Darmstadt 2009, p. 280f. 101 J.-L. Nancy: Singulär plural sein. Berlin 2004, p. 21.
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daß es keinen Sinn macht, nach Sinn in der Welt oder im Sein zu suchen, nichts hat Sinn, sondern wir im Miteinander sind die Zirkulation des Sinns. Der Verweis auf die Zirkulation meint dann auch, daß es keine momenthafte Sinnoffenbarung geben kann, sondern daß Sinn sich ereignet nur dort, wo er sich auf die Pluralität der Einzelnen verzweigt hat. Also alles, was sich sinnhaft abspielt, spielt sich zwischen uns ab, nicht in uns, Aber dieses Zwischen darf man sich nun nicht als ein Etwas denken, das uns wie eine klebrige Masse aneinander kettete; denn dieses Zwischen ist weder konsistent noch kontinuierlich, es ist weder irgendeine Stofflichkeit noch irgendeine Art von Überbrückung. Denn das Zwischen verbindet die Einzelnen nicht, weder zu einer konsensuellen Gemeinschaft noch zu irgendeiner Homogenität. Es ist nämlich als Distanzierung zwischen den Einzelnen nichts als die Verräumlichung des verteilten Sinns. Wenn man so vorgeht, dann darf man das Singuläre nicht mehr als Subjekt denken, nämlich wie es die Tradition getan hat als Ursprung und Bedingung der Möglichkeit der Orientierung im Handeln und in der Welt. Vielmehr hat man das Singuläre als ein Selbst und sein Anderes zu denken. »›Selbst‹ ist nicht die Beziehung eines ›Ich‹ zu ›sich-selbst‹. ›Selbst‹ ist ursprünglicher als ›ich‹ und ›du‹.«102 Sybille Krämer interpretiert: »Es gibt nicht ein Ego und dann auch noch ein Alter Ego, es gibt nicht das Subjekt und dann auch noch die Intersubjektivität, es gibt nicht Individuen und dann auch noch Gesellschaft zusammengesetzt aus Individuen; vielmehr gibt es nur die Ko-Existenz […]«103 Das Einzelne entsteht durch die Mit-Teilung, die KoExistenz ist Bedingung von Existenz, nicht umgekehrt. Das hat zur Folge, daß es keinen Standpunkt außerhalb dieses Beziehungsgeflechts gibt. Nicht das »Ich« ist dann der Bezugspunkt aller Aussagen, sondern ein plural verteiltes »Es«. Man hätte also, um ontologisch korrekt zu reden, nicht zu sagen ›ich nehme wahr‹, sondern ›es zeigt sich‹, ›es taucht auf‹,104 so wie man früher nicht sagte ›ich habe geträumt‹, sondern ›mir träumte‹, und nicht ›ich denke‹, sondern ›mich deucht‹.105 Mit anderen Worten: Das Ontologische ist sozial konstituiert. Und als Zirkulation des Sinns im Mit ist dieses zuallererst symbolisch. Mit dem Symbolischen bildet sich die Gesellschaft. Aber man muß konsequent bleiben; da diese Mitte kein Etwas ist, ist die Symbolizität reine Negativität, hier konstituiert sich nicht ein Gemeinsames, das alle in Harmonie vereinte. Es ist eine »Vermittlung ohne Vermittler«, sie »vermittelt nichts:
102 l. c., p. 144; das folgt M. Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Frankfurt a. M. 1989, p. 319ff., s. p. 320: »Die Selbstheit ist ursprünglicher als jedes Ich und Du und Wir.« 103 S. Krämer: Medium, Bote, Übertragung, p. 61. 104 Zum Begriff des Auftauchens s. W. Schapp: In Geschichten verstrickt. 2. Aufl. Wiesbaden 1976, p. 17 passim. 105 Nietzsche sprach vom »Es denkt«; s. F. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse I, Nr. 17. In: ders.: Kritische Studienausg., hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari. München, Berlin, New York 1980, V, p. 30f.; cf. dazu N. Loukidelis: »Es denkt«. Würzburg 2013.
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sie ist mi-lieu […]«106 Diese Relation des Symbolischen im Zwischen hält auf Abstand. Es ist keine Substanz, sondern geradezu das Fehlen einer Substanz. Nun könnte man meinen, das müsse einen doch traurig stimmen, daß wir uns nie einig sein werden, uns nie wirklich verstehen werden. Die nüchterne Auskunft von Nancy ist: »Wir verstehen, indem wir uns verstehen, daß es nichts zu verstehen gibt – aber dies heißt präzise: daß es keine Aneignung des Sinns gibt, weil der ›Sinn‹ die Teilung des Seins ist.«107 Wenn also bei Nancy das Cartesianische ›Ego sum‹ transformiert erscheint als ein ›Ego sumus‹, dann gilt es festzuhalten, daß dieses Wir kein Subjekt ist, was ja die kollektivistischen Ideologien von der Volksgemeinschaft bis zum Kommunismus geglaubt hatten. Wie kommt es nun aber zu der modernen und auch noch spätmodernen Vorstellung vom autonomen Subjekt oder Ich. Nun, man muß sich das Miteinander als Bühne vorstellen, auf der sich die Akteure gegenseitig als Iche präsentieren. Hinter diesem Schauspiel gibt es aber keine eigentliche Realität, die die Schauspieler als bloße Marionetten eines großen Plans jenseits des Seins auswiese – das Schauspiel ist das Sein – und nichts ist dahinter. Mit Derridas Formulierung, daß es kein Jenseits des Textes gäbe und gegen Lévinas‘ Versicherung, daß das Ethische Jenseits des Seins begänne, versichert Nancy, daß es kein Jenseits des so konstituierten Seins gibt.
2.4 I N DER M ITTE : D AS M EDIUM . M ITTEL – M ITTE – M IT Wo genau ist die Mitte? Bei Aristoteles kann man lesen, daß die Tugend in der Mitte läge, nämlich z.B. die Tapferkeit zwischen Tollkühnheit und Feigheit.108 Setzt man diesen Gedanken fort, dann könnte man auf den Gedanken kommen, Trunkenheit für tugendhaft zu halten, nämlich als die Mitte zwischen Besinnungslosigkeit und Nüchternheit oder Bigamie als die Mitte zwischen Monogamie und Polygamie. Politische Parteien erklären zumeist, sie stünden in der Mitte. Ist die Mitte so ausgedehnt, daß
106 J.-L. Nancy: Singulär plural sein, p. 145. 107 l. c., p. 149. 108 Cf. dazu auch P. Ziche: Der Begriff der »Mitte« in Aristoteles’ Wissenschaftskonzeption. In: Archiv f. Begriffsgeschichte 47 (2005), p. 9-24. Eine ähnlich Formulierung findet sich bei Friedrich Schlegel: »Die wahre Sittlichkeit muß in d[er] Mitte zwischen eiserner Standhaftigkeit und Veränderlichkeit schwanken.« (F. Schlegel: Kritische Ausgabe XVIII. München, Paderborn, Wien, Zürich 1963, p. 217). Daß sie zwischen diesen Extremen zu suchen sei, würde ja wahrscheinlich jedermann vermuten; aber Schlegel sagt, daß sie sich schwankend dort befindet. Daß aber umgekehrt trotz Veränderlichkeit und schwankend die Standhaftigkeit als einer der beiden Pole des Schwankungsfeldes erscheint, hat damit zu tun, daß die Selbstbestimmung im Kontext des Anderen keine kontingente Abhängigkeit von ihm meint, sondern Momente sittlicher Bildung aufbewahrt, die nicht wieder beliebig zur Disposition gestellt sind.
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es, politisch jedenfalls, nichts mehr außerhalb ihrer gibt? Dann wiederum ist aus dieser Mitte heraus zu hören, die Mitte gäbe es gar nicht, wer nicht für uns ist, ist gegen uns, wer sich nicht auf die Seite des Guten schlägt, der ist bereits auf der Achse des Bösen. Eine Mitte gibt es gar nicht.109 Und Zenon? Er hat immer noch ein Mittelstück, das er zwischen Achilles und die Schildkröte einfügt, so daß jener diese nie einholen wird – Mitte, so viel man will. Am besten also, man fängt am Anfang an und schaut zu, wo man hindurch oder vorbei kommt, bevor man am Ende anlangt. Aber auch hier: Wer überhaupt anfängt, ist auch schon am Anfang vom Ende.110 Denn scheinbar beginnen die meisten Dinge am Anfang, was Odo Marquard zum Anlaß nahm, seine Vorträge mit den Worten zu beginnen: »Ich beginne – ganz konventionell, brav und sittsam – mit Abschnitt 1 […]«111; doch Odo Marquard, der Fußball-Begeisterte, müßte auch bedenken, daß es Dinge gibt, die in der Mitte beginnen, wenigstens in der räumlichen, was ja Sartre zu dem Bedauern veranlaßte, daß ein Fußballspiel dadurch verkompliziert werde, daß es eine zweite Mannschaft gebe.112 So denken Archaiker/Anfangsphilosophen (und die genannten sind nur die harmlosesten unter ihnen), Novalis dagegen hatte betont: »(Wozu überhaupt ein Anfang? Dieser unphilosophische – oder halbphilosophische Zweck führt zu allen Irrthümern.) Theorie der Berührung – des Übergangs – Geheimniß der Transsubstantiation.«113 Und ein Differenztheoretiker wie Luhmann folgt ihm oder anderen, wenn er feststellt, daß jeder Anfang eine Differenz konstruiert.114 In der Mitte des Labyrinths, sagt man, sitzt der Minotaurus und frißt oder verführt Jungfrauen und Jungmänner. Aber so genau weiß man das nicht. Vielleicht ist die Mitte auch leer: Und der labyrinthische Tanz um eine unbesetzte Mitte entließe am Ende des Tages (es war ein Sonnenkult!) keine Jungfrauen und Jungmänner mehr, man glaubte sich auf dem verschlungenen Pfad zur Mitte und befände sich lediglich am Anfang des Erwachsenenlebens.115
109 Zur philosophischen Analyse dieser Topologie s. J. Derrida: Schurken. Frankfurt a. M. 2003. 110 K. Röttgers: Der Anfang vom Ende. In: Anfänge und Übergänge, hrsg. v. K. Röttgers u. M. Schmitz-Emans. Essen 2003, p. 246-252. 111 O. Marquard: Zur Diätetik der Sinnerwartung. In: ders.: Apologie des Zufälligen. Stuttgart 1986, p. 33-53, hier p. 33. 112 J.-P. Sartre: Kritik der dialektischen Vernunft I. Reinbek 1967, p. 503, Anm. 1. 113 Novalis: Schriften. Darmstadt 1968, III, p. 383; cf. auch N. Pethes: Poetik / Wissen. In: Romantische Wissenspoetik, hrsg. v. G. Brandstetter u. G. Neumann. Würzburg 2004, p. 341-372. 114 N. Luhmann: Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen. In: Der Mensch – das Medium der Gesellschaft?, hrsg. v. P. Fuchs u. A. Göbel. Frankfurt a. M. 1994, p. 40-56, hier p. 51. 115 Lediglich die Griechen, für die Anfang, Grund und Herrschaft (arché) den Bezugspunkt aller Orientierung bildeten, konnten den minoischen nomadisch-labyrinthischen Tanz als verwirrend empfinden. Nur wenn man mit den Griechen meint, den Anfang stets im Blick behalten zu müssen, kann man das Labyrinth als verwirrend empfinden. Der Nomade-
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Jedenfalls stand für Jahrhunderte fest, daß sich die Erde in der Mitte des Universums befand. Die mathematischen Konstruktionen zusammen mit einschlägigen Stellen aus dem Buch der Bücher bewiesen das, bis einer kam und nahelegte, Mathematik durch Physik und Himmelsbeobachtung zu ersetzen, da war die Mitte plötzlich nicht mehr in der Mitte: nämlich die naturwissenschaftliche nicht mehr in der lebensweltlichen, bis wiederum ein anderer kam und das transzendentale Subjekt zur Mitte (seiner) Welt erklärte, bis sich wiederum andere zeigten, die erklärten, der Mensch lebe nicht aus der Mitte, sondern exzentrisch, oder solche, die von der Dezentrierung des Subjekts sprachen. Das jagte so manchem den Schreck in die Glieder und einer der Verschreckten sprach dann vom Verlust der Mitte.116 Die Formulierung »ab durch die Mitte« ist nur eine Regieanweisung, die den gewöhnlichen Abgang nach links oder rechts vermeidet. Im griechischen Theater – abgesehen davon, daß es keine Regieanweisungen gab – wäre die Regieanweisung »ab durch die Mitte« nicht denkbar gewesen. Im Amphitheater ist der Schauplatz die Mitte. Erst die Guckkastenbühne, also das Theater der Repräsentation, mit Kulisse, erlaubt es, nicht einfach aus dem Blickfeld zu verschwinden, sondern einen Abgang durch die Mitte zu inszenieren. Wenn das Theater zugleich als Daseinsmetapher gewählt wird, dann macht es allerdings einen erheblichen Unterschied, ob einer nur verschwindet oder einen Abgang durch die Mitte nehmen darf. Was befindet sich dort, und wie sieht dieser Abgang aus? Entweder dort befindet sich trivialerweise eine Tür oder dergleichen; dann wissen wir, was hinter der Tür liegt: entweder ein Raum ähnlich dem, den wir sehen, oder das Außerhalb (eines Hauses z.B.). Der Abgang durch eine solche Mitte ist kein Übergang in eine andere Welt, ist keine Metabasis. Oder aber in der Mitte befindet sich ein »Flor«, wie Kierkegaard es geschildert hat,117 das möchte man dann die Verrätselung der Mitte nennen. Die eigentliche Mitte wird zum Geheimnis:118 Wir können nicht wissen, wohin der geht, der den Abgang durch die Mitte wählt. Und wenn wir selbst es sind, dann führt dieser Weg ins Ungewisse. Im folgenden möchte ich vor allem diese beunruhigende Mitte besprechen, das Gegenteil jener Pseudo-Sicherheit, die uns die Mittelmäßigkeit verleiht. Aber
im-Labyrinth ist in gewissem Sinne immer in der Mitte.- Mit dem Untergang des minoischen Reiches durch den Tsunami, ausgelöst durch den Vulkan-Ausbruch auf Santorin, brach offensichtlich auch der Sonnenkult zusammen. Jedenfalls sind offenbar die letzten Jahre der minoischen Kultur vor Ankunft der Griechen auch durch eine Kulturrevolution gekennzeichnet, in der der Sonnenkult (und damit auch das Labyrinth) ersetzt wurde durch einen Meeres-Kult. 116 H. Sedlmayr: Der Verlust der Mitte. 7. Aufl. Berlin 1973. 117 S. Kierkegaard: Entweder – Oder, hrsg. v. H. Diem u. W. Rest. 2. Aufl. Köln, Olten 1968, p. 354. 118 Schweigen und Geheimnis, hrsg. v. K. Röttgers u. M. Schmitz-Emans. Essen 2002; s. auch K. Wiegerling: Husserls Idee des Anfangs und die Frage nach der Medialität des Denkens. In: Das Geheimnis des Anfangs, hrsg. v. W. Neuser u. A. Reichold. Frankfurt a. M., Berlin, Bern, Brüssel, New York, Oxford, Wien 2005, p. 79-88.
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selbst wenn uns der Flor die Sicht verstellt und ein Geheimnis aus der Mitte macht, ist doch diese Mitte nicht im Jenseits der Bühne, sondern sozusagen mitten drin. Aristoteles hatte gesagt: »Ganz ist was Anfang, Mitte und Ende besitzt. Anfang ist, was selbst nicht notwendig auf ein anderes folgt, aus dem aber ein anderes natürlicherweise wird oder entsteht. Ende umgekehrt ist, was selbst natürlicherweise aus einem anderen wird oder entsteht, aus Notwendigkeit oder in der Regel, ohne daß aus ihm etwas Weiteres entsteht. Mitte endlich, was nach anderem und vor anderem ist.«119
Das Gute, d.h. das immanente Ziel des Handelns, sein Telos, liegt nach Aristoteles in der Mitte. eÜ z²n, eÜ práttein – das Adverb eÜ verrät, daß es um Modalitäten des Handelns selbst geht, nicht um etwas, das außerhalb (etwa als platonische Idee) Bestand hätte, dem Handeln als Pflicht auferlegt wäre und von diesem durch Zwecksetzungen anzustreben wäre. Kein Grund aber, die Poiesis zu verteufeln. Wer immer nur den Sinn des Ganzen anzielt, wird ihn prompt verfehlen, wie Odo Marquard in seiner »Diätetik der Sinnerwartung« gezeigt hat.120 Das Ganze bedarf der Skandierung in diskrete Einheiten, von denen etliche, aber eben keineswegs alle, die poietische Struktur haben und damit die Mitte als Mittel verwenden. Nach dem zitierten Diktum aus der aristotelischen Poetik ist aber nicht nur die Handlungs-Zwecksetzung für Kausalzusammenhänge eine Einlösung des poietischen Schemas, sondern ebenfalls die Erforschung der Anfänge. Wie war das möglich, daß etwas anfing, »Der Anfang ist in der Mitte!«121 Wie war es möglich, daß etwas geschieht, was »nicht notwendig auf ein anderes folgt«. Und so kommt ja Gott nach der Säkularisierung in diese merkwürdige Doppelrolle zu: Schöpfungsverantwortlicher und Jenseitsverwalter zu sein, aber in der Mitte zu fehlen; unermüdlich schafft Gott neue Seelen, die – um ein Seelencrowding zu vermeiden – nur durch ein unendlich expandierendes Jenseits bewältigt werden können. Aber das sind seine Probleme, nicht unsere, die wir mitten im Leben stehen, »was nach anderem und vor anderem ist.« Aber diese Mitte expandiert ebenfalls, und das nicht nur im erwähnten politischen Sinne, daß alle Parteien in der Mitte stehen möchten, sondern auch in zwei anderen Hinsichten. Zenon und alle, die ihm folgten, scheinen ein Problem mit der Mitte zu haben. Zenon ist wie der Minotaurus im Labyrinth in der Mitte gefangen oder eingefangen. Zenon wollte ein Ziel erreichen, dazu mußte er einen bestimmten Weg von Anfang an bis zum Ende hin durchschreiten. Um zum Ende zu kommen, muß er durch die
119 Aristoteles: Poetik. Stuttgart 1961, p. 37 (Kap. 7). 120 O. Marquard: Diätetik der Sinnerwartung. 121 G. Teubner: Des Königs viele Leiber: Die Selbstdekonstruktion der Hierarchie des Rechts. In: Soziale Systeme 2 (1996), p. 229-256.
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Mitte hindurch. Ihm aber ist die Mitte als abstrakter Durchgangsort verbaut, dort befindet sich etwas, etwas Konkretes, das seinen abstrakten Durchgang verhindert; er muß also einen Umweg oder ein Mittel wählen, um die Mitte passieren zu können. Die Mitte ist ihm zum Problem geworden, das man sich zunächst einmal als Ziel seines Handelns, als Zwischen-Ende des Weges setzen muß. Um zu diesem Zwischen-Ende zu gelangen, muß man freilich durch eine (zunächst abstrakt vorgestellte) Zwischen-Mitte hindurch. Unglückerweise befindet sich dort ebenfalls etwas Konkretes, das sich als zu bewältigendes Problem darstellt, so daß die Zwischen-Mitte zum Zwischen-Zwischen-Ende gemacht werden muß usw. Unmöglich konnte Zenon also sein Ziel jenseits der Mitte je erreichen. Mathematiker klären uns auf, wie diese Medialitätsparadoxien entstehen und wie man sie beheben kann. Tatsächlich aber ist doch jedermann klar, daß Zenon nicht an sein Ziel kommt, denn es zeigt sich, daß die Mitte selbst kein Ende hat, so daß er niemals jenseits der Mitte an den »Anfang vom Ende« kommen wird. Nun könnte man meinen, daß seien von Philosophen oder anderen Zauderern erfundene Probleme, von Personen also, die sich nicht wirklich auf den Weg machen, sondern stattdessen am Anfang des Weges transzendentale Überlegungen über die Bedingungen der Möglichkeit des Weges anstellen »(wer ist schon lebenstüchtig und zugleich Philosoph?)«122. Aber vergleichbare Strukturen stellen sich allenthalben ein. Ein Schriftsteller, muß, bevor er beginnt, erst einmal eine Gliederung entwerfen. Wenn er sich an die Ausführung des ersten Kapitels machen möchte, muß er feststellen, daß die angefertigte Gliederung viel zu grob ist, und er macht sich daran, dieses erste Kapitel durch Abschnitte zu untergliedern. Wenn er sich an die Ausführung des ersten Abschnitts begeben möchte, fehlen ihm die Unterabschnitte usw. Oder falls er je begonnen haben sollte, wird er feststellen, daß der Übergang vom ersten Satz zum nächsten eigentlich einen Zwischensatz erforderlich macht usw.123 Noch schlimmer wird es, wenn dieser Zenon das Ziel gehabt haben sollte, die Wirklichkeit, so wie sie an sich selbst wirklich ist, zu beschreiben: Adornos Problem des Nichtidentischen. Jede begriffliche Identifikation gaukelt vor, an die Dinge heranzureichen, was immer eine abstrakte, nie einzulösende Unterstellung war. Niemals sind wir auch nur bis zur Mitte vorgedrungen. Die Neukantianer trösteten sich mit der Idee eines unendlichen Erkenntnisfortschritts, der sich asymptotisch der Wirklichkeit der Dinge annähere. 122 O. Marquard: Verweigerung der Bürgerlichkeitsverweigerung. In: ders.: Individuum und Gewaltenteilung. Stuttgart 2004, p. 23-37, hier p. 34; die Klammer stammt von Marquard. 123 Ich erinnere an Arno Holz’ Wucherungen des »Phantasus«. Elias Canetti hat als »TodFeind« zeit seines Lebens Aufzeichnungen für ein Buch »gegen den Tod« notiert, aber stets war er nur mitten in den Aufzeichnungsgesten, nie hat er mit dem Buch beginnen können; also kommt man aus der Mitte nicht nur nie an das Ende (Zenons Problem), man kommt auch nicht an den Anfang. Peter von Matt schreibt quasi triumphierend seinen ersten Satz eines Nachworts zu Canettis Buch: »Den ersten Satz zu seinem Buch hat Canetti nie geschrieben«, P. v. Matt: Nachwort. In: E. Canetti: Das Buch gegen den Tod. München 2014, p. 308-329, hier p. 308.
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Aber woher wissen sie das? Woher wissen sie, daß der Abstand zu den Dingen im Laufe des Erkenntnisprozesses geringer wird, daß wir also schon jenseits der jeweiligen Mitte und jenseits der Mitte zwischen der Mitte und dem Ende uns befinden? Zenon legte das Gegenteil nahe: in allen Bemühungen, wenigstens zunächst die Mitte zu erreichen, verstrickten wir uns immer mehr in das Labyrinth. Also: Der Abstand zu den Dingen wächst, je mehr wir uns um Nähe zu ihnen bemühen. Die Dinge verhalten sich wie eine pubertierende Tochter, je mehr wir uns bemühen, sie zu verstehen, desto unverstandener ist sie. Ist das nicht grauenhaft und ein Grund, sich mit Kleist, diesem Emphatiker der Unmittelbarkeit,124 das Leben zu nehmen, um wenigstens in jenem letzten Moment keine Mitte mehr vor sich haben zu müssen? Genau der Blick auf diese suizidale Unmittelbarkeit könnte ein Gespür dafür erwecken, daß Zenon im Grunde ein glücklicher Mensch ist: niemals kommt er ans Ende, das doch nichts anderes als der Tod wäre. Mit Odo Marquards »Skeptiker«125 ist er auch nicht mehr so sicher, daß Wissen immer besser ist als Nichtwissen,126 daß er zwar sucht, aber nicht unbedingt finden muß; denken wir uns also einen Zenon, der gar nicht über die Mitte hinaus will, der den Gedanken, daß die Mitte nur ein Mittel sei, für immer verbannt hat. Er genießt den Umweg,127 die Verzögerung der Zielerreichung, das Medium.128 Er wird so zum Kulturwesen, das den kurzen Prozeß (der Gewalt, des Durchhauens des Gordischen Knotens statt eines Tüftelns) verabscheut. Die herrschende Ideologie des »schnellen Geldes« verdeckt, daß das Geld, wie Georg Simmel in der »Philosophie des Geldes« gezeigt hat,129 immer schon ein Hinausschieben einer unmittelbaren Zielerreichung ist. Im Bereich des Handelns heißt unmittelbar – d.h. auf die Mitte zu verzichten – nichts anderes als die so genannte nackte, d.h. sinnlose Gewalt.130
124 R. Konersmann: Lebendige Spiegel. Die Metapher des Subjekts. Frankfurt a. M. 1991, p. 51-72. 125 O. Marquard: Skeptiker. In: ders.: Apologie des Zufälligen, p. 6-10; ders.: Skepsis als Philosophie der Endlichkeit. Bonn 2002. 126 N. Luhmann: Ökologie des Nichtwissens. In: ders.: Beobachtungen der Moderne. Opladen 1992, p. 149-220; K. Röttgers: Woran ist die Ignoretik gescheitert? In: Wissen und Verantwortung. Fs. Jan P. Beckmann I, hrsg. v. Th. Keutner, R. Oeffner, H. Schmidt. Freiburg, München 2005, p. 136-177. 127 H. Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Rhetorik. In: ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Stuttgart 1993, p. 104-136: Kultur als Unterbrechung kurzschlüssiger Funktionalität ist vor allem eine Kultur der Umwege; cf. auch K. Röttgers: Spuren der Macht, p. 488-537. 128 Zum Begriff einer Zielerreichungsvermeidung s. K. Röttgers: Spuren der Macht. Freiburg, München 1990, p. 488-537; cf. auch J. Ogilvy: Anleitung zu einem Leben ohne Ziel. Hamburg 1997. 129 G. Simmel: Philosophie des Geldes. (GSG VI), hrsg. v. O. Rammstedt. Frankfurt a. M. 1989. 130 G. E. Lessing: Erziehung des Menschengeschlechts § 91: »Es ist nicht wahr, daß die kürzeste Linie immer die gerade ist.« Lessings Werke, hrsg. v. J. Kürschner. Berlin, Stuttgart 1869, XII, p. 369.
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Im andauernden Unterwegs zur Mitte, das ja wegen der Vervielfältigung der Mitte eigentlich ein Unterwegs in der Mitte ist, kann verschiedenes passieren. Als Aktivität eines Subjekts gedacht, ist die umwegige Kultur der Mitte eine Kultur der Reflexion. Das ist im Wesentlichen die Struktur der Moderne gewesen, die wir offenbar zu verlassen im Begriffe sind. Auf die Verrechnungseinheit des Subjekts bezogen, könnte es sein, daß dieses neu gedacht werden müßte, nämlich als ein verführtes Subjekt.131 Es kann aber auch folgendes passieren: Wir schweifen ab, wir verlieben uns in Details wie die Kinder, die erstmals den Sportwagen verlassen dürfen und mit den Eltern spazieren gehen. Sie vermeiden es, eine permanente Geduldsprobe für die Eltern, geradeaus zu gehen, um »das Ziel« möglichst geradlinig anzustreben. Sie verweilen da und dort, verlassen den Weg, um irgendeinem Interesse erheischenden Detail nachzugehen, necken die Eltern mit Umkehr usw. Descartes hat uns erzählt, daß der, der sich im Wald verirrt hat, immer geradeaus gehen müsse um herauszufinden. Es bleibt ein Geheimnis, in welcher Sorte von Wäldern Descartes sich je verirrt hat, es müssen orthogonal geordnete Forste gewesen sein, in denen sich dann allerdings nur Dummköpfe verirren können. Denn kein Rat als der cartesische ist unbrauchbarer für den, der sich in einem wirklichen Wald verirrt hat. Wer hier immer geradeaus geht, um der Verirrung zu entgehen, kann an einen Sumpf oder ein Moor geraten, und wenn er dann weiter Descartes‘ methodischem Rat folgt, wird er schon sehen, was er davon hat; wer immer geradeaus geht, kann an ein Dornendickicht wie um Dornröschens Schloß kommen, beherzigt er weiter Descartes Rat, so wird es ihm ergehen wie all den Prinzen, die dort aufgespießt und verhungert in der Dornenhecke stecken. Wer immer geradeaus ging, wird vielleicht an einen Fluß ohne Brücke kommen, ein Fluß der seinerseits nicht geradeaus, sondern bergab fließt, nicht methodisch, sondern aleatorisch, in die Strukturen des Geländes eingepaßt, und er wird, wenn er denn kein verbohrter Cartesianer ist, einsehen, daß es zweckmäßig ist, diese Bewegung des Flusses zu imitieren; denn bekanntlich finden auch Flüsse aus dem Wald heraus. Die in ein Glas verirrte Biene wird, da sie methodisch wie ein Cartesianer vorgeht und immer geradeaus auf das Licht zufliegt, vermutlich nie herausfinden; die Fliege dagegen, die – unter Gesichtspunkten linearer Rationalität – völlige unsinnige Flugbewegungen ausführt, wird nach einer gewissen Weile per Zufall herausgefunden haben. All das habe ich ausgeführt – ein enormer Umweg, wie ihn die eingesperrte Fliege nahm –, um für eine Sympathie mit der Mitte zu werben und konkret: Medien nicht länger als Mittel, sondern aus der Mitte heraus zu verstehen. Es soll also von der Mitte: dem Medium ausgegangen werden, von jenem Zwischen, für das der Begriff des kommunikativen Textes verwendet wird, um nun zu sehen, welche Funktionen, welche Funktionspositionen, welche Relationen und Beziehungsprozesse mit ihren
131 K. Röttgers: Autonomes und verführtes Subjekt.
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jeweiligen Resultaten von dieser Mitte aus definiert sind und dem jeweiligen Medium seine spezifische Struktur geben.132 Ersichtlich ist danach also Individualität keine Voraussetzung von Kommunikationsprozessen, und Medien sind nicht ihre nach Zweckmäßigkeitserwägungen einsetzbare Mittel. Sondern wir werden nun gewahr, daß an medial bestimmten Kommunikationen nur bestimmte Funktionalitäten von Individuen beteiligt sind, niemals der ganze oder totale Mensch. Kehren wir zurück zu Zenon, der immer noch nicht über die Mitte hinauskam. Wir haben – natürlich in Anknüpfung an Camus – gesagt, daß wir uns Zenon als glücklichen Menschen vorzustellen haben. Dieser glückliche Zenon ist immer bei der Mitte, er hat nicht mehr tief in seinem isolierten Inneren eine Intention entwickelt, nämlich anderswo zu sein, als er ist, und verwendete dann als Mittel seine Füße und was an Körper so mit diesen zusammenhängt, um dieses Ziel zu erreichen. Er ist auch unterwegs, ständig ist er unterwegs, aber in diesem Unterwegs im Zwischen ist er auch stets dort, wo er sein will, nämlich hier. Darin gleicht der glückliche Zenon den Engeln. Auch sie sind den Paradoxien der Zielerreichung enthoben. Deswegen sind sie die perfekten Mittler.133 Die Mitte nicht verlassen zu können, ist demnach kein Fluch, sondern geradezu eine engelsgleiche Existenzform. Da Engel Mittler sind, müßten wir eigentlich die Frage nach dem Menschen durch die Frage nach dem Engel ersetzen, die Anthropologie durch Angelologie – aber das wäre ein anderes Thema.134 Wie, d.h. unter welchen spezifischen Bedingungen die Mitte auch als eigene Substanz erscheinen kann, das beschreibt Hegel in der »Phänomenologie des Geistes« unter dem Stichwort »Bildung«. Der Geist, insofern er die Einheit der Extreme ist, findet sich Extremen gegenüber, die für sich eigene Wirklichkeiten zu sein beanspruchen. »Ihre Einheit ist zersetzt in spröde Seiten, deren jede für die andere wirklicher, von ihr ausgeschlossener Gegenstand ist.«135 Genau unter dieser Bedingung, daß die Relata der Relation für sich eigene substantielle Wirklichkeiten zu sein beanspruchen, gerät auch das Zwischen zur Substanz: »Die Einheit tritt daher als eine Mitte hervor, welche von der abgeschiedenen Wirklichkeit der Seiten ausgeschlossen und unterschieden wird; sie hat daher selbst eine wirkliche von ihren Seiten unterschiedene Gegenständlichkeit, und ist für sie, d.h. sie ist Daseiendes.«136 Dieser Geist »ist so die Mitte, welche jene Extreme voraussetzt und durch ihr Dasein erzeugt wird
132 Cf. auch M. Foucault: Dits et écrits 1954-1988, ed. D. Defert et F. Ewald, vol I. Paris 1994, p. 297f. 133 = Medien. Cf. Chr. Bermes: Medientheorie oder Kulturphilosophie? In: Journal Phänomenologie 22 (2004), p. 7-17: »Medien zeichnen sich gerade und im Wesentlichen dadurch aus, daß es nicht um sie selbst geht.« (p. 9) 134 Ausgeführt in: K. Röttgers: Teufel und Engel. 135 G. W. F. Hegel: Werke, III, p. 377. 136 ibd.
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[…]« Aber das ist nur die eine Seite der Sache. Denn ungeklärt bleibt in solcher Beschreibung, wie es zu dieser vermeintlichen Selbständigkeit der Seiten kommen konnte. In unserer Sprache ausgedrückt: Wie ist es möglich, die Funktionspositionen von Selbst und Anderem im kommunikativen Text für Individuen, für Personen, gar für Menschen zu halten. Hegels Antwort: es ist die Mitte des Geistes selbst, die die Illusionen erzeugt und zugleich aufhebt. Das Beispiel, an dem er das durchführt, sind die Staatsmacht (»das abstrakte Allgemeine«) und das »edelmütige Bewußtsein« als Extreme (»das reine Selbst«) – das braucht uns freilich hier nicht weiter zu interessieren. Interessanter für uns ist es vielmehr, daß die Aufhebung ihrer abgeschiedenen Polarität im Medium der Sprache geschieht. (»Deren einfaches Dasein, als Mitte, die Sprache ist.«137) Jede Seite erscheint vor dieser Folie zugleich als die andere, sie sind, wie Hegel sagt, »im Begriffe dasselbe«; »denn reines Selbst ist eben das abstrakt Allgemeine, und daher ist ihre Einheit als ihre Mitte gesetzt.«138 Aber Hegel tut nun alles andere, als eine Glorifizierung dieser Mitte vorzunehmen. Er weiß um die fragwürdigen Gebrauchsweisen der Sprache. Zugleich setzt er in der Polarität von Selbst und Allgemeinen die Sprache auf die Seite des Selbst. Dadurch wird das Sprechen des Selbst angesichts des Allgemeinen, z.B. angesichts der Staatsmacht zum »Heroismus der Schmeichelei«. In solcher Sprachgeste zersetzt sich die Mitte. Es verrät sich nicht nur das Selbst an sein Gegenüber, sondern dieses wird auch seinem eigenen Begriff nach falsch adressiert. Zugleich aber sagt sie dem Adressaten, was er sein könnte, er nennt ihm sein eigenes Ideal. Und so ist die Zersetzung der Mitte ebenso sehr ihre Bewährung, weil sie letztlich die Äquivalenz der Seiten erzeugt. Und dafür genau steht bei Hegel der Begriff des Geistes. Soviel zur Substantialisierung der Mitte. Uns aber geht es hier darum, sie als Raum und nicht als ein Etwas zu begreifen, dazu werden wir im folgenden Bezüge zu Heidegger und zu Jean-Luc Nancy herstellen. Ausgehend von Heideggers Analyse des Mitdaseins in § 25 von »Sein und Zeit«, hat Jean-Luc Nancy eine Interpretation des Mit vorgelegt. Zu Recht sieht er in der Kategorie des »Daseins« nicht ein anderes Wort für »Mensch«; »Sein und Zeit« ist keine Anthropologie, sondern eine Ontologie. Daher ist § 25 mit den Kategorien des »Mitdaseins« auch nicht eine Analyse einer freundlichen »Mitmenschlichkeit«, was immer das dann heißen könnte. Dieser Paragraph, die einzige Stelle bei Heidegger, auf die sich eine Sozialphilosophie ontologisch fundieren ließe, gibt dem vulgären methodologischen oder gar ontologischen Individualismus keine Anhaltspunkte.
137 l. c., p. 378. 138 ibd.
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Heidegger hält den Ausgang von einer »Isolierung des ›Ich‹« für ein Mißverständnis.139 Denn die Anderen, das ist nicht der »ganze Rest der Übrigen außer mir«, sondern die Anderen sind diejenigen, »unter denen man auch ist«. Aber wiederum ist diese Beziehung auch nicht gleich derjenigen zu den Dingen, unter denen man sich in der Welt befindet. Heidegger: »Das ›Mit‹ ist ein Daseinsmäßiges […] Auf dem Grunde dieses mithaften In-der-Welt-seins ist die Welt je schon immer die, die ich mit den Anderen teile. Die Welt des Daseins ist Mitwelt. Das In-Sein ist Mitsein mit Anderen. Das innerweltliche Ansichsein dieser ist Mitdasein.«140 Selbst wenn die Anderen, wie Heidegger sagt, »bloß herumstehen«, dann ist dieses Mitdasein immer noch etwas ganz anderes als die Vorfindlichkeit von Person-Dingen im Raum, der Andere in diesem Mitdasein ist kein »vorhandenes Menschending«.141 In einer kleinen Nebenbemerkung geht Heidegger sogar noch einen Schritt weiter: er stellt fest, daß sogar die eigene Weltbegegnung des Daseins nur durch »Wegsehen« von diesem Mitsein ermöglicht wird.142 Und so kann er resümieren, daß »das Dasein wesenhaft an ihm selbst Mitsein ist«143, mit der Konsequenz, daß dieses auch dann so ist, wenn die Anderen faktisch nicht vorhanden sind: dann nämlich »fehlen« sie. »Fehlen kann der Andere nur in einem und für ein Mitsein.« Andererseits wird die Einsamkeit nicht dadurch behoben, daß andere Exemplare der Gattung homo sapiens neben mir im Raum sind. Zwischen »Mitsein« und »Mitdasein« unterscheidet Heidegger folgendermaßen: »Mitsein ist eine Bestimmtheit des je eigenen Daseins; Mitdasein charakterisiert das Dasein anderer, sofern es für ein Mitsein durch dessen Welt freigegeben ist. Das eigene Dasein ist nur, sofern es die Wesensstruktur des Mitseins hat, als für Andere begegnend Mitdasein.«144 Wie gesagt, dieser Paragraph ist der einzige, in dem das so klar gesagt wird, und Heidegger kommt nie wieder darauf zurück.145 Nancy behauptet nun, daß diese Gedanken eigentlich dazu hätten führen müssen, »Sein und Zeit« neu und ganz anders zu konzipieren. Und er selbst macht sich daran, den »Sinn von Sein« völlig neu zu formulieren. Lapidar und zugleich umwerfend heißt es: »Übrigens ist das Dasein wesentlich Mitdasein.«146 Er erklärt das Problem
139 M. Heidegger: Sein und Zeit. 8. Aufl. Tübingen 1957, p. 118; cf. ders.: Überlegungen VI (Schwarze Hefte), Gesamtausg. XCIV. Frankfurt a. M. 2014, p. 475: »Das Denken muß erst jenseits aller Anthropologie und Psychologie stehen, wenn es zur Frage gerüstet sein will, wer der Mensch sei; denn sobald und wo immer anthropologisch nach dem Menschen ›gefragt‹ und alles auf ihn […] zurückbezogen wird, ist über den Menschen schon entschieden und jede Möglichkeit ausgeschieden, das Wesen des Menschen aus ganz anderen Bezügen […] zu erfragen.« 140 M. Heidegger: Sein und Zeit, p. 118. 141 l. c., p. 120. 142 l. c., p. 119. 143 l. c., p. 120. 144 l. c., p. 121. 145 K. Röttgers: Kategorien der Sozialphilosophie, p. 143-148. 146 J.-L. Nancy: Singulär plural sein, p. 153.
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der Ko-Existenz für experimentum crucis jedes anstehenden, ich würde sagen: postmodernen Denkens. Anders gesagt, wäre Heideggers Kernfrage gewesen, »wie mehrere Dasein zusammen das Da sein können.«147 Drei Antworten sind möglich: • •
•
Sie kommen zusammen vor, ihr Gemeinsames ist ein Konstrukt oder ein Projekt oder ein Kontrakt (so der moderne Mainstream-Individualismus); Sie bilden ein Kollektivsubjekt, ihr Gemeinsames ist von einer eigenen ontologischen Dignität (so der antimoderne Universalismus, aber auch gewissen Spielarten des Kommunitarismus); Sie durchkreuzen sich, berühren sich, vermischen sich – aber wie?
Die ersten beiden Spielarten scheiden nach Nancy aus, und vermutlich zu recht. Diese beiden Spielarten sind daran zu erkennen, daß sie das Grundproblem der Sozialphilosophie stets benennen als »das Individuum und die Gesellschaft« – oder schlimmer noch »das Individuum und die Gemeinschaft«, während die Grundfrage zu sein hätte: »Was geschieht zwischen uns?«148 – Die Frage nach dem Zwischen, die dann erst die Anschlußfrage zuläßt: Was heißt dabei »Uns«. Übrigens weiß sich Nancy in dieser Option für den dritten Weg zwischen Individualismus und Kommunitarismus durchaus zu recht in Heideggers Denkspur. Dieser Weg nimmt Kontiguität (Nancy sagt »brutale Kontiguität«149), nimmt Nähe und Distanz, nimmt Berührung, Ansteckung, Anschluß und Verführung, nimmt Durchkreuzung und Eingriff als Schlüsselphänomene. Das Gewebe zwischen uns / mit uns ist kein Gegenstand. Daher war der Übergang der Rede vom Mittel (wie ein Werkzeug) über die Mitte (wie ein präexistenter Raum) zum Mit zwangsläufig, als Präposition stiftet das Mit Beziehungen, ohne doch ein Ding (als Werkzeug) oder auch nur ein Raum zu sein; denn das Mit beinhaltet Nähe und Abstand zugleich – uno actu, d.h. in nicht quantifizierbarem Ausmaß von Nähe und Abstand. Oder Nancy: »Das Sein ist zusammen, und es ist nicht ein Zusammen.«150 Also darf man eigentlich auch nicht von dem Mit sprechen, »sondern man sollte einfach ›mit‹ sagen […]«151 Wie die deutsche Frühromantik – und der von Nancy aufgegriffene Terminus einer Logologie beweist seine Kenntnis von Novalis – kennt Nancy kein transzendentales Ich, sondern eine Transzendentalität des Wir. Wir sind der Sinn – ist eine öfters gebrauchte Formel, die nun weder heißen darf, daß jeder von uns allein Sinn ist, noch daß es ein transzendentes Wir gäbe, das jedem von uns den Sinn verleiht. Vielmehr ist es der zwischen uns stattfindende Prozeß, der den transzendentalen Charakter hat, Nancy haßt jenes Wort, aber man wird es wohl doch einmal verwenden dürfen: es ist 147 148 149 150 151
l. c., p. 154. l. c., p.160. l. c., p.10. l. c., p. 98. l. c., p.101.
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der Kommunikationsprozeß, in dem in Nähe und Abstand zugleich eine Pluralität des Anfangs konstituiert ist. Ich sage bewußt konstituiert; denn erst mit dem Abstand – hier folgt Nancy offensichtlich dem Denken der Differenz (Heidegger, Adorno, Derrida) – mit dem Schritt aus Präsenz, tritt eine sinnermöglichende Verzweigung ein. Folglich erhält die Formel vom Sinn des Seins bei ihm die Gestalt: »Das Sein kann nur als Mit-ein-ander-seiend sein, wobei es im Mit und als das Mit dieser singulärpluralen Ko-Existenz zirkuliert.«152 Das Zwischen in den singulär-pluralen Vorkommnissen ist kein konsistentes Etwas. Nur in Morgensterns Gedicht »Der Lattenzaun« ist es möglich, den Zwischenraum zwischen den Latten herauszunehmen und daraus ein Haus zu bauen. Tatsächlich ist das Zwischen die Distanznahme und deren Resultat. Erst mit dieser »Verräumlichung« tritt Sinn auf, die reine kompakte Immanenz wäre ohne Sinn. Die in Abstand stehenden Singularitäten berühren sich, sie sind weder isoliert, entzweit, noch fallen sie in leerer Identität zusammen, noch bilden sie untereinander eine Kontinuität aus, noch interveniert die zauberhafte Berührung in ein schon vorab bestehendes Kontinuierliches hinein. Das Zwischen, oder sagen wir noch einmal, die Mitte ist kein Etwas, das in der Mitte dazwischen liegt. Die Kontiguität begründet Selbst und Andere. Es sind nicht erst zwei Dasein, die dann in Berührung träten oder es auch vielleicht lieber hätten bleiben lassen können; sondern man muß sagen: Wo Berührung ist, sind ipso facto Zwei in Abstand und Nähe. Und das gilt selbstverständlich genau in der gleichen Weise für Prozesse der Selbstberührung. Alterität als Konsequenz der Kontiguität. Weil Nancy Heidegger aus der Perspektive des Mit neu schreibt, kennt seine plurale Ontologie eine Vielheit der Ursprünge der Welt in der Vernetzung von Kontiguität. Die Alterität des Anderen, das ist sein anderer Ursprung der Welt. Die Unvermeidlichkeit der Koexistenz ist zugleich der Beweis der Nichtexistenz eines Schöpfergottes, eines Gottes, der für sich allein vor aller Schöpfung schon existierte. Wenn von Distanznahme und Abständigkeit die Rede war, so darf dabei nicht an Entzweiung im Sinne des deutschen Idealismus gedacht werden. Entzweiung ist ein kritisch gemeinter Begriff, der vor dem Hintergrund von Einheit oder von Heil fungiert. Hier aber wird der Ursprung als von vornherein geteilter Ursprung gedacht. Diese Welt hat keinen Ursprung – oder mehrere. Aber nicht einen. Daher sagt Nancy lakonisch: »Der Ursprung ist ein Abstand.«153 Anders gesagt, Ursprung kommt stets im Plural vor. Der Kern der von Nancy aufgerufenen neuen Ontologie lautet: »Also nicht das Sein zuerst, dem dann ein Mit hinzugefügt wird, sondern das Mit im Zentrum des Seins.«154 Wenn er das ego sum, durch ein ego cum ersetzt, so hätte er auch mit Johann Plenge sagen können: cogito, ergo sumus.155 Sprechen wir von Selbst und 152 153 154 155
l. c., p. 21. l. c., p. 40. l. c., p. 59. J. Plenge: Cogito ergo sumus. Eine Auswahl aus seinen Schriften, hsrg. v. H. Linhardt. Berlin 1964.
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Anderem als Funktionspositionalitäten im kommunikativen Text, so heißt es analog bei Nancy, daß weder vom Ich, noch von einem Subjekt die Rede sein kann, sondern von reiner Ipseität, als das »Unterschiedene einer Unterscheidung«.156 Von daher gibt es jenen transzendentalen Standpunkt nicht, von dem aus das Unterscheiden unterscheidungsfrei eingeführt werden könnte. Im Text zu sein, heißt Unterscheidungen zu vollziehen. Jede Substantialisierung ist damit ausgeschlossen. »Wir: jedes Mal ein anderer, jedes Mal mit anderen.«157 Um alle Reminiszenzen an den Existentialismus, dem er doch verpflichtet ist, zu tilgen, ersetzt Nancy stellenweise den Begriff der KoExistenz durch den formaleren Begriff der Ko-Ipseität.158
2.5 D AS N ETZ Diese Spur einer Vermittlung ohne Vermittler soll nun noch ein wenig weiter verfolgt werden. Denn insbesondere in den Neuen Medien wie etwa dem Internet wird man nicht mehr nach dem fragen können, der das alles gemacht hat und der für all das, d.h. die Struktur und die Inhalte verantwortlich ist. Anders nämlich als vormals die Staaten und ihre Regierungen, von denen ja Kant noch optimistisch annahm, daß sie dem Rat der Philosophen zuhören und ihn berücksichtigen würden,159 hat die durch die Globalisierungsprozesse entstandene Weltgesellschaft keine Möglichkeit mehr, sich selbst zu kontrollieren oder zu regieren, und auf eventuelle Ratschläge von Philosophen wird schon gar nicht mehr gehört. Diese Weltgesellschaft der Globalisierung ist eine Gesellschaft ohne Zentrum und ohne Gipfel. Klassische Staaten waren hierarchisch geordnet, vor der bürgerlichen Revolution offensichtlich und auch noch nach der Revolution durch die Repräsentationsfiktion der Demokratien nur wenig versteckter. Die Weltgesellschaft dagegen ist netzförmig organisiert. Hierarchische Ordnungen haben ein Problem: wird das Zentrum zerstört, ist der Gesamtzusammenhang destruiert. Das ist ja auch der Grund, warum das Internet netzförmig organisiert ist. Sein Vorläufer in Zeiten des Kalten Krieges war ein militärisches Informationssystem, das nicht der Gefahr ausgesetzt sein sollte, im Fall eines befürchteten Militärschlags des sogenannten Feindes auf einmal als ganzes zerstört zu werden. Jeder andere Knoten in dem Netz sollte die Funktion eines ausgefallenen Knotens übernehmen können. Wegen der Vernetzung von Virtualitäten als Charakteristikum der Globalisierung breiten sich Irritationen des Systems unglaublich schnell aus, siehe die Computerviren oder die andauernde Finanzkrise, aber ebenso die Immunisierungen
156 157 158 159
J.-L. Nancy: Singulär plural sein, p.62. l. c., p.65. l. c., p.76. So Kant in seinem »Geheimen Artikel« als Zusatz zu seiner Schrift »Zum Ewigen Frieden«, I. Kant: Gesammelte Schriften VIII, p. 368ff.
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und Einkapselungen der Irritationen, also Virensuchprogramme und Bankenrettungen. Mit anderen Worten, Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten nehmen in einem solchen System gleichzeitig zu und steigern damit die Komplexität des Systems. 160 Der Leviathan ist tot,161 die Menschen sind frei; zugleich aber sind sie im System allseitiger Vernetzung tausendfach unfrei und kontrolliert: durch Kundenkarten in ihren Wunschprofilen, durch Mobiltelefone in ihrer ständigen Erreichbarkeit an jeglichem Ort, durch Peilungen via Mobiltelefonie und GPS jederzeit und jederorts lokalisierbar, durch Online-Durchsuchungen der Festplatten als politische Subjekte erkennbar, wie es die Geheimdienste in kaum vorstellbarem Umfang praktizieren, angeblich um potentielle Terroristen zu jagen, tatsächlich auch wegen einer Wirtschaftsspionage, die den Ausforschungen individueller Nutzerprofile auf erweiterter Ebene entspricht,162 durch Überwachungskameras und sogenannte Nacktscanner,163 die Sicherheit suggerieren sollen, als genetischer Fingerabdruck usw. usf., weil ja jeder jedem mißtrauen muß und keiner etwas zu verbergen hat, so die öffentlich geäußerte Ideologie des Chefs der NSA, der deswegen sich und seinem Geheimdienst das Ziel gesetzt hat, alles über alle zu wissen zu wollen. Eine Philosophie, die sich dazu befähigen möchte, den tiefgreifenden Wandel, in dem wir uns befinden, zu begreifen, muß meiner Ansicht nach, und jetzt kann ich nur noch abgekürzt und thetisch werden: erstens den Gedanken des autonomen, durch Handeln die Welt bestimmenden und damit für sie insgesamt verantwortlichen Subjekts verabschieden und mehr auf das achten, was in den Zwischenräumen geschieht. Das heißt sie muß den Netzgedanken für sich selbst adaptieren und Wirksphären, d.h. zunächst einmal Fluchträume im Netz erkunden, statt sie in der Freiheit des transzendentalen Subjekts zu suchen. Das schließt Normativität nicht grundsätzlich aus, wohl aber eine grundsätzliche Normativität. Sie ermuntert nicht zur Großen Verweigerung, sondern zum jeweiligen Ergreifen der auch normativ besseren Möglichkeiten. Zweitens sollte die Philosophie sich von einer die Menschheit umspannenden universalistischen Kultur verabschieden, wie sie die Amerikaner so gerne hätten bzw. durchsetzen möchten.164 Eine Kultur, wie flexibel sie auch immer sein mag und offen und 160 Dazu prominent die Studie von N. Luhmann: Globalisation ou société du monde: Comment concevoir la société moderne. In: Regards sur la complexité sociale et l’ordre légal à la fin du XXe siècle, hrsg. v. D. Kalegeropoulos. Bruxelles1997, p. 7-31. 161 Hatte Dietrich Schotte die Entmachtung Gottes durch den Leviathan festgestellt (D. Schotte: Die Entmachtung Gottes durch den Leviathan. Stuttgart 2013), so muß man für heute ergänzend von der Entmachtung des Leviathans durch die Netze sprechen. 162 Eindrucksvoll dazu G. Brücher: Postmoderner Terrorismus. Zur Neubegründung von Menschenrechten aus systemtheoretischer Perspektive. Opladen 2004. 163 Zum Zweck der Erhöhung der Akzeptabilität in der Öffentlichkeit wurden die Geräte umbenannt in »Körperscanner«, was aber nichts daran ändert, daß der gescannte Körper nackt dargestellt wird. 164 Zu den der Globalisierung entgegenlaufenden kulturellen Prozessen der Regionalisierung s. R. Robertson: Globalisation or Glocalisation. In: The Journal of International Communication 1 (1994), p. 23-52; H. Lübbe: Netzverdichtung. In: Zeitschrift für philosophische
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integrationsbereit für Einflüsse des Fremden, ist als Kultur doch auf Differenz hin angelegt und gewinnt aus dieser spezifischen Differenz der Eigenheit ihren Verpflichtungscharakter. Unter Deutschen aufwachsend, kann ein Kind nicht frei wählen, welche Sprache es als Muttersprache lernen möchte. Ähnliches gilt für moralische Normen als eine weitere Komponente einer Kultur, auch für ästhetische Wertschätzungen und selbst für kulinarische Vorlieben. Eine Weltkultur, die nicht auf Differenzen aufgebaut ist, d.h. auch, die nicht die Fremden in einem wörtlichen Sinne diskriminiert, verpflichtet nicht mehr wirklich, sondern relativiert alles bis auf ein Minimum, was sowohl im Ästhetischen als auch im Ethischen auf einen enormen Niveauverlust auf dem Level des kleinsten gemeinsamen Nenners hinausläuft. Wenn ich alle Menschen als meine Brüder behandeln soll, dann kann das umgekehrt nur heißen, daß ich meine Brüder wie jeden Xbeliebigen behandele und mich ihnen gegenüber nicht sonderlich verpflichtet fühle. Der Universalismus ist in dieser Hinsicht ein Humanitätsverlust. Gegenüber der hehren Verantwortung für das Wohl der Menschheit verlischt das, was Verantwortung eigentlich meint, die Antwort auf die Frage und Not, die uns mit dem Anderen in einen gemeinsamen Text verbindet.165 Daß Kommunikation heute vorrangig im Bild des Netzes gedacht werden muß, ist eine frühzeitig von Michel Serres vertretene These. Dabei geht er in seiner Frühzeit von einem relativ strengen, an der Mathematik orientierten Strukturbegriff aus. Dieser Ausgangspunkt läßt ihn alle Theorien der Ein-Sinnigkeit (Positivismus, Hermeneutik, Psychoanalyse, aber auch die Dialektik) als der pluralen Komplexität von Kommunikation unangemessen verabschieden, weil sie mit ihrer Linearität (selbst die dialektische Bewegung im Durchgang durch die Negation ist linear) ein viel zu einfaches Modell der Darstellung des Verhältnisses des Wissens zur Welt verwenden. Im Netz gibt es von einem Punkt zu einem anderen stets eine Vielfalt von Wegen. Zugleich gibt es für jeden Weg eine Vielfalt von Darstellungsweisen, was man sowohl in den Zenonischen Paradoxien als auch in der Mathematik der Fraktale zeigen kann.166 Im Netz gibt es aber auch nicht den einen privilegierten Punkt, der als Ursprung ausgezeichnet und gesucht werden könnte. Nicht mehr Sinn-Ursprünge können demnach Gegenstand wissenschaftshistorischer Forschungen sein, sondern lediglich Sinn-Verschiebungen. Für Serres ist die strukturalistische Methode die Befreiung von der Vorherrschaft der Sinn-Suche und von dem ein-sinnigen Subjekt-
Forschung 50 (1996), p. 133-150; zu den Bedenken gegen eine kulturelle Homogenisierung auf Weltebene s. auch K. Röttgers: Der Verlust des Fremden. In: Transkulturelle Wertekonflikte, hrsg. v. K. Röttgers u. P. Koslowski. Heidelberg 2002, p. 1-23. 165 Zu Verantwortung in diesem Sinne K. Röttgers: Verantwortung nach der Moderne in sozialphilosophischer Perspektive. In: Unternehmensverantwortung aus kulturalistischer Sicht, hrsg. v. Th. Beschorner et al. Marburg 2007, p. 17-31, sowie ders.: Verantwortung für Innovationen. In: Verantwortung als marktwirtschaftliches Prinzip, hrsg. v. L. Heidbrink u. A. Hirsch. Frankfurt a. M. 2008, p. 433-455. 166 M. Serres: Hermes V. Berlin 1968, p. 9ff.
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Objekt-Schema. Ordnungen des Rationalen gibt es viele, aber sie sind vor dem Hintergrund der chaotischen Welt eher seltene Ausnahmen. Der Normalfall ist Unordnung, das Rationale und die Ordnung sind stets unwahrscheinliche Ausnahmen. Gemenge, Gemische, das Rauschen, das Gewimmel, die Turbulenzen von der Art der Meereswellen und der Wolken sind die Normalfälle, angesichts derer die methodischen und klassifikatorischen Wissensbemühungen hilflos scheitern. Über viele empirische Sachverhalte meinen wir ein sicheres Wissen zu haben, und der Kosmos der Fixsterne suggeriert eine ewige Ordnung des Weltganzen. Zwischen diesen beiden Ordnungen aber entfaltet sich die enorme Welt des Ungeordneten und Ungeorteten der Sternschnuppen, der Wolken, des Wetters usw.: Zwischen den einsamen Inseln sicheren Wissens erstrecken sich die ungeheuren Weiten der Unordnung und des Nichtwissens, in denen wir uns gleichwohl zurechtfinden, und zwar durch einen Wissenstyp, den Serres »science mineure« nennt.167 Die traditionelle Präferenz für eine einheitliche und systematische Ordnung des Wissens und der gewußten Dinge, entspringt, so Serres, einem politischen Machtwillen. Die »science mineure« entzieht sich dem, sie ist nicht auf ein System fixiert, sondern an einem Problem orientiert. Mit der Fokussierung auf Kommunikation ist die geschichtsphilosophische These verbunden, daß die Gesellschaften heute seit ca. 1960 im Übergang von der Gesellschaftsform der Produktion, deren Leitfigur Prometheus war, zur Gesellschaftsform des Wissens und der Information sind, deren Leitfigur der Götterbote Hermes ist, der Übersetzer und Überbringer von Botschaften, Schutzgott der Kaufleute und Diebe. »Hermès, dieu des intermédiaires et des traducteurs, les Anges porteurs de messages et leur nombre incalculable prennent la place de Prométhée, vieux héros solitaire du feu.«168 Damit wird auch das sogenannte Erkenntnissubjekt dezentriert: es ist nicht mehr Urheber, Urstifter oder Produzent von Ideen und Theorien, sondern lediglich ihr austauschbarer Durchgangspunkt. Die Personalpronomen benennen Positionen im Kommunikationsnetz: der Redende ist Selbst (»Ich«), der Angeredete der Andere (»Du«), und außerdem gibt es den eingeschlossenen oder ausgeschlossenen Dritten. Daher ist das wahre transzendentale Subjekt aller Kommunikationsprozesse ein Wir, oder besser noch: ein Zwischen-uns. Das Ich ist ein kontingentes und flüchtiges Ereignis einer Zurechnung. Das Denken der Kommunikation arbeitet nicht mehr mit dem Modell der Referenz, sondern mit dem der Interferenz; sein Subjekt ist nicht mehr der wissensmächtige Bezugspunkt für Einkreisungen und Abgrenzungen, sondern es wird mobiles Subjekt in einem Raum von Übertragungen. Der Vorteil des Netzmodells liegt auf der Hand: Eine Argumentation, die mehrere Eingänge oder Zugänge zuläßt, die vielfältigere Verknüpfungen kennt und die so etwas wie einen Wechsel und eine Vervielfältigung der Darstellungsdimensionen unterwegs vorsieht, ist insgesamt flexibler, oder man möchte sogar sagen: philosophischer: »[…] diese 167 M. Serres: Hermes IV. Berlin 1968, p. 7ff. 168 M. Serres: Hominiscence, p. 32f.
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Sprache mit mehreren Eingängen nenne ich philosophisch.«169 Wir müssen auch im Raum der Theorie die Vorstellung eines absoluten Raumes, den wir in der Physik nach Newton aufgegeben hatten, loswerden, eines absoluten Raumes, in dem wir einen festen Ort hätten und wo wir Bewegung als zeitliche Ortsveränderung konfigurieren können; wir müssen nun diese Vorstellung ersetzen durch die Vorstellung eines an der Bewegung selbst haftenden Raumes, des Raums der Nomaden, die nicht mal hier mal dort sind, jeweils definiert durch ein abstraktes Koordinatensystem, sondern die immer »hier« sind und dadurch die Strukturen ihres Raumes, in dem sie weiterziehen, fortwährend verändern. Der Sammlung seiner Aufsätze in fünf Bänden hat Serres den Namen seines Schutzgottes »Hermes« gegeben; sie behandeln die Kommunikation, die Interferenz, die Distribution, die Übersetzung und den Übergang. Die Struktur von Kommunikation – das ist eine der Grundthesen von Serres – ist das Netz, in dem es von einem Knoten zu einem anderen wie bei den Synapsen im Gehirn immer eine Vielfalt von möglichen Wegen gibt. Der echte, der restriktive Dialog ist gar nicht möglich, denn jeder Kanal, der Zwei miteinander verbindet, ist zugleich der Ort des Dritten, der einen Umweg oder einen Abweg einrichtet, des Parasiten. Wissen auf den Informations-Autobahnen ist nicht mehr zentralistisch oder zentralisierbar. Die Netzform wäre aber auch, wie zuvor schon im Telefonnetz nach Ersetzung der Handvermittlung, ohnehin unaufhaltsam gewesen. Das ist, allgemein gesprochen, deswegen so und problemlos so, weil Information, anders als die Ökonomie produzierter Güter, nicht auf Knappheit basiert. In einem bemerkenswerten Text wendet Serres auch denjenigen Wandlungen zu, die die Neuen Medien hervorgebracht haben.170 Die Alte Welt war bestimmt von einem Raum der Konzentration oder der Versammlung bestimmt. Man sammelte Menschen in Städten, man sammelte Produktionsmittel in Unternehmen, Studenten und Professoren in Universitäten, Wissen in Büchern, Bücher in Bibliotheken. Akkumulation und Kapitalisierung des Akkumulierten waren die Leitideen. Das begann vielleicht mit der Vorratsbildung in den Kornkammern der antiken Reiche. Mit dem Computer bereits ist eine neue Stufe dieser Entwicklung eingetreten. »Wozu sollen wir noch Bücher, Zeichen, Güter, Studenten, Häuser oder berufliche Qualifikationen zusammentragen? Der Computer hat es längst getan. Das allgemeine Problem des Speicherns, an dessen Lösung wir unermüdlich arbeiten, seit es uns gibt, hat nicht nur seine reale, sondern auch seine virtuelle Lösung gefunden: Auf jede Frage dieser Art gibt es nun zahlreiche mögliche Antworten, je nach Voraussetzungen und einschränkenden Bedingungen.«
169 M. Serres: Der Parasit, p. 15. 170 M. Serres: Der Mensch ohne Fähigkeiten.
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Und es ist das Netz, das die Konzentration überflüssig macht. Klassische politische und epistemische Systeme waren von einem Zentrum, einer Metropole aus organisiert, ihre Struktur war die Hierarchie, daher waren sie störanfällig auf genau der Ebene einer schwerfälligen Kommunikationsstruktur. Nun aber brauchen wir keine Konzentration mehr, sie wird ersetzt durch schnelle Zugriffe und Übertragungen. So speichern wir nicht mehr Dinge, auch nicht mehr sehr viele Dateien auf unserem Computer, sondern Relationen, z.B. durch das Einrichten eines »Lesezeichens« unseres Internetbrowsers auf eine Ressource im Netz, die wir nicht als ganze herunterladen müssen, um mit ihr Arbeiten zu können. Das virtuelle Gedächtnis braucht keinen bestimmten Ort mehr, unsere Reichtümer brauchen keinen Tresor mehr und die Menschen brauchen keine feste Wohnadresse mehr, um ansprechbar zu sein. Was tun die Netze? Sie ersetzen die Konzentration von Wissen, Schätzen und Menschen durch Distribution. »Wozu noch Hörsäle und Unterrichtsräume, Versammlungen und Gespräche an einem bestimmten Ort, ja wozu selbst ein fester Wohnsitz, wenn Vorlesungen und Gespräche über beliebige Entfernungen stattfinden können?« Früher war Adresse die Beschreibung eines festen Wohnorts eines Individuums; IP-Adressen werden dynamisch vergeben, anders als der herkömmliche Festnetzanschluß, der früher sogar lokal bezogen war, so daß man bei jedem Umzug, selbst innerhalb einer Stadt eine andere Telefonnummer bekam, setzt das Mobiltelefon keinen bestimmten Anwesenheitsort voraus. Alle Punkte der Welt sind im Prinzip gleichwertig, überall ist sein User erreichbar, seine Adresse bezeichnet nicht mehr ein Zuhause, sondern seine Ansprechbarkeit. In gewissem Sinne ist der User gottähnlich geworden, weil er allgegenwärtig ist oder sein kann. Es spielt überhaupt keine Rolle, wo dieser Mensch gerade ist, und wo sein Mobiltelefon ist, die Adresse seiner Allgegenwart ist seine Telefonnummer. Diese Ubiquität steht im Gegensatz zu einer festen Lokalisierung, dessen Extrem das Grab ist: »Hier ruht« – nämlich auf immer – Herr oder Frau XY. Das organisch im Hirn lokalisierte und demnach individualisierte Gedächtnis, das zwar immer schon von einem kollektiven kulturellen Gedächtnis begleitet war, das jedoch individuell angeeignet und aktualisiert werden mußte, selbst wenn es Dokumente und Archive gab, wird nun endgültig kollektiv und gewinnt eine eigene Objektivität außerhalb von Hirnschalen. Es wird zu einem Gedächtnis der Menschheit, weil es ubiquitär ist und weder sein Ort noch seine Zeit irgendeine Rolle noch spielt. Ursprünglich mußte man die klassischen Texte auswendig lernen, wenn man nicht in der außerordentlichen Lage war, sie abzuschreiben oder als Handschrift vorliegen zu haben. Seit der Erfindung des Buchdrucks konnte man die Bücher in seiner Bibliothek oder in einer zugänglichen Bibliothek stehen haben, und man mußte sich nicht mehr deren ganzen Inhalt merken, sondern nur noch, wo im Regal in welcher Bibliothek sie standen. Nun kann man seine Zeit besser verwenden, als auswendig zu lernen, man konnte z.B. Experimente machen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen, die noch nicht in den Büchern stehen. Dieser Gedächtnis-Verlust ist objektiv, Serres
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schreibt: »Wie senile Greise wissen die Kinder von heute schon am nächsten Tag nicht mehr, was sie gestern im Fernsehen gesehen haben.« Ich möchte mit einem gewissen Zynismus hinzufügen, und das ist auch gut so, diesen Blödsinn zu memorieren, der ihnen da täglich serviert wird, wäre eine unermeßliche Vergeudung. Aber sie brauchen es auch gar nicht, weil es ja wiederholt wird, im Internet über Podcasts abrufbar usw. Das Internet ist das Remedium aller Vergeßlichkeit. Serres: »Frei von jedem Zitat, befreit von der erdrückenden Verpflichtung zur Fußnote, bleibt uns nichts anderes übrig, als intelligent zu werden.« Das ist allerdings optimistischer als unsere Erfahrungen als berechtigte Hoffnungen nahelegen. Kehren wir zurück zur Kommunikationstheorie von Serres. Anders als die von Krämer sogenannte erotische oder verständigende Kommunikation ist das Kommunikationsmodell von Serres eines der Übermittlung. Jede solche Übermittlung kennt den Dritten, gestaltet in der Figur von Hermes, dem Götterboten, als demjenigen, der sich etwas abzuzweigen weiß. Diese Figur ist aber bei Serres nicht mehr auf einen Halbgott fixiert, sondern in seiner Theorie ist die Position dieses Dritten nicht festgelegt, sondern flexibilisiert: Jeder kann Parasit einer Beziehung von zwei anderen sein; übrigens ist »parasite« im Französischen auch der Begriff für das Rauschen im Kanal in informationstheoretischer Hinsicht. Es gelingt Serres in dem mit Anspielungen auf Mythologien und Fabeln reichen Werk »Der Parasit« mit der Figur des parasitären Dritten, alle wichtigen Themen der abendländischen Sozial- und politischen Philosophie aufzuschlüsseln. Es ist, so Serres, nämlich einfach nicht wahr, daß der Mensch ein von Natur aus einsames Wesen ist, das nichts Erstrebenswerteres kennt, als seinesgleichen nach dem Leben zu trachten und daher mittels Gesellschaftsvertrag durch einen übermächtigen Leviathan im Zaum gehalten werden müßte. Wenn er egoistisch motiviert ist, will der Mensch den anderen Menschen nicht töten, sondern er will ihn ausnutzen. Aber nicht die direkte Ausnutzung des Einen durch den Anderen, also die Dyade, gibt ein Gesellschaftsmodell ab; denn dann wäre sofort die Frage, warum nicht umgekehrt, sondern der Dritte bezieht sich auf eine Beziehung gelingender Zweisamkeit. Wo immer Waren transportiert, Informationen kommuniziert werden usw., entsteht im Zwischen der Relation ein ungeschützter Raum, in dem der Parasit sich seinen Teil abzweigt. Es gibt keinen Informationskanal und keinen Transportweg, der vor ihm sicher wäre: jede Sicherungsbemühung setzt ihrerseits einen Parasiten ein, der sich für seine Bemühung seinen Teil abzweigt, sei es die Mafia oder die Polizei, sei es die staatlich finanzierte, sei es die sich durch Bestechungen selbst alimentierende. Aber, das ist nun der entscheidende Fortschritt in der Theorie des Dritten bei Serres, es gibt keinen universalisierten Dritten. Die Position des Dritten wechselt vielmehr, und zwar weil jeder der Ausnutzer und nicht der Ausgenutzte sein möchte und man sich in einem polyzentrischen Netz der Kommunikationen von jeder Position aus auf die Beziehungen aller anderen beziehen kann. Solche »Störung« der allerdings bloß imaginierbaren »direkten« Kommunikation (Modell »Pfingsten« bei Serres) gehört zum System. Sie ist systemkonstitutiv. »Es läuft
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immer nur, weil es schlecht läuft.«171 Und: »Die Abweichung gehört zur Sache selbst, und vielleicht bringt sie diese erst hervor.«172 Wenn es Soziales gibt – und es ist undenkbar, daß es es nicht gäbe – dann ist das Zwischen vorrangig gegenüber der Subjektkonstitution. Paradox formuliert: Der Dritte ist eher als der Erste (Selbst) und der Zweite (Anderer). Sinn macht diese Behauptung natürlich nur in einer relationistischen, funktionalistischen Interpretation, die auf eine metaphysische Zuweisung auf bestimmte Personen und Rollen verzichtet. »Der Parasit ist das Sein der Relation. Er ist für sie notwendig, unvermeidlich, wegen der Umkehrung der Kraft, die ihn auszuschließen trachtet.«173 So hat Serres selbst in der Folge die Figur des Dritten auch gedeutet als Engel174 und allgemeiner als Hermes.175 Nunmehr können an der Mittlerfunktion des Dritten zwei Aspekte unterschieden werden: die Vermittlung und die Übermittlung, wobei an der Übermittlung (einer Frohen Botschaft) noch einmal der Kontrast zur Unmittelbarkeit (der Inkarnation des Wortes) deutlich wird. Die engelhafte Funktion des Dritten ist die reine Übermittlung, d.h. ohne irgendeine Abzweigung. Dieses alles sind reine Funktionsbeschreibungen. In der Realität ist der Engel wohl nicht ohne den Parasiten zu haben: ob das in die Ehe zugelassene Kind der engelhafte Überbringer einer Botschaft und Erfahrung einer Form der Liebe sein wird oder ein kleiner Ausnutzer, wird sich nicht a priori entscheiden lassen. Der Dritte ist sozialkonstitutiv, aber zugleich ambivalent. Die allseitige Vernetzung ist auch ein Aspekt der Globalisierung, die in dem bekannten Ausmaß seit 1970 ohne die weltweite Vernetzung gar nicht möglich gewesen wäre. In ihr sind die unterschiedlichsten Aspekte des ökonomischen und zumeist auch des sozialen und kulturellen Lebens miteinander verbunden. Dadurch ergeben sich vielfältige Austauschprozesse, Synenergien, Informationsflüsse, Kooperationen unterschiedlichster – und das ist für die Vernetzung entscheidend – stets begrenzter Natur. So steht jede Aktion stets in einer Vielzahl von Beziehungen. Es scheint also so, als wäre die Globalisierung die endgültige Realisierungschance der bürgerlichen Revolution. Indem alle Unterschiede der räumlichen Distanz schwinden, besteht endgültig die Möglichkeit, daß alle Menschen des Globus solidarisch »Nächste« füreinander sind oder eine Gemeinschaft aus Brüdern und Schwestern bilden. Daß eine fertig montierte Brücke von Duisburg nach São Paulo gebracht wird oder ein Hüttenwerk nach China, werden absolut seltene und sensationelle Ausnahmefälle werden; daß aber Zehntausende von Chips von der Größe von wenigen Zentimetern und wenigen Gramm Gewicht von Taiwan nach London gelangen, wird der Regelfall; und daß Brasilianer und Finnen sich nach wenigen Knopfdrücken in einem gemeinsamen Tratsch-Raum (»chatroom«) oder Blog finden, ist bereits Alltag. Eine der großen 171 172 173 174 175
M. Serres: Der Parasit, p. 108. l. c., p. 28. l. c., p. 120. M. Serres: Die Legende der Engel. M. Serres: Hermes I-V.
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Forderungen der bürgerlichen Revolution war die freie Verbreitung von Informationen, Meinungen etc. Das war zunächst ein Kampf gegen die staatliche Zensur, begründete aber subversiv eine Gemeinschaft der Geister, die keine Staatsgrenzen mehr anerkannte. In dieser Materie zeigte sich übrigens schon sehr frühzeitig ein Grundwiderspruch der bürgerlichen Emanzipationsbewegung, der für ca. 200 Jahre nur notdürftig überbrückt wurde, nun aber in den Zeiten des Internets in vollem Umfang wieder aufbricht. Es ist dieses der Widerspruch zwischen universalem Vernunftanspruch und ökonomischen Eigentumsrechten. Jeder vernünftige Gedanke ist wegen der Allgemeinheit der Vernunft sogleich Eigentum der gesamten Menschheit; es gibt kein Privateigentum an vernünftigen Gedanken, so daß man einen solchen Gedanken »haben«, verkaufen und nach Verkauf dann nicht mehr »haben« könnte. Gleichwohl bestand auf Seiten der bürgerlichen Intellektuellen das ökonomische Interesse, durch das Denken (vernünftiger Gedanken) sich so ausreichende Einkünfte sichern zu können, daß man davon leben konnte; als erster hat in Deutschland G. E. Lessing diese Existenzform des freien Schriftstellers eine Zeitlang gelebt. Der Konflikt bricht auf in der vernunftrechtlich geprüften Frage der Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks. In der Postmoderne wird es keine bürgerlichen Intellektuellen des Typs Lessing mehr geben können. Wie Lessing selbst in anderen Zeiten seines Lebens werden sie Bibliothekar oder Privatsekretär sein: Angestellte oder Beamte. Und selbst als »freie« Schriftsteller werden sie Kleinstunternehmer sein und verkäuflich schreiben, solange noch gelesen wird. Im Internet werden wir alles, was je geschrieben wurde, lesen können, solange wir noch lesen wollen; denn Lesen hat der Grundbedeutung nach etwas mit Sammeln und Auflesen zu tun.176 Wenn aber nichts mehr selten, alles permanent verfügbar ist wie der Sand am Strand, dann macht es keinen besonderen Sinn, dieses ubiquitär Zuhandene aufzulesen.177 Hier hat unzweifelhaft der Globalitätsanspruch der Vernunft gesiegt. Alles kann gewußt werden, es gibt kein seltenes, kein privilegiertes Wissen mehr, alles ist mit allem vernetzt, und alles Wissen ist permanent verfügbar. Er-Fahrung wird überflüssig, weil das neue Wissen nicht mehr fern ist und durch ein (Er-)Fahren erschlossen werden müßte. Kurzzeitig haben kulturkritische Nörgler vermutet, solche potentielle Informiertheit sei Überinformation und führe zur Orientierungslosigkeit. Daß das aber nicht zwangsläufig der Fall ist, zeigt die gegenwärtige Entwicklung, durch die mit dem exponentiellen Anwachsen der Informationsmengen ebenfalls die Strukturierungsmittel verfeinert werden. Neben die Suchmaschinen treten spezialisierte Suchmaschinen und Meta-Suchmaschinen, neben diese Netze von Datenbanken und Datenbanksystemen sowie Suchmaschinen für diese usw. Daneben gibt es die ebenfalls immer
176 M. Heidegger: Logos (Heraklit Fragment 50). In: ders.: Gesamtausg. VII, Frankfurt a. M. 2000, p. 211-234. 177 Zum Sammeln s. M. Sommer: Sammeln. Ein philosophischer Versuch. Frankfurt a. M. 1999.
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globaler umspannenden Netze von Rundfunk- und Fernsehverbindungen über Satelliten, so daß viele Millionen von Zuschauern »live« »dabei« sein können oder falls opportun wegen differierender Tageszeiten durch programmierbare Recorder auch eine persönliche Zeitverzögerung zu dem Ereignis eingebaut werden kann. Wegen der starren Datumsgrenze sind jedoch auch Ereignisse des 9. Dezember bereits andernorts am 8. Dezember »live« zu sehen, d.h. bevor der Tag noch begonnen hat, an dem sie stattfinden. Internet, Fernseh- und Telefonkommunikation werden so zusammengewachsen sein, daß man sie nicht mehr einfach gegeneinander abzugrenzen weiß (iPad und ähnliche Produkte). So erfüllen sich die kühnsten Hoffnungen der bürgerlichen Revolution in der technologischen Globalisierung der Kommunikation, allerdings – wie immer, wenn sich Hoffnungen unverhofft erfüllen – anders als ursprünglich gedacht. Damals hatte man fest an das autonome Subjekt geglaubt; danach hätte dann die Globalisierung die Struktur haben müssen gemäß der, wie Fichte sagte, das Ich das Nicht-Ich »setzt«. Solche Kategorien aber sind offensichtlich untauglich, die globalisierte Kommunikation zu beschreiben. Sollen wir nun nur deswegen sagen, dieses sei nicht die Vernunft, sondern die schiere Unvernunft, nur weil die Kommunikationsprozesse nicht mehr in der Sphäre freier Subjektivität liegen? Warum sollten wir uns verbieten, von einer (anderen) Vernunft der Postmoderne zu sprechen?178 Ältere unter uns argwöhnen, daß die globale Netzstruktur des sich krebsartig vermehrenden Wissens zu einer neuen Orientierungslosigkeit führen müsse, Habermas sprach von der neuen Unübersichtlichkeit.179 Ich glaube, daß dieser Argwohn schon immer ein Problem der Alten war, die nicht mehr mitkommen mit den Entwicklungen, in denen die Jungen stehen und die sie aktiv mitgestalten. Jene fragen: Ist das nicht ein Labyrinth, in dem man sich nur verirren kann? Aber die Behauptung, man verirre sich im Labyrinth, die das Abendland seit Platon durchzieht, ist ein Mißverständnis in der Kulturbegegnung von Griechen und Minoern. In den antiken Labyrinthen konnte man sich gar nicht verirren, wie oben schon gesagt, weil es Einweglabyrinthe waren, man ging hinein und fand auf demselben Weg auch wieder heraus. Allerdings, wenn man (griechisch) darauf fixiert ist, methodisch linear von einem Ursprung (arché) zu einem Ziel (telos) zu kommen, dann muß man die im Labyrinth fälligen Bewegungen einer nomadischen Vernunft verwirrend finden. Diese Bewegungen werden traditionelle und hierarchische Denkmuster erodieren und durch Netzwerke und durch rhizomatische, an-archische, labyrinthische, transversale oder nomadologische Vernunft-Konzepte ersetzen; sie müssen die Vorstellung nahelegen, daß wir uns orientierend immer im Zentrum eines Universums des Wissens stehen: der Archivar trägt sozusagen das Archiv immer mit sich, wo immer er ist, ist das Archiv mit seiner labyrinthischen Struktur. Was schon Whitehead als die »fallacy of 178 W. Welsch: Vernunft. 179 J. Habermas: Die Neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt a. M. 1986.
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simple location« bezeichnete, die Illusion, daß ein Beobachter sich selbst in einer Ordnung eindeutig positionieren könnte,180 wird hier nicht länger als ein bedauerlicher Mangel begriffen, sondern nomadische Orientierung in labyrinthischen Wissensarchiven besteht im Legen von Archivierungsspuren, diese können nicht zielgerichtet sein, sondern nur erprobend von der Art, die Serres »Randonnée«181 genannt hat. Das Labyrinth hat Gänge, in denen man sich bewegen kann, und Kreuzungen, an denen man sich entscheiden muß. Jede Entscheidung eröffnet eine neue Perspektive, d.h. einen neuen Durchblick, jede Bewegung ist eine neue Erfahrung. Ob man dieselbe Entscheidung zweimal treffen, dieselbe Erfahrung zweimal machen kann, ist eine rein rhetorische Frage, sie setzte denjenigen Überblick voraus, durch den wir uns wissend selbst wissen und lokalisieren könnten. Und so besteht die Wissensbewegung in nichts anderem als stetigem Wiedererkennen verbunden mit stetigem Erstaunen über Neues.
2.6 ANSÄTZE
DER
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Wie einige andere Teilphilosophien, z.B. Sprachphilosophie, aber auch Sozialphilosophie, steht die Medienphilosophie vor der Tatsache, daß sie einerseits Philosophie eines Sektors moderner und postmoderner Gesellschaften sein muß, daß sie aber andererseits eine eigene neue Fragerichtung des Philosophierens darstellt. Sie könnte etwa grob so umrissen werden: Inwieweit ist das, was der Mensch ist, bestimmt durch das, in welchen Medien er sich bewegt und durch welche Medien sein Menschsein bestimmt ist oder in welchen Medien er sich, seine Welt und seinen Anderen begegnet. Zwar sind Selbst, Anderer und Dritter als soziale Dimension eines kommunikativen Textes bestimmt, aber diese Relationalität ist nicht leer, sondern z.B. als Text materiell gegeben. Daher hat man auch von der »Materialität der Kommunikation«182 gesprochen. Vor diesem neuen Hintergrundbild der Medialität erscheinen klassische Themen der Philosophie neu interpretierbar, wie beispielsweise Michel Serres in seinen philosophiehistorischen Arbeiten etwa zu Leibniz, aber auch zu Descartes gezeigt hat. Frank Hartmann, ein prominenter Vertreter der neuen Medienphilosophie, sagt dazu: »Medienphilosophie ist also immer auch eine philosophische Spurensicherung liegengebliebener Aufgaben.«183 Darum kann es aber hier nicht gehen. Vor allem können wir nicht ausgiebigen Gebrauch von der an sich richtigen These machen,
180 A. N. Whitehead: Science and the Modern World. New York 1928, p. 50 ff.. 181 M. Serres: Hermes V: Die Nordwest-Passage. Berlin 1994, p. 7-34. 182 Materialität der Kommunikation, hrsg. v. H. U. Gumbrecht u. K. L. Pfeiffer. Frankfurt a. M.1988. 183 F. Hartmann: Der rosarote Panther lebt. In: Medienphilosophie, hrsg. v. St. Münker, A. Roesler u. M. Sandbothe. Frankfurt a. M. 2003, p. 135-149, hier p. 146.
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daß das vielleicht wichtigste Medium nach wie vor die Sprache ist, sondern wir werden den Medienbegriff so eingrenzen, daß er mit der Schrift und den Bildern beginnt. Aber auch dort beginnt für die klassische Philosophie das erste Problem, wie es zuerst Platon in seinem Dialog »Phaidros« vorgetragen hat. Platon sieht die Schrift vor allem kritisch, weil sie an die Oberfläche, an den Schein, an Verführung und Lüge gekoppelt ist und den Blick auf das Wesentliche verstellt. Vor allem kritisiert er, daß die Fähigkeiten des menschlichen Gedächtnisses zwangsläufig nachlassen müßten, wenn das, was das Wesentliche ist, die Einsicht in die Welt der Ideen und der Wahrheit, einem so Äußerlichen wie der Schrift anvertraut würde. Pikanterweise hat Platon diese Schriftkritik niedergeschrieben, in dem Dialog ist es zwar der Schriftunkundige Sokrates, der dieses vorträgt, aber durfte sein Schüler dieses einfach so aufschreiben, ohne sich in einen Widerspruch zu verwickeln. Und überdies: Wüßten wir von der dem Sokrates zugeschriebenen Schriftkritik etwas, wenn Platon es nicht aufgeschrieben hätte? Wissen wir etwa etwas von der möglichen Schriftkritik aller derjenigen, die des Schreibens und Lesens unkundig waren? Der Analphabet Sokrates wußte, so könnte man sagen, gar nicht, wovon er redete in seiner Schriftkritik – wenn er es war –, und sein Schüler wird, wenn er dieses einfach aufschreibt, unglaubwürdig. Das gleiche Problem taucht, nebenbei gesagt, auch bereits bei dem Medium der Sprache auf. Wer wortgewaltig die Sprache als solche kritisiert, ist unglaubwürdig, wer aber konsequent ist und schweigt, wird nicht gehört. Medienkritik kann immer nur konkret, nicht aber pauschal geübt werden. Wenn Kant in seiner »Kritik der Urteilskraft« eine Bildkritik übt und sagt, daß Regierungen es gerne erlaubt haben, die Religion mit »Bildern und kindischem Apparat« zu versehen,184 weil sie dadurch vom Denken abgelenkt würden, und er stattdessen die jüdische Religion und ihr Bilderverbot lobt, so ist dieses allerdings eine spezifische und keine pauschale Kritik. Man kann nicht nur zeigen, wie Kant in seiner Philosophie ausgiebigen Gebrauch von verbalen Bildern macht, sondern man kann an einem Kapitel der »Kritik der reinen Vernunft«, dem sogenannten SchematismusKapitel zeigen, wie die Medialität von Bildern für Kant ein wichtiges systematisches Problem lösen soll. Steffen Dietzsch und Kristóf Nyíri haben daran gearbeitet, Licht in dieses etwas schwierige Kapitel der Kantischen Philosophie zu bringen.185 Das Problem für Kant an dieser Stelle ist es, eine Vermittlung zu schaffen zwischen den Begriffen sinnlicher Wahrnehmung und den Begriffen des Verstandes, d.h. den Anschauungsformen einerseits und den Kategorien andererseits, mit deren Hilfe wir die sinnlichen Eindrücke zu Erkenntnissen formen. Es findet sich dort die lapidar erscheinende Formel, ein Schema sei »ein allgemeines Verfahren der Einbildungskraft,
184 I. Kant: Gesammelte Schriften V, p. 274. 185 St. Dietzsch: Schema & Bild. In: Perspektive in Literatur und bildender Kunst, hrsg. v. K. Röttgers u. M. Schmitz-Emans. Essen 1999, p. 166-173, K. Nyíri: Kritik des reinen Bildes unter: http://www.phil-inst.hu/highlights/pecs_kant/schema.htm
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einem Begriff sein Bild zu verschaffen […]«186 Daher kann das Schema weder rein sinnlich, noch rein intellektuell sein. Es ist angesiedelt auf der Problemebene, die Kant zeitlebens und je später, desto mehr beschäftigt hat, das Problem der Übergänge.187 Das Schema muß als ein Vermittelndes ein Drittes zwischen Sinnlichkeit und Verstand bereithalten: eben ein Medium. Die Einbildungskraft bringt »das Mannigfaltige der Anschauung in ein Bild«.188 Dadurch begründet sich eine im Unterschied zur diskursiven Erkenntnis symbolische oder figürliche.189 Und das ist in der Tat das zentrale Thema im 19. Jahrhundert geworden: die Dignität des Mediums der Bildlichkeit. Die Befürworter der Medialität der Bildlichkeit erhofften, mit den Bildern, speziell seit Erfindung der Photographie, die Sprache der Dinge selbst gefunden zu haben. Qua Ähnlichkeit der Bilder mit den Sachen und qua (angeblicher) Subjektlosigkeit des Photographierens glaubte man eine ähnliche Revolution der Denkungsart vollzogen zu haben, wie sie 150 Jahre früher die Chemie vorgemacht hatte: von dem die chemischen Prozesse veranstaltenden Alchimisten hin zu dem Experimentator, der nur der Natur Gelegenheit schuf, die Prozesse ablaufen zu lassen. Nicht mehr der Chemiker war das Subjekt chemischer Vorgänge, sondern die Natur selbst.190 So meinte man, auch die Photographie lasse die Dinge selbst, so wie sie sind, erscheinen.191 Erst Benjamin machte dann darauf aufmerksam, daß dieses ein Medium ist, das uns und die Dinge auf neuartige Weise verbindet, so daß wir in unserem Wahrnehmen seither nicht mehr dieselben sind wie zuvor.192 Das aber heißt nichts anderes, als daß das Medium die Realität, die immer Realität-für-uns ist, verändert. Neue Medien schaffen neue Wirklichkeiten. Die Photographie schuf neue Sichtbarkeiten; aber das muß man stets mit bedenken, sie strukturiert auch das mit allem Sichtbaren mitgegebenen Unsichtbare um. Halten wir also in erneuter Erinnerung an Benjamin fest: Der Mensch begegnet nie der Wirklichkeit pur, sondern im Medium, welches auch immer es dann ist und wie immer die Modifikation gegenüber anderen Medien sein mag. Diese wandeln sich historisch, wenn man daher überhaupt von einem Medienapriori sprechen will, dann nur von einem relativen. Es kommen nicht nur immer wieder neue Medien hinzu und wandeln durch dieses Hinzutreten auch die anderen; bestimmte Medien verschwinden auch sang- und klanglos, z. B. die Rohrpost.
186 187 188 189 190
KrV B 179f. K. Röttgers: Kritik der kulinarischen Vernunft, p. 233. KrV A 120. So St. Dietzsch: Schema & Bild, p. 171. K. Röttgers: Der Ursprung der Prozeßidee aus dem Geiste der Chemie. In: Archiv f. Begriffsgeschichte 27 (1983), p. 93-157. 191 Selbst noch Roland Barthes erliegt dieser Faszination: R. Barthes: Die helle Kammer: Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt a. M. 1989. 192 W. Benjamin: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts. In: ders.: Gesammelte Werke II, p. 835-848, hier bes. p. 837ff.
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Das sei an einem prominenteren Beispiel erläutert. Bücher waren für etwa 500 Jahre das Medium der Verbreitung von Wissen. Autoren waren in Büchern präsent, und Bücher stifteten Gemeinschaften. Am durchschlagendsten kann das an der KantSchule gezeigt werden, es war die erste Schulbildung in der Geschichte der Philosophie, die ausschließlich auf Lektüre der Schriften Kants zurückging; keiner der Kantianer hatte bei Kant in Königsberg studiert. Reinhold, Fichte und all die anderen weniger bekannten sind nie in Königsberg gewesen. Viele dieser Schüler lasen die »Kritik der reinen Vernunft« mehrmals, wie man früher die Bibel las, und viele lasen gar nichts anderes mehr, vor allem keine alten, durch die Kantische Revolution der Denkungsart überholten Philosophen. Im Medium der Schriftlichkeit der Kantischen Philosophie bildete sich eine Gemeinschaft aus, die durchaus auch handfest wissenschaftspolitisch aktiv wurde, z. B. in der Niederschlagung der Ansätze eines deutschen Empirismus in der Gestalt von F. G. H. Feder.193 Vieles spricht dafür, daß dieses Zeitalter endgültig vorbei ist und dergleichen nie wieder geschehen wird. Die audiovisuellen Medien wandeln die Subjekte, die sich in ihnen vermitteln. Gedrucktes verliert zunehmend an Einfluß und Wirkungskraft und eine »sekundäre Oralität« greift um sich.194 Umgekehrt ist es auch für die gesellschaftliche Integration nicht mehr von der gleichen Bedeutung wir früher. Medienwandel ist Gesellschaftswandel. Medien weisen Rollen zu, einer schreibt, die anderen lesen. Manchmal durchmischte sich das, aber es gab immer sehr viele, die nur lasen und nie etwas schrieben, und es gab auch etliche, vom alten Kant ist das verbürgt, die nichts mehr lasen, aber sehr fleißig schrieben.195 Zwar gab es das Leitbild einer »République des Lettres«, in der alle gleichberechtigt waren, aber das war eben immer nur ein Leitbild. Kompensatorisch zu dieser Unidirektionalität der Buchkultur und der Linearität ihrer Schrift gab es freilich immer auch eine Kultur der wissenschaftlichen Gesellschaften, Akademien in den Residenzen, und der Salons der dort nicht zugelassenen Frauen und Juden, sowie der symphilosophierenden Verbrüderungen, die oftmals tatsächlich egalitär oder vorsichtiger gesagt egalitärer waren. Die politische Zensur im Zeitalter der Aufklärung hat immer geglaubt, daß bestimmte Inhalte gefährlich für den Bestand eines politischen Systems, d.h. für Ruhe und Ordnung, sein würden, tatsächlich aber ist es die Medialität und ihre Form, die subversiv wirkt, was die Historiker der Fran-
193 Dazu meine beiden Studien: K. Röttgers: Die Kritik der reinen Vernunft und K. L. Reinhold. Fallstudie zur Theoriepragmatik in Schulbildungsprozessen. In: Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses Mainz, 6.-10. April 1974, hrsg. v. G. Funke. Berlin, New York 1974, II,2, p. 789-804; ders.: J. G. H. Feder – Beitrag zu einer Verhinderungsgeschichte eines deutschen Empirismus. In: Kant-Studien 75 (1984), p. 420-441. 194 Formulierung von Walter J. Ong. W. J. Ong: Oralität und Literalität. Opladen 1987, p. 135ff.; dazu und zur Kanadischen Schule allgemein D. Mersch: Medientheorien zur Einführung. Hamburg 2006, p. 90-130. 195 Und es gab den, der nur, wie er schreibt, für sich selbst schreibt, weil ihn die Welt sowieso nie verstehen wird: Rousseau.
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zösischen Revolution ermittelt haben. Das Interessante ist nun allerdings, daß die politische Revolution nicht auf der Grundlage eines neuen Mediums erfolgte, sondern unter Rückgriff auf ganz alte Formen. Das Buch ist öffentlich und will Öffentlichkeit, es folgt dem Prinzip der homogenen Ausbreitung. Daher kann es tendenziell eher stabilisierend für ein politisches System wirken, das hierarchisch geordnet ist und von einer Zentrale aus ein Terrain markiert und beherrscht. Es folgt der Logik der Dissemination und der Mission und diese hat sich sowohl im Christentum als auch im Islam sehr schnell einer imperialen Herrschaftsstruktur angedient und angefreundet. Die Revolution aber bereitete sich vor in den Salons und den seit dem 18. Jh. aus dem Boden sprießenden Geheimgesellschaften, die alle auf dem Prinzip des Gesprächs, der Verständigung und des verbrüdernden Kontaktes beruhten. Aber vielleicht ist dieses nicht nur ein atavistischer Rückgriff auf durch die Buchkultur überwundene Formen der Kommunikation, sondern ein Vorschein der Postmoderne. McLuhan glaubte allerdings noch, daß mit den Neuen Medien eine Wiederaufnahme von Momenten der Vergesellschaftung gegeben sei, wie sie in den oralen Kulturen vor Erfindung oder Durchsetzung der Schrift Bestand gehabt hätten. Ich glaube, er irrt, es gibt niemals ein wirkliches Zurück in der Geschichte. Denn wir wissen, wie die Französische Revolution endete, keineswegs in Formen, die ihrer Vorbereitung entsprochen hätten, sondern lediglich in einer Modernisierung und Perfektionierung imperialer Herrschaftsstrukturen, sei es derjenigen Napoleons, sei es derjenigen der Restauration. Im symphilosophierenden Gespräch der deutschen Frühromantik ist etwas experimentell vorbereitet worden, was in den Kommunikationsformen, die die Neuen Medien der Postmoderne ermöglicht haben, Wirklichkeit zu werden scheint. Zitat Innis: »Auch stellen wir fest, daß der überall vorhandene Einfluß dieses Mediums irgendwann eine Kultur schafft, in der Leben und Veränderungen zunehmend schwieriger werden, und daß schließlich ein neues Kommunikationsmittel auftreten muß, dessen Vorzüge eklatant genug sind, um die Entstehung einer neuen Kultur herbeizuführen.«196 Eine radikale Kritik des Buches, seiner immanenten Logik und der damit verbundenen Struktur politischen Handelns haben schließlich Deleuze/Guattari in ihrem »Rhizom« vorgetragen. In der Botanik bezeichnet Rhizom eine Art der Wurzelbildung bestimmter Pflanzenarten. In die philosophische Diskussion wurde der Terminus 1976 durch das vorveröffentliche Einleitungskapitel zum zweiten Teil von »Capitalisme et Schizophrénie« von Gilles Deleuze und Félix Guattari. Die Autoren benutzen den Begriff zur programmatischen Kennzeichnung ihrer nichtrepräsentierenden Schreibweise. So wenig wie das biologische Rhizom als Wurzelkomplex ein Bild der oberirdischen Pflanzenteile ist, ebenso wenig soll das Schreiben (des Buches) ein Bild der Welt sein. Die arbor porphyriana mit ihrem hierarchischen Aufbau hatte genau das suggerieren wollen: das Wurzelsystem weist die gleiche logisch-begriffliche Struktur auf wie der Baum. Dieses Modell, so die Autoren, das 196 H. Innis: Kreuzwege der Kommunikation. Wien 1997, p. 96.
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Vielheiten stets auf die Einheit des Stammes oder Pfahlwurzel zurückbezieht, hat »die Vielheit nie begriffen«.197 Aber auch das Modell des »Systems der kleinen Wurzeln«, für das etwa Nietzsches aphoristische Schreibweise exemplarisch wäre, gibt die Orientierung an der Einheit nicht auf: auch diese Bücher wollen Bilder der Welt sein, wollen repräsentieren. Dieses Projekt aber, Vielheiten durch auf einheitliche Weise repräsentierende Schreibweise und Theoriebildung angemessen darzustellen, ist zum Scheitern verurteilt. Erst der Wurzelzusammenhang des Rhizoms mit Knollen, Knötchen, Verästelungen, Sprossen und Luftwürzelchen gibt sowohl die Idee der Einheit der repräsentierenden Geste als auch den Unterschied von unterirdischen und oberirdischen Pflanzenteilen auf; die rhizomatische Schreibweise verläßt das ennuierende Modell des Buchs als Bildes der Welt. Das Rhizom als Modell ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet: • • • •
Jedes Teil des Zusammenhangs ist mit jedem anderen Teil verkettet, ohne daß die Einheits-Tiefenstruktur des Stammes die Garantie dafür übernähme; Heterogenstes wird auf diese Weise miteinander verkettet und nicht nur Elemente einer hierarchisch vordefinierten Ordnung; Bildung von vieldimensionalen und heterogenen Vielheiten; Bruch mit bisherigen Mustern der Distribution von Elementen auf Ordnungsstrukturen durch Beginn ganz andersartiger Praktiken, die »Rhizome machen« mit etwas, das bisher als außerhalb liegend galt.
Im Unterschied zum Begriff der Struktur, die durch Punkte, Positionen und Relationen gekennzeichnet ist, ist ein Rhizom eine Ausdehnung von Linien über Vielheiten von Dimensionen hinweg. Während das Struktur-Denken sich über Modelle in eine Bild-Relation zur »Realität« setzen möchte, versteht sich rhizomatisches Denken als eine Bewegung der Realität selbst, die mit anderen Dimensionen der Realität »Rhizome« macht. Rhizomatisches Denken verläßt die trinitarische Figur der Repräsentation, des Repräsentierten und des Repräsentierenden: kein Subjekt mehr, kein Objekt mehr und daher keine Darstellung des einen für das andere, sondern nur noch wuchernder Jargon. »Ein Buch hat weder Objekt noch Subjekt, es ist aus den verschiedensten Materialien gemacht [...]«198 Das ist wieder so ein merkwürdiger Satz, der nach Auslegung schreit, die die Autoren jedoch alsbald selbst nachschicken. Zunächst, was soll es heißen, daß ein Buch kein Subjekt hat? Schriebe man ein Buch (ganz) einem (schöpferischen) Subjekt zu, dann wäre das vergleichbar, wie wenn man zur Erklärung geologischer Verschiebungen die Vorstellung vom lieben Gott bemühen wollte. Das spricht überhaupt nicht gegen die Annahme eines Schöpfergottes, sondern nur gegen die Verwendung 197 G. Deleuze / F. Guattari: Rhizom. Berlin 1976, p. 9 198 l. c., p. 6.
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dieser Annahmen im Rahmen geologischer Erklärungen. In einem Geologie-Lehrbuch darf eben auf die Frage, wie die Alpen entstanden sind, die Antwort nicht lauten, daß der liebe Gott sie gemacht hat, auch wenn in einem anderen Kontext die Annahme gerechtfertigt sein mag, daß die ganze Natur Gottes Schöpferwillen entspringt. Ebenso mit dem Subjekt. Es mag in anderen Kontexten berechtigt sein, von Subjekten, von freien, autonomen, etc., zu sprechen, für Texte ist eine solche Redeweise unangemessen, und zwar, wie die Autoren betonen, aus zwei Gründen: •
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Ein Buch ist aus unterschiedlich geformten Materien gemacht, aus sehr unterschiedlichen Daten und Geschwindigkeiten (dem trägt in spielerischer, pseudopräziser Weise »Mille Plateaux« Rechnung, indem zu jedem Kapitel ein Datum angegeben wird, beispielsweise 10.000 v. Chr. (3. Kapitel) oder 20.11.1923 (4. Kapitel)); die Beziehungen der Materien eines Buches sind äußerliche, oberflächlich sichtbare Beziehungen, die nicht durch eine Beziehung auf ein gestaltendes Subjekt verrätselt zu werden brauchen.
Was setzen die Autoren an Orientierung im Text dagegen? »Linien der Artikulation oder Segmentierung, Schichten und Territorialitäten; aber auch Fluchtlinien, Bewegungen der Deterritorialisierung und Entschichtung.«199 Wie leicht, wird man sagen, hatten wir es doch, als wir noch glauben durften, hinter dem Text stünde ein Subjekt, das ihn aussagen wollte und das dann diesen Ausdruckswillen in die Tat umsetzte. Stattdessen? Linien der Artikulation oder Segmentierung – der Text (in ihren linguistischen Grundannahmen folgen die Autoren der anspruchsvollsten Version des linguistischen Strukturalismus, nämlich der Theorie von L. Hjelmslev,200 in Frankreich vermittelt vor allem durch die Arbeiten von Martinet201) entfaltet sich in einer Linearität, die sich immer wieder (wie in maschinellen Verkettungen) segmentarisiert. Beim Sprechen ist es die physiologische Notwendigkeit neuen Atemholens, die den Sprechfluß in Segmente (Sätze o. ä.) teilt. In der Rezeption entsprechen dem die Notwendigkeiten der Gestaltschließung zwecks Wahrnehmung. Der Begriff der Schicht dagegen stammt aus der Geologie. Schichten sind Verdichtungen einer jeweils spezifischen Art, z. B. Flöze. Die Materie bekommt eine Form, bloße Intensitäten eines organlosen Körpers werden in Wiederholungen, Redundanzen und schließlich Resonanzen quasi eingefangen. Angewandt auf den Text in Entfaltung und Segmentarisierung heißt das, daß durch Wiederkehr von identifizierbaren Segmenten, zunächst 199 ibd. 200 L. Hjelmslev: Prolegomena to a Theory of Language. Madison 1961; die Linguistik wird im 4. Kapitel von »Mille Plateaux« ausführlich behandelt, s. G. Deleuze / F. Guattari: Tausend Plateaus. Berlin 1992, p. 105-153. 201 Zu einem an Hjelmslev angelehnten Textbegriff s. auch K. Röttgers: Der kommunikative Text und die Zeitstruktur von Geschichten. Freiburg, München 1982, insbes. p. 24 ff.
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so etwas wie die Tiefenstruktur,202 letztlich aber so etwas wie Bedeutungs-Elemente ins Spiel kommen: Kodierung. Der Kodierung als Strukturgewinn auf der Systemebene entspricht die »Territorialisierung« auf der Prozeßebene. Es werden im Sprechen Territorien, »Sinn«-Inseln ausgebildet. Je genauer die Territorien begrenzt sind, desto präziser der Code. Aber blicken wir auf den zweiten Teil des merkwürdigen Zitats: er beschreibt, daß es zu diesem Vorgang zunehmender Verschärfung und Abgrenzung einen komplementären, gegenläufigen Prozeß im Text gibt: Fluchtlinien, Bewegungen der Deterritorialisierung und Entschichtung (Destratifizierung). Das alles spielt sich gleichzeitig im Text ab; und es ist, die Zulässigkeit dieser Beschreibung einmal vorausgesetzt, in der Tat die Frage, was von diesen Vorgängen dem Ausdruckswillen eines Subjektes zugeschrieben werden darf, ohne daß man damit Unsinn behauptete? Nichts, es sei denn, man gäbe von diesen Subjekten eine ähnlich geartete Beschreibung ab und beobachtete dann die Interferenzen beider Systeme. Aber das würde den klassischen Begriff des Subjekts auflösen. Aus den Artikulationen und Segmentarisierungen sowie der Flucht aus ihnen, aus den Stratifizierungen und Destratifizierungen, aus den Codierungen und Territorialisierungen sowie den Decodierungen und Deterritorialisierungen ergibt sich insgesamt ein maschinelles Gefüge.203 Ein Buch ist ein Text in diesem Sinne eines Artikulations-usw.-Prozesses. Ein Buch ist ein Gefüge; daher können Bücher nicht Subjekten zugeschrieben werden. Gleichwohl ist die Zuordnung zu Subjekten eine Funktion, die sich aus dem Gefüge des Textes selbst ergibt, der über Stratifizierung und Bedeutungsbildung so etwas wie einen Organismus aus einem Buch macht. Das ermöglicht dann die Zuordnung dieses Organismus. Aber in den Text eingelassen ist auch das Gegenteil: der organlose Körper. Er ist im Text die permanente Auflösung von Codierung und Territorialisierung, er läßt »asignifikante Teilchen, reine Intensitäten« zirkulieren. Der Fluchtpunkt des organlosen Körpers im Text ist der Punkt, an dem das Fehlen des aussagenden Subjekts umschlägt in das Fehlen des ausgesagten Objekts; und doch ist er auch der Punkt, an dem das Zeigen des Textes auf beide aus dem Zirkulieren reiner Intensitäten begreiflich gemacht werden kann. Auf Objektseite verbinden sich die Vielheiten eines Buches mit vielen anderen Vielheiten. Jeder Text läßt die Welt der Texte nicht, wie sie war, und sie läßt ihn nicht, wie er wollte
202 Tiefenstruktur hier verstanden im Sinne der Generativen Transformationsgrammatik, s. N. Chomsky: Syntactic Structures. 5. Aufl. Den Haag, Paris 1965. 203 Zur Übersetzung: Agencement machinique; die erste deutsche Übersetzung wählte dafür als Übersetzungs-Terminus »Maschinelle Verkettung«; zu Recht weisen die Übersetzer von »Tausend Plateaus« auf die Problematik einer solchen Übersetzung hin, G. Deleuze / F. Guattari: Tausend Plateaus, p. 12, Anm. 1; sie wählen für Agencement durchgängig den Terminus »Gefüge«.
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oder könnte. »Die Literatur ist ein Gefüge, sie hat nichts mit Ideologie zu tun, es gibt keine Ideologie, und es hat nie eine gegeben.«204 Das Denken, das dem Baum folgt, ist die Hierarchie. Sie kennt eine Spitze, den Chef, den Diktator, den General. So etabliert das baumartige Denken auch die Struktur der politisch etablierten Macht. Das Denken in Rhizomen entfaltet dagegen Netze, Netzwerke, in denen die Macht nicht politisch, nicht zentralisiert ist. Trotz der Anschließbarkeiten von Rhizomen an Bäume und der Einschließbarkeit von Rhizomen in Bäume bleibt doch der Verdacht, daß der Dualismus Baum/Rhizom selbst etwas Baumartiges ist. Dieser Verdacht läßt sich als Verdacht nicht ausräumen; aus ihm wissen die Autoren nur zwei Auswege: Erstens, die Modelle haben nur vorläufigen Charakter, sie dienen dazu, »einen Prozeß zu erreichen, der jedes Modell zurückweist«, zweitens wirklich rhizomatisch ist das Denken erst dort geworden, wo nicht mehr die Autoren etwas vordenken, von dem sich der Leser dann eine Kopie anfertigt; vielmehr geht das Begehren des rhizomatischen Denkens im Erfolgsfall auf den Leser über: er also wird die Dualismen durch seine anschließende Denkpraxis auflösen, die bei Deleuze/Guattari selbst noch zwecks abgrenzender Profilierung rhizomatischen Denkens und Schreibens vorkommen müssen. So ist das Rhizom kein Bild der Realität, das von einem zum anderen als mehr oder weniger getreues Bild transferiert, korrigiert, ergänzt wird in Richtung erhöhter Abbildlichkeit. Rhizom ist sich selbst ein Stück Realität, das mit anderen Dimensionen der Realität Rhizom macht. Das klassische Erkenntnismodell sieht – holzschnittartig zugerüstet – folgendermaßen aus: Da ist einer, der macht eine Erkenntnis der Welt. Die Weise, wie er diese gemachte Erkenntnis bei sich hat, heißt Wissen. Nun überträgt er dieses Wissen von der Welt im Medium einer gemeinsam geteilten Sprache und Vorstellungswelt auf einen anderen. Der nimmt dieses Wissen, trägt es an die Welt heran und macht so seinerseits reproduzierend »dieselbe« Erkenntnis. Zwar ist immer ein bißchen unsicher, ob die beiden Wissen als Inhalte von Bewußtseinen identisch sind, aber in der Bewährung als Erkenntnis derselben, identischen Welt, gelingt anscheinend der Nachweis der unverfälschten Wissensübertragung. Das ist in etwa das, was wir über Wissen glaubten, als wir uns im Schema des Buchs als Bild der Welt bewegten. Denken wir dagegen in Rhizomen, dann schließen wir unaufhörlich Heterogenes aneinander an: Es wird etwas gesagt, und dann wird etwas getan, beispielsweise. Und Redner und Täter können identisch sein oder auch nicht. Oder einer malt ein Bild (der Welt) und ein anderer (oder er selber) interpretiert das Bild oder malt ein Bild des Bildes oder verkauft das Bild. Ludwig Wittgenstein nannte solche Komplexe »Sprachspiele«; Sprachspiele sind Rhizome.
204 l. c., p.13, Interpunktion von mir korrigiert, K. R..
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»Das Rhizom geht durch Wandlung, Ausdehnung, Eroberung, Fang und Stich vor.«205 Rhizomatisches Denken verläßt damit alle hergebrachten Kriterien von Wissenschaft; denn die Dreispaltung von Repräsentation, repräsentiertem Objekt und repräsentierendem Subjekt ist in der Figur des Rhizoms ohne Bedeutung. Am ehesten wäre noch die Mathematik eine Ausformulierung der Rhizomatik: kein Subjekt, kein Objekt und daher auch keine Repräsentation des einen für das andere, nur noch ein wuchernder Jargon. Gleichwohl versagen Logik, Mathematik und andere strukturorientierte Denkweisen in der theoretischen Darstellung von Rhizomen, weil sie dem Prozeßcharakter der Rhizomatik nicht gerecht werden können, auch wenn zuweilen hilfsweise auf eine solche Darstellungsweise zurückgegriffen wird. Was das Werk von Deleuze und Guattari also entfalten soll, sind »Modelle einer nomadischen und rhizomatischen Schrift«206 Auf den Charakter des Nomadischen werden wir unten zurückkommen. Das Buch als Bild der Welt ist das Bild eines Außerhalb: Repräsentation; aber die Repräsentation hat ausgespielt. In der Repräsentation ist das Repräsentierte eben nicht präsent. Es gibt für die Rhizomatik eine strikte Trennung von Innen und Außen nicht mehr. Insofern soll nicht im Buch eine Welt begriffen und dargestellt werden, rhizomatisches Schreiben setzt das fort, um was es geht, es knüpft an und variiert, es legt an, es begreift wirklich: ein Begreifen ohne Repräsentation. Von daher entwickelt das rhizomatische Buch auch ein ganz anderes Verhältnis zu anderen Büchern. Die Autoren zitieren nicht gemäß den Spielregeln in einem Spiel einer République des Lettres; sie zitieren vielmehr aus Verliebtheiten, manchmal sogar aus perversen Vorlieben. Somit entgeht der Darstellungsform vieles. Es gibt nicht mehr eine methodische Repräsentation der wichtigsten Erkenntnisse oder Daten eines Fachgebiets, sondern es gibt eine Sorge für ein Milieu der Ermöglichung des Auftauchens von Heterogenstem. Gleiches gilt für die Lektüre ihres eigenen Buches: »Findet die Stellen in einem Buch, mit denen ihr etwas anfangen könnt.«207 Denn ein Buch ist – gemäß einer Aussage von Foucault – »eine Werkzeugkiste«208. In ihr findet sich dieses und jenes, und man muß sehen, mit welchem der Instrumente man momentan am besten ein Stück weiterkommt. So wie eine Werkzeugkiste nicht in ihren Gebrauchsweisen abschließend definiert werden kann – immerhin kann man einen Hammer auch als Hebel benutzen, mit einem Schraubenschlüssel kann man auch klopfen, und eine dünne Feile kann als Schraubenzieher dienen –, so gibt es auch von Teilen eines Buches nicht nur einen einzigen Gebrauch. Im Sinne einer pluralen Hermeneutik209 läßt sich dieses und jenes mit ihm anfangen. 205 206 207 208 209
G. Deleuze / F. Guattari: Tausend Plateaus, p. 34f. l. c., p. 38. l. c., p. 40. M. Foucault: Mikrophysik der Macht. Berlin 1976, p. 45. Zu diesem Begriff s. O. Marquard: Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist. In: ders.: Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart 1981, p. 117-146.
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Ja, es gibt Fälle, wo nur Mißverstehen weiterhilft,210 oder mit den Worten von Deleuze/Guattari: »[...] liebt euch wie Wespe und Orchidee, Katze und Pavian«211. Die Liebe zwischen Orchidee und Wespe, zwischen Katze und Pavian ist eine Liebe, die nur als Mißverständnis möglich ist. Denn wenn die Orchidee wüßte (im Sinne eines repräsentierenden Wissens), was eine Orchidee ist, und wenn sie wüßte, was Lieben ist, würde sie sich nicht von der Wespe lieben lassen; gleichwohl: ihre »Liebe« ist fruchtbar. So aber – voller Mißverständnisse – ergeht an die Rhizomatiker die Aufforderung, es diesen gleich zu tun. Nomadische Wissenschaft ist eine kleine Wissenschaft: science mineure. Sie ist kleiner als normativ erwartet. Ihr Gegenstand ist nicht das System (des Ganzen), sondern das Problem, gleichviel ob sich die Probleme einem System der Probleme fügen oder auf immer partikular bleiben werden. Wie ein rhizomatisches Gewächs ist sie teils im Unterirdischen, d.h. sie untergräbt uns, die wir oberirdisch graben, rechen und planieren – oder einfahren in den Untergrund um herauszuholen, was sich fördern läßt und zu fördern lohnt: Beute machen im Untergrund. Textum ist das Gewebe aus vielen Fäden. Urverwandt ist diesem Begriff auch freilich der der Technik, techne. Die routinierte Kunstfertigkeit ist der allgemeine Begriff, der seinerseits den Begriff des Textes kontextualisiert. Symbol dieser techne des Textes ist der Dachs: techne, textum und der Dachs sind sprachlich Urverwandte. Nun braucht solchen Urverwandtschaften sicher kein Ursinn abgelauscht zu werden; ja, in einem gewissen Sinne liegen alle drei Begriffe auf völlig verschiedenen Ebenen. Ist der Text ein Prozeß, so gleicht die techne eher einem Diskurs, der Dachs aber einer Begriffsperson: und letzterer ist das Wahrzeichen des Autors. Er wohnt in seinem Bau, nennen wir das Gewebe seiner Gänge einen Text. Charakteristisch für diesen spezifischen Bauherrn, den Dachs, den Textherrn, ist es, daß er oftmals die Angewohnheit hat, nicht selbst als absoluter Autor zu bauen, sondern von anderen gebaute Texte zu verwenden, um zu bauen, als Autor hinter den intertextuellen Bezügen zurückzutreten. So lebt der Dachs. Diesem Tier folgt ein anderes, spürt es in seinem Gebäude auf, der Dackel, Wahrzeichen des Kritikers. Für den Beobachter verschwinden beide – Dachs und Dackel – im Text. Was sie in den unterirdischen Gängen des Textes tun, ob sie kämpfen, wozu der Dackel einen Auftrag hatte, oder ob sie sich verbrüdern im Gewebe der Gänge, uns lediglich die Illusion einer Auseinandersetzung des Kritikers mit seinem Autor nach außen vermitteln, oder ob es immer ein Geheimnis bleiben wird, was dort unten geschieht in Stille oder unter Gekläff, ja ob es überhaupt einen Dachs im Text gibt, werden wir nie enträtseln, es sei denn, wir bezögen selbst eine der beiden Positionen des Textes, Dachs oder Dackel. Als Dachs werden wir im Text sitzen und
210 Einige habe ich untersucht in: K. Röttgers: Die Einheit deutsch-französischer Mißverständnisse – oder der Pumpernickel-Effekt. 211 G. Deleuze / F. Guattari: Rhizom, p. 41.
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vielleicht zeitlebens auf einen Dackel warten, der seinem Beobachter wiederum in zweideutiger Weise mitteilen könnte, daß es uns gibt, und werden abwarten müssen, um zu erleben, was ein Dackel mit uns machen wird, wenn er uns finden sollte. Als Dackel aber werden wir uns in den Text hineinziehen lassen, uns vielleicht dort verirren, den Beobachtern signalisieren, daß wir Spuren im Text gefunden hätten; aber vielleicht werden wir zeitlebens nur Dachsspuren im Text finden, niemals einen Dachs. Wir würden uns Unmögliches abverlangen, wollten wir, zur Garantie der Konfrontation, beide Rollen selber spielen. Der Text aber ist immer schon – und ohne Anstrengung – der Simulationsraum für beide Rollen, weil er beide Rollen ausdifferenziert . Dachs und Dackel sind im Text – und wir sind draußen, sofern der Text uns nicht die eine oder die andere Rolle zugewiesen hat. Es sind aber nicht unsere Intentionen oder gar existentiellen Entwürfe, die uns solche Rollen zumuten, sondern die Spielregeln des Prozesses. Denn: wer ist schon aus existentiellem Entwurf heraus, aus radikaler Sartrescher Freiheit heraus, jenes Wesen mit langer Nase und Hängebauch, oder jedes andere, das von ersterem gejagt wird. Was wir demnach gründlich zu verabschieden haben, ist die Vorstellung eines vorgängigen, freien Subjekts, das dem Text als Voraussetzung dient und das sich des Textes bediente, um sich auszudrücken oder andere Subjekte zu beeinflussen. Sprechen wir also nur noch von der Primordialität des Textes, bzw. seinen Funktionspositionen, aber nicht mehr von Wesen, die ihn aus Autonomie machen oder in Souveränität beurteilen. Interessant ist aber: Kann der philosophische Text, der von Lacan unter der Leitfigur des Herren-Diskurses erwartet wird, auch (und zwar zugleich) das Andere sein: Herren-Diskurs und zugleich science mineure: Dachs und Dackel zugleich; Parasit und Wirt in einem (Serres); Nomade und Nomadologe. Kann er es, wenn er genügend (wie Deleuze/Guattari sagen:) »schizo« ist? Skepsis ist angezeigt. Denn mineure ist nicht nur das Kleine, Mindere, Minderjährige – es klingt auch an le mineur: der Bergmann und le mineur: der Bomben-Minen-Leger. La science mineure ist also nicht eine kleinere, bescheidenere oder gar niedlichere Wissenschaft: Es ist auch die Wissenschaft, die uns untergräbt, um uns zu sprengen. Können wir – d.h. kann unser Text das wollen? Kant – als Maximum radikaler, d.h. Wurzeln freilegender Rationalität – wollte mit seiner »Kritik« die Architektur des metaphysisches Diskurses abtragen um zu sehen, ob das Fundament überhaupt tragfähig ist. Von dem bautechnischen Unsinn der Abtragung von Gebäuden zwecks Prüfung ihrer Fundamente einmal abgesehen, findet diese Maßnahme doch die Wühler unterhalb der Fundamente nicht; konkret: Kant versteht seinen Kollegen Christian Jakob Kraus und seine nomadologischen
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Forschungen nicht,212 sein Text negiert die Nomaden. Unterhalb aller von Kant geprüften Fundamente wühlt die science mineure und stellt jede Fundamentalphilosophie oder Elementarphilosophie in Frage. Wie sollen wir noch bauen, Gedanken auf Gedanken schichtend, wenn unter uns die Wühlmäuse der science mineure ihre Sprengsätze anbringen? Aber sollen wir bauen?213 Gewiß, auch die mineurs bauen, sie bauen Gänge und Höhlen, im Gelände bauen sie geländeartig, sie nutzen die Vorgegebenheiten, oberirdische Höhlen, Abris etc., Bauten anderer Wühler (z.B. nutzt der Dachs verlassene Fuchsbauten), sie bauen um, sie bauen fort. Die Architektoniker der reinen Vernunft dagegen meinen, trotz des Geländes bauen zu können und zu sollen, sofern nur das Fundament tragfähig genug ist: d.h. letztlich auch Atomkraftwerke im Andreas-Graben und in der OberrheinEbene, d.h. dort, wo es von unten bereits rumort. Die postmoderne Figur des Rhizoms gestattet es, ein Ende der Linearität zu denken, ohne auf die schriftlose Oralität zu rekurrieren zu müssen. Immerhin ist auch Oralität an Linearität orientiert, wenn es nicht ein allgemeines Durcheinanderreden geben soll. Nun gibt es allerdings auch Medientheoretiker, die die Medienphilosophie deswegen für obsolet erklären, weil die Philosophie überhaupt durch die Neuen Medien überholt ist. Solche Thesen liegen auf die Linie dessen, was z.B. Marx oder ganz anders auch Heidegger vorgesagt haben, indem sie die Philosophie, so wie sie sie als etablierte kannten, für tot erklärt haben und genau damit eine neue Reflexionsstufe im philosophischen Bemühen schufen. Wer ernsthaft gegen die Philosophie argumentiert, philosophiert bereits. Nur wer sie einfach ignoriert und sich dumm stellt, schafft wenigstens für sich privat die Philosophie ab; wenn alle das täten, wäre die Philosophie durch diese Praxis der Ignoranz tatsächlich abgeschafft,214 aber wer schon diese Ignoranz feststellte und auf sie reflektierte, wäre bereits wieder der erste Philosoph nach dem Zeitalter totaler Ignoranz (»Seinsvergessenheit«). In dieser prekären Lage befindet sich der Medientheoretiker und Philosophiekritiker Norbert Bolz. Er konstatiert, daß die neue Wirklichkeit der Medien verdeutlichte, daß jede Prätention auf theoretische oder praktische Orientierung in der Welt nichts anderes sei als eine Selbstbespiegelung. Niemand könne mehr heute angesichts dessen, was
212 S. dazu: K. Röttgers: Kants Kollege und seine ungeschriebene Schrift über die Zigeuner. Heidelberg 1993; ders.: Kants Zigeuner. In: Kant-Studien 88 (1997), p. 60-86; ders.: Das Wandern der Zigeuner und der freie Warenverkehr. In: Immanuel Kant und die Berliner Aufklärung, hrsg. v. D. Emundts. Wiesbaden 2000, p. 164-178. 213 Dem gleicht auch Heideggers Frage an Kant: Gibt es nicht noch Grundlegenderes als die Grundlegung? In der Spätphilosophie wird daraus die Frage nach dem Abgrund. 214 Die amerikanistische totale Ökonomisierung auch aller kulturellen Gehalte birgt selbstverständlich diese Tendenz.
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uns in den Medien präsentiert wird, zwischen Sein und Schein unterscheiden.215 Die in der Philosophie seit Platon geläufige Unterscheidung zwischen Illusion und Wirklichkeit, die die Philosophie als Wahrheitsbemühung herausstellte, sei nun hinfällig geworden. Realität könne heute nur noch heißen: universaler und undurchdringlicher und damit auch undurchschaubarer Komplex von Projektionen. Die der Philosophie eigene, unaufgeregte Haltung eines bios theoretikos (Aristoteles) sei unmöglich geworden, sagt Bolz. Die Neuen Medien seien die Wirklichkeit, gegenüber der keine kritische und reflexive Distanz mehr möglich sei. Jede Beschreibung und Analyse dieses Sachverhalts sei selbst Teil dieses Komplexes. Das hat Bolz 1998 in seinem Streitgespräch mit Nida-Rümelin vorgetragen.216 Er hätte später auf die Fernsehschelte (»Blödsinn«) und die Verweigerung der Annahme des Fernsehpreises durch Reich-Ranecki verweisen können, der diese Schelte (wo wohl?) vortrug? Im Fernsehen natürlich. Aber wer so redet wie Bolz, hat ganze Entwicklungslinien der Philosophie nicht zur Kenntnis genommen, die die Philosophie ohne die Neuen Medien bereits genommen hatte und die sie überhaupt nicht mehr auf eine Transzendenz der Wahrheit festlegt. Am radikalsten vielleicht bei Deleuze, aber auch Foucault, Nietzsche und in ganz alter Zeit Spinoza sind Zeugen einer Philosophie der Immanenz. Und ich glaube in der Tat, daß eine Philosophie, die die Neuen Medien und damit die Medialität überhaupt ernst nimmt, nur als eine Philosophie der Immanenz möglich ist, die selbstverständlich auf die Grundunterscheidung von Sein und Schein verzichtet und damit z.B. die Maske als etwas durch und durch Positives begreifen wird, d.h. in ihrer Positivität akzeptiert. Hinter der Maske verbirgt sich nicht das »wahre Sein«, sondern ein schutzbedürftiges Geheimnis. Ein solches Geheimnis ist aber gerade nicht das Eigentliche hinter der Allgegenwart der Oberflächen des Scheins, sondern schlicht das, was die Rückseite der Oberfläche ist. Wenn man das in Betracht zieht, sieht man, daß Bolz nur sentimental, unglücklich und enttäuscht in die Philosophie verliebt ist. Daß sich durch die Neuen Medien in unserer Welt und in unserer Orientierung in und zu ihr, ganz viel verändert, das diesen Wandel als einen Teil jenes Wandels erscheinen läßt, der den Übergang zur Postmoderne ausmacht, ist unzweifelhaft. In diesen Wandel ist auch die Philosophie hineingezogen, sie wird diesen Wandel nur begreifen können und die entsprechenden Konzepte bereitstellen können, wenn sie sich selbst wandelt. Der Wandel betrifft sie also sowohl äußerlich wie auch innerlich. Daß sie dadurch abgeschafft sein würde, sehe ich nicht, und das hatte ja nicht einmal
215 Als die Bilder von dem Anschlag auf das World Trade Center in den Medien gezeigt wurden, hatten viele den Eindruck einer Filmszene, die sie so oder so ähnlich schon oft gesehen hatten. 216 Neue Medien – Das Ende der Pilosophie? In: Information Philosophie 4/1998, p. 20-29.
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Marx in seiner philosophiekritischen These behauptet: »Ihr könnt«, sagte er nämlich, »die Philosophie nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen.«217 Wir werden im folgenden vier Richtungen der Medientheorien unterscheiden wollen: •
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Die von McLuhan (»the medium is the message«) ausgehenden Theorien: Baudrillard, Virilio, Flusser, Kittler, de Kerckhove, und hierher gehört dann auch Bolz; die von der Systemtheorie und dem Radikalen Konstruktivismus ausgehenden Theorien: Luhmann, S. J.Schmidt, Weber u. a.; die am Wandel von Medialität orientierten eher historisch ausgerichteten Theorien: Innis, Havelock, Ong, die beiden Assmanns u.a.; die von der Philosophie ausgehenden Erörterungen eines Medial Turns in der Philosophie (in Anlehnung an den vorherigen linguistic turn formuliert): Schwemmer, Krämer, Welsch, Seel, Capurro, Schirmacher, Sandbothe u.a., auch Röttgers.
All diesen Ansätzen gemeinsam ist, daß sie die Materialität der Kommunikation und der in ihr zur Ausprägung kommenden Symbole ernster nehmen als das in der klassischen Philosophie bis zur sprachphilosophischen Wende der Fall war. Strittig aber ist z.B. ein entscheidender Punkt: Sind die Medien, gespiegelt in den Neuen Medien, als ein historisch freilich wandelbares Apriori zu begreifen und treten sie damit die Nachfolge des Transzendentalen bei Kant an oder nicht. Die das bestreiten, unterscheiden sich auch noch danach, welche Grundlage sie für dieses Bestreiten haben. Margreiter sagt abschließend in seinem sehr stark der klassischen disziplinären Philosophie verpflichteten Beitrag folgendes: »Der medial turn bezeichnet nicht den Tod, sondern das neue – bei näherem Hinsehen: das neualte – große Thema der Philosophie: die Frage nach der Erfahrung der Wirklichkeit und nach der Wirklichkeit der Erfahrung. Neue Medien wie Internet und virtual reality machen diese Frage nicht, wie Bolz und andere vorschnell behaupten, überflüssig. Sie zwingen uns lediglich dazu, bisherige Antworten in Frage zu stellen und nach neuen, adäquaten Antworten zu suchen.»218
Wenn man im Sinne einer Medientheorie über die Medien nachdenkt, dann sind es nicht neue Gegenstände, die das Denken herausfordern, sondern insbesondere die Neuen Medien, aber auch die Unklarheit des Medienbegriffs als solchem fordern
217 K. Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: ders.: Werke, hrsg. v. H.-J. Lieber u. P. Furth. Darmstadt 1971, I, p. 488-505, hier p. 495. 218 R. Margreiter: Realität und Medialität. In: MedienJournal 23 (1999), S. 9-19, hier p. 17.
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dazu heraus, einen veränderten Blick auf die Realität, die uns umgibt und die wir sind, zu werfen. Stefan Münker sagt daher scheinbar paradox: »Medienphilosophie hat es nicht mit Medien zu tun.»219 Und dann ist das erste, was auffällt in diesem veränderten Blick, erstens ein Theoretisches, nämlich daß alle unsere Weltverhältnisse vermittelt sind, daß also die sogenannte Unmittelbarkeit des Blicks in die Welt eine Illusion ist oder sich als vermittelte Unmittelbarkeit darbietet, zweitens der politische Aspekt, zu dem die Globalisierung in der Postmoderne zwingt, nämlich daß wir uns in einer weltweiten Vernetzung befinden, die auch nicht mehr reversibel ist, drittens eine ethische Dimension, die sich genau daraus ergibt, nämlich ein Wandel der Zwischenmenschlichkeit, die die Frage aufwirft, ist Leiblichkeit, jedenfalls in Dominanz, wie es die Face-to-face-Situation erforderte, ersetzbar, nicht daß wir, wie im Second Life, ohne Leib existieren könnten, aber daß diese Trivialität nicht mehr das Bestimmende unserer Sozialität ist, zumal ja das Soziale erst durch den Dritten und nicht als reine oder vervielfältigte Intersubjektivität der Leiblichkeit konstituiert ist, dieser Dritte aber in seiner sozialkonstitutiven Funktion ebenso wohl als eingeschlossener wie als ausgeschlossener, also abwesender Dritte fungieren kann (ja bei Derrida sich die reine Präsenz als Illusion erweist, weil mehr als die Spur, d.h. eine Differenz nicht zu haben ist und sich damit Husserls Urimpression als reine Fiktion erweist), und schließlich viertens ästhetisch die Frage der Materialität im Zugriff. Nimmt man diese vier Aspekte zusammen, wird man mit Martin Seel sagen dürfen: »Medien schränken Möglichkeiten ein und geben Möglichkeiten frei.«220 Das kann man verdeutlichen beispielsweise an der Schrift; die Schrift schiebt sich in die angeblich unmittelbare Erfahrung eines Gegenstandes, sie entfernt uns vom Gegenstand, zugleich aber macht sie dadurch auf den blinden Fleck aller Erfahrung aufmerksam, die sich vom Gegenstand entfernen muß, um überhaupt etwas zunächst zu sehen und dann zu erkennen. Aber die Distanz bleibt nicht leere Distanz, sondern die Distanz ist das Medium; Medialität ist also die Bedingung der Erkenntnis. Das gilt selbst für die sogenannte Selbsterkenntnis, auch sie ist nur möglich, indem sich zwischen erkennendes und erkanntes Selbst etwas Mediales einfügt, und das heißt, Selbsterkenntnis ist etwas, das vom Medium hervorgebracht wird. Der Abstand, der das Medium ist, kann nun nicht seinerseits zum Gegenstand dann einer womöglich unmittelbaren Erkenntnis gemacht werden. Im Einzelfall schon, man kann etwa Aussagen über Schrift, über Schriftsysteme, über die historische und soziale Funktion von Schriftlichkeit machen; aber es wäre eine Illusion zu glauben, wenn man schon die Gegenstände nur vermittelt durch ein Medium wie Schrift haben kann, daß dann doch die Erkenntnis der Medialität der Schrift uns diejenige Medialität erschließen
219 St. Münker: After the Medial Turn. Sieben Thesen zur Medienphilosophie. In: Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, hrsg. v. St. Münker, A. Roesler, M. Sandbothe. Frankfurt a. M. 2003, p. 16-25, hier p. 18. 220 M. Seel: Eine vorübergehende Sache. In: dass., p. 10-15, hier p. 13.
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könnte, die sie uns verwehrt. In der performativen Wende ist dieser Unterschied im Anschluß an Wittgenstein benannt worden als der Unterschied von etwas sagen und daß sich im Sagen etwas zeigt. Was sich zeigt, ist nicht das Gesagte. Man hat nach dem Ende der Gutenberg-Galaxis gemeint, nun könne man die problematische Wahrheit über das Medium Schrift sagen, meistens hat man es allerdings geschrieben. Aber diese vermeintlich endgültige Demaskierung erzeugt nur wie jede Demaskierung neue Masken. Man hat gemeint, daß die Schrift immer selektiv wirkt: Bücher brauchen einen Verleger, dessen Meinungen über die Verkäuflichkeit eines bestimmten Buches entscheiden, ob überhaupt gedruckt werden sollte, früher und an manchen Orten heute noch tritt dann die Zensur auf den Plan und entscheidet, ob denn dieses Buch überhaupt die Leserschaft erreichen soll, usw. Das Internet läßt diese Selektivität so recht in den Blick rücken, weil es das Gegenteil zu sein scheint, jeder kann alles allen mitteilen. Die totale Öffentlichkeit ist endlich auf Weltebene hergestellt, und wir kennen ja die Beispiele autoritärer Regierungen, die verzweifelt versuchen, dessen Herr zu werden. Der neue blinde Fleck ist jetzt natürlich die Unkontrollierbarkeit des Internets. Gemeint sind damit nicht nur die verzweifelten Versuche der Strafverfolgungsbehörden, der Kinderpornographie Herr zu werden, sondern vor allem die Frage der Kontrollierbarkeit auf den Wahrheitsgehalt hin. Die in der Französischen Aufklärung entwickelte Idee der République des Lettres sah vor, daß jeder alles schreiben könnte, was er für wahr hielt und daß die Gemeinschaft der Gelehrten durch allseitige Kritik die Korrekturinstanz wäre. Jeder war zugleich potentiell der Kritiker aller anderen. Diese Idee, die natürlich auch niemals Wirklichkeit war aber doch handlungsleitend sein konnte, war entwickelt auf der Grundlage, daß es vielleicht 100 solche Gelehrte in einer Nation gab. Irgendwelche Bilder oder Sätze, die im Internet auftauchen, sind nicht mehr kontrollierbar. Das kann man selbst an Wikipedia zeigen, deren Organisatoren sich ja bemühen, eine solche Kontrolle durch die Gemeinschaft der User zu organisieren. Hier finden sich, lediglich für wenige Experten erkennbar, völlig unqualifizierte Seiten neben hoch qualifizierten, wie soll der User das unterscheiden, und wenn man die Protokolle zu einzelnen Seiten aufruft, ist man ebenfalls manchmal entsetzt, wie unqualifiziert die Diskussionen dort sind. Mehr noch, anläßlich der Unruhen im Zusammenhang der Wahlen im Iran und ähnlicher Gelegenheiten tauchten schnell in YouTube Videos auf, die die Weltöffentlichkeit über Vorgänge dort »authentisch« informierten und so die Zensur aushebelten, aber waren sie wirklich alle »authentisch«, jedenfalls tauchen bald begründete Zweifel auf. Aber wer sollte das noch kontrollieren. Da es keine Engstellen der Selektion mehr gibt, steht alles beliebig neben einander. Und man kann alles glauben oder auch nicht. Anfangs war auch Fernsehen hoch selektiv. Die wenigen, die einen Empfänger besaßen, konnten sehen, was irgendwo in der Ferne zu sehen war. Das änderte sich in zweierlei Hinsicht, erstens indem das Medium dieses Fern-Sehens, Fernes zu sehen, allgemeine Verbreitung fand, und zweitens, indem der Fernes Sehende alsbald
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zwischen mehreren fernen Ereignissen wählen konnte. Das Medium, d.h. die Mitte zwischen Ferne und Nähe wurde so sowohl ubiquitär als auch ambivalent. Und schließlich wurde es reflexiv, so daß z.B. zunächst in den Fenstern der Fernsehgeschäfte der Seher sich selbst und sein Sehen sehen konnte, heute jedermann sich selbst in seinem Wohnzimmer sitzend, d.h. auch das, was gar nicht ferne war, konnte als Ferne gesehen werden. Auch das war natürlich noch steigerbar. Bei der Fernsehübertragung von Peterchens (Armstrongs) Mondfahrt, in der alle Seher der Welt zusammengeschlossen waren, konnten sie die Gesamtheit ihrer eigenen Orte, die Erde nämlich, die ihnen ganz nahe war, aus großer Ferne sehen. Und man konnte die Trivialität lernen, daß die Erde aus der Ferne betrachtet ganz anders aussieht als aus der Nähe. Und schließlich haben wir uns daran gewöhnt, daß wir allerorten von Videokameras, d.h. ebenfalls fernsehend beobachtet werden. Das in die Ferne Sehen hat sich gedreht, nun sind wir die Gesehenen, man sieht uns, ohne daß wir sehen können, wer uns gerade sieht. Unfreiwillig sind wir denjenigen gleichgestellt worden, die freiwillig in einen Container steigen und sich und ihre Lebensäußerungen dem Ferngesehenwerden preisgaben. Auch hier sind uns die Amerikaner wie in allen schlechten und manchen guten Dingen ein Stück weit voraus. Winzige Kameraspione können mühelos erworben und in der Privatsphäre der Mitmenschen installiert werden. Das Medium, ursprünglich unidirektional ist omnidirektional geworden. Daher glaube ich, daß die Fernsehkritik, die diesem Medium vorwirft, es sei ja unidirektional und entmündige somit den Fernsehenden, völlig unangebracht war, es ist nicht mehr unidirektional, und wie schön waren doch die Zeiten, als es noch unidirektional war. Noch vor knapp 60 Jahren sendete der einzige Sender, die ARD, etwa vier Stunden täglich in Schwarz-Weiß sein flimmerndes Programm. Man war der Meinung, daß mehr als zwei Stunden täglich schädlich vor allem für die Augen seien, und die Eltern und Pädagogen waren dieser Meinung und setzten sie durch, daß für Kinder zwei Stunden in der Woche (!) genug seien, und das war auch gar kein Problem, denn wir hatten ja genug andere Dinge zu tun. Heute leben wir omnidirektional in einem medialen Panoptikum: man sieht uns ebenso wie wir alle sehen möchten, die sich sehen lassen. Und weil sich, ich denke an die nachmittäglichen Talkshows mit Jugendlichen, die sich ihrer Dummheit und Dreistigkeit nicht im mindesten schämen, dort Leute zeigen, die auch nicht besser sind, als wir selbst, sich als so blöd gerieren, wie wir uns selbst auch fühlen sollen, warum sollte es ein Problem sein, uns mit all unseren peinlichen Blößen dem Sehen aller anderen auszusetzen. Aber an dieser Stelle taucht natürlich das gleiche Problem auf, wie wir es beim Internet diagnostiziert haben: Wenn jeder alles sehen kann, verschwindet die Relevanz, alles Sichtbare wird gleichgültig, unterstützt von der Illusion der Auslöschung von Unsichtbarkeit und Geheimnis. Die Wörter »Peinlichkeit« und »Schamlosigkeit« verlieren in einer durchgehends sichtbaren Welt, der »Reality-TV«, in der wir alle mitspielen, ihren Sinn. Wenn junge Leute Videos von sich und ihren Freunden bei Facebook oder
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YouTube ins Netz stellen, d.h. tendenziell der Weltöffentlichkeit preisgeben, in Szenen, die man früher als peinlich bezeichnet hätte, dann finden sie und ihre Freunde das nur cool oder geil, jedenfalls nachahmenswert. Auf die Weiterungen, die insbesondere den Umgang mit der Zeit betreffen, möchte ich jetzt nur andeutend eingehen. Die Fernbedienung und das durch sie ermöglichte Zappen überspielt, daß wir stets nur in einer Gegenwart leben können und folglich nur eine momentane Sichtbarkeit haben können, es wird die Illusion ermöglicht, daß wir an mehreren Orten und ihren Ereignissen gleichzeitig teilhaben könnten.221 Eine andere Strategie, mit dem gleichen Problem umzugehen, bietet der Videorecorder, der eine andere, mögliche Gegenwart durch Aufzeichnung in die Zukunft zu verschieben erlaubt. Natürlich ist auch das eine Illusion: das aufgezeichnete Fußballspiel von gestern ist, nachdem alle Bundesliga-Ergebnisse nun feststehen, heute nicht mehr dasselbe wie es gestern gewesen wäre. Sybille Krämer geht der Frage nach, ob Medien eine Konstitutionsleistung erfüllen;222 sie stellt fest, daß im antiken Griechenland die Entstehung der Philosophie an die Entwicklung von Schriftlichkeit gebunden war. Nur als geschriebener Text war Philosophie wirklich. Diese Philosophie war zugleich eine öffentliche Veranstaltung und damit die Abkehr von allen esoterischen Praktiken. Was Krämer damit unterschlägt, ist, daß die Verschriftlichung auch die Ausschließung des in der sophistischen Praxis öffentlicher Rede noch immer mitgegebenen Dritten, und damit der Sozialität aus dem Text bedeutete; seither hat sich Philosophie immer als Ablehnung und Abrenzung von der Sophistik verstanden. Das agonale Moment, das natürlich auch der sophistischen Auseinandersetzung vor einem Dritten zukam, wird nun zu einem Agon zwischen Zweien, das nur im (objektiven) Niederringen dessen bestehen kann, der nicht auf der Seite der (hinter der Sichtbarkeit vorfindlichen) eigentlichen, schon vorab feststehenden Wahrheit steht. Das seduktive Moment jeder Rede wird im Medium des (schriftlichen) Philosophierens verbannt, zugelassen bleibt allein die argumentative Seite des Miteinanderredens. Wenn Krämer diesen Gesichtspunkt mit berücksichtigt hätte, dann hätte sie zugleich eine starke Begründung für ihre These, daß Medium immer etwas mit Vermittlung zu tun hat223 und jedenfalls nicht einfach das Insgesamt materieller Zeichenträger, technischer Instrumente und Apparate ist. 221 Zur Fernbedienung s. insbes. L. Engell: Tasten, Wählen, Denken. Genese und Funktion einer philosophischen Apparatur. In: Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, hrsg. v. St. Münker, A. Roesler, M. Sandbothe. Frankfurt a. M., 2003, p. 53-77, der auch darauf hinweist, daß unser Weltverhältnis nicht unberührt davon bleibt: »Phänomenal verhalten wir uns zur Welt so, als hätten wir eine Fernbedienung zur Verfügung, sie an- ab- und umzuschalten.« (p. 74) 222 S. Krämer: Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? In: Medienphilosophie, p. 7890. 223 So jedenfalls S. Krämer: Medium, Bote, Übertragung, p. 36, Anm. 35; zur Sophistik in dem angedeuteten Sinne s. Th. Buchheim: Die Sophistik als Avantgarde des normalen Lebens. Hamburg 1986 u. K. Röttgers: Der Sophist.
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In der Frage, die in der Medientheorie kontrovers diskutiert wird, nämlich einerseits der aus den Geisteswissenschaften herrührenden These, daß Medien etwas Sekundäres seien, weil sie bloß materielle Realisierungsformen, bloß Vehikel eines Gedankens oder Sinngehalts seien, und andererseits der These eines Medienaprioris, in der die Medien selbst unser Verständnis erzeugen, nimmt Krämer eine Mittelstellung des Weder-Noch ein. Sie stellt fest, daß Medien eigentlich der blinde Fleck unseres Wahrnehmens und Kommunizierens seien. Will man jedoch »Medium« definieren, so schließt sich Krämer Niklas Luhmann an und nennt Medien Unterscheidungs-Potenziale, die jedoch historisch durch bestimmte kulturelle Praktiken geprägt sind. Wie aber wird dieser »blinde Fleck« von dem sie spricht, sichtbar? Ganz einfach, indem die Perspektive gewechselt wird. Das ist dann der Fall, wenn ein Medium selbst zur Form wird, d.h. in ein anderes Medium übertragen wird. So sagt sie: »Intermedialität ist eine epistemische Bedingung der Medienerkenntnis.«224 Auf die drei Momente ihrer Kulturanthropologie der Medien werde ich an späterer Stelle zurückkommen, nämlich erstens, »Übertragung« und »Inkorporation«, zweitens »Aufführung» und »Umschrift« und drittens »Innovation« und »Wiederholung«. Hier kam es momentan auf die zustimmungsfähigen Grundgedanken zum Medium und zur Medialität an. Nach Reinhard Margreiter225 sind an Medien, da alle Vermittlung sowohl auf Orte des Zwischen (Mediums), als auch auf materielles Substrat, als auch auf Formen der Gestaltung des Umgangs und der Codierung der Mitteilung angewiesen ist, die Bedeutung und das materielle Substrat zu unterscheiden. Es gibt Medien, die fugitiv sind, und solche, die eine Auslagerung aus der Situation der Vermittlung erlauben, z.B. die Schrift, da grundsätzlich gilt, daß unsere Wirklichkeitsauffassung und unser Denken medial vermittelt sind, daß jeder geistige Gehalt auf seine eigene mediale Herkunft und Bestimmtheit hin befragt werden kann und zur angemessenen Selbstverständigung auch muß. Margreiter geht so weit zu sagen, daß eine Medienphilosophie die neue Fundamentalphilosophie geworden sei: »Medienphilosophien stellt somit weitaus mehr dar als eine sogenannte Bereichsphilosophie. Denn Medialität ist nicht eine periphere, sondern die zentrale Bestimmung des menschlichen Geistes.«226 Zum Abschluß dieses Abschnitts möchte ich auf die Konzeption etwas näher eingehen, die Mike Sandbothe als pragmatische, besser aber pragmatistische Medienphilosophie entwickelt hat. Es ist unstrittig, daß wir heute mit der Entwicklung der neuen Medien und ihrer Technologien, zusammen mit einer Reihe weiterer umwälzender Entwicklungen in ein neues Zeitalter eingetreten sind, das man Postmoderne zu nennen berechtigt ist; dem muß sich auch ein neues Bedenken der Medien stellen.
224 S. Krämer: Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung?, p. 82. 225 R. Margreiter: Medien/Philosophie: ein Kippbild. In: Medienphilosophie, p. 150-171. 226 R. Margreiter: Realität und Medialität. In: MedienJournal 23 (1999), p. 9-19, hier zit. nach M. Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie. Weilerswist 2001, p. 24.
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Wie wir schon mehrfach aufgewiesen hatten, reicht es nun nicht mehr hin, um diesen Wandel zu begreifen, Medien einfach als Werkzeuge in einer Zweck-Mittel-Beziehung handelnder Subjekte zu begreifen. Wir müssen, wie schon mehrfach gesagt, von dem Medium als Mitte ausgehen und die Frage, was es dann noch heißt, ein Subjekt zu sein, als eine Problemfrage aufbewahren, aber nicht mehr als Selbstverständlichkeit voraussetzen. Dem haben sich ja auch verschiedene Disziplinen angenommen; so gibt es eine Medienpsychologie, eine Mediensoziologie, eine Medienpädagogik, ja ein Medienrecht und eine Medienökonomie, und schließlich auch eine Medienphilosophie. Während aber einige dieser Disziplinen nicht aus der primären Subjektzentrierung herauskönnen, die die Medien als beliebige Werkzeuge in den Händen zurechnungsfähiger Handlungssubjekte begreifen, wie z.B. Medienrecht und Medienpsychologie, kann sich die Philosophie leichter von diesen Restriktionen befreien, allerdings nicht ohne ihrerseits perspektivisch gebunden zu sein. Sandbothe nun kritisiert die genannten Ansätze von Margreiter, Krämer und Seel als »theoretizistisch« und möchte dem eine pragmatische Medienphilosophie entgegensetzen. Doch zunächst zu seiner Kritik. Die theoretizistische Medienphilosophie unterstellt in den meisten Fällen, daß die Medienphilosophie die Sprachphilosophie des sogenannten linguistic turn als Leitdisziplin abgelöst habe. Das kann sie auf zweierlei Weise getan haben, entweder indem sie die Grundlegung noch eine Stufe tiefer anlegt und auf die Materialität aller Kommunikation hinweist,227 oder indem sie eine Erweiterung vorschlägt und Bilder, Graphiken und andere Zeichensysteme an die Seite des Sprechens treten. Zu der ersten Gruppe gehören auch Innis, Havelock, Jack Goody, Ian Watt und Marshall McLuhan. In gewisser Weise eine Kritik bloßer Sprachphilosophie in beiderlei Richtung vertritt Jacques Derrida. Nach Derrida ist es eine geteilte Ansicht aller Philosophie des Abendlandes gewesen, »daß wir, wenn wir einen Satz artikulieren, das Gesagte nicht nur als Mitteilung auf einen Kommunikationspartner veräußerlichen, sondern den artikulierten Satz zugleich immer auch in uns selbst vernehmen.«228 Dieses Selbstvernehmen wird angenommen als vorgängig zu der Äußerung, so daß die Sinnkonstitution vorgängig zu jeder Kommunikation sei. Eine solche Ansicht ignoriert oder meint vernachlässigen zu können, wie Medien wirksam sind. Und so kommt es in der Tradition vielfach auch geradezu zu einer Medienschelte. Das Medium verzerrt und verunstaltet das eigentlich, im Inneren nämlich, Gemeinte, ja einige meinten sogar: verunmöglicht es. Diese meinen dann, der in der Seele gebildete Sinn fände gar kein angemessenes Mittel, sich mitzuteilen. Dem hält Derrida den Verweisungscharakter der Zeichen entgegen: die Differenz besteht nicht in der Abweichung des Gesagten vom tief innen Gemeinten, sondern die den Sinn konstituierende Differenz ist eine Differenz der Zeichen. Ein Zeichen im System der Zeichen ergibt nur dann einen Sinn, wenn es sich von anderen Zeichen unterscheidet. 227 Materialität der Kommunikation, hrsg. v. H. U. Gumbrecht u. K. L. Pfeiffer. 228 So die Darstellung von M. Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie, p. 100.
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Die Differenz ist also nicht das Versagen des Sinns im Medium, sondern die Differenz ist die Bedingung der Möglichkeit von Sinn. So hat bekanntlich Derrida den Differenzbegriff zum Grundbegriff seiner Philosophie gemacht, so radikal, daß er die Differenz noch in den Begriff der Differenz selbst einbaut und das Wort als »différance« falsch schreibt, allerdings in einer Weise, die zwar sichtbar, aber in der Aussprache unhörbar ist. Für ihn ist daher die Schrift vorrangig gegenüber dem Sprechen, weil sie die Differenz einer Urschrift als Spur aufrechterhalten kann, was das gesprochene Wort nicht kann. Wenn Sandbothe eine pragmatische Medienphilosophie entwickeln möchte, so kann er dabei anknüpfen an den amerikanischen pragmatistischen Philosophen Richard Rorty. Nach Rorty gehören Medien zu dem Komplex von Bemühungen, durch den wir versuchen, andere Menschen als »einen von uns« zu begreifen, statt ihn auszugrenzen. Medien haben also einen solidarisierenden Effekt. Und Pragmatismus ist für ihn eine Richtung der Philosophie, die vor allem die praktischen Wirkungen zur Bewertung von Philosophien und anderer Theorien heranzieht. Eine andere Quelle der pragmatistischen Medienphilosophie ist die transversale Vernunftkonzeption von Wolfgang Welsch. Welsch zeigt, daß allen klassischen Vernunftkonzeptionen, so unterschiedlich auch sein mögen, ein kontingentes Netz von Familienähnlichkeiten zugrunde liegt. Eine umfassende Vernunftkonzeption müßte nun dieses Netz freilegen, und zwar so, wie Welsch sagt, daß »das gesamte Verkehrssystem sowohl der horizontalen wie der vertikalen Anschlüsse aufzudecken« sei.229 Das impliziert auch eine Kritik der herkömmlichen Rationalitätskonzepte, die in der Regel diese Anschlüsse und Verknüpfungen ausblenden und ignorieren, die also im Grunde nicht über ihr eigenes Tun Auskunft geben können. »Wo diese doppelte Aufklärung gelingt, überführen die Interventionen der Vernunft die einzelnen Paradigmen aus ihrer bloß rationalen in ihre vernünftige Form.«230 Das Wort »transversal« bedeutet in dem Zusammenhang: quer zur Ausbreitungsrichtung stehend. Eine transversale Vernunftkonzeption möchte die Verbindungen der verschiedenen konkurrierenden und konfligierenden Rationalitätskonzepte aufzeigen, die Verbindungslinien, die nicht im Blickfeld der jeweiligen Theorien stehen. Was sich ergibt, ist nicht mehr die eine alles überblickende Theorie, sondern ein Netzwerk von Verknüpfungen von Theorien. Sandbothe resümmiert die drei Grundthesen von Welschs Buch folgendermaßen: »Erstens: Die Verfassung von Rationalität ist durch eine unhintergehbare Unordentlichkeit gekennzeichnet. Zweitens: Vernunft ist prinzipiell fähig, diese Unordentlichkeit zu rekonstruieren und präzise zu beschreiben. Drittens: Erst wenn es der Vernunft gelingt, sich auf die untergrün-
229 W. Welsch: Vernunft, p. 601. 230 l. c., p. 673.
138 | I DENTITÄT ALS E REIGNIS digen Verflechtungsverhältnisse, die zwischen verschiedenen Paradigmen, Paradigmenverbänden und Rationalitätstypen bestehen, produktiv einzulassen, ist sie für die Lösung gegenwärtiger Problemstellungen angemessen gerüstet.«231
Und das heißt auch gerüstet für ein Begreifen von Medien und Medialität. Die transversale Vernunftkonzeption löst die Heterogenität der Rationalitätskonzepte und damit auch der Wirklichkeit nicht mehr in einer scheinbaren Einheit auf. Vielmehr, jetzt ein Zitat von Welsch: »Die Heterogenität wird nicht beseitigt oder aufgehoben, die Übergänge führen nicht zu einer inhaltlichen Vereinigung oder strukturellen Synthese der diversen rationalen Komplexe, sondern das Heterogene ist einzig in der Übergangstätigkeit der Vernunft – in seinem Erscheinen vor dem Auge der Vernunft – verbunden.«232 Hier erscheint nunmehr auch der Vorteil von Welschs Konzeption zu dem reinen Pragmatismus Rortys; denn Rorty muß hoffen in »a romantic hope of substituting new common sense for old common sense«,233 letzterer denkt noch repräsentationalistisch, während ersterer antirepräsentationalistisch denkt; Welsch dagegen kann den Verbindungen beider Arten zu denken, nachgehen und ihre geheime Verbindung offenlegen. Nun, wie kann eine solche Konzeption auf eine Theorie der Medien angewendet werden, die davon ausgehen muß, daß mit dem Internet die Herausforderung besteht, Medien und ihre Medialität ganz neu zu denken? Zunächst einmal, das skizzierte Konzept der transversalen Vernunft und ihr Umgang mit Heterogenität erlaubt es, die auch in der Medienlandschaft bestehende Heterogenität nicht auf eine angebliche Einheit hin zu reduzieren, auf der anderen Seite verzichtet sie nicht auf eine einheitliche theoretische Analyse und ließe es etwa bei dem Befund bewenden, hier sei alles so bunt und vielfältig. Tatsächlich entwickelt sich ja auch die Realität genau in diese Richtung, indem die Heterogenität nicht einfach ein beliebiges Nebeneinander bleibt, sondern sich starke Impulse in Richtung auf eine Multimedialiät ergeben haben, die nicht auf eine Einheit, sondern auf eine Vielfalt der Verknüpfungsmöglichkeiten hinzielt. Es zeigt sich aber hier bereits, daß das Internet inzwischen zu einem zentralen Knoten in diesem Netz von Verknüpfungen geworden ist. Wenn etwa eine Tageszeitung auf einen Bericht in der Tagesschau verweisen möchte, dann nutzt es dem Leser wenig zu lesen, was er am Soundsovielten hätte sehen können, wenn er es nicht verpasst hätte, zweckmäßigerweise wird er auf www.tagesschau.de verwiesen, wo er vielleicht noch ein Videostreaming sehen kann, als hätte er es nicht verpasst. Man könnte viele weitere Belege anführen, daß das Internet inzwischen eine Art Clearingstelle für Informationen geworden ist. Am längsten hat sich die Musikindustrie gegen
231 M. Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie, p. 125. 232 W. Welsch: Vernunft, p. 752. 233 R. Rorty: On Moral Obligation, Truth, and Common Sense. In: Debating the State of Philosophy, hrsg. v. J. Niznik u. J. T. Sanders. Westport 1996, p. 48-52, hier p. 52.
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das Internet gewehrt, erfolglos. Und inzwischen haben sowohl die Musikschaffenden als auch andere begriffen, daß der sogenannte Schutz geistigen Eigentums von Anfang an nicht die Autoren schützen sollte, sondern die Verleger voreinander, d.h. nicht ein angebliches »Geistiges Eigentum«, sondern die Profitinteressen von Verwertern. Das kann aber den Autoren gleichgültig sein. Ursprünglich war der Hintergrund, daß auch Autoren daran interessiert waren, daß die Verleger Honorare zahlten, von denen die Autoren leben können mußten. Diese konnten umso höher ausfallen, je weniger man damit rechnen mußte, daß ein Nachdrucker das Buch unentgeltlich nachdruckte und daher billiger verkaufen konnte. Wenn ich heute ein Buch veröffentlichen möchte, werde ich sehr bald danach gefragt, ob ich einen Druckkostenzuschuß beibringen kann; und von Honoraren ist meist überhaupt nicht die Rede, geschweige denn von solchen, von denen man leben könnte. Was spricht dann eigentlich noch gegen eine Publikation im Internet, zumal Studenten oftmals das Internet als erste Informationsquelle nutzen und sie daher auf Internet-Publikationen eher aufmerksam werden als auf ein in einem kleinen Verlag erschienenes Buch, und zumal größere Verlage heute vielfach im Internet Probeseiten oder Recherchemöglichkeiten für das gesamte Buch anbieten, bzw. vielfach sogar eine Ebook-Version. Ich wiederhole also meine These, die im Einklang mit Sandbothe steht: das Internet leitet uns dazu an, die Medien und Medialität überhaupt neu zu durchdenken. Dazu geht Sandbothe dann zunächst aus von der weithin bekannten Medientheorie von Marshall McLuhan. Dieser macht drei Voraussetzungen: • • •
Erstens ist sein Medienbegriff wahrnehmungstechnisch fundiert. Er begreift Medien als »Ausweitungen der menschlichen Sinne«234; zweitens unterstellt er eine unmittelbare Kausalität der Medienwirkungen auf die formalen Wahrnehmungsstrukturen; drittens: Schrift und Buchdruck hält er für Ausweitungen des Gesichtssinnes mit seiner Logik der Distanzierung und des Objektivität beanspruchenden Blicks auf die Dinge und steht damit im Gegensatz zur Ausweitung des taktilen Sinns der elektronischen Medien (Fernsehen, Radio), der partizipierend und ganzheitlich verfährt.
Es gibt somit bei McLuhan einen Konflikt zwischen Sehen und Hören, der letztendlich das Sehen aus seiner Vorrangstellung verdrängen wird und ein Zeitalter der sekundären Oralität eröffnen wird. Sandbothe bietet demgegenüber die pragmatistische Sicht, die Medien nicht als wahrnehmungstechnische Erweiterungen unserer Sinnesorgane aufzufassen, sondern als soziale Konstruktionen. »Diese Konstruktionen können dann ihrerseits wiederum in bestimmten Relationen zu denjenigen sozial habitualisierten Wahrnehmungsgewohnheiten stehen, die das definieren, was wir als unsere 234 M. McLuhan: Die magischen Kanäle. Düsseldorf 1968, p. 13, 28, passim.
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›Sinne‹ zu kennzeichnen gewohnt sind.«235 Das Internet nun, das es zwar schon vorher in der Form von Email, Newsgroups, Mailing-Listen, IRC, dann Gopher und dem Browser »Mosaic« gegeben hatte, erlebte seit der Einführung der Sprache html, d.h. seit der Möglichkeit von Hypertext, 1993/94 eine enorme Expansion; seit 1995 erlebten wir alle 53 Tage eine Verdopplung des Angebots von Web-Seiten, so daß heute kaum noch denkbar ist, daß ein Dachdeckermeister nicht seine eigene Seite für seine Firma eingerichtet hätte. Mit dem Hypertext wurde, das muß man sich in aller Deutlichkeit klarmachen, die Linearität von Textentfaltung endgültig verlassen, die ja schon in der gedruckten Form in Form von Fußnoten, Glossen, Appendices etc. durchbrochen war. Mit einem Link folgt man durch Klicken auf eine Zeichenkette gewissermaßen einer Fußnote bis in ein Dickicht von Fußnoten zu Fußnoten usw., so daß man u. U. nie wieder zum Ursprungstext, den man gar nicht zu Ende gelesen hatte, zurückfindet. Denn während die traditionelle Fußnote schon durch Kleindruck am Ende einer Seite, oder gar am Ende des ganzen Textes, signalisiert, daß sie nur Nebensache sei, hat der Link diese Nebenbotschaft nicht; im Gegenteil: wer einem Text mit etlichen Links stur bis zum Ende folgte, ohne auf irgendeinen Link einzugehen, der hätte das Angebot des Textes nicht verstanden; wozu die Links, wenn man ihnen nicht folgte? Einem Link aber zu folgen, ist nicht ein Lesen, sondern es hat Ähnlichkeit mit einem bildhaften, weil ganzheitlichen und einem taktilen, weil nicht die Augen, sondern ein Mausklick das weitere auslöst. Sandbothe dazu: »Der Text verweist dann nicht länger nur in den Horizont seines Sinnes und die sich damit verbindende Sphäre unserer verstehenden Innerlichkeit, sondern regt zu einer teilnehmenden und extrovertierten, unmittelbar in das vernetzte Textgeschehen involvierten […] Tätigkeit an.«236 Sofern man den Links ins Dickicht der Verlinkungen folgt, was man auch Surfen zu nennen pflegt, handelt hier nicht mehr ein autonomes Subjekt, das angeblich seine Intentionen verwirklicht, sondern es bewegt sich das postmoderne verführte Subjekt entlang von Gelegenheiten und Anreizen. Hier wird nicht der Plan verwirklicht, immer schön geradeaus zu gehen, was man dann auch methodisches Vorgehen nennt, sondern hier wird ein nomadisches Sich-Bewegen in einem Labyrinth praktiziert, zu dem wir ohnehin keinen Übersichtsplan haben, weil es ihn nicht gibt; es ist ein in alle Richtungen wucherndes Labyrinth. Und Google ist ein Spiegel dessen: Google versucht nicht, eine Ordnung in das Dickicht zu bringen, sondern bringt gewisse Algorithmen zur Anwendung, die verhindern, daß trotz fehlender Übersicht eine gewisse Orientierung im Nahbereich möglich bleibt. Auch im Chatraum bringt sich nicht mehr das autonome Subjekt zur Geltung; hier ist ganz klar, was Sozialwissenschaftler auch für die soziale Interaktion herausgefunden hatten: wir alle spielen Theater, d.h. wir nehmen bestimmte Rollen in bestimmten Situationen an. Souveränität ist dann nichts anderes als die Kompetenz, 235 M. Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie, p. 163. 236 l. c., p. 170.
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situationsangemessene Rollen zu übernehmen und zu spielen. Person zu sein, heißt ursprünglich eine Rolle zu spielen und das heißt auch, Masken zu tragen. Im Chat schlägt das bis auf den Namen durch, den man sich gibt. Aber auch im normalen Leben sind ja Namen nichts Naturgegebenes, sondern man bekommt einen, oder man wählt einen, oder man macht sich einen. Im Film »Dead Man« von Jim Jarmush heißt William Blake einfach so, bis der gebildete Indianer, der ihn verwundet aufliest, ganz aus dem Häuschen gerät angesichts der Information, dieser sei William Blake, jener bedeutende Dichter des 18. Jahrhunderts. Sherry Turkle hat diese Entwicklungen analysiert und kommt zu dem Schluß, daß in den vielen Spielen, insbesondere, wenn sie gleichzeitig gespielt werden, sich das postmoderne Selbst dezentriert und in den Dezentrierungen sich selbst vervielfältigt. Identität bleibt bleibt nicht, was sie einmal zu sein schien: die sichere Heimat im Selbst. Ist in »Second Life« dieses wirklich nur das zweite Leben? Führen wir uns doch vor Augen, daß die Begriffe »real« und »virtuell« Reflexionsbegriffe sind. Real ist, was reale Wirkungen zeigt, Begriffe intervenieren in die Realität, z.B. »der deutsche Nationalcharakter«. In einer Ausstellung alter Gemälde in einem Schloß sah ich einmal eine Reihe von Gemälden, die alle exotische Tiere zeigten, da war der Elefant zu sehen und das Nashorn, ich glaube auch das Zebra und dann mit einmal das Einhorn. Real – virtuell? Je nachdem. Das hängt von der Perspektive ab, die wir dazu einnehmen. Die Betrachter der Bilder in den früheren Jahrhunderten hatten weder einen Elefanten, noch ein Nashorn in der Realität gesehen, und eben auch kein Einhorn. Als Bilder aber noch nie gesehener Tiere waren alle gleich real. Und letztlich verweist diese Erfahrung darauf, welche Funktion Zeichen im Medium tatsächlich haben. Entgegen der Meinung der Leute und auch der Philosophen früherer Jahrhunderte sind Zeichen nicht in erster Linie Verweise auf etwas, was sich außerhalb des Mediums befindet. Zeichen sind nicht in erster Linie Repräsentationswerkzeuge. Es ist nicht die Funktion eines Zeichenzusammenhanges wie eines Textes, sagen wir eines Buches, die Welt abzubilden. Der Text sagt, was er sagt, und zwar im Unterschied zu anderen Texten. Ein Zeichen erhält seine Bedeutung nicht durch das, worauf es gewissermaßen zeigt außerhalb der Zeichenwelt, sondern seine Bedeutung erhält es durch seine Unterscheidungsfunktion. Es hilft natürlich gar nichts zur Rettung solcher Zeichen wie »Gott« oder »Einhorn« oder »Idee« zu sagen, sie verwiesen nicht direkt auf die Dinge, sondern auf die Vorstellungen von ihnen; denn wie anders haben wir Vorstellungen als mit Zeichen. Aus dem Gebrauch des Internets haben wir endlich lernen können und müssen, daß eine solche repräsentationistische Vorstellung falsch ist, daß vielmehr Zeichen dazu dienen, mit anderen Zeichen in eine Verbindung zu treten und daß es verschiedene solcher Verbindungsarten gibt, u.a. auch solche, die Verbindung mit anderen Komplexen der Realität herzustellen, aber auch diese sind von unterschiedlicher Art. Vor dem Zeitalter digitaler Medien standen die verschiedenen Medien verbindungslos nebeneinander und man mußte sich entscheiden, in welchem Medium man
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sich bewegen wollte. Wollte ich jemandem eine Mitteilung zukommen lassen, schrieb einen Brief, sollte es persönlich sein, wählte man die Handschrift, ansonsten zur Erhöhung leichterer Lesbarkeit die Schreibmaschine, sollte es besonders schnell gehen, schickte man ein Telegramm, indem die Botschaft elektronisch analog von Postamt zu Postamt geschickt wurde und dann per Boten sofort zugestellt wurde. Wollte man aber eine Antwort besonders schnell haben, mußte man zum Telefonhörer greifen. Um ein Bild zu übermitteln blieb aber gar nichts anderes übrig, als es per Post zu schicken. Im Zeitalter der digitalen Medien, in dem alle Botschaften in digitalem Code übermittelt werden, rücken die Medien ganz dicht aneinander, gleichgültig, ob Bild, ob Ton, ob Schrift, alles wird in den digitalen Code chiffriert, der dann mit entsprechender Software entschlüsselt wird, Bilder als Bilder, Schrift als Schrift und Ton als Ton. Da sich die Browser aber auch kombinieren lassen, bzw. mehreres zugleich können, lassen sich multimediale Botschaften einrichten, was heute auf Webseiten der Normalfall ist. Auf diese Weise, so Sandbothe in Anknüpfung an Sherry Turkle und andere, erhält Derridas These von dem verborgenen Schriftcharakter aller Kommunikation einen neuen, aktuellen Sinn: im Hintergrund aller multimedialen Kommunikation liegt die Schrift des digitalen Codes. Anhand von Voice-over-IP kann heute auch der physikalisch ungebildete Laie erfahren, daß auch die Stimme, die wir hören, keine Unmittelbarkeit hat, sondern im Medium Transformationen unterliegt. Allerdings wird man hier wohl einen sehr erweiterten Schriftbegriff unterstellen müssen. Denn insbesondere im Hypertext läßt sich das Gesamtgeflecht der Verbindungen eher als ein abstraktes Bild, als eine Konfiguration darstellen, aber zugleich als ein Bild, von dem immer nur ein Teil sichtbar ist, also eher wie eine Architektur, die durchwandert werden muß um sie zu erfassen. Vielleicht nennen wir es angemessener eine Textur. Sandbothe nennt es »›textuelles Bild‹ oder ›Textbild‹«237 Sowohl die Wissenserwerbspraxis als auch die Wissenserweiterungspraxis (Forschung) folgt heute de facto ganz anderen Strukturen als uns unsere Selbstverständigung durch die Wissenschaftstheorien immer noch gerne weismachen möchte. Diese orientiert sich nämlich immer noch am Modell einer prinzipiell hierarchischen Ordnung des Wissens, wie es uns die arbor porphyriana vorstellt. Sinn entsteht aber heute generell durch Anknüpfung und Anschlüsse, sei es auf derselben Ebene, sei es durch transversale Ebenenverknüpfungen, nicht mehr durch Unterordnung unter einen Oberbegriff. Die beiden Strukturen Anschluß und Unterordnung oder Subsumtion widersprechen einander, bzw. Unterordnungen sind nur sehr seltene Fälle von Anknüpfungen, die aber keinesfalls Sinngenerierung monopolisiert haben. In einer hypertextuell verknüpften Wissenswelt gibt es keinen archimedischen Punkt mehr, von dem her das Ganze aufgerollt oder auf den es bezogen werden könnte. Die Arché der Griechen, was Ursprung und Herrschaft zugleich heißt, ist der labyrinthischen Welt 237 l. c., p. 194.
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der Postmoderne gewichen. Das Labyrinth, das müssen wir in Befreiung von den Griechen und in Rückkehr zu den Minoern, von denen das Labyrinth als Tanzform stammt, endlich begreifen, hat keinen Ursprungspunkt und auch kein Telos, keinen Zielpunkt, daher geht die nomadische Orientierung in ihm vom Jetzt/Hier und seinen Anschlüssen aus. Jeder Versuch eines Überblicks vermehrt nur die Komplexität des Labyrinths, gewinnt aber nicht die Einsicht in die Struktur des Ganzen, von dem her das Einzelne seinen Sinn beziehen könnte. Wer im Internet meint, bevor er nicht den Sinn des Ganzen verstanden hätte, könne er sich nicht dafür oder dagegen entscheiden, einem bestimmten Link zu folgen, der ist hoffnungslos verloren in den Vorstellungen der Moderne.
2.7 L UHMANNS M EDIENBEGIFF Niklas Luhmann schützt sich und seinen Begriff von »Medium« vor einer Einmischung von Assoziationen eines Alltagsverständnisses; wenn er von Medien spreche, so sagt er, dann seien nicht die sogenannten »Massenmedien« gemeint. Aber es wäre m.A.n. dennoch zu einfach zu unterstellen, da rede einer in einer Sondersprache, die mit der alltäglichen Verwendung des Wortes nichts zu tun habe und die die Medienwissenschaften und die Medienphilosophie nichts anginge. Immerhin hat er seine Gründe, diesen und keinen anderen Begriff zu verwenden. Allgemein gesprochen, ist für ihn ein Medium dasjenige, in dem Kommunikation stattfindet und dort eine Form annimmt. Erstes und grundlegendes Beispiel für ein Kommunikationsmedium ist daher die Sprache. Wenn man Medium so formal bestimmt, dann ist die oben gestellte Frage »Wer oder was ist ein Medium?« eine offenkundig falsch gestellte Frage; denn nicht Dinge oder gar auf eine bestimmte Art begabte Personen sind Medien, sondern Medien sind Formalcharakteristika jeglicher Kommunikation, oder anders gesagt: Kommunikation, wenn sie stattfindet, findet stets in einem Medium, und d.h. nichts anderes als: vermittelt, statt. Es gibt keine unmittelbare Kommunikation, also eine Kommunikation ohne Medium, selbst der tiefe Blick in die Augen und das dazu gehauchte »Du« ist medial vermittelt und kann daher durch ein Rauschen im Medium gestört oder zerstört werden.238 Nimmt man nun den Gemeinplatz hinzu, daß wir 238 Im Mythos der direkten Kommunikation verdichten sich meiner Ansicht nach zwei Vorstellungen, nämlich einerseits die seit Leibniz und Goethe vertretene Vorstellung der inneren Unendlichkeit von Individualität, der gemäß gilt »individuum est ineffabile«, und zweitens die Vorstellung der Intersubjektivität. Mythisch wird die Kombination beider Ideen dort, wo angenommen wird, in Kommunikation gehe es darum, die inneren Unendlichkeiten zweier solcher Individuen so in einen störungsfreien Kommerz zueinander zu bringen, daß die Individuen füreinander effabile werden, das wäre dann die eigentliche, aber zugleich die nichtmediale Kommunikation. Freilich ist diese Form des Wissens voneinander eine absolut mystische Form, die selbst als dieses Erlebnis nachher nicht mehr mitgeteilt werden kann. Man braucht nicht zu bestreiten, daß es solche Erlebnisse
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nicht nicht kommunizieren können, dann ergibt sich in sozialphilosophischer Hinsicht die These der Omnipräsenz des Medialen. Da nun nach Luhmann, und ich glaube das muß man so sehen, das Soziale, sei es als Gesellschaft sei es als Gemeinschaft, nicht durch eine Menge von Individuen, Personen oder Menschen konstituiert ist, sondern durch Kommunikation, dann ergibt sich die Primordialität des Medialen. Vieles am sogenannten Menschen, seinem Körper, seinen Eingeweiden, seiner Emotionalität, auch seinen Meinungen kann sozial irrelevant sein, sollten wir deshalb sagen müssen, die Gesellschaft bestehe nicht ganzen Menschen, sondern nur aus Menschenteilen, und wie sollten dann die für sich nicht lebensfähigen sozialen Menschenteile Garantie einer über die Zeit und über den Tod der Menschen hinausreichenden Gesellschaft zusammengebaut sein? – Die klassische Gesellschaftstheorie konnte an die Einheit der Gesellschaft aus Einheiten von sozial relevanten und sozial irrelevanten Menschenteilen glauben, weil sie zentralistisch dachte. Nach ihr gibt es in diesen Menschen eine pars principans, die den ganzen Menschen beherrscht oder doch beherrschen sollte, und das ist seine Vernunft. Da diese Vernunft nicht als eine Vielheit individualisierter Vernünfte auftritt, sondern in allen Individualisierten ein und dieselbe ist, ist die auf der Grundlage dieser Einen Vernunft gebildete Einheit der Gesellschaft naheliegend und kaum erklärungsbedürftig. Aber warum ist das so? Nach der stoischen Lehre, die letztlich darin fortwirkt, deswegen, weil der Logos (neuzeitlich die Vernunft) zugleich die Ordnung des Universums ist, der Kosmos. Solches überzeugt heute weniger denn je. Also brauchen wir eine andere Erklärungsgrundlage dafür, daß Gesellschaften Bestand haben, unabhängig vom Leben und Sterben der Individuen. Die Antwort der Systemtheorie sozialer Systeme lautet, wie gesagt, Gesellschaften bestehen gar nicht aus Individuen, sondern aus Kommunikation und Anschlüssen an Kommunikationen. Solange Kommunikation an Kommunikation angeschlossen werden kann, besteht das soziale System. Daher arbeiten Gesellschaften sorgsam daran, solche Anschlüsse zu schaffen, bzw. zu sichern. Autopoiesis als zentrales Stichwort der zweiten Phase der Systemtheorie bedeutet, daß das System sich selbst die Bedingungen seiner Fortexistenz, und zwar aus seinem eigenen Bestand verschafft. Bewußtsein, so Luhmann, operiert selbstreferentiell geschlossen. An mein Sehen kann ich keinen anderen anschließen, nur an meine Kommunikationen, u.a. auch solche über mein Sehen. Wenn ich einen Gilbweiderich sehe und meinem Partner sage
gibt, ja nicht einmal daß es vielleicht die tiefsten Erlebnisse sind, derer wir teilhaftig werden können, aber was ich energisch bestreite, ist, daß diese exstatischen Momente zum Modell oder zum Kriterium des Gelingens der Kommunikation gemacht werden dürften. In Kommunikation ist vielmehr Medialität unhintergehbar. Allerdings kommunizieren wir nicht nur mit Worten, sondern alle unsere Sinne können an Kommunikation beteiligt sein. Und hier wird sofort klar, daß die sogenannte Multimedialität auf die Beteiligung bestimmter Sinne verzichten muß, insbesondere auf die Nahsinne des Geruchs und des Geschmacks.
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›Sieh da, ein Gilbweiderich‹, mein Partner aber diese Bezeichnung gar nicht kennt, daher die daneben stehende Trollblume sieht und antwortet ›Ja, wunderschön‹, dann haben wir abgekoppelt vom wahrnehmenden Bewußtsein eine wunderbar gelingende Kommunikation. Noch häufiger dürfte dieses Phänomen sein, wenn nicht Gesehenes, sondern Erlebtes oder aber Vergangenes die Bewußtseinsinhalte abgeben. Gelingende Kommunikation, so vermute ich, insbesondere zwischen Männern und Frauen, ist wahrscheinlich wenigstens partiell normalerweise von diesem Typ eines einvernehmlichen und harmonischen Mißverstehens. Luhmann: »Kein Bewußtsein kann die eigenen Operationen an die eines anderen anschließen, kein Bewußtsein kann sich selbst im anderen fortsetzen.«239 Konsequenz: »Alle Begriffe, mit denen Kommunikation beschrieben wird, müssen daher aus jeder psychischen Systemreferenz herausgelöst und lediglich auf den selbstreferentiellen Prozeß der Erzeugung von Kommunikation durch Kommunikation bezogen werden.«240 Nicht trotz, sondern gerade wegen der Intransparenz des Bewußtseins des einen für das des anderen ist gelingendes Verstehen in Kommunikationsprozessen möglich. Wir kommunizieren, weil wir nicht durchschauen können, daher sind wir auf das immer riskante Verstehen durch Kommunikation als einzige Möglichkeit angewiesen. Das aber heißt: Gesellschaft ist nicht erklärbar durch Bewußtseinskonkordanzen, wer sollte auch ein Wissen von ihnen haben können, geschweige denn durch Einvernehmen ganzer Menschen, sondern Gesellschaft kann nur erklärt werden als konstituiert durch Kommunikation. Und, wie gesagt, solche Kommunikation ist auf Medien angewiesen. Sprache als Medium, um zu wiederholen, ist nicht ein Mittel, dessen sich Subjekte, Bewußtseine, bedienen, um andere Subjekte oder Bewußtseine über Wahrnehmungen oder Wollungen zu informieren. Der kommunikative Text als Prozeß sprachlicher Manifestationen ist ein Medium in dem Sinne wie das Wasser, das als Atlantischer Ozean New York und Cherbourg berührt. Man hat nicht den Atlantischen Ozean als Mittel erfunden, um von Cherbourg nach New York fahren zu können, sondern Schiffsverkehr ermöglichende Hafenstädte sind nur, weil es die Mitte, das Medium des Atlantischen Ozeans gibt. In Sozialphilosophien dieses Typs hat das Medium quasi transzendentalen Stellenwert. Das hat zur Folge: Medien sind – wie alle Transzendentalien – kein möglicher Gegenstand empirischer Beobachtungen. Natürlich wiederum läßt sich die mit Medien notwendig verbundene Materialität beobachten. Aber so wenig wie die Gehirnmaterie der Geist ist und die Gehirnchirurgen den Geist ausfindig machen können, sowenig sind die Schallwellen die Kommunikation. Ebenso muß man in diesem Zusammenhang unterscheiden die übertragene Information (meßbar in Bits und Bytes) vom kommunikativ erzeugten Sinn. Von alters her tritt Sprache als geschriebene und als gesprochene Sprache auf, heute auch noch in der digitalisierten Form, 239 N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, p. 23. 240 l. c., p. 24.
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die es auch Maschinen und nicht nur Menschen erlaubt, Geschriebenes akustisch und Gehörtes in Schriftform auszugeben. In den funktional ausdifferenzierten Gesellschaften der Moderne und der Postmoderne treten neben die Sprache weitere Kommunikationsmedien. Und eines unter diesen ist nach Luhmann die Macht. Macht erspart langes Reden in der Übertragung von Sinn und Sinnselektionen. Diese funktioniert so, daß Erleben und Handeln der an Kommunikation beteiligten Positionen asymmetrisch miteinander kombiniert werden können. Werden wir genauer: Beide Seiten sind sich einig, nämlich darüber, worum es geht, z.B. bringe ich oder bringst du den Mülleimer nach unten. Macht erspart hier endlose Diskussionen. Man kann das durch unterschiedliche Unrat-Toleranzen entscheiden lassen, dann ist der Unrat-Tolerantere der Mächtigere – in dieser Frage. Aber so einfach ist das ja meistens selbst in Zweierbeziehungen nicht. Es gibt Aufgaben, die erledigt werden müssen, und es gibt Aufgabenverteilungen, und es gibt schließlich auch Unangenehmeres als die Mülleimerbetreuung, z.B. bei strömendem Regen den Hund auszuführen. Da nun Macht, wie Michel Foucault gezeigt hat, alles andere als eine Unterdrückung ist, vielmehr ihre spezifische Produktivität u.a. in der Erzeugung von Gemeinsamkeit hat und der Steigerung gemeinsam geteilter Macht, besteht in allen Machtbeziehungen auch eine Einigkeit. An den Rändern der Machtbeziehungen gibt es zwei Optionen, die beide Seiten auf jeden Fall vermeiden möchten: auf der einen Seite, daß gar nichts geschieht, also in unserem Beispielsfall die gemeinsamen Aufgaben nicht mehr erledigt werden, das wäre dann das Ende der Gemeinsamkeit und damit auch das Ende der Macht dieser Beziehung und in dieser Beziehung, und auf der anderen Seite, daß zu Gewalt übergegangen wird; denn Gewalt ist nicht, wie manche immer noch glauben, z.B. die Erbauer des Käfigs von Heiligendamm,241 der Extremfall der Macht, sondern Gewalt ist das Scheitern der Macht. Der Gewalthandelnde hat das Gesetz des Handelns aus der Hand gegeben, er kann in für ihn selbst nicht kontrollierbarer Weise immer neu zu kostspieligen und zeit- und ressourcenaufwendigen Reaktionen gezwungen werden. In beiden Fällen, im Nichthandeln und im Gewalthandeln endet die Kommunikation und damit das soziale Band. In beiden Fällen ist das Kommunikationsmedium Macht am Ende, weil Macht – ich komme später darauf zurück – eine die BestandsKontinuität sichernde Modalisierung ist. Weder das Nichthandeln noch das Gewalthandeln manifestieren Macht als Medium, welches allein die Modalisierung des aktualen Handelns zur Möglichkeit des Handelns wäre. Warum aber sind nun beide Seiten einer Machtbeziehung mit der Asymmetrie einverstanden? Erstens weil Macht keine Unterdrückung ist, sondern eine Formierung; Unterdrückung schränkt den 241 Zur Erinnerung: im Jahre 2007 fand im Ostseebad Heiligendamm ein Treffen der G8 statt. Zum Schutz der dort Tagenden vor dem Volk ließ die Bundesregierung einen zwölf Kilometer langen und 2,50 m hohen Zaun mit Stacheldraht, Überwachungskameras und Bewegungsmeldern bauen. Die Tagenden der G8 waren also regelrecht eingesperrt: DDR in miniature.
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Möglichkeitsspielraum ein, Formierung erweitert ihn unter Umständen. Zweitens und wichtiger noch sind die beiden in unterschiedlich starkem Maße an der Vermeidung des Endes der Modalisierung interessiert. Präferenztheoretisch ausgedrückt, könnte man sagen: eine Seite ist stärker als die andere an der Modalisierung und an der Vermeidung des Endes der Kommunikation interessiert und zahlt deswegen mehr für diese Vermeidung von Nichthandeln oder Gewalthandeln. In solch einer Darstellung ist sowohl die Unterdrückungsmetaphorik aufgegeben als auch die Redeweise, daß einer der Macht-Haber sei, der andere der Macht-lose. Macht ist kein Ding, das gehabt und besessen werden könnte oder, wie die Gesellschaftsvertragstheoretiker fingieren, wie ein Besitztum vertragsförmig veräußert und übertragen werden könnte. Ein Kommunikationsmedium kann man nicht besitzen, es ist immer im Zwischen der Positionen eines gesellschaftlichen Feldes.
2.8 B EITRÄGE ANDERER T HEORETIKER DER I MMANENZ VON K OMMUNIKATION Worum es nun geht, ist eine konsequente Philosophie der Immanenz, die jede Sorte von Dualismus unterwandert. Philosophien der Transzendenz – darin folgt Deleuze seinem Lehrer Maurice de Gandillac – sind entweder solche der Emanation oder des Aufstiegs, in beiden Fällen sind sie hierarchisch strukturiert und setzen daher ontologisch Seinsabstufungen voraus; die Philosophie der Immanenz dagegen ist an-archisch: sie kennt weder Ursprung als Quell einer Emanation noch Telos als Ziel eines Aufstiegs, sondern netzartig kann sich in ihr alles mit allem verknüpfen. Sie kennt keine Transzendenzen, aber auch keine Negation im dialektischen Sinne, sie kennt auch keinen Mangel, und selbstverständlich unterwandert sie alle Hypostasierungen und Herrschaftsansprüche.242 Für eine solche Immanenzphilosophie bieten nicht nur Bergson und Nietzsche Bezugspunkte, sondern sehr früh auch Spinoza, dessen Philosophie Deleuze zwei seiner Bücher widmet.243 An Spinoza formuliert er einen Grundsatz des eigenen Philosophierens: »Unter allen Gesichtspunkten erscheint die Philosophie der Immanenz als Theorie des Eins-Seins, des Gleich-Seins, des univoken und gemeinsamen Seins. Sie sucht die Bedingungen einer eigentlichen Bejahung und prangert alles an, was das Sein so behandelt, daß ihm seine volle Positivität, d.h. seine formale Gemeinsamkeit entzogen wird.«244 Das »Heimatliche« eines Ritornells bei Gilles Deleuze besteht darin, daß »etwas« sich wiederholt, daß »etwas« wiedererkannt werden kann. Im Labyrinth heißt das: 242 G. Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. In: Unterhandlungen 19721990. Frankfurt a. M. 1993, p. 254-262. 243 ders.: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie; ders.: Spinoza. Praktische Philosophie. Berlin 1988. 244 ders.: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, p. 149.
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jetzt wieder nach links, jetzt wieder nach rechts, jetzt wieder zentrierend, jetzt wieder dezentrierend. Aber dieses Heimatliche im Labyrinth ist weder die griechische oder die Husserlsche Arché noch auch Noahs Arche,245 sondern auch die differenzierende Wiederholung ist nicht auf einen Fixpunkt bezogen, sondern sie ist ein Rhythmus. Der Rhythmus ist die nomadologische Antwort auf die Herausforderung der Spannung von Eigenem und Fremdem, von Ordnung und Chaos. Aber insofern das Labyrinth hier als quasi-kosmologisches oder als quasi-transzendentales Prinzip begriffen wird, ist es nicht länger als einfache Ordnungsfigur abbildbar. Als ein solches Prinzip des Inderweltseins ist jede Orientierung in ihr selbst labyrinthogen, d.h. jede Ordnungs-Operation erhöht die Komplexität des Labyrinths, indem es neue Ebenen der Labyrinthik schafft, wie z.B. jedes neue Wissen neue Rätsel erzeugt, jeder neue Text neue Dimensionen des Schweigens generiert,246 so daß wir zwar mehr wissen, zugleich aber und genau dadurch mehr nicht-wissen.247 Die Rhythmik der Bewegungszüge wird auf diese Weise immer komplexer, so daß Archéiker die immer wieder kehrende Frage aufwerfen, ob das für Menschen noch durchhaltbar oder erträglich sein kann.248 Diese kommen kulturkritisch meist und nicht erst im Übergang von der Moderne zur Postmoderne zu der Antwort, daß das nicht erträglich sei, daß man also reaktionär (im ursprünglichen Constantschen Wortsinn) die Menschen schützen und die Moderne retten, bzw. restaurieren müsse. Sie übersehen dabei geflissentlich, daß die jeweils nachwachsende Generation das vermeintlich Unmögliche mit Leichtigkeit bewältigt hat. Die Frage ist dann hinterher eben nicht mehr, ob es überhaupt möglich gewesen sein wird, sondern allenfalls, wie es möglich war und wie es wirklich wurde. Und meine hier schon vorläufig anvisierte Antwort lautet: dadurch daß Heimatlichkeit im Nomadischen aufgelöst wird.
245 M. Serres: Hermes III: Übersetzung. Berlin 1992, p. 13-52. Serres’ Identifikation von arché und Arche läßt allerdings auch die Deutung zu, daß in ihr nichts anderes vollzogen ist als eine Differenz und Abgrenzung eines Chaos im Äußeren und eines Chaos im Inneren, durch die, als sich die Arche wieder öffnet, diese Differenz nach außen getragen werden kann, wodurch arché/Arche auch die dritte Bedeutungsassoziation der Büchse der Pandora erhält. 246 N. Abraham / M. Torok: Kryptonymie. Vorangestellt: J. Derrida: Fors. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1979. 247 K. Röttgers: Woran ist die Ignoretik gescheitert?; cf. G. Gamm: Vertrauen haben. In einer Welt voller Überraschungen. In: Museumskunde 72 (2007), p. 47-55, bes. p. 48f.; ders.: Der unbestimmte Mensch. Zur medialen Konstruktion von Subjektivität. Berlin, Wien 2004, p. 167f.; ders.: Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten. Frankfurt a. M. 2000, p. 254-257. 248 R. Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin 1998; man könnte allerdings auch mit Walter Reese-Schäfer (mdl.) vermuten, daß es bestimmte Sozialisationsbedingungen gibt, unter denen solche Subjekte hervorgebracht werden; diese Eliten flexibler Menschen gedeihen jedoch kaum in den Sozialisationsbedingen bestehender Eliten, so daß der flexible Mensch nur möglich wird in einer flexiblen Gesellschaft und ihrer permanenten Elitenumwälzung.
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Solches macht eine weitere Voraussetzung, nämlich daß die Bewegung, der soziale Prozeß, der kommunikative Text nicht mehr als ein Gelangen von einem Ort zu einem anderen begriffen wird,249 sondern von der Tatsache, daß das sich Bewegende für sich immer »hier« ist, daß m.a.W. der soziale Prozeß seinen Sinn immer in sich, in seiner Immanenz hat und nicht im Außerhalb oder Oberhalb und daß der kommunikative Text nicht eine Information ist, die von einem Substantiellen zu einem anderen übertragen wird, sondern als das Medium selbst begriffen wird, also als Mitte und nicht als Mittel. Das ist eine Mitte, die die Positionen (Selbst, Anderer, Dritter) verteilt und definiert. Die Mitte hat, wie gesagt einen Rhythmus, in dem die differenzierende Wiederholung an die frühere Stelle des Identitätsprinzips tritt. Deleuze/Guattari sagen dazu: »Der Rhythmus liegt nie auf derselben Ebene wie das Rhythmisierte. Die Handlung läuft in einem Milieu ab, aber der Rhythmus tritt zwischen zwei Milieus auf oder zwischen zwei Zwischenmilieus, zwischen zwei Gewässern, zwei Stunden, entre chien et loup, twilight oder Zwielicht – Haecceïtas, Diesheit. Das Milieu wechseln, immer auf dem Sprung, das ist der Rhythmus.«250 Und sie fügen hinzu: »Ein Milieu kommt zwar durch eine periodische Wiederholung zustande, aber diese führt nur dazu, daß eine Differenz geschaffen wird, durch die es in ein anderes Milieu übergeht. Die Differenz ist rhythmisch und nicht etwa die Wiederholung, durch die sie allerdings erzeugt wird. Daher hat diese produktive Wiederholung nichts mit einem reproduzierenden Maß [Metrum, K.R.] zu tun.«251
Die Nichtsubstantialität der Positionen des Mediums veranschaulichen Deleuze/Guattari durch den »Code« der Spinne, der auf den »Code« der Fliege bezogen ist. »Man könnte sagen, daß die Spinne eine Fliege im Kopf hat, ein ›Motiv‹ der Fliege, ein ›Ritornell‹ der Fliege‹.«252 Natürlich ist, so zu reden, die Inanspruchnahme einer substantialistisch inspirierten Metaphorik, denn natürlich hat die Spinne die Bewegungen der Fliege nicht »im Kopf«, sondern im Netz, dem Medium der Bewegung beider. Hier müssen wir nämlich eine Weiterentwicklung des Luhmannschen Medienbegriffs in Betracht ziehen, die sich für ihn in Anknüpfung an die Psychologie Fritz Heiders ergeben hat und die von ihm als die Unterscheidung von Medium und Form auftritt. Hinter Heiders Begrifflichkeit steht freilich Aristoteles‘ Unterscheidung von Inhalt und Form. Bei Luhmann treten die beiden Begriffe nun stets in Kopplung auf,
249 Zum Übergang vom aristotelischen Begriff der kinesis zum neuzeitlichen Begriff der Bewegung z. B. bei Hobbes s. F. Kaulbach: Der philosophische Begriff der Bewegung. Köln, Graz 1965. 250 G. Deleuze / F. Guattari: Capitalisme et schizophrénie II: Mille Plateaux. Paris 1980, p. 428. 251 ibd. 252 ibd.
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und zwar deswegen weil nichts Medium oder Form als solches ist, sondern nur in Unterscheidung vom anderen. Medium ist etwas nur hinsichtlich bestimmter Formen, und diese Formen können als Formen nur gesehen werden in Bezug auf ihr Medium. Hinsichtlich anderer Sachverhalte können dann diese Formen durchaus als Medien fungieren. Die Unterscheidung kann vollzogen werden in Relation zur Striktheit der Kopplung der Elemente. In der Form sind die Elemente (relativ!) fest verbunden, im Medium sind sie (relativ!) frei gekoppelt. Das hat aber nichts mit den Elementen selbst zu tun. Unter dem einen Aspekt erscheinen sie als Medium, unter dem anderen als Form. Beispielsweise die Moleküle, aus denen die Luft besteht, sie sind lose gekoppelt und können eben deswegen als Medium des Transports von Schallwellen dienen. Wird aber tatsächlich eine Schallwelle transportiert, so kann man unter diesem Aspekt sagen, daß die wellenförmige Dichteänderung der Luftmoleküle eine bestimmte Form darstellt. Daher kann man auch sagen, daß eine Form eine Rigidisierung eines Mediums darstellt. Eine Form ist ein Medium, dem eine bestimmte Form aufgeprägt wurde. Umgekehrt heißt das auch, daß es Formen ohne Medien gar nicht gibt, aber auch – da Formen und Medien nur relativ zueinander zu bestimmen sind, sich aber als solche Kopplungen auch unter bestimmten Aspekten jeweils wandeln, daß man das Verhältnis beider als einen Prozeß denken muß. Oder das ungeformte Medium ergibt als solches gar keinen Sinn, d.h. ermöglicht keine Anschlüsse im sozialen Prozeß des kommunikativen Textes. Ein anderes Beispiel: die lose Kopplung von Wörtern im Satz wird zur Form; aber jedes Wort ist ist wiederum eine Form, die die lose gekoppelten Laute enger koppelte als das Medium Lautlichkeit als solches anzeigt. Medium und Form haben nicht als solche Bestand, sondern stehen in einem fortwährenden Prozeß der Kopplung und Entkopplung durch Ebenenwechsel. Man kann diese Prozessualität der Kopplungen auch so darstellen, daß man sagt, Medien kommen nur in Medien vor. Mit anderen Worten, es gibt eine fundamentale, und nicht erst nachträglich nach Belieben herzustellende Intermedialität. Das Medium ist nicht, sondern es wird. Daß man mündliche Kommunikation auf diese Weise differenziert beschreiben kann, dürfte unstrittig sein; wie aber ist es mit der multimedialen Verknüpfung im Internet etwa bestellt? Gilt für dieses noch, daß es ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium einer über spezifische Medien in gesellschaftliche Subsysteme ausdifferenzierten Gesellschaft ist? Ist es nicht gerade wegen der Multimedialität entdifferenzierend? Die Schönheit der Geldscheine hat für den Wert einer Währung keine Konsequenzen. Ein Ungar erzählte mir, daß auf den Geldscheinen des Forint alle großen Scheiternden der ungarischen Nationalgeschichte abgebildet sind. Das mag für die ungarische nationale Identität problematisch sein, beeinflußt aber nicht den Wert oder Unwert des Forint. Die Wahrheit einer Aussage kann man auch nicht durch Erhöhung finanzieller Offerten steigern. Zerstört der digitale Code nicht solche Differenzen? Vermutlich nicht, die Differenz ist in der differenzierten Anschließbarkeit gegeben. Wann immer jemand versehentlich eine bestimmte digitale
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Chiffrierung mit dem falschen Browser dargestellt hat, also z.B. eine Text-CD in das CD-Laufwerk Ihrer Stereo-Anlage geschoben hat, wird er die Erfahrung der Differenz gemacht haben. Und so ist es auch keine wirkliche Ausrede des Angestellten mehr, der von seinem Chef zur Rede gestellt wird, weil er pornographische Bilder aus dem Netz heruntergeladen habe, er habe ja nur, wie man im Text-Browser sehen könne, eine digitale Codierung heruntergeladen, aber keine Bilder. Das aber heißt, daß das Internet den Luhmannschen Medienbegriff nicht infrage stellt, sondern nur eine weitere Differenzierung einführt, die Anschlüsse sind nicht mehr unmittelbar ersichtlich, sondern durch ein neues Medium vermittelt, in dem andere Formen sich herauskristallisieren. Immerhin war auch vorher die Ausdifferenzierung nicht über die Substantialität der Elemente gegeben. Ein Numismatiker beispielsweise betrachtet Münzen und Geldscheine sehr wohl unter ästhetischem Gesichtspunkt, und der Kunsthändler Kunstwerke vielleicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihres Marktwerts. D.h. die Elemente konnten durchaus in verschiedenen Medien auftauchen und eine Rolle spielen. Gleichwohl waren die Codes gegeneinander abgeschottet, weil sie die Ausdifferenzierung leisteten. Von einem Kunstwerk zu erwarten, daß es ja wohl schön sein müsse, weil es viel gekostet hat, oder für ein Liebesgeständnis einen wissenschaftlichen Wahrheitsbeweis zu fordern oder auf es zu antworten, dafür könne man sich nichts kaufen, verwechseln bewußt oder unbewußt die Ausdifferenzierung ebenso, wie für eine digitale Information den falschen Browser zu verwenden. Nun zu einem anderen Theoriekomplex: Jacques Derrida. In der abendländischen Philosophie hat es jahrhundertelang den Mythos reiner Präsenz gegeben. Dieser hatte zur Folge, daß man hinsichtlich des Sprechens annahm, daß ein Satz, bevor er geäußert wurde, schon im Inneren des sprechenden Subjekts wahrgenommen worden sei und als präetablierter Sinn schon vorhanden war, als reine Präsenz für ein einsames Subjekt. Diese Annahme verkennt den Verweisungscharakter der Zeichen, wie oben schon dargestellt. Derrida hat Einsichten über Medialität vorformuliert, die durch die Neuen Medien verstärkt ins Bewußtsein geraten sind. Müssen wir nicht, das tut sich nun als unabweisbare Frage auf, Sozialität ganz neu denken, als wir es bisher getan hatten. Bisher hatten wir geglaubt, daß die Face-to-face-Situation der Begegnung zweier Leiber, die Intercorporéité, die Grundsituation sei, ihr Modell womöglich die sprachlose Interaktion von Mutter und Säugling. Die Lehre, daß es Unmittelbarkeit, also die medienfreie Kommunikation gar nicht gibt, vielmehr die Differenz jeder vermeintlichen Ursituation schon eingeschrieben in einem quasi-wörtlichen Sinne ist. Das war seit den frühen Achtzigerjahren der Grund, den Begriff des kommunikativen Textes als Grundform des sozialen Prozesses und Ausgangspunkt weiterer Analysen des Gesellschaftlichen anzusetzen und auszuarbeiten. Allerdings gibt es in der durch die und in den Medien bestimmten Öffentlichkeit auch gerade die Tendenz, das so mehrfach Vermittelte als eine Unmittelbarkeit zu nehmen, d.h. z.B. das Bild für die Realität, deren Bild es ist. Dann »ist« Roger Moore 007, er spielt nicht, wie man
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früher noch sagte, diese Rolle. Und dann »sind« Michael Jackson, Madonna und Lara Croft, das, als was sie medial erscheinen. Joachim Kulenlampff, einem Showmaster der Sechziger- und Siebzigerjahre geschah es einmal, daß eine Frau, die ihn aus dem Fernsehen kannte und ihm nun begegnete, sagte, er sähe ja ganz anders aus »als in Wirklichkeit«. Diese Verwechslung, damals eine witzige Anekdote, ist heute die Realität der Dominanz des medialen Bildes gegenüber einer meist fehlenden Face-toface-Erfahrung. Der Pygmalion-Mythos fragte, wie kann einem Bild, einer Kunstfigur ein Leben und eine Seele gegeben werden, damit sie mit uns al pari kommunizieren kann. Heute haben wir Pygmalion pervers: Wie kann man einem Menschen eine Seele nehmen, so daß er als Kunstfigur in die Medienwelt paßt und dort adäquat agieren kann, d.h. die dort eingerichteten kommunikativen Akte vollziehen und die Anschlüsse schaffen kann. Es wird nicht mehr lange dauern, bis wir Bilder und Filme von medial bekannten Figuren sehen werden, die keiner selbst gespielten Realität mehr entsprechen. Schon heute singt in dem Film »Farinelli« Stefano Dionisi in der Rolle des Kastraten Farinelli mit einer Stimme, die es nicht »gibt«, nämlich einer digital synthetisch erzeugten Stimme aus der Stimme des Countertenors Derek Lee Ragin und der Stimme der Koloratur-Sopranistin Ewa Małas-Godlewska. Die These, die man aus Derrida gewinnen kann, ist, daß diese Phänomene nur das enthüllen, aber zugleich auch massiver verbergen als je zuvor, was die Grundstruktur von Kommunikation ist. Sie enthüllen, daß es kein, wie Derrida sagt, Jenseits des Textes gibt;253 es gibt jeweils ein Jenseits eines spezifischen Textes, aber das ist ein Text. Oder in einer anderen paradoxen Formulierung Derridas: Wir reden immer nur in einer Sprache, und wir reden niemals nur in einer Sprache. Aber die neue Medialität verbirgt zugleich das Medium, indem die Suggestion, das medial Vermittelte sei die medial unvermittelte Realität, verstärken. Die Medien enthüllen, daß es nichts zu enthüllen gibt, alles ist Oberfläche, alle vermeintlichen Tiefen sind verschwunden, bzw. diese Tiefe ist trivial und niemand will sie wissen: der digitale Code. Zugleich verbergen sie, daß sie sehr wohl etwas verbergen, weil jede Sichtbarkeit ihre Unsichtbarkeit mit erzeugt: der raumerfüllende Gegenstand verbirgt das, was in einer bestimmten Perspektive hinter ihm liegt, einschließlich seiner eigenen Rückseite. Jeder Surfweg immer Internet verbirgt alle nicht eingeschlagenen Wege. Die Links im Cybertext lassen sich vielleicht bei einiger Sorgfalt über drei Schritte als Alternativen präsent halten, aber mehr auch nicht, man kann eben nicht in einem labyrinthischen und perspektivischen Raum alle Unsichtbarkeiten in Sichtbarkeiten überführen. Das aber verbirgt das Medium dem normalen User. Ein bißchen anders wird es, wenn wir uns die Avatare betrachten, die als Stellvertreter der User auftreten. Sie realisieren noch konsequenter die Situation im Medium: sie reagieren nur auf Oberflächenreize, verborgen sind ihnen nur die nicht überwindbaren Firewalls und nicht geknackten Passwörter. Das aber sind ganz neue Sorten von Tiefengeheimnissen. Die Avatare 253 J. Derrida: Grammatologie, p. 274.
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durchstreifen das Internet wie die militärischen Drohnen die sogenannte Realität. Aber auch gerade hier wird man heute bereits von einer Intermedialität reden müssen, die Drohnen bzw. die Spionageautos von Google-Earth sind direkt an das Internet oder andere Netze angeschlossen. Kehren wir zurück zur Selbstverbergung des Mediums. Dessen konsequenteste Gestalt heißt Live, nicht von ungefähr sprachlich als das »Leben selbst, so wie es angeblich ist« auftretend. Epochemachend waren hier die Geiselnehmer von Gelsenkirchen, die nicht etwa wie frühere Kriminelle das Licht der Öffentlichkeit scheuten, sondern im Gegenteil Wert darauf legten, daß sie dem Fernsehen live präsent waren. Live, das ist die Suggestion, die Unmittelbarkeit des Lebens selbst bringe sich hier zur Erscheinung, in sogenannter Echtzeit. Im Live-Medium versucht das Medium, sich selbst auf kaum durchschaubare Weise zum Ort der Präsenz zu machen. Das, was man sieht, ist das, was »wirklich« gerade jetzt geschieht. Das Medium scheint zu sagen: mich gibt es gar nicht, das, was du siehst, ist das, was die Wirklichkeit ist. Weil aber im Grunde alle Orte der Welt live gezeigt werden könnten, und zwar gleichzeitig, ist Echtzeit, ist das gezeigte Bild eine riesige Verbergung von alternativen Sichten, um nicht zu sagen von anderen Leben. Gehen wir nun über zur Medientheorie von Sybille Krämer. Sie fragt sich: Was ist ein Medium? Ihre Generalthese ist, daß Medialität im Zusammenhang mit dem Botengang zu erörtern sei: Der Bote als Urszene impliziert sind zwei Vorentscheidungen: • •
»Es gibt immer ein Außerhalb von Medien«, d.h. die Boten sind hetoronom, fremdbestimmt; »ein Gutteil unserer Kommunikation ist nicht dialogisch«, der Botengang ist unidirektional, asymmetrisch.
Krämer spricht von zwei Kommunikationsmodellen: das technische Übertragungsmodell und das personale Verständigungsmodell. Das technische Übertragungsmodell bestünde darin, zwischen Anfangs- und Endpunkt eine lineare Kette zu bilden und von außen kommende Störgrößen fernzuhalten. Verständigungsmodell dagegen wirft die Frage auf, wie Intersubjektivität unter den Bedingungen von Individualität überhaupt möglich ist; denn nach diesem Modell wären bei gelungener Kommunikation die Zwei in gewisser Hinsicht Eins geworden. Für das Übertragungsmodell sind Medien unverzichtbar, für Verständigung ist jedes Medium tendenziell störend. Für Übertragung sollen Störungen von Medien ferngehalten werden, für Verständigung sind Medien selbst Störungen. Der eigentliche Clou von Krämers Medientheorie ist nun, daß zwar das simple postalische Prinzip nicht ausreicht, daß aber das Verständigungsmodell prinzipiell ungeeignet ist, Medialität zu begreifen, wir daher von einem erweiterten Botenmodell als Grundmodell auszugehen hätten. Sie setzt sich daher kritisch mit der These von
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der Generativität der Medien auseinander. Sie bestreitet diese Funktion der Medien; im Gegenteil: im störungsfreien Vollzug entziehen sich die Medien und werden unsichtbar. Der Bote geht ganz darin auf, eine Botschaft zu überbringen, nichts davon sollte von ihm stammen. Einige Medientheoretiker haben für diese These Derridas These von der Schrift als Urschrift in Anspruch genommen und gesagt, daß für Derrida die Schrift so etwas wie ein Apriori sei. Das aber wäre zu bestreiten. Derrida setzt nicht die Schrift an die Stelle anderer Aprioris (Bewußtsein, oder Sprache nach dem linguistic turn), sondern er unterwandert jegliche Apriorität. Medialität ist also das Gegenteil dessen, was uns die Platonische Philosophie verordnet hatte; diese leitete an, hinter der Oberfläche, die nur Schein sei, nach dem wahren Charakter des Seins dahinter zu fragen. Im medialen Geschehen kommt es allein auf das Sichtbare (oder Hörbare) an, das Medium dahinter bleibt unsichtbar und unmerklich. Wir hören eben nicht die Wellen des Schalls, sondern das, was sie transportieren, die Botschaft. Und wir sehen nicht die Lichtwellen, die unser Auge treffen, sondern wir sehen die Dinge. Wir sind offen für die Welt und nicht etwa offen für die Art der Vermitteltheit. »Die Mittelbarkeit des Mediums ist angewiesen auf die Illusion einer Unmittelbarkeit.«254 Aber diese Illusion ist wiederum notwendig; denn nicht die Dinge sollen in unser Auge eintreten, sondern das, was uns das Medium vermittelt. So können wir zwar, wenn sie entfernt genug ist, eine Kontaktlinse erkennen, aber wenn sie auf dem Auge aufliegt, ohne jeden medialen Abstand, ohne ein »Zwischen«, dann sehen wir sie nicht mehr. »In der semiologischen Perspektive ist das ›Verborgene‹ der Sinn hinter dem Sinnlichen; in der mediologischen Perspektive dagegen ist das ›Verborgene‹ die Sinnlichkeit hinter dem Sinn.«255 Krämer unterstützt also die auch hier vertretene These, daß Medien keine Mittel (Werkzeuge, tools) sind, sondern eine Mitte in der Funktion des Vermittlers
2.9 D IE ANGELETIK (C APURRO ) Der Medientheoretiker Raffael Capurro hat dem neuen Wissensgebiet der Medientheorie, die auf dem Konzept der Übertragung oder Übermittlung aufbaut, den Namen »Angeletik« gegeben, von griech. ÁggeloV (der Bote, der Engel). Angeletik ist nun die Lehre von der Form der Botschaft, abgelöst von der theologischen Vorstellung, daß der Urheber der (»Frohen«) Botschaft (eüaggélion) ein Gott sei. Es geht vielmehr um menschliche Botschaften. Und dabei auch nicht primär um diejenigen Botschaften, etwa Erbinformationen, die die Naturwissenschaften als Botenstoffe
254 S. Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt, p. 30. 255 l. c., p. 34.
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analysieren oder die in den einseitigen informationstheoretischen oder behavioristischen Theorien oben zur Sprache kamen. Dagegen: • • • •
Buchdruck Postwesen Internationale Beziehungen (Botschaften) Globalisierung (Informationsübermittlung wirtschaftlicher Daten in Sekundenschnelle.
Der entscheidende formale Unterschied religiöser Vorstellungen von der Funktion des Boten und seiner Botschaft zu den Konzepten säkularer Angeletik ist, daß das vertikale Modell durch ein horizontales, oder mit Welsch und Sandbothe zusprechen, durch ein transversales ersetzt wird. Allerdings ist diese Ersetzung nicht vollständig gelungen, vielmehr kam es zu einer Durchmischung. Der Landesfürst der Neuzeit beherrschte zwar von einer Metropole aus ein Territorium (horizontal), aber dieses durch eine vertikale Machtstruktur. Zwar ermöglichte der Buchdruck eine flächige, d.h. horizontale Ausbreitung von Wissen, aber die Entwicklung eines Begriffs von »Geistigem Eigentum« reterritorialisierte eine Konzeption einer vertikalen Wissensdiffusion vom Urheber über die Verteiler zum Bildungsbedürftigen und verhinderte die Realisierung der aufklärerische Idee einer République des Lettres, in der jeder jeden kritisierte zum Wohl des Gedeihens von Wahrheit und Erkenntnis. In der Medientheorie der Wirkung der Massenmedien auf eine Masse überlebt diese zugleich vertikale und horizontale Denkstruktur. Erst eine Theorie, die die Netzstruktur des Wissens und seiner Verbreitung ernst nähme, hätte die Vertikale ganz hinter sich gelassen. Heute wird versucht (so Rupert Murdock), durch Ökonomisierung erneut eine vertikale Struktur in das Wissen einzuziehen. Nur wer zahlt, soll etwas wissen dürfen. Allerdings erlaubt es eine Angeletik auch, zwischen einer Idee der Totaltransparenz (so die aufklärerische Idee) und einer partikularen Vor-Ort-Transparenz einer schwachen Vernunft zu unterscheiden. Sie propagiert nicht den Überblick über das Ganze, was ja immer ein Ausweichen in die Vertikale voraussetzt,256 sondern einen wie immer auch begrenzten Durchblick (auf derselben Ebene des Labyrinths verbleibend). Die Angeletik realisiert, daß mit dem Internet ein Medium besteht, das sowohl interaktiv ist wie das Telefon als auch eine hierarchisch distributive Wissensverteilung erlaubt wie das Fernsehen, so daß es sowohl die Struktur one-to-one als auch die Struktur one-to-many und damit genau auch die Struktur many-to-one ermöglicht. Es ist weder die rein dialogische Kommunikationssituation noch die top-downStruktur, sondern die konkrete Realität eines Netzes, in dem Vielerlei möglich ist.
256 K. Röttgers: Transzendentaler Voyeurismus. In: Theorien des Dritten, hrsg. v. Th. Bedorf, J. Fischer, G. Lindemann. München 2010, p. 33-71.
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Diese Vieldeutigkeit und Multifunktionalität des Netzes erlaubt es, von einer Botschaftsgesellschaft zu sprechen. Eine Botschaft wird nun von einer Information dadurch unterschieden, daß eine Information eine Außeneinwirkung auf einen Rezipienten darstellt, während eine Botschaft auf eine Rezeptionsbereitschaft und ein Vorverständnis trifft. Und damit möchte ich kurz auf das Phänomen und den Begriff des sozialen Wandels zu sprechen kommen. Das ist eine außerordentlich wichtige Thematik, wenn es denn zutrifft, daß wir Zeitgenossen eines Wandels sind, der als der Übergang von der Moderne, bzw. Spätmoderne zur Postmoderne bezeichnet zu werden verdient. Aber bevor ich auf diesen Wandel und seinen Komponenten eingehe, möchte ich zunächst den Begriff des sozialen Wandels selbst klären. Der Begriff des Sozialen Wandels hat außerdem immer von dem klassischen, auf Kontinuität setzenden Identitätsbegriff für Kollektive Gebrauch gemacht. Dessen Problematik wird auch an diesem sichtbar werden können.
3. Sozialer Wandel und die Frage der Identität
Mit dem Begriff »sozialer Wandel« ersetzte die Sozialwissenschaft des 20. Jahrhunderts die geschichtsphilosophischen und evolutionstheoretischen Konzeptionen des 19. Jahrhunderts. Vorbereitet wurde die Redeweise in einer dialektischen Konzeption des Verhältnisses von »Kritik und Krise«1, wobei der Begriff der »Krise« aus der Naturgeschichte auf soziale Phänomene übertragen wurde. Die Umbrüche gestalteten sich aus sich in Bildern des »Fortschritts«, der »Umwälzung«, der »Revolution« (ursprünglich der Umlauf der Gestirne), aber auch des »Niedergangs«. Auf den Begriff gebracht hat das neue Zeitgefühl z.B. Georg Forster: »Es ist lauter Wandel und Wechsel in der Welt.«2 Die Erfahrung des Wandels verband sich sodann mit der Frage nach den Ursachen, nach den »bewegenden« Kräften.3 »Bewegung« wurde so zur epochalen Programm- und Problemformel. Karl Marx erklärte die Permanenz des sozialen Wandels als eine »Geschichte von Klassenkämpfen«, deren »soziale Bewegung« auf die revolutionäre Spitze zu treiben war, indem das Proletariat als »Klasse« zum kollektiven Subjekt geschichtlichen Wandels würde: »Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.«4 »Soziale Bewegung« bedeutete nun die Integration von sozialer Praxis und Selbstbewegung der Geschichte. So forderte Lorenz von Stein einen sozialwissenschaftlichen wie auch sozialpolitischen Standpunkt »über den Bewegungen«. Er stellte fest: »Mancher verliert in diesem wilden Treiben, wo Wahrheit neben Unwahrheit steht und Recht und Unrecht sich kreuzen, den Faden, der durch das Labyrinth
1 2 3 4
R. Koselleck: Kritik und Krise. Neuaufl. Frankfurt a. M. 1973. G. Forster: Schriften IX (Ansichten vom Niederrhein). Berlin 1958, p. 213. Zur Unruhe als Hintergrundorientierung s. sehr erhellend R. Konersmann: Die Unruhe der Welt. Frankfurt a. M. 2015. K. Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. (1844). In: K. Marx / F. Engels: Werke, hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1956ff., I, p. 385.
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der Bewegung führt […]«5 Auguste Comte differenzierte zwischen »sozialer Statik« und »sozialer Dynamik«, zwischen »l’ordre et les progrès«.6 Während die meisten der Begriffe des 19. Jahrhunderts ihre Legitimation aus spekulativen Geschichtsphilosophien bezogen und gesamtgesellschaftliche Prozesse (meistens kritisch) bewerteten, beabsichtigte der seit dem 20. Jahrhundert belegte Begriff sozialen Wandels, diese begrifflichen Schwächen zu vermeiden. Der 1922 von William Fielding Ogburn eingeführte Begriff sollte es ermöglichen, eine differenziertere Analyse der Vielschichtigkeiten gesellschaftlicher Veränderungen abzubilden,7 und zwar sollte mit seiner Hilfe die Ungleichzeitigkeit von Veränderungen in verschiedenen Teilbereichen der Gesellschaft bezeichnet werden können, bei Ogburn verbunden mit seiner These der kulturellen Phasenverschiebung (»cultural lag«): der soziale Wandel der Kulturentwicklung hinke stets hinter der technischen Entwicklung her,8 was unverkennbar der Marxschen These hinsichtlich der dialektischen Dynamik von Basis und Überbau entspricht. Um solche Ungleichzeitigkeiten (partielle Beschleunigungen, Entwicklungsvorsprünge, Verzögerungen und Verwerfungen) soziologisch zu analysieren, galt es, die »Totalität« der Gesellschaftsentwicklung zu differenzieren nach partiellen Sektoren sozialen Wandels, wobei unterschiedliche Tempi der Modernisierung beobachtet wurden. Seither geht das Bemühen der Soziologie nicht mehr dahin, durch eine große Entwicklungslinie gesellschaftliche Veränderungen zu erklären, sondern dahin, solche einzelnen Prozesse zu erforschen. Bis zum Ende der Dreißigerjahre hat sich dieses Konzept sozialen Wandels so erfolgreich durchgesetzt, daß der Begriff zu einem der beiden aufeinander verweisenden Grundbegriffe der amerikanischen Soziologie avancierte: soziale Struktur und sozialer Wandel. Gleichwohl mußte Talcott Parsons noch 1951 feststellen: »[…] that a general theory of the processes of change of social systems is not possible in the present state of knowledge.«9 Und noch 1969 mußte R. Dahrendorf einräumen: »[...] hat die Soziologie zu diesem Thema bisher relativ wenig geliefert.«10 Es war ebenfalls Parsons, der die Unterscheidung der Prozesse innerhalb eines Systems von dem Wandel des Systems selbst einführte, beides unter dem Oberbegriff 5 6 7 8 9
10
L. von Stein: Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage. Nachdr. Darmstadt 1959, I, p. 65. A. Comte: Cours de philosophie positive. Paris 1830-1843, IV, p. 8. W. F. Ogburn: Social Change, with Respect to Culture and Original Nature. New York 1922. l. c., p. 200-213. T. Parsons: The Social System. New York, London 1951, p. 486; 1937 hatte Parsons, in seiner Darstellung der Theorie von Durkheim, noch gemeint: »It cannot but strike the reader of his works how conspicuous by its absence from his thought is any clear-cut theory of social change.« Und er vermutete die Ursache dafür in Durkheims »idealism«. T. Parsons: The Structure of Social Action. New York, London 1968, I, p. 448. R. Dahrendorf: Sozialer Wandel-. In: Wörterbuch der Soziologie, hrsg. v. W. Bernsdorf Frankfurt a. M. 1972, p. 752-754, hier p. 754.
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»Dynamik«; nur letzteres aber, also die Veränderung des Systems als ganzem sollte, so sagt er, sozialer Wandel heißen.11 Da aber beide Prozesse interdependent sind, handelt es sich um eine bloß analytische Unterscheidung. In der diskursiven Dimension der Theorie des kommunikativen Textes erscheint der soziale Wandel nicht nur als Wahrnehmungs- und Wissenswandel, sondern ebenso sehr als Wertewandel. Die Entwicklung der Theorien sozialen Wandels ließe sich dahin zusammenfassen, daß die finalen Perspektiven teleologischer Entwürfe abgelöst wurden durch kausale Analysen der Faktoren und Impulse des Wandels. Damit aber wurde lediglich eine Einseitigkeit gegen eine neue eingetauscht. Als wissenschaftlicher Begriff hat sich der Begriff des sozialen Wandels jedoch so umfassend durchgesetzt, daß nicht nur der 3. Weltkongreß für Soziologie im Jahre 1956 sich dieser Thematik widmete,12 sondern daß die Gefahr besteht, daß im Grunde alles als sozialer Wandel bezeichnet werden kann, wie bereits 1942 J. M. Reinhardt sagen konnte: »Anything that becomes different in society represents social change.«13 Damit aber hätte der Begriff den Zenit seiner Produktivität als wissenschaftlicher Begriff überschritten. Und so stößt auch die einseitige Festlegung der Theorien sozialen Wandels auf modernisierungstheoretische Perspektiven heute auf Kritik aus verschiedenen Richtungen.14 Es ist zu erwägen, ob nicht die viel zu einfachen Evolutionstheorien sozialen Wandels zu ersetzen sind durch Modelle der Emergenz, der Selbstreferenz und Autopoiesis gesellschaftlicher Systembildung gegenüber den in ihrer Komplexität unabsehbaren Umwelten einer prinzipiell offenen Zukunft.15
11 12 13 14
15
T. Parsons: The Social System, p. 481f. Transactions of the Third World Congress of Sociology, 22.-29. August 1956. London 1956. J. M. Reinhardt: Problems of a Changing Social Order. New York 1942, p. 31. S. z.B. J. Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt a. M. 1973, p. 64f.; ders.: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M. 1981, II, p. 471; cf. U. Beck: Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M. 1986. N. Luhmann: Beobachtungen der Moderne. Frankfurt a. M. 1992.
4. Das Selbst in Kommunikation
4.1 S EELENLEIDEN IM
KOMMUNIKATIVEN
T EXT
Wir wissen, daß die Seele nicht spricht. Woher wissen wir dann aber, daß sie leidet?1 Man kann zweifellos, was die Positionen von Selbst und Anderem im kommunikativen Text anbelangt, von Kommunikationseinschränkungen und von Kommunikationserweiterungen sprechen. Kommunikationseinschränkungen liegen z.B. dann vor, wenn der Wechsel der Besetzung der Positionen verhindert oder behindert wird. Das ist schon dann der Fall, wenn die Annahme gemacht wird, es gebe nur eine, eben die Eine Vernunft, und die sei beim redenden Selbst: lógon Écwn, das Selbst hat das Wort und die Vernunft, es hat sie inne und kann daher stellvertretend für alle Anderen sprechen, indem es das Wort der Vernunft an sie richtet und ihre Belange anspricht und ausspricht. Das kann sowohl als irreversible Anrede (Verkündigung) als auch als fürsorgende Rede-über (advokatorischer Paternalismus) geschehen. Der die Position des Anderen Innehabende wird so entweder – der Fall der Verkündigung: als Adressat, d.h. als Positionsnehmer im kommunikativen Text ernstgenommen – oder aber er wird sogar auf die Linie des Signifikats des Textes verdrängt – oder aber – der schlimmste Fall – es wird hinfort weder mit ihm noch über ihn geredet: er ist sozial tot. Kommunikationserweiterung ist nun das Gegenteil zu allen drei erwähnten Fällen: Der Andere kann das Wort ergreifen, d.h. zum Selbst werden, oder es wird wenigstens zu ihm statt nur über ihn geredet, oder das Minimum: es wird wenigstens noch über ihn, z.B. als Problem, geredet. Letzteres kann eigentlich immer nur durch Devianz erzwungen werden, z.B. als Gewalt, die als Symptom für soziale Probleme genommen und diskutiert wird. Ein Sonderfall der Kommunikationserweiterung ist die in Schonräumen professionell vorgenommene Erweiterung, die therapeutische Kommunikation. Sie ist dann angesagt, wenn sich die Kommunikationsräume außerhalb zunehmend schließen. Da 1
Cf. auch J. Kristeva: Die neuen Leiden der Seele. Hamburg 1994; und bereits Novalis: Schriften III. Darmstadt 1968, p. 663: »Jede Krankheit kann man Seelenkrankheit nennen.«
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es sich aber um Schonräume handelt, ist ein Gelingen der Kommunikationserweiterung dort noch nicht unbedingt als Erfolg zu werten, es sei denn der Schonraum wird zum Suchtraum (Hospitalisierung); Erfolg wird man erst das Verlassen des Schonraums nennen können, im Schonraum werden Strategien der Wortergreifung eingeübt, bewähren müssen sie sich außerhalb. Zuweilen ist aber gerade das strukturellsystemisch ausgeschlossen. So hilft beispielsweise in einer rassistisch exkludierenden sozialen Umwelt eine Individualtherapie eines Ausgeschlossenen noch wenig. Aber auch ein gerechtigkeitstheoretisch formuliertes Diskriminierungsverbot ist keine Lösung, da niemand Bestimmtes gezwungen werden kann, mit einem bestimmten Anderen auch tatsächlich zu reden und ihm zuzuhören, d.h. ihm die Position des Selbst zuzubilligen. Das Gerechtigkeitspostulat etwa könnte lauten: Niemandes Chancen zur Partizipation am kommunikativen Text und zum Einnehmen des Position des Selbst soll geringer sein als die aller anderen. Ein solches abstrakt formuliertes und allgemein akklamationsfähiges Postulat verlangt aber eine real unmögliche »totale Kommunikation«. Und wenn das Internet einen solchen Raum »totaler Kommunikation« bereitzustellen scheint, weil hier jeder texten kann, soviel er will, so ist das doch eine süßliche Illusion; denn möglicherweise hört niemand zu und liest das Getextete, m.a.W. ob tatsächlich ein kommunikativer Text sich ereignet, bleibt stets ungewiß. Zu diesem gehört, daß es zu einem Selbst einen Anderen (und einen Dritten) gibt; wenn es den Anderen nicht gibt, ist auch ein »Selbst« kein Selbst. In der temporalen Dimension wäre das vergleichbar eine Gegenwart, zu der es keine Zukunft (und/oder keine Vergangenheit) gibt, auch diese wäre gar keine Gegenwart, und in der diskursiven Dimension hieße das: Sinn ohne jede Normativität (oder ohne jedes Wissen) wäre gar kein Sinn. Wenn nun ein Levinasianer glaubt, der hier entwickelte Theorieansatz einer Sozialphilosophie des kommunikativen Textes sei nicht Phänomenologie-konform, sondern sei platt strukturalistisch, so sei er zur Korrektur seiner Fehldeutung auf Husserl selbst verwiesen, der in Ideen II, §51 sagt. »Die sich im Erfahren von den Anderen, im Wechselverständnis und im Einverständnis konstituierende Umwelt bezeichnen wir als kommunikative. […] Jede Person hat, idealiter gesprochen, innerhalb ihrer kommunikativen ihre egoistische Umwelt […] und macht die egoistische einen Wesenskern der kommunikativen Umwelt aus […]«2 Die fundamentale Asymmetrie beruht darauf, daß es sich um struktural zu kennzeichnende Positionen handelt, in denen Selbst der Sprechende, der Andere (wörtlich auch sprachlich: der Zweite) der Angesprochene ist. Die Besetzung dieser Positionen wechseln selbstverständlich normalerweise. Dieses ist einer der Ausgangspunkte der Sozialphilosophie des kommunikativen Textes in der Phänomenologie. In den Weiterungen allerdings trennen sich dann die Wege, aber dieser Ausgangspunkt ist doch ein sehr ähnlicher, weil er eine
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Zit. nach E. Husserl: Die Konstitution der geistigen Welt. Hamburg 1984, p. 24.
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substantiell nicht festgelegte oder »ethisch« aufgeladene Asymmetrie annimmt, sondern lediglich eine der Struktur der Relationen im kommunikativen Text. Das Internet räumt die jeder Kommunikation inhärente Asymmetrie nicht aus, sondern gibt ihr nur andere Formen. Die Medialität des kommunikativen Textes ist asymmetrisch. Nur die Träume der »direkten Kommunikation« träumen von einer Unmittelbarkeit amedialer Kommunikation, oder man sagt hier besser: Kommunion. Nicht aber die Verschmelzung von Individuen zu einer differenzlosen Einheit und Einheitlichkeit des Menschlichen (Contrat social, Totalitarismus der Gleichheit und der Menschenrechte) ist unser Thema, sondern die Ereignisse im Zwischenraum, im Zwischenraum der Medialität und Textualität, in dem dann letztlich auch »Menschen«, bzw. Teile oder Aspekte von ihnen auftauchen und involviert werden. Die Asymmetrie drückt sich nicht nur in einschränkenden Diskriminierungen aus, sondern auch z.B. in dem Phänomen, daß es Menschen gibt, die eine solche Kommunikationsattraktivität für anderen besitzen, daß sie unmöglich allen Appellen entsprechen können, z.B. Don Juan für gewisse Frauen. In den Wissenschaften erzeugt sich Kommunikationsattraktivität durch anerkannten Erfolg, bzw. wird identisch mit ihm. In einen kommunikativen Text mit dem anerkannt Erfolgreichen möchten sich gerne alle einfädeln. Und für die gesellschaftliche Konversation gilt Ähnliches: mit dem früher so genannten »Salonlöwen« möchten alle plaudern. So ist Kommunikation strukturell immer auch Ausschluß potentiell möglicher Anderer. Und so ist das schöne, oben ausgesprochene Kommunikationspostulat offenbar unbrauchbar. Wenn man nun aber an das von Kant formulierte Publizitätskriterium des Öffentlichen Rechts3 denkt, muß es unter den soeben ausgeführten Überlegungen einschränkend umformuliert werden. Für bestimmte Sorten von Kommunikation soll gelten: Aus diesen soll niemand Einzelner oder bestimmte Gruppen prinzipiell, d.h. institutionell, ausgeschlossen werden. Aber in jedem Einzelfall läßt sich die Öffentlichkeit mit Erfolg und legitimerweise ausschließen. Wenn dann jedoch eine pressure group der Ausgeschlossenen durch einen demonstrativen Akt auch für einen solchen Einzelfall »die Öffentlichkeit« herstellt, dann wird eben nicht »die« Öffentlichkeit hergestellt, so als könne es fortan nie wieder Exklusionen geben,4 sondern es wird lediglich ein bestimmter, bestimmt exkludierender Kommunikationsprozeß beendet. Die 3
4
Dieses lautet sinngemäß: nur was öffentlich gemacht werden kann, ist rechtens. Zum Publizitätskriterium als Kriterium des Rechts s. I. Kant: Zum ewigen Frieden, Zusatz, wo Kant der transzendentalen Formel des öffentlichen Rechts das Publizitätskriterium zugrunde legt. Daß eine Maxime, die geheim bleiben muß, um erfolgreich sein zu können, unrecht ist, ist für Kant wie ein Axiom »unerweislich gewiß«, I. Kant: Gesammelte Schriften, hrsg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1910ff., VIII, p. 381. Zur Problematik, bzw. Unmöglichkeit absoluter Transparenz (ungeachtet der neueren Aktivitäten der digital hochgerüsteten Geheimdienste) s. allgemein J.-J. Starobinski: La transparence et l’obstacle. Paris 1971 (die deutsche Übers. führt den irreführend vereinseitigenden Titel: Rousseau. Eine Welt von Widerständen. Frankfurt a. M. 2003).
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vor den Ausgeschlossenen auch weiterhin geheim zu haltenden Sachverhalte werden dann momentan nicht weiter besprochen. Nur nicht-enttarnte Spione, die also etwas ganz anderes sind als »die Öffentlichkeit«, können dann solche Exklusivität jeweils punktuell unterlaufen. Ihr Nicht-Enttarntsein läßt sie für den exkludierenden Prozeß die gleiche Rolle spielen wie die zukünftig erst noch zu enttarnenden Verräter aus den eigenen Reihen. Daß es dabei auch komplexe Mischverhältnisse geben kann, zeigen die Enthüllungsplattformen wie Wikileaks, die auf Verräter angewiesen sind, die aber darüber hinaus sowohl der Logik der Spionage als auch der Herstellung der »Öffentlichkeit« gehorchen. Ein anderer Fall ist der vergebliche Versuch des Nebenklägers im zweiten Prozeß gegen Verena Becker, dem Buback-Sohn, »Öffentlichkeit« über die Verstrickungen der Geheimdienste herzustellen (ähnlich die Verstrickungen der Geheimdienste in den Rechtsterrorismus). Die Exklusionen sind, wenn sie institutionell machtvoll abgesichert sind, nicht selbst auf institutionellem Wege aufzubrechen. Jedoch sind für die meisten Kommunikationsprozesse die Exklusionen und Exklusionskriterien und –grenzen nicht institutionell abgesichert, sondern auf der Grundlage struktureller Unvermeidlichkeiten von Asymmetrien und Exklusionen eher kulturell und moralisch oder durch Sitte und Takt definiert. Es gibt demgemäß Kompetenzminima und Grenzen maximaler Kapazität. Den kompetenten besorgten Debatten von Stammtischbrüdern darüber, wie die Schlagkraft der deutschen Fußball-Nationalmannschaft erhöht werden könne, empfiehlt man sich nicht dadurch als Teilnehmer an diesen Kommunikationen, daß man den Vorschlag macht, doch einfach ein paar Spieler mehr auf das Spielfeld zu schicken (Verletzung des Kompetenzminimums). Die Kapazitätsgrenzen sind ebenfalls kulturell geprägt. So kann eine erotische Kommunikation in der Regel nur zwischen zwei Liebenden stattfinden, jeder (intervenierende) Dritte gefährdet in der Regel die Fortsetzbarkeit eines derartigen kommunikativen Textes (der ausgeschlossene Dritte). Jeder akute kommunikative Text kennt vielfältige Möglichkeiten der Überschreitung seiner institutionellen oder kulturellen Grenzen. Aber jede Überschreitung negiert zwangsläufig andere Möglichkeiten. Das gilt sowohl quantitativ, als auch modal, als auch thematisch. Solche negierten Möglichkeiten der Textfortsetzung können später als vertane Chancen, als Bewußtsein nie gehörter Worte thematisiert werden und eine neue Selektivität ansteuern. Der Ausschluß der Vielen kann auch als Mechanismus des Ausschlusses des zeitvergeudenden Geredes der Leute fungieren und so Exklusion als eine Bedingung der Möglichkeit von Innovation bereithalten, d.h. eine gewisse Esoterik postulieren. Nehmen wir als drei Typen massiv exkludierendere Formen von Kommunikation die erotische, die konspirative und die esoterische, so können wir als Überschreitungen der exkludierenden Grenzziehungen solche von außen und solche von innen unterscheiden und haben dann für die erotische Kommunikation den Voyeurismus und den Exhibitionismus, zwei Formen, die den Dritten ins Spiel bringen, eingeladen oder
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unerwünscht.5 Für die konspirative Kommunikation haben wir schon erwähnt die Spionage und den Verrat, auch diese beiden Formen sowohl verfolgt oder insgeheim zugelassen. In der esoterischen Kommunikation verletzen sowohl die (theoretische) Neugier als auch die Profanierung die Exklusivität der geheimen Kommunikation. Alle diese Überschreitungen finden ihre partiellen Rechtfertigungen. So kann etwa, um es in einem einzigen Beispiel zu sagen, der Exhibitionismus ein ironisches Umspielen der erotischen Kommunikation sein, das dieser neue Fortsetzungsmöglichkeiten verschafft. Zwar ist der Exhibitionismus keine Form erotische Kommunikation, aber er ist in der Lage, diese durch Reflexivität in der Intensität zu steigern. Das Verspielen solcher Möglichkeiten ist Dummheit oder Bornierung, was beides ebenfalls keine natürlichen Charakteristika erotischer Kommunikation sind. Kehren wir zurück zur therapeutischen Kommunikation als Prozeß der Kommunikationserweiterung unter Bedingungen seelischen Leidens. Seelisches Leiden wird seit der Geburtsstunde des Individualismus als verletztes, unerfülltes autonomes Begehren wahrgenommen. Das ist allerdings insofern eine paradoxe Wahrnehmung, als jedes scheinbar autonome Begehren in Wahrheit ein Relations-Begehren ist. Der Trieb und seine Befriedigung können dem einzelnen Organismus zugerechnet werden; insofern sich aber das Begehren vom Trieb unterscheidet, ist es anders situiert. Das Begehren gehört der Sinn-Dimension des kommunikativen Textes an, der Trieb dem Organismus; insofern ist die Triebtheorie eine naturwissenschaftliche, die Theorie des Begehrens eine kulturwissenschaftliche Theorie. Sinn als der blinde Fleck des Diskursiven (wie die reine Gegenwart – »Urimpression« – und das reine Selbst) ist nicht selbst begehrt, sondern im Begehren eines Anderen in einer anderen Zeit ereignet sich Sinn. Damit ist das Begehren zugleich der Prozeß, an dem Vergangenheit und Zukunft, innerer und äußerer Anderer sowie Epistemisches und Normatives auseinandertreten. Wir haben also mit Freud und Lacan gegen Freud die Psychoanalyse als Verfahren der Therapie psychischen Leidens im Rahmen der Theorie des kommunikativen Textes als eine Kommunikationstherapie zu begreifen, durch die das gestörte Begehren eine Textspur wird und nicht ein Defekt in einem Menschen. Im Text werden durch die Therapie die Positionen flexibilisiert, daher kann man dann – mit Lacan – sagen, daß sich im »Sich-Aussprechen« das Subjekt transformiert wird, und zwar genau dadurch, daß es mit den Positionen von Selbst, Anderem und Drittem experimentiert und spielen lernt.6 Die Zeit-»Schere« im Ereignis des Begeh-
5 6
K. Röttgers: Transzendentaler Voyeurismus. In: Theorien des Dritten, hrsg. v. Th. Bedorf, J. Fischer, G. Lindemann. München 2010, p. 33-71. J. Lacan: Schriften I. Olten, Freiburg 1973, p. 139.
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rens bringt das bekannte Phänomen der Nachträglichkeit hervor, das in jetziger Zukunft eine Vergangenheit haben wird, die keine vergangene Gegenwart hat.7 Die soziale »Schere« dagegen beschert die Korrespondenz eines Anderen mit einem Selbstlosen Inneren. Das Subjekt nimmt die Position des Anderen ein. »Subjektivität ist in ihr nur in der Parenthese der Illusion zugelassen.«8 Und was die diskursive Dimension betrifft, so ereignet sich in ihr jenes Sprechen, das neben den Sinn des Diskurses greift. Es ist jeweils nichts, aber – wie das linguistische Zero-Phänomen – hinterläßt es Spuren im Text. Lacan bezeichnet dieses Ereignis, das die Ordnungen umkehrt, auch als »Wundertätigkeit«, durch die der Analytiker durch Symbolisierung die psychische Symptomatik zum Verschwinden bringen kann. Auf diese magische Weise bekommt der therapeutische kommunikative Text etwas, das an Gewalt grenzt, weil er das »Verstehen« vermeidet und verweigert, um dem Begehren Platz zu schaffen. Dadurch ist in den Text eine fundamentale Differenz eingebaut. Verstanden zu werden tut gut, verstärkt aber die pathologischen Texturen und Prozesse, Therapie muß eine Verweigerung dieser normalen, »verstehenden« Kommunikation sein. »Begehren ist, was manifest wird in dem Zwischenraum, den der Anspruch diesseits seiner selbst auslebt, insofern das Subjekt, indem es die signifikante Kette artikuliert, das Seinsverfehlen an den Tag bringt mit dem Appell, das Komplement davon vom Andern zu erhalten, insofern der Andere, Ort des Sprechens, auch der Ort des Verfehlens ist. Was damit dem Andern zu erfüllen aufgegeben ist und eigentlich das ist, was er nicht hat, da auch ihm das Sein abgeht, ist das, was Liebe heißt, aber auch Haß ist und Ignoranz.«9
Deswegen hatte Freud dem Traum Wichtigkeit zugemessen. Im Traum ist es ja nicht ein autonomes »Ich«/Subjekt, das seine Trauminhalte intentional hervorruft. Daher ist die Formulierung ›Ich habe geträumt …‹ so irreführend; denn Träumen ist keine Tätigkeitssorte, sondern die Trauminhalte sind Widerfahrnisse, für die als bessere Beschreibung gälte ›Mir träumte …‹. Die Psychoanalyse, die von Anfang an eine Individualtherapie war, selbst da, wo sie sich auf den Text und nicht das Gehirn bezog, mit dem Ziel der Auflösung gegenwärtiger Blockaden, sollte nach gewissen Vorschlägen auch Anwendung auf eine kollektive Vergangenheit finden. Das kann nun freilich nicht den Sinn haben, tote Personen der Geschichte oder ganze Völker auf die Couch des Analytikers zu legen. Auch ist es schwierig vorstellbar, wie Erkenntnisbedingungen geschaffen oder abgewandelt werden könnten, die eine Analogie zu einer analytischen Sitzung hätten.
7 8 9
l. c., p. 143: »[…] das zweite Futur […] dessen, was ich für das werde gewesen sein, was zu werden ich im Begriffe stehe.« l. c., p. 149. l. c., p. 218f.
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Wenn überhaupt, kann dieser Vorschlag wohl nur bedeuten, daß eine Gegenwart dazu befreit würde, eine verdrängte vergangene Gegenwart in den Text der aktuellen Gegenwart aufzunehmen. In diesem Sinne haben die Mitscherlichs mit ihren Arbeiten daran mitzuwirken versucht, daß die deutsche Öffentlichkeit ein aktives Verhältnis zur deutschen Nazi-Vergangenheit gewinnt und damit eine Fähigkeit zur historischen Trauer. Das hieße dann auch, diejenigen aus der Marginalität zu befreien, die von den Verbrechen zu sprechen wagten. Das Problem bei einer solchen Übertragung individualpsychologischer Kategorien auf Kollektive ist immer die nicht vermeidbare Unterstellung, daß Kollektive wie Individuen strukturiert sind, oder umgekehrt die ebenso verwegene Annahme, daß die Deutschen, d.h. jedes einzelne Individuum eine Schuld auf sich geladen hätte und diese dann verdrängt hätte. Wenn man aber diese methodischen Bedenken ignoriert und die Kategorien psychoanalytischer Interpretation einfach wie historische Kategorien behandelt, dann läßt sich schnell mithilfe dieser Kategorien, die dann Metaphern wären, Beliebiges behaupten.
4.2 K RITIK Unter der Interpretation der Psychoanalyse nicht mehr als eine die individualtherapeutische Gesprächspraxis leitende Theorie, sondern als Theorie der Gesellschaft wird das therapeutische Unterfangen in eine Emanzipationsbewegung umgedeutet. Die Freudsche Metapsychologie sei, so sagt z.B. Jürgen Habermas, eine Theorie vom Typus »Kritik«, statt nur kontemplatives Wissen in einer wissenschaftslogischen Struktur zu organisieren; sie ist, wie Walter Ch. Zimmerli analysiert, eine esoterische Theorie mit exoterischer Absicht.10 4.2.1 Zum Kritikbegriff »Kritik« ist ein Selbstverständigungsbegriff der Moderne gewesen, d.h. der VorPostmoderne. Sie unterstellt mit ihrem Gestus der Demaskierung, daß sie das Undurchschaute durchschauen kann, d.h. hinter die Maske der Realität blicken kann. Diesen Gestus kann sie nur aufrechterhalten, wenn sie ihr eigenes Durchschauen undurchschaut läßt, d.h. die Maske des Demaskierers nicht abnehmen kann, weil sie schicksalshaft mit ihr verwachsen ist. Odo Marquard hat solche Kritik »komisch«, ja »lächerlich« genannt.11 Aber solche Ridikülisierung ist ihrerseits nicht davor gefeit, sich selbst lächerlich zu machen; denn der Demaskierer der Demaskierer reiht sich 10 11
W. Ch. Zimmerli: Esoterik und Exoterik in den Selbstdarstellungsbegriffen der Gegenwartsphilosophie. In: Esoterik und Exoterik in der Philosophie, hrsg. v. H. Holzhey u. W. Ch. Zimmerli. Basel, Stuttgart 1977, p. 253-288. O. Marquard: Aesthetica und Anaesthetica. Paderborn, München, Wien, Zürich 1989, p. 57.
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unter sie ein. Genau das offenbart das eher Tragikomische der modernen Kritik. Louis Althusser hielt eine Kritik, die mit der Entgegensetzung von Abstraktem und Konkretem arbeitete, für eine noch der Struktur der Ideologie verhaftete Ideologiekritik, meinte aber offenbar, daß eine sich davon befreiende Kritik dann möglich wird, wenn die Theorie sich selbst als theoretische Praxis zu verstehen lernt.12 In der Moderne, für die der Kritikbegriff zum wesentlichen Selbstverständnis gehörte, gab es gleichwohl immer schon mehrere Modelle solcher Kritik,13 und selbst im Werk Kants finden sich mehrere, im Grunde inkompatible Konzepte. Das erste Modell ist das des Gerichtshofs, der über konfligierenden Ansprüchen ein Urteil fällt, aber gerade nicht aufgrund eines vorab bestehenden Regel- und Kriterienkodexes, sondern indem er rechtsprechend Recht setzt. Dieses ist das Modell der Transzendentalen Dialektik in der »Kritik der reinen Vernunft«; es ist zugleich das Ausgangsmodell der Kantischen Philosophie überhaupt.14 Das andere Modell ist das der Transzendentalen Analytik, die sich fragt, welche Kriterien haben wir eigentlich (gerechtfertigt) benutzt, als wir rechtsprechend ein neues Recht (metaphysischer Untersuchungen) gesetzt zu haben glaubten. Und hier fungiert die Kritik als Bestandssicherung und Grenzsetzung. Allerdings ist auch diese Grenzsicherung bei Kant nicht durch Überblick (»überfliegend« sagt Kant für »transzendent«) gewährleistet, sondern nach der Methode der Landvermesser.15 Auch sie bleibt – im Kantischen Sinne – immanent. Diesen Kantischen Modellen stellt sich ein auf Herder zurückgehendes Modell entgegen, für das die Figur der Entwicklung und der Geschichte entscheidend ist. Nach ihm ist das Werden selbst die Kritik des Gewordenen: auch sie kann, mit einem Wort von Schiller, die Weltgeschichte als Weltgericht interpretieren, d.h. die Gerichtsmetaphorik in Anspruch nehmen. Zu recht stellt Gerhard Gamm fest, daß gleichwohl die zwei Hauptmodelle Kants und Herders eine äußere Instanz für Kritik in Anspruch nehmen müssen.16 Diese Externalität wird erst von der romantischen
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L. Althusser: Für Marx. Frankfurt a. M. 1968, p. 129; cf. auch J. Frese: »Ideologie«. Präzisierungsversuch an einem wissenssoziologischen Begriff. Diss. Münster 1965, p. 140 stellt mit Niklas Luhmann heraus, daß sich Ideologiekritik grundsätzlich auf der gleichen Ebene bewegt wie die kritisierte Ideologie. K. Röttgers: Kritik und Praxis. Zur Geschichte des Kritikbegriffs von Kant bis Marx. Berlin, New York 1975; ders.: Kritik. In: Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. v. O. Brunner, W. Conze u. R. Koselleck. Stuttgart 1982, p. 651-675, modifiziert in ders.: Kritik. In: Enzyklopädie Philosophie, hrsg. v. H. J. Sandkühler. Hamburg 1999, I, p. 738-746; D. Schweitzer: Topologie der Kritik. Kritische Raumkonzeptionen bei Gilles Deleuze und Michel Serres. Berlin 2011. G. Bien: Das Geschäft der Philosophie, am Modell des juristischen Prozesses erläutert. In: Deutscher Kongreß für Philosophie Düsseldorf 1969. Meisenheim 1972, p. 55-77. K. Röttgers: Nomadismus außerhalb und innerhalb der Archive. In: Das Archiv der Goethezeit, hrsg. v. G. Theile. München 2001, p. 169-187. G. Gamm: Der unbestimmte Mensch. Wien 2004, p. 207f.
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Kritik unterlaufen, die Kritik als Medium der Selbstvollendung eines Werks begreift.17 Eine solche in der Figur der Reflexion gestaltete Kritik ist eingelassen in den Fortschrittsoptimismus der (Spät)moderne. Diese Kritik arbeitet fleißig daran, daß »es« »besser« wird. Die Verbesserungsvorschläge (in der klassischen Tradition nannte man das Emendationen) einer »kritischen Theorie« wollen mitbestimmen im eingerichteten Konzert der bürgerlichen Öffentlichkeit.18 Jean Baudrillard distanzierte sich von dieser Art der bürgerlichen Kritik, die den »großen Anderen« beschwören muß, um die Praxis der Kritik zu legitimieren, sei dieser »große Andere« nun »die Vernunft«, »die Menschenrechte«, oder andere große und vermutlich ewige Werte, die »Natur« Rousseaus oder der Fortschritt Condorcets.19 Dem tritt in der Postmoderne ein Kritikmodell entgegen, daß die Illusion des Fortschritts oder des Großen Anderen verloren hat. Diese andere Kritik20 will nicht mitbestimmen im Konzert der bürgerlichen Öffentlichkeit, sondern sie sucht die Konfrontation und die Abweichung (Devianz). Hier wird Kritik von Theorie auf Performanz umgestellt.21 Damit hat auch das Modell des Gerichtshofs ausgedient. Nun wird Kritik, wie es seinerzeit schon der frühe Marx formuliert hatte, zur Waffe in der Situation der Konfrontation. Das ist aber nicht nur der Tatsache geschuldet, daß der Fortschritt keinen Orientierungswert mehr hätte und damit eine »kritische Theorie«, die sich als Theorie erhebt, unmöglich geworden wäre, sondern auch, daß diese Kritik ganz anders ansetzt.22 Dieser (Deleuzesche) Typ von Kritik läßt am Scheitern hervortreten, bzw. liest an ihm ab, daß nicht erst die angebotenen »Lösungen« von Problemen kritisierenswert sind, sondern daß schon die Begriffe der Problemformulierun-
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W. Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. In: ders.: Gesammelte Werke. Frankfurt a. M. 2011, I, p. 235-337; K. Röttgers: Kritik und Praxis, p. 115138; A. Hetzel: Zwischen Poiesis und Praxis. Würzburg 2001, p. 195. R. Koselleck: Kritik und Krise. Frankfurt a. M. 1973. Cf. A. Hetzel: Zwischen Poiesis und Praxis, p. 231ff. Daher ist es voreilig, vom »Ende der Kritik« zu sprechen. U. Schödlbauer / J. Vahland: Das Ende der Kritik. Berlin 1997; die Autoren glauben es deswegen tun zu dürfen, weil sie das Geschäft der Kritik ganz eng an die Rolle des Intelektuellen, wie er im 19. Und 20. Jahrhundert aufgetreten ist, anbinden. Wenn diese Rolle entfällt, und das tut sie ja, dann habe sich auch dessen Kritik erledigt – das ist ein Kurzschluß. Angemessener wäre vom Ende des Intellektuellen zu sprechen. W. Langer: Gilles Deleuze: Kritik und Immanenz. Berlin 2003, p. 328-336, 308-310, 4953; ähnlich G. Gamm: Der unbestimmte Mensch, p. 210. Das ist u.U. auch der Grund, warum Jacques Derrida »Kritik« nicht als einen Begriff zulassen kann, der das Verfahren der Dekonstruktion kennzeichnen könnte: J. Derrida: Einige Statements und Binsenweisheiten über Neologismen, New Ismen, Post Ismen, Parasitismen und andere Seismen. Berlin 1997, p. 48f., cf. auch ders.: Fors. In: N. Abraham/N. Torok: Kryptonymie. Das Verbarium des Wolfsmanns. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1979, p. 5-58, hier bes. p. 35; an anderer Stelle formuliert er einen Begriff von »Kritik« (vorsichtshalber in Anführungszeichen gesetzt), der – paradox – das in einen Text einschließt, »was sich, als seine Bedingung, ihm wesentlich entzieht.«
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gen dekonstruiert werden müssen. Eine solche Performanz-orientierte Kritik muß andere Raum-Bilder als Gerichtshof oder Grenzsicherung verwenden. Nicht mehr ein Hier muß verbessert oder umgestürzt werden, und nicht mehr eine Utopie muß entworfen werden als kritisches Maß eines schlechten Hier und Jetzt, sondern Kritik hört auf, Seßhaftigkeit zu beschwören, und wird nomadisch, d.h. sie organisiert Räumlichkeit als reine Intensität, die nicht mehr extensional diesen Raum anders oder andere Räume imaginiert.23 Neuerdings ist der früher nur von tiefer Verachtung begleitete Begriff der Kulturkritik rehabilitiert und positiv ins Spiel gebracht worden. Man hält fest, daß es zum Begriff der Kultur gehöre, daß sie immer auch Kulturkritik gewesen sei (und zwar seit Rousseau) und auch immer noch sei. Andreas Hetzel formuliert: »Ein differenziertes Konzept von Kultur läßt sich […] genau dann retten, wenn es gelingt, die kulturelle Differenz in die Kultur selbst einzutragen. Wenn Kultur nichts ihr selbst Vorgängiges, Älteres, Anderes, Nichtkulturelles vorfindet, gegenüber dem sie sich als Kultur individuieren könnte, muß sie sich selbst zu einem Anderen werden, muß sie eine Differenz zu sich aus sich heraus produzieren. Kultur fällt dann zusammen mit der Kritik ihrer selbst.«24 Oder wie Ralf Konersmann über das »kulturkritische Paradox« lapidar feststellt: »Kulturkritik, das ist […] Kritik der Kultur im Namen der Kultur.«25 Diesen Konzepten von Kulturkritik ist eigen, daß sie hinter die Postmoderne zurückfallen. Sie wollen einen Kulturbegriff retten, der nur durch die Integration von Kritik in Kultur oder von Kulturkritik in Kulturphilosophie zu retten wäre. Das setzt aber wie eh und je eine Sonderrolle der Intellektuellen voraus, wie Jürgen Frese gesagt hat: Kritik ist der Legitimations-Gestus einer Intellektuellen-Identität. 26 Und das gilt seit jenem Manifest der Intellektuellen in der Dreyfus-Affäre u.d.T. »J’accuse«.27 Der syndikalistischen auf der einen und der reaktionären Intellektuellen-Schelte28 auf der anderen Seite setzte Jean-François Lyotard mit seinem »Grabmal«29 ein postmodernes Ende, ein Ende, das auch das Ende dieser Art der Kritik signalisiert. 23 24 25 26 27 28 29
Zur nomadischen Kritik s. Ph. Goodchild: Gilles Deleuze and the Question of Philosophy. Cranburry u.a. 1996, p. 37. A. Hetzel: Zwischen Poiesis und Praxis, p. 7. R. Konersmann: Das kulturkritische Paradox. In: Kulturkritik, hrsg. v. R. Konersmann. Leipzig 2001, p. 9-37, hier p. 33. J. Frese: »The Education of Henry Adams« und die Postmoderne. In: Am Ende – postmodern?, hrsg. v. D. Baacke u.a. München 1985, p. 118-130. Cf. dazu E. Zola: Der Siegeszug der Wahrheit. Die Affäre Dreyfus. 2. Aufl. Stuttgart, Leipzig o.J. Zu den Einzelheiten u. Literaturhinweisen s. K. Röttgers: Intelligenz, Intellgentsia, Intellektueller V. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie IV, hrsg. v. J. Ritter u. K. Gründer. Basel, Stuttgart 1976, Sp. 454-458. J.-F. Lyotard: Grabmal des Intellektuellen. Graz, Wien 1985. Die Begründung ist bei ihm umgekehrt. Es kann keine Intellektuellen mehr geben, weil die Funktion von Kritik und Anklage fortgefallen ist (p. 17-19).
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4.2.2 Therapie der Gesellschaft? Eine Verwendung des therapeutischen Designs von Freud als eine Gesellschaftstherapie vernachlässigt den Umstand, daß Patienten, die sich in Therapie begeben, aufgrund eines Leidensdrucks den Therapeuten aufsuchen. Die Analyse verschränkt dann Diagnose und Therapie im psychoanalytischen Text. Soll dieses Design auf Soziales anwendbar sein, dann muß es Bewertungskriterien dafür geben, welche sozialen Phänomene als Leidensartikulation einer Pathologie zu gelten hätten, was in der Gesellschaft als Äquivalent zu dem Gang zum Therapeuten und auf seine Couch gelten kann und wie schließlich eine gesamtgesellschaftliche »talking cure« auszusehen hätte. Nicht ganz abzuweisen ist nämlich der Verdacht, daß die Übertragung der Asymmetrie des individualtherapeutischen Designs auf soziale Phänomene großen Umfangs auf eine Bevormundung seitens selbsternannter intellektueller »Experten« (mit Durch- oder Überblick) hinauslaufen würde, in dem sich irgendein Neurotiker mit einem psychoanalytischen Vokabular bewaffnet und seine Mitmenschen »analysiert«, was dann nichts anderes heißen kann, als sie zu demaskieren. Während in der echten Psychoanalyse ein Patient den Therapeuten aufsucht und ihn auffordert ›hilf mir‹, tritt in der sozialen Psychoanalyse in Gesellschaften oder auch nur Gruppen ein Weltverbesserer mit der Behauptung auf ›ihr seid alle krank, ich fühle mich berufen, euch zu helfen‹. Aber diese »soziale Psychoanalyse«, so falsch sie ansetzen mag, verweist doch genau dadurch auch auf eine Fehlkonstruktion in der Psychoanalyse selbst. Diese normierte den Individualismus der Moderne und Spätmoderne und tat so, als ob Individuen (individuum: lat. Übersetzung für griech. Átomon) in sich abgeschlossene Welten seien, die zwar ihre traumatischen Erfahrungen hatten, die ihnen von anderen widerfuhren, aber das alles war in ihnen, entweder im Bewußtsein oder, verdrängt, im Unterbewußtsein. Dabei hätte eigentlich mit der Therapieform der »talking cure« der Gedanke so nahegelegen, daß nicht individuelle Triebschicksale das Problem seien, sondern der kommunikative Text. Gerade deswegen kann die Psychoanalyse etwas Befreiendes haben, weil sie einen anderen Text inauguriert. Kommunikationspathologien aber sind soziale Phänomene. In der Individualtherapie sind Lehranalyse und Supervision die Mittel der Einführung des Dritten, so daß die pure Intersubjektivität auf das Soziale hin verlassen wird. Das Problem bleibt freilich, daß die klassische Psychoanalyse durch eine substantialisierende Festschreibung der Positionen im Text auf Personen verhindert, daß die Therapie in eine echte Kommunikationstherapie übergehen kann, in der Patient und Analytiker sich in einer gemeinsamen Therapie der Funktionspositionen des kommunikativen Textes befänden. Dieser Mangel
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wird allerdings teilkompensiert durch Übertragung und Gegenübertragung. Wenn man das alles aber ernst nimmt, dann scheint der Übergang von der Individualpsychoanalyse zur Sozialpsychoanalyse im Prinzip nicht so abwegig zu sein, wie es zuerst erscheinen mochte. Dabei können wir einstweilen offen lassen, ob der beispielsweise von Jürgen Habermas seinerzeit eingeschlagene Weg, nämlich »falsches Bewußtsein« einer therapeutischen »Ideologiekritik« zu unterwerfen, der richtige oder gar der einzige Weg der »Sozialisierung« der Psychoanalyse ist. Allerdings enthält sogar sein Ansatz den wegweisenden Gesichtspunkt, daß es sich bei dem sogenannten falschen Bewußtsein um Kommunikationsdeformationen handele, um Ideologie als »Kommunikationssperren«.30 Habermas will diese Sperren allerdings nicht als Verursachungen von soziopathologischen Zuständen verstanden wissen, sondern nur als besonders gut sichtbare und handhabbare Erscheinungsweisen derselben.31 Die »Erklärung« der »systematisch verzerrten Kommunikation« soll dann die Universalpragmatik leisten, d.h. Habermas suchte seither nach einer sprachphilosophischen Fundierung seiner Gesellschaftstheorie. Zu diesem Zweck unterscheidet er sprachliche Interaktion von Diskursen. Diskurse erheben sich über die Interaktionen als »eigentümlich irreale Form der Kommunikation«,32 in der Begründungsanstrengungen für die problematisch gewordenen impliziten Geltungsansprüche von Kommunikationsprozessen gemacht werden. Es ist nicht ganz einfach zu verstehen, was damit gemeint sein soll. Irreal, aber nicht transzendental soll der Diskurs sein. Einerseits soll der Diskurs die normativen Fundamente jeglicher Kommunikation explizieren, andererseits soll er selbst organisierbar sein, und es fragt sich andererseits dann, unter welchen Normen solche Organisierung von Normenexplikationen stehen soll; wiederum andererseits wird die Organisierung von Diskursen für bloß vorläufig erklärt.33 Anscheinend resultieren diese Widersprüche aus zwei inkompatiblen Grundlagen dieser Diskurstheorie. Einerseits hebt sich der Diskursbegriff ab von dem Typ der »systematisch verzerrten Kommunikation«. Und insofern diese eine pathologische Kommunikation ist, ist der Diskurs eine gesunde, heile Kommunikation, die die verzerrten Kommunikationsformen befreien und heilen kann. So ist der Diskurs eine Kommunikationsform, die therapeutisch wirken kann. Andererseits aber – als irreal – ist der Diskurs eine Meta-Institution, die durch »Virtualisierung von Handlungszwängen« den Maßstab möglicher realer Kommunikationen abgeben kann. Nur wenn es diese Meta-Ebene gibt, kann ohne infiniten Regreß über Konflikte auf der Ebene der sprachlichen Interaktion entschieden werden. Nur aufgrund dieser Uneindeutigkeit kann am Ende der Diskurs die Wunder bewirken, die ihm zugetraut werden müssen. 30 31 32 33
J. Habermas: Theorie und Praxis. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1971, p. 19. ders.: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a. M. 1968, p. 311. l. c., p. 25. ders.: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? In: ders./N. Luhmann: dass. Frankfurt a. M. 1971, p. 142-290, hier p. 290: »interimistisch«.
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In unserer Sozialphilosophie des kommunikativen Textes besteht kein Bedarf an einer solchen Kontroll-Institution, weil der Prozeß ohnehin weitergeht, pathologisch oder nicht, und wir die Vorstellung, daß mittels dieses Prozesses oder in diesem Prozeß sich alles zum Besseren wenden wird oder soll, aufgegeben haben. Verlassen wir aber diese Prozessualität des kommunikativen Textes nicht, weder nach oben oder in ein Jenseits (»irreal«), dann gilt: Wer zuletzt lacht, lacht am besten, nicht aber: Wer über das Lachen der anderen lacht, lacht am besten. Auf diese Weise werden wir die Idee der Meta-Institution los, ohne auf die Möglichkeit »therapeutischer« Textanschlüsse verzichten zu müssen. Aber Therapie kann dann nicht mehr heißen: die Herstellung heiler textueller Verhältnisse, sondern: befreiende Erweiterung der Textfortsetzungsmöglichkeiten. Statt der Einführung eines kriteriellen Phantasmas handelt es sich nun um die Eröffnung einer experimentellen Praxis. Und für die normativen Implikationen heißt das: Ermöglichung moralischer Experimente statt definitive Kennzeichnung des Bösen. Kann man dann noch eindeutig den therapeutischen Text von dem zu therapierenden unterscheiden? Antwort: Manchmal ja, manchmal nein, so wie es ja in manchen psychiatrischen Anstalten schwierig sein soll, die Patienten von den Therapeuten allein aufgrund ihres Redens zu unterscheiden. Die bloße Inanspruchnahme einer metainstitutionellen Ebene der Reflexion ist offensichtlich dafür nicht ausreichend. 4.2.3 Erotik Nach Jacques Lacan definieren sich homosexuelles und heterosexuelles Begehren allein durch das Objekt des Begehrens, so daß heterosexuell zu sein, heißt, Frauen zu lieben, homosexuell, Männer zu lieben, was auch immer das »natürliche« Geschlecht der/des Begehrenden sei. Umgekehrt, wenn sie ihn begehrt, glaubt sie ihn zu lieben, und wenn er sie zu begehren glaubt, dann ist es dasselbe wie, sie zu lieben. Denn ersteres ist eben ein homosexuelles Begehren mit dem Phantasma der Liebe, letzteres das Phantasma eines heterosexuellen Begehrens, das auf Liebe hinausläuft. Homosexuelle Liebe ist deswegen ebenso ein Phantasma wie heterosexuelles Begehren. Wir haben es also mit der Durchkreuzung zweier Dualismen zu tun, die man jedoch auch noch aufgelöst findet in der Spaltung einer Gegenwart/Nichtgegenwart, so daß sich eine Vielfalt inner- und interpersoneller Spaltungen ergibt. Das wirkt sich in folgenden Verdrehungen zwischen Liebe und Begehren zwischen Mann und Frau in Homosexualität und Heterosexualität aus. Wenn ein Mann eine Frau wirklich liebt, dann respektiert er sie. Dahinter steckt für Lacan eine quasi-moralische Verpflichtung; er sagt sich: wenn ich sie wirklich liebe, muß ich sie respektieren. Oder er verwendet die Moral legitimatorisch: Da ich sie respektiere, werde ich sie wohl lieben – Moral erzeugt Evidenzen. Und wenn die Moral und die Evidenz konvergieren, dann darf er sich als guter Mann fühlen, er liebt
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und respektiert, aber das Begehren hat sich in ein Phantasma verloren. Sie dagegen wird sich sagen müssen: Er begehrt mich, also bin ich »nur« ein weibliches Objekt seines Begehrens. Oder aber sie sagt sich: Er ist ein guter Mann, er liebt und respektiert mich, aber er begehrt mich nicht, also bin ich keine (begehrenswerte) Frau. Für beide Versionen gilt: Was auch immer die beiden tun, sie machen es falsch, und das genau deswegen, weil Homosexualität und Heterosexualität nicht zueinander passen. Wenn er sie nur begehrt und nicht achtet, wird sie sich aus Selbstachtung verweigern müssen: Männer wollen immer nur das eine und das geht an mir selbst vorbei. Wenn er aber sie nur achtet und liebt, dann ist er kein »richtiger« Mann, und sie kann keine begehrenswerte Frau sein; denn er kann mich nicht als Frau akzeptieren. Das Zusammen von Liebe und Begehren erzeugt zwangsläufig den Widerspruch von Moral und Unmoral. Anderer Einsatz: Wenn – wie Hamann gemeint hat – jedes Reden ein Übersetzen ist, eines Gedankens in Worte und dahinter: einer Engelssprache in die Menschensprache, dann stellen sich zwei Fragen: Erstens, darf man überhaupt reden, ist nicht jedes Reden eine Profanation eines Geheimnisses?34 Zweitens, gibt es nicht vielleicht im Reden ein spezielles Verschweigen, so daß Reden nicht profanierend Übersetzen bleibt, sondern zugleich ein spezifisches Erzeugen von Geheimnissen und Unübersetzbarkeiten. »Jedes wahre Geheimniß muß die Profanen von selbst ausschließen. Wer es versteht ist von selbst, mit Recht, Eingeweihter.«35 Angewandt auf die erotische Kommunikation hieße Hamanns Position: ›ich habe ein Geheimnis, das ist engelsgleich, ich teile es dir aber profanierend/übersetzend/veröffentlichend mit: Ich liebe dich!‹ Aber genau genonmmen ist gerade das keine erotische Kommunikation, sondern eine »theoretische« Beschreibung von (angeblichen, empfundenen oder eingebildeten, erfundenen) Befindlichkeiten. Aber aus Novalis‘ Position heraus ergibt sich eine angemessenere Beschreibung. Die Äußerung ›Ich liebe dich!‹ berührt dich und verzaubert dich, weiht dich, wenn du es hörst, in eine geheime Welt ein, von der alle sich selbst ausschließen, die das für eine ein Selbst auslegende theoretische Aussage halten. Erotische (und andere ästhetische) Kommunikation ist, weil performativ und nicht signifikativ, nach einem glücklichen Ausdruck von Kenneth Burke »dancing of an attitude«.36
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J. G. Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten / Aethetica in nuce. Stuttgart 1968, p. 87: »Reden ist übersetzen – aus einer Engelsprache in eine Menschensprache, das heist, Gedanken in Worte […]« Dazu verweist der Kommentar von S.-A. Jørgensen auf eine Briefstelle Hamanns: »Das unsichtbare Wesen unserer Seele offenbart sich nur durch Worte – wie die Schöpfung nur eine Rede ist […] Ist es nicht eine Erniedrigung für unsere Gedanken, daß sie nicht anders sichtbar gleichsam werden können, als in der groben Einkleidung willkürlicher Zeichen […]« (zit. p. 86/88) Novalis: Schriften II. Darmstadt 1965, p. 485; zu Profanation, Erotik und Geheimnis s. auch E. Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. München 1987, p. 372-381.
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So ist der erotische Diskurs zwar Einweihung, aber auch eine extrem exklusive Einweihung; daher hat Georg Simmel die Liebe als »Egoismus zu zweit« genannt, und Derrida hat in Anknüpfung an Kant die Liebe als Bedrohung des sozialen Bandes beargwöhnt, und Lévinas nannte Erotik »asozial«.37 4.2.4 Das afrikanische Selbst Wenn Henri Maurier feststellt,38 daß die afrikanische Philosophie »eminently anthropocentric« sei und er sie zugleich dem Relationismus zuordnet, dann scheint das unter europäischer Perspektive zunächst ein Widerspruch zu sein, weil im Abendland Anthropozentrik unauflöslich mit dem Individualismus verbunden zu sein scheint: der Mensch ist der Einzelmensch, und alle Fragen nach dem Sozialen werden von dieser Grundannahme abhängig gemacht und unter dieser Generalannahme (nicht) beantwortet. Oder aber – in der Postmoderne: – das Netz der Relationen legt allererst fest, was darin vorkommen kann, also z.B. der »Mensch«; und daß »der« Mensch und die Frage nach ihm, noch nicht so sehr alt ist und auch vergehen wird, wissen wir seit Foucault. In Afrika, so Maurier, ist der Mensch als Mensch nur von Bestand in sozialen Beziehungen. Für ihn macht es keinen Sinn, erst nach dem Subjekt zu fragen und dann nach der Intersubjektivität. Mensch ist wesentlich ein partizipierender. Dem stimmt auch Ifeanyi A. Menkiti zu. Referenzsphäre des Menschen ist seine Gemeinschaft mit anderen. Daher gilt für ihn der Grundsatz: »Ich bin, weil wir sind, und weil wir sind, bin auch ich.«39 Die Einzelnheit europäischer Identität ist fundiert in der Separierbarkeit seiner somatischen Existenz als Organismus, die des Afrikaners in der sozialen Existenz. Deswegen haben die Europäer die großen an der Somatik festzumachenden Bestimmungen des Anfangs und des Endes der individuellen menschlichen Existenz und die Zurechnung von Menschenrechten als Individualrechten festgelegt. Für die afrikanische Perspektive ist die menschliche Person ein soziales Prozeßresultat, keine mit dem Soma gegebene Voraussetzung. Deswegen ist der europäische Begriff der Person ein Minimalbegriff, der die »nackte Existenz«40 als Lebensund Überlebensminimum festgesetzt hat, der afrikanische dagegen ein Maximalbegriff: die nackte Existenz macht noch keinen Menschen; das frühkindliche Wesen ist
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G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft (GSG III). Frankfurt a. M. 1989, p. 120; J. Derrida: Politik der Freundschaft. Frankfurt a. M. 2000, p. 346f.; E. Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, p. 384, passim. H. Maurier: Do we have an African philosophy? In: African Philosophy, ed. R. A. Right. 3. Aufl.. Lanham, New York, London 1984, p. 25-40, hier bes. p. 34ff. I. A. Menkiti: Person and Community in African Traditional Thought. In: dass., p. 171181, hier p. 171. Zur Reduktion des Menschen auf das »nackte Leben« s. G. Agamben: Homo sacer. Frankfurt a. M. 2002; ders.: Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a. M. 2002.
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hier eher ein Etwas, zur menschlichen Person wird es erst noch im Verlauf seiner Partizipation im Sozialen, durch Zurechnung und durch Übernahme von Rollen und Verpflichtungen. Ein Säugling hat keine Moral, aber mit der Partizipation erwächst ihm eine, nämlich die gemeinsame.
5. Identität, sozial
5.1 V ORBEMERKUNG Nachdem wir im ersten Kapitel die durch Geschichten und Geschichtsphilosophien in der Moderne vergewisserte Identität untersucht hatten mit einem Ausblick auf den vermeintlich Temporalität objektiver behandelnden Begriff des sozialen Wandels, hatten wir bereits im zweiten Kapitel zwecks Annäherung an den Begriff des medialen Selbst die Theorien der Medialität ausführlich geprüft hatten, im dritten Kapitel, ergänzend dazu, den Begriff des sozialen Wandels als Bedingung oder Einschränkung von Identität thematisiert und schließlich im vierten Kapitel uns diesem Begriff selbst in einem ersten Zugang angenähert hatten, soll nun in diesem fünften Kapitel nach der sozialen und psychischen Identität eines solchen Selbst gefragt werden. Dazu werden wir zunächst an der Kritik der spekulativen Geschichtsphilosophie anknüpfen. Denn diese war – als spekulative – nicht nur von der soziologischen, »objektiveren« Vorstellung der Identität im Wandel kritisiert worden, sondern auch von der marxistischen Kritik der »bürgerlichen« Weltanschauung, welche den überlegeneren Standpunkt des historischen Materialismus unterstellen zu können glaubte.1 5.1.1 Zwischenbemerkung zu Walter Benjamin Benjamin teilt nicht mehr die das 19. Jahrhundert beherrschende und auch nach Anfang des 20. Jahrhunderts noch virulente Vorstellung eines kontinuierlichen Fortschritts. Für ihn ist die Kontinuität der Geschichte, d.h. daß es immer so weiter geht, die eigentliche Katastrophe: »Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe.«2 Damit wird auch der
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H. H. Holz: Philosophie als bürgerliche Weltanschauung. Umerziehung und Restauration – westdeutsche Philosophie im ersten Nachkriegsjahrzehnt. In: Dialektik 11 (1986): Wahrheiten und Geschichten, p. 45-70. Benjamin wird hier und im folgenden zitiert nach W. Benjamin: Gesammelte Werke. Frankfurt a. M. 2011, hier II, p. 884. l. c., p. 964.
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Begriff des Erzählens fragwürdig. Denn der Erzähler tut so, als habe er den Überblick und könne von dort oben aus einen Zusammenhang des Geschehens stiften. Dem eigentümlichen Charakter eines historischen Phänomens wird man jedoch erst dadurch gerecht, daß man es aus der Kontinuität heraussprengt, so eine mehrfach gebrauchte Metapher Benjamins. Seine Eigenart ist seine Einzigkeit, durch die es sich gerade nicht nahtlos in das Immerschon einfügt. »Das Bewußtsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, ist den revolutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentümlich.«3 Dem hat der Historiker zu folgen. Er folgt der »monadologischen Struktur« der historischen Ereignisse. D.h. er löst sie aus dem Einerlei heraus, er »sprengt sie aus dem Verlauf heraus«4 und er gibt ihnen eine Vorgeschichte und eine Nachgeschichte, durch die das Ereignis selbst eine Zäsur, ein Bruch der Kontinuität wird. Wozu das? Das Ereignis wird »zitiert«, d.h. aus seinem Ursprungszusammenhang herausgelöst und in einen gegenwärtigen Zusammenhang hineinversetzt. Als Zitat dient es wie jedes Zitat der Aufklärung eines gegenwärtigen Problemzusammenhangs. »Die Gegenwart bestimmt an dem Gegenstand der Vergangenheit, wo seine Vor- und seine Nachgeschichte in ihm auseinandertreten, um seinen Kern einzufassen.«5 Die einzelnen historischen Phänomene treten als dialektische Bilder auf, nicht mehr als Teilstücke eines Epos. Ihr Potential ist zugleich das Potential einer Gegenwart: »Die materialistische Geschichtsdarstellung führt die Vergangenheit dazu, die Gegenwart in eine kritische Lage zu bringen.«6 Diese Funktion kann sie aber nur dann erfüllen, wenn es keine Kontinuität zwischen dem Gewesenen und der Aktualität gibt und wenn sie die Geschichte als eine Gefahrenkonstellation begreift, die abzuwenden sei. Die Diskontinuität zwischen Gewesenem und der Aktualität ist von anderer Art als die Kontinuität etwa einer Folge von Generationen, in der jeder Sohn/Tochter zugleich Vater/Mutter seiner/ihrer Kinder ist usw. Der Sinn eines aufbrechenden Ereignisses tritt nicht jederzeit zutage, sondern es tritt »jeweils nur einer ganz bestimmten Epoche vor Augen: der nämlich, in der d[ie] Menschheit, die Augen sich reibend, gerade dieses Traumbild als solches erkennt.«7 Es bedarf gewissermaßen der Er-weckung, es kommt erst zu gegebener Zeit zu seiner Lesbarkeit. Die Verbindungen der Generationenfolge als kontinuierlicher sind extensive Verbindungen, dagegen besteht zwischen dem Gegenwärtigen und dem vergangenen Moment eine intensive, zeitlose Verbindung. Der volkstümlichen Vorstellung, daß man Werke angeblich »aus ihrer Zeit heraus« verstehen müsse, wäre also mit aller Entschiedenheit
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l. c., p. 886. l. c., p. 887. l. c., p. 881. l. c., p. 876. l. c., p. 875.
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zu widersprechen: nicht aus »ihrer« Zeit muß man sie verstehen, sondern aus unserer. Wie ein Zitat seine Bedeutung als Zitat genau aus dem Zusammenhang gewinnt, in den es eingefügt wird, so muß auch das gewesene Ereignis zum aktuellen Ereignis erweckt werden und nicht als ein bloß vergangenes in eine unendliche Kontinuität der Katastrophe eingereiht werden. In diesen Vorstellungen ist impliziert ein anderer Begriff von Zeit, bzw. von UnZeit. »Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche ist, ist die des Gewesnen zum Jetzt eine dialektische: nicht zeitlicher sondern bildlicher Natur. Nur dialektische Bilder sind echt geschichtliche, d.h. nicht archaische Bilder. Das gelesene Bild, will sagen das Bild im Jetzt der Erkennbarkeit trägt im höchsten Grade den Stempel des kritischen, gefährlichen Moments, welcher allem Lesen zugrunde liegt.«8
Im Gegensatz zur physikalischen Zeit darf man Benjamins Zeitvorstellung eine messianische nennen. Nach ihr kommt der Messias nicht am Ende einer unendlich langen Zeitdauer, d.h. niemals wirklich, immer und kontinuierlich nur erhofft, sondern nach ihr kann der Messias in jedem Moment des Jetzt hereinkommen, es ist die Hoffnung auf Unverhofftes, durch das nichts mehr so sein wird, wie es war. Aber das ist etwas anderes als eine permanente Illusion, vielmehr kommt jedem historischen Moment diese Doppelstruktur zu, als Reales seiner Zeit verhaftet zu sein und gleichwohl immer die Möglichkeit des Anderen in sich zu bergen. »Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird.«9 Dieses Potential des gewesenen Moments herauszulösen aus seiner puren Faktizität, ist Aufgabe der Gegenwärtigen. Insofern kann Benjamin sagen, daß wir auf der Erde erwartet worden sind. »Dann sind wir auf der Erde erwartet worden. Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat.«10 »Nicht so ist es, daß das Vergangene auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit anderen Worten: Bild ist die Dialektik im Stillstand. Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche, kontinuierliche ist, ist die des Gewesnen zum Jetzt dialektisch: ist nicht Verlauf sondern Bild, sprunghaft.–«11
9 10 11 12
l. c., p. 957. l. c., p. 957f. l. c., p. 874. l. c., p. 958.
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Das dialektische Bild stiftet »blitzhaft« die Konstellation zwischen dem zu rettenden Moment des Vergangenen und dem Jetzt. Das Insgesamt dieses Potentials fällt allerdings erst der »erlösten« Menschheit zu: ihr ist die »Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden.«12 In der neunten der Geschichtsphilosophischen Thesen schildert Benjamin, ausgehend von einem Bild von Paul Klee, den »Engel der Geschichte«: wo wir die Kontinuität der Begebenheiten der Vergangenheit zu sehen glauben, erblickt er nichts anderes als eine einzige Katastrophe. Vom Paradies her wird der Engel in die Zukunft getrieben durch einen Sturm, dem er nicht zu widerstehen vermag; dieser Sturm ist das, was wir den Fortschritt nennen: ein Getriebensein in eine Zukunft, die wir nicht sehen können, weil wir ihr den Rücken zukehren und immer nur den Haufen der so erzeugten Trümmer der Vergangenheit sehen können. Ein Garant der Kontinuitätsvorstellung ist immer gewesen, daß Subjekte sich selbst als in der Zeit kontinuierlich erleben können: Ich bin heute noch »derselbe«, der ich gestern war und morgen sein werde. Aber dieser Garant der Kontinuität entfällt bei Benjamin: Die Ich-Identität ist belanglos für das Geschichtsverständnis von Benjamin, der sich immer bemüht hat, die Subjekt-Philosophie zu überwinden. Schon in seinem »Programm der kommenden Philosophie« hatte Benjamin die Überwindung der Subjekt-Philosophie postuliert.13 Und in seiner Dissertation über den Kritikbegriff der deutschen Romantik hatte er die Reflexion des Kunstwerks in sich selbst als das eigentliche Subjekt der Reflexion erklärt.14 Die so ermöglichte Geschichtstheorie ist eine nicht mehr anthropozentrische Philosophie der Geschichte, sie ist eine »postanthropologische« in dem Sinne, daß es nicht nötig ist, eine Theorie des Menschen vorauszusetzen, um Geschichte zu begreifen, was natürlich nicht heißt, daß es in den Geschichten nicht um die Menschen ginge.15 M.a.W. eine post-anthropozentrische Philosophie (der Geschichte) ist keine trans- oder antihumanistische Philosophie. Eine Konsequenz eines postanthropologischen Ansatzes ist es, daß Geschichte nicht mehr moralisierend betrieben werden kann, oder wie Baumgartner gesagt hätte »in praktischer Absicht«. Geschichte als Kontinuität der Katastrophe, die durch eine Diskontinuität des »Aufbrechens« abgewiesen wird, nähert sich einer »Naturgeschichte« des Monströsen an. 13 14
15
Zit. nach W. Benjamin: Kairos. Schriften zur Philosophie, hrsg. v. R. Konersmann. Frankfurt a. M. 2007, p. 29. W. Benjamin: Gesammelte Werke I, p. 290; cf. auch B. Hanssen: Walter Benjamin’s Other History. Berkeley, Los Angeles, London 1998, p. 48: »[…] the critical potential of an objective hermeneutics resides in Benjamin’s attempt to surpass the confines of subject philosophy and its relics in historiography […]« Ein Problem einer anthropologischen Begründung wäre ja, daß entweder eine unzeitliche »Natur« des Menschen unterstellt werden muß, d.h. eine der Geschichte selbst gegenüber transzendente Instanz, oder daß umgekehrt die Annahme der Wandelbarkeit des Menschen und der Pluralität der Naturen der Menschen eben keine Garantie der Kontinuität mehr abgeben kann.
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Die Geschichte ist dem Menschen verhüllt und wird nur »blitzhaft« aufgebrochen; erst der »erlösten Menschheit« fällt ihre gesamte Geschichte zu, d.h. enthüllt sich ihr in toto. Auch von der Vergänglichkeit her ließe sich dieses Problematischwerden der Kontinuitätsvorstellung aufrollen; jedoch mögen diese Bemerkungen zur Möglichkeit einer Geschichtskonzeption der Diskontinuität an dieser Stelle ausreichen. Die durch historische Kontinuität vergewisserte Identität des Subjekts wird aber auch anderweitig durch Kontinuitätsbrüche infrage gestellt. Ja, Hans Blumenberg nimmt sogar an, daß die vollständige Identitätssicherung durch die Kontinuität der Geschichte eine Form der Unbelehrbarkeit darstellt.16 5.1.2 Zwischenbemerkung zu Foucault Die Hauptbedeutung Michel Foucaults besteht in seinen ideengeschichtlichen Arbeiten und in deren neuartiger Methodik, die das Bild eines kontinuierlichen Fließens der historischen Materie aufgibt und Komplexe (»Episteme«, »Diskurse«, »Dispositive«) als Beschreibungsmaterial wählt, sowie die Brüche und Diskontinuitäten zwischen ihnen. Das kann hier nicht in extenso thematisch entfaltet werden. 17 Zum Gegenstand unserer Darstellung hier werden die verschiedentlich von Foucault entworfenen Rechenschaftslegungen über sein Vorgehen. Wir greifen hierzu zwei prominente Texte solcher Rechenschaftslegungen heraus: • •
Den Abschnitt »Die diskursiven Regelmäßigkeiten« aus seinem Buch »Archäologie des Wissens«18; die Antrittsvorlesung am Collège de France u.d.T. »Die Ordnung des Diskurses«19.
Ad 1.: In dem Abschnitt »Die diskursiven Regelmäßigkeiten« grenzt sich Foucault zunächst von verschiedenen die Geschichtsdarstellungen leitenden Vorstellungen der Kontinuität ab. Der erste ist der Begriff der Tradition. Alles Neue, alles Beginnen wird hier bezogen auf einen Dauerhaftigkeit gewährenden Hintergrund. Die Übergänge von einer Diskursformation zur folgenden werden dann mit dem Begriff des Einflusses als Diskontinuitäten wegerklärt. Ähnliche Funktionen haben die Begriffe
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H. Blumenberg: Ein mögliches Selbstverständnis. Suttgart 1997, p. 40. Schon der Alltagsweltverstand, daß die Feststellung des panta çei daran gebunden sei, daß nicht alles fließe, ist so falsch wie nur irgendetwas; das Denken der Relativitätstheorie spätestens hätte uns belehren können, daß wir kein statisches Bezugssystem brauchen, um Bewegung zu erkennen, sondern lediglich zweierlei verschiedenes »Fließen«. M. Foucault: Die Hauptwerke. Frankfurt a. M. 2008, p. 493-555. ders.: Die Ordnung des Diskurses. München 1974, neu hrsg. v. R. Konersmann. Frankfurt a. M. 1991.
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der Entwicklung (bzw. Evolution) oder der Hegelsche Begriff des sich historisch entfaltenden Geistes. Aber auch andere vermeintliche Selbstverständlichkeiten wie die materielle Einheit eines Buches stellt Foucault infrage; denn jeder Text hat in sich eine Verwobenheit in ein Universum anderer Texte, er ist nur »ein Knoten in einem Netz.«20 Und Vergleichbares gilt für die angebliche Gewährtheit von Zurechnungsgewißheit auf einen Autor.21 Diese Abgrenzungen Foucaults von leitenden Kontinuitätsvorstellungen sind keine Ablehnungen; man kann sie nur nicht mehr als unhinterfragbare, tatsächliche Gegebenheiten hinnehmen, sondern muß sie als Effekte des Diskurses ansehen und entsprechend im Einzelfall analysieren, was die Bedingungen ihres Zustandekommens gewesen sind. Was dann also zu erledigen wäre, ist eine »reine Beschreibung der diskursiven Ereignisse.«22 In solchen Maßgaben steckt auch eine Abweichung vom strengen Strukturalismus, wie er oben geschildert wurde und der immer das Problem enthielt: Wie läßt sich der Wandel von Strukturen beschreiben? Die simple, aber für alle Geschichte unbefriedigende Antwort lautet dort: Strukturwandel ist bezüglich eines Sprachsystems nichts als das Ereignis einer Regelverletzung. Im Grunde also ist ein solcher Strukturalismus statisch und versagt an der Darstellung historischenWandels. Daher haben strukturalistisch geschulte, aber historisch interessierte und engagierte Wissenschaftler wie Hans Blumenberg in Deutschland und Michel Foucault in Frankreich Auswege aus diesem Dilemma gesucht und gefunden. Foucault formuliert als leitende Frage seiner Forschungen: »[…] wie kommt es, daß eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle?«23 Gerade der Nachsatz »[…] und keine andere an ihrer Stelle […]« ruft den Hintergrund von Strukturveränderungen auf, statt in einem linearen, historistischen Kontinuitätsdenken zu verharren, das stets nur den ersten Teil der Frage stellen würde und dann nach Ursachen, Anlässen und Einflüssen suchen würde. Die Erforschung des Nichtgesagten (»keine andere an ihrer Stelle«) erfordert bestimmte, ungewöhnliche Verfahren, die Foucault benennt, als »die Wiederherstellung des kleinen und unsichtbaren Textes, der den Zwischenraum der geschriebenen Zeilen durchläuft und sie manchmal umstößt.«24 Das aber heißt, daß der Bruch, die Diskontinuität nicht auf die großen historischen Umbrüche beschränkt ist, sondern der Begleithintergrund aller Diskursivität ist, so wie ja die Verletzung des sprachlichen Regelsystems sich im Sprechen ständig 20 21 22 23 24
ders.: Archäologie des Wissens, p. 496. Cf. dazu K. Röttgers: Das Leben eines Autors. Was ist ein Autor, und wo lebt er? In: Dialektik 2005/1, p. 5-22, auch als: http://www.jp.philo.at/texte/RoettgersK2.pdf. M. Foucault: Archäologie des Wissens, p. 500. ibd. l. c., p. 501.
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ereignet, ohne daß es jeweils dadurch zu einer Umwälzung des gesamten Sprachsystems käme – es kann so sein, aber es ist beileibe nicht immer so. Der Strukturalismus strenger Observanz ignoriert solche »Störungen«, weil sie nicht zum System selbst gehören, beraubt sich aber so der Möglichkeit der Darstellung der Bedingungen von Wandel. Die Diskursanalyse arbeitet gerade mit diesen Brüchen und Diskontinuierungen, aber nicht als diese kontingenten Einzelheiten, sondern in den Wiederholungen als signifikanten Indizien. Was dann aber notwendigerweise hinzukommen muß, ist die Berücksichtigung der interdiskursiven Beziehungen; denn eine der wichtigsten Arten von solchen Brüchen ist die Relation zu oder das Einwandern von Elementen aus anderen Diskursen, sagen wir: die Metaphorisierungen, denen Hans Blumenberg ein Hauptaugenmerk gewidmet hat.25 Foucault sieht sich gezwungen, das Feld – operativ! – einzugrenzen, und zwar auf die »Wissenschaften vom Menschen«. Dieses Feld ist weit genug, um das Operieren verschiedener Diskurse aufzuzeigen; sein Beispiel ist der Wahnsinn: »[…] das Objekt, das von den medizinischen Aussagen des 17. oder 18. Jahrhunderts als ihr Korrelat gesetzt worden ist, ist nicht identisch mit dem Objekt, das sich durch die juristischen Urteilssprüche und die polizeilichen Maßnahmen hindurch abzeichnet; ebenso sind alle Gegenstände des psychopathologischen Diskurses […] verändert worden: Es sind nicht dieselben Krankheiten, um die es sich dort und hier handelt; es sind nicht dieselben Irren, um die es geht.«26 Um aber in diesem Feld gleichwohl (andere!) Eingrenzungen vorzunehmen, die den diskontinuierlichen Übergängen gerecht werden könnten, spricht Foucault von »diskursiven Formationen«27 und will deren Formationsregeln untersuchen. Was im Verfolg eines solchen Ansatzes alles zu tun wäre und was Foucault in diesem Werk tatsächlich tut und inhaltlich leistet, das zu überprüfen muß der weiteren Lektüre überlassen bleiben; ich wende mich daher jetzt jenem anderen programmatischen Text zu, den er als Antrittsvorlesung anläßlich seiner Aufnahme in des Collège de France am 2.12.1970 gehalten hat. Ad 2: Dort formuliert er methodische Grundsätze seiner Arbeit:28
25 26 27 28
H. Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a. M. 1997; ders.: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a. M. 1997; ders.: Theorie der Unbegrifflichkeit. Frankfurt am M. 2007. M. Foucault: Archäologie des Wissens, p. 506. l. c., p. 512. ders.: Die Ordnung des Diskurses. München 1974, p. 35-41; zu einer Kritik Foucaults, die gerade den Diskurs-Begriff zum Thema macht s. P. Veyne: Der Eisberg der Geschichte. Berlin 1981.
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Das Prinzip der Umkehrung: Statt von einem Autor oder einer Wissenschaftsdisziplin oder eines »Willens zur Wahrheit«, also insgesamt von einem irgendwie Schöpferischen auszugehen, und damit von einer Kontinuitätsgewähr, stünde im Zentrum der Betrachtung die Verknappung des Diskurses, die dem diskontinuierlichen Ereignis seine Wichtigkeit zugesteht; • das Prinzip der Diskontinuität: Man könnte auf den Gedanken kommen, daß sich auf der Unterseite der Großen Geschichte eine andere, ebenso kontinuierliche, aber verschwiegene oder verdrängte Geschichte befände. Dann ginge es darum, dieses große Schweigen des Textes der Geschichte zu brechen. Aber hier gibt es ebenso wenig wie auf der Oberseite eine vorauszusetzende oder zu konstruierende Kontinuität. Hier wie dort sind die Diskurse in sich diskontinuierlich: sie bilden keine Einheit, sondern Serien von Ereignissen; • das Prinzip der Spezifizität: Dieses besagt, daß Erkenntnis nicht das Auffinden und Entziffern einer vorgängigen und ursprungsvergewisserten Ordnung sein kann. »Die Welt ist kein Komplize unserer Erkenntnis.« Insofern ist jede Erkenntnis ein Übergriff, der die Regeln vor-schreibt, nicht aber abschreibt; • das Prinzip der Äußerlichkeit: Es besagt, daß wir uns nicht auf eine (innere) Sinnhaftigkeit verlassen können, sondern daß die Möglichkeitsbedingungen in kontingenten Äußerlichkeiten begründet sind. * Damit sei auch diese zweite Zwischenbemerkung beendet, und wir kehren zur Vorbemerkung zurück. Die Lehre jedoch, die wir aus den zwei Zwischenbemerkungen zu ziehen haben, wird sein, daß wir zur Kontinuitätsgewähr auch auf andere Formen, insbesondere diskontinuierliche zugreifen müssen, d.h. nach einer Identität jenseits temporaler, sozialer und diskursiver Kontinuitäten zu forschen hätten. Die die Kontinuität des Fortgangs des kommunikativen Textes unterbrechenden Figuren hatten wir in »Das Soziale als kommunikativer Text« als den Fremden für den äußeren Anderen und das Unterbewußtsein für den inneren Anderen identifiziert. Daran schließt sich nun die Frage an, welche Textunterbrecher für die temporale und die diskursive Dimension des kommunikativen Textes zu erwägen sind. Die Kandidaten in der temporalen Dimension könnten sein das zukunftsbezogene Ereignis (im Sinne Heideggers, d.h. im Sinne eines anderen Anfangs) einerseits und die Ewigkeit (Gottes) als das Außerhalb der Vergangenheit andererseits. Als Kandidaten in der diskursiven Dimension treten auf der Glaube als das Außerhalb aller epistemischen Beziehungen einerseits und als das Außerhalb aller normativen Ordnungen die Ausnahme-Entscheidung andererseits. Selbstverständlich sind auch hier die Präparierung dieser Positionen im Jenseits des kommunikativen Textes Abstraktionen, die von Kombinationen im realen kommunikativen Text absehen, z.B. ist derjenige Fremde, der im Namen des ewigen Gottes eine moralische Ausnahme reklamiert, d.h. der Gotteskrieger, eine wohlbekannte Erscheinung monotheistischer Religionen. •
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Die Zeit-Bahnungen,29 die durch lineare, methodisch geregelte Abfolge von Schritten gegliedert sind, werden durch Unterbrechungen in ein Vorher und ein Nachher auseinandergerissen: Die Seele und der Andere korrespondieren nicht mehr (»Ich ist ein Anderer«30), und die Kontingenz des Geschehens in einem Raum des Abenteuers greift um sich.31 Diese Brüche werden gleichwohl auf anderen Ebenen zusammengehalten. In der Bahn als solcher erscheint der Bruch irreparabel; aber ein Umschalten auf eine andere Ebene, d.h. eine einfache oder eine transversale Metaphorik hält zusammen, was nach der cartesischen Methodik nicht zusammengehört.32
5.2 H ERMENEUTIK Der Forderung der methodischen Bahnung, »clare et distincte«, widerstrebt auch die hermeneutische Überschreitung des bloß linearen Textes. An dieser Stelle interessiert an der Hermeneutik aber weniger die textförmige Textauslegung, sondern gemäß der Idee der Kontinuitätsunterbrechung, die Hermeneutik des Unaussprechlichen.33 Diese Hermeneutik, die Hermeneutik des Fremden, ebenso wie des Ereignisses und der (absoluten) Metapher bricht mit dem identifikatorischen Denken des Das-ist-das (nach Heidegger bricht es mit der Wahrheit des Seienden zugunsten einer Wahrheit des Seyns). Diese Hermeneutik liefert den eigenen »Standpunkt«34 der Ortlosigkeit des drohenden Abgrundes aus. Ist die Psychoanalyse eine solche hermeneutische Praxis, bezogen auf eine Textunterbrechung? Es ist evident, daß die psychoanalytische Situation konstitutiv ein
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30 31
32 33
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M. Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Frankfurt a. M. 1989 (Gesamtausg. Bd. LXV); ferner, ganz anders gelagert, St. M. Lyman/M. B. Scott: Sociology of the Absurd. Pacific Palisades/CA 1970, die sich als Existential-Phänomenologie für Soziologen versteht. So Rimbauds vielzitierte (und meist mißdeutete) Formel; A. Rimbaud: Prosa über die Zukunft der Dichtung, hrsg. v. Ph. Beck u. T. Trzaskalik. Berlin 2010, dazu s.u. im 8. Kap. S. dazu schon G. Simmel: Philosophie des Abenteuers. In: ders.: Gesamtausg. XII. Frankfurt a. M. 2001, p. 97-110, hier p. 110, der gerade Abenteuer als das bestimmt, was »aus dem Zusammenhange des Lebens herausfällt.« D.h. die Abweichung von der Kontinuität des »einheitlichen Lebensprozesses«. Zu dieser Zusammenfügung auf erweiterter Ebene durch Unbegrifflichkeit s. H. Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, durch Transversalität s. F. Guattari: Psychanalyse et transversalité. Paris 1974. St. A. Tyler: Das Unaussprechliche. Ethnographie, Diskurs und Rhetorik in der postmodernen Welt. München 1991; cf. den ersten Satz aus M. Schaub: Gilles Deleuze im Kino. Das Sichtbare und das Sagbare. 2. Aufl. München 2006, p. 10: »Das Sichtbare ist nicht sagbar, das Sagbare nicht sichtbar.« Zum Standpunkts-Denken des 19. Jahrhunderts s. K. Röttgers: Der Standpunkt und die Gesichtspunkte. In: Archiv f. Begriffsgeschichte 37 (1994), p. 257-284.
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Sprechen unter Bedingungen der Ungleichheit ist. Aber das ist nun gerade keine Verletzung irgendwelcher egalitätsemphatischer Gerechtigkeitsmaßstäbe, sondern es ist die Figurierung eines Sprechens auf zwei verschiedenen Ebenen, das dadurch erforderlich geworden ist, daß der Patient in einem Bruch, einer Textbrechung seines Selbst mit seinem Unterbewußtsein steht: »Das Unbewußte ist der Teil des konkreten Diskurses als eines überindividuellen. der dem Subjekt bei der Wiederherstellung der Kontinuität seines bewußten Diskurses nicht zur Verfügung steht.«35 Der Egalitarist müßte eine Gerechtigkeitsverletzung darin erblicken, daß ständig der Patient zu Wort kommt, und selten der Analytiker. Tatsächlich aber ist der viel Schweigende der Reden-Machende, seine schweigende, auffordernde Meta-Rede spaltet auch das VielReden des Patienten in ein Reden und ein schweigen-wollendes subtextuelles Reden. Die Psychoanalyse als eine Hermeneutik des Unaussprechlichen haben wir, was wir aber (spiegelverkehrt analog dazu) bräuchten, wäre eine Hermeneutik der terroristischen Position. Davon sind wir aber weit entfernt; denn wir beantworten den Terrorismus mit Terrorismus oder allenfalls mit einem symptombezogenen »Verstehen« durch solche Psychologen, die die »Probleme« des Terroristen in einem identifikatorischen Verfahren erkennen und verstehen. Eine der Psychoanalyse analoge Hermeneutik des Terrorismus müßte aber das »Abenteuer« des Terrorismus soweit ernst nehmen, daß sie – in eine wohlgemerkt: asymmetrische – Beziehung mit ihm einträte, die es dem Terroristen ermöglichte, seine Textunterbrechung in eine Identität jenseits der sozialen Kontinuitäten einzubringen. Terroristische Gewalt unterbricht den kommunikativen Text in einem sprachlosen Entsetzen. Wie aber könnte angesichts dessen eine solche postterroristische Identität, die den Abgrund, vor dem wir stehen, ernst nimmt, aussehen? Dieser Frage widmet sich dieses Kapitel.
5.3 S ELBST -V ERFÜGUNG Der Begriff der Selbst-Verfügung scheint ein Begriff zu sein, der geeignet sein könnte, die der Moderne verhafteten Begriffe der Autononmie und der Freiheit zu ersetzen. Er macht Gebrauch von Heideggers Begriff der Fuge, und er setzt weder Substantialität noch Transzendentalität voraus. 5.3.1 Heideggers Begriff der Fuge Wie bei vielen Begriffen Heideggers muß man eine gegenüber dem Alltagssprachgebrauch ursprünglichere und in konkreter Anschaulichkeit begründete Struktur zum
35
J. Lacan: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse. In: ders.: Schriften I. Olten 1973, p. 71-168, hier p. 97.
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Grund des Denkens wählen. So ist die Fuge das Zusammenpassen zweier Teile, die aber als getrennte Teile keine Einheit bilden, sondern zugleich einen Riß manifestieren. Die Teile fügen sich zu- oder ineinander, lassen aber gleichwohl einen Spalt zwischen sich. Man kann daher an der Fuge sowohl den Abstand, ja wenn man die homogene Fügung betrachtet, auch den Abgrund zwischen ihnen aufbrechen sehen. So nennt Heidegger das Verfügen Gottes über den Menschen einen Abgrund, wobei jedoch für ihn – wie in den Schluchten des Gebirges – jeder Abgrund zugleich gründender Grund ist.36 Und eine der entscheidenden Fragen des seinsgeschichtlichen Denkens des späteren Heidegger ist die Frage, »ob das Seiende aber sich in die Fuge des Seyns fügt.«37 Dieser ominös klingende Satz erhält seine präzise Bedeutung, wenn man den anstehenden »anderen Anfang« des philosophischen Denkens in Betracht zieht. Im ersten (d.h. griechischen) Anfang der Philosophie ging es darum zu klären, was das Wesen der Wahrheit sei (sc. des Seienden), und bekanntlich interpretiert Heidegger die griechische Bestimmung der Wahrheit als ἀlήϑeia (Unverborgenheit). Die Frage aber, die die Griechen nicht stellten, vielleicht nicht stellen konnten, und die im Verlauf der Philosophiegeschichte immer mehr verlorenging, weil die Wahrheit als Richtigkeit von Aussagen über das Seiende gefaßt wurde, diese verloren gegangene Frage bestimmt (als »Grundfrage«) den »anderen Anfang« des philosophischen Denkens, den Anfang, der keine historische Zäsur darstellt, sondern eine Öffnung des seinsgeschichtlichen Denkens. Diese Frage lautet, explizit gestellt: Was ist die Wahrheit des Seyns? Das »y«, das übrigens Heidegger nicht konsequent setzt,38 markiert nicht nur, was schon in »Sein und Zeit« als »ontologische Differenz« auftritt, nämlich die Überschreitung der klassischen metaphysischen Sicht des »Seins« als Summe oder auch als Inbegriff alles Seienden, in Richtung auf die Frage danach, was das »ist« ausmacht, wenn man sagt ›das Seiende ist‹. In der Kehre der Frage vom ersten zum anderen Anfang wird die Perspektive noch einmal verändert und radikalisiert. Es steht jetzt nicht mehr die Qualität eines Vollzugs (im Gegensatz zur Totalität des Vollzogenen in der klassischen Metaphysik) zur Debatte, sondern der Vollzug selbst, der nun allerdings nicht mehr zum Gegenstand einer Aussage gemacht werden kann. Zwar finden wir nun solche Sätze wie »Das Seiende ist, aber das Seyn west«, und zwar »west« es als Ereignis; aber streng genommen endet hier das begriffliche Aussagen-über; das Seyn spricht sich wesentlich in der Dichtung aus oder im »erschweigenden Sagen«; denn die »Sprache des Seyns« ist keine (aus-)sagende Sprache, im Gegenteil spricht jedes Sagen aus der Wahrheit des Seyns.
36 37 38
M. Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Frankfurt a. M. 1989 (Gesamtausg. Bd. 65), p. 255ff. l. c., p. 228. S. Nachwort des Hrsg. F.-W. von Herrmann, p. 516.
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Nach diesen vorbereitenden Bemerkungen können wir nun zu der als ominös bezeichneten Satz-Frage zurückkehren und sagen, »ob das Seiende sich in die Fuge des Seyns fügt«. Das Denken der »Fuge des Seyns« ist ein Denken der Mitte, der offenen oder sich öffnenden Mitte. Fuge ist diese offene Mitte für das Ereignis. Denn dieses Seyn ist nichts Statisches, andernfalls wäre es ja aussagbar. Die Fuge stellt sich also nicht dar in einem System von Aussagen; gleichwohl ist die Fuge nichts Beliebiges (nach der Devise: Risse, wohin man schaut39). Es ergibt sich vielmehr in der Öffnung in der Mitte eine Strenge des Gefüges,40 verbunden mit einer Verfügung über einen Weg und dem Charakter, daß solcherart Gefüge und Verfügung eine Fügung des Seyns bleiben müssen. Daher weist Heidegger in anhumanistischer Geste auch mit Entschiedenheit die Forderung nach einem Selbst-Sein des Menschen zurück.41 Heideggers Denken ist nirgendwo anthropologisch oder gar anthropozentrisch. Was der Mensch ist, wissen wir nicht, ja selbst die Frage danach ist falsch gestellt. Wir sprachen von der Mitte. Dem Begriff der Fuge entspricht jedoch noch mehr der Begriff des »Zwischen«.42 Heidegger folgend, werden wir nun sagen können, daß der Begriff der Selbst-Verfügung, der freilich einen funktionspositionalen und keinen anthropologischen Begriff des Selbst voraussetzt, auch gerade deswegen geeignet scheint, die mit dem Subjektbegriff stets mit aufbrechende Problematik der Intersubjektivität überflüssig zu machen.43 Die Theorien der Moderne hatten – seit der Kopernikanischen Wende Kants, ausgehend vom Subjekt – Intersubjektivität in der einen oder anderen Art als Objektivitätsgaranten oder wenigstens –moment angenommen. Man stellte sich das ungefähr so vor: Das einzelne Subjekt erreicht die Allgemeinheit der Objektivität dadurch, daß es sich virtuell an die Stelle eines anderen Subjekts versetzt. Aber da es überhaupt nicht um empirische Erkenntniszentralen (empirische »Subjekte«) geht, sondern um die Objektivitätsgarantie qua transzendentaler Subjektivität, findet das Subjekt, wenn
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40 41 42 43
Cf. die endzeitlichen Risse im Gebäude bei Baudelaire Ch. Baudelaire: Œuvres complètes, ed. C. Pichois. Paris 1961, I, p. 317; diese Aufzeichnung, eine der spätesten aus dem Umkreis der Prosagedichte, beginnt mit der Bemerkung »Symptome de ruine«; dt. Übers. von F. Kemp in d. Ausg.: Sämtliche Werke/Briefe, hrsg. v. F. Kemp u. C. Pichois. München 1985, VIII, p. 315: »Ganz oben birst eine Säule, und ihre beiden Enden rücken von der Stelle. Noch ist nichts eingestürzt. Ich kann den Ausweg nicht mehr finden. Ich steige hinab, ich steige wieder hinauf. Ein labyrinthischer Turm. Aus dem ich niemals einen Weg ins Freie finden konnte. Ich bewohne auf immer ein Gebäude, das dem Einsturz nahe ist, ein Gebäude, in dem eine heimliche Krankheit am Werke ist.« M. Heidegger: Beiträge zur Philosophie, p. 81. l. c., p. 48ff. So auch Heidegger, l. c., p. 4ff. N. Luhmann: Die Tücke des Subjekts und die Frage nach den Menschen. In: Der Mensch – das Medium der Gesellschaft?, hrsg. v. P. Fuchs u. A. Göbel. Frankfurt a. M. 1994, p. 40-56.
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es sich an die Stelle des anderen Subjekts versetzt, immer nur sich selbst vor, seine eigene Transzendentalität.44 Wie funktioniert jenes angebliche Sich-in-ein-anderes-Subjekt-Versetzen? Die Standard-Antwort lautet: durch Kommunikation. Da aber das Subjekt im Anderen immer nur sich selbst findet, handelt es sich jedenfalls um eine Schein-Kommunikation, durch die dann die Komplementarität von Objektivität und Verständigung in Kommunikation gegeben sein soll.45 Diese scheinbare Kommunikation, in der immer gilt ›Ich weiß schon, was du sagen willst‹, gibt dem Subjekt keine neuen Erfahrungen; denn was immer es erfahren könnte, weiß es schon selbst a priori. Zwangsläufig ist daher diese »Kommunikation« auf Konsens, d.h. auf Abschaffung der Kommunikation ausgerichtet. Wenn also Odo Marquard diagnostisch und zivilisationskritisch einen »Erfahrungsverlust« meint feststellen zu können und zu müssen, so ist das nicht nur eine beklagenswerte Entwicklung seiner Gegenwart, sondern zutiefst in die Strukturen der Moderne eingeschrieben. Marquard sagt: »[…] wir leben in einer Welt der Erwartungskrise […] durch Mangel an Erfahrung.«46 In unserer »lebenslangen Schulpflicht«47 erwerben wir stets neue Erfahrungen, ohne noch welche zu machen, Gelegenheit zu haben. Konsequenz seiner Zivilisationskritik: »Man wird nicht mehr wirklich erwachsen, und Infantilisierungen beherrschen dann zunehmend die Szene. So wächst in der modernen Welt – tachogen – die Weltfremdheit.«48 So wenig man sich den Suggestionen dieser Marquardschen Diagnose entziehen kann, so sehr muß man doch festhalten, daß man sie nicht auf Fehlentwicklungen beschränken kann, die dann von einer Kultur- oder Zivilisationskritik ins Visier genommen würde. Das Subjekt der Moderne, das qua kommunikativer Konsensualisierung im Anderen immer nur transzendental sich selbst will, hat das Erfahren im Sinne einer Selbst-Verfügung immer schon strukturell ausgeschlossen. Wir werden also die Perspektive erneut in einer antikopernikanischen Wende umkehren müssen. Nicht mehr, wie konstituiert das Subjekt (qua intersubjektiven Konsens) das Objekt, lautet die Frage, sondern (immanenzphilosophisch): wie werden Subjekte und mit ihnen Intersubjektivität im Spiel der Einzelheiten konstituiert? Das sogenannte Ich ist, wie Michel Serres es gesagt hat, eine Spielmarke im Spiel,49 nämlich des kommunikativen Textes, sagen wir. Und genau deswegen sollte man auch den fichtisch belasteten Begriff des Ich vermeiden, es sei denn man überschriebe den 44 45 46 47 48 49
Cf. W. Lütterfelds: Ist die empirische Sprache des transzendentalen Subjekts kommunikabel? In: Akten des 5. Internationalen Kant-Kongresses Mainz 4.-8. April 1981, hrsg. v. G. Funke. Bonn 1981, I.1, p. 245-254. Cf. K.-O. Apel: Causal Explanation. Motivational Explanation und Hermeneutical Understanding- In: Ajatus 38 (1980), p. 72-123. O. Marquard: Krise der Erwartung – Stunde der Erfahrung. Zur ästhetischen Kompensation des modernen Erfahrungsverlustes. Konstanz 1982, p. 24. l. c., p. 26. l. c., p. 27. M. Serres: Der Parasit. Frankfurt a. M. 1981, p. 349.
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Begriff durch Benvenistes Linguistik des Gebrauchs des Wörtchens »ich«.50 Ich setze an die Stelle dieser Funktionsposition (»Spielmarke«) im kommunikativen Text den Begriff des Selbst. Dieses Selbst ist nicht mehr durch Substanz und Akzidenz bestimmt, sondern im Sinne einer immanenzphilosophischen Medialität nur eine Modalität der unendlichen Substanz, wenn man mit Spinoza noch so reden will. Insofern ist das Soziale auch nicht mehr eine Verkettung von Subjekten in einer vermeintlichen Intersubjektivität, der man je nach gusto mehr (sc. kollektivistisch) oder weniger (sc. liberalistisch-individualistisch) Substantialität unterstellen darf, sondern das Soziale ist ein Ensemble von Selbst-Zuschreibungen zwischen Selbst, Anderem und Drittem.
5.4 D ER D RITTE Die Theorie des Dritten als für das Soziale konstitutive Position ist von Michel Serres in der Figur des Parasiten thematisiert worden. Gelingende Kommunikation zwischen Zweien (Selbst und Anderem) hat immer im Hintergrund, gewissermaßen als Beiprogramm, den Dritten, sie ist immer, wenigstens implizit, ein Zurschaustellen vor einem Dritten.51 Der Dritte kann eingeschlossen oder ausgeschlossen sein, in der Regel ist er beides, jeweils in verschiedenen Hinsichten.52 Aber es bleibt nicht dabei. Die Position des Dritten im Text ist substantiell ebenso wenig festgelegt wie die Positionen von Selbst und Anderem, mit der Folge, daß, wer eben noch Dritter war, nun die Position des redenden Selbst einnehmen kann oder als zuvor ausgeschlossener Dritter nunmehr einbezogen und als Anderer angesprochen werden kann. In der klassischen Moderne war dieses die Funktion von Kritik: Beobachter zu sein, der sich einmischt, um so zum wortergreifenden Selbst zu werden, der den vorherigen Basisprozeß zu verändern anstreben kann. Zudem aber kann die Figur des Dritten iteriert werden. Da die Relation des Dritten im Basisprozeß eine Relation zu einer Relation ist, und nicht primär zu einer Position, kann auch diese seine Relation Bezug einer Relation sein oder werden. Das Beobachten des Beobachters kann beobachtet werden. Das Entscheidende dabei aber 50
51 52
E. Benveniste: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft. Frankfurt a. M. 1977, p. 281: »Ich« kann nicht als Gegenstand identifiziert werden, sondern ist – wie Benveniste sagt – »die Person, welche die gegenwärtige Diskursinstanz, die ich enthält, aussagt.« Das gilt auch in dem Sinne, daß »ich« nur durch die Performanz des Textes identifiziert werden kann. Das ist auch die Grundthese von K. Röttgers: Der Sophist. In: Das Leben denken - Die Kultur denken, hrsg. v. R. Konersmann. Freiburg, München 2007, I, p. 145-175. M. Serres: Der Parasit, p. 89; cf. auch S. Consoli: Le récit du psychotique. In: Folle vérité, séminaire de J. Kristeva, ed. J.-M. Ribettes. Paris 1979, p. 36-75: »[…] que toute parole est un acte de langage liant dans une relation contractuelle les interlocuteurs entre eux et avec un troisième terme toujours présent […]« (p. 379)
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und sowohl Hierarchie- als auch Transzendenz-Averse ist, daß auch Selbst und Anderer des Ausgangsprozesses in die Position des Beobachters des Beobachtens einrücken können; so ergibt sich ein Rotationsprinzip des Dritten. Diese Drittigkeit ist aber nicht auf die Dimension des Sozialen beschränkt. Auch in der temporalen Dimension gibt es diese Beobachtungsposition, die das Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft, d.h. das Vergehen (und die Vergänglichkeit) beobachten kann – und wiederum selbst dabei beobachtet werden kann. So ergeben sich auch hier temporale Kaskaden, die in sich rekursiv sind, d.h. die nur andere Zeitperspektiven eröffnen, ohne jedoch auf die Position des absoluten Überblickers über Zeitliches freizugeben.53 Daß die Drittigkeit des eingeschlossenen Dritten den kommunikativen Text stärker sichert und stabilisiert als der Ausschluß, betont mit Analogien aus der Welt der Organismen für die soziale Dimension Michel Serres. »Die großzügigen Wirte sind also stärker als die Körper, die ohne Besucher bleiben.«54 Und daß Ähnliches auch für die diskursive Dimension gilt, wußte schon Kants »Anthropologie«, die die Mahlzeit als die gelungene Verbindung von Sinnlichkeit und Sittlichkeit als das »höchste moralisch-physische Gut« bezeichnete.55
5.5 W ER HAT
ÜBERHAUPT I DENTITÄT ?
Wer hat überhaupt Identität – das ist die Frage nach dem Subjekt als Objekt von Zuschreibungen. Hinsichtlich der Position des Dritten hatte Michel Serres diese Frage zuerst aufgeworfen.56 Und Anselm Strauss hatte festgestellt: »Das Fortbestehen der Identität ist etwas ganz anderes als die Vorstellung, die man davon hat.«57 Ja, aber was ist sie dann? Strauss‘ Bemerkung veranlaßt, eine Differenzierung einzuführen zwischen Identität als Effekt einer Identifizierung (die Identitätskonzeption der Psychoanalyse) und der vom Ursprung her vergewisserten Kontinuität von Identität, 53
54 55 56 57
Cf. dazu U. Guzzoni: Wasser. Berlin 2005, p. 130, wo sie einen diskontinuierlichen Zeitverlauf im Bild des Fließens des Wassers mit Strudeln und Gegenströmungen veranschaulicht, also eines Zeitverlaufs, der ein Verweilen und eine temporale Reflexion in sich vorsieht. G. Gamm postuliert solche Zeit-Abgründe für die Möglichkeit von Verzeihen und Versprechen: sie »sprengen eine Öffnung in die Ökonomie der Zeit.« G. Gamm: Nicht nichts. Frankfurt a. M. 2000, p. 216, cf. p. 240ff. Wenn Gamm allerdings annimmt, daß das nur in Situationen von Angesicht zu Angesicht möglich sei (p. 220), so irrt er. Zur Zeitlichkeit des Verzeihens s. jetzt auch sehr luzide V. Rauen: Die Zeitlichkeit des Verzeihens. Paderborn 2015. M. Serres: Der Parasit, p. 298. I. Kant: Gesammelte Schriften, hrsg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1910ff., VII, p. 277ff.; s. dazu K. Röttgers: Kritik der kulinarischen Vernunft. Bielefeld 2009. M. Serres: Der Parasit, p. 318. A. Strauss: Spiegel und Masken. Frankfurt a. M. 1968, p. 156.
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und am Ende werden wir (in der Postmoderne) Identität als Ereignis zu begreifen lernen müssen. Der Blick in die Ausweispapiere vergewissert den Beamten der Identität des fraglichen Subjekts. Aber solche Identitäten als Effekte von Identifizierungen mittels einer carte d’identité ist nicht fälschungssicher. Der Spiegel, den die anderen für uns abgeben, wodurch wir uns selbst in der Sicht der anderen sehen können, und die Masken, unter denen und mit denen wir uns präsentieren, sind die zwei Seiten der (einen?) Identität. Es macht gerade das flexible Nichttotalitäre des Sozialen aus, daß man, außer man möchte es Rousseau recht tun, zwischen beiden Möglichkeiten wechseln und mit ihnen spielen kann, oder anders gesagt, daß man zwischen den Funktionspositionen des Selbst, des Anderen und des Dritten wechseln kann. Der Bestimmer wird zum Bestimmten und zum Bestimmungsbeobachter, wobei die Bestimmungsbeobachtung ihrerseits eine Art Bestimmung ist und als solche durch die Beobachteten beobachtet werden kann. Und genau an dieser Stelle taucht die Fraglichkeit der Kontinuität der Identität auf. Oder in Strauss‘ Worten: »Jeder präsentiert sich anderen und sich selbst und sieht sich in den Spiegeln ihrer Urteile. Die Masken, die er der Welt und ihren Bürgern zeigt, sind nach seinen Antizipationen ihrer Urteile geformt.«58 Diese Instabilität hat Ähnlichkeit mit den Bewertungen, die an der Börse geschehen: auch diese sind ja kaum noch durch Produktivität, Effektivität der Produktivität oder andere »Basiswerte« bestimmt, d.h. durch Wert-Kontinuitäten, sondern – zumal ein Großteil der börsennotierten Papiere sich auf »Unternehmen« beziehen, die gar nicht produzieren, z.B. Banken – Bewertungen ergeben sich aus den Erwartungen an die Wert-Erwartungen der anderen Erwartenden. Gibt es also gar keine Kontinuitäten? Doch, nur dürfen wir sie nicht in den »Personen« (Menschen oder anderen Rechtspersonen) suchen, sondern im Zwischen. Medialität des kommunikativen Textes ist die Form der Kontinuität, oder wie Strauss sagt: »Sprache muß im Mittelpunkt jeder Diskussion über Identität stehen.«59 – freilich nicht Sprache als Sprachsystem, die langue, sondern die Performanz der Sprache als Sprechen, oder als Text. Von dort her werden kontinuierlich (!) Identifikationen als Identitätszuschreibungen vorgenommen, werden Subjekte produziert.60 Dadurch 58
59 60
l. c., p. 7. Die Flüchtlinge, die Afrika verlassen haben und in Europa ankommen möchten, haben ihre Ausweispapiere oft hinter sich zurückgelassen. Und das ist nicht einfach ein Trick, durch den die europäischen Behörden nicht wissen können, wohin sie die Betreffenden im Zweifelsfall abschieben können. Wer Afrika auf Schlepperbooten verläßt, weiß nichts mehr hinter sich und vor sich den Tod durch Ertrinken oder die Ankunft ohne (ausweisbare) Identität in Europa. l. c., p. 13. K. Stengel: Das Subjekt als Grenze. Berlin, New York 2003, p. 124 in Interpretation von Merleau-Ponty: »So ist der Terminus ›Intersubjektivität‹ eigentlich irreführend, denn zunächst ist nur das ›Dazwischen‹, d.i. das ›Inter‹, vorhanden, aus ihm erwächst erst der Einzelne für sich als Subjekt. Es findet also kein Austausch zwischen zwei entwickelten Subjekten statt; die Subjekte entwickeln sich vielmehr als solche im Austausch. Die Regeln dieses Austausches werden nicht von Subjekten für Subjekte gemacht, sondern konstituieren sich in der Begegnung […]«
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müssen sich Subjekte immer wieder neu erfinden, weil ihr Platz im Text nicht gesichert ist. Diese Positionsbestimmung erfolgt im Medium des Textes in den drei Dimensionen des Temporalen (wer war ich, wer will/werde ich sein?), des Sozialen (in den Relationierungen) und des Diskursiven (im kognitiven und im normativen Sinn, im Sinn ihres Daseins). Aber da die jeweils zwei Richtungen der drei Dimensionen das mediale Geschehen beeinflussen, kann nicht erwartet werden, daß dabei stabile, starre Identitäten erzeugt werden. Das gilt in Moderne und Postmoderne umso mehr, als die Zukunft nicht mehr aus der Vergangenheit ableitbar ist, die Gesellschaft, bzw. Gemeinschaft nicht mehr aus Vernunft und Gemüt und die Ethik nicht mehr aus dem (in sich guten) Sein. Die Feinjustierung der Identität ist immer riskant, experimentell, hypothetisch und asymmetrisch.
5.6 »E RZÄHLE
DICH SELBST « 61
Wenn unter der Sozialphilosophie des Medialen Identität als stets ad hoc in Situationen zugeschriebene erscheint, dann tritt als Problem auf, wie denn die menschlichen Personen (von juristischen Personen sehen wir einstweilen ab) als Inhaber der Funktionspositionen damit fertig werden. Oder abstrakter gefragt: In welchem Verhältnis organisieren sich die Zuschreibungen – im Laufe der Zeit, im Wechsel der Besetzungen und im Wandel der Wahrnehmungen und Bewertungen? Dieses ist, speziell und gesteigert in der Postmoderne, das Problem der Stabilisierung des kommunikativen Textes und seiner Funktionspositionen als Projekt des Prozesses selbst. Für den Menschen in diesem Prozeß heißt das, daß die Brüche und Abgründe des Prozesses zur Normalität werden. Der pater familias kann nicht mehr davon ausgehen, daß sein Wort unwidersprochen bleibt; der infans kann nicht mehr davon ausgehen, daß seine Bedürfnisse selbstredend beantwortet werden; und die Frau kann nicht mehr davon ausgehen, daß für ihre Rollenanforderungen das Bild einer Einheit dieser zur Verfügung steht. Diese Bruchlinien sind verschieden; aber alle verweisen die Menschen darauf, daß die Einheit des modernen und des spätmodernen autonomen Subjekts als Projekt-Garantie nicht mehr zur Verfügung steht. Dazu kommt, daß es jenseits der Performanz des kommunikativen Textes keinen Meta-Text (die sogenannten »MetaErzählungen«62) der Absicherung mehr gibt, sondern der Text selbst das Problem seiner Fortsetzbarkeit und Anschließbarkeit zu bewältigen hat. Zugespitzt gesagt:
61 62
Dem folgenden liegen folgende Arbeiten zugrunde: D. Thomä: Erzähle dich selbst. München 1998; W. Kraus: Das erzählte Selbst. 2. Aufl. Herbolzheim 2000: P. Schmucker: Wir müssen uns erzählen. In: Der Anästhesist 11 (2006), p. 1217-1224. J.-F. Lyotard: Das postmoderne Wissen. Wien 1986.
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Wie läßt sich die Kontinuität individueller Identität entwickeln, wenn die Gesellschaft selbst keine solche mehr hat und anbietet? Die Antworten, die die Postmoderne auf diese Herausforderungen gefunden hat, sind folgende: seine Zukunft nicht mehr zu planen oder zu projektieren, sondern Gelegenheiten zu ergreifen (Okkasionalismus), seinen Anderen (oder seine Seele) nicht mehr (quasi neurotisch) zu binden, sondern sich von ihm überraschen und verführen zu lassen (Fremdheitstoleranz) und sich auf moralische Bewertungen (und weltanschauliche Sichtweisen und Standpunkte) nicht mehr zu versteifen, sondern mit ihnen zu experimentieren. Aber wie ist das zu leisten? Wenn man die subjektzentrierten und substantialistischen Konzepte hinter sich gelassen hat, so die in der Anmerkung erwähnten Bezugsautoren, bleibt das Konzept einer narrativen Identität des Selbst. Verantwortung ist dann kein Etwas, das man »hat«, nicht einmal ein Etwas, das man (von wem?) »übernehmen« könnte, sondern zur Verantwortung wird man im Bedarfsfall »gezogen«. Die inzwischen herrschend gewordenen kontingenten Moralisierungen belegen diesen Wandel. Vor ca. 50 Jahren war Homosexualität nicht nur moralisch verwerflich, sondern nach § 175 StGB strafbar, Rauchen dagegen, wo immer man wollte, absolut unbedenklich. Heute ist es genau umgekehrt. Und wer politisch verlangt, daß die Bevölkerung der Krim keine Volksabstimmung über die Abspaltung von der Ukraine abhalten und sich für unabhängig erklären durfte und dementsprechend die Rückgliederung in die Ukraine verlangt, und wer verlangt, daß in Katalonien keine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit von Spanien stattfinden darf, der müßte auch die Abspaltung der USA vom British Empire für völkerrechtswidrig erklären und die Rückgliederung in das Empire verlangen; aber in der Postmoderne wird, wie gesagt, kontingent und nach Gelegenheiten moralisiert. Ähnliches gilt für die anderen beiden Dimensionen des kommunikativen Textes.63 Hans Magnus Enzensberger hat Effekte dieses Wandels drastisch geschildert: »Niederbayrische Marktflecken, Dörfer in der Eifel, Kleinstädte in Holstein bevölkern sich mit Figuren, von denen noch vor dreißig Jahren niemand sich etwas träumen ließ. Also golfspielende Metzger, aus Thailand importierte Ehefrauen, V-Männer mit Schrebergärten, türkische Mullahs, Apothekerinnen in Nicaragua-Komitées, mercedesfahrende Landstreicher […] 63
64
Das gilt besonders prekär auch für den Wandel der Sexualmoral im Hinblick auf Kinder. Freud hatte uns gelehrt, was zuvor geleugnet, bzw. ignoriert wurde, nämlich daß es eine kindliche Sexualität gibt. In den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts galt für Erzieher dementsprechend, Äußerungen derselben nicht zu ignorieren oder zu unterdrücken, sondern positiv darauf einzugehen. Und Ashley Montagu hat uns gelehrt, wie wichtig für alle höheren Säugetiere das Streicheln, incl. der Sexualorgane, für die gedeihliche Entwicklung des Individuums ist: A. Montagu: Touching. The Human Significance of the Skin. New York, Hagerstown, San Francisco, London 1977. Heute aber gilt all das pauschal als »Mißbrauch« und unterliegt einer verschärften Verfolgung. H. M. Enzensberger: Mittelmaß und Wahn. Frankfurt a. M. 1991, p. 264f.
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Sterbehelfer und Porno-Produzenten. || An die Stelle der Eigenbrötler und Dorfidioten, der Käuze und der Sonderlinge ist der durchschnittliche Abweichler getreten, der unter seinesgleichen gar nicht mehr auffällt.«64
Aber, wie gesagt, diese Permissivität ist nur die eine Seite, die andere ist eine verschärfte moralische Verfolgung und Ausgrenzung anderer Abweichungen bis hinein in den Gebrauch bestimmter Wörter, wie z.B. »Neger« (wörtlich: Schwarzer) für Schwarze, »Zigeuner« für die »Tsigani« oder »Behinderter« für Personen, die körperlich oder geistig an der Durchführung bestimmter Verrichtungen ge- oder behindert sind;65 und rational begründbar ist das alles nicht. 5.6.1 Ich-AG und Ich-Illusion Fichte schrieb: »Das Ich setzt sich«, Schopenhauer malte in sein Exemplar der Fichteschen »Wissenschaftslehre« an dieser Stelle einen Stuhl an den Rand. Was wie eine kleine Mutwilligkeit aussieht, gibt doch zu denken. Kann das Ich sich selbst voraussetzungslos »setzen«; oder sind nicht Gesäß66 und Sitz Voraussetzungen für ein sich setzendes Ich? Erhält das Ich sein Gesäß wirklich erst durch den Akt des Sich-Setzens, und ist der Sitz wirklich erst Resultat des Setzens seitens des Ich (das Ich setzt das Nicht-Ich)? Kaum eine der großen Philosophien der Moderne in der Nachfolge Descartes hat nicht in der einen oder anderen Form diese Asymmetrie zwischen Subjekt und Objekt behauptet. Aber nur die Fichtesche war so radikal (theoretisch so unverschämt), diese Position mit dem Personalpronomen der Ersten Person Singularis zu bezeichnen. Um gleichwohl eine Differenz dieses Personalpronomens als Funktionsort im kommunikativen Text, der die Position des Redenden bezeichnet, einzubauen und zu signalisieren, daß nicht vom »empirischen Ich« die Rede sei, sondern von einem transzendentalen, flüchtete sich Fichte zu der grammatischen Gewaltsamkeit, dieses Personalpronomen der 1. Person mit dem Reflexivpronomen der 3. Person zu verbinden: »Das Ich setzt sich«, statt »Ich setze mich«. Das funktioniert
65
66
Ein besonders krasser Beispiel für die Beliebigkeit solcher Verbote: In den Fünfzigerjahren hießen bestimmte Schulen für Kinder mit Lernschwierigkeiten »Hilfsschulen«; als das als diskriminierend deklariert wurde, nannte man die Schulen um in »Sonderschulen«, da aber dann »Sonderung« als Diskriminierung erklärt wurde, nannte man sie fortan »Sonderform der Volksschule«, bis man nach einiger Zeit bemerkte, daß man ja die »Volksschule« abgeschafft hatte und es keine »Sonderform« von etwas geben konnte, was es gar nicht mehr gab. Also nannte man sie erneut um: »Förderschule«, was ja vom Wort her eigentlich nichts anderes bedeutet als die gute alte »Hilfsschule«, oder ist etwa »Fördern« keine »Hilfe«? Cf. auch H. Lenk: Das Gefass. Pseudomephistophelisches »fassliches« Philosophieren. Münster 2006.
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aber nur aufgrund der Rücksichtslosigkeit, daß der oder die Partner im kommunikativen Text, die sich gegenseitig mit »Du« bezeichnen, überhaupt nicht vorkommen. Entweder die zweite Person wird ganz ignoriert und das Du ist nichts anderes als ein Unterfall des allgemeinen Nicht-Ich; oder das Du, da es seine eigene Position im kommunikativen Text ebenfalls als »Ich« bezeichnet, ist genau wie Ich, was aber zur Konsequenz hat, daß ich alleine und repräsentativ für alle anderen (alle Anderen) sprechen kann und eine echte Gegenrede nicht zu befürchten brauche. So sagte Fichte: »Gegen das soeben behauptete kann nur dreierlei eingewendet werden.«67 Und selbstverständlich gelingt es diesem Ich, alle anderen zu widerlegen, wie er an anderer Stelle sagt: »Alles, was ich zu thun hatte, war das, dem künftigen Widerleger zu zeigen, was er zu leisten hätte, welches der Widerleger nicht allemal weiß: und ich that es.– Eine andere Widerlegung ist nicht möglich.«68 Von diesem problematischen Punkt aus gibt es offenbar zwei fragwürdige Konsequenzen, den Solipsismus und den Universalismus, die beide den Anderen nicht kennen. Der Solipsismus behauptet: Es gibt nur mich, oder sollte es andere Subjekte geben, so werde ich niemals etwas von ihnen wissen. Der Universalismus – heute verbreiteter – behauptet, daß es nur eine Vernunft gebe oder daß Vernunft nicht im Plural vorkäme. Es ist nun die Frage, ob die seinerzeit propagierte Ich-AG (Unwort des Jahres 2002) strukturell etwas anderes ist als jenes solitäre Fichtesche Ich mit imperialistisch-universalistischem Anspruch. Was sollen die Shareholder jener Ich-AG sein, was gar ihre Stakeholder? Schon die Frühromantiker hatten ihre Zweifel an der Tragfähigkeit des Fichteschen Ich und setzten an seine Stelle das »transzendentale Wir«, in dem notwendigerweise eine Differenz und eine »polemische Totalität« eingebaut ist und das folglich nicht alles sein oder alles repräsentieren kann, was auch immer die Ich-Position im kommunikativen Text einnehmen könnte. Res cogitans erscheint hier als ein symphilosophierend kommunizierendes Wir. Damit ist die Frühromantik hier nur ein Präludium auf die im 20. Jahrhundert von verschiedenen Seiten aus vollzogene »Dezentrierung des Subjekts«. Jenes Fichtesche Ich ist unfähig, Alterität als Differenz zu denken, d.h. die Andersheit des Anderen wirklich ernst zu nehmen;69 es ist unfähig, Kultur anders als in Begriffen der Produktion und der Bewahrung zu denken, z.B. in 67 68
69
J. G. Fichte: Sämmtliche Werke, hrsg. v. I. H. Fichte. Berlin 1965 (ND d. Ausg. Berlin 1845ff.), I, p. 423. ders.: Gesamtausg., hrsg. v. R. Lauth u. H. Jacob. Stuttgart-Bad Cannstatt 1964ff., I, 1, p. 257. Der Einwand, der Unterschied des transzendentalen Ich vom empirischen Ich eines Herrn Fichte nicht hinreichend unterschieden zu haben, trifft nicht mich, sondern Fichte; offenbar ist es für eine solche Ich-Philosophie gar nicht möglich, den Philosophen, insofern er ex cathedra als Philosoph spricht, vom transzendentalen Ich zu differenzieren. Der logisch zwingende Wahrheitsanspruch macht das redende Ich sofort zum transzendentalen. Anders – auf den Spuren von Axel Honneth – Th. Bedorf: Andere. Bielefeld 2011, p. 6171.
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der Grundfigur der Abweichung oder der Überschreitung, wodurch es ja, nebenbei gesagt, der ökonomistische Amerikanismus so leicht hat, Kultur als Kriterium durch Ökonomie als Kriterium zu ersetzen; es ist ferner unfähig, die Risikoverfaßtheit der postmodernen Gesellschaftsformation zu begreifen und zu nutzen und damit auch einen wertneutralen Begriff des Scheiterns auszubilden;70 ebenso ist es unfähig, einen Begriff des Unbewußten auszubilden, für den nicht das Postulat gilt, das dort, wo Es war, Ich sein solle, welche Bewegung Freud bezeichnenderweise mit dem Trockenlegen der Zuiderzee verglich, wonach alle Ich-Terrains ausgetrocknete Es-Gebiete wären und im Prinzip alles Es-Meer zu einem Ich-Land trockengelegt werden könne;71 unfähig ist es auch, Hingabe zu denken und praktisch zuzulassen, die etwas anderes wäre als eine wenigstens partielle Ich-Aufgabe; und schließlich ist jenes IchDenken unfähig, den kommunikativen Text in seiner Medialität zu denken und ist gezwungen, ihn als Tausch vorintendierter und im sogenannten Inneren vorproduzierter Äußerungen zu verstehen, obwohl der persuasive Aspekt jeglicher Rede nie zu leugnen war, nach dem der Text mehr ist als er sagt. Diesem Ich jedoch war ungeachtet seiner spezifischen Unvermögen immer sehr viel zugetraut worden. Es sollte Prinzip aller erkennenden und handelnden Einheitsstiftung sein. Und meistens war diesem Ich auch eine substantielle Bedeutung beigemessen worden,72 so daß es nicht nur das formale Prinzip des Ich-denke war, sondern darüber hinaus als Sitz der Seele angesprochen werden konnte, darin allerdings von Kant abweichend,73 der dieser »Seele« keinen Ort im Körper zuweisen mochte, nur res extensae haben ihren Ort, res cogitans jedoch nicht; insofern hat das Cogito hier keine vom Gebrauch unabhängige Bedeutung, nur als Vollzug, nicht als Möglichkeit kommt »ich« vor. Nimmt man diese Vorstellung jedoch konsequent ernst, dann kann man kaum darauf bestehen, daß das »Ich« die einzige nicht-flektierbare Funktion im Text sein könnte. I und Me, Je und Moi, sowie einheitsgebendes, »autonomes« Ich und betroffenes, gar verführtes Mich kommen im kommunikativen Text ebenso vor, wie ein verführendes Du und ein gegenständliches Er/Sie/Es. Der Text weist die Positionen zu, von denen aus Ich und Du gesagt werden kann; damit ist der Text stets mehr als er sagt, und wenn der Text über sich spricht, dann nennen wir das eine Interpretation, und erst in einer solchen kann dann auch über das Ich (des interpretierten Textes) gesprochen werden – nicht jedoch über das interpretierende Ich, und daß beide identisch seien, genau das ist die Ich-Illusion.
70 71 72 73
R. Geisen: Macht und Misslingen. Zur Ökonomie des Sozialen. Berlin2005. S. Freud: Gesammelte Werke. Frankfurt a. M. 1961, XV, p. 86. Cf. kritisch dazu auch bereits die frühe Arbeit von J.-P. Sartre: Die Transzendenz des Ego. In: ders.: dass. Reinbek 1997, p. 39-92. I. Kant: Gesammelte Schriften, hrsg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1910ff., XII, p. 31ff.
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In der Cartesischen Welt bilden Ich und Welt einen Gegensatz; als Substanz genommen ist das Ich nichts anderes als ein Denken, und die Welt, als Substanz genommen, ist ausgedehnt. Sollte also das Ich mit einem Körper ausgestattet sein, so ist dieser ein ausgedehnter und erkannter Körper unter den Körpern dieser Welt, mitnichten ist mein Körper eine Leiblichkeit des Ich, insofern setzt sich das Ich in der Tat ganz ohne Gesäß. Gesäße und Sitzmöbel kommen in der Welt der ausgedehnten Dinge vor, das einsam denkende Ich ist davon unberührt. Humankörper, einige korpulenter andere weniger, erfüllen den Raum, und einen davon denkt sich das denkende Ich als seinen, insofern kann Ich auch nicht erkranken, allerhöchstens sein Körper (Dr. Stratmann: »Heute komm’ ich ’mal mit meinem Bein«74); Seelenleiden werden gedeutet in Analogie zu Leiden des Körpers, therapeutisch werden sie behandelt. Die Frage, wie denn das Ich zur Welt gekommen sei, erscheint diesem Rationalismus eine unsinnige Frage; denn nie ist das Ich in der Welt, weil es Ausdehnung nicht annehmen kann. Stellt man trotzdem diese Frage, wird die Sachlage nicht einfacher. Denn wenn Ich ein Zur-Welt-Sein immer schon ist, Bewußtsein also nie leeres, sondern immer Bewußtsein-von-etwas ist, dann ist der Punkt, an dem ein Ich zur Welt kommt, nicht angebbar. Das Ich kann nicht anfangen, weil es immer nur als bereits angefangenes weltbezüglich ist. Man hat mit mir angefangen, bevor ich noch hätte anfangen können.75 Auch wenn der Anfang des Ich nicht selbst-gegeben ist, ist er doch präsentierbar, und zwar durch das Erzählen von Geschichten. Der, von dem erzählt wird, wenn ich von mir erzähle,76 dieses Ich, das ich war und dessen Anfang ich nie war, und das in keiner Weise identisch ist mit dem, der dieses erzählt, ist ein selbstdistanziertes, keineswegs mehr naheliegendes Ich. Denn das Leben, wie es gelebt wird auch noch im Erzählvollzug, dieses Leben läßt sich nicht erzählen. Oder anders gesagt: Über alles kann der Erzähltext erzählen, nur nicht über sein eigenes Erzählen. Und genau dieser Umstand bringt uns dazu, das Ich vom Erzähler des Textes zu unterscheiden. Wer da »Ich« sagt im Text, das ist sein Autor, Autor ist eine Textfunktion und sonst nichts;77 im kommunikativen Text ist diese Funktion mit dem Selbst identifiziert, das sich vom jeweils Anderen, dem Adressaten des Textes, unterscheidet. Wie aber Redender und Angeredeter im kommunikativen Text stetig
74 75 76
77
http://www.doktor-stratmann.de/seiteninhalte/stuecke/bein_inhalt.html Cf. M. A. C. Otto: Der Anfang. Freiburg, München 1975, p. 106, 112; K. Röttgers: Der Anfang vom Ende. In: Anfänge und Übergänge, hrsg. v. K. Röttgers u. M. SchmitzEmans. Essen 2003, p. 246-252. H. v. Hofmannsthals. Erste »Terzine über Vergänglichkeit«: »Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt, / Und viel zu grauenvoll, als daß man klage: / Daß alles gleitet und vorrüberrinnt. // Und daß mein eignes Ich, durch nichts gehemmt, / Herüberglitt aus einem kleinen Kind / Mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd.« Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Frankfurt a. M. 1963: Gedichte und lyrische Dramen, p. 17. K. Röttgers: Das Leben eines Autors. Was ist ein Autor, und wo lebt er? In: Dialektik 2005/1, p. 5-22.
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wechseln, so ist das Große Ich einmal Selbst, ein andermal Anderer. Man muß einfach die Perspektive umstellen auf den Text, der zwischen uns steht, uns trennt und verbindet und unsere jeweilige Rolle bezeichnet, um aus den Aporien der Ich-Philosophie heraustreten zu können. Wir sehen, wie, verstärkt durch die klassische Psychoanalyse, das Ich, vielleicht letztmalig ernsthaft begründet, im Mittelpunkt steht, wie Ich-Schwäche gegenüber den Eindrücken von Außen und dem Es-haften Chaos im Inneren als Merkmal der Infantilität oder der Regression gewertet werden muß. Die Zumutung lautet: sei ein starkes Ich, schaffe Ordnung im Reich der Triebe und erlebe nicht als angetane Gewalt, was dir von außen geschieht. Autonomie heißt das Zauberwort, das uns die Aufklärung als Leitbegriff und Aufgabe mit auf den Weg gegeben hat. Hier, aber auch in der kulturalistischen Interpretation der Psychoanalyse durch Lacan, wird deutlich, daß, ein Ich zu sein, keine Selbstverständlichkeit grammatischer oder transzendentalphilosophischer Natur ist, sondern eine Forderung, wie es auch die Freudsche Formulierung nahelegt, daß das Ich nicht Herr im eigenen Hause sei;78 denn was sind das für Zustände, wo der Eigentümer nicht Herr seines Eigentums ist? So erscheint die Frage nicht ganz abwegig, an welcher Stelle die Forderung eine Überforderung wird, wo ein Selbst im kommunikativen Text79 nur unter Krämpfen ein Ich werden kann. Letzteres wäre genau dann der Fall, wenn die Funktion zur Substanz wird,80 wenn der Autor-im-Text seiner wesenhaften Substanz nach, und zwar auch außerhalb jeglicher Textualität, ein Autor wäre. Wiederum funktional betrachtet, wäre solches ein Autor, der nie Leser war und nie Leser sein wird, der immer spräche und keinem anderen je zuhörte. Dieses Ich wäre mehr als Gott, von dem ja gesagt wird, daß er manchmal die Gebete der Menschen er-hört. So bemerkte schon Nietzsche, daß wir illusionär (einer der »vier grossen Irrthümer«) meinen, wir hätten ein Geschehen dann verstanden, wenn wir einen »Thäter« identifiziert hätten, »[...] ein Subjekt erfanden welches verantwortlich wurde dafür, daß etwas geschah und wie es geschah.«81 Er nennt dieses einen der Grundirrtümer der Vernunft, »welche alles Wirken als bedingt durch ein Wirkendes, durch ein ›Subjekt‹ versteht und missversteht [...]« Also: »[…] ›der Thäter‹ ist zum Thun bloss hinzugedichtet [...]«82 So versteht ferner Lacan unter dem Unbewußten auch nicht etwas, was in einem Jenseits 78 79 80 81
82
S. Freud: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. In: ders.: Ges. Werke XII. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1972, p. 3-12, hier p. 11. Zu einer Sozialphilosophie, die diesen Begriff als zentralen Bezugspunkt wählt, s. K. Röttgers: Kategorien der Sozialphilosophie. Magdeburg 2002. Zur Unterscheidung maßgeblich E. Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. 10. Aufl. Darmstadt 1990. F. Nietzsche: Kritische Studienausg. , hrsg. v. G. Colli u. M. Motinari. München, Berlin, New York 1980, XIII, p. 274; cf. III, p. 621: dort ist vom Rückschluß die Rede »[...] vom Werk auf den Urheber, von der That auf den Thäter [...]« (cf. VI, p. 426) – zu den vier großen Irrtümern VI, p. 90f. l. c. V, p. 279.
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der Grenzen des Bewußtseins chaotisch-triebhaft wie die noch-nicht-trockengelegte Zuiderzee tobt, sondern rein funktional dasjenige, was dem Bewußtsein zur Fortsetzung seines Textes nicht zur Verfügung steht.83 Dadurch hört zugleich das Subjekt auf, Statthalter des Diesseits dieser Mauer zu sein, weil es ein Jenseits nicht mehr gibt, sondern sich wie beim Squash alles im Diesseits der Mauer abspielt; das Subjekt selbst wird zu einem Zwischen, zu der nie einzuholenden Einheit der Differenz von Sprache und Sprechen. Der Begriff der Ich-AG ist nichts anderes als die populäre Ausdrucksweise für die ökonomische Theorie, gemäß der jedenfalls unter heutigen Bedingungen der Arbeitnehmer (schon das ja ein Euphemismus für den Arbeit-Geber) zum Unternehmer seiner eigenen Arbeitskraft geworden sei;84 durch Bildung und Ausbildung vergrößert er investiv sein »Humankapital«, das er anschließend zielstrebig und gewinnbringend auf dem Markt als Unternehmer einsetzt. Die Illusion der Ich-AG lebt ebenfalls von der substantialistischen Fiktion; wenn man von der Ich-AG redet, dann scheint es so, als gäbe es wenigstens eine Form von Unternehmen, dem nicht die Shareholder durch Abwanderung ins Ausland abhandenkommen können. Tatsächlich aber kennt auch eine global entgrenzte Ökonomie kein »Ausland« mehr; die Grenzen verlieren ihre Bedeutung. Diesen Gedanken können wir nun aber nicht auf den wirtschaftspolitischen Funktionsverlust der Staaten in der Sicherung von »Standorten« beschränken. Die Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich oder zwischen Ich und Es verliert ebenfalls ihre substantielle Bedeutung. Wichtig wird jetzt im Zuge eines relationalen Denkens, was im »Zwischen«, im »Medium« oder anders gesagt im kommunikativen Text geschieht und welche Zuweisungen sich dort ereignen.85 In diesem Sinne sprach bereits Ernst Cassirer vom Ich und Du der Kommunikation: »Beide können jetzt nicht mehr als selbständige Dinge oder Wesenheiten beschrieben werden, als für sich daseiende Objekte, die gewissermaßen durch eine räumliche Kluft getrennt sind und zwischen denen es nichtsdestoweniger, unbeschadet dieser Distanz zu einer Art von Fernwirkung, zu einer actio in distans, kommt. Das Ich wie das Du bestehen vielmehr nur insoweit, als sie ›füreinander‹ sind, als sie in einem funktionalen Verhältnis der Wechselbedingtheit stehen. Und das Faktum der Kultur ist eben der deutlichste Ausdruck und der unwiderstehlichste Beweis dieser wechselseitigen Bedingtheit.«86
83 84 85 86
Cf. J. Lacan: Schriften I. Olten 1973, p. 97; cf. p. 84: »[...] die Psychoanalyse hat nur ein Medium: das Sprechen des Patienten.« H. J. Pongratz / G. W. Voß: Erwerbstätige als »Arbeitskraftunternehmer«. In: SOWI – Sozialwissenschaftliche Information 30 (2001), p. 42-52. Zur sozialontologische Grundlegung im Ausgang von einem »Neuschreiben« von Heideggers »Sein und Zeit« s. J.-L. Nancy: singulär plural sein. Berlin 2004. E. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Darmstadt 1971, p. 49.
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Trotz dieser metaphysisch-metaphysikkritischen Bedenken gegen ein substantielles Ich besteht unverkennbar die Zumutung fort, ein solches als Substanz auftretendes Ich sein zu sollen. Im Zuge der von Foucault eindringlich beschriebenen Disziplinierungen werden Iche als in Unverwechselbarkeit gleiche Subjekte hervorgebracht. Nur paradox könnte man sich dem noch entziehen in der Weise, in der in Monty Pythons Film »Das Leben des Bryan« der Menge von Bryan gepredigt wird, sie seien alle unverwechselbare Individuen, was die Menge stumpf als Bekenntnis wiederholt mit der Ausnahme eines einzigen, der beteuert: »Ich nicht!« Mit anderen Worten, die Ich-Zumutung ist flächendeckend. Wohl verstanden, es geht überhaupt nicht um die Tabuisierung des Gebrauchs des Personalpronomens der Ersten Person Singularis. Vielmehr geht es als Beschreibung der Funktionsorte im kommunikativen Text darum, daß, wer Ich sagt, auch Du sagen können muß, oder vielleicht besser neutral gesprochen: Wenn im Text das Selbst seinen Ort hat, dann zugleich immer auch das Andere. Nun muß man sich vor der transzendentalphilosophischen Illusion hüten, als gäbe es einen Ort, von dem aus die Funktionalität von Selbst und Anderem beschrieben werden könnte, ohne daß sie bereits in der Beschreibung in Anspruch genommen werden müßte. Für jede Beschreibung gilt, daß sie zwar vom »ich« Gebrauch machen kann, darf und muß, daß sie sich aber davor hüten muß, wie Fichte zu glauben, es gäbe ein »Ich«, das der letzte Bezugspunkt aller möglichen Beschreibungen sein könnte. Für jede bestimmte Äußerung im Text, die mit Wahrheitsanspruch auftritt, ergibt sich daraus eine Paradoxie, die zwar von Fall zu Fall, aber nicht grundsätzlich und für allemal auflösbar ist. Ich Selbst weiß die Wahrheit und weiß zugleich, daß der Andere weiß, daß ich sie nicht weiß. Auflösbar ist die Paradoxie immer von Fall zu Fall, d.h. im textuellen Prozeß, aber es gibt keinen überlegenen Standpunkt, von dem aus das Labyrinth unserer Bewegungen im Text ansichtig gemacht werden könnte. Dieses Ich ist eine Illusion. Wenden wir uns jedoch jenem anderen Ich zu, das als produziertes und zugemutetes weiter Bestand hat, so müssen wir uns in dieser Hinsicht auch vor gewissen Illusionen hüten, nämlich als wäre dieses Ich ein substantielles Etwas, das nur durch die Disziplinierungsvorgänge geformt oder verformt würde; eine rousseauistische Pädagogik hat uns das eingeredet, und die Ideologen der »Selbstverwirklichung« haben es wiederholt. Das Unverformte, d.h. Formlose, wäre kein Ich, ja man wird wohl sagen müssen: Ich ist nichts anderes als Form; die unverformte Körperlichkeit, der »corps sans organes«87 läßt ein Ich gar nicht zu.88 Zudem ist die Form nicht unbedingt einheitsgebend, zumeist ist sie polymorph, weswegen nicht der Monolog eines Ich die Grundgestalt ist, sondern der kommunikative Text, an dem eine Vielheit mitwirkt,
87 88
G. Deleuze/F. Guattari: Capitalisme et Schizophrénie II: Mille Plateaux. Paris 1980, p. 185ff. Zur Interpretation der Psychologie bereits des Aristoteles in diesem nichtsubstantialistischen Sinne s. H. Busche: Die Seele als System. Hamburg 2001.
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ein Wir statt eines Ich. Folge ist dann auch, daß es nicht zweckmäßig erscheint, Freiheit als einsame Freiheit eines Ich zu begreifen, die durch jedes andere mögliche Ich oder jedes Nicht-Ich nur eingeschränkt und bedroht werden kann (so die Freiheitsphilosophen von Schelling bis Sartre). Wir hätten stattdessen den Begriff einer »sozialen Freiheit« zu konzipieren, der durch das Soziale nicht eingeschränkt wird, sondern das nur auf diese Weise gesteigert werden kann. Niemand ist In-Dividuum, d.h. wörtlich Atom, Unteilbares; wir sind Dividuen und wir bilden Dividuen, und zwar durchaus meistens in der Form, daß Teile in uns mit Teilen außer uns in Relation und Wechselwirkung stehen,89 so daß die geläufige Innen-Außen-Differenz zwar nicht funktionslos wird, aber ihre substantielle Bedeutung verliert. Auch hier kann uns wiederum Nietzsche als Stichwortgeber dienen: »Die Annahme des Einen Subjekts ist vielleicht nicht nothwendig; vielleicht ist es ebensogut erlaubt, eine Vielheit von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel und Kampf unserem Denken und überhaupt unserem Bewußtsein zu Grunde liegt?«90 In diesem Sinne kann durchaus davon gesprochen werden, daß nicht nur das Individuum in der Gesellschaft sei, sondern ebenso sehr die Gesellschaft im Individuum.91 Also doch Ich-AG? In dem Sinne, daß das Ich kein absolutes Etwas ist, das durch sein Sich-Setzen die Einheit der Welt und des Handelns erzeugte, durchaus. Aber da endet denn auch schon die Analogie; denn die Ich-AG als Arbeitskraft-Unternehmer unterstellt ja gerade ein Unternehmertum, das seinerseits einheits-ichförmig ist, durch die also ein Ich, als 100%iger Shareholder des Humankapitals seiner Arbeitskraft sich selbst die Gestalt eines Kapitalstocks gibt. Der Gedanke der Ich-AG macht also Gebrauch von der Tatsache, daß das Ich kein Grundelement der Menschenwelt ist, verwendet aber in der Konstruktion dieses Konzepts genau die Illusion, es sei doch so. Walter Benjamin, dieser eingefleischte Antisubjektivist, wollte sein Hauptwerk nur aus Zitaten bestehen lassen, weil das Ich nur ein Durchgangspunkt vielfältiger Gedankenströme sein kann. Als Methode seiner Arbeit gab er an: »[...] literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen.«92 In der Postmoderne sind aber die in ihr erfolgreichen fragmentierten und multiplen Subjekte nicht mehr in der Lage, ihre Kinder, also die folgende Generation so zu erziehen, daß auch diese in dieser Gesellschaft erfolgreich sein können. Entweder die Eltern sind an diese Gesellschaft nicht angepaßt oder Aussteiger, d.h. erfolglos, und
89 90 91 92
Zur Bedeutung für die Praxis der Psychoanalyse s. D. Pflichthofer: Sich anstecken lassen – Das Unheimliche der Leibhaftigkeit. - In: M. Müller/F. Wellendorf: Zumutungen. Die unheimliche Wirklichkeit der Übertragung. Tübingen 2007, p. 238-260. F. Nietzsche, l. c. XI, p. 650; cf. V, p. 27: »Seele als Subjekts-Vielheit« als »Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte«. Cf. J. Ogilvy: Many Dimensional Man. New York 1977, p. 90, passim. W. Benjamin: Gesammelte Schriften, hrsg. v. R. Tiedemann u. H. Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1974 ff., V, p. 574.
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schaffen so eine Atmosphäre, in der ihre Kinder zu erfolgreichen postmodernen Subjekten heranwachsen können – oder sie sind selbst erfolgreich postmodern und verunsichern mit ihrer multiplen und fragmentierten Persönlichkeit die Kinder so sehr, daß diese gerade nicht erfolgreich-spielerisch postmodern zu sein vermögen werden. Eine der Konsequenzen ist bislang gewesen: die Kinderlosigkeit postmoderner Menschen, worauf die politische Antwort gewesen ist: finanzielle Anreize zum Kinderkriegen anzubieten, aber diese Antwort bleibt in den Grenzen der Moderne, sie tut so, als ob Kinderreichtum eine Erwerbsquelle werden könnte. Die reale Konsequenz, die kaum zu vermeiden sein wird, wenn man es denn wollte, wird sein eine Zirkulation der Eliten. Es wird keine Familientraditionen maßgebender Menschen mehr geben. Die Tochter oder der Sohn des Chefarztes bringt es dann gerade einmal bis zum Pharmareferenten und umgekehrt. So wie es in Arthur Schnitzlers »Reigen« eine Zirkulation der Partnerschaften gibt, so werden in Zukunft die gesellschaftlichen Positionen zirkulieren und mal diesen mal jene in eine privilegierte Position bringen; aber die privilegierten Positionen werden auch durch Erziehung und Bildung nicht mehr weitergegeben werden können. Eine verstehende Psychologie (Dilthey und die Dilthey-Schule) hatte versucht, Seelisches aus einer Innenperspektive zu deuten, eine behavioristische Psychologie erklärte das Vorhaben für Unsinn; denn man kann sich nicht in eine andere Psyche »hinein« versetzen, man bleibt immer draußen und von dort kann man beobachten, wie das Verhalten eines Probanden sich entwickelt, was immer in der »black box« seines sogenannten Inneren vor sich gehen mag. Beides sind Einseitigkeiten, legt man die mediale Sozialphilosophie des kommunikativen Textes zugrunde. Denn der innere Andere eines Selbst und sein äußerer Anderer stehen im Prozeß in Relation zueinander. Doch dieser innere Andere ist nicht, was die Behavioristen zu recht verdächtigten: ein inneres Subjekt im Inneren eines äußeren Subjekts, und erst recht keine Substanz, sondern es ist die radikale Immanenz der Redeposition, wie immer diese besetzt sein mag. Und wenn ein Mensch – ein Mensch also – aus der Redeposition in die Hörerposition wechselt (vom Selbst zum Anderen wird), dann nimmt er diese Immanenz der Redeposition nicht mit, sondern ist nun in der Immanenz der Andersheit. Marcia93 spricht daher von »kulturell adaptiver Diffusion« von Identität. Wenn die Gesellschaft keine Identitätsgarantie für sich selbst übernehmen kann, wäre es unvernünftig und dysfunktional, wenn die Individuen gleichwohl darauf bestehen sollten und eine vorhersehbare Zukunft, einen gebundenen Partner und feste Werte und Wertordnungen verlangen würden; denn das lieferte sie dem Scheitern aus. Es wäre also nun der Frage nachzugehen, was das Erzählen zur sozialen Identität eines beiträgt, der sich als Erzähler in der Position des Selbst befindet. Und auch: 93
Marcia: Identity diffusion differentiated. In: Psychological development across the lifespan, hrsg. v. M. A. Luszcz u. T. Nettelbeck. North-Holland 1989, p. 289-295.
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Wenn es die Kontinuität brechenden Ereignisse gibt, was diese zur Identität beitragen. Dieter Thomä94 diskutiert dieses letztere Problem anhand von Glücksfällen, also einer »überschwenglichen Situation, die sich um die Ganzheit des Gelingens des Lebens nicht kümmert.«95 Die Erzählung wird diesen (glücklichen) Bruch in der Kontinuität gelingenden Lebens immer nachträglich zu kitten haben. Man trifft einen Menschen und verliebt sich spontan »unsterblich« – wie man so sagt – in ihn, oder man erhält plötzlich und unvorbereitet eine großartige berufliche Chance oder einen Lottogewinn oder eine Erbschaft. All das ist weder planbar noch überhaupt in Zukunftsentwürfen, d.h. Geschichten, erwartbar. Dennoch wird der Erzähler im Nachhinein diese Ereignisse als zur eigenen Geschichte gehörig interpretieren und entsprechend erzählen: ange-eignete Widerfahrnisse eben. Gleichwohl gibt es auch Geschichten, in die solche großen Ereignisse nicht passen, ihre Großartigkeit erweist sich als nichtintegrierbar. Entweder es gelingt dem Erzähler, sie zu verkleinern, auf menschliche Maße herunterzubrechen also, oder sie werfen den durch sie Getroffenen so aus der Bahn, wie man sagt, daß er sie nicht innerhalb seiner Geschichte zu erzählen weiß. Immerhin sind es nicht nur die Pessimisten, die sich dem Glück sperren, sondern auch die Realisten, die mit solchen Glücksfällen nichts anzufangen wissen. Denn die Geschichten, die wir uns erzählen, enthalten immer auch Bahnungen zukünftiger Geschichten. Pessimisten und Realisten haben Bahnungen eingerichtet, d.h. offene Formulare96 für zukünftige Geschichten-Eintragungen, die sie beengen. Daß freilich die überschwänglichen, illusionären Optimisten kaum besser dran sind, wenn sie hinter jeder Straßenecke die Große Liebe erwarten, ist evident. Es sind die, wie Emerson gesagt hat,97 großen Seelen, die offen sind für den Empfang der großen Glücksfälle. Ihre Bahnungen sind nicht linear, sondern transversal und dadurch flexibel und nicht binär durch Erfolg oder Mißerfolg codiert. Diese Beschreibungen sind deswegen wichtig, weil niemand permanent in der Position des Selbst ist, sondern die Positionen wechseln (abgesehen von absolut sozialpathologischen Verhältnissen, die aber auch nicht auf Dauer zu stellen sind). Solcher Wechsel ist nicht immer unbedingt ein solcher Glücksfall, von dem bisher die Rede war, aber immer ist er eine unplanbare und im Einzelfall auch nicht erwartbare Unterbrechung von Bahnungen. Ganz plötzlich ist man der Angeredete oder auch der (ausgeschlossene) Dritte. Politiker (im Sinne: Funktionäre der Großen Politik – im Unterschied zur Mikropolitik) und auch Lehrer (die sich zu Belehrungen verpflichtet fühlen) meinen oft, unbelehrbar sein zu müssen, sich nicht unterbrechen lassen zu dürfen; sie halten eine Unterbrechung für einen Macht- und Autonomie-Verlust. Sie 94 95 96 97
D. Thomä: Erzähle dich selbst. l. c., p. 21. Zum Begriff des Formulars s. J. Frese: Prozesse im Handlungsfeld. München 1985, p. 138ff. und 148ff.: »Ausformulierung des Flucht-Raums: Theorie des Formulars«. Zit. bei D. Thomä: Erzähle dich selbst, p. 176.
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meinen, die Position des Selbst halten zu müssen. In der Großen Politik ist das ein folgenschwerer Irrtum; denn der Dritte, der die Gefahr der Intervention birgt, ist nicht selten der lachende Dritte; und wenn man zuzuhören bereit ist, d.h. die Position des Anderen zu akzeptieren bereit ist, bekommt man nicht selten auch recht schöne Dinge zu hören, auf die der Selbst-Redner eigensinnig verzichtet. Solches hat Konsequenzen für die Erzählung der eigenen Geschichte. Wer als Person die Größe hat, das Zuhören zu verkraften, bzw. den Wechsel der Positionen im kommunikativen Text, der wird seine Geschichte nicht mehr homogenisieren können. Er wird sich mit einer kursorischen Erzählung begnügen, wenn er wieder am Reden ist. Denn das Zuhören ist keine autonomiebasierte Aktivität, kein Handeln, sondern das Zulassen von Passivität, ist ein Sichöffnen für das Ausgeliefertsein. Dem unvorhersehbaren Schicksal gegenüber ist die Kultur des Aushaltens ohnehin angesagt. Auch Dritter zu sein, ist eher ein Widerfahrnis als ein Handlungsresultat. Und genau das macht die postmoderne Identitätsstruktur aus: nicht mehr immer ein konsistentes Selbst sein zu müssen, sich dem Werden in Situationen ausliefern zu können, statt auf der Kontinuität einer Geschichte von Identität angstvoll beharren zu müssen, multipel sein zu können statt monoman. Thomä dazu: »Die Stimmigkeit erweist sich in der Gegenwart – und zwar nicht durch narrative Kohärenz, sondern genau dann, wenn man sich in seiner Exzentrizität zu den Erzählungen, die derzeit für das eigene Leben prominent sind, nicht an sich selbst stößt.«98 Die Situation des diskontinuierlich (durch glückliche – oder auch unglückliche – Zufälle und Widerfahrnisse) sich lebenden Lebens in wechselnden Positionen muß nicht mehr durch die temporal kontinuierliche Identität eines permanenten und persistenten Selbst abgesichert werden, sondern seine Abenteuer99 werden durch das Minimalerfordernis der Anschließbarkeit von Text zusammengehalten.
5.7 E RZÄHLUNGEN UND H ANDLUNGEN UNTER B EDINGUNGEN DER D ISKONTINUITÄT Aufgrund der Nachträglichkeit kann Erzählen Kontinuität nicht als garantiert unterstellen, sondern vor ihm steht allenfalls die Aufgabe der Konstruktion einer solchen. Aber selbst die Idee einer einheitlichen großen Geschichte eines Lebens ist unter 98 99
D. Thomä: Erzähle die selbst, p. 253. Zum Begriff des Abenteuers s. T. Todorov: Abenteuer des Zusammenlebens. Berlin 1996, der jedoch dieses Thema in eine »allgemeine Anthropologie« einbettet – trotz seiner strukturalistischen Wurzeln; s. zu diesen ders.: Lektüre als Rekonstruktion des Textes. In: Erzählforschung. Theorie, Modelle und Methoden der Narrativik, hrsg. v. W. Haubrichs. Göttingen 1977, II, p. 228-239; ders.: La notion de littérature. In: Langue, discours, société, hrsg. v. J. Kristeva, J.-C. Milner, N. Ruwet. Paris 1975, p. 352-364; cf. jedoch schon ders.: Littérature et signification. Paris 1967, p. 87f., wo er den Begriff der Erzählung bereits an die Person der Erzählers rückbindet.
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postmodernen Bedingungen fraglich geworden. Stellt sich nicht vielmehr heute der Lebenszusammenhang als eine Pluralität von Erzählungen, moderiert jeweils durch temporale, soziale und diskursive Bedingungen dar? Es ist ja nicht so, als gäbe es a priori diese Einheit, fundiert im Subjekt oder im Individuum oder im ganzen Menschen, und als brauchte sie nur aufgedeckt und erzählend zu Bewußtsein gebracht werden. Einer der Gründe dafür ist, daß das Leben als ganzes nicht die Form von Handlungen haben kann, d.h. eine Lebens-Intention, ein Lebens-Ziel setzen und die für Zielerreichung geeigneten Mittel ausgewählt haben kann. Leben heißt, sich in einen Text verwickeln (lassen). Daß unsereiner die deutsche Sprache als Muttersprache spricht, das hat er nicht gewollt, geplant und zielstrebig verwirklicht. Es wurde ihm als Bedingung seiner kulturellen Existenz auferlegt. Und wenn er sich in diesem kulturellen Zusammenhang dann Ziele gesetzt hat, dann zeigt sich für ihn oftmals, daß sie auf direktem, methodischem Weg nicht zu erreichen sind; daher die Wichtigkeit der Umwege, Digressionen, ja Zielerreichungsvermeidungen für die Kultur. Unsere Existenz ist eine fundamental metaphorische. Der direkte Weg führt, unter kulturellem Aspekt gesehen, direkt ins Scheitern. Sagte Kant, daß allein der kritische Weg noch offen sei,100 d.h. der auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis und Handeln reflektierende, so müssen wir heute – nach der Ära der Transzendentalphilosophie – im Rahmen der postmodernen Immanenz erklären, daß vor allem der metaphorische Weg noch offen sei. Dabei ist Metaphorik hier in dem weiten Sinne zu verstehen, daß er die transversale Bewegung mit einschließt. Und wenn diese Zickzack-Bewegung der Pathwork-Geschichten und des irritierbaren, d.h. inkonsequenten Handelns »nach oben« zu führen scheint, so ist dieses Oben eben nicht das durch transzendentale Reflexion gesicherte Unbedingte aller Bedingungen und noch weniger jenes Oben des Monotheismus oder der metaphysisch-hierarchischen Einheitsphilosophien,101 sondern es ist wie das Oben in einem Möbius-Band.102 Oder es ist wie bei Frau Holle: der Fall in den Abgrund des Brunnens führt dorthin, von wo die Schneeflocken auf die Erde fallen, wenn Frau Holle die Betten ausschüttelt. Die alten
100 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft B 884. 101 »Dieu est mort: Dieu, cela veut dire Dieu, mais aussi tout ce qui, par un rapide mouvement, a cherché à occuper sa place, l’idéal, la conscience, la raison, la certitude du progrès, le bonheur de masses, la culture […]« M. Blanchot: L’entretien infini. Paris 1969, p. 217. 102 Ein Möbius-Band ist eine topologische Struktur, bei der die Unterscheidung zwischen Oben und Unten, zwischen Innen und Außen keinen Sinn macht, weil das Band in sich gedreht ist. Cf. dazu Martin Heideggers Bemerkung, daß der Abgrund nicht unbedingt »unten« ist. M. Heidegger: Gesamtausgabe XCV. Frankfurt a. M. 2014, p. 130: »[…] denn Abgründe sind nichts, was nach unten sich erstreckt von einem gesicherten Oben gesehen – sondern Ab-gründe sind […] gleichsehr oben und unten – das Ungegründete, aber Gründung Tragende des Ursprungs […]«
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Manichäismen sind aufgegeben: schwarz oder weiß, gut oder böse, wahr oder falsch, nah oder fern. Wir müssen den metaphorischen Zusammenfall beider Seiten denken lernen: schwarz weil weiß, gut weil böse usw. Im nächsten Abschnitt werden wir diese Doppelheit am Beispiel von Nähe untersuchen. Unter postmodernen Bedingungen (Verlust der Aura, technische, heute digitale Reproduzierbarkeit) läßt sich diese Doppelheit nicht mehr als die von Original und Kopie, von Körper und seinem Schatten differenzieren: Der Doppelgänger ist das Original.103
5.8 R ISIKEN DER N ÄHE 104, R ISIKEN DER D ISTANZ D URCHKREUZUNG VON I DENTITÄT
ALS
War »Identität« ursprünglich ein Begriff, durch den Objekte – auch Menschen in Objektbeziehungen – nach Ähnlichkeiten aufeinander bezogen werden konnten, so hat sich im 20. Jahrhundert, und zwar offenbar begründet durch Sigmund Freud105, eine Redeweise entwickelt, die sich auf Subjektivität bezieht. Uns beschäftigte im ersten Kapitel vor allem diese zweite Redemöglichkeit, die ein »Sich-identifizierenmit« zuläßt. In seiner Rede »Der Satz der Identität« führt Martin Heidegger106 die Möglichkeit dieser Redeweise auf den Deutschen Idealismus zurück. Aber er gibt dem Identitätskonzept seine eigene erweiterte Interpretation, die in der seinsgeschichtlichen Perspektive des »anderen Anfangs« der Philosophie Identität in Rahmen der Erörterung des »Seyns des Seienden« ansiedelt. Im ersten Anfang, nämlich bei Parmenides, ist eine der Formulierungen der Identität folgendes: »tò gàr aütò noeîn Êstín te kaì Êinai.« Daß Denken und Sein identisch sind, macht genau dann Sinn, wenn das Seyn west und das Denken (also den Menschen) an-geht. »Mensch und Sein sind
103 »Das Wesentliche ist niemals das Bild noch seine Bedeutung, nicht die Darstellung noch seine Spiegelungen, das Wesentliche bleibt stets das System der Beziehungen.« M. Serres: Der Parasit, p. 19. 104 Von riskanter Nähe spricht auch Wolfram Hogrebe. W. Hogrebe: Riskante Lebensnähe. Berlin 2009; dieses sehr interessante Buch hat jedoch Themen zum Gegenstand, die ich anderswo abgehandelt habe und die hier nicht noch einmal aufgenommen werden sollen: das Verhältnis von Wissen und Nichtwissen und das Szenische als Form des Wissens. Dazu K. Röttgers: Woran ist die Ignoretik gescheitert? In: Wissen und Verantwortung. Fs. J. P. Beckmann. Freiburg, München 2005, I, p. 136-177 und andererseits ders.: »Ich bin eine Illusion«. Die Bühne als Modell postmoderner Sozialphilosophie. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2013/1, p. 147-170. 105 G. Schmidt: Identität. Gebrauch und Geschichte eines modernen Begriffs. In: Muttersprache 86 (1976), p. 333-354. 106 M. Heidegger: Der Satz der Identität. In: ders.: Identität und Differenz. Frankfurt a. M. 2006 (Gesamtausg. Bd. 11), p. 31-50.
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einander übereignet. Sie gehören einander.«107 Der Vollzug dieser Zugehörigkeit ereignet sich als Sprung. Dieses Er-eignis verläßt die Beschränkungen, die die klassische Metaphysik dem Denken auferlegt hatte. »Satz der Identität sagt jetzt: Ein Sprung, den das Wesen der Identität verlangt, weil es ihn braucht, wenn anders das Zusammengehören von Mensch und Sein in das Wesenslicht des Ereignisses gelangen soll.«108 Mit Heideggers Interpretation des Satzes der Identität erhält Identität etwas Dynamisches, ja Performatives. Zugleich aber ist durch Heideggers Wahrheitsbegriff als Aletheia, d.h. Unverborgenheit des Seienden selbst, Identität auf die Einheit einer Zweiheit festgelegt, ein Drittes ist hier gar nicht möglich. Das hindert aber eine Anknüpfung an sozialphilosophische Kontexte, was ja schon Nancy im Hinblick auf das Mitsein in »Sein und Zeit« kritisch bemerkt hatte. Die Anknüpfung an den Wandel des Identitätskonzepts bei Freud hätte aber entsprechende Überlegungen ermöglicht. In der psychoanalytischen Situation gibt es den Dritten, weil die Situation nicht in der intersubjektiven Begegnung eines Patienten mit einem Therapeuten aufgeht. Der Dritte, das ist auf Seiten des Patienten nicht nur sein von ihm selbst unverstandenes Unbewußtes, sondern es sind auch die Lebenspartner und Familien, die von der analytischen Situation systematisch ausgeschlossen sind, rigider als jede zusätzliche Freundschaft es sein könnte. Insofern kann die Nähe, die durch die analytische Situation Nähe erzeugt, durch Ausschluß des gleichwohl bestehenden Dritten auch einen Verlust an sozialer Realität beinhalten, vergleichbar einer Sucht. Noch einmal: Kann die Analyse jene Variabilität von Nähe und Distanz erzeugen oder simulieren, die für soziale Situationen durch die Präsenz des (eingeschlossenen oder ausgeschlossenen) Dritten gegeben ist? Das Problem der Nähe, d.h. der Dichte des Zwischen im kommunikativen Text, ist in der reinen Dyade oder der Dyadenverkettung der Intersubjektivitätstheorien unlösbar; denn allzu häufig will in reiner Intersubjektivität (wenn es sie dann anders als durch Abstraktion gäbe) der eine mehr Nähe als die andere, der andere mehr Distanz als die eine. Lebbar wird diese Durchkreuzung mit der Präsenz des Dritten, d.h. in der echten sozialen Situation. Wir kennen trotz sozialer Vermittlungen immer auch die pathologischen Dyadisierungen, angefangen bei der sogenannten »folie à deux«, fortgesetzt in der Reduktion des Sozialen auf das Politische, wie es z.B. Carl Schmitt dargestellt hat, d.h. mit der Schematisierung auf die Dichotomie von Freund und Feind; und Schmitt hebt ja eigens hervor, daß das Politische den Dritten nicht kennt: entweder du gehörst zu »uns« oder zu »denen« – tertium non datur. Zu den pathologischen Dyadisierungen rechne ich
107 l. c., p. 40. 108 l. c., p. 48.
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auch das Intim-Erotische, wie es z.B. Lévinas geschildert hat, auch es läßt einen Dritten nicht zu, es ist daher wesentlich unsozial.109 Das Politische tendiert zum Verlassen des kommunikativen Textes in Richtung sprachloser Gewalt, bzw. es schließt die Möglichkeit der Gewalt immer mit ein, das Erotische tendiert zu der Möglichkeit mystischer Sprachlosigkeit; beides sind Formen des Ausscherens aus dem kommunikativen Text, der Selbst, Anderen und Dritten verbindet.
109 E. Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. Freiburg, München 1987, p. 384.
6. Identität und Synchronisierung
6.1 M YTHOS – L OGOS – N ARRATION Eine der Thesen hinsichtlich von Identität ist, daß sie von einem Ursprung her, einer Origo oder Arché begründet sei. Während das griechische Wort ἀrc® auf eine Beherrschung von einem Ursprung her verweist, ist die mit dem deutschen Wort »Ursprung« verbundene Vorstellung die eines Quellpunkts, der quellen läßt, was zuvor im Verborgenen des Inneren der Erde oder des Subjekts irgendwie präexistent war. Dieser Vorstellung hält Ute Guzzoni entgegen: Es gibt keine Quelle vor oder hinter der Quelle, keinen Anfang, der vor dem Anfang wäre und sein Anfangen veranlaßte: »Die Quelle quillt.«1 In seiner Heidegger-Interpretation folgt auch Reiner Schürmann der Durchstreichung eines Ursprungs vor dem Ursprung.2 Danach ist der Ursprung des Sprechens und des Handelns, sagen wir: des kommunikativen Textes, nicht ein dem Text präexistentes Subjekt oder im Heideggerschen Sinne eines Daseins, noch liegt ein solcher Ursprung im Objekt. Der Ursprung ist nicht im griechischen Sinne eine Arché, d.h. Beginn und Befehl (commencement et commandement3), sondern der Ursprung ist das Gegenwärtigwerden des Gegenwärtigen.4 Das impliziert aber auch generell eine Abkehr vom linearen Denken, das sich zwischen Arché und Telos eingespannt glaubt und für das immer mit der Arché die Bezogenheit auf ein Telos mitgegeben ist. Das Gegenwärtigwerden des Gegenwärtigen ist jedem Moment als Möglichkeit eingeschrieben, und das heißt auch, daß Arché und Telos zusammenfallen: das Ziel des Prozesses ist eigentlich sein Anfangen. Die im klassisch-metaphysischen Denken mit der Arché als commencement und commandement mitgesetzte Gedanke ist der, daß der Prozeß selbst dominiert ist von der Vorstellung einer hier-archischen Ord-
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U. Guzzoni: Wasser. Berlin 2005, p. 87. R. Schürmann: Le principe d’anarchie. Bienne, Paris 2013. l. c., p. 132. l. c., p. 119-127.
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nung. Im griechischen Denken ist das das Auseinandertreten eines logischen und eines historischen Ursprungs. Die Frage nach dem logischen Ursprung ist die Frage nach dem Grund, diejenige nach dem (natur)historischen Ursprung die nach der Ursache. Im Mythos aber fallen Ursache und Grund noch zusammen. In der Trennung von der mythischen Orientierung, die bereits bei Hesiod sichtbar wird, übernimmt der Logos die Leitfunktion und nicht etwa die Narratio. Der Logos, im Lateinischen dann als principium erscheinend und die Herrschaft des princeps freigebend, wird dergestalt als Prinzip der Orientierungspunkt (in Einzigkeit) für die logische Ordnung des Wissens und für die praktische Ordnung des Normativen (Lebensführung und Politik). War die Arché immerhin noch die Herrschaft über einen Werdensprozeß in Ausrichtung auf ein Ziel, so ist im rein logischen Prinzip diese Zeitlichkeitsspur getilgt. Schon bei Platon, aber dann erst recht, seit der monotheistische Gott als Prinzip allen Seienden eingesetzt worden war, war der Prozeß nur noch ein defizienter Modus: Prinzip und il principe. Der vormetaphysische Mythos war Narration5 und eine bildhaft geschlossene Form zugleich, der deswegen eine funktionierende Form der Sozialintegration sein konnte. Die Metaphysik dagegen war von Anfang an gebunden an ein ausdifferenziertes Spezialistentum. Zwar kann man sagen »everyman his own historian«; aber nicht jedermann kann Metaphysiker werden, davor schützt sich die Metaphysik durch die konsequente Unterscheidung von bloßer Meinung und philosophischem Wissen (dóxa und ἐpist®mh). Die Orientierungskrise der Antike setzt bereits Kategorien des Übergangs frei,6 eines Übergangs, der, indem er Ursprung und Telos zugleich ist, zur Neubestimmung dessen führt, was Selbst und Anderer, Vergangenheit und Zukunft, Wissen und Werte sind. Nicht daß diese Richtungen in den Dimensionen des kommunikativen Textes umkehrbar würden, aber die inhaltliche Besetzung ändert sich in der Krise: z.B. Umwertung aller Werte, Emergenz ganz anderer Zukünfte und Neubesetzung der Positionen von Selbst und Anderem. Wenn man also mit gewissem Recht das ganze Werk Heideggers als Suche nach dem Ursprung bezeichnen darf, so ist doch dieser »andere Anfang« gemeint, der den
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W. Schapp: In Geschichten verstrickt. 2. Aufl. Wiesbaden 1976, p. 36f., 72 ff.; zu einer anderen Sicht auf den Mythos s. jetzt R. Konersmann: Die Unruhe der Welt. Frankfurt a. M. 2015, p. 66ff.; in diesem Sinne liegt es für ihn dann nahe zu sagen: »Der Mythos sucht den Blick von oben […]« (p. 98), was in einer Sicht, die auf den Erzählcharakter des Mythos abstellt, d.h. eben auch auf die mythische Textanschlußfunktion, zu sagen ausgeschlossen wäre. Der Blick von oben ist antimythisch schlechthin, erst die neuzeitliche Theorie-Konzeption favorisiert den Überblick gegenüber dem Durchblick. Cf. A. Momigliano: Time in Ancient Historiography. In: History and Theory. Beih. 6 (1966), p. 16; zur Kategorie des Übergangs s. K. Röttgers: Metabasis. Philosophie der Übergänge. Magdeburg 2002.
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Ursprung als Ereignis begreift, das einen Abgrund eröffnet und nicht eine vom Ursprung gewährten sicheren Gang von Sicherheit zu Sicherheit. Aber auch dieser »andere Anfang« Heideggers hat einen doppelten Sinn: einerseits ist er das Beginnen einer anderen Geschichte, einer, die die metaphysischen Kategorien zugunsten der Denkgeschichte aufgegeben hat. Andererseits ist dieser andere Anfang auch das Gegenwärtigwerden des Gegenwärtigen: das Auftauchen in Präsenz. Im ersten Sinn handelt es sich um einen epochalen Einschnitt, der die Kontinuität des Geschehens bricht, im zweiten um eine in jedem Moment mögliche Neugründung. In gewissem Sinn wiederholt sich in dieser Doppelheit das Auseinandertreten vom Logik und Narratio nach der Auflösung der Einheit des Mythos. Die Einheit des Mythos, der einen einzigen Ursprung vergewissert, kann statt wie bei den Griechen und wie in der abendländischen Metaphysik in der Spaltung von Logos und Narratio den Logos zu favorisieren, auch ins Gegenteil umschlagen, die Favorisierung des Geschichtenerzählens. Das ist das Exempel des Judentums. Hier wird der mythische Gott der Anfänge zu einem, der beobachtend und eingreifend die Geschicke seines, des auserwählten Volkes begleitet. So ist das Alte Testament seiner Struktur nach überwiegend ein Geschichtsbuch. Selektionskriterium der diversen Erzähler dieser Geschichten ist das Bewußtsein der Erzähler von der Auserwähltheit des jüdischen Volkes. Was nicht dazu passen würde, gehört deswegen nicht in die Geschichte. Selbst das Leiden hat als erzieherische Strafe oder als Prüfung des Gehorsams darin seinen Platz. Solange man an der Einheit des Einen Logos und an der Einheit der Geschichte des Einen Gottes und seines Volkes festhielt, ergaben sich Harmonisierungs- und Synchronisierungsprobleme. Zwar hatten auch die jüdischen Geschichten ihre metaphysischen Einsprengsel. Aber deren Gott gibt insgesamt nicht das Bild eines dem Logos gehorchenden, vernünftigen und verstehbaren Gottes ab, sondern das Verhältnis zu ihm war das des Gehorsams gegenüber einer Gottheit, die im Zweifelsfall unverständliche Entscheidungen trifft. Sein Wort wird gehört und erheischt blinden Gehorsam. Während die griechische Kultur eine des Sehens, selbst noch des Unsichtbaren (der Ideen7), und damit der Einsicht ist, ist die jüdische Kultur eine des Hörens und des Gehorsams, ihre Propheten sind nicht Künder des Unsichtbaren, sondern vorrangig des Unhörbaren und Unerhörten. In der späteren Antike des Hellenismus stellte sich dann allerdings das Problem, diese zwei Kulturen auf eine Einheit hin zu integrieren. Der Mechanismus der Integration war in diesem Fall zunächst der einer temporalen Integration, d.h. der Synchronisierung der Geschichten.8
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Idee ist urverwandt mit lateinisch vidêre = sehen. Einer vollen Integration stand auch eine unterschiedliche Zeitstruktur entgegen mit einer archäologischen Ausrichtung bei den Griechen, einer eschatologischen im jüdischen und dann christlichen Kulturkreis. Cf. M. Voigts: Aus welchem Holze ist der Name? In: Katabole 1 (1982), p. 38-58, hier p. 40.
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Wichtig ist es festzuhalten, daß diese Integration mit der Parallelisierung der Geschichten auskam, d.h. eine bloß narrative Integration war ohne die Entwicklung einer einheitlichen abstrakten Skala objektiver Zeit. Die narrative Integration kam ohne eine logisch-metaphysische Integration aus. Die Notwendigkeit der Integration in der antiken Welt ergab sich aus der umgreifenden Christianisierung (und damit der Aneignung der jüdischen Geschichte und ihres Gottes). Wenn die heilsgeschichtliche Orientierung mit dem politischen Römertum nicht schlechthin unverträglich bleiben sollte und das Christentum von einer Subkultur zur dominanten Orientierung eines Staatsvolkes werden sollte, dann mußten sich die Geschichten der Römer (und Griechen) und die Geschichten der Juden (und Christen) zu einer Einheit einer Universalgeschichte in nuce verbinden lassen. Aber die Einheitsfixierung, die jeder der beiden Kulturen sowie dem Projekt ihrer Zusammenführung zu einer neuen großen Einheit eigen war, ist nicht alternativlos. So hat Jacques Derrida seit Beginn seiner Arbeiten geltend gemacht, daß der Ursprung immer schon als Spaltung auftritt. Was den Ursprung der Kultur anbelangt, faßt er diese Einsicht in den markanten Satz zusammen: »Es ist einer Kultur eigen, daß sie nicht mit sich identisch ist.«9 Soll heißen: Eine Kultur hat nicht den Einen Ursprung, so daß durch Rückbezug auf ihn die Identität zu sichern wäre. Wäre es nicht die Empirie der nachweisbar vielen Einflüsse, so wäre es die allgemeine Struktur der Nichtidentität von Eigenheit, die diese Eigenschaft absicherte, die Derrida schon früh in der Aporie der »reinen Präsenz« bei Husserl nachgewiesen hat.10 In »Die Stimme und das Phänomen« von 1967 spricht er von den ursprünglichen Quellen der Nicht-Präsenz. Die Selbst-Präsenz ist immer schon gebrochen, so daß Einheit nicht möglich ist, die Differenz schon im Ursprung jeder Sinnstiftung am Werk ist.11 Dem folgt auch Jean-François Lyotard, wenn er für die Husserlsche »lebendige Gegenwart« eine Abwesenheit konstatiert, einen Ur-Abstand, der verhindert, daß die reine Präsenz ursprüngliche und Ursprung sichernde Einheit wäre.12 Während Marie-Eve Morin die Iterabilität des Versprechens geltend macht, ist für Martin Jörg Schäfer die Ununterscheidbarkeit von Stiftung und Wiederholung die ausschlaggebende Instanz. Gerhard Gamm hat die Konsequenzen herausgearbeitet: Das Selbst (wir sagen: als Funktionsposition im kommunikativen Text) ist sich nicht 9 10 11 12
J. Derrida: Das andere Kap. Frankfurt a. M. 1992, p. 12. J. Derrida: Die Stimme und das Phänomen. Neuübers. Frankfurt a. M. 2003. l. c., p. 105-117. J.-F. Lyotard: Die Zeit verdrängt, zit. nach ChronoLogie, hrsg. v. D. Köveker u. A. Niederberger. Darmstadt 2000, p. 148-154, bes. p. 150-153; cf. auch Marie-Eve Morin, die diese Gespaltenheit des vermeintlichen Ursprungs an der Form des Versprechens nachweist, M.-E. Morin: Jenseits der brüderlichen Gemeinschaft. Würzburg 2006, p. 85, und Martin Jörg Schäfer, der das gleiche an der vermeintlichen Ursprünglichkeit des Sinns von Arbeit nachweist: M. J. Schäfer: Die Gewalt der Muße. Zürich, Berlin 2012, p. 115; ferner K. Röttgers: Muße und der Sinn von Arbeit: Ein Beitrag zur Sozialphilosophie von Handeln, Zielerreichung und Zielerreichungsvermeidung. Heidelberg 2014.
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selbst gegeben. In Gegebenheit begegnet immer nur der Andere, sei es der äußere, sei es der innere Andere. Also nicht nur in der temporalen Dimension ist die Differenz fundamental angelegt,13 sondern ebenso in der sozialen.14 Und es ist hinzuzufügen: Das gleiche gilt für die diskursive Dimension. Sinn ist nie »gegeben«.15 Manche haben aus der Nichtselbstgegebenheit des Selbst die Levinasianische Konsequenz gezogen, daß dann ja wohl der Ursprung – wenn er nicht im zum autonomen Subjekt hochstilisierten Selbst zu liegen kommt – im Anderen gesucht werden müsse.16 Das Subjekt solle mit Lévinas als »Geisel des Anderen« begriffen werden, wollen wir den Humanismus und seine Ethik retten. Gegen derartige Vorstellungen macht Claus-Artur Scheier zu recht geltend, daß Derridas postmodernes Denken ein Denken der Medialität ist. In allen Formen der vermeintlichen Sicherung eines Ursprungs ist der Prozeß auf sich selbst zurückgeworfen. Die Iterabilität gipfelt sich nicht auf zu einer absoluten Transzendentalität, sondern kehrt rekursiv in Differenz in sich zurück; die Wiederholung reproduziert nicht den Ursprung, sondern findet sich different zum Ursprung. Insofern verdoppelt im Vollzug der Prozeß sich selbst. Scheier sieht diese Medialität des Sozialen ausgestaltet in der Form der Ellipse.17 Schwindet die Unmittelbarkeit der Gegebenheit (»lebendige Gegenwart«, reine Präsenz, Selbstgegebenheit, Unmittelbarkeit des Sinns), dann ist die Mitte, das Zwischen (das Medium, im Sinne der Mitte, nicht des Mittels) der Ort, an dem sich alles mitteilt, d.h. der kommunikative Text. Auch Walter Benjamin war ein Gegner des metaphysischen Ursprungs-Denkens. Für ihn liegt am Ursprung die ursprüngliche Zerstörung, die Destruktion des trügerisch Heilen.18 Und schließlich hat auch Maurice Blanchot die Frage nach dem Ursprung als Frage nach dem Ganzen bezeichnet, dem sich das Denken entzieht.19 Ausgehend von dem Grundsatz »Offenheit bleibt Offenheit« hat der frühe, der vorlevinasianische Bernhard Waldenfels das Begreifen in diesen Prozeß selbst gestellt. Nur indirekt sei dieser Prozeß »faßbar als ein offenes, mitgegebenes mitgemeintes Ganzes«, direkt aber »vielleicht« nur in der Erzählung, der Narratio, »die benennt und berichtet, nicht von außerhalb, sondern auf dem Boden des Geschehens selbst. Das hieße, daß der Logos nie völlig Herr wird über den Mythos, der das ›Wunder der Rationalität‹ wachhält.«20 Später stellt sich Waldenfels die Frage, «was der 13 14 15 16 17 18 19 20
Cf. auch R. Gasché: The Tain of the Mirror. London 1986, p. 215f., auch er sieht die Iterabilität als Ursprung der Alterität. K. Röttgers: Muße und der Sinn von Arbeit, p. 1f.: Die Frage nach dem Sinn. »Gegenwart ist nie«. G. Gamm: Der unbestimmte Mensch. Berlin, Wien 2004, p. 233. So explizit S. Critchley: Ethics – Politics – Subjectivity. New York 1999, p. 67f. C.-A. Scheier: Ludwig Feuerbach – Denker der Ellipse. Münster, New York, München, Berlin 2006, p. 207-215. W. Benjamin: Gesammelte Werke. Frankfurt a. M. 2011, I, p. 782f., cf. B. Hanssen: Walter Benjamin’s Other History. Los Angeles, London 1998, p. 120. M. Blanchot: Das Neutrale. Zürich, Berlin 2010, p. 123, 185ff B. Waldenfels: Das Zwischenreich des Dialogs. Den Haag 1971, p. 278.
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Ordnung vorausgeht« und formuliert sie um zu der Frage nach dem, »was über die Ordnung hinausgeht.«21 Der sogenannte Übergang vom »Mythos zum Logos« ist, wie Robert Bernasconi gezeigt hat,22 eine Erfindung der Zeit um 1800, gewissermaßen selbst ein Mythos im Sinne jener Unterscheidung.23 Eingeführt jedoch hat die Formel »Vom Mythos zum Logos« Wilhelm Nestle 1940.24 Widersprochen hätten der behaupteten Einsinnigkeit dieses Übergangs nicht nur die Sophisten, die ihre Zweifel an der Eindeutigkeit des Logos hatten.25 Im Widerspruch dazu standen auch die Unterschlagung des NarratioAnteils im Mythos zur selbständigen Kultur des Erzählens und die Notwendigkeit der Spätantike, die jüdisch-christliche mit der griechischen Kultur zu synchronisieren und logisch zu integrieren. Nicht nur diese Sinn-Fakten, sondern auch zwei gewichtige Philosophen des 20. Jahrhunderts opponierten der These. Bruno Liebrucks sprach nicht nur vom »Mythos im Logos«26, d.h. daß auch der Logos den Mythos nicht ersetzt und erledigt hat und ihn damit losgeworden wäre, sondern auch der Bd. 7 seines großen Werks »Sprache und Bewußtsein«27 mit dem Titel »Und« plädiert für die gegenseitige Ergänzungsbedürftigkeit beider.28 Denn: »Auch unsere wissenschaftlichen Ergebnisse sind ein Traum, den wir uns von der Wirklichkeit machen.«29 Er ist überzeugt: »Wissenschaftlich kann keine scharfe Grenze zwischen Mythos und Logos angegeben werden.«30 Auch Hans Blumenbergs Werk »Arbeit am Mythos« macht sich, ohne Nestle zu erwähnen, stark für eine Bedeutsamkeit des Mythos: »Die Grenzlinie zwischen Mythos und Logos ist imaginär und macht es nicht zur erledigten Sache, nach dem Logos des Mythos im Abarbeiten des Absolutismus der Wirklichkeit zu fragen. Der Mythos selbst ist ein Stück hochkarätiger Arbeit des Logos.«31 Während Liebrucks geltend
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ders.: Ordnung im Zwielicht. Frankfurt a. M. 1987, p. 174. R. Bernasconi: Heidegger and the Invention of the Western Philosophical Tradition. In: Journal of the British Society of Phenomenology 26 (1995), p. 240-254, ders.: Philosophy’s Paradoxical Parochialism. In: Cultural Readings of Imperialism. London 1988, p. 212-226. Cf. auch P. Lantz: Le temps des sociologues et la sociologie du temps. In: L’homme et la société 3 (1967), p. 3-32, bes. p. 22-28: Die Decodierung des Mythos ist selbst ein Mythos, zugleich aber auch Wissenschaft. W. Nestle: Vom Mythos zum Logos. 2. Aufl. Stuttgart 1975. Th. Buchheim: Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens. Hamburg 1985; K. Röttgers: Der Sophist. In: Das Leben denken – Die Kultur denken, hrsg. v. R. Konersmann. Freiburg, München 2007, I, p. 145-175. B. Liebrucks: Irrationaler Logos und rationaler Mythos. Würzburg 1982. ders.: »Und«. Die Sprache Hölderlins in der Spannweite von Mythos und Logos. Bern, Frankfurt a. M., Las Vegas 1979 (Sprache und Bewußtsein, Bd. 7). l. c., p. 11: »Das Problem, vor dem die europäische Gesellschaft immer gestanden hat, ist das des Verhältnisses von Mythos und Logos […]« l. c., p. 122. l. c., p. 79. H. Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1996, p. 18.
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macht, daß die Logifizierung der Welt den Mythos nicht losgeworden ist, sondern mit ihm – sogar in seinem Inneren – fortleben muß, weist Blumenberg darauf hin, daß in der Arbeit des Mythos etwas sehr Rationales am Werke ist, nämlich den Widerstand gegen den »Absolutismus der Wirklichkeit« zu organisieren. Die mythischen Annahmen und Prozeßbilder sind zwar inhaltlich nicht logisch beweisbar, aber sie erleichtern das Leben mit allerdings logisch auch nicht widerlegbaren Vorstellungen. Blumenberg referiert Epikurs Diktum, daß es besser wäre, sich dem Göttermythos anzuschließen als zum »Sklaven der Notwendigkeit der Physiker« zu werden.32 Den Übergang vom Mythos zum Logos gibt es nicht, hat es nie gegeben. Aber wenn es ihn gäbe, wäre das nach Blumenberg eine Katastrophe. Wir würden der Leistung des Mythos verlustig gehen, nämlich der Distanznahme vom »Absolutismus der Wirklichkeit«. Wir würden zurückfallen in jene Ideologie der Unmittelbarkeit, die Rousseau so angebetet hatte. Im Mythos dagegen darf man z.B. vom Teufel so reden, als gäbe es ihn nicht (modo obliquo), ohne daß er uns deswegen holt.33 Der Teufel hat es nicht leicht, eine Diabolophilie einzurichten, d.h. Eingang in das Textuniversum der Philosophie zu finden. Sein Widersacher, der Schöpfer dieser unserer Welt, hat gewissermaßen immer schon einen Heimvorteil. In der gelebten Welt der Menschen hat der Teufel stets seine Chance, und er nutzt sie ausgiebig. Aber in den Textwelten der Philosophie, die sich der Feier und Rechtfertigung des Guten geweiht haben, findet er so recht seinen Platz nicht. Gewiß, es gibt Ausnahmen: Johann Benjamin Erhard, Hans Blumenberg, Niklas Luhmann, und nicht zu vergessen Jacob Preglauer.34 Der Teufel ist zuständig für das Böse, und in der Philosophie sind es die Ethiker und Moralisten, die das Böse mehr verschweigen oder allenfalls via negationis traktieren.35 Und selbst da – in »Faust II« –, wo der Teufel epistemisch gestimmt ist und eine wissenschaftliche Theorie vertritt, da ist es eine, die – nach Goethe, der darin allerdings aus Parteilichkeit irrte – nur falsch sein kann, nämlich die geognostische Theorie des Vulkanismus, die Goethe aus einem Gemisch ästhetischer und moralischer Vorurteile zutiefst ablehnte und verabscheute und deshalb dem Teufel in den Mund legte. Aber auch der Teufel hat ein Problem, das ihn Philosophie-ungeeig-
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l. c., p. 19. l. c., p. 23. J. B. Erhard: Apologie des Teufels. In: ders.: Über das Recht des Volkes zu einer Revolution und andere Schriften, hrsg. v. H. G. Haasis. München 1970, p. 109-134; H. Blumenberg: Sollte der Teufel erlöst werden? In: FAZ vom 27. 12. 1989; N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1990, p. 492, zu J. Preglauers »ontologischem Teufelsbeweis« s. R. Conradi: Preglauer, Jacob. In: Die deutsche Philosophie im 20. Jahrhundert, hrsg. v. Th. Bedorf u. A. Gelhard. Darmstadt 2013, p. 226f.; cf. K. Röttgers:Teufel und Engel. Bielefeld 2005; s. auch L. Lütkehaus: Die Teufelsbeweise. In: Schopenhauer-Jb. 67 (1986), p. 199-203. Eine Ausnahme: S. Neiman: Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie. Frankfurt a. M. 2004.
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net erscheinen läßt. Er scheitert an der Einheitsbildung, das Allgemeine und schließlich die einheitsbildende Vernunft sind ihm versagt. Eine Parole wie »Schurken aller Länder vereinigt euch« käme ihm nicht über seine Lippen.36 Denn es gibt immer einen Schurken, der den anderen Schurken ans Leder will. Folgerichtig ist der Teufel ein Pluralist, Polytheist möchte man vielleicht nicht sagen, obwohl es gewiß orthodoxe Monotheisten gibt, die genau das gerne sagen würden. Also wird man den Teufel lieber einen Polydiabolisten nennen. Als Heidegger den »anderen Anfang« der Philosophie erdachte, da, möchte mancher vermuten, muß ihn wohl der Teufel geritten haben oder geküßt haben wie eine Muse; mitnichten: denn dann müßte es nicht den einen, anderen Anfang geben, sondern viele, obwohl auch das auf Heideggers Spuren denkbar wäre. Sagte der Widersacher des Teufels einst »Ich bin der, der ich bin«, so muß die Teufelei sagen: genau der bin ich nicht, sind wir nicht: ich bin nicht der, der ich bin … ich war es auch nie und ich weiß nicht, ob ich es sein würde, wenn der Platz des Identitätsprinzips nicht schon besetzt wäre – das Identitätsprinzip versagt. Die différance ist das Metier der Teufel. Das gleiche gilt natürlich auch für den sogenannten persönlichen Mythos. So sagt etwa Paul T. Brockelman, daß es ein »Mythos« sei, der das persönliche Leben der Menschen durchzieht und die Geschichten organisiert, die der Mensch von sich erzählt und durch die er sich anderen zu erkennen gibt: »[…] that our personal stories reflect a Mythos which lies within and threads-together our actions in the lifeworld.«37 Eine Psychotherapie ist dann nach Brockelman eine Hilfestellung zur Erfindung einer neuen oder zur Veränderung des alten Mythos, um die Handlungen und die Erzählungen neu zu organisieren. Auch hier liegt ein positiver Blick auf den Mythos vor, indem Therapie nicht der Logifizierung des zuvor Mythischen dienen soll, sondern lediglich der Umformulierung des Mythos; denn nur Mythen, aber nicht Logoi sind in der Lage, unser Leben auszugestalten. Mittlerweile aber ist es zunehmend fraglicher geworden, ob es überhaupt zutrifft, daß es ein Mythos ist (eine Monomythie), der unser Leben gestaltet, so daß im Zweifelsfall dieser Eine verändert werden muß, oder ob nicht, wie Gertrud Brücher es formuliert hat, eine solche monomythische Subjektkonzeption der »Mythos eines Mythos« ist.38 Das klingt nach einer vernünftigen Destruktion des Mythischen, meint es aber gerade nicht, sondern meint, daß der Mythos zweiter Stufe den Logos im Mythos erster Stufe durch eine Logifizierung zweiter Stufe zum Verschwinden bringen möchte. Und da setzte dann erst die Kritik an: die zweite Logofizierung ist wegen ihrer Verschleierung des Logos im Mythos erster Stufe problematisch. Konkret: Jede Gesellschaft hat ihre Opferungen;
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Zu den Problemen der Schurken-Identifikation aufgrund eines allgemeinen SchurkenBegriffs s. J. Derrida: Schurken. Frankfurt a. M. 2003, bes. p. 134ff. P. T. Brockelman: Myths and Stories: the Depth Dimension of Our Lives. In: Philosophy today 24 (1980), p. 73-88, hier p. 83. G. Brücher: Postmoderner Terrorismus. Opladen 2004, p. 185.
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die moderne Gesellschaft aber will diese Tatsache dadurch zum Verschwinden bringen, daß sie die Opfer zu den eigentlich Schuldigen erklärt: »Der Moderne gelingt die Verschleierung ihrer Opferungen mit den Mitteln der Wissenschaft, die vorgibt, dass ihre Kausalattributionen – Schurken, Terroristen – nicht Magie sind, sondern empirisch verifizierbare Befunde.«39 Einen anderen Gesichtspunkt des Zweifels am Einen durchlaufenden persönlichen Mythos hat Jürgen Frese in seiner Interpretation von Henry Adams vorgelegt.40 Er hält diese Idee eines durchlaufenden, erzählorganisierenden Mythos für eine Fiktion, die deswegen nicht trägt, weil Erzählbrüche, wie z.B. bei Adams das Fehlen von 10 Jahren in der biographischen Erzählung mit der Einheitlichkeit des Einen Mythos schwer verträglich ist. – Und schließlich hat Hans Blumenberg gefragt »Ein Leben – eine Identität?«41 »Jeder Mensch hat nur ein Leben; ob es aber auch eine Identität einschließt, wissen wir nicht.« Kommen wir zurück zur Funktion des Mythischen in der Kulturgeschichte. Auch in der Geschichtsreflexion des Mittelalters finden wir neben der wissenschaftlichen Form eines Wissens-von-Vergangenem sehr weit verbreitet die Form des Mythos. Dieser nahm besonders die Gestalt der heilsgeschichtlichen und eschatologischen Orientierung an. Auch nach Einbruch und Rezeption des Aristotelismus in die christliche Welt führte das nicht zu einer durchgreifenden Trennung von Mythos und Logos nach griechischem Vorbild. Vielmehr ist die historische Darstellung vielfach ein Zusammen von Anekdoten, Legenden, Exempeln und anderen kleinen Geschichten im Rahmen der globalen Heilsgeschichte. Beides aber ist mit dem Logos philosophischer und theologischer Orientierungen widerspruchsarm verträglich. So anerkennt z.B. Aegidius Romanus in theoretischen Disputen neben den traditionellen Beweismitteln von ratio und auctoritas auch das exemplum als Beweismittel an.42 Weil sich ja im Rahmen der globalen Heilsgeschichte wenig verändert, bedarf es keiner langen, umgreifenden Narrationen, sondern die kleinen sinn-exemplarischen Miniaturen reichen aus. Als aber seit der Renaissance dieser vereinheitlichende Sinn-Rahmen entfiel, bzw. sich in verschiedene, variierende, z.T. konkurrierende Mythen zerfiel, ohne daß der neue, abstraktere Sinn-Rahmen einer objektiven, abstrakten Zeit-Ordnung bereits zur Verfügung stand, da entstand kompensatorisch der Bedarf nach der Geschichte, der »Geschichte selber«, die in der Lage wäre, die Form des Mythos abzulösen, im Inhalt jedoch den neu formulierten Kriterien wissenschaftlicher Rationalität genügte. Doch auch in dieser objektiven Geschichte blieb genügend Raum für Fiktionalität. 39 40 41 42
l. c., p. 180. J. Frese: »The Education of Henry Adams« und die Postmoderne. In: Am Ende – postmodern? Next Wave in der Pädagogik, hrsg. v. D. Baacke, A. Frank, J. Frese u. F. Nonne. Weinheim, München 1985, p. 118-130, bes. p. 128ff. H. Blumenberg: Ein mögliches Selbstverständnis. Stuttgart 1997, p. 39. Aegidius Romanus: De potestate ecclesiastica, hrsg. v. R. Scholz. Aalen 1961, p. 153.
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So mögen etwa in der Geschichte »Wie Vater den Wolf tötete« alle empirischen Fakten »wahr« (im Sinne von richtig) sein, fehlen aber sämtliche Signale, die eine Zuordnung zur »objektiven Geschichte« erlauben würden, wie z.B. Daten, Plätze, anderweitig bekannte Personen usw., dann bleibt diese Geschichte eine mythische: sie ist wahr und fiktional zugleich. Umgekehrt bleiben aber gerade diese »kleinen Geschichten« der Stoff, aus dem die Geschichte gewebt wird und der Geschichtentext neu entstehen kann, wenn in Identitätskrisen globalen Ausmaßes alle große Geschichte fragwürdig geworden ist, etwa für überzeugt nationalistische oder nationalsozialistische Bevölkerungskreise bei der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands nach dem II. Weltkrieg. Was aus der deutschen Nation geworden ist, das weiß man in Identitätskrisen bei sozialer Desintegration nicht mehr, was aber unter all den Wirren die Geschichte der eigenen Familie z.B. geblieben ist, das weiß man gerade dann umso bestimmter.43 Genau an dieser Stelle setzt Heideggers Unterscheidung von Geschichte und Historie ein. Geschichte wird an den Begriff des Geschehens, auch des zukünftigen, gebunden, während Historie das ist, was die Geschichtswissenschaft produziert. Aber Historie in diesem Sinne ist, wir haben das schon gesehen, nicht selbstverständlich, sondern entspringt »aus einer bestimmten Form der abendländischen Geschichte.«44 Aber darin liegt zugleich das Problem verborgen; denn diese Historie (als »Geschichte über die Geschichte«) »macht« die Geschichte, figuriert sie, Heidegger sagt sogar als »Überbau«, und zwar in einer ganz bestimmten Weise, nämlich die seltenen »Stöße«45 abzufangen und ihre Erkenntnis zu verunmöglichen: »Die Geschichte (des Seienden) als Abfangen der Stöße des Seyns.«
6.2 P ROBLEME
INDIVIDUELLER OBJEKTIVER G ESCHICHTE
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Die komplexe und voraussetzungsreiche Annahme einer objektiven Zeit war nirgends eine conditio sine qua non dafür, Geschichten erzählen zu können und damit die soziale Leistung temporaler Orientierung erbringen zu können. Die temporale Dimension des kommunikativen Textes setzt eine objektive Zeit nicht voraus, sondern – umgekehrt – ermöglicht sie überhaupt erst. Denn objektive Zeit ist immer Re-
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Eindrucksvolle Dokumente in: Der Klassenrundbrief, hrsg.v. Ch. Heinritz. Opladen 1991. M. Heidegger: Überlegungen VII-XI (Schwarze Hefte 1938/39). Frankfurt a. M. 2014 (Gesamtausg. Bd. 95), p. 1. ibd.
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sultat von sozialen Prozessen im Zusammenspiel von Zeit, Sozialität und Diskursivität, m.a.W. Objektivität ist ein sich im kommunikativen Text einstellender Effekt.46 Wenn aber Objektivität ein Kommunikationseffekt ist, dann ergeben sich neben Objektivität auch noch andere Effekte. Einer der interessantesten ist vielleicht die gemeinsame Emergenz von Objektivität und Subjektivität.47 Objektive Zeit als Kommunikationseffekt führt nicht sogleich zu jener Vorstellung objektiver Zeit, über die wir seit Newton und Leibniz in der Naturphilosophie und Physik reden. Es gibt auch eine objektive Zeit begrenzter Geltung, die John A. A. Ayoade »structural time« nennt.48 Sie ist durch sozial in ihrer Bedeutung anerkannte Ereignisse strukturiert. Und letztlich beruht auch jede Zeitrechnung (Datierungstechnik) auf solchen Setzungen: Christi Geburt, Hidschra (Flucht des Propheten von Mekka nach Medina), Tod des Siddharta Gautama, Erklärung des Bab (BahaiReligion) oder die Regierungsantritte von Herrschern. Die These der Objektivität der Zeit (und damit auch der Geschichte) als Effekt von Kommunikation hängt an genau dieser Begründungsstruktur: nämlich diese Objektivität auf die Seite der Narration und nicht des Logos zu schlagen. Vehement kritisiert hat F. J. Teggart diese Begründung, und er verlangt für Wissenschaftlichkeit und damit für Objektivität eine Begründungsumkehr. Narratio, so sagt er, sei ein Verzicht auf Wissenschaftlichkeit und mache aus Geschichte eine Spielart einer bloß künstlerischen Betätigung. Historiker als Wissenschaftler hätten Probleme zu erforschen und nicht Geschichten zu erzählen.49 Der Frage, ob die »Erforschung von Problemen« nicht bereits selbst einem narrativen Schema folgt, weil die Probleme sich nicht quasi nackt und exhibitionistisch selbst präsentieren, ob also nicht die Forschungsfragen, in denen wir die Probleme formulieren, schon dieser Arbeit des Historikers eine narrative Struktur aufprägt, was die These des transzendentalen Narrativismus Hans Michael Baumgartners ist, soll hier nicht weiter nachgegangen werden.50
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S.-Y. Kuroda: Réflexions sur les fondements de la théorie de la narration. In: Langue, discours, société, hrsg. v. J. Kristeva, J.-C. Milner u. N. Ruwet. Paris 1975, p. 260-293, hier bes. p. 286-292: Objektivität als Kommunikationseffekt; cf. auch N. Pethes: Poetik / Wissen. Konzeptionen eines problematischen Transfers. In: Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, hrsg. v. G. Brandstetter u. G. Neumann. Würzburg 2004, p. 341-372, hier p. 365. Pethes macht geltend, daß Objektivitätsansprüche in sich irrationelle Appelle an die Vernunft seien, daß ihnen also immer ein rhetorisches Moment inhäriert. M. Sommer: Suchen und Finden. Frankfurt a. M. 2002, p. 214; B. Waldenfels: Ordnung im Zwielicht, p. 116. J. A. A. Ayoade: Time in Yoruba Thought. In: African Philosophy. 3. Aufl. hrsg. v. R. A. Whright. Lanham, New York, London 1989, p. 93-111, hier p. 99. F. J. Teggart: Theory and Process of History. Berkeley 1960, p. 39. H. M. Baumgartner: Thesen zur Grundlegung einer transzendentalen Historik. In: Seminar: Geschichte und Theorie, hrsg. v. H. M. Baumgartner u. J. Rüsen. Frankfurt a. M. 1976, p. 274-302.
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Aber eine andere Frage stellt sich unabweisbar. Wird es einen gesellschaftlichen Zustand geben (geben können), in dem untereinander und in sich verschiedene Geschichten nicht mehr auftreten können, bzw. nicht können sollen, der Zustand der Posthistoire. Im Kommunismus gab es zeitweilig eine solche Vorstellung. Mit dem Ende aller Klassenkämpfe in der dereinst befreiten Gesellschaft kann die bisherige Geschichte, darauf bezogen, nur eine einzige und einheitliche werden, und da mit dem Ende aller Klassenkämpfe das Ziel der Menschheit erreicht ist, ist auch alles künftige Geschehen nicht weiter berichtenswert und läßt die Geschichte der Vergangenheit als eine als sicher erforschte Geschichte unwandelbar werden. Die Geschichten ändern sich dann nicht mehr in Abhängigkeit voneinander, sondern konvergieren auf den einen Zielpunkt der Wahrheit über die Geschichte, die dann für immer identisch bleibt. So wird die Geschichtswissenschaft endlich zu einer die Eine Wahrheit über das Vergangene darstellenden theoretischen (logisch strukturierten) Wissenschaft, befreit von allen Ungenauigkeiten der Narrationen. Das dürfte in etwa die Position gewesen sein, die Louis Althusser aus der Theorie des reifen Marx herauslesen wollte: Marx läßt alle Ideologie hinter sich und begründet diese Wissenschaft der Geschichte. Ähnlich energische Schritte in Richtung einer »Verwissenschaftlichung« der Geschichtsforschung machte die Schule der »Annales«, allerdings nicht durch Ersetzung von »Ideologie« durch Theorie, sondern durch radikale Reduktion alles Subjektiven, das sich im Erzählen einschleicht, und Förderung der Objektivität durch Interdisziplinarität von Forschergruppen.51 Wenn bei Braudel die Temporalisierung in ihren verschiedenen Ebenen der Dauer der Zufälligkeit des Bestehens bestimmter nicht-temporaler Disziplinen (z.B. der Geographie des Mittelmeerraumes) folgt, so versucht darüber hinausgehend P. Vilar die Differenzierung selbst noch realhistorisch zu legitimieren, nämlich mit dem Gedanken, daß im Klassenkampf die temporale Orientierung in Temporalformen unterschiedlicher Dauer desintegriert ist. (Dieser Gedanke ist deswegen gerade für unsere Analysen besonders wichtig, weil er die Bedingungen für eine Beschränkung des Prinzips der Synchronisation formuliert.) Anders stellt sich der Sachverhalt für Michel Foucault dar, wenn er Nietzsches Konzept der Genealogie behandelt.52 Danach gibt es drei Arten der Geschichtsdarstellung: • • 51 52
Die wirklichkeitszersetzende Parodie, die sich der Historie als bloßer Erinnerung entgegenstellt; die identitätszersetzende Auflösung, die die Kontinuität zerstört; Wichtige Texte dazu in: M. Bloch, F. Braudel, L. Febvre u.a.. Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, hrsg. v. C. Honegger. Frankfurt a. M. 1977. M. Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: ders.: Von der Subversion des Wissens. München 1974, p. 83-109, bes. p. 104-107.
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•
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die wahrheitszersetzende Opferung, die die Historie als objektive Erkenntnis infrage stellt.
In allen drei Fällen ist die Geschichtsdarstellung eine Auflösung von Identitäten und ist damit der Gedächtnisfunktion historischen Erzählens konträr. In allen drei Funktionen nimmt die Geschichtswissenschaft die Aufgabe wahr zu berichten, was niemand gesehen oder erlebt hat. Damit wird einerseits das Wissen der Folgen angesprochen, die niemand damals sehen konnte. Aber gravierender noch das SymptomBewußtsein, daß das Gesehene primär in eine Geschichte des Sehens, nicht so sehr des Gesehenen gehört.
6.3 S YMPTOMATIK / AUTHENTIZITÄT Aber gerade das war die klassische Vorstellung: Einer hat etwas gesehen und erlebt, er ist der Zeuge, der histor, des Geschehens, auf ihn als authentischen Berichterstatter muß man sich verlassen können. Daß das nicht der Fall ist und nicht nur aus bösem Willen und Fälschungsabsicht, wissen wir vielfach aus Zeugenaussagen vor Gericht, wo oftmals verschiedene Zeugen Verschiedenes gesehen haben.53 Ein Sonderfall solcher Verzerrungen in den Quellen liegt dort vor, wo die Erlebnisse sich symptomatisch niederschlagen, wenn der Berichtende sich selbst als ein Symptom erlebt hat, als Partikularisat eines globalen Unsinnszusammenhangs. Diese Texte sind symptomatisch für das Unvermögen, das eigene Erleben mit dem angesonnenen Sinn des Gesamtzusammenhangs, der das Erleben massiv bestimmt, noch zu vermitteln. Solche Zeugnisse als Quellen sind für den Zusammenhang, von dem sie künden, lediglich »symptomatisch adäquat«, sie befinden sich zu dem eigenen Erleben nicht mehr in der Rolle des Zeugen, der etwas gesehen hat und davon sine ira et studio Rechenschaft ablegen könnte. Er sagt nicht, er habe dieses oder jenes gesehen, sondern er sagt, seht mich an, ich bin ein Opfer, nicht von mir erfahrt ihr die Geschichte, sondern an mir. Die Atextualität, die Verweigerung des Eingangs in den kommunikativen Text, wird nunmehr als der schlagendste Authentizitätserweis vorgebracht. Im Zeitalter der im Prinzip möglichen permanenten Dokumentation allen Geschehens auf der ganzen Welt gilt das reine berichtete Erlebnis nicht mehr als Privileg der Authentizität; dazwischen drängt sich das Bewußtsein, daß all diese Dokumentation immer schon systemar deformiert ist.
53
Die sich daraus ergebende Aporie hat überzeugend in Szene gesetzt A. Kurosawa in seinem Film »Rashomon«.
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6.4 S YNCHRONISIERUNG
ALS
D ISZIPLINIERUNG
Unterhalb der Ebene der Synchronisation der Geschichten zu einer objektiven Zeit liegen elementarere Synchronisationsprozesse der gemeinsam geübten Praxis. Solche Praxis strukturiert, gestaltet inhaltlich und organisiert soziale Situationen und Kontexte des gemeinsam geteilten kommunikativen Textes. In ihr artikuliert sich das, was für diese Praxis als Wirklichkeit gilt und was füreinander als Zeitlichkeit erscheinen kann.54 Solche Synchronisation in gemeinsamer Praxis hat auch einen Disziplinierungseffekt für alle diejenigen, die an dieser Praxis partizipieren wollen oder sollen, worauf insbesondere Thompson hingewiesen hat und speziell die Effekte und die Bedeutung dieser disziplinierenden Synchronisation für den Kapitalismus hervorgehoben hat.55 In hoch arbeitsteiligen Arbeitsorganisationsformen muß die Arbeit in höherem Maße synchronisiert werden als etwa in handwerklicher Produktion, insbesondere dann, wenn Zeit zum Kostenfaktor wird. Daher werden hier strenge Zeitdisziplinen erforderlich, die schließlich auch zum Streitpunkt im Arbeitskampf werden: für kürzere Arbeitszeiten und für einen Überstundenzuschlag.56 Die im Kapitalismus in einer gemeinsamen Praxis der Kooperation auferlegten Zeit-Disziplinen werden allerdings umgeformt zu selbst auferlegten Disziplinen.57 Der Effekt ist einerseits der Übergang von der Fremdbestimmung der Zeit-Ordnung zu einer Selbstbestimmung. Jedermann darf nun – so scheint es – selbst bestimmen, wann er wo sein will. Und in der Durchsetzung der Gesellschaft mit Mobiltelefonen ist jedermann jederzeit jederorts präsent. Die Maxime der jederzeitigen Erreichbarkeit hebt also andererseits die Selbstbestimmung wieder auf. Da es im übrigen in der selbst auferlegten Ordnung nie um anarchistische freie Souveränität geht, sondern lediglich um Interiorisierung der von der äußeren Ordnung auferlegten Struktur und diese Auferlegung in der protestantisch geprägten Arbeitsmoral nicht als Diktat einer weltlichen Ordnung auftritt, sondern als Postulat einer Wohlgefälligkeit vor Gott, werden nun Uhren zu Heilsinstrumenten, die dem Individuum helfen, Zeit-Vergeudung zu vermeiden. Genau diese Unmittelbarkeit des einzelnen Arbeitenden zu Gott und seinem Heilsplan bewirkt ferner zweierlei. Erstens, daß die Einhaltung der Zeit-Disziplin, die Pünktlichkeit, zu einer Art Verpflichtung gegenüber dem Nächsten (am Arbeitsplatz) wird. So geht die Struktur des Klassenkampfs um Zeit über zu einer Struktur,
54 55 56 57
Cf. B. Waldenfels: Verhaltensnorm und Verhaltenskontext. In: Phänomenologie und Marxismus II, hrsg. v. B. Waldenfels, J. M. Broekman u. A. Pažanin. Frankfurt a. M. 1977, p. 134-157, hier p. 154. E. P. Thompson: Time, Work-discipline and Industrial Capitalism. In: Past and Present 38 (1967), p. 56-97. B. Waldenfels: Verhaltensnorm und Verhaltenskontext, p. 97; cf. auch G. Pronovost: The Sociology of Time. In: Current Sociology 37 (1989). D. S. Landes: The Time of Our Lives. In: Social Sciences Information – Information sur les sciences sociales 29 (1990), p. 693-724, hier p. 702.
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die stattdessen die Proletarier untereinander verpflichtet. Zweitens bedeutet diese protestantische Gottesunmittelbarkeit des Einzelnen eine zunehmende Individualisierung, die den erstgenannten Wandel überhaupt erst ermöglicht. Beides zusammen aber »macht die Gesellschaft zu einer Disziplinargesellschaft.« – So wörtlich Gilles Deleuze in seiner Interpretation von Michel Foucaults »Überwachen und Strafen«.58 Gegenüber der Vorstellung, daß diese Zeit-Disziplin totalisierend sei und die Individualisierten vollständig synchronisiere, gibt es Bedenken. Niklas Luhmann etwa macht geltend, daß Totalisierungen generell in moralische Aporien führen.59
6.5 T ANZ
UND ANDERE
S YNCHRONISIERUNGEN
Denn die Identitätsprobleme globalen Ausmaßes durch Verbrüderungen oder Verantwortungsübernahmezumutungen zu lösen, die von der klassischen Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts vorgenommen werden sollten, hat an der von dieser selbst gestellten Aufgabe versagt, die Bedingungen theoretisch zu schaffen, unter denen die Menschheit sich selbst reflektieren und zu sich selbst kommen könnte. Also schauen wir stattdessen auf einige basale Synchronisationsprozesse. Aber auch hier tauchen schnell ähnliche Probleme auf. Während beispielsweise die im Tanz erzeugte Synchronisation, wenn sie gelingt, unwiderleglich ist – sie ist reine Intersubjektivität oder eine Verkettung von Intersubjektivität ohne den das Soziale definierenden Dritten (dieser könnte nur stören) – d.h. das pure »Einverständnis der Leiber« in einem Rhythmus – ist bereits die temporale oder diskursive Reflexion, die dem Faktum eine Zeitstelle oder einen bestimmten Sinn verleiht, anfällig für einen Disput. Ein derartiges Widersprechen kann für alle vergleichbaren Synchronisationen dann auftauchen, wenn Reflexion, d.h. distante Alterität, auftritt.60 Tanzend erzeugte Synchronisation kann dann in Widerspruch zur Identität in der Erzählung solcher Synchronisationen treten, wenn am Ende des Tanzes die Masken fallen und den getanzt Habenden ihre relative Fremdheit bewußt wird. Gisèle Brelet behauptet, daß im Tanz die Tanzenden nicht versöhnt seien, sondern in Konfrontation.61 Aber diese Ansicht gilt nur aus der Perspektive der Zuschauenden; die Tanzenden tanzen in der Bewegungskunst die Synthese. Für die Konfrontation nach dem Tanz oder für die Beobachter stellt die Kultur gewiß Mittel bereit, mit diesem Schock des Fallens aus 58 59 60 61
G. Deleuze: Kein Schriftsteller: ein neuer Kartograph. In: G. Deleuze / M. Foucault: Der Faden ist gerissen. Berlin 1977, p. 101-136, hier p. 118. Die Grundlage ist M. Foucault: Überwachen und Strafen. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1977, p. 173-292. N. Luhmann: Soziologie der Moral. In: Theorietechnik und Moral, hrsg. v. N. Luhmann u. St. H. Pfürtner. Frankfurt a. M. 1978, p. 8-116, bes. p. 11-27. Zum Verhältnis von Rhythmus und dem zentralen politischen Problem der Identifizierung s. J. Derrida: Psyche. Inventions de l’autre II. Paris 2003, p. 230-233. G. Brelet: Le temps musical. Essai d’une esthétique nouvelle de la musique. 2 Bde. Paris 1949, I, p. 17-32.
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der Synchronizität umzugehen. Eines der Mittel ist es, den Eigenleib als Körper, über den man verfügt, in Distanz zu halten und die seelische »eigentliche« Identität davon zu unterscheiden. Dann kann man getrost die vergangene Synchronisation als tänzerischen Fehltritt mit dem Fremden, dem Falschen abtun, bzw. als Fehlverhalten, gar als Schuld, verbuchen und mit Reue, Sühne und Buße zur historisch-erzählerisch verbürgten Kontinuität der eigenen Identität zurückkehren. Man kann jedoch auch dieses Fallen in »falsche« Synchronizität u.U. (kulturell bedingt) auch als äußere Einwirkung auf einen schwachen Willen (»Liebeszauber«, Alkohol, Drogen usw.) dämonisieren. Dann war jener zum Fremden gewordene Andere des Tanzes wohl mit dem Teufel, dem Erzverführer, im Bunde. Der sich aufgrund seiner eigenen Biographie und ihrer permanenten Fortschreibung auf entschiedene Heterosexualität festgelegt Habende, kann heute schon fast alltäglich die Erfahrung dieses Widerspruchs machen, wenn z.B. sein Herz beim Anblick schöner, langer blond gelockter Haare, schmaler Schultern, als wohlgeformt zu ahnender Beine und eines sanft rundlichen Gesäßes höher zu schlagen beginnt und sich kurz darauf diese liebenswerte Gestalt als Exemplar des eigenen, männlichen Geschlechts herausstellt. Normalerweise wird seine Biographie seine Affektlage rasch zerstören; geschieht dies aber nicht, wird er seine Biographie umschreiben und die Entschiedenheit seiner Heterosexualität als Moment seiner zuvor unverrückbaren sexuellen Identität wenigstens infrage stellen. Daneben gibt es kulturell vorgesehene synchronisierende Entgleisungen, die gewissermaßen eine temporäre und genußreiche Solidarität der Sünder erzeugt. Diese wird im ebenfalls – aber heute nicht mehr ganz so umfassenden – »Aschermittwoch« abgegolten, um evtl. in einer Pfingstextase zu einer neuen, einer heiligen, geheilten Synchronisation aufgehoben zu werden. Aus solchen kulturell vorgegebenen, aneinander anschließenden Übergängen von Synchronisation zu Synchronisation unterschiedlichen Sinns ergibt sich auch eine Gliederungsmöglichkeit der eigenen Biographie in Phasen und in Sinnbezirke, deren minimale Basis jedoch hier immer der eigene Leib bleibt. Die Spannung zwischen den kulturell geprägten Übergangsformen und den basalen Synchronisierungen kann lebensphilosophisch hochstilisiert werden, bis zu jener Aussage Diltheys: in den Adern des reflektierenden Subjekts »rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit.«62 Daher 62
W. Dilthey: Gesammelte Schriften I: Einleitung in die Geisteswissenschaften I. Leipzig, Berlin 1922, p. XVIII; im gleichen Sinn mit Bezug auf Peirce S. Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt a. M. 2008, p. 101f.. »Daher ist unsere Kommunikation weniger einer Begegnung zwischen ›cogitos‹ vergleichbar als einem Tanz, bei dem ab und zu Berührung möglich, aber auch Vertrauen nötig ist.« Ein solches Vertrauen kann auch – fiktiv! – von einem Fortdauern der einmal erzeugten Synchronisation über alle Abgründe hinweg überzeugt sein, wie Novalis es in einem Brief vom 23. (?) Februar 1796 an Caroline Just ausgedrückt hat. »Ihre Freundschaft, liebe Justen, finde ich in meiner Schwester wieder. Mein Genius weis, daß man Liebe, aber
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entscheidet sich Dilthey dafür, nicht den Identitätsbegriff, sondern den Begriff des Erlebnisses als zentralen Begriff der Welterschließung anzusetzen. Wir dagegen haben es hier vorgezogen, statt des inhaltlich zur Sättigung einladenden Begriffs des Erlebnisses den formaleren Begriff basaler Synchronisationen einzusetzen. Elementare Synchronisationen erscheinen als mindestens drei Menschen umfassende Rhythmen. Deswegen sind alle elementaren Vergemeinschaftungen rhythmisch organisiert, als Kommunikation, als Musik, als Erotik oder eben als Tanz. Bergson sagt dazu: »Que la musique exprime la joie, la tristesse, la pitié, la sympathie, nous sommes à chaque instant ce qu’elle exprime. Non seulement nous, mais beaucoup d’autres, mais tous les autres aussi. Quand la musique pleure, c’est l’humanité, c’est la nature entière qui pleure avec elle. A vrai dire, elle n’introduit pas ces sentiments en nous; elle nous introduit plutôt en eux, comme des passants qu’on pousserait dans une danse.«63
Überall da, wo das Gelingen einer Praxis von Handlungssynchronisationen der Beteiligten abhängt, werden ursprünglich Tänze aufgeführt. Im zugleich praktisch erforderlichen wie auch rudimentär rituellen Uhrenvergleich vor Aktionen einer Handlungsgruppe überlebt – unter dominanter Geltung einer in Uhren präsenten »objektiven« Zeit64– so eine Synchronisation, die freilich ursprünglich umfassender war, weil sie die somatische Motorik ergriff. Ähnliches gilt für die für den Liebesakt erforderliche Synchronisation des Erlebens in geschlechtlicher Erregung, die selbst heute noch tanzend herbeigeführt werden kann. Für elaboriertere, insbesondere reflexive Synchronisationen reichen diese basalen Typen wie Tanz allerdings nicht aus; zu diesem Zweck haben die indoeuropäischen Sprachen ursprünglich ein hoch differenziertes Tempussystem, entwickelt, in dem sich eine Vielzahl von temporalen Relationen ausdrücken läßt.65 Das ist allerdings im Englischen weitgehend verloren gegangen, weswegen die Neigung, Englisch als Standardsprache der Kommunikation zwischen Kulturen zu verwenden, zu einer allgemeinen Entdifferenzierung und Nivellierung führen dürfte.
63 64 65
nicht Freundschaft entbehren kann. Ich glaube mich Ihrer so am lebhaftesten zu erinnern, wenn mir dies nur Fortsetzung ist – so bleib ich Ihnen immer nah. Wir gehen zusammen fort, wie zwei gleich gerichtete Uhren, und, wenn wir uns widersehn, wird es nur Pause gewesen seyn – der gleiche Tact ist geblieben.« Novalis: Schriften IV. Darmstadt 1975, p. 170. H. Bergson: Les deux sources de la morale et de la religion. 76. Aufl. Paris 1955, p. 36. Die Physik kennt jedoch nur eine einzige, die »objektive« Zeit; sie hat von Synchronisationen der besprochenen Art keine Ahnung, cf. R. Ruyer: Le sens du temps. In: Recherches philosophiques 5 (1935/36), p. 52-64. Cf. S. Kanngießer: Sprachliche Universalien und diachrone Prozesse. In: Sprachpragmatik und Philosophie, hrsg. v. K.-O. Apel. Frankfurt a. M. 1976, p. 273-393, hier bes. p. 356f.
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Synchronisationen vermitteln Identität. Wer an Tänzen – oder beim Erzählen von Mythen und Geschichten – nicht teilnimmt und aufgeht, der rettet nicht seine Identität vor dem Palaver, sondern ein solcher hat noch gar keine Identität; in einigermaßen komplexen Sozialverhältnissen kann sie allerdings in bestimmten Zusammenhängen auch eine Bedrohung für in anderen Zusammenhängen konstituierte Identität darstellen, weil in Beziehung zu den partikularen Identitäten der Synchronisationsprozesse diese getragen ist von einer die partikulare Identität überschreitenden Leitthematik, die ihrerseits identitätsstiftend ist für eine sich über die Leitthematik konstituierende Gruppe.66
6.6 S YNCHRONISATION UND I DENTITÄT Die über Geschichten erzielten Synchronisationen und Objektivationen können strittig sein; aber das Vorliegen von Strittigkeit kann selbst strittig sein, ebenso wie über das Vorliegen von Konsens oder Dissens Konsens oder Dissens bestehen kann. Das wird insbesondere dann prekär, wenn Synchronisationen über Geschichten und basale Synchronisationen in Widerspruch zu einander geraten. Oftmals wird dann der basalen Identität eine quasi magische, jedenfalls geschichtsheilende Kraft zugetraut. Tragisch oder ironisch wird diese Konstellation dann, wenn der die leibhafte Synchronisation negierende Part durch seine Identität und die Identitätspräsentation dazu gezwungen ist, am Prozeß leibhafter Synchronisation weiterhin teilzunehmen.67 Für gewöhnlich jedoch reicht in solchen Konfliktfällen die Identitätspräsentation eines Teils aus, um den Synchronisationsprozeß als sinnlos abzubrechen und es nicht zu einem tragischen Konflikt kommen zu lassen. Noch die »Moral« in Shakespeares »Romeo und Julia« lautet, daß die gegen die historisch vermittelte Identität aufrechterhaltene Synchronisation in dieser Welt einen bloß imaginären Charakter hat und das Leben der Liebenden zerstören muß. Erst das Opfer der basalen Synchronisation der Liebenden im Tod macht die Geschichten der Familien Capulet und Plantagenet wieder synchronisationsfähig. Da Vergemeinsamungsprozesse sowohl durch Geschichtserzählungen als auch leiblich konsituiert sein können, kann auch der umgekehrte Fall eintreten: Obwohl erzählend eine gemeinsame Geschichte erzeugt wird, »klappt es nicht«. Widersprüche zwischen Handlunsgvergemeinsamungs- und Geschichtenvergemeinsamungsprozessen können also so oder so, zugunsten der Geschichte oder zugunsten gemeinsamer Projekte gelöst werden. Eine sozialphilosophische Theorie sozialer Prozesse wird sich naturgemäß in die Perspektive des Effekts des Widerspruchs der Geschichte 66 67
Zum Begriff der Leitthematik s. D. Wyss: Mitteilung und Antwort. Göttingen 1976, p. 150. Das ist der tragische Konflikt des Hildebrand-Lieds.
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zum Gegenwärtigen versetzen und erkunden, welche Widerspruchsbeseitigungsstategien es gibt. Im vereinfachenden Vorgriff auf die Befunde des nächsten Abschnitts nenne ich folgende Strategien: • •
•
Fiktionalisierung der widersprechenden Geschichte, d.h. die Erzählung wird für nicht als im wörtlichen Sinne gültig erklärt; Asynchronisierung des Erzählers; d.h. insofern der Erzähler sich mit seiner Geschichte identifiziert, ist er nicht von heute; sein wahres Selbst freilich ist kopräsent, diese Kopräsenz muß zusammen mit der von ihm angesonnenen wahren Geschichte von ihm selbst befreit werden; Technische Neutralisierung der Synchronisationsleistung von Geschichten.
Es gibt außerdem virtuelle Synchronisationen. Darunter ist folgendes zu verstehen. Weltlich begegnende Asynchronizitäten können sich in der Unfähigkeit äußern, mit anderen in einen kommunikativen Text einzutreten. Manche dieser Asynchronien sind behebbar, und zwar durch Bereitstellung gewisser Sondertextmuster z.B. der therapeutischen Kommunikationen. Therapeutische Kommunikationen zeichnen sich durch eine virtuelle Synchronie des Erlebens aus, allerdings unter der einschränkenden Voraussetzung, daß der Patient/Client diese seine Rolle und die des Therapeuten akzeptiert hat. Danach akzeptiert der Therapeut jede rhythmische Prägung des Geschehens durch den Patienten oder in gemeinsamer Textbewegung, um den Patienten seinerseits zur Befreiung einer Geschichte für sich zu veranlassen, wie sie so normalerweise unter Menschen synchronisationsfähig ist. So ist das Ziel der therapeutischen Kommunikation die Rekonstruktion eines Geschichtentextes, dessen Resultat das einer präsentablen Identität ist. Virtuelle Synchronisation ist dieses zu nennen, weil der Therapeut sich selbst in die involvierte Synchronisation nicht einbringt, sondern sich nur mit seiner Rolle auf das ver-rückte Spiel einläßt. Als Synchronizität wird ganz in diesem Sinne auch von der Tiefenpsychologie diese Verbindung von Gleichzeitigkeit und Sinn genannt.68
6.7 G LEICHZEITIGKEIT Die dritte Einschränkung bezieht sich auf das Prinzip der Gleichzeitigkeit und der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen.69 Die vielleicht ein bißchen irreführende Begriffsprägung meint den frappierenden Eindruck der Koexistenz von nicht oder nur 68 69
M.-L. von Franz: Time and Synchronicity in Analytic Psychology. In: The Voices of Time, hrsg. v. J. T. Fraser. London 1968, p. 218-232, hier p. 223. Zentral ist dieses auch für die Geschichtskonzeption von Vico für den das Prinzip »Synchronismus – Anachronismus« zum Leitprinzip der historischen Forschung wurde, s. St. Toulmin / J. Goodfield: Entdeckung der Zeit. München 1970, p. 140.
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teilweise synchronisierten Subsystemen der Gesellschaft.70 Ebenso wie es evident ist, daß eine totale, bis in einzelne Inhalte gehende Synchronisation weder möglich ist noch wünschenswert sein kann, ebenso deutlich ist der Eindruck, den die nicht vollzogene Synchronisation vor dem Hintergrund vollzogener Synchronisation für den Wanderer zwischen den Welten haben kann. Wer – anders als wir als Beobachter erwarten würden – statt eines Traktors seine Frau vor den Pflug spannt, der lebt offensichtlich in einer Welt, die mit der unsrigen und ihren Erwartungen nicht synchronisiert ist; in dieser Welt ist es wohl, so müssen wir vermuten, durch historische Synchronisation »normal«, so zu handeln, sein Handeln ist nicht in sich »asynchron« (was sollte das wohl heißen?), sondern nur relativ zu Beobachtern. Es ist aber möglicherweise nicht einmal a-rational, wenn man einen minimal-ökonomischen Rationalitätsbegriff unterstellt; denn unter Umständen sind Traktoren oder dann Ersatzteile für Traktoren sehr viel schwerer zu beschaffen als der erhöhte Lebensmittelbedarf für eine schwer arbeitende Frau; auch sind Traktoren (bei mangelnden technischen Kenntnissen) schwerer zu handhaben als Frauen, deren Verhalten von alters her durch eingespielte Synchronisationen als im großen und ganzen bekannt und erwartbar unterstellt und kalkuliert werden kann. Dem Beobachter aber, dem Maria Magdalena, Diotima, Sappho, Cleopatra, Lucrecia Borgia, Katharina von Aragon, Caroline Schlegel, Rosa Luxemburg, Ulrike Meinhoff, Leila Khaled u.v.a.m. klang- und bedeutungsvolle Namen sind, die in dieser oder einer anderen Anordnung auch das Gerüst einer sinnvollen Geschichte abgeben, dem muß, vor dem Hintergrund dieser Geschichte, eine Frau vor einem Pflug, »unzeitgemäß« vorkommen; abgesehen von einer solchen »Ungleichzeitigkeit« kann der Beobachter auch andere, sagen wir, zeitlose, z.B. »ethische« Gründe haben, das Verhalten des Mannes hinter dem Pflug zu mißbilligen. Jedenfalls sind Erleben und Handeln und die Geschichten des Mannes hinter dem Pflug und des Beobachters nicht synchronisiert. Weniger schockierende, als das hier zugegebenermaßen sehr gesuchte, Beispiele lassen sich jedoch allenthalben finden. Zum Problem können (aber müssen nicht) sie dort werden, wo es sich nicht um die Begegnung von Kulturen handelt, sondern wo, wie man so sagt, unabgegoltene Ansprüche aus einer Vergangenheit in einer Gegenwart mit Ansprüchen derjenigen konfrontiert sind, die die Gegenwart verwalten. Das nannte, in einer Diagnose der Entstehungszusammenhänge des Nationalsozialismus Ernst Bloch den »ungleichzeitigen Widerspruch«.71 Zu diesem Begriff folgende Anmerkung: Zwangsläufig ist natürlich jeder Widerspruch als (Widersprechen) gleichzeitig; was nicht gleichzeitig ist, kann sich nicht widersprechen. Bloch meint jedoch mit »Ungleichzeitigkeit«, daß etwas in formeller
70 71
Vom Paradox einer nichtsynchronen Gleichzeitigkeit spricht A. Kapust: Berührung ohne Berührung. Ethik und Ontologie bei Merleau-Ponty und Levinas. München 1999, p. 281. E. Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Erw. Ausg. Frankfurt a. M. 1962 (Gesamtausg. Bd 4), p. 122; cf. auch H. Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Stuttgart 1967, initio.
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Gleichzeitigkeit Begegnendes nicht auf der »Höhe seiner Zeit« (à la hauteur, up-todate) ist. Wenn man nicht vernarrt ist in den Reiz paradoxer Formulierungen, den der Begriff der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen evoziert, kann man Mißverständnisse vermeiden, wenn man das, was Bloch meint und wovon unser Beispiel der Frau vor dem Pflug trotz Diotima zehrt, alternativ beschreibt als unzeitgemäße, d.h. nichtsynchronisierte Gleichzeitigkeiten. Bloch selbst differenziert diesen Widerspruch noch weiter aus als objektiven und als subjektiven. Daraus ergibt sich freilich die Frage, wie die Objektivität des objektiv Unzeitgemäßen festgelegt ist, vielleicht dadurch, daß es Leute mit Definitionsmacht für Zeitgemäßheit gibt? Bloch selbst scheint an so etwas wie eine Überprüfbarkeit zu glauben, an die man als an die Objektivität des Gangs der Geschichte appellieren könne. Wenn man allerdings die Entscheidung der Frage der Überprüfbarkeit einfach sistiert, dann sind die Beispiele Blochs ohne Einschränkung verwertbar: »untergehende Reste« und »unaufgearbeitete Vergangenheit«. Die subjektive Unzeitgemäßheit erscheint als »gestaute Wut«. Ob das Unzeitgemäße, sei es nun subjektiv oder objektiv, regressiv oder progressiv sei, diese Frage unentschieden zu lassen, muß das Interesse revisionsfähiger historischer Orientierung sein. Bloch meint, daß die Macht der Erscheinung des »ungleichzeitigen Widerspruchs« gebunden ist an das Aufbrechen des gleichzeitigen Widerspruchs, d.h. an die objektive Krise und seine subjektive Erscheinungsweise als proletarisches Klassenbewußtsein, das eigentlich – Bloch sagt das so nicht – eine andere Form der Unzeitgemäßheit beinhaltet, nämlich »verhinderte Zukunft«. Bloch bewertet diese zwei Unzeitgemäßheiten verschieden, aber in der noch unbewerteten Diagnose ist ihm voll zuzustimmen. Es gibt im Gegenwärtigen Elemente von Macht festzulegen, daß die Zukunft nur berechenbar anders und besser als die Gegenwart und daß die Vergangenheit im wesentlichen als ein Noch-Nicht in Relation zur Gegenwart beschrieben werden kann. Zu Recht benennt Bloch damit ein Problem sozialer Orientierung, nämlich die Probleme einer »mehrräumigen Dialektik«, die aber mit dem Problem der Gleichzeitigkeit nicht direkt etwas zu tun haben. Mir scheint die Metaphorik von gleichzeitig und ungleichzeitig einigermaßen unangebracht zu sein für solche Bewußtseinslagen, und zwar weil sie die Kenntnis »objektiver« Kriterien voraussetzt. Ich schlage daher lieber vor, von nicht vollzogenen Synchronisationen zu reden und sowohl die Frage der Ursachen als auch, wer an wen, normativ geredet, angepaßt werden soll, offen zu lassen für empirische Einzeluntersuchungen. Dann bleibt es nicht sinnvoll zu sagen, es gebe eine, wenn auch ungewußte, Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen.72 Totalisierende Gesellschaften zeichnen sich nicht nur durch Komplexionen der Synchronisationen aus, sondern auch durch partielle Asynchronisationen; Synchronisationen haben die Struktur von Anschlüssen, die sich verlieren, Asynchronisationen hinterlassen die Struktur der Spur. Ein Beispiel: In einem bestimmten Bereich 72
So auch Th. Schieder: Geschichte als Wissenschaft 2. Aufl. München, Wien 1968.
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baut eine Gruppe, z.B. eine Abteilung eines Betriebs, etwas auf und synchronisiert sich in Geschichten mit anderen Arbeitsgruppen, die Ähnliches bearbeiten. Dann kommt eine andere, schon zuvor bestehende Gruppe und übernimmt den »Laden«; sie tritt zu den bestehenden Gruppen in Konkurrenz, die objektiv erreichten Synchronisationen kann sie nicht einholen; daher gettoisiert sie die Gruppe mit den »älteren Rechten«, tritt aber zugleich als machthabende Gruppe mit den anderen Gruppen in erneute Prozesse der Synchronisation ein. Gelingt ihr das, dann mag sie die Geschichte vorheriger Synchronisationen zur Vorgeschichte erklären, für die und für deren Fehler und Unvernunft die Newcomer nicht verantwortlich gemacht zu werden wünschen. Die eingetretenen Veränderungen sind offenbar verschieden. Für die neuen »Machthaber« hat sich nichts verändert, sie sind, wie das in allen Sozialprozessen geschieht, in neue Synchronisationsprozesse eingetreten, die sich auch an ihre anderweitigen und bisherigen Synchronisationen anschließen lassen. Für die anderen Abteilungen hat sich wenig verändert, ein neues Moment, das integrationsfähig ist, ist aufgetaucht und hat die eigenen Geschichten bereichert. Für die Gettoisierten aber hat sich alles verändert. Mit ihrem Einfluß ist zugleich ihre Fähigkeit verschwunden, die eigene Geschichte, die ursprünglich mit dem Charisma der Gründergeschichte ausgezeichnet war, auf diese Weise weiter zu vermitteln. Sie wurden asynchronisiert.73
6.8 S YNCHRONIZITÄT Dem meist nur von dem ausgeschlossenen Sinn her bemerkbaren Ausschließen, das in dem Eindruck der »Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen« auftritt, korrespondiert dessen Umkehrung, die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«. Zunächst soll beschrieben werden, um was es sich dabei handelt, um dann zu versuchen zu plausibilisieren, daß es sich dabei um ein Korrespondenzphänomen handelt. Arthur Schopenhauer hat, die Kantische Lehre von der Kompossibilität von Freiheit und Determinismus aufgreifend und fortsetzend, bemerkt, daß das Zusammentreffen dessen, was nicht in Kausalzusammenhängen zueinander steht, »nur ein auf entferntestem Wege herangekommenes Nothwendiges sei.«74 Umgekehrt sei denkbar, daß das vermeintliche Schicksal, d.h. daß das Eintreten von vom individuellen Wollen unabhängiger, relevanter Umstände, »auf analoge, wie Jeder der heimliche Theaterdirektor seiner
73 74
Nach Jean-Paul Sartre hat der objektivierende Blick des Anderen auf mich auch den Effekt der Erzeugung einer Gleichzeitigkeit. J.-P. Sartre: Gesammelte Werke: Philosophische Schriften I: Das Sein und das Nichts. Reinbek 1994, p. 480f. A. Schopenhauer: Sämtliche Werke. 2. Aufl., hrsg. v. A. Hübscher, Bd. V. Wiesbaden 1946, p. 227.
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Träume ist.«75 Kantisch gesprochen, wenn das ein Moment einer intelligiblen Ordnung sein kann, dann nämlich wenn man diese nicht mit der Zufälligkeit des empirisch erkennbaren, individuellen Willen wie selbstverständlich identifiziert. Nichts als die pure Denkbarkeit und eine gewisse Veranlassung, die Denkbarkeit zur Faktizität des Gedankens werden zu lassen, weist Schopenhauer an. Das Wie des Zusammenhangs beider Ordnungen, nämlich der Kausalität des Zufalls und der Willentlichkeit des Schicksals meint Schopenhauer, und sie sei etwas, »was alle unsere Fassungskraft übersteigt.«76 Meiner Ansicht nach läßt sich jedoch über den Zusammenhang noch ein weniges mehr sagen, nämlich unter der Bedingung, daß man die Ordnungen und ihre Zusammenhänge darauf reduziert, reine Geltungsphänomene zu sein, was auch bei Schopenhauer keineswegs ausgeschlossen ist. Dann aber erscheinen solche Koinzidenzien im Vollzug von Sinn im kommunikativen Text. Zufall oder Schicksal müssen wahrgenommen werden. In der Wahrnehmung aber ist das als erstaunlich anderswie Bemerkenswerte, das gleichzeitig eintritt, ein Zufall oder Schicksal, vieles andere, das auch gleichzeitig ist, ist an sich, d.h. für uns, gleichgültig. Im Zufall jedoch tritt eine vielleicht, wer weiß, bedrohliche Fremdheit auf den Plan, den wir uns oft zur Beruhigung als ein Schicksal deuten.77 Carl Gustav Jung hat in Anknüpfung an Schopenhauer versucht, erfahrungsmäßige Plausibilität für die Möglichkeit eines Zusammenhangs gewisser psychischer Zustände mit äußeren Ereignissen zu erzeugen. Einige seiner Beispiele sind in der Tat verblüffend, solange man sie in der Jungschen Beschreibung liest, etwa das als eigenes Erlebnis Jungs geschilderte auffällig gehäufte Auftreten des Bedeutungsgehalts »Fische« innerhalb der Spanne von gut einem Tag: als Trauminhalt einer Patientin, als davon unabhängig vorkommender Gesprächsinhalt am Mittagstisch... und, und, und schließlich als auf einer Mauer – d.h. in einem höchst unwahrscheinlichen Zusammenhang – gefundener Fisch. Bei der Interpretation muß man jedoch die besondere Erlebensdisposition des Herrn Jung in Rechnung stellen, die eine von Mal zu Mal sich steigernde symbolisch-erkenntnismäßige Aufmerksamkeit für Bedeutungsgehalte wie »Fisch« an jenem Tag erzeugt hat. Ihm selbst fällt die Abhängigkeit vom Aufmerken in einem anderen Fall auf. In Ermangelung eines anderen Zettels wird eine Telefonnummer auf einem Billett notiert; anschließend stellt sich heraus, daß die Billet-Nummer dieselbe ist wie die darauf notierte Telefonnummer. Daß die Aufmerksamkeit eine so gewaltige Rolle spielt, ist auch der Grund dafür, warum die 75 76 77
l. c., p. 232. l. c., p. 233. Beim Verlust der Fähigkeit der Deutung als Schicksal tritt dann allerdings nicht der Zufall, der ja bekanntlich »blind« ist, wieder in seine Rechte ein; sondern nunmehr werden »Schuldige« gesucht, und – wie in der Medizin zu beobachten, wird die Schuld selten beim Patienten, sondern immer öfter bei einem behandelnden Arzt gesucht. War früher der Arzt der, der wider alles Erwarten einen Sterbenskranken wie in einem Wunder rettete, so ist heute der Medizinsektor und jeder einzelne Arzt der Überlebensverantwortliche, die in jedem Sterben versagt haben.
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Wahrscheinlichkeitsberechnung, die Jung für solche Fälle anstellt, deplatziert ist. Die Grundmenge der Menge solcher Phänomene ist eben unbestimmt, daher ist jede Festlegung eine Willkürmaßnahme, die das Phänomen des sinnhaften Zusammentreffens verkürzt. Daß aber sinnhafte Zusammenhänge der Art, die Jung »Synchronizität« nennt, und deren Art akausal ist, tatsächlich vorkommen, das ist nichts weiter als ein Hinweis darauf, daß das Kausalprinzip in der Deutung unserer Welt überbewertet ist. Ihre Disziplinierung im Diskurs der Naturwissenschaften verleitet uns dazu zu glauben, daß es eine, nämlich die kausale Interpretation der Welt gibt, die optimal ist. Das aber gleicht dem Halmaspieler, der nur mit einer Farbe spielt, d.h. ohne Mitspieler; für ein solches Einpersonen-Halma gibt in der Tat eine optimale Strategie. Sobald aber andere Mitspieler hinzukommen, und das ist in der (sozial verfaßten) Welt der Regelfall, versagt in der Durchkreuzung der Spielstrategien die »optimale« Strategie. Es gibt im kommunikativen Text generell das Problem der Feststellung der Simultaneität oder der Sukzession der Vorgänge des inneren und des äußeren Anderen.78 Alfred Schütz bemerkt dazu: »Neither by simultaneity nor by succession can an instant of my inner time be conceived as being connected with an instant of the inner time of the Other’s consciousness unless on the assumption of a mysterious pre-established harmonny.«79 Als Geltungsphänomen korrespondiert »Synchronizität«80 in C. G. Jungs Sinn die sinnhafte Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen mit der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Jung schreibt: »Das Synchronizitätsphänomen besteht also aus zwei Faktoren: 1. Ein unbewußtes Bild kommt direkt (wörtlich) oder indirekt (symbolisiert oder angedeutet) zum Bewußtsein als Traum, Einfall oder Ahnung. 2. Mit diesem Inhalt koinzidiert ein objektiver Tatbestand. Man kann sich gleichermaßen über das eine wie über das andere wundern.«81 Das Synchronizitätserleben verbindet in einer sinngeleiteten Wahrnehmung Unzusammengehöriges; in ihm solidarisieren sich vom verordneten Sinn ausgeschlossene Inhalte zu neuem, verblüffendem Sinn. Ähnliche Überraschungsverbindung von Sinn lassen sich auch in Erfindungen und innovativen wissenschaftlich Entdeckungen aufweisen. Elektrizität, d.h. zunächst elektrostatische Phänomene, »Galvanismus« und Magnetismus waren separate Erfahrungsgehalte, bis sie in der Romantik kurzerhand spekulativ miteinander zu neuen Sinngehalten
78
79 80 81
Anthony Wilden hat darauf sein Prinzip der sozialen Homeostasis gegründet, das von den nicht-zeitlichen Relationierungen ausgeht, d.h. das geeignet sein soll, die Zeitlichkeit der Entwicklungswege zu reduzieren. In ihm wird die Wiederholung zum ersten Axiom einer Theorie der Homeostasis. A. Wilden: System and Structure. London 1977, p. 138f. A. Schutz: Collected Papers I: The Problem of Social Reality, hrsg. v. M. Natanson. 3. Aufl. The Hague 1971, p. 181. C. G. Jung: Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge. In: ders.: Gesammelte Werke VIII. Olten, Freiburg 1971, p. 475-577, sowie ders.: Über Synchronizität. In: dass., p. 579-591. l. c., p. 507.
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verbunden wurden, die das mechanistische Weltbild sprengten. Der bislang ausgeschlossene Sinn erwies sich als überlegen. Wie sich zeigte, sind die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen bloße Bewußtseinsphänomene. Als Bewußtseinsphänomene sind sie zwei Seiten des gleichen Sachverhalts, insofern es sich um das Bewußtsein der Ausgeschlossenen handelt. Für das herrschende Bewußtsein jedoch sind sie entweder die Ewiggestrigen oder die reinen Utopisten oder die, die an eine geheime Verbindung hinter den Dingen glauben und als solche sind sie Gegenstand eines berechtigten Spotts. Die Berechtigung des Spotts liegt in dem Zynismus begründet, der weiß, daß er die Macht der Wahrheitsdefinition hat und sie als Machtmittel und als einzig zulässiges Machtlegitimationsmittel benutzt. Um die Bewegung von der Ausschließung, auf das Ausgeschlossene, von der Exilierung zum innovativen Widerstand (der Revolte) und von dort zur Ausschließungen praktizierenden Revolution zu beschreiben, steht der Begriff der Revolution zur Verfügung, der uns im nächsten Kapitel beschäftigen wird. Darin werden wir die den kommunikativen Text immanent fortbewegenden Momente von Spruch und Widerspruch näher untersuchen.
7. Spruch und Widerspruch (Dialektik?)
7.1 I DENTITÄT – T EXT – S ELBST Halten wir als bisher Erreichtes folgendes fest. Das Subjekt und seine Sichselbstgleichheit und Vonsich-Unterschiedenheit ist als ein Moment im Prozeß, ein depotenziertes Subjekt. Es ist von der Mitte, von der Medialität des kommunikativen Textes her zu denken. Es ist nicht mehr autonom und nicht mehr archisch (als Ursprung). Zugleich aber ist dieses Zwischen der Mitte, mit Heidegger: die Fuge, nicht abstrakt bleibend; bei Heidegger gibt der Blick in den Abgrund der Fuge den Blick frei in den »gründenden Abgrund« des »anderen Anfangs« der Philosophie. Die Sozialphilosophie des kommunikativen Textes kennt einen solchen »gründenden Grund« nicht, ihr ist der Wandel und die in ihm manifeste Differenz der Abgrund, durch den Identität und mit ihr Einheit fraglich wird, bzw. als bloße Konstrukte derjenigen erscheinen, die die Sicherung durch einen Herrscher brauchen. Dieser Sozialphilosophie sind der Text und seine Funktionspositionen Gegebenheiten (Daten). Norman Holland geht noch einen Schritt weiter und formuliert: »Identität ist die Einheit, die ich in einem Selbst finde, wenn ich dieses so betrachte, als sei es ein Text.«1 Das liefe auf eine Metaphorisierung hinaus, die zunächst unnötig erscheint, bzw. erst dann und dadurch nötig wird, wenn wir dem aber gerade aus methodischen Gründen vermeiden möchten. Selbst ist eben nicht »direkter Erfahrung zugänglich«, wie Holland sagt, weil wir sonst in eine identitäre Selbst-Substantialisierung zurückfielen und dann besser gleich vom Subjekt, vom Individuum oder gar vom (ganzen) Menschen sprechen könnten. Selbst ist in unserem Sinne eine Funktionsposition im kommunikativen Text mit wechselnden substantiellen Besetzungen, eine abhängige Variable also, von der immer nur im Zusammenhang mit dem Anderen und/oder dem Dritten zu reden sinnvoll ist. Das impliziert eine Umkehrung der Ursprungssuche. Der Ursprung liegt danach nicht hinter uns und dirigiert uns von
1
N. N. Holland: Einheit Identität Text Selbst. In: Psyche 33 (1979), p. 1127-1148, hier p. 1132.
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dort, sondern er liegt vor uns, wie ja auch Heidegger den Ur-Sprung als einen noch zu tätigenden gefaßt hatte.2
7.2 Identität in der Zeit Im Cartesianismus strenger Observanz steckt ein Problem: Woher weiß das Ego im Cogito eigentlich von seiner Identität? Es könnte nur durch die Herausforderung zeitlichen Wandels davon wissen, aber das Cogito kann sich nicht wandeln. Nur wenn es sich wandeln könnte, wüßte es von seiner unwandelbaren Identität. Nur wenn es wolkig wäre, in stetem Wandel und mit unscharfen Rändern zu seinem Außen, könnte das Ego seine Identität (im Wandel) wissen, nicht aber als Idee, die den Wandel übersteht. Im Wandel aber erfährt es das Paradoxon der Konfusion, durch die es im Innersten des Subjekts Residuen der Unwandelbarkeit festhält. Da das Cogito unkörperlich (ohne Ausdehnung und ohne Abgrenzung vom umgebenden Raum) und unleiblich (ohne sinnliche Selbsterfahrung) ist, ist es der residuale zeitliche Wandel, der ihm nicht von Außerhalb seiner Abstraktheit zustoßen kann; es muß immer schon durch eine abstrakte Zeitlichkeit in sich gespalten sein. Hegel hat dieses Paradoxon benannt als »das reine Selbsterkennen im absoluten Anderssein.«3 Stattet man das abstrakte Subjekt mit Lebendigkeit aus, dann allerdings verschwindet in der Abstraktheit die Frage, ob das Subjekt von seiner Identität wissen kann, und verwandelt sich in die Frage, wie Identität im gelebten Wandel erfahren wird: ob es sich sein Leben in Phasen mit identifizierbaren Übergängen über Abgründe einteilt, oder ob es den Wandel als undifferenziertes Kontinuum von einer Zielerreichungsmodalität glätten läßt, oder ob es sein Leben und seine Lebenszeit als verschiedene Leben und Zeiten organisiert, so daß die Kontinuität einer Ebene die Diskontinuität der anderen überbrücken hilft. Da nun aber die Brüche nicht immer und nicht ausschließlich selbstinduzierte sind – sei es auch der eigenen Leiblichkeit – ist das zweite Modell dasjenige, was einem Totalscheitern am nächsten ist. Vielleicht wäre das dritte das erfolgträchtigste, gäbe es da nicht ein Problem. Dieses besteht darin, daß die die Kontinuität gewährende Ebene ihrerseits als eine fremdinduzierte erlebt werden kann. Objektive ZeitDisziplinen, etwa der Arbeits-Zeit, wird nicht immer als Befreiung vom Chaos abgründigen Übergehen-Müssens empfunden, sondern zuweilen als Einengung und Knechtung. Die Synchronisation in die Identität der objektiven Zeit der Uhren erscheint dann auch als Monotonie. Und das Zurücktreten der Monotonie hinterläßt 2
3
M. Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Frankfurt a. M. 1989 (Gesamtausg. Bd. 65), p. 227ff.; »Der Ur-sprung kann nur er-sprungen werden im Sinne eines selbst anfangenden Erdenkens.« Ders.: Überlegungen VII-XI (Schwarze Hefte 1938/39) (Gesamtausg. Bd. 95). Frankfurt a. M. 2014, p. 306, dort mehreres in diesem Sinne. G. W. F. Hegel: Werke. Frankfurt a. M. 1970, III, p. 29.
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nichts als Langeweile. Unter diesem kritischen Gesichtspunkt hat Zuverlässigkeit der Synchronisation etwas Beängstigendes, weil es so scheint, als fände das »eigentliche« Leben auf einer anderen Ebene statt, einer Ebene, auf der im Sinne des ersten Modells das Wagnis eingegangen werden muß und kann, und es eine Ereignis-Offenheit gibt. Die Überbrückung kann hier nicht mehr durch Objektivität, quasi durch einen Versicherungsschutz, garantiert werden, sondern der Sprung über (oder in!) den Abgrund muß gewagt werden. Aber es gibt natürlich auch selbsterzeugte Sicherheiten, und zwar durch die Konstruktion (Erfindung) der eigenen Geschichte. Andererseits greift die Zeit-Entfremdungs-Kritik zu weit; nicht jede von außen kommende Diskontinuitäts-Überbrückung ist eine Entfremdung von der Eigenzeit.4 Im Gegenteil: Die isolierende Ausschaltung jeder Synchronisation mit dem Anderen beläßt ein Selbst nicht als das, was es »eigentlich« ist (der Irrtum Rousseaus) in seiner puren (gereinigten, bzw. sauber gehaltenen) Identität, sondern in solcher Nacktheit hat das Selbst noch gar keine Identität. Der kritische Schnitt kann also nicht zwischen Selbst und Anderem verlaufen, sondern muß innerhalb der »objektiven Zeit« verlaufen. Ein zweites kritisches Bedenken richtet sich auf die Konstruktion bzw. Erfindung der eigenen Geschichte als Kontinuitätsgewähr. Jede solche Geschichte ist schattenhaft begleitet von einer Verdrängung (im psychoanalytischen Sinn). Nun hat aber die Verdrängung die Struktur der Erzeugung von Abgründen. Hier hilft, wenn das Phänomen problematische, krankmachende Züge (z.B. im Wiederholungszwang) annimmt, nur die Synchronisierung mit dem (in diesem Fall therapeutischen) Anderen. Das Kranke ist auch der moralische Defekt, d.h. die Verletzung des Anderen. In afrikanischen Mythen wird diese Immoralität geradezu als ein Indiz eines Übergangs interpretiert. Modelliert ist dieser Übergang allerdings in naturalen Deutungsmustern, beispielsweise den objektiven Phasen des Mondes und der individuellen Mondphasen, die von ersteren durchaus abweichen können, so daß Krankheit einer moralischen Verfehlung als Indiz der individuellen Phase des zunehmenden, gewissermaßen inneren, Mondes dienen kann.5
7.3 ABWEICHUNG IN G ESCHICHTEN – H ISTORISCHE E XPERIMENTE Man nimmt an, daß viele Wendungen des Geschichtsverlaufs auf Entscheidungen von Menschen zurückzuführen seien. Aber ebenso gilt, daß die Entscheidung für derartige Annahmen ihrerseits auf Entscheidungen beruht, m.a.W. es ist selbst eine Ent-
4 5
H. Nowotny: Eigenzeit. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1989. J. A. A. Ayoade: Time in Yoruba Thought. In: African Philosophy, ed. R. A. Wright. 3. Aufl. Lanham, New York, London 1984, p. 93-111, bes. p. 100.
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scheidung im Erzählverlauf, Ereignisse im berichteten Geschehensverlauf für Entscheidungen zu halten. Und schließlich können diese beiden Entscheidungen in ein Verhältnis kausaler oder expressiver Bedingung gesetzt werden. Dann wird der Inhalt der Geschichte, die man gerade erzählt, zur Ursache oder zur Rechtfertigung jetziger Erzählentscheidungen erklärt. Auf diese Weise kann die Verantwortung aus dem Erzählhandeln des kommunikativen Textes in den erzählten Inhalt verlagert werden. Und da Verantwortung nichts anderes ist als ein intensiviertes, herausgefordertes Beantworten, muß zu der Verantwortungsverlagerung auch die Fiktion einer intensivierten, tendenziell inquisitorischen Befragung in die Geschichte verlagert werden. Selbstbestimmung und Objekt-Bestimmung entsprechen einander, ja spiegeln einander.6 Diese Korrespondenzbeziehung zwischen Vollzug und Inhalt des kommunikativen Textes ist eine notwendige; denn es ist eine technokratische Illusion, daß Gesellschaften ihr Fungieren allein in purer Gegenwärtigkeit haben könnten. Solche Spiegelungen finden nicht nur in der temporalen Dimension des kommunikativen Textes statt,7 sie finden ebenso sehr zwischen Selbst und Anderem und zwischen Wahrnehmung und Bewertung statt. Der Verführer verführt die Verführte zur Liebe, d.h. zur ergebungsvollen Verringerung von Verteidigungsbereitschaft. Aber wie im Spiegelbild, das ja imaginär mich zeigt, induziert die Verführung auch im Verführer ein Verführtwerden durch das Verführtwerden der Verführten, abgesehen von den Extremfällen, wo jemand den Spiegel samt Spiegelbild zerstören will, weil es genau ihn zeigt. Darüber hinaus gibt es freilich die Spiegelungen in die anderen Richtungen der jeweiligen Dimensionen: in die Zukunft, ins Gemüt und in die Wahrnehmungen. Aber auch diese Zugriffe sind Entscheidungen asymmetrischer Natur. Nicht »die« Zukunft bestimmt, was wir als Projekt, als geschichtliches Experimentieren über sie zu sagen haben werden, und nicht unsere Seele bestimmt, was ein Selbst über sich zu sagen hätte, und nicht die Wahrnehmung befindet über die Bewertungen des Wahrgenommenen.
6 7
E. Weil: Essais et conférences. Paris 1970, I, p. 210. Spiegelungen, auch wenn sie imaginär eine Symmetrie erzeugen, sind immer asymmetrisch: die Vergangenheit (d.h. der Textinhalt) redet nicht zur Gegenwart, sondern die Gegenwart redet über die Vergangenheit – der Spiegel entwirft keine Realität, sondern spiegelt sie nur – außer im Märchen.
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Wir durften also einsehen, daß die Hölle nicht die anderen sind, wie Sartre vorgab, sondern daß die Hölle ein Ohne-die-anderen wäre, wie ja auch in Gefängnissen die Einzelhaft eine Verschärfung der Strafe ist. Also ist eine einzugehende soziale Beziehung nicht eine Aufopferung von Individualität, sondern eine Ermöglichung und Steigerung. Wenn das nicht so wäre – und zwar in Gleichheit der Chancen, jede Position im kommunikativen Text einzunehmen –, so schreibt Henry Blackwell an Lucy Stone, dann könnte er ja gleich einen Neufundländer oder einen Terrier als Partner adoptieren.8 Das impliziert auch, daß die Beziehung von Selbst und Anderem in doppelter Weise ausgestaltet sein kann, entweder als angesprochener Adressat (andere sagen auch: als Objekt-Beziehung) oder aber als inkludierter in einem »Wir«. Es gibt Sprachen, die als »wir« unterscheiden können zwischen einem »Wir«, das den Anderen einschließt, und einem »Wir«, das als eine Pluralität gegenüber einem aus dem Wir ausgeschlossenen Anderen auftritt. Zwischen beiden Möglichkeiten changiert jenes fürsorgerische »Wir«, das illusionär das Selbst in ein »Wir« des Anderen anbindet (›Jetzt wollen wir ‘mal brav die Medizin einnehmen‹), oder jenes suggestive »Wir«, das einen Autor sagen läßt: ›im letzten Kapitel haben wir gesehen, daß…‹ Soziale Kompetenz läßt einen zwischen diesen Möglichkeiten differenzieren und mit ihnen spielen. Kommunikation synchronisiert Individuen in den Positionen des kommunikativen Textes und bildet so präsentische Situationen und überpräsentische soziale Systemstrukturen.9 In ihnen bestimmen sich die Positionen und die in ihnen realen Individuen gegenseitig über Erwartungen, Erwartungserfüllungen und -enttäuschungen, sowie durch Erwartungserwartungen und antizipierte Erwartungserwartungen. Die spätmoderne Redeweise, die noch nicht auf Funktionen eines Mediums als methodische Voraussetzung umgestellt ist, die also noch von einem Ich als Origo ausgeht, mußte feststellen, daß »das Du in der Mitwelt […] niemals als ein Selbst erfahren [wird]« und daß dieses Du niemals vorprädikativ erfahren wird, sondern immer nur prädikativ.10 Jedoch läßt sich diese Unterscheidung der Gegebenheitsweisen des Anderen als prädikativ und des Selbst in vorprädikativer Selbst-Gegebenheit auch noch in die Sozialphilosophie des kommunikativen Textes übersetzen: Der Text ist sich selbst immer vorprädikativ in der Blindheit seines bloßen Vollzugs. Aber in seinem Inhalt und d.h. auch in der Auszeichnung seiner Funktionspositionen ist er immer auch zugleich prädikativ. Der Andere als bloß Angeredeter ist in der Tat vorprädikativ präsent, aber sofern er als Angeredeter angesprochen wird, ist er sofort
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Berichtet von W. Leach: True Love and Perfect Union. New York 1980, p. 196. Badiou nennt diese repräsentierenden Metafunktionen, die die Präsentationen absichern, die »Verfassung« A. Badiou: Das Sein und das Ereignis. Berlin 2005, p. 118. A. Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Wien 1932, p. 205.
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prädikativ gegeben. Und da dieses Umschalten jederzeit möglich ist, bleibt die Unterscheidung keine Grundsatzfrage in der Art, wie Schütz davon gesprochen hatte. Schütz konstruiert sodann das Phänomen, daß »das Du als ein Selbst erlebt wird«.11 Das ist nun allerdings eine bloße Konstruktion, weil die Selbstheit des Du »nur hypothetisch« angesetzt wird. Derartige Konstruktionen werden in der Sozialphilosophie des kommunikativen Textes erübrigt. Die Selbstheit des (zuvor) Anderen manifestiert sich in seiner Wortergreifung. Die Ego-zentrierte Sozialphänomenologie des Schützschen Typs wird auch von Emmanuel Lévinas kritisiert. In seiner Aufsatz »Die Spur des Anderen«12 schildert er zunächst die abendländische Standardversion: »Das Ich ist die Identifikation schlechthin, der Ursprung des Phänomens der Identität.«13 Von dort aus wird dann der Andere enthüllt. »dabei verliert das Andere, das sich als Sein manifestiert, seine Andersheit.«14 Denn die abendländische Philosophie hat ein Entsetzen (»horreur«15) vor der Andersheit des Anderen und ist bestrebt, sie zu tilgen, z.B. indem sie wie Schütz die Selbstheit des Anderen hervorkehrt, d.h. die Andersheit in Selbstheit auflöst: eine Empfindlichkeit, eine »Allergie« also.16 Dieses Subjekt der Autonomie der klassischen Philosophie findet in der Welt allgemein, in der sozialen Welt im besonderen, nichts als sich selbst. Die Welt ist vernünftig, befand Hegel, weil die auf sie zugreifende Vernunft es so will, bzw. es gar nicht anders denken kann.
7.5 K OMMUNIKATIONSSTÖRUNGEN Frage ist: Ist das so? Gibt es im kommunikativen Text eine prästabilierte Harmonie? Oder sind auch hier Kommunikationsstörungen und Mißverstehen normal? Und letzteres nicht nur, weil es Leute gibt, die sich darauf verstehen, sich unverständlich zu machen. Ronald D. Laing diagnostizierte gesamtgesellschaftlich praktizierte Kommunikationsstörungen, die den schwächeren Teil der Gesellschaft in die Psychiatrie treibt: »Ein heute [1967!] in Großbritannien geborenes Kind hat eine zehnmal größere Chance, in eine ›Heilanstalt‹ zu kommen als auf eine Universität.«17 Diese erzieherische Psychiatrisierung wird dann dem betroffenen Subjekt als dessen individuelle Krankheit zugerechnet, nicht aber der Medialität des kommunikativen Textes, d.h.
11 12 13 14 15 16 17
l. c., p. 229. E. Lévinas: Die Spur des Anderen. In: ders.: Die Spur des Anderen. Freiburg, München 1983, p. 209-235. l. c., p. 209. l. c., p. 211. ders.: La trace de l‘Autre. In: Tijdschrift voor Filosofie 25 (1963), p. 605-623, hier p. 606. ders.: Die Spur des Anderen, p. 211. R. D. Laing: Phänomenologie der Erfahrung. 7. Aufl. Frankfurt a. M. 1975, p. 94.
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dem Sozialen, inklusive kommunikativer Dysfunktionalitäten. Die Objektivierung des Kranken setzt sich in dem kommunikativen Text innerhalb der Heilanstalten fort: »Die Tatsache, daß der Psychiater keinen Kontakt mit dem Patienten hat, beweist, daß etwas mit dem Patienten nicht stimmt – nicht aber, daß etwas mit dem Psychiater nicht stimmt.«18 Der psychisch Kranke wird zum ausgeschlossenen Dritten des Sozialen. Da die Kommunikation mit ihm (d.h. als Selbst oder als Anderer) nicht gelingt, wird er zum Objekt erklärt, über das die Therapeuten sich beraten und wahrscheinlich verständigen können. Genau diese Objektivierung wirkt auf den als psychisch krank Ausgeschlossenen zurück, er wird sich selbst zum Objekt, zunehmend unfähig, die Funktionspositionen im kommunikativen Text noch einnehmen zu können, er wird, wie Laing sagt, »in die Rolle des Patienten gesteckt«19. Eklatanter Fall, der in der Öffentlichkeit in Deutschland breit diskutiert wurde, ist der Patient Gustl Mollath. Laing stellte auch eine Selbstpsychiatrisierung, nämlich als ein Schizophrener, in etlichen Fällen als eine Reaktion auf die unerträgliche Kommunikationssituation in der psychiatrischen Anstalt, in Rechnung. Man wird diese Kommunikationssituation nicht nur als krankmachend, sondern als selbst sozial »krank« bezeichnen müssen. Fazit: »Die Verrücktheit unserer Patienten ist ein Artefakt der Destruktion von uns [gemeint hier: der Psychiater] an ihnen und von ihnen an sich selbst.«20 Auf der anderen Seite erscheint die »Verrücktheit« (das Sich-Verrücken) des Patienten auch als eine Vermeidung einer kränkenden, krankmachenden »Normalität«. Der Ver-rückte bringt sich auf diese Weise in Sicherheit.21 Seine Flucht erbringt dem Subjekt kurzfristig ein Über-Leben. Aber da es keine Lösung, keine Auflösung solcher »Normalität« ist, wird das Subjekt sich selbst zum Erleidenden (Patienten) erklären und daher einen Therapeuten aufsuchen. Die therapeutische Situation, in die sich dieser Patient freiwillig begibt, bietet ihm aus seiner Sicht zunächst nur eine Normalitäts-Fiktion einer gelingenden Kommunikation. Ist aber der Therapeut ein Psychoanalytiker, dann wird er diese Fiktion als Selbst-Täuschung (eine der Funktionsposition des Selbst inhärierenden Täuschung im analytisch praktizierten kommunikativen Text) nicht zulassen dürfen. Diese Zensur im Text der Psychoanalyse zeigt diese als Kommunikation nicht nur unvermeidlicher Asymmetrie, sondern darüber hinaus konstitutiver Ungleichheit, weil sie den Wechsel der Funktionspositionen zwar generell zuläßt und vorsieht, aber die Textanschlüsse des Analytikers nicht am Gesagten des Patienten anschließen, sondern am Ungesagten. Systematisch ignorieren sie das Gesagte und seine potentielle sachliche Richtigkeit und pochen auf die
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l. c., p. 98. l. c., p. 100. l. c., p. 133. Als Thoreau, der seine Steuern (zur Finanzierung des Kriegs gegen Mexiko) nicht bezahlt hatte, im Gefängnis saß und Besuch von Emerson bekam, da fragte ihn dieser: Was machst du hier drin?, und Thoreau antwortete mit der Gegenfrage: Was machst du da draußen? Wer von beiden war »normal«?
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existentielle Wahrheit des im Gesagten Un- bzw. nur Mit-Gesagten.22 Implizit sagt der Analytiker nicht ›Oh ja, ich verstehe dich nur zu gut‹, sondern: ›Da weißt ja gar nicht, was du da sagst; laß es uns interpretieren und analysieren.‹ Ein sich entwickelndes System, hier also ein psychisches System hat »Erinnerung« an die vergangenen Kommunikationsstörungen; es kommt in der Analyse darauf an, diese »Erinnerungen« zu Erinnerungen zu machen, d.h. wie Lacan sagt,23 den Teil des Textes, der sich dem Subjekt entzieht, wieder verfügbar zu machen. Oder noch anders gesagt: den Subtext zum Text zu erheben. Angewandt auf die historische Forschung ergibt sich aus dieser Perspektive ein besonderes Augenmerk auf die Verfolgungen der Häretiker. Der »Schrei« des Leids muß in den Text überführt werden, damit er überhaupt im Sozialen ankommt, d.h. aber, daß er Erinnerung und einen Adressaten bekommt und in einem Diskurs als Textform anschließbar wird. Wäre der »Schrei« nur ein terroristischer Gewaltakt, dann wäre er als solcher nicht in den Text integrierbar, bzw. an ihn anschließbar. Wenn also Gertrud Brücher sagt »Der Terrorist macht einen konstitutiv der Sicht entzogenen Menschen wieder sichtbar«,24 so ist eben solche Sichtbarkeit zu wenig; denn den leidenden Menschen wird in diesem Akt nur der sehen, der diesen Textdurchbruch der Gewalt als Symptom der Unsichtbarkeit zu interpretieren und damit an den kommunikativen Text anzuschließen weiß. Auf den strukturell ähnlichen Umstand weist im Hinblick auf bildgebende Verfahren der neueren Medizin Jan M. Broekman hin. Die Bilder anstelle der Texte scheinen nun zum »Träger der Wahrheit« aufgerückt zu sein. Broekman bemüht sich, die darin versteckte Überzeugung vom Selbst-Reden der Bilder erkenntnistheoretisch zu destruieren. Kranksein könnte man aufgrund dieser Überzeugungen nur in einem medizinischen Diskurs, der seine entscheidenden Kriterien nicht mehr aus dem Text (zwischen Patient und Arzt, z.B. im anamnetischen Gespräch) bezieht, sondern aus den von den bildgebenden Techniken gelieferten Bildern. Noch radikaler als der Psychoanalytiker, der dem wörtlich Gesagten nicht vertraut, sondern dahinter etwas ganz anderes vermutet, setzt dieser moderne Mediziner der Rede des Patienten die klare Auskunft der Apparate entgegen. Auf den Bildern liest man seine Krankheit »objektiv«, weil technisch produziert, der Patient mag sagen, was er will. Aber das Bild verschleiert, qua Technik, seinen Ursprung. Tendenziell ist es nun so, daß der Patient, der über lokalisierbare Schmerzen klagt, zu immer neuen Apparaten und ihren Bildern oder ratlos nach Hause geschickt wird; denn er hat offenbar nichts, jedenfalls nichts, was sich durch technische Sichtbarkeit aufweisen und beweisen ließe.25 Aber Subjekt war der Patient nur in seiner 22 23 24 25
Zur Unterscheidung von Wahrheit und Richtigkeit s. M. Heidegger: Grundfragen der Philosophie. Gesamtausg. Bd. 45. Frankfurt a. M. 1984, p. 15f. J. Lacan: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse. In: ders.: Schriften I. Olten 1973, p. 71-168, hier p. 97. G. Brücher: Postmoderner Terrorismus. Opladen 2004, p. 215. J. M. Broekman: Schizophrenie und Erkenntnistheorie, unveröff. Ms.
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Klage und als Objekt ein Objekt der Apparate. Der nach Hause geschickte ist kein Subjekt dieses Diskurses mehr. Seine leidende Leiblichkeit zerschellt am der Objektivität des medizinischen Diskurses. Oder aber es wird an einen Spezial-Diskurs verwiesen und überwiesen: er ist ein »Psycho« und sein Leiden ist sein unsichtbares Geheimnis. So bewahrheitet sich, was Jessica Benjamin in die Formel gefaßt hat: »[…] daß das Subjekt eine sprachliche Position und nicht ein Zeichen für die tatsächliche Psyche eines Menschen ist.«26 Das sogenannte »Ich« ist eine grammatische Funktion im Text. Benjamin macht, aufgrund ihrer Praxis als Analytikerin auf eine eben nicht a priori gesicherte Konvergenz zwischen innerem und äußerem Anderen aufmerksam. Wer beispielsweise das Fremde mit großer Selbstgewißheit ablehnt und es nur als Feind oder als eine Bedrohung ansehen kann, der bekommt dann auch ein Problem mit dem Fremden im Inneren des Selbst, dem Unbewußten. Und umgekehrt: Wer mit sich und seiner eigenen Fremdheit im reinen ist, wird den Fremden nicht mehr unbedingt als gefährlich auffassen müssen. Benjamins Ansatz mit ihrer Betonung der Medialität (sie nennt es »Intersubjektivität«) geht darin auch über Freuds Psychoanalyse hinaus, die Balint zu recht eine »Ein-Körper-Psychologie« genannt hat.27 Auf diesen Aspekt richtet auch die hermeneutische Rezeption der Psychoanalyse ihr besonderes Augenmerk, vor allem auch die materialistische Sozialisationstheorie von Alfred Lorenzer. Er schreibt zur psychoanalytischen Methode: »Ein kritisch-hermeneutisches Verfahren, dessen kritische Potenz darauf beruht, daß Psychoanalyse, an den Leidenserfahrungen der Subjekte ansetzend, das System der handlungsbestimmenden, sprachlich kommunizierten Bedeutungen problematisiert, um so defiziente Interaktionsstrukturen zu ermitteln und zu ändern […]«28 Von dem materialistischen Grundsatz ausgehend, Subjektivität sei »voll und ganz auf objektive Bedingungen zurückführbar«29, interpretiert er die psychoanalytische Methode wie zitiert. Dieser Ansatz führt selbstverständlich zu einer Kritik des naturwissenschaftlichen Selbstverständnisses der Psychoanalyse, dem Freud – entgegen der analytischen Praxis als Gespräch, d.h. als Text – in seinen metapsychologischen Darstellungen vielfach noch huldigte.30 26 27 28 29 30
J. Benjamin: Der Schatten des Anderen. Frankfurt a. M. 2002, p. 105. M. Balint: Die Urformen der Liebe und die Technik der Psychoanalyse. Bern, Stuttgart 1966, p. 271. A. Lorenzer: Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie. Frankfurt a. M. 1972, p. 12; cf. ders.: Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Frankfurt a. M. 1970. ders.: Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie, p. 10. Cf. auch J. Habermas: Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik. In: Hermeneutik und Ideologiekritik. Frankfurt a. M. 1971, p. 120-159, bes. p. 136ff.; ders.: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M. 1981, I, p. 43, hier stützt sich Habermas bezeichnenderweise nicht mehr auf die Freud-Kritik der materialistischen Sozialisationstheorie von Lorenzer, sondern auf seine eigenen, vor Lorenzer erschienenen Freud-Interpreationen in J. Habermas: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a. M. 1968, p. 300-332, sowie auf Ricœur.
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Es ist eine inzwischen schon als Trivialität vermarktete Einsicht, daß diejenigen, die über Kommunikation zu schreiben belieben, selbst vermutlich Kommunikationsprobleme haben, ja wohl im Verdacht einer Gestörtheit ihrer kommunikativen Beziehungen stehen. Dieses sei hier unumwunden zugegeben und zugleich als Verdacht zurückgegeben an diejenigen, die eben dieses schreiben. Auch diese sind ja immer einbezogen in das, was sie schreiben. Wir und unsere Kritiker, wir als unsere eigenen Kritiker, schließlich unsere Kritiker als unser anderes Wir – wir sind vermutlich allesamt »gestört«. Die wichtigere Frage aber ist und bleibt: Wer oder was stört unsere Kommunikation? Kehren wir zurück zum Sachverhalt des gestörten Textes. Eine andere Konsequenz neben der Erkrankung der beteiligten Subjekte ist der Zusammenbruch des Textes. Eine mögliche Ursache solchen Zusammenbruchs ist Konsens. Im Konsensfall bleibt nichts zu sagen. Die Asymmetrie des Textes zwischen den Positionen von Selbst und Anderem ist glücklich beseitigt: die Asymmetrie des Textes geht über in eine perfekte Symmetrie des Schweigens. Wenn nichts mehr gesagt und folglich auch nichts mehr gehört wird, werden Selbst und Anderer in ununterscheidbarer Identität der Stummheit zusammengeführt. Ein anderer Fall läßt zwar den Text, seinen Fortgang, nicht zusammenbrechen, aber unendlich leerlaufen. Das geschieht dann, wenn jeder Textanschluß in einem Metatext problematisiert, »hinterfragt« und kritisiert wird. Der Text geht zwar weiter, aber sein Inhalt verschwindet in der Unendlichkeit metareflexiver Bedingungsklärungen von Bedingungen von Bedingungen usw. Metareflexion kann nur dann sinnvoll sein, wenn die Materie extrem konfliktbeladen ist und ein gewaltförmiger Textabbruch droht. Damit ist bereits der dritte Fall des Textzusammenbruchs angesprochen. Ein Sonderfall solchen Gewaltabbruchs (freilich nur unter Bedingungen extrem abgeschlossener dialogischer Texte) liegt, vor, wenn ein Mensch, der zeitweilig die Position des Selbst innehatte, stirbt.31 Ich höre nichts mehr – er hat uns verlassen. Aber auch vice versa: Keiner hört mir mehr zu. In summa: der für gelingende Kommunikation elementare Wechsel der Positionen im asymmetrischen Geflecht ist nicht mehr möglich. Zuvor aber gibt es andere, weniger dramatische schweigende Textabbrüche als Konsens oder Tod. Verschiedentlich ist von einem aktiven, ja bedeutungsvollen Schweigen die Rede. In dieser Weise ist z.B. in der indischen Kultur Schweigen Bedeutungsträger für Gefühle der Sicherheit und der Befreiung.32 In anderer, fast entgegengesetzter Weise bewerten Nietzsche und Heidegger das Schweigen. In »Jenseits von Gut und Böse« heißt es: »Man liebt seine Erkenntniss
31 32
Den Zusammenhang von unendlichem Gerede und seinem Ende im Sterben thematisiert anhand der Sterbeszene des Sokrates: M. Serres: Die fünf Sinne. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1993, p. 111ff. S. N. Ganguly: Culture, Communication and Silence. In: Philosophy and Phenomenological Research 19 (1968/69), p. 182-200, hier p. 195f.
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nicht genug mehr, sobald man sie mittheilt.«33 Also ist das, was man verschweigt, das Wichtigste. Dieses ist eine andere Spielart des aktiven Schweigens, des EtwasVerschweigens, d.h. aus sich ein Geheimnis zu machen, einen möglichen Text im Verborgenen zu belassen. Solch ein Schweigen ist etwas anderes als Stummheit, d.h. nie etwas gesagt zu haben. Nur im Text ereignet sich dieses Schweigen. Auf den Hörenden, d.h. den Anderen, mag dieses schweigende Abbrechen der Rede bedrückend wirken. Im »Zarathustra« heißt es dazu: »Drauf schwieg der Zwerg; und das währte lange. Sein Schweigen aber drückte mich; und solchermaassen zu Zwein ist man wahrlich einsamer als zu Einem!«34 Der Andere könnte angesichts dieses aktiven Schweigens die Gelegenheit und d.h. das Wort ergreifen und so die fundamentale Asymmetrie umkehren. Tut er es aber nicht, sondern schweigt nun auch er, dann ist in diesem Verzicht sein Schweigen ebenfalls ein aktives Schweigen, weil er vielleicht weiß oder ahnt, daß sein eigenes Schweigen unter diesen Umständen die Bedingung der Gleichheit ist. Dann gilt das, was im Zarathustra wenig später zu finden ist: »Wir reden nicht zu einander, weil wir zu vieles wissen –: wir schweigen uns an, wir lächeln uns unser Wissen zu.«35 Gemeinsames Wissen aktiv verschweigend, ist das nicht der Konsens am Ende aller Kommunikation? Nein, denn der Text des »Zarathustra« geht weiter, und vor allem: er redet über dieses Ereignis des lächelnden Einverständnisses. An die Stelle des Redens trat nun das »Tanzen«, sagt die tanzende Rede des Textes. Aber diese tanzende Rede des »Zarathustra«-Textes von Nietzsche öffnet sich selbst für ein Schweigen zwischen den Zeilen, also ein subtextuelles Schweigen. Denn lesen wir weiter, so finden wir folgende entscheidende Passage: »Lernte ich wohl von ihm das lange lichte Schweigen? Oder lernte er’s von mir? Oder hat ein Jeder von uns es selbst erfunden? | Aller guten Dinge Ursprung ist tausendfältig, – alle guten muthwilligen Dinge springen vor Lust in’s Dasein: wie sollten sie das immer nur – Ein Mal thun! | Ein gutes muthwilliges Ding ist auch das lange Schweigen und gleich dem Winter-Himmel blicken aus lichtem rundäugichten Antlitze: – | – gleich ihm seine Sonne verschweigen und seinen unbeugsamen Sonnen-Willen: wahrlich diese Kunst und diesen Winter-Muthwillen lernte ich gut!«36
Heidegger in seinem Nietzsche-Buch I, hier freilich gemünzt auf die Wiederkunftslehre und ihr seltenes Vorkommen im Werk Nietzsches, sagt, genau passend zu un-
33 34 35 36
F. Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari. München, Berlin, New York 1980, V, p. 100. l. c. IV, p. 198. l. c., p. 207. l. c., p. 219f.
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serer Interpretation subtextuellen Schweigens im Text: »Dieses Wenige an Mitteilung kommt einem Verschweigen gleich; es ist erst das rechte Verschweigen; denn wer völlig schweigt, verrät gerade sein Schweigen; wer aber in der verhüllenden Mitteilung spärlich spricht, der verschweigt erst, daß eigentlich geschwiegen wird.«37 Bei Heidegger findet sich aber eine weitere Aufnahme des Gedankens des aktiven Schweigens bis hin zur Postulierung einer Schweigelehre, einer Sigetik. Das griechische Verbum sigân wird sowohl transitiv wie intransitiv verwendet, entspricht also den deutschen Wörtern »verschweigen« und »schweigen«. Warum nun kommt der Schweigelehre/Sigetik bei Heidegger eine solch besondere Bedeutung zu? … und doch auch wieder nicht, weil sie zu den irrigen Annahme verleitet, sie wäre eine Doktrin und Technik wie etwa die Logik, nämlich etwas »Richtiges« (nur in Anwendung dieser Techniken) zu erreichen. Das »tiefste Wesen der Sprache« hat seinen Ursprung im Schweigen. Wie das? Denkerisches Sagen sagt nicht das »Seyn«; das Seyn läßt sich nicht so einfach sagen – aber, da liegt Heideggers eigentliche Pointe, es läßt sich auch nicht einfach »verschweigen«, »sondern es so zu sagen, daß es im Nichtsagen gerade genannt wird. Das Sagen als Erschweigen.«38 Dieses Erschweigen stellt sich dem Problem, daß das Seyn nicht unmittelbar gesagt werden kann. Und zwar: »Denn jede Sage kommt aus dem Seyn her und spricht aus seiner Wahrheit.«39 Ihren Ur-Sprung kann sie nicht in eine Objektivität heischende Aussage fassen. Denn den Ursprung der Sprache zu erforschen, heißt zugleich, das Seiende zu sagen/auszusagen und das Seyn, aus dem heraus das Sagen ermöglicht wird, zu erschweigen, aber, wie gesagt, nicht etwa nichts zu sagen, sondern im Sagen dessen Ursprung im Seyn zugleich zu erschweigen. Insofern gibt es die Sigetik eigentlich gar nicht, das Wort dient nur zur Markierung des im Sagen Ungesagten. Wenn Heidegger in seiner Vorlesung von 1934 Logik bestimmt als »Frage nach dem Wesen der Sprache«40, dann ist durch diese Bestimmung ausgeschlossen, Sigetik als A-Logik zu begreifen oder als Irrationales, also etwas, was der Logik verborgen bleibt. Die Erschweigung, weil sie »aus dem wesenden Ursprung der Sprache selbst« sich ergibt, umfaßt auch noch die Logik. Die Sprache spricht (nicht das Innere eines Sprechers), aber es bleibt dann ungeklärt, was die Sprache sprechen läßt. Man sage nicht mit den Vulgäranthropologen, dann müsse das doch wohl »der« Mensch sein, bzw. sein Denken und Meinen, das ihn und sie sprechen läßt. Eigentlich, so wird man mit Heidegger sagen müssen, ist es die dichterische Sprache mehr noch als die denkerische, durch die das Seyn sich er-eignet, d.h. im Gegenwärtigen die Fuge öffnet, den Abgrund in der Mitte zwischen dem Gewesenen und dem Kommenden sich 37 38 39 40
M. Heidegger: Gesamtausgabe VI.1. Frankfurt a. M. 1996, p. 235; cf auch St. Stelzer: Der Zug der Zeit. Meisenheim 1979, p. 86. M. Heidegger: Gesamtausgabe XLIV, p. 233. l. c. LXV, p. 79. l. c. XXXVIII.
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öffnen läßt. Dichterisches Sprechen benennt nicht ihm gegenwärtige Sachverhalte in ihrer sich aufdrängenden Fraglosigkeit, sondern öffnet – er-schweigend – das Ereignis des Seyns. In den »Beiträgen zur Philosophie« gibt es eingangs noch andere Bestimmungen des Erschweigens. Grundsätzlich aber ist immer die Frage »Welches Sagen leistet das Verschweigen?«41 Hier wird das Verschweigen mit dem Fragen verkoppelt, mit einem Fragen, das nicht schnelle Antworten erheischt, sondern das das Fraglose (die »Seinsverlassenheit«) aufbricht zu einem Spalt, zu einem »Sprung in das Zwischen«.42 Die Eröffnung auf die Grundfrage charakterisiert das Erschweigen. Insofern ist nicht die Ausrichtung auf eine Antwort der Stil dieses erschweigenden Fragens, sondern eine »Verhaltenheit« als eine Grund-Gestimmtheit. Das Suchen in diesem eröffnenden Fragen »liebt den Abgrund«. Und worum geht es in dieser abgründigen Grundfrage? Immer geht es darum: »Erschweigen der Wahrheit des Seyns durch den Gang des Fragens.«43 Versuchen wir, von diesem Denken des Erschweigens des Ereignisses des Seyns zurückzukommen zur Sozialontologie des medialen Textes, so müssen wir den Text selbst als Prozeß-Ort des Schweigens verstehen lernen, und zwar nicht in der Form des abrupten Abbruchs und der Nichtanschließbarkeit, und auch nicht interlinear als Schweigen zwischen den Zeilen. Sondern der Text ist – nein: kann sein – der Ort, an dem sich der Abgrund des Schweigens auftut. Wenn das geschieht, sozusagen ein Vulkanismus des Textes, durch den sich die tektonischen Platten des Diskurse voneinander entfernen und Unsagbares dem Erschweigen überantwortet wird, dann hilft Metaphorik nicht weiter; denn dann müssen ganz neue Wörter gefunden werden oder den alten sagenden Wörtern ganz neue Bedeutungen erschweigend erschlossen werden, was ja Heidegger unentwegt zu tun gezwungen ist. Noch einmal: wenn das geschieht, dann bewegen sich auch die Positionen von Selbst und Anderem voneinander weg. Sie reden nicht mehr und hören nicht mehr, sondern sind im Schweigen in unendlicher Distanz miteinander fest verbunden wie in jener oben angeführten Szene des »Zarathustra«. Wenn sich die temporalen, sozialen und diskursiven Positionen des Textes voneiander entfernen, dann fallen nicht nur Nähe und Distanz der jeweiligen Positionen zusammen, das Nächste wird das Fernste, das Fernste das Nächste, sondern der Text eskamotiert den Widerspruch. Der Text wird zum Text der Einheit und Einzigkeit. Alle Nomokraten lieben diesen Aspekt; sie reden dann von der »Einheit der Vernunft
41 42 43
l. c. LXV, p. 11-20. Zum Begriff des Zwischen in »Sein und Zeit« s. E. Cioflec: Der Begriff des »Zwischen« bei Martin Heidegger. Freiburg, München 2012. M. Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Gesamtausg LXV, p. 19.
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in der Vielheit ihrer Stimmen«44 und von der alle verbindenden, weil auf dieser einheitlichen Grundlage basierenden »Menschenrechte« und deren transkulturell-einheitlicher und unzeitlicher Geltung. Für sie gilt der Widerspruch in allen drei Dimensionen des kommunikativen Textes als dessen Defizit. Diesem Einheitszwang opponiert (»widerspricht«) eine theoretische Inanspruchnahme psychoanalytischer Aspekte, die auf der Somatizität der Besetzungen der Positionen des inneren Anderen besteht und diese Somatizität ausstrahlen sieht auf Zeit und Sinn. Das ist beispielsweise der Ansatzpunmkt der psychoanalytisch inspirierten Text-Theorie von Julia Kristeva. Mit Rückgriff auf Freud will sie »der logischen Dialektik eine materialistische Grundlage verschaffen (eine Theorie der Bedeutung, die vom Subjekt, seiner Entstehung und seiner Dialektik von Körper, Sprache und Gesellschaft ausgeht.)«.45 Der Prozeß der Sinngebung soll aus diesen somatischen Tiefen verständlich gemacht werden. Sie will das an drei Aspekten festmachen und untersuchen: •
•
•
Alle Veränderung der Sprache (bei uns: des Diskursiven) sei eine Veränderung der »Stellung des Subjekts«, d.h. auch seiner Körperlichkeit, seiner Beziehung zum Anderen und zu den Signifikaten; die Grenzen der Integrationsfähigkeit des kapitalistischen Systems und seiner Normalisierung hinsichtlich des »Wunderbaren« und heute: der Schizophrenen (bei uns: des Fremden); die Sinnverschiebungen bei integrativen Prozessen und die damit verbundenen Fragmentarisierungen: z.B. Magie, Karnevaleskes und »unverständliche« Poesie.46
Die Quintessenz Kristevas ist letztlich, daß die psychoanalytische Kur aus dem immanenten Widerspruch (des Subjekts) den von Sprache und Begehren mache.47 Aber das ist eine theoretisch unbefriedigende Lösung; denn es ist ja – in unserer Sicht – der kommunikative Text, der beides schon immer enthält, m.a.W. wir haben noch keinen Lösungsvorschlag zum Problem des Widerspruchs vorliegen. Offenbar hilft der Rekurs auf den Körper nicht weiter, als unbekannter Körper geschieht er, als bekannter ist er ein Textphänomen (früher sagte man auch: ein Bewußtseinsphänomen). Setzen wir dagegen formaler an, dann hat man zwei Sorten von Widersprüchen auseinanderzuhalten: den Widerspruch des Entweder/Oder und den Widerspruch des »Tertium non datur« (den analogen Widerspruch oder das Widersprechen als Prozeßsegment). Auch das steht beides nicht in einem digitalisierten
44 45 46 47
J. Habermas: Die Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen. In: Einheit und Vielheit, hrsg. v. O. Marquard, P. Probst u. F. J. Wetz. Hamburg1990. p. 11-35. J. Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt a. M. 1978, p. 28. l. c., p. 29f. l. c., p. 177.
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Widerspruch, sondern im Vollzug kann die Unterscheidung zu einer gründenden Differenz gesteigert werden – kann, muß aber nicht, obwohl es auch sein kann (aber nicht muß), daß diese Steigerung aufgrund systematischer Eigenschaften der Bezüge in den Dimensionen des kommunikativen Textes geschehen muß. So kann beispielsweise das Nichts als absoluter Widerspruch zur Totalität des Seienden begriffen werden, es kann aber auch als permanente Begleiterscheinung des Seyns in jeglichem Ereignis auftreten. Insofern ist das Nichts dann nicht die leere Menge, sondern eher die Menge aller Mengen, die bekanntlich den Widerspruch erzeugt, daß sie sich selbst sowohl enthalten muß als auch nicht enthalten darf. Dieses Nichts ist folglich nicht ein leerer Ort, sondern die Negation jeglichen Ortes. Es hat nicht etwa kein Zuhause, sondern, da es überall zuhause sein kann, ist sein Nomadismus die Negation, die jedem Zuhausesein verborgen innewohnt. Es manifestiert die Paradoxie jeder Grenzziehung. Mit dieser Paradoxie ist kommunikativ so umzugehen, daß man sich nicht auf die eine oder die andere Seite schlägt und dann die jeweils andere ablehnt und negiert, sondern indem man die Grenze unterwandert oder umspielt. Daher muß man sich auch hüten vor der Ablehnung der Ablehnung, die sie nur reproduzieren würde. (Analog der paradoxen Maxime: Gegen Gewalt hilft nur präventive oder Gegen-Gewalt.) Mit der Ablehnung muß man spielen, sie parodieren und damit auch affirmieren. Solch eine Affirmation affirmiert zugleich das Affirmierte wie auch das Negierte. Man kann darin Ähnlichkeiten zum Schizophrenen sehen, der die Ablehnung behandeln kann, als wäre sie keine, als könne man ihr zustimmen, was dann die Psychopathologie diagnostiziert als Unfähigkeit, angemessene Abgrenzungen zu vollziehen.48 Ist diese Durchbrechung der durchdigitalisierten Ordnung von ihren Grenzen her eigentlich verrückt oder nicht vielmehr die Umgebungs- und Grenz-Verrücktheit verrückend? In dieser Problematisierung zweier Formen von Widersprüchen begegnen wir der Möglichkeit, daß aller Widerspruch Effekt eines Widersprechens ist, und damit der Tatsache, daß der Widerspruch nicht nur zwei unvereinbare Aussagen enthält, sondern immer zugleich auch einen im Text widersprechenden Anderen, d.h. einen, der von der Position des Anderen zu der des Selbst wechselt, und ebenfalls eine temporale Differenz, der eine Erwartung in eine Erfahrung überführt.
48
N. Cameron: Experimental Analysis of Schizophrenic Thinking. In: Language and Thought in Schizophrenia, ed. J. S. Kasanin. New York 1964, p. 50-63, hier p. 56; K. Goldstein: Methodological Approach to the Study of Schizophrenic Thought Disorder. In: dass., p. 17-39, hier bes. p. 33.
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7.6 D IALEKTIK 7.6.1 Das Nichtphänomen Wenden wir uns nun der Dialektik als solcher und aus ihrer Tradition heraus verstanden zu, so ergibt sich alsbald die leitende Frage, ob Dialektik eine Erkenntnis- bzw. Forschungsmethode sei, oder eine Darstellungsmethode oder aber ein Merkmal der Bewegung der Realität selbst (Realdialektik). Ist sie eine Erkenntnismethode, dann ist sie entweder eine neben anderen und es wäre festzulegen, wann eine dialektische Methode angezeigt ist und wann andere Methoden. Eine geläufige Antwort geht dahin, soziale Erkenntnisse dialektisch zu konfigurieren, Naturerkenntnis aber anders (z.B. positivistisch). Damit wird aber das Problem nicht gelöst, sondern nur verschoben; denn Menschen beziehen sich auch animalisch aufeinander, und wo gibt es denn die reine Natur, die, frei von jedem (sei es auch nur beobachtenden) Eingriff, sich als solche dem Blick der Theorie darböte. Ist aber Dialektik nur eine Darstellungsmethode, dann müßte man begründen, warum man diese wählen sollte und ob man es nicht auch einfacher (ein-facher) sagen könnte. Bleibt die Realdialektik. Oftmals hat man geglaubt, Realdialektik müsse gegründet sein in einer Dialektik der Natur. Insbesondere wenn sich diese Begründung in einer Naturdialektik mit dem von Darwin abgeleiteten Evolutionsgedanken verband, wurde es schwierig, diese Art einer Realdialektik aufrechtzuerhalten und zu verteidigen; denn im Zusammenhang des Sozialdarwinismus trieb diese Spielart der Theorie dann seltsame und heute nur noch als Kuriositäten zu bestaunende Blüten. Im folgenden soll der Gedanke der Realdialektik auf einer anderen Basis verteidigt werden, und zwar als Moment der Bewegung und Selbstorganisation des kommunikativen Textes durch Spruch und Widerspruch von Selbst und Anderem. Wenn aber der kommunikative Text in seinem Fortgang immanent dialektisch ist, dann wird auch seine Beobachtung, Beschreibung und Darstellung in diese Dialektik hineingezogen und bleibt ihr gegenüber nicht transzendent – Dialektik auch als Darstellungsmethode folgt aus der oben geschilderten Rotation der Funktionspositionen des kommunikativen Textes, die vor dem beobachtenden Dritten nicht Halt macht. Mit der Beziehung der Idee der Realdialektik auf den Text als Realität soll nun aber der Begriff der Dialektik nicht trivialisiert werden. Zwar gehen wir aus vom faktischen Widersprechen als der Erscheinungsweise des Widerspruchs im Text, doch beanspruchen wir, den Nachweis der Notwendigkeit und Zwangsläufigkeit des Auftretens solcher Widersprüche zu führen. Dieter Wyss hat den Zusammenhang von Bindung als Identitätsgarant, skeptischer Auflösung und erneuter Bindung als Weg des Denkens bezeichnet und es als »Dialektik« benannt; so erscheint bei ihm Dialektik zwar als »Methode des Denkens«; da sich dieses Denken aber in »verbindlichen Urteilen« einerseits und dem
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»Infrage-Stellen«, und zwar »im sozialen und zwischenmenschlichen Bereich«, andererseits manifestiert, ist dieses »Denken« auch bei ihm in Kommunikation gegründet: »Damit wird ein Gemeinsamkeit umschließendes Thema gestiftet […]«49 Roland Barthes dagegen hat diese Spannung als diejenigen von Beständigkeit und Sturz bezeichnet und sie als »wandelnden Widerspruch« benannt, d.h. im Text ist das Subjekt »gespalten«;50 wir würden sagen: sowohl als Selbst wie auch als Anderer begegnet es im Text, und diese Bewegung des gespaltenen Subjekts macht die Dialektik im Text aus.51 Dieses vorausgesetzt, beginnen wir unsere Überlegungen mit der Reflexion darüber, wie die Erscheinung eines Nichtphänomens im Text möglich wird. Bezieht man Phänomenalität statt als Signifikatum eines Textes auf den Inhalt eines sogenannten Bewußtseins, dann steht Phänomenalität – sei es nun im Bewußtsein, sei es im Text – immer vor dem Hintergrund anderer Möglichkeiten, die im jeweiligen Vollzug negiert werden, und zwar sowohl im Daß als auch im Wie. Die in der Negation anderer Möglichkeiten gezogenen Grenzen machen aus Möglichkeiten Unmöglichkeiten; im Prozeß der Kommunikation jedoch stehen diese Grenzen stets zur Disposition und können, wenigstens minimal flexible Diskurse vorausgesetzt, überschritten werden. Selbst Verfassungstexte, die durch Unveränderlichkeit die Stabilität und Verläßlichkeit einer Rechtsordnung garantieren sollen, können und müssen durch Verfassungsgerichts-Urteile interpretierend angepaßt werden.52 Der »Text des Menschen« ist nicht gegeben oder vorgegeben, sondern muß immer wieder, auch in Versuchen seiner Rekonstruktion, erneut hergestellt werden, und stets treten neue, bislang unbekannte Varianten dieses Textes auf. Mit anderen Worten, die Genese »des Menschen« ist nicht beendet, der Text seiner Genese wird unendlich fortgeschrieben und kann daher nicht als Resultat in einen Verwertungsprozeß eingebracht werden. Bereits in jeder »unmotivierten« Handlungsentscheidung wird das in dem Text der Genese Gegebene überschritten. Jeder Text, der der subversiven »Logik der Lust« der Macht und seiner eigenen regellosen Entfaltung auch nur geringfügig folgt, der sich verführen läßt und Abwege einschlägt, widerspricht; er widerspricht nicht nur dem Anderen, sondern auch dem Selbst – widerspricht sich selbst. Andernfalls wäre er nichts anderes als die Exekution der Regeln der Ordnung der Sprache und der Diskurse. Daraus folgt, daß wir – wenn wir die Erscheinung des Nichtphänomens im Text (bzw. als Inhalt eines Bewußtseins) registrieren wollen –
49 50 51 52
D. Wyss: Mitteilung und Antwort. Göttingen 1976, p. 116f. Cf. A. Rimbaud: Prosa über die Zukunft der Dichtung. Berlin 2010, p. 21: »Ich ist ein anderer« (Brief an Georges Izambard vom 13.5.1871). R. Barthes: Die Lust am Text. Frankfurt a. M. 1980, p. 31. Zu einem formalen Begriff von Verfassung s. A. Badiou: Das Sein und das Ereignis. Berlin 2005, p. 118: »Durch die Verfassung wird die strukturierte Präsentation mit einem fiktiven Sein ausgestattet, das die Gefahr der Leere scheinbar bannt [...]«
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mit liebevoller Aufmerksamkeit den Widersprüchen, den Inkonsistenzen, den Brüchen und Schwächen, den Paradoxien des Textes als Spuren folgen müssen. Hier, wenn irgendwo, werden sich Andeutungen des verschwiegenen Nichtphänomens finden lassen. 7.6.2 Texte im Exil Die Artikulation des Widerspruchs stellt die Machtfrage. Daher kann es vorkommen, daß der herrschende Diskurs gegenmächtig gegen das Widersprechen immunisiert wird, das heißt aber auch, daß er seine eigenen Widersprüche aus sich ausgrenzt. Auf Kosten selbst der »Wahrheit« bzw. des Wahrheitsanspruchs sieht der Diskurs dann nur noch konsistente Theorien vor, insbesondere für den normativen Aspekt des Diskurses ist das naheliegend. Es ist die Immunisierung gegen das Böse. Paradoxerweise gibt es auch das Gegenteil, eine Immunisierung gegen das Gute einer Moral, dann nämlich wenn das Normative einen Einspruch gegen diejenigen Aspekte des Epistemischen erhebt, die mit dem technischen Fortschritt koalieren. 53 Über Rationalitätsstandards, die angeblich objektiv gelten, wird Diskurspartizipation moralisch geregelt, sie wirkt wie eine Zensur von Text. Wer nicht das Richtige sagt, soll besser gar nichts sagen, d.h. im kommunikativen Text wird ihm die Position des Selbst verweigert. Dabei geht es (fast) nie um Personen, sondern um zugelassene oder nicht zugelassene Argumente, d.h. um Textanschlüsse, bzw. ihre Verweigerung und Negation. Genau diesen zugespitzten, aber für Diskurse (auf dem »sicheren Weg einer Wissenschaft«, Kant) normalen Fall, in dem Widersprüche »gelöst«, d.h. vertrieben werden müssen, wollen wir im folgenden betrachten. Der Effekt der Vertreibung ist, daß jeder wissenschaftlich disziplinierte Diskurs sein Exil hat, in den er den Widerspruch als seine Irrationalität verbannt. Romantik gar ist ein Sammelexil für mehrere erfolgreiche Wissenschaften. Jeder faktisch in der Wissenschaft auftretende Widerspruch, der »gelöst« wird, ist Symptom-für das Andere des Diskurses, was immer er inhaltlich außerdem noch besagen mag. Nicht die spezifische Inhaltlichkeit der Antithese, sondern die gemeinsame Sphäre von These und Antithese macht die Domäne dessen aus, was vom Erscheinen durch das Rationalitätskriterium ausgeschlossen ist und wofür der Widerspruch nur Symptom ist. Wenn das Symptom noch als Symptom aufgefaßt werden kann und nicht machtvoll exiliert wurde, dann ist es die Erfahrung des Noch-Nicht eines zukünftig möglichen Phänomens, Symptom eines Nichtphänomens im Diesseits. In den kontingent fixierten Grenzen eines Textes, d.h. im Spiel-
53
Was das für die Embryonenforschung bedeutet, beleuchtet G. Brücher: Menschenmaterial. Opladen 2004, p. 181-197, oder für die Immunisierung der Ideologie des Wachstums um jeden Preis gegenüber einer einsprechenden Kritik dies.: Postmoderner Terrorismus. Opladen 2004, p. 197-203.
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raum eines Diskurses, kann es mehr als eine symptomatische Erfahrung nicht werden. Das sogenannte vorbehaltlose Verstehen des Anderen enthüllt sich unter diesen Umständen als illusionär; denn das Verstehen fixiert das/den Andere/n in seinem Verstandenwerden, z.B. jemanden als Terroristen, als Kinder, als exotische Wilde, als Frauen oder als Verrückte zu verstehen, verandern wir sie zu dem, was sie sind: Kinder sind eben Kinder. So können wir festhalten: Es gibt Strategien der Exilierung des Widerspruchs, der Entdialektisierung der Texte. Exemplare solch widerspruchsbefreiten kommunikativen Textes sind pathologisch-monologisch, autistisch. Sie virtualisieren die Position des Anderen. Ist aber – der Normalfall – der Andere im Text präsent, so wird der Text wahrscheinlich dialektisch oder rhetorisch sein. Der exilierte Andere aber wird zum Fremden, entsprechend wird das monologische Selbst eigentümlich banal, es redet nur noch für sich selbst, weil ihm der Andere abhanden gekommen ist, es unternimmt wie der Rousseau der »Rêveries« den Versuch, das Leiden seiner selbstverschuldeten und selbstgewählten Einsamkeit zu genießen. Wie ein Gewebe ohne Schuß eben kein Gewebe, sondern ein bloßer Faden ist, mag er sich noch so sehr winden, so ist auch ein Text ohne den Anderen gar kein Text, sondern bestenfalls eine Wörter- und Satzreihe. Was nun aber der Fremde im Exil in sich selbst ist, das wissen die Gadschos nicht. (»Gadscho« ist das Zigeuner-Wort für Nichtzigeuner und bedeutet eigentlich: die Zurückgebliebenen, sowohl im wörtlichen Sinne: die nicht mitgezogen sind, wie auch im übertragenen Sinne: die geistig nicht mitkommen.) Die Gadschos erfahren erst, was die Fremden sind, wenn die Fremden in die Welt des Eigenen einbrechen. Der Durchbruch in die oder in der Ordnung hat zwei wesentliche Formen: 1) Leiden und Sterben; 2) sexuelle Lust. Beiden Formen gegenüber ist der rationale Diskurs hilflos: Gegen Leiden und Sterben wird der Kampf der Medizin aufgebracht, punktuell erfolgreich, letzten Endes aber immer erfolglos; gegen die sexuelle Lust werden einerseits die Moral ins Spiel gebracht, andererseits die wissenschaftliche Sexualforschung, deren Resultate allemal entstimulierend wirken (sollen).54 Texte, die dem Leiden und Sterben oder der sexuellen Lust das Wort geben, sind demnach ein Skandal für den jeweils herrschenden Diskurs.55 Philosophie, unter den Wissenschaften wahrscheinlich die anfälligste für die Transzendenz der Diskurse, speziell das romantische Philosophieren, nähert sich zuweilen der Poesie und dem »Karneval« an, sie erfährt an sich selbst die expansive Lust des reinen Prozesses, der nur sein eigenes Werden ist, oder sie verarbeitet das Leiden im irrationalen Aufschrei und der diffusen
54 55
Am krassesten vielleicht W. H. Masters / V. E. Johnson: Die sexuelle Reaktion. Reinbek 1985. Als Beispiele können dienen die Schriften von Genet, aber auch Maurice Blanchots Roman von 1948: M. Blanchot: Der Allerhöchste. Berlin 2011.
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Intention auf die Befreiung von Leid und der expressiven Gewalt anarchistisch-protorevolutionärer Praxis. Solche expressive Gewalt entwickelt sich u.U. zu bestimmt verändernder revolutionärer Gewalt durch einen Selbstverständigungsprozeß revolutionärer Bewegungen, der andererseits auch beschrieben werden kann als der Prozeß des subversiven Textes (aus dem Exil heraus, oder, was dasselbe ist – unter den gewandelten historischen Bedingungen einer Weltgesellschaft – im Untergrund). Michael Theunissen hat in seinem epochalen Aufsatz von 1974 u.d.T. »Krise Macht«56 die Hegelsche Dialektik genau in dieser Weise gedeutet: der Begriff als die Macht des Übergreifens auf Realität. Und: »Widerspruch, dialektisch verstanden, indiziert die Krise der Macht.«57 Für die andere Seite, also für die Ordnung des Diskurses, ist daher die primäre Erscheinungsweise des Nichtphänomens die bloß destruktive Gewalt (im Sonderfall auch die »Kritik der Waffen«58) Der Begriff der Gewalt meint überhaupt, von den Machthabern der Definitionsmacht aus gesehen, alles das, was die Grenzen (des Bewußtseins, der Rationalität, der Diskurse) von sich aus und auf nicht vorgesehenen Wegen überschreitet. Die erste Begegnung mit dem Nichtphänomen ist also unheimlich; sie wird abgewendet durch Sanktionen des Rechts und im Text der Zensur, also praktisch oder theoriepolitisch. Die wirkliche Erfahrung des Auftauchens des Nichtphänomens, die das Gefühl der Bedrohung durch das Irrationale zurückläßt, ergibt sich erst durch die historische Reflexion auf die Kontingenz der Bestimmtheit der jeweiligen Grenzen des Diskurses. An die Stelle der Symptomatik in der Intersubjektivität tritt die nichtbegriffene Spur des Anderen in der Erinnerungsdimension einer Gegenwart. Anzueignen ist diese Spur im kommunikativen Text, die ohne besonderen Aufwand die Rolle revolutionärer Gewalt im Werden der Gegenwart anerkennt, d.h. die Gewalt als das Geburtstrauma des Rechts und die destruktive Kritik als den Anfang jeder innovativen Theoriebildung, so wird (Wissenschsafts-)Geschichte auch das Durchschauen einer Intrige der Verfangenheit der Gegenwart. 7.6.3 Geschichten Wir kommen nun zum Problem der Geschichte im Rahmen dessen, was oben als Narrativismus von Geschichten als Inhalt eines Erzählens abgeleitet worden war, und inwiefern in diesem Rahmen noch von einem dialektischen Geschichtsverlauf wie ehedem in den totalisierenden Geschichtsphilosophien gesprochen werden kann. Geschichtenerzählen im kommunikativen Text, insofern die Besetzung der Positionen 56 57 58
M. Theunissen: Krise der Macht. In: Hegel-Jb. 1974/75. l. c., p. 318. K. Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: ders.: Werke, Schriften, hrsg. v. H.-J. Lieber. 2. Aufl. Darmstadt 1962, I, p. 488-505, hier p. 497.
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oszilliert, steht unter dem Dilemma eines Zusammens und d.h. einer Differenz von Kontinuität und Diskontinuität im Vollzug. »Die« Geschichte, wechselnd erzählt von (mindestens) Zweien (in Gegenwart des Dritten) ist im Vollzug brüchig und im Inhalt mehrdeutig, was entweder Selbst und Anderem bewußt wird oder vom Dritten beobachtet wird. Aber zugleich ist in dieser Differenz die Mehrdeutigkeit jeglicher Geschichte in der Deutung historischen Materials (der Relikte) jenseits subjektiver Erinnerungsgehalte manifest. In dieser Mehrdeutigkeit ist sie wahrer als eine mit Deutungsallmacht59 ausgestattete monologische Geschichte oder eine Geschichte, die »objektivierend« versucht, es jedem recht zu machen und einen Durchschnitt ohne alle Widersprüche zu erzeugen. Es ist zu erwarten, daß beides mißlingt. W. J. Mommsen hat gezeigt, wie im Fall Treitschkes der Historiker sich gerade dort uns heute unerträglich parteilich präsentiert, wo er ehrlich um Objektivität bemüht ist, während seine offene Parteilichkeit Verständnis abnötigt.60 Gerade die Brüchigkeit des parteinehmenden Textes, nicht der die Differenzen verwischende, vermeintlich objektive Text ist die der Historie angemessene Form. Die Widersprüchlichkeit des historischen Textes hat aber zwei unterschiedliche Erscheinungsformen: a) Widersprüche, die in der Organisation des Materials »bewältigt« werden, und b) aufscheinende Widersprüche. Auf den ersten Fall, wenn er rein ist, brauchen wir an dieser Stelle nicht einzugehen, er ist kein dialektischer Widerspruch, und er ist oben behandelt worden im Zusammenhang der Konstruktion von Kontinuität über Diskontinuitäten. Die zweite Form von Widersprüchen und die Widersprüche zwischen diesen beiden Formen von Widersprüchen, sollen uns hier näher beschäftigen. Halten wir fest: Der historische Diskurs als der semantisch organisierende Ort der Texte des Geschichtenerzählens ist ein Ort der Konflikte. Zugleich ist dieses Konfliktfeld die Spiegelung sozialer Konflikte, die sich in der Praxis des Erzählens mehr oder weniger zwangsläufig ereignen. Und genau dieses Verhältnis, das wir vorläufig als »Spiegelung« bezeichnet haben, ist selbst eine Differenz, die man dialektisch nennen darf, weil sie keine einfache, sondern eine mehrfache Hin- und Herspiegelung ist. Im historischen Text erzählter Geschichten erscheint sie als Doppelheit von erforschendem Textgestus und von erforschtem Textinhalt. Eine Theorie des historischen Diskurses kann daher nur eine dialektische, d.h. Widersprüche prozessierende Theorie sein.61
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K. Röttgers: Eine modaltheoretische Interpretation von Allmacht.- Ersch. demnächst in einem Sammelbd. hrsg. v. Ph. Stoellger. W. J. Mommsen: Objektivität und Parteilichkeit im historiographischen Werk Sybels und Treitschkes. In: Objektivität und Parteilichkeit. München 1977, p. 134-158, hier bes. p. 157. Cf. zu diesem Zusammenhang von Theorie des Diskurses und Dialektik G. Mairet: Le discours et l’historique. O. O. 1974, bes. p. 200-214.
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Es gibt Verfahren der Vertreibung (statt dialektischer Prozessierung) von Widersprüchen. Sie scheinen dort angezeigt, wo die Widersprüche und Konflikte des historischen Diskurses sich in den politischen Praktiken niederzuschlagen drohen. Spätmoderne, »demokratische« Antworten darauf sind vor allem von zweierlei Sorte: einerseits ad-hoc-Befriedung an der partikularen Stelle, wo der Konflikt akut im kommunikativen Text des Sozialen aufbricht, andererseits »Vergessen«, d.h. ignorierendes »Aussitzen« in der berechtigten Hoffnung, daß die akute Partikularität vergeht und man von der Sau, die morgen durchs Dorf getrieben wird, wird sagen können, diese sei eine ganz andere als die von heute. Dem Hinweis, vom historischen Diskurs angebracht und der Verfaßtheit der Widersprüche in ihm, nämlich daß es doch Zusammenhänge gebe, wird man dann mit der ad-hoc-Befriedung antworten, daß natürlich »irgendwie« alles mit allem zusammenhängt, aber man ja nicht alle Probleme auf einmal lösen könne. Man kann sich weigern, sich auf die Ebene der diskursiven, d.h. historischen Allgemeinheiten einzulassen, weil die Tagespolitik kein Bewußtsein für Geschichten zu haben braucht, sondern nur eines für die Jounaille, d.h. die Von-Tag-zu-Tag-Informiertheiten. Es ist die Weigerung, die Ebene diskursiver Konflikte überhaupt anzuerkennen, geschweige denn zu bearbeiten. Parteien, die noch einem Konzept folgen, werden dann von den Ad-hoc-Politikern als „Ideologen“ wahrgenommen und bezeichnet. Wenn Geschichtsforschung auch das Durchschauen einer Intrige ist, dann begibt sie sich mit diesem Wissen in einen Widerspruch zu demjenigen Geschehenszusammenhang, dessen Möglichkeitsbedingung gerade das Undurchschaute war. Das wäre nur ein mögliches Beispiel für einen verallgemeinerbaren Tatbestand eines Widerspruchs zwischen zwei Allgemeinheitsgradansprüchen von Geschichten, d.h. wir haben es hier wiederum mit einer Dialektik von Allgemeinem und Besonderem zu tun. Die darin aufgehobene Partikularität erscheint historisch durchaus in unterschiedlicher Gestalt, was letzten Endes mit der Kontingenz der Besetzung der Positionen von Selbst und Anderem im kommunikativen Text zusammenhängt.62 So ist die dialektische Bewegung des Widerspruchs keine rein logische, weil die Partikularität als eine je besondere, zuweilen sogar private erscheint. Und Privatheit ist ein soziales Produkt. Im politischen Leben der Moderne bereits gab es den Widerspruch zwischen einem Öffentlichkeitsprinzip (Kant, Rousseau, de Sade)63, dem Arkanprinzip feuda-
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Zur Partikularität in diesem Sinne s. instruktiv Ph. Ariès: Le Temps de l’Histoire. Monaco 1954, p. 318ff. Kant erklärte, daß nur, was öffentlich gemacht werden könne, den Anspruch auf Rechtmäßigkeit erheben könne, Rousseau wollte in seinen Bekenntnissen schonungslos seine ganze Seele vor aller Öffentlichkeit entblößen, und de Sade nahm für die Aufklärung in Anspruch, alles zu wissen und alles öffentlich zu sagen.
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ler Politik entgegengesetzt, und der Forderung der Zulassung eines Lebens in Privatheit und mit Geheimnissen (F. Schlegel, Hegel, de Sade)64. In der Spätmoderne werden beide Tendenzen bis zum Exzeß vorangetrieben: einerseits eine extreme Individualisierung mit einer zunehmenden Kontrolle über die Grenzen zwischen Selbst und Anderem, bzw. Eigenem und Fremdem, z.B. die Verweigerung öffentlicher Religionsbekenntnisse, weil das angeblich niemanden etwas angehe, und damit die Verringerung der Gefahr der Verletzlichkeit des sorgsam gepflegten Ich;65 andererseits die totale Überwachung, z.B. durch den NSA, dessen Chef es als seine Dienstpflicht deklariert hat, alles über alle zu wissen, worauf die Überwachten und seelisch Durchleuchteten erklären, sie hätten ja auch gar nichts zu verbergen. So vergrößert sich der Widerspruch in der Spätmoderne immer mehr. Das Private aber ist definiert und definiert sich selbst als das, was zum Allgemeinen und seiner Präsenz und Transparenz sich in einem zugelassenen Widerspruch befindet. Die spätmodernen Demokratien kultivieren scheinbar die Macht des Privaten, indem Wahlen in geheimen, d.h. nicht rechtfertigbaren oder, wenn man so will »irrationalen« Abstimmungen stattfinden. Damit aber auch die Irrationalität des Geheimen und Partikularen sich der Rationalität des Allgemeinen einfügt, sind zahlreiche Reduktionsmechanismen eingebaut, die unter den Begriff der Manipulation zusammengefaßt werden können. Diese bewirken, daß das Allgemeine dem Besonderen als selbst bloß Besonderes vorgestellt wird. Diese Widerspruchsbeseitigung aus Gründen der Aufrechterhaltung der »Rationalität« der Herrschaft erzeugt in der Kritik an ihr das Folgeproblem eines Widerspruchs von Schein und Sein im Herrschaftsapparat selbst; das Besondere aber soll – wenn es glückt – auf Eindimensionalität reduziert sein: es soll sich politisch-historisch als nichts anderes erfahren können als eine Instanz der auferlegten Allgemeinheit selbst. Das macht die Idee einer authentischen Geschichte des Selbst in sich brüchig. Aber nun zu hoffen, daß eine Stärkung der Authentizität diesen Widerspruch beseitigen könnte, ist eine ohnmächtige Illusion. Ohne eine Vermittlung im Text ist das »reine« Leben nichtig. Oder, wie Gerhard Gamm es treffend ausgedrückt hat: »Für Lebewesen unserer Statur bedeutet
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Zur Funktion des Geheimnisses bei diesen drei Autoren s. K. Röttgers: Hegels Geheimnis.-In: Schweigen und Geheimnis, hrsg. v. K. Röttgers u. M. Schmitz-Emans. Essen 2002, p. 17-46. Zum Gesamtzusammenhang von Privatheit und Kontrolle s. M. L. Goldschmidt: Publicity, Privacy and Secrecy. In: Western Political Quarterly 7 (1954), p. 401-416, bes. p. 401-411; S. Sontag: The Aesthetics of Silence. In: Styles of Radical Will, hrsg. v. Farrar, Straus u. Giroux. New York 1966, p. 3-34, bes. p. 20f.; St. T. Margulis: Conceptions of Privacy: Current Status and Next Steps. In: Journal of Social Issues 33 (1977), p. 5-51, bes. p. 12f.; L. Kruse: Privatheit als Problem und Gegenstand der Psychologie. München 1980; R. Whitaker: Das Ende der Privatheit. München 1999.
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Leben immer auch, es simulieren zu müssen, nur im Schein zeugt es vom Sein. Daher zeigt uns nicht die Natur, wer oder was wir sind, sondern die Kunst.«66 Zwischen den Widersprüchen der allgemeinen Geschichte (der Geschichte des Allgemeinen) und den besonderen Geschichten unter dem Diktat der Allgemeinheit bauen sich eigene Widersprüche auf, gerade deswegen weil, streng genommen, die allgemeine Geschichte niemandes Geschichte ist, und jeder daher zur allgemeinen (!) Erfahrung des Entfremdetseins von der allgemeinen Geschichte gebracht werden kann. Dieser Widerspruch kann nicht mehr in die Kontinuität des Allgemeinen eingeholt werden, sondern bleibt als Einspruch neben der Geschichte, wie immer sie konkret konzipiert sein mag bestehen, und mag sie auch noch so »dialektisch« geschrieben worden sein. Dieses »Neben« des kommunikativen Textes erscheint an ihm selbst als Widerspruch erzeugende Intertextualität zum Adiskursiven.67 Niemandem war dieses mehr bewußt als Walter Benjamin. Als Programm seines PassagenWerkes formulierte er: »Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen.« Bis zu der Konsequenz, den textuellen Abfall (eine andere Formulierung für Adiskusivität) zum Recht kommen zu lassen, nämlich, indem er ihn verwendet.68 Selbst die auf Körperlichkeit reduzierte Leiblichkeit entzieht sich den Identifikationen mit gleichbleibendem Erfolg. Die Geschichte einer schönen Seele69 und die Seelengeschichte des Abendlandes bleiben denkbare Sujets; aber die lustvolle und die leidende Erregung des Körpers entzieht sich einer solchen Geschichte und bleibt als Restbestand des Inhalts des Blicks eines Voyeurs. In diesem Sinne würde selbst das Konzept einer Weltgeschichte als pornographische Geschichte den Widerspruch nicht beseitigen, sondern nur thematisch variieren. »La violence du corps n’arrive jusqu’à la page écrite qu‘à travers l’absence […]«, sagt Michel de Certeau.70
7.6.4 Theorie der Dialektik Engels verstand unter Dialektik »die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungsund Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens.«71 Dialektik, hier also als »Wissenschaft« verstanden, hat mithin die Totalität des Uni-
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G. Gamm: Der unbestimmte Mensch. Zur medialen Konstruktion von Subjektivität. Berlin, Wien 2004, p. 34. Dazu ausführlicher, zwischen den die Texte aussprechenden Menschen hinter den Texten und der Autopoiesis von Textualität, M. H. Abrams: How to do things with texts. In: Partisan Review 46 (1979), p. 566-585. W. Benjamin: Gesammelte Werke. Frankfurt a. M. 2011, II, p. 872. R. Konersmann: Die schöne Seele. Zu einer Gedankenfigur des Antimodernismus. In: Archiv für Begriffsgeschichte 36 (1993) p.144-173. M. de Certeau: L’écriture de l’histoire. Paris 1975, p. 9. K. Marx, / F. Engels: Werke, Bd. 20, 6. Aufl. Berlin 1975, p. 132.
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versums zum Gegenstand, und zwar insofern sie sich in Bewegung befindet, verändert, entwickelt, und diese »Wissenschaft« fragt nach den Bedingungen dieser Formen des Übergangs. Jindřich Zelený folgert: »Ihr Kernstück ist die Theorie der flüssigen Natur« und »des unauflösbaren Zusammenbestehens und der Durchdringung gegensätzlicher Bestimmungen.«72 Zugleich wird in der materialistischen Konzeption der Dialektik die »flüssige« Übergängigkeit der Natur in einer solchen des Denkens widergespiegelt. Somit hätten wir zwei grundsätzlich verschiedene Relationen: in der Natur (und im Denken, weil es Widerspiegelung ist) die »Durchdringung gegensätzlicher Bestimmungen« einerseits, zwischen Natur und Denken aber andererseits auch eine unidirektionale »Widerspiegelung des Seins«73. Aber ganz so platt ist es wiederum auch nicht; denn die Widerspiegelung des Seins im Denken ist »durch die gesellschaftliche geschichtliche Praxis vermittelt«.74 Diese Vermittlung der Widerspiegelung ergibt sich dadurch, daß »der Mensch« (welcher? Oder: »die Menschen«?75) in die Natur eingreift und sie verändert. Auch dieses also eine einseitige Relation; denn die Natur greift – hiernach – nicht in »den Menschen« ein und verändert ihn. Während aber die Widerspiegelung eine statische Relation ist, es sei denn man läßt zu, daß die durch »den Menschen« vorgenommene Veränderung der Natur von dieser aus auch eine veränderte Widerspiegelung erzeugt, ist die Veränderung selbst eine dynamische Relation. Durch die Entwicklung und Veränderung der Gesellschaft in der Geschichte ist auch die Veränderung der Natur durch den Menschen eine sich verändernde Veränderung. Die Dynamik hat zur Folge, daß Dialektik nicht nur die Gesetzmäßigkeit der Veränderungen, also gewissermaßen Determinationen studiert, sondern zugleich auch »die Beziehung von Gesetz und Nicht-Gesetz, Notwendigkeit und Zufälligkeit, Notwendigkeit und Freiheit.«76 Eine andere Definition Zelenýs lautet: »Kern der Dialektik ist die Idee vom Sein in Gegensätzen. Da Grund- und Urform des Seins das ›Prozeß-Sein‹ ist, kann in gleichem Sinn gesagt werden, daß Kern der Dialektik die Idee von der Bewegung in Gegensätzen ist.«77 Indem Zelený »objektive Dialektik« von »subjektiver Dialektik« abgrenzt, erklärt er die subjektive als »Reflex« der objektiven und fügt hinzu: »Die Dialektik der gesellschaftlichen Entwicklung ist ein Bereich, in dem die objektive
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J. Zelený: Studien über Dialektik. Prag 1975, p. 33; nach Zelený findet Engels bereits bei Aristoteles die Idee, daß die Kategorien »flüssig«, d.h. prozessual seien, p. 74. ibd. ibd. Zur Kritik »des« Menschen s. auch De Maistre, zitiert bei A. Finkielkraut: L’identité malheureuse. Paris 2013, p. 88: »Il n’y a point d’homme dans le monde. J’ai vu, dans ma vie, des Français, des Italiens, des Russes, etc.; je sais même, grâce à Montesquieu, qu’on peut être persan: mais quant à l’homme, je déclare ne l’avoir rencontré de ma vie […]« J. Zelený: Studien über Dialektik, p. 34. l. c., p. 65.
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und subjektive Dialektik prozessual vereinigt sind, und zwar auf der Basis der objektiven Dialektik.«78 Die Offenheit zwingt Zelený letzten Endes dazu, nicht nur eine quasi-deterministische Widerspiegelung des Seins im Denken zu konstatieren, sondern ebenso sehr einen Übergang »vom Ideellen zum Materiellen in der Technik und materiellen gesellschaftlichen Praxis«79 und in der gesellschaftlichen Praxis die Bedeutung der Negation hervorzuheben. So wird die Spannung zwischen den Annahmen des Historischen Materialismus und der Dialektik in einer Neubewertung der Metaphysik und Metaphysik-Kritik der Gedanke der Dialektik gestärkt. Dahinter steht für dialektisches Denken (schon bei Hegel) das Grundproblem des Verhältnisses von logischen und historischen Erklärungen, das zugleich das Problem des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem ist, von Gesetzmäßigkeit und Kontingenz, von Determinismus und Ausnahme. Es besteht die Neigung und die Gefahr, die Dialektik auf Allgemeinheit, auf Logik und Gesetzmäßigkeit, d.h. auf Denkgesetzmäßigkeiten zu beschränken und die viel interessantere Dialektik von Allgemeinem und Besonderem, von Determination und Kontingenz nachrangig zu behandeln. Diese Neigung besteht dort verstärkt, wo der Widerspiegelungs-These des Historischen Materialismus großes Gewicht beigemessen wird. Es käme darauf an, die Dialektik, d.h. die Widersprüche und ihre Entwicklungen, gerade zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen herauszuarbeiten. Würde man sich nur auf die eine oder auch die andere Seite schlagen und deren bloß immanente Dialektiken zu bearbeiten versuchen, dann würde man selbst diese nicht verstehen können, es sei denn man beschränkte sich auf die reine Logik auf der einen Seite und historistische Erzählungen auf der anderen. Man würde der Allgemeinheit im Besonderen und der Spezifizität des jeweils Allgemeinen nicht ansichtig werden. Und erst recht kann keine der beiden Seiten die andere ersetzen. Es reicht aber auch nicht, die jeweilige Verwicklung ins andere herauszustellen oder abstrakt den Vermittlungszusammenhang zu behaupten. Es bedarf vielmehr des Aufweises der Vermittlungsprozesse selbst. Einer der Vorschläge, die Vermittlungen des Allgemeinen ins Besondere darzustellen ist der genetische Strukturalismus;80 und es ist innerhalb des Marxismus die 78 79 80
ibd. l. c., p. 38. Piaget, ich rechne zu dem Problemkreis jedoch auch die Theoretiker und Historiker der Strukturen der Denksysteme wie Foucault und Blumenberg; zu Struktur und Marxismus s. G. Kröber: Die Kategorie »Struktur« und der kategorische Strukturalismus. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie XXX (1968), p. 1310-1324; L. Sebag: Marxismus und Strukturalismus. Frankfurt a. M. 1970; I. Hrušovský: Strukturation und Apperzeption des Konkreten. Bratislava 1966; L. Althusser: Über die materialistische Dialektik. In: ders.: Für Marx. Frankfurt a. M. 1974, p. 100-167; ders.: Das Kapital lesen. Reinbek 1972, p. 300-340; zu Althusser auch: S. Karsz: Theorie und Politik: Louis Althusser. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1976.
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Frage aufgeworfen worden, ob nicht bereits Marx in seiner Analyse des Kapitals für diese Bemühungen als Ahnherr dienen kann. Dem müßte dann der Marx der Revolutionstheorie komplementär entgegengestellt werden, der eine Vermittlung des Besonderen ins Allgemeine darzustellen versucht. Lenin war der Überzeugung, daß man »das Leben« in die Logik einbeziehen müßte, und zwar handele es sich dabei um die Berücksichtigung des »Seins des konkreten Subjekts (=Leben des Menschen) in seiner Beziehung zum Objekt in dessen Umgebung.«81 Von Zelený gibt es einen umgreifenden theoretischen Vorschlag, der, von Hegel inspiriert, den Begriff des Begriffs an die Schnittstelle von Allgemeinem und Besonderem einzufügen.82 Teilweise setzt Zelený allerdings auch den Begriff der Struktur an die Stelle des Begriffs, und auch dieses allerdings mit Rückgriff auf Hegel, und zwar den der »Wissenschaft der Logik«, nämlich an Stellen, die sich auf das Ganze und seine Entwicklung beziehen. Der Begriff ist die zugleich begreifende und eingreifende Stelle in der Mitte zwischen Allgemeinem und Besonderem, Erkenntnis und Praxis zugleich: die Praxis, die sich reflexiv selbst erkennt, und die Erkenntnis, die sich als Eingriff weiß. Aber schon Marx wies darauf hin, daß Dialektik keine Totalerklärung für alles anbietet, es zeigt sich für ihn vielmehr, »wie die dialektische Form der Darstellung nur richtig ist, wenn sie ihre Grenzen kennt.«83 Und diese Begrenzung wird bei Hegel sichtbar, für den das Besondere nur ein Durchgangspunkt der Dialektik hinauf zum Allgemeinen ist, während Marx versuchte, dem Besonderen in seiner historischen Kontingenz sein Recht zu wahren. Marx Kritik an Hegel läuft darauf hinaus, daß Hegel meint, »die Bestimmungen des logischen Begriffs überall wiederzuerkennen.«84 Stattdessen käme es darauf an, die je spezifische »Logik« des besonderen Gegenstandes zu erkennen und anzuerkennen. In der Sozialphilosophie des kommunikativen Textes ist es die Position des Dritten, die dieses Verhältnis von Selbsterkenntnis der Praxis und Theoriepraxis im Verhältnis zum ablaufenden Text hat: Beobachtung und Intervention, Beobachtung, die das Beobachtete verändert (die Beobachteten – Selbst und Anderer – wissen und berücksichtigen, daß sie beobachtet werden) und Intervention, die sich in der Position des Dritten weiß. Deleuze hat diese Ambivalenz zwischen Logik des Begriffs und der Faktizität der Geschehensabläufe auf den Gegensatz von Geschichte und Werden (nämlich Werden aus dem Begriff) gebracht. Daß er darin Hegel folgt, mag er vielleicht nicht eingestehen, Tatsache aber ist, daß Hegel die bloß faktisch vorkommenden Begebenheiten ‘
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W. I. Lenin: Philosophische Hefte. Berlin 1973, p. 192. J. Zelený: Studien über Dialektik, p. 46f. K. Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1953, p. 945. K. Marx, / F. Engels: Werke, Bd. 1, 10. Aufl. Berlin 1976, p. 296.
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gegenüber der Entwicklung des Begriffs abwertet, weil sich aus der Feststellung der Faktizität noch gar keine Erkenntnis ergibt und ergeben kann. 7.6.4.1 Exkurs zur Negativen Dialektik Adornos In der folgenden Kurzdarstellung Adornos werden drei philosophische Hauptschriften Adornos im Mittelpunkt stehen, die »Minima Moralia« aus der Zeit der Zusammenarbeit mit Horkheimer an der »Dialektik der Aufklärung«, die »Negative Dialektik« und die »Ästhetische Theorie«.85 Der Ausgangspunkt des Philosophierens von Adorno ist vielleicht anzusehen als ein Versuch der Neubestimmung von Geist im diagnostisch bestimmten Zeitalter der Geistlosigkeit, der Neubestimmung der Intellektuellen in einem Zeitalter der Massengesellschaft und einer Neubestimmung des Einzelnen im Zeitalter der alles ergreifenden Konformität. Der von Anfang an durchgehaltene Gesichtspunkt Adornos ist, daß dieses Spannungsverhältnis nur dialektisch verstanden werden kann. So ist zwar einerseits der Intellektuelle im Zeitalter der Unkultur, der Arbeitsteilung des Geistes, derjenige, der diesen Unsinn nicht mitmacht,86 andererseits besteht gerade darin die Gefahr des Dünkels, des Elitären, des Privilegierten. Gerade so bestätigte sich die Arbeitsteilung; und der Intellektuelle erfährt an sich selbst nicht nur das modellhafte Bild einer menschenwürdigeren Existenzform, sondern zugleich deren absolute Hinfälligkeit und Nichtigkeit unter der allumfassenden Dominanz des Ökonomischen. Das ökonomische Denken, das absolut keinen Spaß versteht (völlig unironisch, völlig humorlos, völlig unspielerisch läßt es die Distanz zwischen Denken und Gedachtem nicht zu und zwingt es in einerlei Form), ergreift auch das Denken des Intellektuellen die Gewalt des Ökonomischen. Nur scheinbar kann er dem entfliehen, indem er die Kategorien der Geistigkeit hypostasiert; denn damit separiert er sich von der Erfahrung der Wirklichkeit, auf die es doch ankäme, und anerkennt darin die ihm vom Zwangszusammenhang des Ökonomischen zugewiesene Bedeutungslosigkeit. Also: »Wie der Intellektuelle es macht, macht er es falsch.«87 Und zwar nicht aus Tölpelhaftigkeit, sondern zwangsläufig: durch den Zwang eines Allgemeinen, das falsch ist. Angesichts der so aufscheinenden Verzweiflung bleibt die Verlockung des Zynismus. Aber auch der ist nichts anderes als eine durchaus vom System erwünschte Sanktionierung der Verhältnisse. Im Mainstream-Marxismus meinte man dem eine (nach Adorno allzu praktische) Einheit von Theorie und Praxis kritisch entgegensetzen zu können und zu sollen. Adornos Einwand: mit dieser Kritik am Unwahren wird auch das Wahre vernichtet, das doch die Arbeit des Geistes ausmachte. Diese Kritik vertreibt mit ihrer Praxis-Orientierung
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Im folgenden alles zitiert nach Th. W. Adorno: Gesammelte Schriften, hrsg. v. R. Tiedemann. Darmstadt 1997. l. c. IV, p. 21. l. c. IV, p. 151.
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das utopische Moment. Konkret, die alles beherrschende Logik des Marktes unterstellt den Tausch von Äquivalenten. Die praktische Kritik daran würde überall dort ansetzen, wo nicht Äquivalente in ein damit als ungerecht identifiziertes Tauschverhältnis eingehen, wo es doch darauf ankäme, daß Prinzip als solches zu unterwandern und in Frage zu stellen. Also brauchen wir ein ganz anderes Denken, das Adorno später auf den Begriff einer »Negativen Dialektik« gebracht hat, d.h. einer Dialektik, die die Negation der Negation nicht als Versöhnung eines Widerspruchs feiern lehrt, sondern vom Unversöhnten aus zu denken versucht. In der Frühzeit drückt sich das in solchen Paradoxa aus wie »noch der Baum der blüht, lügt […]«, nämlich dann, wenn »man sein Blühen ohne den Schatten des Entsetzens wahrnimmt; noch das unschuldige Wie schön wird zur Ausrede für die Schmach des Daseins, das anders ist […]«88 Die Schönheit ist nicht mehr in dieser paradiesischen Unschuld zu haben, sondern: »[…] es ist keine Schönheit und kein Trost mehr außer in dem Blick, der aufs Grauen geht, ihm standhält und im ungemilderten Bewußtsein der Negativität die Möglichkeit des Besseren festhält.«89 In diesen beiden Begriffen sind die wesentlichen Strukturmerkmale Negativer Dialektik festgehalten: Bewußtsein der »ungemilderten Negativität« und »Möglichkeit des Besseren«. Die sprachliche Erscheinung des utopischen Elements ist daher für Adorno stets der Konjunktiv, der zu denken erlaubt, daß es anders sein könnte, als es ist. Der logisch zwingenden Gewalt des Faktischen entrinnt daher nicht der Wille zur verändernden Tat, weil er im Faktischen verbleibt, sondern ein Denken im Konjunktiv anderer Möglichkeiten. Nicht die massenhaften Solidarisierungen für ein besseres Allgemeines (Humanität, gerechte Gesellschaft u. dgl.) verheißen daher eine gelungenere Existenz der Menschen, sondern nur die zugemutete und übernommene Einsamkeit (»ungemilderte Negativität«) des Intellektuellen als Solidarität mit der Existenz der »Möglichkeit des Besseren«. »Die Glorifizierung der prächtigen underdogs läuft auf die des prächtigen Systems heraus, das sie dazu macht.«90 Die »Seele« ist daher auch nicht das Residuum des vom Markt noch nicht Erfaßten, also gewissermaßen ein nucleus des Heils, sondern am Ende nur »die Sehnsucht des Unbeseelten nach Rettung«.91 Seele ist keine Realität, sondern eine Modalität. Die aufscheinende Möglichkeit des Anderen als des Allgemeinen, verdeutlicht Adorno am Beispiel unglücklicher Liebe. Der unglücklich Liebende findet es ungerecht, daß er nicht geliebt wird; in der Versagung der Liebe wird einerseits die Autonomie (d.h. Allgemeinheit) des Geliebten real, andererseits läßt sie den unglücklich
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l. c. IV, p. 26. ibd. l. c. IV, p. 29. l. c. IV, p. 194.
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Liebenden zurück als von der Allgemeinheit Ausgeschlossenen, der nun als Ausgeschlossener in paradoxer Weise meint, ein Recht (d.h. einen allgemeinen Anspruch) auf Liebe zu haben (ein »unveräußerliches […] Menschenrecht, von der Geliebten geliebt zu werden.«92) Die negativ und konjunktiv aufscheinende Möglichkeit stellt sich dann so dar: »Das Geheimnis der Gerechtigkeit in der Liebe ist die Aufhebung des Rechts, auf die Liebe mit sprachloser Gebärde deutet.«93 Da der Konjunktiv, die Möglichkeit also, nicht unabhängig vorkommt, sind der eigentliche Gegenstand kritischen Philosophierens von Adorno immer die Realität und ihre Reflexe gewesen, an denen dann und nicht unabhängig die anderen Möglichkeiten aufscheinen. Daher ist der kritische Impuls auch für eine »Negative Dialektik« unaufhebbar. Einer der berühmtesten und meist zitierten Aphorismen der »Minima Moralia« ist ein Satz aus Nummer 29: »Das Ganze ist das Unwahre.«94 Der Interpretation dient, vor allem jener andere, ebenso oft herangezogene Aphorismus: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.«95 Darin ist ausgesprochen, daß die Totalität des gesellschaftlichen Zusammenhangs, die auf dem Tauschprinzip beruht, nichts ausgespart läßt. Totalität, wie der Name schon sagt, umschließt alles; und wenn deren Grundprinzip falsch ist – gemessen am Maß eines menschenwürdigen und glücklichen Lebens –, dann ist absolut nichts davon unberührt. Beispielsweise das Individuum, scheinbar und in der Blütezeit der bürgerlichen Bewegung artikuliert als Hort einer inneren Unendlichkeit, die sich dem äußeren Zugriff entzieht, ist – nach Adorno –, weil es von dieser Gesellschaft durch schmerzhafte Erziehungs- und Zurichtungsprozesse einer totalisierenden bürgerlichen Gesellschaft erzeugt wird, doch nichts als deren Reflex. Was als ein Fluchtpunkt des Widerstands erscheinen mag, ist immer nur Indiz dieser Pathologie der Gesellschaft, gerade auch in den Formen des Widerstands. Das ist deswegen fatal, weil dieser Totalitarismus der bürgerlichen Existenzform seine materielle Grundlage längst verloren hat, so daß der Bürger nur noch ein Gespenst ist: eine bedrohliche Erscheinung, der kein Leben mehr innewohnt. Allgemeinaussagen haben daher bei Adorno stets die Form des Ausdrucks der konjunktivischen Option auf real nicht mögliche Alternativen, wie etwa in paradoxen Aussagen derart, etwas sei »Anzeichen dafür, wie unmöglich das Zusammenleben der Menschen unter den gegenwärtigen Verhältnissen geworden ist.«96 Adorno macht all das an einer Vielzahl von Beobachtungen aus dem Alltagsleben deutlich, z.B. dem Funktionswandel von Takt,97 des Lügens,98 des Schenkens,99 der
92 93 94 95 96 97 98 99
l. c. IV, p. 187. ibd. l. c. IV, p. 55. l. c. IV, p. 43. l. c. IV, p. 40 f. l. c. IV, p. 38 ff., 44 ff. l. c. IV, p. 31 f., 122 f. l. c. IV, p. 46 f.
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Intimität des Wohnens (»[…] kann man überhaupt nicht mehr wohnen«)100. Ist also Glück, gelingendes Leben unmöglich und bleibt nur die Verzweiflung? Adornos Antwort auf eine derart gestellte Frage bliebe zwiespältig. Einerseits bieten die Massenkultur und ihre Kulturindustrie eine so erdrückende Vielfalt von Glücksangeboten, daß, wer angesichts dieser Vielfalt unglücklich bleibt, so die totalisierende Botschaft dieser Gesellschaft, der ist einerseits selber schuld, andererseits aber kann auch ihm noch in psychoanalytischen Kuren und psychotherapeutischen Kuschel- und Wohlfühlgruppen – gegen Bezahlung (s. Tauschprinzip), versteht sich – aufgeholfen werden. Diesem Beglückungs-Totalitarismus mißtraut Adorno zutiefst und hält dem entgegen: »Was wäre Glück, das sich nicht mäße an der unmeßbaren Trauer dessen was ist? Denn verstört ist der Weltlauf.«101 Auf der anderen Seite gibt es mit konjunktivischem Vorbehalt, Bilder des Glücks: »[…] auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen […]«102 Und philosophischer dasselbe: »Keiner unter den abstrakten Begriffen kommt der erfüllten Utopie näher als der vom ewigen Frieden.«103 Und ebenso deutlich ein anderer Aphorismus: »Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.«104 Wie sehr unter Bedingungen des falschen Allgemeinen dieses nur ein Bild ist, wird an vielen anderen Stellen deutlich: der Widersprüchlichkeit der Treueforderung,105 dem Zwangscharakter der bürgerlichen Familie,106 der Deformation der Sexualität.107 Das Glück als Möglichkeit verliert damit den Charakter eines Ziels, das in irgendeiner Richtung der Bemühungen um eine bessere Zukunft läge und wird zum transzendental-ekstatischen Bild einer jederzeit bestehenden anderen Möglichkeit.108 Was Philosophie unter diesen Bedingungen (»Philosophie im Angesicht von Verzweiflung«109) sein und leisten kann als der »Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung sich darstellten«110, das zeigt vor allem die spätere Philosophie Adornos. So beginnt etwa »Negative Dialektik» mit dem Marx aufnehmenden und umdeutenden Gedanken, daß die »Verwirklichung« der Philosophie, von Marx als von der Revolution zu leistende Aufgabe formuliert, verpaßt wurde: der »Augenblick ihrer Verwirklichung« wurde versäumt.111 Die allseits geforderte Praxis-Relevanz des Gedankens ist das Gegenteil einer Verwirklichung der
100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111
l. c. IV, p. 42. l. c. IV, p. 228. l. c. IV, p. 179. ibd. l. c. IV, p. 218. l. c. IV, p. 195 f. l. c. IV, p. 22 f. l. c. IV, p. 190 ff., 50 ff. cf. dazu in Anknüpfung an W. Benjamin l. c. IV, p. 171 ff. l. c. IV, p. 283. ibd. l. c. VI, p. 15.
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Philosophie, sie will nämlich nichts anderes als den »kritischen Gedanken als eitel abzuwürgen, dessen verändernde Praxis bedürfte.«112 Das Denken müßte sich von der Zumutung der Praxis-Behilflichkeit befreien, wenn es denn wirklich das Versprechen einer Abhilfe von dieser falsch laufenden Praxis enthalten sollte. Aber auch in seiner Spätphilosophie macht Adorno nicht einen Vorschlag einer anderen Philosophie, damit dann alles richtig wäre. Vielmehr radikalisiert er seine Überlegungen noch einmal, indem nicht das die bürgerliche Gesellschaft organisierende Tauschprinzip in den Fokus der Kritik gerät, sondern nunmehr Denkstrukturen, nämlich die eines »identifizierenden« Denkens: »Denken heißt identifizieren. Befriedigt schiebt begriffliche Ordnung sich vor das, was Denken begreifen will.«113 Das ist nicht nur Kritik am Nominalismus, sondern zeigt eine Problematik auf, die jeder Verwendung von Allgemeinbegriffen anhaftet. Indem es das Besondere mit einem Allgemeinbegriff bezeichnet, bezeichnet es gerade nicht die Besonderheit des Besonderen; darauf aber käme es an, dem Besonderen in seiner Besonderheit Ausdruck verleihen zu können; denn das Jonglieren mit Allgemeinbegriffen ist kein großes Kunststück und eigentlich der Mühe nicht wert. Auf die Versenkung in die Unendlichkeit dessen käme es an, was dem Allgemeinbegriff heterogen ist. »Die Philosophie hat, nach dem geschichtlichen Stande, ihr wahres Interesse dort, wo Hegel, einig mit der Tradition, sein Desinteressement bekundete: beim Begriffslosen, Einzelnen und Besonderen […]«114 Das Nichtidentische zu denken – mit den Mitteln eines Denkens, das immer identifiziert, das ist die paradoxe Aufgabe, vor die sich die Negative Dialektik gestellt sieht. Im Widerspruch, der sich nicht versöhnt, erscheint unaufhebbar und damit unversöhnbar der Einspruch der Realität gegen das Denken. »Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.«115 Das heißt für Adorno der Vorrang des Objekts. Für das Denken besteht die paradoxe Aufgabe, dem, was dem Denken absolut heterogen ist, sich so »anzuschmiegen«116, wie Simmel und die Phänomenologie (»zu den Sachen selbst«) es vergeblich versuchten. In den Angelegenheiten der Menschen ist das vorrangig die Aufgabe, das stumme und begriffslose Leiden »beredt« werden zu lassen, nicht indem es nun zum Plaudern gebracht wird; dieses Reden des begriffslosen Leidens geht nur in der Methode einer Negativen Dialektik, deren Fluchtpunkt nicht die Versöhnung des Gedankens mit der Realität ist, sondern die Auslieferung an das Unversöhnte. Dann »begänne das Objekt unter dem verweilenden Blick des Gedankens selber zu reden.«117 112 113 114 115 116 117
ibd. l. c. VI, p. 17. l. c. VI, p. 19f. l. c. VI, p. 21. l. c. VI, p. 24. l. c. VI, p. 38.
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So gibt es genau zwei Arten dort anzukommen: Kritik als Movens der Negativen Dialektik, oder durch den Begriff über den Begriff hinauszugehen, und das ist das Ästhetische. Und auf letzteres bezieht sich Adornos Spätwerk »Ästhetische Theorie«, die bewußt die Doppeldeutigkeit enthält, eine philosophische Ästhetik zu sein und zugleich eine Theorie, die selbst ästhetisch ist. Während Erkenntnis sich »spröde« gegen das Leiden verhält, ist die ästhetische Erfahrung, indem sie die Kontinuität des Unheils zerbricht, in der Katastrophe des Augenblicks ein Ausdruck des Leidens. Das geht aber nur, wenn die Kunst nicht das angeblich »Ewige im Menschen« auszudrücken versucht, sondern indem sie selbst sterblich, d.h. vergänglich wird, und zwar genau in ihrem Protest gegen die Vergänglichkeit. Stärker noch als jedes Kunstwerk verweist das Naturschöne auf den Vorrang des Objekts. Gleichwohl ist dieses eine menschliche Kategorie. Adorno sagt: die Natur will schweigen; der aber genau das feststellt, ist einer, der vom Schweigen der Natur beseelt reden will.118 Daher sind das Ästhetische in Kunst und Natur als Ausdruck des Unbegriffenen und der kritische philosophische Gedanke in seiner Form der Negativen Dialektik wechselseitig aufeinander verwiesen. Adornos Philosophie, insbesondere seine Spätphilosophie, entfernt sich den modernistischen Wiederbelegungen der kritischen Theorie durch Resorption der Analytischen Philosophie, wie sie Habermas und Schnädelbach vorgezeichnet haben, und nähert sich sehr viel stärker dem an, was dann als Postmoderne-Diskussion als Anknüpfung an die Französische Philosophie in Deutschland seit den Siebzigerjahren stattgefunden hat. 7.6.4.2 Die Dialektik-Konzeption von Hans Heinz Holz Hans Heinz Holz hat einmal Dialektik definiert als Begriff »für den Konstitutionsprozeß und für die Struktur eines aus einander widersprechenden Elementen bestehenden Zusammenhangs, sei es in der Wirklichkeit (Realdialektik), sei es im Denken (dialektische Methode […])«119 Nicht immer und überall wurden Realdialektik und dialektische Methode des Denkens oder auch nur der Darstellung deutlich unterschieden. Schon der Begriff der Realdialektik wirft ja ein Problem auf, nämlich daß sich die Dinge der Wirklichkeit wohl kaum wider-sprechen, da sie ja nun überhaupt gar nicht sprechen, geschweige denn widersprechen. Erst in der Sprache der Menschen, d.h. im kommunikativen Text als sprachlichem Prozeß, wird ihnen das Wort zuteil. Begrenzt man allerdings Wirklichkeit auf soziale Realität, d.h. eben auf den kommunikativen Text, dann ist das Widersprechen in der Tat konstitutiv für die Struktur des Zusammenhangs; aber
118 l. c. VII, p. 108. 119 H. H. Holz: Dialektik. In: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, hrsg. v. H. J. Sandkühler. Hamburg 1990, I, p. 547-570, hier p. 547.
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dann schwindet das Abgrenzungskriterium zur dialektischen Methode des Denkens und des denkend miteinander Sprechens. Einer der Begründer der Dialektik, nämlich kein geringerer als Hegel, sagt: »Dialektik aber nennen wir die höhere vernünftige Bewegung, in welche solche schlechthin getrennt Scheinende durch sich selbst, durch das, was sie sind, ineinander übergehen, die Voraussetzung [ihrer Getrenntheit] sich aufhebt. Es ist die dialektische immanente Natur des Seins und Nichts selbst, daß sie ihre Einheit, das Werden, als ihre Wahrheit zeigen.«120 Und: Die Form des Dialektischen »ist ein Übergehen in Anderes.«121 In Aufnahme einer derartigen Konzeption muß auch Holz feststellen, daß der »Grundwiderspruch« einer des Denkens sei, nämlich »daß wir, um überhaupt denken zu können, Identitäten […] festhalten müssen, und daß wir zugleich dauernd die Veränderung des als identisch Gedachten, also Nicht-Identität, erleben. Wie also Veränderung […] begriffen werden könne, ist die Frage, aus der die Theorie der D.[ialektik] entspringt.«122 Für die Art des Übergangs benennt Hegel den Begriff der Vermittlung. Dieser Gedanke ist ganz wesentlich, verweist er doch darauf, daß der Übergang weder vom Einen (dem Selbst) noch vom Anderen ausgeht, sondern sich als sich selbst erzeugende Mitte ereignet. Wenn Holz eine materialistische Dialektik intendiert, dann heißt das auch, daß eine solche sich von den »idealistischen« Tendenzen Hegels zu trennen beabsichtigt, ohne daß doch Struktur und Methode einer Dialektik in Anlehnung an Hegel aufgegeben werden muß; das wird dann in der Tradition des dialektischen Materialismus die »Umkehrung« Hegels genannt, durch die die Dialektik vom Kopf wieder auf die Füße gestellt werde. So bekommen die Füße der Dialektik Bodenhaftung, und der Kopf bleibt dort, wo er hingehört: oben.123 Im Kopf des dialektischen Materialisten spiegeln sich die realen Weltverhältnisse wider. Daher auch das harte Wort von Holz gegen Adornos »Negative Dialektik«: »Negative D. ist nur die halbe D., also gar keine. […] Sie verliert sich in der Anarchie der Begriffslosigkeit und besitzt dann keine orientierende Kraft. Negative D. wird als Philosophie unbrauchbar, sie ist die selbstgefällige Attitüde des Rückzugs aus der Aktion in die intellektuelle Selbstbezüglichkeit.«124 120 121 122 123
G. W. F. Hegel: Werke. Frankfurt a. M. 1970, V, p. 111. l. c., VIII, p. 181. H. H. Holz: Dialektik, p. 547. Daß das ein Problem sein könnte und daß es vielleicht auch »oben ohne« gehen könnte, s. dazu K. Röttgers: »Oben ohne« - Denken ohne Kopf. In: Oben und Unten - Oberfläche und Tiefe, hrsg. v. K. Röttgers u. M. Schmitz-Emans. Essen 2013, p. 19-29; dass. auch in ders.: Kopflos im Labyrinth. Essen 2013, p. 9-29. 124 H. H. Holz: Dialektik, p. 556; ders.: Weltentwurf und Reflexion. Stuttgart, Weimar 2005, p. 109 ist kaum zimperlicher in der Abwertung der »Negativen Dialektik»: »In geradezu gebetsmühlenhaften Litaneien wiederholt sich dieser Gedanke […]. Als prinzipielle Negation jeder Bestimmtheit […] kann die negative Dialektik immer nur ›Nein, nein!‹ sagen
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Schauen wir näher zu, was Holz dem entgegenzusetzen hat. Materialistische Dialektik möchte den Realgehalt (den begreifenden Begriff) in die Dialektik als ein System, und nicht nur als Methode, einbeziehen, ohne es doch zu können, d.h. weiter zu kommen als zu ganz allgemeinen Begriffen, die also dann mehr Beteuerungen des Allgemeinen gleichkommen als reale Erfahrungen des Besonderen widerspiegeln zu können. Aber genau das war Adornos Bedenken. Und so stellt sich die Kontroverse Adorno – Holz selbst als eine Dialektik der Partisanen des Allgemeinen und derjenigen des Besonderen heraus. Theoriepolitisch läßt sich das als Sammlungsbewegung der groß sein wollenden Theorie vs. dem partikularen, einsprechenden Widerstand abbilden.125 Wenn Holz von den »internen Vermittlungen seiner [des innerweltlichen Realzusammenhangs] Elemente und ihrer Bewegtheit (also seiner Struktur) und den Vermittlungen seiner selbst als ganzen mit seinen externen Bedingungen (also seiner Genese)«126 spricht, gilt es zu beachten, daß in dem Begriff des innerweltlichen Realzusammenhangs dreierlei sehr Unterschiedliches zusammengefaßt ist: • • •
Der Zusammenhang der Dinge der Natur und deren Wirklichkeit – was immerhin eine, wenngleich dann doch gewagte naturphilosophische Hypothese wäre; der Zusammenhang im Sozialen, der grundsätzlich wohl kaum zu bestreiten wäre, obwohl er im Einzelfall durchaus problematisch sein kann; der Zusammenhang des Denkens mit der Welt, die es denkt, also die sogenannte »Widerspiegelung«, was sicher fraglich ist, wenn es mehr besagen soll als den Zusammenhang des Denkens mit dem Gedachten, welches letztere immer noch eine nominalistische oder konstruktivistische Interpretation zuließe.
Auf diese Unterscheidung stützt sich auch Sartres Ablehnung einer Realdialektik, soweit es sich um die uns äußere Natur handelt. Insofern es sich aber um den zweiten Komplex handele, läuft Sartres Vorschlag darauf hinaus, Dialektik als Form der die Totalisierung und Totalität der Gesellschaft betreffenden Praxis zu begreifen. Zu recht kritisiert Holz an dieser Position, daß in ihr mit der Trennung des Sozialen von der Natur, wie Sartre sie vornimmt, die alte cartesianische, undialektische Spaltung von Subjekt und Objekt fortgeschrieben wird; denn Praxis folgt für Sartre der Logik des Handelns von individuellen oder kollektiven Subjekten, ihr bleibt die Welt der
[…] so ist die prinzipielle und universelle, unbestimmte Negation die Denkform der Anarchie. Die ›kritische Theorie‹ […] hat der Emotionalität des Anarchismus einen philosophischen Anspruch verliehen […]« Die Emotionalität von Holz in dieser Frage ist verständlich, entlarvt doch Adorno eine Position wie die von Holz als »idealistisch«, was nun Holz unter gar keinen Umständen auf seiner Philosophie sitzen lassen darf. 125 Daß letzteres kein Anarchismus im klassischen Sinne Stirners (der Name fällt bei Holz als Charakterisierung Adornos) ist, dürfte klar sein. 126 H. H. Holz: Dialektik, p. 556.
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Objekte, die nicht selbst dieser dichotomisierenden Logik folgen können, grundsätzlich äußerlich. Wie sich an Holz ausführlicher Grundlegung der Dialektik in »Weltentwurf und Reflexion«127 zeigt, ist diese weder für eine rein idealistische noch für eine rein materialistische Konzeption der Dialektik überzeugend. Da, wo versucht wird, eine rein materialistische Dialektik zu begründen, wird oftmals der dialektische Gedanke dem materialistischen geopfert. Dann werden dort die Vorstellung, daß die Natur einen Gesamtzusammenhang bildet, und die, daß sich in der Natur fortwährend Veränderungen ereignen, die Übergänge von einer Gestalt zu einer anderen beinhalten, bereits als Dialektik ausgegeben. Die Schlichtungsformel zwischen einer rein idealistischen und einer rein materialistischen Interpretation der Dialektik bei Holz lautet: Der »Ableitungszusammenhang ist ein solcher der begrifflichen Konstruktion, der schrittweisen Explikation der notwendigen Idee des Gesamtzusammenhangs in die Varietät der Erfahrungsinhalte. Insofern ist das System ontologischer Prinzipien der realdialektischen Welt immer nur präsent in der dialektischen Methode der Betrachtung des Gegenstands.«128 Holz Schlichtungsformel, weil sie auf Seiten des Allgemeinen, der Theorie, verbleibt, transportiert ein ungelöstes Problem, dessen Wichtigkeit für Holz an keiner Stelle infrage steht, nämlich die Ermöglichung von Praxis in diesem Rahmen. Aber genau dieser Übergang in die Praxis bleibt auch in der »Grundlegung der Dialektik« Programm, dessen Grundlinien nur theoretisch-ontologisch angedeutet werden können:
‘
‘
»[…] daß die Operationalisierung theoretischen Wissens in der Praxis über einen Transmissionsapparat erfolgt, der die Allgemeinheit der Ordnungsbegriffe, denen gemäß wir uns in der Welt orientieren, in die Besonderheit und Einzelheit der Erfahrungstatsachen überträgt, auf die wir handelnd einwirken. Diesen Transmissionsapparat bilden die Kategorien, die wir als ein Netz über die Mannigfaltigkeit der Fakten legen, in dessen Maschen dann die Sachverhalte in der einen oder anderen Position (oder auch Verrenkung), so daß wir gemäß unseren Absichten auf sie zugreifen können. Die Kategorien sind die Werkzeuge, deren wir uns bei der Operationalisierung der Dialektik bedienen. Eine begründende Theorie der Dialektik erfordert daher als nächsten Schritt die deduktive Entwicklung einer Kategorienlehre. Ohne sie wäre die Dialektik von ihrem eigenen Ursprung, der gegenständlichen Tätigkeit, abgeschnitten.«129
127 H. H. Holz: Weltentwurf und Reflexion. 128 ders.: Dialektik, p. 563. 129 ders.: Weltentwurf und Reflexion, p. 602.
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Konsequenz: »Jedenfalls wäre eine dialektische Ontologie, die nicht auf eine Kategorienlehre hinführt, ein Torso und durchaus ergänzungsbedürftig. Nach der ›Grundlegung‹ müssen die tragenden Pfeiler eines Gebäudes errichtet werden.«130 Man sieht, diese Dialektik will hoch hinaus in den Himmel der Allgemeinheit; ob dort aber »die Praxis« zu finden ist, scheint fraglich. Der wahre Gegensatz – derjenige, der sich zwischen Holz und Adorno auftut – ist der einer totalisierenden und einer partikularisierenden Dialektik. Auch in der Schlichtungsformel zielt die dialektische Methode darauf ab, den Gesamtzusammenhang, die Totalität, abbilden oder methodisch ableiten zu können. Die Negative Dialektik will genau das Gegenteil: aus Skepsis gegenüber den Übergriffen des Allgemeinen will sie (ebenfalls methodisch geleitet) dem Einzelnen sein Recht widerfahren lassen. Beide Dialektiken haben ihre Folgeprobleme. Holz‘ Dialektik gehorcht einer hierarchischen Struktur; denn das in oder aus der Bewegung sich heraushebende Allgemeine ist den Partikularitäten immer über-geordnet. Die Negative Dialektik kann ihre Negativität, ihre Bestreitung der Versöhnung und der Insistenz auf dem Unversöhnten nur aufrechterhalten als Einspruch, d.h. der Anerkennung des übergeordneten Allgemeinen und zugleich der Anfechtung seiner Legitimität. Die entscheidende Frage hinsichtlich der Geltung von Dialektik scheint mir daher nicht auszugehen von dem Komplex Allgemeines/Besonderes, sondern von der Kategorie des Widerspruchs. Wo allerdings in der Realdialektik von dieser Kategorie Gebrauch gemacht wird, ist es doch immer eine hinkende Metapher: denn die Natur oder die Dinge in ihr sprechen nicht und wider-sprechen sich auch nicht. Wenn man Marx‘ Diktum, daß der Widerspruch »Springquelle aller Dialektik« sei,131 ernst nehmen will, dann muß man dorthin zurückgehen, wo sich Sprechen und Widersprechen ereignen, in die Sphäre des Sozialen, d.h. des kommunikativen Textes – und ob das nun ein Idealismus oder ein Materialismus ist, ist unerheblich: alle strikt immannentistische Philosophie von Spinoza über Johann Wilhelm Ritter bis zu Deleuze stand jeweils jenseits dieses Gegensatzes. Um zu verstehen, daß – wie Adorno es quasi junghegelsch ausgedrückt hat – »die Kategorien der Kritik am System« zugleich diejenigen seien, »welche das Besondere begreifen«,132 ist es nützlich, sich an einer Theorie der Dialektik zu orientieren, welche nicht das »Heterogene am Einheitsdenken« mißt.133 Für eine solche Dialektik ist der Widerspruch kein Law-and-Order-Problem des Denkens, der aufhebend beseitigt werden sollte, sondern er ist eine Tatsache, für die es Gründe gibt, die nicht allein deswegen für verwerflich gelten müssen, weil à la Popper aus dem Geltenlassen von 130 l. c., p. 605. Genauer gesagt, operiert Marx hier mit einer Entgegensetzung des Hegelschen »Widerspruchs«, dieser »Springquelle aller Dialektik«, und den »platten Widersprüchen«, die sich sein Bezugsautor (Senior) an dieser Stelle zuschulden kommen läßt. 131 K. Marx / F. Engels: Werke, Bd. 23, 10 Aufl. Berlin1974, p. 623. 132 Th. W. Adorno: Gesammelte Schriften, VI, p. 36. 133 l. c., p. 15.
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Widersprüchen alles mögliche folgen könnte.134 Daß das von Adorno entworfene Modell Negativer Dialektik, nach der jede Synthese (Aufhebung) nur bestätigt, daß der Widerspruch nicht negativ genug war, das einzige Modell einer durch Affirmation nicht-systemstabilisierenden Dialektik wäre, ist von Adorno, soweit ich sehe, nicht behauptet oder jedenfalls nicht nachgewiesen worden. Wir werden also im folgenden anderen Spuren folgen. 7.6.5 Widerspruch in der Frühromantik Friedrich Schlegel war einer der Philosophen, die das Spiel »Wer fürchtet sich vorm Widerspruch?« nicht mitgespielt haben. Das heißt: er war einer derjenigen, die das Widersprechen für eine grundlegende Form der Entfaltung des Denkens gehalten haben. Die Beweggründe für das Leitmotiv, daß es kein Denken ohne das Widersprechen gebe,135 könne von zweifacher Art sein. Einmal kann das Widersprechen ein jeweilig Vorübergehendes sein, das »aufgehoben« werden soll und eingehen soll in einem Umgreifenden höherer Einheit. (Wir sehen hier völlig ab von solchen Theorien, die den Widerspruch für einen Denkfehler halten, der getilgt werden müsse. Einen solchen Widerspruchs-Exorzismus können wir an dieser Stelle einfach nicht mehr ernst nehmen.) Zum anderen kann das Widersprechen ein nicht zu beruhigender Motor des Textes sein, der den Text in seinem Fortgang ohne umgreifende oder übergreifende Kontinuitätsgewähr von Anschließbarkeit zu Anschließbarkeit vorantreibt. Im Prozeß selbst sind diese beiden Motive zunächst nicht unterscheidbar. Ist der zweite Fortgangsmodus (als Struktur der Übergängigkeit) der Anschluß, so ist der erste der (jeweils vorläufige) Abschluß. Die Erscheinungsformen dieses Widersprechens im Text sind Paradoxa.136 Natürlich weiß man oder kann man wissen, daß in der Logik und den von ihr abgeleiteten und abhängigen Sprechgewohnheiten Widerspruch nicht mehr an Sprechen oder Wider-sprechen gebunden ist. Innerhalb dieser Diskurse wird ein monologischer Text wie ein dialogischer behandelt. Diese immanente Dialogik bricht dann auf, wenn ein übergeordneter Gesichtspunkt verbietet, daß zwei virtuelle Dialogpositionen beide aufrechterhalten werden dürfen. Der Dritte, der die Verträglichkeit behaupten würde, wird ausgeschlossen: das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten.137 134 K. R. Popper: Was ist Dialektik? In: Logik der Sozialwissenschaften, hrsg. v. E. Topitsch. 6. Aufl., Kön, Berlin1970, p. 262-290. 135 Dazu in der Poetik von E. Jabès s. M. Schmitz-Emans: Von Buch zu Buch, von Schwelle zu Schwelle: Edmond Jabès‘ Poetik progredierender Schrift. In: Die Genese literarischer Texte, hrsg. v. A. Gellhaus u.a. Würzburg 1994, p. 205-232, hier bes. p. 216f. 136 Cf. z.B. R. Schürmann: Le principe d’anarchie. Bienne, Paris 2013, p. 15, der auf die Paradoxie eines Begriffs wie »principe d’anarchie«, also wörtlich eines Anfangs der Anfangslosigkeit, hinweist und das postuliert: »Il faut penser cette contradiction.« 137 Zu dieser Parallele s. M. Serres: Le troisième homme Ou le tiers exclu. In: Les Etudes philosophiques N.S. 21 (1966), p. 463-469.
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Diese logische Extravaganz ist keine Besonderheit der deutschen oder französischen Sprache, also der Sprachen der neueren Philosophie, sondern schon lat. contradictio meint das Sprechen mit einer zweiten Stimme. Und nach der sophistischen Lehre des Protagoras, wie sie von Platon kolportiert wird,138 kann man »sich« nicht widersprechen, wohl aber tun es die anderen. Entkleiden wir diese These ihres anthropozentrischen Hintergrundes, dann bleibt: die Position des Selbst kann sich nicht selbst widersprechen; der Widerspruch begegnet ihm in der Wortergreifung (d.h. Selbst-Werdung) des »Anderen«. Ein Beispiel für Widersprüche in Theorien sind immer Paradoxien gewesen. Nun hat der späte Niklas Luhmann nachgewiesen, daß Theorien, die auf mehreren Ebenen operieren und so ihr eigenes Operieren darstellen möchten – und warum sollten sie nicht? – unvermeidlich Paradoxien hervorrufen und daß auch deswegen jede Entparadoxierung neue Paradoxien erzeugt. Daher empfiehlt es sich, Paradoxien in die Intertextualität zu stellen. Friedrich Schlegel stellte fest, daß Philosophie paradox sein müsse, wenn sie nicht sophistisch sein will, d.h. zu feige, dem »gemeingeltenden Unsinn« zu widersprechen.139 Folglich ist jeder philosophische Text, der einen Bruch mit dem für ihn geltenden Diskurs vollzieht, paradox. »Paradoxon ist ein exoterisch gemachtes Esoterikon.«140 Der Diskurs gebietet Kohärenz, der paradoxe Text verweigert sich ihr. Die frühromantische Theorie von Widerspruch und Paradoxie ist eine Theorie des intertextuellen Außen des Textes. Da es aber eine permanente Korrespondenz von Innen und Außen gibt, findet sich dieses Widersprechen zum Text auch als Widerspruch im Text; solch ein Widerspruch ist die Spur des Widerstandes gegen die Diskursregeln. Der widersprechende und widerspruchvolle Text ist in dem Sinne diskriminierend (d.h. unterscheidend), daß er im Ungehorsam etwa entgegen den Diskursregeln der Öffentlichkeit als political correctness, die die Gleichmacherei postulieren, auf der Möglichkeit von Unterscheidungen beharrt, die der Text in seiner immer unvermeidlichen Asymmetrie vollzieht. Für ihn sind Neger zwar, und wer wollte das bestreiten, Menschen-wie-wir, aber eben andererseits auch anders als »wir«. Und zur Aufrechterhaltung dieser Unterscheidungsmöglichkeit dienen dann die verbotenen Wörter, die der Diskurs der political correctness sanktioniert. Die Sprachgeschichte belegt vielfältig, daß solche Wortverwendungsverbote nichts bewirken, da ja die Unterscheidungs- d.h. Diskriminierungsfähigkeit der Sprache erhalten bleiben soll. »Weib«, ursprünglich ein Begriff der Verehrung und Mystifizierung des Weiblichen, wurde aus was für Gründen auch immer zu einem abwertenden Begriff, den man fortan nicht mehr verwenden kann, an seiner Stelle sollte man dann »Frau« sagen (ursprünglich: adelige Herrin), aber auch dieser Begriff ist dabei, seine positive
138 Platon: Theaetet 171. 139 F. Schlegel: Kritische Ausgabe XVIII. München, Paderborn, Wien, Zürich 1963, p. 123. 140 l. c., p. 104.
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Auszeichnungsqualität zu verlieren und muß nun ersetzt werden, damit die Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts nicht diskriminiert werden: So heißen die Abteilungen in den Kaufhäusern nicht »Frauen-Kleidung«, noch weniger »Weiber-Zeug«, sondern »Damen-Oberbekleidung« usw. Eine andere Geschichte, in der die Entdiskriminierung rekursiv wird, ist die oben erwähnte der Diskriminierungsvermeidungen von „Hilfsschule“ über „Sonderschule“ und „Sonderform der Volksschule“ bis hin zur „Förderschule“. Lassen wir doch bitte die Unterschiede zu und bezeichnen sie mit diskriminierenden Wörtern, nennen wir die Blinden weiter Blinde und nicht etwa zur angeblichen Diskriminierungsvermeidung »Anderssehende«! Wer sich zur Diskriminierung, d.h. zur Unterscheidung, bekennt und sich dem »gemeingeltenden Unsinn« der Wohlverhaltensdiskurse verweigert, vereinsamt, oder es kommt zur Bildung subkultureller und subversiver Gruppen, wie die Gruppe der Frühromantiker um die Zeitschrift »Athenaeum« eine war. Unter Umständen wird der Wille zum Widersprechen – und Adorno hat es so gesehen – den offiziellen philosophischen Diskurs auch verlassen müssen oder ihn sprengen (je nach Aspekt). Und die Frühromantiker haben genau das praktiziert. Alain Badiou sagt dazu: »Jedem konsensuellen Bild von der Politik muß widersprochen werden. Ein Ereignis wird, auch wenn die Wahrheit, die aus ihm zu schließen ist, universal ist, niemals geteilt, denn seine Anerkennung als Ereignis fällt mit der politischen Entscheidung selbst zusammen. Eine Politik ist eine höchst gewagte, militante und stets partiell nicht geteilte Treue zur ereignishaften Singularität, und sie folgt einer Präskription, die sich nur durch sich selbst autorisiert.«141
In einer solchen Situation befanden sich die Frühromantiker – Konsens war für sie kein positiv ausgezeichneter Wert, weder im Inneren der Gruppe, und erst recht nicht im Verhältnis zu den herrschenden Diskursen. Auch Adorno hat mit seiner »Negativen Dialektik« das Problem gesehen, und Friedrich Schlegel hat es programmatisch praktiziert. Man kann – innerhalb des logischen Diskurses – dem Satz vom Widerspruch nicht beikommen, es sei denn durch Hypostase einer Einheit, die noch die Differentz von Einheit und Vielheit in einer docta ignorantia à la Cusanus zu fassen versucht. Aber jede Theorie, die sich – widersprechend! – wie ein Ereignis auf das Adiskursive und Diskursinnovative bezieht, befindet sich im Widerspruch. Nietzsche machte geltend, daß logische Sätze wie der Satz vom Widerspruch unmöglich aus der Realität oder dem epistemisch unvermeidlichen Bezug auf sie entstammen könnten, da sie sonst die Kenntnis der Realität voraussetzen müßten, um ihre Angemes-
141 A. Badiou: Über Metapolitik. Zürich, Berlin 2003, p. 38.
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senheit überprüfen zu können: »Der Satz [vom Widerspruch] enthält also kein Kriterium der Wahrheit, sondern einen Imperativ über das, was als wahr gelten soll.«142 Und Wolfram Hogrebe formulierte die Konsequenz: »Hiernach ist der Anfang bestreitbarer Wahrheit zugleich der Anfang streitbarer Wahrheit.«143 Aus der Fraglichkeit der Reichweite der Geltung des Satzes vom Widerspruch zog Friedrich Schlegel die Konsequenz, nicht etwa ihn förmlich und formgerecht zu bestreiten, sondern ihn aktiv zu ignorieren, bzw. auch mit ihm zu spielen, etwa wenn er den paradoxen Satz aufstellt: »Der Satz d[es]Widerspruchs ist nicht wahr, oder er widerspricht seiner Antithese – alles widerspricht sich, gilt ebenso gut. Der Satz des Widerspruchs ist ein Widerspruch d[es] Satzes.«144 Ein in Hardenbergs »Blüthenstaub«-Fragmenten im »Athenaeum« eingestreutes Fragment (Nr. 26) stammt aus Schlegels Feder und lautet: »Um den Satz des Widerspruchs ist es unvermeidlich geschehen, und man hat nur die Wahl, ob man sich dabei leidend verhalten soll, oder ob man die Notwendigkeit durch Anerkennung zur freien Handlung adeln will.«145 Selbstverständlich optiert Schlegel für das zweite und notiert dementsprechend: »Jeder Satz jedes Buch, so sich nicht selbst widerspricht, ist unvollständig.«146 Unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung einer Theorie, die das Adiskursive und Diskursinnovative als nicht sanktionierend behandelt, erscheint das Widersprechen des Widerspruchs zwangsläufig. Die Diskursverwalter werden angesichts des zuletzt angeführten Satzes von Schlegel fragen: Wie kann er das behaupten? Welche Gründe hat er? Und gravierender noch: verwickelt er sich nicht eben mit der Aufstellung des Satzes in einen Widerspruch? Eben das will er doch!! Schlegel hält die Ignorierung und spielerische Bestreitung des Satzes vom Widerspruch für jede radikale Philosophie147 für unvermeidlich. Ein solches Postulat erklärt sich durch die Idee des Symphilosophierens, d.h. des gemeinsamen Erzeugens des Textes der Philosophie. Wird der symphilosophierende Text unter dem Postulat der Homogenität und Konsistenz
142 F. Nietzsche: Kritische Studienausg., hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari. München, Berlin, New York 1980, XII, p. 389. 143 W. Hogrebe: Archäologische Bedeutungspostulate. Freiburg, München 1977, p. 208. 144 F. Schlegel: Kritische Ausgabe XVIII, p. 86. Damit zusammenhängend. »Geist besteht aus durchgängigen Widersprüchen.« (p. 369). 145 l. c. II, p. 164. 146 l. c. XVIII, p. 83; interessant erscheint in dem Zusammenhang, was Hans von Hentig als Charakterisierung von Fouché schreibt, nämlich daß sich dieser durch Widerspruch und durch Gegenargumente von seinem vorherigen Standpunkt abbringen ließ und sich von seinen Gegnern dahin bringen ließ, wohin er selbst eigentlich wollte. H. v. Hentig: Terror. Zur Psychologie der Machtergreifung. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1970, p. 130-137. 147 Radikal ist eine Philosophie, für die gilt: »Hat man nun einmal die Liebhaberei fürs Absolute und kann nicht davon lassen: so bleibt einem kein Ausweg, als sich selbst immer zu widersprechen, und entgegengesetzte Extreme zu verbinden«, so lautet der erste Teil des oben zitierten Fragments.
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gelesen, so erscheint die Pluralität der Einsätze notwendigerweise als Widersprüchlichkeit, weil ja doch in der Philosophie jede verschiedene Ansicht als eine entgegengesetzte erscheinen muß, d.h. der Gesamtzusammenhang als polemische Totalität. Kategorisch befand Gerhard Gamm zu unserem Themenzusammenhang. »Das Logische ist nicht Index der Wahrheit […]«148 Er bezieht sich dabei auf Nietzsche, der in der Nachlaß-Notiz u.d.T. »Wille zur Macht als Erkenntniss« niederschrieb, daß das Logische, d.h. das Bedürfnis zu schematisieren, zu subsumieren und zu kategorisieren allein dem praktischen Bedürfnis entspringt, das uns umgebende Chaos zu zähmen, ihm so viel wie nötig »Regularität und Formen auf[zu]erlegen […]«149, und zwar um das Leben übersichtlich zu machen. »Die subjektive Nöthigung, hier nicht widersprechen zu können, ist eine biologische Nöthigung […] Welche Naivität aber, daraus einen Beweis zu ziehen, daß wir damit eine ›Wahrheit an sich‹ besäßen […] | Das Nicht-Widersprechen-können beweist ein Unvermögen nicht eine ›Wahrheit‹.«150 Maurice Blanchot deutet Nietzsches Verhältnis zur Dialektik (sc. der Hegelschen Form der Dialektik, mit Widerspruch und Aufhebung) so, daß er, ähnlich wie wir es hier für Schlegel festgestellt hatten,151 der Dialektik nicht widerspricht – wie denn auch, würde er sich doch damit der Dialektik einordnen und seine eigene Aufhebung vorbereiten –, sondern indem er deren zentrale Begriffe, sie wiederholend, »aus der Bahn bringt«.152 Zuvor hatte er freilich festgestellt, daß Fragmentarik (Nietzsches und wohl auch seine eigene) den Widerspruch nicht kennt, wobei hier der Akzent auf »kennt« liegen muß, d.h. er weiß nichts vom Widerspruch,153 vor allem nicht vom hegelsch-dialektischen, aber er performiert permanent welche. Wenn man alle seine und Nietzsches fragmentarische Äußerungen als Dogmatik ernst nähme und nicht als erkundende Experimente des Denkens, dann stieße man unentwegt auf Widersprüche. Nicht um sie aufzuheben, finden sie sich im Text, sondern zur Eröffnung einer Welt der Vielfalt von (Denk)Möglichkeiten. Der romantische Physiker Johann Wilhelm Ritter hatte der Schlegelschen ignorierenden Orientierung am dialektischen Widerspruch und der Kultur des Symphilosophierens eine naturphilosophische Begründung gegeben. Ausgehend von dem auf Polarität beruhenden Phänomenen der (statischen) Elektrizität und des Magnetismus, wie sie auch Schelling seinen frühen Arbeiten zugrunde gelegt hatte, folgerte er erstens, daß die Duplizität – wenn man so will: der Widerspruch der Natur mit sich selbst – fundamental für das Universum sei. Dort, wo Homogenität zu bestehen scheint, 148 149 150 151
G. Gamm: Nicht nichts, p. 96. F. Nietzsche: Kritische Studienausgabe XIII, p. 333f. l. c., p. 334. Zu den Verbindungen zwischen Schlegel und Nietzsche s. E. Behler: Die Kunst der Reflexion. Das frühromantische Denken im Hinblick auf Nietzsche. In: Untersuchungen zur Literatur als Geschichte. Fs. Benno von Wiese, hrsg. v. V. J. Günther, H. Koopmann, P. Pütz u. H. J. Schrimpf. Berlin 1973, p. 219-248. 152 M. Blanchot: Das Neutrale, p. 190. 153 l. c., p. 182.
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liegt doch nur Duplizität in innigster Berührung vor. Berührungsphänomene, darin stimmte er wiederum mit dem magischen Idealismus Hardenbergs überein, wie z.B. Küsse, sind Phänomene der Erzeugung von etwas Neuem, das prinzipiell auf einer anderen Sinnebene liegt als die zwei sich Berührenden. Im Kuß liegt die Wirklichkeit des Phänomens der Liebe, die einen anderen ontologischen Status hat als den zweier sich küssender Leiber. Die Liebe ist dann aber auch nicht zu denken als eine innere individuelle Befindlichkeit zweier, die den Kuß bloß als »Ausdruck« von Innerlichkeiten hätte. Solche Strukturen kommen gerade an den eine neue Dimensionen der Naturphilosophie erschließenden Phänomenen vor. An ihnen entwickelt Ritter seine Theorie der Triplizität, die über die dualistische Natursicht hinausgeht und die auch Schelling so nach und nach in seine spätere Naturphilosophie übernommen hat. Für sie wird nun der Galvanismus (d.h. die Elektrodynamik und Elektrochemie) das Schlüsselphänomen der Deutung des Universums. Die Strukturformel dieses Galvanismus lautet: drei Elemente auf zwei verschiedenen Ebenen.154 Damit geht er sowohl über die Naturphilosophie Lichtenbergs hinaus, der mit dem Magnetismus die Polarität (+ / −) als Grundfigur erkannte, als auch über den frühen Schelling, der die durch Galvani und Volta bekannten Phänomene noch in diesem polaren Schema deuten wollte. Erst Ritter erkannte, daß der »Prozeß« nur verstehbar ist, wenn man das katalytische dritte Element in die Theorie einführt.155 Es braucht wohl nicht eigens betont zu werden, wie ähnlich die Struktur des kommunikativen Textes diesem naturphilosophischen Schlüsselphänomen kommt: Kommunikation von Selbst und Anderem und – auf der weiteren Ebene der Beobachtung und Interventionsmöglichkeit: der Dritte – Triplizität der Elemente in der Duplizität der Ebenen. Die Romantiker sind diesem naturphilosophischen Deutungsschema gefolgt. Bei ihnen erscheint die Duplizität als ein Widersprechen in der »polemischen Totalität« und die Triplizität als Reflexion. Man mag den Widerspruch als Geschick mitsamt den Sanktionen des herrschenden Diskurses auf sich nehmen, oder man mag diese Unvermeidlichkeit 154 J. W. Ritter: Beweis, daß ein beständiger Galvanismus den Lebensprozeß in dem Thierreiche begleite. Weimar 1798; ders.: Beweis, daß die Galvanische Action oder der Galvanismus auch in der Anorganischen Natur möglich und wirklich sey. In: ders. (Hrsg.): Beyträge zur nähern Kenntniß des Galvanismus und der Resultate seiner Untersuchung. Jena 1800-1805, I, p. 111-284; ders.: Bemerkungen über den Galvanismus im Thierreiche. In: dass H. 3+4, p. 107-194, ders.: Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers. ND Heidelberg 1969; ders.: Physik als Kunst. München 1806. 155 Zu Ritter s. W. D. Wetzels: Johann Wilhelm Ritter: Physik im Wirkungsfeld der deutschen Romantik. Berlin, New York 1973, K. Röttgers: Der Ursprung der Prozeßidee aus dem Geiste der Chemie. In: Archiv für Begriffsgeschichte 27 (1983), p. 93-157, zu Ritter bes. p. 134-137; ders.: Symphilosopieren. In: ders.: Texte und Menschen. Würzburg 1983, p. 84-118, zu Ritter bes. p. 111-117; ders.: Romantische Psychologie. In: Psychologie und Geschichte 3 (1991), p. 24-64, zu Ritter bes. 32-34; St. Dietzsch: Romantischer Dilettantismus – Johann Wilhelm Ritter und die Begründung der Elektrochemie. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 9 (1986), p. 191-197; ders. / B. Dietzsch: Nachwort. In: J. W. Ritter: Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers. Leipzig, Weimar 1984, p. 344-364.
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»durch Anerkennung zur freien Handlung adeln« (s.o.). In diesem Fall wird sein Auftreten noch schroffer sein, als wenn der herrschende Diskurs mit der Entschuldigung ein Verständnis ermöglicht, daß es ja eben nur das pragmatische Widersprechen sei, das die semantischen Widersprüche in den Text hat kommen lassen. Eine solche beschwichtigende Interpretation schaltet Friedrich Schlegel so kategorisch aus, daß er sich die Feindschaft Schillers zuzog und aus Jena nach Berlin flüchten mußte. Für ihn ist nämlich Bildung nicht die Beseitigung der Widersprüche nach innen aus dem symphilosophierenden Text und nach außen das Widersprechen gegen den in Jena und Weimar etablierten Kulturbetrieb, sondern Bildung ist Kultivierung der Widersprüche. Im Sinne der Deutungen der Schlegelschen Philosophie des Widerspruchs sind dann auch folgende Behauptungen zu lesen: »Geist besteht aus durchgängigen Widersprüchen.«156 Und der oben bereits zitierte Satz: »Jeder Satz jedes Buch, so sich nicht selbst widerspricht, ist unvollständig.«157 In Selbstanwendung sagt dieser Satz, da er sich nicht selbst widerspricht, daß er selbst unvollständig sei. Wie aber seine Unvollständigkeit zu ergänzen sei, damit er widersprüchlich würde, das wird sich erst im folgenden zeigen lassen, zunächst einmal ist die Radikalität des Satzes festzuhalten. In Richtung einer Auflösung heißt es dann: »Alle Widersprüche sind nur scheinbar, und alle Begründung nie zu vollenden.«158 Die Unvollendbarkeit der Begründungen, die hinter der bloß scheinbaren Widersprüchlichkeit steht, ist eine Erklärung der Bedingungen, warum Widersprüche zwangsläufig auftreten. Sie müssen dem »gemeingeltenden Unsinn« widersprechen, das ist ihre paradoxe Pragmatik, semantisch aber tritt sie als Widersprüchlichkeit selbst der Widersprechenden auf. Jede radikale Philosophie, die sich als Text in Widerspruch zur Regularität des Diskurses setzt, d.h. seine Regeln gezwungenermaßen-bewußt verletzt, um die Ohnmacht in der Macht des Diskurses (Deutungsmacht) exemplarisch zu decouvrieren, ist in diesem Sinne para-dox. In der sprachmythischen Siegesgewißheit des subversiven Textes ausgedrückt, lautet das: »Jede nicht paradoxe f ä [Philosophie] ist sophistisch […] Das eigentl[iche] Wesen d[er] Sophisten besteht in d[er] Feigheit.«159 Die mythische Siegesgewißheit der Subversion drückt sich dann auch aus in Bildern des Übergangs: »Der Uebergang ist immer ein Sprung – daher Paradoxie nicht fließend.« Der Übergang, von dem hier die Rede ist, ist der Übergang von der natürlichen Denkungsart zur philosophischen, die nur als Paradoxie für die natürliche wird. Das wird insbesondere dann sichtbar, wenn der philosophische Text nicht für sich, nicht esoterisch bleiben will, sondern Popularität anstrebt; wenn sie nicht den faulen Kompromiß des »Moderantismus« zulassen kann, dann wird sie immer als Paradoxie erscheinen: der
156 157 158 159
F. Schlegel: Kritische Ausgabe XVIII, p. 36. l. c., p. 83. l. c., p. 413. l. c., p. 123.
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radikale Übergang des Sprungs.160 Ein Übergang macht »Epoche«, er ist die Vereinigung der Getrennten durch Popularität. Daher ist in den theoriebezogenen Bildern einer Kultur-Revolution die Paradoxie mit der Popularität notwendig verbunden: »Je populärer (im Ausdruck) ein ϕµ [Philosophem] ist, je paradoxer in d[er] Erscheinung.«161 Und auch hier gilt die Selbstanwendung: Will einem dieses Fragment paradox erscheinen, so wäre das ein Kennzeichen seiner wahren, subversiv bewegenden Popularität, die auch das natürliche Denken von den Zwängen der diskursiven Disziplin des philosophischen Diskurses befreit. Im Prozeß des revolutionären symphilosophierenden Textes begegnen also zwei soziale Bewegungen: Ausschluß (Marginalisierung) und Sinnbildung im solidarisierenden Kampf. Esoterisch gebildeter Sinn, der Widerspruch ist und ihn enthält, läßt sich in polemischer Totalität auf symphilosophierende Textprozesse ein und wird damit wenigstens partiell exoterisch gewendet. Die aus der Ausrichtung auf eine revolutionäre Popularität vollzogene exoterische Wendung eines Esoterikons ist aber nichts anderes als paradox.162 Genau diese Bewegung der popularisierenden Verallgemeinerung der theoretischen Revolte nennt Schlegel Dialektik. Mit diesem Begriff ist ein kommunikativer Prozeß gemeint, der intertextuell einerseits Verständigung mit dem Fremden ist, eine Verständigung, die den Fremden in seinem theoretischen Sosein voll akzeptiert und ihn deswegen notwendigerweise kritisiert,163 andererseits jedoch eine Polemik, die seine Fremdheit vollständig zerstören und auflösen will und die deswegen liebend seine Nähe sucht. Dialektik ist paradoxe Philosophie. Die paradoxe Ausweitung der revoltierenden Philosophie aus ihrer Esoterik in ihre Popularität ist die Bedingung der Möglichkeit der Objektivität, die die Pluralität der Einsätze beim Beginn des Symphilosophierens negiert. Als Frucht der romantischen Bemühungen um eine Dialektik hat Friedrich Schleiermacher seine »Dialektik« von 1822 entworfen. Definitionsartig legt bereits § 1 der Einleitung fest: »Dialektik ist Darlegung der Grundsätze für die kunstmäßige Gesprächsführung im Gebiet des reinen Denkens.«164 Zur Gesprächsführung merkt er an, daß es sich auch um eine innere Gesprächsführung handeln könne, sofern auch 160 l. c., p. 304; zu Philosophien des Übergangs s. K. Röttgers: Metabasis. Philosophie der Übergänge. Magdeburg o.J. [2002], und kürzer ders.: Übergang. In: Wörterbuch der philosophischen Metaphern, hrsg. v. R. Konersmann. 3. Aufl. Darmstadt 2011, p. 476-491; s. ferner ders.: Labyrinthe. In: ders.: Kopflos im Labyrinth. Essen 2013, p. 31-54; zur Notwendigkeit des Sprungs im Übergang zu einem »anderen Anfang« s. M. Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Frankfurt a. m. 1989 (Gesamtausg. Bd. 65), p. 227-289. 161 F. Schlegel: Kritische Ausgabe XVIII, p. 36. 162 l. c., p. 104, 417. 163 l. c., p. 221, 509: »Sehr bedeutend ist der Griech.[ische] Nahme Dialektik. Die ächte Kunst (nicht der Schein wie bey K[ant]), sondern die Wahrheit mitzutheilen, zu reden, gemeinschaft.[lich] die Wahrheit zu suchen, zu widerlegen und zu erreichen […]« 164 F. Schleiermacher: Dialektik, hrsg. v. R. Odebrecht. Darmstadt 1976, p. 5.
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im Inneren Argument und Gegenargument sich begegnen, d.h. insofern Selbst nicht nur den äußeren, sondern auch den inneren Anderen einbezieht und es sich nicht um ein reines »Selbstgespräch« handelt, d.h. um einen sei es inneren, sei es äußeren Monolog. Schleiermacher führt ferner drei Arten der Gesprächsführung an, d.h. Texte unter Dominanz dreier Diskurstypen: das freie Gespräch, das geschäftsmäßige und das im Bereich des reinen Denkens. »Das freie Gespräch gehört überwiegend dem künstlerischen Denken an.«165 In ihm sind die Gedankenentwicklungen des einen und des anderen aufeinander bezogen. »Das freie Gespräch ist nun auf diesem Wege durch gegenseitige Mitteilung sich entwickelnde Wechselwirkung […] Dieses ursprüngliche, in jedem Zusammenleben sich bildende Gespräch hat kein anderes natürliches Ende als die allmähliche Erschöpfung des beschriebenen Prozesses, und kann also um so länger fortgesetzt werden, je mehr erregende Kraft der hervortretenden Gedanken einwohnt; aber es kann freilich jeden Augenblick übergehen sowohl in das geschäftliche Denken als auch in die Richtung auf das Wissen.«166
Zu diesem entscheidenden und vorbildlichen Passus seien drei Anmerkungen gestattet. •
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Schleiermacher erwähnt das »natürliche Ende«; es gibt aber auch ein quasi unnatürliches genau dort, wo der Text in definitiv etwas ganz anderes als Text übergeht; zwei Formen dieses Übergehens seien erwähnt: in Gewalt und in mystisches Schweigen.167 Schleiermacher spricht von »Erschöpfung«, aber bezeichnenderweise ist diese Erschöpfung ohne Subjektbezug, es ist die Erschöpfung des Textes, also das Ende sinnvoller Anschließbarkeiten. Schleiermacher hält diese Form des Gesprächs für die ursprüngliche, die das Soziale als solches auszeichnet, es ergibt sich aus, oder: ist das Medium des Zusammenlebens.
Der Begriff der Erschöpfung des Textes bedarf einer Abgrenzung von dem Begriff der Müdigkeit. Diese kann, aber muß nicht (s. Material-Ermüdung) subjektzentriert
165 l. c., p. 8. 166 ibd. 167 Daß auch die irgendwo zwischen Gewalt und Mystik anzusiedelnde Erotik von der Art sein kann dazu s. G. Bataille: Der heilige Eros. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1979; und J. Evola: Metaphysik des Sexus. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1983. Aber Erotik kann auch sehr wohl textuell verfaßt sein und das stets mögliche Ende des Textes kunstvoll umspielen; s. R. Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt a. M. 1984.
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verstanden werden. Byung-Chul Han hat mit dem Begriff der Müdigkeitsgesellschaft168 eine Gesellschaft metaphorisch zu charakterisieren versucht, indem er die Krankheiten der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts als – in Absetzung von den kranken Gesellschaften früherer Jahrhunderte als bakteriellen und viralen – neuronale Krankheiten bezeichnet und darunter zusammenfaßt ADHS, Borderline-Störungen, Burnout-Syndrom. Demgegenüber hatte schon Maurice Blanchot einen nichtsubjektzentrierten Begriff der Müdigkeit entwickelt. Ausgehend von zwei Erfahrungsweisen des Textes, einer dialektischen und einer undialektischen, zeigt er, wie das Schweigen in den Text eingenistet ist, indem das (für den kommunikativen Text notwendige) Zuhören des Anderen ein schweigendes ist … bis zur Wortergreifung seinerseits. Aber umgekehrt, wenn Selbst sich unterbricht, kann dieses mehrererlei bedeuten: Eröffnung der Chance zur Wortergreifung des Anderen, standardmäßig z.B. in der Frage, oder im Innehalten, um auf einer anderen Ebene fortzusetzen (Reflexion des Textes in sich), oder rein somatisch, zum Atemholen. Es kann aber auch der Einbruch dessen sein, was Blanchot das »Neutrale« nennt: Müdigkeit, Schmerz oder namenloses Unglück. Doch zurück zu Schleiermachers Dialektik und seiner zweiten Art des Gesprächs, der geschäftsmäßigen. Dieses ist die gesprächsweise Instrumentalisierung des Anderen, sei es, um ihn für ein gemeinsames Projekt zu gewinnen, sei es, um seine störenden Eingriffe zu verhindern. Das Gespräch im Rahmen des reinen Denkens nennt Schleiermacher auch das »eigentliche Gespräch«.169 Für dieses ist, als inneres der Zweifel, als äußeres der Streit das bewegende Mediale. Der Streit – Schlegel nannte es die »polemische Totalität« – ist das Normale. Nicht das Wissenwollen als solches ist polemisch, aber das Wissenwollen tritt immer in Pluralität und Differenz auf. Selbst wo dieses Wissen als homogen auftritt (Kuhns »normal science«, wenn man so will) und momentan keinen Widerspruch auslöst, enthält es doch »gleichsam Stoffe zu noch unentdecktem Streit.«170 Die Geschichte der Wissenschaften belege, daß die Wissensentwicklung »in ihren mannigfaltigen Umgestaltungen nichts anderes darbietet, als ein sich immer erneuerndes Zurückgehen auf früher für unstreitig gehaltene Vorstellungen und Sätze als auf streitig gewordene.«171 Es braucht nicht bezweifelt zu werden, daß vielleicht am Ende aller Zeiten der Wissensentwicklung so etwas wie Konsens über die endgültig gefundene Wahrheit möglich sein könnte. Jeder Wahrheitssuchende ist von diesem Leitbild überzeugt; aber einstweilen findet er sich im Streit mit anderen, die das gleiche unbedingte Ziel auf widersprechenden Wegen angehen. Daher ist es so wichtig, daß er ernsthaft und mit Eifer seinen exklusiven Weg geht, zugleich aber jederzeit auch die Metaperspektive einnehmen kann,
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B.-Ch. Han: Müdigkeitsgesellschaft. 6. Aufl. Berlin 2010. F. Schleiermacher: Dialektik, p. 9. l. c., p. 12. ibd.
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die ihn im Streit mit den anderen zeigt. Und genau diese Metaperspektive nimmt die Dialektik als Theorie des Gesprächs ein. Paradox wird allerdings auch diese Metaperspektive, weil sie zu behaupten gezwungen ist, sie sei die einzig mögliche Theorie der Dialektik, wenn sie nicht in einen Relativismus verfallen will. Das heißt, sie reproduziert in ihrer Praxis die Paradoxie, deren Theorie sie sein möchte. Dieses Problem läßt Schleiermacher (anders als Luhmann, s.o.) allerdings nicht zu, sondern fordert einen Konsens aller Streitenden über die Grundsätze der Dialektik als Theorie der Gesprächsführung. Gleichwohl weiß auch er, daß das weder als gegeben vorausgesetzt noch einfach gefordert werden kann. Den Grund sieht er in der Verschiedenheit der menschlichen Sprachen, und ich würde hinzufügen: der Verschiedenheit der Diskurse als Instanzen zwischen Sprachregeln und Textvollzügen. Es ist ein Irrtum zu glauben, wie viele der aufklärerischen Theorien es getan haben, daß es eine Ursprache gebe, von der alle bestehenden Sprachen mehr oder weniger abgefallen sind. Sondern hier nimmt auch Schleiermacher eine Vielfalt in den Ursprüngen an.172 Aber selbst das Problem der Übersetzung hält er für ein partiell unlösbares Problem,173 wie sich an den Schwierigkeiten Ciceros zeige, die griechische Philosophie in die lateinische Sprache zu übertragen. Die fundamentale Vielfalt der Sprachen ist aber kein Handicap, sondern – das sollte man auch der grassierenden linguistischen Anglophilie entgegenhalten – ein Reichtum der Menschheit »[…] würden wir es doch für keine Verbesserung achten, wenn es nur eine Sprache gäbe für alle. Denn nur alle diese Abänderungen zusammengenommen erschöpfen das Denken des menschlichen Geistes […]«174 Schleiermacher aber denkt immer noch, daß es jenseits des willkommenen Streits nur eine einzige Metaebene geben könne, nämlich die Dialektik. Diese kann den Streit deswegen eindeutig beenden, »aufheben«, weil sie mit Eindeutigkeit auf den Gegenstand, auf die Selbigkeit des Gegenstandes verweist, d.h. den Referenzcharakter des Denkens zur Geltung bringt. Der Streit nämlich setzt diese Selbigkeit voraus; denn wenn einer irgend etwas denkt und ein anderer denkt etwas ganz anderes, so ist zwischen diesen gar kein Streit möglich. So weit, so gut; aber Schleiermacher erkauft diese Eindeutigkeit mit einem Trick, nämlich indem er das, was er vorher das »ursprüngliche« Gespräch genannt hatte, das aller Sozialität zugrunde liege, nun aus der 172 Sprachursprünge wurden selbstverständlich teilweise im Hebräischen vermutet, aber auch an vielen anderen Stellen, ja sogar im Holländischen. Noch die romantischen Sprachtheorien nahmen das Sanskrit als Ursprache der indoeuropäischen Sprachen an, die dann als erste Verzweigung diejenige zwischen den Satem- und den Kentum-Sprachen postulierten, je nachdem ob das Wort für 100 mit einem *s beginnt, wie Indisch, Persisch oder Kurdisch, oder mit einem *k, wie die europäischen Sprachen. Alle diese Theorien waren aber von der Obsession der Einheit am Ursprung getrieben. 173 Zu Schleiermachers Theorie der Übersetzung s. ders.: Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens. In: ders.: Kritische Gesamtausgabe XI. Berlin, New York 2002, p. 6793. 174 l. c., p. 16.
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Betrachtung ausschließt. Ob hier nämlich »eine Beziehung auf das Sein stattfindet, oder ob sie dort überall nicht ist, diese Frage liegt außerhalb unserer Aufgabe, indem für uns diese Denkform schon durch die Unbestimmtheit dieses Punktes« einen fundamentalen Unterschied zum »reinen Denken« ergebe.175 Das aber heißt nichts anderes, als daß der Schleiermachersche zugespitzte und eingeschränkte Typ der Dialektik sich selbst für ungeeignet erklärt, etwas zum Verständnis des Sozialen beizutragen, worum es uns aber hier vorrangig gegangen wäre, als wir in die Prüfung dieser in der Grundstruktur verheißungsvollen Dialektik eingetreten waren. Ist also diese Dialektik nicht zu retten? Ich glaube schon. Man müßte auch für das »ursprüngliche« Gespräch die Unbeendbarkeit (aus der Immanenz) ernster nehmen. Der Text, wäre dann zu sagen, ist deswegen unbeendbar, weil er einen ebenfalls nicht beendbaren Ebenenwechsel beinhaltet. Eine solche Unbeendbarkeit darf man sich allerdings nicht so vorstellen, wie alle transzendentale Philosophie des FichteZeitalters das sah, nämlich im Ebenenwechsel immer transzendentaler, gar transzendenter werdend, bis man an dem Punkt »of no return« ankommt, der transzendentalen Apperzeption oder dem moralischen Gesetz, der kein weiteres Ableiten und Beweisen mehr zuläßt. Ende der Himmelsleiter in einer nicht abbildbaren Wolke.176 Man muß sich im Gegenteil die Unbeendbarkeit als rekursive Struktur vorstellen, wozu Nietzsches Gedanke der Wiederkehr des Gleichen eine entscheidende Anregung für das Denken der Postmoderne gegeben hat. Aus der Überzeugung, daß »Kontinuität niemals kontinuierlich genug« sein könne, folgt für Maurice Blanchot zwar, daß Diskontinuität das Normale sei, aber auch für sie gilt eben, daß Diskontinuität »niemals diskontinuierlich genug« sei, »da es ihr einzig gelingt, zu einer momentanen Diskordanz zu gelangen und nicht zu einer wesentlichen Divergenz oder Differenz.«177 Selbst wenn also Diskontinuität normal ist, galt doch für die Philosophie das Kontinuitätspostulat, seit der Logik des Aristoteles in drei Prinzipien: das der Identität, das des Ausschlusses des Widerspruchs und das des ausgeschlossenen Dritten. Erst die Hegelsche Logik hat damit aufgeräumt, indem sie den Widerspruch als das bewegende Prinzip des Denkens erkannte. Aber: die Hegelsche Dialektik schließt den Widerspruch nicht aus, sondern zähmt ihn, domestiziert ihn zum Haustier. Indem bei ihm das Denken vom Einen zu dem ihm Widersprechenden übergeht, bleibt ganz unklar, was ihm im Zwischen, in der medialen Mitte zustößt. Blanchot argwöhnt: »was aber hat zwischen den entgegengesetzten Termen statt? Ein Nichts, das wesentlicher ist als das Nichts selbst, die Leere des
175 l. c., p. 23. 176 Zum Problem der Abbildbarkeit von Wolken in der zentralperspektivischen Konstruktion von Bildlichkeit s. H. Damisch: Die Geschichte und die Geometrie. In: Wolken. Archiv für Mediengeschichte 5 (Weimar 2005), p. 11-25; auch: K. Röttgers: Die Wolken des Michel Serres. In: Wolken, hrsg. v. K. Röttgers u. M. Schmitz-Emans. Essen 2015, p. 29-45. 177 M. Blanchot: Das Neutrale, p. 165.
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Dazwischen […]«178 Aber genau das leugnet die Hegelsche Dialektik; in ihr sind die einander Widersprechenden einander ganz nah, lassen keinen Zwischenraum, kein Medium, das etwas anderes wäre als die Bewegung selbst. Der Widerspruch ist hier keine Trennung: »zwei Feinde sind schon in einem Einheitsbezug begriffen, wohingegen die Differenz zwischen dem ›Unbekannten‹ und dem Vertrauten unendlich ist.«179 7.6.6 Hegel und die Negation Wir sind im vorhergehenden Abschnitt weitgehend solchen Theorien gefolgt, die, wie diejenige des frühen Friedrich Schlegel dem Gedanken der Möglichkeit der Subversion des Diskurses anhingen. Die Gruppe der Frühromantiker und damit die angefangene Praxis in diesem Sinne ist gescheitert. Man könnte nun die Perspektive wechseln und diesen Ansatz zu einer Dialektik der Inkonsequenz ihres in der beschränkten Perspektive bloßer Subjektivität und Intersubjektivität – ohne Gespür für das Soziale – verbleibenden Textualität zeihen. Oder man könnte argwöhnen, daß der Widerspruch sich nur eine in sich selbst widersprüchliche Kontinuität (d.h. Kontinuität von Diskontinuitäten) geben könne. Das bedeutete auch, daß er in seinem Widersprechen stets doch auf die Kontinuität des Diskurses angewiesen bliebe, eines Diskurses, der ihn exkommuniziert, ohne daß daraus so etwas wie eine Identität der subversiven Aktion erwachsen könnte. Wenn man in Hegels Dialektik überhaupt Spuren eines Gesprächs entdecken will, dann wäre es ein »Gespräch« zwischen Sinn und Widersinn, also eher ein Spannungsverhältnis in der Dimension des Diskursiven, nicht aber in der sozialen Dimension. Und so hat dann auch Michael Theunissen die Machtstruktur der Dialektik nicht als eine des Gesprächs geschildert, sondern als Form der Aneignung des Anderen durch das Eine, d.h. eine seinslogische Struktur des Übergreifens; im subjektiven Sinne ist dieses Übergreifen ein solches, das den Gegenstand des Denkens im Gedanken ergreift/begreift. Dieses Übergreifen, sofern es seine interne Dialektik ernst nimmt, ist allerdings eines, das in seiner Machtentfaltung an seine Grenzen stößt und diese Grenzen reflektiert, und zwar als Widerspruch. Der (logische) Widerspruch wird im Hegelschen Typ der Dialektik allerdings »niedergehalten«, wie Theunissen sagt: »Die Herrschaft der Identität über die Nichtidentität verhindert den Ausbruch des Widerspruchs im Sinne der inneren Zerrissenheit oder der Entzweiung eines und desselben in sich und sein Gegenteil.«180 Auch wenn die Hegelsche Dialektik eine Ursprungsphilosophie ist, wie sie vor allem in der »Logik« expressis verbis durchgeführt ist, ist sie doch in dem Sinne eine 178 l.c., p. 166. 179 ibd. 180 M. Theunissen: Krise der Macht. In: Hegel-Jb. 1974 (1975), p. 318-329, hier p. 319.
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mißratene oder unglückliche Ursprungsphilosophie, als sie den Ursprung nie im Griff hat; sie ist vielmehr eine, die etwas nur dadurch bestimmen kann, daß sie sein Gegenteil, seine Negation immer schon mit voraussetzen muß, so daß die Wahrheit von etwas nur durch die notwendige Beziehung ausgesagt werden kann.181 Wo sich diese Dialektik im Hegelianismus und im Marxismus zur Kritik des Bestehenden umformuliert, erscheint die Negation zugleich als Ausblick auf die zukünftigen Möglichkeiten, festgehalten im Bild von Karl Rosenkranz, daß die Philosophie nicht nur (so Hegels Diktum) die Eule der Minerva sei, die immer zu spät kommt, sondern auch die Lerche, die den neuen Tag ankündigt. Dann aber betrifft die Idee der tödlichen Negation nur die Gegenwart, nicht aber den Fortgang der Geschichte zu ihrer Zukünftigkeit. Faßt man jedoch den Widerspruch statisch und logisch auf, d.h. nicht als das, was sich im textuellen Prozeß des Widersprechens ereignet, dann kann man den Widerspruch ansehen als das logische Verhältnis zweier Sätze, d.h. Satzgehalte oder Propositionen. Der Widerspruch ist hier das Verhältnis einer behauptenden und einer bestreitenden Proposition, wobei offen bleiben kann, welcher Teil behauptend und welcher bestreitend in dem Verhältnis ist. Sich auf diese Weise widersprechende Propositionen enthalten, als rein logisches Verhältnis betrachtet, einen logischen Widerspruch oder Kontradiktion. Das Verhältnis als solches ist weder wahr noch falsch, nur eine (oder beide) der Propositionen können falsch oder unwahr sein. Zwischen dem so herauspräparierten logischen Widerspruch und dem Widerspruch des Widersprechens im Text haben einige, insbesondere marxistische Philosophen noch einen Widerspruch gefunden, der die Textualität in »Widerspruch« zur Welt außerhalb des Textes ansiedelt. Zu klären wäre allerdings, was hier »Widerspruch« besagen soll im Unterschied von Unwahrheit oder Falschheit von realitätsbezogenen Aussagen. Erst wenn man diesen »Widerspruch« prozessual auflöst, also nicht als eine statische logische Kontradiktion zwischen Text und atextueller Welt da draußen begreift, sondern (mit Hegel) ihn in die Entwicklung des Denkens selbst verlegt, d.h. in den Text, der weltbegreifender Text sein möchte, dann kann man zwischen dem unentwickelten, »abstrakten« (im Sinne Hegels) Gedanken und dem entwickelten, »konkreten« qua des Früher oder Später im Text einen Widerspruch statuieren, der ein Widersprechen im Textverlauf wäre. Um auf den logischen Widerspruch zurückzukommen, würde die Dialektik besagen, daß auch der bestreitende Satz nur möglich ist, wenn es zuvor einen behauptenden gegeben hat. Kein Satz ist atextuell eine Negation – selbst dieser nicht. Wenn es keinen expliziten behauptenden Satz im Text gegeben hat, macht doch die Negation 181 Zur Negativität der Hegelschen Philosophie, gedeutet als Philosophie des Todes, s. G. Bataille: Hegel, l’homme et l’histoire. In: ders.: Œuvres complètes. Paris 1988, p. 349369; dazu auch P. Bürger: Die Souveränität und der Tod. Batailles Einspruch gegen Hegel. In: Georges Bataille. Vorreden zur Überschreitung, hrsg. v. A. Hetzel u. P. Wiechens. Würzburg 1999, p. 29-40.
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die implizite affirmative Unterstellung, wenn sie denn sinnvoll sein soll. »Es gibt kein Bier auf Hawai«, macht doch die Unterstellung, daß man dort welches vermuten könnte und behauptet nun (natürlich wahrheitswidrig) das Gegenteil. Wittgensteins Beispielssatz »Eine Rose hat keine Zähne«182 kann nicht – oder nur mit grotesken Verrenkungen, die Wittgenstein erwägt – auf einen solchen impliziten Behauptungssatz zurückgreifen, und der Satz ist daher sinnlos. Wittgensteins Einwand ist, daß man nicht wüßte, wo man sie an der Rose suchen sollte und daher auf den Gedanken kommen könnte zu sagen: »Die Kuh kaut ihr Futter und düngt dann damit die Rose, also hat die Rose Zähne im Maul eines Tiers.« Man könnte jedoch eher sagen, der Satz ermangelt des impliziten vorausgehenden Satzes, der dann lauten müßte: »Die meisten Blumen haben Zähne« und der bestreitende Satz würde das dann für die Rose ausschließen. Aber wie man weiß, ist dem nicht so. Die Bestreitung eines offenkundig sinnlosen, unwahren Satzes macht selbst keinen Sinn. Aber dem Satz »Ich bin ein Jüngling mit lockigem Haar« würde, obwohl er vor vielen, vielen Jahren für mich zutraf, also wahr war, meine Frau heute widersprechen. »Aufgehoben« ist dieser Widerspruch aber, wenn ich mich korrigiere und sage: »Auch ich war …« Hier führt die Negation zum korrigierenden Textanschluß. Nach Hegel ist nun aber Negativität nicht etwas, was kontingenterweise auftritt, sondern sie gehört zum Wesen der Sache selbst. Oder anders gesagt: der textuelle Prozeß ist notwendigerweise von Negativität bewegt. In dem Rahmen der Theorie des kommunikativen Texte ausgedrückt, heißt das, die (bestreitende) Wortergreifung des vormals Anderen erst konstituiert den Sinn, d.h. die Fortsetzbarkeit des Textes. Sichtbar wird die Notwendigkeit des Widersprechens als Konstitutionsbedingung des Textes allerdings erst im Blick des Dritten. In reiner Intersubjektivität spricht nichts (abgesehen vom psychischen Wohlbefinden der Personen, die die Funktionspositionen innehaben) gegen den z.B. instruierenden Monolog. Aber das Medium des kommunikativen Textes als Soziales aufgefaßt, ist der Ort, an dem Widersprechen, d.h. Negativität sich ereignen muß. In die reine Intersubjektivität, z.B. die erotische, interveniert der Dritte und macht aus der Situation eine soziale, z.B. eine Ehe. Ohne den Dritten kann keine Ehe geschlossen werden, gegenseitige Beteuerungen mit gleichen Wortlauten sind keine Eheschließungen, sondern höchstens Eheversprechen. Aber nicht immer geht es so gut, wie die Dialektik es vorsieht. Es gibt auch ein Widersprechen, das zu nichts führt, eine Negativität ohne »Aufhebung«. In dem Kinderbuch »The Bear Who Said No«183 wird eine kleiner »naughty« Bär, der immerfort seiner wohlmeinenden Bärenmutter widersprach, von einer (pädagogischen) Fee dazu verzaubert, nur noch »no!» sagen zu können, welche Sätze und Fragen auch immer man an ihn richtete. Solch ein Zauber vernichtet den Text (nicht des Buches,
182 L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a. M. 1967, p. 258. 183 F. Nelson: Randolph, the Bear Who said No. New York 1946.
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sondern der darin verhandelten Situation): die Leute werden ihm gegenüber gewalttätig, und der kleine Bär bricht in sprachlose Tränen aus, bis ihn die Feen-Pädagogin erlöst, weil sie sieht, daß er seine Lektion gelernt hatte. Anthony Wilden nennt den nicht zu einer »Aufhebung« führenden Widerspruch einen homeostatischen:184 ohne Sinnerweiterung kehrt der Widerspruch in sich zurück – oder in der Sprache des kleinen Bären: no – no – no. Manche Adepten des Rimbaudschen Satzes »JE est un autre« sehen diesen Satz in Montaignes »Essais« präfiguriert.185 Die Stelle bei Montaigne lautet in der Übersetzung von Hans Stilett: »Ich heute und ich einst, wir sind zweierlei Menschen […]«186 Es ist sehr die Frage, ob das wirklich dasselbe ist wie bei Rimbaud. Bei Montaigne heißt es: wir »sommes bien deux.«187 Und er fährt fort: »mais, quand meilleur? Je n’en puis rien dire.« Die Zweiheit des Ich, bei Montaigne analog den verschiedenen Auflagen des »Essais«, ist Zweiheit qua Zeitabstand einer einzigen Identität, nämlich des Michel, während die Andersheit des »JE« bei Rimbaud die simultane und abgründige Differenz meint. »Je est un autre« ist eben nicht: »J’étais un autre«. Der Andersheit des Selbst entspricht in den beiden anderen Dimensionen des kommunikativen Textes das Vergangensein in der Gegenwart und die epistemischen Implikate in der Sinnbildung. Julia Kristeva hat in der Hegelschen Dialektik das Moment der Verdopplung gesehen und hervorgehoben. Die Negation in der Dialektik ist einmal disjunktive Negation, dann zum andern aber auch nicht-disjunktive Negation. Durch diese Verdopplung ist die dialektische Negation nicht nur oder nicht einmal vorrangig ein logisches Verhältnis, sondern es ist der Einbruch der Zeit in die Dialektik des Textes. Sie zerdehnt die Momente der Dialektik in eine Nichtgleichzeitigkeit, die eine Bedingung von Sinnbildung im Medium des kommunikativen Textes ist.188 Dialektik ist ein Prozeß, er führt die Negativität in die temporale Dimension ein. Die Dreiheit (Triplizität) als solche ist (wie im Galvanismus als Universalphänomen bei Johann Wilhelm Ritter) nichts als eine abstrakte Figur, ähnlich wie die abstrakten Schlußfiguren der formalen Logik. Zum bewegenden Moment wird die Negativität erst dadurch, daß der Dritte, seine Funktionsposition im kommunikativen Text, sich bewegt und bewegend wird. Der das Soziale definierende Dritte ist der Prozeß-Generator; und das wird dadurch möglich, daß die Besetzung dieser Position notwendig wechselt, d.h. übergeht. Der Dritte geht in der Dialektik in die Negativität ein, bleibt ihr nicht äußerlich. Insofern ist Ich (Selbst) nach dem Wort von Rimbaud nicht nur ein Anderer, sondern
184 A. Wilden: System and Structure. London 1977, p. 96. 185 So etwa Tim Trzaskalik in seinem Nachwort »Auf den zweiten Blick« zu seiner Edition von Rimbauds Seher-Briefen. In: A. Rimbaud: Prosa über die Zukunft der Dichtung. Berlin 2010, p. 79-152, hier p. 105 u. Anm. 25, p. 138f. 186 M. de Montaigne: Essais. Frankfurt a. M. 1998, p. 484. 187 ders.: Essais III. Nouv. éd. Par M. Rat. Paris 1958, p. 199. 188 J. Kristeva: Σηµειωτική. Paris 1969, p. 86.
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auch sein Dritter, d.h. er beobachtet sich und seinen (inneren und äußeren) Anderen und die Beziehung zu ihm, sich in diesen Verhältnissen. Und jede Beobachtung – das weiß man spätestens aus der Physik Heisenbergs, hätte es aber auch schon durch die Sozialphilosophie Simmels wissen können – verändert, generiert einen Prozeß der Interpretation und Bewertung. Die Verdopplung der Negativität, d.h. im Grunde die Verdopplung der einfachen Triplizität führt übrigens schon bei Hegel selbst zu dem Gedanken der Quadruplizität189, zum Vierten, übrigens in einem anderen als dem eher von Kant inspirierten Sinne, wie ihn Reinhard Brandt verschiedentlich vorgetragen hat.190 Berücksichtigt man aber die Austauschbarkeit von Triplizität und Quadruplizität bei Hegel, dann wird klar, daß in der Verdopplung der Negativität das Moment des prozessualen Hervortreibens das Wichtige ist. Das Subjekt in diesem Prozeß hört auf, transzendentaler Ursprung des Prozesses zu sein. Man muß vielmehr davon sprechen, daß das Subjekt im durch die dialektische Negativität notwendigen Wechsel der Positionen erzeugt wird.191 7.6.7 Widerspruch in Kommunikation In diesem Abschnitt soll es um die Frage gehen, welches die Bedingungen der Kommunikation von Widersprüchen sonst noch sind. Das setzt von der frühromantischen Dialektik-Auffassung wenigstens folgendes voraus. Auch wenn unter rein logischen Gesichtspunkten Widersprüche ein Malheur sein mögen, sind sie doch textpragmatisch ganz normal, ja konstitutiv. Da Widersprüche nämlich Bedingungen des Textfortgangs sind, sollen sie nicht beseitigt, sondern allenfalls »aufgehoben« (auf einer weiteren Ebene aufbewahrt) werden. Unter pragmatischen Gesichtspunkten wäre die Forderung nach Beseitigung von Widersprüchen nichts anderes als eine denk- und deutungsimperialistische Forderung, daß Selbst nicht widersprochen werde. Wenn Selbst p behauptet und der Andere mit ⌐p bestreiten möchte, können nicht beide recht haben, und da das redende Selbst recht hat, hat der Andere unrecht. Insbesondere wenn die Position des Selbst von einem weißen Professor bekleidet wird, die Position des Anderen von einer schwarzen Studentin, ist der Sachverhalt u.U. schon klar und wie der Widerspruch beseitigt, bzw. schon gleich verhindert wird.192
189 G. W. F. Hegel: Werke. Frankfurt a. M. 1970, VI, p. 561. 190 R. Brandt: Vergeßt den Vierten nicht!- In: Theorien des Dritten, hrsg. v. Th. Bedorf, J. Fischer u. G. Lindemann. München 2010, p. 117-130. 191 So auch J. Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt a. M. 1978, p. 116. 192 Demgegenüber wäre zu fordern, daß die abweichende Differenz in den Text selbst aufgenommen würde, daß sich die Kultur porös gegenüber anderskulturellen Anregungen verhielte.
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Solchen Vorstellungen, die der sozialphilosophischen Idee des kommunikativen Textes entgegenstehen, hatte schon Karl Löwith widersprochen und darauf bestanden, daß der Selbsteinwand »kein wirklicher Widerspruch« sei.193 Er sei, so Löwith, eigentlich das Gegenteil eines Widerspruchs, da er in seiner Immanenz nur der Absicherung des redenden Selbst diene und vor dem wortergreifenden Widerspruch des Anderen bewahren solle. Auf diese Weise bestünde auch die Gefahr, daß der Sachbezug sich auflöst, da der abgesichert Monologisierende mit sich allein bleibe und den Text ungestört durch den Anderen und die Sache fortsetzen möchte, »ist die Korrektur durch den Widerspruch des Anderen«, so führt Michael Theunissen den Gedanken fort, »das einzige, das zur Übereinstimmung mit der Sache führen kann.«194 Bekanntermaßen besteht der kommunikative Text aus den Positionen von Selbst und Anderem; das aber heißt: Wechselt die Besetzung der Positionen, so kann man auch sprechen von Mitteilung und Antwort.195 In der medialitätstheoretischen Deutung ist Mitteilung als Mit-Teilung (Gemeinsamkeit der Mitte) nicht Information (Einformung des Anderen), sondern auf der Linie der Sozialontologie von Jean-Luc Nancy die Teilung (Partizipation) des Mit. Gleichwohl ist dieses Medium, das Mit, asymmetrisch geteilt. In der Antwort (wörtlich: dem Gegen-Wort) wird die Asymmetrie nicht beseitigt, sondern durch Umbesetzung im Fortgang des kommunikativen Textes »aufgehoben«. Dennoch kann, siehe monologischer Deutungsimperialismus, die Asymmetrie verstetigt werden, z.B. wenn die Antwort ausbleibt oder im Schweigen besteht. Wenn die Mit-Teilung eine Frage war, ist das Schweigen eine textgefährdende »Ant-Wort«. Hiervon ausgehend hat der späte Heidegger die Frage in das Zentrum seines Denkens gestellt. Im Zeitalter der »Fraglosigkeit«, wie er das von der seinsvergessenen abendländischen Metaphysik und den von ihr heraufbeschworenen technikversessenen Machenschaften beherrschte Zeitalter nennt, stellt er mit Beharrlichkeit die Seinsfrage, d.h. die Frage nach dem Seyn. Ihm ist daher die Frage aller Fragen diejenige nach der Wahrheit des Seyns.196 193 K. Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. Darmstadt 1969, p. 66f.: »Ob aber die Art und Weise, wie sie [»die Sache selbst«] einer zur Sprache und zu Begriff bringt sachentsprechend ist, das kann sich der eine nicht selbst beantworten, denn was er sich so beantwortet, ist ja nur immer seine eigene Frage. Um erfahren zu können, ob seine Antwort der Sache entspricht, bedarf der eine eines andern. […] Bespräche einer etwas, es rein für sich durchdenkend, so spräche er in Wirklichkeit nicht ungestört mit der Sache selbst, sondern nur mit sich selbst. Der hierin mögliche Einspruch ist kein wirklicher Widerspruch [Hervorhebung von mir, K.R.], sondern ein selbstgemachter und vorhergesehener Einwand. Der Einwand, den sich einer selbst machen kann, stellt die Art und Weise, etwas zu besprechen, nicht nur nicht in Frage, sondern sichert die Fragestellung in ihrem eigenständigen Fortgang im vorhinein gegen den möglichen Einspruch eines andern.« 194 M. Theunissen: Der Andere. Berlin 1965, p. 429. 195 D. Wyss: Mitteilung und Antwort. Göttingen 1976. 196 M. Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Frankfurt a. M. 1989 (=Gesamtausg. Bd. LXV), p. 10f. In der von Heideggers »Grundfrage« inspirierten Philosophie
292 | I DENTITÄT ALS E REIGNIS »Hier ist alles auf die einzige Frage nach der Wahrheit des Seyns gestellt: Auf das Fragen. Damit dieser Versuch ein Anstoß werde, muß das Wunder des Fragens im Vollzug erfahren und zur Weckung und Stärkung der Fragekraft wirksam gemacht werden. | Das Fragen erweckt sogleich den Verdacht der leeren Versteifung auf das Unsichere, Unentschiedene und Unentscheidbare. Es nimmt sich aus wie ein Zurückreißen des ›Wissens‹ in die stillstehende Besinnung. Es hat den Anschein des Verengenden, Hemmenden, wenn nicht gar Verneinenden. | Und dennoch: im Fragen ist der treibende Ansturm des Ja zum Unbewältigten, die Weitung in das noch unausgewogene Zuerwägende. Hier waltet das Übersichhinausfahren in das uns Überhöhende. Fragen ist die Befreiung zum verborgen Zwingenden. | Das Fragen ist in seinem selten erfahrenen Wesen so ganz anders als der Anschein seines Unwesens vorgibt, um so oft den Unmutigen ihren letzten Mut zu nehmen. Aber sie gehören dann auch nicht in den unsichtbaren Ring, der jene umschließt, denen im Fragen der Wink des Seyns antwortet. | Das Fragen nach der Wahrheit des Seyns läßt sich nicht aus dem Bisherigen errechnen. Und wenn es den Anfang einer anderen Geschichte vorbereiten sollte, muß der Vollzug ursprünglich sein. So unumgänglich die Auseinandersetzung mit dem ersten Anfang der Geschichte des Denkens bleibt, so gewiß muß das Fragen selbst nur seine Not bedenken und Alles um sich vergessen.« Und: »Im Zeitalter der völligen Fraglosigkeit von allem genügt es, die Frage aller Fragen erst einmal zu fragen.«
Das Schweigen in der Antwort kann in zweierlei Weise gedeutet werden: entweder es erscheint als Versagung oder als Erschweigung. In beiden Fällen wird die Kommunikationsebene verlassen, die ihr in der Mit-Teilung vorgegeben war. Die Versagung kann nun ihrerseits zweierlei Bedeutung haben: als Textabbruch oder als Eröffnung einer anderen Kommunikationsebene, diese dann meist als Symptomatik, sei es einfach als Tränen oder als signifizierende Gewalt (oder beides), oder aber in einer Symptomatik, die als ohnmächtiges Sprechen des Unbewußten in der Psychoanalyse zum Sprechen gebracht werden soll oder schlicht auch als unverständliche, z.B. fremdsprachliche Äußerung auftritt. Der Textabbruch mit der Botschaft »Mit dir rede ich nicht mehr« gerät im mystischen Schweigen in die Nähe dessen, was als zweite schweigende Antwortform angesprochen wurde und was Heidegger die Erschweigung (in der Sigetik) nennt. Da das Zeitalter der Fraglosigkeit die richtige Frage, die Frage aller Fragen oder Grundfrage, nicht kennt, sondern z.B. in der Metaphysik (etwa bei Aristoteles) höchstens die Frage nach dem Sein des Seienden stellen kann, kann die Antwort auf die Seynsfrage nicht sagend erfolgen. Die Sprache des Seyns kann keine sagende Sprache sein; denn das Sagen wäre immer nur die Sprache des Seienden: das Seiende ist; aber die Frage nach dem Seyn, das nicht ist, wäre, richtig
Blanchots wird diese als »la question la plus profonde« aufgenommen, dann aber von dem philosophieunkundigen Übersetzer als »tiefste Frage« rückübersetzt, wodurch der Heidegger-Bezug unkenntlich wird. M. Blanchot: Das Neutrale, p. 123.
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gestellt: »Wie west das Seyn?«197 Und die Antwort kann nicht ausgesagt werden, sondern nur erschwiegen, weil jedes Sagen aus dem Seyn erfolgt und es daher nicht zum Gegenstand der Aussage gemacht werden kann. 7.6.8 Die Differenz Wenn Heideggers Philosophie insgesamt charakterisiert werden kann als eine Suche nach dem Ursprung, dann ist doch schon seit »Sein und Zeit« deutlich, daß dieser Ursprung nicht Einer ist: keine Identität des Ursprung, selbst wenn es dort auch Indifferenzen geben mag, z.B. diejenige von Dichten und Denken am Ursprung des Sprechens aus dem Seyn. Aber der Unterschied von Sein und Seiendem (die ontologische Differenz) im Ursprung ist durch nichts zu tilgen. Und die Absetzung der Philosophie von dem »gewöhnlichen Meinen« in den Anfängen des abendländischen Denkens ist eben keine kontingente Erscheinung: »wenn das gewöhnliche Meinen das Seiende vorstellt und nur dieses, und wenn das wesentliche Denken das Sein denkt, und wenn dieser Unterschied zwischen dem Sein und dem Seienden ein wesenhafter Unterschied ist oder gar der anfängliche Unterschied selbst, dann muß der Zwiespalt zwischen dem gewöhnlichen Denken und dem wesentlichen Denken in dem Unterschied von Sein und Seiendem seinen Ursprung haben […]«198
Der Widerspruch setzt im Widersprechen eine Differenz. Und nicht nur Heideggers »anderer Anfang«, also derjenige, der nach der »Wahrheit des Seyns« fragt, sondern jeder Anfang setzt eine Differenz. Nach Niklas Luhmann199 macht selbst die Be-
197 M. Heidegger: Beiträge zur Philosophie, p. 78. Eine kleine Anmerkung zur Befremdlichkeit des Wortes »west«: Vom Seienden kann man nur sagen: Das Seiende ist. Fragt man nun aber nach der Modalität jenes ist, also nach der Seiendheit oder dem Seyn, so kann die Antwort gewiß nicht sein: Das Seyn ist; denn dann hätte man das Sein lediglich mit der Totalität des Seienden verwechselt, nicht aber als die Modalität verstanden, wie das Seiende ist. Also bleibt der Rückgriff auf den anderen Wortstamm in der Flexion der germanischen Sprachen in der Semantik von »sein«, und das ist althochdeutsch »wesan«, durchgängig erhalten in der Vergangenheitsform (mit Ablaut) als englisch »was« und (mit Rhotazismus) im deutschen »war«. Es ist auch erhalten in dem deutschen Wort für lateinisch »essentia«: Wesen, dem sein Charakter als Verbalnomen allerdings kaum noch anzusehen ist, weswegen Heidegger auch von der Wesung spricht. 198 M. Heidegger: Der Anfang des abendländischen Denkens. Heraklit. Frankfurt a. M. 1979, (Gesamtausg. Bd. LV), p. 150; dazu daß selbst Kopien nicht Identität wiederholen s. V. Schürmann: Reflexion und Wiederholung. Mit einem Ausblick auf Rhythmus. In: Körperliche Erkenntnis. Formen reflexiver Erfahrung, hrsg. v. F. Bockrath, B. Boschert u. E. Franke. Bielefeld 2008, p. 53-72, hier p. 68f. 199 N. Luhmann: Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen. In: Der Mensch – das Medium der Gesellschaft?, hrsg. v. P. Fuchs u. A. Göbel. Frankfurt a. M. 1994, p. 40-56, hier p. 50ff.
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obachtung, d.h. die Position des Dritten, differenztheoretisch gesehen, einen Unterschied, nämlich denjenigen, der im Focus der Beobachtung steht und alles übrigen. Beobachtet also beispielsweise der Dritte die Relation von Selbst und Anderem, dann sind das Selbst selbst und erst recht die substantielle Besetzung durch ein Subjekt ganz Außerhalb. Und genau so ist jede Setzung eines Anfangs die Konstruktion einer Differenz. Den absoluten Anfang des Erkennens und Handelns in das Subjekt zu verlegen, ist dann eine Illusion, wenn dieses selbst mit der Absolutheits-Behauptung verbunden ist. Wenn also Fichte im ersten Akt die Ich-Setzung und erst im zweiten die Setzung des Nicht-Ich vornimmt, so ist das genau eine solche Illusion. Erst der Einsatz der Hegelschen Logik (»Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe.«200) ist mit derjenigen Identitäts-Paradoxie behaftet, die sich nicht anders als prozessual »aufheben« läßt. Der Denker der Differenz schlechthin ist natürlich Jacques Derrida. Seine Abhängigkeit von Heidegger hat er bereits in einem Interview von 1967 bekundet.201 Aber zugleich kritisiert er Heidegger, weil dieser insofern – auch er noch – der Metaphysik verhaftet bleibe, als er an der Präsenz (des Seins) festhalte. Daher müsse man noch hinter Heideggers »ontologische Differenz« (von Sein und Seiendem) zurückgehen. Weil Heidegger ein Denker des Seins sei und bleibe, reiche er nicht an diejenige fundamentalere Differenz heran, die erst das (von Nietzsche inspirierte) Denken des Werdens eröffnet. Und diese Differenz schreibt Derrida different als »différance«. Schon im ersten Satz seines diesbezüglichen Vortrags vor der französischen Philosophengesellschaft von 1968 mit dem Titel »La différance« sagt er: »Ich werde also von einem Buchstaben sprechen. […] Ich werde also von dem Buchstaben a sprechen, von jenem ersten Buchstaben, den hier und da in die Schreibung des Wortes différence einzuführen notwendig scheinen konnte; und dies im Verlauf einer Schrift über die Schrift […]«202 Schon in seiner »Grammatologie«203 hatte er gefordert, über das Seinsdenken, nämlich Heideggers, zum Differenzdenken voranzuschreiten. Dabei könnte er sich auch auf Heidegger selbst beziehen, der in seinem Beitrag »Zur Seinsfrage« (1955)204, wo er in einer »Besinnung auf das Wesen des Nihilismus« darauf zu sprechen kommt, daß diese »aus einer Erörterung des Seins als Sein herstammt.«205 Den
200 G.W. F. Hegel: Werke. Frankfurt a. M. 1969, V, p. 83. 201 J. Derrida: Positions. Paris 1972, p. 18. 202 J. Derrida: Die Différance. In: ders.: Randgänge der Philosophie. Wien 1988, p. 31-56, hier p. 31. 203 J. Derrida: Grammatologie. Frankfurt a. M. 1974. 204 M. Heidegger: Zur Seinsfrage. In: ders.: Wegmarken. Frankfurt a. M. 1976, p. 385-426 (Gesamtausg. IX). 205 l. c., p. 385.
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primären Sinn dieser kreuzweisen Durchstreichung benennt Heidegger folgendermaßen: »Die kreuzweise Durchstreichung wehrt zunächst nur ab, nämlich die fast unausrottbare Gewöhnung, ›das Sein‹ wie ein für sich stehendes und dann auf den Menschen erst zukommendes Gegenüber vorzustellen.«206 Aber gemäß der Überlegungen in »Identität und Differenz« hat die Durchstreichung auch den weiteren Sinn der Verzeitlichung der Differenz. Genau diesem also schon bei Heidegger angelegten Sinn der Durchstreichung folgt Derrida in seiner Bestimmung der différance als Aufschub. Wie Heidegger in seiner Kritik der abendländischen Metaphysik sieht auch Derrida in deren Figur der Reflexion ein Übersehen der Abweichungen in den Diskursen. Mit der différance ist Aufschub, Wiederholung, Verspätung und Nachträglichkeit angesprochen, die in den Nischen der Diskurse die Nichtidentität des Ursprungs indizieren. Kein Anfang ist ein ein-facher Anfang; jedem Anfang wohnt die Differenz des zeitlichen Abstandnehmens inne. Bei Heidegger ist das Seyn, als Ermöglichungsgrund des Sagens, kein mögliches Objekt von Aussagen, es muß erschwiegen werden; bei Derrida ist die Differenz nicht zu bezeichnen, sondern wird in Spuren lesbar, auflesbar in genau dem Sinne, den Heidegger dem légein des lógoV beigegeben hat.207 Denn in der Spur ist die Differenz von Präsenz und Nichtpräsenz evident. Daher ist die différance – wie bei Heidegger das Seyn – kein gegenwärtig Seiendes, sie begründet kein Reich der différance, sondern ihr Vollzug ist die Subversion jeglichen Reichsgedankens. Aber, und das ist Heidegger-Kritik oder –Hinterfragung: die différance geht der ontologischen Differenz voraus – dem würde der späte Heidegger ja noch gefolgt sein –, jedoch auch der »Wahrheit des Seins«.208 Von diesem fundamental, ja man möchte fast sagen transzendental, eingeführten Differenzbegriff209 macht nun Derrida allenthalben Gebrauch. In der frühen Schrift »Die Stimme und das Phänomen«, einer Auseinandersetzung mit Husserl, hinterfragt er Husserls Begriff der Gegenwart und der unmittelbaren Präsenz für ein Bewußtsein. Er arbeitet den Widerspruch bei Husserl heraus, daß dieser einerseits die Differenz »in die Äußerlichkeit des Signifikanten verdrängte«, daß er aber andererseits »ihr Werk im Ursprung des Sinns und der Gegenwärtigkeit« zugestehen mußte.210 Das führt zu einer folgenreichen Umkehrung: »Diese Bewegung der différance überfällt nicht unvermutet ein transzendentales Subjekt. Sie bringt es hervor.« Die Selbstpräsenz ist immer schon in sich gebrochen, sie bildet keine irreduzible Einheit: »Sie
206 l. c., p. 411. 207 M. Heidegger: Logos (Heraklit, Fragment 50). In: ders.: Vorträge und Aufsätze. Frankfurt a. M. 2000, p. 211-234. (Gesamtausg. VII) 208 J. Derrida: Randgänge der Philosophie, p. 47-53. 209 Die Bezeichnung »transzendental« für Derrida habe ich selbst noch verwendet in K. Röttgers: Texte und Menschen. Würzburg 1983, p. 23-38; ich finde sie aber auch bei F. Dastur: Philosophie et Différence. Chatou 2004, p. 107-115. 210 J. Derrida: Die Stimme und das Phänomen. Frankfurt a. M. 2003, p. 111.
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bringt das Selbe als Beziehung zu sich in der Differenz mit sich, das Selbe als das Nicht-Identische hervor.«211 Nach der sogenannten ethischen Wende Derridas wird der Differenzgedanke ethisch und politethisch umgeprägt. Gleichheit (d.h. die Einheit des Sozialen) kann nun nicht als gegeben vorausgesetzt werden, sondern der Andere muß in seiner Differenz vom Selben genommen werden. Auch dieses führt zu einer Heidegger-Kritik: dieser habe im Begriff der Fuge der Vereinigung (dem Verfugen/Verfügen) den Vorrang gegenüber dem Bruch, d.h. der Differenz gegeben.212 Ferner räume Heidegger der sexuellen Differenz keine grundlegende Bedeutung bei, sondern halte sie lediglich für ein empirisches Phänomen, das der philosophischen Beachtung nicht würdig sei: »rien qui soit digne de question (fragwürdig)«.213 Vielzitiert ist eine weitere Verwendung des Differenzgedankens, nämlich in kulturpolitischer Hinsicht: »Es ist einer Kultur eigen, daß sie nicht mit sich identisch ist. […] mit sich differiert. Es gibt keine Kultur und keine kulturelle Identität ohne diese Differenz mit sich selbst.« Das kann auch so ausgedrückt werden, »[…] daß eine Kultur niemals nur einen einzigen Ursprung hat.«214 Wolfgang Welsch sagt, Derrida sei ein Denker des Übergangs,215 an einer solchen pauschalen Aussage sind Zweifel angebracht; denn zum Denken des Übergangs216 ist ein Diesseits und ein Jenseits erforderlich und dazwischen ein Abgrund; aber gerade diese Voraussetzung ist für Derrida unhaltbar. Sein Satz, es gebe kein Text-Äußeres ist Indiz der Subversion eines Zwei-Welten-Denkens, das eine Voraussetzung der Möglichkeit eines Übergangs wäre. Die von Derrida als grundlegend angenommene immanente Differenzstruktur findet sich andeutungsweise auch bereits bei Maurice Merleau-Ponty. In seiner Darstellung des Verhältnisses von Sichtbarem und Unsichtbarem hebt er hervor: »Man darf nicht denken, daß ich einem Sichtbaren, das vollkommen als Ansich definiert wird, ein Nicht-Sichtbares hinzufüge (das objektive Abwesenheit wäre) (das heißt objektive Gegenwart anderswo, an einem ansichseienden anderswo) – Es gilt zu verstehen, daß das Sichtbare selbst eine Nicht-Sichtbarkeit enthält.«217 Mit Françoise Dasturs auf Heidegger und Derrida und die ontologische Differenz gemünzten Satz, »que l’intervalle, l’entre-deux (Zwischen). Qui sépare les différents […]«,218 kommen wir zugleich zu derjenigen Variante der Differenz-Philosophie, die in der Philosophie von Jean-Luc Nancy vorliegt. In seinem Aufsatz »Les différences 211 212 213 214 215 216 217 218
l. c., p. 112. So in J. Derrida: Marx‘ Gespenster. Frankfurt a. M. 1995, p. 55. J. Derrida: Psyche. Inventions de l’autre. Paris 2003, p. 15. J. Derrida: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Frankfurt a. M. 1992, p. 12f. W. Welsch: Vernunft. Frankfurt a. M. 1996, p. 301. K. Röttgers: Metabasis. Philosophie der Übergänge. Magdeburg 2002. M. Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare. München 1986, p. 312. F. Dastur: Heidegger, Derrida et la question de la différance. In: Derrida, la tradition de la philosophie, hrsg. v. M. Crépon u. F. Worms. Paris 2008, p. 87-107, hier p. 102.
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parallèles (Deleuze & Derrida)«219 spielt der Begriff der Differenz in deren Philosophien und zwischen ihnen eine zentrale Rolle, sowie auch das, was beide in dieser Differenz miteinander verbindet. So beginnt der Text mit dem verheißenden Satz »Deleuze et Derrida se partagent… [!]«220, und kurz darauf heißt es, mit der Doppeldeutigkeit von »partager« spielend: »Il suffit maintenant d’ajouter la différence: ils partagent la différence.«221 Beide sind Philosophen der Differenz, aber auf differente Weise, so daß Differenz ihr Thema, ihre Textpraxis und zugleich das ist, was zwischen ihnen steht. Sie sind Zeitgenossen des Zeitalters der Differenz. Nancy hat ihnen Fragen vorgelegt, sie haben geantwortet, aber nicht in Gemeinsamkeit, sondern parallel zueinander. Denn das Zeitalter der Differenz stiftet nicht (Differenz-)Gemeinsamkeiten, sondern Differenzen. Dem Philosophen aber geht es darum, »de pénétrer dans la différence même.«222 Das zeigt zugleich an, daß Philosophieren heißt, den Gedanken der Identität in seiner bisherigen Stellung aufzugeben und die Mittel zu entwickeln, den Risiken zu begegnen, die ein solcher Ausgang von der Identität herausforderte. Die Differenz erscheint denjenigen beunruhigend und gefährlich, die in Begriffen der Restauration des Identischen zu denken gewohnt sind und in ihm verharren möchten, einer Identität des Menschen qua seines Wesens und der Vernunft. Nach Deleuze etwa ist es philosophisch nicht mehr möglich, ein Objekt zu denken, ohne dieses Objekt als Subjekt einer Aussage zu werden. »[…] cela revient à la difference du même qui ne revient au même qu’en le diffractant à travers son propre prisme. Qui ne revient pas, qui ne revient pas à soi.«223 Die Differenz zwischen Identität und Differenz drückt sich beispielsweise in Deleuzes Gedanken aus, daß die Differenz und das Selbst zugleich gegeben sind. Sein heißt, in Differenz zu sein. Nancy muß sich dann auch fragen, was das für den Sinnbegriff bedeutet, der ja in seiner Philosophie zentral ist.224 In dem in der Anmerkung zitierten Werk kommt Nancy für sein eigenes Philosophieren zu der Konsequenz,
219 J.-L. Nancy: Les différences parallèles (Deleuze & Derrida. In: dass., p. 199-215; dt. auch in ders. / R. Schérer: Ouvertüren. Texte zu Gilles Deleuze. Zürich, Berlin 2008, p. 31-50. 220 l. c., p. 199, dt. p. 31. 221 l. c., p. 200, dt. p. 31. 222 l. c., p. 201, dt. p. 33. 223 l. c., p. 202; da läge natürlich ein Verweis auf Adornos »Negative Dialektik« nahe. 224 Cf. z.B. J.-L. Nancy: Der Wille zum Sinn. In: ders.: Das Vergessen der Philosophie. Wien 2001, p. 23-37, sowie ders.: Der bedeutete Sinn, in: dass., p. 57-66 und: Der Sinn, das sind wir, p. 91-103; dort finden sich Kernaussagen, die auch unsere Sozialphilosophie des kommunikativen Textes leiten: »Sinn kann es nur als gemeinsamen geben, und Gemeinsames gibt es nur im Medium des Sinns […]«, p. 98. »Letztlich wäre es nicht einmal mehr ein Äußerungssubjekt, sondern ›wir‹ wäre – wir wären – der Sinn des Sinns, die Offenheit des Sinns selbst und der Sinn als Offenheit. Einzig in dieser Offenheit, das heißt ›in uns‹ oder ›unter uns‹ (was hier dasselbe heißt) wäre es möglich, wir und sogar und vor allem ich zu sagen […] Der Sinn, das sind wir.« (p. 99) »Wir erscheinen, und dieses Erscheinen ist der Sinn.« (p. 99f.)
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»daß die Differenz zur Identität nicht in Gegensatz steht, sondern sie erst ermöglicht: Indem sie diese Möglichkeit ins Herz der Identität einschreibt, setzt sie sie der Tatsache aus, daß ihr Sinn nicht mit ihr identisch sein kann. Unsere Identität, das sind wir, und wir bedeutet […] eine notwendigerweise geteilte Identität, in uns und unter uns. Die Differenz hat ihren Ort in dieser Teilung, in der Verteilung des Sinns […]«225 Verweilen wir noch etwas bei Deleuze. In seinem großen Werk »Differenz und Wiederholung«226 geht es auch darum, einen nicht auf Identität aufgebauten Begriff der Differenz zu entwickeln. Denn der Begriff der Identität war der Grundbegriff des Zeitalters der Repräsentation, die aber begrifflich als gescheitert angesehen werden muß: »Die Differenz und die Wiederholung sind an die Stelle des Identischen und des Negativen, der Identität und des Widerspruchs getreten. Denn nur in dem Maße, wie man die Differenz weiterhin dem Identischen unterordnet, impliziert sie das Negative und läßt sich bis zum Widerspruch treiben.«227 Das Denken der Differenz jedoch artikuliert sich als Antihegelianismus, aber ebenso in Opposition zu einem platten Positivismus. »Die Differenz ist nicht das Verschiedene. Das Verschiedene ist gegeben. Die Differenz aber ist das, wodurch das Gegebene gegeben ist. Sie ist das, wodurch das Gegebene als Verschiedenes gegeben ist. Die Differenz ist nicht das Phänomen, sondern das Noumenon, das dem Phänomen am nächsten kommt.«228 Daher ist die Interpretation problematisch, die Wolfgang Welsch dem »Rhizom« angedeihen läßt: Er behauptet, das Rhizom ermögliche die Übergänge zwischen Verschiedenem und so nivelliert er den Unterschied zwischen Verschiedenem und Differentem. Indem er also den (Welsch: vernünftigen!) Übergang von Verschiedenem als Rhizom darstellen möchte und dieses dann auch noch als »nomadisch« bezeichnet, unterbietet er die Radikalität des Differenzdenkens.229 Derrida nimmt auch Bezug auf Maurice Blanchot und dessen Schrift »L’instant de ma mort«.230 Darin beschreibt der Autor seinen eigenen Tod, was in Derridas Paraphrase so aussieht: »L’instant de ma mort. Elle va venir, la mort, il y a un sursis, un dernier délai suspensif, un arrêt de mort. Mais ce qui va venir, ce qui est en train de venir sur moi, voilà ce qui aura déjà eu lieu. Je peux en témoigner, puisque cela a déjà eu lieu.«231 Und es fragt sich und Derrida fragt sich, wie das möglich sein kann: dieser Übergang vom Aufschub über »wird stattgefunden haben« zu »hat stattgefunden«. Die Antwort ist, daß von Anfang an dieser kurzen Erzählung Blanchots das »Je« nicht Herrn Blanchot meint, sondern daß das Subjekt von Anfang an gespalten
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l. c., p. 103. G. Deleuze: Differenz und Wiederholung. 3. Aufl. München 2007. l. c., p. 11. l. c., p. 281. W. Welsch: Vernunft, p. 365-367. M. Blanchot: L’instant de ma mort. Paris 2002. J. Derrida: Demeure. Paris 1998, p. 60; es gilt zu beachten, und Derrida spielt damit, daß »l’arrêt de mort« »Todesurteil« heißt, aber auch wörtlich »Aufschub des Todes«.
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ist in Blanchot und den imaginären Autor der Erzählung.232 Nur so kann, was wie eine Autobiographie daherkommt, zugleich eine Autothanatographie sein.233 Und diese Differenz im Ursprung der Erzählung ist in der Tat eine der Kernthesen von Blanchot: » […] die Schrift ist Differenz, denn die Differenz schreibt.«234 Die Schrift und ihr Sinn sind immer immanent, ihr Ursprung und ihr Ort ist nie die Psyche eines Menschen, der der Verfasser eines Textes wäre – das macht die Textualität und die Medialität des kommunikativen Textes aus –. Daher gilt auch: »Die Welt hat keinen Sinn […]«235 Denn der Sinn ist eine Dimension des Textes (neben Temporalität und Sozialität), und wenn der Text der Welt einen Sinn zuspricht, dann ist es diese Textgeste des Interpretierens, die den Sinn artikulierend etabliert. Die Differenz, die den Sinn von der Welt trennt und auf sie bezieht, ist nur möglich als ein Prozeß, nicht als ein rein logisches Verhältnis. Dieser Prozeß ist die Bewegung der Selbsterzeugung des Textes: »[…] dass die Differenz wesentlich schreibt.«236 Um noch einmal auf das Verhältnis von Text und Tod zurückzukommen: Blanchot beobachtet auch mit Genauigkeit das Verhältnis des Sprechens der Lebenden (also des kommunikativen Textes) zu dem Nichtsprechen der Toten. Dieses Verhältnis ist markiert durch das »Neutrale« an der Grenze des Sprechens, bzw. Schweigens. An dieser Grenze kommt »das Schweigen der einen [und] das Schweigen der anderen miteinander in Berührung […], während sie nicht weniger aufgrund ihrer absoluten Identität und aufgrund ihrer absoluten Differenz ineinander unübersetzbar bleiben.«237 Ein Schweigen und ein anderes sind als Schweigen in einer gewissen (neutralen) Identität gefangen, da aber Schweigen als solches unübersetzbar ist – es ist kein Text, an den ein Anderer angefügt werden könnte –, verharren sie zugleich in absoluter Differenz, die freilich nur als doppelte Lücke im Text bemerkbar wird. Mit der Problematik der für die Moderne so wichtigen Identität hatte sich Nancy ebenfalls auseinandergesetzt. In seiner Philosophie des Mediums, des »Mit«, bemerkt er, daß dieses »Mit« geteilte Raum-Zeit ist, » […] das als solches von sich selbst, in sich selbst, abgesondert ist. Es ist das Prinzip der Identität, das augenblicklich vervielfacht ist […] Wir: jedes Mal ein anderer, jedes Mal mit anderen.«238 Das Identitätsprinzip wäre nicht infrage gestellt, wenn es nur um die Differenz einer Gegenwart zu ihrem eigenen früheren Ursprung ginge. Bei Derrida wird die Identität des Ursprungs mit der Figur der différance selbst fraglich. Es ist für jedes mögliche Etwas die Differenz mit sich von Anfang an. Und das gilt selbstverständlich auch für das
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l. c., p. 65. l. c., p. 69. M. Blanchot: Das Neutrale. Zürich, Berlin 2010, p. 199. l. c., p. 198. l. c., p. 194. M. Blanchot: Vergehen. Zürich 2011, p. 93. J.-L. Nancy: singulär plural sein. Berlin 2004, p. 65; dem folgt auch S. Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Frankfurt a. M. 2008, p. 104.
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manchmal so genannte Ich. Auch dieses »konkretisiert sich nur als Differenz, die seine Identität ausmacht[…]«, wie Käte Meyer-Drawe es ausgedrückt hat.239 Versäumen wir nicht, noch einmal darauf hinzuweisen, daß Derrida später die quasi-transzendentale Radikalität seines différance-Gedankens zurücknimmt. So finden wir zu Beginn seines Buches über »Marx‘ Gespenster« die erstaunliche Revokation: »Keine différance ohne Alterität, keine Alterität ohne Singularität, keine Singularität ohne Hier-und-Jetzt.«240 Das könnte von jemandem geschrieben sein, der Derrida nie gelesen hat; einem solchen Satz stimmt dann auch ein Levinasianer wie Simon Critchley freudig zu.241 Der Infragestellung der homogenen Identität des Subjekts folgt auch die Psychoanalytikerin Jessica Benjamin. Mit Lacan weist sie in Entschiedenheit auf die Spaltung in der Psychoanalyse hin. Lacan deutet Freud so, daß er die Differenz im Inneren des Subjekts positiv als ein Zwischen versteht, ein Zwischen zwischen dem aussagenden und dem ausgesagten Subjekt im Text der Analyse. Freuds Begriff des Unbewußten hatte zu einer theoretischen Revolution geführt. Freud selbst spricht von einer dritten Kränkung im Selbstbild des Menschen: nach Kopernikus steht der Mensch nicht mehr im Zentrum des Universums, nach Darwin ist er nichts der Evolution der Lebewesen Enthobenes, und nach der Psychoanalyse ist das Ich nicht einmal »Herr […] in seinem eigenen Haus.«242 Diese theoretische Revolution, die das Cartesische Ego entthront hatte, wurde freilich durch die US-amerikanische Psychoanalyse in Form einer neuen Ich-Psychologie in einer Art Konterrevolution rückgängig zu machen versucht. Erst die am Strukturalismus orientierte Psychoanalyse, die das Unbewußte als wie eine Sprache strukturiert ansieht, gewinnt die Freudsche Radikalität zurück. Und Benjamin spricht es so aus: »Die Feststellung, daß das Subjekt eine sprachliche Position und nicht ein Zeichen für die tatsächliche Psyche eines Menschen ist.«243 Das Subjekt ist demnach »unwiderruflich gespalten«.244 Sie bezieht sich damit auch auf Judith Butler, die, von der Strukturierung des Subjekts durch den Diskurs ausgehend, feststellt: »Kein Subjekt ist sein eigener Ausgangspunkt.«245 Nicht nur in psychoanalytischen Zusammenhängen begegnet diese Figur der Spaltung des Subjekts, sondern auch in poetologischen. Wenn also Roland Barthes 239 240 241 242
K. Meyer-Drawe: Illusionen von Autonomie. München 1990, p. 118. J. Derrida: Marx‘ Gespenster. Frankfurt a. M. 1995, p. 58. S. Critchley: Ethics – Politics – Subjectivity. London, New York 1999, p. 153. S. Freud: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. In: ders.: Ges. Werke XII. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1972, p. 3-12, hier p. 11; eine explizite Beziehung von Rimbauds poetologisch gemeintem Ausspruch »JE est un autre« zur Psychoanalyse stellt her: J. Clerget: Je est un autre. Poésie et psychanalyse. Coaraze 2015; eine übersetzte Neuedition der »Seher«-Briefe, in denen sich dieser Ausspruch findet, bietet: A. Rimbaud: Die Zukunft der Dichtung. Berlin 2010, mit ausführlichen Kommentierungen von Ph. Beck u. T. Trzaskalik. 243 J. Benjamin: Der Schatten des Anderen. Frankfurt a. M., Basel 2002, p. 105. 244 l. c., p. 106. 245 J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M. 1992, p. 41.
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das Subjekt einen »wandelnden Widerspruch« nennt, dann meint er damit die Spaltung eines Subjekts, das seine beständige Identität im Text genießt und zugleich den Absturz in den Abgrund der Nichtidentität.246 Theorien, die mit der Einheit247, Autonomie und dann Omnipotenz des Subjekts operieren, neigen dazu, Vielheit als Bedrohung der rational unifizierten Autonomie, d.h. als Gewalt mißzuverstehen und mit unifizierender Gewalt zu beantworten, d.h. die Differenz in eine Gleichheit zu überführen. Und was die Philosophie betrifft, da hatte der »Transzendentalbelletrist« Odo Marquard gefordert, daß Widersprüche nicht beseitigt, sondern »ausgehalten werden müssen«, mit dem erfreulichen Effekt, »daß also die buntere Philosophenkonstellation die bessere ist.«248 Es bleibt aber die Frage, wie Subjektivität, zumal sich transzendental absichernd, die Differenz in sich erhalten kann … – ohne verrückt zu werden. Benjamin arbeitet – wie wir auch – mit der Unterscheidung eines inneren und eines äußeren Anderen.249 Aber damit ist das Problem noch nicht in jeder Hinsicht erledigt, genau dann nämlich nicht, wenn man Anhänger der Anerkennungstheorie der Intersubjektivität ist und die Gleichheit der Kommunikationspartner unter Absehen von der Funktionspositionalität quasi axiomatisch postuliert und festschreibt. Erledigen läßt sich das Problem nur, wenn man die Anerkennung auf eine Metaebene (Meta zur direkten intersubjektiven Beziehung) hebt; denn Selbst und Anderer als Positionen im sprachlichen Prozeß sind untilgbar asymmetrisch. Und das heißt auch: Innerer und äußerer Anderer sind nicht gleich. Erst wenn man die Vertauschbarkeit der Besetzung der Positionen durch die Subjekte zugesteht, oder anders gesagt, wenn die asymmetrisch angeordneten Positionen von Selbst, Anderem und Drittem (!) als durch Subjekte vertauschbar angeordnet sind, ergibt sich auf der modalen Metaebene der Vertauschbarkeit eine metastabile Symmetrie. Also nicht die Identitäten oder die Psychen der Subjekte sind Garanten der Symmetrie – diese sind durch die Differenz im Subjekt von Anfang an zerrüttet –, sondern der Übergang auf eine weitere Ebene. Und es ist der Dritte – jenseits reiner Intersubjektivität oder Intersubjektivitätsverkettungen – (d.h. die konstitutive Sozialität des Mediums), der diesen Übergang erzwingt. Die nordamerikanische Psychoanalyse mit ihrer Eskamotierung der Differenz aus dem Subjekt wird flankiert von, bzw. ist selbst ein Effekt eines fundamentalen Positivismus. Auf vergleichbare Tendenzen in der Ethnologie weist Heike Kämpf hin: auch hier geht es dann darum, die unheimliche Differenz in der Gestalt des Fremden
246 R. Barthes: Die Lust am Text. Frankfurt a. M. 1980, p. 31ff. 247 C. Lejeune: Das Schreiben und der Baum der Mitte. In: Le GRIF: Essen vom Baum der Erkenntnis. Berlin 1977, p. 62-75, hier p. 68: »Jede Leidenschaft zur Einheit ist ein symbolischer Inzest.« 248 O. Marquard: Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart 1981, p. 7f. 249 J. Benjamin: Der Schatten des Anderen, p., 111, Anm.3.
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– der aber im Inneren das Unbewußte entspricht – interpretierend-verstehend loszuwerden.250 Georges Bataille hat die Differenz am Verbot festgemacht. Verbote und nicht etwa die Rationalität sind das den Menschen Bestimmende.251 Dem Verbot untrennbar zugehörig ist allerdings die Überschreitung; beide zusammen verweisen auf eine Grunddifferenz, die Bataille als noch grundlegender ansetzt als die Hegelsche von Herr und Knecht als Formen des Bewußtseins.252 Wichtig ist außerdem, daß für Bataille Kommunikation die Differenz nicht beseitigen kann – anders als die Konsensualisten erhoffend annehmen –.253 Kommunikation ist eben nicht Kommunion, die Vereinigung der Herzen, sondern ich würde sogar sagen: Die Kommunikation im kommunikativen Text definiert die Differenz und die Differenten. Wenn man dem theoretischen Diskurs Rationalitätsbesessenheit und Gefühlsanästhesie zuschreibt und als Mechanismen bzw. Kriterien des Ausschlusses von Subjekten bzw. des Exorzismus von Subjektqualitäten beschreibt, dann sind das keine allenfalls schlecht gewählte Metaphern, sondern ihre Widersprüchlichkeit bildet die Widersprüchlichkeit des Prozesses ab, der den Widerspruch verbannen wollte und ihn nunmehr wie den Kaugummi am Finger an sich selbst findet und nicht mehr loswerden kann. Welche »verrückten« Konsequenzen ein solcher Prozeß des Loswerdenwollens des Loswerdens haben kann bei Menschen, die dieses voll ernst nehmen, zeigt die Gestalt des Privatdozenten Bruno Bauer in den grellsten Farben.254 Der Diskurs definiert die »verbotenen Orte des Denkens«, bzw. den »verfemten Teil« (Bataille). Je mobiler die Sozialorganisation sich selbst ordnet bzw. als geordnet ansieht, umso schärfer muß sie die zirkelhaften, nomadischen Denkbahnen verfolgen. Damit organisiert sie sowohl ihre eigene Angst, die sie anfällig macht, als auch die Kraft derer, die sie ausstieß und denen nicht die gleiche Entsagung und Mittelmäßigkeit abverlangt wurde, deren Kraft sie also zu recht fürchtet. In »grausamen«, »leider schmerzlichen« Akten verschaffen sich die Diskursverwalter im Amt die illusionäre Gewähr der Eindeutigkeit ihrer Deutungs- und Definitionsmacht, die einen spezifischen Teil wissenschaftlicher Arbeit wegen »Unwissenschaftlichkeit« abzulehnen gezwungen sein wird.
250 H. Kämpf: Die Exzentrizität des Verstehens. Berlin 2003, p. 243-248; 281ff. 251 G. Bataille: Der verfemte Teil. München 1985, p. 50-54; cf. auch J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts. Reinbek 1995, p. 119ff.: Im Verbot negiert der Mensch seine zukünftigen Möglichkeiten. 252 Cf. auch H.-D. Gondek: Azephalische Subjektivität. In: Georges Bataille: Vorreden zur Überschreitung, hrsg. v. A. Hetzel und. P. Wiechens. Würzburg 1999, p. 157-184, bes. p. 176ff. 253 G. Bataille: Die Erotik. München 1994, p. 13-27; cf. dazu auch A. Hetzel: Denken der Kontinuität. Schelling und Bataille. In: Georges Bataille: Vorreden zur Überschreitung, p. 57-91, hier p. 71. 254 Cf. K. Röttgers: Kritik und Praxis. Berlin, New York 1975, p. 193-218.
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Doch diese Akte und ihre Akten richten sich zunehmend gegen die Möglichkeit der Entfaltung ihrer eigenen Texte. Die Restriktion der Diskurse, die der Restriktion der Menge der Textfortsetzungsmöglichkeiten entspricht, spitzt sich zunehmend auf Monologizität zu, indem sie sich das Gespräch mit allem, das nicht sie selbst oder ihr Abziehbild ist, versagt. Sie wird von einem sich durch erregte Sinnlichkeit irritierbaren Diskurs auf einen Selbstbefriedigungsdiskurs (Individualisierung des Begehrens auf die Begierde) und von dort auf die reine Rationalität der Intentionen zurückgeworfen. Von da ab läßt sich die Sinnkonstitution von Text nur noch als Vernunftdurchsetzung vorstellen, deren schönstes Ziel die reine mathematische Form ist, vor allem dann, wenn man ihr ihre platonistische Interpretation erhält. Die Totalität dieser Vorkehrungen des Vernunft-Diskurses gegen den Einbruch dessen, was die Vernunft nach dieser exorzistischen Prozedur nur noch als Chaos abwehren kann (was die praktische Vernunft einmal negierte, kann die theoretische Vernunft nicht mehr begreifen), diese Totalität ist oftmals auch als gesamtgesellschaftlicher Schizophrenisierungsprozeß bezeichnet worden, weil die Kommunikationsrestriktionen exakt diejenigen sind, von denen man weiß, daß sie im familiären Rahmen das Erzeugungsklima für schizophrene Kommunikation sind. Der Zwang, den die Schizophrenie als pathologische Kommunikation ausübt, kann in zwei Richtungen verlassen werden: Metakommunikation, d.h. Kommunikation auf einer weiteren Ebene des kommunikativen Textes, und Flucht aus der Kommunikation, z.B. als »Krankheit«, als Gewalt oder als »mystischer« Rückzug in eine andere Welt. Und genau dieses beides ist auch im Kulturprozeß möglich.255 7.6.9 Verbot und Monologizität: Deutungsmacht Wir werden nun, nachdem wir die ontologische und kommunikationstheoretische Seite des Widerspruchs thematisiert haben, zu der Frage zurückkehren, wie der Widerspruch im kommunikativen Text erscheint. Es ist klar, daß die Tatsache, daß aus einer objektivierenden Beobachter-Perspektive der Text immer irgendwie auch Wechselrede ist, daß also die »Antwort … auf sich warten« läßt,256 uns nicht zu beirren braucht: der Text in seiner »dialogischen« Relationalität ist sich gegenwärtig. Der Text wartet nicht auf seine Antwort, sondern ist in seiner Prozessualität immer Frage und Antwort zugleich, sowohl kontextual wie intertextual. Also nicht eine alternierende Sukzession charakterisiert den Text, so daß man eine Aporie zwischen der Regel »lautlich artikulierter Kommunikation«257, die ein gleichzeitiges Reden
255 A. Wilden: System and Structure. London 1972, p. 108; daher fordert Wilden, daß »[…] all dissent must be of a higher logical type than that to which it is opposed.« (p. XXVII). Statt also Identitäten in Oppositionen zu organisieren, brauchen wir den Differenzbegriff. 256 M. Theunissen: Der Andere, p. 287. 257 ibd.
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mehrerer oder aller verbietet, und der »Gleichzeitigkeit« »wahrer Partnerschaft«258 konstruieren könnte. Die in einer solchen vermeintlichen Aporie an die Entfaltungsbewegung von Text herangetragene Vorstellung von Gleichzeitigkeit trifft die innertextuale Orientierung der über den Text sich konstituierenden Redesubjekte nur dann, wenn etwas nicht mehr stimmt (stimmig ist), also eher nur in Ausnahmefällen. Dann braucht man u.U. restriktive Formalisierungen, wie z.B. Rednerlisten und Zumessungen für die Dauer von Redeteilen, die manchmal sachlich oder sozial ganz und gar unangemessen sein können, aber manchmal in Kommunikationssituationen mit hoher Mobilität unvermeidlich werden. 7.6.9.1 Deutungsmachtmonopolisierungen Was angeklungen ist, soll jetzt direkt angesprochen werden, nämlich die Probleme einer Monopolisierung der Deutungsmacht zu Deutungs-Allmacht. Monopolisierung von Deutungsmacht bedeutet nach den anderwärts vorgelegten259 Ausführungen zu Macht im kommunikativen Text: die Position des (redenden und deutenden) Selbst wird von einem, evtl. auch einem kollektiven Subjekt innegehabt und nicht wieder aufgegeben. Ein derartiges Selbst beraubt sich der Korrekturen der Deutungen durch Widerspruch und Kritik. Subjekte, die in dieser Position ihre Sicht der Dinge für letztgültig richtig, weil z.B. »alternativlos« dem »Sachzwang« folgend, ausgeben oder sogar für wahr halten, neigen dazu, solche Monopolisierungen anzustreben. Klassisch waren militärische Vorgesetzte, was die Handlungsorientierung betrifft, und Professoren in Vorlesungen ohne Diskussion, was die Wissensorientierung betrifft, in dieser Gefahr der Kommunikationsverhinderung. Eine politische Praktik, die selbst nichts anderes ist als ein bloß reaktives Lavieren von Maßnahme zu Maßnahme, was man dann als »pragmatisch« ausgibt, und die konzeptionslos weit von dem entfernt ist, was Badiou eine Politik als »Wahrheitsprozedur« genannt hat,260 eine solche Politik mag wohl eine je heute zu treffende Maßnahme »alternativlos« nennen und die ihr Widersprechenden als »Ideologen« bezeichnen und damit eine durch die Sachlage selbst erfolgte Deutungsermächtigung beanspruchen, aber schon morgen wird sie sich selbst widersprechen und eine alternative Maßnahme ergreifen. Es geht ihr damit mehr um die Monopolisierung der Deutungsmacht als um bestimmte gedeutete Inhalte der Politik. Der politische Deutungsmonopolist will das Widersprechen des Anderen, d.h. die Wortergreifung des Anderen im kommunikativen Text nicht zulassen, sondern will den Widerspruch als historische Differenz innerhalb der eigenen Identität und monopolistischen Besetzung der Position des Selbst
258 ibd. 259 K. Röttgers: Eine modaltheoretische Interpretation von Allmacht.- Ersch. demnächst in einem Sammelbd. hrsg. v. Ph. Stoellger. 260 A. Badiou: Das Sein und das Ereignis. Berlin 2005, p. 29-30.
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verstanden wissen. Einer derartigen Dauerstellung einer kommunikativen Asymmetrie dienen auch Informationsmonopolisierungen, z.B. durch Geheimhaltung, angefangen von den Arcana des klassischen Absolutismus bis hin zu den Geheimverhandlungen über TTIP, die Verhandlungen über die Freiheit (die Freiheit der Handelsbeziehungen) nur im Geheimen glaubt durchführen zu können: Freiheit, von der niemand etwas wissen darf, verständlicherweise, weil die ausgeschlossene Öffentlichkeit des Souveräns durch den Vertrag, wenn er denn abgeschlossen sein wird, endgültig ausgeschlossen werden soll, nämlich indem nicht mehr demokratisch legitimierte Instanzen der Rechtsprechung Konflikte entscheiden sollen, m.a.W. eine bestimmte Asymmetrie der Kommunikation zwischen Wirtschaftsinteressen und der demokratischen Öffentlichkeit soll unrevidierbar auf Dauer gestellt werden. Und wenn eine Regierung (die griechische) sich durch ein Referendum für Entscheidungen absichern will, die nicht im Einklang mit den Wahlversprechen stehen, d.h. durch ein urdemokratisches Verfahren, dann wird genau das als »ideologisch«, »unverantwortlich« von denjenigen Regierenden bezeichnet, die z.B. die TTIP-Verhandlungen vor ihren Völkern geheimhalten. 7.6.9.2 Die Subversion der Politik durch die Ökonomie Schon seit geraumer Zeit läßt sich generell die fast schon bedauernswerte Hilflosigkeit und Unfähigkeit der Politik beobachten, der Probleme der Märkte, insbesondere der Finanzmärkte, Herr zu werden. Dabei ist einerseits zu unterstellen, daß der Finanzmarkt die elaborierteste Form von Markt überhaupt darstellt, auf dem die Problematik des kapitalistischen Marktes in besonderer Deutlichkeit sichtbar wird. Das Versagen der Politik ist andererseits keine auf besondere politische Akteure (genauer: Reakteure) zurechenbare Unfähigkeit, sondern ein strukturelles Problem der Diskursinkompatibilität. Denn der kommunikative Text des Sozialen ist nicht nur durch die Positionen von Selbst und Anderem (und Drittem) bestimmt, sondern auch durch die Art der Diskurse, denen der Text gehorcht. Neoliberalistische Politideologen beteuern, daß die Kräfte des Marktes alles zum besten richten werden, wenn man sie nur gewähren läßt, daß also so etwas wie Wirtschaftspolitik überflüssig, störend oder vom Begriff her sogar ganz und gar unmöglich ist. Den Versuch, Wirtschaftspolitik zu betreiben, habe man in der Planwirtschaft der staatssozialistischen Systeme scheitern sehen. D.h. der ökonomische Diskurs der Neoliberalen beteuert und beansprucht seine vollständige Autonomie und Unabhängigkeit von der Steuerung oder auch nur Rahmung durch den politischen Diskurs der Demokratien. Weil aber die Prozesse des Marktes eben doch nicht immer heilsam sind, sondern zuweilen heillos, erfand man von Seiten des politischen Diskurses vor langer Zeit das Korrektursystem der »Sozialen Marktwirtschaft«, das in den Heiligen Markt heilend einzugreifen gestattete. Hauptmotiv der sozialmarktwirtschaftlichen Eingriffe in das System der Wirtschaft war ein von einer politischen Ethik diktierter Begriff der Gerechtigkeit. Denn
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das System des Kapitalismus ist nicht an Gerechtigkeit, sondern an Effizienz ausgerichtet. In der Wirtschaft wird die politethische Gerechtigkeitsvorstellung als Korrektureingriff übersetzt in den wettbewerbsvorteilhaften Anschein und Schein von Gerechtigkeit. Was für den diagnostischen Blick sichtbar vorliegt, ist also eine Inkompatibilität des ökonomischen und des politischen Diskurses. Diese Inkompatibilität erzeugt mit Zwangsläufigkeit ein Mißverstehen auf beiden Seiten der sozialen Prozesse, d.h. des kommunikativen Textes, der sich zwischen den Diskursen entfaltet. Und die Frage ist nun, warum das so ist. Die hier verfolgte These lautet: Der ökonomische und der politische Diskurs folgen heterogenen Diskursregeln und können sich dementsprechend gar nicht verstehen – verstehen soll heißen: sie schaffen keine Anschließbarkeiten im kommunikativen Text des Sozialen.261 Konkret: die Politik folgt immer noch dem handlungstheoretischen Diskursmuster der Moderne. Danach faßt ein Mensch (sagen wir: ein Politiker) einen Plan, er sucht sich dann die geeigneten Mittel, in der Politik auch die zustimmungsbereiten Parteigänger, aus und setzt dann den Plan mehr oder weniger erfolgreich in die Wirklichkeit um. Und das gleiche gilt auch für die sich auf bloßes Reagieren reduzierende Politik. Die Ökonomie aber verfährt ganz anders; dort gibt es niemanden, der die Wechselkurse, die Aktien- oder Fondwerte, die Erfolge der Derivate oder die Rohstoff- oder Produktpreise als großer Chef planen könnte, von meist spektakulären Einzelfällen abgesehen. Die Verläufe der Wirtschaft, die Marktprozesse, sind netzförmig. Das hat zwei handlungstheorieaverse Effekte. Wenn viele – anders als in der Politik – sich einem vermeintlichen Handlungsplan oder -design anschließen, schlägt der Effekt ins Gegenteil um: wenn alle eine besonders renditeträchtige Anlage oder Option wählen, steigt der Preis und die Rendite sinkt. Ähnlich wie im Verkehrsnetz: Wenn alle der Empfehlung einer Stau-Umgehung folgen, bildet sich genau da ein Stau. Der zweite handlungstheorieaverse Effekt ist, daß Handlungseingriffe in Netze dort nur als Störungen ankommen und wirken; Netze aber reagieren auf solche Eingriffe nicht so, wie in der Handlungstheorie erwartet wird, also mit widerstrebendem Handeln, sondern mit Störungsumgehungen, d.h. durch Komplexitätssteigerung des Gesamtzusammenhangs und das heißt wiederum mit einem aus Sicht der handlungstheoretischen, politischen Orientierung absolut unerwünschten Effekt, weil er den handelnden Eingriff in Zukunft u.U. noch schwieriger gestaltet. 7.6.9.3 Subversion der Ökonomie durch Kultur Wenn die festgestellte Subversion der Politik durch die Ökonomie nicht heißen kann, wie der Marxismus noch unterstellte, daß alles soziale Geschehen durch die ökonomische Basis determiniert sei, dann müssen wir Ausschau halten nach einem Diskurs, 261 K. Röttgers: Das Soziale als kommunikativer Text. Eine postanthropologische Sozialphilosophie. Bielefeld 2012.
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der seinerseits im Rahmen des kommunikativen Textes geeignet sein könnte, diese angebliche Basis zu unterminieren. Und die These im folgenden ist, daß es der Diskurs der Kultur ist, der dieses erbringen kann, und zwar genau dadurch, daß auch diese einem netzförmigen Modell folgt statt einem handlungstheoretischen. Dazu machen wir einen kleinen Umweg. Man darf unterstellen, daß es ein dem Ökonomieprinzip entgegenstehendes und kompensatorisch wirkendes Prinzip gibt, das man Kulturprinzip nennen darf. Beide Prinzipien realisieren jedoch Strategien der Endlichkeitsbewältigung. Das Ökonomieprinzip versucht auf der Grundlage der Vita-brevis-Doktrin, effiziente, schnelle und ressourcensparende Wege der Zielerreichung einzusetzen, während das Kulturprinzip als sinnrealisierendes Prinzip Umwege kultiviert. Optimiert das Ökonomieprinzip Produktionsprozesse und Transferprozesse outputorientiert, so dient das Kulturprinzip der Etablierung, dem Kritisieren und der Stabilisierung von Sinn in Prozessen, z.B. der Lebenssinnerfüllung oder der Pflege kultureller Betätigungen. Diese sind nicht ziel- oder outputorientiert, so als diente die Aufführung einer Symphonie nur dazu, den Schlußakkord zu erreichen oder die Lebensführung nur dazu zu sterben. Nun sind aber diese beiden Prinzipien nicht auf Sphären der ausdifferenzierten modernen oder spätmodernen Gesellschaften festgelegt; denn auch in der Wirtschaft wirkt das Prinzip der Umwege und Verzögerungen, z.B. zur Sicherung von Langfristigkeit und Nachhaltigkeit statt ausschließlich kurzer, u.U. ruinöser Zielerreichung. Statt zum Zweck effizienter Zielerreichung kurzen Prozeß zu machen, empfiehlt es sich auch in der Wirtschaft immer wieder, Zwischenglieder in dem ökonomischen Prozeß zuzulassen: Reflexionen, Verhandlungen, Simulationen, Pausen, Moratorien usw., d.h. die Medialität des ökonomischen Netzes aufzuwerten. Und natürlich gibt es auch in der Sphäre der Kultur Werkorientierung. Damit gehört als Verfahren der Endlichkeitsbewältigung auch die Ökonomie in den Gesamtzusammenhang der Sinnstiftungsprozesse.262 An die Seite der »Ökonomisierung aller Lebensbereiche« träte daher hier eine Kultivierung aller Wirtschaft, ein Gedanke, den sowohl Peter Koslowski263 als auch Birger Priddat264 auf je eigene Weise ins Spiel gebracht haben. Eine Verschränkung von Ökonomie und Kultur führte nicht nur dazu, Sinnfragen in den Diskurs der Ökonomie einzubetten, sondern ebenso sehr, dem Ökonomischen in der Kultur einen Platz vorzusehen, um von der Netzstruktur der Ökonomie zu lernen, auf »den« Menschen, resp. das Subjekt/Individuum/Person als außertextuellen Urheber zu verzichten.265 Das Politische neu zu erfinden, hieße demnach, das Politi-
262 263 264 265
E. Svetlova: Sinnstiftung in der Ökonomik. Bielefeld 2008. P. Koslowski: Wirtschaft als Kultur. Wien 1989. B. P. Priddat: Wirtschaft durch Kultur. Marburg 2009. K. Röttgers: Das Leben eines Autors. In: e-journal Philosophie der Psychologie 2007, http://www.jp.philo.at/texte/RoettgersK2.pdf.
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sche gemäß dem Kulturprinzip zu entfalten. Das läuft hinaus auf eine Zielerreichungsvermeidung.266 Sich entfaltende mediale Textualität würde eine handlungstheoretische Orientierung ersetzen dürfen. Letztlich geht es um die Reflexion der Möglichkeit einer zielerreichungsfreien Netzstruktur des Diskurses, unter dem sich der kommunikative Text entfalten kann. Sie bietet die Chance einer Netzstruktur frei vom Fetisch Wachstum und daher im Einzelfall jeweils ruinösen Wettbewerbs-Netzstruktur. Und auch das braucht man nicht herbeizuwünschen, sondern in technischen Netzen qua ihrer Technizität (nicht in ihrer ökonomischen Ausbeutung) ist eine solche Netzstruktur längst Realität.267 Und schließlich arbeitet unser Gehirn nicht nach dem Prinzip, daß eine Netzverknüpfung die anderen zu vernichten strebt. Angesichts der immer weiter sich ausdehnenden Netze der Sozialkontrolle mit dem Ziel der Ausschaltung der Terroristen, der zukünftigen Terroristen, der potentiellen Terroristen und aller Verdächtigen, zukünftig Verdächtigen und potentiell Verdächtigen ist der Versuch, sich der Kontrolle zu entziehen, völlig aussichtslos. Auch hier eiert die Große Politik nur herum, sie erweckt die Illusion, als »handele« sie, um angeblich die Freiheit mit der Sicherheit in Balance zu bringen. Es kann aber nicht darum gehen, ein solches System abzuschaffen und ein anderes an seine Stelle zu setzen oder gar ein System der Kontrolle der Kontrolleure zu etablieren, sondern – mit Gilles Deleuze zu sprechen268 –, in den Netzen »Fluchtlinien« der Deterritorialisierung zu finden/zu erfinden. Wie jeder weiß, besteht ein Netz aus lauter Löchern, wenn man es nur recht betrachtet … 7.6.9.4 Diffusion von Deutungsmacht statt Monopolisierung Das Prekäre an diesen Allmachtsstrukturen ist, daß sie den Möglichkeitsraum der Machtentfaltung im Zwischen entleeren mit der Konsequenz, daß einer solchen Allmacht eine Ohnmacht auf der anderen Seite gegenübersteht. Die als Terroristen oder als potentiell zukünftige Terroristen Definierten, ehemals einfach Menschen, sind zur Besetzung der Funktionsposition des Anderen im kommunikativen Text nicht mehr zugelassen, geschweige denn als ein Selbst. Diese Allmacht läuft ins Leere, weil der Wille, alles über alle zu wissen, keinen Gesprächspartner mehr zuläßt, der nicht verdächtig wäre und daher beobachtet werden müßte. Diese Allmacht hat sich in die Position des Dritten begeben, der alle Gespräche belauscht, aber sich in die Gespräche nicht mehr einmischt, d.h. die Position des Dritten nie mehr verlassen kann; will er sie dennoch verlassen, bleibt ihm keine Alternative mehr dazu zuzuschlagen, die beobachteten Gespräche, d.h. den kommunikativen Text des Sozialen, zu zerstören und die Beteiligten sozial oder physisch zu töten.
266 K. Röttgers: Muße und der Sinn von Arbeit: Ein Beitrag zur Sozialphilosophie von Handeln, Zielerreichung und Zielerreichungsvermeidung. Heidelberg 2014. 267 Chr. Hubig: Die Kunst des Möglichen III: Macht der Technik. Bielefeld 2015. 268 G. Deleuze / F. Guattari: Mille Plateaux. Paris 1980, Kap. 9.
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Wenn in Deutungsmacht-Konflikten jede Seite versucht, sich durchzusetzen, so läuft sie damit in die Falle einer Paradoxie. Denn setzte sie sich wirklich restlos ohne ein Widersprechen im kommunikativen Text durch, so wäre ihr Reden ein Monolog, aber schlimmer noch: ein Monolog, dem niemand mehr zuhörte.269 Also ist der Deutungsmacht-Konflikt begrüßenswert und sozial heilsam. Das ermuntert aber nicht zu einem Gleichgültigkeit pflegenden Pluralismus und Relativismus; denn allerdings soll jeder, der von der Wahrheit überzeugt ist, auch andere von der Geltung dieser Wahrheit zu überzeugen versuchen; und der Andere tut desgleichen. Die Allmacht zerstört und beendet alle Deutungskonflikte. Aber ist diese auf Einheit setzende Allmacht, die zerstörerisch auf alle Kommunikation wirkt, ohne Alternative? Ich glaube nein. Als erstes heißt das, daß wir in die Einheit der Definitionen intervenieren und z.B. die Ermordung Osama bin Ladens als einen Akt ebenfalls des Terrorismus bezeichnen, m.a.W. daß wir die allmächtige Definitionsmacht herausfordern und damit das Feld der Deutungskonflikte erneut eröffnen. Als Modell eines solchen unendlichen Gesprächs, d.h. des kommunikativen Textes im Medium unseres Miteinanders dient mir das Symphilosophieren der Frühromantiker, deren »polemische Totalität« als sie Verbindendes gerade nicht auf einen Konsens zielt (der jedes weitere Gespräch überflüssig machen würde), sondern auf eine möglichst große Kultivierung der Differenzen (das »Wunder unserer Mißverständnisse«). 7.6.9.5 Widersprüche historisch ineffektiv Wenn Joseph Vogl gesagt hat »Noch niemand – auch nicht der Kapitalismus – ist an seinen Widersprüchen zugrunde gegangen, das Ganze scheint umso besser zu funktionieren, ›je mehr alles aus dem Leim geht‹ [letzteres ein nicht nachgewiesenes Deleuze-Zitat, K. R.]«270, dann macht er damit auf etwas aufmerksam, auf das schon Anthony Wilden hingewiesen hatte,271 nämlich daß unaufhebbar jede Organisation Widersprüche impliziert, und zwar deswegen weil die menschliche Geschichte anderen Prozeßstrukturen folgt als die natürliche Evolution. Man kann für die Kulturgeschichte nicht von Subjekten als letztgültigen Zurechnungseinheiten ausgehen, von denen her dann alle Prozesse, und sei es auch interferierend, erklärbar wären. Es ist definitiv nicht von festgefügten Subjekten und ihrem »Austausch« im Prozeß des 269 Die längste Rede der Welt hielt der Franco-Katalane Lluís Colet; sie dauerte 124 Stunden und warb für den Erhalt der katalanischen Sprache in der französischen Grenzregion um Perpinyà. Es ist klar, daß niemand ihm (ununterbrochen) zuhörte. – Daß nur noch ein geringer Teil der demokratisch Wahlberechtigten tatsächlich sein Stimmrecht ausübt, verdankt sich dem gleichen Unwillen, dem monologisierenden Palaver der Großen Politik noch irgendeinen Sinn beizumessen. 270 J. Vogl: Das Gespenst des Kapitals. Zürich 2010, p. 141. 271 A. Wilden: System and Structure. London 1972, p. 367; cf auch A. Hetzel: Zwischen Poiesis und Praxis. Würzburg 2001, p. 110, nach dem die Kultur selbst die Unterscheidungen vornimmt, die ihre historischen Widersprüche ausmachen.
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kommunikativen Textes auszugehen, sondern wir wissen zunächst einmal gar nicht, welche Rolle, Textfigur oder Funktionsposition eine bestimmte Person spielen wird; vielleicht wissen wir in etwa, welche Rolle sie höchstwahrscheinlich nicht spielen wird, u.U. weil sie sie gar nicht mehr spielen kann. Zugleich aber wissen wir alle, welche erstaunlichen Überraschungen man erleben kann; denn unsere Erwartungen sind selbst nichts als Steuerungsmomente des Prozesses. »Überraschung« aber ist das, was als ein Ereignis im Text oder was in einem auf ihn bezüglichen, reflexiven Text als narrative Auflösung von Widersprüchen bezeichnet werden darf. Das Ereignis als Überraschung transzendiert die erwartungsmäßige Vorstrukturiertheit des Textes, sein diskursives Muster, evtl. sogar den Diskurs selbst. In jedem nur etwas narrativen Text, d.h. eines, der Prozeß ist und Prozeß thematisiert und organisiert, mithin in seiner temporalen Dimensioniertheit, seiner Entfaltung nicht kaschiert, ist die Ordnung des Diskurses und ihr Gegenteil zugleich präsent. Obwohl der Diskurs sie zu verbieten scheint, erscheint in solchem Text die Kompossibilität von Spruch und Widerspruch, letztlich die Kompossibilität von Sinn und Unsinn. Insofern gerät die durch Derrida emphatisierte Differenz-im-Ursprung in sozialen Zusammenhängen immer schnell als ein Widerspruch. »La différence, dès lors, se trouve réduite à ne trouver sa vérité que dans et par la contradiction.«272 Der subversive, d.h. sinnauflösende und sinnkonstituierende, Charakter des widersprüchlichen Textes gleicht einer entschiedenen Dreierbeziehung. Dreierbeziehungen bestehen bekanntlich aus zwei Positionsbeziehungen und einer Beziehungsbeziehung. Intertextual wirkt diese Dreiheit als Beziehung auf den Diskurs wie auf sein Gegenteil, kritisch einerseits, emanzipativ und therapeutisch andererseits; kontextual wirkt sie als Beziehung auf die Gegebenheit des Textes und seine jeweils alternativen Möglichkeiten. Die Beziehungsbeziehung aber – die Beziehung zu den Beziehungen, die die anderen miteinander haben – ist die Beziehung auf die »Unmöglichkeit« anderer Texte und auf die Widersprüchlichkeit des Diskurses. Analytisch zu unterscheiden sind die Beziehungsbeziehungen von reflexiven Beziehungen, über die der diskurskonforme Text allemal verfügt, auch wenn Übergänge möglich sind, die das Maß der Veränderbarkeit der Diskurse bilden, so daß Beziehungsbeziehungen gelten können als Bedingungen der Möglichkeit von Ebenenwechsel und damit der Gleichheit der Partizipationschancen trotz Asymmetrie im Text, und damit der Eigendynamik des kommunikativen Textes. Der Übergang von Beziehungsbeziehungen zu reflexiven Beziehungen ist immer möglich und muß deswegen normativ ausgeschlossen oder beschränkt werden. Dreierbeziehungen sind in der Regel durch Treue-Postulate verboten, oder es ist systematisch Vorsorge dafür getroffen, daß sie mißlingen als bloße Ausnahmen von der Normalität des Textes oder gar als bloße Variation von Zweierberbeziehungen. Wenn z.B. die Geliebte bloß ein »Seitensprung« ist, oder schlimmer noch bloß eine Parallel-Ehefrau, dann reduziert sich 272 C. Lévesque: L’étrangeté du texte. Paris 1978, p. 95.
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die Dreierbeziehung unter diesem Aspekt auf die Verdopplung von Zweierbeziehungen. Wie gesagt, gegen echte Dreierbeziehungen werden Normierungen aufgeboten. Und in hoch arbeitsteiligen Gesellschaften werden diese sozialen Funktionen der Verbotsdurchsetzungen und –überwachungen als Rollen und als Stellen ausdifferenziert. Einer ist dann für die Zensur der wissenschaftlichen Diskurse zuständig, sein Blick gilt als Überblick, sein Name ist Wissenschaftstheoretiker.273 Er verfügt über das Monopol diskusiver Deutungs- und Reflexionsmacht, die die Dynamik durch Beziehungsbeziehungen kanalisieren, disziplinieren oder ausschließen soll. Er sorgt dafür, daß Widersprüche in wissenschaftlichen Texten mit Sanktionen belegt sind, weil für ihn die Wahrheit als widerspruchsfrei auszugeben ist und Sauberkeit von Widersprüchen dasjenige an Wahrheitswürdigkeit ist, das jeder Textpartizipient für sich selbst an individuell zurechenbarer Pflege und Hygiene seines Textbeitrags soll vollbringen müssen, um an der Widersprüchlichkeit des Gesamttextes weiter teilnehmen zu dürfen. Austreibung und Verhinderung von Widersprüchen ist also vor allem Erzeugung und Induktion von Kontext-Ignoranz durch wissenschaftstheoretische Disziplinierung. 7.6.9.6 Widerspruch und Widerstreit Das obige Zitat von Lévesque leitet an, einen Unterschied explizit einzuführen, der im Deutschen als Unterschied von Widerspruch und Widerstreit markiert wird. Auf der einen Seite hatten wir mit der Rückbindung des Widerspruchs an das Widersprechen im Rahmen des kommunikativen Textes diesen Unterschied entschärft, andererseits bleibt aber zu klären, was der Widerstreit, der als Streit seinen Ort auch nur im Text haben kann, genauer meint. Bei Kant finden wir die Unterscheidung von Widerspruch und Widerstreit. So ist die Antinomie der reinen Vernunft kein echter (logischer) Widerspruch, sondern »bloß dialektisch und ein Widerstreit eines Scheins«.274 Georg Simmel spricht bereits von einem »Widerstreit ethischer Interessen«275, der dem ethischen Monismus entgegengesetzt sei. Ein solcher Widerstreit sei so lange wirksam, als eine höhere Norm, die die Widerstreitenden vereint, nicht in Sicht sei; aber umgekehrt bewirke eine höhere Norm oft erst den Widerstreit, wo es vorher vielleicht nur »Pflichtenkreise« gab, die sich überhaupt nicht tangierten: »[…] das Verhältniss zweier Pflichten mag sich
273 Zur problematischen Rolle der Wissenschaftstheorie s. auch O. Marquard: Einheitswissenschaft oder Wissenschaftspluralismus?. In: ders.: Individuum und Gewaltenteilung. Stuttgart 2004, p. 124-137: »Die Wissenschaftstheorie fungiert als der Versuch, die modern wissenschaftlichen Problemverluste unauffällig zu machen, indem sie […] ausschließt, daß die verlorengegangenen Probleme Probleme sind und ihr Verlust ein Verlust ist.« (p. 128) 274 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft B 534. 275 G. Simmel: Gesamtausgabe IV. Frankfurt a. M. 1991, p. 349.
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ruhig und ohne wechselseitige Störung entwickeln, bis uns eine höhere Norm bewusst wird […]«276 Genau in diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn der deutsche Übersetzer von J.-F. Lyotards »Différend« dieses mit »Widerstreit« wiedergibt. Denn auch hier sind heterogene Diskurse (»Sprachspiele«) nicht als logischer Widerspruch aufzulösen oder zu entscheiden, sondern sie bestehen nebeneinander.277 7.6.10 Pflege des Gestrichenen 7.6.10.1 Schizophrenisierungsprozesse Dem analytischen Niveau des Textbegriffs entsprechen Etappen des kulturellen Schizophrenisierungsprozesses, d.h. der kulturell bedingten Einschränkung von Möglichkeiten der Kommunikation durch Einschränkung der Möglichkeiten, in bestimmten kommunikativen Kontexten die Positionen von Selbst und Anderem einzunehmen; diese Einschränkungen können sowohl kontextual sein, d.h. Beschränkungen, an bestimmte Texte anzuknüpfen, als auch intertextual, was die Durchlässigkeit zwischen Diskursen betreffen würde, z.B. durch Metaphernverbote. Durchbrochen werden können diese Prozesse in der Regel nicht durch die betroffenen Subjekte, sondern nur durch eine kollektive und solidarische Praxis der Revolutionierung der herrschenden Diskurse, z.B. was die Schizophrenisierung betrifft, durch Bilder und Metaphern aus der Sphäre der Triebe, Träume und der Körperlichkeit. Nisten sich diese Bilder in den Texten ein, dann erzeugen sie dort, ohne daß irgend jemand dazu Intentionen entwickeln müßte, Widersprüche im Text. Man muß also nicht annehmen, daß »mit der Tilgung des ›Subjekts‹ das Geschriebene […] unlesbar würde.«278 Die Unlesbarkeit verdankt sich nicht Subjekt-Tilgungen, sondern der Induzierung von Widersprüchen der oben angegebenen Art. Eberhard Ostermann sagt dazu: »Eine gezielt aporetische Lektüre soll […] die einander widersprechenden Bedeutungssegmente des Textes bis zu dem Punkt zur Geltung bringen, an dem seine Einheit zerreißt und er jene Kräfte freisetzt, die er nicht etwa in schöner Harmonie versöhnt, sondern durch seine Form zusammengezwungen hatte.«279 Wenn aber der skandalöse Einbruch in den Text intentionsfrei (!) gelingt und weder ausgetrieben noch wie eine unablösbare Kredit-Schuld unendlich aufgeschoben
276 ibd. 277 J.-F. Lyotard: Le différend. Paris 1983; dass. dt. als: Der Widerstreit. München 1987, p. 9f. 278 M. Schmitz-Emans: Ein Brief aus Babel über unsere (ganz alltägliche?) Dekonstruktion. In: Zeno 15 (1993), p. 4-44, hier p. 35; verräterrischerweise vollzieht Monika SchmitzEmans mit den Anführungszeichen um das »Subjekt« selbst schon eine Halb-Tilgung. 279 Zit. ibd., Anm. 25.
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wird, dann hat auch dieser so bereicherte Text eine Anwartschaft darauf, ein »klassischer« Text zu sein oder zu werden. Gewiß können spätere historische Bezüge auf ihn untereinander widersprüchlich gewesen sein und bleiben, aber es sind dann Widersprüche im Diskurs, nicht mehr Widersprüche zum Diskurs. Im Politischen führt dergleichen dann zur pluralistischen Toleranz, die aber ebenfalls hart begrenzt ist: Keine Freiheit für die Feinde unserer Freiheit, und wer diese Feinde sind, das bestimmen wir, die Freunde der Freiheit, und auch, wer in Zukunft Feind unserer Freiheit sein oder werden könnte, was dann in jene Überwachungs-Aporie hineinführt, nach der jeder von uns Freunden der Freiheit ein zukünftig-potentieller Feind unserer Freiheit werden könnte. Diese aporetische Struktur erzeugt eine absolute Immobilisierung der Diskurse, die doch den Sinn des Sozialen artikulieren (könnten), und zur absoluten Trivialisierung der Texte, die nichts mehr sagen, als das, was immer schon gesagt wurde, beobachtbar gegenwärtig in der flächendeckenden Homogenisierung der Nachrichtenberichterstattung, die sich auch durch offensichtliche Fehleinschätzungen nicht mehr irritieren läßt, z.B. Stichwort »arabischer Frühling« von Tunesien bis Syrien, als wollten alle diese Völker nichts anderes, als der Freiheit der amerikanischen »civilization« teilhaftig zu werden. Am Ende überwacht die Totalüberwachung und die Jagd auf die potentiellen Feinde der Freiheit nichts anderes mehr als die Garantierung der Unnötigkeit der Überwachung. Gelänge das aber nicht vollständig – so wollen wir doch immer noch hoffen –, dann bleiben die Texte nicht logischsemantisch eindeutig, d.h. nichts-sagend, sondern sie erscheinen ästhetisch-pragmatisch wirkungsvoll: Evokation statt Information.280 7.6.10.2 Tilgung Gerade der wegen der Maxime der Widerspruchsfreiheit aus dem Textzusammenhang gestrichene Gedanke sollte daher liebevoll gepflegt werden. Er ist ein Symptom, vielleicht ein Zeichen dessen, was wir, indem wir dieser und ähnlichen Maximen, z.B. der »political correctness«, folgen, in unseren Diskursen negierten.281 Es könnte auf diese Weise offenbar werden, daß durch die kritische Pflege gestrichener282 Texte Dämme und Grenzen unterwühlt werden oder zu Marken erweitert werden.283 Körpertexte und Traumtexte würden die Grenzen (›dies ist der Text und dort ist die Welt‹) porös machen. Originäre Konsonanzen oder Textrhythmen, die exkludiert werden – z.B. welche Texte, orientiert an Rationalitätsstandards, würden es sich 280 J. Clerget: Je est un autre. Poésie et psychanalyse. Coaraze 2015. 281 Die Sauerländerin Lioba Albus: » ›Neger‹ darf man jetzt nicht mehr sagen, das heißt jetzt ›Schwatter‹.« 282 Textkritik mit dem Ziel kritischer Editionen pflegt diesen Aspekt seit Jahrhunderten. 283 »Marken« sind Übergangsbereiche zwischen zwei Ländern, Diskursen usw., in denen zwei miteinander widersprüchliche und unvereinbare, d.h. eigentlich unverträgliche Regelsysteme gleichzeitig gelten, bzw. keines von beiden mit der Kraft der Ausschließlichkeit, sie liegen oder bewegen sich im Zwischen, während »Grenze« eine lineare Demarkation bezeichnet, für die es ein Zwischen nicht mehr gibt.
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gestatten zu sagen ›Trieb und Traum‹, selbst wenn genau dieses gemeint wäre?, und zwar nicht obwohl, sondern weil es sich wegen der Alliteration so schön sagen läßt, genau das ist nämlich ein illegitimes Mittel der Fortsetzung theorieverpflichteter Texte –, geraten mit den möglichen Surrogaten in ein Spannungsverhältnis dadurch, daß die diskursiv erlaubten Kontextualisierungen andere sind als die des Originals. Wenn nun nicht alle Spuren des tabuisierten Originals beseitigt wurden, d.h. wenn originale Kontextbeziehungen erhalten bleiben, dann wird der Text in sich widersprüchlich. Wenn man gutmenschlich das Wort »Neger« tabuisiert, aber alle Kontextualisierungen des ursprünglichen Wortes für das Ersatzwort beibehält, dann gerät die »gute« Absicht in Widerspruch zu allen Aussagen, in denen das Ersatzwort auftritt, das Ersatzwort wird ambigue; denn dann ging die Abschwörung nicht bis ins »Herz« der Texte. Oder aber der Text ist den neuen Diskursregeln voll ergeben, alle alten Kontexte wurden vollständig getilgt, dann setzt er sich zu seinem Gegenstand in Widerspruch; dann sind die früher »Neger« genannten Völker eben nicht mehr negroid. Diese in dieser Abkürzung und diesen einseitig gewählten Beispielen etwas mystifizierte Redeweise wird jedoch unmittelbar evident, wo der Gegenstand des Textes selbst Text ist, Prototext, Soziotext284 oder eine andere Formgestalt des kommunikativen Textes. Wo er es aber nicht ist und wir es mit der sogenannten Natur zu tun haben, haben wir es als Mittelbegriff mit dem Begriff der Wahrnehmung zu tun und, insofern es um unsere eigene Natur geht, mit dem Begriff der Leiblichkeit. Nun erscheint aber der Begriff des Widerspruchs höchst fraglich. Kann Bewußtsein in Widerspruch zur Leiblichkeit geraten? Kann nicht falsche Wahrnehmung als solche nur im kommunikativen Text als falsche erscheinen? Gewiß, ich kann meine Wahrnehmungen (später!) korrigieren, aber die momentane Wahrnehmung ist für den Wahrnehmenden immer widerspruchsfrei. Ebenso ist es nicht möglich zu sagen, daß mein Leib nicht mein Körper sei. Trieb und Traum sind ebenso wenig außerhalb des Textes wie der Leib dessen, der eine Funktionsposition im kommunikativen Text besetzt. Dieser Körper ist nicht mein Leib, setzt die Wortergreifung des Anderen voraus. Der Körper bleibt Gegenstand der Natur, aber der Leib wechselt mit dem Wechsel der Besetzungen der Funktionspositionen. Es gibt vermutlich nur drei Gestalten der Weigerung der Anerkennung dieser Zusammenhänge zwischen Text und »Natur«: 1) der Körper des Selbst wird totgestellt, 2) die Spannung zwischen beiden wird durch Reflexion überboten, was nicht dasselbe wäre wie die Hegelsche Aufhebung, 3) es geht ein in eine gemeinsame Widerspruchskultur. Widerspruchskultur beginnt mit der rückhaltlosen Anerkennung des
284 Der Begriff des Soziotextes wurde von Jürgen Frese geprägt, aber m.W. leider nirgendwo effektiv aufgegriffen. J. Frese: Prozesse im Handlungsfeld. München 1985, p. 125ff. Die Nicht-Rezeption dürfte selbst ein schönes Beispiel von Tilgungen sein. Wenn eine Tilgung revidiert wird, erscheint ihr Charakter als Palimpsest.
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Polyzentrismus von Text, wonach, hart gesagt, der »Autor« eines Textes nichts anderes ist als die polyzentrische Verkettung von Autorfunktionen. Sich vorzustellen, daß alle diese Funktionen identisch seien wegen der erwarteten oder unterstellten Einheit der Welt, ist einerseits nichts anderes als ein Mangel an Realitätssinn (oder) andererseits, wo es denn kontrafaktisch gemeint sein sollte, ein Mangel an undisziplinierter Phantasie. 7.6.10.3 Die Autorfunktion Durch die mathematische Informationstheorie mit ihrem Sender-Empfänger-Modell verstärkt, glaubte man allgemein in der humanistischen Tradition an eine Autor-Leser-Interaktion, in der der Schreibende Einfluß auf den Lesenden ausübe: »[…] there is an author who records what he undertakes to understand to signify, as well as a reader who undertakes to understand what the author has signified.«285 In ihrer Karikatur der Postmoderne beschreibt Monika Schmitz-Emans, welchen traditionellen Glauben die Postmodere (»Dekonstruktion«) zerstört habe: »Auch menschliche ›Autoren‹ – einst verstanden als sinn-begründende Instanzen jenseits der Texte – verschwanden aus der spätbabylonischen Gedankenwelt. In kühner Umkehrung der alten Begründungsfigur erklärte man den ›Autor‹ zu einer Idee, welche die Bücher […] selbst in unseren Köpfen erzeugt hätten – so daß nach spätbabylonischer Lesart nicht mehr die Bücher von einem Autor, sondern der Autor von den Büchern abstammte.«286
Etwas ernsthafter stellt sie anläßlich der Frage, ob der Autor seinen Text oder in seinem Text überlebt, diese Position als Gegenthese gegen die Überlebensfiktion dar: der Autor existiert (jenseits des Textes) gar nicht. Sie zitiert Becketts Frage: »Wen kümmert’s, wer spricht«, bezieht sich ausgiebig auf Foucaults methodischen Grundsatz der Umkehrung,287 demgemäß Disziplin und Wille zur Wahrheit die Kontinuitätsgewähr der Texte generieren, und kommt schließlich zu Max Frischs These, daß das Ich eine literarische, im Prozeß des Schreibens konstituierte Fiktion sei, eine Textfunktion, nach der der Leser freilich verlangt.288 Max Frisch: »[…] jedes Ich, das erzählt, ist eine Rolle […] Jede Geschichte, die sich erzählen läßt, ist eine Fiktion […]«289
285 M. H. Abrams: How to Do Things with Texts. In: Partisan Review 46 (1979), p. 566-588, hier p. 575. 286 M. Schmitz-Emans: Ein Brief aus Babel, p. 19f. 287 M. Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1977, p. 35f. 288 M. Schmitz-Emans: Überleben im Text? Zu einem Grundmotiv literarischen Schreibens und einigen Formen seiner Reflexion im poetischen Medium. In: Colloquia Germanica 26 (1993), p. 135-161, bes. p. 140ff. 289 M. Frisch: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Frankfurt a. M. 1986, III, p. 416, zit. bei Schmitz-Emans, p. 143.
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Wir werden im folgenden die Position des Spätbabylonikers einnehmen.290 Als ein früher Bezugsautor dafür darf gewiß Walter Benjamin gelten, der nichts »sagen« wollte, sondern nur »zeigen« und dessen Passagenwerk, nach einer frühen Idee nur aus Zitaten bestehen sollte. In seiner Dissertation »Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik« stellte er die (romantische) Kunst als eine »Bestimmung des Reflexionsmediums« dar.291 Reflexion meint dabei gerade nicht Reflexion eines Bewußtseins als Selbstbewußtsein und seine Niederschrift der Reflexionsresultate im Text, sondern Reflexion des Kunstwerks in sich als kritisches Potential der Selbstperfektionierung des Textes: »Das Subjekt der Reflexion ist im Grunde das Kunstgebilde selbst, und das Experiment [in Philosophie und Poesie, K.R.] besteht nicht in der Reflexion über ein Gebilde […], sondern in der Entfaltung der Reflexion in einem Gebilde. Sofern Kritik Erkenntnis des Kunstwerks ist, ist sie dessen Selbsterkenntnis.« Darf man Benjamin als frühen Spätbabyloniker titulieren, so kommen wir mit Maurice Blanchot in das Auge des Taifuns. Wenn er allerdings sagt »Jedes Werk ist das Werk seiner Umstände«,292 dann ist das eine Anleihe bei Valéry; und schließlich ist der Gedanke, daß es den Täter nicht vor der Tat gibt, sie verursachend, sondern nur in der Tat, so wie es den Blitz nicht gibt, bevor es blitzt, d.h. nur in seinem Leuchten, ein genuiner Gedanke Nietzsches. In diesem Sinne schreibt Blanchot: »Gesetzt, dass das Werk geschrieben ist: Mit ihm wird der Schriftsteller geboren. Davor gab es niemanden, um es zu schreiben; ausgehend vom Buch existiert ein Autor, der mit seinem Buch eins wird.«293 Und mit Mallarmé stellt Blanchot fest, daß sich das sprachliche Kunstwerk nicht für die Realität als solche interessiert (auch wenn Menschen, auch solche, die im Werk als Autor in der Autorfunktion erscheinen, sich sehr wohl für sie interessieren [müssen]), »sondern für das, was die Dinge und die Wesen in ihrem Sein sein würden, wenn es keine Welt gäbe […]«294 Der Schriftsteller, ein Mensch, der schreibt und so in die Autorfunktion des Textes eintritt, erforscht auch nicht sein sogenanntes Inneres, sein Sagen-Wollen oder gar seine »schöne Seele«; schreibend setzt er sich ins Werk: »Er existiert nur ausgehend vom Werk.«295 Diese Sicht auf Textualität als Autopoesie veranlaßt Paul Ricœur zu einer Umdefinition der hermeneutischen Aufgabe: »das Schicksal des Textes […] entzieht sich dem begrenzten Lebenshorizont seines Autors völlig. Was der Text nun aussagt, zählt mehr als das, was der Autor damit auszusagen meinte, und jede Exegese entfaltet sich
290 Zur Bezugnahme auf Babel für eine Theorie der Übersetzung s. A. Hirsch: Die geschuldete Übersetzung. Von der ethischen Grundlosigkeit des Übersetzens. In: Übersetzung und Dekonstruktion, hrsg. v. A. Hirsch. Frankfurt a. M. 1997, p. 396-428. 291 W. Benjamin: Gesammelte Werke. Frankfurt a. M. 2011, I, p. 290. 292 M. Blanchot: Das Neutrale. Zürich, Berlin 2010, p. 51. 293 ibd. 294 l. c., p. 80. 295 l. c., p. 50.
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in einem Umkreis von Bedeutungen, die ihre Verankerung in der Psyche des Autors verloren haben.«296 Ricœur ist gewiß kein postmoderner Denker oder Späbabyloniker, und so betont er kurz vor dem angeführten Zitat: »Nicht, daß wir uns einen Text ohne Autor vorstellen können […]«297 Er ist zu einer solchen Vorstellung nicht in der Lage, weil bei ihm Mensch, Schriftsteller, Autor Begriffe sind, die erstens durcheinander gehen, zweitens aber substantiell gefüllt sind, und ein Begriff wie »Autorfunktion«, nämlich definiert vom Text als Medium her, undenkbar bleibt. Nur das Verursachungsprinzip zwischen Mensch und Text ist in seiner Hermeneutik gelockert, so daß auch bei seiner Hermeneutik der Text im Mittelpunkt stehen muß und der Rekurs auf die Seele des Autors an Erklärungskraft verliert. Daß der Autor im Text aufgeht, gewissermaßen zum Vollzugsorgan des Textes wird, hat auch Valéry mehrfach hervorgehoben: »Qui dit: Œuvre dit: Sacrifices […] Toute œuvre est l’œuvre bien d’autres choses qu’un ›auteur‹.«298 Oder: »Celui qui vient d’achever une œuvre tend à se changer en celui capable de faire cette œuvre. Il réagit à la vue de son œuvre par la production en lui de l’auteur.– Et cet auteur est fiction. L’œuvre modifie l’auteur. A chacun des mouvements qui la tirent de lui, il subit une altération.«299 Diese Sichtweisen aus der Perspektive der Reflexion auf das Subjekt flankierend, hatte Lacan gegenüber den Zuhörern seines Seminars III festgestellt: »Die Sprache spielt ganz in der Ambiguität, und die meiste Zeit wissen Sie überhaupt nichts von dem, was Sie sagen. […] Neun Zehntel der tatsächlich gehaltenen Diskurse sind […] vollkommen fiktiv.«300 Diese Modifikation des Autors im Text läßt auch den Leser nicht unberührt, das ist Effekt der Tatsache, daß der Text nicht Werkstück ist, sondern Medium, kommunikativer Text. Sarah Kofman hat das an E. Th. A. Hoffmanns »Lebens-Ansichten des Katers Murr« herausgearbeitet.301 Wenn ein Text, geschrieben von einem Kater, herausgegeben von seinem Herrn, in der Tat (fiktiv) gar keinen Autor hat, oder aber zwei, Murr und den »Herausgeber«, und wenn das Werk Murrs von Zitaten durchsetzt ist, z.T. fehlerhaften (aber was kümmert‘s den Kater), und auch von Plagiaten, dann ist »der« Autor klassischer Provenienz erledigt. Denn dieser – in Lebensansichten, also Biographien – setzte voraus, daß der »Autor« außerhalb dieses biographischen Textes ein »Leben« hatte – ein Leben außerhalb von Anführungszeichen302 –,
296 P. Ricœur: Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen. In: Texte zur Theorie des Textes, hrsg. v. St. Kammer u. R. Lüdeke. Stuttgart 2005, p. 187-207, hier p. 194. 297 ibd. 298 P. Valéry: Œuvres II. Paris 1960, p. 629. 299 l. c., p. 673. 300 J. Lacan: Das Seminar Buch III: Die Psychosen. Berlin 1997, p. 138. 301 S. Kofman: Schreiben wie eine Katze. Graz, Wien 1985. 302 s. K. Röttgers: »Ein Leben innerhalb von Anführungszeichen«. In: Ethik und Sozialwissenschaften 5 (1994), p. 607-609.
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das die Biographie erzählt und beschreibt. Und als Autor seiner Biographie verantwortet er das, was er da schreibt. Aber der Kater hat kein richtiges Leben, seine erzählte Vergangenheit war niemals Gegenwart. Kater und »Herausgeber« greifen wechselseitig in ihre »Leben« ein, und die Fülle der Zitate belassen das Zitierte nicht deren Original-Autoren, sondern benutzen, verfälschen und retextualisieren sie. Wer und wo also ist »der« Autor? Kofman spricht vom »Mord am Autor als Vater des Werkes: Die Art Murrs zu lesen impliziert notwendigerweise Enteignung, denn er verschlingt alle Werke, trinkt deren Tinte, ohne sich um Titel und Autoren zu kümmern.«303 Der Text mit mehreren Autoren (man denkt unwillkürlich auch an Bourbaki) pluralisiert auch die Funktionsposition des Lesers: einige glauben dem Kater und sympathisieren mit ihm, andere mit dem »Herausgeber«, andere verlieren die Geduld … – sagt der Text, gezeichnet vom »Herausgeber«. Der Leser – die Leser! – muß – müssen – den Text, dessen Teil er ist, lesend neu schreiben. M.a.W. der kommunikative Text erzeugt nicht nur einen Autor, der nur Autor-im-Text ist, sondern ebensosehr einen Leser (Leser-im-Text) ohne außertextuelle, ontologische Dignität. Wie als wäre von dem gleichen Textstück die Rede, sagt Blanchot: »Die Umgangssprache nennt eine Katze eine Katze, als ob die lebende Katze und ihr Name identisch wären, als ob die Tatsache ihrer Benennung nicht darin bestehen würde, von ihr nichts als ihre Abwesenheit zu behalten, das, was nicht ist. […] Die Katze zu benennen, bedeutet, wenn man so will, eine Nicht-Katze daraus zu machen […]«304 Aber das gleiche gilt auch für das Subjekt: »Wenn ich spreche, verneine ich die Existenz dessen, was ich sage, aber ich verneine auch die Existenz dessen, der es sagt […]«305 Im Autor bringt sich der Schriftsteller selbst zum Verschwinden. Was von ihm bleibt, ist die Bewegung seines Verschwindens.306 Das Verschwinden kann verschiedene Formen annehmen, von der realen Nicht-Präsenz des Autors im mathematischen Lehrbuch über das Verschwinden in der Vervielfältigung, Kater Murr und sein »Herausgeber«, aber auch die Namen des Fernando Pessoa bis hin zur Fiktion des Autors, er sei gar nicht verschwunden, etwa in der Autobiographie.307 So sind die Autorfunktionen im Text als Fiktionen realer Personen im Prozeß des kommunikativen Textes untereinander inhomogen und widersprüchlich. Zuweilen ist, was wie Homogenität aussieht, Inhomogenität in inniger Berührung, in der die Differenz in großer Erregung gleichgültig wird. Umso größer wird der Widerspruch im polyzentrischen Text, für den Treue ein fremdes Wort ist.
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S. Kofman: Schreiben wie eine Katze, p. 105f. M. Blanchot: Das Neutrale, p. 72. l. c., p. 71. St. Breuer: Die Gesellschaft des Verschwindens. Hamburg 1995. J. Simonin-Grumbach: Pour une typologie des discours. Paris 1975, nutzt diese verschiedenen Formen für eine Klassifikation von Textsorten.
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7.6.10.4 Treue zum Diskurs Ein wirklich »treuer« Text ist langweilig für alle, denen er nicht »treu« ist, und selbst für das Subjekt, dem er treu ist, wird er langweilig, sofern seine Textzentrierungen stärker variieren; tun sie es aber nicht, d.h. gibt es eine »Treue«, die die prozessuale Identität von Intertextualität zweier Texte ausmacht, die außerdem alle andere Intertextualität und Kontextualität ignoriert und negiert, dann macht es wenig Sinn von zwei Texten zu sprechen; was wie zwei Texte ausgesehen haben könnte, ist nur der Wechsel der Besetzung der Positionen von Selbst und Anderem in ein und demselben kommunikativen Text. Daß auch dieser mehr oder weniger von den Maßgaben des Diskurses abweichen kann, ist die Normalität jeder Textualität, die etwas zu sagen hat, was nicht auf die Wiederholung des Immergleichen hinausläuft, was es aber auch realiter nur im Palaver des Man zu geben scheint. Der absolut »treue« Text, wäre der Diskurs selber, d.h. die Stillstellung des Prozesses; nur die Evolution der Sprache könnte ihm noch etwas anhaben. Texte aber in der Widerspruchskultur sind ebenso uninteressiert an der Identität entfalteter Subjektivität. Der unter der Wirkung von Intertextualität sich entfaltende kommunikative Text kennt Subjektivität und ihre Identität nur als Grenzbegriff, nämlich der Vielkörperlichkeit des Sprechens. Die vielen Lippen und ihre (unausgesprochene) Suche nach Berührungen sind Randbedingungen der Dynamik des Prozesses: die volle Subjektivität gehört in die Parenthese 308 – oder in die Epoché. Fassen wir den Befund zusammen:
308 S. Hugo von Hofmannsthals Abscheu vor jeder Vermischung von Werk und Person. Als Ruth Sieber-Rilke Hofmannsthal um die Briefe ihres verstorbenen Mannes bittet, in der Absicht, diese zu veröffentlichen, ist Hofmannsthals Antwort entschieden abweisend: »Wenn ich meinen Tod sehr nahe kommen fühlte, würde ich alles tun […] diese vielen schalen und oft indiskreten Äußerungen über einen productiven Menschen und seine Hervorbringungen, dieses verwässernde Geschwätz, zu unterdrücken, zumindest ihm möglichst die Nahrung zu entziehen durch Beiseite-Bringen der privaten Briefe und Aufzeichnungen, Erschwerung des läppischen Biographismus und aller dieser Unziemlichkeiten. Mein Gedanke wäre, das schwer deutbare menschliche Wesen das einmal da war, […] wirklich dem Tod zu überantworten, und sei es der Vergessenheit [...] – und die Werke ganz allein diesen schweren geheimen Kampf aufnehmen zu lassen mit den feindseligen nächst-folgenden Dezenien.« G. Fetzer: Das Briefwerk Hugo von Hofmannsthals. Modelle für die Edition umfangreicher Korrespondenzen. Marbach 1980, p. 9. Und noch deutlicher in einem Brief an Richard Strauss: »Mir ist alles Persönliche ein Greuel [...] Jedes Stellen der eigenen Person über die Ideen und Institutionen ist kulturlos und muß sich rächen.« R. Alewyn: Unendliches Gespräch. In: ders.: Über Hugo von Hofmannsthal. 3. Aufl. Göttingen 1963, p. 17-45, hier p. 43. Die Paradoxie, die darin steckt, daß diese Briefe veröffentlicht wurden und auch hier noch einmal zitiert werden, übergehe ich im Moment.
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Die Funktion des Widerspruchs für die Entfaltung des Textes postuliert: Kein wirklich wahrer, lebendiger Text ist ohne Widersprüche;309 oder er beschreibt lediglich, daß der Fortgang des Textes am Widerspruch hängt – als Widersprechen nämlich; dieser Aspekt kann nicht einfach als bloße Pragmatik verharmlost werden, weil es eben nicht die Kontingenz und Idiosynkrasie der Subjekte ist, die ihn verursacht hat.
7.6.11 Dialektik, hart auf hart – und: das dialektische Bild Dialektik hart auf hart, das heißt, die Funktion des Widerspruchs und der Dialektik in der strukturalistischen Marx-Lektüre von Louis Althusser zu klären, und das geschieht vor allem in seinem Buch »Für Marx«310. Althusser geht dort aus von dem »praktischen Sinn« des Widerspruchs bei Lenin und von der Überzeugung, daß sich im Rußland vor der Revolution von 1917 eine »Anhäufung und Zuspitzung aller damals in einem einzigen Staat möglichen Widersprüche« vorgefunden hätten.311 Zugleich seien diese Widersprüche der bolschewistischen Partei bewußt gewesen wie kaum einer anderen Arbeiter-Partei Europas. Diese Spannung zwischen klarstem Bewußtsein und rückständigsten Zuständen erzeugte einen »ungeheuren Widerspruch« in einem Rußland, das so gleichzeitig die »verspätetste und fortgeschrittenste« europäische Nation war.312 Eine solche Darstellung heißt nichts anderes, als daß Althusser »den Widerspruch« nicht in der Theorie sucht – oder wie wir im Widersprechen, das sich im kommunikativen Text findet –, sondern diesen Widerspruch zugleich als logisches Verhältnis bestimmt, das aber als logisches Verhältnis (contradictio) nicht in der Logik (»abstrakt«) beheimatet ist, vielmehr soll sich dieses kontradiktorische logische Verhältnis in der (gesellschaftlichen) Realität selbst befinden: »im ganzen sozialen Körper«.313 Wobei dieser Körper selbstverständlich nicht durch Kultur, Textualität oder dgl. konstituiert ist. Der »Widerspruch« in diesem Körper ist also durch die Verhältnisse, was auch immer diese ausmachen mag, »determiniert«; andererseits aber »determiniert« diese rätselhafte Instanz der Realität, genannt »Widerspruch«, auch diese Verhältnisse. Als determinierter ist der Widerspruch »in seinem Prinzip überdeterminiert«314.
309 Dieser Satz steht entweder zum vorausgehend Entwickelten in Widerspruch, dann ist sein Inhalt in Ordnung und Zweifel am Vorausgehenden sind angezeigt, oder aber es besteht der Verdacht, daß er sich ohne einen Widerspruch zum Entwickelten verhält, dann ist er in sich (Anspruch und Aussage) widersprechend, und dann wäre er doch ebenfalls in Ordnung, oder? 310 L. Althusser: Für Marx. Frankfurt a. M. 1968. 311 l. c., p. 59. 312 l. c., p. 61. 313 l. c., p. 65. 314 l. c., p. 66.
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Dieser Begriff der »Überdeterminierung« soll bei Althusser auch einen Abschied von der Hegelschen Figur der Dialektik bezeichnen; denn die Hegelsche, nur scheinbare Überdeterminierung ist keine »effektive«: »Als Kreis der Kreise hat das Bewußtsein nur ein Zentrum, das allein es determiniert: es müßte Kreise mit anderen Zentren als es selbst haben, dezentrierte Kreise, damit es in seinem Zentrum durch ihre Wirksamkeit berührt würde, kurz, damit sein Wesen durch sie überdeterminiert würde. Aber das ist nicht der Fall.«315 Bei Hegel gebe es immer nur den einfachen Widerspruch, der aus einem einzigen und einfachen Zentrum sich ergebe; und genau deswegen kann die Hegelsche Dialektik die ganze Weltgeschichte ganz einfach (vermeintlich!) erklären. »Er kann diese erstaunliche Auffassung nur vertreten, indem er sich auf dem Gipfel des Geistes aufhält, wo es nicht interessiert, ob ein Volk stirbt […]«316 Aber tatsächlich stelle sich jeder Widerspruch, und zwar sowohl in der historischen Praxis als auch in der historisch-materialistischen Sicht, als ein überdeterminierter dar. Eine solche Darstellung werde ermöglicht durch die Marxsche »Umkehrung« der Hegelschen Begrifflichkeit. Der Begriff der Überdeterminierung der historisch-realen »Widersprüche« sichert aber auch ab vor dem einfachen Determinismus der ökonomistischen Interpretation der Marxschen Lehre, nämlich als wäre der ökonomische Faktor in den Gesellschaften der einzig bestimmende. Wer das behaupte, so Engels, zitiert bei Althusser, »verwandelt jenen Satz [nämlich daß die Produktion »in letzter Instanz« bestimmend sei] in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase.«317 Analysiert man dieses Gespenst »Widerspruch«, das in der Geschichte so viel bewirkt, dann wird man am Leitfaden Althussers gewahr, daß Widersprüche mit anderen Widersprüchen in einen Widerspruch geraten können, wohlgemerkt nicht in der Theorie (oder den Strukturen des kommunikativen Textes), sondern in der historischen Wirklichkeit. Und es kann ein Widerspruch andere beherrschen.318 »Die Herrschaft […] ist eine für die Komplexität selbst wesentliche Tatsache. Deshalb schließt die Komplexität die Herrschaft als für sich wesentlich ein: Sie ist in ihre Struktur eingeschrieben.«319 Das ist für Althusser deswegen so, weil die Komplexität für den Marxismus eine »Einheit der Komplexität« bildet, genauer weil »das komplexe Ganze die Einheit einer gegliederten Struktur mit einer Dominante bildet.«320 Mit diesem strukturalistischen Konzept einer »Struktur mit Dominante« wendet sich
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l. c., p. 67. l. c., p. 69. l. c., p. 79. l. c., p. 146. l. c., p. 147. l. c., p. 148.
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Althusser erneut gegen die Hegelsche Dialektik, Einheit nur als »Einheit einer Substanz, eines Wesens oder eines Aktes« denken könne.321 Die politische Praxis aber, so behauptet Althusser, brauche eine Einheit als »Struktur mit Dominante«. Und diese beiden Gedanken führt Althusser zusammen, wenn er sagt: »Wenn jeder Widerspruch derjenige eines komplexen, mit Dominanz strukturierten Ganzen ist, so kann man das komplexe Ganze nicht außerhalb seiner Widersprüche betrachten, außerhalb ihres fundamentalen Ungleichheitsverhältnisses.«322 »Diese Reflexion der Existenzbedingungen des Widerspruchs in ihrem Innern, diese Reflexion der gegliederten Struktur mit Dominante, die die Einheit des komplexen Ganzen im Innern jedes Widerspruchs bildet, das ist der tiefste Zug der marxistischen Dialektik, den, den ich oben unter dem Begriff der ›Überdeterminierung‹ zu fassen versucht habe.«323 Die Theorie Althussers bezieht ihre Nahrung, das hatten wir gesehen, immer wieder aus einer Auseinandersetzung mit Hegel, aber einem Hegel, der für jeden HegelKenner nur als eine Fehldeutung angesehen werden kann. Althusser hatte in seinem Lenin-Buch behauptet: »Lenin brauchte Hegel nicht zu lesen, um ihn zu verstehen; er hatte ihn schon verstanden, nachdem er gründlich Marx gelesen und verstanden hatte.«324 Nicht viel anders scheint es mit Althusser selbst bestellt zu sein. Ohne Bezug auf Althusser hatte schon Michael Theunissen betont, daß bei Hegel die Totalität schon von Anfang an in zwei Totalitäten auseinandertritt, daß also, wenn man so will, Hegel ein Differenztheoretiker ist325 und daß in diesem fundamentalen Auseinandertreten im Ursprung die Hegelsche Dialektik begründet liegt, ein Gedanke, der Marx vielleicht, Althusser aber auf jeden Fall verschlossen geblieben ist.326 * Wenden wir uns also von dieser strukturalistischen Realdialektik – wenn man so will: mit Abscheu – ab und der Theorie des dialektischen Bildes bei Walter Benjamin zu. Für sie ist ebenfalls die Differenz, jetzt aber die Zweideutigkeit (Ambiguität) eines Phänomens der Ausgangspunkt: »Zweideutigkeit ist die bildliche Erscheinung der Dialektik, das Gesetz der Dialektik im Stillstand.«327 Aber der Stillstand ist keine Gegebenheit, sondern eine Utopie, das »dialektische Bild« mithin ein »Traumbild«,
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ibd. l. c., p. 151. l. c., p. 152. L. Althusser: Lenin und die Philosophie. Reinbek 1974, p. 72f. H. Kimmerle: Philosophien der Differenz. Würzburg 2000; F. Dastur: Philosophie et Différence. Chatou 2004. 326 M. Theunissen: Krise der Macht. Thesen zur Theorie des dialektischen Widerspruchs. In: Referate des X. Internationalen Hegel-Kongresses in Moskau = Hegel-Jb.1974. Köln 1975, p. 318-329, hier p. 327; ähnlich H. Fink-Eitel: Dialektik und Sozialethik. Kommentierende Untersuchungen zu Hegels »Logik«. Meisenheim 1978, p. 35. 327 W. Benjamin: Gesammelte Werke. Frankfurt a. M. 2011, II, p. 844.
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aber ein Traumbild so, wie es sich im Moment des Erwachens darstellt. Im dialektischen Bild ereignet sich das blitzhafte Zusammentreffen eines Gewesenen und eines Jetztmoments: Dieses Zusammentreffen ergibt eine Konstellation, ursprünglich ein astronomischer Begriff. Das dialektische Bild unterscheidet sich von einer Dialektik, die eine Kontinuität des Fortgangs (gar eines »Fortschritts«328) nachzuzeichnen versucht, aus der Vergangenheit kommend sich in die Gegenwart hineinentwickelnd und in die Zukunft hinüberreichend. Erkenntnis dieser Konstellationen ist »blitzhaft«. »Dann wäre der Moment des Erwachens identisch mit dem ›Jetzt der Erkennbarkeit‹, in dem die Dinge ihre wahre – surrealistische – Miene aufsetzen.«329 Und der Begriff des dialektischen Bildes rechtfertigt sich dadurch, daß im Bild die Dialektik (weil »blitzhaft«) zum Stillstand gekommen ist. Für Benjamin wäre eine Kontinuität, weil zeitlich, linear, keine Dialektik; aber das Bild, das »sprunghaft« eine Erkenntnis aufblitzen läßt, das Traumbild im Erwachen sich ereignen läßt, ist wahrhaft dialektisch. In diesem Moment des Erwachens, der der einer ganzen bestimmten Epoche ist, tritt das dialektische Bild hervor, nämlich, »in der die Menschheit, die Augen sich reibend, gerade dieses Traumbild als solches erkennt.«330 Das Verhältnis des Gewesenen zum Jetzt ist nicht zeitlicher Natur, das Unabgegoltene des Gewesenen meldet sich im Bild. Die Beziehung des Gewesenen zum Jetzt ist »eine dialektische: nicht zeitlicher sondern bildlicher Natur. Nur dialektische Bilder sind echt geschichtliche […]«331 Diese Bilder stammen aus einer anderen Zeit, aber erkennbar werden sie erst im Jetzt, genauso wie die Traumbilder von anderswoher stammen, aber bewußt werden genau in dem Moment des Erwachens. Darin sind sie dem Zitat vergleichbar, das aus seinem Zusammenhang herausgerissen, eine jetzige aufblitzende Erkenntnis ermöglicht. Aber diese Herkunft vom Anderswo macht sie im Jetzt gefährlich, weil sie die Kontinuität des Immergleichen aufsprengen. Das Lesen dieser Bilder ist eine Tätigkeit der Kritik. Für die historische Erkenntnis heißt das: »Die materialistische Geschichtsdarstellung führt die Vergangenheit dazu, die Gegenwart in eine kritische Lage zu bringen.«332 »Das dialektische Bild ist ein aufblitzendes. So, als ein im Jetzt der Erkennbarkeit aufblitzendes Bild, ist das Gewesene festzuhalten.«333 Dieses Festhalten im Bild nennt Benjamin auch eine Rettung des Phänomens. Erkenntnis ist sowohl Bewegung, als auch die Konstellation, in der die Bewegung zum Stillstand kommt, darin erscheint dann das dialektische Bild, es ist ein Einschnitt, eine Zäsur in die Bewegung. Der Moment dieses Einschnitts ist kein beliebiger und keiner, der 328 Daher: »[…] nicht Fortschritt sondern Aktualisierung.« (l. c., p. 873) Der historische Materialismus hätte die »Idee des Fortschritts« zu annihilieren. »Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe.« (l. c., p. 884) 329 l. c., p. 876. 330 ibd. 331 l. c., p. 875. 332 l. c., p. 881. 333 l. c., p. 883.
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willentlich herbeigeführt werden könnte, sondern seine Bedingung ist, wie bei Marx, die größtmögliche Spannung. Die Spannung in der Konstellation des Auftretens des dialektischen Bildes ist so sehr zum Zerreißen groß, daß sie in ihrer Struktur noch das Widersprechen in der Dialektik des kommunikativen Textes zu übertreffen scheint. Damit ist Benjamins Dialektik, obwohl auch sie sich auf das »Lesen« dieser Konstellation und auf den Moment der Erkennbarkeit beziehen muß, d.h. in den Konfinien des kommunikativen Textes verbleiben muß, doch eine Theorie, die von dorther das Jenseits dieses Textes in den Blick nimmt, in unserer Theorie der Position des Fremden vergleichbar, der ebenfalls wie das Traumbild in den Text der Erkennbarkeit eintreten kann, aber auch nicht jederzeit oder zu beliebiger Zeit. Die Erscheinung des Fremden beläßt das Eigene nicht im Immergleichen, sondern stellt es infrage, ist auch für die Identität des Eigenen gefährlich, und auch er ist ambivalent: seine kritische Gefährlichkeit kann die in Eigenheit Befangenen befreien oder bedrohen, und manchmal ist das ja auch dasselbe.
8. Identität als Ereignis
8.1 T RANSITORISCHE I DENTITÄT Unter dem Titel der »transitorischen Identität« haben Joachim Renn und Jürgen Straub den Wandel des Konzepts der personalen Identität zu fassen versucht.1 Sie wollen damit darauf aufmerksam machen, daß in der Spätmoderne das Individuum sich nicht mehr als ein Sicherheit gewährender Block begegnet, sondern ganz wesentlich nur als Prozeß zu verstehen ist. Diese Qualität ist spätestens seit Hegels Philosophie virulent, die sich nicht mehr damit zufrieden geben konnte, daß in der Reflexion ein Subjekt zu sich selbst zurückkehrt und sich damit die Sicherheit seiner Identität zu verschaffen meinte. Denn bei Hegel kann die Reflexion nur als Prozeß gedacht werden, d.h. wenn sie Rückkehr wäre, wäre sie Rückkehr zu einem anderen seiner selbst. Das Subjekt erscheint seit dem Denken der Reflexion als Prozeß immer schon als aus dem Zentrum der Sichselbstgleichheit hinausgeworfen: dezentriert.2 »Die Identität ist in Bewegung geraten.«3 Das aber hat zum Effekt, so die Autoren, daß Identität zu einem normativen Konzept wird, das dem Individuum sowohl Freiheit als auch Bindung und Anpassung vorschreibt. War nämlich zuvor Identität ein Sachverhalt, den man (mit einiger Bemühung) erkennen konnte: schau nur genau genug hin, dann erkennst du dich als identisch mit dir selbst – so ist nach dieser spätmodernen Wende die Identität eine Aufgegebenheit: sei identisch zu dir und zu den anderen! Kritikern dieser Wendung erscheint dann die Norm auch als ein »Identitätszwang«.4 1 2
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J. Renn / J. Straub: Transitorische Identität. Der Prozesscharakter moderner personaler Selbstverhältnisse. In: Transitorische Identität, hrsg. v. J. Straub u. J. Renn. Frankfurt, New York 2002, p. 10-31. Zur auch moralischen Dezentrierung des Subjekts s. u.a. A. Kapust: Berührung ohne Berührung. Ethik und Ontologie bei Merleau-Ponty und Levinas. München 1999, p. 379f.; G. Brücher: Postmoderner Terrorismus. Zur Neubegründung der Menschenrechte aus systemtheoretischer Perspektive. Opladen 2004, p. 211; B. Waldenfels: Ordnung im Zwielicht. Frankfurt a. M. 1987, p. 132-134; G. Gamm: Nicht nichts. Studien zur Semantik des Unbestimmten. Frankfurt a. M. 2000, p. 245. J. Renn, J. Straub: Transitorische Identität, p. 13. l. c., p. 12.
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Entgegen allen Kritikern möchten die Autoren jedoch am Identitätsbegriff festhalten und bestimmen daher die Identität unter Bedingungen »der Beweglichkeit der Zeit, des Handelns und der sozialen Prägung« als »transitorische Identität«, was nicht ein neuer Identitätsbegriff zu sein beanspruchen kann, sondern nur eine Explikation dessen, was in Identität seit Hegel mehr oder weniger stets mitgedacht gewesen sein muß.5 Und das ist nun in der Tat so, leider. Im Zentrum steht für sie nach wie vor die Person und ihre Identität, lediglich als transitorisch bestimmt, anstatt daß das Transitorium im Mittelpunkt stünde, was dann Fragen der Art ermöglichte: Inwiefern kann Transitorisches identisch sein oder Identität ermöglichen. Aber für sie ist die Identitätsfrage nach wie vor: »Wer bin ich (geworden) und wer möchte ich sein?«6 Und wenn diese Frage sich so nicht mehr stellte, so sagen die beiden aus der Perspektive der Psychologie, dann wäre die Identitätsfrage als ganze obsolet geworden. Aber genau das war ja das Movens unserer ganzen Überlegungen: Was geschieht mit dem Identitätsbegriff, wenn diese Frage, so gestellt, sich in der postmodernen, medialitätszentrierten statt anthropozentrischen Sozialphilosophie gerade so nicht mehr stellen läßt. Allerdings geben die Autoren ihrer subjektzentrierten Identitätsversion gleich ein Bedenken bei, das die Möglichkeit, diese Version für unsere Zwecke aufrechtzuerhalten, weiter fraglich macht. Sie bedenken nämlich, daß die Sprache unzureichend sei, die Identitätsfrage schlüssig zu beantworten. Das ist im Grunde eine Neuauflage der klassischen Probleme des Individualitätskonzepts: denn individuum est ineffabile (Goethe). Ihr Ausweg ist, daß sie die Identitätsartikulation nicht am deskriptiven Gehalt dieser Artikulationen festmachen, sondern an der sozial geprägten und implizit bleibenden performativen Praxis: »personale Identität als praktisches Selbstverhältnis«.7 So wohlgemeint diese Verbesserungen an dem Konzept der personalen Identität sind, verbleiben sie doch in den engen Grenzen des spätmodernen, subjekt- oder anthropozentrischen Modells. Daher greift auch die Referenz auf Heidegger völlig fehl: immer geht es Heidegger um das Da-sein, eine ontologische Kategorie, nicht, ja überhaupt nicht, um »den« Menschen oder die Person. Heideggers Philosophie ist Ontologie, nicht Anthropologie8 oder gar Psychologie, sie spricht vom Zwischen, vom In-Zwischen, und nicht vom Inneren oder Äußeren von »Personen«.
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ibd. l. c., p. 14. l. c., p. 16. M. Heidegger: Überlegungen II-VI (Schwarze Hefte 1931-1938) (Gesamtausg. XCIV, p. 188: »[…] die fragwürdige ›anthropologische‹ Richtung, die in ›Sein und Zeit‹ grundsätzlich überwunden ist, wird [im Nationalsozialismus] einfach übernommen und mit einem anderen Inhalt – dem völkisch-rassischen – aufgefüllt.«
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Wenn sie freilich sagen, daß »der Begriff der transitorischen Identität [allerdings immer noch:] der Person […] berücksichtigt, dass die Realisierung und Dokumentation der Identität der Person in das kooperative Medium des sozialen Handelns und in das Medium einer intersubjektiven Sprache verwoben bleibt«9, dann scheinen sie ganz nahe an dem in der medialitätszentrierten Postmoderne als notwendig zu erachtenden Perspektivenumstellung von »Person« auf »Medium« zu sein. Aber sie vollziehen diesen Übergang eben nicht. Das zeigt sich vor allem dann, wenn sie auf den transitorischen Charakter auch der sozialen Identität zu sprechen kommen. Sie konstatieren, daß spätestens seit Simmel klar ist, daß die »soziale Lage« keine feste Größe ist, sondern aus Perspektive der Individuen in komplexem Wandel verfangen ist, so daß nun die Rede von der »prekären Beweglichkeit der Identität des Einzelnen« ist.10 Die Begründung ist allerdings zweischneidig: einerseits, daß diese Bewegtheit erst dann bemerkbar werde, wenn sie auf das »Projekt der Einheit der Person« bezogen bleibe, und der Unterschied der Moderne von der Prämoderne liege dann allein darin, daß von Teleologie der Transitorik auf »Transitivität des pragmatischen Selbsthorizonts umgestellt« werde. Andererseits sind sie ganz nahe an einem postmodern medialitätstheoretischen Verständnis, wenn sie gewissermaßen einschränkend formulieren, daß dieses nur in »Bezug auf die Person und von dieser selbst aus gesehen« so gelte.11 Nun gibt es aber für eine Sozialphilosophie (anders als für die Psychologie) gute Gründe, diese Privilegierung aufzugeben. Dann erscheint die Transitorik nicht länger als etwas, was den Individuen geschieht, sondern es ist die Grundeigenschaft des Sozialen, des sozialen Prozesses als kommunikativem Text. Und die Veränderung bestünde in dieser Perspektive darin, daß die Besetzungen der Funktionspositionen dieses Prozesses in Moderne und Postmoderne flexibler geworden sind. Dem kommt eine Formulierung sehr nahe, die davon spricht, daß die Erforschung dieser gewandelten Bedingungen personaler Identität auf Medien zu »achten« habe.12 Handgreiflich werden die Probleme einer solchen Konzeption dort, wo das Phänomen der in »unverbundene Teile zerfallenen Menschen« (multiple personality disorder) zur Sprache kommt. Dem Psychologen, vor allem einem mit therapeutischen Ambitionen, stellt sich das Syndrom entweder in einigen Theorien als Krankheit oder in einigen anderen als Normalität dar; letzteren gilt dann die nichtmultiple Person als ein Produkt kulturellen Zwangs, was insbesondere dann als problematisch zu gelten hat, wenn die Gesellschaft selbst als »krank« diagnostiziert werden sollte. Die Entscheidung, Krankheit oder nicht, kann der Psychologie von einer postmodernen Sozialphilosophie abgenommen werden. Ihr wird die Transitorik zur
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l. c., p. 18. l. c., p. 22. l. c., p. 23. l.c., p. 24.
328 | I DENTITÄT ALS E REIGNIS
Grundlage des Multiplen, d.h. sozial: der Pluralität. Selbstverständlich kann es Individuen geben, und es gibt sie, die mit dem Pluralitätserfordernis nicht fertig werden, also gewissermaßen einheitssüchtig die Unifikation der Zeit sind. Aber diese Defizienz äußert sich nicht nur im Psychischen. Das Syndrom tritt auch auf in der Erwartung sozialer Homogenität (der Erwartung von sozialer Symmetrie im kommunikativen Text), in der ethischen Forderung nur einer, einheitlichen Moral usw.; im Temporalen erscheint es als Unifikation der Zeit zu einer homogenen Reihe reiner FrüherSpäter-Relationen.13 Bevor wir zu einer Ausformulierung des Konzepts einer Identität als Ereignis im kommunikativen Text kommen, seien Anregungen berücksichtigt, die von Rimbauds Satz »JE est un autre« ausgegangen sind.
8.2 »ICH IST
EIN ANDERER «
Der Satz, von Rimbaud stammend, ist bei ihm zunächst nichts anderes als ein poetologisches Programm. In der Rezeption ist der Satz jedoch vielfältig und oft im Sinne einer Psychologie interpretiert worden, oder aber ontologisch als Doppelgänger-Motiv oder, quasi dazwischen liegend, im Sinne der These der multiplen Persönlichkeit. Bevor ich auf diese Inanspruchnahmen eingehe, sei zunächst das poetologische Programm skizziert, um die reine Struktur als solche herauszuarbeiten, die zuletzt dann nur von dem Psychoanalytiker Joël Clerget aufgenommen und fortgesetzt worden ist. Entfaltet ist die Programmatik von Rimbaud nur in zwei Briefen an Freunde und Lehrer, den sogenannten »Seher-Briefen«, nämlich an Paul Demeny und Georges Izambard, aus dem Jahre 1871. In den Briefen – daher die Bezeichnung »SeherBriefe« – fordert Rimbaud für die neue Dichtung (es ist das Jahr der Commune!), daß man sich »sehend« machen müsse, aber nicht nur mit den Augen, sondern im Sinne einer »Zügellosigkeit aller Sinne«, um zum Unbekannten zu gelangen.14 Damit ist das (spät-)romantische Dichterverständnis eines Poeten verabschiedet, der aus der unerschöpflichen oder erschöpften Quelle seines Inneren etwas zu Tage fördert oder erschafft. Der Dichter der Zukunft ist kein Schöpfer, sondern er ist poröser Durchgangsort sinnlicher Erfahrungen, und er beobachtet sich selbst dabei. »Es ist falsch zu sagen: Ich denke: man müsste sagen Man denkt mich.«15 Das ist ein Wortspiel, wie der Herausgeber anmerkt: Als Voltaire aus England zurückkehrt, fragt man ihn: »Qu’avez-vous fait là-bas?« Antwort: »A penser, sire« – »Quoi? Les chevaux?«, was 13 14 15
J. E. McTaggart: The Unreality of Time. In: Mind 17 (1908), p. 456-473; cf. zur Kritik K. Nyíri: Die konservative Zeitanschauung. In: ders.: Zeit und Bild. Philosophische Studien zur Wirklichkeit des Werdens. Bielefeld 20912, p. 141-194. A. Rimbaud: Prosa über die Zukunft der Dichtung, hrsg. v. T. Trzaskalik. Berlin 2010, p. 27. l. c., p. 21.
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ein Wortspiel mit dem Gleichklang der Wörter »penser« (denken) und »panser« (striegeln) ist.16 Unmittelbar nach diesem ›Man denkt/striegelt mich‹ fährt Rimbaud mit jenem berühmten Satz fort: »ICH ist ein anderer.« Das Vertrauen in die reiche, tiefe Seele des sprechenden Ich ist auf irreparable Weise zerstört. Daher kann nur eine Zerstörung dieses quasi als Wiedergänger fortexistierenden Mythos den Blick in die Zukunft eröffnen, eine Zukunft (s. Commune, 1871), die anders sein wird als alles Gewesene. Insofern ist der Dichter der Zukunft, weil er nicht von dem Zentralpunkt des Ichs ausgeht, sondern von der Entregelung aller Sinne, ein »Fortschrittsvervielfältiger«.17 Dieses Programm ist zugleich positivistisch (wie der Naturalismus) und phänomenologisch orientiert, es übt eine Epochè hinsichtlich aller Subjektivität.18 Für diese ihrem Anspruch nach »objektive Poesie« ist auch das eigene Denken ein Objekt der Beobachtung durch jenes Ich, das ein anderer ist. Mit anderen Worten: Dieses Ich ist nicht in reiner Reflexion allein mit sich, sondern dieses Ich wird vom Sozialen, vom Anderen, der ich bin, her gedacht. Der Seher ist, worauf Trzaskalik hinweist, im Sinne von Deleuze eine »Begriffsperson«.19 Es heißt nicht »Je suis un autre« – das wäre lediglich die Parole eines von seinen Mitmenschen unverstandenen Subjekts in der Nachfolge des unglücklichen und sein Unglück genießenden Rousseau. Mit dem Satz »Je est un autre« wird die eitle Subjektzentrierung, die Perspektive der ersten Person Singularis, verlassen. Das ist – wie bei Mach – Anti-Cartesianismus reinster Couleur. Und so kann die »Zügellosigkeit aller Sinne« auch nicht als Parteinahme für Irrationalismus gedeutet werden, vielmehr ist diese Entregelung vernunftgesteuert und kontrolliert. Sehertum ist protophänomenologische Offenheit für die Welt. Wie gesagt, dieses poetologische Konzept wurde in die verschiedenen anderen Diskurse importiert und – wie ein Zitat20 – durch seinen neuen Kontext umgedeutet – bis es zuletzt erneut der Poesie zugeführt wurde. Im Prinzip ist das ein Vorgang der Metaphorisierung, d.h. die Übertragung von etwas aus seinem ursprünglichen Diskurs in einen anderen, den es dadurch zu erhellen hilft. Der erste Schritt ging in die Psychoanalyse. In seinem kurzen Aufsatz »Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse«, in dem Freud von den drei Kränkungen des Selbstbildes des Menschen durch die Wissenschaften spricht, von der kosmologischen durch Kopernikus, nach der der Mensch nicht mehr im Zentrum des Universums beheimatet ist, von der biologischen
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l. c., p. 55. l. c., p. 31. Zu den Berührungen von Positivismus und früher Phänomenologie s. M. Sommer: Husserl und der frühe Positivismus. Frankfurt a. M. 1985. Zum Begriff der »Begriffsperson« s. G. Deleuze / F. Guattari: Was ist Philosophie? Frankfurt a. M. 1996, p. 70ff. »Im Begriff des Zitierens liegt aber, daß der jeweilige […] Gegenstand aus seinem Zusammenhange gerissen wird.« W. Benjamin: Gesammelte Werke II, p. 887.
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durch Darwin, durch die der Mensch ein Tier unter Tieren ist, und schließlich von der psychologischen, durch die das Ich nicht einmal mehr »Herr in seinem eigenen Haus« ist.21 Der Mensch muß nun – in der psychoanalytischen Deutung – sehen, daß in seiner Seele »fremde Gäste« auftauchen: »Das Ich fühlt sich unbehaglich, es stößt auf Grenzen seiner Macht in seinem eigenen Haus, der Seele. Es tauchen plötzlich Gedanken auf, von denen man nicht weiß, woher sie kommen; man kann auch nichts dazu tun, sie zu vertreiben.« Aber die klassische Deutung, daß böse Geister von außen eingedrungen sind und die Macht im Haus übernommen hätten, versagt. Denn diese Kräfte gehören zur Seele selbst, nur sind sie der Herrschaft des bewußten Ich entzogen. Die Sexualtriebe können nicht vom (vernünftigen) Willen beherrscht werden: Ich ist auch hier ein anderer – aber das ist eine sehr prägnante Umdeutung gegenüber Rimbaud: nicht mehr die Offenheit aller Sinne für die Erfahrung der Welt ist dieses Andere des Ich, sondern geradezu umgekehrt: die tiefste Verschlossenheit und Unzugänglichkeit im Inneren des Ich ist nun das Andere des Ich. Diese Nichtidentität des Ich wird in der Psychoanalyse Lacans aufgenommen. In seiner Schrift »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint«22 geht er davon aus, daß das von ihm entdeckte und benannte Spiegelstadium der menschlichen Entwicklung die Funktion und Struktur des Ich in seiner Stellung zur Welt ontologisch erläutern kann. Im Spiegelstadium entdeckt das menschliche Junge das Bild im Spiegel als sein eigenes Bild; als ein Bild seiner selbst. Es identifiziert sich mit diesem Bild: Im Bild, das bin ja ich. Diese bildliche Erfahrung geht aller sprachlich vermittelten Identifikation voraus, es zeigt das Ich-Ideal, noch bevor dieses sich als Cogito begreifen könnte. Das Spiegelbild, indem es in der Identifikation Ich ist, spaltet das Ich, weil es sich selbst außerhalb seiner selbst sieht. Es ist sein Doppelgänger. Aber dieser ist – als Ich-Ideal und als Realität der Körper-Einheit – angesichts der noch nicht operational gelingenden Körper-Einheit mehr als ich bin. Der Doppelgänger im Spiegelbild hat meine Möglichkeiten antizipiert. Insofern erzeugt die Identität im Überspringen der körperlichen Unzulänglichkeit nur eine wahnhafte Identität. In der weiteren Entwicklung tritt dann an die Stelle des Doppelgängers im Bild der soziale Andere, aber auch diese Relation
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S. Freud: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. In: Gesammelte Werke XII, 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1972, p. 3-12. Das als Freudsche Formel bekannt gewordene Diktum findet sich allerdings bereits 17 Jahre früher in Georg Simmels »Philosophie des Geldes«. Dort heißt es: »Gerade die allgemeine Art, wie das Leben sich abspielt, der Rahmen, den die soziale Kultur den Impulsen des Individuums darbietet, wird durch Fragen wie diese umschrieben: […] ob die Seele sozusagen Herr im eigenen Hause ist oder wenigstens zwischen ihrem innersten Leben und dem, was sie als impersonale Inhalte in dasselbe aufnehmen muß, eine Harmonie in bezug auf Höhe, Sinn und Rhythmus herstellt.« G. Simmel: Gesamtausg. VI, hrsg. v. D. P. Frisby u. K. Chr. Köhnke. Frankfurt a. M. 1989, p. 649f. Wie ersichtlich, steht die Simmelsche Version Rimbaud näher als Freud. J. Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. In: ders.: Schriften I. Olten, Freiburg 1973, p. 61-70.
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ist gegründet in der Unzulänglichkeit, die sich dann im Begehren des Anderen auffüllt. Wenn hier bei Lacan »JE est un autre« einen Sinn haben soll, dann denjenigen, wie bei Rimbaud, einer Offenheit für die (soziale) Welt; aber anders als bei Rimbaud ist das kein Grund für einen zukunftsfrohen oder programmatischen Optimismus. War bei Rimbaud das »on se doît à la société« eine moralisch-politische Verpflichtung, die allerdings Rimbaud anders definierte als sein beamteter Lehrer, so ist das bei Lacan zu einer unausweichlichen Bindung und Verschuldung geworden. Der identifikatorischen Inanspruchnahme entgeht das Ich nicht. Wenn aber Sartre in seiner frühen Schrift »Die Transzendenz des Ego« Rimbauds ominösen Satz explizit zitiert,23 dann verwendet er ihn zur Stützung seiner These von der Transzendenz des Ego. Das besagt, daß das »transzendentale Feld«24 etwas ganz anderes ist als ein substantiell oder transzendental aufgefaßtes Innenleben eines Subjekts, also weder Psycho noch Ego im Cogito. Dieses Ego ist nicht Statthalter und Eigentümer »seines« Bewußtseins. Das Bewußtsein, aufgefaßt als Relationalität des Bewußtseins-von macht auch das Ego zu einem Objekt des Bewußtseins. Daher deutet Sartre Rimbauds Satz in dem Sinne, daß er sagen kann, daß die Spontaneität des Bewußtseins, d.h. die relationale Offenheit für Welt, nicht aus dem Ich hervorgehen kann. Die zwar im Akt individuierte, aber ganz unpersönliche Spontaneität des transzendentalen Bewußtseins geht vielmehr auf das Ich zu. In seinen Möglichkeiten, d.h. seiner Macht als Möglichkeitsraum, übersteigt das Bewußtsein die Möglichkeiten des Ich, das doch vormals als Garant der Einheit des Bewußtseins und der Bewußtseinsakte zu sein schien. Ich ist ein anderer, heißt dann in Sartres Lesart: Das Ich ist Andersheit, d.h. gehört zur Sphäre der Objekte des Bewußtseins. Indem aber dem Bewußtsein die Ich-Qualität abgeht, hat es auch nichts mehr von der Qualität des transzendentalen und autonomen Subjekts. Diese Sartresche Bewußtseinstheorie unterwandert damit die vom Cartesianismus ererbte Subjekt/Objekt-Spaltung. Ob das Rimbaud gerecht wird, ist eine offene Frage, weil in Sartres Sicht es nicht das Ich sein kann, das den Satz sagt »Ich ist ein anderer«; aber genau das möchte Rimbauds Satz sagen; für Rimbaud markiert der Satz zwar die Verabschiedung der Referenz auf ein Innenleben, aber er sagt sich als Satz eines Ich aus, für das das Ich eine Variation, Alteration oder Revolutionierung der Position des Ich bedeutet. Vielleicht darf man zusammenfassend sagen, daß Sartre und Rimbaud alternative Wege der Aufhebung der Subjekt/Objekt-Spaltung beschreiben, der eine schattet das Ich ab, der andere schafft es ab. Auch Gilles Deleuze nimmt Rimbauds Satz, er nun wiederum ganz anders, in Anspruch. Er nutzt ihn als Schlüssel zur Interpretation von Kants Philosophie. »Je
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J.-P. Sartre: Die Transzendenz des Ego. In: ders.: dass.: Philosophische Essays 19411939. Reinbek 1994, p. 39-96, Rimbaud zit. p. 86. l. c., p. 83.
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crois que si on sépare ces formules de leurs contexte, elles conviennent admirablement à Kant, si vous le prenez comme déclarations abstraites.«25 Das Problem, zu dessen Lösung Rimbauds Satz verhelfen soll, ist Kants Lehre von der Zeit in der Transzendentalen Analytik der »Kritik der reinen Vernunft«. In seinen Kant-Vorlesungen des Jahres 1978 schildert Deleuze, daß Kant einen völlig neuen Zeitbegriff entwickelt habe, der sich sowohl vom antiken als auch vom klassisch neuzeitlichen Zeitbegriff unterscheidet. Für den antiken Zeitbegriff sei der Kreis, d.h. die Rückkehr zu einem früheren Punkt wie sie im Umlauf der Gestirne vorliegt, das Modellbild gewesen. Zeit wird zum Abbild der Ewigkeit des Kosmos. Für diese Zeitvorstellung ist die griechische Tragödie mit ihrer Restitution der Ordnung typisch. In der Neuzeit sei eine Linearität der Zeit die dominante Vorstellung gewesen. Linearität ist in den Raum eingelagert und hat dadurch die Qualität, begrenzt oder aber grenzüberschreitend zu sein. Diese Zeitvorstellung rückt die Zäsur zwischen den vergangenen Anfang und das zukünftige Ende, vollzogen durch die Gegenwart, in den Blickpunkt. Anfang und Ende passen – anders als im Kosmos der Griechen – nicht mehr zusammen. Kant aber verlegt die Zeit ins Innere des Subjekts. In diesem Inneren geraten nun die Rezeptivität (die Anschauungsformen von Raum und Zeit) und die Formen der Spontaneität (die Kategorien und die reine, leere Identität des Ichdenke der transzendentalen Apperzeption) in einen Gegensatz. Hier heißt es nicht ›Ich ist ein anderer«, sondern hier heißt es (nach Jahwes Vorbild) ›Ich bin, der ich bin‹ oder abstrakter ›Ich ist Ich‹. Man muß Rimbauds Satz mehr entlocken, als er sagen will. Denn der Kontext enthüllt zwei Beschränkungen der Anwendung auf die Kantische Philosophie, erstens, daß der Satz eindeutig nur ein poetologisches Programm formuliert, zweitens aber folgt er mit dem Bild des Holzes, das sich als Violine wiederfindet, klarerweise dem aristotelischen Denken von Form und Inhalt, das weder zu Descartes‘ Substanzen-Dualismus noch zu der Kantischen Transzendentalphilosophie konform ist.26 Löst man aber das Zitat aus seinem Ursprungskontext und fügt es in den neuen einer Kant-Interpretation ein, dann ergibt sich: »Je est un autre. Donc je est transcendantal. En d'autres termes, la détermination active du ›je pense‹ ne peut déterminer mon existence que sous la forme de l'existence d'un être passif dans l'espace et dans le temps. Ce qui revient à dire que c'est le même sujet qui a pris deux formes, la forme du temps et la forme de la pensée, et
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G. Deleuze: Kant. Vorlesung vom 21.3.1978. In: http://www.webdeleuze.com/php/ texte.php?cle=59&groupe=Kant&langue=1; neben Rimbauds Formel finden sich dort auch ein Begriff wie Hamlets Satz, daß die Zeit aus den Fugen geraten sei, und die unidentifizierte Aussage, daß man bisher den Raum als philosophische Aufgabe angesehen habe, daß aber nun der Moment gekommen sei, die Zeit zu denken. »Pech für das Holz, das sich als Geige wiederfindet […]« A. Rimbaud: Prosa über die Zukunft der Dichtung, p. 21.
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la forme de la pensée ne peut déterminer l'existence du sujet que comme l'existence d'un être passif.«27
Diese Deutung nutzt dann die im Französischen mögliche Differenz von »Je« und »Moi«, so als hätte Rimbaud gesagt ›Le Je n’est pas le Moi‹ oder gar ›Je ne suis pas le Moi‹. Das aber hieße dann: das Moi ist die Alterität im Selbst. Als dieses Moi ist das Selbst der Zeit und der Veränderung unterworfen, aber als Je (als Akt des Ichdenke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können, wie Kant sagt), ist es zugleich der in sich unzeitliche Ursprung der Zeit. Das aber kann nichts anderes heißen, als daß dieses Ich (ich sage: das Selbst) passiv und aktiv zugleich ist. In seinem Kant-Buch kleidet das Deleuze in die ominöse Formel. »Ich bin von mir selbst durch die Form der Zeit getrennt und dennoch eins, weil das ich [je] notwendigerweise diese Form affiziert, indem es deren Synthese bewirkt, und weil das Ich [moi] davon notwendigerweise als Inhalt dieser Form affiziert wird. Die Form des Bestimmbaren führt dazu, daß das bestimmte Ich [moi] sich die Bestimmung als ein Anderes vorstellt. Es ist wie eine zweifache Wendung des ichs [je] und des Ichs [moi] in der Zeit, die sie aufeinander bezieht, sie miteinander verschränkt.«28
Für Bernhard Waldenfels steht Rimbauds Diktum in dem Rahmen einer Thematisierung von Fremdheit. Nach ihm ist die Fremdheitserfahrung nicht selbstverständlich oder gar naturgegeben, sondern ein historisch bedingtes Konstrukt. Die Antike kannte noch eine Eigenheit und Fremdheit umgreifende Ordnung des Logos.29 Erst im 18. Jahrhundert tritt Fremdes als Fremdes unabweisbar in die Sphäre von Eigenheit und Eigenheit der Vernunft ein. Dadurch wird sich das Subjekt selbst fremd, bzw. entdeckt das Fremde in sich, wird sich selbst entfremdet, so daß die Freudsche Redeweise möglich und angemessen wird, nach der das Subjekt nicht mehr »Herr in seinem eigenen Hause« ist. Selbstheit und Eigenheit fallen nunmehr kategorial auseinander. Und Fremdheit und Eigenheit müssen nun vermittelt werden oder sie brechen auseinander. Dadurch begründet sich eine neue Ordnungshaftigkeit, die nicht mehr fundiert ist in der Einen Großen Ordnung des Logos, sondern eine Pluralität von Ordnungen nicht nur zuläßt, sondern geradezu hervorbringt. Vermittlung, d.h. eine zuordnende Mitte ist allein schon wegen der unausräumbaren Perspektivität geboten: keiner sieht alles zugleich, befindet sich im Diesseits und Jenseits zugleich. Denn, wie gesagt, Fremdheit ist kein phänomenaler Befund, sondern eine Zuord-
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G. Deleuze: Kant. Vorlesung vom 21.3.1978. In: http://www.webdeleuze.com/php /texte.php?cle=59&groupe=Kant&langue=1 G. Deleuze: Kants kritische Philosophie. Berlin 1990, p. 10. B. Waldenfels: Topographie des Fremden. Frankfurt a. M. 1997, p. 16.
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nungskategorie, so daß Waldenfels sagen kann: »Das Fremde ist nicht einfach anderswo, es ist das Anderswo […]« 30 Und dann zitiert Waldenfels sowohl die Freudsche Formel von der fraglichen Herrschaft im eigenen Hause als auch Rimbauds Formel. Sein Fazit aus beiden Formeln zusammen ist: »Das Ich läßt sich nicht umstandslos als erste Person titulieren, weil es sich selbst […] verdoppelt. Das ›Ich‹ des Ausgesagten.«31 Es ist sich selbst partiell unzugänglich, das macht, daß Fremdheit ihren Ort im Eigenen hat. Zugleich aber geht von der inneren und der äußeren Fremdheit eine Beunruhigung aus, wie sie klassisch der Doppelgänger auslöste. So wird die Begegnung mit Fremdheit zum Ereignis. Solch ein abgründiges Ereignis macht die Struktur der Identität aus, nicht etwa die differenzlose Sichselbstgleichheit. Für letztere findet Waldenfels wenig schmeichelhafte Worte, wenn er sagt. »Jeder Heimatkult, der eine heile Welt des Eigenen suggeriert, gehört deshalb zur Kurpfuscherei, deren beträchtliche soziale und politische Folgen nicht zu übersehen sind.«32 Wir folgern: Identität ist ein Ereignis (der Öffnung und der Offenheit), und sie ist nicht die katastrophale, kontinuierliche Sichselbstgleichheit. Die vielleicht interessanteste Inanspruchnahme von Rimbauds Satz stammt von Joël Clerget, der es versteht, sowohl den poetologischen Sinn als auch die psychoanalytische Deutung ernstzunehmen und zusammenzuführen.33 Clerget ist selbst Psychoanalytiker und Poet, philosophisch ist er ein Schüler von Henri Maldiney, der seinerseits in den Bahnen einer Heidegger-Lektüre Psychiatrie und Ästhetik zusammenzuführen bemüht war. Dabei spielt für ihn die Zeitlichkeit des ästhetischen Phänomens eine zentrale Rolle, die er als augenblickshaft, d.h. als Ereignis interpretierte. Dadurch hat das Kunstwerk nicht eine Position in der Zeit, sondern ist qua Rhythmik immanent zeitlich, d.h. die Ereignishaftigkeit kommt ihm nicht als Bruch einer vorgegebenen Kontinuität einer objektiven Zeit zu, sondern das Kunstwerk impliziert Zeitlichkeit und Ereignishaftigkeit. Diesen Vorgaben folgt nun Clerget in seiner psychoanalytisch-poetologischen Deutung von Rimbauds Satz. Danach ist die Poesie die Trägerin des Ich, eines werdenden Sprechens. Sie ist eine Sprache, die ich-spricht, ohne allerdings über das Ich zu sprechen. Einerseits ist in Rimbauds Satz die Trivialität enthalten: Ich bin nicht der, der ihr glaubt, daß ich sei. Genau genommen, aber müßte der Satz dann lauten: ›Je suis un autre‹, nicht ›Je est un autre‹. Die Problematik entsteht durch den Perspektivenwechsel, durch den auch die 1. Person nicht mehr weiß, wer sie ist. Allerdings, wenn sie es wüßte, wäre sie es dann noch? Gibt es eine Gleichheitsgarantie von sprachlichem Vollzug und dem in ihm Vollzogenen? Kann das Sprechen sich selbst aussagen? Das Ereignis der Identität trägt mich über mich hinaus, hier wird das Unbewußte zum Enigma.
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l. c., p. 26. l. c., p. 28. l. c., p. 42. J. Clerget: Je est un autre. Poésie et psychanalyse. Coaraze 2015.
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Geht man weiter vom Sprechen aus, dann stellt sich dieses Zwischen des Sprechens (sc. der kommunikative Text) als das Primäre dar. Zum Menschen wird man erst im Medium, im Miteinandersprechen; im Text wird für den werdenden Menschen die Instanz »Ich« erworben. Ineins damit aber wird gelernt, offen für den Anderen, und angewiesen auf ihn, im Text zu sein. M.a.W.: Selbst und Anderer sind im kommunikativen Text gleichursprünglich. Ich (»Selbst«) ist die Person, die spricht, Du (der Andere) ist die angesprochene Person – das ist das Lernpensum, das in der praktischen Einübung des Miteinandersprechens zu lernen war. Das Ich (sc. das Selbst) ist also keine Substanz oder ein Substanz-Kondensat, sondern eine reine Relation. Dann ist – jetzt poetologisch gewendet – das Gedicht eine Spur jenes unbewußten Prozesses, für den Freud den Terminus des Einschreibens verwendet. Das Gedicht spricht das Begehren (nicht: spricht vom Begehren oder über das Begehren). Diese Deutung folgt Lacans Konzeption eines bleibenden Begehrens, im Unterschied zu jeder triebtheoretischen Fundierung. Denn nach Lacan ist das Unbewußte strukturiert wie eine Sprache. Und dieses Unbewußte spricht uns, sein Begehren macht uns sprechen. Das Unbewußte ist der Femde in uns. Und wenn man dieses textuelle Begehren versuchsweise ein »Denken« nennen will, dann wird man sagen müssen: es denkt: nicht Ich als Tätiger vollziehe meinen Akt des Denkens. Aber wenn man im Einklang mit Lichtenberg und Nietzsche und natürlich Rimbaud dieses »es denkt« zugrundelegt, dann stellt sich sogleich die Frage, wie man das denken kann, was uns denkt. Antwort: Das geht nur im Rahmen einer Philosophie der Differenz, die das Außer-sich-Sein (Ek-sistenz), die Exzentrizität als Grundform annimmt, für die die Identität einer Person in der Funktionsposition des Selbst im kommunikativen Text ungewiß ist. Selbstsein im Text ist ein Wagnis, weil im Sprechen, im Text, immer Zwei sprechen: die Sprache und das Andere des Selbst. Aber die Sprache spricht ebenso wenig wie das Andere im Selbst einen Monolog. Beide sind auf den Anderen im kommunikativen Text bezogen, Clerget spricht, da er »Ich« sagen läßt, folgerichtig vom »Du«. Der kommunikative Text als kommunikativer ist er Sprechen, Hören und Antworten – aber anders als bei den Levinasianern antwortet nicht das Selbst, sondern auf das Ansprechen durch ein Selbst antwortet zunächst das Hören durch den Anderen und, nach Positionswechsel in die Funktion des Selbst antwortet dann der vormals Andere. Dieses kommunikative Geflecht enthüllt als primäre Sprachfunktion die Evokation, nicht die Information, erst recht nicht die Ant-wort. Im Gewebe dieses Textes werden die Positionen von Selbst, Anderem (wörtlich: dem Zweiten, d.h. dem Antwortenden) und dem Dritten erzeugt, bzw. in Poesie die Schriftpositionen von Autor und Leser. Das Verhältnis von Subjekt und Selbst modelliert Clerget so, daß er sagen kann, das Subjekt spreche, um aus dem Gesagten zu verschwinden. Dieses Verschwinden des Subjekts aus dem Text hat auch den Aspekt, daß das Selbst das Subjekt »erfindet«: oder anders gesagt: der Dichter ist nicht ein Dichter, bevor er dichtet, sondern in seinem Schreiben erzeugt er sich als Dichter. Das und nichts anderes besagt die
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Primordialität der Medialität, konkret des Textes im Zwischen der Kommunikation. Im Verschwinden entsteht eine Leere, ein Abgrund des Schweigens im Text. Genau das ist der poeto-logische Ort des Mit-Auftritts des Ereignisses der Identität im medialen Prozeß. Dieses hat Ähnlichkeit mit dem, was Heidegger das Erschweigen der Wahrheit des Seyns genannt hat. Das Seyn kann nicht im Sinne einer Informationüber ausgesagt werden, weil das Schweigen der Grund des Sagens selbst ist. Das Schweigen bricht und zugleich fügt den Text, in dieser Fuge/Fügung liegt das Ereignis der Identität beschlossen. Wegen der Brüchigkeit des Textes entstehen zwei Paradoxa. Erstens geht nicht ein stummes oder anders-sprechendes Wissen dem Sagen voraus, sondern es gibt eine originäre Kreativität des Sprechens, die es erlaubt zu sagen. »Je ne sais pas ce que je dis parce que je m’adresse à l’Autre.« In der Psychoanalyse weiß ich nicht, was ich sagen werde, wenn ich wahrhaft spreche. Und das führt zum zweiten Paradox, das die klassische Identitätsvorstellung unterläuft. »Ça parle«, aber wer das ist, weiß ich nicht: »JE est un autre.« Nur in der Psychoanalyse und – so Clerget – in der Poesie gibt es diesen Auftritt des identitären Ereignisses in seiner Reinform.Aber in gewissem Sinne ist jede Einnahme der Funktionsposition des Selbst im Angesicht des Anderen ein solcher Sprung. Wie jedoch Clerget diese Gedanken konzeptuell an die Körperlichkeit (ja die Natalität) anbindet, braucht hier nicht zu interessieren. Angemerkt sei immerhin, daß er keineswegs die Körperlichkeit (und Leiblichkeit) als basale phänomenale Ebene unterstellt, wie manch ein Phänomenologe, sondern auch hier geht er konsequent von einer Körperlichkeit und Körperverflochtenheit des Textes als dem Primären aus.34
8.3 I DENTITÄT
ALS P ROZESS IM KOMMUNIKATIVEN T EXTES
R AHMEN DES
Die Sozialphilosophie des kommunikativen Textes war zunächst ausgeführt worden als eine Geschichtsphilosophie,35 d.h. als eine Thematisierung der Zeitdimension. In ihr stellte sich die Identitätsproblematik dar als eine der Kontinuität sozialer Einheiten (Individuen, Kollektive). Die Lösung hieß: narrative Identität.36 Im Erzählen von
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Daß die Unterscheidung Körper vs. Leib keine phänomenale, sondern eine kategoriale ist, betont Volker Schürmann. Allerdings glaubt er nicht davon absehen zu dürfen, daß das Spiel der kategorialen Unterscheidungen sich der Bühne einer »Natur« abspielt. V. Schürmann: Fremde Leiblichkeit.- Leib – Körper – Politik, hrsg. v. Th. Bedorf u. T. N. Klass. Weilerswist 2015, p. 21-41. Zur Geschichte s. K. Röttgers: Das Soziale als kommunikativer Text. Bielefeld 2012, p. 7-11. Neben meinen eigenen Arbeiten in dieser Perspektive s. vor allem P. Ricœur: Zeit und Erzählung. 3 Bde. München 1983-85; dazu auch N. Meuter: Narrative Identität. Stuttgart
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Geschichten baut sich auf und präsentiert sich Identität.37 Hier also waren Identität und Kontinuität unauflöslich miteinander verbunden. Die Fortentwicklung und der Ausbau der Theorie des kommunikativen Textes führte zwangsläufig in die nähere Erforschung der sozialen Dimension hinein. Prozeßgewähr wurde nun immer deutlicher die Sprache und der Text, also dasjenige, was im Zwischen, im Medium, sich vollzieht. Nicht mehr Individuen und Kollektive erschienen nun als die Identitätsträger, sondern die mediale Textualität, die in einer Kultur (und jenseits ihrer) die sozialen Tatsachen (als Geltungsphänomene) konstituierten. Immer noch war Identität mit Kontinuität begrifflich eng verbunden gedacht, jetzt freilich sozialräumlich, statt zuvor temporal. Erst als klar werden mußte, daß die Wende zur Medialitätszentrierung statt Subjektzentrierung oder Anthropozentrik die eigentliche Differenz zwischen identitätserpichter Spätmoderne und der Postmoderne ausmacht, konnte diese Klammer zwischen Identität und Kontinuität gelöst werden. Nun allerdings schien es, als hätte damit der Identitätsbegriff ausgedient. Daß dem nicht so ist, daß aber Identität nunmehr ganz neu definiert werden muß, um dem gerecht zu werden, wie die Gegenwart (die in die Zukunft ausgedehnte Gegenwart) mit Identität umzugehen gelernt haben wird. Es ist an der Zeit, daß sich auch die Philosophie diesem Wandel stellt und ihn reflektiert. Zuvor aber noch ein Rückblick. Der einseitigen Sicht auf die Identitätsproblematik, gestützt auf Kontinuität, entsprach ein Machtbegriff, der als Moment der Kontinuitätssicherung diente. Ein solcher bezog sich immer noch auf (individuelle oder – in Gemeinsamkeit des Handelns – kollektive) Akteure, war also ein anthropozentrischer oder subjektzentrierter Begriff von Macht, so als ob Macht etwas wäre, das Akteure (Subjekte, Individuen, Personen oder gar der Mensch) in irgendeinem Sinn des Wortes hätten. Es mußte sich erst noch die Einsicht durchsetzen, daß Macht im Zwischen, im Medium zu lokalisieren ist, und zwar genauer: als Modalisierung des Mediums und seiner Struktur.38 Die alte Vorstellung war in etwa: Da ist einer, zumal der Mensch, der hat eine Identität (erworben). Sie gewährleistet ihm, daß er kontinuierlich handeln kann und kontinuierlich sich auf sein Handeln beziehen kann. Diese Gewißheit sichert er möglicherweise ab durch eine »narrative Identität«, d.h. allgemein gesprochen: durch
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1995 und ders.: Identität. In. Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hrsg. v. P. Kolmer u. A. G. Wildfeuer. Freiburg, München 2011, p. 1199-1215, bes. p. 1208-1212. Zur Identitätspräsentationsfunktion von Geschichten s. H. Lübbe: Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Basel, Stuttgart 1977, p. 170. Cf. Jetzt auch Chr. Hubig: Die Kunst des Möglichen III: Macht der Technik. Bielefeld 2015.
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Ressourcen der Vergangenheit, die ihm zur Verfügung stehen (Gedächtnis etc.): Man sagte: »Zukunft braucht Herkunft«.39 Das war die Parole der Selbstverständigung des handelnden Subjekts, das er ist, in Zeiten der Spätmoderne. Erst der zu vollem Bewußtsein seiner selbst als autonomes Subjekt gekommene Mensch hat seine volle Identität (erworben), die ihm sichert, daß er in Selbstbestimmung morgen noch derselbe ist und daraufhin angesprochen werden darf, zur Rechenschaft und zur Verantwortung gezogen werden darf. 40 Auch Ralf Konersmanns großartige genealogische Untersuchung der Unruhe41 fügt sich noch diesem Modell; an der Problematik der Identität in der Spätmoderne angekommen, versagt er sich die zuvor konsequent eingehaltene genealogische Methode in der Darstellung aller historischen Übergänge und nimmt den Übergang zur medialitätszentrierten Postmoderne nicht mehr mit dieser genalogischen Methode der Betrachtung auf. Das hat zur Folge, daß er nun alle Indizien der Übergänge aus der Spätmoderne heraus nur noch (negativ) bewerten kann. So nimmt er nun an, daß es eine »ursprüngliche Identität« gegeben habe, die durch »Unterscheidung« verlassen worden sei, weil Hegel folgend – diese ursprüngliche Identität abstrakt gewesen sei.42 Die durch Unterscheidung erzeugte Differenz sei auch der Anfang der Unruhe, die seitdem die Welt bewegt hat. Von dem Punkt an sei Identität keine Gabe mehr gewesen, sondern sei zur Aufgabe geworden, Aufgabe deswegen, weil sie die Identität »als Modus der Nichtübereinstimmung mit sich selbst« festlegt.43 Identität gerate nun zum »Mittelpunkt der sorgenden Aufmerksamkeit« eines Subjekts.44 War, so Konersmann, Identität »von jeher« ein »Aktionsbegriff«, so besteht in der sorgenden Zuwendung des Subjekts auf seine Identität als Objekt die Aktion nunmehr darin »zu verhindern, durch den Zudrang äußerer Einflüsse mir selbst fremd zu werden.« Genau das ist es: in der Spätmoderne wird Identität zu einem konservativen, d.h. auf Erhaltung fixierten Konzept. Identität darf, so sagt der spätmoderne Konservativismus normativ: darf »nicht selbst als kontingent erscheinen.«45 Warum nicht? Weil sie eine Erwiderung »auf die Erfahrung der Kontingenz« zu sein hat. Sie hält die »Integration von Ich und Rolle« unter Mühen (so sage ich) zusammen. Und eben diese Integration des handelnden Subjekts heiße Identität. Wäre es anders, »würde 39 40
41 42 43 44 45
O. Marquard: Zukunft braucht Herkunft. Stuttgart 2003. Marquard verlieh damit einer Grundüberzeugung der Ritter-Schule Ausdruck. Simmel war der Überzeugung, daß genau das die Funktion der Herausbildung des IchBegriffs war, einen zu haben, dem man die Schuld geben konnte. G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft. Frankfurt a. M. 1989, 1991 (GSG III, IV). Es ist die Funktion des Verantwortungsbegriffs ist, jemanden dorthin zu ziehen, wohin er von sich aus gar nicht will, durch Verfahren die zum intensiven Antworten zwingt (Ver-antworten), z.B. durch Inquisition. R. Konersmann: Die Unruhe der Welt. Frankfurt a. M. 2015. l. c., p. 180. l. c., p. 282. l. c., p. 287. l. c., p. 298.
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sich der Aufbau personaler Identität erübrigen.«46 Unsere Untersuchung der Identität stellte sich der intellektuellen und kulturellen Herausforderung, daß dem in der Postmoderne tatsächlich so ist und fragte dann weiter: was wäre, wenn es so wäre, d.h. Identität eben nicht mehr als »personale« Identität aufträte, sondern unter der ganz anderen Form eines medialitätsinduzierten Ereignisses.
8.4 I DENTITÄT
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Wenn wir – für die sozialphilosophische Perspektive – die theoretische Zentralstellung des Subjekts (oder gar des Individuums oder »des« Menschen) aufgegeben haben und die Medialität ins Zentrum gerückt haben werden, dann bleiben für den Identitätsbegriff all die Konzepte von »personaler Identität« oder von »Ich-Identität« nicht mehr übrig. Auf der Suche nach einem Konzept von Identität, das für Medialität tragfähig sein könnte, hatten wir schon bislang verschiedentlich den Vorschlag durchblicken lassen, Identität als Ereignis zu begreifen.47 Formal entspricht das der Kritik an allen Konzeptionen, die Identität mit Kontinuität in eine nahe Verbindung gebracht haben. Dieser Vorschlag soll im folgenden zusammengefaßt und näher geprüft und begründet werden. Im Ereignis ist die Kontinuität gebrochen, und eine Diskontinuität des sozialen Prozesses tritt in Erscheinung. Während das Temporale und das Soziale auf den ersten Blick davon unberührt zu sein scheinen, ist der präetablierte und als Prozeßordnung garantierte Sinn im Ereignis fundamental fraglich geworden. Andererseits aber ist das Ereignis keine nihilistische Sinn-Zerstörung, sondern analog zu Nietzsches nihilistischer Überwindung des Nihilismus oder zu Derridas Dekonstruktion, die zerstört um freizulegen, bringt sich im Ereignis ein alternativer, als bloße Möglichkeit verborgen schon angelegter Sinn zur Geltung. Auch sozial ist das eben nicht folgenlos. Im kommunikativen Text bedeutet das Ereignis das Hervortreten des Anderen im Selbst, sei es mit, sei es ohne Assistenz des äußeren Anderen. Und auch temporal hat das Sinn-Ereignis Effekte, die an Walter Benjamins »dialektisches Bild« erinnern, indem in ihnen ein Vergangenes in seiner ereignishaften Sinn-Konstitution für die Gegenwart »aufblitzt«, wie oben dargestellt. In den labyrinthischen Strukturen, durch die sich der Text bewegt, hat das Ereignis die Kraft, wie eine Metapher oder wie ein Zitat einen Ausweg aus dem Immergleichen der Verwirrungen spontan anzubieten. Aber unter den Bedingungen der Postmoderne kann dieses Auftauchen alternativen Sinns nicht heißen, daß nunmehr der wahre Sinn oder gar ein Ausweg aus dem Labyrinth gefunden worden wäre und auf dieser Grundlage eine neue Kontinuität 46 47
l. c., p. 304. Den zündenden Gedanken dazu verdanke ich Peggy Nickels.
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und Identität für Subjekte etabliert haben könnte. Alle »Revolutionen« (die politischen und die der »Denkungsart«) haben sich im Nachhinein als bloße Reparaturen von »überwundenen« Kontinuitäten herausgestellt, soll heißen: waren mühelos als solche in den Historiographien dieser Revolutionen darstellbar, bzw. konnten im subjektzentrierten Denk- und Deutungsgetriebe nicht anders wahrgenommen werden. Aber auch für den kommunikativen Text gilt nun, daß es nicht eine Sinn-Identität gibt, die ihn trägt, sondern der Fortgang dieses sozialen Prozesses ist durch Anschließbarkeit in Immanenz gewährleistet, nicht durch irgendeine Art überblickshafter Garantien (Transzendenzen oder Hierarchien). Ob dieser Wandel zur Postmoderne »den« Menschen oder wenigstens »die« Menschen verändert, ist fraglich, und man muß klären, was das heißen könnte. Ist, anders gefragt, der »postmoderne Mensch« ein anderer Typ von Mensch? Insoweit der soziale Prozeß des kommunikativen Textes sich so gewandelt hat, wandelt sich auch der in die Positionen in diesem Text involvierte und affizierte Mensch. Er muß fähig sein, den gewandelten Anforderungen der Funktionspositionen von Selbst und Anderem zu genügen. Wer heute Platon nicht mehr im altgriechischen Original lesen kann, kommt selbst in der Philosophie heute ganz gut durch und kann sogar Philosophieprofessor werden; Kulturnörgler beklagen das als Kulturverfall. Aber wer heute sich den medialen Netzen nicht einfügen und mit ihnen operieren kann, hat es selbst in der Philosophie ungleich schwerer, sogar Philosophieprofessor zu werden. In diesem Sinne hat sich »der« Mensch verändert.48 Gerade aber die momentan modisch grassierenden Philosophien der Leiblichkeit beschwören, und nicht zu unrecht, etwas anderes an den Menschen, das diesem Wandel nicht unterliegt, weil sie in ihrer Leiblichkeit als somatischen Befindlichkeiten von der Einnahme der Funktionspositionen im kommunikativen Text nicht tangiert sind. Aber, und das ist, wie ich glaube, ein schwerwiegender Einwand gegen diese Philosophien, daß von dorther ein Verständnis des Sozialen gerade in seiner Qualität als medialitätszentrierter Prozeß sich nicht gewinnen läßt. Die sogenannte »Zwischenleiblichkeit« zeigt nur ein Problemfeld an, ohne irgendeinen Lösungsansatz zur Konzeptualisierung des Sozialen anzubieten, die alleine die Medialitätszentrierung der Postmoderne in Aussicht stellen könnte. Gergen, mit seiner Analyse des postmodernen Menschen hat also recht und unrecht zugleich. Es sei immerhin mit ihm festgehalten, daß es auf eine Anthropozentrik in der Sozialphilosophie gar nicht ankommt. Erst wenn man die Kategorien von »Selbst« und »Mensch« durcheinandermischt, kann man behaupten, »der» Mensch sei relational geworden; daß aber die Funktionsposition des Selbst nur relational bestimmt werden kann, dürfte inzwischen klar geworden sein.49 48
49
Solche vielfältigen Menschenveränderungen, angefangen bei der Ko-Evolution der Menschen mit ihren Haustieren, bis hin zu den genetischen und den medialen Veränderungen, studiert M. Serres: Hominiscence; cf. auch die Darstellung der Emergenz der MenschMaschine-Hybride bei Chr. Hubig: Die Macht der Technik. J. Rifkin: Access, p. 282f.
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Um diesen Vorschlag, Identität als Ereignis im Prozeß zu konzipieren, näher auszuführen, seien im folgenden drei Philosophien des Ereignisses geprüft und zur Ausfüllung dieses Vorschlags herangezogen: Heidegger, Badiou und Deleuze. Für Heidegger, dem im »anderen Anfang« der Philosophie statt der abendländisch-metaphysischen Frage nach der Wahrheit des Seienden, die schließlich verkam zur Frage nach der Richtigkeit von Aussagen, nunmehr die Frage nach dem Seyn zentral wird, erscheint dieses Seyn als Ereignis, zentral in seinem zweiten, seinerzeit unveröffentlichten Hauptwerk »Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)«.50 Zur Titelgebung notiert Heidegger: »Das Ereignis. Dieses ist der wesentliche Titel für den Versuch des anfänglichen Denkens.«51 »Das Seyn west als Ereignis.« (Denn das Seyn ist natürlich nicht, dieses würde im Sinne der klassischen Metaphysik nichts anderes bedeuten als wäre Seyn nichts als die Totalität des Seienden; tatsächlich aber stellt sich unter dem Seyn die Frage nach jenem ausgesagten ist). Ereignis will dabei sagen, daß die Grundstimmung des Seyns eine Erschütterung, eine »Erzitterung« ist. 52 Daher ist das anfängliche Denken als Ereignis immer ein Wagnis, weil wir die Zukunft (»den Auftrag unserer Geschichte«) eben nicht kennen.53 Also ist der Übergang zu dem »anderen Anfang«, dem seinsgeschichtlichen, kein Hinübergleiten, noch gar ist er psychologisch motiviert; er ist zu-fällig, fällt zu. In ihm tut sich ein Abgrund auf: »das abgründige Inmitten des Zwischen.«54 Nur von diesem Abgrund aus läßt sich das Gründen des anderen Anfangs vollziehen, und so wird die Kategorie des Sprungs wesentlich, aber nicht als, wie man meinen könnte, Sprung über den Abgrund, sondern des Sprungs in diesen Abgrund des Seyns. Der Sprung springt in das Zwischen und nutzt nicht oder baut nicht zwischen Seiendem und Seyn »als gleichsam vorhandenen Ufern eine Brücke«,55 der Sprung »besetzt nicht einen bereitstehenden Standpunkt«. Insofern folgt dieses Denken des Ereignisses auch nicht mehr den modernen oder den spätmodernen Figuren von Reflexion und Kritik. Dieses Sagen entspringt nach Heidegger nicht mehr einem Ichdenke oder einem Aussagen-Wollen, daher sein Eingangs-Statement: »Niemand versteht, was ›ich‹ hier denke: aus der Wahrheit des Seyns […]«56 Der rhetorische Gestus dieses Denkens ist weder ein Aussagen des für richtig Befundenen, noch ein Belehren über Denkergebnisse, der Gestus ist allein das rückhaltlose Fragen.
50 51 52 53 54 55 56
M. Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Frankfurt a. M. 1989. (Gesamtausg. LXV) l. c., p. 80; cf. »Und es ist so weit: Heideggers Denken ist eine Philosophie des Ereignisses.« l. c., p. 21. l. c., p. 11. l. c., p. 23. l. c., p. 14. l. c., p. 8.
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Die Philosophie, bekennt Heidegger, ist »befremdlich«57, weil sie keine Sätze über das Vorhandene aussagt und noch weniger beweist, vielmehr kommt durch dieses radikale Fragen »jedesmal alles zugleich […] in die Verrückung.«58 Das denkerische Fragen steht genau in dieser abgründigen Mitte des Ereignisses, der Fragende »liebt den Abgrund«. So ist für Heidegger das Ereignis weder anthropozentrisch noch moralisch begründet, sondern von der abgründigen Mitte her, d.h. in unserem Sinne medialitätszentriert. Im Ereignis geschieht jedoch nicht nichts, sondern das Ereignis gibt dem Seyn eine Gestalt (»Wesung«). Wenn also Identität als Ereignis, und zwar hier im Sinne Heidegger, genommen werden soll, dann kann es nicht mehr sein eine Identität von Personen im Ablauf einer »objektiven« Zeit, sondern es ist das Aufblitzen einer anderen Möglichkeit, die auch dem Dasein zuteil werden kann. Heideggers Denken »unterscheidet sich wesentlich von jeglicher Art der Sicherung der ›Selbst‹-gewißheit des ›Ich‹ […]«59 Gleichwohl bleibt auch hier die Frage »wer sind wir?«, allerdings sofort rückübersetzt zu der Frage »wen meinen wir mit dem ›wir‹?« Es ist unübersehbar, daß Heidegger sich hier der klassischen Identitätsfrage stellt, und er prüft: meinen wir »die jetzigen und hiesigen«, oder »den« Menschen »als solchen«, oder »das Volk«? M.a.W. das »Wir« kann nicht als ein Vorhandenes angenommen werden, sondern ist wesentlich bestimmt durch das »Wer« der Frage, d.h. medial konstituiert, nicht ontisch. Hier, im kommunikativen Text, muß festgelegt sein, woraufhin die Identitätsfrage überhaupt gestellt wird, wozu also, aber auch in welcher Richtung wir die Antwort zu suchen hätten, also woher das Fragen kommen soll. Auch Reiner Schürmann, in seiner Interpretation der Philosophie Heideggers als einer Philosophie der An-archie, betont, daß es im Ereignis nicht um »den« Menschen gehe; wenn also Identität als Ereignis vom Medium her bestimmt ist, dann geht es (an-human) nicht um die Identität »des« Menschen:60 Das Ereignis ist so unmenschlich wie die Physis im Sinne der antiken Philosophie. Das ist, wie gesagt, keine Antihumanismus, sondern das entschiedene Verlassen der Anthropozentrik. Diese Kehre hat Konsequenzen für den Begriff der Verantwortung. Diese ist nicht ein etwas, das jemand (vermutlich ein Subjekt) »übernimmt« und dann »hat«. Sie ist vielmehr ein Vorgang im kommunikativen Text. Ver-antworten ist ein intensiviertes Antworten, und zwar im Text als das Antworten auf ein Ereignis. So rückt Verantwortung aus der Sphäre der Moral in die der Sprache als textueller sozialer Prozeß. In der Gegenwärtigkeit taucht ein Ereignis auf, Subjekte in ihren Positionen im Text antworten dann darauf, das macht ihre Ver-antwortung aus. 57 58 59 60
l. c., p. 14. ibd. l. c., p. 48. R. Schürmann: Le principe d’anarchie. Heidegger et la question de l’agir. Bienne, Paris 2013, p. 425ff.
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Die Temporalstruktur des kommunikativen Textes ist geprägt durch Ereignishaftigkeit, indem der Wechsel der Besetzung der Positionen, aber auch die Anschließbarkeiten und Anschlüsse Momente der Diskontinuität beinhalten. Die Vielheiten im Prozeß bilden füreinander Ereignisse. Die Fugen, die sie bilden, sind zugleich Momente der Diskontinuität und der Kontinuität, der Abgründe und der Gründungen oder, wie Deleuze / Guattari sagen, der Deterritorialisierungen und der Reterritorialisierungen.61 Die Vielheiten sind demnach füreinander ereignishafte Identitäten. Schürmann konstatiert ebenfalls – das sollte angesichts der Renazifizierung der Philosophie Heideggers anläßlich der Publikation der »Schwarzen Hefte« festgehalten werden –, daß diese Topologie der Vielheiten bei Heidegger einem Führerprinzip diametral entgegengesetzt ist.62 Schürmann liest Heideggers Ontologie als eine Ontologie der Praxis. In dieser Ontologie, der Philosophie des Seyns genauer gesagt, geht es nicht mehr um zu behandelndes Seiendes, z.B. »den« Menschen, sondern um den praktischen Vollzug des Seyns, in dem sich Vielheiten er-eignen. Dieses Sich-Ereignen hat die Struktur des »Auftauchens« im Sinne von Wilhelm Schapp (s.o.), Auftauchens im Text, beim späten Heidegger vor allem im Text der Dichtung; dieses Auftauchen ist ein Ur-sprung (ungleich der Arché); denn nun ist der Ur-sprung nicht mehr der Anfang von allem, sondern sein Ereignen begründet eine multiple Identität. Identität als Ereignis heißt dann Zusammengehörigkeit der Vielheit(en). Solche Identität verhält sich gegen »Ichsein und Dusein« neutral.63 Auch der von Heidegger stark beeinflußte Alain Badiou ist ein Denker des Ereignisses, allerdings in einer an die Mathematik angelehnten Darstellungsform. Mit Heidegger teilt er die Ansicht, daß vor dem Ereignis die Sprache versagt. Wo aber Heidegger auf die Sigetik setzt, geht Badiou einen Schritt weiter.64 Er setzt die Mathematik dort ein, wo es um das Denken des »Seins-als-Sein« (Heideggers »Seyn«) geht; die Mathematik denkt das Seyn, aber sie ist ihrerseits vom Denken nicht erfaßt, weil der Satz »Mathematik = Ontologie« keine mathematische, sondern eine philosophische Aussage ist. Implizit muß die Philosophie damit einbekennen, daß es ihr nicht zukommt, daß Seyn zu denken. Was ihr aber zukommt, ist die Theorie des Ereignisses und d.h. eine Theorie dessen zu sein, was sich der Theorie des Seyns entzieht. 65 So wie das Leben selbst nicht lebt und das Seyn nicht ist (sondern west), so ist auch das Ereignis außerhalb des Seyns, erst recht natürlich außerhalb der Totalität des Seienden. Die Anknüpfung am Ereignis, das Mehr ist oder anderes als Seyn und Seiendes (die »Situation«) nennt Badiou eine »Wahrheitsprozedur«. Aus dem Verständnis
61 62 63 64 65
G. Deleuze/F. Guattari : Tausend Plateaus. Berlin 1992, passim M. Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), p. 23-33. M. Heidegger: Wegmarken. Frankfurt a. M. 1976, p. 158. (Gesamtausg. IX) A. Badiou: Paulus. Berlin 2002, p. 61. A. Badiou: Gott ist tot. Wien 1998, p. 55-73.
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der »Situation« heraus muß das Ereignis als das Ungewußte erscheinen, es ist überzählig zur Situation. Das hat politikphilosophische Konsequenzen. Die »Situation« umfaßt alles (die Totalität), und die Übermacht des Staates begreift und reguliert alles; darüber hinaus, exakt über »alles« hinaus, treten ereignishafte Brüche auf, sie begründen aus ihrer Singularität heraus abweichende Beschreibungen und Praktiken, initiieren also »Wahrheitsprozeduren«. Das Ereignis konstituiert so die Identität des Politischen,66 eines Politischen, das sich der exzessiven Macht des Staates entzieht und sie mit ihrem universalistischen Anspruch infrage stellt. In seiner Schrift »Das Sein und das Ereignis«67 gibt Badiou diesem Denken eine umfangreiche (mathematisch fundierte) Begründung. Eine der Grundthesen lautet: »Keine Vielheit ist in der Lage, aus allem, was sie einschließt, Eins zu machen.«68 Die ereignishaften Vielheiten sind zwar in den Mengen der Situation enthalten, gehören ihnen aber nicht an (der Satz vom Überschußpunkt). Dieses Überschießen im Ereignis ist für die Situation explosiv; denn es kommt nicht von außen, weil die Situation kein Außen kennt; aber es gehört nicht zu ihr. Badiou nennt diesen Punkt des Ereignisses auch die Leere: »Die Leere ist der unpräsentierbare Seinspunkt jeder Präsentation.«69 Die Identität im Ereignis haftet bei Badiou eben nicht an der Sichselbstgleichheit der Präsentation, sondern am Widerspruch, der die Totalität zerbricht, oder anders gesagt an dem nicht einlösbaren Anspruch, das Seyn auszusagen. Der universalistische Anspruch in einer Wahrheitsprozedur des Ereignisses besteht im Egalitarismus ohne Einschränkung. Seine Praxis ist die eines Einspruchs mehr als einer Formulierung eines (dann utopischen) Gegenbildes. Die Philosophie des Ereignisses ist auch Gilles Deleuze zentral. Ereignisse werden thematisiert im Zusammenhang des Auftretens und Drängens von Problemen. Probleme werden in der Philosophie nicht erfunden und auch nicht aus irgendwelchen Normen oder Werten konfrontierend deduziert. Sie drängen sich, quasi autonom, auf (dem entspricht im Französischen das Wortspiel von événement und avènement). Probleme bilden in ihrem Drängen das Ereignis mit einer umstürzenden Konsequenz: »Man soll also nicht fragen, was der Sinn eines Ereignisses sei: Das Ereignis nämlich, das ist der Sinn selbst.«70 Das affiziert auch den für Deleuze zentralen Begriff des Begriffs. Bestimmen nämlich Deleuze / Guattari als Aufgabe der Philosophie, Begriffe zu erfinden, so heißt das eben auch, daß der Begriff reine Intensität ist: »Der Begriff sagt das Ereignis, nicht das Wesen oder die Sache. Er ist reines Ereignis schlechthin, eine Diesheit, eine Entität: das Ereignis des Anderen oder das Ereignis des Gesichts […] oder der 66 67 68 69 70
A. Badiou: Über Metapolitik. Zürich, Berlin 2003, p. 151-161. A. Badiou: Das Sein und das Ereignis. Berlin 2005. l. c., p. 105. l. c., p. 97. G. Deleuze: Logik des Sinns. Frankfurt a. M. 1993, p. 41; cf. auch W. Langer: Gilles Deleuze. Kritik und Immanenz. Berlin 2003, p. 84f.
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Vogel/als Ereignis.« 71 Damit ist ein Alltagsverständnis von Ereignis zurückgewiesen, durch das Ausstellungen u. dgl. zu Ereignissen erklärt werden; zum Glück haben wir durch die Amerikanisierung der deutschen Sprache die Möglichkeit gewonnen, hier zu differenzieren: ein Ereignis ist kein Event. Dann ist auch ein politisches Ereignis, d.h. ein Ereignis des Politischen kein Event der Politik, auf das sich die Journaille eifrig stürzen könnte. Deleuze verwendet für diese Differenz die Unterscheidung durch den Begriff der Mikropolitik. Die Events der Politik sind von der Regierung, oder wenn auch will von der Opposition, jedenfalls zentral organisierte und gesteuerte Geschehnisse der Aufmerksamkeitserregung, Sensationen, die von der Journaille willfährig aufgenommen und oftmals personalisiert aufbereitet, verbreitet werden. Die Dezentrierung im Rahmen der Mikropolitik führt zu lokalen, dezentrierten Ereignissen, die die Großen Themenstellungen ersetzen, bzw. aus dem Blickfeld verschieben.72 Anders gesagt, Die Mikropolitik subvertiert die großen zugemuteten Diskurse der Kontrollgesellschaften. Diese identitätserzeugende Augenblicklichkeit des politischen Ereignisses läßt sowohl die gründende Arché als auch das verordnete Telos außer acht und gibt sich als eine Politik mit Unbestimmtheitscharakter. Weder affirmiert sie den Kapitalismus noch propagiert sie den Kommunismus (selbst nicht den in der Form von Badiou), noch auch verschreibt sie sich der »communauté inavouable« von Βlanchot oder der »communauté désœuvrée« von Nancy. Und das ist auch keine klassisch-anarchistische Position.73 Sie will nichts, sondern ist kreativ auf der Flucht. Die Ambition der Großen Politik auf totale Überwachung, Disziplinierung und Kontrolle der potentiell gefährlichen Menschen (und das sind ja im Zweifel wir alle) versagt an der Kreativität der Ereignisse auf der Flucht (Deterritorialisierung). Die Unbestimmtheit dieser Mikropolitik der Ereignisse erzeugt eine Identität, die keine Gründung einer Parteiung oder gar Partei zuläßt. Vom Vergangenen her gesehen, ist sie unvorhersehbar und unvorstellbar, vom Zukünftigen her planlos. Deswegen richtet sich die Politik des Ereignisses nicht gegen die Große Politik, sondern nutzt ihre Abgründe, die Widersprüche und Unentschiedenheiten. Die einer solchen Politk entsprechende Identität ist nicht mehr die stabile und souveräne Identität des »autonomen« Subjekts. Machen wir uns nichts vor: Mikropolitik ist nicht die kleine, niedlichere Politik der Schulhöfe und kommunalen Rathäuser, sie ist eine andere Erscheinungsform des Politischen. Philippe Mengue hat diese Politik mit dem Bild des den Idioten-Spielens assoziiert.74 Sie will nicht mehr
71 72 73
74
G. Deleuze/F. Guattari: Was ist Philosophie?, p. 27f. Zur Politik des Ereignisses bei Deleuze s. auch Ph. Mengue: Faire l’idiot. La politique de Deleuze. O.O. [Paris] 2013, bes. p. 13-21. Zur Differenz von klassischem Anarchismus und An-archismus s. K. Röttgers: Die Möglichkeit einer an-archischen Praxis. http://www.fernuni-hagen.de/imperia/md/ content/philosophie/textdokumente/an-archisch.pdf Ph. Mengue: Faire l’idiot, p. 78.
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als die andere Politik, sondern mit Entschiedenheit weniger. Daher ist auch ihre Identität brüchiger und brechender.
8.5 F OLGERUNGEN
UND
R ÜCKBLICKE
Es gibt nichts Langweiligeres als der Aufforderung zu folgen: sei du selbst, sei ganz du selbst. Erstens bleibt in einem trivialen Sinne einem Menschen ohnehin nichts anderes übrig, wenn er denn nicht dem Wahnsinn verfallen ist, ein anderer zu sein als er ist. Zweitens aber, und das ist wichtiger: im sozialen Prozeß ist diese Aufforderung auf eine Erstarrung ausgerichtet: laß dich nicht ergreifen, laß dich nicht verführen durch den Anderen, setze dein Eigenes keiner Erfahrung der Fremdheit aus. Rousseau war so einer: In den »Rêveries« schildert er sich als einen, den keine Hoffnung und keine Furcht mehr bewegen kann; ohne jede soziale Beziehung, weil alle ihm nur Böses wollen, ihn von dem abbringen könnten, der er selbstseiend ist: unbeugsam wie Gott (sagt er), unbeugsam in der Versteinerung absoluter Selbstbezüglichkeit. Alles Handeln brächte Veränderung, auch und gerade des Handelnden. Nur im Festhalten der Selbstaufforderung, sei du selbst, glaubt er sich sicher, gesichert vor aller Verführung und daher sich unschuldig glaubend wie ein Stein, der ja auch für Veränderungen seiner Umwelt nicht schuldig sein kann.75 Der dritte Sinne der Aufforderung ›sei du selbst‹ geht in die Richtung der sogenannten Selbstfindung und Selbstverwirklichung. Ein Großteil der psychologischen Popularisierungen der Identitäts-Theorie-Debatten der Achtzigerjahre ging in diese Richtung. Du bist nicht der, der du (eigentlich, wesentlich, authentisch) wärst. Man hat dich erzogen, gebeugt, verrenkt; das Resultat dieser Eingriffe und dieses »Identitätszwangs«, das bist nicht du selbst. In der Regel liefen die entsprechenden SelbstHilfegruppen auf eine Infantilisierung als Rückkehr zum unverstellten »Selbst« hinaus. Die krassesten Fälle waren die Rebirthing- und Urschrei-»Therapien«. Davon gänzlich unterschieden wäre in unserem Sinne die Aufforderung: sei ein Selbst; denn so ist die Aufforderung nichts anderes als die Aufforderung der Wortergreifung im kommunikativen Text, d.h. der Einnahme der Funktionsposition des Selbst im Text. Eine solche Wortergreifung ist ein Identitäts-Ereignis im Sinne aller drei der geschilderten Ereignis-Theorien als Bezugsrahmen. Auch wenn der kommunikative Text, solange er durch Anschließbarkeiten fortbesteht, einen Kontinuitätsrahmen bereitstellt, ist doch die Wortergreifung ein identitäres Ereignis, das seinerseits nicht kontinuierlich ist, sondern wie ein »dialektisches Bild« (Benjamin) aufblitzt, einen Abgrund erscheinen läßt, der gründend sein kann (Heidegger) oder sich
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am Rande der Leere einer totalisierenden Situation bewegt (Badiou). Solche Wortergreifung kann eine Intervention sein, sie kann einem aber auch aus der Fraglichkeit zu-fallen, dann ist das Ergreifen des Wortes wie das Ergreifen einer Gelegenheit. So stehen sich nun in der Neudiskussion der Identität in der medialen Postmoderne (nach der personalen oder Ich-Identität der Spätmoderne) zwei Konzeptionen von Identität gegenüber: Identität der Person, des Ich, der Nation usw. durch Kontinuität auf der einen Seite und Identität in der Funktionsposition des Selbst im kommunikativen Text auf der anderen, die nur als Kontinuitäten brechendes Ereignis denkbar ist. Haben wir das so gewollt? Hat man das so wollen können? Und: ist das für Menschen aushaltbar, beraubt der Sicherheiten des Immergleichen und ausgesetzt dem Wagnis des Ereignisses? Nun, da man ohnehin keine Wahl hat, historische Großveränderungen (Epochenschwellen) wie den Übergang von der Subjektzentrierung zur Medialitätszentrierung zu »wollen« oder nicht, lohnt sich ein kurzer Blick auf die Gewinne-durch-Verlust der Subjektzentrierung. Identität als Ereignis kann auch im Heideggerschen Sinne gelesen werden als Ereignis, d.h. eine in der Diskontinuität des Bruchs im Immergleichen eigen werdende Identität. Sie ist nicht mehr die Kontinuität eines Subjekts, da das Subjekt in die eine oder andere Rolle, bzw. Position, schlüpfen kann, als Selbst oder als Anderer oder als Dritter. Für das Subjekt bedeutet das, eine plurale Identität zu haben. Da aber die Sozialphilosophie nicht mehr anthropozentrisch oder in Subjektzentrierung angelegt werden kann, sondern von der Medialität her, ist der Aspekt der Ereignishaftigkeit im Selbst der wichtigere. Dieses Selbst ist eben dann nicht mehr in Kontinuität, so wie ja auch jede Gegenwart in zeitlichen Dimensionen des kommunikativen Textes nicht identisch ist oder in Kontinuität zu einer anderen Gegenwart steht, und ebenso der Sinn sich als Sinn-Ereignisse darstellen läßt. Klassisch wurde auch der normative Charakter der Identität hervorgehoben, als Forderung, identisch sein zu sollen, was auch als Identitätszwang oder als Delegation von Herrschaftsstrukturen in die Selbstbeherrschung als ein identischer aufgefaßt werden konnte oder mußte. Wenn aber – wie hier nahegelegt – Identität von einer ethischen oder ontologischen Interpretation in eine relationale und prozessuale übergeht, dann entfallen diese Zumutungen an das Subjekt. Von der Selbstbehauptung, wenngleich immer schon mit Kontingenz durchsetzt, geht Identität nun dazu über, einen Möglichkeitsraum zu eröffnen. Erzähle dich selbst heißt dann nicht mehr: ich bin der, von dem ich erzähle, sondern bringe dich erzählend, d.h. performativ, in den kommunikativen Text ein. Vom Subjekt aus gesehen, ist Identität der Übergang von Selbst zu Anderem und Drittem; von der Position des Selbst aus gesehen, erscheint Identität (als Ereignis) rein funktional. Im Hinblick auf die Prozessualität des Sozialen heißt das: Identität ist nicht mehr die Sichselbstgleicheit trotz des Prozesses, also gewissermaßen standhaltend in den Stürmen des Lebens, sondern Identität qua Prozeß, sich als Ereignishaftigkeit einlagernd.
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Eines der in der Spätmoderne heftig diskutierten Themen war die Frage, ob die für Subjekte in ihrer Handlungszentrierung und –orientierung als grundlegend angenommene personale Identität, die sie ihre Kontinuität durch persönliche Geschichte und ihre Präsentation im Erzählen vergewissern läßt, sich auch auf Kollektive übertragen läßt. Insbesondere in Deutschland nach dem Schock der Exzesse des Nationalsozialismus tauchte als prekäre Frage die nach der »nationalen Identität« auf. Was ist eine Nation, und wodurch oder worin hat sie ihre nationale Identität?76 Die Erfahrungen des 19. Und 20. Jahrhunderts hatten gelehrt, daß die Formulierung einer nationalen Identität stets und vielleicht zwangsläufig begleitet war von der Markierung, Depravierung, Ausgrenzung und zuweilen Ausrottung der »Fremden« der jeweiligen »Nation«. Bestimmen, was »deutsche Identität« ist, heißt auch, die nicht-deutschen, die undeutschen »Fremd«-Körper der Nation mitzubestimmen. Im Nationalsozialismus lief das über die »rassische« Ausgrenzung und Ausrottung; heute läuft es vielfach über die Religion: wer Moslem ist, kann kein (»richtiger») Deutscher sein. Dann heißt es, die nationale Identität der Deutschen sei durch die Tradition des christlichen Abendlandes bestimmt; und das sagen vor allem die, die noch nie eine Kirche von innen gesehen haben. Die Umschaltung von der Reinheit der Rasse auf die Reinheit der Religion gibt dem Verdacht Raum, daß es sich bei der Bestimmung der Merkmale kollektiver Identitäten um relativ willkürliche Festlegungen handelt.77 Kollektive Identitäten werden fabriziert, und die Frage ist dann von wem und aus welchem Interesse. Insbesondere in Konfrontationen und Kriegen werden diese propagandistisch forciert, seien diese Kriege nun militärische, die Gelegenheit geben, für das Vaterland zu sterben, seien es ökonomische (Sanktionen gegen den Iran, Kolonialismus im Hinblick auf Griechenland), sei es aber auch der von Samuel Huntington heraufbeschworene »clash of civilizations«, in dem »der« »freiheitliche« Westen vor allem gegen den Islam mobil machen sollte. Dieser fragwürdigen Neukonzeption einer kollektiven Identität ist Amartya Sen mit seinem Buch »Identity and Violence« entgegengetreten, das in der deutschen Übersetzung den glücklichen Titel »Die Identitätsfalle« trägt. Die kollektive Identität in der globalen Konfrontation bedeutet nach Sen für die Individuen des Kollektivs,
76
77
Für Frankreich wird das derzeit diskutiert angesichts von Immigranten, insbesondere auch solcher muslimischer Religion, z.B. kann das Kopftuchtragen in Schulen in einer laizistisch sich verstehenden Kulturnation toleriert werden, oder ist das bekenntnishafte Tragen des Kopftuchs bereits eine Infragestellung des Laizismus Frankreichs? S. dazu A. Finkielkraut: L’identité malheureuse. Paris 2013. Höchst riskant ist natürlich die Ausgrenzung der »Wirtschaftsflüchtlinge«; denn hier müßte die Ausgrenzung lauten ›Wer arm ist, kann kein Deutscher sein/werden‹, was erfordern würde, daß die Armen unter den Deutschen ebenfalls abgeschoben werden müßten. Das Problem ist eben keines der Identität oder Identitätszuerkennung, sondern eines der Arnut in der Welt; u.a. auch unter Deutschen, und deren Abgrenzung von den Reichen.
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sich allein oder wenigstens vorrangig durch ein einziges Merkmal, das diesem Kollektiv eigen ist, bestimmen lassen zu müssen. Das nennt er Solitarismus der Identität, der Gewalt befördert: »Die Aufteilung der Welt nach einem einzigen Kriterium stiftet weit mehr Unfrieden als das Universum der pluralen und mannigfaltigen Kategorien, welche die Welt prägen, in der wir leben.«78 Sen propagiert stattdessen darauf zu achten, in welchen pluralen Zugehörigkeiten die Menschen tatsächlich leben. Diese Zugehörigkeiten sind keine vorgegebenen Tatsachen, die man nur zu erkennen brauchte, um die wahre kollektive Identität, der man angehört, zu wissen. Zugehörigkeiten werden zu allermeist gewählt. Es gibt also keine vorgegebenen kollektive Identität, weil selbst die Identität der Menschen ein buntes Patchwork ist; die Menschen, selbst in einem bestimmten Raum, sagen wir Mitteleuropa, sind nicht gleich. »Die große Hoffnung auf Eintracht« beruht eben nicht auf homogenisierender und abgrenzender Identität, sondern »vielmehr auf der Pluralität unserer Identitäten.«79 Insofern ist Sen kein Gegner von Identität überhaupt, sondern der entschiedene Gegner der Reduktion der Menschen auf eine einzige. Wer tatsächlich nur eine einzige Identität hätte und damit auch in seinen Einstellungen und in seinem Handeln völlig vorhersehbar und kalkulierbar, den bezeichnet Sen als »rational fool«.80 Die Zusammenstellung der pluralen Identitäten eines Individuums stellt sich für Sen im großen und ganzen als Ergebnis einer freien Wahl dar und nicht als ein Schicksal, dessen Linien man lediglich entdecken könnte um zu wissen, wer man (eigentlich) ist. Sen exemplifiziert seine Pluralitätsthese am Beispiel der indischen Nation als eines Kollektivs und eines einzelnen Inders, nämlich seiner eigenen Person. Indien wird von denen, die die Welt in konfligierende »civilizations« einteilen, dem hinduistischen Block zugerechnet, dabei ist die indische Union nach Indonesien und Pakistan der Staat mit der drittgrößten muslimischen Bevölkerung.81 Aber auch innerhalb Indiens hat es in der Geschichte immer wieder Vermischungen gegeben, so sind etwa in der Religion der Sikhs muslimische und hinduistische Elemente verwoben. Im übrigen ist der Polytheismus des Hinduismus ja keineswegs die Norm, daß jeder Hindu zu vielen Göttern beten solle, sondern die meisten Hindus haben ihren persönlichen Lieblings-Gott, den sie verehren, und Polytheismus heißt dann das Wissen und das Tolerieren, daß die Nachbarn einen oder mehrere andere aus der Vielzahl der Gottheiten verehren; und warum sollte nicht einer von denen Allah oder Jahwe heißen? Schließlich sind alle Gottheiten Gestalten der einen Göttlichkeit. Und für 2006 stellte Sen fest. »Die säkulare Republik Indien hat jetzt nicht nur einen muslimischen
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A. Sen: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt. München 2007, p. 9. l. c., p. 32. So auch in seinem Aufsatz A. Sen: Rational Fools: A Critique oft he Behavioral Foundations of Economic Theory. In: Philosophy and Public Affairs 6 (1977), p. 317-344. Zahlen bei P. Haag / B. Ripert: L’Inde. Paris 2006.
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Präsidenten, sondern einen Sikh als Ministerpräsidenten, und der Vorsitzende der regierenden Partei ist Christ […]«, obwohl die Wählerschaft zu 80% aus Hindus besteht. Was soll angesichts solcher Tatsachen das Gerede von der Konfrontation der Blöcke der »civilizations«? Und Sen bringt etliche Beispiele für eine Toleranz-Politik aus allen Religionen bei. Sein Fazit: »Unsere religiöse Identität siegt nicht über alle sonstigen Aspekte unseres Selbstverständnisses und unserer Zugehörigkeit.«82 Oder noch deutlicher: »Die Religion ist nicht und kann nicht die allumfassende Identität eines Menschen sein.«83 Und er selbst ist ein Beispiel dafür: »[…] so kann man mich zur gleichen Zeit bezeichnen als Asiaten, Bürger Indiens, Bengalen mit bangladeshischen Vorfahren, Einwohner der Vereinigten Staaten oder Englands, Ökonomen, Dilettanten auf philosophischem Gebiet, Autor, Sanskritisten, entschiedenen Anhänger des Laizismus und der Demokratie, Mann, Feministen, Heterosexuellen, Verfechter der Rechte von Schwulen und Lesben […]«84 Was Sens Pluralismus der Identitäten, gerade auch in seiner Überschätzung der Wahlfreiheit, übersieht, ist der Zwang, dem sich das moderne und spätmoderne Subjekt ausgesetzt sah, eine und nur eine integrierende Identität haben zu sollen, die alle Pluralität zu einer Einheit zusammenfaßt, wobei das natürlich nicht unbedingt die Religion sein muß, sondern z.B. auch der Feminismus o.ä. Klassisch hat diese Nötigung zur Einheit Hegel ausgedrückt: »Die Identität ist zunächst wieder dasselbe, was wir früher als Sein hatten, aber als geworden durch Aufhebung der unmittelbaren Bestimmtheit, und somit das Sein als Idealität. – Es ist von großer Wichtigkeit, sich über die wahre Bedeutung der Identität gehörig zu verständigen, wozu dann vor allen Dingen gehört, daß dieselbe nicht bloß als abstrakte Identität, d.h. nicht als Identität mit Ausschließung des Unterschiedes gefaßt wird. […] Ebenso ist es dann auch die Identität als Bewußtsein seiner selbst, wodurch sich der Mensch von der Natur überhaupt und näher vom Tier unterscheidet, welches letztere nicht dazu gelangt, sich als Ich, d.h. als reine Einheit seiner selbst in sich selbst zu erfassen.«85
Durch diesen Komplex ist das Subjekt der Moderne ein in seiner Identität sich selbst konstituierendes Subjekt gewesen. Aber wie schon Hegel gesehen hat, ist diese Identität eine in Negation der Differenz errungene, d.h. Identität steht immer schon in Opposition zur Nicht-Identität der Vielheiten und begreift sie im Selbstbewußtsein ein. Aber auch diese im Selbstbewußtsein errungene Identität kann nicht ruhig bei sich bleiben, sondern weiß sich in Differenz und grenzt sich ab von anderer Identität.
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A. Sen: Die Identitätsfalle, p. 79. l. c., p. 94. l. c., p. 33. G. W. F. Hegel: Werke. Frankfurt a. M. 1970, VIII, p. 238.
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Andererseits aber muß der, der die Differenz als Anlaß der Einheit des Selbstbewußtseins vollzieht, (Hegel sagt: »abstrakt«) schon Einer sein. Die seinsollende Versöhnung hat die pluralisierende Differenz immer schon verschluckt – sei es konkret, sei es auch nur abstrakt. Aber der Hase, unterwegs von der Identität des Igels am Anfang und der Identität von Igels Frau am Ende, er läuft sich zu Tode auf der Suche nach der Identität im Spielraum der Differenzen. Auf jeder Seite seines Dis-Kurses wird ihm versichert: टट् ट् वम् अिस – aber eben auf differente Weise. Genau das ist die Crux der philosophischen Anerkennungstheorie: Du bist der Hase, den ich von Herzen liebe – im Munde des Igels heißt das etwas anderes als im Munde seiner Frau. Das moderne Subjekt hat seine Identität in der Differenz, die es ist und in der es ist, immer schon verloren. Das Subjekt der Moderne hat nicht, hat nie gelebt; denn es hat keine Geburt und keinen Tod. Zeitlichkeit kann ihm nichts anhaben; denn es wähnt sich (seit Kant) qua Anschauungsform der Rezeptivität selbst als Ursprung der Zeit (Form des inneren Sinns bei Kant). Die Ereignishaftigkeit von Identität aber versorgt das Subjekt in der Rolle von Selbst oder Anderem im kommunikativen Text mit der Zeitlichkeit des Mediums. Jean-Luc Nancy hat, ausgehend von Hegels Begriff der Identität des Subjekts, diesen mit dem Begriff der Leiblichkeit konfrontiert (so wie er sich auch bei Hegel selbst an anderer Stelle findet), nämlich Geburt, Tod, Schlaf, Traum, hypnotische Zustände etc.86 Dabei fördert er die überraschende Einsicht zutage, daß die Identität im Mutterleib beginnt, und zwar als Selbstbeziehung des Foetus in Differenz und in Kommunikation mit dem umgebenden Mutterkörper. Aber diese Identität, wenn sie auch im Hegelschen Sinne keine abstrakte ist, nämlich qua Differenz, ist doch auch keine eigene, d.h. angeeignete, seine Identität ist noch eine passive, es fehlt ihm noch die Selbstbeziehung des Selbstbewußtseins. Wir sehen an dieser Stelle noch einmal die Aporien eines subjektzentrierten und nebenbei auch anthropozentrischen Identitätsbegriffs, wie er in den Theorien der Moderne der vorherrschende war, welche Aporien dann Anlaß waren, auf die Theorie der Medialitätszentrierung umzustellen. Das freilich mußte den Identitätsbegriff selbst modifizieren. Nicht mehr die Sichselbstgleichheit des im Wandel des Immergleichen im Sozialen, in der Zeit oder im Sinn konnte diesen Begriff ausfüllen, sondern Identität wird zum Ereignis, das das Immergleiche aufsprengt und den Blick freigibt auf das Fremde und den Fremden, den exstatischen Moment einer anderen Zeitlichkeit als der Linearität und auf den Unsinn jenseits des wohl etablierten Sinns der Diskurse.
86
J.-L. Nancy: Identité et tremblement. In: Spiegel und Gleichnis. Fs. Jacob Taubes. Würzburg 1983, p. 404-421.
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Index nominum et rerum
Abenteuer ............................... 185, 186 Abgrund... 37, 185, 186, 187, 206, 213, 237, 239, 248, 334, 338, 341, 342 Abraham ........................... 24, 148, 169 Abrams ................................... 260, 315 Abstand ..........................................105 Abweichung ...................................169 Adams ............................................219 Adorno..... 98, 105, 264, 265, 266, 267, 268, 269, 271, 273, 274, 276, 297 Aegidius Romanus .........................219 Afrikanische Philosophie................175 Agamben ........................................175 Agencement machinique ................123 Akkumulation ........................... 65, 110 Albus ..............................................313 Alewyn ...........................................319 Allgemeines ..... 90, 259, 260, 267, 268, 271, 272, 273 Alterität ...................... 44, 45, 105, 196 Althusser. 168, 222, 262, 320, 321, 322 An-archie .............. 37, 41, 46, 147, 342 Anderer .. 26, 36, 45, 93, 162, 184, 192, 201, 215, 241, 242, 247, 255, 291, 308, 335 Anderer Anfang ...... 36, 187, 207, 212, 213, 218, 341 Anerkennung ............................ 19, 301 Anfang ........................ 41, 95, 187, 198
Angeletik .................................155-156 Anschließbarkeit...... 71, 205, 274, 306, 340 Anschluß .............. 60, 61, 78, 142, 231 Anthropozentrik ............. 175, 180, 337 Apel .......................................... 30, 227 Apelt ..................................... 49, 75, 85 Arche .............................................. 148 Arché .... 37, 41, 66, 115, 143, 148, 211 Archiv............................................. 116 Ariès ......................................... 30, 258 Aristoteles 64, 85, 91, 94, 97, 129, 149, 150, 201, 261, 285, 292 Asymmetrie ... 163, 164, 243, 246, 247, 275 Auftauchen ................. 42, 93, 213, 343 Augustin ..................................... 61, 77 Ausgrenzung .................................... 38 Aussage .......................................... 187 Ausschluß ............................... 163, 235 Authentizität ........................... 132, 259 Autonomes Subjekt 20, 38, 63, 69, 107, 115, 193 Autonomie ...................................... 199 Autopoiesis......................... 61, 69, 144 Autor . 82, 91, 125, 182, 198, 199, 315, 317, 318 Ayoade ................................... 221, 239 Baacke .................................... 170, 219
378 | I DENTITÄT ALS E REIGNIS Badiou ..... 38, 241, 253, 276, 304, 341, 343, 344, 347 Balint ............................................. 245 Balke ................................................ 22 Bally ................................................ 59 Balme............................................... 43 Balzac .............................................. 68 Barthes . 59, 68, 69, 118, 253, 282, 300, 301 Bataille.................. 23, 24, 81, 282, 302 Baudelaire ...................................... 188 Baudrillard ..................................... 130 Baumgartner ...............30, 34, 180, 221 Beck .......................... 19, 159, 185, 300 Beckett ........................................... 315 Beckmann ................................ 99, 207 Bedorf .. 68, 75, 92, 156, 165, 196, 290, 336 Begehren ................. 165, 166, 331, 335 Begreifen ....................................... 125 Begriff ..............................77, 263, 344 Begriffsperson ....................... 126, 329 Behler ............................................ 278 Benjamin, Jessica ..............19, 245, 301 Benjamin, Walter . 43, 59, 80, 118, 169, 178, 179, 180, 202, 215, 260, 267, 316, 320, 323, 329, 339, 346 Benveniste ..................................... 190 Beobachtung ...................190, 263, 303 Berelson ........................................... 55 Berg, van den ................................... 19 Bergson .................................. 147, 227 Bermes ........................................... 101 Bernasconi ..................................... 216 Bernsdorf ....................................... 158 Berührung .........................95, 105, 279 Beschorner ..................................... 108 Bestimmung ................................... 192 Bewegung ...................................... 149 Bewußtsein .......................71, 145, 331 Beziehung ................................ 74, 310
Bien ................................................168 Bild ... 77, 80, 117, 118, 121, 244, 323, 330 Bild der Welt ..................................124 Biographismus ................................319 Blackwell ........................................241 Blaeschke..........................................22 Blake...............................................141 Blanchot .. 26, 206, 215, 255, 278, 283, 285, 298, 299, 301, 316, 318 Blank ................................................68 Blitzhaft ..........................................323 Bloch .............................. 222, 230, 231 Blumenberg ...... 78, 99, 181, 183, 185, 216, 217, 219, 262 Bockrath .........................................293 Boelderl ............................................24 Bolz .................................. 83, 128, 129 Borsche .............................................85 Boschert ..........................................293 Bote ................................ 153, 154, 155 Bourbaki .........................................318 Brandstetter ...................... 95, 221, 368 Brandt .............................................290 Braudel ...........................................222 Brelet ........................................23, 225 Breuer .............................................318 Brockelman ....................................220 Broekman ....................... 224, 244, 247 Bruch ...................... 178, 181, 183, 193 Brücher ........... 107, 218, 244, 254, 325 Brunner ...........................................168 Bruns ................................................18 Buch ....................... 119, 120, 123, 182 Buchheim................................134, 216 Bühler .........................................57, 58 Bürger .............................................287 Burkart .................................. 55, 56, 64 Burke ..............................................174 Burton ...............................................14 Busche ............................................201
I NDEX
Butler ..............................................300 Cameron .........................................251 Camus .............................................101 Canetti ..............................................98 Capurro ................................... 130, 155 Carr...................................................25 Carroll ..............................................20 Cassirer ......... 43, 71, 72, 199, 200, 203 causa efficiens, causa sui ..................46 Certeau, de........................................30 Cézanne ............................................72 Chamberlain .....................................14 Chaos ..............................................148 Chomsky .................................. 72, 123 Cicero ....................................... 85, 284 Cioflec ............................................249 Cleopatra ........................................230 Clerget .... 300, 313, 328, 334, 335, 336 Colli ............................ 66, 93, 247, 277 Comte .............................................158 Condorcets......................................169 Conradi ...........................................217 Consoli ...........................................190 Constant.............................. 22, 23, 148 Conze..............................................168 corps sans organes, Körper ohne Organe ......................... 24, 122, 201 Crépon ............................................296 Critchley ........................... 44, 215, 300 Croft ...............................................152 Cultural lag .....................................158 Dachs und Dackel ...........................126 Dahrendorf .....................................158 Damisch ..........................................285 Darwin ............................ 252, 300, 330 Dastur ................. 20, 84, 295, 296, 322 Däubler .............................................20 David ................................................18 de Certeau .......................................260 de Kerckhove..................................130 De Maistre ......................................261
| 379
de Sade ................................... 258, 259 Defert ............................................. 101 Deleuze.... 22, 37, 46, 47, 120, 122123, 124, 125, 126, 127, 129, 147, 148, 149, 169, 201, 225, 263, 273, 297, 298, 308, 309, 329, 331, 332, 333, 341, 343, 3464 345 Demaskierung ................................ 167 Demel ............................................... 14 Demeny .................................... 19, 328 Demokrit .......................................... 85 Der Mensch .................................... 253 Derrida .. 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 26, 49, 50, 53, 62, 80, 94, 95, 105, 131, 136, 137, 142, 148, 151, 152, 154, 169, 174, 175, 213, 214, 215, 218, 225, 294, 295, 296, 297, 298, 299, 300, 310, 339 Derridas Katze .................................. 18 Descartes .................. 78, 100, 116, 332 Deterritorialisierung ............... 123, 308 Deutungsmacht, Deutungskonflikte .......................................... 304, 309 Dezentrierung .... 10, 96, 109, 141, 196, 325 Diabolophilie .................................. 217 Dialektik ............................91, 252-325 Dialektik im Stillstand .................... 324 Dialektisches Bild . 178, 180, 322, 323, 339 Diderot ............................................. 43 Diels ........................................... 75, 85 Diem ................................................. 96 Dietzsch ............................ 77, 117, 279 Différance................. 19, 137, 294, 300 Differenz . 20, 26, 30, 39, 62, 105, 108, 131, 136, 152, 214, 215, 237, 251, 293, 294, 295, 296, 297, 298, 299, 300, 301, 302, 304, 310, 322, 335 Dilthey............................ 203, 226, 227 Diogenes von Smyrna ...................... 85
380 | I DENTITÄT ALS E REIGNIS Dionisi ........................................... 152 Diotima .................................. 230, 231 Direkte Kommunikation ...85, 143, 163 Dischner........................................... 23 Diskontinuität .. 32, 178, 181, 184, 285, 343 Diskriminierung .. 13, 92, 163, 195, 276 Diskurs.... 61, 126, 127, 159, 165, 182, 183, 254, 256, 257, 275, 284, 312, 320 Distanz .................... 105, 131, 208, 249 Disziplinierung ...................... 224, 345 Dividuum ....................................... 202 Doppelgänger... 17, 18, 19, 20, 22, 330, 334 Dotzler ............................................. 82 Dreierbeziehung..................... 310, 311 Dreyfus .................................83, 84, 87 Dritter .... 25, 26, 44, 45, 60, 61, 74, 75, 76, 79, 110, 112, 113, 131, 134, 171, 192, 208, 225, 263, 274, 288, 289, 301 Du ………………………………..196 Dubiel ................................................ 9 Duplizität, Doppelheit............ 207, 278 Durchblick, Durchschauen.... 156, 167, 212 Durkheim ....................................... 158 Dux ............................................ 64, 65 Dyade........................ 76, 112, 134, 208 Ego......................................... 238, 331 Eigenheit, Eigenes 16, 36, 37, 323, 333 Eimer ............................................... 51 Eines .......................................... 37, 46 Einheit ..... 26, 29, 41, 46, 90, 121, 138, 144, 161, 163, 197, 206, 213, 218, 249, 301, 328 Einspruch ................................. 45, 273 Einzelner .................................. 93, 175 Emanation ................................ 46, 147 Emanzipation ................................. 167
Emerson ..........................................204 Endlichkeitsbewältigung ................307 Engel................. 81, 101, 113, 155, 180 Engell .............................................134 Engels ............................. 260, 261, 321 Entparadoxierung ...........................275 Entscheidung ..........................184, 239 Entwicklung....................................182 Entzweiung .....................................105 Enzensberger ..................................194 Ereignis.... 10, 11, 25, 26, 36, 166, 178, 184, 187, 188, 204, 208, 213, 249, 251, 276, 310, 334, 339, 341-345 Ereignis der Identität .............. 325-351 Erfahrung ................................130, 189 Erhard .............................................217 Erikson .............................................. 8 Erkenntnis...............................124, 263 Erlebnis...........................................227 Erotik .............. 164, 174, 175, 211, 282 Erschöpfung....................................282 Erschweigen ........... 187, 248, 249, 292 Erwartungen ...................................192 Erzählen .......................... 178, 205, 222 Erzählvollzug..................................198 Esoterik, Exoterik ...................164, 281 Event...............................................345 Evokation........................................335 Evola...............................................282 Evolution ........................................309 Ewald ..............................................101 Ewigkeit .........................................184 Exhibitionismus ..............................164 Exilierung .......................................255 Exklusion ................................163, 164 Experimentelle Praxis .....................135 Farrar ..............................................259 Febvre .............................................222 Feder ...............................................119 Festinger ...........................................56 Fetzer ..............................................319
I NDEX
Fichte ..... 115, 119, 195, 196, 201, 285, 294 Fink-Eitel........................................322 Finkielkraut ............................ 261, 348 Fischer ................ 76, 79, 156, 165, 290 Fluchträume ....................................107 Flusser ............................................130 Form, Formierung .................. 147, 150 Forster ............................................157 Fortschritt ....................... 169, 177, 180 Foucault32, 33, 39, 101, 125, 129, 146, 175, 181, 182, 183, 201, 222, 225, 262, 315 Fouché ............................................277 Fragen ............................. 187, 249, 342 Fragmentarik ..................................281 Frank ..............................................219 Franke .............................................293 Fraser ..............................................229 Fremder ...... 26, 45, 245, 255, 301, 323 Fremdheit .... 16, 29, 36, 194, 333, 335, 337 Frese ............... 168, 170, 204, 219, 314 Freud ..... 8, 21, 40, 165, 166, 167, 171, 196, 194, 197, 199, 207, 208, 245, 250, 300, 329, 330, 333, 334, 335 Freund und Feind............................208 Freyer .............................................230 Friedrich II........................................76 Frisby..............................................330 Frisch ..............................................315 Fuchs .......................... 19, 95, 188, 293 Fuge ........ 186, 187, 188, 237, 248, 343 Funke ..............................................119 Funktionsposition .. 11, 16, 36, 38, 102, 237, 336 Furth ...............................................130 Galetti ...............................................24 Gall ...................................................22 Galvani ...........................................279 Galvanismus ........................... 279, 289
| 381
Gamm ...... 88, 148, 168, 169, 191, 214, 215, 259, 260, 278, 325 Gandillac .................................. 47, 147 Ganguly .................................... 42, 246 García Düttmann .............................. 19 Gasché ...................................... 23, 215 Gaudet .............................................. 55 Gedächtnis ................................ 70, 111 Geheimnis .............. 174, 247, 259, 305 Gehring............................................. 40 Geisen............................................. 197 Geistiges Eigentum .................. 51, 139 Gellhaus ......................................... 274 Gemeineigentum .............................. 51 Gemeinschaft, Gemeinsamkeit ... 91, 93 Genealogie ..................................... 222 Genet .................................. 21, 22, 255 Gerechtigkeit .......................... 162, 305 Gergen ............................................ 340 Gerichtshof ............................. 168, 169 Geschichte, Geschichten 13-48, 178, 180, 204, 219, 222, 239, 256, 260, 309 Geschichtenerzählen............. 13, 15, 29 Geschichtsbewußtsein ...................... 15 Geschichtsphilosophie ...... 35, 158, 256 Geschichtswissenschaft .................. 223 Gesellschaftstherapie ...................... 171 Gespräch......................... 281, 283, 284 Gewalt ..... 26, 146, 186, 209, 244, 246, 256, 301 Gewesenes ...................................... 322 Geyer ........................................ 20, 100 Giroux ............................................ 259 Gleichzeitigkeit ...... 229, 231, 235, 304 Globalisierung . 60, 106, 107, 113, 115, 131 Göbel .......................... 19, 95, 188, 293 Gobineau .......................................... 14 Goethe ..... 19, 31, 84, 85, 86, 143, 217, 326
382 | I DENTITÄT ALS E REIGNIS Goffman ............................................. 8 Göhler .............................................. 88 Goldschmidt .................................. 259 Goldstein........................................ 251 Gondek .......................................... 302 Goodchild ...................................... 170 Goodfield ....................................... 229 Goody ............................................ 136 Grenze ............................168, 253, 299 Großklaus ........................................ 81 Grubrich-Simitis .............................. 40 Grund ..............................187, 212, 237 Gründer ...................................... 9, 170 Guattari .. 120, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 149, 185, 201, 329, 343, 344, 345 Gumbrecht ........................71, 116, 136 Gurdjieff .......................................... 27 Guzzoni.................................. 193, 211 Haag............................................... 349 Haasis ............................................ 217 Habermas . 9, 10, 72, 76, 115, 159, 167, 172, 245, 248, 250, 269 Hagen ............................................... 83 Halle ................................................ 59 Hamann.......................................... 174 Hamlet ........................................... 334 Han ................................................ 283 Handeln...................................... 64, 97 Handlungssubjekt .................... 65, 136 Handlungstheoretie ........................ 306 Hanssen.......................................... 180 Hardenberg ............................ 277, 279 Hart Nibbrig..................................... 73 Hartmann ................................. 20, 116 Hartmann, von ................................. 14 Haubrichs....................................... 205 Havelock ................................ 130, 136 Hegel . 21, 67, 77, 88, 90, 91, 101, 102, 182, 238, 242, 256, 259, 262, 263, 268, 270, 273, 278, 285, 286, 287,
288, 289, 290, 294, 302, 314, 320, 321, 322, 325, 326, 338 Heidbrink ........................................108 Heidegger .... 36, 42, 92, 102, 103, 104, 105, 114, 128, 184, 185, 186, 187, 188, 200, 206, 207, 213, 208, 211, 212, 213, 228, 220, 237, 238, 244, 246, 247, 248, 249, 281, 291, 292, 293 294, 295, 296, 326, 336, 341, 342, 343, 346, 347 Heider .............................................150 Heinritz ...........................................220 Heisenberg ......................................290 Hentig, von .....................................277 Heraussprengen ..............................178 Herder ................................. 43, 86, 168 Hermeneutik ...........125, 185-186, 316 Hermes ...................................109, 113 Herrmann, von ................................187 Herrschaft .................................65, 259 Herzl .................................................14 Hesiod.............................................212 Heterogenität ..................................138 Heterologie .......................................44 Heterosexualität .............. 173, 174, 226 Hetzel ....... 40, 169, 170, 287, 302, 309 Hierarchie .. 46, 47, 106, 111, 115, 120, 124, 142, 147, 273 Hirsch ............................... 80, 108, 316 Hitler.................................................24 Hjelmslev..................................59, 122 Hobbes............................................149 Hoffmann........................................317 Hoffstadt ...........................................28 Hofmannsthal, von .................198, 319 Hogrebe ..................................207, 277 Holland ...........................................237 Holz 98, 177, 269, 270, 271, 272, 273, 332 Holzhey ..........................................167 Homeostasis............................234, 289
I NDEX
Homogenität ............................... 30, 93 Homosexualität ....................... 173, 174 Honegger ........................................222 Honneth ..........................................196 Höppl ................................................24 Horkheimer.....................................264 Hrušovský.......................................262 Hubig 64, 87, 89, 90, 91, 308, 337, 340 Hübscher................................. 232, 378 Humboldt, von ..................................43 Huntington......................................350 Husserl............ 131, 148, 162, 214, 295 Ich 9, 36, 189-201, 245, 294, 300, 315, 331, 332, 336, 340 Ich-Ideal .........................................330 Ich-Identität ....................................180 Ich-Illusion .....................................197 Identifikation ...................... 8, 191, 268 Identität als Ereignis ............... 339-346 Identitätsprinzip ..............................149 Identitätszumutung ...........................27 Identitätszwang ....................... 325, 347 Ideologie, Ideologiekritik ....... 168, 172 Ijsseling ............................................75 Immanenz 24, 25, 44, 46, 47, 129, 147, 149, 203, 299 Immanenzebene ................................47 Individualismus .............. 102, 171, 175 Individualität .. 31, 73, 84, 85, 101, 143 Individuum .. 19, 63, 85, 201, 202, 206, 326 individuum est ineffabile ..................86 Information ......................... 52, 74, 337 Innis ................................ 120, 130, 136 Institutionen ......................................34 Intellektueller ................. 170, 264, 265 Intercorporéité ........................ 151, 340 Interferenz ......................................109 Interkulturalität .................................29 Intermedialität ............ 25, 27, 150, 153 Internet ............. 83, 132, 139, 162, 163
| 383
Intersubjektivität.. 23, 76, 84, 131, 144, 188, 208, 225, 288, 301 Intertext, Intertextualität ......... 260, 303 Intervention ........ 23, 27, 190, 205, 263 Ipseität ............................................ 106 Iterabilität, Iteration .. 23, 190, 214, 215 Izambard........................... 19, 253, 328 Jabès ............................................... 274 Jäckel................................................ 30 Jackson ........................................... 152 Jacob .............................................. 196 Jakobson ..................................... 50, 59 James .................................................. 8 Jannidis............................................. 85 Jarmush .......................................... 141 Jenseits des Textes ........................... 94 Johnson........................................... 255 Jørgensen ........................................ 174 Jung ........................................ 233, 234 Just ................................................. 226 Kalegeropoulos .............................. 107 Kammer .......................................... 317 Kämpf....................................... 45, 301 Kanngießer ..................................... 227 Kant 37, 77, 78, 80, 106, 117, 118, 119, 127, 128, 130, 163, 168, 175, 188, 191, 197, 206, 232, 233, 254, 258, 290, 311, 331, 332, 333, 352 Kapust .................................... 230, 325 Karsz .............................................. 262 Kasanin........................................... 251 Katastrophe ............................ 177, 180 Kater ............................................... 318 Katharina von Aragon .................... 230 Kaulbach ........................................ 149 Kausalität ................................. 46, 234 Kemp .............................................. 188 Keutner ............................................. 99 Khaled ............................................ 230 Kierkegaard ................................ 24, 96 Kimmerle ................................. 20, 322
384 | I DENTITÄT ALS E REIGNIS Kittler..................................83, 87, 130 Klapper ............................................ 56 Klass .............................................. 336 Klatsch ....................................... 16, 27 Klee ............................................... 180 Kleist ............................................... 99 Kobusch ........................................... 85 Kocka............................................... 38 Ko-Existenz ..................................... 93 Kofman .................................. 317, 318 Köhnke .......................................... 330 Kollektiv ................................ 167, 348 Kollektive Identität .......................... 29 Kollektivismus ................................. 94 Kolmer ....................................... 7, 337 Kommunikation . 52, 60, 70, 78, 79, 86, 105, 108, 110, 112, 115, 143-146, 152, 153, 163, 189 Kommunikationsanschlüsse............. 60 Kommunikationsdeformation 161, 172, 304 Kommunikationsmedium............... 150 Kommunikationstherapie ....... 165, 171 Kommunikativer Text ....11, 26, 38, 41, 45, 47, 61, 73, 100, 145, 149, 152, 159, 161, 164, 165, 171, 173, 184, 186, 203, 237, 252, 273, 291, 308, 310, 317, 318, 323, 335, 336, 337, 343 Kommunion ........................... 163, 302 Konersmann . 11, 17, 18, 34, 41, 47, 62, 75, 80, 99, 157, 170, 180, 181, 190, 212, 216, 260, 281, 338 Konsens .. 189, 246, 247, 276, 283, 302 Konspiration .................................. 164 Konstellation.................................. 323 Kontext .................................. 303, 311 Kontinuität ... 10, 32, 39, 177, 178, 180, 181, 182, 184, 192, 204, 205, 226, 257, 269, 323, 337
Kontrolle, Kontrollgesellschaft ......259, 345 Kopernikus .............................300, 329 Kopplung ........................................150 Körper.............................................314 Koselleck .................. 22, 157, 168, 169 Koslowski ...............................108, 307 Köveker ..........................................214 Krämer ..... 54, 72, 73, 75, 93, 112, 130, 134, 135, 136, 153, 154, 226, 299, 364 Krankheit ........................ 239, 244, 327 Kranz ................................................75 Kraus ......................................127, 193 Krise .........................................34, 157 Kristeva . 161, 190, 205, 221, 250, 289, 290 Kritik .. 38, 78, 126, 127, 132, 167-170, 180, 190, 264, 266, 269, 323 Kritische Theorie ............................169 Kröber.............................................262 Kruse ..............................................259 Kuhn ...............................................283 Kühn ...............................................370 Kulenlampff....................................152 Kultur .. 20, 29, 43, 107, 170, 206, 214, 307 Kulturalistismus................................71 Kulturelle Identität............................20 Kulturkritik .....................................170 Kulturprinzip ..................................307 Kuroda ............................................221 Kürschner .........................................99 l’être-au-monde ................................92 Labyrinth ..... 66, 67, 95, 115, 140, 143, 148 Lacan . 21, 40, 127, 165, 166, 173, 186, 199, 200, 244, 300, 330, 331, 335 Laing.......................................242, 243 Landes ............................................224 Langer.....................................169, 344
I NDEX
Lantz ...............................................216 Latzer................................................64 Lauth ..............................................196 Lavater..............................................85 Lazarowicz .......................................43 Lazarsfeld .........................................55 Leach ...................................... 240, 241 Leben .............................. 198, 206, 317 Lebensform.......................................91 Leere ....................................... 338, 346 Leib, Leiblichkeit ........... 131, 336, 351 Leibniz..... 19, 31, 75, 84, 85, 116, 143, 221 Leiden ..................................... 268, 269 Leit-Faden ........................................79 Lejeune ...........................................301 Lenin .............................. 263, 321, 322 Lenk................................................195 Leroy-Gourhan .................................67 Lesbarkeit .......................................178 Leser ...............................................318 Lessing ..................................... 99, 114 Leukipp ............................................85 Lévesque................................. 310, 311 Leviathan ........................................112 Lévinas 36, 45, 94, 174, 175, 209, 215, 242 Lévi-Strauss ......................................59 Lewin.......................................... 56, 70 Lichtenberg............................. 279, 335 Liebe ....................................... 175, 279 Lieber ..................................... 130, 256 Liebrucks ........................................216 Lilith .................................................37 Lindemann ................ 76, 156, 165, 290 Linearität .................... 41, 79, 128, 140 Link ................................................140 Logos ..... 144, 161, 212, 213, 216, 217, 218, 333 Logozentrismus ................................49 Lorenzen ...........................................65
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Lorenzer ......................................... 245 Loukidelis......................................... 93 Löwith ............................................ 291 Lübbe ............................... 27, 107, 337 Luckmann........................................... 7 Lucrecia Borgia .............................. 230 Lüdeke ............................................ 317 Ludwig XVI. .................................... 24 Lüge ................................... 77, 80, 117 Luhmann 11, 19, 34, 60, 71, 74, 95, 99, 107, 130, 135, 143, 144, 145, 146, 150, 151, 159, 168, 172, 188, 217, 225, 275, 293 Lukrez .............................................. 42 Luszcz ............................................ 203 Lütkehaus ....................................... 217 Luxemburg ..................................... 230 Lyman ............................................ 185 Lyotard ................... 170, 193, 214, 312 Mach .............................................. 329 Machiavelli....................................... 76 Macht 46, 47, 146, 147, 254, 256, 308, 337 MacIver ............................................ 43 Madonna......................................... 152 Mairet ............................................. 257 Małas-Godlewska ........................... 152 Maldiney ........................................ 334 Mallarmé .................................. 69, 316 Marcia ............................................ 203 Margreiter....................... 130, 135, 136 Margulis ......................................... 259 Maria Magdalena............................ 230 Mark ............................................... 313 Markt ................................................ 35 Marquard ...... 7, 8, 95, 97, 98, 99, 125, 167, 189, 250, 301, 311, 338 Martinet .......................................... 122 Marx ...... 47, 128, 130, 158, 169, 222, 256, 262, 263, 267, 273, 296, 300, 320, 321, 322, 323, 359
386 | I DENTITÄT ALS E REIGNIS Marxismus ............................. 262, 264 Maske .................................... 129, 167 Massenmedien ........................... 55, 57 Masters .......................................... 255 Materialistische Dialektik .............. 271 Materialität ....... 87, 130, 131, 135, 136 Matt, von.......................................... 98 Maurier .......................................... 175 Mauss............................................... 24 McLuhan................... 50, 120, 136, 139 McTaggart ..................................... 328 Mead .............................................. 8, 9 Medialität..11, 41, 43, 47, 49-144, 151, 152, 153, 163, 177, 192, 215, 237, 245, 308, 336 Medialitätszentrierung ........... 337, 340 Medienphilosophie ................ 116, 135 Medium... 41, 52, 60-64, 66, 70-74, 87, 90, 100, 118, 131, 133-137, 143, 149-154, 200, 299, 337 Medosch .......................................... 65 Meier ............................................... 34 Meinhoff ........................................ 230 Meißner............................................ 20 Mengue .......................................... 345 Menkiti .......................................... 175 Mensch .... 61, 144, 145, 175, 180, 326, 340 Merleau-Ponty ...... 84, 91, 92, 192, 296 Mersch ........................................... 119 Meta-Erzählungen.......................... 193 Meta-Institution ............................. 173 Metapher, Metaphorisierung26, 43, 78, 183, 206, 329 Methode ..............................41, 78, 185 Metropole ........................................ 66 Meuter ..................................7, 10, 336 Meyer-Drawe ................................. 300 Mikropolitik ................................... 345 Milner .................................... 205, 221 Minoer ................................... 115, 143
Mißverstehen ...................... 42, 53, 309 Mit .................................... 93-106, 299 Mitscherlich ....................................167 Mitsein, Mitdasein ............ 92, 102, 103 Mitte . 47, 64, 87, 91, 93-106, 136, 149, 154, 188, 215, 248, 333, 342 Mitteilung .......................................291 Mit-Teilung ......................................93 Mittel .... 47, 64-66, 68, 70, 87, 94-106, 154 Mittler .............................................101 Möbius-Band ..................................206 Modalisierung .........................147, 337 Möglichkeitsraum ....... 88, 89, 308, 331 Mollath ...........................................243 Momigliano ....................................212 Mommsen .......................................257 Monolog ......................... 291, 309, 335 Monomythie ...................................218 Montagu .........................................194 Montaigne.......................................289 Montinari .................... 66, 93, 247, 277 Moore .............................................152 Moralische Experimente .................173 Moralisierung .................................194 Morgenstern....................................105 Morin ..............................................214 Müdigkeit .......................................282 Müller .............................................202 Multimedialität .........................87, 151 Multiple Person ........................25, 327 Münker ........................... 116, 131, 134 Murdock .........................................155 Mussolini ..........................................24 Mystik...............................................26 Mythos .....................212, 213, 216-219 Nähe ............................... 105, 208, 249 Name ..........................................16, 18 Nancy .... 42, 80, 92, 94, 102, 103, 104, 105, 106, 200, 208, 291, 296, 297, 299, 345, 351
I NDEX
Napoleon ........................................120 Narration... 14, 212, 213, 215, 216, 222 Narrative Identität................... 194, 336 Narrativismus ......................... 221, 256 Natanson .........................................234 Nationalen Identität ........................348 Negation ........... 40, 253, 287, 288, 289 Negative Dialektik . 265, 268, 269, 270, 235 Negativität .............................. 288, 290 Neger .......................... 13, 92, 195, 314 Neiman ...........................................217 Nelson ............................................288 Nestle..............................................216 Nettelbeck.......................................203 Netz ...... 75, 79, 91, 106-117, 124, 137, 156, 306, 307, 308 Neue Medien ..... 60, 64, 110, 120, 129, 130, 151 Neues ................................................22 Neugier ...........................................165 Neumann .................................. 95, 221 Neuser ..............................................96 Neutrales.........................................299 Newton ................................... 110, 221 Nichtidentisches .............................268 Nichtidentität ...................... 13, 16, 214 Nichtphänomen ...................... 253, 256 Nichts .............................................251 Nichtstun ..........................................33 Nichtwissen ....................................109 Nickels............................................341 Nida-Rümelin .................................129 Niederberger ...................................214 Nietzsche . 32, 65, 66, 89, 93, 121, 129, 147, 199, 202, 222, 246, 247, 276, 277, 278, 285, 294, 316, 335, 339, 368 Niznik .............................................138 Noah ...............................................148 Noelle-Neumann ........................ 57, 66
| 387
Nomade ............ 96, 110, 127, 149, 298 Nomadische Vernunft..................... 115 Nomadologie .. 115, 126, 127, 140, 148 Nonne ............................................. 219 Novalis ............. 95, 104, 161, 174, 226 Nowotny ......................................... 239 Nyíri ........................... 50, 68, 117, 328 Objektive Geschichte ..................... 219 Objektive Zeit. 214, 219, 220, 227, 238 Objektivität..... 188, 221, 222, 231, 239 Odebrecht. ...................................... 281 Oeffner ............................................. 99 Oeing-Hanhoff ................................. 85 Oelmüller ................................... 27, 38 Öffentlichkeit ................... 76, 163, 258 Ogburn ........................................... 158 Ogilvy....................................... 27, 202 Ökonomie ....................... 264, 306, 307 Ökonomieprinzip............................ 307 Ong ......................................... 119, 130 Opfer ................................ 24, 219, 223 Oralität ....................................... 72, 75 Ordnung ......................... 109, 256, 333 Ort ................................................... 79 Osama bin Laden ............................ 309 Ostermann ...................................... 312 Otto ................................................ 198 Pandora........................................... 148 Paradoxie, Paradoxon .... 201, 274, 275, 284 Parasit ............................... 74, 112, 190 Parsons ................................... 158, 159 Paulus ............................................... 62 Pažanin ........................................... 224 Peirce.............................................. 226 Performanz ............................... 73, 169 Person ..................................... 175, 193 Perspektive ............................... 71, 333 Pessoa ............................................. 318 Pethes ....................................... 95, 221 Pfeiffer ............................. 71, 116, 136
388 | I DENTITÄT ALS E REIGNIS Pflichthofer .................................... 202 Pfürtner .......................................... 225 Piaget ............................................. 262 Picard ............................................... 92 Pichois ........................................... 188 Platon ..... 42, 49, 75, 85, 115, 117, 129, 154, 212, 275, 340 Plenge ............................................ 105 Plotin ......................................... 42, 46 Pluralismus, Pluralität ..23, 29, 93, 105, 108, 218, 328 Pocock ............................................. 35 Polemische Totalität ......196, 278, 279, 283, 309 Political correctness ................. 92, 275 Politik ...............................46, 304, 306 Politisches ............... 208, 307, 344, 345 Polydiabolismus, Polytheismus ..... 218 Pongratz ......................................... 200 Popper .................................... 273, 274 Positionen .............................. 197, 320 Postanthropologie .......................... 180 Postmoderne ...... 11, 78, 129, 135, 143, 156, 315, 337 Pragmatismus..................135, 137, 138 Präsenz...................... 62, 151, 214, 295 Praxis .......224, 227, 263, 271-273, 343 Praxis-Relevanz ............................. 267 Preglauer ........................................ 217 Preyer......................................... 63, 70 Priddat ........................................... 307 Primärprozesse................................. 40 Privatheit........................................ 259 Problem.................................. 126, 344 Probst ............................................. 250 Protagoras ...................................... 275 Prozeß .. 26, 47, 92, 118, 126, 149, 193, 255, 279, 289, 299, 310, 325, 343, 347 Psychoanalyse ......... 165-167, 300, 329 Publizitätskriterium........................ 163
Python.............................................201 Queneau ............................................82 Ragin ..............................................152 Rammstedt ........................................99 Randonnée ......................................116 Rat ..................................................289 Rationalität 35, 109, 137, 138, 230, 259 Rauen ..............................................191 Realdialektik ........... 252, 269, 271, 273 Realität ...................................118, 121 Reese-Schäfer .................................148 Referenz .........................................109 Reflexion . 15, 18, 20, 23, 78, 100, 169, 180, 225, 279, 316, 325 Reflexionsbegriff ............................141 Reichold ...........................................96 Reich-Ranecki ................................129 Reinhardt ........................................159 Reinhold ...................................80, 119 Relation ............................ 39, 112, 190 Relationale Identität..........................25 Relationalität ............ 25, 331, 335, 340 Renn ................................... 10, 84, 325 Repräsentation . 96, 120, 121, 125, 141, 298 République des Lettres ...........119, 132 Rest ...................................................96 Reterritorialisierung ........................345 Rhizom, Rhizomatik ..... 115, 120, 121, 124, 125, 128, 298 Rhythmus................ 148, 149, 225, 227 Ribettes ...........................................190 Richtigkeit ..............................187, 244 Ricœur .................... 245, 316, 317, 336 Rifkin ........................................31, 340 Right ...............................................175 Rimbaud .... 19, 23, 185, 253, 289, 300, 328, 329, 331, 332, 333, 334, 335 Riß ………………………187, 188 Ritter .... 9, 85, 170, 273, 278, 279, 289, 338, 358, 363, 367, 369, 370
I NDEX
Rivette ..............................................17 Robertson .......................................107 Roesler............................ 116, 131, 134 Rogers ..............................................54 Rölli ..................................................22 Rorty....................................... 137, 138 Rosenkranz .....................................287 Röttgers . 14, 17, 20, 22, 24, 26, 33, 37, 38, 39, 43, 47, 51, 53, 67, 68, 70, 73, 75, 76, 77, 81, 84, 92, 95, 96, 99, 100, 101, 103, 108, 117, 118, 119, 122, 126, 128, 130, 134, 148, 156, 165, 168, 169, 170, 182, 185, 190, 191, 198, 199, 207, 212, 214, 215, 216, 217, 259, 270, 279, 281, 285, 295, 296, 305, 302, 304, 306, 307, 308, 317, 336, 338 Röttgers, Janko .................................65 Rousseau.... 40, 84, 119, 169, 170, 192, 201, 217, 239, 255, 258, 331, 346 Rüsen .................................. 15, 34, 221 Ruwet ..................................... 205, 221 Ruyer ..............................................227 Sandbothe ...... 116, 130, 131, 134, 135, 136, 137, 138, 140, 142, 155 Sanders ...........................................138 Sandkühler........................ 38, 168, 269 Sappho ............................................230 Sartre 18, 95, 197, 202, 232, 241, 271, 302, 331 Satz der Identität.............................208 Saussure, de ......................................59 Scarry ...............................................26 Schäfer, Martin Jörg .......................214 Schäfer, Alfred .................................10 Schapp ........................ 16, 93, 212, 343 Schaub ............................................185 Scheier ............................................215 Schelling ......................... 202, 278, 279 Schema, Schematismus .......... 117, 118 Schérer............................................297
| 389
Schieder.......................................... 231 Schiller ............................. 67, 168, 280 Schirmacher.................................... 130 Schizophrenisierung ....................... 312 Schlegel ..... 23, 94, 230, 259, 274, 275, 276, 277, 278, 280, 281, 283, 286 Schleiermacher281, 282, 283, 284, 285 Schmidt, G...................................... 207 Schmidt, Hajo ................................... 99 Schmidt, Siegfried J. .......... 55, 60, 130 Schmitt ............................... 20, 22, 208 Schmitz-Emans . 20, 26, 77, 79, 95, 96, 117, 198, 259, 270, 274, 312, 315 Schmucker ...................................... 193 Schnädelbach.................................. 269 Schnitzler ....................................... 203 Schödlbauer .................................... 169 Schopenhauer ................. 197, 232, 233 Schotte............................................ 107 Schrift ... 62, 67, 75, 117, 137, 142, 291 Schriftlichkeit ............... 75, 80, 82, 131 Schulin ............................................. 30 Schulz ............................................... 79 Schürmann, Reiner . 211, 274, 342, 343 Schürmann, Volker................. 293, 336 Schütz ............................. 234, 241, 242 Schweigen .. 26, 92, 148, 246-249, 292, 299, 336 Schweitzer ...................................... 168 Schwemmer .................................... 130 Schweppenhäuser ........................... 202 Science mineure ............. 109, 126, 127 Scott ............................................... 185 Sebag .............................................. 262 Sedlmayr .......................................... 96 Seel ................................. 130, 131, 136 Seele ................. 85, 161, 197, 260, 265 Seelenleiden ............................163-169 Segmentarisierung .................. 122, 123 Sehen ........................................ 87, 213 Seinsgeschichte .............................. 207
390 | I DENTITÄT ALS E REIGNIS Seitensprung .................................. 310 sekundäre Oralität .................. 119, 139 Selbst ...16, 26, 28, 36, 38, 45, 93, 162178, 190, 192, 201, 214, 237, 291, 297, 304, 333, 335, 3386, 346 Selbstbestimmung .......................... 224 Selbstorganisation .................... 61, 252 Selbst-Verfügung ............186, 188, 189 Selbstverwirklichung ........38, 201, 346 Sen ........................................... 14, 348 Sender-Empfänger-Modell ...... 55, 315 Sennett ........................................... 148 Serres ..... 39, 44, 66, 67, 68, 74, 75, 79, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 116, 127, 148, 189, 190, 191, 207, 246, 274, 342 Setzen ............................................ 195 Seyn ........................ 207, 248, 249, 291 Shakespeare ................................... 228 Shannon ........................................... 52 Sichselbstgleichheit ................. 20, 336 Sichtbarkeit .....................118, 152, 244 Sieber-Rilke ................................... 319 Sigetik .............................248, 292, 345 Simmel..... 99, 174, 175, 185, 268, 290, 311, 327, 330, 338 Simonin-Grumbach........................ 318 Simonis ............................................ 75 Singuläres ........................................ 93 Sinn 42, 43, 92, 93, 105, 108, 123, 136, 142, 146, 151, 162, 165, 215, 250, 297, 299, 307, 339, 340 Sokrates ............................76, 117, 246 Sommer...........................114, 221, 329 Sontag ............................................ 259 Sophist ..................................... 76, 134 Soziale Freiheit .............................. 202 Soziale Reflexion ............................. 15 Sozialer Prozeß .............................. 152 sozialer Wandel .............. 156-162, 179 Soziales .............................60, 134, 144
Soziales Band ............. 24, 38, 146, 175 Sozialontologie .........................92, 249 Soziotext .........................................314 Spalt, Spaltung.............. 19, 21, 37, 330 Speicherung ..............................65, 110 Spiegel .............................. 18, 240, 257 Spiegelstadium ...............................330 Spinoza ............. 46, 129, 147, 190, 273 Spion.......................................164, 165 Sprache .... 49, 61, 71, 73, 92, 143, 192, 248, 284 Sprachlosigkeit ...............................209 Sprachspiele....................................124 Sprachursprung ...............................284 Sprechen .....................................43, 92 Spruch.............................................235 Spruch und Widerspruch ........ 237-323 Sprung ............................ 239, 281, 341 Spur ........................ 131, 137, 231, 295 Starobinski .......................... 40, 84, 163 Stein, von ........................ 157, 158, 377 Stelzer .............................................248 Stengel ............................................192 Stierle ................................................ 7 Stilett ..............................................289 Stillstand .........................................323 Stoellger .................................257, 304 Stone ...............................................241 Störung ...........................................306 Stratmann........................................198 Straub ........................... 10, 11, 84, 325 Straus ..............................................259 Strauss .................. 8, 30, 191, 192, 319 Struktur ........................... 121, 182, 263 Struktur mit Dominante ..................320 Strukturalismus . 59, 182, 183, 262, 321 Subjekt. 19, 23, 36, 47, 66, 83, 86, 109, 122, 123, 136, 140, 180, 188, 193, 206, 237, 238, 300, 301, 309, 318, 331, 335 Subjekt und Objekt ......... 195, 271, 331
I NDEX
Subjektivität ................... 221, 319, 329 Subjektzentrierung.. 326, 329, 337, 347 Substantialisierung ............. 32, 36, 190 Substanz ................. 46, 70, 85, 94, 201 Subtext..............................................27 Svetlova ..........................................307 Symmetrie des Schweigens ............246 Symphilosophieren 120, 196, 277, 278, 281, 309 Symptom ........................................254 Synchronisation .......222, 224-231, 239 Synchronizität......................... 234-237 Tanz .................. 67, 143, 225, 227, 247 Täter ......................................... 66, 199 Taubes ............................................351 Teggart ...........................................221 Telos ................... 41, 66, 115, 143, 147 Temporale Reflexion ........................15 Tempus ...........................................227 Territorialisierung ...........................123 Terrorismus .................... 186, 308, 309 Teubner ............................................97 Teufel ............................... 30, 217, 218 Text, Textualität .... 27, 80, 91, 92, 123, 126, 127, 192, 197, 250, 255, 308, 315-317, 337 Textfortsetzung ...............................173 Textfunktion ........................... 198, 315 Textunterbrechung..........................186 Textur .............................................142 Theile..............................................168 Theoriepraxis .......................... 168, 263 Therapie.................. 161, 165, 166, 229 Theunissen ...... 256, 286, 291, 303, 322 Tholen ..............................................83 Thomä ............................ 193, 204, 205 Thompson .......................................224 Tieck .................................................43 Tiedemann ......................................202 Tod ........................................... 26, 299 Tod des Autors .................................69
| 391
Todorov .................................... 53, 205 Topitsch .......................................... 274 Torok ...................................... 148, 169 Totalität .................................. 266, 273 Toulmin .......................................... 229 Tradition ................................... 35, 181 Transitorische Identität ............325-328 Transversale .... 25, 115, 137, 138, 155, 206 Transzendentales Wir ..................... 196 Traum, Traumbild .................. 166, 323 Treitschke ....................................... 257 Treue ...................................... 318, 319 Triplizität ........................................ 289 Troldahl ............................................ 56 Trzaskalik . 19, 185, 289, 300, 328, 329 Turbulenzen.................................... 109 Turkle ............................... 25, 141, 142 Tyler ............................................... 185 Überblick .. 71, 116, 137, 143, 155, 168 178, 212 Überdeterminierung ............... 320, 321 Übergang ... 25, 96, 118, 181, 212, 274, 281, 296, 338 Übergreifen ............................ 256, 286 Übermittlung .......................... 112, 113 Überraschung ................................. 310 Überschreitung ................. 46, 164, 302 Übersetzung.............. 53, 174, 284, 316 Überwachung ................. 107, 259, 345 Uchronie ........................................... 26 Uhr ................................................. 224 Umbesetzung .................................. 291 Umweg ...................... 98-100, 206, 307 Unbestimmtheit .............................. 345 Unbewußtes .............. 41, 245, 300, 335 Ungleichzeitigkeit ... 158, 229-231, 235 Universalismus ....................... 108, 196 Unmittelbarkeit ... 62, 84, 99, 131, 143, 152, 163, 217 Unordnung ............................. 109, 137
392 | I DENTITÄT ALS E REIGNIS Unruhe ........................................... 338 Unsichtbarkeit.................118, 152, 244 Unterscheidung ....... 106, 141, 150, 298 Unterwegs im Zwischen ................ 101 Unverhofftes .................................. 179 Unversöhntes ................................. 265 Unverständlichkeit ........................... 29 Ursache .................................... 64, 212 Urschrift ......................................... 154 Ursprung 20, 32, 33, 37, 45, 65, 66, 93, 105, 115, 143, 147, 211, 212, 214, 215, 237, 284, 286, 293, 295, 299, 322 Vaerst, von ....................................... 14 Vahland.......................................... 169 Valéry .................................... 316, 317 Van Dam.......................................... 56 van Melsen....................................... 85 Verantwortung ....... 108, 194, 225, 240, 338, 342 Verbot .................................... 302, 311 Verdopplung .............................. 21, 22 Verfassung ............................. 241, 253 Verfügung ...................................... 188 Verführung .................................... 240 Verkörperung ................................... 73 Vermittlung 87, 93, 113, 131, 134, 143, 154, 262, 263, 270, 333 Vernetzung ............................ 106, 113 Vernunft.. 114, 115, 137, 138, 144, 161 Verrat ................................29, 164, 165 Verschwinden ........................ 318, 335 Versprechen ................................... 214 Verzeihen ....................................... 191 Veyne............................................. 183 Vico ............................................... 229 Vielheit, Vielfalt ......90, 121, 123, 138, 343, 344 Vilar ............................................... 222 Virilio ...................................... 81, 130 Vogl ............................................... 309
Voigts .............................................213 Volta ...............................................279 Voltaire ...........................................328 Völzmann-Stickelbrock ....................51 Voß .................................................200 Wahnsinn ..................................26, 135 Wahrheit ........................... 76, 134, 187 Wahrheitsprozedur .................343, 344 Wahrnehmung ................................314 Waldenfels ..... 215, 221, 224, 325, 333, 334 Walter ...............................................75 Watt ................................................136 Weber ................................. 60, 64, 130 Weil ................................................240 Wellendorf ......................................202 Welsch ..... 80, 115, 130, 137, 138, 155, 296, 298 Werden ...................................263, 294 wesan ..............................................293 Wetz ...............................................250 Wetzels ...........................................279 Weymar ............................................30 Whitaker .........................................259 White ................................................56 Whitehead ...............................115, 116 Whright...........................................221 Widerfahrnis ...........................166, 205 Widersprechen, Widerspruch 228, 230, 235, 239-325, 344 Widerspruchskultur ........................319 Widerstreit ......................................311 Wiechens ................................287, 302 Wiederholung22, 23, 74, 135, 148, 149 Wiegerling ........................................96 Wilden .................... 234, 289, 303, 309 Wildfeuer ....................................7, 337 Wir...................... 28, 94, 104, 109, 241 Wirklichkeit ... 101, 118, 130, 153, 264, 269 Wirth.................................................68
I NDEX
Wissen ............................ 114, 116, 124 Wissenschaft............125-127, 222, 261 Wissenschaftstheorie .............. 142, 311 Wittgenstein ................... 124, 132, 288 Worms ............................................296 Wortergreifung ....................... 247, 346 Wright ............................................239 Wyss ................. 47, 228, 252, 253, 291 Zeichen ............................... 49, 75, 141 Zeit ................... 81, 179, 224, 332, 336 Zelený ............................. 261, 262, 263 Zenon...................... 95, 97, 98, 99, 101 Zeuge ..............................................223 Ziche.................................................94 Zielerreichung .......... 99, 115, 206, 308
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Zielinski ........................................... 84 Zimmerli......................................... 167 Zitat ................ 178, 179, 202, 316, 323 Zola ................................................ 170 Zügellosigkeit ......................... 328, 329 Zurstiege........................................... 55 Zusammenhang .............................. 271 Zweck-Mittel-Relation . 64, 66, 68, 136 Zwischen 41, 47, 64, 92, 100, 104, 105, 109, 112, 135, 1653 188, 200, 215, 249, 285, 300, 313, 326, 335-337
Sozialphilosophische Studien Franck Fischbach Manifest für eine Sozialphilosophie (aus dem Französischen übersetzt von Lilian Peter, mit einem Nachwort von Kurt Röttgers und Thomas Bedorf) Juni 2016, ca. 150 Seiten, kart., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3244-6
Marcel Hénaff Die Gabe der Philosophen Gegenseitigkeit neu denken (übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer) 2014, 280 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2385-7
Steffen Herrmann Symbolische Verletzbarkeit Die doppelte Asymmetrie des Sozialen nach Hegel und Levinas 2013, 232 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2371-0
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Sozialphilosophische Studien Kurt Röttgers Das Soziale als kommunikativer Text Eine postanthropologische Sozialphilosophie 2012, 418 Seiten, kart., 37,80 €, ISBN 978-3-8376-2199-0
Kristóf Nyíri Zeit und Bild Philosophische Studien zur Wirklichkeit des Werdens 2012, 204 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1904-1
Thomas Bedorf Andere Eine Einführung in die Sozialphilosophie 2011, 210 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1710-8
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