Historikerkommissionen und historische Konfliktbewältigung 9783110541144, 9783110539080

This title is devoted to historical commissions, including their establishment, forms of membership, and general working

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German Pages 366 [368] Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I. Zu den Aufgaben internationaler und nationaler Historikerkommissionen
Drei Jahre Deutsch-Italienische Historikerkommission 2009–2012
Die Arbeit der Deutsch-Italienischen Historikerkommission und ihr Echo in Italien
Zwei mögliche Wege zur Aussöhnung der nationalen Vergangenheiten? Von den historisch-kulturellen Kommissionen Italien-Slowenien und Italien-Kroatien zu den Gedenktagen
Die Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Historikerkommission
Die Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission. Bilaterale Zusammenarbeit über Grenzen – aber auch mit Grenzen
Die Deutsch-Ukrainische Historikerkommission
Die Historikerkommission des Auswärtigen Amtes. Zeitgeschichte zwischen Auftragsforschung, öffentlicher Debatte und wissenschaftlichem Fortschritt
Pragmatische Profession. Historikerkommissionen im Auftrag großer Unternehmen
II. Historikerkommissionen und Rechtsprechung – Probleme der Wahrheitssuche
Erfahrungen eines Juristen als Mitglied der schweizerischen Historikerkommission
Der „Schrank der Schande“ und das „Vergessen“ eines Bürgerkriegs. Der Untersuchungsausschuss des italienischen Parlaments zur Aufdeckung der Nichtverfolgung von nationalsozialistischfaschistischen Gewaltverbrechen
Der Historiker als Gerichtsgutachter
Welche Politik für die Transitional Justice?
Die Wahrheitsfrage: Gerechtigkeit, Erinnerung und Geschichte
III. Historikerkommissionen und Erinnerungskulturen
Allerjüngste Zeitgeschichte als Chance und Problem. Das Projekt zur Erforschung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ und ihrer Partnerorganisationen
Expertenkommissionen in der DDR-Aufarbeitung
Die Deutsch-Italienische Historikerkommission und die Konstruktion einer „gemeinsamen Erinnerungskultur“. Nationale Dimensionen, bilaterale Beziehungen und europäische Rahmenbedingungen
Die Konstruktion einer Erinnerung zwischen Vergangenheit und Zukunft. Zur Erinnerungspolitik in Europa
IV. Kommentar
In der Welt historischer Kommissionen. Oder: Die Spezifik der Deutsch-Italienischen Historikerkommission
Introduzione
Autorenverzeichnis
Personenregister
Ortsregister
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Historikerkommissionen und historische Konfliktbewältigung
 9783110541144, 9783110539080

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Christoph Cornelißen, Paolo Pezzino (Hrsg.) Historikerkommissionen und historische Konfliktbewältigung

Historikerkommissionen und historische Konfliktbewältigung

Übersetzung der italienischen Beiträge von Gerhard Kuck Herausgegeben von Christoph Cornelißen und Paolo Pezzino

ISBN 978-3-11-053908-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-054114 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-053916-5 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Christoph Cornelißen und Paolo Pezzino Einleitung 1

I. Zu den Aufgaben internationaler und nationaler Historikerkommissionen Wolfgang Schieder Drei Jahre Deutsch-Italienische Historikerkommission 2009 – 2012

21

Mariano Gabriele Die Arbeit der Deutsch-Italienischen Historikerkommission und ihr Echo in Italien 31 Raoul Pupo Zwei mögliche Wege zur Aussöhnung der nationalen Vergangenheiten? Von den historisch-kulturellen Kommissionen Italien-Slowenien und Italien-Kroatien zu 51 den Gedenktagen Christoph Cornelißen Die Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Historikerkommission Hans-Jürgen Bömelburg und Thomas Strobel Die Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission. Bilaterale 83 Zusammenarbeit über Grenzen – aber auch mit Grenzen Martin Schulze Wessel Die Deutsch-Ukrainische Historikerkommission

95

Eckart Conze Die Historikerkommission des Auswärtigen Amtes. Zeitgeschichte zwischen Auftragsforschung, öffentlicher Debatte und wissenschaftlichem Fortschritt 109 Tim Schanetzky Pragmatische Profession. Historikerkommissionen im Auftrag großer Unternehmen 119

69

VI

Inhalt

II. Historikerkommissionen und Rechtsprechung – Probleme der Wahrheitssuche Daniel Thürer Erfahrungen eines Juristen als Mitglied der schweizerischen Historikerkommission 135 Lutz Klinkhammer Der „Schrank der Schande“ und das „Vergessen“ eines Bürgerkriegs. Der Untersuchungsausschuss des italienischen Parlaments zur Aufdeckung der Nichtverfolgung von nationalsozialistisch-faschistischen 153 Gewaltverbrechen Paolo Pezzino Der Historiker als Gerichtsgutachter

177

Pier Paolo Portinaro Welche Politik für die Transitional Justice?

205

Michele Battini Die Wahrheitsfrage: Gerechtigkeit, Erinnerung und Geschichte

219

III. Historikerkommissionen und Erinnerungskulturen Constantin Goschler Allerjüngste Zeitgeschichte als Chance und Problem. Das Projekt zur Erforschung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ und ihrer 231 Partnerorganisationen Martin Sabrow Expertenkommissionen in der DDR-Aufarbeitung

245

Filippo Focardi Die Deutsch-Italienische Historikerkommission und die Konstruktion einer „gemeinsamen Erinnerungskultur“. Nationale Dimensionen, bilaterale 259 Beziehungen und europäische Rahmenbedingungen Luca Baldissara Die Konstruktion einer Erinnerung zwischen Vergangenheit und Zukunft. 285 Zur Erinnerungspolitik in Europa

Inhalt

IV. Kommentar Axel Schildt In der Welt historischer Kommissionen. Oder: Die Spezifik der DeutschItalienischen Historikerkommission 315 Christoph Cornelißen e Paolo Pezzino Introduzione 329 Autorenverzeichnis

347

Register der Institutionen Personenregister Ortsregister

357

353

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VII

Christoph Cornelißen und Paolo Pezzino

Einleitung

Schon seit einigen Jahren erfahren Historikerkommissionen eine Hochkonjunktur. Ihre Anfänge lassen sich bis in die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen. Seit den 1950er Jahren spielten sie dann bei der geschichtspolitischen Verständigung über nationale und Blockgrenzen hinweg erneut eine wichtige Rolle. Die letzte Zäsur markiert das Ende des Kalten Krieges, mit dem sowohl unter quantitativen als auch qualitativen Gesichtspunkten eine neue Phase für die Geschichte der Historikerkommissionen begann.¹ Denn immer öfter ernannten seitdem Regierungen und öffentliche Einrichtungen, aber auch private Unternehmen, Stiftungen, Verbände oder Vereine Historikerkommissionen, wenn es darum ging, aktuelle, in einigen Fällen erregte öffentliche Auseinandersetzungen über historische Konflikte sowie Forderungen nach einer Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht mittels einer geschichtswissenschaftlichen Klärung und Bewertung zu moderieren.² Eines der jüngeren Beispiele bildet hierfür die Entscheidung der italienischen und deutschen Regierung vom November 2008 auf einem deutsch-italienischen Gipfel in Triest, eine bilaterale Historikerkommission einzurichten. Den konkreten Anstoß gab ein Urteil des italienischen Kassationsgerichtshofs in Rom, das – entgegen der Rechtsauffassung der Bundesregierung – Einzelklagen ehemaliger italienischer Militärinternierter gegen die Bundesrepublik Deutschland auf Entschädigung für ihre Zeit in deutscher Haft zwischen 1943 und 1945 für rechtens erklärt hatte. Als Militärinternierte wurden von den Nationalsozialisten die über 600.000 italienischen Soldaten bezeichnet, die nach dem Waffenstillstand vom 8. September 1943 zwischen Italien und den Alliierten von der Wehrmacht gewaltsam entwaffnet und nach Deutschland deportiert wurden, wo die meisten sodann Zwangsarbeit leisten mussten. Das umstrittene Urteil führte beide Länder vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Dort wurde in einem Urteil vom 3. Februar 2012 (Jurisdictional Immunities of the State. Germany v. Italy. Greece Intervening) mit großer Mehrheit – zwölf Ja- gegen drei Nein-Stimmen – festgestellt, dass Italien die Staatenimmunität der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen des Völkerrechts verletzt habe. Deswegen forderte der

 Siehe dazu Marina Cattaruzza/Sascha Zala, Negotiated History? Bilateral historical commissions in twentieth century Europe, in: Harriet Jones/Kjell Östberg/Nico Randeraad (Hrsg.), Contemporary History on Trial. Europe since 1989 and the Role of the Expert Historian. Manchester/New York 2007, S. 123 – 143.  Einen Zwischenbericht bieten dazu im Blick auf Deutschland: Christian Mentel/Niels Weise, Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus. Stand und Perspektiven der Forschung, hrsg. von Frank Bösch u. a. München 2016. Siehe auch Oliver Rathkolb, Die späte Wahrheitssuche. Historikerkommissionen in Europa, in: Historische Anthropologie 8, 2000, S. 445 – 453. https://doi.org/10.1515/9783110541144-001

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Christoph Cornelißen und Paolo Pezzino

Internationale Gerichtshof die italienische Regierung dazu auf, alle gegenteiligen Entscheidungen der dafür zuständigen Gerichtshöfe aufzuheben.³ Wegen der unterschiedlichen Rechtsauffassung der italienischen und deutschen Regierung wurde der neuen Historikerkommission die Aufgabe übertragen, die Umstände und Folgen der deutschen Kriegsführung in Italien nach dem Ausscheiden Italiens aus dem Zweiten Weltkrieg im September 1943 zu untersuchen, wobei sie ein besonderes Augenmerk auf die italienischen Militärinternierten legen sollte. Beide Seiten erhofften sich, über die sorgfältige Rekonstruktion der historischen Vorgänge eine Grundlage für eine gemeinsame Erinnerungskultur zu schaffen. Ein derartiges Anliegen muss grundsätzlich ambivalent erscheinen, gehört doch zu einer Wesenserscheinung demokratisch verfasster Gesellschaften, dass sie diskordante Erinnerungskulturen dulden. Noch fragwürdiger wirken daher heute modische Appelle zur Begründung transnationaler kollektiver Gedächtnisse. Tatsächlich sollten die Ansprüche an und von Historikerkommissionen weit nüchterner formuliert werden. Im Kern geht es ihnen darum, die Kenntnis oder vielleicht sogar das Bewusstsein für die Sichtweisen und Erfahrungen der jeweils anderen Seite über die historischen Konflikte und die sich daran anschließenden Deutungskämpfe zu fördern. Ihr Potenzial liegt nicht zuletzt darin begründet, dass sie den öffentlichen Diskurs zumindest ein Stück weit von den wechselseitigen Anklagen der streitenden Parteien befreien können, indem sie die bewussten oder auch unbewussten historischen Fehlwahrnehmungen oder Falschdarstellungen rivalisierender Gruppen korrigieren und stattdessen andere, geschichtswissenschaftlich verifizierte Deutungen offerieren.⁴ In diesem Sinne sind Historikerkommissionen idealerweise im Schulterschluss mit anderen Institutionen (vor allem im Bildungswesen und in den Medien) darum bestrebt, den öffentlichen Erinnerungskulturen eine stärker selbstreflexive Dimension zu verleihen. Auf diese Weise kann es gelingen, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum Grundsteine für den kritischen Umgang mit einer konfliktreichen Geschichte zu legen. Darüber hinaus können Historikerkommissionen einen – wenn auch kleinen – Beitrag zu all den Versuchen leisten, mit Hilfe der Rechtsprechung ein gerechtes Urteil über schwerwiegende Kollektivverbrechen in zuweilen weit zurückliegenden Epochen zu erreichen.

 Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy: Greece intervening), nachzulesen auf der Seite des Internationalen Gerichtshofs unter http://www.icj-cij.org/en/case/143, (letztmalig abgerufen am 12.9. 2017).  Alexander Karn, Depolarizing the Past. The Role of Historical Commissions in Conflict Mediation and Reconciliation, in: Journal of International Affairs 60, 2006, S. 31– 50.

Einleitung

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Historikerkommissionen seit dem Ende des Kalten Krieges Wenn man sich den Prüfauftrag an die Deutsch-Italienische Historikerkommission vergegenwärtigt, lassen sich daran verschiedene Tendenzen ablesen, die insgesamt das seit dem Ende des Kalten Krieges geradezu boomende Feld charakterisieren. Erstens ebnete der Untergang der kommunistisch beherrschten Regime in Osteuropa den Weg zu einer grundsätzlichen Neubewertung der Diktaturen des 20. Jahrhunderts, in deren Mittelpunkt die Ergründung der lange nur wenig beachteten Massenkriegsverbrechen der faschistischen Regime im Zweiten Weltkrieg rückte. Schon im Laufe der 1980er Jahre brachten ehemalige Zwangsarbeiter im „Dritten Reich“ sowie ihre Rechtsvertreter diese Auseinandersetzung in Gang, wobei keineswegs allein staatliche Instanzen, sondern insbesondere auch große und internationale Wirtschaftsunternehmen wie die Daimler-Benz AG oder Volkswagen ins Visier gerieten. Diese mussten zur Kenntnis nehmen, dass eine zuvor nur zögerliche oder gar nicht stattgefundene Beschäftigung mit der eigenen Rolle im „Dritten Reich“ nun drohte, geschäftsschädigende Wirkungen zu entfalten.⁵ Aus diesem Grund setzten diese Unternehmen Historikerkommissionen mit einem umfassenden Prüfauftrag ein, die wenige Jahre später die Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit in voluminösen Bänden vorlegten.⁶ Seit den 1990er Jahren folgte ihnen eine massive Welle von Historikerkommissionen zur Behördenforschung, die sukzessive einzelne Ministerien und obere Behörden des „Dritten Reiches“ auf ihre Rolle und ihre konkrete Mitwirkung an der NSVerbrechenspolitik untersuchten. Den Anfang machte eine Studie zum Auswärtigen Amt, die eine breite öffentliche und zuweilen hoch polemisch ausgetragene Debatte in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit über die „Verstrickungen“ der Angehörigen des Ministeriums und der Diplomatie im „Dritten Reich“ auslöste.⁷ Bis heute hält der Trend zur „Behördenforschung“ ungebrochen an und erstreckt sich inzwischen auch auf lange Zeit nur wenig beachtete Forschungsfelder. Dazu zählt beispielsweise die Geschichte der Agrarwirtschaft und Agrarplanung, die seit Juli 2016 von einer vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) eingesetzten internationalen Historikerkommission untersucht wird. Ihr Auftrag besteht in

 Dietmar Henke, Vorwort des Herausgebers, in: Johannes Bähr (Hrsg.), Die Dresdner Bank in der Wirtschaft des Dritten Reichs. München 2006, S. IX – X.  Hans Mommsen/Manfred Grieger, Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich. Düsseldorf 31997 [1996]. Vgl. dazu Neil Gregor, History to Order? Commissioned Research, Contained Pluralism and the Limits of Criticism, in: Zeitgeschichte-online, Dezember 2012, www.zeitgeschichte-on line.de/thema/history-order (letztmalig abgerufen am 12.9. 2017).  Martin Sabrow/Christian Mentel (Hrsg.), Das Auswärtige Amt und seine umstrittene Vergangenheit. Eine deutsche Debatte. Frankfurt a. M. 2014.

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Christoph Cornelißen und Paolo Pezzino

der „Erforschung der Vergangenheit des BMEL im Kontext der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts“.⁸ Ein zweiter, für viele Historikerkommissionen seit den 1990er Jahren konstituierender Faktor machte sich in den postsozialistischen Staaten bemerkbar, denn hier rückten nach dem Untergang der kommunistischen Regime drängende Fragen nach der Verantwortung und der Schuld der ehemals regierenden Eliten auf die Tagesordnung. Dass ein solches Begehren angesichts seiner politischen und sozialen Konsequenzen von hoch explosiver Natur war, liegt geradezu auf der Hand. Es verwundert daher kaum, dass Historikerkommissionen besonders in den Transformationsstaaten Ost- und Ostmitteleuropas zu einer gängigen Einrichtung wurden. In einer Phase, in der das genaue Ausmaß der Durchherrschung dieser Gesellschaften durch die vorangegangenen kommunistischen Regime alles andere als geklärt war und sich darüber außerdem zahlreiche Ansprüche auf Wiedergutmachung oder – im Gegenteil – Verbote einer weiteren Beschäftigung im öffentlichen Dienst oder die Abberufung von Posten ergaben, drängte sich der Ruf nach „unabhängigen“ Historikerkommissionen geradezu auf. Aus dieser Gemengelage entstand beispielsweise in Polen im Jahr 1998 auf der Basis eines parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens das Polnische Institut für das Nationale Gedächtnis (Instytut Pamięci Narodowej, IPN), dessen Hauptaugenmerk sich zwar auf die Untersuchung der Methoden und Übergriffe der stalinistischen Repression richtete, das gleichzeitig aber auch Historikerkommissionen mit der Untersuchung der Geschichte des Holocaust sowie der kontroversen polnisch-jüdischen Beziehungen beauftragte.⁹ Der Konjunktur von Historikerkommissionen seit den 1990er Jahren lag jedoch noch ein drittes Moment weit tiefgreifenderer Natur zugrunde. Es handelte sich dabei um den allgemeinen geschichtskulturellen Wandel, der im Zuge der Abkehr von den nationalen „Meistergeschichten“ an die Stelle der zuvor meist hoch gewürdigten nationalen Helden nunmehr weit prominenter das Schicksal der Opfer von Gewalthandlungen in den Mittelpunkt der öffentlichen Betrachtung rückte. Der Wandel machte sich ebenso in den Medien bemerkbar, wo historisch erlittenem Unrecht öffentliche Beachtung geschenkt wurde. Vielen Menschen wurden nun erstmals historische Geschehnisse zugänglich gemacht, die sich jenseits ihrer eigenen Erfahrungshorizonte abgespielt hatten. Diese Entwicklung verknüpfte sich rasch mit Forderungen danach, den „Opfern“ historischer Verbrechen nunmehr endgültig die ihnen zustehende Wiedergutmachung widerfahren zu lassen. Angesichts der dafür in Aussicht gestellten materiellen Ressourcen, aber auch im Kampf um eine vordere Position

 Ein Zwischenbericht der Kommission findet sich unter: https://www.bmel.de/DE/Ministerium/_Tex te/Historikerkommission_Zwischenbericht.html?nn=310768 (letztmalig abgerufen am 21.9. 2017). Für Aufsehen sorgte außerdem zuletzt die Publikation von Manfred Görtemaker/Christoph Safferling, Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit. München 2016.  Die offizielle Homepage findet sich unter http://www.ipn.gov.pl/. Vgl. dazu Elazar Barkan [u. a.] (Hrsg.), Shared history. Divided memory. Jews and others in Soviet-occupied Poland, 1939 – 1941. Leipzig 2007.

Einleitung

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in der öffentlichen Aufmerksamkeit, rief dies fast zwangsläufig die Konkurrenz unterschiedlichster Opfergruppen auf den Plan. Denn ganz offensichtlich hatte der Kalte Krieg viele offene „historische Rechnungen“ hinterlassen, die genau in dem Moment erneut präsentiert wurden, als sich die Grenzen in Europa öffneten. Die wachsende Bereitschaft staatlicher oder auch privater Stellen, mit Hilfe von Historikerkommissionen die düsteren Kapitel ihrer Vergangenheit ausleuchten zu lassen, wurde zudem, viertens, von einem weiteren, praktischen Faktor begünstigt. Die sukzessive Öffnung von Archiven in Osteuropa sorgte nämlich dafür, dass neue Erkenntnisse über die NS-Besatzungsherrschaft, vor allem aber über die NS-Vernichtungspolitik, erstmals an die Oberfläche gelangten. Hierüber kamen grundlegende Untersuchungen des NS-Vermögensentzugs sowie der Rolle von Banken und Versicherungen bei der Ausplünderung von Vermögenswerten jüdischer und anderer Personen in Gang, die aus rassistischen oder politischen Gründen verfolgt worden waren.¹⁰ In diesem Zusammenhang sorgten nicht zuletzt konträre Auffassungen über die sich daraus ergebenden Ansprüche auf Wiedergutmachung dafür, dass neue Historikerkommissionen eingesetzt wurden. Dies gilt auch für die Schweiz, wo sowohl die Diplomatie und Politik als auch die weitere Öffentlichkeit zunächst verständnislos reagierten, als Anfang der 1990er Jahre der Vorwurf aufkam, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hätten im Zweiten Weltkrieg vom wirtschaftlichen Austausch mit dem „Dritten Reich“ und hierbei auch wissentlich von der Enteignung jüdischen Eigentums profitiert. Auf dem Höhepunkt der politischen Krise betrauten Parlament und Regierung eine aus neun international renommierten Experten zusammengesetzte Kommission mit der Erforschung der wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungen der Schweiz zu den kriegführenden Staaten des Zweiten Weltkrieges sowie mit den in der Nachkriegszeit staatlicherseits ergriffenen Maßnahmen zur Restitution unrechtmäßig in die Schweiz gelangten Vermögens. Im Zeichen des sich einenden Europa rückten schwierige Fragen nach der Kollaboration staatlicher Stellen, privater Unternehmen und bekannter Persönlichkeiten mit dem NS-Regime gleichzeitig in vielen anderen Ländern auf die Agenda. Selbst im äußersten Westen des Kontinents, in Spanien, sorgten erinnerungspolitische Auseinandersetzungen im Jahr 2011 dafür, dass der scheidende spanische Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero noch kurz vor dem Amtswechsel eine Expertenkommission einsetzte, um das vier Jahre zuvor verabschiedete Gesetz zur geschichtlichen Erinnerung in die Praxis umzusetzen. Schon als die Kommission einberufen wurde, war freilich klar, dass sie die gesetzten Ziele wegen des anstehenden Regierungswechsels kaum mehr erreichen konnte. Offensichtlich lastete aber der Druck auf der Politik so hoch, dass rasch Antworten auf geschichtspolitisch brisante Fragen gefunden werden sollten.

 Clemens Jabloner (Hrsg.), Schlussbericht der Historikerkommission der Republik Österreich. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich. Zusammenfassungen und Einschätzungen. Wien 2003. Zu den Berichten der Schweizer BergierKommission siehe die Angaben unter www.uek.ch/de/index.htm (letztmalig abgerufen am 21.9. 2017).

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Christoph Cornelißen und Paolo Pezzino

Alle diese Entwicklungen führten in den öffentlichen geschichtspolitischen Kontroversen immer wieder zu einer erheblichen Emotionalisierung, die sich verschiedentlich sogar zu einem regelrechten Brandbeschleuniger zu entwickeln und damit die gerade erst auf neue Gleise gestellten nachbarschaftlichen Beziehungen schwer zu belasten drohte. In genau dieser Lage entschieden sich Verantwortungsträger aus Politik und Gesellschaft für die Einrichtung von Historikerkommissionen, denen dann in der Regel der Auftrag gegeben wurde, eine wissenschaftliche Klärung der komplexen historischen Sachverhalte anzustreben sowie Empfehlungen auszusprechen, wie ein verantwortlicher Umgang in der Gegenwart mit in der Vergangenheit erlittenem Unrecht ausfallen könne.¹¹ Obwohl es weiterhin allein den Gerichten oblag, individuelle Formen der Schuld für Kriegsverbrechen und für Verstöße gegen die Menschheit zu ermitteln und darüber ein Urteil zu fällen, nahmen Historikerinnen und Historiker auch hierbei eine bedeutsame Rolle ein. Als Experten für die Geschichte traten sie immer öfter im Zeugenstand vor Gericht auf. Darin trat eine bemerkenswerte Abschleifung der Grenzen zwischen der Geschichtswissenschaft auf der einen Seite und der Rechtswissenschaft bzw. der Rechtsprechung auf der anderen Seite zum Vorschein, die als eines der charakteristischen Merkmale einer sich neu formierenden Geschichtskultur eingestuft werden kann.¹² In der rechts- und sozialwissenschaftlichen Forschung führte dies zur Begründung und zum raschen Ausbau von Instituten zur Transitional Justice.

Transitional Justice und Historikerkommissionen Die inzwischen konsolidierte Forschungsrichtung untersucht unter dem Oberbegriff der Transitional Justice unterschiedlichste Formen des gesellschaftlichen und politischen Umgangs mit Verbrechen, die von Diktaturen oder während eines Bürgerkrieges begangen worden sind. Im Kern zielen die unter diesem Etikett entstehenden Studien auf den Übergang von autoritären oder totalitären Regimen zur Demokratie ab und werfen die Frage danach auf, wie mit Tätern und anderen Verantwortlichen umgegangen, also wie diese für ihr Handeln nachträglich zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Nach dem Ende der Militärdiktaturen im südlichen Lateinamerika stand in den 1980er Jahren zunächst dieser Raum im Mittelpunkt des Interesses, bevor die politischen Umbrüche in den ehemaligen Ostblockstaaten sowie die Überwindung der südafrikanischen Apartheid und der Untergang autoritärer Regime in verschiedenen Staaten Afrikas und Asiens den Blick der Forschung auch dorthin lenkten. Im Zentrum eines durchaus breiten öffentlichen Interesses stand dabei lange Zeit die Tätig Karn, Depolarizing the Past.  Charles S. Maier, Doing History, Doing Justice. The Narrative of the Historian and of the Truth Commission, in: R. I. Rotberg/D. Thompson (Hrsg.), Truth v. Justice. The Morality of Truth Commissions. Princeton 2000, S. 261– 278; Norbert Frei [u. a.] (Hrsg.), Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit. München 2000.

Einleitung

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keit der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission, deren Erfolge für eine dauerhafte gesellschaftliche oder gar politische Versöhnung inzwischen eher reserviert beurteilt werden.¹³ Insgesamt jedoch vollzog sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Rahmen der Transitional Justice ein bedeutsamer Veränderungsprozess, denn das Interesse verlagerte sich von der Rekonstruktion der historischen und juristischen Wahrheit mittels rechtsstaatlich garantierter Strafverfahren auf neue, der Aussöhnung dienende Ansätze. Hierüber rückte das Ziel in den Vordergrund, auf der Basis einer vermeintlich von allen Seiten geteilten Erinnerung sowohl den gesellschaftlichen als auch den supranationalen Zusammenhalt zu stärken.¹⁴ Für das Forschungsfeld der Transitional Justice lassen sich zwei größere Bereiche unterscheiden. Zum einen geht es um die Retributive Justice, d. h. die auf Bestrafung ausgerichtete Gerechtigkeit. In diesem Zusammenhang erweisen sich die Kriegsverbrecherprozesse direkt im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg als wegweisende Verfahren, auf die unzählige Folgeprozesse in den nachfolgenden Jahrzehnten aufbauen konnten.¹⁵ Gleichzeitig deutet die in vielen Staaten erst späte, zuweilen erst in den 1990er Jahren forcierte Wiederaufnahme dieser Prozesse auf erhebliche Widerstände und erfolgreiche Verzögerungsmanöver sowohl von Seiten politischer als auch gesellschaftlicher Eliten hin. Diese Zurückhaltung erklärte sich mitunter – wie etwa in den deutsch-italienischen Beziehungen – damit, dass staatliche Interessen der Durchführung von Kriegsverbrecherprozessen entgegenstanden. So verzichtete die italienische Regierung nach 1945 lange auf ein Auslieferungsbegehren gegen deutsche Kriegsverbrecher, musste sie doch ihrerseits fürchten, mit ähnlichen Ansprüchen konfrontiert zu werden; hauptsächlich ging es darum, andere ausländische Staaten (darunter die Sowjetunion, Griechenland, Albanien, Äthiopien und vor allem Jugoslawien) davon abzuhalten, Auslieferungsbegehren gegen italienische Kriegsverbrecher durchzusetzen. Am Ende konnten diese alle im eigenen Land verbleiben;

 Anne K. Krüger, Transitional Justice, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 25.01. 2013, http:// docupedia.de/zg/Transitional_Justice?oldid=125451 (letztmalig abgerufen am 21.9. 2017); Kathryn Sikkink, The Justice Cascade. How Human Rights Prosecutions are Changing World Politics. New York 2011; Fatima Kastner, Retributive versus restaurative Gerechtigkeit. Zur transnationalen Diffusion von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen in der Weltgesellschaft, in: Regina Kreide/Andreas Niederberger (Hrsg.), Staatliche Souveränität und transnationales Recht. München 2010, S. 194– 210; Manfred Berg/Bernd Schaefer (Hrsg.), Historical Justice in International Perspective. How Societies are Trying to Right the Wrongs of the Past. Cambridge 2009.  Vgl. den Beitrag von Michele Battini in diesem Band.  Wolfgang Form, Transitional Justice. Alliierte Kriegsverbrecherprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa, in: Kerstin von Lingen (Hrsg.), Kriegserfahrung und nationale Identität in Europa nach 1945. Erinnerung, Säuberungsprozesse und nationales Gedächtnis. Paderborn 2009, S. 52– 73; Norbert Frei (Hrsg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Göttingen 2006.

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und auch in Italien mussten sie – mit ganz wenigen Ausnahmen – keine Verfahren befürchten.¹⁶ Auf internationaler Ebene setzte erst in den 1990er Jahren eine grundlegende Wende ein, als im Zeichen der Jugoslawienkriege das Fehlen effektiver Instrumente für ein Konfliktmanagement immer offenkundiger wurde und dies lautstarke Appelle für eine völkerrechtliche Bestrafung der Verantwortlichen beförderte. Zu diesem Zweck wurde im Mai 1993 vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien errichtet, der zum ersten Mal seit den Kriegsverbrecherprozessen von Nürnberg und Tokio die Aufgabe hatte, Kriegsverbrechen juristisch zu ahnden und die für den Kriegsausbruch und die Kriegsführung Verantwortlichen zu verurteilen.¹⁷ Einen weiteren Sprung nach vorn markierte der Beschluss aus dem Jahr 1998 zur Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. Zum anderen geht es bei der Transitional Justice um Formen der Restorative Justice, womit die Wiedergutmachung für erlittene Leiden gemeint ist. Die restaurative Gerechtigkeit strebt die Wiederherstellung von älteren „Zuständen“ immer dann an, wenn Menschen ihres Eigentums beraubt wurden oder Einschränkungen ihrer staatsbürgerlichen Rechte, Diskriminierungen im Beruf, wirtschaftliche Ausbeutungen oder Ähnliches erleiden mussten. Weiterhin werden damit Formen der wirtschaftlichen Wiedergutmachung und Reparationen bezeichnet, darunter Kompensationszahlungen in Form von Renten, unterschiedliche Leistungspakete aus Gesundheits- und Bildungswesen oder auch Unterstützung durch juristischen Beistand. Zuletzt betrifft dieser Bereich auch Varianten der symbolischen Wiedergutmachung.¹⁸ Hierbei stellt sich allerdings immer wieder die grundsätzliche Frage danach, wie es Pier Paolo Portinaro an anderer Stelle formulierte, ob die internationale Strafjustiz überhaupt sinnvoll den Anspruch aufzustellen vermag, Recht über eine entfernte Vergangenheit zu sprechen, denn damit werde der Tatbestand verdeckt, dass das Recht kein Instrument zur Umformung der Vergangenheit abgeben kann.¹⁹ Gleichzeitig fällt unter den Punkt der restaurativen Gerechtigkeit die Gründung von Memorialen oder Denkmälern zur Erinnerung an Opfer, öffentliche Gedenkveranstaltungen, Entschuldigungsgesten oder auch das Eingeständnis von Verantwortungsträgern, die Verantwortung für das verbrecherische Handeln ihrer Institutionen

 Filippo Focardi/Lutz Klinkhammer, La questione dei „criminali di guerra“ italiani e una Commissione di inchiesta dimenticata, in: Contemporanea. Rivista di storia dell ’800 e del ’900 4, 2001, S. 497– 528. Siehe ebenfalls Marco De Paolis/Paolo Pezzino, La difficile giustizia. I processi per crimini di guerra tedeschi in Italia 1943 – 2013. Roma 2016.  Richard A. Whalen, Judging History. The Historical Record of the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, in: Human Rights Quarterly 27, 2005, S. 908 – 942.  Eine knappe Zusammenfassung des italienischen Falls findet sich bei: Paolo Pezzino, Italy, in: Lavinia Stan/Nadya Nedelsky (Hrsg.), Encyclopedia of Transitional Justice, Bd. 2, Cambridge 2012, S. 248– 254.  Pier Paolo Portinaro, I conti con il passato. Mailand 2011, S. 24.

Einleitung

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zu übernehmen. Die Tätigkeit von Historikerkommissionen gehört ebenfalls in den Bereich der symbolischen Wiedergutmachung. Ihre Hauptaufgabe ist es, Kontroversen zwischen Ländern über deren jeweilige Verantwortung zu schlichten oder eine Verantwortungsgemeinschaft bei der Transition zur Demokratie zu erreichen.

Zu den politischen sowie fachlich-theoretischen Herausforderungen an Historikerkommissionen Die Institutionalisierung von Historikerkommissionen wirft in der gegenwärtigen Forschungslandschaft unterschiedlichste Fragen auf. Hierbei spielt immer wieder der Vorwurf eine prominente Rolle, wonach die von Regierungen oder anderen öffentlichen und privaten Institutionen beauftragten Historikerkommissionen mit ihren Berichten nach einer „offiziellen Wahrheit“ strebten. Dies konstituiere einen fundamentalen Gegensatz zur Logik der historischen Forschung, unabhängig von der Politik, von Institutionen oder auch spezifischen Vorgaben zu einem wissenschaftlich fundierten Urteil zu gelangen.²⁰ Außerdem prägten die Ergebnisse von Historikerkommissionen die offizielle politisch formierte Erinnerungskultur. Die Tätigkeit in solchen Kommissionen belaste die Historiker mit Aufgaben, die eigentlich nicht zu ihrem „Beruf“ gehörten. Da die Auftraggeber von den beteiligten Historikern einen Beitrag zur Versöhnung unterschiedlicher Gruppen auf lokaler, nationaler oder sogar internationaler Ebene erwarteten, werde der historischen Forschung eine eindeutige Mission auf den Weg gegeben. Gleichzeitig werde der Historiker direkt und offen zum Akteur der politischen Versöhnung und der Konstruktion einer neuen gesellschaftlichen Identität auf dem Weg von der Diktatur zur Demokratie. Bei einer solchen Instrumentalisierung der Geschichte für den öffentlichen Diskurs stellt sich daher umso drängender die Frage danach, wie die Historiker überhaupt noch eine Pluralität von Identitäten und auch eine Pluralität von Sichtweisen vermitteln können, wenn sie gleichzeitig ausgewählte Positionen privilegieren. Die dem Historiker angestammte Rolle als „Hüter der Wahrheit“ sollte gewiss nicht überzeichnet werden. Seine Aufgabe besteht zunächst einmal in der plausiblen Rekonstruktion von Ereignissen, sicherlich aber nicht in der Begründung von Identitäten. Er kann vielmehr die Wege der Vergangenheitspolitik offenlegen, was sich vielleicht mit dem Vorgehen von sarazenischen Piraten vergleichen lässt: Der Historiker nimmt bei seiner Arbeit alles räuberisch mit, was sich als nützlich erweisen könnte. Und auch wenn er sich offen dazu bekennt, wird genau dies – und durchaus zu Recht – als ein feindliches Handeln begriffen. Historiker dürfen keinen Identitätskonstrukten trauen; ihnen geht es darum, einen Nachweis für die Pluralität von Handlungen zu erbringen,

 Christoph Cornelißen, Historie im politischen Auftrag? Zur ambivalenten Rolle nationaler und internationaler Historikerkommissionen, in: Claudia Fröhlich/Harald Schmid (Hrsg.), Brauchen Demokratien Geschichte? Stuttgart 2013, S. 201– 206 (= Jahrbuch für Politik und Geschichte 3).

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im Grunde ein komplexes Bild von Vorgängen zu zeichnen, die sonst eher eindimensional gedeutet werden. Sie müssen die Erfindung von Traditionen entlarven und kollektive Gedächtnisse dekonstruieren, die Kontexte in einen weiteren Rahmen einbeziehen und eben nicht in einen engeren. Während die Identitätspolitiken regelmäßig zu Vereinfachungen und Verallgemeinerungen führen, unterscheidet, zergliedert, analysiert der Historiker oder er sät sogar Zweifel. Yosef Hayim Yerushalmi beschrieb dementsprechend, dass „Gott im Detail“ aufzufinden ist, während die Erinnerung auf ihre Art gegen das Faktum aufbegehrt.²¹ Die philologische Forschung, die hohe Beachtung der Quellen und ihr Gebrauch, das Methodenbewusstsein der Historiker, sie alle dienen dazu, Fragen zu stellen, und dies im Bewusstsein, dass die Antworten letztlich vom Stand der Quellen abhängen. Ohne Demut, Toleranz und die Einsicht, dass unterschiedliche Deutungen innerhalb der Grenzen von Plausibilität immer möglich sind, kann der Historiker nicht erfolgreich arbeiten. Dies alles zeigt, dass die historische Forschung eine große zivile Errungenschaft darstellt, die sich gegen offensichtliche Verfälschungen eines Revisionismus wendet, während sie durchaus einen kritischen Revisionismus anerkennt, der Stereotype und Gemeinplätze auf den Prüfstand stellt – denn genau dies ist die Aufgabe einer kritischen historischen Forschung. Sie richtet sich gegen das Vergessen, gegen die Homogenisierung oder Nivellierung der historischen Rekonstruktion entlang politischideologischer Vorgaben. Der Historiker muss sich, so banal dies klingt, an Fakten halten, ohne darüber seine interpretatorische Deutungskraft einzuschränken. Es geht um das Studium der Quellen, wobei genau zwischen Tatsachenbehauptungen und Deutungen zu unterscheiden ist. Nach einem Jahrhundert der Ideologien, die auf der kontinuierlichen Manipulation der Geschichte beruhten, aber auch in einer Zeit, in der Fake News die öffentlichen Diskurse bestimmen, sind solche Feststellungen erneut wichtig geworden. Ungeachtet der angeführten Probleme wäre es deswegen mehr als voreilig, auf Historikerkommissionen zu verzichten, jedenfalls dann, wenn die Freiheit der Forschung und insbesondere die Wahlfreiheit der Themen gewährleistet bleiben.²² Angesichts der heutigen Konjunktur von Historikerkommissionen müssen ihre Aktivitäten von Fall zu Fall geprüft werden, indem man ihre Gründung, ihre Zusammensetzung, ihre Arbeitsweisen, ihre Ergebnisse sowie deren Nutzanwendung durch die Auftraggeber einer kritischen Analyse unterzieht. Genau dies ist das Anliegen dieses Bandes.

 Yosef Hayim Yerushalmi, Ein Feld in Anatot. Versuche über jüdische Geschichte. Berlin 1993 [Paris, 1988], S. 20 – 21.  Moshe Zimmermann, Aufklärung und Anstoß. Über den Nutzen von Historikerkommissionen, in: Fröhlich/Schmid (Hrsg.), Brauchen Demokratien Geschichte, S. 207– 212.

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Zur Anlage dieses Bandes Der vorliegende Band basiert auf einer Tagung, die am 9. und 10. Oktober 2014 in der Accademia dei Lincei in Rom stattgefunden hat. Wie die Tagung verfolgt auch der Sammelband erstens das Ziel, eine Bestandsaufnahme der Vielfalt gegenwärtiger Historikerkommissionen vorzunehmen. Zweitens sollen ihre genauen historischen Entstehungsbedingungen und Arbeitsaufträge vorgestellt sowie drittens die Probleme und Grenzen ihrer Tätigkeit kritisch reflektiert werden. In organisatorischer Hinsicht sind die hier abgedruckten Aufsätze drei größeren Blöcken zugeordnet. Einleitend geht es um die Rolle internationaler und nationaler Historikerkommissionen, danach um das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Historikerkommissionen und Rechtsprechung sowie die Rolle, die Historiker als Experten vor Gericht oder vor Parlamentsausschüssen eingenommen haben. Abschließend geht es um den Beitrag von Historikerkommissionen bei der Konstruktion bzw. auch Dekonstruktion von Erinnerungskulturen. Bereits die einleitenden Aufsätze von Wolfgang Schieder (Köln) und Mariano Gabriele (Rom) zur Deutsch-Italienischen Historikerkommission machen deutlich, dass solche Institutionen nicht einfach einen Ersatz für politisches Handeln abgeben können. Die Ergebnisse der Arbeit der Deutsch-Italienischen Historikerkommission zeigen vielmehr, dass in der Regel ein langer Atem notwendig ist, um zum einen belastende Themen aus der Geschichte des Zweiten Weltkrieges bilateral auf wissenschaftlicher Grundlage aufzuarbeiten sowie zum anderen die Öffentlichkeiten der betroffenen Länder mit den Ergebnissen der historischen Forschung vertraut zu machen. Gleichwohl ist es der zwischen 2009 und 2012 tätigen Historikerkommission möglich gewesen, der historischen Forschung neue Perspektiven für eine zukünftige Ergründung des deutschen „Krieges gegen die Zivilbevölkerung“ in Oberitalien aufzuzeigen. Darüber hinaus wurde deutlich, dass die Vertreter der italienischen Opferverbände erst dank der Empfehlungen der Kommission ihren Forderungen auch in Deutschland eine größere Durchschlagskraft verleihen konnten. Dieser Erfolg erklärt sich damit, dass die Kommission ihre Aufgabe erstens darin erkannte, Verfahren zu entwickeln, mit denen sich verschiedenartige kollektive Erinnerungen überhaupt wissenschaftlich fassen lassen. Zweitens ging es ihr darum, einen übergreifenden methodischen Ansatz zu finden, der langfristig italienische und deutsche Kriegserinnerungen aus einer einheitlichen historischen Perspektive betrachten würde. Die Historikerkommission bemühte sich also nicht um eine historische Rekonstruktion großenteils gegensätzlicher deutscher und italienischer Erinnerungsprozesse, sondern suchte nach einem neuen methodischen Zugriff darauf, um auf diesem Weg die hartnäckigen Vorurteile in beiden Ländern zu korrigieren. Sie regt deshalb an, sich künftig bei der historischen Aufarbeitung des deutsch-italienischen Verhältnisses im Zweiten Weltkrieg nicht nur mit den Haupt- und Staatsaktionen zu befassen oder der reinen Kriegsgeschichte nachzugehen, sondern auch die individuellen Erfahrungen der Zeitgenossen in den Blick zu nehmen.

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Die Deutsch-Italienische Historikerkommission hat in ihrem Bericht einige Empfehlungen ausgesprochen, welche die Regierung der Bundesrepublik Deutschland dazu veranlasst haben, einen italienisch-deutschen Zukunftsfonds zur Finanzierung von Forschungsvorhaben einzurichten. In enger Zusammenarbeit befinden das italienische Außenministerium und die Abteilung „Cooperazione Internazionale“ über förderungswürdige Projekte.²³ Zu den bislang abgeschlossenen Vorhaben zählt ein von der „Associazione Nazionale Partigiani d’Italia“ [Nationale Vereinigung der Widerstandskämpfer in Italien] sowie des nationalen Instituts „Ferruccio Parri“ aus Mailand gefördertes und mit mehr als 120 Mitarbeitern durchgeführtes Projekt zu den Opfern der deutschen Kriegsverbrechen in ganz Italien.²⁴ Die im vorliegenden Sammelband zusammengeführten Überlegungen über bilaterale oder auch trilaterale Historikerkommissionen westeuropäischer Staaten mit Ländern aus Ostmittel- und Osteuropa demonstrieren, dass bei Debatten und Projekten dieser Art das Erbe sowohl der Besatzungsverbrechen als auch von Flucht und Vertreibung während und nach dem Zweiten Weltkrieg von großer Bedeutung sind. Im Hinblick darauf brachen regelmäßig scharfe geschichtspolitische Kontroversen aus, wie Raoul Pupo (Triest) mit Blick auf die Kommissionen Italien-Slowenien und Italien-Kroatien ausführt. Im Oktober 1993 richteten die beteiligten Außenministerien auf dem Wege eines Notenaustauschs diese beiden gemischten historisch-kulturellen Kommissionen ein. Der ursprüngliche Vorschlag, sich mit der Arbeit der Kommissionen auf die Geschichte der Foibe zu beschränken, wurde allerdings wesentlich abgewandelt. Während die Mitglieder der italienisch-slowenischen Historikerkommission nach stürmischen Debatten im Jahr 2000 immerhin noch einen gemeinsamen Abschlussbericht zustande brachten, nahm die geplante italienisch-kroatische Kommission ihre Arbeit nie auf. Aus Pupos italienischer Perspektive fällt eine Bilanz über den „Tag der Erinnerung“ nach zehn Jahren demgemäß vielschichtig aus. Zwar fehlte es nicht an groben Instrumentalisierungen der Geschichte im öffentlichen Diskurs, doch das plötzliche und massive politische, mediale und historiographische Interesse an den Ereignissen in der östlichen Adria hat sowohl die Erforschung der Beziehungen zwischen Italien und den Südslawen als auch die Verbreitung der Erkenntnisse darüber auf nachhaltige Weise gefördert. Im Gegensatz zur Geschichte der Kommissionen von Italienern und Südslawen beschreibt Christoph Cornelißen (Frankfurt a. M.), wie sich die Deutsch-TschechischSlowakische Historikerkommission mittlerweile einer 25-jährigen Existenz erfreut. Dies darf auch als ein Hinweis darauf verstanden werden, dass es in der Tat eines sehr langen Atems bedarf, um mit Hilfe von gemeinsam erarbeiteten Empfehlungen früher vergiftete geschichtspolitische Kontroversen zu beruhigen. Bei der DeutschTschechisch-Slowakischen Historikerkommission ging und geht es jedoch ebenfalls  http://www.italien.diplo.de/Vertretung/italien/it/08-kultur-und-bildung/Erinnerungskultur/Erin nerungskultur.html (zuletzt abgerufen am 28. Juli 2016).  Siehe dazu: http://www.straginazifasciste.it/ sowie Gianluca Fulvetti/Paolo Pezzino (Hrsg.), Zone di guerra, geografie di sangue. L’Atlante delle stragi naziste e fasciste in Italia (1943 – 1945). Bologna 2016.

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nicht darum, Kompromissformeln für eine gemeinsame, „ausgehandelte“ Geschichte zu finden. Sie verfolgte und verfolgt vielmehr das Ziel, auch bei politisch hochgradig verminten Themen einen für alle Seiten verständlichen Standpunkt zu erarbeiten. Der Kommission ist es dabei gelungen, national-politisch aufgeladene Kontroversen durch einen geregelten wissenschaftlichen Austausch zu moderieren und damit über ihre Funktion als ein politisches Instrument zur Förderung des bi- bzw. trinationalen Austauschs zu einem integralen Bestandteil der deutsch-tschechisch-slowakischen Forschungslandschaft heranzuwachsen. Am Anfang vieler internationaler Historikerkommissionen standen vielfach Bemühungen um eine „Entgiftung“ von Lehrplänen und Schulbüchern. Hans-Jürgen Bömelburg (Gießen) und Thomas Strobel (Braunschweig) berichten in ihrem Aufsatz von ihren Erfahrungen in der Gemeinsamen Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission. Schon vor Ende des Kalten Krieges hat es zahlreiche Schulbuchkommissionen gegeben; seit den 1990er Jahren hat sich ihre Arbeit jedoch nochmals erheblich intensiviert, wenngleich einige Schlüsselprobleme sich bis heute gehalten haben. So zeigt sich auch im Fall der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission, dass die politische Vorstellung, die Schulbuchkommission solle „ein gemeinsames“ Geschichtsschulbuch schreiben, wegen der unterschiedlichen Organisation des Schulbetriebs und der Genehmigungsverfahren für neue Schulbücher, aber auch wegen politischer Querschüsse in beiden Ländern in der Praxis bislang nicht zu verwirklichen war. In einem weiteren Aufsatz des ersten Themenabschnitts erläutert Martin Schulze Wessel (München) die Geschichte der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission, die nicht als politisches Projekt, sondern von den Historikerverbänden beider Länder initiiert wurde. Gleichzeitig ist sie einer politisch besonders aufgeladenen Situation ausgesetzt – was ihr zu großer öffentlicher Aufmerksamkeit verhilft, da sie im Jahr 2015 nach dem Majdan und der russischen Annexion der Krim sowie während des kriegerischen Konflikts um die ostukrainischen „Volksrepubliken“ Donec’k und Luhans’k gegründet wurde. Die junge Kommission verfolgt das Ziel, die gravierenden Belastungen der deutsch-ukrainischen Geschichte zu bearbeiten, obwohl sich diese aktuell nicht negativ bemerkbar machen. Um Vorwürfen gleichsam präventiv zu begegnen, haben in den letzten Jahren verschiedene Ministerien und Bundesbehörden in Deutschland die Strategie gewählt, von sich aus die NS-Vergangenheit ihrer Institution von Fachleuten aus der Geschichtswissenschaft untersuchen zu lassen. Kaum eine Kommission rief öffentlich ein solches Echo hervor wie die Arbeit der „Unabhängigen Historikerkommission zur Geschichte des Auswärtigen Amtes“. In seinem Beitrag zeichnet Eckart Conze (Marburg) zunächst die Entstehungsgeschichte der Kommission nach und thematisiert sodann detailliert die Schärfe der nachfolgenden öffentlichen Auseinandersetzung über die Publikation „Das Amt und die Vergangenheit“. Diese habe sich aus unterschiedlichen Quellen gespeist. Dazu gehörte eine mit dem Wahlsieg von SPD und Grünen 1998 und mit der Bildung einer rot-grünen Bundesregierung an Intensität gewinnende Auseinandersetzung über „1968“ sowie die Rolle Joschka Fischers bei

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den Frankfurter „Häuserkämpfen“. Ohne diese Auseinandersetzungen ist wiederum die sogenannte „Nachrufaffäre“ der Jahre 2004/05 nicht zu verstehen, die um die Frage kreiste, ob und wie das Auswärtige Amt ehemaliger Diplomaten gedenken sollte, die zwischen 1933 und 1945 der NSDAP oder einer anderen NS-Organisation angehört hatten. Im Grunde gingen die kontroversen Debatten in der Öffentlichkeit weit über die Frage der NSDAP-Mitgliedschaften hinaus. Denn was galt eigentlich zu unterschiedlichen Zeitpunkten in den Jahrzehnten nach 1945 – und letztlich bis heute – als NS-Belastung? Dahinter scheint, so Conze, immer wieder die Frage auf, wie sich die westdeutsche Gesellschaft trotz der gar nicht zu bestreitenden NS-Belastung in der Weise demokratisieren und liberalisieren konnte, wie es in der historischen Literatur beschrieben worden ist. Dass der Aufgabenbereich von Historikerkommissionen weit über die Funktionen öffentlicher Behörden und anderer Institutionen hinausreicht, dokumentiert der Beitrag vom Tim Schanetzky (Jena) zur Rolle von Historikerkommissionen im Auftrag großer Wirtschaftskonzerne. Dies bezieht sich in erster Linie auf die Bundesrepublik Deutschland, wo von 1983 bis zur Gegenwart Großunternehmen rund 30 größere Forschungsaufträge an Einzelpersonen oder Kommissionen vergeben haben. Schanetzky resümiert die Entwicklungen auf diesem Feld und stellt sie in den Kontext der öffentlichkeitswirksamen Debatten um die Entschädigungen ehemaliger Zwangsarbeiter. Hierbei lässt sich oftmals ein Reiz-Reaktions-Schema verfolgen, denn meist hatte erst die öffentliche Skandalisierung der NS-Vergangenheit eines spezifischen Unternehmens die Auslobung eines entsprechenden Forschungsauftrags an eine Historikerkommission zur Folge gehabt.

Historikerkommissionen und Rechtsprechung Auch in der von all diesen Entwicklungen scheinbar unberührten Schweiz flammten in den 1990er Jahren Kontroversen über das sogenannte „Nazigold“ auf. Dessen Hintergründe wurden seit Ende der 1990er Jahre von einer Kommission aus Juristen und Historikern umfassend ausgeleuchtet. Daniel Thürer (Zürich) merkt jedoch kritisch an, es sei immer schlechte Wissenschaft, die damaligen Geschehnisse anhand von Maßstäben zu bewerten, die sich erst im Nachhinein und gerade als Folge dieser Geschehnisse zu etablieren begannen. Genau das aber sei unter seinen damaligen Historikerkollegen gängige Praxis gewesen. Lutz Klinkhammer (Rom) begibt sich wiederum auf die Spuren des „Schranks der Schande“, der 1996 bei einer römischen Militärjustizbehörde aufgefunden wurde und hunderte von Akten zu Alt-Strafverfahren gegen nationalsozialistisch-faschistische Verbrechen im Zweiten Weltkrieg beinhaltete. Der in der Folge zusammenberufene Untersuchungsausschuss des italienischen Parlaments, an dem sich Klinkhammer selbst als Sachverständiger beteiligt hat, konnte jedoch nach seinem Ermessen weniger zur Debatte beitragen als zum Beispiel journalistische Beiträge. Die Forschungsmöglichkeiten der Sachverständigen im Untersuchungsausschuss des italie-

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nischen Parlaments waren begrenzt, weil die Arbeit der Kommission politischen Erwägungen und Mehrheitsverhältnissen unterworfen war. Auch Paolo Pezzino (Pisa) schildert seine Erfahrungen als Gerichtsgutachter beim Militärgericht in La Spezia, wo er zwischen 2002 und 2004 als Historiker mit einer Rekonstruktion der Vorgänge bei verschiedenen großen Kriegsverbrechen beauftragt worden ist, die deutsche Militärs in Italien (darunter Sant’Anna di Stazzema und Monte Sole-Marzabotto) verübt hatten. Pezzino vergleicht die Arbeitsweise von Historikern und Richtern und argumentiert, dass sie sich ähneln. Er verweist aber auch auf eine Feststellung Peter Mandlers, wonach es eben nicht die Aufgabe des Historikers sei, als Richter oder Schöffe der Gesellschaft aufzutreten, weil im Gerichtssaal ganz andere Regeln gälten als im Studierzimmer des Gelehrten. Mandler schließt daraus, dass die Historiker in den Gerichtssälen durchaus auftreten könnten, allerdings „without illusions about their place and authority there“. Pezzino bestätigt dies vor dem Hintergrund seiner persönlichen Erfahrungen, stelle die Gutachtertätigkeit des Historikers doch nur einen Moment der Ermittlungsarbeit dar, einen Ausgangspunkt von Untersuchungen, die dann den üblichen Modalitäten eines Rechtsverfahrens gehorchten. In den Gerichtssälen könne es in Einzelfällen durchaus zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Historikern und Richtern kommen – nur bedarf es dafür der gebotenen Vorsicht und einer differenzierten, geschichtswissenschaftlichen Sicht auf historische Prozesse und Vorgänge. Im Anschluss daran untersucht Pier Paolo Portinaro (Turin) die Entwicklung sowie die Rolle der Transitional Justice und gelangt zu dem Schluss, dass bei ihr ein zunehmender Synkretismus verschiedener rechtlicher und moralischer Auffassungen aus unterschiedlichen Weltregionen zu beobachten ist. Gerade außerhalb Europas hat sich gezeigt, dass es wegen der hier vorherrschenden gesellschaftlichen Praktiken und kulturellen Traditionen oft schwer falle, Normen des internationalen Strafrechts auf Verfahren bei Verbrechen gegen die Menschheit oder Prozesse aus Anlass von Kriegsverbrechen zu übertragen. Für Portinaro bleibt es daher ungewiss, ob der neue moral frame der internationalen Beziehungen tatsächlich Erfolgsaussichten hat oder doch nur eine „große Heuchelei der Globalisierung“ darstellt. Im letzten Beitrag dieses Kapitels lenkt Michele Battini (Pisa) die Aufmerksamkeit auf Konflikte zwischen den Paradigmen der Rechtswahrheit und der historischen Wahrheit einerseits sowie zwischen der Geschichtsschreibung und der Erinnerung andererseits. In diesem Zusammenhang weist er darauf hin, dass sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Rahmen der Transitional Justice ein bedeutsamer Veränderungsprozess vollzogen hat, insofern sich das Interesse von der Rekonstruktion der historischen und Rechtswahrheit mittels rechtsstaatlich garantierter Strafverfahren auf neue, der Aussöhnung dienende Ansätze verschob. Aus Sicht Battinis macht aber die Differenz zwischen Erinnerung und Geschichtsschreibung eine Untersuchung der Affinitäten und Unterschiede zwischen der Rechtswahrheit und der historischen Wahrheit erforderlich, denn die konfliktreiche Erinnerung innerhalb eines Landes und zwischen verschiedenen Gesellschaften diene oftmals dazu, die juristische Logik abzuweisen und die Verfahren der Versöhnungskommissionen zu

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bevorzugen. Der moderne Memory Boom kompensiere sogar eine falsche Erklärung der Gegenwart mit einer Vergangenheit, die über die Errichtung von Monumenten, über Schauspiele, Feiern und pädagogische Riten drohe, in eine Show oder Mythologie umzuschlagen.

Historikerkommissionen und Erinnerungskulturen Bei der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, über die Constantin Goschler (Bochum) berichtet, handelte es sich um eine Stiftung öffentlichen Rechts. Ein zentrales Motiv für die Gründung war nicht zuletzt, auf diese Weise damals laufende Sammelklagen in den USA abwehren zu können. In seinem Beitrag skizziert Goschler zunächst die Genese der Stiftung, die danach primär für Hilfsleistungen an ehemalige Zwangsarbeiter mit Schwerpunkt in Ost- und Ostmitteleuropa zuständig war. Weiterhin widmet sich sein Aufsatz den Aktivitäten der Stiftung in den Bereichen der Erinnerungskultur, Menschenrechte und des Engagements für NS-Opfer. Hierbei kommt ihr ein Stiftungskapital zugute, das heute rund 450 Millionen Euro umfasst, bislang aber eine Entschädigung der italienischen Militärinternierten ausschließt. Der Beitrag von Martin Sabrow (Potsdam/Berlin) über die Enquetekommissionen zur Aufarbeitung der SED-Vergangenheit rückt die Tätigkeit dieser Kommission in eine historische Traditionslinie seit dem Untersuchungsausschuss der Deutschen Nationalversammlung aus dem Jahr 1919, die sich mit Schuldfragen des Ersten Weltkrieges beschäftigt hat. Sabrow führt den politischen Auftrag an die Kommission auf den Wandel eines Geschichtsdiskurses zurück, der sich seit Ende der 1980er Jahre von früheren Mustern der Vergangenheitsverständigung prägnant abhebe. Der Anspruch „Heilung durch Wahrheit, Versöhnung durch Ehrlichkeit“ lässt deutliche Parallelen zum institutionalisierten Aufarbeitungsdiskurs der südafrikanischen Truth-And-Reconciliation-Kommissionen erkennen, offenbart aber zugleich einen konstitutiven Zielkonflikt, der sie bis heute begleitet und vorantreibt. Denn zum einen geht es laut Sabrow um ein akteursbezogenes Versprechen auf Aussöhnung durch Ehrlichkeit, zum anderen aber wird der Anspruch formuliert, die Lehren aus der Geschichte für die Zukunft zu bewahren, also sie von einer Generation auf die nächste zu übertragen. In seinem Beitrag ordnet Filippo Focardi (Padova) die Tätigkeit der Deutsch-Italienischen Historikerkommission in einen breiteren Rahmen ein und weist darauf hin, dass in den öffentlichen Debatten leicht einseitige Schuldvorwürfe das Feld beherrschen. Dies mache die Arbeit der Historikerkommissionen umso notwendiger, weil nur mit ihrer Hilfe ein Beitrag zum Abbau wechselseitiger Mythen geleistet werden könne. Focardi beschreibt es als bemerkenswert, wie leicht noch zuletzt die Frage der Wiedergutmachung für Militärinternierte oder auch der Mythos des „Verrats der Italiener“ aufgebrachte Stimmen in den Öffentlichkeiten Italiens und Deutschlands provozierte. Luca Baldissara (Pisa) diskutiert in seinem Beitrag die Funktion der Historiographie nach Zäsuren in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Er beschreibt die Einigungen Europas nach dem Zweiten Weltkrieg über den Antifaschismus, nach

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dem Zusammenbruch der Sowjetunion durch den Antitotalitarismus. Laut Baldissara hat in den öffentlichen Diskursen ein Paradigmenwechsel stattgefunden, der immer stärker die Opfer in den Fokus der Erinnerungskulturen gerückt habe. Zudem erwiesen sich juristische Verfahren zwar nicht ausschließlich, aber eben auch als politische Akte, als Gründungsakte des internationalen Rechts, das dem Friedensgedanken gehorche und über dem Nationalinteresse stehe. Gleichzeitig weist Baldissara auf die Rückwirkungen europäischer Initiativen für die Entfaltung einer Memorialkultur zum heiklen Thema der Kriegsverbrechen hin. Ohne die Medien aber könnten die Historikerkommissionen auch in diesen Fällen ihre Tätigkeit kaum erfolgreich durchführen.

Kommentar In seinem abschließenden Kommentar rückt Axel Schildt (Hamburg) die Konjunktur der Historikerkommissionen seit den 1990er Jahren in ein kritisches Licht. Er führt sie primär auf eine politische und mediale Logik zurück, in der die Kommissionen in ihrer Funktion als Expertenkollektiv die Prominenz einzelner Historiker abgelöst haben und damit beauftragt werden, mit der „Suggestion des Abgeschlossenen“ die „Wahrheit“ festzustellen. Schildt argumentiert, dass es bei der Diskussion um Verbrechenskomplexe des Zweiten Weltkrieges primär um die Skandalisierung des Umgangs mit dem Themenfeld und der Kontinuitätslinien ging. Die „Welt der Historikerkommissionen“ bietet für ihn einen willkommenen Anlass, die Doppelrolle der Historikerzunft als Wissenschaftler und Angehörige einer Gruppe „halbfreier“ Berufe kritisch zu reflektieren.

Danksagung Die Durchführung der Tagung an der Accademia dei Lincei sowie die Drucklegung der Beiträge wären ohne die großzügige Förderung verschiedener Institutionen nicht möglich gewesen. An erster Stelle danken die Herausgeber dem Präsidenten vom „Centro Linceo Interdipartimentale ‚Beniamino Segreʻ“ von der „Accademia dei Lincei“ in Rom, Professor Dr. Tito Orlandi, der die prestigereichen Räume seines Hauses für die Veranstaltung zur Verfügung stellte und die Tagung ebenfalls finanziell unterstützte. Auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft sind die Verantwortlichen zu großem Dank verpflichtet, da erst über die von ihr geleisteten Zuschüsse die bilaterale deutsch-italienische Verständigung über die Aufgaben und Probleme von Historikerkommissionen durchgeführt werden konnte. In nicht minderem Maße sind wir der Deutschen Botschaft in Rom zu Dank verpflichtet und in noch weit größerem Maße dem Deutschen Historischen Institut in Rom und namentlich seinem Direktor, Professor Dr. Martin Baumeister, denn er ermöglichte uns die Übersetzung der italienischsprachigen Beiträge ins Deutsche. Für die hervorragende Übersetzungsarbeit danken wir Dr. Gerhard Kuck vom Deutschen Historischen Institut in Rom. Last but not

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least richtet sich dieser Dank auch an Carla Reitter, die am Frankfurter Lehrstuhl für Neueste Geschichte die redaktionelle Überarbeitung des Bandes übernommen hat und sich dieser Aufgabe mit großem Engagement widmete.

I. Zu den Aufgaben internationaler und nationaler Historikerkommissionen

Wolfgang Schieder

Drei Jahre Deutsch-Italienische Historikerkommission 2009 – 2012 Um zu wissenschaftlichen Gesprächen zu kommen, benötigen Historiker verschiedener Länder eigentlich keine von Politikern ad hoc geschaffenen bilateralen Kommissionen. Die Geschichtswissenschaft ist, wie andere Wissenschaften auch, nicht national begrenzt, sondern international angelegt. Das gilt auch für deutsche und italienische Historiker. Sie arbeiten seit langem auf den verschiedensten Feldern bestens zusammen, auch und gerade in der zeitgeschichtlichen Forschung. Sie erschließen neue Quellen, tragen wissenschaftliche Kontroversen aus und treten wechselseitig in Italien oder Deutschland mit Vorträgen oder auf Kongressen in Erscheinung. Es ist deshalb eher ein politisches Krisenzeichen, wenn zwischen zwei Staaten für einen begrenzten Zweck vorübergehend eine Historikerkommission eingesetzt wird. Ganz offensichtlich besinnen sich Politiker, wenn sie nicht mehr weiter wissen, auf die Historiker. Diese müssen für sie wie die Feuerwehr einspringen, um kleinere oder größere politische Brände zu löschen, an deren Beseitigung die Politik selbst gescheitert ist oder sie sollen politische Versäumnisse nachträglich wiedergutmachen. Die Erwartungen an die Historiker sind meistens groß, sie gehen aber in der Regel von falschen Voraussetzungen aus. Die Geschichtswissenschaft kann aktuelle politische Fehlleistungen nicht ersetzen, sie kann auch nicht ohne weiteres Probleme lösen, an denen die Politik gescheitert ist; sie hat vielmehr ihre eigenen Gesetze. Sie ist im Gegensatz zur Politik auf Dauer angelegt, nicht auf kurzfristige Ergebnisse, sie verfolgt keine politischen Interessen, sondern versucht sich von diesen zu befreien. Dem Ruf der Politik zu folgen und für sie bestimmte Aufgaben zu übernehmen, ist deshalb für Historiker keineswegs unproblematisch. Schnell setzen sie sich dem Verdacht aus, reine Auftragsforschung zu betreiben, eine reine politische Beratungstätigkeit zu übernehmen oder nur das zu erforschen, was der Politik genehm ist. Auch die Tätigkeit der Deutsch-Italienischen Historikerkommission, die von 2009 bis 2012 im Auftrag der Außenminister Deutschlands und Italiens gearbeitet hat, muss selbstverständlich als politische Auftragsforschung angesehen werden.¹ Das ergibt sich schon daraus, dass die jeweils fünf Mitglieder der Kommission allein von den Außenministern der beiden Länder ausgewählt worden sind, ohne dass einzelne Historiker oder ihre Verbände darauf Einfluss hatten. Die Kommission erhielt zwar vollständige wissenschaftliche Forschungsfreiheit und wurde während ihrer dreijährigen Tätigkeit auch kein einziges Mal von ihren Auftraggebern unter Druck gesetzt. Es wurde jedoch erwartet, dass sie sie den Außenministern am Ende einen Bericht über  Siehe dazu www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Meldungen/2012/121218-D-ital_Histo rikerkomm.html. https://doi.org/10.1515/9783110541144-002

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ihre Tätigkeit vorlegte. Dieser Bericht wurde im Dezember 2012 den Außenministern in Rom überreicht und von diesen politisch bewertet.² Allerdings hatten sie keinerlei politische Sanktionsmöglichkeiten. Sie konnten den Bericht weder zurückweisen noch korrigieren, vielmehr mussten sie ihn hinnehmen, so wie er ihnen vorgelegt wurde. Die wissenschaftliche Unabhängigkeit der Kommission wurde somit gewahrt. Anlass für die Einsetzung der Kommission war die Entscheidung italienischer Gerichte, dass Einzelklagen ehemaliger italienischer Militärinternierter gegen die Bundesrepublik Deutschland auf Entschädigung für ihre Zeit in deutscher Haft zwischen 1943 und 1945 rechtens seien. Als Militärinternierte wurden von den Nationalsozialisten die über 600.000 italienischen Soldaten bezeichnet, die nach dem Waffenstillstand vom 8. September 1943 zwischen Italien und den Alliierten von der Wehrmacht gewaltsam entwaffnet und nach Deutschland deportiert worden sind, wo die einfachen Soldaten unter ihnen Zwangsarbeit leisten mussten.³ Sie sind, anders als Zwangsarbeiter aus anderen Ländern, von der Bundesrepublik aus juristischen Gründen bis heute nicht entschädigt worden. Die Klagen ehemaliger Militärinternierter warfen aus Sicht der Bundesregierung das völkerrechtliche Problem auf, ob Einzelkläger überhaupt gegen Staaten klagen dürfen. Um diese völkerrechtliche Frage formal zu klären, reichte die Bundesregierung daher beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag, ursprünglich unterstützt von der italienischen Regierung, eine formale Klage ein. Sie klagte nicht gegen den Inhalt der italienischen Gerichtsurteile, sondern wollte nur deren rechtliche Zulässigkeit klären lassen. Der Gerichtshof entschied am Ende eindeutig, dass individuelle Klagen nicht zulässig seien, womit die italienischen Gerichtsentscheidungen sämtlich hinfällig wurden. Schon die Einreichung der Klage und erst recht das unanfechtbare Urteil führten in Italien zu einer öffentlichen Missstimmung, die zu einem italienisch-deutschen Politikum zu werden drohte. Um dieser Gefahr zu begegnen, kamen die damaligen Außenminister der beiden Länder, Steinmeier und Frattini, auf die Idee, eine deutschitalienische Historikerkommission einzusetzen, welche das Schicksal der Militärinternierten untersuchen und durch historische Aufklärung zu einer, wie es hieß, gemeinsamen Erinnerungskultur von Italienern und Deutschen beitragen sollte. Völkerrechtliche Probleme, wie die Frage einer Entschädigung der ehemaligen Militärinternierten durch die Bundesrepublik Deutschland, gehörten ausdrücklich nicht zum Arbeitsauftrag der Kommission. Eine Historikerkommission hätte auch gar nicht über juristische Probleme urteilen können. Es handelte sich gleichwohl um einen wissenschaftlichen Forschungsauftrag zu politischen Zwecken. Die Deutsch-Italienische Historikerkommission verstand ihren Auftrag, zu einer gemeinsamen Erinnerungskultur von Italienern und Deutschen beizutragen, nicht als  Zum Bericht siehe: http://m.italien.diplo.de/contentblob/4733184/Daten/3476747/hikostudie.pdf. Die Erklärung der Außenminister findet sich unter: http://m.italien.diplo.de/contentblob/4733182/Da ten/ 2924603/hikoredewest.pdf.  Vgl. Gabriele Hammermann, Zwangsarbeit für den „Verbündeten“. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der italienischen Militärinternierten in Deutschland 1943 – 1945. Tübingen 2002.

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Aufforderung, die komplexen erinnerungspolitischen Diskurse in den beiden Ländern zum Gegenstand ihrer Untersuchungen zu machen. Sie hielt es vielmehr sogar für fraglich, ob man überhaupt von einheitlichen nationalen Erinnerungskulturen sprechen könne. Erst recht hielt es die Kommission für unmöglich, ohnehin schon diffuse nationale Erinnerungskulturen mit den ebenso uneinheitlichen Erinnerungskulturen anderer Länder zu verbinden. Sie sah ihre Aufgabe deshalb erstens darin,Verfahren zu entwickeln, mit denen sich verschiedenartige kollektive Erinnerungen überhaupt wissenschaftlich fassen lassen. Zum zweiten ging es ihr darum, einen übergreifenden methodischen Ansatz zu finden, der langfristig italienische und deutsche Kriegserinnerungen aus einer einheitlichen historischen Perspektive betrachten würde. Die Historikerkommission bemühte sich also nicht um eine historische Rekonstruktion großenteils gegensätzlicher deutscher und italienischer Erinnerungsprozesse, sondern suchte nach einem neuen methodischen Zugriff auf diese. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen war für die Kommission die historische, stark in Vergessenheit geratene Tatsache, dass Deutschland und Italien im Zeichen der von Mussolini am 1. November 1936 ausgerufenen „Achse Berlin-Rom“ im Zweiten Weltkrieg politisch, wirtschaftlich und besonders militärisch aufs engste miteinander verbunden waren. Die Mitglieder der Kommission waren einhellig der Auffassung, dass das fatale faschistische Achsenbündnis nicht aus der historischen Erinnerung ausgeklammert werden darf, sondern vielmehr als Ursache aller späteren Missverständnisse und Konflikte angesehen werden muss. Die von Mussolini und Hitler immer wieder beschworene „Waffenbrüderschaft“ war auf dem Balkan, in Nordafrika, in Frankreich und in der Sowjetunion, ungeachtet mancher Gegensätze, eine historische Realität. Deutsche und italienische Soldaten verstanden sich als „Kameraden“, die im Geist eines faschistischen Herrschaftsanspruches miteinander verbunden waren. Der immer wieder beschworene „Kameradschaftsgeist“ ging auch nach den kriegsentscheidenden Niederlagen von 1942 bei Stalingrad und El Alamein nicht verloren, welche Deutsche und Italiener gemeinsam auf die militärische Verliererstraße gebracht hatten. Umso größer war auf beiden Seiten der Schock, als nach Mussolinis Sturz der Waffenstillstand zwischen Italien und den Alliierten vom 8. September 1943 und die brutale Reaktion der Wehrmacht darauf diese militärische Gemeinsamkeit mit einem Schlag beendeten. Eben noch die engsten Freunde, standen sich deutsche und italienische Soldaten plötzlich als erbitterte Feinde einander gegenüber. Italien wurde in zwei Teilstaaten aufgespalten, die faschistische Republik Mussolinis im Norden und das königliche Italien im Süden, welche ihre Existenz den beiden Kriegsparteien, dem nationalsozialistischen Deutschland bzw. den westlichen Alliierten, verdankten. Diese komplexe Gemengelage, die während des Zweiten Weltkrieges in Europa ihresgleichen suchte, war die wichtigste Ursache dafür, dass in Italien und Deutschland nach dem Ende des Krieges höchst unterschiedliche, in vieler Hinsicht gegensätzliche Erinnerungen an den Krieg entstanden und absichtsvoll gepflegt wurden. In der Bundesrepublik Deutschland geriet die massive Besatzungspräsenz, die von 1943 bis 1945 insgesamt etwa eine Million deutscher Soldaten nach Italien führte, weitgehend in Vergessenheit. Man wollte sich vor allem nicht mehr an die zahlreichen

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Übergriffe von Einheiten der Waffen-SS, aber auch der Wehrmacht auf die italienische Zivilbevölkerung erinnern, die nicht selten den Charakter regelrechter Massaker angenommen haben. Nach der in der deutschen Öffentlichkeit lange Zeit vorherrschenden Meinung soll sich die Wehrmacht in Italien durchweg korrekt verhalten haben. Als widerrechtlich im Sinne des Völkerrechts wurde dagegen der Partisanenkampf der italienischen Resistenza gegen die deutsche Besatzung hingestellt. Es war dies eine Variante der deutschen Nachkriegslegende von der „sauberen Wehrmacht“, die sich nichts habe zuschulden kommen lassen. Alle Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung wurden allein der SS zugeschoben. Dazu trug bei, dass es sich bei den Verantwortlichen für zwei der größten deutschen Kriegsverbrechen, den Kommandeur der Mordaktionen um den Monte Sole im Apennin, Walter Reder, und den Verantwortlichen für die Geiselerschießungen in den römischen Fosse Ardeatine, Herbert Kappler, um Angehörige der SS handelte. Je länger diese beiden Kriegsverbrecher in der Festung Gaeta einsaßen, desto mehr verfestigte sich in Deutschland die öffentliche Meinung, dass in Italien nur die SS für Kriegsverbrechen verantwortlich gewesen sei, nicht aber die Wehrmacht. Da es auch die italienische Justiz nach anfänglichem Engagement im Zeichen des Kalten Krieges, wohl aus Sorge, Italien könnte für seine Kriegsverbrechen auf dem Balkan, in Libyen und Äthiopien verantwortlich gemacht werden, jahrzehntelang versäumte, gegen potentielle deutsche Kriegsverbrecher vorzugehen, sahen sich deutsche Strafverfolgungsbehörden erst recht nicht veranlasst, tätig zu werden. Wenn im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik somit die Tendenz bestand, die nationalsozialistische Repressionspolitik in Italien möglichst herunterzuspielen, so war der Kampf gegen die deutsche Besatzung in der öffentlichen Erinnerung der Italiener nach 1945 jahrzehntelang das beherrschende Thema. Die Legende vom kollektiven Widerstand gegen die Deutschen schuf einen Mythos, der die Gründung der Italienischen Republik im Jahre 1946 historisch legitimierte, weil in ihn alle Parteien außer den Neofaschisten einbezogen werden konnten. Inzwischen ist zumindest in der historischen Forschung unbestritten, dass der Mythos vom allgemeinen Widerstand gegen den „Nazifaschismus“ (nazifascismo), d. h. nur den Faschismus, der in der Repubblica Sociale Italiana mit der nationalsozialistischen Besatzung kollaborierte, ein erinnerungspolitisches Konstrukt war. Dieses beruhte auf einem politischen Kompromiss zwischen den Regierungen der Democrazia Cristiana und den Linksparteien der Kommunisten und Sozialisten. Als der PCI und der PSI im Jahr 1947 im Zeichen des beginnenden Kalten Krieges von Alcide De Gasperi aus der seit 1946 bestehenden demokratischen Allparteienregierung mit dem Vorwurf nationaler Unzuverlässigkeit hinausgeworfen wurden, diente den Linksparteien die Rückbesinnung auf den gemeinsamen Widerstand gegen den „nazifascismo“ als Hebel, die antifaschistische Einheit aller Demokraten zu beschwören. Um einen möglicherweise drohenden Bürgerkrieg zu verhindern, ließen sich die christdemokratischen Regierungen auf die erinnerungspolitische Fiktion eines sogenannten „Verfassungsbogens“ (arco costituzionale) ein, von dem nur die Neofaschisten ausgeschlossen wurden. Obwohl die Kommunistische Partei trotz aller Öffnungen der Democrazia Cristiana nach links

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nie an der Regierung beteiligt wurde, blieb auch sie den bürgerlichen Regierungen über die Fiktion eines gemeinsamen Widerstandes erinnerungspolitisch unterschwellig verbunden. Die Resistenza wurde auf diese Weise geradezu politisch sakralisiert und jahrzehntelang kritischer Reflexion entzogen. Sowohl die Durchsetzung der deutschen Wehrmachtslegende als auch die Heroisierung der Resistenza trugen dazu bei, dass sich im gegenseitigen Verhältnis von Deutschen und Italienern nach dem Zweiten Weltkrieg trotz aller Annäherungen pauschale Feindbilder hielten, welche der historischen Realität zwar immer weniger entsprachen, jedoch bei Bedarf erinnerungspolitisch instrumentalisiert werden konnten. Das zeigte sich etwa dann, wenn stereotype Feindbegriffe aktualisiert werden konnten, die meist schon im Ersten Weltkrieg entstanden waren. Auf deutscher Seite wurde vor allem der Vorwurf, die Italiener seien schon 1915 wegen ihres Kriegseintritts an der Seite der Ententemächte „Verräter“ gewesen, nach dem 8. September 1943 erneut aufgegriffen. In Italien stilisierte man sich zu „guten Leuten“ (brava gente), um sich von den Deutschen als „bösen Leuten“ (cattiva gente) abzusetzen, was auch schon im Ersten Weltkrieg üblich war. Die Kommission gab sich nicht der Illusion hin, solche stereotypen Vorurteile kurzfristig beseitigen zu können, sie war sich vielmehr darüber im Klaren, dass Geschichtslegenden nur in einem allmählichen Prozess zerstört werden können. Jedoch sah sie aufgrund ihrer transnationalen Zusammensetzung die Chance, wechselseitig zu einem Prozess historischer Aufklärung beizutragen, der in einem ausschließlich nationalen Rahmen nicht gegeben ist. Um die hartnäckigen Vorurteile in beiden Ländern zu korrigieren, hielt es die Historikerkommission für notwendig, in methodischer Hinsicht neue Wege zu gehen. Sie regte deshalb an, sich künftig bei der historischen Aufarbeitung des deutsch-italienischen Verhältnisses im Zweiten Weltkrieg nicht nur mit den Haupt- und Staatsaktionen zu befassen und der reinen Kriegsgeschichte nachzugehen, sondern auch die individuellen Erfahrungen der Zeitgenossen in den Blick zu nehmen. Sie setzte damit auf das methodische Konzept der Erfahrungsgeschichte. Ein solcher erfahrungsgeschichtlicher Ansatz sollte nach Auffassung der Kommission zu keiner vollständigen Revision bestehender Geschichtsdeutungen führen, wohl aber eine zusätzliche Perspektive neben diesen eröffnen. Er sollte andererseits auf keinen Fall in bloßer Alltagsgeschichte aufgehen. Hier sollte vielmehr Mikrogeschichte immer in wechselseitiger Beziehung zur Makrogeschichte gesetzt werden. Kollektive und individuelle Erfahrungsprozesse stehen nach Auffassung der Kommission in einem permanenten Spannungsverhältnis, das der Historiker austarieren muss, um zu überzeugenden Erkenntnissen zu kommen. Ebenso zu beachten ist, dass eine bloße Addition von Einzelerfahrungen noch keine Allgemeinerfahrung ergibt. Das individuelle Gedächtnis ist immer gesellschaftlich, kulturell, religiös oder politisch bedingt und mit den Erfahrungen anderer Menschen vernetzt. Scheinbar einzigartige historische Einzelerfahrungen werden in vergleichbaren historischen Situationen in ähnlicher Weise auch von anderen Menschen gemacht. Man hat deshalb auch von einem „kommunikativen Gedächtnis“

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gesprochen, das Menschen gruppenweise verbindet. Im persönlichen Gespräch, durch telefonische Kontakte, über Briefwechsel oder elektronisch übermittelte Nachrichten stellen sie, ohne dass ihnen das immer bewusst ist, kommunikative Gruppenerfahrungen her. Erfahrungsgeschichtliche Untersuchungen können daher auf der kommunikativen Vernetzung von Einzelerfahrungen mit bestimmten Gruppenerfahrungen aufbauen. Jeder einzelne Zeitgenosse kann dabei die verschiedensten Gruppenerfahrungen machen. Man muss deshalb von einer Pluralität solcher Erfahrungen ausgehen, welche durch den Historiker gebündelt werden müssen. Wendet man diesen methodischen Ansatz auf die historischen Erfahrungen an, die Deutsche und Italiener miteinander während des Zweiten Weltkrieges gemacht haben, so ergibt sich sofort, dass pauschalisierende Erklärungsmuster wie die deutsche Wehrmachtslegende oder die italienische Verklärung der Resistenza obsolet sind. Sie setzen eindimensionale kollektive Erfahrungen voraus, die angesichts multivarianter individueller Gruppenerfahrungen keinen zeitgenössischen Realitätscharakter gehabt haben können. Ihre Verbreitung beruhte auf nachträglichen Konstruktionen, welche unterstellten, dass die historischen Akteure sich sämtlich nach denselben Handlungsmustern verhalten haben. Die postfaschistische Erinnerungskultur wurde auf diese Weise einseitig gesteuert. Was nicht in das dominante Interpretationsmuster passte, wurde unterdrückt oder der Vergessenheit anheim gegeben. Die Historikerkommission konnte keine explizit erfahrungsgeschichtliche Gesamtdarstellung des Verhältnisses von Deutschen und Italienern im Zweiten Weltkrieg liefern. Dies wäre schon aufgrund der relativ kurzen Zeit ihres Bestehens, aber auch wegen der in dieser Hinsicht noch ganz unzureichenden Forschungslage unmöglich gewesen. In ihrem Bericht versuchte die Kommission deshalb ein wissenschaftliches Denkmodell zu entwerfen, nach dem solche erfahrungsgeschichtlichen Forschungen künftig betrieben werden könnten. Sie insistierte darauf, dass etwa deutsche Soldaten an der Front oder im Hinterland, Partisanen, Kollaborateure in Mussolinis Sozialrepublik, faschistische Parteikader und Polizisten, Fabrikarbeiter oder Frauen jeweils ganz unterschiedliche Gruppenerfahrungen gemacht haben. Dabei war jeweils wichtig, in welchen Erfahrungsräumen und zu welchem Zeitpunkt sich Deutsche und Italiener begegneten. Im Fall der deutschen Soldaten ergab sich, um dies nur an einem Beispiel zu erläutern, dass für diese Gruppe eine gespaltene Erinnerung charakteristisch war. Soldaten, die nur die enge Zusammenarbeit mit den italienischen Waffenbrüdern erlebt hatten, erinnerten sich ganz anders an Italien als diejenigen, die erst nach dem 8. September als Besatzer ins Land gekommen waren. In Sizilien blieb vor allem der gemeinsame Abwehrkampf gegen die alliierten Besatzungstruppen in Erinnerung. Im übrigen Süditalien waren es dagegen die blutigen Auseinandersetzungen mit der Bevölkerung, wie etwa der Volksaufstand in Neapel, welcher nicht nur für das kollektive Selbstbewusstsein der städtischen Bevölkerung von großer Bedeutung war, sondern auch die Erinnerung der beteiligten deutschen Soldaten stark geprägt hat. Im Zentrum und im Norden Italiens machte es schließlich einen großen Unterschied, ob sich Deutsche und Italiener im unmittelbaren Frontgebiet, in der nominell unab-

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hängigen Italienischen Sozialrepublik oder in den sogenannten Operationszonen begegneten. Besonders negativ waren die gegenseitigen Erfahrungen, wo deutsche Soldaten mit Partisanen zusammenstießen, besonders dann, wenn deutsche Militäreinheiten zu Säuberungsaktionen gegen sogenannte Banden von Widerstandskämpfern eingesetzt worden waren. Um das Verhalten der deutschen Soldaten richtig einzuschätzen, muss man daher von situativen Erfahrungsräumen ausgehen, in denen sie mit Italienern aufeinandertrafen. Es gab relativ ruhige, vom Krieg nur wenig berührte Regionen und es gab solche, in denen sich Krieg, Besatzung sowie inneritalienischer Bürgerkrieg dramatisch kumulierten. Die unterschiedlichen Erfahrungsräume ergaben sich auch aus dem Zeitpunkt, zu dem deutsche Soldaten mit italienischen Militärangehörigen, Kämpfern der Resistenza, Amtsträgern der RSI oder mit Angehörigen der Zivilbevölkerung in Berührung kamen. Die deutsche Besatzungsherrschaft war einem ständigen Radikalisierungsprozess unterworfen. Je länger der Krieg dauerte, desto feindseliger begegnete die italienische Bevölkerung den deutschen Besatzungssoldaten, was bei diesen zu negativen Erfahrungen führte. Dass dies auf der Seite der Zivilbevölkerung umgekehrt erst recht so war, versteht sich von selbst. Die Erfahrungen der Italiener mit der deutschen Besatzungsmacht waren grundsätzlich davon abhängig, ob man im aktiven Widerstand gegen diese stand, mit dieser kooperierte oder sich möglichst herauszuhalten suchte, was wohl für die Masse der Bevölkerung zutraf. Je mehr die deutsche Besatzungsherrschaft sich jedoch verschärfte, desto mehr wuchs die Ablehnung der italienischen Bevölkerung gegenüber den Deutschen. Es steht fest, dass in Italien seit dem 8. September 1943 die alltägliche Gewalt eine Grunderfahrung sehr vieler Menschen gewesen ist, die im Einflussbereich der von der deutschen Besatzungsmacht ausgehenden Repression gelebt haben. Für junge Männer war die Angst vor Zwangsrekrutierungen ständig präsent. Frauen mussten sich aufgrund der Abwesenheit der Männer häufig in Doppelrollen bewähren, in der alltäglichen Sorge für die Familie und in offenem Engagement für den republikanischen Faschismus der RSI oder in heimlicher Unterstützung der Resistenza. Zusätzliche Bedrohung ging von dem sich seit dem Sommer 1944 verschärfenden inneritalienischen Bürgerkrieg aus, in dem viele nicht wussten, auf welche Seite sie sich schlagen sollten. Aus erfahrungsgeschichtlicher Sicht muss man auch das paradoxe Verhalten von italienischen Zivilisten zur Kenntnis nehmen, die von Terroraktionen der Wehrmacht und SS betroffen waren. Die Ablehnung der Überlebenden richtete sich häufig nicht gegen die eigentlichen Täter, sondern gegen die Widerstandskämpfer, welche die Massaker vermeintlich provoziert hatten. Diese konnten für die Kriegsverbrechen persönlich haftbar gemacht werden, während die eigentlich Verantwortlichen für die Opfer anonym blieben. Im Einzelnen sind diese erfahrungsgeschichtlichen Zusammenhänge noch wenig erforscht. Stellt man jeweils ihren räumlichen und zeitlichen Kontext in Rechnung, dürfte sich jedoch ein vielschichtiges erfahrungsgeschichtliches Bild ergeben, bei dem die wechselseitigen Erfahrungen unterschiedlicher Personengruppen historisch gewichtet werden können. Ganz nebenbei dürfte dadurch auch bewirkt werden, dass

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nicht mehr pauschal von „den“ Deutschen oder „den“ Italienern gesprochen werden kann, womit diese völkischen Ideologeme verschwinden würden. Besondere Aufmerksamkeit wandte die Historikerkommission ihrem Auftrag gemäß den Erfahrungen der Militärinternierten in deutscher Gefangenschaft zu, die – mit Ausnahme der Offiziere – zu Zwangsarbeit gezwungen worden sind. Ihre zahlreichen, von der Historikerkommission wissenschaftlich aufgearbeiteten Erlebnisberichte lassen sich von ihrer Gefangennahme bis zu ihrer Rückkehr nach Italien besonders gut erfahrungsgeschichtlich auswerten.⁴ Entgegen juristischer Spitzfindigkeit lassen die Erlebnisberichte übereinstimmend erkennen, dass es sich bei den Militärinternierten keineswegs um normale Kriegsgefangene handelte, die nur als „Militärinternierte“ bezeichnet worden sind, weil man es dem nach wie vor als Verbündeten angesehenen Mussolini nicht zumuten wollte, dass seine eigenen Soldaten als Kriegsgefangene bezeichnet wurden. Die Bezeichnung „Militärinternierte“ verschleierte vielmehr auch, dass die einfachen Soldaten unter ihnen vom NS-Regime durchweg als Zwangsarbeiter ausgebeutet wurden. Die über 600.000 italienischen Militärinternierten waren der letzte große Schub von Arbeitern für die Kriegswirtschaft des „Dritten Reiches“. Auch wenn die Kommission zu den damit verbundenen juristischen Problemen nicht Stellung zu nehmen hatte, ließ sie keinen Zweifel daran, dass die Militärinternierten aus geschichtswissenschaftlicher Sicht deshalb ganz ohne Zweifel als Zwangsarbeiter angesehen werden müssen. Die Erfahrungen, die sie als Zwangsarbeiter gemacht haben, waren allerdings sehr unterschiedlich, je nachdem ob sie in der Großindustrie, in kleineren Betrieben oder auf dem Lande eingesetzt worden sind. Große Unterschiede ergaben sich auch daraus, ob sie in bombenkriegsgefährdeten Großstädten, in Arbeitslagern oder in privaten Unterkünften festgesetzt waren. Während sie in meist mit industriellen Großbetrieben verbundenen Arbeitslagern, wie die hohe Zahl von Todesfällen zeigt, ungewöhnlich gelitten haben, überstanden sie die Haft auf dem Lande meist relativ gut. Ob die Militärinternierten und besonders die Offiziere unter ihnen, wie neuerdings in Italien diskutiert wird, im Laufe ihrer Haft einen „militärischen Seitenwechsel“ vom Achsenbündnis zu den Alliierten vollzogen oder sogar „Widerstand ohne Waffen“ geleistet haben, könnte auch durch genauere erfahrungsgeschichtliche Untersuchungen geklärt werden. Auch wenn die Deutsch-Italienische Historikerkommission einen besonderen Akzent auf die italienischen Militärinternierten legte, lag ihr daran, auch andere Opfer der deutschen Besatzungsherrschaft in Italien in den Blick zu nehmen. Sie verwies auf das erschreckende Schicksal tausender italienischer Juden und Zwangsarbeiter, die willkürlich requiriert und nach Deutschland verbracht wurden sowie auf die in deutsche Konzentrationslager verschleppten Antifaschisten verschiedener politischer

 Eine Auswahl dieser Erlebnisberichte ist jetzt in deutscher Übersetzung und ausführlichem Kommentar erschienen. Vgl. Gabriele Hammermann (Hrsg.), Zeugnisse der Gefangenschaft. Aus Tagebüchern und Erinnerungen italienischer Militärinternierter in Deutschland. Berlin/München 2014.

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Couleur. Die Gesamtzahl dieser Gruppierungen war zwar im Vergleich vor allem zu Polen oder in der Tschechoslowakei, sogar auch in anderen westeuropäischen Ländern, vergleichsweise gering. Zu bedenken ist jedoch, dass es sich für die Italiener bei den Deutschen nicht um politische Gegner, sondern um die ehemals besten Freunde handelte, mit denen man bis kurz zuvor noch in gemeinsamer politischer und militärischer Front gestanden hatte. Es kann daher nicht verwundern, dass sich die Italiener, soweit sie im Machtbereich der deutschen Besatzer waren, in einem Zustand kollektiver politischer Bewusstseinsstörung befanden. Die Deutsch-Italienische Historikerkommission war sich darüber im Klaren, dass sie Forschungsprojekte skizziert hat, die nur langfristig realisiert werden können. An die Gräuel des Zweiten Weltkrieges zu erinnern, kann jedoch nicht nur eine Aufgabe der Historiker sein. Ihre Erkenntnisse können nur dann wirksam sein, wenn das gesellschaftliche Umfeld, in dem sie aktiv sind, entsprechend vorbereitet ist. Die Historikerkommission forderte deshalb nachdrücklich zu einem öffentlichen Umdenken auf, das vor allem darin bestehen muss, sich der Erinnerung der anderen zu öffnen. Auf deutscher Seite sollte die in der Öffentlichkeit vorherrschende Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden von Italienern in der Endphase des Zweiten Weltkrieges überwunden werden. Auch wenn der Holocaust mit seiner Vorgeschichte im Zentrum der deutschen Erinnerungskultur bleiben muss, sollten deutsche Kriegsverbrechen anderer Art darüber nicht vergessen werden. Dies gilt auch im komplizierten Fall Italiens, in dem aus Mittätern Opfer wurden. Umgekehrt gilt für die Italiener, dass sie in der öffentlichen Erinnerung nicht auf ihrer Opferrolle beharren können; denn das faschistische Italien war der wichtigste Helfershelfer und Mittäter bei Kriegsverbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands. Die beiden faschistischen Diktaturregime haben in Frankreich, auf dem Balkan, in Afrika und in der Sowjetunion zusammen Krieg geführt und zumindest in Griechenland und Jugoslawien gemeinsam eine brutale Besatzungsherrschaft ausgeübt. Verbrechen, welche die Italiener unter deutscher Besatzung erfahren mussten, haben faschistische Soldaten dort als Besatzer zuvor selbst begangen. Wenn ich meine Mitarbeit in der Deutsch-Italienischen Historikerkommission, die ich als deutscher Vorsitzender zusammen mit dem italienischen Vorsitzenden Mariano Gabriele geleitet habe, rückblickend überschaue, so bleibt ein etwas zwiespältiger Eindruck zurück. Die Zusammenarbeit zwischen den italienischen und deutschen Kollegen verlief zwar durchaus reibungslos, ernsthafte Konflikte in der Kommission gab es nicht. Wir standen jedoch unter erheblichem Zeitdruck, ganz davon abgesehen, dass es einer besonderen Logistik bedurfte, die Sitzungen der Kommission paritätisch in Italien und Deutschland einzuberufen und dafür die Finanzierung zu sichern. Auch wenn wir uns in unserer Forschungsarbeit in keiner Weise behindert sahen, blieb uns jedoch immer bewusst, dass die Kommission aufgrund rein politischer Entscheidungen zustande gekommen war. Bilaterale Historikerkommissionen zweier Länder sollten nach meiner Ansicht deshalb nicht nur für eine kurze Zeit, sondern langfristig eingerichtet, am besten fest institutionalisiert werden. Sie könnten damit die Beziehungen zwischen zwei Ländern kontinuierlich

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begleiten und auf ihre historischen Wurzeln zurückführen. Historische Aufklärung ist ja in den Beziehungen zwischen zwei Ländern nicht nur punktuell, sondern dauerhaft nötig. Zu diesem Zweck empfiehlt es sich, Historikerkommissionen durch eine Stiftung oder durch staatliche Förderung dauerhaft zu finanzieren. Es ist wenig sinnvoll, wenn die Mitglieder einer Kommission ständig um die Finanzierung ihrer Tätigkeit kämpfen müssen. Möglicherweise könnten bilaterale Historikerkommissionen mit fester Finanzierung auf diese Weise von anderen transnationalen Wissenschaftsorganisationen getragen werden. Dafür kämen vor allem die sechs Deutschen Historischen Institute in Rom, Paris, London, Washington, Warschau und Moskau in Frage, die in der MaxWeber-Stiftung vereint sind. Das Deutsche Historische Institut in Rom hat ohnehin schon einen Teil der Arbeit der Deutsch-Italienischen Historikerkommission übernommen. Aus bilateralen Historikerkommissionen könnten sich anderenorts auf die Dauer möglicherweise historische Auslandsinstitute entwickeln. Die Historischen Institute müssten deshalb ihren Charakter nicht verändern, sie könnten selbstverständlich auch weiterhin mit Veröffentlichungen, Zeitschriften,Workshops, Tagungen, Stipendien und Vorträgen zentrale Beiträge zur gemeinsamen Geschichte mit ihren Sitzländern beitragen. Jedoch könnten an ihnen angesiedelte und zusätzlich finanzierte Historikerkommissionen mit Mitgliedern aus dem jeweiligen Gastland die Aktivitäten der Auslandsinstitute verbreitern und diese damit noch fester im Land verankern. Die Historikerkommissionen sollten regelmäßig tagen und ständig gemeinsame Forschungsprogramme weiterentwickeln. Ihre Hauptaufgabe sollte aber die regelmäßige Begegnung mit anderen Historikern sein. Die auf diese Weise vermittelte Kenntnis anderer Wissenschaftskulturen sollte dazu genutzt werden, die eigene ständig kritisch zu überprüfen und gegenseitig eine Art von wissenschaftlicher Kontrollfunktion auszuüben. Gegenüber der Politik könnten solche Historikerkommissionen eine permanente und nicht nur temporäre Beratungsfunktion ausüben. Damit gewönnen sie auf längere Sicht eine Autorität in Fragen des kulturellen Transfers, welche auch für schwierige politische Entscheidungssituationen wichtiger wäre als eine nur punktuelle wissenschaftliche Beratung.

Mariano Gabriele

Die Arbeit der Deutsch-Italienischen Historikerkommission und ihr Echo in Italien Mit der Übergabe des Abschlussberichts im Dezember 2017 in Rom beendete die Deutsch-Italienische Historikerkommission ihren Auftrag, den sie von den Außenministerien der beiden Länder erhalten hatte. Der Abfassung des Berichts war eine Reihe von Studien über die Analogien und Unterschiede zwischen den beiden Achsenpartnern, Rom und Berlin, seit ihrer Annäherung im Jahr 1935 vorausgegangen, wobei sich der Blick sowohl auf den ausdrücklichen Willen der politischen Entscheidungsträger als auch auf die in beiden Ländern über lange Zeit verbreiteten Stereotype und Vorurteile richtete. Nach einer Erörterung der Ereignisse und Erfahrungen, die das faschistische Italien und das nationalsozialistische Deutschland in den Vorkriegsjahren gekennzeichnet hatten, befasste sich die Kommission mit dem deutsch-italienischen Bündnis im Krieg vom 10. Juni 1940 bis zum 8. September 1943. Nicht zuletzt wegen des auf drei Jahre beschränkten Zeitrahmens für ihre Tätigkeit verzichtete sie von vornherein darauf, „eine Gesamtdarstellung der deutsch-italienischen Beziehungen im Zweiten Weltkrieg in Angriff zu nehmen“, die ohnehin nur in einem umfassenderen Zusammenhang geschrieben werden könne. Im Übrigen sei gerade die Kenntnis der gemeinsamen Geschichte in der erwähnten Friedens- und Kriegsphase von entscheidender Bedeutung, um dem erteilten Auftrag angemessen nachkommen zu können. Dieser bestand darin, sich mit der deutsch-italienischen Kriegsvergangenheit und insbesondere dem Schicksal der nach Deutschland deportierten Italienischen Militärinternierten [zu] beschäftigen […], um auf diese Weise zur Schaffung einer gemeinsamen Erinnerungskultur von Deutschen und Italienern beizutragen.

Zum Zweck einer vertieften Kenntnis über die gemeinsame Geschichte wählte die Kommission den methodologischen Ansatz, „die Erlebnisse der Zeitgenossen erfahrungsgeschichtlich aufzuarbeiten“; damit ließen sich auch „die individuellen Interpretationen der Zeitgenossen berücksichtigen, welche diese den historischen Ereignissen gegeben haben.“¹ Natürlich geht es nicht darum, Informationen aus anderen

 Abschlussbericht der Historikerkommission vom Juli 2012, http://www.villavigoni.it/contents/files/ Abschlussbericht.pdf (letztmalig abgerufen am 6.6. 2017), S. 3 – 4. Die Entscheidung, die Historikerkommission einzuberufen, folgte auf die gemeinsame Erklärung vom 18. November 2008 in Triest, worin der deutsche und der italienische Außenminister bekräftigten, die „Ideale von Versöhnung, Solidarität und Integration, die das Fundament des europäischen Aufbauprozesses bilden“, zu teilen. Die Narration der Erfahrungen als Quelle bedarf nun – wie bei jedem Forschungsthema – auf jeden Fall einer kritischen Einschätzung ihres Werts und ihrer Grenzen. Da die Erfahrung immer subjektiv ist, stellt die Erinnerung an sie eine persönliche Deutung dar, die der jeweilige Zeuge auf der Grundlage https://doi.org/10.1515/9783110541144-003

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Mariano Gabriele

Quellen zu verdrängen oder auszuschließen, vielmehr soll die Materialmenge vergrößert werden, um die Perspektiven und Horizonte für die historische Analyse ergänzend zu bereichern, und in einem solchen Rahmen die miteinander verflochtene Geschichte der Italiener und Deutschen von der Proklamation der Achse bis zum Kriegsende besser zu verstehen. Erste exemplarische Nachforschungen haben es dabei der Kommission ermöglicht, nützliches Material über die Reaktionen von Menschen zu sammeln, die in Italien und Deutschland auf persönlicher oder institutioneller Ebene von Aktionen und Ereignissen berührt wurden, die hier Gegenstand des Interesses sind. Als im Herbst 1936 mit der Achse Berlin-Rom die Annäherung zwischen den beiden Hauptstädten ihren Gipfelpunkt erreichte, prägte sich in der italienischen Propaganda und Kulturpolitik immer nachhaltiger eine prodeutsche Orientierung aus. Sie zeigte auch gewisse Erfolge, die allerdings nicht dem vom Regime gewünschten Maß entsprachen. Dazu war die Zeit bis zum Kriegsausbruch zu kurz und zwar umso mehr, weil der Faschismus von der Machtergreifung bis kurz vor der Verständigung mit Deutschland unaufhörlich den Sieg von 1918 gefeiert und ganze Schülergenerationen mit Schriften wie dem Piccolo Alpino und einer spezifischen, heroischen Narration des Ersten Weltkriegs erzogen hatte. Hier traten die Deutschen als Feinde auf, unter die man oftmals auch die Österreicher fasste – vielleicht aus einem unterschwelligen Reflex heraus, sie nicht mit der Schlacht von Caporetto in Verbindung bringen zu wollen. Ferner überwogen am 10. Juni 1940 in den italienischen Schulen die Planstellen für den traditionell starken Französischunterricht noch um ein Vielfaches die Zahl der vorgesehenen Deutschlehrer. Auch die risorgimentalen Stereotype wie „Brotfresser“, „crucchi“ (aus dem Serbokroatischen „kruch“ für Brot) und „tugnitt“ (Dummköpfe, auf lombardisch) überlebten; in Deutschland entsprach ihnen der Ausdruck der „Spaghettifresser“, die in der Vergangenheit verschiedene Pirouetten gedreht und am Ende den Dreibund verraten hätten. In den Volksschichten ist es schwieriger als in gebildeten Kreisen, Stereotype zu überwinden, denn die Hervorhebung eines vermeintlichen Makels anderer schafft die Grundlage dafür, sich im Gefühl der eigenen Superiorität sonnen zu können. Das treibt nicht selten seltsame Blüten, wenn beispielsweise die Italiener gerade aus solchen Schichten, in denen das Brot jahrhundertelang die Hauptspeise bildete, die Deutschen, um sie lächerlich zu machen oder zu beleidigen, als „Brotfresser“ bezeichneten.

persönlicher Gefühle, vorgängiger Erfahrungen und Beeinflussungen von außen vornimmt. Ein hoher direkter Nutzwert dieser Quellengattung ist also im Hinblick auf die Wahrnehmungsmuster und weniger auf eine objektive Zeugenaussage gegeben, erhellt sie doch, auf welche Weise Realität und äußere Ereignisse sich in die subjektive Gefühlswelt und Erinnerung einprägten. Die Ergebnisse können hochinteressant sein, wenn sie sich auf Impulse und Anreize, Werteskalen und Gefühlsveränderungen durch äußere Umstände und Ereignisse richten bzw. – im Gegensatz dazu – eine stereotypische, ideologische Abschließung, die Weigerung, den eigenen Überzeugungen und Hoffnungen widerstehende Realitätsaspekte anzunehmen, erkennen lassen.

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Die nationalsozialistische und faschistische Diktatur gingen unterschiedliche Wege. Das 1922 an die Macht gelangte italienische Regime stand verwandten Bewegungen in anderen europäischen Ländern Modell und erreichte den Höhepunkt des innenpolitischen Konsenses 1936 mit der Proklamation des Imperiums, aber im Verlauf des sofort danach einsetzenden Spanischen Bürgerkrieges wurden seine Fundamente durch die langfristigen Wirtschaftsperspektiven, die Arbeitslosigkeit und das geringe Einkommensniveau untergraben. Im Gegensatz zur exaltierten Mehrheit kamen bei den unmittelbar Betroffenen erste Zweifel auf, ob der zukünftige nationale Ruhm die Nöte und Entbehrungen, denen sie ausgesetzt waren, aufwiegen würde. Hitler und das nationalsozialistische Regime hingegen jagten in den knapp sieben Jahren vom 30. Januar 1933 bis zum 1. September 1939 von einem Erfolg zum anderen: Wiederaufrüstung und strategischer Aufbau der Infrastrukturen schufen Vollbeschäftigung und generierten sogar eine auch für Italien durchaus vorteilhafte Nachfrage nach zusätzlichen Arbeitskräften, während auf politischer Ebene das in Versailles gedemütigte neue Deutschland ohne Krieg das Rheinland zurückgewann, Österreich durch den Anschluss „heimholte“ sowie die Sudeten und das Memelgebiet eroberte. Danach kamen die Liquidierung Polens im Verein mit der Sowjetunion und die Siege in Dänemark, Norwegen und Frankreich. Italiens Kriegseintritt hingegen gebar den verheerenden „Parallelkrieg“, der die Kritik und das Misstrauen der Deutschen voll und ganz rechtfertigte. Während der viertägigen Alpenoffensive wurden 6.029 Italiener – gegenüber 254 Franzosen – außer Gefecht gesetzt, in Griechenland erlitten die italienischen Truppen ein völliges Fiasko, in Afrika lief es noch schlimmer und überall war am Ende das militärische Eingreifen Deutschlands entscheidend. Die italienische Marine kannte die feindlichen Schlachtpläne bei Punta Stilo, wusste damit aber nichts anzufangen und ließ „eine große Gelegenheit“ nutzlos verstreichen;² die Luftwaffe scheiterte am Ziel der „Sterilisierung“ Maltas.³ Ab 1941 ging der Krieg gemeinsam unter deutscher Führung weiter, wobei es nicht an Dissonanzen und Zeichen der Geringschätzung fehlte.⁴ Das Bündnis wurde dadurch noch nicht beeinträchtigt, obgleich der Kriegsalltag den fundamentalen Unterschied zwischen den beiden Militärapparaten auf der Ebene von Theorie, Ausrüstung und Ausbildung nur unterstrich: Ein unterschiedlicher Modernitäts- und Entwicklungsgrad bewirkt zwangsläufig ein voneinander abweichendes Niveau auf strategischer und operativer Ebene. Überdies bildete im NS-Deutschland und in der Sowjetunion – wie Michel

 So Admiral Weichold, Verbindungsoffizier der deutschen Kriegsmarine in Italien.  So benannte Badoglio während der Besprechung vom 25. Juni 1940 in seinem Büro das Ziel für die Luftwaffe; vgl. Stato Maggiore dell’Esercito (Hrsg.), Verbali delle riunioni tenute dal Capo di SM generale, Bd. 1. Rom 1983, S. 62.  Die wahrscheinlich vor dem Waffenstillstand unterschätzt und danach übertrieben wurden. Gemeint waren damit die „Gräueltaten und Schikanen, die die Deutschen gegen die Italiener in Russland und in Italien begingen“ (nach einer Aussage des Leutnants Michele Giubbonari vom 18. Januar) und die üblichen Klagen, dass deutsche Fahrzeuge auf der Flucht die italienischen Soldaten nicht aufgesammelt hätten (aus dem italienischen Tagebuchmaterial sind auch gegenteilige Fälle bekannt).

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Ostenc in seiner neuesten Studie herausgearbeitet hat – die Partei den Eckpfeiler des Regimes, während in Italien der Staat die Hauptrolle spielte und die Partei auf bürokratische Funktionen beschränkt blieb; der „eiserne“ Wille des Duce reichte nicht hin, um die internen Widersprüche zwischen fortschrittlichen Impulsen und konservativen Reaktionen zu überwinden, sodass der Anspruch scheiterte, „d’inscrire les promesses terrestres sur un horizon surhumain.“⁵ Ein deutscher Offizier äußerte, dass der Faschismus eigentlich keine Volksbewegung und nicht wie der Nationalsozialismus im Herzen jedes Einzelnen verankert gewesen sei.⁶ Das erste der fünf Kapitel, in die sich der Kommissionsbericht gliedert, befasst sich mit den verschiedenen Erinnerungskulturen, wie sie sich in Deutschland und in Italien entwickelt haben; ihre Kenntnis erlaubt eine erste Identifizierung der ihnen zugrundeliegenden Mythen und deren Überprüfung anhand der verfügbaren kollektiven und individuellen Erfahrungen. Die Begegnung der Italiener und Deutschen zwischen 1943 und 1945, als der Krieg in häufig destruktiven und brutalen Formen über Italien hinwegzog, kann und muss untersucht werden, um die Spuren, die sie hinterlassen hat, angemessen bewerten zu können. Die Kommission nennt in diesem Zusammenhang drei Hauptforschungsfelder, d. h. erstens die deutschen Soldaten in Italien, zweitens die italienische Bevölkerung in ihrem Verhältnis zur Besatzungsmacht und drittens die italienischen Militärinternierten (IMI). Das zweite Kapitel widmet sich der Perspektive der deutschen Soldaten während des Bündnisses und in der Besatzungszeit. Unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1943 bis 1945 sollen hier anhand der persönlichen Erfahrungen der Soldaten Gegebenheiten aufgearbeitet werden, deren Narration in der unmittelbaren Nachkriegszeit von politischen und militärischen Exponenten in eigennützigem Interesse beeinflusst und verzerrt worden ist. Daraus sind besondere historische Stereotype erwachsen, ja, die Kollektiverinnerung selbst wurde davon beeinflusst, zum Beispiel im Bild vom „ritterlich“ geführten Krieg der Wehrmacht in Italien unter dem Oberbefehl eines „gentleman“⁷, das nicht mit den begangenen Verbrechen überein-

 Vgl. Michel Ostenc, Mussolini. Une histoire du fascisme italien. Paris 2013, S. 321– 322.  Brief des Offiziers der 12. Flugabwehrdivision Werner Flick vom 7. August 1944, wiedergegeben im Bericht K. von Lingens vom 15. April 2010 an die Deutsch-Italienische Historikerkommission (Sammlung Sterz, Zeitgeschichtliche Bibliothek Stuttgart). Dass Hitler „für das Heer wie für das deutsche Volk ein Gott“ sei, hatte im Übrigen ein italienischer Oberst bereits im Sommer 1937 bei einer Dienstreise nach Deutschland angemerkt; in seinem Bericht verwies er auch auf eine hochmütige – seiner Meinung nach im Grunde aber nicht unzulässige – Abwertung der Verdienste und Möglichkeiten Italiens und auf ein geringes Interesse selbst für die Sprache und die Kultur, sodass man befürchten müsse, dass zukünftig das Programm der absoluten Vorherrschaft, die in der Nationalhymne „Deutschland über alles“ zum Ausdruck komme, auch den Italienern zum Schaden gereiche; vgl. Antonio Gandin, Relazione sul soggiorno in Germania, in: Stato Maggiore dell’Esercito (Hrsg.): Memorie storiche militari 1982. Rom 1983, S. 319 – 340.  Basil H. Liddell Hart (History of the Second World War. London 1970, S. 538) bezeichnete Kesselring aus einem rein technischen Blickwinkel als „very able commander“, zum „gentleman“, vgl. die be-

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stimmte, die allein der Waffen-SS angelastet wurden. Mit Blick auf die drei in Italien sich überlagernden Kriegsszenarien, in denen sich Deutsche und Alliierte, Deutsche und RSI-Faschisten einerseits und Widerstand andererseits, Deutsche und Zivilbevölkerung gegenüberstanden, verweisen die Erinnerungen, die neben den zeitlichräumlichen Gegebenheiten von den je individuellen Situationen und Gefühlen beeinflusst werden, auf eine vielschichtige Realität und hochkomplexe Verhältnisse. Die Erfahrungen der italienischen Bevölkerung mit der deutschen Besatzungsmacht bilden das Thema des dritten Kapitels, in dem zunächst die Grundzüge des Besatzungsregimes skizziert werden. Mit Unterstützung der RSI-Kollaborateure organisierten die Deutschen umfassende Repressionsmaßnahmen in den Städten, in der Etappe und in den Gebieten, in denen sich Partisanen befanden oder vermeintlich aufhielten; der Begriff „Repression“ ist dabei ungeeignet und unzureichend angesichts der völlig überzogenen Gewaltanwendung gegenüber der italienischen Zivilbevölkerung, denn er legt – wie im übrigen auch der Ausdruck „Vergeltungsmaßnahme“ – nahe, dass es sich dabei um eine Reaktion auf illegale oder feindliche Aktionen gehandelt habe, womit ihr der Anschein einer vagen, wenn auch menschenverachtenden Rechtfertigung verliehen wird.⁸ Oftmals traf das gar nicht zu, wie die beiden Staatspräsidenten im März 2013 in Sant’Anna di Stazzema bestätigt haben, als sie von brutalen Aktionen sprachen, die darauf zielten, unter den Zivilpersonen, d. h. in erster Linie unter der armen Landbevölkerung, Terror zu verbreiten. Die Kommission hat zu dieser Frage eine eigene Datenbank eingerichtet, in der bei Redaktionsschluss des Berichts für Italien bereits 3.888 Gewaltakte gegen 11.220 Personen verzeichnet waren.⁹ In zeitlicher Hinsicht erfuhr die Gewaltpolitik im Spätfrühling und Sommer 1944 eine weitere Radikalisierung, als die Deutschen sich nach dem Zusammenbruch der Front bei Cassino von der Gustavlinie auf die „Grüne Linie“ zurückzogen, wobei der Kommissionsbericht sich hier auf einige wenige Beispielfälle beschränkt. Die natürliche Folge war nicht nur ein Anwachsen des bewaffneten Widerstands, denn viele Italiener, die nicht im aktiven Widerstand waren und dennoch negative Gefühle gegenüber der Besatzungsmacht hatten, fühlten sich zudem weiterhin als Bürger des Königreichs Italien, das sich mit NS-Deutschland im Krieg befand und im Süden des Landes gegen die Wehrmacht kämpfte. Insofern wurden die Deutschen von diesem Teil der Bevölkerung auch dann als Eindringlinge und als Feinde der legalen Ordnung angesehen, wenn sie sich persönlich keine Übergriffe hatten zuschulden kommen lassen.¹⁰

kannte, von Piero Calamandrei „ad ignominia“ betitelte Inschrift im Atrium des Rathauses von Cuneo: „Lo avrai,/ camerata Kesselring,/ il monumento che pretendi da noi italiani…“.  Das Verb „reprimere“ meint nach dem Dizionario della lingua italiana Nuovo Dardano, „mit Gewalt das bezwingen, von dem eine Gefahr ausgehen kann“.  Abschlussbericht, S. 91 f.  Abschlussbericht, S. 119.

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Das nächste Kapitel des Berichts behandelt das Schicksal der italienischen Militärinternierten (IMI), die im Mandat der Außenminister ausdrücklich erwähnt werden. Nach dem Fall Siziliens und der Entlassung Mussolinis gelang es der Regierung Badoglio am 8. September 1943 unter ungünstigsten Bedingungen, den Waffenstillstand abzuschließen. Im Grunde hatte auch Deutschland bereits den Krieg verloren, doch der Führer, der am 2. August 1934 die Angehörigen der Wehrmacht unbedingten Gehorsam auf seine Person bis in den Tod hatte schwören lassen, gab nicht auf und riss sein Volk in den totalen Untergang einer absurden Götterdämmerung. In Italien hingegen stand – abgesehen von der Miliz – eine Dyarchie an der Spitze der Streitkräfte, die eine monarchische Tradition pflegte und den Eid auf den König geleistet hatte.¹¹ Berlin betrachtete die italienische Kapitulation, die einen nationalen Selbstmord verhindern sollte – nach den Worten des Außenministers Guariglia habe niemand, dem das Schicksal eines Volkes anvertraut sei, das Recht, eine ganze Nation zum Suizid zu treiben –, als Verrat und ließ die 1915 entstandenen alten Anklagen und Stereotypen über den treulosen italienischen Nationalcharakter wiederaufleben. Demgegenüber schrieben die Bearbeiter des Kriegstagebuchs des Oberkommandos der Wehrmacht: Abwegig war auch die Kennzeichnung der italienischen Kapitulation als ‚Verrat‘. Man wußte auf deutscher Seite seit langem, daß Italien am Ende der Kräfte und Möglichkeiten war. […] Eine realistische Überprüfung der Lage hätte in Deutschland zu der Einsicht führen können, daß es richtiger gewesen wäre, gemeinsam, mit Mussolini oder Badoglio, den Krieg zu beenden.¹²

Hingegen kam es zur schon lange geplanten Entwaffnung, Verhaftung und Deportation eines Großteils des italienischen Heeres, zum „letzten Sieg“ der Wehrmacht, der dem Reich 600.000 – 650.000 Zwangsarbeiter einbrachte und eine Südfront schuf, die zwischen 1943 und 1945 eine Million Menschen betraf. Die italienischen Soldaten wurden gezwungen, ihre Waffen niederzulegen; einem Teil von ihnen (150.000 – 200.000) gelang es zu fliehen, andere – 186.000 nach Schreiber, 197.000 nach Sommaruga – entschieden sich, direkt oder im Rahmen der RSI mit den Deutschen zu-

 Mit Blick auf John Goochs Äußerung, wonach das italienische Heer der politischen Miliz untergeordnet gewesen sei, merkte Sergio Romano kritisch an, dass „in Wirklichkeit eine Art stiller Pakt zwischen dem Regime und den Streitkräften bestand, wonach diesen ein beträchtlicher Freiraum gewährt wurde“; vgl. John Gooch, Armies in Europe. London 1980, S. 205; Sergio Romano, Rezension zu John Gooch, ebd., in: Storia Contemporanea 7.2, 1981, S. 347– 352, hier S. 352.  Zur Treulosigkeit bemerkte Gerhard Schreiber (in „Il Sole 24 Ore“ vom 7. September 2003), dass Hitler im Sommer 1939 zweifellos den Kriegseintritt Italiens erwartete – nach der im „Stahlpakt“ vom Mai desselben Jahres auf Betreiben Deutschlands eingefügte Klausel hätte er automatisch erfolgen müssen – und von Mussolinis Neutralitätsentscheidung enttäuscht wurde; als sich Rom dann im Juni 1940 anders entschloss, „erschienen die Italiener in den Augen der deutschen Bevölkerung wie die Russen während des polnischen Feldzugs, so dass Goebbels am 24. Juni schreiben konnte, im deutschen Volk habe sich eine regelrechte Wut gegen Italien entwickelt“; vgl. Percy Ernst Schramm (Hrsg.), Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht, Bd. 3. Frankfurt a. M. 1963, S. 1530.

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sammenzuarbeiten, mehrheitlich aber weigerten sie sich hartnäckig. Das waren die 600.000 – 650.000 italienischen Militärinternierten, eine von Hitler erfundene Gefangenenkategorie, die es erlaubte, sie dem Schutz des internationalen Roten Kreuzes oder staatlicher Konventionen zu entziehen und auszubeuten. Schon die Entwaffnung, die zuweilen lokalen Widerstand hervorrief und im Mittelmeerbereich die Verlegung auf dem Seeweg mit sich brachte, führte bei den Italienern zu zehntausenden Toten, während die Zahl der Opfer, die die oftmals grauenvoll durchgeführte Verlegung mit dem Zug in die Lager des „Dritten Reiches“ forderte, noch unbekannt ist.¹³ Die Grundfunktion der Konzentrationslager bestand im Aufbau und in der Konsolidierung des Terror-Regimes, wobei sie der deutschen Landwirtschaft und Industrie Arbeitssklaven lieferten und zugleich Vernichtungstechniken entwickelten. Der Nationalsozialismus hatte sie eingerichtet, um die inneren Feinde zu beseitigen, und sie eigneten sich hervorragend dazu, schon in Friedenszeiten eine Kriegspsychose anzulegen und zu schüren (der von Himmler erfundene „innere Kriegsschauplatz“); Ziel war es dabei, alles abweichende Gedankengut auszuschalten und die absolute Herrschaft des Regimes über das Volk und dessen Gefühle sicherzustellen. Am Ende mündete der nationalsozialistische Rassenbegriff alle Grenzen überschreitend in der sicheren Katastrophe. Im Krieg wurden die Lager zu einem Werkzeug der Unterdrückung und Massenvernichtung, weil sich nun aufgrund des Fronteinsatzes der deutschen Arbeiter die Nachfrage nach Arbeitskräften erhöhte, die Häftlinge also einem erbarmungslosen Druck zum Opfer fielen, der in einer mörderischen Kombination von Zwangsarbeit und unerträglichen Lebensbedingungen bis zum Erschöpfungstod führte. Der rassistische Wahn, der die Versklavung im Dienste des deutschen Herrenvolkes anstrebte, griff auf die Chimären eines Ernst Hasser vom Beginn des 20. Jahrhunderts zurück, dessen irrwitzige Ideenwelt die Nationalsozialisten für durchaus realisierbar hielten. Der an gefangenen sowjetischen Offizieren und Führungskräften im Spätsommer 1941 erprobten Massenvernichtung wurden dann bis zum Kriegsende die Juden und politisch Deportierten, zuweilen auch andere Gruppierungen, unterworfen; an Opfern fehlte es vor allem nach dem am 7. Dezember 1941 von Keitel unterzeichneten „Nacht-und-Nebel-Erlass“ nicht, der jeglichen Widerstand

 Gaetano Cantaluppi berichtet: „Auch die auf der Krankenstation liegenden, bereits vom Tode gezeichneten Schwerkranken werden verlegt. Tatsächlich sterben viele im Laufe der langen Fahrt, während andere erschöpfte Deportierte die 96 Stunden in einem verriegelten Viehwaggon, den Hunger und den Durst nicht überleben“. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, was geschieht: „In der Nacht stirbt einer der beiden Kranken […] Er ist höchstens zwanzig Jahre alt“. In den Tagebüchern der Internierten ist im Zusammenhang mit dem Transport häufig von Toten oder Sterbenden die Rede; vgl. Gaetano Cantaluppi, Flossenbürg. Ricordi di un generale deportato. Mailand 1995, S. 6 – 23. Von einer anderen Art von Krankheitsfällen spricht Carlo De Luca; vgl. Carlo De Luca, L’internato che impazzì nel carro piombato, in: Paride Piasenti (Hrsg.): Il lungo inverno dei lager. Dai campi nazisti. 2. Aufl. Rom 1973, S. 91 f.

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gegen die deutsche Besatzung mit dem Tode bestrafte und dessen Androhung auf größere Personenkreise ausweitete.¹⁴ Aus dem Bericht geht hervor, dass die Erfahrungen der italienischen Militärinternierten sich auf das Lagerleben und auf den Arbeitsplatz konzentrierten. Die große Masse der Unteroffiziere und Soldaten – eben die Zwangsarbeiter – kam nur zur Nachtruhe ins Lager, die überdies nicht nur durch die organisatorischen und funktionellen Erfordernisse der Gefängnisstrukturen, sondern auch durch die Verachtung und die Schikanen des Wachpersonals beeinträchtigt wurde. In diesem Zusammenhang erinnert sich ein Militärkaplan: Ein älterer Wachmann, dem gegenüber ich mein Erstaunen und meine Empörung zum Ausdruck bringe, antwortet: Sie müssen wissen, daß man bereits lange vor dem 8. September selbst die Kinder lehrte, alles Nichtdeutsche, und insbesondere das Lateinische, Italienische zu verachten.¹⁵

Wenn man diese Gefühle vor dem Hintergrund betrachtet, dass der Waffenstillstand als Verrat erfahren wurde, wird die feindliche Atmosphäre, die das Verhältnis zwischen den Gefangenen und dem Wachpersonal kennzeichnete, nachvollziehbarer, auch wenn gewisse abstoßende und unmenschliche Übergriffe unverständlich bleiben. Die Offiziere, die man systematisch in ein schlechtes Licht rückte, um sie bei den Mannschaften zu delegitimieren, wurden von Anfang an von den Unteroffizieren und

 Da nach Hasser das „Herrenvolk“ über den anderen stand und deshalb bedient werden musste, sah er im August 1900 drei Wege, um an die notwendigen Sklaven zu kommen: Entweder hielt man einen Teil des deutschen Volkes selbst auf Dauer unterdrückt, machte die ausländischen Einwanderer zu Heloten, indem man ihnen jegliche kulturelle oder soziale Entwicklung verwehrte, oder holte sich Chinesen und Kolonialvölker ins Land. Die erste und die dritte Möglichkeit waren für die Nationalsozialisten ausgeschlossen, weil sie auf keinen Deutschen verzichten konnten und Deutschland keine Kolonien mehr in Afrika und Asien besaß; so blieb nur die zweite Alternative, auf andere europäische Völker zurückzugreifen. Diese Sichtweise fand in den Worten und in dem Verhalten der Nationalsozialisten ihre Bestätigung. Der spätere Generalgouverneur in Polen, Hans Frank, erklärte beispielsweise am 3. Oktober 1939, dass die Polen die Sklaven des deutschen Weltreiches stellen müssten, während Schubert, Exponent aus Himmlers Generalstab, am 4. Februar 1942 erklärte, den Deutschen gebühre die Position der Spartiaten, der lettischen und estländischen Mittelschicht die der Periöken, den Russen die der Heloten; vgl. H. Schuman/Heinz Kühnrich, Le role et la signification des camps nazis, in: Cahiers Internationaux de la Résistance 2.3, 1960, S. 3 – 14; Andrzej J. Kaminski, Les camps de concentrations nazis. Phénomène social et économique, in: Ebd., S. 15 – 29. Die Schriftstellerin Herta Müller sieht im Wort „Lager“ ein Symbol des 20. Jahrhunderts und sagt dazu: „Im Deutschen hö re ich aus [… den] unschuldigen Verwendungen des Wortes Lager immer den Schrecken, eine Verstö rung.“ Ebensowenig lassen sich Argumente kultureller Art anführen: Ernst Troeltsch beispielsweise wünschte sich für Deutschland einen nichtmarxistischen, nationalen und konservativen Sozialismus, allerdings im Rahmen einer Demokratie, in der die Moral nicht von der Politik getrennt ist, und befand sich damit am entgegengesetzten Pol von Hitlers Nationalsozialismus, dem die Bedeutung, welche die menschliche Person für die große deutsche Kultur besitzt, völlig fremd war; vgl. Arrigo Rapp, Il problema della Germania negli scritti politici di E. Troeltsch (1914– 1922). Mailand 1978.  Archivio dell’Ufficio Storico dello Stato Maggiore dell’Esercito Italiano (AUSSME), Diari Storici, busta 3039, fasc. 1, sottofasc. 14.

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Soldaten getrennt und in anderen Lagern untergebracht.¹⁶ Bevor die Nationalsozialisten versuchten, auch sie zur Arbeit heranzuziehen, verbrachten sie ihre Tage untätig in den Lagern, abgesehen von der unvermeidlichen Abwicklung des Lageralltags und den launischen Einfällen der Lagerleitung; zahlenmäßig bildeten sie eine kleine, aber wichtige Minderheit (1/26 aller IMI), weil sich in ihrer mehrheitlichen Verweigerungshaltung der Wille der Gefangenen ausdrückte, nicht mit den Deutschen und den Faschisten zusammenzuarbeiten. Ihr Bildungsniveau erlaubte es ihnen dort, wo es – wie beispielsweise im Lager Wietzendorf, das im übrigen nicht weniger Todesfälle zu beklagen hatte als andere¹⁷ – möglich war, kulturelle Aktivitäten zu entfalten, die im Geist der Hingabe an das „Vaterland, dessen Namen wir nicht beschmutzen dürfen“, das Nationalbewusstsein stärkten und damit die verletzte persönliche Würde verteidigten. Nach dem Krieg legten vor allem sie den Grundstein für eine erste Erinnerung der IMI in Italien, waren sie doch mit dem Schreiben weit vertrauter als die Mannschaften, obgleich unter diesen die Verweigerungshaltung, die sie mit der Heranziehung zu sklavischer Zwangsarbeit bezahlten, verbreiteter war. Die Unteroffiziere und Soldaten verweilten täglich nur wenige Ruhestunden im Lager, die noch durch die strengen Lagervorschriften und das unerträgliche Lagerleben unterbrochen wurden; all dies untergrub ihre physischen Kräfte und hatte schwerwiegende Folgen für ihre Gesundheit. Der Kommissionsbericht bezeichnet die Ernährungslage der Internierten als „katastrophal“.¹⁸ Dass – neben allen anderen Belastungen – davon der größte Leidensdruck ausging, bestätigt auch ein Bericht an den Generalstab des italienischen Heeres: Die italienischen Gefangenen standen auf der untersten Stufe der Unterdrückten im Reichsgebiet. Der Befragte hatte die Möglichkeit, mit vielen italienischen Gefangenen Kontakt aufzunehmen, indem er in zahlreiche Internierungslager eindrang; in einigen Fällen musste er erhebliche Schwierigkeiten überwinden und die deutsche Bewachung bezwingen. Die Lebensbedingungen der Internierten unterscheiden sich von Lager zu Lager entsprechend der ihnen jeweils übertragenen Arbeit. Im allgemeinen ist ihre Lage so erbärmlich wie man sich nur vorstellen kann; viele Gefangene haben keine Schuhe und tragen Holzschuhe ohne Strümpfe, vielen fehlt die Unterwäsche (sie ziehen sich die Jacke über die nackte Haut), tragen eine zerrissene, aus Fetzen bestehende Kleidung, haben keine Mütze, und in einem solchen Zustand haben sie den Winter

 Vgl. unter den zahlreichen Zeugnissen den Bericht, den Oberst Giuseppe Adami, italienischer Verantwortlicher im Lager Versen (Meppen), am 31. Mai 1945 an den Kriegsminister richtete, in: AUSSME, Diari Storici, busta 2256; das Memorandum von Gen. Francesco Giangreco, 2. Teil, Lager Schokken, in: Archivio ANEI, Rom; Notizen von Francesco Porciani, Oberst der Carabinieri, Lager Altengrabow, in: Archivio del Comando Generale dei Carabinieri, (ACC), Rom, 243/6.  Vgl. Pietro Testa,Wietzendorf. 3. Aufl. Rom 1998. Ein ehemaliger Insasse eines Straflagers berichtet über das Begräbnis von Oberleutnant Pepe, der zu Tode geprügelt worden war: „Sie erlaubten uns, ihn bis zum Ausgang aus dem umzäunten Areal zu begleiten, doch erhielten wir nicht die Erlaubnis, ihn zu beerdigen. Als der Älteste von uns die Habachtstellung befahl und wir militärisch grüßten, verhöhnten uns – außer den Franzosen – alle anderen Gefangenen und die Schinder“; ebd., S. 251.  Abschlussbericht, S. 140.

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verbracht. All diejenigen, die in Griechenland, Albanien, Jugoslawien und Frankreich in Gefangenschaft gerieten, wurde jegliche persönliche Ausstattung genommen; die wenigen Kleidungsstücke, die ihnen geblieben sind, haben sie überdies in den ihnen auferlegten Schwerstarbeiten verschlissen oder durch Bombenangriffe verloren. Mancher Gefangene trug bürgerliche Kleidungstücke, manch anderer Teile einer russischen Uniform, die ihm wahrscheinlich ein sowjetischer Soldat gegeben hatte. Es hieß auch, daß die italienischen Soldaten in einigen Lagern wie die Zwangsarbeiter eine schwarz-weiß gestreifte Uniform trügen, und dass man sie deshalb als Zebras bezeichne. In einer solchen Lage befinden sich insbesondere jene unglücklichen Zivilbürger, die in den italienischen Städten zusammengetrieben und in Deutschland interniert wurden, um dort Zwangsarbeit zu leisten; unter sie zählen verschiedene Berufsstände wie Rechtsanwälte, Buchhalter usw., die Schwerstarbeiten ausführen müssen, Schaufel-, Tragarbeiten usw. Unsere Soldaten sind extrem kränklich und schwach, haben ausgehöhlte Augen, sehr blasse Gesichter, eingefallene Wangen, sie sind beeindruckend mager und schwach, einige könnte man für lebende Tote halten. In einigen Lagern ist ihr Verfallszustand so weit fortgeschritten, daß einige von ihnen nicht einmal in der Lage gewesen sind, mit dem Befragten ein Gespräch zu führen, und nur stammeln konnten: ‚Ihr Glücklichen, Ihr könnt nach Italien zurückkehren‘. Einen demütigenderen Eindruck, den diese derart heruntergekommenen Männer erwecken, kann es nicht geben, und zwar um so mehr, wenn man bedenkt, daß sie sich in einem solchen Zustand unter den Augen von Wachmannschaften befinden, die mit kalter Gleichgültigkeit auf ihr Elend blicken und unnachgiebig die Disziplin des Lagers einfordern […] Die Baracken, die die italienischen Gefangenen belegen, die Lager, in denen sie untergebracht sind, teilen sie mit Zivilinternierten und Kriegsgefangenen anderer Nationen. Obgleich den Gefangenen der verschiedenen Nationalitäten kein jeweils klar bezeichneter Raum zugewiesen ist, ist es ihnen strengstens verboten, mit den Lagerkameraden anderer Nationen zu sprechen und in Kontakt zu treten. Zu diesen Kontakten kommt es jedoch heimlich; und in diesem Zusammenhang ist die Solidarität ergreifend, die alle Gefangenen aus unseren früheren Feindnationen unseren Soldaten gegenüber zeigen. Alle sind davon überzeugt, Opfer ein und desselben Tyrannen zu sein. Unsere Soldaten leiden vor allem unter den Verpflegungsdefiziten. Pro Tag erhalten sie 200 gr. Roggenbrot und einen Teller mit gelblicher Gemüsebrühe von undefinierbarem Geschmack. Das Brot wird am Morgen verteilt und die Brühe am Abend, d. h. wenn das Brot bereits aufgezehrt ist, und das ist alles. Wo es wenige Gefangene gibt, so um die zehn, die direkt einem Betrieb unterstehen, ist die Versorgung etwas besser, weil zu dieser Verpflegung noch Kartoffeln und ein bißchen Fett hinzukommen. Bei einer solchen Ernährung bleibt ihre Gesundheit recht anfällig. Die Zahl der Tuberkulosekranken ist sehr hoch. Sie werden aus den Lagern erst dann entfernt, wenn ihr Zustand offen zutage tritt. Der als Lagerdolmetscher tätige Gefangene hat erklärt, daß nach einigen beim Gesundheitsdienst in Erfahrung gebrachten Hinweisen in Deutschland täglich etwa 200 italienische Gefangene an Tuberkulose sterben, die sie sich in den Konzentrationslagern zugezogen haben. In dieser Zahl, die auf den ersten Blick übertrieben scheint, spiegelt sich für denjenigen, dem der Schmerz nicht erspart blieb, mit eigenen Augen den erbärmlichen Zustand der italienischen Soldaten zu sehen, nur die nackte Wahrheit wieder¹⁹ […] Als die Soldaten aus Italien,

 In der Note, die Mussolini am 20. Juli 1944 dem deutschen Diktator überreichte, hieß es, „daß die kürzlich aus den Internierungslagern in Deutschland zurückgekehrten Kranken und Invaliden in elender Verfassung sind“; vgl. Frederick William Deakin, Die brutale Freundschaft. Hitler, Mussolini und der Untergang des italienischen Faschismus. Köln/Berlin 1962, S. 808. Der „Führer“ selbst hatte bereits am 25. April eingeräumt: „Man kann von den Italienern, die allenfalls nur zu 50 % ernährt werden, keine 100 %ige Arbeitsleistung verlangen“; vgl. Gerhard Schreiber, Die italienischen Militärinternierten im deutschen Machtbereich 1943 bis 1945. Verraten – Verachtet – Vergessen. München 1990, S. 415. Auch der Kommandant der X MAS, Junio Valerio Borghese, der 1945 einige Lager besuchte,

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Albanien, Griechenland und den anderen besetzten Ländern nach Deutschland gebracht wurden, waren sie beim Durchqueren der deutschen Städte Launen, Gelächter, Gespött und jeder Art von Schmähungen ausgesetzt; sie wurden verunglimpft und angespuckt, die deutschen Bürger verweigerten ihnen Essen und Trinken, wenn sie von einem langen Transport in verplombten Viehwaggons und ohne die geringste Versorgung völlig erschöpft waren […] Die deutschen Soldaten, die den Auftrag hatten, sie bis zu den Konzentrationsorten zu begleiten, pflegten sie schon deshalb wie eine Viehherde mit Gebrüll voranzutreiben, weil es wegen der Sprachunterschiede unmöglich war, sich verständlich zu machen, während ihre Dumpfheit bei den sie umgebenden barbarischen Massen sattes Gelächter und unflätiges Vergnügen auslöste. Ging es schließlich darum, die italienischen Gefangenen auch wegen leichter Verstöße zu maßregeln, wurde immer erbarmungslos durchgegriffen; die schuldigen Soldaten kamen vor keine Disziplinarkommission, das Wachpersonal ahndete die Verstöße direkt mit Gewaltmaßnahmen.²⁰

Auch Quälerei und Kälte lasteten schwer auf den Lebensbedingungen der Gefangenen; schlimmer als alles andere war aber der Hunger, der unabhängig von der Jahreszeit Tag für Tag wiederkehrte und keine Ruhe ließ. Die Verpflegung bestand aus einer „Brühe“, die ein Kaplan, der nicht einmal im schlimmsten Lager interniert war, wie folgt beschrieb: Um sich ein Bild von der ‚Brühe‘ zu machen, denke man nur an das Gebräu, das die Bauern für die Mastschweine zuzubereiten pflegen, mit dem Unterschied, daß dieses Gebräu sauberer, besser hergerichtet und reichhaltiger ist als die deutsche ‚Brühe‘. Um sie zu sich zu nehmen, reicht es nicht, Appetit zu haben. Man muß schon Hunger verspüren.²¹

hielt nicht mit seiner Kritik an den Lebensbedingungen der Internierten zurück; vgl. Borghese an Graziani, 20. März 1945, in: Archivio dell’Ufficio Storico della Marina Militare (AUSMM), Rom, RSI, busta D, fasc. 18. Auch wenn es nicht die IMI betrifft, mag es mit Blick auf die Qualen und den Hunger, denen man im Lager ausgesetzt war, nützlich sein, die Erfahrung einer amerikanischen Schwester zu zitieren: Sie hatte im Dachauer Museum die gestreifte Häftlingskleidung des Internierten Albert Mainslinger gesehen, der 1939 mit 114 kg Körpergewicht und katholischen Glaubens inhaftiert und 1945 mit 41 kg und dem „Nichts“ als Religionszugehörigkeit wieder entlassen wurde; vgl. Elizabeth Johnson, Der lebendige Gott. Eine Neuentdeckung. Freiburg [u. a.] 2016, S. 82.  Das Dokument mit dem Titel Situazione degli italiani internati in Germania bezieht sich nur auf die Lager, in denen Soldaten interniert waren; die Informationen stammen von einem Gewährsmann („der Befragte“), der offensichtlich ein Amt oder eine Funktion bekleidete, die ihm erlaubte, sie zu sammeln. Der Verfasser des Dokuments sah im Eintritt in die RSI-Streitkräfte einen verzweifelten Akt, um sich den „fürchterlichen Leiden“ im Lager zu entziehen, und kritisierte die Deutschen, dass sie „diesen armen Männern, von denen noch viele die Abzeichen über ihre Kriegsjahre auf der Brust trugen, nicht den Hohn, die Schmähungen und die Gewaltakte erspart haben“; ebensowenig hätten sie daran gedacht, „dass jene Soldaten unter unmöglichen Bedingungen drei Jahre lang ehrenhaft an der Seite der deutschen Soldaten gekämpft hatten und dass sie keinerlei Verantwortung für eine von ihrer Regierung getroffene Entscheidung trugen“; vgl. Situazione degli italiani internati in Germania (giugno 1944), AUSSME, Diari Storici, busta 3039.  AUSSME, Diari Storici, busta 339, fasc.1, sottofasc.1b); zitiert im Bericht Paolo Formiconis vom 16. April 2010 an die Deutsch-Italienische Historikerkommission.

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Eine weitere Beschreibung der Lagerbedingungen, denen die Italiener ausgesetzt waren und die zuweilen von einem mitleidsvollen Deutschen oder ausländischen Gefangenen gemildert wurden, erübrigt sich, böte sie doch nichts anderes als eine unnötige Auflistung der Schrecken. Entbehrungen, Quälereien und absurde Strafen für zuweilen fiktive Verstöße führten zusammen mit der körperlichen Erschöpfung aufgrund schwerster Zwangsarbeit den Tod von zehntausenden Internierten herbei. Die geschätzten Zahlen beziehen sich dabei nur auf die Opfer, die während der Internierung zu Tode kamen; sie sind zu niedrig angesetzt, denn nach Kriegsende kehrte ein hoher Anteil der IMI, die sich bei der Arbeit oder in den Lagern eine tödliche Tuberkulose zugezogen hatten, nur zum Sterben nach Hause zurück. Die massenhafte Weigerung der Militärinternierten, mit den Deutschen und den Faschisten zusammenzuarbeiten, verdient einige Bemerkungen. Vor allem ist es wichtig zu wissen, über wen man spricht. Es handelt sich bei ihnen um italienische Militärangehörige, nicht um Faschisten oder Antifaschisten; bis zum 8. September kämpften sie pflichtbewusst und loyal an der Seite ihrer deutschen Verbündeten. Ihre Einsatzbereitschaft zeigte sich dabei verschiedentlich sogar auf Sizilien.²² Als das faschistische Abenteuer mit dem Waffenstillstand endete, hofften sie auf die Befreiung von einem Albtraum und auf den Neubeginn einer besseren Zukunft, doch schlossen sich daran deutscher Angriff, Deportation und Internierung an. Beharrlich und unter Anwendung von Drohungen bedrängte man sie in den Lagern, mit den Deutschen und der RSI zusammenzuarbeiten und sich damit gegen die königliche Regierung zu stellen, der sie Treue geschworen hatten. Diejenigen, die ideologisch überzeugt waren, kamen dem Aufruf sofort nach, doch die übergroße Mehrheit weigerte sich. Andere gaben aufgrund der schlimmen Lagererfahrungen später nach, doch 600.000 Internierte widerstanden den Schmeicheleien, Entbehrungen, Beschwernissen und Todesgefahren, denen Tausende zum Opfer fielen. Die IMI betrachteten ihre Verweigerung als den höchsten aller Werte und hielten den unbedingten Widerstand für eine Frage der Ehre, die es auch dann zu verteidigen galt, als sich die Lebensbedingungen im Zuge der deutschen Niederlagen nach und nach verschlechterten. Männer, deren Selbstbewusstsein sie davor bewahrte, sich auf eine Nummer reduzieren zu lassen, entdeckten stolz und bestimmt, dass „die Freiheit in der Befriedigung besteht, nein zu sagen“.²³ Nach den vorliegenden historischen und  Wo Pantelleria und Augusta erst gar nicht gekämpft und die italienischen Streikräfte sich teilweise aufgelöst haben. Das 4. Luftwaffengeschwader opferte hier seine letzten Piloten; 62.000 Männer setzten nach Kalabrien über, wo sie neu aufgestellt wurden und den Kampf wieder aufnahmen; in La Spezia war die Restflotte mit einer noblen Geste bereit, zum letzten Mal auszulaufen.  Vgl. Sabrina Frontera, L’altra resistenza.I militari italiani internati a Wietzendorf 1943 – 1945. Tesi di laurea nella Facoltà di Sociologia dell’Università La Sapienza. Rom 2003 – 2004. General Michele Di Gaetano hielt das für selbstverständlich: „aus Ehrgefühl werde ich der Repubblica Sociale Italiana nicht nachgeben“, vgl. Museo Storico della Guardia di Finanza (MSGF), 615, fasc. 16; Oberleutnant Battaglia notierte im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zum Risorgimento und zur Freiheit: „mein ‚ich schwöreʻ hat gigantische Ausmaße angenommen“, vgl. Archivio ANEI, Rom, Pagine di diario, 10. Juni 1944; General Trionfi, der bis zum 31. Dezember 1944 über 30 kg Gewicht verloren hatte

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soziologischen Forschungsarbeiten waren dafür zu 30 % militärische Überlegungen (Weigerung, gegen Italiener zu kämpfen, Kriegsmüdigkeit, Wunsch, den Krieg abzukürzen), zu 26 % ethische Vorbehalte (Treue zum abgelegten Eid, Würde, Gruppenverantwortung und -solidarität), zu 24 % ideologische Orientierungen (Ablehnung von Faschismus und Nationalsozialismus, Katholizismus usw.) und zu 20 % andere Gründe (antideutsche Haltung, Misstrauen gegenüber Versprechungen usw.) ausschlaggebend: Alle Beweggründe mündeten in den patriotischen Willen, im Namen des Nationalgefühls, das zum Leitstern des individuellen und kollektiven Bewusstseins erhoben wurde, Widerstand zu leisten.²⁴ Nach Kriegsende erlebten die italienischen Militärinternierten eine weitere Enttäuschung. Die Deportierten hatten in den Lagern und als Zwangsarbeiter völlig andere Erfahrungen gesammelt als die italienische Bevölkerung und die politischen Führungsschichten in der Heimat. Die Heimkehrer aus der Gefangenschaft, die noch ihre einstigen Werte lebten, hatten Mühe, sich verständlich zu machen und das zu verstehen, was den Leuten im Land als normal erschien. Den früheren Internierten gefiel nicht das Bild, das Malaparte und De Filippo von Neapel zeichneten; Italien schien ihnen ohne Gedächtnis zu sein, entsprach nicht den Vorstellungen, an denen sie im Lager festgehalten hatten, weigerte sich offensichtlich, den moralischen Wert ihrer Leiden zu begreifen und ihren Widerstand zu würdigen. Die italienischen Regierungen schließlich wollten die Kriegs- und Schuldfrage aus der nationalen Vergangenheit ausklammern, zeigten sich sogar misstrauisch gegenüber den Ex-Internierten, weil sie fürchteten, die Zwangsarbeit könne als Beitrag zum nationalsozialistischen Krieg gewertet und als weiterer Anklagepunkt gegen Italien verwendet werden – die „cobelligeranza“ änderte wenig an dieser Sachlage. Allein der bewaffnete Widerstand schien in diesem Zusammenhang hilfreich zu sein, und tatsächlich verwiesen die römischen Regierungen auf ihn, um die Konsequenzen aus der Vergangenheit abzumildern und zu versuchen, sich den Siegermächten anzunähern. Mit wachsendem zeitlichem Abstand aber rückten die Organisationen der Veteranen und die deutsche Geschichtsschreibung zunächst die italienischen Militärinternierten ins Blickfeld, deren Mut und Opferbereitschaft als fundamentale historische Ereignisse anerkannt wurden, die die Ehre des Vaterlands in düsteren Zeiten hochgehalten haben. Die Empfehlungen der Kommission gehen von dem Bewusstsein aus, dass Individuen wie Völker Träger einer Erinnerung sind, der gegenüber man sich eine ge-

und in Schokken buchstäblich verhungerte, bekräftigte im Tagebuch unter dem genannten Datum seinen Glauben ans Vaterland und sein ‚Neinʻ. Prozentual fast doppelt so häufig wie die Offiziere antworteten in diesem Sinne die Soldaten sprachlich vielleicht weniger geschickt, aber zweifellos mit unnachgiebiger Entschiedenheit.  Vgl. Elena Aga Rossi, L’armistizio e le sue conseguenze, in: Angelo D’Orsi (Hrsg.): Gli storici si raccontano. Rom 2005, S. 217; Anna Maria Casavola/Maria Trionfi (Hrsg.), Le ragioni del no dei militari italiani nei lager nazisti (Quaderno ANEI 2008). Rom 2009; ANPR (Hrsg.), Breve storia degli IMI. Hektografie für die Auslandspresse. Rom 2014.

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meinsame Politik wünscht. Dabei muss bedacht werden, dass eine gemeinsame und von allen geteilte Erinnerung nur schwerlich geschaffen werden kann, wenn man zu viel verlangt. Die Erinnerungen der Vergangenheit können lästig und unbequem sein, Verstörungen hervorrufen, psychologische Barrieren aufbauen, die verhindern, sich den neuen Verhältnissen anzupassen, weil sie einem erdrückenden Leidenszusammenhang entstammen. Es ist gar nicht so befremdlich, wenn die Frage der Massaker, der italienischen Militärinternierten und im Allgemeinen der deutschen Verbrechen in Italien zwischen 1943 und 1945 erst nach so langer Zeit die Aufmerksamkeit der Deutschen auf sich gezogen hat. Die Italiener müssen anerkennen, dass sie keine reine Weste haben, weil eine spezifische Mitverantwortung besteht (RSI), und unbestraft gebliebene Kriegsverbrechen das eigene Gewissen belasten. Die „gemeinsame“ Erinnerung muss langsam und geduldig eine Annäherung auf der Basis gegenseitiger Toleranz anstreben; dabei geht es zunächst darum, den eigenen Horizont zu überschreiten und den Standpunkt des Anderen anzuerkennen, ohne ihn unbedingt zu übernehmen. Dahin zielte das Bemühen der Kommission, indem sie die Topoi der Kollektiverinnerung, die von der politischen und militärischen Propaganda, den verschiedenen Mythologien und miteinander konkurrierenden Attitüden des Selbstmitleids geprägt waren, einer strengen Prüfung unterzog. Die Deutschen müssen anerkennen, dass die Italiener auch Opfer und nicht nur Bundesgenossen waren, die Italiener müssen umgekehrt einräumen, dass sie auch Bundesgenossen und nicht nur Opfer waren. Das vorrangige Problem besteht – wie es in einem Lied heißt – darin, dass „avec le temps qui passe/ on oublie le visage/ on oublie la voix“. Nach einer rabbinischen Regel ergibt sich das Erinnern aus dem Erzählen, aus dem fortlaufenden Erzählen, auch aus dem variierenden Erzählen unter der Voraussetzung, dass die Erzählung Keim und Zeugnis für die Erinnerung ist. Der Bericht geht in diese Richtung, wenn er neue Studien empfiehlt, die ein besseres und umfassender geteiltes Verständnis für die gegenseitigen Erfahrungen und Beziehungen bewirken, auf dass jede neue Begegnung eine Investition für die Zukunft werde. Es ist erstrebenswert, dass die Erinnerungskultur nicht nur der Vergangenheit huldigt, sondern die Basis für eine bessere Zukunft in einem Europa bildet, von dem Ugo La Malfa bereits im Juni 1926 träumte, und ohne das, wie er im Dezember 1944 meinte, nur eine Wüste zurückbleiben würde. Der Themenbereich ist ebenso breit gefächert wie die Zielsetzungen: Sie reichen von der Rekonstruktion der Kriegsereignisse bis zur Erstellung eines Atlanten der Massaker auf der Basis einer eigens geschaffenen Datenbank, von der Erfassung der Gefallenen und Internierten bis zur Sammlung von Erinnerungen und Zeugnissen ihrer Erfahrungen. Die Einrichtung und Erhaltung von „Erinnerungsorten“ und Museen bzw. zeitlich begrenzten Ausstellungen scheint besonders nützlich zu sein, vermitteln sie dem Besucher doch die Kenntnis von Orten als Stätten von Tragödien, die sich nur dann nicht wiederholen, wenn sie nicht vergessen werden. Der Abschlussbericht der Kommission ist von den auftraggebenden Ministerien in Deutschland und Italien positiv beurteilt worden. Selbstverständlich fehlte es nicht an Vorbehalten und kritischen Bemerkungen von außen. Einige erwiesen sich als nütz-

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lich, weil sie dazu beitrugen, die von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen mit größerer Wirksamkeit und Klarheit auszuführen. Nutzlos waren sie, wenn sie sich auf einen imaginären Auftrag bezogen, der mit den wirklichen Vorgaben nur wenig oder gar nichts zu tun hatte; dasselbe gilt für einige haltlose Beobachtungen, die – wenn überhaupt – auf einer oberflächlichen Lektüre des Berichts beruhen. Einige Wissenschaftler hätten sich eine vertiefte Behandlung der politischen und militärischen Aspekte gewünscht. Dieser Einwand ist durchaus berechtigt, doch die vom Auftrag abgesteckten Dimensionen des Berichts und die substantielle Einigkeit bei den allgemeinen historischen Urteilen haben dazu geführt, dass die Kommission die Themen behandelte, die in den einzelnen Kapiteln zur Sprache kommen. Ebensowenig fehlte es natürlich an wertvollen Überlegungen beispielsweise in methodologischer Hinsicht, um die Möglichkeiten und Grenzen des erfahrungsgeschichtlichen Ansatzes auszuloten; diese Debatte wurde innerhalb der Kommission von Anfang an geführt. In der Endfassung hat die Kommission auf ein eigenes Kapital zum zweifellos wertvollen, militärischen Beitrag des italienischen Widerstands verzichtet; allerdings werden im Bericht Formulierungen wie „Partisanenangst“ oder „grausame Feinde“ aus den erzählten Erfahrungen deutscher Soldaten übernommen. Bezüglich der Haltung der sogenannten grauen Mehrheit, d. h. der Italiener, die weder zur Minderheit der Kollaborateure noch zum bewaffneten Widerstand gehörten, betonte der Bericht „die Aversion und Missstimmung gegenüber der deutschen Besatzungsmacht“ und bestätigte damit – auf der Grundlage von Quellen aus den Präfekturen und Polizeibehörden der RSI –, dass die Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit den Deutschen gegenüber feindlich, nicht neutral eingestellt war und in ihnen Invasoren und Feinde der legalen Ordnung sah, gegen die das Königreich Italien Krieg führte.²⁵ Im Rahmen der Debatte, die sich an die Veröffentlichung des Berichts anschloss, erwies sich der kritische Beitrag des Präsidenten der ANPI als besonders nützlich und bedeutsam. In einem positiven Kommentar, der im Januar 2013 in der Verbandszeitschrift Patria Indipendente erschien, hob der Senator Smuraglia hervor, dass die „Übernahme der Verantwortung“ durch die Deutschen und die Italiener für ihre jeweiligen Handlungen die unabdingliche Grundvoraussetzung dafür bilde, um sich ernsthaft mit der Bewahrung der Erinnerung und mit der Frage der Entschädigungen in jedwedem Bereich und jedweder Form auseinanderzusetzen. Die Kommission hat diese Pflicht mit Blick auf die italienischen Militärinternierten ausdrücklich anerkannt; sie gilt aber nicht weniger für die Massaker, denen im Bericht das Kapitel Die Erfahrungen der italienischen Bevölkerung mit der deutschen Besatzungsmacht gewidmet ist. Eine oberflächliche Behandlung des Themas verbietet sich, geht es doch  In den Jahren 1944 und 1945 nahmen die italienischen Truppen ungefähr 9.000 Deutsche gefangen. Man wollte sie bei Straßenbauarbeiten einsetzen, doch sogleich protestierten die Gewerkschaften, darin von der kommunistischen Partei unterstützt, weil die Gefangenen den Arbeitslosen die Arbeit wegnehmen würde; die Gefangenen, die sich durch Disziplinlosigkeit auszeichneten, durchliefen daraufhin alle süditalienischen Lager.

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darum, haltlose, der Rechtfertigung dienende, oder als Milderungsgründe herangezogene Vorurteile zu beseitigen; genannt sei hier vor allem der Versuch, die grauenvollen Taten und Massaker als Reaktionen oder Vergeltungsmaßnahmen auszugeben, die von imaginären Partisanenaktionen ausgelöst worden seien. Notwendig ist hingegen eine ehrliche Einschätzung des Phänomens: In 80 % der Fälle handelte es sich um willkürliche barbarische Akte, zu weniger als 20 % um Vergeltungsmaßnahmen. Weitere wissenschaftliche Treffen und wichtige Ereignisse, wie der gemeinsame Besuch der beiden Staatspräsidenten in Sant’Anna di Stazzema, haben den konkreten Willen beschleunigt, die historische Erinnerung wachzuhalten. Die in Italien vorhandene solide Basis an Kenntnissen, die aus wichtigen, von der ANPI und den Istituti di Storia del Movimento di Liberazione geförderten Studien und Forschungen – erinnert sei hier nur an Enzo Collotti und Claudio Pavone – hervorgegangen sind, hat in der über Jahre hinweg von der Universität Pisa besorgten Datenbank ein geeignetes Instrument gefunden, um die einschlägigen Informationen und Daten zu sammeln, kritisch zu vereinheitlichen und einzuordnen. Die strenge wissenschaftliche Analyse jedes möglichen Hinweises verleiht den Inhalten der Datenbank bei einheitlichem Zugriff eine große Validität und Nützlichkeit, was von der Kommission eigens gewürdigt wurde. Die deutschen und italienischen Kommissionsmitglieder stimmen darin überein, der Erstellung des Atlasses der Gewalt über die in Italien von den nationalsozialistischen und faschistischen Kräften begangenen Taten vordringliche Priorität einzuräumen und dabei systematisch auf die vorgenannte Datenbank zurückzugreifen. An der von der deutschen Regierung finanzierten Erstellung des Atlasses wirken hochqualifizierte Gelehrte und Kräfte aus Universitäten und Forschungsinstituten mit. Ein internationales Seminar, das im Dezember 2013 in Mailand stattfand, behandelte erschöpfend methodologische und forschungsorganisatorische Fragen und lenkte dabei den Blick insbesondere auf die Sammlung und Bewertung der Quellen. Die Debatte und die sich daran anschließenden weiterführenden Überlegungen dienten dazu, die Erhebungsmethodologien und -techniken zu definieren und verfeinern, um auf diese Weise einheitliche Analysekriterien zu gewinnen. Die Untersuchung der zentralstaatlichen und lokalen italienischen Quellen liegt in den Händen eines für den jeweiligen Ort regional Verantwortlichen, während Carlo Gentile sich den deutschen Quellen aus den militärischen und politischen Archiven widmet. Der gründlichen Organisation und dem außergewöhnlichen Arbeitseinsatz, was sich aus dem Mailänder Treffen ergab, ist es zu verdanken, dass der Atlas der Gewalt sich heute – Oktober 2014 – nicht mehr in einer Planungs- und Vorlaufphase, sondern auf dem Weg der konkreten Umsetzung befindet. Der Bericht der Historikerkommission schließt mit der Empfehlung ab, eine spezifische, umfassende Erinnerungspolitik zu entwickeln. Gemeint ist damit nicht nur die Durchführung von Studien, sondern auch die Einrichtung und Erhaltung von Erinnerungsorten, in denen nicht nur eine Art Archäologie des Schmerzes gepflegt wird, sondern der sichtbare, politische Wille Italiens und Deutschlands zum Ausdruck kommt, „die Annäherung der in beiden Ländern bestehenden Erinnerungskulturen im europäischen Geist zu fördern.“ Die Gedenkstätte in Berlin-Schöneweide erinnert

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an einem öffentlich zugänglichen Ort an die zur Zwangsarbeit herangezogenen IMI, deren Schicksal damit der Vergessenheit entrissen und der Zukunft überantwortet wird. Sie erfüllt insofern bereits eine wichtige Studien- und Forschungsfunktion, da sie nicht nur Anfragen von Familienangehörigen und Nachkommen der Opfer beantwortet, sondern auch die Wissenschaftler in ihrer historischen Arbeit und bei Gedenkinitiativen unterstützt. Die Kommission empfiehlt, dass auch in Italien ähnliche Orte eingerichtet und gefördert werden. Ein Beispiel gibt es hier bereits aus der zweiten Hälfte der 50er Jahre, als die Sektion der ANEI (Associazione Nazionale Ex Internati) in Padua zunächst den Tempio dell’Internato Ignoto und später das Museo dell’Internamento schuf. Das Ziel der beiden Einrichtungen besteht in der Rekonstruktion eines historisch-moralischen Diskurses, der mit der faschistischen Kultur und Repräsentation der Kriegsbegeisterung begann und in die Bewusstwerdung der tatsächlichen, von Trauer, Zerstörungen und Katastrophen gezeichneten Konsequenzen einmündete. Diese Wahrheit leitete eine verantwortliche Wende für die ideologisch nicht voreingenommene, nicht fanatisierte Mehrheit ein und bereitete das Bewusstsein darauf vor, die persönliche und nationale Würde bis zum Äußersten zu verteidigen; hier liegen die moralischen Gründe des NEIN. Jenen Bewusstseinsprozess durchlief jeder Internierte, der sich der RSI verweigerte oder Kompromisse ablehnte, in kürzester Zeit und in völliger Unabhängigkeit. Die Einsicht in diese Zusammenhänge steigert den Wert der wiedererlangten Freiheit und legt die Gründe für den Widerstand frei. Mit der Beschreibung der Lebensbedingungen in den Internierungs- und Arbeitslagern und des damit zusammenhängenden Leids, das die IMI erdulden mussten, soll also nicht das wehleidige Mitgefühl in einem Klima des Selbstmitleids geweckt werden, vielmehr besteht das Ziel darin, den Besuchern über die Folgen hinaus den Entschluss zur Verteidigung der Ehre in der Perspektive eines Europas des Friedens vor Augen zu stellen. Das ist der Sinn der hohen Zahl an Ausstellungsstücken und Memorialgegenständen; und wünschenswert wäre es, wenn auch das umfangreiche Tagebuchmaterial, das am römischen Sitz der ANEI aufbewahrt wird und durch eine verdienstvolle rechtzeitige Abschrift vor dem Ausbleichen der Tinte gerettet und damit dem Verlust entrissen wurde, durch die Reproduktion wichtiger Seiten daraus zur Geltung käme. Das Museum, zu dessen Bedeutung auch die Stadtgemeinde mit einem Grundstück und Skulpturen beigetragen hat, zielt darauf, die Wirkung von Krieg und Kriegsgefangenschaft auf die IMI, deren Erfahrungen mit der Zwangsarbeit und in den Lagern, deren NEIN herauszuarbeiten; mit Blick auf das lokale und regionale Territorium werden Forschungsprojekte in Aussicht genommen, die nach ersten Stichproben effektiv durchführbar sind. Zu Kassel hat sich ein ausgesprochen freundschaftliches Verhältnis herausgebildet:²⁶ Eine Städtepartnerschaft wurde gegründet und Maßnahmen zum Schüleraustausch bezogen auch das Land Hessen mit ein.

 Im Frühjahr 1945 wurden am Kasseler Bahnhof ungefähr 50 italienische Militärinternierte erschossen, weil sie nach einem alliierten Bombenangriff zwischen den zerrissenen Eisenbahnwaggons nach Essbarem suchten; ein von der Stadtbevölkerung errichteter Gedenkstein erinnert daran.

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Zur Umsetzung einer weiteren ausdrücklichen Empfehlung der Kommission – die „wünscht […], dass die italienische Regierung einen adäquaten Erinnerungsort in Rom findet, der auf das Schicksal der Militärinternierten hinweist“ – hat die Associazione Nazionale Reduci dalla Prigionia (ANPR) die Initiative ergriffen, in der Hauptstadt ein Museum der Internierung und der Deportation zu errichten, das als gemeinsames Haus der Verbände der Internierten und Deportierten, aber auch all derjenigen entstehen soll, die mit Archivalien und Dokumenten einen Beitrag zur Geschichte der IMI als Gruppe und als Einzelpersonen leisten können. Ein erster Schritt wird bis zum kommenden Winter mit der Finanzierung von deutscher und italienischer Seite und unter einer gemeinsam erarbeiteten Zielsetzung getan. Der Zweck besteht darin, das historische und dokumentarische Material zu sammeln und zu konservieren und dabei eine nachhaltige Zusammenarbeit mit den interessierten Personen und Einrichtungen zu suchen, wobei ausdrücklich auf die Stätten in Berlin und Padua, auf das Istituto italiano per la Storia del Movimento di Liberazione, das Deutsche Historische Institut in Rom und ähnliche Institutionen verwiesen wird. Im Museum werden multimediale Technologien und Kommunikationsmittel zum Einsatz kommen, um auch individuelle Recherchen zu ermöglichen. Der Rundgang beginnt in einem Saal, der dazu dienen soll, den Besucher zu orientieren und in das System der Konzentrationslager einzuführen. Die weiteren sechs Säle sind jeweils der Gefangennahme und Entwaffnung, dem Moment der Entscheidung zwischen Kollaboration oder Widerstand, dem Transport und der Verlegung, den Internierungslagern, den Lebens- und Arbeitsbedingungen, der Befreiung und Heimkehr gewidmet. Ein letzter Saal schließlich handelt von der Nachgeschichte der IMI bis hin zur deutsch-italienischen Selbstverpflichtung, deren Erinnerung zu sammeln und zu erhalten; Italien unterstreicht diesen Willen mit der Verleihung einer spezifischen Ehrenmedaille, durch die der „Widerstand ohne Waffen“ eine offizielle nationale Anerkennung findet. Eine weitere Empfehlung regt die Anlage eines Totengedenkbuches an, in das nach und nach die Namen der italienischen Militärinternierten eingehen sollen, die ihr Leben in Deutschland und in den vom nationalsozialistischen Regime kontrollierten Territorien verloren haben.²⁷ Vor ungefähr 40 Jahren hatte das italienische Verteidigungsministerium dazu ein Buch mit den damals verfügbaren Daten veröffentlicht,²⁸ doch die personenbezogenen und statistischen Informationen scheinen mittlerweile überholt, sodass die Empfehlung der Historikerkommission gerechtfertigt ist. Die Associazione Nazionale Reduci dalla Prigionia besorgt schon seit Längerem ein entsprechendes Projekt unter dem Namen Lessico Biografico degli IMI, bei dem es sich um eine Datenbank handelt, in die systematisch biographische Informationen der zwischen 1943 und 1945 nach der Gefangennahme und bis zur Befreiung umgekommenen IMI eingetragen werden. Ausgeschlossen sind die nach Verkündung des

 Vgl. zu den bisher angesprochenen Empfehlungen der Kommission den Bericht, S. 163 – 172.  Ministero della Difesa/Commissione generale onoranze ai caduti (Hrsg.), Militari italiani caduti nei lager nazisti di prigionia e di sterminio. Rom 1975.

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Waffenstillstands im Kampf oder in Widerstandshandlungen gefallenen Soldaten, gezählt werden die Opfer, die im Verlauf der ersten Gefangennahme, der Verlegungstransporte und der Gefangenschaft bis zur Befreiung umgekommen sind. Die Datenbank stützt sich auf italienisches und deutsches Material²⁹ und wird vorausssichtlich Ende 2015 abgeschlossen sein. Schon jetzt zeigt sich, dass die Gesamtzahl der Gefallenen bisher weit unterschätzt worden ist. Da jeder einzelne Fall quellenmäßig belegt ist, werden bald Antworten auf viele früher offengebliebene Fragen möglich sein. Schwieriger und langwieriger gestaltet sich ein weiteres ehrgeiziges, zum erstgenannten komplementäres Projekt, d. h. die Erfassung der größtmöglichen Zahl unter den über 600.000 Militärinternierten, die nach Italien zurückkehrten. Selbstverständlich muss die entsprechende Datenbank so angelegt sein, dass neue Fälle, die im Laufe der Zeit entdeckt werden, in sie aufgenommen werden können. Die Nachforschungen beschränken sich nicht auf den Namen des Internierten, sondern streben an, eine umfassendere Kenntnis seiner – soweit möglich – mit Fotografien versehenen Biografie zu erhalten. Das Interesse der Italiener an den IMI ist unmittelbar einsichtig, bilden sie doch ein Kapitel der Nationalgeschichte; darüber hinaus aber birgt deren persönliche Geschichte in ihrer Würde und Identität eine Botschaft in sich, die keine Grenzen kennt, sich vielmehr an den Menschen an sich richtet und dessen Freiheit betrifft. Am 13. Juli 2010 mahnte der italienische Staatspräsident, Giorgio Napolitano, anlässlich eines Treffens in Triest mit dem slowenischen und kroatischen Staatsoberhaupt, dass „wir auf der Vergangenheitsliturgie nichts erbauen könnten […], dass wir niemals Gefangene der Vergangenheit bleiben dürfen.“ Die bisher erwähnten Initiativen zeugen vom Willen des deutschen und italienischen Volkes, der deutschen und italienischen Politik, ihren früheren historischen Konflikt zu entschärfen und beizulegen. All dies ist möglich in einem europäischen Rahmen, in dem die einzelnen Nationen sich in ihrer Identität aufeinander abstimmen und damit im Zeichen des gegenseitigen Respekts und der Zusammenarbeit ein völlig neues Szenarium schaffen. In einem solchen Klima können auch die Tragödien, die die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts geprägt haben – das Leiden der Opfer, die Grausamkeit der Verfolger –, zwar nicht vergessen, aber doch friedvoll erinnert werden. Einzelne setzen bisweilen mit grotesken Äußerungen alles daran,Verärgerung hervorzurufen, Streit zu entfesseln, den Fortschritt dieses zivilgesellschaftlichen Prozesses zu behindern; doch handelt es sich dabei um belanglose Zwischenfälle, in denen eine zwiespältige Sehnsucht nach der Barbarei sich gleichsam mit dem kläglichen Versuch verbinden will, Wahrheit und Verantwortung abzulehnen. Die Antwort darauf kann nur lauten, das Wissen um die vergangenen Erfahrungen und deren langfristig nachwirkende geschichtliche Bedeutung zu vertiefen, sie zu erforschen und zu erinnern. Über die

 Für die im Lager Gefallenen sollen sich aus dem Material zumindest Todesort, -datum und -ursache ergeben; einen bedeutsamen Beitrag leisten in diesem Zusammenhang die deutschen Quellen aus 11 Karteikästen der Deutschen Dienstelle.

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Generationen und die einzelnen Menschen hinaus brauchen die Völker gemeinsame, dauerhafte Werte und Gefühle, um ihre Kontraste zu überwinden und daraus konstruktive Bausteine für die Zukunft zu gewinnen. Marc Aurel empfiehlt in seinen Memoiren, jeden Tag so zu leben, als ob es der letzte sei, weil man damit das Wesentliche leichter zu erfassen vermag; und für Italien und Deutschland liegt das Wesentliche heute in Europa als Ideal, Hoffnung und gemeinsames Schicksal.

Raoul Pupo

Zwei mögliche Wege zur Aussöhnung der nationalen Vergangenheiten? Von den historisch-kulturellen Kommissionen Italien-Slowenien und Italien-Kroatien zu den Gedenktagen Alles begann mit den Foibe, d. h. mit den Massakern, die im Herbst 1943 und im Frühjahr 1945 in Julisch Venetien von Tito-Anhängern an Italienern verübt wurden.¹ Es handelte sich dabei zweifellos um dramatische Ereignisse, die allerdings mit ihren wenigen tausenden Opfern im Vergleich zu ähnlichen, zur gleichen Zeit nicht weit davon entfernt ablaufenden Vorgängen von begrenztem Umfang waren; ebensowenig führten sie zu nachhaltigen Veränderungen der ethnischen Zusammensetzung in der Region, noch berührten sie die staatliche Zugehörigkeit der Territorien an der oberen Adria, die nach dem Ersten Weltkrieg von Italien annektiert worden waren und nach dem Zweiten Weltkrieg fast vollständig an Jugoslawien fielen. Gleichwohl eroberten sie sich in der italienischen Erinnerung und damit auch in den slowenischen und kroatischen Reaktionen einen herausragenden Platz, sodass sie zu einem umstrittenen Symbol für die komplexe Geschichte der Gewalt wurden, die für die einstigen italienischen Provinzen in der östlichen Adria während des Krieges und bis Mitte der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts kennzeichnend war. In Wahrheit verschwand das Problem nach den heftigen Debatten der 1950er Jahre im darauffolgenden Jahrzehnt praktisch von der Tagesordnung der italienischen und jugoslawischen Historiker, was eher an politischen als an wissenschaftlichen Gründen lag. Nach Überwindung der Gegensätze, die die Vergangenheit geprägt hatten, bemühten sich die beiden Nachbarländer nun entschieden um Entspannung.² Und während die Regierungen nach immer neuen Formen der Zusammenarbeit suchten, wichen die Historiker gerne einem in jugoslawischen Augen provozierenden Thema aus, um sich im Namen einer gemeinsamen, wenn auch unterschiedlich ge Einen allgemeinen Überblick über die massenhafte Gewalt, die gemeinhin unter dem Namen „foibe giuliane“ bekannt ist („Foibe“ bezeichnet die im gesamten italienisch-slowenisch-kroatischen Grenzgebiet verbreiteten Karsthöhlen, in die die Körper zahlreicher Opfer geworfen wurden), über die historiographische Debatte dazu und über die politische Instrumentalisierung der Frage vgl. Raoul Pupo/Roberto Spazzali, Foibe. Milano 2003. Insbesondere über die Gewaltausübung vom Frühjahr 1945 vgl. Raoul Pupo, Trieste ’45. Rom/Bari 2010. Für einen anderen Blickwinkel vgl. Joze Pirjevec, Foibe. Una storia d’Italia. Turin 2009.  Massimo Bucarelli, La „questione jugoslava“ nella politica estera dell’Italia repubblicana 1945 – 1999. Rom/Aracne 2008; Ders., La politica estera italiana e la soluzione della questione di Trieste. Gli accordi di Osimo del 1975, in: Qualestoria 2, 2013, S. 29 – 54; in: Raoul Pupo (Hrsg.): Osimo, il punto sugli studi, Themenheft von Qualestoria 2, 2013. https://doi.org/10.1515/9783110541144-004

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Raoul Pupo

prägten antifaschistischen Orientierung anderen Aspekten der Beziehungen zwischen den beiden Ländern und Völkern zuzuwenden. Es handelte sich hier also um den klassischen Fall der Verdrängung eines Problems, dessen Lösung damals nicht in Angriff genommen werden konnte. Unterschwellig gärte die Frage also weiter und drohte an die Oberfläche zu treten, sobald die Dämme gebrochen waren. Genau das trat nun nach 1989 ein – hier wie auch in anderen Zusammenhängen, welche die Teilung Europas verschleiert hatte. Die Art und Weise, in der man mit dem Problem umging, und das Verhältnis, das sich dabei zwischen Politik und Geschichte entwickelte, erweisen sich als hochinteressant. Zunächst wollte man in Italien einerseits und Jugoslawien, dann Slowenien und Kroatien andererseits vermeiden, dass die Ausleuchtung einiger Grauzonen in den bilateralen Beziehungen in Italien einen historiographischen, in politischer Hinsicht nationalistisch, wenn nicht gar neofaschistisch orientierten Revisionismus auslöste. Erste Anzeichen davon schienen in dem Vorschlag von rechtsextremer Seite auf, eine parlamentarische Untersuchungskommission über die Foibe einzurichten. Die Einseitigkeit dieses Vorstoßes und die sich daraus zwangsläufig ergebenden polemischen Instrumentalisierungen hätten zweifellos die Beziehungen zwischen Italien und einem postkommunistischen Jugoslawien bzw. den infolge eines Zusammenbruchs des föderativen Staates möglichen unabhängigen Republiken Slowenien und Kroatien beeinträchtigt. So verabschiedete der von einer Mitte-Links-Koalition regierte Stadtrat von Triest – die Stadt, die symbolhaft für die Spannungen zwischen Italien und Jugoslawien steht – am 24. September 1990 überraschenderweise einstimmig (also auch mit den Stimmen der extremen Rechten) einen Antrag, in dem man für die Einrichtung einer bilateralen italienisch-jugoslawischen Historikerkommission eintrat, die über das Problem der Foibe Klarheit schaffen sollte.³ Die italienische Regierung nahm daraufhin entsprechende Verhandlungen mit Belgrad auf, die alles andere als unkompliziert waren, löste sich in ihrem Verlauf doch der jugoslawische Staat auf; sie wurden dann aber mit den Regierungen in Ljubljana und Zagreb erfolgreich zu Ende geführt. Im Oktober 1993 schließlich richteten die jeweiligen Außenministerien im Wege eines Notenaustauschs zwei gemischte historisch-kulturelle Kommissionen ein, eine italienisch-slowenische und eine italienisch-kroatische. Auf Betreiben Jugoslawiens bzw. seiner Nachfolgestaaten wurde der ursprüngliche Vorschlag, sich auf die Foibe zu beschränken, wesentlich abgewandelt; der Auftrag ging nun dahin, „mit einem globalen Ansatz alle relevanten Aspekte der im Laufe dieses Jahrhunderts aufgetretenen bilateralen kulturellen und politischen Fragen zu untersuchen“. Dieser Ansatz war zweifellos nicht nur aus einem historiographischen Blickwinkel sinnvoller, sondern auch in politischer Hinsicht ausgewogener.

 Vgl. Raoul Pupo, Un panorama interpretativo, in: Quaderni del Centro studi Ezio Vanoni 20 – 21, 1990, S. 33 – 52.

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Die beiden Kommissionen entstanden also gleichzeitig, gingen dann aber ganz unterschiedliche Wege. Die italienisch-slowenische Kommission kam ihrem Auftrag nach und legte im Jahr 2000 einen Abschlussbericht vor, während die italienischkroatische ihre Arbeit sofort einstellte und nicht wieder aufnahm. Formal ist sie nie aufgelöst worden und im Laufe der Jahre gab es verschiedene Versuche, sie neu zu beleben, die jedoch allesamt scheiterten. Dieser Misserfolg hing nicht nur mit der Entwicklung des Verhältnisses zwischen Italien und Kroatien, sondern auch mit den politischen und geschichtswissenschaftlichen Debatten in Kroatien selbst zusammen. Mutmaßlich haben die Unsicherheiten bei der historischen Einschätzung des Unabhängigen Staates Kroatien (NDH) und dessen Beziehungen zum faschistischen Italien in entscheidender Weise dazu beigetragen, dass sich die kroatische Delegation am Ende faktisch aus der Kommission zurückzog. Die Zweiteilung der Kommission wirkte sich auf der inhaltlichen Ebene nachteilig aus. So stellten sich der italienisch-slowenischen Kommission erhebliche Probleme, wenn es darum ging, die italienisch-slowenischen Beziehungen unter dem Gesichtspunkt eines zwischenstaatlichen Verhältnisses zu betrachten. Verständlicherweise wollte die slowenische Delegation das Untersuchungsfeld auf das Verhältnis zwischen den Italienern und Slowenen in ihren historischen Siedlungsgebieten eingrenzen, aber selbstverständlich bildeten die von den Slowenen bewohnten Territorien in der sogenannten „adriatischen Frage“ nur ein Segment, waren doch für die römische Regierung damals zunächst Wien und dann Belgrad, aber gewiss nicht Ljubljana der eigentliche Ansprechpartner. Es erwies sich als gar nicht einfach, die regionale, nationale und staatliche Dimension miteinander in Einklang zu bringen. Italien beispielsweise hatte Julisch Venetien immer als eine Einheit betrachtet, die italienische Geschichtsschreibung folglich die Probleme, die sich aus der faschistischen Politik gegenüber den dort ansässigen slawischen, nicht zwischen Slowenen und Kroaten unterschiedenen Bevölkerungsteilen und später aus der jugoslawischen Politik ergaben, unter einem umfassenden Blickwinkel untersucht.⁴ Andererseits meinten die slowenischen Historiker, sich mit den politischen Entscheidungen der jugoslawischen Behörden nur in ihren Folgen für die Slowenen befassen zu müssen, und ebensowenig setzten sie sich mit der Lage auseinander, die nach dem Zweiten

 Den Begriff „Julisch Venetien“ prägte 1863 der Sprachwissenschaftler Graziadio Isaia Ascoli aus Gorizia, um damit alle Territorien zu bezeichnen, die zum Habsburgerreich gehörten und auf die Italien an seiner Ostgrenze Ansprüche geltend machte; sie waren damals in verschiedene Verwaltungsbezirke unterteilt, gehörten nach italienischer Ansicht aber deshalb zusammen, weil Teile ihrer Bevölkerung Dialekte venetischen Ursprungs sprachen. Aus einer solchen Perspektive war die Präsenz slawischer Gruppierungen völlig irrelevant, und noch bedeutungsloser war die in der Regel auch von den in der Region wohnenden Italienern ignorierte Unterscheidung zwischen Slowenen und Kroaten. Die jugoslawische Seite benutzte nach 1918 und vor allem während der Friedenskonferenz den Begriff Julijska Krajina oder, häufiger, die französische Variante Marche Julienne. Die jugoslawische und – noch selbstverständlicher – die slowenische und kroatische Geschichtsschreibung unterscheiden zwischen der Primorska, worunter man zuweilen den Küstenstrich um Triest, zuweilen auch den Grenzstreifen zur friulischen Ebene versteht, von Istrien, das Kroatien zugeordnet wird.

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Weltkrieg in einem Großteil des von Kroatien annektierten Istrien entstanden war. Eine Gesamtbeurteilung des Exodus der Italiener, der in einem geringeren Maße auch die von den Slowenen kontrollierten Gebiete betraf, war damit unmöglich geworden.⁵ Schwierig war es überdies, zu einem gemeinsamen historischen Urteil über die Folgen des Friedensvertrages von 1946 zu gelangen: Italien betrachtete ihn als eine Katastrophe, weil ein Großteil von Julisch Venetien an Jugoslawien fiel, während sich in der slowenischen Geschichtsschreibung die Meinung breitmachte, die Annektion Istriens durch Kroatien sei in gewisser Weise durch den Verzicht der Slowenen auf Triest ermöglicht worden.⁶ Aus der Aufteilung des jugoslawischen Staatsgebietes und der damit zusammenhängenden Geschichtsschreibung ergab sich als vielleicht gravierendste Folge, dass eine von den italienischen Historikern bereits seit vielen Jahren favorisierte analytische Perspektive unterlaufen wurde, d. h. ein breit angelegter Ansatz, der über die Streitigkeiten unter den wenigen hunderttausenden Italienern und Slawen in den Grenzregionen hinausschaute und die zentraleuropäische Orientierung der faschistischen Außenpolitik, das italienische Besatzungskonzept auf dem Balkan sowie später die strategischen Pläne Titos und seines Personals im Rahmen des Kalten Krieges und der Beziehungen innerhalb des kommunistischen Blocks in den Blick nahm. Von solchen Öffnungen hielt sich die Kommission fern, doch glücklicherweise sind sie von jüngeren Studien wiederaufgenommen worden.⁷

 Zum Problem der Vertreibung der Italiener aus Dalmatien und Istrien vgl. die Pionierarbeit von Cristiana Colummi [u. a.], Storia di un esodo. Istria 1945 – 1956. Triest 1980 und Raoul Pupo, Il lungo esodo. Istria. Le persecuzioni, le foibe, l’esilio. Mailand 2005. In vergleichender Perspektive vgl. Marina Cattaruzza [u. a.] (Hrsg.), Esodi. Trasferimenti forzati di popolazione nel Novecento europeo, ESI. Neapel 2000; Guido Crainz [u. a.] (Hrsg.), Naufraghi della pace. Il 1945, i profughi e le memorie divise d’Europa. Rom 2008; Antonio Ferrara/Nicolò Pianciola (Hrsg.): L’età delle migrazioni forzate. Esodi e deportazioni in Europa 1853 – 1953. Bologna 2012. Einen sozialgeschichtlichen Ansatz vgl. in Gloria Nemec, Un paese perfetto. Storia e memoria di una comunità in esilio. Grisignana d’Istria 1930 – 1960. Görz 1998; Dies., The Re-definition of Gender Roles and Family Structures among Istrian Peasant Families in Trieste 1954– 1964, in: Modern Italy 9.1, 2004, S. 35 – 46; Dies., Nascita di una minoranza. Istria 1947– 1965. Storia e memoria degli italiani rimasti nell’area istro-quarnerina. Triest 2012. Eine Untersuchung der gegensätzlichen Memoiren von Italienern, Slowenen und Kroaten aus einer anthropologischen Perspektive vgl. in Pamela Ballinger, History in Exile. Memory and Identity at the Borders of the Balkans. Princeton/Oxford 2003.  Die spezifischen Schwierigkeiten, auf die hier die italienische und slowenische Delegation trafen, gehören selbstverständlich in einen größeren methodologischen Problemzusammenhang. Dieser ergab sich einerseits aus der Auflösung Jugoslawiens und andererseits aus der Tendenz der nationalisierenden Historiographien der Nachfolgestaaten, nicht nur die jugoslawische Geschichte höchst kritisch zu betrachten, sondern auch die größte Verantwortung für die dunkelsten Seiten im Nachkriegsjugoslawien entweder der Föderation oder dem Handeln anderer ethnischen Volksgruppen zuzuschreiben.  Davide Rodogno, Il nuovo ordine mediterraneo. Le politiche di occupazione dell’Italia fascista in Europa 1940 – 1943. Turin 2003; Brunello Mantelli (Hrsg.), L’Italia fascista come potenza occupante. Lo scacchiere balcanico, in: Qualestoria 1, 2002; Erik Gobetti, L’occupazione allegra. Gli italiani in Jugoslavia 1941– 1943. Rom 2007; Ders., Alleati del nemico. L’occupazione italiana in Jugoslavia 1941–

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Trotz dieser strukturellen Mängel ist das ursprüngliche Ziel erreicht worden: In der entscheidenden Übergangsphase der 1990er Jahre lag die Erörterung der wichtigsten Problemknoten und der Beziehungen zwischen Italienern und Südslawen im Wesentlichen bei den Historikern und hing weniger von der politischen Debatte ab, sodass die Vergangenheit nicht in simplifizierend-polemischer, sondern in kritischer Form aufgearbeitet wurde. Selbstverständlich fehlte es nicht an Instrumentalisierungsversuchen und Kontroversen, doch die Möglichkeit, die strittigsten Themen den Kommissionen zu überlassen, hat entschieden dazu beigetragen, dass die Diskussionen nicht entgleisten. Das ursprüngliche Mandat betraute die Kommissionen, sich auf die „positiven, die beiden Völker miteinander verbindenden Elemente“ zu konzentrieren und auf diese Weise jene Elemente zu identifizieren, „die ihr Verhältnis in der Vergangenheit beeinträchtigt haben“, wobei auch die kulturellen Beziehungen angemessene Berücksichtigung finden sollten. An diese Richtlinien hat sich die Kommission aus verschiedenen Gründen nur teilweise gehalten. Das lag zunächst an ihrer Zusammensetzung. Obgleich einige ihrer Mitglieder keine Geschichtswissenschaftler waren, sondern Journalisten, Schriftsteller und im italienischen Fall auch ein Vertreter der julisch-dalmatischen Emigranten, herrschten die Historiker der politischen Geschichte eindeutig vor. Wenn man zudem bedenkt, dass die nationale und ideologische Dimension in den Beziehungen zwischen Italienern und Slowenen im 20. Jahrhundert unzweifelhaft eine zentrale Rolle spielte, wird verständlich, warum die kulturellen und gesellschaftlichen Aspekte nur marginal behandelt wurden. Überdies kontrastierte die auf diplomatischer Ebene vertretene „Entschärfung“ zu stark mit der Lebenswirklichkeit einer historischen Epoche, in der gerade eine Zunahme und Zuspitzung der Konflikte zwischen Italienern und Slowenen zu erleben war. Dementsprechend hat die Kommission zwar die positiven Momente und Aspekte nicht gänzlich vernachlässigt, sich aber doch vorrangig auf die Ursachen der zwischen dem Ende des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts entstandenen Konflikte konzentriert. Dieser Entscheidung lag eindeutig der Willen der Kommissare zugrunde, sich ernsthaft und vorbehaltlos mit dem Problemkomplex auseinanderzusetzen, die in der Vergangenheit – das ist normal und positiv – nicht nur aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet worden waren, sondern auch zu Kommunikationsblockaden geführt hatten. Angesichts der unzähligen Fragen, die anstanden, wollte man den Untersuchungszeitraum anfänglich mit den 1950er Jahren abschließen. Damit blieben allerdings gerade jene Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ausgenommen, in denen sich das bilaterale Verhältnis entschieden verbesserte. Seit den 1960er Jahren nämlich kam es zu einer gemeinsamen Interessenslage, da auf strategischer Ebene

1943. Rom/Bari 2013; Francesco Caccamo/Luciano Monzali (Hrsg.): L’occupazione italiana della Jugoslavia 1941– 1943. Rom 2008; Patrick Karksen, Frontiera rossa. Il Pci, il confine orientale e il contesto internazionale 1941– 1955. Görz 2010.

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Jugoslawien für Italien als nützlicher Pufferstaat gegenüber dem Warschauer Pakt fungierte, während Italien für Jugoslawien zu einem Sicherheitsfaktor wurde, wie es sich beispielsweise in der tschechoslowakischen Krise zeigte und auch in wirtschaftlicher Hinsicht nahm der Handelsaustausch spürbar zu; konzeptionell ging man von der Vorstellung einer geschlossenen Grenze, die eine Mauer zwischen zwei entgegengesetzten Welten errichtete, zur Formel der „Grenze als Brückenkopf“ über, die einen Standortvorteil für die Wirtschafts- und Siedlungsstrukturen in den Grenzregionen bezeichnete.⁸ Auf lokaler Ebene kam es zu einer nachhaltigen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, so mit der Arbeitsgemeinschaft Alpe Adria ab 1978, die ein Dialogmodell für Regionen bot, die damals unterschiedlichen Wirtschaftssystemen und verschiedenen politischen Ordnungen angehört hatten.⁹ Die Kommissare hielten sich hingegen insofern an den Auftrag, als sie sich auf eine gemeinsame kritische Bestandsaufnahme der bestehenden Geschichtsschreibung konzentrierten und keine neuen Forschungslinien entwickelten. Das hatte zur Folge, dass der Bericht hier eher zurückhaltend als innovativ ausfiel. Auch in diesem Fall sind dafür verschiedene Motive auszumachen. Zunächst sei als ein banaler, aber doch sehr wirkmächtiger Grund genannt, dass die Finanzmittel, über die die Kommission verfügte, gerade noch die Kosten der bilateralen Sitzungen deckten, während kein Posten für Forschungen vorgesehen war. Gleichwohl haben die Kommissare derartige Forschungsarbeiten in Zusammenarbeit durchgeführt, allerdings im Rahmen ihrer eigenen Budgets und zu spezifischen Fragestellungen, nicht auf der Grundlage eines Gesamtplans. Zum Zweiten ging es den Kommissionsmitgliedern nicht so sehr darum, neue Paradigmen zu entwickeln, sondern ausgeglichene Urteile über eine Reihe von Fragestellungen vorzulegen, die bis zu diesem Zeitpunkt nicht nur heftige Diskussionen unter den Historikern ausgelöst hatten, sondern auch massiv und bedenkenlos für politische Zwecke eingesetzt worden waren. Schließlich beeinflussten die unterschiedlichen Ausgangspunkte die Diskussionen nicht wenig; sie lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass sich die italienische Geschichtsschreibung bereits seit Langem dem Faschismus zugewandt hatte, während man in Slowenien gerade damit anfing, den Kommunismus kritisch zu durchleuchten.

 Giorgio Valussi, Il confine nordorientale d’Italia. Trieste 1972; Milan Bufon, Sviluppo etnico e regionale delle aree di confine. Il caso degli Sloveni nel Friuli-Venezia Giulia. Triest [u. a.] 1990; Ders., Cultural and social dimension of borderlands. The case of the italo-slovene trans-border area, in: Geojournal 3, 1993, S. 235 – 240; Moreno Zago, Il confine-ponte. La strategia, in: Georg Meyr/Raoul Pupo (Hrsg.): Dalla cortina di ferro al confine ponte. A cinquant’anni dal Memorandum di Londra, l’allargamento della Nato e dell’Unione Europea, Triest 2008, S. 78 – 88.  Alpe Adria. Una regione europea, hrsg. v. Istituto per gli Studi di Politica Internazionale. Mailand 1988; Marco Antonsich, Il Nord-Est tra Mitteleuropa e Balcani. Il caso del Friuli-Venezia Giulia, in: ders. [u. a.]., Alessandro Colombo, Aldo Ferrari, Riccardo Redaelli, Alessandro Vitale, Fulvio Zannoni (Hrsg.), Geopolitica della Crisi. Balcani, Caucaso e Asia centrale nel nuovo scenario internazionale. Mailand 2002, S. 141– 248.

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Weite Themenbereiche waren also bereits gründlich erforscht worden, so die Fragen, die mit dem Faschismus in den Grenzregionen, mit den Versuchen der „ethnischen Säuberung“ gegenüber der slowenischen Minderheit seitens der italienischen Behörden in den 1920er und 1930er Jahren, mit der italienischen Besatzungspolitik in Slowenien und mit der italienisch-slowenischen Zusammenarbeit während des Befreiungskrieges zusammenhingen. Daneben traten Grauzonen, die sich nicht nur auf einzelne besonders tragische und kontroverse Ereignisse – wie beispielsweise die Foibe – bezogen, sondern allgemeiner auf die breit gefächerten, widersprüchlichen Aspekte des Befreiungskampfes, des slowenischen Kollaborationismus in der Provinz Ljubljana und im Küstenland, auf die komplexen Beziehungen zwischen den Widerstandsbewegungen und den kommunistischen Parteien selbst, auf die Verknüpfung von nationalen Orientierungen, Klassenkampf und Machtpolitik innerhalb der Partisanenbewegung und des neuen kommunistischen jugoslawischen Staates, auf den Zusammenhang zwischen den im Krieg und in der Nachkriegszeit begangenen extremen Gewalttaten einerseits und den Zielsetzungen und Strukturen des sich – auf wie auch immer für jugoslawisch gehaltenem Boden – neu herausbildenden Regimes andererseits. Die entschieden asymmetrische Ausgangsbasis der beiden in der Kommission vertretenen Historiographien bewirkten, dass man sich mit Minimalzielen begnügte, die in der Suche nach einer gemeinsamen Sprache und einem soliden Konsens für einige erkenntnisleitende Fragestellungen bestanden. Die Umsetzung dieses Bestrebens erwies sich schwieriger bei der Erörterung langfristiger Prozesse und bei der Gesamtbeurteilung der Beziehungen zwischen den beiden Völkern als bei den anscheinend strittigsten Einzelmomenten aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Denn bestimmte, besonders heikle Fragen – z. B. die Foibe – bearbeiteten einige italienische und slowenische Kommissionsmitglieder bereits partnerschaftlich auf einer gemeinsamen Quellenbasis. In diesen Fällen ließen sich die Forschungsergebnisse eher für neue Problemansätze verwenden, die sich von den Schemata der Vergangenheit zu lösen und die verschiedenen Deutungsebenen jener tragischen Geschehnisse herauszuarbeiten vermochten. Sehr viel problematischer war es hingegen, sich in einem gemeinsamen Text über die sogenannten „erkenntnisleitenden Eckpfeiler“ zu verständigen, da sich die slowenische Delegation über einen langen Zeitraum hinweg in voller Übereinstimmung mit der früheren jugoslawischen Tradition zu orientieren schien. Wichtigster Streitpunkt war dabei die Betrachtung von Geschichte als linearen Prozess und ob sie es zuließ, anhand zwingender Ursache-Wirkungs-Verhältnisse die „Ursprungsschuld“ für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts feststellen zu können. Nach intensiven sachlichen Diskussionen schließlich konnte dieser anfängliche Determinismus überwunden und einer differenzierteren Ansicht von historischer Dynamik der Weg geebnet werden: Neben den Kontinuitätslinien fanden nunmehr auch die neuen Aspekte die ihnen gebührende Aufmerksamkeit und die Verknüpfungen der verschiedenen historischen Geschehnisse traten hervor.

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Ursprung und Struktur der Kommission, die ja im Auftrag der beiden Außenministerien arbeitete, bargen die Gefahr in sich, dass die eventuellen Arbeitsergebnisse als eine Art abgestimmter und geschönter „offizieller Geschichte“ erschienen. Das lag nun keineswegs in der Absicht der Kommissionsmitglieder. Ihnen ging es vielmehr um eine unabdingliche propädeutische Arbeit, d. h. um die Aufbrechung der ideologischen Verkrustungen, die sich insbesondere um einige Kontroversen gebildet hatten. Damit wollte man sie bedenkenlosen öffentlichen Instrumentalisierungsversuchen entziehen und stabile, auf einen einheitlichen kritischen Zugriff auf die gemeinsame Geschichte gegründete Beziehungen zwischen den beiden nationalen Historiographien schaffen. Auf diesem Weg ist es der Kommission tatsächlich gelungen, einen von allen geteilten Abschlussbericht vorzulegen, auch wenn es nicht an Überraschungen fehlte. Während einige italienische Kommissionsmitglieder aus gesundheitlichen Gründen oder wegen anderweitiger Verpflichtungen ersetzt wurden, zog sich ein slowenischer Teilnehmer zurück, weil er die Linie seiner Delegation, die sich seiner Meinung nach zu weit von den früheren Deutungsparadigmen entfernte, grundsätzlich ablehnte.¹⁰ Insgesamt betrachtet stellt die Arbeit der Kommission eher das Ende einer alten als den Beginn einer neuen Phase dar. In ihr trafen immer auch zwei Historiographien aufeinander, die sich als nationale verstanden. Überdies fehlten in beiden Delegationen Historiker, die der slowenischen Minderheit in Italien bzw. dem italienischen Bevölkerungsteil in Slowenien angehörten.Wenig Aufmerksamkeit schenkte man also den Unschärfen und Verschleifungen bei der Identitätsbildung wie auch den Entstehungs- und Verbreitungsprozessen der nationalen Ideologien. Nicht zufällig hat man dementsprechend die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg recht schnell im Rückgriff auf die traditionellen italienischen und slowenischen Studien abgehakt, ohne besondere Problempunkte zu artikulieren. Aber auch in den Analysen der späteren Phasen sind die Italiener und Slowenen als genau definierte, sich gegenüberstehende nationale Gruppen behandelt worden. Heute liegen die Forschungsperspektiven sowohl inhaltlich als auch methodisch anders. Die nationalen Identitäten erscheinen nunmehr vor allem als Konstrukte, deren Entstehung, Auflösung und Mischcharakter es zu erforschen gilt. In der heutigen Forschung herrscht die vergleichende Dimension zwischen den Entwicklungen

 Die ursprünglichen italienischen Kommissionsmitglieder waren die Professoren Sergio Bartole (als Ko-Präsident), Elio Apih, Angelo Ara, Paola Pagnini, Fulvio Salimbeni, der Schriftsteller Fulvio Tomizza und der Senator Lucio Toth. Später wurden Sergio Bartole (auch im Amt des Ko-Präsidenten) von Professor Giorgio Conetti, Fulvio Tomizza durch Professor Raoul Pupo und Elio Apih durch die Professorin Marina Cattaruzza abgelöst. Die ursprünglichen slowenischen Kommissionsmitglieder waren Milica Kacin-Wohinz (als Ko-Präsidentin), ferner France Dolinar, Boris Gombac, Branko Marusic, Boris Mlakar, Nevenka Troha und Andrei Vovco. Auf Mlakar folgte nach dessen Rücktritt Aleksander Vuga; später ersetzte Mlakar allerdings wieder den zurückgetretenen Gombac, der sich später in seiner Schrift Slovenija, Italija. Od preziranja do priznanja. Ljubljana 1996, polemisch gegen die Kommission richtete.

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in der oberen Adria und in anderen europäischen Räumen entlang eines von der Ostsee bis zum Mittelmeer reichenden territorialen Streifens vor. Sie füllt den Begriff des „julischen Labors“ mit konkretem Inhalt, das ein besonders fruchtbares Fallbeispiel bietet, um die Gleichzeitigkeit der Übergangsprozesse in Mitteleuropa und im europäischen Mittelmeerraum zu analysieren. Die Zusammenarbeit wird sich nun in Zukunft nicht mehr auf die Konfrontation zwischen Vertretern der Nationalgeschichte richten, sondern einer postnationalen Geschichtsschreibung folgen, bei der die italienischen und slowenischen Wissenschaftler unter Beweis stellen können, dass sie fähig sind, die Empfindlichkeiten anderer nachzuvollziehen und die Mechanismen starrer Zugehörigkeiten zu dekonstruieren, dabei auch herauszuarbeiten, wie diese entstanden sind und welche Erfahrungen sie ausgegrenzt haben.¹¹ Das wichtigste Ergebnis der Kommissionsarbeit berührt also meines Erachtens zwei Ebenen. Die erste besteht in der kritischen, stringent begründeten Präzisierung einiger fundamentaler, der Einrichtung der Kommission selbst zugrunde liegenden Fragestellungen, welche die Phasen der Gewaltanwendung thematisieren; in diesem Fall sind die im Abschlussbericht formulierten Urteile zu einem unverzichtbaren, wenn auch durchaus verbesserungsfähigen Bezugspunkt geworden. Die Frage der Foibe beispielsweise, die zur Einberufung der Kommission geführt hat, benennt der Abschlussbericht differenziert, aber sehr bestimmt; zur Sprache kommen hier auch die in den einschlägigen wissenschaftlichen bzw. öffentlichen Debatten häufig benutzten, mitunter gegensätzlichen Deutungskategorien, so die Begriffspaare Befreiung/Besatzung und Abrechnung/geplantes Vorgehen oder die Begriffe „Präventivsäuberung“ und „staatliche Gewalttakte“: Die Ausdehnung der jugoslawischen Kontrolle von den bereits zuvor von der Partisanenbewegung befreiten Gebieten auf ganz Julisch Venetien wurde von der Mehrheit der Slowenen und von den Italienern, die Jugoslawien zuneigten, mit großer Begeisterung aufgenommen. Für die Slowenen handelte es sich um eine doppelte Befreiung, d. h. sowohl von den deutschen Besatzern als auch vom italienischen Staat. Die Italien zugewandte julische Bevölkerung betrachtete die jugoslawische Besatzung als den düstersten Moment ihrer Geschichte, zumal es dabei in den Gebieten um Triest, Görz und Koper zu einer Welle von Gewaltakten kam: Zehntausende – vor allem Italiener, aber auch Slowenen, die mit den politischen Vorstellungen der Kommunisten für Jugoslawien nicht einverstanden waren – wurden verhaftet, die dann zum Teil in verschiedenen Schüben wieder freigelassen wurden, hunderte standrechtliche Hinrichtungen wurden sofort durchgeführt, deren Opfer in der Regel in den Foibe verschwanden, eine große Anzahl von Militärangehörigen und Zivilisten wurde deportiert, die zum Teil an Unterernährung starben oder im Zuge der Transporte, in den Gefängnissen und in den in verschiedenen jugoslawischen Regionen entstandenen Gefangenenlagern (genannt sei hier Borovnica) liquidiert wurden. Diese Ereignisse fanden in einem Klima der Abrechnung für die erlittene faschistische Gewalt und die Kriegsleiden statt und schienen zu einem großen Teil einem bewußten politischen Plan zu folgen, in den verschiedene Motive einflossen: einerseits das Bestreben, sich der Personen und Strukturen zu

 Marta Verginella, La storia di confine tra sguardi incrociati e malintesi, in: Dies. (Hrsg.): La storia al confine e oltre il confine. Uno sguardo sulla storiografia slovena, Themenheft von Qualestoria 1, 2007, S. 5 – 11.

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entledigen, die sich (auch jenseits persönlicher Verantwortlichkeiten) mit dem Faschismus und der nationalsozialistischen Besatzung, mit dem Kollaborationismus und dem italienischen Staat in Zusammenhang bringen ließen, andererseits das Ziel der Säuberung, um mit Blick auf die Errichtung des kommunistischen Regimes und die Einverleibung Julisch Venetiens in den neuen jugoslawischen Staat die wirklichen, potentiellen oder vermeintlichen Oppositionellen präventiv auszuschalten. Der ursprüngliche Impuls zur Repression ging von einer revolutionären Bewegung aus, die sich in ein Regime umzuwandeln begann, so dass die unter den Partisanenführern verbreitete nationale und ideologische Feindseligkeit in staatlich vollzogene Gewaltakte umschlug.

Das zweite Ergebnis der Kommissionsarbeit bezieht sich darauf, dass die gemeinsame Arbeit zwischen den Historikern beider Republiken nachhaltig gefördert wurde, während zuvor nur einige wenige unter völlig anderen Rahmenbedingungen zu Formen der Zusammenarbeit gefunden hatten.¹² Daraus ergab sich ein zunehmender Austausch von Quellenmaterial und von Beiträgen für italienische und slowenische Zeitschriften, die Organisation von gemeinsamen Seminaren und Tagungen, die Entwicklung von grenzüberschreitenden und europäischen Forschungsprojekten. Selbstverständlich waren nicht alle Initiativen erfolgreich. Auch Zustimmung und Ablehnung verteilten sich je nach Orientierung und Sympathie und folgten nicht ethnischen oder nationalen Trennlinien. Gerade in der Banalität dieser Probleme liegt ihr Wert, stehen sie doch für eine Normalisierung der Beziehungen, die über lange Zeit gefehlt hatte. Die positiven Seiten treten umso deutlicher hervor, wenn man sie mit dem Stand der Beziehungen zwischen den italienischen und kroatischen Historikern vergleicht, für die keine gemeinsame Kommissionsarbeit zustande kam. Seit mindestens zwanzig Jahren gibt es zwischen den Kommissionsmitgliedern kaum Kontakt, obgleich die Problemfelder, die gemeinsam angegangen werden müssen, weitaus größer sind. Gleichwohl besteht die Hoffnung, dass nach dem Eintritt Kroatiens in die Europäische Union die Finanzierung der Interreg-Projekte mehr vermag als der politische Willen und die intellektuellen Tendenzen der Historiker in den beiden Ländern. Die Vorlage des Abschlussberichts der italienisch-slowenischen Kommission im Jahr 2000 fiel im Übrigen in eine politische Phase, die sich von derjenigen unterschied, in der das bilaterale Unternehmen beschlossen worden war. In Italien schlugen am Ende die befürchteten Spekulationen der nationalistischen und rechtsextremen Strömungen weit weniger ins Gewicht als die unvorhergesehenen Entwicklungen, d. h. der Zusammenbruch der sogenannten „Ersten Republik“, das Abtreten der Democrazia Cristiana – dem Eckpfeiler des früheren Systems – von der politischen Bühne, der Kampf um die Nachfolge und damit das Bemühen um Legitimation seitens der Erben der Kommunisten und Neofaschisten, d. h. derjenigen

 Besonders eng waren insbesondere seit den 1970er Jahren die Beziehungen zwischen dem italienischen Netz der Istituti per la storia del movimento di liberazione und den Instituten zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Jugoslawien gewesen.

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politischen Kräfte, die die christdemokratische Hegemonie unter den Bedingungen des Kalten Krieges von der Regierungsverantwortung ferngehalten hatte. In ihrem Bemühen, eine neue Identität zu finden, und mit durchaus konvergierenden Absichten haben sie die Erinnerung der italienischen Tragödie an der Ostgrenze als wesentliches Terrain zur gegenseitigen Anerkennung genutzt. Beispielhaft war in dieser Hinsicht das Treffen vom März 1998 zwischen dem damaligen Parlamentspräsidenten und Exponenten des Partito Democratico della Sinistra, Luciano Violante, und dem Präsidenten der Alleanza nazionale, Gianfranco Fini, im Teatro Verdi von Triest, dem Tempel der julischen Italianität. Die Reaktionen darauf fielen höchst unterschiedlich aus: Während einige Historiker mit harten Worten die italienische Linke anklagten, sie habe sich vom Nationalismus korrumpieren lassen, haben andere in der Begegnung einen substantiellen Fortschritt für die italienische Demokratie gesehen.¹³ Zweifellos hatte das neue politische Klima Teil daran, dass der Abschlussbericht der Kommission in Italien mit kühler Zurückhaltung aufgenommen wurde, ließ er sich doch wenig auf die nationalen und ideologischen Mythen ein. Die italienische Regierung machte ihn sich nicht zu eigen, sondern ließ ihn nur über die üblichen wissenschaftlichen Kanäle verbreiten. Die Haltung war formal völlig korrekt und in mancher Hinsicht auch opportun, drückte sich darin doch eine Abstandnahme der Politik von der Geschichte aus; sie stand aber in Widerspruch zu den Erwartungen, die eine qualitative Verbesserung in den Beziehungen zwischen den beiden Nachbarländern von ihrer Fähigkeit abhängig machten, die Schatten ihrer Vergangenheit auszuleuchten. Dass sich das politische Klima gewandelt hatte, bezeugt ad abundantiam die Verabschiedung des Gesetzes vom 30. März 2004, das den 10. Februar – den Jahrestag der Unterzeichnung des Friedensvertrages von 1947 – als ‚Giorno del ricordo‘ [Tag der Erinnerung] anerkennt, um das Andenken an die Tragödie der Italiener und aller Opfer der Foibe, an den Exodus der Bevölkerung aus den Regionen Istrien, Fiume und Dalmatien in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und an die komplexen Verhältnisse an der östlichen Grenze wachzuhalten und zu erneuern.¹⁴ Der Weg zu diesem Gesetz verdient unsere Aufmerksamkeit. Den Anfang machten einige Abgeordnete der Alleanza Nazionale 1995 mit einem Gesetzesvorschlag zur „Gewährung einer Anerkennung für die Nachkommen der Foibe-Opfer“, der in Wirklichkeit nicht so sehr den in den Gewaltwellen zwischen 1943 und 1945 getöteten Zivilpersonen, sondern den an der östlichen Grenze gefallenen Soldaten der RSI galt.¹⁵ Der Entwurf kam in der

 Zu den beiden gegensätzlichen Standpunkten vgl. beispielsweise Pirjevec, Foibe und Liborio Mattina, Democrazia e nazione. Dibattito a Trieste tra Luciano Violante e Gianfranco Fini. Triest 1998. Vgl. überdies die Kommentare von Pamela Ballinger, Exhumed histories. Trieste and the politics of (exclusive) victimhood, in: Journal of Southern Europe and the Balkans 6.2, 2004, S. 145 – 159, hier S. 156.  Veröffentlicht in der „Gazzetta Ufficiale“ Nr. 86, 13.4. 2004.  Parlamentarische Gesetzesinitiative der Abgeordneten Menia und anderer vom 11. Juli 1995; vgl. die offizielle Webseite der Camera dei deputati.

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laufenden Legislaturperiode nicht einmal zur Sprache, wurde aber in der darauffolgenden von der Abgeordnetenkammer verabschiedet, nachdem im Verlauf der Parlamentsdebatten die Gefallenen – sie ließen sich nicht unter den in der wissenschaftlichen Literatur gängigen Begriff der Foibe fassen – und die Kriegsverbrecher ausgeschlossen worden waren.¹⁶ Am letzten Tag der Legislaturperiode, dem 8. März 2011, scheiterte das Gesetz im Senat. In den nachfolgenden Jahren waren die Gesetzesinitiativen, welche die Geschehnisse an der östlichen Grenze betrafen, sowohl inhaltlich als auch hinsichtlich ihrer Fähigkeit, unter den politischen Kräften einen umfassenden Konsens zu schaffen, einem tiefgreifenden Wandel unterworfen. In der neuen Legislaturperiode wurden zahlreiche Vorschläge eingebracht, die die Einrichtung eines Gedenktages für die Foibe-Massaker und den Exodus zum Gegenstand hatten.¹⁷ Ihre Zusammenführung und die diesbezüglichen Parlamentsdebatten mündeten in einen Gesetzestext, der sich formal auf den „Tag der Erinnerung“ bezog, darüber hinaus aber auch den Verwandten der Foibe-Opfer in Julisch Venetien und in Dalmatien (inbegriffen waren also auch einige nach der Aggression gegen Jugoslawien vom April 1941 annektierten Territorien) ein „Metallabzeichen mit dazugehöriger Urkunde“ gewährte. Ausgeschlossen blieben nur die Kriegsgefallenen, während man andere Vorgaben so weit aufweichte, dass sie praktisch unanwendbar wurden; sie richteten sich in den früheren Entwürfen darauf, den Kriegsverbrechern und Mitgliedern von Militär- oder Polizeiformationen, deren Brutalität gegenüber den jugoslawischen und italienischen Widerstandskämpfern in Julisch Venetien bekannt war, eine öffentliche Anerkennung zu versagen. In der Neufassung, die den Schwerpunkt auf die Einrichtung eines Gedenktages legte, wurde das Gesetz mit überwältigender Mehrheit verabschiedet und fand auch die Zustimmung der in den Reihen der Democratici di Sinistra (ex KPI) gewählten Vertreter der slowenischen Minderheit in Italien.¹⁸ Der Geist der nationalen Versöhnung behielt also die Oberhand gegenüber der von den Historikern empfohlenen Vorsicht. In der Tat scheint sich in dem nachfolgenden Jahrzehnt niemand um die Arbeit der von der Regierung eingerichteten Kommission gekümmert zu haben, deren Aufgabe darin bestand, die von den Angehörigen der Foibe-Opfer gestellten Anträge auf Anerkennung zu prüfen; ungefähr 300 waren es im ersten Jahrzehnt nach Inkrafttreten des Gesetzes – vermutlich weit we Proposta di Legge Menia: Concessione di un riconoscimento ai congiunti degli infoibati (1563) ed abbinata proposta di legge: Di Bisceglie (6724, 1º marzo 2000). Vgl. die offizielle Webseite der Camera dei Deputati.  Proposta di Legge – Istituzione del „Giorno della memoria e della testimonianza“ in ricordo delle terre d’Istria, di Fiume e della Dalmazia, nonché degli esuli giuliano-dalmati, dal sito della Camera dei deputati; Disegno di legge – Istituzione del „Giorno della memoria“ dell’esodo di istriani, fiumani e dalmati; vgl. offizielle Webseite der Camera dei deputati.  Zu den Diskussionen in der Camera dei deputati vgl. insbesondere den Resoconto stenografico dell’Assemblea – Seduta n. 422 di mercoledì 11 febbraio 2004, auf der offiziellen Webseite der Camera dei deputati. Das Gesetzgebungsverfahren im Senat vgl. auf der offiziellen Webseite des Senats: Atto Senato n. 2752 – XIV Legislatura.

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niger, als man erwartet hatte. Im zehnjährigen Rückblick lässt sich wohl sagen, dass man die Anerkennung mit bemerkenswerter Freizügigkeit aussprach; tatsächlich wurden in einigen Fällen, die ein gewisses Aufsehen erregt hatten, auch im Partisanenkampf gefallene RSI-Soldaten und Angehörige des königlichen Heeres, die von jugoslawischer Seite der Kriegsverbrechen angeklagt wurden, berücksichtigt.¹⁹ Das hat vor allem unter den Verbänden der julischen und dalmatischen Flüchtlinge, die zu den wichtigsten Befürwortern des Tages der Erinnerung gehörten, Missstimmungen ausgelöst – einige von ihnen haben deshalb auch Abstand von der Praxis der Kommission genommen, während andere ihre Entscheidungen vorbehaltlos unterstützten.²⁰ Abgesehen von derartigen, durchaus vorhersehbaren Zwischenfällen hat der „Tag der Erinnerung“ großen Zuspruch gefunden. Im Verlauf eines Jahrzehnts haben ihn die wichtigsten Einrichtungen des italienischen Staates, vom Staatspräsidenten bis zu den lokalen Körperschaften, von den kleinen Gemeinden bis zu den Bezirksräten zahlloser Städte und bis zu den Schulen gewürdigt – allerdings fast nur in Mittel- und Norditalien, während das Thema Ostgrenze südlich von Rom in der Regel nur auf geringes Interesse stieß. Den breiten Konsens, den das Gesetz gefunden hat, und der Einsatz der politischen Kräfte der linken Mitte haben bewirkt, dass die Gedenkfeiern nicht von den nationalistischen Kräften der extremen Rechten monopolisiert werden konnten. Zweifellos fehlte es nicht an Instrumentalisierungen; genannt sei hier nur die beispielhafte Kampagne, die die Alleanza Nazionale als Regierungspartei in der MitteRechts-Koalition für einige Jahre mit dem Ziel führte, in allen Gemeinden einige Straßen und Plätze nach den „Märtyrern der Foibe-Opfer“ zu benennen. In den ersten Jahren haben die Flüchtlingsverbände alles in ihrer Macht Stehende getan, damit sich das Interesse im Rahmen des Tages der Erinnerung ausschließlich auf die FoibeMassaker und den Exodus konzentrierte, und ebenso richteten sich die Massenmedien – denen unverhofft ein so gut wie unbekanntes Thema in die Hände fiel, für das die Politik sehr empfänglich war – hauptsächlich auf die Frage der Foibe-Massaker, die sich mehr als alles andere für Dramatisierungen und Vereinfachungen eignete. Schließlich führte das für den Gedenktag gewählte Datum – der 10. Februar, d. h. der Tag, an dem der Friedensvertrag unterzeichnet worden war, mit dem Italien Zara, Fiume und fast ganz Istrien an Jugoslawien abtrat – zu zahlreichen Verzerrungen. In

 Besondere Aufmerksamkeit erregten auf politischer Ebene und in den Medien die Fälle des Hauptmanns Paride Mori, Offizier des Bataillons M der RSI, der im Februar 1944 bei einem Partisanenhinterhalt in Val Baccia bei Gorizia ums Leben kam, und von Vincenzo Serrentino, dem letzten italienischen Präfekten der Provinz Zara, der im Frühjahr 1945 von den Jugoslawen in Triest verhaftet und im Mai 1947 in Sebenico wegen seiner Zugehörigkeit zum Außerordentlichen Gericht in Dalmatien als Kriegsverbrecher verhaftet wurde; im Herbst 1941 hatte er zahlreiche Mitglieder der jugoslawischen Partisanenbewegung zum Tode verurteilt.  Vgl. dazu die verschiedenen Stellungnahmen, die im Sommer 2015 in „L’Arena di Pola“ und im „Coordinamento adriatico“ erschienen sind.

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der Erinnerung der julisch-dalmatischen Vertriebenen war es zweifellos seit je der Friedensvertrag gewesen, der ihr Schicksal besiegelt hatte, während ebenfalls vorgeschlagene Alternativdaten keinerlei anerkannten symbolischen Wert besaßen. Jene Entscheidung war Wasser auf die Mühlen derjenigen, die entsprechend der nationalistischen Tradition die Annahme des „Friedensdiktats“ auf die „Schwäche“ der demokratischen und antifaschistischen Nachkriegsregierungen zurückführten. Schlimmer noch, die zeitliche Nähe zwischen dem „Tag der Erinnerung“ und dem „Tag des Gedenkens“ an die Shoah am 27. Januar schien eigens dazu gemacht, um Missverständnisse auszulösen und Vewirrung zu stiften, was in einem gewissen Maße dann tatsächlich eintrat. Genau das war im Übrigen auch die Absicht einiger der radikalsten Flügel der Flüchtlingsverbände, die der italienischen extremen Rechten nahestanden und sich schon lange darum bemühten, die Foibe-Massaker und den Exodus als Genozidverbrechen mit Anspruch auf Anerkennung der Shoah gleichzustellen.²¹ Allerdings hat die kulturelle Inkonsistenz der italienischen Rechten vor allem auf historischem Gebiet ihre Vertreter immer dann in Schwierigkeiten gebracht, wenn es nicht mehr um bloße Gedenkrhetorik, sondern um historiographische Reflexion, um eine qualifizierte Informationspolitik und vor allem um die Entwicklung didaktischer Programme ging. In dieser Hinsicht leistete ein völlig anders orientiertes Organ, d. h. das vom Istituto Nazionale per la Storia del Movimento di Liberazione in Italia koordinierte Netzwerk der Istituti per la Storia della Resistenza nach anfänglichem Zögern einen weitaus größeren Beitrag. Seine Aktion rückte auch jene Geschehnisse an der östlichen Grenze in den Blick, die das Gesetz zur Einrichtung des Gedenktages flüchtig als „die anderen Ereignisse“ benannte; eine langfristige Perspektive tat sich auf und ein kritisches Schlaglicht fiel auf die Rolle der Italiener, die eben nicht nur Opfer waren, wie sich am „Faschismus der Grenzregionen“, d. h. an der italienischen Besetzung des Balkans während des Zweiten Weltkrieges zeigte. Für die Initiativen im Rahmen des Netzwerkes der Istituti della Resistenza bildete der Abschlussbericht der italienisch-slowenischen Historikerkommission einen der wichtigsten Bezugspunkte, während die nationalistischen Gruppierungen ihn bei den von ihnen organisierten Aktivitäten völlig ignorierten, ja die Verfasser nach Veröffentlichung des Textes des Hochverrats beschuldigten und mit dieser Anklage sogar vor Gericht gingen. Im Rahmen einer rein italienischen Perspektive fällt eine Bilanz über den „Tag der Erinnerung“ nach zehn Jahren also vielschichtig aus. So fehlte es einerseits nicht an groben Instrumentalisierungen der Geschichte im öffentlichen Diskurs, doch andererseits hat das plötzliche und massive politische, mediale und historiographische Interesse an den Ereignissen in der östlichen Adria sowohl die Untersuchung der Beziehungen zwischen Italien und den Südslawen als auch die Verbreitung der Kenntnisse darüber auf nachhaltige Weise gefördert. Zugleich kamen damit sowohl  Damiano Garofalo, La memorializzazione delle Foibe e il paradigma della Shoah. Storia, politica, televisione, in: Officina della Storia, Themenheft von Media e Storia 14, 2015. Vgl. allgemeiner zur öffentlichen Darstellung der Foibe Federico T. Montini, Fenomenologia di un martirologio mediatico. Le foibe nella rappresentazione pubblica dagli anni Novanta ad oggi. Udine 2014.

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in den wissenschaftlichen Diskussionen als auch auf didaktischer Ebene einige Problemknoten zur Sprache, die von den italienischen Historikern weitgehend vernachlässigt worden waren – so die Identitätsproblematik und die parallelen, miteinander konkurrierenden Nationalisierungsprozesse in gemischtsprachigen Gebieten, die Behandlung der Minderheiten in den „Staatsnationen“ des 19. Jahrhunderts und die Zwangsumsiedlungen. Schließlich wurden auch für die laufenden Forschungen über die Beziehungen zwischen den kommunistischen Parteien in Europa und über die Entwicklung der Formen politischer Gewalt während und nach den beiden Weltkriegen neues Material und vergleichende Fragestellungen geboten. Das Urteil fällt zwangsläufig anders aus, wenn man über die Grenzen hinausblickt und prüft, welche Auswirkungen der „Tag der Erinnerung“ insgesamt auf die Beziehungen zwischen Italien und den früheren jugoslawischen Staaten hatte. Die der Verabschiedung des Gesetzes von 2004 zugrunde liegende Logik widerspricht eindeutig den Überlegungen, die zehn Jahre zuvor zur Einrichtung der italienisch-slowenischen und der italienisch-kroatischen Kommission geführt hatten. Deren Absicht war es, in einer entscheidenden politischen Phase mit schwerwiegenden Folgen für die Beziehungen zwischen den benachbarten Staaten und Völkern, eine Dominanz nicht kritisch aufgearbeiteter, getrennter Erinnerungen in der Geschichte zu vermeiden. Der „Tag der Erinnerung“ richtete sich hingegen gerade an eine dieser Teilerinnerungen, nämlich an die der Italiener aus Istrien, Fiume und Dalmatien, von der man aus gutem Grund annahm, sie laufe Gefahr, der Vergessenheit anheimzufallen. Er sollte sie neu beleben und ihr eine entscheidende Rolle beim Wiederaufbau einer von mancher Seite als zu „schwach“ bezeichneten italienischen Nationalidentität zuweisen. Einige der angestrebten Ziele sind in dieser Hinsicht erreicht worden. So ist die leidvolle Geschichte der Italiener aus den nach dem Zweiten Weltkrieg an Jugoslawien abgetretenen Gebieten nunmehr aus dem jahrzehntelangen Schatten herausgetreten, so wie es unter ähnlichen Umständen vielen anderen Bevölkerungen in Mittelosteuropa ergangen ist; dank einer entschiedenen Sammelaktion wurden die Lebenserinnerungen der betroffenen Personengruppen geborgen, auf deren Grundlage auch Werke von hohem wissenschaftlichem Wert entstanden sind; viele Personen, die die damaligen Gewaltmaßnahmen und Vertreibungen überlebten, und deren Angehörige wurden dadurch in die Lage versetzt, zumindest teilweise die Wunden der Erinnerung zu heilen, die eine jahrelange private, kollektive und öffentliche Amnesie hatte schwären lassen. Im Zusammenhang mit dem „Tag der Erinnerung“ trat jedoch das auf, was viele andere, an sich in vielfacher Hinsicht verdienstvolle Initiativen zur Wiederbelebung „negierter Erinnerungen“ kennzeichnete, die in den letzten Jahren in Europa mitunter in Reaktion aufeinander ergriffen wurden.²² Sehr häufig nämlich beruhten sie auf dem

 Vgl. dazu die Überlegungen von Guido Crainz, Il difficile confronto fra le memorie divise, in: Raoul Pupo/Silvia Salvatici (Hrsg.), Naufraghi della pace. Il 1945, i profughi e le memorie divise d’Europa. Rom 2008, S. 175 – 191.

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Raoul Pupo

gemeinsamen Bedürfnis, eine spezifische Nationalidentität zu entdecken, zu stärken und aufzuwerten, wobei ein grundsätzlicher Faktor nicht gebührend berücksichtigt wurde: Die tragischen Ereignisse, deren Opfern die Gedenktage galten, gingen zum Großteil aus einem Konflikt zwischen den sich gegenseitig bekämpfenden Nationalidentitäten hervor. Daraus folgt, dass es sich bei diesen schmerzvollen Erinnerungen strukturell um trennende Erinnerungen handelt. Der Widerspruch zwischen dieser zum Gutteil unvermeidlichen Konsequenz und dem damals wach werdenden Streben nicht nur nach bilateraler Zusammenarbeit, sondern auch nach fortschreitender kontinentaler Integration springt deutlich ins Auge. In anderen europäischen Ländern wurde er rechtzeitig dadurch entschärft, dass die staatlichen Institutionen mit Maßnahmen von hoher symbolischer Kraft eingegriffen haben; nicht immer haben sie zu den erwünschten Ergebnissen geführt, doch schien in ihnen immerhin eine recht wachsame politische Sensibilität auf. An der Adria hingegen tickten die versöhnungspolitischen Uhren langsamer. Auf die Einrichtung des „Tages der Erinnerung“ in Italien folgte unmittelbar der slowenische „Tag der Heimkehr des Küstenlandes zum Mutterland“ am 15. September – ein Datum, an dem der Pariser Friedensvertrag in Kraft getreten war, der einen Großteil der in Frage stehenden Region Jugoslawien zuwies. In eindeutig polemischer Absicht beging man die Feierlichkeiten nicht in Gorizia oder in Postojna, die historisch eine slowenische Bevölkerung besaßen und 1947 eben Slowenien übergeben wurden, sondern in den Küstenstädten Capodistria und Pirano; diese beiden Städte, in denen vor dem Exodus mehrheitlich Italiener wohnten, wurden 1947 in Erwartung des Freien Territoriums Triest einer jugoslawischen treuhänderischen Militärbesatzung unterstellt und faktisch mit dem Londoner Memorandum von 1954, rechtlich mit dem Vertrag von Osimo aus dem Jahr 1975 an Jugoslawien abgetreten. Kroatien hingegen hat keine derartige Initiative ergriffen, doch 2007 kam es zwischen dem kroatischen Staatspräsidenten Stjepan „Stipe“ Mesić und seinem italienischen Kollegen Giorgio Napolitano zu einem heftigen polemischen Schlagabtausch. Im Zusammenhang mit dem „Tag der Erinnerung“ knüpften die beiden Staatoberhäupter in einigen Erklärungen an eine Begrifflichkeit an, die man zumindest auf dieser Ebene für überwunden gehalten hatte. Die eine Seite deutete die FoibeMassaker als „Reaktion auf die faschistischen Verbrechen“, die andere Seite als „blutrünstigen Hass- und Gewaltausbruch und slawischen Annexionsplan, der im Friedensvertrag von 1947 die Oberhand behielt und die unheilvolle Gestalt einer ethnischen Säuberung annahm.“ Unschwer läßt sich erkennen, wie innenpolitische Rücksichtnahmen eine Entwicklung beförderten, die den genauen Gegensatz zum Geist der bilateralen Kommissionen bildete und die Beziehungen zwischen Italien, Slowenien und Kroatien nachhaltig zu beeinträchtigen drohte. Die diplomatischen Dienste der drei Länder wurden sich dieser Gefahr rasch bewusst und rissen das Steuer herum. Schwierige Verhandlungen folgten, an denen auch die Verbände der julisch-dalmatischen Vertriebenen sowie die Organisationen der slowenischen Minderheit in Italien und der italienischen Gruppierungen in Slowenien und Kroatien teilnahmen. Am Ende stand

Zwei mögliche Wege zur Aussöhnung der nationalen Vergangenheiten?

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eine große symbolische Versöhnungsgeste. Am 20. Juli 2010 trafen sich die Staatspräsidenten Italiens, Sloweniens und Kroatiens in Triest, um dort gemeinsam einige auf die Konflikte des vergangenen Jahrhunderts bezogene Erinnerungsorte aufzusuchen, so den Sitz des früheren Narodni Dom, dessen Brand vor genau neunzig Jahren die faschistische Verfolgung der Slowenen und Kroaten, die sich nach 1918 auf italienischem Boden wiederfanden, eingeläutet hatte, und das Denkmal zur Vertreibung der Italiener aus Zara, Fiume und Istrien nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Versöhnungstag endete schließlich mit einem großen, von Riccardo Muti geleiteten Friedenskonzert auf dem wichtigsten, gegen das Meer geöffneten Platz der Stadt, der unzählige patriotische und politische Veranstaltungen, Zusammenstöße zwischen Parteianhängern entgegengesetzter Lager und blutige polizeiliche Repressionsmaßnahmen gesehen hatte. Ein Jahr später haben der italienische und der kroatische Staatspräsident den Willen, die Gespenster der Vergangenheit zu bannen, erneut bekräftigt, indem sie gemeinsam einem weiteren Friedenskonzert im römischen Amphitheater von Pula beiwohnten. Man kann also von einem glücklichen Ende sprechen. Vor allem aber zeigte sich, dass die Politik bei der Wiederentdeckung der Geschichte der italienischen Ostgrenze und, allgemeiner, der Beziehungen zwischen Italien und den Südslawen eine entscheidende Rolle spielte. Aufgrund von Entscheidungen auf politischer Ebene setzten sich die italienischen Wissenschaftler nun vertieft mit Themen auseinander, die bis zu diesem Zeitpunkt als nebensächlich betrachtet worden waren; gemeint ist zunächst die Einrichtung „fachlicher“ bilateraler Kommissionen, dann die Einführung eines Gedenktages, der die Bedeutsamkeit der Problematik unterstrich. Die Historiker haben versucht, die auf diese Weise geschaffenen Räume auszufüllen, und das in ihrer Macht stehende getan, um die Vergangenheit kritisch zu durchleuchten. In einigen Phasen wurden diese Bemühungen vom öffentlichen Auftraggeber gewürdigt, in anderen erwuchsen aus den Erfordernissen einer unabhängigen wissenschaftlichen Forschung, deren Ergebnisse sich nicht im Voraus festlegen lassen, und den Zielsetzungen eines öffentlichen Gebrauchs von Geschichte, dem es um einfache, schnell verwertbare Wahrheiten ging, beträchtliche Spannungen; aber das ist für die Historiker, vor allem für die Zeithistoriker, nichts Neues.

Christoph Cornelißen

Die Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Historikerkommission Die Deutsch-Tschechoslowakische Historikerkommission ist in der unmittelbaren Folge der demokratischen Revolutionen in Ostmitteleuropa bereits Mitte 1990 entstanden und besteht seit der Teilung der Tschechoslowakei im Jahr 1993 als trilaterale Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Kommission.¹ Ihre Gründung und nachfolgende Tätigkeit beruht auf der Einschätzung, wonach der Beschäftigung mit der gemeinsamen Vergangenheit Deutschlands, der böhmischen Länder beziehungsweise Tschechiens und der Slowakei respektive von Deutschen, Tschechen und Slowaken eine wichtige Rolle bei der Verwirklichung eines vereinten Europa zukomme.² Dieser Grundgedanke verbindet sie auf das Engste mit der Tätigkeit weiterer Historikerkommissionen, die nach der säkularen Wende am Ende der 1980er Jahre eingerichtet worden sind. Zum einen geht es ihnen darum, mittels einer reflektierten und von der historischen Forschung gestützten Debatte unter Fachleuten gemeinsam wissenschaftlich abgesicherte Deutungen zu ausgewählten historisch-politischen Konflikten und Antworten auf drängende Fragen herauszuarbeiten. Zum anderen sollen politische Verantwortungsträger sowie die breite Öffentlichkeit über die Ergebnisse der historisch-wissenschaftlichen Forschung aufgeklärt und damit einem nüchternen Umgang mit historischen Konflikten der Weg geebnet werden. Angesichts der Tatsache, dass die konfliktreiche und im 20. Jahrhundert von dramatischen Einschnitten markierte Verflechtungsgeschichte von Deutschen, Tschechen und Slowaken immer wieder unterschiedliche und zuweilen sogar hochgradig politisierte Vergangenheitsdeutungen heraufbeschwor, bot sich die Einsetzung einer Historikerkommission zur Klärung der Sachverhalte geradezu an. Vor diesem Hintergrund nahm die Deutsch-Tschechoslowakische Historikerkommission schon im Juni 1990 ihre Tätigkeit mit einer ersten Arbeitssitzung in Prag auf. Das regierungsamtliche Interesse an der Tätigkeit der Deutsch-Tschechoslowakischen Historikerkommission wurde nach ihrer Gründung mehrfach bekräftigt. Erstmals war dies im Jahr 1992 im Zusammenhang mit der Verabschiedung des

 Es handelt sich um einen Text, der über weite Strecken meine Ausführungen wiedergibt, die ich aus Anlass des 25jährigen Bestehens der gemeinsamen Kommission zusammengetragen habe. Siehe dazu Die Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Historikerkommission. Ein Rückblick auf 25 Jahre ihrer Tätigkeit, in: Collegium Carolinum (Hrsg.), Die Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Historikerkommission. Dachau 2015, S. 8 – 17.  Siehe dazu das „Schlußkommuniqué“ der ersten Sitzung der Deutsch-Tschechoslowakischen Historikerkommission am 15. und 16. Juni 1990 in Prag. Die nachfolgenden Ausführungen beruhen, falls nicht anders angegeben, auf den Protokollen der Arbeitssitzungen der Kommission sowie weiteren Akten, die sich im Archiv der deutschen Sektion der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission befinden. Dieses lagert im Collegium Carolinum (München). https://doi.org/10.1515/9783110541144-005

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deutsch-tschechoslowakischen Vertrages über „gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ der Fall, und auch als es um die deutsch-tschechische Erklärung vom Januar 1997 ging, würdigten die beteiligten Außenministerien die Tätigkeit dieser Kommission als einen wichtigen Beitrag zur besseren Verständigung zwischen Deutschen und Tschechen. Nachdem die Tschechische Republik und die Slowakische Republik der Europäischen Union beigetreten waren, schien die Unterstützung vor allem von Seiten des deutschen Auswärtigen Amtes zeitweilig nachzulassen, doch es zeigte sich rasch, dass man auch in Berlin keineswegs an ein Ende der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission dachte. Vielmehr legte man hier ausdrücklich Wert auf ihre stimulierende Funktion für die Diskussion zwischen tschechischen, slowakischen und deutschen Historikern sowie ihr Wirken auf die Öffentlichkeiten der drei Länder. Auch in den folgenden Jahren erreichten die Historikerkommission immer wieder ermunternde Signale aus der Politik, an ihrem Gründungsauftrag festzuhalten. Dies traf sich mit einer Einschätzung aus den Reihen der Kommission, die sich auf einer Arbeitssitzung in Hamburg im Jahr 2005 darin einig zeigte, dass eine Fortführung der Arbeit schon aus wissenschaftspolitischen Gründen als sinnvoll zu erachten sei, weil so der internationale Austausch weiter gefördert werden könne. Außerdem solle damit ein Gegengewicht zur vorwiegenden Ausrichtung der Bundesregierung auf das deutsch-polnische Verhältnis geschaffen werden. Zudem sei die Historikerkommission geeignet und notwendig, um das Fehlen eines Deutschen Historischen Instituts in Prag zu kompensieren.³ Vor diesem Hintergrund fördern die Außenministerien der beteiligten zwei beziehungsweise drei Staaten seit nunmehr 25 Jahren die Tagungen der Historikerkommission sowie verschiedene weitere Projekte. In der Summe haben sie zu einer ersichtlichen Verbesserung des wissenschaftlichen Austauschs über Ländergrenzen hinweg, aber auch zu einer Entspannung öffentlicher Konflikte über belastete Themen der Vergangenheit geführt.

1 Zur Gründungsgeschichte der Historikerkommission Dass die Deutsch-Tschechoslowakische Kommission schon im Juni 1990 ins Leben gerufen werden konnte, geht auf eine Initiative des neugewählten tschechoslowakischen Präsidenten Václav Havel zurück, der die Neubestimmung des Verhältnisses zu Deutschland und den Deutschen zu einem wichtigen Ziel seiner Präsidentschaft erklärt hatte. Er wurde darin vom tschechoslowakischen Außenminister Jiří Dienstbier und dessen deutschem Amtskollegen Hans-Dietrich Genscher nachdrücklich unterstützt. Schon als tschechischer Dissident hatte sich Dienstbier über Jahre hinweg mit  Siehe dazu das Protokoll der „Arbeitssitzung der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission“ in Hamburg vom 19. 3. 2005.

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tabuisierten Themen der deutsch-tschechischen Beziehungsgeschichte auseinandergesetzt und Mitte der 1980er Jahre in seinem im Samizdat publizierten Essay „Träumen von Europa“ die Vision eines aufgeklärten, demokratischen Europa mit einem vereinten Deutschland entworfen. Als sich nach der „samtenen Revolution“ in der Tschechoslowakei die Möglichkeit eröffnete, derartige Ideen in die Realität umzusetzen, beschlossen Genscher und Dienstbier im März 1990, eine Deutsch-Tschechoslowakische Historikerkommission einzusetzen, die sich mit der Geschichte beider Länder befassen und zu einem besseren Verstehen auf beiden Seiten beitragen sollte. Hierfür gaben sie der Kommission eine Gründungserklärung mit auf den Weg, die als ihre Aufgabe bestimmte, „die gemeinsame Geschichte der Völker beider Länder, vor allem in diesem Jahrhundert, gemeinsam zu erforschen und zu bewerten“, und zwar „in breitem historischen Kontext […], einschließlich der positiven Seiten des gegenseitigen Zusammenlebens, aber auch der tragischen Erfahrungen der Völker beider Länder im Zusammenhang mit dem Beginn, dem Verlauf und den Ergebnissen des Zweiten Weltkrieges“.⁴ Mit anderen Worten ging es also darum, die Deutungskämpfe und -kontroversen über entscheidende Wegmarken der deutsch-tschechoslowakischen Konfliktgeschichte des 20. Jahrhunderts durch weitere Forschungsarbeiten zu klären und die Öffentlichkeit der beiden Länder mit den Ergebnissen der neu gewonnenen Einsichten vertraut zu machen. Das Schlusskommuniqué der ersten gemeinsamen Sitzung der Historikerkommission in Prag vom 15. bis 16. Juni 1990 zielte in die gleiche Richtung. Dort heißt es: Der im Geiste der Offenheit und Kollegialität geführte Gedankenaustausch gelangte zu dem Ergebnis, daß die Katastrophen der dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts in größeren historischen Zusammenhängen und insbesondere vor dem Hintergrund des langfristigen Zusammenlebens von Tschechen, Slowaken, Deutschen und Juden gesehen werden müssen. Dabei gilt es, den Blick nicht nur auf das Trennende, sondern auch auf das Verbindende zu lenken.

Für die rasche und konstruktive Zusammenarbeit der Historiker beider Länder war dabei durchaus förderlich, dass sich viele der Beteiligten schon vor der Öffnung der Grenzen kannten. So hatte das seit den 1950er Jahren in München beheimatete Collegium Carolinum die Spezialisten für die böhmischen Länder und die Tschechoslowakei regelmäßig zusammengeführt und dabei vor allem den tschechischen und slowakischen Kollegen die Treue gehalten, die nach der Resowjetisierung seit 1968 mit Berufsverbot belegt worden waren. In diesem Sinne berichtet mit Detlef Brandes eines der Gründungsmitglieder der Historikerkommission, dass nicht zuletzt deswegen das erste Treffen der bilateralen Historikerkommission und damit das Wiedersehen mit Kollegen aus der Tschechoslowakei, die zwei Jahrzehnte als einfache Arbeiter tätig ge-

 Erklärung der beiden Außenminister zur Gründung einer deutsch-tschechoslowakischen Historikerkommission, 1990.

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wesen waren und zum Teil „für die Schublade“ geschrieben hätten, sehr emotional ausgefallen sei.⁵ Rückblickend lassen sich in der Arbeit der Kommission verschiedene Phasen feststellen. In der ersten Zeitspanne ging es zunächst einmal darum, herauszufinden, an welchen Punkten und bei welchen Themen wesentliche Divergenzen vorlagen. Dies führte anfangs zu einer Konzentration auf die politischen Verflechtungen von Deutschen, Böhmen und Slowaken im 20. Jahrhundert, worüber verschiedene Themen und Wendepunkte in den Vordergrund rückten: die Staatsgründung 1918, die territoriale Amputation der Tschechoslowakischen Republik durch das „Münchner Abkommen“ 1938, die Errichtung des „Protektorats Böhmen und Mähren“, die Gründung des vom NS-Regime abhängigen „Slowakischen Staates“ sowie das Kriegsende und die Vertreibungen; ebenso aber auch die kommunistische Machtübernahme 1948 und die folgende erste Emigrationswelle, der Prager Frühling 1968, damit verbunden die „Normalisierung“ und die zweite Emigrationswelle und schließlich die Umstände und Folgen der Revolutionen von 1989. Zu all diesen Themen veranstaltete die Historikerkommission Tagungen, deren Erträge in Sammelbänden in jeweils zwei Sprachen inhaltsgleich publiziert worden sind.⁶ Die Protokolle der ersten Tagungen und auch die Stimmungsberichte einiger Beteiligter geben gleichzeitig eine Ahnung davon, dass die Anfänge der gemeinsamen Diskussionen und die Zusammenführung der Beiträge tatsächlich nicht immer einfach ausgefallen sind. Immerhin muss man dabei in Rechnung stellen, dass die Historiker der beiden beziehungsweise der drei Länder nun erstmals in einem offenen Austausch über die strittigen Fragen der konfliktreichen Verflechtungsgeschichte diskutieren und gemeinsame Positionen entwickeln konnten. Dass dabei heftige Kontroversen beispielsweise über die Einschätzung der Nationalitätenpolitik der tschechoslowakischen Republik in der Zwischenkriegszeit, über die Umstände des Münchner Abkommens oder auch über die Vertreibung der Deutschen ausgetragen wurden, lag angesichts der Brisanz dieser Themen nahe, und doch ist bemerkenswert, dass diese Debatten keineswegs ausschließlich entlang nationaler Trennlinien verliefen. In diesem Sinne richtete sich Rudolf Vierhaus, Direktor des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen und erster Ko-Vorsitzender der Historikerkommission, schon im November 1992 brieflich an den damaligen deutschen Außenminister Klaus Kinkel. Seinem Bericht zufolge war die Atmosphäre der Sitzungen und Tagungen

 Ich beziehe mich auf kurze Erinnerungstexte beziehungsweise E-Mails, die dem Autor vorliegen und deren Kopien (in deutscher Übersetzung) in den Akten der Historikerkommission im Collegium Carolinum aufbewahrt werden. Siehe dazu Christoph Cornelißen, Die Zeitzeugen und die Gründungsphase der Deutsch-Tschechoslowakischen Historikerkommission, in: Dietmar Neutatz/Volker Zimmermann (Hrsg.), Von Historikern, Politikern, Turnern und anderen. Schlaglichter auf die Geschichte des östlichen Europa. Festschrift für Detlef Brandes zum 75. Geburtstag. Leipzig 2016, S. 54– 74.  Die Titel der publizierten Tagungsbände sind über die Homepage der Deutsch-Tschechisch/DeutschSlowakischen Historikerkommission abrufbar: www.dt-ds-historikerkommission.de/ (letztmalig abgerufen am 8.6. 2017).

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außerordentlich kollegial und vollkommen offen, „auch als es […] um die Zeit von 1938 bis 1948 ging. Es gibt keine Tabus, keine nachträglichen Anklagen, keine falschen Rechtfertigungen. Allerdings sind alle Beteiligten sich darüber im Klaren, daß ihrer Arbeit von bestimmten Kreisen, in beiden Ländern, Misstrauen entgegengebracht wird“.⁷ Vierhaus bezog sich dabei in erster Linie auf Leserbriefe aus den Reihen der Sudetendeutschen Landsmannschaft sowie deren Korrespondenzen an hochrangige deutsche Politiker, die scharfe Angriffe auf die Kommission und einzelne Mitglieder enthielten. Ein entscheidender Grund hierfür war – wie Jan Křen in seinen Erinnerungen betont –, dass die einflussreichen landsmannschaftlichen Organisationen eine Vertretung in der Kommission anstrebten und am liebsten ihre eigenen Mitglieder delegiert hätten. Genau das aber war nicht der Fall, und es stellt sich die Frage, warum dies tatsächlich so war.⁸ Folgt man allein den überlieferten Protokollen der Sitzungen beziehungsweise den bisher vorgelegten Darstellungen zu diesem Thema, so wurden die Mitglieder der 1990 neu gegründeten Historikerkommission von den jeweiligen Fachverbänden ihrer Länder nominiert und dann von den Leitern der Auswärtigen Ämter für die neue Funktion ernannt. Auch Detlef Brandes erinnert sich daran, dass die Mitglieder der anfangs bi- und später trilateralen Kommission „von den nationalen Fachverbänden der Historiker vorgeschlagen“ wurden. Tatsächlich aber stellt sich die Lage etwas komplizierter dar, denn ein solches Verfahren war allein auf deutscher Seite möglich, wo mit Rudolf Vierhaus der amtierende Vorsitzende des Historikerverbandes die Zügel in die Hand nahm. Auf diesem Weg setzte er eine rein wissenschaftlich legimitierte Nominierung der deutschen Mitglieder durch, und fast zwangsläufig fiel ihm darüber auch das Amt des ersten KoVorsitzenden der Historikerkommission zu. Sehr viel schwieriger gestalteten sich die Verhältnisse auf tschechoslowakischer Seite, weil hier zunächst ein neuer Historikerverband überhaupt erst gegründet werden musste. Jan Křen berichtet darüber Genaueres: Daher übertrug Minister Dienstbier mir die erste Auswahl der Mitglieder. Nach 20 Jahren Berufsverbot und Isolation von der Historikergemeinde war das für mich keine leichte Aufgabe. Spezialisten für die deutsche Problematik hat die staatliche Geschichtswissenschaft, wenn man sie so nennen kann, nicht gerade im Überfluss hervorgebracht. […] Zum Glück gab es unter den Historikern eine „Grauzone“, aber in Dissidentenkreisen, wo die deutsche Frage in den Jahren 1977– 1978 Thema einer großen Diskussion gewesen war, gab es erhebliche Unterschiede in den Anschauungen.

Seine weiteren Ausführungen geben zu erkennen, dass die dann Nominierten nicht in allen Fällen die in sie gesetzten Erwartungen erfüllten, so dass schon in der ersten Phase Rücktritte und Nachnominierungen notwendig waren. Auf slowakischer Seite

 Brief von Rudolf Vierhaus an Klaus Kinkel vom 9.11.1992.  Cornelißen, Die Zeitzeugen.

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nahmen sich die Dinge noch turbulenter aus. Zwar konstatiert Křen in seinen Erinnerungen, er habe über seinen alten Freund Jozef Jablonický den slowakischen Kollegen Dušan Kováč für eine Mitgliedschaft gewinnen können, aber der selbst wusste zunächst überhaupt nichts von seiner Aufnahme in den Kreis der Kommissionäre. Tatsächlich erfuhr Kováč, der damals Direktor des Historischen Instituts der Slowakischen Akademie der Wissenschaften war, von der Entscheidung, eine gemeinsame Deutsch-Tschechoslowakische Historikerkommission zu gründen, aus den Fernsehnachrichten. Über seine Ernennung zum Mitglied der Historikerkommission berichtete ihm erst danach das Präsidium der Akademie. Im Grunde gelangte Kováč in sein neues Amt, weil er ebenfalls Vorsitzender des Slowakischen Nationalkomitees der Historiker war und in dieser Funktion seit 1988 mit der Vorbereitung des Weltkongresses der Historiker in Madrid betraut war. Nach der „samtenen Revolution“ zeigte er sich dann darum bemüht, die Teilnahme tschechischer und slowakischer Historiker unter den veränderten Rahmenbedingungen sicherzustellen. „Alles lief also im Geiste der damaligen revolutionären Zeiten ab“, kommentiert Kováč trocken den damaligen Entscheidungsweg. Die Erinnerungen einiger Gründungsmitglieder demonstrieren jedoch ebenfalls, dass die Einstiegsdiskussionen bei der ersten Arbeitssitzung auf Schloss Štiřín alles andere als harmonisch abgelaufen sind. Schon die Grundbegriffe seien umstritten gewesen, konstatiert Jan Křen. Denn die deutschen Mitglieder hätten Vorbehalte gegen den unangemessen kalten Begriff der „Abschiebung“ (odsun) geäußert, während „wir wiederum gegen den zu expressiven und vereinfachenden Begriff „Vertreibung“ (vyhnání)“ Einspruch erhoben. Und weiter heißt es: „Nach langer, hier und da auch angespannter Diskussion kam eine Einigung auf ein Begriffspaar zustande: „Vertreibung“ (vyhnání) für die Zeit der sog. „wilden Abschiebung“ (divoký odsun) und „Zwangsaussiedlung“ (nucené vysídlení) für die spätere Phase des organisierten Transfers nach den Vorgaben der Besatzungsmächte“. Allen Beteiligten war dabei klar, dass eine solche Entscheidung ausschließlich für die interne Arbeit der Kommission von Belang sein konnte und keineswegs – wie auch die sonstigen Verlautbarungen der Kommission – die Historikergemeinden beider Länder binden sollte oder auch konnte. Danach jedoch verbesserten sich der kollegiale Austausch und damit der Tonfall erheblich. Dies zeigen auch die Erinnerungen der Beteiligten, ergab sich doch auf den mehrtägigen Konferenzen der Kommission immer wieder die Gelegenheit zu informellen Kontakten, was offensichtlich das Vertrauen in die „Gegenseite“ wachsen ließ. Gerade die Fachgespräche hätten sich in einem kollegialen und freundschaftlichen Geist vollzogen. Daran änderte sich auch dann nichts mehr, als die Historikerkommission nach der Teilung der Tschechoslowakei als trilaterale Kommission fortgeführt wurde. Zwar wurden – so Křen – „die gemeinsamen Sitzungen […] anfangs etwas misstrauisch beäugt, weil das Ministerium befürchtete, dass dadurch unsere neue Eigenstaatlichkeit herabgesetzt werden könnte. Aber das hielt nicht lange an, wohingegen in der Slowakei unter Mečiar das dortige Ministerium seiner Kommission eifrig Knüppel zwischen die Beine warf“. Proteste gegen die Kommissionstätigkeit

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kamen jedoch nicht nur von dieser Seite, sondern in den 1990er Jahren blieb insbesondere das Verhältnis zu den sudetendeutschen Organisationen angespannt. Auf Podiumsdiskussionen sowie Treffen von Vertriebenen- oder Widerstandsvereinigungen sahen sich sowohl die deutschen als auch die tschechischen und slowakischen Mitglieder der Kommission einer zuweilen sehr scharfen Kritik ausgesetzt. Neben den Hinweisen Křens darauf ist ebenfalls seine Bemerkung aufschlussreich, dass er „die schlimmsten Erlebnisse in der ehemaligen DDR“ gemacht habe, „wo das vom früheren Regime verordnete Schweigen nun mit Aggressivität kompensiert wurde“. Aber auch „in unserem Milieu“ sei es recht schwierig gewesen, „weil die „anwesenden Widerstandskämpfer […] schon das geringste Anzeichen von Kritik empört zurück[wiesen] und auf ihr Schicksal während der Okkupation“ aufmerksam machten. Und er ergänzt: „Erst mit der Zeit begriff ich, dass es notwendig war, die historische Abfolge einzuhalten und ihr Leiden an den Anfang zu stellen, dessen Anerkennung sie der Kritik öffnete – wenngleich es auch dann noch manchmal vergebens war. Auf der anderen Seite griffen uns einige Publizisten, die nun das deutsche Thema entdeckten, häufig als ,Staatshistoriker‘ und Nationalapologeten an, die nicht kritisch genug seien“. Allem Anschein nach hat dieser Druck von außen die Mitglieder der Kommission eher noch enger zusammengeschweißt und darüber eine gemeinsame Basis für ihre weitere Tätigkeit aufkommen lassen, die zu Beginn durchaus noch gefehlt hatte. Ein Bild der breiteren Kontexte, in denen sich diese Entwicklungen abspielten, vermitteln unter anderem die in Zeitungen publizierten Leserbriefe dieser Jahre sowie scharfe Angriffe auf die Kommission und einzelne ihrer Mitglieder, die unter anderem aus den Reihen der Sudetendeutschen Landsmannschaft an hochrangige deutsche Politiker gerichtet wurden. Sie geben nachdrücklich zu erkennen, dass die Kommission tatsächlich mehrere heiße Eisen angepackt hatte, was dann sowohl in Deutschland als auch in Tschechien und in der Slowakei heftige Reaktionen provozierte.⁹ Davon wurden zuweilen auch die Debatten innerhalb der Kommission erfasst, ohne jedoch deswegen allein in ein nationales Fahrwasser abzudriften. Jedenfalls erinnert sich in diesem Sinne Peter Heumos rückblickend an die Anfänge der Kommissionsarbeit wie folgt: Noch deutlich vor Augen habe ich, dass nationale Querelen jedenfalls im Plenum eher selten waren. Zu den Momenten, in denen sie auftauchten, gehört eine Kontroverse über Menschenrechte im Zusammenhang mit einer Diskussion über die Vertreibung der Sudetendeutschen (wobei es vor allem darum ging, wie weit Menschenrechte schon damals rechtlich verbindlich formuliert waren) und eine (unvermutet) heftige Auseinandersetzung über eine Erklärung der Kommission zum 50. Jahrestag des Kriegsendes, in der die tschechischen und slowakischen Kommissionsmitglieder die Bedeutung des Komplexes „Tschechoslowakei“ als wesentliche Etappe auf dem Weg zum Krieg viel mehr hervorheben wollten. Ihnen erschien die Erklärung insgesamt als politisch zu lau, das Ganze sei ein „CDU-Papier“. Präsent waren nationale Vorbe-

 Siehe dazu Rudolf Vierhaus, Rückblick auf die Arbeit der deutsch-tschechoslowakischen, der deutsch-tschechischen und der deutsch-slowakischen Historikerkommission 1990 – 1997 [„für Minister Kinkel“] vom 18. 2.1998.

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halte in der Debatte über die Arbeiterbewegung in der Österreichisch-ungarischen Monarchie.Von tschechischer Seite wurde energisch bestritten, dass die österreichische Sozialdemokratie übernationalen Charakter gehabt habe, wie deutsche Referenten im Anschluss an die Perspektive von Otto Bauer behaupteten.¹⁰

2 Innerer Wandel und Zukunftsfragen In den Verhandlungen der Historikerkommission zeigte sich rasch, dass die ausschließliche Konzentration der Debatten auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts wenig sinnvoll war. Aus der gemeinsamen Überzeugung, dass sich die Konflikte des 20. Jahrhunderts nicht ohne das „nationale“ 19. Jahrhundert erklären lassen, einigten sich die Kommissionsmitglieder in der zweiten Phase ihrer Tätigkeit seit Mitte der 1990er Jahre auf eine weitere Serie von Tagungen, in denen die Zeit zwischen 1871 und 1989 in Längsschnitten behandelt wurde, um „neuralgische Punkte“ in der Verflechtungsgeschichte der drei Länder besser benennen zu können. In diesem Zusammenhang wurden beispielsweise Fachkonferenzen zum Judentum und Antisemitismus oder auch zu den Nationalitätenkonflikten seit dem 19. Jahrhundert abgehalten. Darüber hinaus legte die Kommission in gemeinsamer Arbeit einen Band zu den „Wendepunkten in den Beziehungen zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken 1848 – 1989“ vor, der ein weites Themenspektrum widerspiegelt und dieses in gut lesbarer Weise einer breiten Öffentlichkeit vermittelt. Der insgesamt eher politikgeschichtliche Fokus der Tagungen bis zum Ende der 1990er Jahre wurde anschließend in einer dritten Phase durch wissenschaftliche Ansätze ergänzt, die sich stärker wirtschafts-, gesellschafts- und kulturhistorischen Themen widmeten. Davon zeugen unter anderem Tagungen der Historikerkommission zur deutschen und tschechoslowakischen Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit sowie zur Entfaltung nationalspezifischer Erinnerungskulturen seit 1945, aber auch eine zweiteilige Tagung zur Rolle von „Kultur als Vehikel und als Opponent politischer Absichten“. Die Kommission hat sich jedoch auch in dieser Phase keineswegs gescheut, so brennende Fragen wie die „Eigentumsregime und Eigentumskonflikte im 20. Jahrhundert“ zu behandeln, und auch dem Wendejahr 1989 widmete sie einen Tagungsband, der die Vorgänge im deutsch-tschechisch-slowakischen Raum in den weiteren Rahmen der internationalen Geschichte einbettet. Kritisch wird man jedoch gleichzeitig festhalten können, dass die Kommission durchaus stärker von einer Anregung hätte profitieren können, die der deutsche Ko-Vorsitzende der Historikerkommission, Hans Lemberg, bereits im Jahr 2004 gab. Auf einer damals in Prag abgehaltenen Kommissionstagung empfahl er, angesichts der bevorstehenden EUOsterweiterung den thematischen Horizont der Arbeiten über das deutsch-tschechisch-slowakische Dreieck hinaus zu erweitern. Zwar sind danach verschiedentlich  Diese Auskunft verdanke ich einer schriftlichen Stellungnahme von Dr. Peter Heumos vom 29.4. 2014.

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Versuche in dieser Richtung unternommen worden, sie stehen jedoch noch eher vereinzelt da und müssten in Zukunft ausgebaut werden. Neben den wissenschaftlichen Debatten, deren Erträge in mittlerweile mehr als zwanzig Bänden nachzulesen sind, sah die Historikerkommission von Beginn an eines ihrer wesentlichen Anliegen darin, die Ergebnisse der laufenden Forschungen einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Den breiteren Hintergrund dafür bildeten die diplomatischen Verhandlungen über die deutsch-tschechische Erklärung. Um sich in den zeitgenössischen Kontroversen eine größere historische Klarheit zu verschaffen, erarbeitete die Historikerkommission in dieser Lage auf Anregung von Rudolf Vierhaus ein gemeinsames Positionspapier zu den wesentlichen Streitfragen der deutsch-tschechoslowakischen Beziehungsgeschichte. Die im Einzelnen durchaus schwierige Verständigung mündete in eine Broschüre – das sogenannte „grüne Heft“ –, die im Jahr 1995 nach langwierigen Diskussionen im Kreis der Kommissionsmitglieder auf einer Sitzung in Karlík bei Prag vorbereitet werden konnte. Nach dem Modell der deutsch-französischen Schulbuchvereinbarungen aus dem Jahr 1952 bietet die 1996 erschienene, zweisprachige Überblicksdarstellung unter dem Titel „Konfliktgemeinschaft, Katastrophe, Entspannung“ nicht nur eine Übersicht über die Entwicklung der deutsch-tschechischen Beziehungsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert, sondern sie vermittelt ebenfalls Deutungen zu zahlreichen „neuralgischen Punkten“ im deutsch-tschechischen Verhältnis.¹¹ Das Endprodukt, so hebt Jan Křen es als Verdienst der Kommissionsarbeit hervor, habe anschaulich vor Augen geführt, dass die Geschichte für die Gegenwart kein fataler Stein des Anstoßes sein müsse. Zu keinem Zeitpunkt aber haben die Mitglieder der Kommission die Ansicht vertreten, sie könnten verbindliche und vollständig aufeinander abgestimmte Deutungen schwieriger Fragen der deutsch-tschechisch-slowakischen Geschichte erzielen. Tatsächlich ging es ihnen immer darum, die Öffentlichkeiten in allen drei Ländern anzusprechen und eine aufklärende Funktion zu erfüllen. In diesem Sinn sind auch die weiteren öffentlichen Stellungnahmen der Kommission zu sehen. Dazu gehören beispielsweise eine am 29. April 1995 aus Anlass des 50. Jahrestages der Beendigung des 2. Weltkriegs abgegebene Erklärung, der im Jahr darauf eine noch weit bedeutsamere Stellungnahme zu den „Vertreibungszahlen“ und den Todesopfern der Zwangsmigrationen von Deutschen aus der Tschechoslowakei folgte.¹² Seit den 1940er Jahren gehörte dieses Thema zu einer der umstrittensten Fragen im deutsch-tschechoslowakischen Verhältnis. Außerdem betont sie die Rolle, die die Kommission in dieser Phase für die Verbreitung genauer Zahlen über die Vertreibungsverluste einnahm. Während von sudetendeutschen Autoren immer wieder die Zahl von einer

 Siehe auch Stanovisko Společné česko-německé komise historiků k odsunovým ztrátám. Stellungnahme der Gemeinsamen Deutsch-Tschechischen Historikerkommission zu den Vertreibungsverlusten, in: Soudobé dějiny 3.4, 1996, S. 600 – 603.  Erklärung der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission vom 29.4. 1995, in: Bohemia 36, 1995, S. 182– 184; Stellungnahme der Deutsch-Tschechischen Historikerkommission zu den Vertreibungsverlusten.

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Viertelmillion, zuweilen sogar von einer halben Million angeführt wurde, konnte die Kommission unter Hinzuziehung von Fachleuten eine sehr viel niedrigere Ziffer ermitteln. Nach einer umfangreichen Diskussion gelangte sie zu einer Maximalzahl von 30.000 Todesopfern. In ihrer Stellungnahme zu den Vertreibungsverlusten vom 18. Dezember 1996 empfahl die Kommission, auf die Verwendung von Bevölkerungsbilanzen und den daraus errechneten Zahlen der Vertreibungsopfer zu verzichten. Die sehr kritischen, zuweilen sogar polemischen Einlassungen, die daraufhin gegen die nüchternen Erwägungen in den Stellungnahmen an die Öffentlichkeit getragen wurden, verdeutlichen das Gewicht, das einer unabhängigen Historikerkommission gerade bei solchen Debatten zukommt. Die entsprechenden Deutungskämpfe begleiten die Tätigkeit der Kommission bis in die Gegenwart und gaben wiederholt dazu Anlass, dass die Kommission als Gesamtheit oder auch einzelne ihrer Mitglieder über die Presse und andere Medien öffentlich zu diesem Thema Stellung bezogen. Gewiss gehört die veröffentlichte Stellungnahme der Kommission zu dieser Frage zu einer der verdienstvollsten Taten der Kommission in ihrer bislang 25jährigen Geschichte. In diesem Zusammenhang verdient jedoch ebenso ein Konzeptpapier mit Überlegungen für die Ausstellungen der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ aus dem Jahr 2010 besondere Aufmerksamkeit. Es wurde durch eine Gruppe von Historikerinnen und Historikern unter der Federführung des damaligen Leiters der deutschen Sektion, Martin Schulze Wessel, erarbeitet und von den Vorsitzenden auch der tschechischen und slowakischen Sektionen einhellig unterstützt. Die Initiative reagierte auf die fehlende öffentliche Information und Debatte über das Konzept der geplanten Dauerausstellung des von der Stiftung geplanten Museums in Berlin. So wurde ein der Öffentlichkeit nicht bekanntes Eckpunktepapier, das die Grundlage für die zukünftige Ausstellung bilden sollte, im Oktober 2010 verabschiedet; in der Öffentlichkeit lagen dagegen nur einzelne, auf eine tendenziöse Geschichtsdeutung der geplanten Präsentation verweisende Aussagen der Projektmitarbeiter vor. Vor diesem Hintergrund verfolgte der Vorstoß des alternativen Konzeptpapiers das Ziel, eine breite öffentliche Debatte zu lancieren. Zu diesem Zweck wurden die entsprechenden Überlegungen im September 2010 auf dem Deutschen Historikertag in Berlin und später auch auf weiteren Foren präsentiert.¹³

 Die Debatte über das Konzeptpapier ist dokumentiert unter: Forum.Vertreibungen ausstellen. Aber wie? Debatte über die konzeptionellen Grundzüge der Ausstellungen der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, in: H-Soz-Kult, 09.09. 2010, www.hsozkult.de/text/id/texte-1350 (letztmalig abgerufen am 22.6. 2015).

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3 Zusammenfassung und Ausblick Die Tätigkeit der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission erschöpft sich keineswegs in den angeführten Interventionen. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Förderung des wissenschaftlichen Austauschs sowie der Vermittlung von dessen Ergebnissen in eine breite Öffentlichkeit. Was hierbei als das treibende Motiv bestimmt werden kann, hat Rudolf Vierhaus in Worten zum Ausdruck gebracht, die weiterhin Geltung beanspruchen dürfen. Im Kern gehe es um ein moderierendes Selbstverständnis, wie Vierhaus festhielt, und er ergänzte: Wenn nationale Empfindlichkeiten, alteingewurzelte Vorurteile, legitimatorische Geschichtsbilder durch die aufklärerische kritische Arbeit der Geschichtswissenschaft in Frage gestellt werden, wird sich dies allenfalls langfristig durchsetzen. Viel ist schon erreicht, wenn Annahmen und Darstellungen, die durch die Forschungen widerlegt oder als einseitig nachgewiesen sind, aufgegeben werden, […] wenn ein Bewusstsein dafür geweckt wird, dass die Geschichte nicht als Reservoir für interessenbestimmte gegenwärtige Argumente, Anklagen und Rechtfertigungen, Ansprüche und Forderungen missbraucht werden sollte.¹⁴

Zugespitzt hat Vierhaus den gleichen Gedanken nochmals an anderer Stelle formuliert: Die Aufgabe der Historikerkommission bestehe zuallererst darin, auf solider wissenschaftlicher Grundlage festzuschreiben, „was man nicht mehr sagen kann“.¹⁵ Dass dies selbst für die beteiligten Historikerinnen und Historiker nicht immer einfach war, brachte ebenfalls sein Nachfolger im Amt, Hans Lemberg, treffend zum Ausdruck. Denn die allgemeine Herausforderung, sich möglichst weit aus seinen vorwissenschaftlichen Festlegungen zu lösen oder sich ihrer reflektierend bewusst zu werden, stelle sich bei den Angehörigen von bilateralen, zwischenstaatlichen Historikerkommissionen in besonderer Weise. Denn in dieser Funktion werde man immer wieder gegen die eigene Absicht in apologetische Positionen nationaler oder vermeintlich nationaler Interessen der eigenen Seite gedrängt. Aus diesem sekundären Antagonismus gelte es sich möglichst zu befreien. Im gleichen Sinne sprach auch der Osteuropahistoriker Michael Müller davon, dass das „Konvertierbarmachen der nationalen Geschichtsbilder“ die wichtigste Aufgabe der bilateralen Historiker- und Schulbuchkommissionen darstelle.

 Resümee des Vortrages von Rudolf Vierhaus auf dem Deutschen Historikertag 1996 in München. Schreiben an Michaela Marek vom 31.7.1996.  Siehe dazu Hans Lemberg, War das „Scheitern der Verständigung“ zwischen Tschechen und Deutschen der Zwischenkriegszeit unvermeidlich? Mit einigen Thesen zur Arbeit der Deutsch-tschechischen und deutsch-slowakischen Historikerkommission, Statement auf der Konferenz „Coming to Terms with the Past, Opening up to the Future“, Birmingham, 11. – 13.9.1998. Vgl. auch dessen publizierte Zusammenfassung: Hans Lemberg, Was the Collapse of Understanding between Czechs and Germans Unavoidable?, in: Vladimír Handl (Hrsg.), Coming To Terms With The Past. Opening Up To The Future. Conference Report, IGS Discussion Papers 19, 1998, S. 10 – 13, hier S. 12.

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Ohne jeden Zweifel gehört es aber nicht zu den Zielen der gemeinsamen Historikerkommission, verbindliche Interpretationen der gemeinsamen Geschichte zu erarbeiten, also so etwas wie einen kleinsten gemeinsamen Nenner aus drei nationalen Geschichtsdeutungen auszuhandeln. Die Tagungsprotokolle der Kommission geben vielmehr zu erkennen, dass die Konfliktlinien selbst bei klassischen Themen der Nationalgeschichten keineswegs entlang der „nationalen Lager“ verliefen. Ohnehin würden Kompromissformeln, also eine „ausgehandelte Geschichte“, keinen Erkenntnisfortschritt verbürgen. Die Geschichte der Historikerkommission demonstriert, dass insbesondere Themen, die hochgradig politisch vermint sind, sämtliche Beteiligte immer wieder dazu veranlassten, sich mit offenem Visier an den öffentlichen Auseinandersetzungen zu beteiligen, um darüber einen für alle Seiten verständlichen Standpunkt zu erarbeiten. Die Kommission und ihre Tätigkeit waren und sind nicht nur ein Kind der Politik, sondern sie sind ebenso integraler Bestandteil der laufenden historischen Forschung und haben sich dementsprechend sukzessive mit ihr gewandelt. Aus der Rückschau wirkt es daher auch nur wenig überraschend, dass sie sich in den vergangenen Jahren ausgehend von politikhistorischen stärker kulturgeschichtlichen Fragestellungen zugewandt hat. Bei den späteren Tagungen sind unter anderem Mentalitäten und Deutungsmuster zur Sprache gekommen, so etwa in einer Konferenz über „Mythen und Politik im 20. Jahrhundert“, oder auch zum Verhältnis von „Religion und Nation“. Eine noch größere Bedeutung aber nahm ein von der Historikerkommission initiiertes Forschungsprojekt ein, das vom Bundesbeauftragten für Kultur und Medien gefördert und in Kooperation mit dem „Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität“ ausgearbeitet wurde. Hier haben vier Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu „Diskursen von Opferverbänden“ geforscht und in komparativer Herangehensweise die Selbstdarstellung von Opferverbänden (Jüdische Vereinigungen, Zwangsarbeiter, Vertriebenenorganisationen) untersucht, die Strategien, mit denen diese Verbände um Anerkennung kämpfen, wie sie ihre Forderungen formulieren und zur Geltung bringen.¹⁶ Zum inneren Wandel der Kommissionstätigkeit gehört ebenso, dass sie mittlerweile auch didaktischen Fragen beziehungsweise dem Forschungsfeld Public History ein höheres Augenmerk schenkt. Ablesen kann man dies zum einen an einem Tagungsband, der unter dem Titel „Erinnern – Ausstellen – Speichern“ die deutsch-tschechische und deutsch-slowakische Beziehungsgeschichte im Museum behandelt. Zum anderen wurde bereits in den Jahren 2008 – 2009 nach

 Die Projektergebnisse dieser Arbeiten wurden bereits publiziert: Opfernarrative. Konkurrenzen und Deutungskämpfe in Deutschland und im östlichen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, hrsg. von K. Erik Franzen und Martin Schulze Wessel. München 2012. Václava Kutter Bubnová, Die NS-Opferverbände und die Opferdiskurse seit 1993 in der Tschechischen Republik und in der Slowakei. München 2013; Peter Hallama, Nationale Helden und jüdische Opfer. Tschechische Repräsentationen des Holocaust. Göttingen 2015. Zum Projekt siehe auch http://www.collegium-carolinum.de/forschung/er innerungsgeschichte/diskurse-von-opferverbaenden-abgeschlossen.html (letztmalig abgerufen am 8.6. 2017).

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intensiven Diskussionen die Projektidee geboren, Materialien für die Lehrerfortbildung und die schulische Bildung zu erstellen. Hierbei geht es primär nicht darum, eine deutsch-tschechisch-slowakische Beziehungsgeschichte nachzuzeichnen, sondern anhand von Entwicklungen in den jeweiligen Ländern unterschiedliche nationale Varianten der europäischen Geschichte exemplarisch aufzuzeigen. Darüber sollen durchaus nicht nur die Konflikte, sondern auch die Gemeinsamkeiten zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken beleuchtet werden. Bei der entstehenden Publikation handelt es sich um eine kommentierte Quellensammlung, die mit längeren Einführungstexten und weiteren Informationstafeln verbunden ist. Einigkeit besteht überdies unter allen Mitgliedern der Historikerkommission darin, dass der Bereich der Nachwuchsförderung in Zukunft weiter ausgebaut werden soll. Mit relativ bescheidenen Mitteln – und zwar dank dem Friedenspreis der Stadt Osnabrück – konnte die deutsche Sektion der Kommission Mitte der 1990er Jahre erstmals Reisekostenstipendien für Studierende und jüngere Forscher ausloben. Das deutsche Auswärtige Amt hat sich danach bereit erklärt, das Preisgeld aufzustocken, so dass seither in jedem Jahr zwei, drei jüngeren Forschern beziehungsweise Forscherinnen die Möglichkeit gegeben wird, einige Wochen in Tschechien oder der Slowakei (in Einzelfällen auch in anderen Ländern) ins Archiv zu gehen, in der Bibliothek zu arbeiten, Fachleute zu konsultieren oder Interviews zu führen – je nachdem, was für das einzelne Projekt sinnvoll war. Dank einer sehr großzügigen privaten Schenkung konnte dieses Programm weiter ausgebaut werden. Über den Zeitraum der vergangenen 25 Jahre haben die von der Historikerkommission initiierten wissenschaftlichen Forschungsprojekte, Konferenzen und bildungspolitischen Anstrengungen ersichtlich zu einer Versachlichung und auch Beruhigung geschichtspolitischer Kontroversen beigetragen. Man kann dies unter anderem daran ermessen, wie sehr der Austausch unter ihren Mitgliedern sich gewandelt hat. So berichtete der Journalist Thomas Kleine-Brockhoff im Oktober 1996 in der Wochenzeitung Die Zeit von einem „verstörenden Erlebnis“ auf einer Konferenz der Historikerkommission. Zwar habe die Tagung den Blick in eine „Werkstatt der Verständigung“ geboten, dennoch hätte sich ihm das Geschehen zugleich als ein „Schlachtfeld der Nationalismen“ dargeboten. Unter dem Titel „Versöhnung und Wissenschaft“ sprach Kleine-Brockhoff sogar von einer „unmöglichen Aufgabe“.¹⁷ Die Serie der nachfolgenden Konferenzen und Projekte haben seine kritische Einlassung jedoch eines Besseren belehrt. Die anfänglich zuweilen noch national-politisch belasteten Kontroversen sind einem geregelten wissenschaftlichen Austausch gewichen, dem die Leidenschaften keineswegs fremd geworden sind, der sich aber von der Verfechtung genuin nationaler Standpunkte weit entfernt hat. Im Rahmen der ihr gegebenen Möglichkeiten hat die Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Historikerkommission somit einen wesentlichen Beitrag zu einem wissenschaftlich

 Thomas Kleine-Brockhoff, Versöhnung und Wissenschaft. Die unmögliche Aufgabe der deutschtschechischen Historikerkommission, in: Die Zeit, 25.10.1996.

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abgesicherten Austausch über eine Verflechtungsgeschichte beigetragen, ohne den der Weg zu einem stärker integrierten Europa kaum denkbar ist. Auf diesem Weg wird die Historikerkommission zum einen durch eine stärkere Internationalisierung der Debatten einen Beitrag leisten, zum anderen aber ebenso der Vermittlung neuer Erkenntnisse in die breite Öffentlichkeit ihr Augenmerk schenken. Zu diesem Zweck sollen mit Unterstützung der Historikerkommission insbesondere die virtuell verfügbaren Informationsangebote zur Geschichte von Deutschen, Tschechen und Slowaken ausgebaut und auf ein solides, wissenschaftlich überprüftes Fundament gestellt werden. Sie wird sich jedoch nicht zuletzt auch Fragen der jüngsten Zeitgeschichte widmen, die seit dem Beitritt Tschechiens und der Slowakei zur Europäischen Union eine neue Stufe in der gemeinsam zurückgelegten Geschichte von Tschechen, Slowaken und Deutschen markiert.

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Die Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission. Bilaterale Zusammenarbeit über Grenzen – aber auch mit Grenzen

Die 1972 gegründete Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission, in der Historiker und Geographen seit mehr als vierzig Jahren zusammen arbeiten, besitzt aufgrund der spezifischen Konstellation in den ersten fast zwanzig Jahren ihres Bestehens und der damit verbundenen komplexen Traditionsbildung eine besondere Bedeutung für eine moderne bilaterale Wissenschafts- und Aushandlungskultur.¹ Die Schulbuchkommission entstand im Gefolge der neuen Ostpolitik der Regierung Brandt und der Liberalisierung unter Edward Gierek in Polen und wurde im Februar 1972, noch vor der Ratifizierung des Warschauer Vertrages „über die Grundlagen der Normalisierung“ der deutsch-polnischen Beziehungen im Bundestag, unter dem Dach der UNESCO-Kommissionen beider Länder gegründet.² In beiden Staaten besaß vor dem Hintergrund der Belastungen der Beziehungen durch den Zweiten Weltkrieg und den Ost-West-Gegensatz gerade die Aufarbeitung der beiderseitigen Geschichte besondere Relevanz, schien aber auch durch biographische Faktoren erschwert: Bei den ersten beiderseitigen Schulbuchkonferenzen saßen auf deutscher Seite viele ehemalige Wehrmachtssoldaten ehemaligen polnischen KZ-Insassen, Zwangsarbeitern und Untergrundsoldaten gegenüber. Diese Konstellation der „Erlebnisgeneration“ erwies sich aber als durchaus fruchtbar, denn alle Teilnehmer waren sich der besonderen Belastungen ihrer Arbeit, aber auch der besonderen Chancen immer bewusst.³ Georg Eckert (1912– 1974), der Initiator und erste Vorsitzende auf deutscher Seite, formulierte nach der Gründung der Kommission in einem Brief an Erich Frister von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft:  Aktuelle Informationen über die Arbeit der Kommission enthält ihre Website Deutsch-polnischeschulbuchkommission.de.  Zu den deutsch-polnischen Beziehungen nach 1945 jetzt neu Stefan Garsztecki/Krysztof Malinowski, Deutsch-Polnische Geschichte 1945 bis heute. Kontinuität und Umbruch. Deutsch-polnische Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Darmstadt 2016, insbesondere das Kapitel „Normalität und Normalitätsverweigerung“.  Die Tätigkeit der Schulbuchkommission bis 1990 ist durch die Monographie von Thomas Strobel gut aufgearbeitet, vgl. Thomas Strobel, Transnationale Wissenschafts- und Verhandlungskultur. Die Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission 1972– 1990 (= Eckert. Die Schriftenreihe. Studien des Georg-Eckert-Instituts zur internationalen Bildungsmedienforschung, Bd. 139). Göttingen 2015. Einen guten Überblick in polnischer Sprache bietet: Bartosz Dziewanowski-Stefańczyk, Współpraca polskich i (zachodnio)niemieckich historyków po II wojnie światowej, in: Interakcje. Leksykon komunikowania polsko-niemieckiego, www.polska-niemcy-interakcje.pl/articles/show/37 (letztmalig abgerufen am 27.7. 2016). https://doi.org/10.1515/9783110541144-006

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„Hoffentlich verpasst das deutsche Volk nicht die einmalige Chance, die sich ihm jetzt bietet. Die Folgen wären entsetzlich.“⁴ Die Aufmerksamkeit der polnischen und westdeutschen Behörden war der Schulbuchkommission bis 1989/1990 sicher: Vertreter des polnischen Außen- und des Bildungsministeriums waren bei nahezu allen Sitzungen der Schulbuchkommission dabei. Vor- und Nachbesprechungen fanden in den polnischen Ministerien statt. Auf deutscher Seite etablierte es sich angesichts der Finanzierung der Kommissionsarbeit durch das Auswärtige Amt, dass die Mitarbeiter des Braunschweiger Schulbuchinstituts und auch die deutschen Vorsitzenden der Kommission für Rückfragen des Amtes zur Verfügung standen, wenn etwa deutsche Politiker nach Polen fuhren oder wenn es parlamentarische Anfragen im Bundestag zur Arbeit der Kommission gab.⁵ Die Arbeit der Schulbuchkommission wurde zudem bis 1989 über verschiedene Mechanismen – durch direkte Beobachtung, Abhören und durch Berichte von Teilnehmern – von der polnischen Staatssicherheit verfolgt. Ob es eine Beobachtung durch west- oder ostdeutsche Geheimdienste gab, ist nicht geklärt.⁶ Im Folgenden sollen in vier Schritten die sich wandelnden Herausforderungen an eine bilaterale Kommission skizziert werden. Dabei wird auch auf aktuelle Probleme eingegangen. Dabei soll es im Kern um das Verhältnis von politischen Anforderungen, Arbeitsmöglichkeiten und wissenschaftlicher Autonomie gehen. Zunächst jedoch einige Anmerkungen zur Institutionalisierung und Struktur der Arbeit der Schulbuchkommission.

1 Aushandlungsansätze für bilaterale Beziehungen: Das Beispiel der Gemeinsamen Schulbuchkommission Die Schulbuchkommission entstand 1972 bereits ein halbes Jahr vor der formalen Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen im Nachgang des Warschauer Vertrages (1970). Eine institutionelle Rahmung bildeten in der Vorbereitung und Verankerung der Schulbuchkommission in beiden Staaten die Deutsche und die Polnische UNESCO-Kom-

 Eckert an Frister, 10. 3.1972, Archiv Georg-Eckert-Institut, Bd. 427.  Vgl. etwa Jacobmeyer an Holik, 24.1.1983, S. 1 f., Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, B 93, Bd. 1262.  Belege in der Datenbank des Bundesnachrichtendienstes gibt es nicht. Folgt man der Aktenlage der Staatssicherheit der DDR, so scheint es, als habe die Arbeit der westdeutsch-polnischen Schulbuchkommission dort kein gesteigertes Interesse hervorgerufen. Möglich ist aber auch, dass die entsprechenden Aktenbestände an die „Hauptverwaltung Aufklärung“ (HVA), den Auslandsnachrichtendienst der DDR, übermittelt und dort später gelöscht wurden. Zum Aspekt Schulbuchkommission und Geheimdienste vgl. Strobel, Verhandlungskultur, S. 203 – 222.

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mission, die auch die jeweilige Schirmherrschaft übernahmen, wobei die polnische Seite auch erste Namenslisten für Teilnehmer erstellte.⁷ Diese internationale Rahmung war für die wissenschaftlichen Akteure in der Schulbuchkommission wichtig, da sie eine eigene, nicht explizit staatlich-politische Referenzebene bildete,⁸ dadurch größere Spielräume schuf und konkret den Vorsitzenden auf beiden Seiten, die zu (stellvertretenden) Vorsitzenden der jeweiligen UNESCO-Kommissionen wurden, eine eigene Handlungsebene bot. Sie ist auch in der Öffentlichkeitsdarstellung und Traditionspflege der Kommission bis heute ein Bezugspunkt. Die Benennung „Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission“ setzte sich nach einigen Schwankungen bereits Ende der 1970er Jahre endgültig durch, obwohl bis 1989 auch eine Historiker- und eine Schulbuchkommission zwischen der DDR und der VR Polen bestanden.⁹ Institutionelle Träger bildeten auf polnischer Seite das Außenministerium und das Ministerium für Bildung und Erziehung sowie die Polnische Akademie der Wissenschaften und das West-Institut in Posen. Auf deutscher Seite war es das Auswärtige Amt, dessen Förderung über das damalige „Internationale Schulbuchinstitut“ – heute „Georg-Eckert-Institut. Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung“¹⁰ (im Folgenden GEI) – bereitgestellt wurde. Mit Georg Eckert ist auch gleichzeitig die Gründungsfigur auf deutscher Seite benannt: Eckert prägte durch die Verbindung seiner Ämter – als Vorsitzender der Deutschen UNESCO-Kommission, Direktor des Schulbuchinstituts und Gründungsvorsitzender des deutschen Teils der Schulbuchkommission – die Entstehungsphase.¹¹ Aus diesem Tätigkeitsfeld heraus hat es das von ihm gegründete Institut immer als eine seiner Kernaufgaben angesehen, die deutsch-polnische Schulbucharbeit zu begleiten: In den Bereichen Geschichte und Geographie hat kontinuierlich ein Mitarbeiter des GEI als Sekretär der Schulbuchkommission die organisatorische Arbeit geleistet. Durch die Finanzierung des Aus Władysław Grzędzielski (Generalsekretär der Polnischen UNESCO-Kommission), 4.9.1971, Archiv Polnische UNESCO-Kommission, Nr. 235.  Die Deutsche UNESCO-Kommission ist ein eingetragener Verein, der vom Auswärtigen Amt gefördert wird und der mit seinen Organen ein Netzwerk deutscher auswärtiger Kulturpolitik darstellt. Ihr eigenständiger Charakter wurde im Kontext der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission deutlich stärker sichtbar als bei der Polnischen UNESCO-Kommission, die sich der Linie des Polnischen Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten unterordnen musste, vgl. Strobel, Verhandlungskultur, S. 82– 85.  Dazu Ingo Loose, Die Sprachlosigkeit der Ideologie. Polnisch-ostdeutsche geschichtswissenschaftliche Beziehungen 1950 – 1970, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 56.11, 2008, S. 935 – 955; Stefan Guth, Erzwungene Verständigung. Die Kommission der Historiker der DDR und der Volksrepublik Polen 1956– 1990, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 57, 2009, S. 497– 542.; Ders., Geschichte als Politik. Der deutsch-polnische Historikerdialog im 20. Jahrhundert (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Bd. 45). Berlin [u. a.] 2015, hier S. 307– 352.  Zur Tätigkeit der Einrichtung vgl. die Homepage www.gei.de (letztmalig abgerufen am 6.6. 2017).  Weiterführend zur Biographie Georg Eckerts: Heike C. Mätzing, Georg Eckert und die Anfänge des Archivs für Sozialgeschichte, in: Meik Woyke (Hrsg.), 50 Jahre Archiv für Sozialgeschichte. Bedeutung, Wirkung, Zukunft (= Gesprächskreis Geschichte, Bd. 92). Bonn 2011, S. 23 – 44.

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wärtigen Amtes kann die Schulbuchkommission jährliche Präsidiumstreffen durchführen und alle zwei Jahre eine Fachtagung organisieren, die abwechselnd in Polen und Deutschland stattfindet.¹² Zu dieser werden neben den Referenten auch Pädagogen, Schulbuchautoren und Publizisten eingeladen, punktuell zudem Mitglieder anderer Schulbuchkommissionen.¹³ Auf polnischer Seite ist die Organisationsstruktur deutlich schwächer; im Kontext einer Politisierung der polnischen Geschichtswissenschaft in den 1980er und 1990er Jahren verzichteten polnische Wissenschaftler zeitweise bewusst auf eine stärkere institutionelle Verankerung. Gegenwärtig ist der polnische Vorsitzende der Schulbuchkommission Robert Traba, der Direktor des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften (Centrum Badań Historycznych Polskiej Akademii Nauk w Berlinie¹⁴); ein Mitarbeiter nimmt als wissenschaftlicher Sekretär Koordinationsaufgaben wahr. Alle Mittel müssen hier über polnische oder internationale Stiftungen eingeworben werden.¹⁵ Zentrales Gremium der Schulbuchkommission ist das Gemeinsame Präsidium. Dem Präsidium gehören je ungefähr zehn Wissenschaftler beider Länder an. Es trifft sich einmal pro Jahr, die Mitarbeit ist freiwillig und unentgeltlich. Die Schulbuchkommission kooptiert kompetente Mitglieder für das Präsidium, ohne auf einen institutionellen Schlüssel Rücksicht zu nehmen. Den Kern der Präsidiumsmitglieder bilden an deutschen und polnischen Universitäten tätige Historiker und Geographen; in den letzten Jahren wurden verstärkt Fachdidaktiker für Geschichte für die Mitarbeit im Präsidium hinzugezogen. Arbeitsvorhaben bilden neben den aus den Konferenzen hervorgehenden Publikationen Schulbuchempfehlungen und -analysen, Quelleneditionen als Material für den Geschichtsunterricht,¹⁶ ein mehrbändiges Lehrerhandbuchs zu Knotenpunkten der deutsch-polnischen Geschichte¹⁷ sowie aktuell die Ar-

 Die Themen der letzten beiden Konferenzen 2014 und 2016: XXXV. Deutsch-Polnische Schulbuchkonferenz „Kulturlandschaften. Akteure und Modi ihrer Konstruktion und Narration“, 11. – 15.6. 2014 in Ciążeń; XXXVI. Deutsch-Polnische Schulbuchkonferenz „Kommunikationsräume. Akteure, Praktiken und Umsetzungen in der schulischen Praxis“, 19. – 21. 5. 2016 in Halle/Saale.  Bei der Schulbuchkonferenz 2016 in Halle/Saale nahm je ein polnisches und ukrainisches Mitglied der Polnisch-Ukrainischen Schulbuchkommission an den Beratungen teil.  Zur Tätigkeit der Einrichtung vgl. die zweisprachige Homepage www.cbh.pan.pl. (letztmalig abgerufen am 6.6. 2017).  Dies war in den letzten Jahren vor allem die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit.  Ursula A.J. Becher [u. a.] (Hrsg.), Deutschland und Polen im zwanzigsten Jahrhundert. Analysen – Quellen – didaktische Hinweise (= Studien zur internationalen Schulbuchforschung. Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts/Deutsche und Polen. Geschichte einer Nachbarschaft, Bd. 82/C). Hannover 2001. Aktuell laufen Arbeiten an einer Quellensammlung auch für frühere Epochen.  Diese Bände wurden in den Jahren 1994 bis 1998 veröffentlicht: Karl-Ernst Jeismann/Lech Trzeciakowski, Polen im europäischen Mächtesystem des 19. Jahrhunderts. Die „Konvention Alvensleben“ 1863 (= Studien zur internationalen Schulbuchforschung. Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts/ Deutsche und Polen. Geschichte einer Nachbarschaft, Bd. 82/B I). Braunschweig 1984; Michael G. Müller [u. a.] (Hrsg.), Die „Polen-Debatte“ in der Frankfurter Paulskirche. Darstellung, Lernziele, Materialien (= Studien zur internationalen Schulbuchforschung, Schriftenreihe des Georg-Eckert-Insti-

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beit am deutsch-polnischen Projekt „Schulbuch Geschichte“¹⁸. Für letzteres wurden zweisprachige Empfehlungen erstellt;¹⁹ dessen Entstehungsprozess wird mittels Begutachtung von Manuskripten durch Mitglieder der Schulbuchkommission begleitet. Außer der Struktur des Präsidiums der Schulbuchkommission gibt es abgesehen von einer sehr allgemein gehaltenen „Vereinbarung zwischen den UNESCOKommissionen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Schulbuchrevision“²⁰ vom Oktober 1972 keine festgelegte verbindliche Satzung. Die Schulbuchkommission hat es stets vermieden, die eigene Tätigkeit durch eine Bürokratie und normierende Regeln zu regulieren und in ein Korsett zu spannen. Bis 1989 spielten hier sicher die komplexe politische Situation und die Heterogenität der Teilnehmer eine Rolle, bis heute widerstreben das breite Tätigkeitsfeld der Kommission und der wissenschaftliche Autonomiegedanke normierenden Setzungen.

2 Kommunikationskultur und symbolische Integration Die Kommission ist paritätisch deutsch-polnisch besetzt mit einem deutschen und einem polnischen Ko-Vorsitzenden an der Spitze und hat in regelmäßigen Konferenzen eigene Verfahrensformen entwickelt. Bemerkenswert ist dabei, dass die Verhandlungssprache bei Veranstaltungen trotz der paritätischen Besetzung bis in unser Jahrtausend weitgehend Deutsch war. Hintergrund waren pragmatisch betrachtet die geringen polnischen Sprachkenntnisse zahlreicher deutscher Mitglieder und Retuts/Deutsche und Polen. Geschichte einer Nachbarschaft, Bd. 82/B II). Frankfurt am Main 1995; Maria Bogucka/Klaus Zernack, Um die Säkularisation des Deutschen Ordens in Preußen. Die Krakauer Huldigung (= Studien zur internationalen Schulbuchforschung, Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts/ Deutsche und Polen. Geschichte einer Nachbarschaft Bd. 82/B III). Hannover 1996; Winfried Schich/ Jerzy Strzelczyk, Slawen und Deutsche an Havel und Spree. Zu den Anfängen der Mark Brandenburg (= Studien zur internationalen Schulbuchforschung, Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts/Deutsche und Polen. Geschichte einer Nachbarschaft, Bd. 82/B IV). Hannover 1997; Heinz Duchhardt/ Bogdan Wachowiak, Um die Souveränität des Herzogtums Preußen. Der Vertrag von Wehlau 1657 (=Studien zur internationalen Schulbuchforschung, Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts/Deutsche und Polen. Geschichte einer Nachbarschaft, Bd. 82/B V). Hannover 1998.  Für einen Überblick: Thomas Strobel, Jenseits der nationalen Erinnerung. Das deutsch-polnische Projekt eines gemeinsamen Geschichtsbuches, in: Non Fiction. Arsenal der anderen Gattungen 9, 2014, 2, S. 28 – 44; Simone Lässig/Thomas Strobel, Towards a Joint German-Polish History Textbook. Historical Roots, Structures and Challenges, in: Karina V. Korostelina [u. a.] (Hrsg.), History Education and Post-Conflict Reconciliation. Reconsidering Joint Textbook Projects. London [u. a.] 2013, S. 90 – 119.  Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission (Hrsg.), Schulbuch Geschichte. Ein deutschpolnisches Projekt – Empfehlungen (= Eckert. Expertise, Bd. 1). Göttingen 2012; Wspólnej Polsko-Niemieckiej Komisji Podręcznikowej (Hrsg.), Podręcznik do historii. Zalecenia. Warschau 2013.  Vereinbarung zwischen den UNESCO-Kommissionen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Schulbuchrevision vom 17.10.1972.

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ferenten sowie vermutlich auch der polnische Wunsch vor 1989, einen geschützten, auch gegenüber den eigenen Behörden und der volkspolnischen Öffentlichkeit sprachlich abgegrenzten Gesprächsraum zu initiieren. Dies führte allerdings dazu, wie eine wissenschaftliche Auswertung von Protokollen ergab, dass die Redebeiträge in den 1970er Jahren zu ca. 70 % von deutschen Mitgliedern stammten.²¹ 2007 ist die Kommission dazu übergegangen, die Präsidiumssitzungen und Konferenzen zweisprachig mit Simultanübersetzung durchzuführen, was allerdings einen erheblichen Kostenfaktor darstellt. Dies ermöglicht es jedoch, über den in Deutschland wie Polen engen Kreis der funktional zweisprachigen Fachwissenschaftler hinaus auch Experten einzuladen, die die andere Sprache nicht gut oder gar nicht beherrschen. Dieses Konzept trägt zudem stärker dem Gedanken der Parität Rechnung. Informell werden in der Kommission jedoch bereits seit den 1970er Jahren beide Sprachen benutzt; gerade für den Aufbau eines kollegialen Verhältnisses waren einige des Polnischen mächtige Mitglieder wie Gotthold Rhode (Mainz) unter den deutschen Teilnehmern besonders wichtig. Aktuell wird die Sprachfrage pragmatisch gehandhabt: Die Historiker in der Kommission verständigen sich jenseits der simultan übersetzten Konferenzen und Sitzungen des Präsidiums in beiden Sprachen, die Geographen immer wieder auch auf Englisch. Grundsätzlich spielte eine gemeinsame „Mission“, nämlich die schwierigen und konfliktbelasteten deutsch-polnischen Beziehungen angemessen aufzuarbeiten und – zur Not auch mit Kompromissformeln – gemeinsam darzustellen,²² in der Arbeit der Schulbuchkommission eine große Rolle. Unterstützt wurde dies durch gemeinsame Symbole und Rituale – der von der Schulbuchkommission abwechselnd an einen deutschen und polnischen Wissenschaftler, Didaktiker oder Publizisten verliehene „Maria-Wawrykowa-Preis“, benannt nach einem langjährigen Kommissionsmitglied, der Auschwitz-Überlebenden Maria Wawrykowa (1925 – 2006), kann hier als aktuelles Beispiel genannt werden.²³ Bis in die 1990er Jahre hinein dauerten die Konferenzen – auch verbunden mit der schwierigen An- und Abreise über die Blockgrenzen hinweg –

 Bei der III. Deutsch-Polnischen Schulbuchkonferenz im April 1973 in Braunschweig lag der Redeanteil deutscher Teilnehmer bei 78 %, der der polnischen bei 22 %. Bei der V. Deutsch-Polnischen Schulbuchkonferenz im April 1974 in Braunschweig lag der Redeanteil deutscher Teilnehmer bei 70,1 %, der der polnischen Teilnehmer bei 29,9 %. Vgl. Strobel, Verhandlungskultur, S. 297.  Im Nachgang der 1976 fertiggestellten Empfehlungen der Kommission wurde vor allem in der Bundesrepublik Deutschland Kritik laut an der Nicht-Erwähnung des geheimen Zusatzabkommens im Hitler-Stalin-Pakt und an der Vermeidung des Begriffs „Vertreibung“.Vgl. Wolfgang Jacobmeyer (eingel. und ausgew.), Die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen in der öffentlichen Diskussion der Bundesrepublik Deutschland. Eine Dokumentation (=Studien zur internationalen Schulbuchforschung. Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung, Bd. 26). Braunschweig 1979.  Preisträger waren bislang die Historiker Andrzej Garlicki, Wolfgang Jacobmeyer, Zofia Kozłowska und Manfred Mack, der Journalist Jürgen Vietig sowie der polnische Gründungsvorsitzende der Schulbuchkommission Władysław Markiewicz.

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jeweils eine ganze Woche, wobei die lange Dauer und die komplizierte Anreise sicherlich zur Entwicklung eines gemeinsamen „Kommissionsgeistes“ beitrugen. Durch umfangreiche informelle Gespräche und gemeinsame Exkursionen wurde dieses Gruppenverständnis vertieft, und auch gegenwärtig werden Exkursionen und informelle Gespräche gepflegt. Eine bedeutende Rolle spielten und spielen Freundschaften zwischen einzelnen Kommissionsmitgliedern, verflochtene Lebensläufe sowie auch Lehrer-Schüler-Verhältnisse: Der polnische Gründungsvorsitzende Władysław Markiewicz (*1920) war mit dem damaligen deutschen Vorsitzenden Walter Mertineit (1926 – 1987) befreundet; zwischen den Ko-Vorsitzenden in den Jahren nach 2000 Włodzimierz Borodziej (*1956) und Michael G. Müller (*1950) besteht eine langjährige Freundschaft, und die aktuellen Ko-Vorsitzenden Robert Traba (*1958) und Hans-Jürgen Bömelburg (*1961) kennen sich seit über 20 Jahren und haben bereits vor der Kommissionsarbeit in Projekten zusammengearbeitet. Eine wichtige Komponente stellten auch verflochtene Lebensläufe unter den Kommissionsmitgliedern dar: Eines der einflussreichsten deutschen Kommissionsmitglieder, der zweisprachige Gotthold Rhode (1916 – 1990),²⁴ war in Posen unweit der Familie des späteren stellvertretenden polnischen Kommissionsvorsitzenden Marian Wojciechowski (1927– 2006) aufgewachsen. Bereits die Eltern kannten sich, gehörten aber dem protestantisch-deutschnationalen bzw. dem nationalpolnischen Milieu an; die beiden Mitglieder der Kommission trennten unterschiedliche Erfahrungen und Perspektiven, sie waren sich aber dieser Milieuprägung bewusst und sahen in ihrer Herkunft ein gemeinsames Band.

3 Strukturprobleme und Lösungsmodelle Die Gemeinsame Schulbuchkommission entwickelt Modelle für die Darstellung des jeweiligen Nachbarn im Geschichts- und Geographieunterricht, ohne eine institutionelle Rückbindung an die eigentlich Verantwortlichen, die deutschen Länder bzw. die Kultusministerkonferenz (KMK) und das polnische Ministerium für Nationale Bildung, zu haben. Schul- und Kulturpolitik sind in Deutschland Ländersache, die Gemeinsame Schulbuchkommission wurde jedoch niemals von der KMK finanziert. Im Gegenteil: Infolge der durchaus ideologischen Spaltung der deutschen Länder in Fragen der Schulpolitik wie der Ostpolitik in den 1970er und 1980er Jahren hat die Schulbuchkommission eine erhebliche Distanz zur KMK gehalten. Ein stabiles Mandat von dieser Seite wurde niemals beansprucht, da die Wissenschaftsakteure zumindest bis in die 1990er Jahre der Einschätzung waren, ein solches sei infolge der Differenzen

 Eike Eckert, Zwischen Ostforschung und Osteuropahistorie. Zur Biographie des Historikers Gotthold Rhode (=Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau, Bd. 27). Osnabrück 2012.

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nicht zu erhalten. Erst im Zuge der Vorbereitung des deutsch-polnischen Projektes „Schulbuch Geschichte“ wird über Brandenburg, das federführende Bundesland für das Projekt, und das Sekretariat der KMK ein engerer Kontakt zu derselben gehalten. Die Kommission stand also lange vor dem Dilemma, Empfehlungen, Zusatzmaterialien und Quelleneditionen für den Schul- und Hochschulunterricht zu entwickeln, ohne dezidierten Einfluss darauf zu besitzen, wie in den einzelnen Bundesländern diese Empfehlungen umgesetzt wurden bzw. Materialien Eingang in die Schulpraxis fanden. Diese Ausgangsbedingung für die eigenen Aktivitäten ist von den deutschen Akteuren in der Schulbuchkommission niemals infrage gestellt worden, etwa indem man intensiver organisatorisch mit den Kultusverwaltungen der Länder oder mit der KMK zusammen gearbeitet hätte, da die Gefahr für die Selbstständigkeit der Schulbuchkommission durch eine politische Fremdbestimmung als zu hoch eingeschätzt wurde.²⁵ Eine analoge Konfiguration bestand zudem auf polnischer Seite: In der Volksrepublik Polen hatte eine bilaterale Schulbuchkommission mit dem „Klassenfeind“ trotz ihrer engen Anbindung an das Bildungsministerium niemals die Perspektive, von punktuellen Justierungen abgesehen,²⁶ substantiellen Einfluss auf die Gestaltung der Schulbücher zu nehmen und mit größerer Breitenwirkung das Aufbrechen konflikthafter Geschichtsbilder zu beeinflussen.²⁷ Deshalb war die wechselseitige strukturelle „Machtlosigkeit“ beider Kommissionsteile ein gemeinsames Kennzeichen, das durchaus gemeinschaftsstiftend wirken konnte. Die Chance, die sich daraus ergibt, dass nach den derzeitigen Zulassungsanforderungen des polnischen Bildungsministeriums Geschichts- und Geographiebücher den Empfehlungen der bilateralen Schulbuchkommissionen entsprechen müssen,²⁸ könnte aktuell von der Kommission sicher noch stärker genutzt werden. Hiermit hängt eng ein zweites Strukturproblem zusammen: Die Gemeinsame Schulbuchkommission ist – in gewissem Gegensatz zu ihrem Namen – zugleich eine Fachhistoriker- und eine Didaktikerkommission, wobei die Fachhistoriker immer eine deutlich größere Repräsentanz und einen stärkeren Einfluss besaßen. Historisch erklärt sich dies daraus, dass in Polen Universitätshistoriker in viel größerem Maße als

 Noch im September 1974 war Generalsekretär der Deutschen UNESCO-Kommission Keller der Ansicht: „Eine Verhandlungslegitimation durch die KMK hätten wir doch nie bekommen! So aber sind positive Fakten geschaffen worden, denen sich auch die KMK auf die Dauer nicht entziehen kann.“, Keller an Mertineit, 6.9.1974, BArch B 336/287.  1978 sagte die polnische Seite etwa zu, ein vom deutschen Kommissionsmitglied Enno Meyer stark kritisiertes Schulbuch, „Historia“ von Gustav Markowski für die 5. Klasse, überarbeiten zu lassen. Vgl. Bachmann an Holik, 9. 3.1978, S. 2, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, B 93, Bd. 872.  Studien belegen, dass das Feindbild der militaristischen und revisionistischen Bundesrepublik in den polnischen Schulbüchern der 1970er Jahre zwar abgemildert, aber erst gegen Ende der 1980er Jahre wirklich überwunden wurde. Vgl. etwa Ewa Nasalska, Polsko-niemieckie dyskursy edukacyjne. Lata 1949 – 1999 (= Brostiana, Bd. 8). Warszawa 2004, S. 291 ff.  Rozporządzenie Ministra Edukacji Narodowej z dnia 8 lipca 2014 r. w sprawie dopuszczania do użytku szkolnego podręczników, Poz. 909, S. 2, § 2.2.

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in Deutschland auch Schulbücher schreiben, also von polnischer Seite dieser Gegensatz nie so deutlich gesehen wurde. Die Geschichtsdidaktik verfügt bis heute im polnischen Wissenschaftssystem über eine relativ schwache Position. In Deutschland besaßen die vergleichsweise relativ starken Geschichtsdidaktiker niemals eine spezifische Polenkompetenz mit breiteren Sprach- und Landeskenntnissen. Geschichtsdidaktische Kompetenz wurde lange hauptsächlich über Mitarbeiter des Braunschweiger Schulbuch-Instituts herangezogen; zuletzt wurde in stärkerem Maße versucht, auch auf die Kompetenz der Lehrenden der Fachdidaktik Geschichte an deutschen Hochschulen zurückzugreifen. Diese Verbindung von Fachhistorikern und Fachdidaktikern kann zu Zielkonflikten führen: Dies schlug sich etwa in den lange vor allem fachhistorischen Produkten der Schulbuchkommission nieder. Immer wieder gelang aber, etwa bei den Knotenpunkten der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte und beim Lehrerhandbuch zum 20. Jahrhundert, eine produktive Verbindung der beiden Elemente. Die Funktion der Schulbuchkommission als de facto-Fachhistorikerkommission führte auch dazu, dass sich bis heute keine deutsch-polnische Historikerkommission gegründet hat, zumal Polenspezialisten an deutschen Universitäten mit deutschlandweit etwa fünf Professuren immer dünn gesät waren und das einst große Reservoir von Deutschlandspezialisten in Polen in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen ist. Es gab unter den Spezialisten ansatzweise Diskussionen darüber, ob nicht eine Historikerkommission gegründet werden sollte. Diese geriete angesichts der gegenwärtigen fachinternen Kritik an bilateralen Forschungskontexten von Anfang an allerdings in die Gefahr einer Marginalisierung, sodass bisher keine Versuche unternommen wurden. Die Schulbuchkommission ist eine bilaterale Kommission von Historikern und Geographen, wobei erstere stets die jeweiligen Kommissionsvorsitzenden und die Mehrheit der Präsidiumsvertreter stellten. Historisch erklärt sich die Beteiligung der Geographen aus dem ehemals stärkeren Vorhandensein ostdeutscher Inhalte auch in Geographielehrbüchern und der besonderen politischen Brisanz von Ortsnamen – konkret, ob zum Beispiel in deutschen Atlanten deutsche und/oder polnische Bezeichnungen Verwendung finden sollten – sowie der Bedeutung von Kartographie und Raumkonstrukten in den jeweiligen nationalen Diskursen der deutschen Ost- wie der polnischen Westforschung. Dass es hier nicht zu Zielkonflikten gekommen ist, verdankt die Kommission auch ihrem flexiblen Wechsel zwischen parallelen Sitzungen und gemeinsamen Formaten von geographischer und historischer Sektion. Aktuell wird in der institutionellen Interdisziplinarität eine Chance gesehen, zumal auch häufiger Politologen und Soziologen herangezogen worden sind. Das Modell der Gemeinsamen Schulbuchkommission hat international vor allem auf den ostasiatischen Raum ausgestrahlt: Koreanische und liberale japanische Initiativen erörterten mehrfach die deutsch-polnischen Erfahrungen der geschichtlichen Aufarbeitung nach dem Zweiten Weltkrieg und baten um Expertise seitens der

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Schulbuchkommission.²⁹ Im europäischen Kontext wurde häufig das Beispiel der deutsch-polnischen Schulbuchkommission für bilaterale Historikerkommissionen beschworen, ohne allerdings immer den spezifischen Entstehungskontext und das Netz an Verflechtungen, das der deutsch-polnischen Zusammenarbeit zugrunde liegt, angemessen zu reflektieren.

4 Anforderungen, Herausforderungen und Zumutungen Alle Mitglieder der Schulbuchkommission arbeiten ausschließlich ehrenamtlich; abgesehen von den genannten Sekretären, die mit Teilen ihrer Arbeitszeit für die Kommission zuständig sind, gibt es keine Entlohnungen. Die Tätigkeit in der Schulbuchkommission bringt vielleicht Reputation, lässt sich aber gerade bei Nachwuchswissenschaftlern nicht in Evaluationsschemata und Karrierepfade einfügen – ein Problem, das sich gegenwärtig bei der Kooptation neuer Mitglieder stellt. Zuletzt arbeiteten Mitglieder der Schulbuchkommission intensiv an den „DeutschPolnischen Erinnerungsorten“ mit (herausgegeben vom polnischen Ko-Vorsitzenden Robert Traba und dem langjährigen Präsidiumsmitglied Hans Henning Hahn)³⁰ und an einer „Deutsch-Polnischen Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte“,³¹ in der ältere beziehungsgeschichtliche Konzepte, etwa die von Klaus Zernack, weiterentwickelt werden. Vor dem Hintergrund wachsender universitärer Anforderungen an Lehrende und beschränkter Kapazitäten sind politische Anfragen, Wünsche und Anforderungen mit oft knapper Terminsetzung vielfach nicht mit den Möglichkeiten der Schulbuchkommission in Einklang zu bringen. So hat es die Kommission um das Jahr 2004 herum mehrfach abgelehnt, zu der publizistisch aufgeheizten Frage von Flucht und Vertreibungen sowie diesbezüglich zu der unterschiedlichen deutschen und polnischen Begrifflichkeit Stellung zu nehmen, obwohl regelmäßig Anfragen eingingen. In Polemiken war daraufhin in der Publizistik unter anderem vom „zunehmend autis-

 Vgl. Academy of Korean Study (Hrsg.), Nationalism and History Textbooks in Asia and Europe. Various Perspectives on the History Conflict. Seongnam 2005; Takahiro Kondo, Contemporary History in History Textbooks in Germany and History Textbooks in Contemporary History of Germany. Textbook Improvement Activities between Germany and its Neighboring Countries. Nagoya 1993.  Hans Henning Hahn/Robert Traba (Hrsg.), Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, 5 Bde. Paderborn 2012– 2015. Polnische Ausgabe: Polsko-niemieckie miejsca pamięci. Warschau 2012– 2015.  Dieter Bingen [u. a.] (Hrsg.), WBG Deutsch-Polnische Geschichte, 5 Bd.e. Bislang sind die Bd.e II und III erschienen: Hans-Jürgen Bömelburg/Edmund Kizik (Hrsg.), WBG Deutsch-Polnische Geschichte. Bd. II: Frühe Neuzeit. Altes Reich und Alte Republik. Deutsch-Polnische Beziehungen und Verflechtungen 1500 – 1806. Darmstadt 2014; Jörg Hackmann/Marta Kopij-Weiß (Hrsg.),WBG Deutsch-Polnische Geschichte. Bd. III: 19. Jahrhundert. Nationen in Kontakt und Konflikt. Deutsch-polnische Beziehungen und Verflechtungen 1806 – 1918. Darmstadt 2014.

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tisch agierenden Spezialistenclub“³² die Rede. Die Schulbuchkommission hält es jedoch nicht für zielführend, zu jeder im politischen Raum oder im Feuilleton ausgetragenen publizistischen Debatte um die deutsch-polnischen Beziehungen Stellung zu nehmen. Deutsche Kommissionsmitglieder galten vielfach als zu polonophil,³³ polnischen Kommissionsmitgliedern wurde öffentlich und mit Namensnennung noch in den letzten Jahren in der polnischen Presse vorgeworfen, zu wenig national zu agieren und im Solde deutscher Interessen und Institutionen zu stehen.³⁴ Schließlich wurde in Polen gegen einzelne Kommissionsmitglieder der Vorwurf einer Nähe zu Organisationen der Staatssicherheit erhoben.³⁵ Politische Agenden fordern häufig schnelle Lösungen und Produkte, die die Kommission punktuell ablehnt oder aber mit modifizierten Herangehensweisen und Zeitplänen aufnimmt. Abschließend sei dies ausgeführt am Beispiel des deutschpolnischen Projektes „Schulbuch Geschichte“: Im Januar 2008 beauftragten die Außenminister Polens und Deutschlands die Schulbuchkommission damit, ein Konzept hierfür zu entwickeln. Im Mai 2008 begann das Projekt offiziell und es konstituierte sich eine deutsch-polnische Projektgruppe, bestehend aus wissenschaftlichen und politischen Akteuren beider Länder, deren Expertenrat wissenschaftlich seither von der Schulbuchkommission betreut wird, dem jedoch zugleich ein politisch besetzter Steuerungsrat vorsteht. Ursprünglich mag es die Vorstellung einiger politisch Verantwortlicher gewesen sein, die Schulbuchkommission solle das gemeinsame Geschichtsschulbuch selber „schreiben“, was jedoch Prinzipien moderner Schulbucharbeit zuwiderliefe. Stattdessen wurde von der Kommission eine Kooperationsstruktur entwickelt: Von einem erweiterten Expertenrat wurden ein Rahmenkonzept und Empfehlungen zu den einzelnen Epochen ausgearbeitet. Auf dieser Basis, die die Entwicklung eines an den Lehrplänen orientierten Schulbuchs zur Geschichte Europas vorsieht, verfassen im Moment Schulbuchautoren aus beiden Ländern Texte – in Abstimmung mit einem deutschen und einem polnischen Schulbuchverlag, Eduversum (Wiesbaden) und Wydawnictwo Szkolne i Pedagogiczne (Warschau) –, die wiederum von Experten, die mehrheitlich der Schulbuchkommission entstammen, begutachtet, kommentiert und ergänzt werden.

 Thomas Urban, Abschied vom Helden-Mythos, in: Süddeutsche Zeitung, 21.5. 2012, S. 46.  Vgl. Hans-Joachim von Leesen, „So etwas fasse ich überhaupt nicht an!“ Polnische Opferzahlen des Zweiten Weltkriegs aus der Propagandaküche: Der Osteuropa-Historiker Rudolf Jaworski und sein Verständnis von Wissenschaft, in: Junge Freiheit, 25.7. – 1.8. 2008.  Bogdan Musiał, Triumf niemieckiej propagandy, in: w Sieci, 8. – 14. 2. 2016, S. 58 – 61.  Zu Zeiten der Volksrepublik gab es selbst innerhalb der Kommission Gerüchte darüber, dass einzelne Kommissionsmitglieder den Geheimdiensten Informationen zukommen ließen. Es gab in der Tat solche Personen, für eine Geheimdiensttätigkeit der seinerzeit intern verdächtigten Personen wurden aber keine Belege in den Akten gefunden. Vgl. Strobel, Verhandlungskultur, S. 203 – 219.

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Das Projekt, an dessen Ende eine aus vier Bänden bestehende, inhaltlich und grafisch identische Schulbuchreihe für den regulären Einsatz im deutschen und polnischen Schulunterricht stehen wird, ist hochkomplex. Bei der Realisierung gab es Verzögerungen, bedingt unter anderem durch schwierige Aushandlungsprozesse über Unterschiede der jeweiligen Schulbuchtraditionen (so das Verhältnis von Autorentext und Quellen/Abbildungen, die Ausgestaltung von Karten etc.) und aufgrund der Tatsache, dass nur ein Teil des Teams beide Sprachen beherrscht. Im Juni 2016 wurde der erste Band, der die Ur-/Frühgeschichte, die Antike und das Mittelalter behandelt,³⁶ von den Herausgebern des Buches gemeinsam mit den Außenministern Deutschlands und Polens sowie dem brandenburgischen Ministerpräsidenten und Polen-Beauftragten der Bundesregierung der Öffentlichkeit vorgestellt.³⁷ In der Folge wird es nun darum gehen, zum einen die verbleibenden drei Bände zu erarbeiten, die in den Jahren 2017– 2020 erscheinen sollen,³⁸ und zum anderen, in beiden Ländern mögliche Akzeptanz-Probleme auszuräumen und Maßnahmen dafür zu ergreifen, dass das Buch von den Lehrkräften im Schulunterricht tatsächlich eingesetzt wird. Die Schulbuchkommission wird in beiden Bereichen aktiv mitwirken und versuchen, immer wieder Wege und Lösungen aufzuzeigen. Dies bedeutet allerdings, manchmal geschichtspolitische Zumutungen auszuhalten, mediale Stürme in der Regel hintanzustellen und dicke Bretter zu bohren – die institutionelle Unabhängigkeit von staatlichen Institutionen ist also unverzichtbar. Weiterhin ist es unabdingbar, zwischen jeweiligen nationalen Öffentlichkeiten zu vermitteln oder Kompromisse auszuloten sowie in längeren zeitlichen Dimensionen zu denken. Arbeitspraktiken, die in beinahe einem halben Jahrhundert gemeinsamer Tätigkeit entwickelt worden sind, bilden hier einen Werkzeugkasten der Kooperation, der jedoch immer wieder neu reaktualisiert und rekonzeptionalisiert werden muss. Bilaterale Zusammenarbeit in einer multilateralen Welt muss immer wieder neu überdacht und rejustiert werden; aufgrund der Dichte der deutsch-polnischen Geschichte sind wir allerdings überzeugt, dass diese deutsch-polnische Zusammenarbeit auch weiterhin Sinn macht.

 Schulbuchkommission/Georg-Eckert-Institut/Zentrum für Historische Forschung (Hrsg.), Europa/ Europa. Beide Ausgaben werden herausgegeben von der Gemeinsamen Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission, in Zusammenarbeit mit dem Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung Braunschweig und dem Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften.  Vgl. exemplarisch: Hanna Beitzer, Wenn Polen und Deutsche gemeinsam Geschichte schreiben, in: Süddeutsche Zeitung, 22.6. 2016, www.sueddeutsche.de/bildung/jahre-nachbarschaftsvertrag-wennpolen-und-deutsche-gemeinsam-geschichte-schreiben-1.3046599 (letztmalig abgerufen am 28.7. 2016); Bartosz T. Wieliński., Skromna odwilż polsko-niemiecka, czyli co przyniosły konsultacje rządowe w Berlinie, in: Gazeta Wyborcza, 22.6. 2016, wyborcza.pl/1,75399,20286817,skromna-odwilz-polsko-nie miecka-czyli-co-przyniosly-konsultacje.html (letztmalig abgerufen am 28.7. 2016).  Bd. 2: Frühe Neuzeit; Bd. 3: 19. Jahrhundert; Bd. 4: 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart.

Martin Schulze Wessel

Die Deutsch-Ukrainische Historikerkommission Gegründet im Januar 2015, kann die Deutsch-Ukrainische Historikerkommission auf eine Geschichte von kaum drei Jahren zurückblicken. Nach dem Majdan und der russischen Annexion der Krim und während des kriegerischen Konflikts um die ostukrainischen „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk gegründet, stand und steht die Kommission vor der besonderen Herausforderung, ihr wissenschaftliches Arbeitsfeld in einer politisch aufgeladenen Situation zu entwickeln. Die Deutsch-Ukrainische Historikerkommission steht mittlerweile unter der Schirmherrschaft der Außenminister Deutschlands und der Ukraine.¹ Eine ihrer Besonderheiten ist aber, dass sie nicht als politisches Projekt, sondern aus der Fachwissenschaft heraus durch einen Vertrag zwischen den Historikerverbänden beider Länder, also auf einer zivilgesellschaftlichen Grundlage, gegründet wurde.

Die Ratio der Kommission In der Regel werden Historikerkommissionen von Regierungen eingesetzt, um eine angespannte geschichtspolitische Situation durch geschichtswissenschaftliche Grundlagenarbeit und die Abgleichung nationalhistorischer Narrative allmählich zu entschärfen. Einen entsprechenden Hintergrund haben z. B. die Deutsch-Polnische Schulbuchkommission oder auch die Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Historikerkommission. Im Falle der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission liegen die Verhältnisse anders: Es gibt aktuell zwischen Deutschland und der Ukraine keinerlei akute geschichtspolitische Spannungen. Die Kommission wurde vielmehr in einer Situation gegründet, als die Ukraine durch die Majdan-Revolution eine politische Zäsur erlebte, deren Tragweite noch nicht abzuschätzen war. Zugleich befand sich die Ukraine nach der russischen Annexion der Krim und der Separation der von Russland unterstützten, sogenannten Volksrepubliken Luhanzk und Donesk de facto in einem Krieg mit Russland. Die Gründung der Historikerkommission war, anders als entsprechende Motivationen bei der Schaffung der Kommissionen zwischen Deutschland und Polen bzw. der Tschechoslowakei, von der Einsicht geleitet, dass eine bilaterale Institution nötig sei, um überhaupt einen stetigen Geschichtsdialog zwischen Deutschland und der Ukraine in Gang zu bringen. Sie hatte also eine

 Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD), Steinmeier und Klimkin übernehmen Schirmherrschaft über die Deutsch-Ukrainische Historikerkommission, Pressemitteilung vom 8.4. 2016, http://www.historikerverband.de/mitteilungen/mitteilungs-details/article/-74489b0e31.html (letztmalig abgerufen am 31.10. 2016). https://doi.org/10.1515/9783110541144-007

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Funktion, wie sie auch andere Historikerkommissionen über ihre primäre Vermittlungsfunktion hinaus erfüllen: einen kontinuierlichen institutionellen Kontakt zwischen zwei Historiographien zu etablieren. Dementsprechend war es im Fall der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission nicht die Politik, die den Auftrag zur Bildung einer Kommission erteilte. Vielmehr ging die Anregung zur Gründung der Kommission aus der Fachwissenschaft selbst hervor: Eine Delegation des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) in Verbindung mit dem Verband der Osteuropahistoriker (VOH) traf im Juli 2015 ukrainische Kollegen in Kyjiw zu einem fachlichen Austausch. Dabei entstand der Plan, eine Kommission als gemeinsames Projekt des deutschen und des ukrainischen Historikerverbandes ins Leben zu rufen. In beiden Verbänden gab es dafür einhellige Unterstützung, ja, die Gründung wurde allgemein als überfällig empfunden. Dass die Gründung der Kommission 2015 nicht nur als ein wichtiger symbolischer Akt, sondern auch als eine nachholende Initiative aufgefasst wurde, hat mehrere Ursachen: Zum einen ist es nach 1991 in Deutschland versäumt worden, zur Ukraine auch nur annähernd so intensive fachwissenschaftliche Kontakte aufzubauen, wie diese zu Russland bestehen. Mit Russland verbindet die deutsche Geschichtswissenschaft ein enges institutionelles Geflecht: In Moskau gibt es ein Deutsches Historisches Institut, es existiert eine prominent besetzte Deutsch-Russische Geschichtskommission, und zahlreiche Lehrstühle in Deutschland, wie z. B. an der Humboldt-Universität, der Universität Tübingen oder der Universität Freiburg, widmen sich vornehmlich der russischen Geschichte. Abgesehen von einigen Kolleginnen und Kollegen, wie dem zunächst in Köln, später in Wien lehrenden Andreas Kappeler, dem Hamburger Historiker Frank Golczewski oder der stellvertretenden Direktorin des Herder-Instituts Anne Veronika Wendland und einigen wenigen anderen, gab es kaum Ukraine-Forschung in Deutschland. Die Gründung der Kommission signalisiert zumindest ein deutlich gestiegenes Interesse an der Ukraine in Deutschland und umgekehrt auch an Deutschland in der Ukraine. Auch wenn die Deutsch-Ukrainische Historikerkommission, anders als ihre deutsch-polnischen und deutsch-tschechisch-slowakischen Pendants, nicht primär eine Vermittlungs-, sondern eher eine anbahnende und initiierende Funktion hat, bestehen gravierende Belastungen in der deutsch-ukrainischen Geschichte, die sich nur aktuell geschichtspolitisch nicht negativ bemerkbar machen. Über die aktuelle Situation hinausblickend, verfolgt die Kommission auch das Ziel, historische Belastungen im deutsch-ukrainischen Verhältnis zu bearbeiten, bevor diese die bilateralen Beziehungen geschichtspolitisch trüben. Die Kommission hat die Funktion, eine weitgehend verdrängte deutsch-ukrainische Geschichte zu erforschen und in die Öffentlichkeit zu tragen. Dies betrifft nicht zuletzt die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Wie verheerend die deutsche Besatzungsherrschaft gerade auf dem Gebiet der Ukrainer war, ist in Deutschland auch unter historisch Gebildeten wenig bekannt: Auf dem Gebiet der heutigen Ukraine fielen drei Millionen Ukrainer und andere nicht-jüdische Menschen der deutschen Besatzungspolitik zum Opfer. Darüber hinaus starben in diesem Gebiet etwa 1,5 Millionen Juden in der Shoah. 1,4 Millionen Rotarmisten aus

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der Ukraine fielen im Kampf gegen die Wehrmacht. Von den 2,8 Millionen sowjetischen Zwangsarbeitern, die nach Deutschland verschleppt wurden, stammten fast 2,3 Millionen aus der Ukraine.² Solange die Sowjetunion existierte, wurden die ukrainischen Opfer den sowjetischen zugerechnet, ähnlich wie dies mit den russischen Opfern geschah. Nach 1991 aber traten im deutschen Geschichtsbewusstsein die „russischen“ Kriegsopfer an die Stelle der „sowjetischen“. Von ukrainischen Opfern war nicht die Rede, vielmehr wurden diese den russischen Opfern hinzugerechnet. Seit 1991 werden die sowjetischen Opfer vielfach mit den russischen gleichgesetzt. Ein drastisches Beispiel dafür ist das Interview, das Altkanzler Gerhard Schröder am 18. Juni 2016, also im Vorfeld des 75. Jahrestages des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion, der Süddeutschen Zeitung gab. Darin setzte er die sowjetischen Opfer des Zweiten Weltkriegs durchweg mit Russland gleich und leitete daraus eine politische Doktrin ab, nämlich die Notwendigkeit des Ausgleichs mit Russland und der Rücknahme der Sanktionen.³ Die Deutsch-Ukrainische Historikerkommission hat in einer Presseerklärung darauf hingewiesen, dass die sowjetischen Opfer des Krieges nicht im Sinne einer prorussischen Stellungnahme im gegenwärtigen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine instrumentalisiert werden können. Die Ukraine war mindestens im gleichen Maße Opfer der deutschen Aggression wie Russland.⁴ Das Interview Gerhard Schröders ist nur ein besonders prominentes Beispiel für eine weitverbreitete Ignoranz der deutschen Öffentlichkeit in Bezug auf die Geschichte der Ukraine. Den ukrainischen Staat und die ukrainische Nation gab es im Bewusstsein der Deutschen kaum, die Ukraine wurde bis zum Majdan nicht als Staat mit einer Geschichte, sondern vielfach eher unter folkloristischen Gesichtspunkten wahrgenommen. Sofern es in Deutschland überhaupt historische Assoziationen zur Ukraine gibt, so beziehen sich diese oft auf die Klischees vom ukrainischen Nationalismus und Faschismus, was angesichts der zweimaligen grausamen Besatzungsherrschaft Deutschlands in der Ukraine nicht nur ein Aberwitz ist, sondern auch eine potentielle Hypothek für das deutsch-ukrainische Verhältnis darstellt. Wenn auch dieses Verhältnis in der Gegenwart frei von geschichtspolitischen Belastungen ist, so entspricht es doch einer weitsichtigen Politik, die problematischen Epochen der deutsch-ukrainischen Beziehungen durch eine gemeinsame Historikerkommission zu

 Zu den Opferzahlen unter Juden und Zwangsarbeitern vgl. George Liber, Total Wars and the Making of Modern Ukraine 1914– 1954. Toronto 2016; zu den Opferzahlen unter Rotarmisten vgl. Paul Robert Magocsis, History of Ukraine. Toronto 1996.  Joachim Käppner/Christian Mayer, „Putin hat nie versucht, mich über den Tisch zu ziehen“. Gerhard Schröder über Russland, in: Süddeutsche Zeitung, 18.6. 2016, http://www.sueddeutsche.de/leben/ger hard-schroeder-ueber-russland-putin-hat-nie-versucht-mich-ueber-den-tisch-zu-ziehen-1.3035335?re duced=true (letztmalig abgerufen am 31.10. 2016).  VHD, Deutsch-Ukrainische Historikerkommission kritisiert einseitiges Geschichtsbild von Altkanzler Gerhard Schröder, Pressemitteilung vom 19.6. 2016, http://www.historikerverband.de/fileadmin/_vhd/ Historikerkommission/PM_DUHK_2016 - 6 -19.pdf (letztmalig abgerufen am 31.10. 2016).

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erforschen, um zu gemeinsamen Bewertungen zu gelangen und das allgemeine Geschichtsbewusstsein in Deutschland und der Ukraine entsprechend zu informieren.

Die Gründung der Kommission Im Juni 2014 reiste erstmals eine Delegation des VHD nach Kyjiw; diese Gespräche mündeten im September 2014 in die Konstituierung einer Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission unter dem Dach des VHD.⁵ Damit wurde erstmalig ein institutioneller Rahmen geschaffen, um den wissenschaftlichen Austausch zwischen deutschen und ukrainischen Historikerinnen und Historikern zu befördern und die Kenntnisse über die Geschichte und Kultur der Ukraine in Deutschland zu verbreiten. Die Kommission verfügt durch einen Vertrag zwischen dem Deutschen und dem Ukrainischen Historikerverband sowie durch eine gemeinsame Satzung über eine institutionelle Grundlage. Als gemeinsame Kommission des deutschen und ukrainischen Verbandes hat die Kommission den Gremien der Verbände regelmäßig Bericht zu erstatten. In der Gründungsphase trug der VHD die anfallenden Kosten der Kommission alleine, was angesichts der Tatsache, dass sich der VHD ausschließlich über die Beiträge seiner Mitglieder finanziert, keine dauerhafte Lösung sein konnte. Die konstituierende Sitzung der Kommission am 27. Januar 2015 fand in einer Situation statt, die nicht nur durch den Krieg im Osten der Ukraine, sondern auch durch eine zunehmend erhitzte Debatte in Deutschland über die Politik gegenüber Russland und der Ukraine gekennzeichnet war. Im Dezember 2014 hatten 60 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in der ZEIT einen Aufruf mit dem Titel „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“ veröffentlicht, der für eine positive Russlandpolitik warb und sich historisch auf die Staatenordnung des Wiener Kongresses von 1814 – und die damalige Aufteilung Europas unter Großmächten – berief. Die auch von Russland vertraglich garantierte gegenwärtige Staatenordnung, wie sie nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums entstanden war, spielte in dem Aufruf ebenso wenig eine Rolle wie das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine.⁶ Auf dieses Manifest reagierten 100 Unterzeichner eines Gegenaufrufs, in dem sie Russland im Krieg in der Ukraine eindeutig als Aggressor benannten und darauf hinwiesen, dass die russische Annexion der Krim und die kaum verschleierte Intervention Russlands in der Ostukraine nicht gegen die Unzulänglichkeiten im politischen System der Ukraine

 VHD, VHD richtet auf dem 50. Deutschen Historikertag deutsch-ukrainischen Unterausschuss ein, Pressemitteilung vom 25.9. 2014, http://www.historikerverband.de/presse/pressemitteilungen/einrich tung-dt-ukrainischer-unterausschuss.html (letztmalig abgerufen am 31.10. 2016).  Roman Herzog [u. a.],Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!, in: ZEIT ONLINE, 5.12. 2014, http://www.zeit.de/politik/2014-12/aufruf-russland-dialog (letztmalig abgerufen am 31.10. 2016).

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aufgerechnet werden könnten.⁷ Zu den Unterzeichnern dieses Gegenaufrufs, der von vielen, aber bei weitem nicht allen Osteuropahistorikern in Deutschland und im deutschsprachigen Raum unterzeichnet wurde, gehörten auch die deutschen Gründungsmitglieder der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission. Deren konstituierende Sitzung fand eineinhalb Monate später am 27. Januar 2015 in München statt.⁸ Die Kommission gab sich eine Geschäftsordnung, der zufolge die Kommission aus zwei Sektionen mit jeweils fünf Vertreterinnen und Vertretern aus Deutschland und der Ukraine besteht. Mit der Satzung folgt die Kommission im Wesentlichen den Vorbildern der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission und der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission. Insgesamt hat die Kommission zehn Gründungsmitglieder, in der deutschen Sektion sind dies: Prof. Dr. Guido Hausmann (LMU München, inzwischen Universität Regensburg), Prof. Dr. Tanja Penter (Universität Heidelberg), Prof. Dr. Martin Schulze Wessel (LMU München), Dr. Ricarda Vulpius (LMU München), Dr. Veronika Wendland (Herder-Institut Marburg). Die ukrainische Sektion bildeten Prof. Dr. Polina Barvinska (Universität Odessa), Prof. Dr. Jaroslav Hrycak, (Katholische Universität Lviv), Prof. Dr. Jurij Šapoval (Akademie der Wissenschaften der Ukraine), Dr. Igor Ščupak (Ukrainisches Institut für Holocaust-Studien „Tkuma“, Dnipro), Prof. Dr. Sergij Stelmach aus de (Kyjiw).⁹ Bei der Zusammenstellung der Kommissionsmitglieder war u. a. der Gesichtspunkt wichtig, die Universitäten und Forschungseinrichtungen verschiedener Regionen der Ukraine bzw. Bundesländer Deutschlands in der Kommission vertreten zu haben. Zu Vorsitzenden der Kommission wurden Jaroslav Hrycak und Martin Schulze Wessel gewählt. Abgesehen von Satzungsfragen, ging es auf der konstituierenden Sitzung um das Selbstverständnis und das Arbeitsprogramm der Kommission. Es bestand Einigkeit darüber, dass sich die Kommission ungeachtet der zugespitzten politischen Situation als eine wissenschaftliche Institution versteht, die sich von der Politik nicht instrumentalisieren lassen dürfe. In diesem Sinne fand schon auf der konstituierenden Sitzung ein internes fachwissenschaftliches Programm statt, das von den Kommissionsmitgliedern bestritten wurde. Zugleich waren sich die Mitglieder darin einig, dass die Kommission an die breite Öffentlichkeit treten sollte. Dafür wurde eine große Konferenz in Berlin geplant. Ein bemerkenswertes Detail ist es, dass die ersten Arbeitssitzungen der Kommission auf Russisch stattfanden. Nicht alle deut-

 Osteuropa-Experten sehen Russland als Aggressor, in: Tagesspiegel.de, 11.12. 2014, http://www.tages spiegel.de/politik/gegen-aufruf-im-ukraine-konflikt-osteuropa-experten-sehen-russland-als-aggres sor/11105530.html (letztmalig abgerufen am 31.10. 2016).  VHD, Deutsch-Ukrainische Historikerkommission konstituiert sich in München, Pressemitteilung vom 20. 2. 2015, http://www.historikerverband.de/presse/pressemitteilungen/deutsch-ukrainische-his torikerkomission-konstituiert-sich.html (letztmalig abgerufen am 31.10. 2016).  Ein Text eines ukrainischen Mitglieds der Kommission, Oleksandr Lysenko, über die Gründung und die Tätigkeit der Kommission findet sich hier: Oleksandr Lysenko, Pro dijal’nist’ Nimec’ko-ukrajins’koji komisiji istorykiv, in: Ukrajins’kyj istoryčnyj žurnal 526, 2016, S. 220 – 224.

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schen Mitglieder sprachen ukrainisch, nicht alle ukrainischen Mitglieder deutsch oder englisch, so bildete Russisch die größte Schnittfläche. Die inhaltliche Arbeit der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission wurde auf den Sitzungen der Kommission grob umrissen. In den kommenden Jahren sollen zunächst folgende Themenfelder der deutschen, ukrainischen und deutsch-ukrainischen Geschichte im Vordergrund stehen: Erster und Zweiter Weltkrieg in Deutschland und der Ukraine, Holocaust, Holodomor, die politische, gesellschaftliche und kulturelle Situation der Ukraine seit dem Zerfall der Sowjetunion. Als Formate für die geplante Arbeit wurden wissenschaftliche Tagungen und Konferenzen geplant. Ferner nahm sich die Kommission vor, den wissenschaftlichen Nachwuchs durch Stipendien, Sommerakademien und Workshops zu fördern. Geplant wurde auch eine gezielte Presse- und Öffentlichkeitsarbeit (u. a. durch eine eigene, zweisprachige Homepage¹⁰, Angebote in den Sozialen Medien sowie eine zweisprachige Broschüre über die Arbeit der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission), um Forschungsergebnisse an Wissenschaftler, vor allem aber auch an Lehrer, Schüler, Studierende sowie Interessierte in beiden Ländern zu vermitteln. Die Zeit zwischen der Gründung der Kommission im Januar und ihrer ersten öffentlichen Konferenz im Mai 2015 war von dichter Berichterstattung und auch kontroverser internationaler Diskussion um die Kommission geprägt. Dabei war das unmittelbare mediale Echo auf die Gründung der Kommission zunächst eher knapp. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) brachte eine kurze Nachricht mit dem Titel „Ukraine verstehen“,¹¹ andere Medien veröffentlichten ebenfalls kurze Meldungen.¹² Zwei Monate später verfasste Regina Mönch für die FAZ eine erste intensive Auseinandersetzung mit den Herausforderungen und Chancen der Kommission. Sie schrieb, die Kommission und mit ihr vergleichbare Institutionen seien ein wirksames Gegengift, um der politisch-ideologischen Instrumentalisierung konkurrierender Geschichtsbilder und Stereotype entgegenzuwirken, und sie beschleunigen die notwendige Dekonstruktion fragwürdiger, nationalistisch geprägter Geschichtsmythen.

Mönch zog nicht nur den Vergleich zu den deutsch-polnischen und deutsch-tschechischen Pendants der Kommission, sondern wies auch auf die beispielhafte Kooperation zwischen polnischen und ukrainischen Historikern hin: Am Beispiel der intensiven Zusammenarbeit polnischer und ukrainischer Historiker lässt sich jetzt schon erkennen, was das langfristig bringt: Sie hat sehr zur Versöhnung der beiden Gesellschaften beigetragen und strahlt positiv bis in die Außenpolitik. Gerade Polen und die Ukraine haben eine schwer belastete Geschichte – Bürgerkrieg, ethnische Säuberungen im 20. Jahrhun-

 Die Homepage www.duhk.org befindet sich derzeit im Aufbau.  Ukraine verstehen. Neue Historikerkommission, in: FAZ, 27. 2. 2015.  Deutsch-ukrainische Historiker-Kommission geschaffen, in: Deutschlandradio Kultur, 27. 2. 2015, http://www.deutschlandradiokultur.de/deutsch-ukrainische-historiker-kommission-geschaffen.265. de.html?drn:news_id=456999 (letztmalig abgerufen am 31.10. 2016).

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dert, aber auch das Erbe der Habsburgermonarchie und des russischen Zarenreiches, die Unterdrückung der Ukrainer und ihrer Sprache und Kultur durch den polnischen Adel, um nur Beispiele zu nennen.¹³

Wenige Tage nach dem Erscheinen dieses Artikels wurden in dichter Folge Beiträge in russischen Medien publiziert, die durch deutschsprachige russische Medienportale wie Sputnik Deutschland¹⁴ auch in die deutsche Öffentlichkeit transportiert wurden. Bei russischen Publizisten, Parlamentariern und Historikern rief die Gründung der Kommission eine besorgte, ja alarmierte Reaktion hervor. Besonders prominent war die Äußerung des Vorsitzenden des Staatsduma-Ausschusses für Auswärtiges, Aleksej Puškov. Er bewertete die Gründung der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission sehr skeptisch: Es sei „keine objektive Einschätzung der historischen Ereignisse zu erwarten, wenn Politik und geopolitische Ziele eine so große Rolle spielen“. Die ukrainischen Kommissionsmitglieder würden, so befürchtete Puškov, die neue offizielle nationalistische Ideologie der Ukraine vertreten. Die Erforschung der Geschichte der Ukraine sei Propaganda, die auf der Verzerrung offensichtlicher Fakten, der Heroisierung der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) und von Stepan Bandera basiere, so Puškov. Auch der Direktor des Instituts für Allgemeine Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften Aleksandr Čubarjan warnte, dass „die Kommission weder ideologisiert noch politisiert“ werden dürfe und „die realen Prozesse der ukrainischen Geschichte widerspiegeln“ müsse. Vieles werde von der deutschen Seite abhängen, nämlich inwieweit diese die ukrainischen Kollegen davon überzeugen könne, eine objektive und wissenschaftliche Position einzunehmen. Falls die Kommission eindeutig propagandistische Züge annehme, werde Russland darauf unverzüglich reagieren, so der Direktor des Akademie-Instituts. Eine entsprechende Warnung sprach auch die russische Tageszeitung Izvestija aus.¹⁵ Die russische Tageszeitung Komsomol’skaja Pravda vermutete hinter der Kommissionsgründung einen europäischen Plan, die Geschichte der Ukraine und Russlands umzuschreiben.¹⁶ Tatsächlich hatten sich bei der Gründung der Kommission nicht nur die deutschen, sondern auch die ukrainischen Kommissionsmitglieder mit politischen Äußerungen ganz zurückgehalten. Für eine antirussische geschichtspolitische Tätigkeit der Kommission gab und gibt es keine Belege, wenn man nicht die Existenz der Kommission an sich als eine Störung der geschichtspolitischen Interessen Russlands betrachtet. Be-

 Regina Mönch,Was wissen wir über die Ukraine?, in: faz.net, 4.4. 2015, http://www.faz.net/aktuell/ feuilleton/forschung-und-lehre/unverzerrte-ukrainische-geschichtsschreibung-13516407-p2.html (letztmalig abgerufen am 31.10. 2016).  https://de.sputniknews.com/ (letztmalig abgerufen am 31.10. 2016).  Sämtliche Stimmen sind wiedergegeben in der deutschsprachigen russischen Online-Zeitschrift Sputnik, vgl. Deutsch-ukrainische Historikerkommission auf Propagandakurs, in: Sputnik, 8.4. 2015, https://de.sputniknews.com/zeitungen/20150408/301820830.html (letztmalig abgerufen am 31.10. 2016).  Aleksandr Bojko,V Evrope rešili perepisat’ istoriju Ukrainy i Rossii, in: Komsomol’skaja Pravda, 7.4. 2015, www.kp.ru/daily/26360/3245246/ (letztmalig abgerufen am 31.10. 2016).

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merkenswert an der vielstimmigen, konzertierten Kritik aus Russland war jedenfalls, dass sich mit Aleksandr Čubarjan ein führender Historiker Russlands daran beteiligte, der selbst Ko-Vorsitzender der Deutsch-Russischen Geschichtskommission ist. Man misstraute einer bilateralen Kommission zwischen Deutschland und der Ukraine, obwohl ein entsprechendes Instrument zwischen Deutschland und Russland seit langem existiert. Umgekehrt war das mediale Echo in der Ukraine auf die Gründung der Kommission sehr positiv. Dabei wurde jedoch nicht die Erwartung geäußert, dass die Kommission der Ukraine in ihrer Auseinandersetzung mit Russland in irgendeiner Weise geschichtspolitische Schützenhilfe leisten würde. Vielmehr richteten sich die Fragen der ukrainischen Medienvertreter auf das geplante Arbeitsprogramm der Kommission und speziell die Bewertung der Rolle der Ukrainischen Befreiungsarmee (OUN) bzw. der UPA.¹⁷ Aus ukrainischer Sicht erschien es also interessant, welche Position die Kommission zu den innerukrainischen historischen Streitfragen wie der NS-Kollaboration einnehmen würde. In der deutschen Medienöffentlichkeit spielte dagegen bei der Berichterstattung über die Kommissionsgründung die Intervention russischer Medien, Historiker und Parlamentarier eine große Rolle. Die Süddeutsche Zeitung wunderte sich über die „ungewöhnliche Beobachtung“ der Kommissionsgründung aus Moskau und unterstrich das wissenschaftliche Selbstverständnis der Deutsch-Ukrainischen Kommission.¹⁸ Andere Medien stellten die Frage, ob Russland in den Dialog einbezogen werden könne.¹⁹ Tatsächlich war zu der ersten Konferenz der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission mit Ilya Gerasimov auch ein russischer Historiker eingeladen, der allerdings nicht die Position der russischen Regierung oder des Akademie-Historikers Čubarjan vertrat. Nicht zuletzt wegen des Medienwirbels, den die russischen Veröffentlichungen verursacht hatten, fand die erste Tagung der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission vom 28. bis zum 29. Mai 2015 in Berlin mit einem unerwartet starken Interesse auch der breiteren Öffentlichkeit statt. Die Konferenz musste kurzfristig in einen größeren Tagungssaal ausweichen, um dem Publikumsinteresse entsprechen zu können. Sie wurde als gemeinsame Veranstaltung des Historikerverbandes, des Imre-Kertész-Kollegs in Jena und der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien in München und Regensburg veranstaltet, was auch der finanziellen Situation der Kommission geschuldet war: Nach wie vor verfügte diese über

 Natalija Pisan’ka, Ščodo ukrajins’kogo vizvol’nogo ruchu je bagato nepravdi – nimec’kij istorik, in: Radio Svoboda, 2.6. 2015, www.radiosvoboda.org/a/27049218.html (letztmalig abgerufen am 31.10. 2016).  Hannah Beitzer, Jenseits von Putins Hirnschale, in: Süddeutsche Zeitung, 1.6. 2015, S. 12.  Thomas Franke, Deutsch-Ukrainische Historikerkommission. Neue Sicht auf die Ukraine, in: Deutschlandfunk, 30. 5. 2015, www.deutschlandfunk.de/deutsch-ukrainische-historikerkommissionneue-sicht-auf-die.691.de.html?dram%3Aarticle_id=321301 (letztmalig abgerufen am 31.10. 2016).

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keine staatliche Finanzierung oder Förderung durch eine Stiftung, sondern hing am Tropf des VHD mit seinen sehr beschränkten Mitteln. Die Kommission hatte für ihre erste Tagung ein großes Thema gewählt: „Zwischen Revolution und Krieg: Die große europäische Transformation und die Ukraine seit 1989“. Das Thema bezog sich auf die Gegenwart bzw. unmittelbare Vergangenheit des Majdan und des russisch-ukrainischen Kriegs, schlug aber einen großen Bogen in die Frühneuzeit und ordnete die ukrainische und russische Geschichte in die Geschichte Europas seit dem 17. Jahrhundert ein. Timothy Snyder von der Yale University eröffnete in diesem Sinne die Konferenz mit einem Abendvortrag, in dem er dafür plädierte, die Ukraine als Teil der Geschichte Europas zu begreifen. Ohne die Ukraine lasse sich eine Geschichte Europas nicht schreiben. Vor allem aber erweitere die Geschichte der Ukraine die etablierten Narrative der europäischen Geschichte um wichtige Perspektiven. Im Frühneuzeit-Panel der Konferenz wurde diese europäische Perspektive der ukrainischen Geschichte weiterverfolgt. Frank Sysyn (University of Alberta, Edmonton) arbeitete pointiert den Kontrast heraus, dass die historiographische Debatte über die Krise des 17. Jahrhunderts in den 1970er und 1980er Jahren ohne ukrainische Historiker stattgefunden habe, während im 17. Jahrhundert die Ukraine noch auf den mentalen Karten venezianischer Historiker präsent gewesen sei. Die europäische Dimension ukrainischer Geschichte, die stets auch im Zusammenhang mit der Geschichte des Zarenreichs bzw. der Sowjetunion betrachtet wurde, prägte auch die weiteren Panels zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Die abschließende Diskussionsrunde wurde vom russischen Historiker Ilya Gerasimov (Ab Imperio Quarterly, Chicago & Kazan) geleitet, der selbst den ukrainischen Umbruch als eine postkoloniale Situation interpretierte, in der sowohl eine neue gesellschaftliche Solidarität als auch eine neue Selbstwahrnehmung entstanden sei. In dieser Diskussion kam von ukrainischer Seite durch Andrij Portnov (Potsdam, Kyjiw, Dnipro) auch kritisch zur Sprache, dass in der ukrainischen Geschichtsschreibung bislang eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Abfolge der Ereignisse im Donbas fehle. Deutungen, die den Krieg im Donbas mit Verweis auf eine (essentialisierte) sowjetische Identität der Region zu erklären versuchten, ließen den entscheidenden Faktor der Gewaltausübung russischer Militärs ebenso außer Acht wie die Frage nach der Positionierung lokaler Eliten. Der Abendvortrag Andreas Kappelers (Wien) über die deutschen Ukraine-Bilder seit dem 17. Jahrhundert schloss mit dem optimistischen Fazit, dass die Zahl deutschsprachiger Dissertationen zur ukrainischen Geschichte in den vergangenen Jahren kontinuierlich ansteige, ungeachtet der weiterhin beklagenswerten Situation der schlechten institutionellen Verankerung der ukrainischen Geschichte an deutschen Universitäten.²⁰  Franziska Davies, Revolution und Krieg. Die Ukraine in den großen Transformationen des neuzeitlichen Europa. Konferenz der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission, 28.5. 2015 – 29. 5. 2015 Berlin, in: H-Soz-Kult, 9.11. 2015, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6234 (letztmalig abgerufen am 31.10. 2016). Eine audiovisuelle Tagungsdokumentation ist auf LISA, dem Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung, zu finden: http://www.lisa.gerda-henkel-stiftung.de/war_

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Insgesamt ließ die erste öffentliche Konferenz der Kommission beides erkennen: sowohl das Interesse, die ukrainische Geschichte wieder stärker im europäischen Kontext zu betrachten, was paradoxerweise in den Beiträgen der US-amerikanischen bzw. kanadischen Historiker Timothy Snyder und Frank Sysyn besonders prononciert hervortrat, als auch ein Interesse an der selbstkritischen Aufarbeitung der ukrainischen Geschichte bei Andrij Portnov bzw. der deutschen Traditionen der UkraineRezeption bei Andreas Kappeler.

Verstetigung und neue Akzente Auf der Berliner Konferenz, die von starkem internationalem Medieninteresse begleitet wurde, war es gelungen, eine Reihe aktueller geschichtswissenschaftlicher Fragen zu diskutieren und damit das Selbstverständnis der Kommission nach außen zu demonstrieren. Dass die Ukraine prononciert im europäischen Kontext diskutiert wurde, trug sicherlich dem zeitgebundenen Kontext der Tagung Rechnung. Doch wurde in keinem der Konferenzbeiträge ein negativer Kontrast zu Russland entwickelt, vielmehr unterstrichen viele die Verbindungen der Ukraine mit Russland, sei es in einer historischen oder in einer post-kolonialen Perspektive der Gegenwart. Das positive Medienecho der Konferenz dürfte ein wichtiger Grund dafür gewesen sein, dass die Kommission nun mit der Einwerbung einer zunächst dreijährigen Förderung durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) erfolgreich war. Mit dessen Hilfe konnte ein wissenschaftliches Sekretariat eingerichtet werden; damit ging im Februar 2016 die Geschäftsführung der Kommission von Dr. Nora Hilgert (VHD) auf Kateryna Kudin (LMU München) über. Durch die DAAD-Förderung wurde nun erst die langfristige Planung von Konferenzen, Workshops, Sommerschulen für den wissenschaftlichen Nachwuchs, die Erstellung eines Online-Portals zur deutschukrainischen Geschichte und die Publikation einer Schriftenreihe möglich. Die Robert Bosch Stiftung konnte ebenfalls für eine Förderung gewonnen werden, welche die Finanzierung von Forschungsstipendien für jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im jeweils anderen Land und die Einrichtung eines international besetzten Beirats ermöglichte. Mit der Förderung durch den DAAD und die Robert Bosch Stiftung war in gewisser Hinsicht eine zweite Gründung der Kommission verbunden, da jetzt erst die Regelmäßigkeit von Konferenzen und Kommissionssitzungen verbindlich geplant werden konnte. Außerdem internationalisierte sich die Kommission, indem sie sich einen Beirat gab, der sie wissenschaftlich beraten soll und zugleich eine Reihe von internationalen Perspektiven einbringt. Damit wirkt die Kommission dem Grundproblem von Historikerkommissionen entgegen, dass das bilaterale Konstruktionsprinzip zu einer unproduktiven Begrenzung oder Festlegung von Frage-

and_crisis_the_ukraine_in_europe _in_the_17th_century?nav_id=5882 (letztmalig abgerufen am 31.10. 2016).

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stellungen führen kann. Im internationalen Beirat der Kommission sind vertreten: Prof. Dr. Andreas Kappeler (Wien), Prof. Dr. Jan Kubik (London), Prof. Dr. Jutta Scherrer (Paris), Prof. Dr. Frank Sysyn (Alberta), Prof. Dr. Mark von Hagen (Arizona). Zwei Positionen für ein polnisches und ein russisches Beiratsmitglied sollen noch besetzt werden. Zugleich vergrößerte sich die Kommission: Mit Miloš Řeznik trat der Direktor des Deutschen Historischen Instituts Warschau in die Kommission ein, der als tschechischer Ko-Vorsitzender der Deutsch-Tschechischen Historikerkommission zugleich viel Erfahrung mit der Spezifik von Kommissionsarbeit einbringt. Für die deutsche Sektion wurde mit Dr. Kai Struve (Halle) außerdem ein weiterer Experte für die Geschichte des Zweiten Weltkrieges gewonnen. In der ukrainischen Sektion schied der Frühneuzeithistoriker Prof. Dr. Sergij Stelmach (Kyjiw) aus der Kommission aus, neu kooptiert wurden Prof. Dr. Gelinada Grinčenko (Kharkiv), Prof. Dr. Vladyslav Hrynevyč (Kyjiw) und Prof. Dr. Oleksandr Lysenko (Kyjiw). Insgesamt hat die Kommission, insbesondere die ukrainische Sektion, damit ihren Schwerpunkt auf der Geschichte der Diktaturen des 20. Jahrhunderts verstärkt, während die Kompetenz für frühere Epochen (relativ) schwächer geworden ist. Dieser graduellen Verschiebung entspricht das Arbeitsprogramm der Kommission, zumindest für die nächsten Jahre. Zusammen mit ihrem internationalen Beirat veranstaltete die Deutsch-Ukrainische Historikerkommission im Januar 2016 an der Katholischen Universität Lviv (Lemberg) ihre zweite große Konferenz, die anders als die Berliner Tagung eine ausschließlich zeithistorische Thematik hatte. Die Konferenz „Reconciliation in PostDictatorship Societies in the 20th and 21st Centuries: Ukraine in an international Context“ analysierte Diktaturerfahrungen in verschiedenen europäischen Ländern, im Vordergrund standen Deutschland, die Ukraine und Spanien. Ausgangspunkt der Konferenzplanung war die Überlegung, dass die Konflikte in der Ukraine heute nicht nur kulturalistisch als Folge eines zivilisatorischen Gegensatzes zwischen Ost- und West-Ukraine und auch nicht ausschließlich unter außenpolitischen Gesichtspunkten zu verstehen sind, sondern auch ein Phänomen postdiktatorialer Gesellschaften sind. In diesen bricht die von den Diktaturen geschaffene Fiktion gesellschaftlicher Uniformität zusammen, bestehende Bruchlinien in der Gesellschaft werden wieder sichtbar, neue Bruchlinien zwischen Täter- und Opfergruppen der Diktatur werden wirksam. Dies erfordert eine Strategie der gesellschaftlichen Versöhnung, wobei der historische Vergleich mit den Erfahrungen verschiedener europäischer Staaten, die ebenfalls eine Diktaturerfahrung haben, erhellend sein kann.²¹ Abgesehen von den zwei Jahreskonferenzen war die Kommission Kooperationspartner bei einer Reihe weiterer öffentlicher Veranstaltungen, so einer Konferenz über die Kategorien von Nation und Region in der ukrainischen Geschichte („Mehr als nur Blau-gelb: Region und Nation in der Geschichte der Ukraine“, Berlin, 16./17.6. 2016),

 Für eine ausführliche Konferenzbeschreibung siehe: VHD, Reconciliation in Post-Dictatorship Societies in the 20th and 21st Centuries. Ukraine in an international Context, www.historikerverband. de/duhk/reconciliation.html (letztmalig abgerufen am 31.10. 2016).

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die zusammen mit dem VOH in Berlin veranstaltet wurde,²² und einem Workshop am Institut für Wissenschaft vom Menschen (IWM) in Wien, der den Forschungsstand zu ausgewählten Themen der ukrainischen Geschichte des 20. Jahrhunderts thematisierte. Auf dem 51. Deutschen Historikertag in Hamburg war die Deutsch-Ukrainische Historikerkommission mit einer Sektion zum Gedenken an das Massaker der SS und der Wehrmacht an den Kyjewer Juden vor 75 Jahre in Babyn Jar präsent. Der Schwerpunkt der Kommissionsarbeit lag bislang eindeutig auf der Organisation von öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen. Das wird sicherlich auch die Tätigkeit in den kommenden Jahren prägen. Daneben gehört es zu den Aufgaben der Kommission in den kommenden Jahren, die Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit für die Fachwissenschaft und eine breitere interessierte Öffentlichkeit zu dokumentieren. Hierfür hat die Kommission eine Schriftenreihe gegründet, in der im open access und print on demand-Verfahren z. B. die Tagungsbände der Kommission oder einschlägige monographische Veröffentlichungen publiziert werden sollen. Alternativ veröffentlicht die Kommission ihre Ergebnisse auch in Fachzeitschriften; so werden die Ergebnisse der Lemberger Konferenz auf Englisch in der angesehen ukrainischen Zeitschrift „Ukraina moderna“ publiziert werden. Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt wird die Nachwuchsförderung sein. Die Kommission wählt Stipendiatinnen und Stipendiaten für das von der Robert Bosch Stiftung und dem DAAD finanzierte Programm für Ukraine- bzw. Deutschlandstudien aus und veranstaltet Workshops für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Ein erster Workshop hat unter der Leitung von Prof. Polina Barvinska und Dr. Kai Struve bereits vom 27. bis 31. Oktober 2016 in Odessa stattgefunden. Schließlich verfolgt die Kommission ein aufwendiges Projekt, das die Vermittlung ukrainischer Geschichte an Universitäten und Schulen wesentlich unterstützen soll: den Aufbau eines Online-Portals zur deutsch-ukrainischen Geschichte, in dem zentrale Fragen und Themen der deutsch-ukrainischen Geschichte des 20. Jahrhunderts interaktiv und leicht zugänglich aufbereitet werden. Die Themeneinheiten sollen zum einen für Lehrer und Schüler interessant sein und im Gruppenunterricht, bei Projekttagen, zur Vorbereitung von Referaten und Studienfahrten Anwendung finden. Auch für studentische Seminare wird das Portal ein wesentliches Referenzmedium und eine Informationsquelle darstellen. Die Themeneinheiten werden sich aus kurzen einführenden Texten zu zentralen Begriffen und Fragestellungen zusammensetzen, einer Zeitleiste, die den jeweiligen Themenkomplex in die beiden nationalen wie in einen europäischen Zusammenhang einordnet, sowie einzelnen, mit dem Text verbundenen Quellen, die den jeweiligen Sachverhalt aus verschiedenen Perspektiven beleuchten und zu Diskussionen anregen. Zu den eingebundenen Quellen werden sowohl schriftliche Zeugnisse (Zeitzeugenberichte, Romanausschnitte, Dokumente),

 Kateryna Kudin, Tagungsbericht: Mehr als nur Blau-gelb. Region und Nation in der Geschichte der Ukraine, 17.6. 2016 – 18.6. 2016 Berlin, H-Soz-Kult, 24. 2. 2017, www.hsozkult.de/conferencereport/id/ta gungsberichte-7035 (letztmalig abgerufen am 26.05. 2017).

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Bildquellen (Plakate, Karten, Fotografien, Karikaturen), als auch Hör- und Filmbeiträge (Radiobeiträge, Spielfilmausschnitte, Dokumentarfilmmaterial) gehören. In den zwei Jahren ihres Bestehens hat die Deutsch-Ukrainische Historikerkommission in den Öffentlichkeiten ihrer Länder viel mehr Aufmerksamkeit gefunden, als dies im selben Zeitraum für andere internationale Historikerkommissionen galt. Dies ist nicht zuletzt auf die angespannten politischen Rahmenbedingungen zurückzuführen, in denen die Kommission gegründet wurde. Die beiden Hauptaufgaben, welche sich die Kommission vorgenommen hat, nämlich die Geschichte des jeweils anderen Lands in den eigenen Bildungsinstitutionen und Öffentlichkeiten besser zu verankern und die schwierigen Kapitel der deutsch-ukrainischen Vergangenheit aufzuarbeiten, sind ausgesprochen anspruchsvoll und erfordern einen langen Atem. In längerer Perspektive ist auch die Zusammenarbeit mit anderen Kommissionen, z. B. der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission und der Ukrainisch-Polnischen Kommission sowie, wenn es die politischen Bedingungen wieder zulassen sollten, mit der Deutsch-Russischen Geschichtskommission denkbar. Doch sollte man die junge Kommission, die sich in ihrer Arbeit und Kommunikation gerade erst konsolidiert hat, mit Erwartungen nicht überfrachten.

Eckart Conze

Die Historikerkommission des Auswärtigen Amtes. Zeitgeschichte zwischen Auftragsforschung, öffentlicher Debatte und wissenschaftlichem Fortschritt Die Unabhängige Historikerkommission zur Geschichte des Auswärtigen Amtes war die erste derjenigen Kommissionen, die in Deutschland in den letzten Jahren gebildet worden sind, um die NS-Vergangenheit deutscher Ministerien und Behörden sowie die Wirkung dieser Vergangenheit in die Zeit nach 1945, in die Zeit der Bundesrepublik hinein, zu untersuchen.¹ Die Entstehung der Kommission zur Geschichte des Auswärtigen Amtes gehört in weitere sowohl wissenschaftliche als auch vergangenheitspolitische Kontexte.² So hatte die Untersuchung der NS-Belastung von Institutionen und der Kontinuität von Eliten (Funktionseliten) schon seit den 1990er Jahren eine neue Dynamik gewonnen, die sich nicht zuletzt aus der deutschen Einheit sowie, damit eng verbunden, aus den dadurch neu belebten vergangenheitsbezogenen, nicht nur wissenschaftlichen, sondern auch vergangenheitspolitischen Debatten speiste – eben im Hinblick auch auf die DDR-Vergangenheit.³ Den Anfang dieser Forschungskonjunktur machten eine ganze Reihe unternehmensgeschichtlicher Studien, die darüber hinaus auch durch die neue Dynamik im Zusammenhang mit Zwangsarbeiterentschädigungen angetrieben waren;⁴ aber auch wissenschafts- und disziplinhis-

 Dieser Beitrag ist eine geringfügig überarbeitete und um einige Nachweise ergänzte Fassung meines Vortrags auf der deutsch-italienischen Tagung in Rom (Accademia Nazionale die Lincei) im Oktober 2014. Der Vortragsstil wurde weitgehend beibehalten.  Die Ergebnisse der Kommissionsarbeit finden sich in: Eckart Conze [u. a.], Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. München 2010 u. ö. Zum Forschungsstand der NS-Vergangenheit und NS-Belastung von Bundesbehörden bzw. ihres Personals vgl. den aktuellen Überblick von Christian Mentel/Niels Weise, Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus. Stand und Perspektiven der Forschung. München/Potsdam 2016.  Wissenschaftlich ist hier auf die jüngere NS-Täterforschung zu verweisen, die sich in den 1990er Jahren entfaltete. Exemplarisch dafür stehen Götz Aly/Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung. Frankfurt a. M. 1991, oder Christopher Browning, Ganz normale Männer. Das Reservepolizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen. Reinbek 1993. Vgl. auch den Überblick bei Ulrich Herbert, Vernichtungspolitik. Neue Antworten und Fragen zur Geschichte des Holocaust, in: ders. (Hrsg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939 – 1945. Neue Forschungen und Kontroversen. Frankfurt a. M. 1998, S. 9 – 66.  Vgl. dazu Norbert Frei/Tim Schanetzky (Hrsg.), Unternehmen im Nationalsozialismus. Zur Historisierung einer Forschungskonjunktur. Göttingen 2010. https://doi.org/10.1515/9783110541144-008

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Eckart Conze

torische Forschungen, die ganz besonders auch die deutsche Geschichtswissenschaft selbst und eine Reihe ihrer bundesrepublikanischen Führungsfiguren erfassten.⁵ Der unmittelbare Anlass für die Einrichtung der Kommission zur Erforschung der Vergangenheit des Auswärtigen Amtes war eine heftige geschichts- und vergangenheitspolitische Auseinandersetzung im Auswärtigen Amt selbst in den Jahren 2004 und 2005, die rasch auch die Öffentlichkeit erreichte und eine – öffentliche – politische Diskussion auslöste, an der sich nicht nur eine ganze Reihe aktiver und – fast stärker noch – pensionierter Diplomaten beteiligte, sondern auch der damalige Bundesaußenminister Joschka Fischer.⁶ Es ging in dieser Auseinandersetzung, der sogenannten „Nachrufaffäre“, um das amtsinterne Gedenken an verstorbene Diplomaten, die vor 1945 der NSDAP oder anderen NS-Organisationen angehört und nach 1945 beziehungsweise 1951 im Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik Karriere gemacht hatten. Ausgelöst worden war der Konflikt durch einen geschönten Nachruf auf einen ehemaligen Diplomaten, der die schwere NS-Belastung des Mannes unterschlug. Minister Fischer und seine Amtsspitze reagierten darauf mit einer Weisung, frühere Mitglieder der NSDAP oder anderer NS-Organisationen nicht mehr mit einem amtlichen Nachruf zu ehren. Als diese Regelung einen 2004 verstorbenen prominenten Spitzendiplomaten betraf, das ehemalige SS-Mitglied Franz Krapf, der die Bundesrepublik als Botschafter in Tokio und bei der NATO vertreten hatte,⁷ erhob sich dagegen massiver Protest, vor allem aus den Reihen ehemaliger Diplomaten. Einer der Wortführer dieses Protests war der ehemalige Botschafter Erwin Wickert, und an seiner Person wird auch deutlich, in welchen weiteren Debatten- und Konfliktkontexten die „Nachrufaffäre“ 2004/05 und die Einsetzung der Historikerkommission standen.⁸ Dazu gehört vor allem, dass mit dem Wahlsieg von SPD und GRÜNEN im Jahr 1998 und mit der Bildung einer rot-grünen Regierungskoalition in der Bundesrepublik eine Auseinandersetzung über „1968“ an Intensität gewonnen hatte.⁹ Nun seien die „68er“ an der Macht, behaupteten die einen geradezu triumphierend, die anderen nicht nur in unverhohlener Kritik, sondern zum Teil in scharfer Ablehnung. Joschka Fischer, der „Sponti“ an der Spitze des Auswärtigen Amtes, blieb von dieser Dynamik nicht verschont. Nach einem relativ glatten Beginn an der Spitze der deutschen Diplomatie, wurde das Klima ab 2001 rauer. Bilder im „Stern“ zeigten die militante, die gewaltbereite Vergangenheit des Frankfurter Straßenkämpfers. Und obwohl sich Fischer für

 Wichtig in der Frühphase dieser Entwicklung: Peter Schöttler (Hrsg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft. Frankfurt a. M. 1997.  Vorgeschichte und Genese der Kommission werden dargestellt in: Conze [u. a.], Das Amt, S. 694– 711.  Zu Krapf vgl. Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes, Bd. 2. Paderborn 2005, S. 626 f.  Zu Wickert vgl. Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes, Bd. 5. Paderborn 2014, S. 268 f.  Vgl. Edgar Wolfrum, Rot-Grün an der Macht. Deutschland 1998 bis 2005. München 2015.

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sein damaliges Verhalten entschuldigte, begannen nun auch aus Diplomatenkreisen heraus Angriffe auf den Minister.¹⁰ Lauter als die aktiven Angehörigen des Auswärtigen Dienstes äußerten sich einige Pensionäre, allen voran der ehemalige Botschafter Erwin Wickert, der auch schon vor 1945 als junger Diplomat dem Auswärtigen Amt angehört hatte und der nun beispielsweise die Demonstranten von 1968 mit den Schlägertrupps der SA von 1933 verglich. Fischer verteidigte sich, sprach von einer demokratischen Wandlung und fügte in einem Schreiben an Wickert hinzu: „Ich bin sicher, dass das Recht, politische Auffassungen zu ändern, auch grundsätzlich zu ändern, gerade auch in Ihrer Generation vielfach in Anspruch genommen wurde.“¹¹ Der Konflikt schwelte also längst, als die „Nachrufaffäre“ der Jahre 2004 und 2005 die Auseinandersetzung eskalieren ließ.¹² Ich erwähne das nicht nur um der Spezifik unserer Kommissionsgründung willen, sondern auch weil ohne die heftige Auseinandersetzung im Ministerium selbst und in der Öffentlichkeit, die zur Einsetzung unserer Kommission geführt hatte, die Reaktionen auf unseren Kommissionsbericht, auf unser Buch „Das Amt“, etwa fünf Jahre später, im Herbst 2010, nicht zu verstehen sind.¹³ Zugespitzt formuliert: Diejenigen, die schon 2005 Joschka Fischers geschichtspolitisches Vorgehen in der sogenannten „Nachrufaffäre“, an deren Ende die Einsetzung der Kommission stand, scharf kritisiert hatten, machten auch Front gegen das Buch der Kommission, weil sie in ihm nichts Anderes erblicken konnten als die Arbeit „einer bestellten Kommission“,¹⁴ deren Ergebnisse durch den Auftrag gebenden Minister gleichsam prädeterminiert gewesen seien. Von der „Fischer-Kommission“ war immer wieder die Rede, ja sogar von „Fischers willigen Helfern“.¹⁵ Nicht wenige, die auf die Historikerkommission einprügelten, meinten eigentlich Joschka Fischer, dem ein ehemaliger Botschafter einen „bolschewistischen Umgang mit abweichenden Meinungen“ vorwarf.¹⁶ So wird

 Vgl. Conze [u. a.], Das Amt, S. 699 – 701.  Erwin Wickert, Das muß ich Ihnen schreiben. Beim Blättern in unvergessenen Briefen, hg. von Ulrich Lappenküper. München 2005, S. 292 f. und 370 f.  Zu Fischers eigener, rückblickender Wahrnehmung und Deutung der Ereignisse vgl. Joschka Fischer/Fritz Stern, Gegen den Strom. Ein Gespräch über Geschichte und Politik. München 2013, S. 48 – 53.  Die Kontroverse um die Studie „Das Amt und die Vergangenheit“ wird dokumentiert in: Christian Mentel/Martin Sabrow (Hrsg.), Das Auswärtige Amt und seine umstrittene Vergangenheit. Eine deutsche Debatte. Frankfurt a. M. 2014.  Johannes Hürter, Das Auswärtige Amt, die NS-Diktatur und der Holocaust, in: VfZ 59, 2011, S. 167– 192.  So Christian Hacke in bewusster Anspielung auf das Buch „Hitlers willige Helfer“ von Daniel J. Goldhagen aus dem Jahr 1996; vgl. Christian Hacke, AA und Vergangenheit. Vortrag im Internationalen Club La Redoute. Bonn-Bad-Godesberg, 21.10. 2011, S. 10, zit. nach: Conze [u. a.], Das Amt, S. XII (Vorwort zur Taschenbuchausgabe, München 2012).  Botschafter a.D. Dr. Michael Libal, „Das Amt und die Vergangenheit“. Einige kritische Anmerkungen (versandt an die Mitglieder der Historikerkommission am 31. 3. 2011).

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deutlich, dass die Umstände der Entstehung der Kommission die Reaktionen auf die Ergebnisse unserer Forschung zumindest beeinflussten. Ursprünglich wurden fünf Historiker in die Kommission berufen: Henry Turner (Yale), der auf Grund einer schweren Erkrankung bald durch Peter Hayes (Chicago) ersetzt wurde, Moshe Zimmermann (Jerusalem), Norbert Frei (Jena), Klaus Hildebrand (Bonn)¹⁷ und ich selbst. Der Auftrag, den die Kommission im Sommer 2005 erhielt – noch von Joschka Fischer – und der auch die Grundlage für den späteren Kooperationsvertrag mit dem Auswärtigen Amt darstellte, lautete: Die Kommission solle „die Geschichte des Auswärtigen Dienstes in der Zeit des Nationalsozialismus“ untersuchen, „den Umgang mit dieser Vergangenheit nach der Wiedergründung des Auswärtigen Amtes 1951 und die Frage personeller Kontinuität beziehungsweise Diskontinuität“.¹⁸ Die Kommission hat diesen Auftrag so interpretiert, dass es in ihrer Arbeit und ihrem Buch nicht um zwei voneinander getrennte Blöcke, zunächst um die Geschichte des Auswärtigen Amtes vor 1945 und dann die nach 1945 ging; sie hat vielmehr – zeithistorisch eigentlich eine Selbstverständlichkeit – die Zeit vor und nach 1945 systematisch verknüpft und dies in einer Vielzahl von Diplomatenbiographien sowie der Darstellung von Diplomatenkarrieren, die sich auch nach 1945 fortsetzten. Das ist wissenschaftlich nie kritisiert worden, wohl aber von diplomatischen Kreisen und ihrem medialen Umfeld. Für diese Kritiker lag in der integrierenden Kontinuitätsperspektive der wohl größte Stein des Anstoßes. Man warf der Kommission vor, zu unterstellen, das Auswärtige Amt der Bundesrepublik sei gleichsam ein „Nazi-Amt“ gewesen. Den Auftakt der Kommissionsarbeit bildete im Herbst 2005 ein Symposium im Auswärtigen Amt, das noch vom Auswärtigen Amt selbst organisiert wurde. An diesem Symposium nahmen – im Sinne eines Expertengesprächs – neben den Mitgliedern der Kommission einschlägig ausgewiesene Historikerinnen und Historiker sowie eine Reihe von Archivaren, unter ihnen der Präsident des Bundesarchivs, teil, um vor dem Hintergrund des Kommissionsauftrags den Forschungsstand, die Archivsituation und nicht zuletzt die Frage des Zugangs zu den relevanten Akten, insbesondere im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts, zu erörtern. Die Veranstaltung war nicht öffentlich, aber sie wurde dokumentiert und war für die konzeptionelle Arbeit der Kommission in der Folgezeit nicht unwichtig. Verzögert durch die Bundestagswahlen im Herbst 2005 und eine zähe Regierungsbildung im Anschluss, wurden die Gespräche zwischen Kommission und Ministerium erst im Frühjahr 2006 wieder auf-

 Klaus Hildebrand schied 2008 aufgrund einer schweren Erkrankung aus der Kommission aus.  Zit. nach: Conze [u. a.], Das Amt, S. 12. Es ging also weder um eine Geschichte der deutschen Außenpolitik noch um eine allgemeine Institutionengeschichte des Auswärtigen Amtes. Erstere kann als sehr gut erforscht gelten, eine wissenschaftliche Institutionengeschichte lag hingegen bis vor Kurzem nicht vor.Vgl. nun aber: Eckart Conze, Das Auswärtige Amt vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. München 2013.

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genommen. Sie mündeten im August 2006 in einen Vertrag zwischen dem Auswärtigen Amt und der, wie es nun hieß, Unabhängigen Historikerkommission. Hat unsere Kommission Auftragsforschung betrieben? Weil der Begriff der Auftragsforschung in den Debatten der letzten Jahre eine ausgesprochen negative Konnotation erhalten hat, erscheint es notwendig, sich mit dieser Frage sowohl am konkreten Beispiel als auch auf allgemeinerer Ebene auseinanderzusetzen. In der Tat ist nicht zu bestreiten, dass die Kommission durch den Bundesaußenminister berufen wurde und, dass in dem Vertrag von 2006 der Kommissionsauftrag festgeschrieben wurde. Der Vertrag wurde geschlossen durch das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Bundesaußenminister und unterschrieben von einem Staatssekretär, auf der einen Seite und durch die – damals noch fünf – Historiker der Kommission. Inhaltliche Bestimmungen, die über den bereits zitierten Auftrag hinausgingen, fanden sich in dem Vertrag nicht, und es war von Anfang an die Position unserer Kommission, die auch durch das Auswärtige Amt nie in Frage gestellt wurde, dass wir auf der Basis des vergleichsweise allgemein gehaltenen Kommissionsauftrags unsere Forschung selbst organisieren und unsere inhaltliche Forschungsagenda – Konzeption, Fragestellungen und Vorgehensweise – unabhängig entwickeln würden. Auch wurde der Kommission nicht nur eingeräumt, ihre Forschungsergebnisse zu publizieren, sondern diese Veröffentlichung auch selbst durchzuführen. Dass das Auswärtige Amt die Forschungsergebnisse kassieren oder sie der Öffentlichkeit vorenthalten würde – so wie beispielsweise mit den Gutachten des Landwirtschaftsministeriums geschehen –, war also ausgeschlossen.¹⁹ Allerdings erhielt das Auswärtige Amt das Recht, die Forschungsergebnisse der Kommission zu nutzen und zu verbreiten. Sie sind seither beispielsweise in die Selbstdarstellung des Auswärtigen Amtes oder in die Diplomatenausbildung eingeflossen. Wenn man juristisch präzise unterscheiden möchte – und Constantin Goschler und Michael Wala haben das im Zusammenhang mit ihrer Arbeit zur Geschichte des Verfassungsschutzes einmal getan – hat unsere Kommission also eine finanzielle Zuwendung für ihre unabhängige Forschung erhalten.²⁰ Natürlich war diese Forschungsfinanzierung an bestimmte, ebenfalls vertraglich fixierte Bedingungen geknüpft: Dazu gehörte selbstverständlich der Nachweis über die Verwendung der Mittel; das ist uns aus jedem Drittmittelprojekt vertraut. Dazu gehörten auch jährliche Zwischenberichte, die aber nicht inhaltliche Ergebnisse enthielten, was in einem mehrjährigen Forschungsprozess auch schwierig gewesen wäre, sondern primär Informationen über Forschungsorganisation und Forschungsaktivitäten. Aber stellt nicht, so könnte man vielleicht noch prinzipieller fragen, und so ist ja auch gefragt worden, Auftragsforschung die Autonomie der Wissenschaft und hier  Vgl. dazu Mentel/Weise, Die zentralen deutschen Behörden, S. 28 – 30.  Christian Mentel, „Uns werden laufend die falschen Fragen gestellt.“ Ein Interview mit Constantin Goschler und Michael Wala zu ihrem Forschungsprojekt über das Bundesamt für Verfassungsschutz, Juni 2012, in: www.zeitgeschichte-online.de/interview/uns-werden-laufend-die-falschen-fragen-ge stellt (letztmalig abgerufen am 31.8. 2016).

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insbesondere der zeithistorischen Forschung in Frage – und damit letztlich ihre Freiheit? Wenn nun eine Institution nach der anderen Historiker beauftragt, ihre Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus zu erforschen und den Umgang mit dieser Geschichte nach 1945, wenn für solche Projekte öffentliche Mittel zur Verfügung stehen, werden dann nicht Scharen von Historikern thematisch in eine Richtung gelenkt? Wird dann nicht Forschung politisch gesteuert? Das Problem ist nicht zu leugnen. Es handelt sich um ein grundsätzliches Problem, dem gerade die zeithistorische Forschung immer wieder begegnet und mit dem sie sich auseinandersetzen muss. Das Problem heißt in der Tat „Selbstbestimmung wissenschaftlicher Forschung“. Doch es begegnet uns nicht nur in der Welle von NSbezogenen Institutionengeschichten der letzten Jahre, sondern, um nur ein Beispiel zu nennen, mindestens ebenso sehr in der wachsenden Bedeutung einer jubiläumskalendarisch ausgerichteten Historiographie. Das Jahr 2014 war dafür nur das letzte prominente Beispiel. Doch Historiker können sich dieser öffentlichen, dieser kulturellen und politischen Dynamik kaum entziehen, und sie müssen es auch nicht. Geschichtswissenschaft hat eine öffentliche Funktion – und Verantwortung – und sie bezieht stets Impulse aus ihrer Gegenwart. Die öffentliche, auch politische Thematisierung von Geschichte lässt das nur deutlicher zutage treten. Wir bewegen uns prinzipiell und fortwährend in Gegenwartsbezügen, die lediglich in unterschiedlicher Form und Intensität auftreten. Doch diese Gegenwartsbezüge konstituieren noch keine Forschungsfragen und Konzepte. Hierin liegt dann die Aufgabe des Historikers, ganz gleich ob er nun allein ein Buch schreibt oder in einer Kommission ein politisch motiviertes Forschungsthema behandelt. Der Vertrag von 2006 und die Finanzierung unserer Kommissionsarbeit haben also mitnichten die Unabhängigkeit unserer Forschung eingeschränkt oder gar ihre Ergebnisse präjudiziert. Die Fehler, die in einer ersten Welle unternehmenshistorischer Auftragsforschung gemacht worden sind, haben sich, soweit ich das sehen kann, bei den Projekten zur Geschichte von Bundesbehörden und Ministerien nicht wiederholt. Und auch in der einschlägigen unternehmenshistorischen Forschung gelten doch heute weithin andere Maßstäbe. Ausnahmen bestätigen vermutlich die Regel, wenngleich solche Ausnahmen – apologetische Unternehmerbiographien und weißwaschende Firmengeschichten – natürlich mit verantwortlich sind für das kritisch-negative Bild einer insbesondere NS-bezogenen Auftragsforschung.²¹ Hinzu

 Wegen apologetischer Tendenzen und Vernachlässigung wissenschaftlicher Standards stehen in diesem Zusammenhang immer wieder die firmengeschichtlichen Auftragsarbeiten des Erlanger Historikers Gregor Schöllgen und seines „Zentrums für Angewandte Geschichte“ in der Kritik, beispielsweise: Diehl. Ein Familienunternehmen in Deutschland 1902– 2002. Berlin 2002; Der Eiskönig. Theo Schöller. Ein deutscher Unternehmer 1917– 2004. München 2008; Brose. Ein deutsches Familienunternehmen 1908 – 2008. Berlin 2008; Gustav Schickedanz. Biographie eines Revolutionärs. Berlin 2010. Jenseits zahlreicher kritischer Einzelrezensionen vgl. insbesondere Cornelia Rauh, „Angewandte Geschichte“ als Apologetik-Agentur? Wie man an der Universität Erlangen-Nürnberg Unternehmensgeschichte „kapitalisiert“, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 56.1, 2011, S. 102– 115; Tim

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kommt, dass es schwer ist, die öffentliche Bewertung der Forschungsergebnisse einer Historikerkommission von den Kontexten ihrer Entstehung zu trennen. Diese sind in der Regel politischer Natur, folgen auch politischen Mechanismen und Dynamiken, und es ist unmöglich, dass die öffentliche Rezeption und Bewertung der Forschungsergebnisse das völlig ausblendet. Dass das so ist, spricht aber nicht grundsätzlich gegen eine von den beforschten Institutionen in Auftrag gegebene beziehungsweise finanzierte Forschung. Wie aber sieht es aus mit dem Verhältnis zwischen dem politischen Interesse an bestimmten Fragen – NS-Belastung, Mitgliedschaft in bestimmten Parteien oder Organisationen, personelle Kontinuität usw. – und der wissenschaftlichen Ergiebigkeit solcher Fragen? Man könnte ja fragen: Wird nicht die Zeitgeschichte durch die jüngste Konjunktur einer politisch angestoßenen institutionengeschichtlichen Forschung in eine Richtung getrieben, die man zwar politisch – geschichts- und vergangenheitspolitisch – für interessant halten kann, die aber wissenschaftlich kaum weiterführt? So sind ja die Erkenntnisse über das Ausmaß an personeller Kontinuität und die Nachkriegskarrieren NS-belasteter Personen kaum noch neu und nicht mehr überraschend. Das ist einerseits sicher richtig. Andererseits aber liegt doch die Herausforderung genau darin, aus einem zunächst politisch generierten Forschungsimpuls auch wissenschaftlichen Nutzen zu schlagen. Und gerade deswegen ist die Unabhängigkeit der jeweils forschenden Historiker so entscheidend, die mit ihrer spezifischen Kompetenz und ihrer Vertrautheit mit der Entwicklung der zeithistorischen Forschung in der Lage sein müssen, einen politisch motivierten Auftrag anzunehmen und zugleich die Forschung voranzubringen. Natürlich muss man sich von Fragehorizonten lösen, die im politischen Raum noch immer stark vertreten sind und die sich im Wesentlichen auf die Anzahl ehemaliger Angehöriger der NSDAP in Behörden, Ministerien und Parlamenten der Bundesrepublik beziehen. Aber lassen sich zeithistorisch wichtige und weiterführende Fragestellungen selbst aus einer solchen Ausgangsfrage entwickeln? Wie hat sich denn NS-Belastung bemerkbar gemacht – wenn sie sich bemerkbar gemacht hat? Wie verbreitet war das Wissen über die NS-Belastung einzelner Protagonisten? Wie war das Verhältnis zwischen NS-Belasteten und Nichtbelasteten? Welche individuellen Verhaltensweisen und Belastungen in der Zeit des „Dritten Reiches“ galten später als akzeptabel? Was erlaubte eine Wiedereinstellung als Beamter oder eine politische Karriere als Abgeordneter? Was verhinderte sie? Hier stellen sich Forschungsfragen für eine Zeitgeschichte, die sich nicht nur im Siebenmeilenschritt und rein dekadologisch nach den 1970er nun bereits den 1980er und 1990er Jahren zuwendet, sondern die mit frischen Perspektiven auch die 1950er und 1960er Jahre noch einmal in den Blick nimmt. Was galt denn 1949 oder 1950 als NS-Belastung und was fünf, zehn, 15 oder 20 Jahre später, als es in der Regel nicht mehr um Wie-

Schanetzky, Die Mitläuferfabrik. Erlanger Zugänge zur „modernen Unternehmensgeschichte“, in: Akkumulation 31, 2011, S. 3 – 10.

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dereinstellungen ging, aber um die Fortsetzung von Karrieren in bundesrepublikanischen Institutionen? Letztlich reicht diese Frage bis in die Gegenwart, denn natürlich haben auch wir heute ein bestimmtes Verständnis, eine bestimmte Vorstellung von NS-Belastung, die sich von der früherer Jahre unterscheidet. Darüber muss man sich – als Grundlage historischer Urteilsbildung – Rechenschaft ablegen. Was galt also wann als Belastung und was war wann akzeptabel? Gab es ein gesellschaftlich und institutionell breit geteiltes Verständnis dessen, was man für akzeptabel hielt, oder war dieses Verständnis gruppen- oder institutionenspezifisch? Welche Standards, welche internen Normen entwickelten einzelne Institutionen? Wie veränderten sie sich? Und wie wurde über nationalsozialistische Belastungen gesprochen: nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch innerhalb einzelner Institutionen? Was war sagbar und was nicht? Und wie veränderte sich das? Wie also gestaltete sich, innerhalb einzelner Institutionen, in Parlamenten, Gerichten, Ministerien, Universitätssenaten oder Fakultätsräten, der kommunikative Umgang mit unterschiedlichen NS-bezogenen Erfahrungen und Biographien? Solche Fragen, die unsere Kommission zumindest in Ansätzen mit verfolgt hat, verweisen auf die wissenschaftlichen Potentiale, die auch eine politisch generierte Auftragsforschung in sich bergen kann. Ein weiterer Punkt: Institutionen wie das Auswärtige Amt bilden einen Rahmen für individuelles Handeln. Wir wissen heute sehr viel besser Bescheid über das funktionale Zusammenwirken einer Vielzahl von Institutionen bei der Planung, der Vorbereitung und der Ausführung der nationalsozialistischen Gewaltpolitik, die sich im Gegensatz zu den entlastenden Deutungen der Nachkriegszeit nicht auf die SS und einige wenige Spitzenrepräsentanten des Regimes beschränken lässt. Diese Erkenntnisse laufen nicht auf abstrakte Verantwortungszuschreibungen hinaus und verhindern auch nicht eine differenzierte Betrachtung des funktionalen Anteils unterschiedlicher Institutionen an den nationalsozialistischen Verbrechen. Sie sind, im Gegenteil, für die Beurteilung individuellen Verhaltens von entscheidender Bedeutung, weil der institutionengeschichtliche Blick auch ein wichtiges Korrektiv bilden kann in der Auseinandersetzung mit individuellen Entlastungs- und Entschuldungsnarrativen, in denen oftmals das individuelle Wollen und nicht das tatsächliche Handeln – in seinem institutionellen Kontext – im Mittelpunkt steht. Denken wir beispielsweise an Ernst von Weizsäcker, den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, der seinen Verbleib in der Amtszentrale in Berlin bis 1943, wo er nicht zuletzt mit der Deportation von Juden aus Westeuropa in die Vernichtungslager befasst war, später mit seinem Bemühen erklärte, aus dem Zentrum der Macht heraus Schlimmeres verhüten zu wollen. Immerhin saß Weizsäcker 1948/49 im sogenannten „Wilhelmstraßen-Prozess“ zusammen mit weiteren Repräsentanten Berliner Ministerien auf der Anklagebank und wurde zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Weizsäckers Verteidigungsstrategie, orchestriert von seinem Verteidiger, dem späteren Bildungsforscher und Bildungsreformer Hellmut Becker, publizistisch unterstützt von Marion Gräfin Dönhoff oder Margret Boveri und mitgetragen von einer ganzen Gruppe ehemaliger

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deutscher Diplomaten, kreiste aber nicht nur um die angeblichen Ziele des Staatssekretärs, sondern um ein bestimmtes Bild des Auswärtigen Amtes nach 1933, das geradezu paradigmatisch eine Geschichtslegende präformierte: das Bild vom „Hort des Widerstands“, das Bild eines zweigeteilten Amtes, bestehend aus den alten, professionellen Diplomaten einerseits, die weiterhin traditionelle Diplomatie betrieben, und aus den „neuen“, nationalsozialistischen Diplomaten, aus Quereinsteigern seit 1933, insbesondere aus dem Umfeld Ribbentrops, denen man die Verantwortung für die Beteiligung des Ministeriums an den NS-Verbrechen und insbesondere am Judenmord zuschob.²² Was im Falle des Auswärtigen Amts besonders klar hervortritt, gilt auch für andere Behörden und Ministerien der Bundesrepublik, die personell und institutionell in Kontinuität zur Zeit vor 1945 standen. Insbesondere diejenigen ihrer Angehörigen, die auf die Fortsetzung einer Karriere aus der Zeit des „Dritten Reichs“ spekulierten und denen dies in vielen Fällen auch gelang, entwickelten institutionenbezogene Geschichtsbilder, die mit den tatsächlichen Entwicklungen vor 1945 nur wenig zu tun hatten. Traditionen wurden erfunden, defensive Traditionslügen so lange und von so vielen Betroffenen wiederholt bis sie im Laufe der Zeit und angesichts des vergangenheitspolitischen Klimas der frühen Bundesrepublik Wirkung entfalteten und akzeptiert wurden. Die angebliche Widerstandstradition des Auswärtigen Amts oder die Geschichte von den „zwei Ämtern“ gehört ebenso in diesen Zusammenhang wie beispielsweise das Bild einer „unpolitischen“ Kriminalpolizei ohne jede Verbindung zur Gestapo oder die Legende von der „sauberen Wehrmacht“. Solche Fiktionen dienten nicht nur individueller, sondern eben auch institutioneller Selbstrechtfertigung und Selbstentlastung. Die Vielzahl und die Breite dieser Rechtfertigungs- und Entlastungsdiskurse blieben auf Dauer nicht ohne Wirkung. Das bezieht sich nicht nur auf die so entstandenen Geschichtsbilder, die in der Öffentlichkeit noch weiter fruchteten, obwohl – in vielen Fällen – die zeithistorische Forschung längst zu ganz anderen Ergebnissen gelangt war.²³ Es bezieht sich auch auf die Probleme jener frühen kritischen

 Zum Weizsäcker-Prozess in Nürnberg 1948/49 und seiner Bedeutung für das Bild des Auswärtigen Amts in der NS-Zeit vgl. insbesondere die Arbeiten von Dirk Pöppmann, „Im Amt geblieben, um Schlimmeres zu verhüten“. Ernst von Weizsäckers Opposition aus Sicht der US-Anklage, in: Jan Erik Schulte/Michael Wala (Hrsg.), Widerstand und Auswärtiges Amt. Diplomaten gegen Hitler. München 2013, S. 251– 268; ders., Im Schatten Weizsäckers? Auswärtiges Amt und SS im Wilhelmstraßen-Prozess, in: Kim C. Priemel/Alexa Stiller (Hrsg.), NMT. Die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtschöpfung. Hamburg 2013, S. 320 – 352. Vgl. aber auch Eckart Conze: „Es wurde ganz wacker Widerstand geleistet“. Geschichtsbilder und Personalpolitik im Auswärtigen Amt nach 1945, in: Schulte/Wala (Hrsg.), Widerstand, S. 271– 285.  Das bezieht sich insbesondere auf die wichtigen Arbeiten von Christopher R. Browning, The Final Solution and the German Foreign Office. A Study of Referat D III of Abteilung Deutschland 1940 – 1943. New York 1978 (deutsche Übersetzung, mit Unterstützung des Auswärtigen Amts, Darmstadt 2010), sowie Hans-Jürgen Döscher, Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der „End-

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Forschung, die den Geschichtslegenden und Traditionslügen widersprachen, von Léon Poliakov und Josef Wulf über Gerald Reitlinger bis hin zu Raul Hilberg,²⁴ und die deshalb in der Bundesrepublik nicht wahrgenommen oder marginalisiert wurden – mit zum Teil kräftiger Unterstützung aus dem „Mainstream“ der Geschichtswissenschaft. Aber genauso müssen wir wohl noch viel genauer ergründen, wie aus opportunistischer Anpassung und der eingeforderten normativen Distanzierung individuelle und institutionelle Lernprozesse und tatsächliche Wandlungen wurden. Individuen können lernen, Institutionen sind „lernende Systeme“. Doch wie vollzieht sich ein solches Lernen? Wie wird es ausgelöst, verstetigt und wirksam? Das ist ein Teil der viel beschworenen Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, der von der zeithistorischen Forschung noch lange nicht intensiv genug behandelt worden ist.²⁵ Die Welle institutionengeschichtlicher Forschung, die wir seit einigen Jahren erleben, bietet die Chance für Erkenntnisse, die weit über ihren Anlass und ihren engeren Gegenstand, die Frage der NS-Belastung, hinausreichen. So sollten wir dieses neue Interesse verstehen, und so sollten wir es nutzen. Dahinter scheint immer wieder die Frage auf, wie sich die westdeutsche Gesellschaft trotz der gar nicht zu bestreitenden NS-Belastung in der Weise demokratisieren und liberalisieren konnte, wie es in der Literatur beschrieben worden ist. Hier tauchen Forschungsfragen auf, die nach meiner Einschätzung noch lange nicht erschöpfend beantwortet sind und die uns auch konzeptionell weiterbringen können.

lösung“. Berlin 1987; ders., Verschworene Gesellschaft. Das Auswärtige Amt unter Adenauer zwischen Neubeginn und Kontinuität. Berlin 1995.  Léon Poliakov/Josef Wulf, Das Dritte Reich und seine Diener. Dokumente. Berlin 1956; Gerald Reitlinger, Die Endlösung. Hitlers Versuch der Ausrottung der Juden Europas 1939 – 1945. Berlin 1956; Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Frankfurt a. M. 1990 (erstmals Chicago 1962; erste deutsche Ausgabe Berlin 1982).  Für das Auswärtige Amt und die Angehörigen des Auswärtigen Dienstes der Bundesrepublik vgl. jetzt die Studie von Andrea Wiegeshoff, „Wir müssen alle etwas umlernen“. Zur Internationalisierung des Auswärtigen Dienstes der Bundesrepublik Deutschland 1945/51– 1969. Göttingen 2013. In lokalgeschichtlicher und zugleich biographischer Annäherung vgl. neuerdings Sabine Schneider [u. a.], Vergangenheiten. Die Kasseler Oberbürgermeister Seidel, Lauritzen, Branner und der Nationalsozialismus. Marburg 2015.

Tim Schanetzky

Pragmatische Profession. Historikerkommissionen im Auftrag großer Unternehmen

Wie so vieles in der deutschen Wirtschaft begann alles mit dem Auto, genauer: mit dessen hundertjährigem Jubiläum, das 1986 bevorstand. Daimler-Benz wappnete sich früh für die Feierlichkeiten. So notierte der Konzernarchivar im Dezember 1982, dass verstärkt Nutzeranfragen über die NS-Zeit eingingen. Während man intern daraus den Schluss zog, die Akten systematisch erschließen und öffentlichkeitswirksam auswerten zu lassen, versperrte man nach außen den Zugang zu den Dokumenten. Mal stand der Nutzung eine „60-jährige Sperrfrist“ im Weg, mal behauptete man dreist, zum Thema Zwangsarbeit seien gar „keine Unterlagen vorhanden“. Mit einer Festschrift allein, soviel war bei Daimler-Benz im Sommer 1983 klar, würde man vor der kritischen Öffentlichkeit nicht bestehen können. Also zog der Konzern die Kölner Gesellschaft für Unternehmensgeschichte hinzu und beauftragte den Bonner Wirtschaftshistoriker Hans Pohl mit der Anfertigung einer „Dokumentation“ über die Geschichte des Unternehmens im NS-Staat. Es war der erste Auftrag dieser Art.¹ In das Jubiläumsjahr 1986 startete der Konzern mit dem üblichen Programm: Festakt, Ausstellung, Festschrift. Letztere lag bereits zu Jahresanfang vor und hielt sich an die bis dahin üblichen Regeln des Genres, indem sie vor allem technische Meisterleistungen und Motorsporterfolge herausstellte, den zwölf Jahren des „Dritten Reiches“ hingegen nur ein paar dürre Zeilen einräumte. Weil die Pohl-Dokumentation erst im Herbst erscheinen konnte, hatte die Konzern-PR nichts in der Hand. Hinzu kam: Die mediale Kritik zielte fast ausschließlich auf das Schicksal der Zwangsarbeiter – ein Thema, das zwar die Öffentlichkeit elektrisierte, von der wissenschaftlichen Dokumentation aber nur am Rande behandelt wurde. Noch bevor die PohlStudie überhaupt vorlag, gab der Konzern daher bekannt, einen weiteren Auftrag zur Erforschung der Zwangsarbeit zu erteilen.² Spätestens Anfang 1987 entglitt der Konzern-PR die Debatte dann vollends, als die von Jan-Philipp Reemtsma finanzierte

 Hier und im Folgenden aktuell Sebastian Brünger, Geschichte und Gewinn. Der Umgang deutscher Konzerne mit ihrer NS-Vergangenheit. Göttingen 2017, S. 228 – 272, hier S. 232 f; Henning Borggräfe, Zwangsarbeiterentschädigung. Vom Streit um „vergessene Opfer“ zur Selbstaussöhnung der Deutschen. Göttingen 2014, S. 150 – 170; Tim Schanetzky, Distanzierung, Verunsicherung, Entschädigung. Die deutsche Wirtschaft und die Globalisierung der Wiedergutmachung, in: José Brunner [u. a.] (Hrsg.), Globalisierung der Wiedergutmachung. Politik, Moral, Moralpolitik. Göttingen 2013, S. 105 – 149.  Barbara Hopmann [u. a.], Zwangsarbeit bei Daimler-Benz. Stuttgart 1994. https://doi.org/10.1515/9783110541144-009

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Tim Schanetzky

Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts eine eigens konzipierte Gegenstudie herausbrachte – das 800 Seiten starke „Daimler-Benz-Buch“.³ Diese Form der Gegenexpertise war neu, und ihr ging es nicht um das Stuttgarter Unternehmen allein, sondern sie wollte im Kontext der zeitgenössischen Diskussion über die Bankenmacht vor allem nachweisen, dass Daimler schon immer eine abhängige Industriefiliale der Deutschen Bank gewesen sei. In der Öffentlichkeit sollte das Buch etwas bewegen – genauso, wie die Pohl-Studie dort eher etwas verhindern wollte, und zwar vor dem Hintergrund eines grundlegend gewandelten Meinungsklimas. Das über Jahrzehnte tradierte Entlastungsnarrativ vom Primat der Politik in der Wirtschaft des NS-Staates, der eigentlich als Befehlsnotstand zu verstehen sei, kam nun an sein Ende.⁴ Jedenfalls standen die linken Daimler-Kritiker nicht allein. Angesichts der eklatanten Schwächen der Pohl-Studie konstatierte Hans Mommsen, charakteristisch für die Auftragsarbeit sei eine „durchweg apologetische und gelegentlich ausweichende“ Argumentation. Selbst ein von der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte GUG finanzierter Autor wie Volker Hentschel verschwieg nicht, dass die Pohl-Studie zu sehr den staatlichen Zwang betone und in einer Sprache daherkomme, die von „salvatorischen Klauseln“ gespickt sei.⁵ So manipulativ das „linke“ wie das „rechte“ Daimler-Buch aus heutiger Sicht wirken mögen: Der Konflikt markiert einen wichtigen Wendepunkt. So trug der Streit dazu bei, die ersten Pionierunternehmen überhaupt von der Öffnung ihrer Archive zu überzeugen. Noch 1987 gab auch der Volkswagen-Konzern unter öffentlichem Druck eine Studie in Auftrag. Volkswagen öffnete sein Archiv für ein Großvorhaben unter der Leitung von Hans Mommsen in Bochum, und bald danach zog Alfred Herrhausen bei der Deutschen Bank nach, wo ebenfalls zeitig mit den Vorbereitungen für das 125jährige Jubiläum begonnen wurde: Die Bank setzte die erste internationale Historikerkommission ein.⁶ Diese Anfänge der unternehmenshistorischen Kommissionsforschung sind inzwischen empirisch gut erforscht, so dass sie hier nicht noch ein weiteres Mal in den doppelten Kontext der unternehmerischen Geschichtspolitik, der Auseinandersetzung um die „vergessenen Opfer“ und der Zwangsarbeiterent-

 Hans Pohl [u. a.], Die Daimler-Benz AG in den Jahren 1933 bis 1945. Eine Dokumentation. Stuttgart 1986; Hamburger Stiftung Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts (Hrsg.), Das Daimler-Benz-Buch. Ein Rüstungskonzern im „Tausendjährigen Reich“. Nördlingen 1987.  Zu seinen Entstehungsbedingungen vgl. Jonathan Wiesen, West German Industry and the Challenge of the Nazi Past 1945 – 1955. Chapel Hill 2001; Kim Christian Priemel, Der Sonderweg vor Gericht. Angewandte Geschichte im Krupp-Prozess, in: Historische Zeitschrift (HZ) 294, 2012, S. 391– 426.  Hans Mommsen, Bündnis zwischen Dreizack und Hakenkreuz, in: Der Spiegel, 11.5.1987; Volker Hentschel, Daimler-Benz im Dritten Reich. Zu Inhalt und Methode zweiter Bücher zum gleichen Thema, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 75, 1988, S. 74– 100; vgl. zum Entstehungskontext Brünger, Geschichte, S. 250 f.  Hans Mommsen/Manfred Grieger, Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich. Düsseldorf 1996; Lothar Gall [u. a.], Die Deutsche Bank 1870 – 1995. München 1995.

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schädigung gestellt werden müssen.⁷ Im Folgenden soll stattdessen rekonstruiert werden, wie sich danach Institutionen entwickelten, die sicherstellten, dass derartige Forschung in der Öffentlichkeit überhaupt als Problemlösung gelten konnte. In einem zweiten Schritt gilt es, nach den Rückwirkungen der Kommissionsforschung auf die Fachwissenschaft zu fragen. Unter welchen Umständen konnte Auftragsforschung überhaupt als unabhängig gelten? Welche Regeln stellten sicher, dass von den Unternehmen beauftragte Historiker nicht nur unbeeinflusst und unabhängig arbeiten konnten, sondern dass dies der Öffentlichkeit auch glaubhaft vermittelt werden konnte? Zu den Antworten gelangten Unternehmen und Historiker weniger durch theoretische Reflexion als im Konflikt. Die Auseinandersetzung um Volkswagen zeigt, warum das so war: Die Bochumer Zeithistoriker waren mit freiem Archivzugang ausgestattet, und sie verfügten über die nötigen Forschungsmittel. Aber sie arbeiteten auch mit einer Sorgfalt, die mancher im Unternehmen und in den Medien mit Langsamkeit verwechselte. Hinzu kam, dass nach 1989/1990 plötzlich riesige Aktenbestände in der früheren DDR und in Osteuropa ausgewertet werden mussten. Weil jetzt auch die Wiedergutmachungs- und Entschädigungsdebatte wiederauflebte, präsentierte das Forscherteam um Mommsen im Oktober 1991 einen ersten Zwischenbericht. Gleichzeitig kündigte der Konzern die Zahlung von zwölf Millionen Mark an, eine – wie man betonte – freiwillige Leistung. Sie sollte vor allem im Rahmen der deutsch-polnischen Jugendarbeit eingesetzt werden, es ging also nicht um Individualentschädigungen. Hans Mommsen hob bei dieser Gelegenheit hervor, dass er als „Historiker nicht entscheiden“ könne, wie die „Entschädigung zu handhaben“ sei. Trotzdem bezog er Stellung gegen Individualentschädigungen, die ihm wegen „einer Fülle von praktischen Gründen nicht systematisch möglich“ zu sein schienen, „abgesehen von informeller Hilfe in bekannt werdenden Notlagen.“⁸ Daraufhin wurde er von linksliberalen Blättern scharf angegriffen und galt plötzlich als „ideeller Gesamtweißwäscher des Automobilkonzerns“⁹. Weder Mommsen noch Volkswagen gelang es, die Interessen und Entscheidungen des Auftraggebers klar von der wissenschaftlichen Forschung zu trennen. Dass der Historiker seine fachliche Autorität für die zugleich von seinen Auftraggebern vertretene Position der Entschädigungspolitik einsetzte, machte ihn politisch angreifbar – obwohl Entscheidungen über Umfang, Form und Zeitpunkt der Entschädigung von historischen Forschungsprojekten kaum erwartet werden konnten. Die Form der Debatte sollte noch lange nachwirken, denn dieselbe Mischung aus Verdächtigungen und falschen Behauptungen kennzeichnete auch eine zweite Aus-

 Borggräfe, Zwangsarbeiterentschädigung; Brünger, Geschichte; Norbert Frei/Tim Schanetzky (Hrsg.), Unternehmen im Nationalsozialismus. Zur Historisierung einer Forschungskonjunktur. Göttingen 2010.  Hans Mommsen, Ein Streit um VW, in: Die Zeit, 22.1.1991.  So die Formulierung von Manfred Grieger [u. a.], Diskussionskultur passé, in: Bochumer StudentInnen-Zeitung, 14.1.1992.

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einandersetzung um die Arbeit von Historikerkommissionen. Sie begann im Oktober 1998, als der britische Politologe Michael Pinto-Duschinsky jene Historiker scharf angriff, die gerade einen Bericht über die Goldtransaktionen der Deutschen Bank während des Zweiten Weltkriegs vorgelegt hatten: Keine drei Jahre nach dem Erscheinen der vielgelobten Geschichte der Deutschen Bank kam ans Licht, dass die Kommissionsstudie zentrale Fragen überhaupt nicht gestellt hatte. Wie konnten Forschungsergebnisse so schnell überholt sein? Pinto-Duschinsky unterstellte den Historikern, sich vom Unternehmen instrumentalisieren zu lassen.¹⁰ Jenseits aller Polemik wies er zwar lediglich darauf hin, dass es für glaubwürdige Auftragsforschung bestimmter Standards bedurfte. Weil er aber vor allem die persönliche Integrität der Wissenschaftler angriff, blieb seine Attacke wirkungslos – das zeigten bereits die ersten Reaktionen: Die von der Deutschen Bank beauftragten Historiker Avraham Barkai, Gerald Feldman, Lothar Gall, Harold James und Jonathan Steinberg verwiesen nüchtern auf die durch freien Quellenzugang geschaffenen neuen Forschungsmöglichkeiten. Daneben spielten sie auf die Professionstheorie an: Ähnlich wie Anwälte, Theologen oder Ärzte stellten sie ihren Klienten ein besonderes fachliches Wissen zur Verfügung, und von einem Arzt werde Pinto-Duschinsky, so die Historiker, doch wohl keine „rosige Diagnose seiner Gesundheit“ erwarten, nur weil er diesen bezahle.¹¹ In der Auftragsforschung tätige Historiker als Angehörige einer Profession – in diesem Gedanken hätte ein produktiver Ausgangspunkt stecken können, um den Streit über die Auftragsforschung auf ein wissenschaftliches Reflexionsniveau zu heben.Wissens- und Wissenschaftssoziologen hatten seit den späten 1970er Jahren als Konsens formuliert, dass es wertneutrale Expertise nicht geben konnte, weil wissenschaftliches Wissen in konkreten Anwendungskontexten immer gravierenden „Sinnveränderungen“ ausgesetzt sei. Peter Weingart sprach sogar ausdrücklich von einer „De-Professionalisierung der Experten“, weil die Anwendung wissenschaftlichen Wissens je nach idealtypischem Kontext eine Medialisierung, Politisierung oder Ökonomisierung erforderte. Spätestens mit dem Reaktorunfall von Tschernobyl im April 1986, als der Schock über die Vielstimmigkeit der wissenschaftlichen Experten groß war, begann die Popularisierung dieser Position. Dennoch griff die historische Debatte der 1990er Jahre nie auf sie zurück.¹²

 Michael Pinto-Duschinsky, Selling the Past, in: Times Literary Supplement, 23.10.1998; im Anschluss daran zahlreiche Leserbriefe und Presseartikel, vgl. für detaillierte Nachweise bei Borggräfe, Zwangsarbeiterentschädigung, S. 278 ff.  Leserbrief der von der Deutschen Bank beauftragten Historikergruppe, in: Times Literary Supplement, 6.11.1998; vgl. ausführlicher Gerald D. Feldman, Unternehmensgeschichte im Dritten Reich und die Verantwortung der Historiker. Raubgold und Versicherungen, Arisierung und Zwangsarbeit, in: Norbert Frei [u. a.] (Hrsg.), Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit. München 2000 [1998], S. 103 – 128, hier S. 119 ff.  Niklas Luhmann, Theoretische und praktische Probleme der anwendungsbezogenen Sozialwissenschaften. Zur Einführung, in: Wissenschaftszentrum Berlin (Hrsg.), Interaktion von Wissenschaft und Politik. Theoretische und praktische Probleme der anwendungsorientierten Sozialwissenschaften. Frankfurt a. M. 1977, S. 16 – 39, hier S. 31; Peter Weingart, Das „Harrisburg-Syndrom“ oder die De-Pro-

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Auch an die Professionalisierungstheorie knüpfte sie nicht an, obwohl nicht nur im Streit mit Pinto-Duschinsky der Vergleich zur anwaltlichen oder ärztlichen Intervention gezogen wurde. Professionen haben sich bekanntlich als Institutionen der stellvertretenden Krisenbewältigung etabliert, und der Vergleich ist insofern zutreffend, als die Rolle von Historikern als Auftragsforscher einem ganz ähnlichen Handlungsmuster folgt: Sie stellen ihren Klienten ein spezialisiertes Fachwissen und spezifische Fertigkeiten bei der Erschließung, Analyse und Interpretation der unternehmerischen Vergangenheit zur Verfügung, um eine Geltungskrise zu bewältigen. Auch treffen viele Attribute der klassischen Professionstheorie auch auf Geschichtsprofessoren zu: Sie verfügen nach einer langjährigen akademischen Ausbildung über exklusives Fachwissen, haben eine große Autonomie der Berufsausübung, sind auf gesellschaftliche Werte verpflichtet und verfügen über ein entsprechend hohes Sozialprestige.¹³ Aufschlussreich ist hingegen, welche Professionsattribute den Auftragsforschern fehlen: Sie unterliegen keiner organisierten Selbstkontrolle durch Berufsverbände oder Standesgerichte; einen verbindlichen Ethikkodex der Auftragsforschung gibt es nicht. Und es war wohl auch kein Zufall, dass ausgerechnet in der Debatte über die von Unternehmen bezahlten Forschungsaufträge eine zentrale Institution der Vertrauensbildung ausgeblendet wurde: Professionsangehörige waren und sind meist Spitzenverdiener, aber sie haben sich eben auch einem anfangs selbstgeschaffenen und bald schon gesetzlich abgesicherten Regelwerk unterworfen, das ihr finanzielles Eigeninteresse einhegt. Aus der Analogie zwischen Historikern in der Auftragsforschung und Angehörigen von Professionen folgt noch ein weiteres Problem. Ein zentrales Merkmal der professionalisierten Praxis besteht nämlich darin, dass Laien die Qualität ihrer Leistungen nicht bewerten können. Ob und in welchem Maße die Behandlung des Arztes tatsächlich zur Gesundung beitrug, kann der Patient so wenig beurteilen wie der Verurteilte weiß, ob ihm die Strategie eines anderen Anwalts eine höhere oder geringere Strafe eingebracht hätte. Der Organisationssoziologe Charles Perrow hat diese Beobachtung bereits in den späten 1950er Jahren zum Ausgangspunkt genommen und am Beispiel einer Klinik gezeigt, dass daraus starke Anreize folgen, Bewertungen anhand von Leistungssurrogaten vorzunehmen.¹⁴ Im Fall der Historiker als Auftragsforscher bedeutet dies, dass Manager, Pressesprecher und Journalisten die

fessionalisierung der Experten, in: Helga Nowotny (Hrsg.), Kernenergie. Gefahr oder Notwendigkeit. Frankfurt a. M. 1979, S. 9 – 17; Peter Weingart/Wolfgang Bonß, Verwissenschaftlichung ohne Aufklärung? Zum Strukturwandel von Sozialwissenschaft und Praxis, in: dies. (Hrsg.), Weder Sozialtechnologie noch Aufklärung? Frankfurt a. M. 1989, S. 7– 45.  Ulrich Oevermann, Profession contra Organisation? Strukturtheoretische Perspektiven zum Verhältnis von Organisation und Profession in der Schule, in: Werner Helsper [u. a.] (Hrsg.), Pädagogische Professionalität in Organisationen. Neue Verhältnisbestimmung am Beispiel der Schule. Wiesbaden 2008, S. 55 – 77, hier S. 56, 59 f.  Charles Perrow, Organizational Prestige. Some Functions and Dysfunctions, in: American Journal of Sociology 66, 1961, S. 335 – 341.

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Qualität einer Auftragsstudie nicht nach fachwissenschaftlichen Kriterien beurteilen, zugleich auf Rezensionen in den Fachzeitschriften aber nicht warten können.¹⁵ Wahrscheinlich ist also, dass sie Leistungssurrogate hinzuziehen und auf die Höhe des investierten Zeit- und Personalaufwands, die Menge, den Umfang oder das sprichwörtliche Gewicht der Publikationen oder auf die Zahl der ausgewerteten Akten und Archivbestände schauen. Schon bei der Auswahl und Beurteilung des Autors oder der Kommissionsmitglieder werden sie dazu neigen, sich an deren Reputation zu orientieren. Ironischerweise lag genau darin auch für die beteiligten Wissenschaftler ein Ausweg aus dem Methodenstreit des Jahres 1998. Typisch dafür ist eine Formulierung Gerald Feldmans, der im Vorwort seiner Allianz-Studie fragte, weshalb ein Historiker für seine Arbeit und Fachkompetenz nicht angemessen bezahlt werden soll […] und weshalb eine angemessene Entlohnung die Integrität seiner Arbeit schmälern sollte. Ich kann mir keinen Geldbetrag vorstellen, der den Verlust meiner persönlichen und wissenschaftlichen Reputation aufwiegen könnte.¹⁶

Im Kern verwies das Reputationsargument aber nur auf eine regulative Idee von Unabhängigkeit – also auf ein idealtypisches und letztlich paradoxes Bild des unabhängigen Wissenschaftlers, dem es sich in der Praxis ungeachtet des für die Auftragsforschung typischen Abhängigkeitsverhältnisses so weit wie möglich anzunähern galt.¹⁷ Ende der 1990er Jahre war längst bekannt, welche Institutionen eine solche Annäherung vereinfachen: Unbeschränkter Zugang zu allen Archivalien des betroffenen Unternehmens; Verfügbarkeit der Quellen für die spätere wissenschaftliche Erforschung; freie Entscheidung der Wissenschaftler über die Art und Form der Publikation sowie deren Inhalte. Missachtete man eines dieser Kriterien, war die öffentliche Wirkung eines Forschungsauftrages in Frage gestellt – das musste bereits die Deutsche Bank erfahren, als sie 1997 ihre zweite Historikerkommission einsetzte, der sie unbeschränkten Quellenzugang und wissenschaftliche Unabhängigkeit zusicherte. Nur in einem einzigen Punkt wich die Bank von dieser klaren Linie ab: beim Umgang mit dem 1994 gestorbenen Hermann Josef Abs. Sein Nachlass blieb aufgrund einer testamentarischen Verfügung auf Jahre hinaus gesperrt, und dies bot Anlass für viele Verdächtigungen. Unter dem Druck der Öffentlichkeit war die Bank dann auch in diesem Punkt zu Zugeständnissen bereit und vergab pragmatisch einen Forschungsauftrag für eine Abs-Biographie.¹⁸

 In jüngeren Großvorhaben sind daher immer wieder wissenschaftliche Beiräte eingerichtet worden.  Gerald D. Feldman, Die Allianz und die deutsche Versicherungswirtschaft 1933 – 1945. München 2001, S. 16.  Thomas Nipperdey, Kann Geschichte objektiv sein?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 30, 1979, S. 329 – 342.  Lothar Gall, Der Bankier Hermann Josef Abs. Eine Biographie. München 2004.

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Kodifiziert wurden die Mindestanforderungen an die Unabhängigkeit in der Auftragsforschung bis heute nicht. Obwohl die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die Max-Planck-Gesellschaft und viele weitere Institutionen Normenkataloge für eine „gute wissenschaftliche Praxis“ verabschiedeten, blieb die Debatte der späten 1990er Jahre folgenlos. Erst 2010 setzte wieder eine Selbstreflexion ein. Sie hatte drei wesentliche Triebkräfte: Zunächst waren im Rahmen der Studienreform neue Masterstudiengänge eingerichtet worden, die starke Anwendungsbezüge zum Bestandteil der Historikerausbildung machten.¹⁹ Dann trug die hitzige Debatte über „Das Amt und die Vergangenheit“ zu einer zeithistorischen Konjunktur der Auftrags- und Institutionenforschung bei, so dass erneut Fragen der Auftragsvergabe, der Projektorganisation und der Wahrung wissenschaftlicher Unabhängigkeit auf die Tagesordnung gelangten.²⁰ Und schließlich wurde zu dieser Zeit in der Unternehmensgeschichte auch über die Arbeit von „Geschichtsagenturen“ und die Verletzung grundlegender Qualitätsstandards in der Auftragsforschung diskutiert.²¹ In diesem Kontext entstand 2012 auf dem Mainzer Historikertag die Arbeitsgemeinschaft für Angewandte Geschichte/Public History im Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands, und seither wird über einen Normenkatalog für die Auftragsforschung zumindest wieder diskutiert. Ein Allheilmittel wäre ein solcher Kodex sicher nicht, aber er würde besonders in Verhandlungen mit potentiellen Auftraggebern, denen die ungeschriebenen Regeln ja meist nicht bekannt sind, nützlich sein. Aus Sicht der Fachwissenschaft ist vor allem bemerkenswert, dass die Auftragsforschung über Unternehmen ungeachtet dieser rein informellen Normen heute nur noch in Ausnahmefällen wegen der Qualitätsstandards ihrer Produkte problematisiert werden muss. Spätestens um die Jahrtausendwende hatten sich formale und inhaltliche fachwissenschaftliche Standards soweit durchgesetzt, dass man tatsächlich von einem Prozess der Verwissenschaftlichung sprechen kann. Schaut man auf die Inhalte, ist immer wieder die Wechselwirkung zwischen der mikroökonomischen Wende der Wirtschaftsgeschichtsschreibung und einer maßgeblich vom öffentlichen Interesse geförderten „unternehmenshistorischen Wende“ herausgestellt worden.²² Wenn

 Vgl. die Beiträge in Jacqueline Nießer/Juliane Tomann (Hrsg.), Angewandte Geschichte. Neue Perspektiven auf Geschichte in der Öffentlichkeit. Paderborn 2014, und Wolfgang Hardtwig/Alexander Schug (Hrsg.), History Sells! Angewandte Geschichte als Wissenschaft und Markt. Stuttgart 2009.  Eckart Conze [u. a.], Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. München 2010; vgl. Christian Mentel/Nils Weise, Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus. Stand und Perspektiven der Forschung. München 2016.  Gregor Schöllgen, Die Dienstleister. Von den Aufgaben der Geisteswissenschaften in der modernen Welt. Festvortrag zum Dies academicus aus Anlass des 264. Jahrestages der Gründung der FriedrichAlexander-Universität. Erlangen 2007; Tim Schanetzky, Die Mitläuferfabrik. Erlanger Zugänge zur „modernen Unternehmensgeschichte“, in: Akkumulation 31, 2011, S. 3 – 10; Cornelia Rauh, „Angewandte Geschichte“ als Apologetik-Agentur? Wie Erlanger Forscher Unternehmensgeschichte „kapitalisieren“, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 56, 2011, S. 102– 115.  Vgl. die jüngeren Forschungsberichte von Ralf Banken, Vom „Verschweigen“ über die „Sonderkonjunktur“ hin zur „Normalität“? Der Nationalsozialismus in der Unternehmensgeschichte der

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hierbei von einer „Forschungskonjunktur“ oder gar von einer „Sonderkonjunktur“ gesprochen wurde, fällt umso stärker auf, wie unscharf deren genaue Konturen geblieben sind und wie selten über ihre Rückwirkungen auf die universitäre Geschichtswissenschaft reflektiert wird. Im Folgenden soll dies anhand einer vorläufigen quantitativen Exploration verdeutlicht werden. Wie verbreitet Aufträge an Historiker waren, zeigt nämlich schon der Blick auf den Deutsche Aktienindex DAX, der den Börsenkurs und die Gewinnentwicklung von 30 Großunternehmen abbildet. Die überwiegende Mehrzahl dieser Unternehmen (70 Prozent) hat im Laufe des letzten Vierteljahrhunderts Historiker oder Historikerkommissionen beauftragt, manche von ihnen mehrfach. Nur bei 30 Prozent der Unternehmen ist über derartige Forschungsaufträge nichts bekannt. Darunter sind Gesellschaften wie Infineon, Fresenius Medical Care oder SAP, die für eine NS-Vergangenheit zu jung sind. In anderen Fällen müssen fehlende Publikationen nicht mit einer Absenz vom Markt der Auftragsforschung gleichbedeutend sein, weil gerade auf dem Höhepunkt der Entschädigungsdebatte immer wieder Aufträge vergeben wurden, deren Ergebnisse nie veröffentlicht wurden. Trotz dieser Einschränkungen wird man doch festhalten können, dass inzwischen die meisten Großunternehmen mindestens einmal einen historischen Forschungsauftrag vergeben haben. Insgesamt zähle ich zwischen 1983 und 2017 mehr als sechzig größere Forschungsaufträge, die von bedeutenden Unternehmen an einzelne Historiker oder an Historikerkommissionen vergeben wurden.²³ Blickt man genauer auf den zeitlichen Ablauf, stechen zwei Besonderheiten hervor. Erstens blieben die Pionierfälle Daimler-Benz,Volkswagen und Deutsche Bank zunächst allein auf weiter Flur. Der eigentliche Boom der Auftragsforschung setzte erst Mitte der 1990er Jahre ein. Er wurde von der Entschädigungsdebatte getragen und von Globalisierungsstrategien begleitet, die gerade die Großunternehmen für ihre Wirkung in der US-amerikanischen Öffentlichkeit besonders sensibilisierte. Haupttriebkräfte waren dabei die mediale Skandalisierung der unternehmerischen NSVergangenheit sowie das oft milliardenschwere finanzielle Risiko einer Sammelklage vor einem amerikanischen Gericht. In weniger als fünf Jahren (von Mitte der 1990er Jahre bis zur gesetzlichen Regelung der Zwangsarbeiterentschädigung mit der Errichtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ im August 2000)

Bundesrepublik, Zeitgeschichte-online, Dezember 2012, www.zeitgeschichte-online.de/thema/vomverschweigen-ueber-die-sonderkonjunktur-hin-zur-normalitaet (letztmalig abgerufen am 22. 3. 2017); Christoph Buchheim, Unternehmen in Deutschland und NS-Regime 1933 – 1945.Versuch einer Synthese, in: HZ 28.2, 2006, S. 351– 390; und Werner Plumpe, Unternehmen im Nationalsozialismus. Eine Zwischenbilanz, in: Werner Abelshauser [u. a.] (Hrsg.), Wirtschaftsordnung, Staat und Unternehmen. Neuere Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus. Essen 2003, S. 43 – 66.  Genau hier liegt denn auch der vorläufige Charakter begründet: Die doppelte Abgrenzung „größere Forschungsaufträge“ und „bedeutende Unternehmen“ ist einerseits vage, andererseits zwingend erforderlich, um Festschriften oder allenfalls regionalgeschichtlich bedeutsame Studien auszuschließen.

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wurden 28 Forschungsprojekte von Großunternehmen finanziert, wobei der Schwerpunkt auf Finanzen, Bauwirtschaft und dem produzierenden Gewerbe lag.²⁴ Zweitens hielt die Vergabe von Forschungsaufträgen auch danach weiter an. Obwohl die Entschädigung der früheren Zwangsarbeiter auch das rechtliche Risiko der Sammelklagen beseitigte, setzte sich die Forschungskonjunktur über das Jahr 2000 hinaus weiter fort. Seither gab es 32 weitere Projekte. Die Geschwindigkeit, mit der neue Vorhaben gestartet wurden, verringerte sich. Dennoch kam es zu immer neuen Forschungsaufträgen, zuletzt im Fall von Unternehmerfamilien wie Thyssen, Boehringer, Oetker, Schmitz-Scholl oder Freudenberg. Auch hat die Fokussierung auf die NS-Zeit etwas nachgelassen, was sich in Studien niederschlägt, welche (meist vor dem Hintergrund eines Jubiläums) die gesamte Unternehmensgeschichte thematisieren.²⁵ Noch immer ist die NS-Vergangenheit die wichtigste Triebkraft der Skandalisierung, so dass alternative Themen in der Kommissionsforschung eine höchst seltene – und noch seltener publizierte – Ausnahme bleiben.²⁶ Welche Auswirkungen die enorme Zahl der Projekte auf die universitäre Geschichtswissenschaft hatte, wird man erst nach einer genaueren quantitativen Untersuchung ermessen können, die hier nicht geleistet werden kann. Aber auch auf der Grundlage dieses noch sehr vorläufigen Datenfundaments lässt sich doch eine Arbeitshypothese formulieren: Die schiere Menge der Projekte verlieh der Kommissionsforschung ein Gewicht, das inhaltlich auch auf die Fachwissenschaft zurückwirken musste. Diesen Schluss legt schon die Auftragsspitze von 28 Einzelprojekten in kaum fünf Jahren nahe: Eine kleine Subdisziplin wie die Wirtschaftsgeschichte allein konnte sie kaum bewältigen – zumal in einer Zeit, in der entsprechende Lehrstühle im Zuge der Kulturalisierung der Geschichtswissenschaft und der mathematischen Formalisierung der Ökonomie vielerorts umgewidmet oder nicht wiederbesetzt wurden. Ob und wieweit die „unternehmenshistorische Wende“ also auch ein Ausweg aus einer disziplinären Legitimationskrise war, der am Volumen der bei Unternehmen eingeworbenen Drittmittel zugleich die Relevanz des Faches bemaß, wird erst eine genauere Untersuchung zeigen können. Fest steht hingegen, dass sich die Auftragsvergabe oft an außerwissenschaftlichen Kriterien orientierte. Das anschaulichste Beispiel dafür ist der Fall Friedrich Flick, in dem ein jahrzehntealter Familienstreit dazu beitrug, dass am Ende drei konkurrie Dies waren Allianz, Alusuisse, BASF, Bertelsmann, Buderus, Bundesverband Deutscher Banken, Commerzbank, Degussa, Deutsche Bahn, Deutsche Bank (Nachfolgeprojekte), Diehl, Dresdner Bank, General Motors (Opel), Henkel, Hochtief, Hoechst, Hüls, Krupp, Linde, Lufthansa, Philipp Holzmann, Preussag, Ruhrgas (Eon), RWE, Saint Gobain, Siemens, Strabag, Südzucker, Viag.  Erfasst wurden die folgenden Auftraggeber: Adidas, Audi (Auto-Union), Bayerische Landesbank, Boehringer-Ingelheim, Bosch, Brenninkmeijer (C&A), Dr. Oetker, DuMont Schauberg, Dyckerhoff, EonRuhrgas, Flick (Freiburg, Jena, München), Freudenberg, Hugo Boss, KPMG, K+S, Linde, MAN, Messer, Munich Re, Quandt, Deutsche Steinkohle, Schaeffler, Schickedanz (Quelle), Schöller, Seidensticker, Siemens, Telekom, Tengelmann, Thyssen, Zeiss.  Das Buch, das keiner lesen soll, in: Der Spiegel, 18. 3. 2017; Bielefelder untersucht Verhalten von VW während der Diktatur in Brasilien, in: Neue Westfälische, 3.11. 2016.

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rende Forschungsprojekte denselben Gegenstand betrachteten. Ohne die goldenen Zügel der Auftragsforschung wäre eine solche Konstellation undenkbar gewesen.²⁷ Für die Macht dieser außerwissenschaftlichen Logik spricht auch der Befund, dass von einem Auslaufen der Forschungskonjunktur bis heute nicht gesprochen werden kann. Offenbar bleibt es auch dreißig Jahre nach dem Daimler-Jubiläum dabei, dass journalistische Recherchen, mediale Skandalisierung und unprofessionelle Reaktionen auf Seiten der Unternehmen stets von neuem einen Mechanismus in Gang setzen, der in entsprechenden Forschungsaufträgen mündet.²⁸ Darin ist zunächst einmal kein Nachteil zu sehen, denn auch aus fachwissenschaftlicher Sicht ist es ja zu begrüßen, dass nach den großen Aktiengesellschaften zuletzt auch verschwiegene Unternehmerfamilien entsprechende Aufträge erteilt haben. Auch ist es interessant, nach den rüstungsrelevanten Wirtschaftsbereichen und dem Finanzsektor nun beispielsweise mehr über die Konsumgüterindustrie des „Dritten Reiches“ zu erfahren.²⁹ Nicht immer muss die Logik des Medienskandals also im Widerspruch zum wissenschaftlichen Fortschritt stehen. Doch im Kern bleibt das Problem ungelöst, dass Auftragsforschung als Reaktion auf öffentliche Skandalisierung fast zwangsläufig dazu führt, erhebliche personelle Ressourcen in der Produktion von wissenschaftlichem Wissen nach einer außerwissenschaftlichen Logik zu binden: So etwa, wenn Forschungsaufträge von Unternehmen erteilt werden, die heute weltweit agieren, zwischen 1933 und 1945 aber recht unbedeutend gewesen waren. Selbstverständlich ist es am Ende empirisch nützlich, auch etwas über die NSGeschichte von Adidas oder Hugo Boss zu erfahren. Nur handelt es sich eben um Untersuchungsgegenstände, die nach wissenschaftlichen Kriterien kaum je gewählt worden wären, schon weil es an der nötigen Quellenüberlieferung mangelt. Mark Spoerer hat darauf schon hingewiesen: Unternehmensgeschichte als Auftragsforschung ist eben per se eine Geschichte der Sieger, weil nur diejenigen Unternehmen als Auftraggeber in Frage kommen, die auch heute noch tätig sind.³⁰ Die gravierendste Folge der Skandalisierungslogik besteht aber darin, die immer gleichen Forschungsfragen auf Dauer zu stellen: Wie groß waren die unternehmeri-

 Kim Christian Priemel, Flick. Eine Konzerngeschichte vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik. Göttingen 2007; Axel Drecoll [u. a.], Der Flick-Konzern im Dritten Reich. München 2008; Norbert Frei [u. a.], Flick. Der Konzern, die Familie, die Macht. München 2009. Dabei wurde Priemel zwar von der DFG finanziert, aber dem entsprechenden Antrag war eine Vorstudie vorausgegangen, die ebenfalls aus der Familie Flick finanziert worden war.  Zuletzt im Fall Brose/Coburg, vgl. Modriger Nachgeschmack, in: Süddeutsche Zeitung, 21. 3. 2016.  Mark Spoerer, C&A. Ein Familienunternehmen in Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien 1911– 1961. München 2016; Jürgen Finger [u. a.], Dr. Oetker und der Nationalsozialismus. Geschichte eines Familienunternehmens 1933 – 1945. München 2013; Roman Köster, Hugo Boss 1924– 1945. Die Geschichte einer Kleiderfabrik zwischen Weimarer Republik und „Drittem Reich“. München 2011.  So etwa Mark Spoerer, Unternehmen und Unternehmensgeschichte? Was kommt heraus, wenn Gewinner Geschichte schreiben lassen?, in: Horst-Alfred Heinrich/Claudia Fröhlich (Hrsg.), Geschichtspolitik. Wer sind ihre Akteure, wer ihre Rezipienten? Stuttgart 2004, S. 111– 117.

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schen Handlungsspielräume? Wie weit ging die Kooperation mit dem NS-Regime? Wer trat wann der NSDAP bei? Wie hielt man es im jeweils konkreten Fall mit der „Arisierung“, mit der Zwangsarbeit, mit der Partizipation an der militärischen Expansion? Diese Fragen sind in jedem Einzelfall empirisch neu zu beantworten, obwohl daraus in einem analytischen Sinn kaum noch Erkenntnisgewinne folgen, da sich die neuen Einzelbefunde in eine längst vorhandene Gesamtinterpretation fügen, sie dabei aber kaum noch verändern. Hinzu kommt: Nicht immer ist die Perspektive des einzelnen Unternehmens analytisch sinnvoll – umgekehrt liegen Branchen- oder Vergleichsstudien aber kaum im Interesse der Auftraggeber. Welche Blindstellen aus der Perspektive des Einzelunternehmens folgen können, zeigt das Beispiel der KZ-Häftlinge, die viele Unternehmen seit 1942 von der SS mieteten. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass Massenerschießungen und Todesmärsche der letzten Kriegswochen kein „Chaos“ waren und vielerorts auch auf die mittelbare Initiative von Arbeitgebern zurückgingen, die es vorzogen, die Besatzungsmacht ohne diesen Teil ihrer „Belegschaft“ zu erwarten.³¹ Unternehmenshistorische Auftragsarbeiten thematisieren solche Endphaseverbrechen durchaus, haben sie jedoch nie in einen größeren Kontext gestellt.³² Indem dieselben Fragen immer wieder neu gestellt, mit erheblichem Personalund Zeitaufwand beantwortet werden und der Blickwinkel dabei oft auf den unternehmerischen Einzelfall beschränkt bleibt, hinterlässt Auftragsforschung tiefe Spuren im fachwissenschaftlichen Diskurs. Denn wo neue Interpretationen ebenso ausbleiben wie methodische Innovationen, da wird es still, harmonisch und langweilig. Lässt man die mediale Skandalisierung beiseite, wird über Unternehmen im Nationalsozialismus heute nicht mehr gestritten. Die letzte fachwissenschaftliche Kontroverse liegt bald ein Jahrzehnt zurück, und der damalige Streit zwischen Peter Hayes und Christoph Buchheim war nicht nur symptomatisch, weil dort der unter der Überschrift „Primat der Ökonomie, Primat der Politik“ bereits seit den 1960er Jahren geführte Konflikt letztmalig wiederauflebte.³³ Er demonstrierte auch, dass längst nicht mehr die Auftragsforschung für Dynamik im fachlichen Diskurs sorgt. Auslöser waren vielmehr die von Buchheim in Mannheim betreuten Qualifikationsarbeiten. Sie betonten einen relativ hohen Grad der unternehmerischen Autonomie; nicht staatlicher Zwang und diktatorische Gewalt, sondern finanzielle und rechtliche Anreize sollten erklären, warum Unternehmen in Deutschland taten, was den politischen Zielen Hitlers diente. Empirisch wurde das in Studien belegt, die sich mit Regulierungsfragen

 So die Befunde von Stefan Hördler, Ordnung und Inferno. Das KZ-System im letzten Kriegsjahr. Göttingen 2015 und Marc Buggeln, Slave Labour in Nazi Concentration Camps. Oxford 2014.  Das gilt im Fall Flick auch für meine eigene Darstellung, vgl. Tim Schanetzky, „Kanonen statt Butter“.Wirtschaft und Konsum im Dritten Reich. München 2015, S. 241; sie folgt der Darstellung in Frei [u. a.], Flick, S. 360.  Peter Hayes, Corporate Freedom of Action in Nazi Germany, in: Bulletin of the German Historical Institute 45, 2009, S. 29 – 42; Christoph Buchheim/Jonas Scherner, Corporate Freedom of Action in Nazi Germany. A Response to Peter Hayes, ebd., S. 43 – 50.

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in Branchen wie der Textilindustrie oder aber mit Querschnittsthemen wie der unternehmerischen Investitionspolitik befassten. Viele Studien basierten auch auf Unternehmensquellen, aber keine entstand aufgrund eines unternehmerischen Auftrags.³⁴ So gelangt man zu drei irritierenden Befunden. Erstens entwickelten sich die Regularien, die eine als unabhängig geltende Auftragsforschung sicherstellen, seit Mitte der 1980er Jahre als Folge praktischer Erfahrungen. Dies mag ein pragmatisches Verfahren gewesen sein, aber es handelt sich eben auch um eine nur unvollständige Reflexion über die Rollenkonflikte der Auftragsforschung. Selbst auf dem Höhepunkt der Entschädigungsdebatte nahmen Historiker den sozialwissenschaftlichen Forschungsstand über ihre Tätigkeit nicht wahr. Zweitens zeigte sich ein ganz ähnlicher Pragmatismus in der bis heute unvollständigen Institutionenbildung. Zwar wurde im Laufe der 1990er Jahre immer deutlicher, wie wichtig wissenschaftliche Unabhängigkeit in der Auftragsforschung als regulative Idee ist und wie ein Forschungsauftrag zu gestalten ist, um diesem Ideal möglichst nahezukommen. Allerdings blieb es bei einem rein informellen und ausschließlich auf Erfahrungswissen beruhenden Regelwerk, das bis heute nie formell kodifiziert wurde. Drittens schließlich hat das Thema „Unternehmen im Nationalsozialismus“ aus Sicht der breiten Öffentlichkeit zwar noch immer Skandalpotential, aber aus fachwissenschaftlicher Sicht ist es längst reif für einen vorläufigen Abschluss – diesen Schluss legt jedenfalls das auffällige Ausbleiben von Kontroversen im letzten Jahrzehnt nahe. Üblicherweise erfolgt ein solcher Abschluss in Form von Gesamtdarstellungen und Handbüchern; sie ziehen Synthesen aus der Einzelforschung und schlagen Schneisen durch das Dickicht der empirischen Einzelbefunde. Aber auch in dieser Hinsicht ist nur eine eigentümliche Unvollständigkeit zu konstatieren: Von kürzeren Aufsätzen abgesehen, fehlt eine solche Metastudie.³⁵ Dass es sie bislang nicht gibt, ist gewiss auch der kaum noch zu überblickenden Literatur geschuldet. Sollte sie aber auch deshalb fehlen, weil Unternehmen als Auftraggeber einer solchen Metareflexion schwerlich zur Verfügung standen und stehen werden und umgekehrt die Geschichtswissenschaft an der Unabgeschlossenheit des Themas geradezu interessiert sein muss, weil genau daraus weitere Forschungsaufträge folgen, so wäre dies der

 Jonas Scherner, Die Logik der Industriepolitik im Dritten Reich. Die Investitionen in die Autarkieund Rüstungsindustrie und ihre staatliche Förderung. Stuttgart 2008; Ulrich Hensler, Die Stahlkontingentierung im Dritten Reich. Stuttgart 2008; Michael Ebi, Export um jeden Preis. Die deutsche Exportförderung von 1932– 1938. Stuttgart 2004.  Adam Tooze, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus. München 2007, greift unternehmenshistorische Befunde nur am Rande auf; vom Anspruch her vorläufig angemessen ist Frei/Schanetzky, Unternehmen; der einzige bisher publizierte Handbuchbeitrag ist der von Henning Borggräfe, Debatte um die Rolle von Unternehmen im Nationalsozialismus, in: Torben Fischer/Matthias N. Lorenz (Hrsg.), Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Bielefeld 2015, S. 416 – 419; noch nicht erschienen ist Kim Christian Priemel, National Socialism and German Business, in: Shelley Baranowski [u. a.] (Hrsg.), A Companion to Nazi Germany. Oxford 2017.

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wohl besorgniserregendste Befund. In dieser Hinsicht hat Sven-Felix Kellerhoff in der Welt kürzlich einen bezeichnenden Kategorienfehler gemacht, als er ausgerechnet die Großunternehmen als potentielle Auftraggeber in die Pflicht zu nehmen versuchte: Vielleicht wäre es an der Zeit, dass die führenden deutschen Konzerne mit Vergangenheit im Dritten Reich den Arbeitskreis für kritische Unternehmens- und Industriegeschichte oder die Gesellschaft für Unternehmensgeschichte bitten, eine Zusammenfassung der in den vergangenen Jahren erschienenen zahlreichen Studien zu erarbeiten.³⁶

 Sven-Felix Kellerhoff, Als die Lufthansa mit ihren Kriegserfahrungen warb, in: Die Welt, 17.4. 2016.

II. Historikerkommissionen und Rechtsprechung – Probleme der Wahrheitssuche

Daniel Thürer

Erfahrungen eines Juristen als Mitglied der schweizerischen Historikerkommission „Man kann auch seine Vergangenheit […] nicht bewältigen, man kann nur lernen, beide (Vergangenheit und Gegenwart) besser zu verstehen, um mit sich selbst besser leben zu können.“¹ – Fritz Stern

Wie verschiedene andere europäische Länder, so befasste sich auch die Schweiz im ausgehenden 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit der historischen Erforschung ihres Verhaltens im Zweiten Weltkrieg.² 1998 setzte der Bundesrat, auf Druck jüdischer Organisationen und der amerikanischen Administration, die „Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg“ (UEK) ein. Sie wurde allgemein nach dem Namen ihres Präsidenten „Bergier-Kommission“ genannt und hatte den Auftrag, Schicksal und Umfang von Vermögenswerten zu untersuchen, die vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Herrschaftsbereich des „Dritten Reichs“ in die Schweiz gelangt waren. In der Folge wurde das Mandat der Kommission auf die Flüchtlingsfrage ausgeweitet. Der Kommission gehörten neun Mitglieder an, von denen fünf Schweizer waren und vier aus dem Ausland stammten.³ Die Bemühungen der Kommission, aber auch ihre internationale Zusammensetzung und ihre materielle Ausstattung galten, wie sich ein Kommentator ausdrückte, gemeinhin „als wegweisend und exemplarisch für ähnliche Bemühungen, die in anderen Ländern in insgesamt 24 Kommissionen unternommen wurden“.⁴ Die Unabhängige Expertenkommission veröffentlichte mehr als zwanzig Einzelstudien und beendete ihre Arbeit im Jahr 2002 mit einem auf Deutsch, Französisch und Italienisch abgefassten Schlussbericht. Ich hatte das Glück, als Jurist von 2000 bis 2002 der Historikerkommission anzugehören.

 Fritz Stern, Um eine neue deutsche Vergangenheit. Konstanz 1972, S. 13.  Ich danke meinem Bruder Dr. phil. Andreas Thürer ganz herzlich für die Lektüre des Manuskripts und seine sehr wertvollen, weiterführenden Hinweise. Nachfolgend stütze ich mich weitgehend auf meine Studie Daniel Thürer, Im Schatten des Un-Rechts-Staates. Reaktionen auf den Nationalsozialismus im schweizerischen Rechtssystem, in: ders. (Hrsg.), Kosmopolitisches Staatsrecht. Grundidee Gerechtigkeit, Bd. 1. Berlin/Zürich 2005, S. 323 ff. In dieser Schrift finden sich zahlreiche Hinweise auf Quellen, die im vorliegenden Text der erforderlichen Kürze wegen nicht nochmals aufgeführt wurden; dieser generelle Hinweis muss genügen.  Mitglieder der Kommission waren, während der ganzen oder eines Teils der Mandatdauer, JeanFrançois Bergier (Präsident), Wladyslaw Bartoszewski, Saul Friedländer, Harold James, Helen B. Junz, Georg Kreis, Sybil Milton, Jacques Picard, Jakob Tanner, Daniel Thürer und Joseph Voyame.  Vgl. Thomas Maissen, Verweigerte Erinnerung. Nachrichtenlose Vermögen und die Schweizer Weltkriegsdebatte 1989 – 2004. Zürich 2005, S. 520. https://doi.org/10.1515/9783110541144-010

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Die Arbeiten der Kommission fielen in eine Zeitspanne, in der – bei Jubiläumsfeiern und in der allgemeinen innenpolitischen Debatte – Fragen der historischen Erinnerung und von Bemühungen ihrer Verarbeitung emotional stark aufgeladen waren. Die Kommission, die in verschiedenen Spielarten vom Willen zur historischen „Aufklärung“ beseelt war, sah sich mit „patriotischer“ Kritik konfrontiert, die vor allem – aber nicht nur – von Angehörigen der Aktivdienstgeneration geübt wurde. Es öffnete sich ein Graben zwischen Generationen und Weltanschauungen mit ihren je divergierenden, zum Teil erbitterten Auseinandersetzungen über Geschichte und Identität des Landes. Rationaler Fortschrittsglaube, der sich oft leichtfertig über Sensibilitäten der damals Lebenden und Wirkenden hinwegsetzte, und weit über den Weltkrieg, ja den Kalten Krieg hinaus vertretene mythologische Verklärungen des Geschichtsbildes prallten in oft extremen Formen aufeinander, während realistische Deutungen und Wege der Zukunftsgestaltung irgendwo in einem Mittelfeld zu suchen sind. Ziel meiner hier zusammengestellten Überlegungen ist es, aus der Distanz eines nicht fachspezifisch, sondern eines generell wertorientierten Rechtswissenschaftlers, einen Blick auf die Entwicklungen in Deutschland und in der Schweiz zur Zeit des Krieges (einschließlich von Zeitspannen vor und nach dem Krieg) zu werfen.⁵ Als Jurist versuche ich, in der mir vorgegebenen Kürze allgemeine Trends der Rechtsentwicklungen in der Schweiz und in Deutschland einander gegenüberzustellen und zu fragen, weshalb diese so verschieden verlaufen sind. Ich fokussiere die Aufmerksamkeit auf die Rechtswissenschaft und die Rechtsprechung und wende mich im ersten Fall vor allem der Verfassungsproblematik zu. Ich versuche sodann, zwei Folgerungen zu ziehen und entsprechende Lektionen für die zukünftige wissenschaftliche Arbeit zu formulieren. Es sind, so meine ich, zunächst mehr Aufmerksamkeit und Kraft auf die Bedeutung von Institutionen und den Halt zu legen, den sie dem Leben in Politik, Kultur und Gesellschaft verleihen; Schaffung und Pflege von kollektiven Institutionen sind – wenn auch emotional nicht leicht fassbar – wichtiger als die Frage nach Schuld und individueller Verantwortung. Sodann müssen gezielte Anstrengungen unternommen werden, den Prinzipien der Rule of Law nachzugehen, wie sie damals und in der Folge des Zweiten Weltkriegs im nationalen und internationalen Recht verankert wurden und sich gegenseitig stärken und stützen. Beides – Festigung demokratischrechtstaatlicher Institutionen und gegenseitige Öffnung, ja Verbindung der Rechtssysteme – bildet tragfähige Schutzmauern gegen die Herrschaft von Willkür und Gewalt, die dem Rechtsgedanken zutiefst widersprechen. Ich gelange also zum Schluss, dass für uns Rechtswissenschaftler nicht moralische Fragen von Schuld und Unschuld im Vordergrund stehen, sondern der Wert und die Rolle von Institutionen sowie von Normen der staatlich und international begründeten Rule of Law. Zum

 Vgl. zu dieser Perspektive auch Stefan Schürer, Die Verfassung im Zeichen historischer Gerechtigkeit. Schweizer Vergangenheitsbewältigung zwischen Wiedergutmachung und Politik mit der Geschichte. Zürich 2009.

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Abschluss plädiere ich dafür, dass Kommissionen wie die hier beschriebene Expertenkommission vermehrt pluralistisch mit Vertretern verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen besetzt werden, welche die gestellte Aufgabe zusammen mit den Angehörigen anderer Disziplinen kooperativ, wenn auch je mit den ihnen eigenen methodischen Ansätzen angehen.

Unterschiedliche Rechtsentwicklungen in Deutschland und in der Schweiz⁶ Ende des Verfassungsstaates in Deutschland, Beschädigung in der Schweiz In Deutschland hatte die Rechtswissenschaft im „Dritten Reich“ einen Zusammenbruch erfahren, wie man ihn sich dramatischer kaum vorstellen kann. Einst führendes Land im Bereich der Geisteswissenschaften, hatte Deutschland mit der Weimarer Republik eine Blüte erlebt, die mit ihrer Grundsätzlichkeit und Produktivität mit derjenigen der Federalist Papers in den Vereinigten Staaten verglichen werden könnte.⁷ Noch heute ziehen Staatsrecht und Staatslehre Nutzen aus den Schriften eines Gerhard Anschütz, Hermann Heller, Erich Kaufmann, Hans Kelsen, Rudolf Smend, Richard Thoma und Heinrich Triepel, um nur einige besonders illustre Namen zu nennen. Die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten führte zu einem jähen Ende dieser Epoche. Der Verfassungsstaat zerbrach in Deutschland nach dem Reichstagsbrand vom 28. Februar 1933 in wenigen Wochen Stück für Stück. „Die Verfassungsfrage war“, wie Ernst Forsthoff schrieb, „erledigt“. Die Staatsrechtswissenschaft hatte ihren Gegenstand verloren. Es wird wohl auf immer ein Rätsel sein, wie die glänzende Weimarer Rechtswissenschaft mit einem Schlage ihre Kraft verlieren und ihren Dienst am Gemeinwesen versagen konnte. In der Schweiz hatte die Rechtswissenschaft dagegen das Glück, abgeschirmt von den Vorgängen in Deutschland (sowie Italien und den vielen anderen faschistisch gewordenen europäischen Staaten) kontinuierlich in ihren eigenen Bahnen ihren Problemen nachgehen zu können. Den Nationalsozialismus lehnten die Schweizer Staatsrechtslehrer ab.⁸ Sie äußerten sich in ihren Schriften aber kaum zu Diskrimi-

 Detaillierte, eingehende Dokumentationen finden sich in meiner eingehend zitierten Abhandlung Thürer, Schatten.  Vgl. Arthur J. Jacobson/Bernhard Schlink (Hrsg.), Weimar. A Jurisprudence of Crisis. Berkeley [u. a.] 2000.  Näheres im Gutachten von Jean-François Aubert, La science juridique suisse et le régime nationalsocialiste 1933 – 1945, in: Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (Hrsg.), Die Schweiz, der Nationalsozialismus und das Recht, Bd. 18: Öffentliches Recht. Zürich 2001. Seither hat allerdings die wissenschaftliche Forschung ein eingehenderes und differenzierteres Bild hervorge-

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nierung, Entrechtung und Vernichtung der Opfer des NS-Regimes und übten auch nicht Kritik an der fragwürdigen Flüchtlingspraxis der schweizerischen Behörden. Sie erhoben keine Anklage und bekämpften das Un-Rechts-Regime nicht im öffentlichen Raum. „Advocacy“ als Teil des professionellen Selbstverständnisses des modernen Juristen gab es bei den damaligen Professoren nicht. Nur einige Anwälte und Richter schritten zur öffentlichen Kritik oder gar zu Widerstandshandlungen als Ausdruck ihres rechtlichen Gewissens. Hauptanliegen der Rechtswissenschaft in der Schweiz war die Verfassungsfrage. Sie stellte sich hier aber unter einem anderen Vorzeichen und nahm andere Formen an als in Deutschland.⁹ Von Seiten führender nationalsozialistischer Parteifunktionäre war zu vernehmen: „Wie der Staat künftig aussieht, weiss nur der Führer allein. Auch hier kratzen die Federn vergebens.“ Und höhnisch wurde hinzugefügt: „Der Führer wird sich ganz gewiss von irgendwelchen Reden oder Aufsätzen in seinen Verfassungsplänen nicht beeinflussen lassen.“ Die Realität in der Schweiz waren nicht Hohn und Verachtung für Verfassung und Verfassungswissenschaft, sondern ein allgemeines, allmähliches Vergessen des Verfassungsgedankens und eine schleichende Erosion der in der Verfassung niedergelegten rechtsstaatlich-demokratischen Prinzipien und Strukturen. Der Prozess des Zerfalls der Autorität und Würde der Verfassung setzte bereits in der Krisenzeit der Dreißigerjahre ein, als das Parlament begann, auf dem Wege der Dringlichkeitspraxis Gesetzesvorlagen dem Referendum zu entziehen. Die Entwicklung kulminierte im sogenannten Vollmachtenbeschluss vom 30. August 1939, mit dem das Parlament die Regierung ermächtigte, alle „zur Behauptung der Sicherheit, Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz notwendigen Maßnahmen“ zu treffen. Damit übertrug die Bundesverfassung dem Bundesrat weitreichende Befugnisse zur Gesetzgebung, dies auch unter Abweichung von der Bundesverfassung. Bis zu welchem Punkt aber konnten solche Eingriffe in die bestehende Staats- und Verfassungsordnung hingenommen werden? Führten sie nicht, in ihrer Kumulation, zu einem Bruch mit der demokratisch-liberalen Rechtstradition der Schweiz? Waren die weitgehende Einschränkung und Ausschaltung der verfassungsmäßig garantierten Freiheitsrechte und politischen Rechte der Stimmbürger sowie die Konzentration der Rechtssetzung auf die Ebene des Bundes und die Exekutive Symptome eines heraufziehenden neuen

bracht; vgl. namentlich Andreas Kley, Geschichte des öffentlichen Rechts der Schweiz. Zürich 2011, S. 117 ff, 142 ff.  Zum Ganzen vgl. etwa Horst Dreier/Walter Pauly, Die deutsche Staatsrechtlehre in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 60. Berlin 2001, S. 7 ff. Grundlegend sodann Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3: 1914– 1945. München 1999, S. 246 ff.; zur Würdigung der Verfassungstheorie von Carl Schmitt Dieter Grimm, Die „Neue Rechtswissenschaft“. Über Funktion und Formation nationalsozialistischer Jurisprudenz, in: Ders. (Hrsg.), Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1987, S. 393.

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Systems, das begann, seinen föderalistischen Charakter zu verlieren und autoritäre, antiliberale Züge anzunehmen? In der Doktrin spitzte sich die Auseinandersetzung in einer Grundsatzdebatte über die Zulässigkeit des sogenannten Notstandsregimes zu, die von zwei Zürcher Staatsrechtlern in der Öffentlichkeit geführt wurde. Es war dies einer der großen Rechtsstreite, wie sie in jener Zeit in verschiedenen Ländern über Grundfragen der Rechtstheorie geführt wurden, und es ist ein Ruhmesblatt der Zürcher Rechtsfakultät, dass diese Auseinandersetzung von zwei ihrer Mitglieder klar in den Grundpositionen und fair im Stil geführt wurde; dies im Forum der Öffentlichkeit mittels verschiedener Zeitungen grundsätzlich und in allgemein verständlicher Form. Wer waren die Akteure, was waren ihre Argumente und Thesen? Herausforderer war der Staats- und Kirchenrechtler Zaccaria Giacometti.¹⁰ Er entstammte dem Bergell, einem Bündner Bergtal mit italienischer Sprache und protestantischer Konfession. Seine Familie hatte verschiedene Künstler hervorgebracht und es entsprach vielleicht dem in seiner Familie so stark verwurzelten ästhetischen Sinn wie auch der römisch geprägten italienischen Rechtskultur, die Giacometti formte, dass er, mitten im Krieg, die fundamentale Sicht der Verfassung als elementarer Grundordnung des Staates erkannte, herausarbeitete und ins politische Spiel brachte. Giacometti vertrat die Auffassung, das Vollmachtenregime hänge, da es sich nicht auf einen Notstandsartikel in der Verfassung stützen konnte, „verfassungsrechtlich in der Luft“. Es ginge auf diese Weise, so Giacometti, der Wille zur Norm und damit der Sinn der Legalität verloren, was „den Zerfall des Rechtsstaates und die Einleitung einer Willkürherrschaft“ bedeute. Da die Bundesverfassung eine Notrechtskompetenz nicht ausdrücklich vorsehe, bezeichnete Giacometti das auf Grund der Vollmacht gesetzte Recht als nicht legal. Es schien ihm aber als legitim, weil die öffentliche Meinung es als politische Notwendigkeit billige. Er schrieb: Das undemokratische und antiliberale Vollmachtenregime, unter dem wir heute leben, ist ein politisch notwendiger provisorischer Zustand; er stellt insofern einen illegalen Notsteg dar, der die freiheitliche Schweiz mit einem ihr unbekannten autoritär totalitären Staat verbindet. Dieser Notsteg kann entweder zur Bundesverfassung zurückführen oder aber zu einem gewaltenmonistischen totalitären Einheitsstaat hinüberleiten.

Dietrich Schindler (sen.), der mit Giacometti kollegial und freundschaftlich verbunden war, entstammte dem wirtschaftlich und politisch aufblühenden Zürcher Bürgertum. Ein Vorfahre von ihm gleichen Namens war als junger Landammann des Kantons Glarus die treibende Kraft zur Erarbeitung der Glarner Verfassung von 1836, in der die Zweiteilung des Kantons in einen evangelischen und einen katholischen Landesteil mit ihren eigenen Landsgemeinden, Exekutivorganen und Gerichten be-

 Vgl. hierzu Andreas Kley, Von Stampa nach Zürich. Der Staatsrechtler Zaccaria Giacometti, sein Leben und Werk und seine Bergeller Künstlerfamilie. Zürich [u. a.] 2014.

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seitigt und die Einheit des Kantons auf rechtsstaatlicher Grundlage hergestellt wurde. Er wanderte nach vollbrachtem Werk nach Zürich aus, wo die Familie in Wirtschaft und Gesellschaft eine angesehene Stellung erlangte. Dietrich Schindler (sen.) versah an der Universität Zürich einen Lehrstuhl für Völkerrecht und Staatsrecht und war ein einflussreicher Berater der Bundesbehörden.¹¹ Er würdigte das im Zweiten Weltkrieg verhängte Notrecht unter dem Gesichtspunkt der größeren Zusammenhänge der Rechtsordnung und der von ihr zu verwirklichenden Werte. Er verfocht die Auffassung, dass die Verfassung – im Lichte ihres Zweckartikels (Artikel 2) gesehen – der Inanspruchnahme notrechtlicher Kompetenzen durch die obersten Staatsorgane nicht im Wege stehe. Denn, so meinte Schindler, sie kann die Zerstörung der Voraussetzungen ihrer eignen Existenz nicht wollen: in diesem Sinn besteht kein Widerspruch des Notrechts zur Verfassung. Und: „Es wird ja niemand behaupten wollen, dass es der Wille der Verfassung sei, auch dann in allen Einzelheiten angewendet zu werden, wenn darüber der Staat, mit dem die Verfassung und jedes von ihm geschaffene Recht steht und fällt, zugrunde geht“.

Das Echo der staatsrechtlichen Kontroverse zwischen Zaccaria Giacometti und Dietrich Schindler (sen.) zum Kriegsnotrecht ist längst verstummt. Die Debatte fand keinen Eingang in Lehrbücher, Sammlungen von Doktrinen oder Materialien zum Verfassungsrecht, so instruktiv sie als klassischer Topos zur Diskussion der Grenzen der Geltung und Steuerungskraft der Verfassung an sich gewesen wäre. Immerhin lassen sich zusammenfassend die folgenden Punkte festhalten: ‒ Giacometti ging es um die Zulässigkeit von extrakonstitutionellem Notrecht. Sein Ansatzpunkt war die Verfassung als geschriebene, positivrechtliche Grundlage der Rechtsordnung, als normatives System. Schindler ging von Sinn und Zweck der Verfassung aus, deren raison d’être es sei, die Existenz und Essenz des Staates als Werteordnung und als funktionsfähige Organisation zu erhalten. Er hatte keine Bedenken, auf implizite, ihr zu Grunde liegende, ungeschriebene Werte zurückzugreifen. Während Giacometti in der kontinentaleuropäischen, kodifikatorischen Rechtstradition stand, lag Schindler näher bei der angelsächsischen Auffassung, wonach Recht und insbesondere Verfassungsrecht als „living organism“ erschien, das auf die „felt necessities“ der Zeit antworten soll (so etwa Oliver Wendell Holmes). ‒ Obwohl Giacometti und Schindler von verschiedenen Grundpositionen ausgingen und verschiedene Wege der Argumentation einschlugen, stimmten sie letztlich doch überein, dass das Kriegsnotrecht, angesichts und im Rahmen der gegebenen Umstände, nicht als illegitim erschien. Sie argumentierten dogmatisch, aber nicht doktrinär, prinzipiell, aber auch pragmatisch. Es lässt sich nicht ein Vgl. Dietrich Schindler (jun.), Ein Schweizer Staats- und Völkerrechtler der Krisen- und Kriegszeit. Dietrich Schindler (sen.) 1890 – 1948. Zürich 2005. Vgl. auch Daniel Thürer, Dietrich Schindler (sen.) 1890 – 1948, in: Peter Häberle/Michael Killian/Heinrich Amadeus Wolff (Hrsg.), Staatsrechtler des 20. Jahrhunderts. Berlin/Boston 2015, S. 381– 392.

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fach sagen, wer Recht hatte. Giacometti und Schindler nahmen je vertretbare, kohärente, in sich geschlossene und überzeugende Haltungen ein, die zu einem dialektischen Ganzen führten. Sie offenbarten in einer Zeit extremer Bedrohung abweichende Verständnisse von Begründung, Funktion und Grenzen einer Verfassung, teilten im Grunde aber doch die philosophischen Grundüberzeugungen von einer demokratischen, föderalistischen und liberalen Schweiz.¹² Bezeichnend für das schweizerische Staatsverständnis war, dass die Kontroverse Giacometti/Schindler in Form von Zeitungsartikeln im Forum der Öffentlichkeit stattfand, aus der ja schließlich der Wille des Verfassungsgebers hervorgeht. Und der Verfassungsgeber beschloss dann auch drei Jahre nach Kriegsende auf Grund einer Volksinitiative, das Dringlichkeits- und Notrecht zu beseitigen und „zur direkten Demokratie zurückzukehren“.

Im Vergleich mit Deutschland fällt auf, dass die autoritären Lehren von Carl Schmitt, die gerade vom Ausnahmezustand als Letztbegründung der Staatsgewalt ausgingen und maßgeblich zur Legitimierung des nationalsozialistischen Regimes beitrugen, in der schweizerischen Rechtslehre nur geringen Anklang fanden. Dafür nutzte Deutschland nach dem Krieg die Chance, eine moderne Verfassungsordnung zu schaffen, welche für Europa und die Welt einzigartig war und – insbesondere auch für die Schweiz, wo sich die Verfassungsprozesse langsamer dahinzogen – immer wieder vorbildlich wurde.

Bewährungsprobe für die Rechtsprechung Wie die Doktrin, so stand, angesichts Herausforderungen durch den Unrechtsstaat, auch die Rechtsprechung unter dem Druck elementarer Bewährung. Wie gestaltete sich in den kritischen Jahren, mit denen wir uns befassen, die spezifische Rolle der Justiz in Deutschland und der Schweiz? Wie hat sie je auf Attacken durch den Unrechtsstaat reagiert? Gewaltenteilung, zu der auch die Unabhängigkeit der Justiz zählt, bildet – wie dies schon Immanuel Kant postulierte – ja einen Kernbestand der Republik bzw. des Verfassungsstaates. Die Gerichte sind Hüter des Rechtsprinzips. Durch die ihnen zuerkannte Unabhängigkeit sollen sie ein Bollwerk sein zum Schutze der Menschen gegen willkürliche Ausübung der Macht. Sie sind dazu bestimmt, als Immunsystem des Rechtsstaates zu wirken. Insbesondere ist es Aufgabe der Gerichte, der Legalität zum Durchbruch und zur Verwirklichung zu verhelfen. Ausgangspunkt unserer Würdigung ist die Tatsache, dass in jenen Jahren des totalitären Umbruchs die Bestände des Rechts sowohl in Deutschland wie in der Schweiz formal weitgehend erhalten blieben. In Deutschland wurden ab 1933 nur

 Den weltanschaulichen Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten dieser beiden Juristen weiter nachzugehen, wäre eine interessante Aufgabe.

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wenige Gesetze erlassen, so etwa die Nürnberger Gesetze von 1935 oder Gesetze im Bereich der Staatsorganisation. Wesentliche Grundlagen des vornationalsozialistischen Rechts wie das Bürgerliche Gesetzbuch, das Handelsgesetzbuch, das Strafgesetzbuch oder die Zivil- und Strafprozessgesetze aber blieben unberührt. In der Schweiz bestanden die grundlegenden Gesetze wie insbesondere die großen Kodifikationswerke des Zivilrechts während des Kriegs unverändert fort. 1942 trat jedoch, unbeeinflusst durch die totalitären Entwicklungen im Ausland, auf eidgenössischer Ebene das neue Strafgesetzbuch in Kraft, das die bisher bestehenden kantonalen Strafgesetze ablöste. Das neue eidgenössische Recht untersagte nunmehr für den zivilen, d. h. nicht-militärischen Bereich die Todesstrafe und hob sich damit auf glückliche Weise vom autoritären Trend in den meisten anderen, faschistisch gewordenen europäischen Staaten ab. Trotz Ausbleibens formaler Anpassungen an die neue Ideologie auf dem Gesetzgebungswege haben die Rechtsordnungen, je auf ihre Weise, reagiert und sich neu orientiert. In Deutschland wurde die Justiz, im Machtbereich des nationalsozialistischen Regimes, Schritt für Schritt in ihrer Funktionsfähigkeit eingeschränkt und ausgeschaltet. Die Gerichte wurden angehalten, die Gesetze mit Hilfe der von der Dogmatik entwickelten „neuen Rechtsmethodik“ im Lichte der nationalsozialistischen Ideologie nunmehr „final“, d. h. im Sinne der „Grundsätze des Nationalsozialismus“ zu interpretieren oder gar, im Fall nicht tolerierbarer Diskrepanzen, in sie korrigierend einzugreifen. Auf dem Wege der Interpretation wurde die Rechtsordnung durch die „Rechtsanwender“ grundlegend umgestaltet, ja – pointiert ausgedrückt – das geltende Recht über weite Teile aus den Angeln gehoben und durch die neue nationalsozialistische Ideologie ersetzt. Die schweizerische Rechtsprechung war durch Kontinuität gekennzeichnet. ¹³ Die großen Kodifikationswerke des Zivilrechts, die während dem Krieg unverändert fortbestanden, und das 1942 neu in Kraft getretene Strafgesetz wurden nach den herkömmlichen Methoden ausgelegt. Und die Verfassungsgerichtsbarkeit, die in der Schweiz seit je nur fragmentarisch – d. h. im Wesentlichen nur gegenüber den Kantonen – besteht, kam etwa bei der Überprüfung von neu vorgesehenen Eingriffen des Staates in die Freiheitsrechte der Bürger (z. B. Verbote von Parteien, Versammlungsverbote) ordnungsgemäß zum tragen. Eine bemerkenswerte Stellung nahm insbesondere die Rechtsprechung zum „ordre public“ ein. Worum ging es? Ab 1933 wurden die schweizer Gerichte mit dem nationalsozialistischen Unrecht direkt konfrontiert. Dabei stellte sich die Frage der Anwendung von

 Näheres bei Arthur Haefliger, Rechtsprechung der schweizerischen Gerichte auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts im Umfeld des nationalsozialistischen Unrechtsregimes und der Frontenbewegung, in: Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (Hrsg.), Bd. 18: Öffentliches Recht. Zürich 2001; Adolf Lüchinger, Rechtsprechung der schweizerischen Gerichte im Umfeld des nationalsozialistischen Unrechtsregimes auf dem Gebiet des Privatrechts, unter Einschluss des internationalen Zivilprozess- und Vollstreckungsrechts (Schwerpunkt „ordre public“), in: Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (Hrsg.), Bd. 19: Privatrecht. Zürich 200 l.

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NS-Recht bzw. der Anerkennung und Vollstreckung deutscher Urteile in der Schweiz. In diesen Fällen beriefen sich das Bundesgericht und die kantonalen Gerichte regelmäßig auf die „ordre public“-Klausel, um der nationalsozialistischen Gesetzgebung und Willkürjustiz die Beachtung in der Schweiz zu versagen. Die im System des Internationalen Privatrechts und des Internationalen Zivilprozessrechts verankerte „ordre public“-Klausel griff nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts dann ein, wenn „sonst das einheimische Rechtsgefühl in unerträglicher Weise verletzt würde“.¹⁴ Unter Berufung auf den „ordre public“ verhinderten die Gerichte die Vollstreckung von justitiellem NS-Unrecht in der Schweiz. Es ging dabei etwa um die Nichtanerkennung eines wegen Rassenzugehörigkeit ausgesprochenen Rücktritts von einem Vertrag, der Verweigerung einer Entschädigung wegen fristloser Entlassung, von NS-Zwangsverwaltungen über jüdische Unternehmen oder die Erbunfähigkeit von Juden im „Dritten Reich“. Konkrete Beispiele sind etwa die folgenden: ‒ Im Fall UFA gegen Thevag, den das Bundesgericht 1936/37 zu beurteilen hatte, weigerte sich z. B. das Gericht, ein vertragliches Rücktrittsrecht einer Film-Aktiengesellschaft wegen der „Rassenzugehörigkeit“ des Filmregisseurs Erich Löwenberg anzuerkennen: Eine solche Auslegung der streitigen Vertragsklausel widerspreche der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz als Grundsatz der schweizerischen Rechtsordnung (Art. 4 der Bundesverfassung) und verstoße somit klar gegen den schweizerischen „ordre public“. ‒ Im Fall Gustav Hartung gegen Volksstaat Hessen versagte das Bundesgericht mit Urteil vom 17. September 1937 der NS-Willkürjustiz die Vollstreckung eines Urteils in der Schweiz: Es betrachtete die Verweigerung einer Entschädigung an den Leiter der staatlichen Bühne in Darmstadt, der infolge des nationalsozialistischen Regimes fristlos entlassen wurde, als Verstoß gegen den „ordre public“ im Sinne des deutsch-schweizerischen Vollstreckungsabkommens. ‒ Auch weigerten sich die schweizerischen Gerichte, der NS-Zwangsverwaltung über jüdische Unternehmen rechtliche Wirkung in Bezug auf Vermögenswerte in der Schweiz zuzuerkennen. Deutlich zum Ausdruck gebracht wurde die „ordre public“-Widrigkeit der NS-Zwangsverwaltung im Urteil des Bundesgerichts vom 22. Dezember 1942 in Sachen Böhmische Unionbank gegen Heynau: Es handle sich dabei um eine Maßnahme, die in krassem Widerspruch zum Prinzip des Eigentumsschutzes und der Gleichheit als Grundnormen der schweizerischen Rechtsordnung stehe. Sie widerspreche sowohl dem Grundsatz der Anerkennung des

 Mit „ordre public“ bezogen sich, anders ausgedrückt, die Praxis und Lehre auf eine Klausel des Internationalen Privatrechts und des Internationalen Zivilprozessrechts, die es dem Richter gestattet, in Abweichung von den sonst geltenden Grundsätzen ausländisches Recht dann nicht anzuwenden und ausländische Urteile dann nicht zu vollziehen, wenn dies zu Resultaten geführt hätte, die das Rechtsempfinden schockiert oder – objektiv ausgedrückt – den Grundsätzen der Gerechtigkeit widersprochen hätten. Diese Klausel erlaubt es also dem Richter, sich – im Schutze der staatlichen Unversehrtheit und der richterlichen Unabhängigkeit – Unrecht in den Weg zu stellen, das dem Opfer eines ausländischen Regimes widerfahren wäre.

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Privateigentums, der die entschädigungslose Enteignung durch den Staat ausschließt, als auch dem Grundsatz der Rechtsgleichheit, der einen Eingriff in das Vermögensrecht einer Person einzig wegen ihrer „Rasse“ nicht zulässt. Nicht weniger konsequent urteilten die Gerichte hinsichtlich der Erbunfähigkeit von Juden im „Dritten Reich“. Im Fall des Nachlasses J., den das Obergericht des Kantons Zürich am 25. September 1942 zu beurteilen hatte, ging es um die Geltendmachung von Erbschaftsansprüchen in der Schweiz durch die in London wohnenden Nachkommen eines jüdischen Erblassers, der in Deutschland verstorben war. Die Erben hatten Vermögenswerte des Nachlasses in der Schweiz mit Arrest belegt und gegen die in Berlin wohnhaften Nachkommen auf Herausgabe ihres Erbanteils geklagt. Diese beriefen sich – höchst wahrscheinlich unter Druck der NS-Behörden – auf die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941, wonach Vermögen und Erbansprüche von ausgebürgerten Juden dem Reich zufielen. Das Obergericht des Kantons Zürich hieß die Klage gut mit der Begründung, diese Verordnung verstoße gegen das Gleichheitsprinzip als „Fundamentalsatz“ der schweizerischen Rechtsordnung („ordre public“) und sei somit für den Schweizer Richter unbeachtlich.

In der hier dargestellten Praxis vertraten die Gerichte also konsequent den Standpunkt, dass die antisemitische NS-Gesetzgebung als gegen alle Rechtsprinzipien verstoßendes „Un-Recht“ zu qualifizieren sei und deshalb in der Rechtspraxis keine Anwendung finden dürfe. Der Forderung nach elementarer Gerechtigkeit, wie sie im international-privatrechtlichen „ordre public“ enthalten ist, wurde somit in der schweizerischen Gerichtspraxis weitgehend Geltung verschafft.

2 Halt in Institutionen Inmitten des Krisen- und Kriegsgeschehens rund um das Land also nahmen Verfassungsentwicklung und Rechtsprechung in der Schweiz mehr oder weniger kontinuierlich und ungestört ihren Gang. Die Rechtswissenschaft erlebte in den Dreißigerjahren einen echten Höhepunkt. Gelehrte wie etwa Walther Burckhardt, Zaccaria Giacometti, Eduard His oder Dietrich Schindler schrieben bedeutsame theoretische und dogmatische Werke und unterrichteten an unseren Universitäten mit großer Ausstrahlung, ja wirkten darüber hinaus in die breite Öffentlichkeit. In vielfacher Hinsicht nahmen sie Themen und methodologische Auseinandersetzungen der Weimarer Staatsrechtswissenschaft auf, führten sie weiter, nachdem der Diskurs in Deutschland erloschen war, und bezogen sie auf schweizerische Verhältnisse. Die Justiz führte, in geschichtlicher Kontinuität, in Systematik und Begrifflichkeit ihr Eigenleben, indem sie die großen Kodifikationswerke des Privat-, Straf- und Staatsrechts nach konventionellen Methoden auslegte. Demgegenüber führt uns etwa Sebastian Haffner in seinem Buch Geschichte eines Deutschen plastisch vor Augen, wie er in Berlin 1933 als Referendar den Niedergang der großen, alten und stolzen Institution

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des Kammergerichts miterlebte. Das neue nationalsozialistische Senatsmitglied hielt – so die Schilderung Haffners – eloquent mit etwas zu lauter Stimme Vorträge darüber […], dass das alte Paragraphenrecht (nunmehr) zurückstehen müsse; seine alten Richterkollegen darüber belehrte, dass man auf den Sinn und nicht den Buchstaben blicken müsse: Hitler zitierte. [A]ber hinter diesem Gerede stand“, fährt Haffner fort, „jetzt die Staatsmacht; dahinter drohte Entlassung, wegen mangelnder nationalpolitischer Zuverlässigkeit, Brotlosigkeit, Konzentrationslager […] Man hüstelte; wir sind natürlich ganz Ihrer Ansicht, Herr Kollege, sagte man, aber Sie werden verstehen […]! Und man flehte um ein wenig Verständnis für das Bürgerliche Gesetzbuch und versuchte zu retten, was zu retten war“.¹⁵

Wir fragen nach den Gründen der Divergenz. Die Antwort liegt nahe, sie in einem moralischen Versagen zu suchen: Es hätte den Wissenschaftlern und Richtern Mut und Zivilcourage gefehlt. Die eben zitierte Passage zeigt aber, wie einfach und realitätsfern eine solche Beurteilung ist. Denn wie viel leichter muss es für einen Richter in einem Staat wie der Schweiz gewesen sein, im Rahmen der institutionell geschützten richterlichen Unabhängigkeit das Recht kontinuierlich zur Anwendung zu bringen? Und für den Wissenschaftler, im geschützten Raum der Forschung und Lehre mehr oder weniger ungestört durch Einwirkungen von außen das Geschehen zu analysieren und zu bewerten? Die Problematik lag nicht, auf jeden Fall nicht primär, beim „Versagen“ oder „Opportunismus“ einzelner Richter oder Wissenschaftler bzw. ihrer mangelnden „Standhaftigkeit“ und „Zivilcourage“. Im Zentrum steht, wie Bernhard Schlink darlegte, vielmehr die Einsicht, wie hilflos individuelle Moral ist, wenn Institutionen fehlen, in denen sie sich anerkannt wissen, an die sie appellieren und auf die sie rechnen können.¹⁶ Wir lenken unseren Blick also von der Subjektivität des Einzelnen auf die institutionell geschützten Freiheiten des geistigen Lebens, die das Fortleben einer offenen Wissenschaftstradition gestatten, oder die Garantien einer unabhängig funktionierenden Rechtspflege, welche die Justiz vor einer Instrumentalisierung durch die Inhaber der politischen Macht bewahrt. Und letztlich – ja vor allem – war es die Institution des Staates, dessen Unabhängigkeit und Souveränität die institutionell geschützte, die Menschen stützenden Freiräume im Innern absicherte. Die Schweiz konnte sich mit Glück und Geschick, vor allem auch mit Hilfe von Neutralitätsrecht und einer robust gehandhabten Neutralitätspolitik, aus dem Krieg heraushalten. Diese trugen mit dazu bei, dass sich die Staatlichkeit der Schweiz erhalten und das Rechtsleben im Innern des Landes sich weitgehend integer gestalten konnte.

 Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914– 1933. Stuttgart 2000, S. 177– l78.  Bernhard Schlink, Auf dem Eis. Von der Notwendigkeit und Gefahr der Beschäftigung mit dem Dritten Reich und dem Holocaust, in: Spiegel Spezial über die „Gegenwart der Vergangenheit“ 1, 2001, S. 18 ff.

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Insgesamt macht der „Fall Schweiz“ vielleicht auf besondere Weise deutlich, wie sehr – jenseits von Moral und Mentalitäten – Institutionen einschließlich der staatlichen Souveränität und innerstaatlich institutionell gesicherter Räume autonomer Gestaltung geeignet sind, Machtmissbrauch und Unrecht Schranken zu setzen. Dabei versteht sich, dass die institutionelle Architektur als solche die freiheits- und rechtssichernden Funktionen nur zu erfüllen vermag, wenn sie auch vom politischen Umfeld akzeptiert und getragen wird.

3 Fehlende und mangelhafte Strukturen der Rule of Law Ein besonderer Grund des Rechtsversagens im „Dritten Reich“ lag im Bereich der Normativität. Das mag auf den ersten Blick paradox erscheinen. Denn war es nicht, wie Michael Stolleis festhielt, auf den ersten Blick gerade eine überperfekte, bei näherem Zusehen aber perverse Inszenierung des Legalitätsprinzips, dass die nationalsozialistische Diktatur größtes Unrecht minutiös in rechtliche Vorschriften kleidete und diese getreu anwandte? „[S]ogar die ‚Nürnberger Gesetze‘ vom September 1935 konnten“, schrieb Stolleis, „von denen, die daran glauben wollten, als Schritt zur ‚Verrechtlichung‘ des Unrechts gedeutet werden.“¹⁷ Das Verwaltungsrecht garantierte „Rechtssicherheit“, Voraussehbarkeit und Präzision und war ein zuverlässiges Instrument in den Händen der Machthaber. Selbst die gravierendsten Verbrechen des Regimes – von der Errichtung von Ghettos und Konzentrationslagern bis zur Massentötung – erfolgten mit den Mitteln von Verwaltung und Verwaltungsrecht. Auch die Schweiz trug in Teilbereichen zum reibungslosen Funktionieren von Verwaltungsapparaten im „Dritten Reich“ bei. Nach dem Krieg war es dann aber gerade die im Rahmen der Bundesrepublik errichtete und entfaltete Verfassungsstaatlichkeit mit der ihr immanenten Idee der materiellen und formellen Rechtsstaatlichkeit und damit der Maßstäblichkeit des übergeordneten gegenüber dem einfachen Recht, die das deutsche Grundgesetz und seine Verfassungsgerichtsbarkeit zu einem Vorbild für viele Staaten werden ließ. Eine Schrankenfunktion entsprechend derjenigen des höheren Rechts nahm in der Praxis schweizerischer Gerichte funktionell, wenn auch nicht systemlogisch, die „ordre public“-Kontrolle von ausländischen Rechtsakten wahr. Es ist interessant, dass bei der Konfrontation mit dem nationalsozialistischen Un-Rechtssystem, die Maßstabsfunktion vor allem im internationalen Privatrecht und Zivilprozessrecht in Gestalt der „ordre public“-Klausel zum Tragen kam. Als „Notstandsklausel“ des Internationalen Privatrechts und Zivilprozessrechts schützte sie die jedem Rechtsstaat inhärenten Grundwerte wie persönliche Würde, Rechtsgleichheit und Willkürverbot. Der dezidierten Praxis der schweizerischen Gerichte zur „ordre public“-Klausel war es  Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, S. 335.

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zu verdanken, dass sich die schweizerische (Privat)Rechtsordnung dem nationalsozialistischen Un-Rechtsregime gegenüber weitgehend immun und resistent verhielt. Dies war umso bedeutsamer, als in den Ursprungsländern Verfassung und Völkerrecht diese Elementarfunktion der Gerechtigkeit nicht zu leisten vermochten. Damit kommen wir zu einem zweiten Aspekt der Rule of Law: ihrer Verankerung im Völkerrecht. ¹⁸ Eine grundsätzliche Erkenntnis allgemeiner Natur aus meiner Arbeit in der schweizerischen Historikerkommission war, dass ich dort eigentlich zu begreifen begann, wie rudimentär das Völkerrecht damals noch ausgestaltet war. Im damaligen Völkerrecht fehlten noch klar anerkannte Normen, die rassische und andere Menschengruppen vor Diskriminierung, Verfolgung, Isolierung, unmenschlicher Behandlung und Folter oder Tötung geschützt hätten. Allein in vereinzelten Regelungen – so vor allem in der Haager Landkriegsordnung von 1907 betreffend die Verwaltung kriegerisch besetzter Gebiete und in den Genfer Konventionen von 1929 zum Schutz von kranken und verwundeten Angehörigen von Streitkräften im Landund Seekrieg sowie zu Kriegsgefangenen – fanden sich, zum Schutze von Kriegsopfern, einschlägige Normen. Das Internationale Straftribunal von Nürnberg hatte zudem neben Kriegsverbrechen als schweren Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht auch „Verbrechen gegen die Menschheit“ als Teil des zu jener Zeit geltenden Völkerrechts anerkannt. Sonst war das Völkerrecht, seiner Struktur nach, damals noch ein Recht zwischen Staaten und gewährte den einzelnen Menschen grundsätzlich keinen eigenen Rechtsstatus. Auch fehlten seit dem faktischen Zusammenbruch des Völkerbundes weitgehend internationale, die Staaten kontrollierende Institutionen, die nationalstaatlichen Machtexzessen wirkungsvoll hätten entgegentreten können. Heute – nachdem der Einzelmensch ins Zentrum der Völkerrechtsordnung getreten ist und sich ein vielgestaltiges Gefüge internationaler und supranationaler Organisationen entwickelt hat – präsentiert sich die Völkerrechtslage freilich radikal verschieden. Es gehört mit zu den konstruktiven, normschöpferischen Folgen der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, die rasante Fortentwicklung des Völkerrechts begünstigt und abgelöst zu haben. Mit dem Nürnberger Tribunal (1945/46) und der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der UNO (1948) setzte nach Kriegsende ein qualitativer Sprung hin zu Entwicklungen ein,¹⁹ welche die internationale Rechts-

 Es ist ein Kennzeichen der modernen Rechtsentwicklung, dass internationale und nationale Systeme zusehends ineinander überfließen. Richard Posner spricht von einer „convergence of legal systems“, die allerdings langsamer ablaufe als bei wirtschaftlichen und technologischen Systemen; vgl. Richard A. Posner, Frontiers of Legal Theory. Cambridge (Mass.)/London 2001, S. 157.  Hierzu Daniel Thürer, Neuere Entwicklungen der internationalen Strafgerichtsbarkeit, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht als Fortschritt und Chance. Grundidee Gerechtigkeit, Bd. 2. Zürich/Baden-Baden 2009, S. 917 ff.

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ordnung in Verbindung mit nationalen Rechtssystemen Schritt für Schritt, Stufe für Stufe in ihrer ganzen Gestalt transformierte.²⁰ Ich hatte bei meiner Arbeit über den Zweiten Weltkrieg den Eindruck, dass manche Nichtjuristen unter meinen Kollegen die Dynamik der normativen Entwicklung nicht adäquat wahrnahmen. Während es im rechtlichen Denken selbstverständlich ist, sich bei der Beurteilung von Sachverhalten, die in der Vergangenheit liegen, zunächst in die Welt der damals geltenden Normen zurück zu versetzen und sich vorzustellen, wie ein Richter nach dem damals geltenden Recht und Rechtsverständnis geurteilt hätte, schienen mir viele andere Beobachter versucht zu sein, Vorgänge nach Normen, Standards und Philosophien zu beurteilen, die seinerzeit nicht in Geltung standen, und somit damals Handelnden ein Wissen zu unterstellen, das sie nicht hatten und nicht haben konnten. Es scheint mir aber methodisch falsch zu sein, Sachverhalte, die in der Vergangenheit liegen, allein nach Maßstäben zu beurteilen, die sich erst im Nachhinein zu etablieren begannen. Das war aber, wie ich meine, eine gängige Praxis unter vielen Kommentatoren, die über die damaligen Verhältnisse, Handlungen und Personen später ihr moralisches Urteil abgaben. Die im Vergleich von damaligem und heutigem Recht vielleicht wichtigste Erkenntnis also ist, wie wenig seinerzeit die internationale Rule of Law entwickelt war und wie sehr die Fragen, von denen hier die Rede war, heute international – d. h. in der Sphäre des Völkerrechts – zusammenlaufen. Erst in der Folge des Zweiten Weltkriegs kam es zum Durchbruch, wonach nicht nur Staaten, sondern auch Individuen einen internationalen Status besitzen, also auch auf der internationalen Ebene Rechte innehaben und zur Rechenschaft gezogen werden können, dies oft in Verbindung der staatlichen Anordnungen. Es ist interessant, dass in der Schweiz bei der Konfrontation mit dem nationalsozialistischen Un-Rechtssystem diese Maßstabsfunktion des übergeordneten Rechtsgedankens vor allem auf der einfachgesetzlichen nationalen Ebene zum tragen kam: dies in Gestalt der „ordre public“-Klausel, die sich in der bundesgerichtlichen Praxis zusehends aus einer nationalen Betrachtung herauslöste (die Rede war anfänglich etwa von Verstößen gegen die Grundlagen des „schweizerischen Rechts“ oder gegen das „schweizerische Rechtsempfinden“) und erst später als gemeinsamer Kristallisationspunkt von fundamentalen Prinzipien nationaler Rechtssysteme wie auch des Völkerrechts erschien.

4 Nachbemerkungen: Bewertung im Rückblick Arbeit und Arbeitsweise der Historikerkommission „Schweiz – Zweiter Weltkrieg“ waren in der „Geschichte der Geschichtsschreibung“ der Schweiz gewiss ein wichti Vgl. etwa die drei Bände von Daniel Thürer, Kosmopolitisches Staatsrecht. Grundidee Gerechtigkeit. Zürich/Berlin 2005; ders., Völkerrecht als Fortschritt und Chance. Grundidee Gerechtigkeit. Zürich/Baden-Baden 2009 und ders., Europa als Erfahrung und Experiment. Grundidee Gerechtigkeit. Zürich/Baden-Baden 2015.

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ges Ereignis. Anlass ihrer Einsetzung war zwar primär nicht ein erhabenes wissenschaftliches Ziel, nämlich die Ambition, Erkenntnisse über die jüngste Vergangenheit des Landes als solche zu gewinnen, sondern das Bedürfnis des Bundesrates, inmitten der Attacken von außen und innen Zeit, Ruhe und Übersicht zu gewinnen. Dennoch haben die Veröffentlichungen der Kommission einen großen wissenschaftlichen Eigenwert erlangt. Die Unabhängige Expertenkommission war – dies ist meine konkrete Erinnerung – in der Lage, ihre Arbeit unabhängig von Rechenschaftspflichten, Überwachungen und Erwartungsdruck von Seiten der Regierung zu erfüllen. Auch andere Einflussnahmen von außen waren nicht zu verzeichnen. Ein in der Phase der Konstituierung eingebrachter Vorstoß, den ehemaligen Außenminister der Vereinigten Staaten, George Shultz, als Präsidenten einzusetzen, blieb ohne Folgen; eine solche Besetzung hätte zumindest die Wahrnehmung der Unabhängigkeit der Kommission, das heißt ihre wissenschaftliche und (innenpolitische) Glaubwürdigkeit stark beeinträchtigt. Ein vom amerikanischen Unterstaatssekretär Stuart Eizenstat 1998 veröffentlichter Bericht, in dem er die Neutralität des Landes anzweifelte,²¹ wurde wissenschaftlich und in der politischen Öffentlichkeit der Schweiz eingehend diskutiert und dann vom Autor in wesentlichen Punkten revidiert, entfaltete jedoch keine direkte Wirkung auf die Kommissionsarbeit. Wie ist heute der wissenschaftliche Stellenwert der Arbeiten der Historikerkommission zu würdigen? Die Bergier-Kommission und die mehr als fünfzig teils in Vollzeit, teils in Teilzeit angestellten wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mussten natürlich nicht bei Punkt Null beginnen. Bedeutsame Forschungen lagen bereits vor. Ich denke etwa an das zehnbändige Werk von Edgar Bonjour über die Geschichte der schweizerischen Neutralität, dessen letzte Bände sich mit der schweizerischen Neutralität im Zweiten Weltkrieg befassten.²² Bereits 1957 hatte der Basler Jurist Carl Ludwig zu Händen des Bundesrates einen Bericht über die Flüchtlingsfrage verfasst.²³ Und wichtige andere, neu orientierte wissenschaftliche For-

 Vgl. Stuart E. Eizenstat, U.S. and Allied Wartime and Postwar Relations and Negoziations with Argentina, Portugal, Spain, Sweden, and Turkey on Looted Gold and German External Assets and U.S. Concerns about the Fate of the Wartime Ustasha Treasury. Washington D.C. 1998. Ich hatte die Gelegenheit anlässlich eines amerikanisch-schweizerischen Seminars im Nationalratssaal am 20. Juni 1992 hierzu einen Vortrag zu halten. Vgl. Daniel Thürer, Zur Neutralität der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und den daraus zu ziehenden Lehren – ein Vortrag, in: Bernhard Ehrenzeller [u. a.] (Hrsg.), Der Verfassungsstaat vor neuen Herausforderungen. Festschrift für Yvo Hangartner. St. Gallen/Lachen 1998, S. 95 – 107. Grundsätzlich und klärend zur damaligen völkerrechtlichen Situation Detlev Vagts, Switzerland. International Law and World War II, in: American Journal of International Law 91, 1997, S. 46 ff.  Vgl. Edgar Bonjour, Geschichte der schweizerischen Neutralität, Bd. IV/V/VI. Basel 1971.  Vgl. Carl Ludwig, Die Flüchtlingspolitik der Schweiz in den Jahren 1933 – 1955. Bericht an die eidgenössischen Räte. Bern 1957.

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schungen lagen bereits vor.²⁴ Der Bergier-Bericht hatte, so meine Wahrnehmung, keine grundlegend neue Territorien – eine „terra incognita“ – erschlossen, in den von seinem Mandat erfassten Gebieten aber doch sachlich und detailliert wesentliche Informationen zusammengetragen, systematisch analysiert und bewertet, außerdem Zusammenhänge sichtbar gemacht. Es handelt sich aber – entgegen der überrissenen Umschreibung des Schlussberichts mit dem Titel „Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg“²⁵ – nicht um eine umfassende Darstellung, waren doch viele zentrale Fragen wie die Rolle der politischen und geistigen Landesverteidigung, die Aktivitäten zur militärischen Landesverteidigung oder das Wirken etwa von Kultur und Kirchen mit ihrem Eigenleben und in ihrer Vernetzung als solche vom Mandat nicht erfasst. Es bleibt für die Aufarbeitung der Thematik für eine jüngere Generation noch viel zu tun. Auch blieb die von vielen erwartete erzieherische Breitenwirkung auf die Öffentlichkeit weitgehend aus. Von einer Katharsis im öffentlichen Bewusstsein war nicht die Rede. Für die Schule erschien eine didaktisch konzipierte Kurzfassung des Schlussberichts, die zu einer Vertiefung der Kenntnisse über den Zweiten Weltkrieg und die Rolle, welche die Schweiz spielte, im Geschichtsunterricht führte. Diejenigen, die glauben, dass Politiker und Völker durch Bestrebungen zur „Bewältigung“ der Vergangenheit für die Gestaltung der Zukunft wesentliches lernen, sind allerdings enttäuscht darüber, dass die seinerzeit rund um die Kommissionsarbeit entflammte Flüchtlingsdiskussion auf die heute aktuellen, europäischen und weltweiten Herausforderungen der Migration, wie ich meine, kaum einen Einfluss haben.²⁶ Bedeutsam ist, dass die Kommissionsarbeiten die Politik schnell versachlicht und die Aufgabe der Aufarbeitung der Vergangenheit in weite Kreise getragen hatten, dies nicht nur durch öffentliche Veranstaltungen und Medienberichte im ganzen Land, sondern auch etwa dadurch, dass die mit administrativen Durchsetzungsmitteln ausgestatteten Mitarbeiter Archive von Banken, Versicherungen oder Treuhandbüros durchforschten und damit auch Stellungnahmen von Verantwortlichen von Finanz und Wirtschaft in die Arbeiten der Kommission miteinbrachten. Insbesondere wurde das politische Leben im Land beruhigt, was maßgeblich auch durch das fragmentierte methodische Vorgehen der Kommission bedingt war. Detaillierte Ein-

 Ich denke etwa an Hans Ulrich Jost, Bedrohung und Enge 1914– 1945, in: Geschichte der Schweiz und der Schweizer (betreut vom ,Comité pour une Nouvelle Histoire de la Suisse), Bd. III. Basel 1983, S. 101 ff.  Unabhängige Expertenkommission, Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Schlussbericht. Zürich 2002.  Die Schweiz hatte im Zweiten Weltkrieg 300.000 Juden permanent oder temporär Zuflucht gewährt, aber auch 30.000 Juden die Aufnahme verweigert. Die Offenheit war unter damaligen machtpolitischen Verhältnissen und im internationalen Vergleich betrachtet beachtlich, doch wurde im Rückblick zu Recht der Ruf laut, die Schweiz hätte im Kampf gegen die humanitäre Katastrophe der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik mehr unternehmen können und sollen und müsse sich in Zukunft solidarischer verhalten. Es ist ernüchternd zu beobachten, wie grundlegende Arbeiten der BergierKommission aus dem Bewusstsein der heutigen Öffentlichkeit praktisch verschwunden sind.

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zelstudien nicht nur zur Flüchtlingsfrage und zu Goldhandel oder Raubkunst, sondern auch zu eher technischen Gegenständen etwa Clearing, Energieversorgung, Eisenbahnverkehr usw. brachten Struktur und Sachlichkeit in die aufgewühlte öffentliche Meinung. Konfrontation und Spannungen wurden abgebaut, und es wurde wieder ruhiger im Lande. Ich war als Jurist in die Kommission berufen worden und war insofern, so könnte man sagen, ein „Außenseiter“, ein „Amateur“ im Kreise von Fachhistorikern. Ich lernte viel über den distanzierenden und damit objektivierenden Orientierungswert des historischen Denkens, habe aber auch die Erfahrung gemacht, dass Juristen weniger als Nichtjuristen der Gefahr ausgesetzt sind, spätere Entwicklungen leichterhand in frühere Zustände hinein zu projizieren. Denn es gehört zu unserem Handwerk im Bereich des „intertemporalen Rechts“, in der Vergangenheit liegende Ereignisse und Vorgänge als solche zu rekonstruieren und sie zunächst an den damaligen Wertund Ordnungsmaßstäben zu messen. Insofern erachtete ich es auch als eine Aufgabe des Juristen, damals in Ungewissheit und unter enormen Zwängen Handelnde gegenüber pauschalen moralisierenden Vorwürfen in Schutz zu nehmen, die später Geborene unter Berufung auf Maßstäbe einer nunmehr gewandelten, modernen Welt unbesehen und ohne die die erforderliche Imagination auf die Welt der damaligen, komplexen Wirklichkeit zu übertragen. Dabei habe ich von meinen Historiker-Kollegen gelernt, wie fließend die geistigen und tatsächlichen Entwicklungen verliefen und wie sorgfältig und differenziert sie von Fall zu Fall, von Situation zu Situation analysiert und bewertet werden müssen. Eine Gefahr, der wir Juristen (und viele Sozialwissenschaftler) ausgesetzt sind, ist es, abstrakte theoretische und dogmatische Schemen über eine Wirklichkeit zu stülpen, die viel komplexer, also „krumm“ und vielfältig und nicht einförmig ist. Im Nachhinein frage ich mich auch, ob die Kommission nicht insgesamt viel breiter, pluralistischer hätte zusammengesetzt werden sollen. Haben nicht zum Beispiel Wirtschaftswissenschaftler mit ihrem spezifischen Sachverstand gefehlt? Oder: hätten – dies eine andere mögliche Lücke – nicht etwa Sozialpsychologen die Arbeit erleichtern können? Ich denke etwa an Thematisierungen von politischen Selbstverständnissen von Volk und Behörden oder an das Phänomen der Angst vor existenzieller Bedrohung, wie sie – faktisch begründet oder imaginär, spontan oder geschürt – im Bereich der Außen- oder Verteidigungspolitik oder etwa im Zusammenhang mit der Flüchtlingsfrage in Erscheinung traten. Hätte die Kommission nicht auch, ganz allgemein betrachtet, als Katalysator, als Anstoß für eine Reform der wissenschaftlichen Praxis wirken können, indem sie im Zustand heilloser, steriler Spezialisierung und Parzellierung des modernen Wissenschaftsbetriebs bei der Wahrnehmung ihres Auftrags verschiedene Methoden und Traditionen der geistesund sozialwissenschaftlichen Forschung besser hätte zusammenführen können? Hätte man, in diesem Lichte gesehen, nicht für die Öffentlichkeit auch sichtbar machen und demonstrieren können, wie wichtig koordinierte, verantwortliche wissenschaftliche Arbeit für eine rationale Gestaltung des öffentlichen Zusammenlebens ist?

Lutz Klinkhammer

Der „Schrank der Schande“ und das „Vergessen“ eines Bürgerkriegs. Der Untersuchungsausschuss des italienischen Parlaments zur Aufdeckung der Nichtverfolgung von nationalsozialistischfaschistischen Gewaltverbrechen 1 Die Büchse der Pandora öffnet sich Geschichtswissenschaftliche Publikationen und politische Ereignisse bedingen sich selten gleichzeitig, dazu ist die Inkubationszeit für tiefergehende historische Rekonstruktionen zu lang. Doch sie können sich gegenseitig verstärken: Dies war in der ersten Hälfte der 1990er Jahre der Fall, als sich die Aufmerksamkeit von Historikern, Juristen, Politikern und Journalisten fast zeitgleich auf die Massaker richtete, die von deutschen Truppen in Italien während der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft zwischen Sommer 1943 und Kriegsende 1945 begangen worden waren.¹ Am Anfang dieser Debatte stand daher auch nicht das Strafverfahren gegen Erich Priebke, das mit 50 Jahren Verspätung im Jahr 1996 in Rom begann und einen hohen massenmedialen Verstärkereffekt hatte, sondern die Aktivitäten eines Juristen (des Staatsanwalts Paolo Albano), eines außeruniversitären Forschungsinstituts (das Hamburger Institut für Sozialforschung), einer Kommunalverwaltung (der des Örtchens Guardistallo in der Toskana) und mehrerer engagierter Historiker (in der Bundesrepublik insbesondere Gerhard Schreiber und vermutlich der Verfasser, in Italien Leonardo Paggi und Paolo Pezzino), die alle unabhängig voneinander agierten, doch gleichwohl dazu beitrugen, dass ein Prozess der öffentlichen Aufarbeitung einer schmerzhaften Vergangenheit in Gang gebracht wurde. Ende der 1990er Jahre wurde der Rechtsanwalt Joachim Lau aktiv, was wiederum sensible Entscheidungen der Justiz verursachte und Handlungen von beträchtlicher Tragweite auf der politischen Ebene zur Folge hatte. Dass sich unabhängig von diesen Brennpunkten seit den 1980er Jahren gleich eine Reihe jüngerer deutscher Historiker und Historikerinnen in ihren Qualifikationsarbeiten mit den deutsch-italienischen Beziehungen im Zweiten Weltkrieg beschäftigte, geht zum guten Teil auf die nachhaltigen Impulse und Anre-

 Eine Tagung, die Ivan Tognarini 1987 in Arezzo organisierte, hatte hingegen noch keine weiterreichende Wirkung. Offensichtlich war das gesellschaftliche Klima noch nicht bereit zur Rezeption des Themas. Der Tagungsband wurde publiziert unter dem Titel: Ivan Tognarini (Hrsg.), Guerra di sterminio e resistenza. La provincia di Arezzo (1943 – 1944). Neapel 1990. https://doi.org/10.1515/9783110541144-011

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gungen zurück, die von Jens Petersen am Deutschen Historischen Institut in Rom hellsichtig formuliert und über die damals von Wolfgang Schieder geleitete Arbeitsgemeinschaft für die neueste Geschichte Italiens an die Nachwuchswissenschaftler in Deutschland vermittelt wurden. Als 1990 Gerhard Schreibers bahnbrechende Darstellung zu den italienischen Militärinternierten erschien, in der die völkerrechtswidrige Behandlung der früheren italienischen Kampfgefährten durch die Wehrmacht wissenschaftlich fundiert und umfassend beschrieben wurde,² löste sie vor allem empörte private Reaktionen ehemaliger Kriegsteilnehmer aus, die den Verfasser als Nestbeschmutzer beschimpften und an Leib und Leben bedrohten.³ Damit war von einem (west‐)deutschen Wissenschaftler (deutlich vor der Hamburger „Wehrmachtsausstellung“, die in erster Linie Osteuropa behandelte) die Legende der „sauberen Wehrmacht“ für den italienischen Kriegsschauplatz in Frage gestellt worden.⁴ Im gleichen Jahr, 1990, eröffnete der aus Molise stammende Staatsanwalt Paolo Albano, der über die Hobbyhistoriker Giuseppe Agnone und Giuseppe Capobianco historische Unterlagen erhalten hatte,⁵ seine Ermittlungen zu dem Massaker am Monte Carmignano, das am 13. Oktober 1943, in der Nacht vor dem Rückzug der Wehrmacht aus dem Tal des Volturno, in der Nähe von Caiazzo, verübt worden war.⁶ Im Oktober 1990 erhielt Albano über Interpol die Adresse des ehemaligen Wehrmacht-Leutnants Wolfgang Lehnigk-Emden und dank einer intensiven Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft Koblenz konnte der am 16. Oktober 1992 verhaftete Hauptbeschuldigte, gegen den der Untersuchungsrichter in Santa Maria Capua Vetere am 17. Juni 1992 Haftbefehl erhoben hatte, in Anwesenheit des italienischen Staatsanwalts einvernommen werden. Nun setzte auch eine öffent-

 Gerhard Schreiber, Die italienischen Militärinternierten im deutschen Machtbereich 1943 – 1945. Verraten – verachtet – vergessen. München 1990 (= Beiträge zur Militärgeschichte, 28). Als eine Art Vorankündigung kann der Artikel angesehen werden, den Schreiber am 3./4.9.1988 in der Süddeutschen Zeitung publizierte und in dem er den Verantwortlichen in der Wehrmacht „Lüge,Wortbruch und arglistige Täuschung“ gegenüber den Italienern vorwarf.  Mündliche Mitteilung des jüngst verstorbenen Gerhard Schreibers an den Vf. dieses Beitrags. Man kann sich unschwer vorstellen, welchen Behinderungen die Forschung in den Jahrzehnten zuvor ausgesetzt war, wenn selbst in den 1990er Jahren noch Überreste einer solchen gesellschaftlichen Verweigerungshaltung zu spüren waren. Noch als am 22.4.1997 mein Artikel „Morgengrauen in der Toskana“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung publiziert wurde, gab es Protestschreiben denunziatorischen Charakters, die an den Rektor der Universität zu Köln, an der ich damals beschäftigt war, geschickt wurden.  Besonders einflussreich war bereits die gut recherchierte, publizistische Abrechnung mit der deutschen Besatzungsherrschaft, die Erich Kuby 1982 vornahm und in der zwar das Schicksal der italienischen Militärinternierten angesprochen wurde, die Massaker an der Zivilbevölkerung aber noch nicht im Zentrum standen: Erich Kuby, Verrat auf Deutsch. Wie das Dritte Reich Italien ruinierte. Hamburg 1982, S. 295 ff.  Giuseppe Agnone/Giuseppe Capobianco, La barbarie e il coraggio. Riflessioni sul massacro nazista dei S.S. Giovanni e Paolo – 13 ottobre 1943. Neapel 1990.  Paolo Albano/Antimo Della Valle, La strage di Caiazzo 13 ottobre 1943. La caccia ai criminali nazisti nel racconto del Pubblico Ministero. 3. Aufl. Mailand 2014, S. 131 ff.

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liche Auseinandersetzung ein, vor allem die italienische Presse berichtete über den Fall. Gleichzeitig erschien die italienische Übersetzung von Schreibers Werk. 1993 initiierte der Historiker Leonardo Paggi, dessen Vater im Beisein des dreijährigen Sohnes von deutschen Soldaten in Civitella di Val Chiana am 29. Juni 1944 erschossen worden war, eine großangelegte wissenschaftliche Tagung, die in Arezzo und Civitella stattfand und an der – neben jungen Historikern wie Carlo Gentile und Lutz Klinkhammer – mit Christopher Browning, Michael Geyer, Charles Maier und Arno Mayer einige der renommiertesten Experten für deutsche Geschichte aus den USA teilnahmen. Im Juni 1994, 50 Jahre nach den Ereignissen, wurden die Massaker der Wehrmacht erstmals Gegenstand einer wissenschaftlichen Tagung. Bevor die Hamburger Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941– 1944“ ab 1995 in verschiedenen deutschen Städten gezeigt wurde und ein enormes Medienecho sowie teilweise kontroverse Reaktionen hervorrief, waren in Italien Teile der Öffentlichkeit bereits für die Thematik sensibilisiert worden.⁷ Nach Abschluss der Tagung mit dem bezeichnenden Titel „In Memory“ brachte Paolo Pezzino einige der Referenten aus Arezzo direkt in das toskanische Städtchen Guardistallo, wo aufgrund des historischen Interesses der Kommunalverwaltung aus Anlass des 50. Jahrestags des Massakers vom 29. Juni 1944 ein erheblich kleinerer, doch nicht minder zukunftsträchtiger Kongress stattfand. Aufgrund der örtlichen Konflikte um die Verantwortlichkeiten für dieses Massaker und die Rolle der Partisanen – ein sehr früher Lösungsversuch für einen „Krieg der Erinnerungen“, wie er auf nationaler Ebene erst etwas später massiv ausbrach – war Pezzino von der Kommunalverwaltung beauftragt worden, die historische „Wahrheit“ festzustellen.⁸ Einer Aufgabe, der er erst einmal mit dem klassischen Instrument einer wissenschaftlichen Tagung, auf der der Forschungsstand bilanziert wurde, nachkam. Auch in Deutschland wuchs derweil das Wissen um die von der Wehrmacht an der Zivilbevölkerung in Italien verübten Verbrechen. Durch einen Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz im Jahr 1993 erzwungen, kam es 1994 zu dem Verfahren gegen Wolfgang Lehnigk-Emden. Der Siebzigjährige stand vor der Jugendstrafkammer, weil er zum Zeitpunkt der Tat das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte. Die lokale und regionale Presse berichtete über den Fall. Gerhard Schreiber hatte für die Staatsanwaltschaft ein umfangreiches Gutachten erstellt, Alfred De Zayas eines für die Verteidigung. Vom Vorsitzenden des Landgerichts wurde ich daraufhin mit einem vergleichenden Gutachten beauftragt, das ich in der Hauptverhandlung im Januar 1994 in Koblenz in Anwesenheit des Angeklagten und seiner Verteidiger vortrug. Der

 Der Begleitband zur Hamburger Ausstellung, auch wenn sie Italien nicht behandelte, enthielt denn auch einen Beitrag zu Civitella aus der Feder von Michael Geyer, „Es muß daher mit schnellen und drakonischen Maßnahmen durchgegriffen werden“. Civitella in Val di Chiana am 29. Juni 1944, in: Hannes Heer/Klaus Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941– 1944. Hamburg 1995, S. 208 – 238.  Als ein Ergebnis dieser Auftragsarbeit erschien später die Publikation von Paolo Pezzino, Anatomia di un massacro. Controversia sopra una strage tedesca. Bologna 1997.

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Fall Lehnigk-Emden wurde dennoch wegen Verjährung eingestellt, das Urteil vom Bundesgerichtshof 1995 bestätigt. Die funktionale Beteiligung an einem Verfahren wegen mehrfachen Mordes, das ich aus der Perspektive eines Sachverständigen des Gerichts miterlebte, hat einen nachhaltigen Eindruck auf mich gemacht, zugleich aber meine Skepsis wachsen lassen, was die Rolle des Historikers in offiziellen Straf- und Ermittlungsverfahren angeht. Denn als Sachverständiger ging es nicht darum, auf eine historische Fragestellung zu antworten und die Leitfragen selbst zu entwickeln, sondern auf eine präzise, teilweise aus der historischen Perspektive sogar wenig sinnhafte Frage gewissermaßen als „Techniker der Justiz“ zu antworten. Damit wird fast notwendigerweise eine Lenkung der Blickrichtung des historischen Produktes durch den externen Auftraggeber hervorgerufen. Auch der Historiker vor Gericht hat daher den Spielregeln einer Auftragsforschung zu folgen, die im Gegensatz zur frei gewählten und frei gestalteten individuellen Forschungsarbeit steht. Das Verfahren gegen Lehnigk-Emden bedeutete dennoch einen Bruch mit der Vergangenheit. 45 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik war es das erste Verfahren, in dem sich ein NS-Täter aus den Reihen der Wehrmacht den von ihm angeordneten Tötungen von italienischen Zivilisten vor einem bundesdeutschen Gericht in einer Hauptverhandlung zu stellen hatte. Auch für Italien war das Verfahren, das Paolo Albano vor dem territorial zuständigen Gericht in S. Maria Capua Vetere anstrengte, von grundsätzlicher Bedeutung: Dort wurde zum ersten Mal seit Kriegsende ein deutscher Wehrmachtsangehöriger vor ein ordentliches italienisches Strafgericht – und nicht vor ein Militärgericht! – gebracht (auch wenn es nur in Abwesenheit des Angeklagten war, eine strafprozessuale Möglichkeit, die in Italien besteht). Damit begann das, was ich als „italienische Anomalie“ in Europa bezeichnen würde: Zu einem Zeitpunkt, als alle europäischen Staaten die NS- und Kriegsverbrecher längst begnadigt oder freigelassen hatten, fing in Italien eine neue Prozesswelle an. Der Zweite Weltkrieg, ein Krieg, den man in Bonner und Berliner Amtsstuben längst beendet zu haben glaubte, wurde nicht nur in der historischen Erinnerung, sondern vor den Schranken des Gerichts, wieder wachgerufen! Doch bevor der Konflikt um die justizielle Zuständigkeit für diesen und andere Fälle in Italien eskalierte, bereitete die Geschichtsschreibung in Deutschland wie Italien den Boden für eine gesellschaftliche Akzeptanz weiterer Prozesse vor. 1995 stellte Friedrich Andrae das Vorgehen der Wehrmacht gegen die italienische Zivilbevölkerung in das Zentrum seiner auf größere Verbreitung angelegten Studie. Andrae hatte sich zum Ziel gesetzt, mit Kriegslegenden aufzuräumen. Bewusst wollte er „nur vor der eigenen Tür“ kehren und „sich dem Argument (verweigern), die anderen seien nicht besser gewesen“.⁹ Andrae dürfte es nicht so sehr um einen Beitrag zur fachwissenschaftlichen Diskussion, als um ein Aufrütteln der deutschen Öffent Friedrich Andrae, Auch gegen Frauen und Kinder. Der Krieg der deutschen Wehrmacht gegen die Zivilbevölkerung 1943 – 1945. München 1995, S. 9. Eine italienische Übersetzung bei dem früheren Parteiverlag der Kommunisten, den Editori Riuniti, folgte rasch: Friedrich Andrae, La Wehrmacht in Italia. La guerra delle forze armate tedesche contro la popolazione civile 1943 – 1945. Rom 1997.

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lichkeit gegangen sein. Daher ging er auch in sehr pointierten Thesen davon aus, dass die Wehrmacht – insbesondere der Oberbefehlshaber Kesselring – einen Krieg gegen die Zivilbevölkerung geführt habe, was zahlreiche, brutalste Massaker an Frauen und Kindern verursacht habe. Zwar konnte sich Andrae dabei zum Teil auf fachwissenschaftliche Studien beziehen,¹⁰ doch die durchweg intentionale Deutung der Geschehnisse und der Kampf gegen die Legende vom „unbefleckten Schild der Wehrmacht“, wie sie in den Memoiren der Generäle in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu finden war, lassen diese Schrift als Vorläufer der Hamburger Ausstellung „Vernichtungskrieg“ erscheinen. Die Grundthese des Bandes lässt sich besonders deutlich an Formulierungen wie der folgenden ablesen: „Die Wehrmacht ist wie bei den Mordaktionen in Polen, Russland, auf dem Balkan auch in Italien immer dabei. Und nicht nur, wenn es sich um die Massentötung von Juden in Babi Jar, oder um die Einrichtung von Ghettos oder den langsamen Tod russischer Kriegsgefangener handelt, auch Willkürübergriffe gegen die Zivilbevölkerung der besetzten Gebiete Europas gehören überall zu ihrem Metier.“¹¹ Andraes Buch hatte jedoch auch für die Fachwissenschaft wichtige Folgen: Zum einen wurden dort in einer in deutscher Sprache bislang unbekannten Ausführlichkeit die Massaker beschrieben, die deutsche Truppen in Mittelitalien 1943/44 verübt hatten und dazu auch neues Archivmaterial benutzt. Zum zweiten entriss der Autor die sehr ausführliche ältere italienische Lokalgeschichtsschreibung, die oftmals von Journalisten, Lehrern oder Rechtsanwälten betrieben worden war, dem Vergessen. Eine Reihe von „vergessenen“ Massakern kam plötzlich wieder an die Öffentlichkeit.¹² Nur wenige deutsche Verbrechen waren nämlich konstant in der gesamtitalienischen Erinnerung wachgehalten worden und hatten dadurch den Charakter von nationalen Orten des Gedächtnisses für die Verbrechen der NS-Besatzungszeit erhalten. Diese Wahrnehmung der Dimensionen des Grauens verstärkte sich noch mit Gerhard Schreibers zusammenfassender und zugleich publikumswirksamer Darstellung „Deutsche Kriegsverbrechen in Italien“,¹³ so dass in dem von Gerd Ueberschär herausgegebenen Sammelband „Orte des Grauens“, der das nationalsozialistisch besetzte Europa im Blick hat, die Massaker der Deutschen in Italien an mehreren exemplarischen Fällen thematisiert wurden.¹⁴

 Unter anderem auf Lutz Klinkhammer, Zwischen Bündnis und Besatzung. Das nationalsozialistische Deutschland und die Republik von Salò 1943 – 1945. Tübingen 1993, vor allem Kap. VIII.  Andrae, Auch gegen Frauen und Kinder, S. 248.  So war das brutale Massaker von Pietransieri – trotz einer Reihe von lokalen Darstellungen und trotz eines Besuchs des Staatspräsidenten Ende der 1960er Jahre – in Italien völlig in Vergessenheit geraten.  Gerhard Schreiber, Deutsche Kriegsverbrechen in Italien. Täter, Opfer, Strafverfolgung. München 1996. Vgl. auch den früheren, allerdings unvollkommenen Versuch des italienischen Publizisten Ricciotti Lazzero, eine solche Chronologie der Massaker vorzulegen: Il sacco d’Italia. Razzie e stragi tedesche nella Repubblica di Salò. Mailand 1994.  Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Orte des Grauens. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Darmstadt 2003. Italien ist mit einer ganzen Reihe von Beiträgen (Carlo Gentile, Steffen Prauser, Gerhard Schreiber)

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Als der ehemalige SS-Hauptsturmführer Erich Priebke, leitender Polizeibeamter im „Außenkommando Rom der Sicherheitspolizei und des SD“ 1943/44 und Todesschütze bei dem Massaker vom 24. März 1944 in den römischen Fosse Ardeatine, nach seiner Enttarnung in Argentinien 1996 von dort aus nicht nach Deutschland, sondern nach Italien ausgeliefert wurde, kam mit dieser Überstellung eines NS-Täters aus den Reihen der Polizei ein Reflexionsprozess in Gang, der nicht nur im Gerichtssaal, sondern vor allem in der Öffentlichkeit stattfand und der auch auf die Geschichtsforschung rückwirkte. Erst jetzt wurde es der italienischen Öffentlichkeit mit aller Macht bewusst, dass eine Ahndung deutscher Kriegsverbrechen in Italien seit Jahrzehnten weitgehend ausgeblieben war. Die Mehrzahl der Massaker an italienischen Zivilisten, die während der Besatzungsmonate verübt worden waren, waren zugunsten der beiden Symbol-Orte Marzabotto/Monte Sole und Fosse Ardeatine weitgehend verdrängt oder ganz vergessen worden.¹⁵ Obgleich noch im Jahr 1944 mit der United Nations War Crimes Commission (UNWCC) ein Apparat aufgebaut worden war, der auch der Ahndung solcher Kriegsverbrechen dienen sollte, wurden nur wenige deutsche Soldaten oder Waffen-SSMänner für ihre Taten in Italien vor einem Gericht zur Rechenschaft gezogen.¹⁶ Zwar

unter einem makroskopischen Aspekt in diesem Band fast schon überproportional vertreten. Dies spiegelt den in der Zwischenzeit erreichten ausgezeichneten Forschungsstand zu den deutschen Kriegsverbrechen in Italien wider, mit den Veröffentlichungen von Leonardo Paggi (Hrsg.), La memoria del nazismo nell’Europa di oggi. Florenz 1997; Lutz Klinkhammer, Stragi naziste in Italia. La guerra contro i civili (1943 – 1944). Rom 1997; Michele Battini/Paolo Pezzino, Guerra ai civili. Occupazione tedesca e politica del massacro. Toscana 1944.Venedig 1997; Pezzino, Anatomia di un massacro. Steffen Prauser, Mord in Rom? Der Anschlag in der Via Rasella und die deutsche Vergeltung in den Fosse Ardeatine im März 1944, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50.2, 2002, S. 269 – 301.  Zu den Gründen für diese Entwicklung siehe die Beiträge von Filippo Focardi und Lutz Klinkhammer in: Christoph Cornelißen/Lutz Klinkhammer/Wolfgang Schwentker (Hrsg.), Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945. Frankfurt a. M. 2003.  In Italien gab es von 1946 bis 1951 nur eine verschwindend geringe Zahl von Verfahren gegen deutsche Wehrmachts- oder SS-Angehörige wegen Kriegsverbrechen, nämlich zwölf Prozesse gegen 25 Beschuldigte, von denen zwölf freigesprochen wurden und nur zwei zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurden. Es handelte sich neben dem Prozess gegen Herbert Kappler und gegen Walter Reder um die Verfahren gegen Rudolf Fenn und Theo Krake, gegen Josef Strauch, den Prozess wegen der Tötungshandlungen auf der Insel Rhodos, das Verfahren gegen Waldemar Krumhaar, der Prozeß gegen Alois Schmidt, gegen Franz Covi, gegen Alois Schuler, gegen Wilhelm Schmalz. Nach 1951 kam nur noch eine Handvoll Verfahren hinzu, bis mit dem Priebke-Prozess 1996 eine neue Prozesswelle angestoßen wurde, die aber nur zu Kontumazialverfahren geführt hat. Dazu Filippo Focardi, Das Kalkül des „Bumerangs“. Politik und Rechtsfragen im Umgang mit deutschen Kriegsverbrechen in Italien, in: Norbert Frei (Hrsg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Göttingen 2006, S. 536 – 566; ders., La questione della punizione dei criminali di guerra in Italia dopo la fine del secondo conflitto mondiale, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, 80, 2000, S. 543 – 624; Marco De Paolis, La punizione dei crimini di guerra in Italia, in: Silvia Buzzelli/Marco de Paolis/Andrea Speranzoni (Hrsg.), La ricostruzione giudiziale dei crimini nazifascisti in Italia. Turin 2012, S. 61– 155. Zu der nur sehr langsam sich aufbauenden zweiten Welle von Verfahren vgl. Isabella Insolvibile, Archiviazione „defi-

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gab es bald nach Kriegsende die englischen und US-amerikanischen Kriegsgerichtsverfahren gegen einige der führenden deutschen Generäle wie Albert Kesselring,¹⁷ Eberhard von Mackensen, Kurt Mälzer, Anton Dostler, Peter Crasemann, Max Simon und Willy Tensfeld, doch danach fanden in Italien kaum noch Kriegsverbrecherprozesse statt. Während es 1945 zu einer blutigen inneritalienischen Abrechnung mit den Salò-Faschisten kam, wurde nur eine verschwindend kleine Zahl von Deutschen vor Gericht gestellt. Diese Asymmetrie wurde 1996 einer kritischen Öffentlichkeit plötzlich bewusst.¹⁸ Der Mauthausen-Überlebende und Präsident des ligurischen RegionalInstituts für die Erforschung des Widerstandsbewegung, Senator Raimondo Ricci, kritisierte dann auch die ausgebliebene Strafverfolgung in Italien und sprach von einer „sporadischen und verspäteten Justiz“.¹⁹ Mit dem Priebke-Prozess, der eine enorme mediale Aufmerksamkeit und einen Verstärkereffekt hatte, war der Damm gebrochen, der einige Jahrzehnte lang den gedächtnispolitischen Konsens der italienischen Republik gestützt hatte. Jetzt setzte eine massive Aufarbeitung der deutschen Massaker ein, auch weil sich Italien, befördert durch den Fall der Mauer, den Zusammenbruch des alten Parteiensystems in Italien und die Regierungsbeteiligung der Neofaschisten in der ersten Regierung Berlusconi, seit dem 50. Jahrestag des Kriegsendes 1995 in einem erbittert ausgefochtenen öffentlichen Kampf zwischen postkommunistischer und neofaschistischer Hegemonie befand, eine Auseinandersetzung, die vor allem auf dem Schlachtfeld der Deutungen der Besatzungszeit und der Salò-Republik ausgefochten wurde.²⁰ In dieser Situation, in der Italien der erinnerungspolitische Kompass zu fehlen schien und die Regierung durch „neutrale“ Techniker, Notenbankpräsidenten wie Carlo Azeglio Ciampi und Lamberto Dini geleitet wurde (bis zu den Wahlen von 1996 und der Bildung der ersten Regierung Prodi, die am 17. Mai 1996 ihr Amt antrat), machte die investigative Presse Italiens, vor allem die Journalisten Alessandro De Feo und Franco Giustolisi, über die Wochen-Zeitschrift „L’Espresso“ im August 1996 nitiva“. La sorte dei fascicoli esteri dopo il rinvenimento dell’armadio della vergogna, in: Giornale di Storia Contemporanea 8.1, 2015, S. 5 – 44. Es war vor allem der Staatsanwalt Marco De Paolis, der nach der Jahrtausendwende Hunderte von Ermittlungsverfahren leitete und 17 Prozesse gegen 78 Beschuldigte durchführte, von denen erstinstanzlich 57 in Abwesenheit zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurden (Marco De Paolis, L’indagine penale sui crimini di guerra in Italia e all’estero dopo il 1994, in: Ders./Paolo Pezzino, La difficile giustizia. I processi per crimini di guerra tedeschi in Italia 1943 – 2013. Rom 2016, S. 157– 160, hier S. 116).  Kerstin von Lingen, Kesselrings letzte Schlacht. Kriegsverbrecherprozesse, Vergangenheitspolitik und Wiederbewaffnung: Der Fall Kesselring. Paderborn 2004.  Vgl. Paolo Pezzino, Sui mancati processi in Italia ai criminali di guerra tedeschi, in: Storia e Memoria 10.1, 2001, 9 – 72, sowie Michele Battini, Peccati di memoria. La mancata Norimberga italiana. Rom/Bari 2003.  Vgl. Raimondo Ricci, Processo alle stragi naziste? Il caso ligure. I fascicoli occultati e le illegittime archiviazioni, in: Storia e Memoria 7.2, 1998, S. 119 – 164, hier S. 135.  Detailliert zu diesem Kampf: Luca Baldissara, Auf dem Weg zu einer bipolaren Geschichtsschreibung? Der öffentliche Gebrauch der Resistenza in einer geschichtslosen Gegenwart, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, 82, 2002, S. 590 – 637.

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publik (und der Titel lautete bezeichnenderweise: „1000 Fosse Ardeatine“),²¹ dass Akten mit Hunderten von Alt-Strafverfahren plötzlich bei der zuständigen Militärjustizbehörde in Rom aufgefunden worden waren – angeblich in einem Schrank, dessen Flügel gegen die Kellerwände gedreht worden waren. Das von Journalisten geprägte Schlagwort vom „Schrank der Schande“²² verbreitete sich wie ein Lauffeuer.

2 Der „Schrank der Schande“ und die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses Die Öffentlichkeit war sensibilisiert – dem Verfahren gegen den im Gerichtssaal anwesenden und keinerlei Reue zeigenden Priebke war bereits der medial weit weniger beachtete Prozess gegen den abwesenden Wolfgang Lehnigk-Emden in S. Maria Capua Vetere vorausgegangen – und diese aufgeladene Stimmung richtete sich nun auch gegen jene Behörde, die man für den skandalträchtigen Umgang mit dem Aktenberg für verantwortlich hielt: die Militärgeneralstaatsanwaltschaft in Rom. Und dies umso mehr, als überraschenderweise das erstinstanzliche Verfahren gegen Erich Priebke vor dem Militärtribunal in Rom mit einem Freispruch des Angeklagten endete! Der Justizminister Giovanni Maria Flick, Juraprofessor an der römischen Privatuniversität Luiss und seit 2000 Richter am italienischen Verfassungsgerichtshof, ließ den freigesprochenen Priebke nach Verhandlungsende verhaften, da angeblich ein Auslieferungsbegehren aus Deutschland anstehe. Derweil legte die Staatsanwaltschaft Beschwerde gegen das erstinstanzliche Urteil ein. Erst das zweite Gerichtsurteil gegen Priebke, 1997 verkündet, führte zu einer Verurteilung, allerdings lediglich zu 15 Jahren Gefängnis, ein Strafmaß, das justizarithmetisch vermutlich rasch reduziert worden wäre. Erst im Berufungsverfahren gegen dieses Urteil verhängte das oberinstanzliche Militärgericht dann eine lebenslängliche Freiheitsstrafe, die bald in Hausarrest umgewandelt wurde. Das Priebke-Verfahren zeigte in aller Deutlichkeit die Problematik der Militärgerichtsbarkeit in Italien. In völliger Kohärenz zu den Verfahren in den späten 1940er

 Alessandro De Feo/Franco Giustolisi, Esclusivo. Un documento riapre il caso Priebke. Lasciate stare Erich il nazista, in: L’Espresso, 22. 3.1996; Alessandro De Feo/Franco Giustolisi, Dopo Priebke. Viaggio nella giustizia militare. Una, cento, mille Ardeatine, in: L’Espresso, 22. 8.1996.  Zum Thema der illegalen Einstellungen der von der italienischen Militärjustiz gehorteten Ermittlungsverfahren aus journalistischer Sicht: Franco Giustolisi, L’armadio della vergogna. Rom 2004; eine breitenwirksame Darstellung erfolgte durch den Historiker Mimmo Franzinelli, Le stragi nascoste. L’armadio della vergogna. Impunità e rimozione dei crimini di guerra nazifascisti 1943 – 2001. Mailand 2002. Zur „Auffindung“ der Akten durch Militärstaatsanwalt Intelisano 1994 vgl. Alberto Stramaccioni, Crimini di guerra. Storia e memoria del caso italiano. Roma/Bari 2016, S. 114 f. ( vgl. Ders., L’ Italia e i crimini di guerra. L’occultamento delle stragi nazifasciste e delle rappresaglie in Jugoslavia negli anni della guerra fredda. Storie di guerra, resistenza, guerra civile e guerra ai civili in Umbria 1940 – 1945. Narni 2013), sowie De Paolis, L’indagine penale, S. 78 f.

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Jahren, als Kapplers Untergebene im „Außenkommando der Sicherheitspolizei und des SD“, die in den Fosse Ardeatine mitgetötet hatten, in toto straflos ausgingen, wurde auch Priebke 1996 erstinstanzlich freigesprochen, weil er lediglich einen militärischen Befehl ausgeführt habe. Eine solche Argumentation hatte das ordentliche Strafgericht in S. Maria Capua Vetere gegen Lehnigk-Emden 1994 hingegen abgelehnt. Während das Landgericht Koblenz das Verfahren gegen Lehnigk-Emden am 18. Januar 1994 niederschlug, indem es den Fall für verjährt erklärte (die bundesdeutsche Form einer faktischen „Amnestie“ von NS-Tätern), verurteilte das Schwurgericht in Santa Maria Capua Vetere den früheren Wehrmachtsleutnant Wolfgang Lehnigk-Emden und den Feldwebel Kurt Schuster am 25.10.1994 in Abwesenheit zu lebenslänglichen Freiheitsstrafen. Militärstaatsanwalt Marco De Paolis hält diesen Fall für eine Anomalie in Italien, weil er nicht vom Militärgericht, sondern von einem ordentlichen Landgericht verhandelt wurde.²³ Die eigentliche Anomalie besteht jedoch darin, dass die zivile Staatsanwaltschaft und das zivile Schwurgericht in Capua Vetere relativ bald nach Aufnahme der Ermittlungen zu einem Verfahren und einem Urteil gelangten, während der Apparat der Militärjustiz die Ermittlungen fast fünf Jahrzehnte lang hatte „ruhen“ lassen. Der Skandal des „Schranks der Schande“ verlangte geradezu nach einer politischen Aktion. Doch ließ diese erst einmal auf sich warten. Obwohl der Öffentlichkeit Zweifel an der Unabhängigkeit der Militärjustiz gekommen waren, wurde in der Regierung offenbar eine interne Lösung der Angelegenheit für ausreichend gehalten.²⁴ Da der Apparat der Militärjustiz 1981 reformiert worden war (die Militärgeneralstaatsanwaltschaft beim Obersten Militärgericht war aufgeteilt worden in eine Militärgeneralstaatsanwaltschaft beim Kassationsgerichtshof und eine beim Militärappellationsgerichtshof; auch waren nun Zivilisten als Staatsanwälte und Richter zugelassen), gab es seitdem auch ein Selbstkontrollorgan, den Consiglio della Magistratura militare, der 1996, durch eine Nachfrage des Militärstaatsanwalts Sergio Dini und wahrscheinlich durch die Artikel des „L’Espresso“ elektrisiert, ein internes Ermittlungsverfahren anstrengte. Diese interne Untersuchungskommission verabschiedete als Ergebnis ihrer mehrjährigen Ermittlungen einen internen Bericht, dessen Inhalte alsbald der Öffentlichkeit bekannt wurden. Senator Ricci ließ sie noch im selben Jahr, 1999, in der Zeitschrift des ligurischen Resistenza-Instituts publizieren.²⁵ 2001 ließ dann der Justizausschuss des italienischen Abgeordnetenhauses eine „Voruntersuchung“ durchführen („Indagine conoscitiva“) und im Mai 2003 verabschiedete das italienische Abgeordnetenhaus schließlich ein Gesetz, mit dem ein gemeinsamer parlamentarischer Untersuchungsausschuss beider Häuser (des Senats

 Ebd., S. 100. Die Anomalie besteht in der Tat: Das Landgericht kam relativ bald zu einem Urteil, während die Militärjustiz die Ermittlungen jahrzehntelang, zumindest bis 1994, hatte ruhen lassen.  Wie das Justizministerium intern zwischen 1994 und 1997 auf die Frage des „Schranks der Schande“ reagierte, ist eine bislang nicht zu beantwortende Frage.  Relazione approvata dal Consiglio della Magistratura Militare (CMM) in data 23 marzo 1999, in: Storia e Memoria 7.2, 1998, S. 165 – 178.

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und des Abgeordnetenhauses) ins Leben gerufen wurde, der an die laufende Legislaturperiode gebunden blieb und die schwebende Frage der nun bereits vor mehr als sieben Jahren so unverhofft aufgetauchten Ermittlungsakten klären sollte.²⁶ Derweil war in der Toskana ein weiterer Stein ins Rollen gebracht worden, dessen Auswirkungen auf das deutsch-italienische Verhältnis im Feld der großen Politik zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzuschätzen waren: Der deutsche Rechtsanwalt Dr. Joachim Lau, der in den 1970er Jahren an der Universität in Marburg Jura studiert hatte und sein Tätigkeitsfeld in den 1980ern nach Italien verlegt hatte, erfuhr von der Lebensgeschichte seines Aretiner Nachbarn Luigi Ferrini, der als Zivilist 1944 in das nationalsozialistische Deutschland verschleppt worden war und dort als Zwangsarbeiter dienen musste. Ferrini war in Italien in den 1960er Jahren eine Entschädigung nach dem deutsch-italienischen Wiedergutmachungsabkommen verweigert worden. Als Rechtsbeistand Ferrinis brachte Lau diesen Fall in den späten 1990ern erstmals vor Gericht. Er klagte im Namen Ferrinis in Florenz vor dem zivilen Amtsgericht auf Entschädigung gegen die Bundesrepublik Deutschland. Um die Zulassung der Klage zu erreichen, wurde eine Entscheidung des obersten Verwaltungsgerichts erforderlich, des Kassationsgerichtshofs in Rom. In einem vielbeachteten Urteil ließen die Richter 2004 die Klage Ferrinis zu. Damit war erstmals die völkergewohnheitsrechtliche Staatenimmunität der Bundesrepublik in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union durchbrochen worden. In Berlin läuteten die Alarmglocken. Als 2008 die Durchbrechung der Staatenimmunität in Italien nun auch für auf griechischem Boden begangene nationalsozialistische Besatzungsverbrechen vom Kassationsgericht bestätigt wurde und sogar die Möglichkeit bestand, bereits rechtskräftig gewordene Urteile auf Entschädigung der griechischen NS-Opfer durch Einzug deutschen Eigentums auf italienischem Boden vollstrecken zu lassen, zog Deutschland 2009 die Republik Italien vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, um solche Individualklagen italienischer oder anderer ausländischer NS-Opfer zu unterbinden. Dass einem geschädigten Zwangsarbeiter kein Recht auf einen gesetzlichen Richter zustehen sollte, mochte der von einem demokratischen Rechtssinn geprägte Lau nicht einsehen. Und auch das italienische Verfassungsgericht kippte 2014 das Gesetz, mit dem in Italien der Den Haager Richterspruch, der 2012 die Durchbrechung der Staatenimmunität Deutschlands für völkerrechtswidrig erklärt hatte, in inneritalienisches Recht hatte umsetzen sollen. So sind seit 2014 erneut Klagen italienischer NS-Opfer gegen Deutschland vor italienischen Gerichten möglich. Der Parlamentskommission in Rom ging es derweil um die strafrechtliche Problematik der Vereitelung von Verfahren gegen Kriegsverbrecher. Die zivilrechtliche Entschädigungsproblematik stand nicht auf ihrer Agenda. Der 2003 geschaffene Untersuchungsausschuss setzte sich zusammen aus 15 Abgeordneten und 15 Senatoren, die von den Präsidenten der beiden Kammern nominiert wurden und die, nach

 Gesetz vom 15.5. 2003, n. 107 Istituzione di una Commissione parlamentare di inchiesta sulle cause dell’occultamento di fascicoli relativi a crimini nazifascisti, in: Gazzetta Ufficiale, 17.5. 2003.

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den parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen, die im Parlament vertretenen Fraktionen repräsentieren sollten. Zum Vorsitzenden der Untersuchungskommission wählte der damalige Parlamentspräsident, der Christdemokrat Pier Ferdinando Casini, einen weitgehend unbekannten Abgeordneten aus einer ihm nahestehenden christdemokratischen Splitterpartei aus: den aus der Ciociaria stammenden Rechtsanwalt Flavio Tanzilli. Da die beiden Kammern nach dem erdrutschartigen Sieg Silvio Berlusconis im Mai 2001 von dessen Mehrparteienkoalition dominiert wurde, waren die Mehrheitsverhältnisse im Untersuchungsausschuss ebenso klar wie im Parlament: Die größte Gruppe kam aus den Reihen der Forza Italia, die mit der Lega Nord und der post-neofaschistischen „Alleanza Nazionale“ die absolute Mehrheit in der Kommission besaßen. Dort hatte der Alleanza-Nazionale-Abgeordnete Enzo Raisi eine besonders starke Rolle. Die Mitte-Links-Parteien sahen ihren Sprecher in dem toskanischen Abgeordneten Carlo Carli, der den Gesetzesentwurf zur Einrichtung eines Untersuchungsausschusses federführend im Parlament eingebracht hatte.²⁷ Der Untersuchungsausschuss arbeitete von Dezember 2003 bis Januar 2006 und schloss seine Arbeiten mit einem Schlussbericht („Relazione finale“) ab, den der Ausschuss mit einem Votum der Mehrheit billigte. Die Minderheitsmeinung fand Ausdruck in einem zweiten Schlussbericht, über den der Ausschuss nicht abstimmte, der aber als „Relazione di minoranza“ Eingang in die gedruckten Parlamentsakten gefunden hat.²⁸ Während der Untersuchungen, aber auch bei der Abfassung der Schlussberichte, stützte sich der Ausschuss auf die Hilfe einiger Sachverständiger, die vom Präsidenten auf Vorschlag der Fraktionen nominiert wurden. Es handelte sich überwiegend um juristisch versierte Sachverständige, darunter mehrere Rechtsanwälte und ein Richter, mit Paolo Pezzino und Lutz Klinkhammer wurden allerdings auch zwei Historiker nominiert. Die italienischen Sachverständigen durften diese Aufgabe im Hauptamt durchführen. Neben dem Stab der normalen Parlamentsmitarbeiter übernahmen ad-hoc hinzugezogene Beamte der Finanzpolizei die Aufgabe, die teils als vertraulich oder gar geheim klassifizierten Ergebnisse der Ermittlungen

 Carlo Carli, Verità e giustizia sulle stragi nazifasciste. Intervento alla Camera dei deputati dell’on. Carlo Carli sulla proposta di legge Istituzione di una commissione parlamentare d’inchiesta sulle cause dell’occultamento dei fascicoli relativi a crimini fascisti. Rom 2002, S. 57 ff. (Die Schrift ist in einigen öffentlichen Bibliotheken Italiens einsehbar) sowie Carlo Carli, Stragi nazifasciste. Alla ricerca del perché di una giustizia negata: atti parlamentari relativi alla legge di istituzione di una Commissione parlamentare d’inchiesta sulle cause dell’occultamento di fascicoli relativi a crimini nazifascisti, o.O. 2003, S. 190 ff.  Atti parlamentari, Camera dei deputati – Senato della Repubblica, XIV Legislatura, doc. XXIII, n. 18-bis, „Relazione di minoranza“, 24 gennaio 2006. Der Mehrheitsbericht findet sich ebenfalls unter den Parlamentsdrucksachen: Atti parlamentari, Camera dei deputati – Senato della Repubblica, XIV Legislatura, doc. XXIII, n. 18, „Relazione finale (Relatore On. Enzo Raisi), approvata dalla Commissione nella seduta dell’8 febbraio 2006“, in: Atti della Commissione parlamentare di inchiesta sulle cause dell’occultamento di fascicoli relativi a crimini nazifascisti, Bd. 4, Camera dei deputati /Senato della Repubblica. Rom 2007, S. 2989 – 3112, im Folgenden zitiert als Relazione finale Raisi nach dem Separatdruck mit eigener Seitenzählung.

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intern zu dokumentieren. Filippo Focardi, der junge italienische Historiker, der sich bis dahin am intensivsten mit der Frage des italienischen Umgangs mit dem Komplex der Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkriegs auseinandergesetzt hatte, wurde leider nicht zum Sachverständigen ernannt. Der die beiden Kammern übergreifende Ausschuss hatte nicht nur die Aufgabe, den Inhalt der wiederaufgetauchten Verfahren zu prüfen, sondern auch die Verantwortlichkeit für das jahrzehntelange „Verschwinden“ des Bergs an Untersuchungsakten. War ersteres kompliziert, da die Ermittlungsverfahren nach der „Wiederentdeckung“ an die territorial zuständigen Militärstaatsanwaltschaften weitergegeben worden waren, so war letzteres der politisch heiklere Teil der Ausschussarbeit. Schließlich befand sich unter den Kommissionsmitgliedern eine Reihe von Abgeordneten und Senatoren von Alleanza Nazionale, den früheren Neofaschisten des Movimento Sociale Italiano (MSI), einer Partei, die 50 Jahre lang versucht hatte, die Erinnerung an die Republik von Salò, die mit NS-Deutschland kollaboriert hatte, wachzuhalten und in ein positives Licht zu bringen. Eine massenhafte Aufdeckung von NS-Verbrechen hätte ein ungünstiges Licht auf die ehemaligen Salò-Soldaten geworfen. Bis 1994, also bis zur ersten Amtszeit Berlusconis als Regierungschef, war der MSI, der sich 1995 in Alleanza Nazionale (AN) umbenannt hatte, von jeglicher direkter Regierungsbeteiligung ferngehalten worden. Doch seit 2001 war AN ein unverzichtbarer Bestandteil der Regierung – und dies während der ganzen zweiten Amtszeit Berlusconis als Ministerpräsident, die so zu einer der stabilsten Regierungen der italienischen Nachkriegszeit wurde. Eine Aufdeckung von Wehrmachtsmassakern, bei denen womöglich eine Salò-faschistische Beteiligung sichtbar geworden wäre, lag nicht im Interesse der Ex-Neofaschisten, die während der Ausschussarbeiten denn auch keinerlei absichtliche Verschleierung oder Vereitelung der Strafverfolgung erkennen wollten.²⁹ Für die Linke, die seit 2001 in beiden Kammern in die Minderheitsposition gedrängt worden war, gehörte die Erinnerung an die NS-Verbrechen als ein kritisches Gewissen der Nation hingegen zum Kern der eigenen Nachkriegsidentität. Eine Strafvereitelung kam erinnerungskulturell gesehen einer Todsünde gleich. Der zwischen Mehrheit und Minderheit geschickt lavierende christdemokratische Vorsitzende des Untersuchungsausschusses schaffte es, das Kommissionsschiff durch diese politischen Klippen zu steuern, ohne links oder rechts anzuecken, vor allem aber so zu agieren, dass kein allzu großes Aufsehen in der Öffentlichkeit erregt wurde. Was implizit bedeutete, die dunklen Ecken und Untiefen der Vergangenheit, die sich da allenthalben auftaten, möglichst weiträumig zu umfahren. Die Technik, derer sich der Ausschuss bediente, um zu seinen Ergebnissen zu gelangen, unterschied sich nicht wesentlich von der der vorangegangenen Ermittlungskommission, die das seit den 80er Jahren bestehende Aufsichtsgremium der Militärjustiz eingesetzt hatte. Es wurden eine Reihe von Anhörungen vorgenommen, in erster Linie von Politikern und von früheren Militärrichtern und -staatsanwälten,

 Relazione finale Raisi, S. 107.

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und man bemühte sich um die Beschaffung von Dokumenten, von der man sich eine Klärung des Sachverhalts erhoffte.³⁰ Zudem erfolgten Archivrecherchen und Ortstermine bei den Militärjustizbehörden sowie im Verteidigungsministerium. Letzteres hatte, bis zur Reform von 1981, die Dienstaufsicht und Disziplinargewalt über die Militärstaatsanwälte inne. Der Militärgeneralstaatsanwalt beim obersten Militärgericht, die Spitze der militärischen Ermittlungsbehörde, wurde auf Vorschlag des Verteidigungsministers vom Kabinett nominiert. Man kann also davon ausgehen, dass der jeweilige Oberste Militärstaatsanwalt das Vertrauen des Kabinetts und insbesondere das des Verteidigungsministers besessen hat. Und das dürfte er auch gehabt haben, als er im Januar des Jahres 1960 jedes Aktenfaszikel, das anschließend in den berühmten Schrank kam, mit einer eigenhändigen Unterschrift versah, um die der Akte hinzugesetzte und mit Amtsstempel versehene Formulierung, dass dieses Verfahren nunmehr „provisorisch eingestellt“ werde, mit seiner Amtsautorität abzusegnen. Eine provisorische Einstellung des Verfahrens kannte die italienische Strafverfahrensordnung weder damals noch heute, und so wurden 1996 denn auch massive Zweifel an der Legalität der Verfahrungseinstellungen laut. Der parlamentarische Untersuchungsausschuss war also vor allem mit dem Vorwurf an die Militärstaatsanwaltschaft konfrontiert, diese habe sich eine Strafvereitelung im Amt zuschulden kommen lassen.

3 Zur Ahndung deutscher Kriegsverbrechen bei Kriegsende Ein fast paradoxer Vorwurf, war doch die Ermittlungsaktivität 1944 mit hoher Intensität gestartet worden: Nicht nur die Militärjustizbehörden der Alliierten, sondern auch das königlich-italienische Kriegsministerium und das Außenministerium sowie die Carabinieri Reali und die Polizei sammelten noch während der Besatzungszeit Informationen über deutsche Verbrechen an der italienischen Bevölkerung. Um einen Straffrieden von Seiten der Alliierten zu vermeiden, entfalteten die Behörden des weiterbestehenden Königreichs Italien, von dem sich die radikalen Faschisten abspalteten, um eine „Republik“ von Hitlers Gnaden mit Regierungssitz am Gardasee zu gründen, seit dem Kriegsaustritt im September 1943 eine enorme Aktivität, um die Anstrengungen des Königreichs für die Kriegführung der Alliierten gegen NaziDeutschland zu unterstreichen. Auch der Schaden, den Italien für die Loslösung aus dem Bündnis mit dem Dritten Reich davongetragen hatte, sollte ersichtlich werden. Vor allem aus diesem Grund wurden die Untaten, die Deutsche an Italienern begangen

 Zur Arbeit der Kommission vgl. Alessandro Borri, Visioni contrapposte. L’istituzione e i lavori della Commissione parlamentare di inchiesta sulle cause dell’occultamento di fascicoli relative a crimini nazifascisti attraverso l’analisi dei suoi resoconti, hrsg. v. Istituto Storico della Resistenza e della società contemporanea nella provincia di Pistoia. Pistoia 2010.

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hatten, aufgezeichnet. So bestand bei Kriegsende eine zentrale Informationsstelle, die Italian War Crimes Central Commission, im Ministerium für die Besetzten Gebiete.³¹ Als dieses Ministerium im Juli 1945 aufgelöst wurde, wurde die Zentralstelle für die Registrierung von Kriegsverbrechen beim Ministerpräsidium (Presidenza del Consiglio dei Ministri) angesiedelt. Nach der Befreiung ganz Italiens und nach der Kapitulation Deutschlands konnte der Kabinettschef des Ministerpräsidenten in der Sitzung eines interministeriellen Ausschusses vom 20. August 1945 seinen Amtskollegen endlich die ersehnte Mitteilung machen, dass die italienische Regierung von den Siegermächten autorisiert worden war, vor der United Nations War Crimes Commission Anklage gegen ausländische Zivil- und Militärpersonen zu erheben, die folgender Delikte beschuldigt waren: 1) Grausamkeiten und Gewalthandlungen gegenüber Personen sowie Beschädigung von Sachen, 2) Unterdrückung und Verfolgung von Individuen und Gemeinschaften aus religiösen oder rassischen Gründen, 3) Invasion von Staaten und Unterdrückungskriege, unter Verletzung von Verträgen oder des Völkerrechts.³²

Die italienische Nachkriegsregierung verhandelte mit den Siegermächten zäh um das Recht, nach Maßgabe der Moskauer Erklärung vom 30. Oktober 1943 über die Bestrafung von Kriegsverbrechern nun die Deutschen, die auf italienischem Boden Kriegsverbrechen verübt hatten, vor italienische Gerichte zu bringen. Der entscheidende Durchbruch, um Strafverfahren gegen Deutsche in Italien einleiten zu können, wurde bis Ende 1945 erreicht. Er spiegelt sich in einem Brief des Staatssekretärs im britischen Foreign Office, Alexander Cadogan, an den italienischen Botschafter in London, Nicolò Carandini, wider: Indem der alliierte Vorbehalt für die Strafverfolgung deutscher Kriegsverbrecher eingeschränkt wurde, war es Italien damit de facto erlaubt, deutsche Kriegsverbrecher abzuurteilen, mit Ausnahme der Kom-

 Vgl. Pezzino, Sui mancati processi, S. 12.  Archivio Centrale dello Stato, Presidenza del Consiglio dei Ministri, 1944– 1947, f. 15625: Besprechungsvermerk PCM-Gab. (o. Protokollnummer) über die Besprechung vom 20.8.45 im Viminale, auf Einladung der Presidenza del Consiglio (Übersetzung des Zitats LK; zitiert im Original bei Lutz Klinkhammer, Die Ahndung von deutschen Kriegsverbrechen in Italien nach 1945, in: Gian Enrico Rusconi/ Hans Woller (Hrsg.), Parallele Geschichte? Italien und Deutschland 1945 – 2000. Berlin 2006, S. 89 – 106, dort auch zur weiteren Einordnung des Vorgangs. Diese Besprechung wird jetzt auch erwähnt bei Paolo Pezzino, La punizione dei crimini di guerra commessi in Italia dai tedeschi (anni Quaranta e Cinquanta), in: Ders./Marco De Paolis (Hrsg.), La Difficile giustizia. Rom 2016, S. 24– 25. An dieser Besprechung nahmen folgende Personen teil: Prof. Tommaso Perassi und Dr. Antonio Cottafavi vom Außenministerium, Umberto Borsari von der Militärgeneralstaatsanwaltschaft, der Präsident eines Senats des Kassationsgerichtshofs Saverio Brigante; Oberstleutnant Vincenzo Mazzotti für das Luftwaffenministerium, Major Attanasio für das Kriegsministerium, der Richter am Berufungsgericht Oscar Sera für das Justizministerium, Oberstleutnant Giuseppe Bernardi und Hauptmann Buzzini für das Marineministerium. Den Vorsitz führte der Kabinettschef in der Presidenza del Consiglio, dott. Camillo Feraudo.

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mandierenden Offiziere (vom Dienstrang eines Divisionsgenerals aufwärts) und mit Ausnahme derjenigen, die von einem der alliierten Staaten bereits für einen Prozess vorgesehen waren.³³ Als zentrale Behörde, die sich in Italien um die Anzeigen von Kriegsverbrechern bei der UNWCC in London kümmern sollte und der auch die Strafverfolgung obliegen sollte, soweit sie in Italien ausgeführt werden konnte, wurde die Spitze der Militärjustiz ausgewählt: die Generalstaatsanwaltschaft beim Obersten Militärgerichtshof (Procura generale militare presso il Tribunale Supremo Militare). 1945 war der Generalstaatsanwalt dott. Umberto Borsari, ein Mann, der es während des faschistischen Regimes schon zum Richter am Kassationsgericht gebracht hatte. Borsaris Behörde war zuständig dafür, die Anzeigen zu sammeln, Ermittlungsverfahren einzuleiten und Anträge auf Auslieferungsbegehren zu stellen, die über das italienische Außenministerium an die Alliierte Kontrollkommission weitergeleitet werden mussten, da vorerst nur die alliierten Besatzungsbehörden einen polizeilichen Zugriff auf die gesuchten Kriegsverbrecher hatten. Bis zum Februar 1946 gingen 1914 Anzeigen bei der Militärstaatsanwaltschaft ein, die alle geprüft werden mussten. 64 Ermittlungsverfahren waren bereits eingeleitet worden.³⁴ Nach Ausweis des Generalregisters der Procura Generale militare kam es zur Eröffnung von 2274 Ermittlungsverfahren.³⁵ Eine gewaltige Zahl, hinter der sich aber nicht nur deutsche Tatverdächtige verbargen, sondern auch Hunderte von italienischen Faschisten, die als Kollaborateure der Deutschen zu gewärtigen hatten, vor italienische Sonderschwurgerichte (Corti d’assise straordinaria) gestellt zu werden. Trotz dieser Masse von Ermittlungsdossiers kam es nur zu einer verschwindend geringen Zahl von Strafverfahren gegen deutsche Tatverdächtige. Dies hatte mindestens drei Gründe: Der erste betraf das Verfahren der Auslieferungsanträge. Bis Ende 1946 scheint die Militärgeneralstaatsanwaltschaft insgesamt 105 Auslieferungsbegehren an das italienische Außenministerium gerichtet zu haben, die diese an die UNWCC weiterleiten sollte. Nur 23 der angeforderten Personen wurden jedoch von den Alliierten an die italienische Regierung überstellt. Oft fehlte es an der nötigen Präzision der Angaben zur Ermittlung der Täter: Namen waren falsch geschrieben, Angaben unvollständig. Der zweite Grund bestand darin, dass die britischen und ameri-

 Vgl. Archivio storico-diplomatico del Ministero degli Affari Esteri, Roma (ASMAE), Direzione generale affari politici (DGAP), Germania 1952, busta 174, fasc. 2: Brief von Cadogan an Carandini, 7.12. 1945.  Vgl. ASMAE, DGAP, Germania 1952, busta 174, fasc.2: Vermerk über die Besprechung vom 16. 2.1946 zwischen Oberstleutnant Sormanti, Major Pantano und einem Verwaltungsbeamten der Procura Militare. 741 waren die „schweren Straftaten begangen von Unbekannt“, 64 waren „zu Lasten von namentlich bekannten Personen“, 339 gingen zu Lasten italienischer Faschisten, die an die „sezione Speciale della Corte di Assise“, also den Sonderschwurgerichten übergeben werden sollten.  Ein Abdruck aller 2274 Fälle findet sich in Relazione finale Relatore Raisi, S. 125 – 217. Das Generalregister ist inzwischen auch elektronisch publiziert unter: http://www.eccidi1943 - 44.toscana.it/ elenco _criminali/elenco_criminali.htm (letztmalig abgerufen am 10. 8. 2017).

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kanischen Militärbehörden im besetzten Deutschland im Oktober 1947 ihre Auslieferungen an Italien praktisch einstellten. Dass noch nicht einmal die kleine Zahl von ausgelieferten oder in italienischen Gewahrsam gekommene Personen schließlich vor Gericht gebracht wurde,³⁶ hing nicht zuletzt mit dem dritten Grund zusammen, mit der Militärgeneralstaatsanwaltschaft selbst. Denn von den 2.274 Dossiers, die man dort zusammengetragen hatte, wurden nur gut 20 an die für die Durchführung der Prozesse zuständigen, regionalen Militärgerichte weitergeleitet. Erst in den 1960er Jahren wurden, nach über 15 Jahren Ermittlungsarbeit, gut 1.300 dieser Ermittlungsverfahren an die Militärgerichte überstellt: Es handelte sich dabei – wie die diversen Untersuchungskommissionen nach der Entdeckung des „Schranks der Schande“ feststellen konnten – fast ausschließlich um Verfahren gegen unbekannte Täter. Den Staatsanwaltschaften der regionalen Militärgerichte war gar nichts anderes übrig geblieben, als diese Verfahren einzustellen. Solche Ermittlungsverfahren jedoch, die die Namen der deutschen Beschuldigten enthielten, insgesamt 695, waren von der zentralen Militärgeneralstaatsanwaltschaft einbehalten und schließlich dort auch eingestellt worden, und zwar fast alle im Jahr 1960 in der bereits genannten Form einer „provisorischen Archivierung“. Es waren diese Dossiers, die 1994 „wiedergefunden“ wurden³⁷ und seit 1996 zum Gegenstand der Untersuchungsaktivitäten geworden waren.³⁸ Warum erst Tausende von Ermittlungsverfahren und danach nur ein Dutzend Prozesse? Dieses Paradox lässt sich auflösen, wenn man auf den Kampf der italienischen Regierung gegen einen Paragraphen des Pariser Friedensvertrags schaut: Schon in den Waffenstillstandsvereinbarungen von 1943 hatte das monarchische, im Friedensvertrag von 1947 dann auch die demokratische Republik Italien zustimmen müssen, italienische Hauptkriegsverbrecher vor Gericht zu stellen. Allerdings war dort

 Bis zur deutschen Verjährungsdebatte des Jahres 1965 gab es in Italien gerade einmal 12 Urteile gegen 25 Beklagte (von einer „mageren Bilanz“ spricht Pezzino, Punizione, S. 51; vgl. De Paolis, L’indagine penale, S. 73 f.).  Es war der damalige Generalmilitärstaatsanwalt Renato Maggiore, der Mitte Mai 1994 seinen Verwaltungsleiter (Dirigente segreteria Procura) zu sich rief und ihn fragte, „ob in den Akten unserer Behörde Dokumente oder Faszikel sich befinden, die mit dem Thema ‚Kriegsverbrecher‘ und im besonderen mit nationalsozialistischen Kriegsverbrechern verbunden sind“ (Relazione finale, relatore Raisi, S. 113, Zitat aus der Anhörung von Dott. Alessandro Bianchi, Leiter der Kanzlei der Militärgeneralstaatsanwaltschaft beim Kassationsgerichtshof). Ausgangspunkt für diese Nachforschung, die die illegalen Niederschlagungen von Ermittlungsverfahren zutage förderten, war wohl der Moment, als es um die Frage der Zusammenstellung der Unterlagen ging, um einen Auslieferungsantrag für Erich Priebke zu stellen. Am 30. Juni 1994 formalisierte dann einer der zuständigen Militärstaatsanwälte (Antonino Intelisano, Staatsanwalt beim Militärgericht Rom) die Bitte um institutionelle Akteneinsicht mit seiner Anfrage, die Altakten des Kapplerermittlungsverfahrens einsehen zu wollen (Relazione Finale Raisi, S. 111).  Eine detaillierte Analyse dieser Vorgänge in: Relazione approvata dal Consiglio della Magistratura Militare (CMM) in data 23 marzo 1999, in: Storia e Memoria 7, 1998, S. 165 – 178.

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nicht präzisiert worden, vor welches Gericht.³⁹ Politisches Ziel der Regierung, auch der kommunistischen Minister, war es, diese Bestimmung zu unterlaufen, d. h. sie mit dem Tod Mussolinis und der Durchführung einer inneritalienischen Säuberungspolitik als erledigt anzusehen. Gleichzeitig setzte man sich dafür ein, eine etwaige Bestrafung von Italienern im Ausland, vor allem in Jugoslawien, zu verhindern. Ausländische Auslieferungsbegehren wurden mit dem Hinweis abgelehnt, dass man in Italien gegen die Betreffenden vorgehen wolle. Die Ahndung von Kriegsverbrechen hatte daher für die Italiener rasch einen doppelten Aspekt: Es sollten die Deutschen vor italienischen Gerichten ihrer gerechten Strafe zugeführt werden, ohne jedoch die italienischen Beschuldigten der Gefahr eines Verfahrens vor ausländischen Gerichten auszusetzen.⁴⁰ Die Verfahren gegen Italiener wurden daher dilatorisch behandelt. Parallel zu der – am Ende höchst erfolgreichen – Verschleppungstaktik gegenüber italienischen Beschuldigten zogen sich aber auch die Prozesse gegen deutsche Kriegsverbrecher hin. Mit der Annäherung zwischen der Bundesrepublik und Italien unter christdemokratischer Dominanz war nach 1949 ein weiteres Motiv gegeben, nun auch gegenüber deutschen Kriegsverbrechern besondere Milde walten zu lassen – selbst gegenüber denjenigen, die in Italien rechtskräftig verurteilt worden waren. Einige der Verurteilten wurden ohne Wissen der Öffentlichkeit auf dubiose Weise begnadigt und in die Bundesrepublik entlassen, unmittelbar bevor Konrad Adenauer im Juni 1951 zu seinem ersten Staatsbesuch nach Italien aufbrach.⁴¹ Von dieser endogenen wie exogenen Konstellation der Vergangenheitspolitik profitierten auch Hunderte von Deutschen, deren Namen wegen Kriegsverbrechen in Ermittlungsverfahren der italienischen Polizei und der Carabinieri gelandet waren. Eine öffentliche Debatte über Kriegsverbrechen wurde vermieden. 15 Jahre lang wurden Hunderte von Ermittlungsverfahren dilatorisch behandelt, um schließlich rechtswidrig eingestellt zu werden.⁴² Die Entwicklung dieser Ermittlungsverfahren gegen Deutsche wie gegen beschuldigte Italiener zeigt, dass die italienische Militärjustiz letztendlich politischen Erwägungen gefolgt ist. Das gilt auch für die Verfahrenseinstellungen der frühen 1960er Jahre, die in die damalige politische Lage hineinpassten. Gleichzeitig wurde diese Politik der Verfahrensverhinderung geheim gehalten, auch wenn sich gele-

 Zum Waffenstillstandsvertrag grundlegend Elena Aga Rossi, L’inganno reciproco. L’armistizio tra l’Italia e gli angloamericani del settembre 1943. Rom 1993.  Zum Beleg für diese These vgl. die Dokumente bei: Focardi/Klinkhammer, La questione, passim.  Dazu ausführlich Filippo Focardi, Un accordo segreto tra Italia e Rft sui criminali di guerra. La liberazione del „gruppo di Rodi“ 1948 – 1951, in: Italia Contemporanea 232, 2003, S. 401– 437; Filippo Focardi, Criminali in libertà. Rom 2008.  Nur die Verfahren, die gegen unbekannt eingeleitet worden waren, kamen bei den zuständigen Militärstaatsanwaltschaften an – wobei diesen kaum etwas anderes übrig blieb, als ihrerseits den Fall einzustellen.

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gentlich der ein oder andere dokumentarische Beleg zeigt, der einen bezeichnenden Einblick in die verfolgte Politik erlaubt.⁴³ Angesichts dieses jahrzehntelang erfolgreichen Schutzmechanismus für Italiener, die vom Ausland beschuldigt wurden, als Bündnispartner des Dritten Reiches Kriegsverbrechen begangen zu haben, wird die politische Dimension verständlich, die die Arbeit der Parlamentarischen Untersuchungskommission im Klima der Jahre 2003 – 2006 begleitete. Schließlich ging es in jenen Jahren darum, eine neue konservative Mitte zusammenzuschweißen – ausgehend von Berlusconis Partei Forza Italia, doch unter Einbeziehung der Lega Nord, der die separatistischen Allüren genommen worden waren, sowie der früheren neofaschistischen „Schmuddelkinder“. Eine Operation, die im europäischen Ausland alles andere als unbedenklich erschien. Denken wir nur daran, dass Bundeskanzler Schröder im Jahr 2000 laut darüber nachdachte, dass Italien – wie Österreich – doch auch Sanktionen der europäischen Partner treffen könnten, falls eine allzu rechtsgerichtete Formation im Mittelmeerland in die Regierungsverantwortung eintreten würde.⁴⁴ Was hat der Untersuchungsausschuss unter diesen Konstellationen überhaupt leisten können? Versuchen wir abschließend, eine erste Bilanz zu ziehen.

4 „Außer Spesen nichts gewesen“? Eine Bilanz Dominierten in einer ersten Phase der Kommissionsarbeit die Anhörungen involvierter Personen, so ließ der Ausschuss in einer zweiten Phase umfangreichere Archivrecherchen zum Thema Kriegsverbrechen durchführen, in Rom wie im Ausland. Vor allem in Deutschland, Großbritannien, in den National Archives der USA und im Archiv der Vereinten Nationen in New York. Diese Sondierungen waren von den Sachverständigen empfohlen worden, da sich die italienischen Akten für den fraglichen Untersuchungszeitraum als schwer zugänglich und oft ungeordnet erwiesen hatten. Ob eine Archivrecherche durchgeführt wurde oder nicht, darüber konnte allein der Ausschuss entscheiden bzw. der Präsident der Kommission musste sie autorisieren. Aus Eigeninitiative waren keine Recherchen denkbar, jedenfalls nicht im Namen der Kommission. Auch die Frage, welche Personen mit einer Archivrecherche beauftragt und zu welcher Auslandsmission zugelassen wurden, lag im Ermessen des Präsidenten. Die Sachverständigen, die mit der Durchführung der Recherchen betraut waren, haben eine Reihe von Archivmaterialien im Ausland zusammengetragen, die auch das Thema der Italiener betrafen, die von Staaten wie Frankreich, Griechenland, Groß Erstmals wurde dieser Mechanismus aufgezeigt und quellenmäßig präzise belegt von Filippo Focardi/Lutz Klinkhammer, La questione dei „criminali di guerra“ italiani e una Commissione di inchiesta dimenticata, in: Contemporanea 4.3, 2001, S. 497– 528.  „Die CDU hat nichts begriffen“. Spendenskandal, Parteienkrise und der Streit um Jörg Haider. Ein ZEIT-Gespräch mit Bundeskanzler Gerhard Schröder, in: Die Zeit, 17. 2. 2000.

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britannien, den USA, Jugoslawien und Äthiopien beschuldigt worden waren, Kriegsverbrechen begangen zu haben. Die Übernahme von recherchierten und zusammengetragenen Archivalien in die Dokumentation der Untersuchungskommission war ein weiteres Hindernis, da dafür jeweils ein eigener Beschluss des Ausschusses notwendig war. Selbst die beteiligten Parlamentarier mussten hierzu einen Antrag stellen, der vom Ausschuss mit Mehrheitsvotum angenommen werden musste. Die Sachverständigen hingegen konnten ihre Recherchen nur im Auftrag und auf Weisung des Kommissionspräsidenten durchführen und nicht selbständig dort forschen, wo sie es für besonders fruchtbar hielten. Die Durchführung der Recherchen war daher parlamentarischen Mechanismen und politischen Erwägungen unterworfen, die durch die Mehrheitsverhältnisse in der Kommission konditioniert waren. Insofern konnten die informierten unter den Sachverständigen nur selten Material mit Informationen finden, über die sie nicht schon selbst durch frühere eigene Recherchen verfügten. Ist für die Suche nach „historischer Wahrheit“ eine Untersuchungskommission notwendig? Wäre die Öffentlichkeit ohne die Arbeit des Ausschusses unwissend geblieben? Die Antwort lautet eindeutig: Nein. Denn die Presse, allen voran Zeitschriften wie „L’Espresso“, hatten schon viel zur Aufklärung und Mobilisierung der Öffentlichkeit beigetragen. Ohne den Druck der Öffentlichkeit wäre es gar nicht erst zu den verschiedenen Parlamentskommissionen gekommen. Und schon vor der Arbeitsaufnahme des Untersuchungsausschusses sind Bücher von Journalisten wie Franco Giustolisi oder von Historikern wie Mimmo Franzinelli, von Paolo Pezzino und Michele Battini erschienen, vor allem aber die wichtigen Beiträge von Filippo Focardi zum Thema der italienischen Kriegsverbrecher. Gerade letztere werden im Minderheitsbericht der Kommission so ausführlich zitiert, dass damit dieses für die italienische Kultur so dornige Thema des Umgangs mit den eigenen Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg vermutlich erstmals in den Akten des italienischen Parlaments einen nachhaltigen Niederschlag fand.⁴⁵ Während der Kommissionstätigkeit gab es auch eine Diskussion, wie mit dem Berg an alten Ermittlungsverfahren denn nun juristisch weiterverfahren werden solle. Diese Debatte, die die Staats- und Rechtsanwälte unter den Ausschussverständigen beschäftigte, kann hier nur kurz skizziert und zusammengefasst werden: Nach längerer Prüfung wurde festgestellt, dass das Gros der Altakten ab 1994 an die territorial zuständigen Militärstaatsanwälte weitergegeben worden war, denen in diesem Moment aber auch nicht viel anderes übrig blieb, als ihren Amtskollegen in den späten 1960er Jahren: Suche nach den Beschuldigten, Einstellung des Verfahrens mangels rechtlich ausreichender Beweise, meist aber aufgrund des Todes der Beschuldigten. Übrig geblieben waren in der Militärgeneralstaatsanwaltschaft in Rom vor allem eine

 Dies betrifft vor allem die Seiten 93 – 137 sowie 141– 176 der „Relazione di minoranza“ mit den Kapiteln 8, 9 und 11, für die der Unterzeichnete an einem Entwurf für den Kommissionsbericht gearbeitet hat.

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Reihe von Aktendeckeln ohne Inhalt, auf denen nur die Namen der Beschuldigten verzeichnet waren – zumeist Italiener. Nach Prüfung dieses Bestands durch einige der Sachverständigen (ich war z. B. daran nicht beteiligt worden), wurde noch während der laufenden Kommissionsarbeiten eine Zahl von 273 Faszikeln gemäß Ausschussbeschluss vom 15.12. 2004 an die zivilen Staatsanwaltschaften weitergeleitet, ohne dass diese aber vom obersten Gerichtshof die Zuständigkeit für diese Fälle erhalten hätten. Auch dieser Beschluss der Kommission, der unter Umständen auch juristische Folgen hätte zeitigen können, hatte nahezu keinerlei konkrete Auswirkungen. Klar war eines geworden: die „Entsorgung der Vergangenheit“, die Teile der Militärjustiz auch 1994– 1996 vornahmen, wäre fast gelungen, wenn nicht der „L’Espresso“ (von wem informiert, ist schwer zu sagen) 1996 Alarm geschlagen und die Öffentlichkeit mobilisiert hätte. Erst im Gefolge dieser neuen Aufmerksamkeit für die Kriegsvergangenheit – in dem oben geschilderten politischen Kontext⁴⁶ – kam es nun zu einer verspäteten Welle an Verfahren; einer italienischen Anomalie, jedenfalls wenn man dies mit der Prozesskurve gegen NS-Täter in allen anderen Staaten Europas vergleicht: Einige Militärstaatsanwaltschaften, allen voran diejenige in La Spezia, geleitet von Marco De Paolis, führte eine große Zahl von Ermittlungsverfahren wegen Massentötungen von Italienern durch; darunter befanden sich auch die Massaker von Monte Sole/Marzabotto und Sant’Anna di Stazzema, die zahlenmäßig größten Tötungshandlungen an italienischen Zivilisten während deutscher Besatzung. Entscheidend für die Ermittlungsarbeit der Militärstaatsanwaltschaften waren die historischen Gutachten, die Carlo Gentile (Universität zu Köln) dank seines einzigartigen Expertenwissens erstellte. Aus dieser langjährigen Ermittlungsarbeit resultierte eine Reihe von (in Italien spektakulären) Prozessen, wenn auch in Abwesenheit der Angeklagten, die wohl zumindest in Teilen der Öffentlichkeit der Institution der Militärjustiz eine Verlängerung ihrer Existenzberechtigung eingebracht haben. Auch aus diesen Prozessen rührten deutlich wahrnehmbare Verstimmungen im deutsch-italienischen Verhältnis her, da in Italien die Täter von Sant’Anna z. B. in Abwesenheit zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurden, wohingegen die Staatsanwaltschaft Stuttgart das Verfahren gegen sie einstellte, weil man keine rechtlich ausreichenden Mordmerkmale in Bezug auf eine Tatbeteiligung der deutschen Beschuldigten feststellen wollte. Bundespräsident Gauck reiste 2013 eilends nach Italien an den Schauplatz der grausigen Tat, um die Wunden, die diese Asymmetrie der juristischen Bewertungen nicht nur in der italienischen Öffentlichkeit, sondern auch beim Staatspräsidenten und in den Sphären der Regierung gerissen hatte, mit einem symbolpolitisch wichtigen Akt zu heilen. Will man die Ausschussarbeit bilanzieren, so muss man der Kommission zumindest zubilligen, dass sie die öffentliche Debatte zusammengefasst hat. Sie hat die

 Dazu auch Lutz Klinkhammer, Kriegserinnerung in Italien im Wechsel der Generationen. Ein Wandel der Perspektiven?, in: Cornelißen/Klinkhammer/Schwentker (Hrsg), Erinnerungskulturen, S. 333 – 343.

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Einsicht in die Verschleppungs- und Verschleierungstaktik der Militärstaatsanwaltschaft vertieft, wenn auch mit deutlichen Unterschieden in der Wahrnehmung, was parlamentarische Mehrheit und Minderheit angeht. Während die Mehrheit keine absichtliche Strafvereitelung erkennen, vor allem kein Einwirken der Politik eingestehen wollte,⁴⁷ obwohl die Anhörungen der ehemaligen Mitarbeiter der Militärjustiz daran wenig Zweifel ließen, so kam die Minderheit in ihrem Bericht zu dem Ergebnis, dass man einen Modus Operandi der Militärjustiz vor sich habe, der von „schwerwiegenden und wiederholten Unregelmäßigkeiten“ geprägt sei. Daraus haben diejenigen Abgeordneten und Senatoren, die 2004– 2006 in der Kommissionsminderheit waren, auch entsprechende politische Schlussfolgerungen ziehen wollen: So heißt es abschließend im Bericht der Minderheit, man wolle zu einer Reform der Militärjustiz gelangen und halte eine eigenständige Militärjustizstruktur nicht mehr für gerechtfertigt.⁴⁸ Doch diese – wie auch die anderen Empfehlungen im Minderheitsbericht, nämlich die Öffnung der staatlichen Archive für die Frage der Ahndung von Kriegsverbrechen nach 1945, die Einrichtung einer Stiftung zur Erinnerung an die nationalsozialistisch-faschistischen Verbrechen – diese Empfehlungen sind einem politischen Vergessen anheimgefallen, sie sind in ein politisches Vakuum geraten, auch schon deswegen, weil die parlamentarische Minderheit von damals, obwohl sie in den Wahlen von 2013 eine überwältigende Mehrheit in der Abgeordnetenkammer erhielt, es bis heute nicht geschafft hat, die politische Agenda in Bezug auf die Auseinandersetzung mit der faschistischen und der Kriegsvergangenheit neu zu definieren. Den Obelisken vor dem Stadion nahe dem Außenministerium, wo alle Diplomaten der Welt im Vorbeifahren nolens volens dem „Duce“ eine Hommage erweisen müssen, diesen Obelisken stellt fast kein italienischer Politiker in Frage – auch auf Seiten der Linken nicht. Als die Parlamentspräsidentin Laura Boldrini 2015 in einer Randbemerkung meinte, man könne doch wenigstens die Inschrift „Mussolini Dux“ tilgen, löste das einen Proteststurm in der Öffentlichkeit aus. Angesichts einer solchen vergangenheitspolitischen gesellschaftlichen Konstellation brauchte die Kommissionsmehrheit von 2006 in ihrem Abschlussbericht noch nicht einmal echte Empfehlungen zu formulieren. Es finden sich dort auf wenigen Zeilen ein paar „Vorschläge“, was man denn tun könne, um moralische Wiedergutmachung zu leisten.⁴⁹ Doch auch die sind in einen politischen Abgrund gefallen, aus dessen Dunkel sich nichts erhebt und nichts konkretisiert. Der Vorschlag, ein „genaues Verzeichnis aller Orte, in Italien wie im Ausland, […] an denen sich Massaker ereignet haben“ zu erstellen, ist erst vor kurzem realisiert worden, nämlich mit dem

 Relazione finale Raisi, S. 107: „la tesi dell’occultamento come complotto orchestrato secondo una precisa volontà politica registra la totale assenza di documenti probanti“; „in sostanza manca una qualsivoglia comunicazione, anche informale, a firma di un esponente dell’Esecutivo, in cui, preso atto della situazione, si diano disposizioni ai vertici della magistratura militare attinenti ai fascicoli ritrovati nella direzione dell’occultamento.“  Relazione di minoranza, S. 427– 430 („Raccomandazioni al Parlamento“).  Relazione finale Raisi, S. 246.

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seit 2016 online abrufbaren „Atlante delle stragi naziste e fasciste“. Aber nicht aus einer Initiative des italienischen Parlaments hinaus, sondern als Konsequenz der Empfehlungen der Deutsch-Italienischen Historikerkommission von 2012, realisiert mit Mitteln, die der Deutsche Bundestag über den „Deutsch-Italienischen Zukunftsfonds“ dem Auswärtigen Amt zur Verfügung gestellt hat. Das von Paolo Pezzino geleitete Team hat damit ein Projekt realisieren können, für das italienische Universitäten und Institute zur Erforschung der Resistenza schon seit zwanzig Jahren Vorarbeiten geleistet hatten. Mit dem Hinweis auf das „Ausland“ im Raisi-Abschlussbericht waren im Übrigen nicht etwa die Orte der von Italienern als Angehörigen einer Besatzungsarmee verübten Massaker gemeint, sondern nur die Orte der im „Schrank der Schande“ gesammelten Fälle. „Jedes einzelne Opfer der Massaker, die aus den Faszikeln“ des Aktenbergs aus dem Keller „des Palazzo Cesi hervorgehen, zu erinnern“, als „posthume und verspätete Anerkennung“, dieser im Bericht der Ausschussmehrheit formulierte Vorschlag ist weitgehend auf dem Papier geblieben. Auch der Vorschlag, die „volle Liberalisierung des Aktenmaterials, das die Kommission zusammengetragen hat“, zu bewirken,⁵⁰ um den Bürgern eine Konsultation der Dokumente zu ermöglichen, wurde erst 2016, zehn Jahre nach Abschluss der Ausschussarbeiten, erreicht. Das historische Archiv des Abgeordnetenhauses hat zwar die Aktenstücke der Kommission und die von ihr zusammengetragenen Archivalien übernommen, doch ist ein beträchtlicher Teil des Bestandes, nämlich 27 Aktenschachteln von 192, 2006 erst einmal als vertraulich eingestuft worden und unzugänglich geblieben. Darunter waren auch die von den Sachverständigen beigebrachten Kopien aus dem Bestand H-8 des italienischen Heeresgeneralstabsarchivs, in dem Akten zu den italienischen Kriegsverbrechen zu finden sind, die jahrzehntelang der Öffentlichkeit und der Geschichtswissenschaft mit einer Reihe von fadenscheinigen Argumenten vorenthalten wurden. Die bürokratischen Widerstände gegen eine freie Konsultation der historisch verfügbaren amtlichen Dokumentation haben 10 Jahre lang jene „Wahrheitsoperation“, im Zeichen eines „historischen Gedächtnisses frei von Konditionierungen und gegenseitigen Vorhaltungen“, behindert, wie sie der Abschlussbericht der Kommissionsmehrheit sich selbst in scheinheiliger Weise zugesprochen hat. Das einzige, was sich in dieser Zeit weiterbewegt hat, ist die Forschung, obwohl dazu in Italien seit Jahren nur geringfügige Mittel zur Verfügung stehen. Zusammen mit einer aufmerksamen Öffentlichkeit fungiert die historische Recherche, vor allem die der jüngeren Generation, in effizienterer Weise als kritisches Gewissen der Nation

 Alle Zitate (in meiner Übersetzung, LK) finden sich in: Relazione finale Raisi, S. 246. Das sehr nützliche, alphabetische und ein archivalisches Verzeichnis der im Generalermittlungsregister erwähnten 2274 Orte und Fälle, die die Parlamentsdokumentaristen erstellt und online verfügbar gemacht haben, erfüllt die im Abschlussbericht angesprochene moralische Funktion nicht im mindesten. Das „Verzeichnis der Geschädigten“ und das der betroffenen italienischen Orte sind Listen, die aus einer Auswertung des Generalregisters der Ermittlungsverfahren (Doc. 2/11 des Untersuchungsausschusses, auch publiziert in Relazione finale Raisi, S. 125 – 217) resultieren.

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als die Arbeit von Parlamentskommissionen, die leicht der Vergessenheit anheimfallen, vor allem dann, wenn ihre Empfehlungen im Sande verlaufen oder erst nach 10 Jahren teilweise umgesetzt werden. Als die Akten des Heeresarchivs von einem jungen Wissenschaftler wie Costantino Di Sante, der keine Kontakte zur Untersuchungskommission hatte, benutzt wurden, und er 2005 in einem kleinen Verlag ein Buch über italienische Kriegsverbrechen in Jugoslawien publizierte, führte dieser mutige Schritt dazu, dass die benutzten Akten des H-8-Bestandes im Heeresarchiv von der römischen Militärstaatsanwaltschaft in toto „zu Ermittlungszwecken“ angefordert und damit für einige weitere Jahre der Forschung entzogen wurden. Seit Frühjahr 2016 ist zumindest die von der Kommission produzierte Dokumentation im italienischen Parlamentsarchiv (Archivio storico della Camera dei Deputati) frei einsehbar, also auch die 2006 als vertraulich oder geheim klassifizierten Bestände, darunter auch etliche Kopien aus dem Bestand H-8. Das Inventar der Bestände ist über die Webseite des Parlamentsarchivs abrufbar, die Aktenfaszikel zum Teil online bestellbar. Dieses Material bietet nun viel Stoff für künftige historische Recherchen, der dort jetzt leichter zugänglich ist als an manchem der Originalfundorte. Die Archive verschiedener Ministerien sind zumindest teilweise unter Druck gekommen, was die Ablieferung, Inventarisierung oder Freigabe der eigenen historischen Bestände angeht. Insofern können diese gesammelten Akten, aus denen meines Erachtens der politische Kontext der Verschleierungsoperation durchaus kenntlich wird, für die historische Forschung hilfreich sein. Oscar Luigi Scalfaro (1918 – 2012), der frühere Staatspräsident Italiens, mit dem ich in den Jahren der Ausschussarbeit gelegentlich zusammentraf, machte mir gegenüber aus seiner Skepsis gegenüber manchen Untersuchungskommissionen keinen Hehl: Als Apparat zur Produktion von Spesenrechnungen hat er sie bezeichnet und damit vielleicht richtiger gelegen, als ich das damals erfassen konnte. Es gibt aber auch noch eine grundsätzlichere Problematik, die der Auftragsforschung notwendigerweise inhärent ist: Da alle Kommissionen und Ausschüsse, aber auch juristische Sachverständigengutachten, von einem vorformulierten Mandat geprägt sind (ein solches kann man bereits am Namen des hier behandelten Ausschusses ablesen), ist die freie historische Forschung, die die historischen Vorgänge ohne einen von außen vorgegebenen Blickwinkel untersuchen kann, für meine Begriffe eher in der Lage, größere Kontexte und Verantwortlichkeiten zu erkennen und zu benennen – jedenfalls solange sie nicht individuell präzise zuschreibbare Schuld und rechtlich bindende Ergebnisse erzeugen muss. Dennoch: Vor allem die Anhörungen von Vollblutpolitikern wie Giulio Andreotti (1919 – 2013) oder des so luziden Verfassungsjuristen Giuliano Vassalli (1915 – 2009) waren für mich von hohem Interesse. Ebenso wie die Anhörungen der pensionierten Mitglieder des Militärjustizapparats. Im Rückblick war diese Sachverständigenarbeit für mich ein Fenster, um aus der Nähe einen besonderen Einblick in die Mechanismen der italienischen Politik zu gewinnen. Diese neue Perspektive war à la longue für mich wichtiger als die zusätzlich gewonnenen Quellenkenntnisse. Die Anhörungen haben aber auch Quellen für die historische Forschung produziert, die auf anderem

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Wege nicht zustande gekommen wären. Ob die Ergebnisse aus dem umfangreichen dokumentarischen Material, das aufgrund der Kommissionsarbeit zusammengetragen wurde, auch den Weg in die italienische Öffentlichkeit finden werden, hängt von anderen Faktoren ab. Auch wenn die deutsch-italienische Kriegsvergangenheit immer noch nicht vollständig abgeschlossen ist, so bestimmen in den bilateralen Beziehungen im Moment doch andere Themen die politische wie gesellschaftliche Agenda.

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Der Historiker als Gerichtsgutachter* 1 Vorbemerkungen Unmittelbar nach dem Waffenstillstand vom 8. September 1943 besetzte die deutsche Wehrmacht über die Hälfte des italienischen Territoriums.¹ Folge davon war unter anderem, dass schätzungsweise (die genaue Zahl ist noch nicht ermittelt worden) 15.000 Zivilisten in sogenannten Vergeltungsmaßnahmen, an denen sich in einigen Fällen bewaffnete Einheiten der Republik von Salò beteiligten, getötet wurden.² Gleichzeitig wurden 6.806 Juden verhaftet und deportiert; 5.969 von ihnen kamen in den Konzentrationslagern ums Leben.³ Nach Kriegsende gab es nur wenige Strafverfahren gegen die Verantwortlichen der Massaker an der Zivilbevölkerung, und kein einziges galt dabei ausschließlich der Anklage, an der Judenvernichtung in Italien mitgewirkt zu haben.⁴ Eine neue (späte) Prozessphase gegen die von den deutschen Besatzungstruppen in Italien begangenen Kriegsverbrechen setzte Ende der 1990er Jahre ein, nachdem 1994 im Zuge des Verfahrens gegen Erich Priebke mehrere hundert vom Militärgeneralstaatsanwalt Santacroce 1.960 illegal abgelegte Gerichtsakten über die an der italienischen Bevölkerung begangenen Kriegsverbrechen im Palazzo Cesi, dem römischen Sitz der Militärgeneralstaatsanwaltschaft, entdeckt worden waren.⁵

* Deutsche Übersetzung von Paolo Pezzino, Lo storico come consulente, in: Giorgio Resta/Vincenzo Zeno-Zencovich (Hrsg.), Riparare Risarcire Ricordare. Un dialogo tra storici e giuristi. Neapel 2012, S. 83 – 112.  Es werden hier die Überlegungen aus Paolo Pezzino, Experts in truth? The politics of retribution in Italy and the role of historians, in: Modern Italy 15.3, 2010, S. 349 – 363, wiederaufgenommen.  Paolo Pezzino, The German Military Occupation of Italy and the War against Civilians, in: Modern Italy 12.2, 2007, S. 173 – 188.  Vgl. die Webseite der Fondazione Centro di Documentazione Ebraica Contemporanea (CDEC), http:// www.cdec.it/home2_2.asp?idtesto=185&idtesto1=594&son=1&figlio=877&level=2#Tavola_1.__Vittime_ della_Shoah_in_Italia (letztmalig abgerufen am 14.8. 2012).  Paolo Pezzino, Sui mancati processi in Italia ai criminali di guerra tedeschi, in: Storia e Memoria 10.1, 2001, S. 9 – 72, mit Quellenanhang; Paolo Pezzino/Guri Schwarz, From Kappler to Priebke. Holocaust Trials and the Seasons of Memory in Italy, in: David Bankier/Dan Michman (Hrsg.), Holocaust and Justice. Representation & Historiography of the Holocaust in Post-War Trials. Jerusalem 2010, S. 299 – 328. Vgl. eine aktualisierte Statistik in Marco De Paolis, La punizione dei crimini di guerra in Italia, in: Silvia Buzzelli [u. a.] (Hrsg.), La ricostruzione giudiziale dei crimini nazifascisti in Italia. Questioni preliminari. Turin 2012, S. 61– 155.  Vgl. zu diesem Vorfall den Mehrheits- und Minderheitsbericht der parlamentarischen Untersuchungskommission, die sich in der 14. Legislaturperiode mit den Motiven der Verschleierung der Faszikel zu den nazifaschistischen Verbrechen befasste, unter der Adresse http://wai.camera.it/_bica mera li/nochiosco.asp?pagina=/_bicamerali/leg14/crimini/home.htm. https://doi.org/10.1515/9783110541144-012

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Im Rahmen der jüngsten Untersuchungsverfahren bin ich vom Staatsanwalt Marco De Paolis beim Militärgericht in La Spezia zum Gerichtsgutachter für vier Strafprozesse über die Massaker in Bardine di S. Lorenzo, Valla und Vinca (Provinz Massa-Carrara), Sant’Anna di Stazzema (Lucca), Monte Sole (die Gemeinden Grizzana, Marzabotto und Monzuno in der Provinz Bologna) und der Certosa di Farneta (Lucca) ernannt worden.⁶ Es handelt sich dabei um die beiden Bluttaten mit den höchsten Opferzahlen in Italien (die Aktion von Monte Sole war die folgenschwerste im von den Deutschen besetzten Westeuropa), ferner um das einzige an einer Religionsgemeinschaft verübte Blutbad, schließlich um einen vier Tage andauernden und 400 Opfer fordernden Terrorakt gegen die Bevölkerung in den Apuanischen Alpen.⁷ In allen vier Fällen operierten Einheiten der 16. SS-Panzergrenadier-Division unter dem Kommando von General Simon, der 1947 in Padua von einem englischen Militärgericht zum Tode verurteilt, später begnadigt und Mitte der 1950er Jahre freigelassen wurde. In Italien waren alle vier Operationen Gegenstand eines Gerichtsverfahrens: Im Zusammenhang mit der Certosa di Farneta wurde ein Unteroffizier der Division angeklagt und freigesprochen, die anderen drei Ereignisse gingen in das Verfahren ein, welches das Militärgericht von Bologna Anfang der 1950er Jahre gegen den Kommandanten des Aufklärungsbataillons der Division, Walter Reder, führte. Reder wurde wegen der Massaker von Vinca und Monte Sole verurteilt, in den anderen Fällen hingegen freigesprochen. Drei der erwähnten Gerichtsverfahren (zu den Ereignissen von Sant’Anna di Stazzema, Monte Sole und der Certosa di Farneta) fanden ihren Abschluss (durch die drei Instanzen, die auch die Militärgerichtsbarkeit kennt), das vierte zu dem Geschehen in den Apuanischen Alpen, das im Juni 2008 beim Militärgericht von La Spezia eingeleitet, dann aber wegen der Auflösung dieses Gerichts unterbrochen und an das römische Militärgericht übertragen worden war, ist bis in die Berufungsinstanz gelangt. Überwiegend wurden die Angeklagten zu lebenslanger Haft verurteilt, zuweilen kam es auch zu Freisprüchen. Da die Verfahren in Abwesenheit der Betroffenen stattfanden und kaum eine Möglichkeit besteht, dass die Verurteilten von Deutschland ausgeliefert werden, handelt es sich bei den Urteilen in erster Linie um symbolische Akte. Abweichend von der unmittelbar nach Kriegsende vorherrschenden Rechtskultur weitete der Militärstaatsanwalt von La Spezia den Kreis der Verantwortlichen aus:

 Im Januar 2002 für Bardine di S. Lorenzo, im Februar 2002 für Monte Sole, im November 2002 für Sant’Anna di Stazzema, im Januar 2004 für die Certosa di Farneta.  Vgl. dazu die grundlegenden historischen Studien von Paolo Pezzino, Crimini di guerra nel settore occidentale della linea gotica, in: Gianluca Fulvetti/Francesca A. Pelini (Hrsg.), La politica del massacro. Per un atlante delle stragi naziste in Toscana. Neapel 2006, S. 89 – 136; ders., Sant’Anna di Stazzema. Storia di una strage. Bologna 2008; Luca Baldissara/Paolo Pezzino, Il massacro. Guerra ai civili a Monte Sole. Bologna 2009; Gianluca Fulvetti, Una comunità in guerra. La Certosa di Farneta tra resistenza e giustizia. Neapel 2006.

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Die Teilnahme in einer bedeutenden Kommandoposition an militärischen Operationen, die in letzter Instanz zum Massaker an hunderten am Krieg nicht beteiligten Zivilpersonen führten, ergänzt den Tatbestand der bewussten Beihilfe zur Straftat, die dementsprechend nicht ausschließlich der (symbolischen) Verantwortung des Kommandanten der Einheit zugeordnet werden kann; [es handelt sich dabei um] ein modernes Prinzip […], das endgültig mit der beklagenswerten und scheinheiligen Ansicht aufräumt, wonach der Soldat eine Art Automat ist, der den Befehlen blind zu gehorchen hat, ohne sie zu hinterfragen und zu diskutieren, und damit jeglicher Verantwortung enthoben wird. [Da überdies] an der Zivilbevölkerung unterschiedslos vorgenommene Massaker, wie die beschriebenen, der Vorbereitung, vorgängigen Organisation und Planung bedürfen und im Zusammenwirken mit jedem einzelnen Trupp der operativen Einheit umgesetzt werden, wird ein Soldat durch die Beteiligung an jeder einzelnen oder an allen dazu notwendigen Maßnahmen in einer bedeutenden taktischen Funktion (Ordonnanzoffizier, Divisions-, Regiments- oder Bataillonsfeldwebel) bzw. Kommandoposition (Kompanie-, Zug- oder Truppführer) zwangsläufig zum Mittäter am Verbrechen. In diesem Sinn haben wir es zur Feststellung der strafrechtlichen Verantwortung für ausreichend gehalten, dass diese Kommandofunktionen im Rahmen dieser Operationen bekleidet wurden, auch wenn sich die materielle Teilnahme an den Tötungen nicht nachweisen lässt, denn der Tatbestand ist in dem Moment erfüllt, in dem man sich nicht dem erhaltenen illegitimen (verbrecherischen) Befehl widersetzt, sondern alle organisatorischen, leitenden und koordinierenden Maßnahmen sowohl vorbereitender als auch ausführender Natur ergreift, die zum Erfolg der Operation und damit des Massakers beitragen. […] Anders stellt sich hingegen die Lage für die konkreten Vollstrecker der Straftaten, d. h. der Tötungen dar, bei denen es sich überwiegend um Angehörige der Mannschaftsdienstgrade ohne Befehlsgewalt handelte. […] Um deren strafrechtliche Verantwortung festzustellen, muss im Einzelfall nachgewiesen werden, dass sie den erhaltenen Befehl konkret ausgeführt haben.⁸

Dazu bedurfte es einer komplexen (im Übrigen aufgrund der Untersuchungen der Alliierten in der Nachkriegszeit erleichterten) Rekonstruktion des Personalbestands der an den Gewalttaten beteiligten Einheiten und einer Identifikation der noch lebenden Personen. Diese Aufgabe hat der Staatsanwalt dem Kölner Historiker Carlo Gentile übertragen, der häufig mit den deutschen und italienischen Gerichtsbehörden zusammenarbeitet. Ich übte hingegen eine andere Funktion aus. Im Zusammenhang mit der Certosa di Farneta lautete mein Auftrag, die Befehle und Direktiven, die seitens der höchsten deutschen Kommandostellen an die verschiedenen nach dem 8. September 1943 in Italien stationierten Einheiten ergingen, und die Führung des Anti-Partisanen-Kampfes zu rekonstruieren; dabei sollte herausgearbeitet werden, welche Vorgehensweisen und -praktiken den Kommandanten befohlen und wie sie von diesen konkret umgesetzt wurden. Außerdem sollten das einschlägige Quellenmaterial gesammelt bzw. die Archive benannt werden, in denen es aufbewahrt wurde. Da das Geschehen in seinen faktischen Abläufen bereits bekannt war (es sei daran erinnert, dass dazu schon Ende der 1940er Jahre ein Straf-

 De Paolis, La punizione, S. 127– 129. Zur komplexen Problematik der Befehlskette und der Verantwortlichkeit des Einzelnen vgl. David Cohen, L’eredità di Norimberga, in: Luca Baldissara/Paolo Pezzino (Hrsg.), Giudicare e punire. I processi per crimini di guerra tra diritto e politica. Neapel 2005, S. 247– 256.

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verfahren stattgefunden hatte), ging es dem Staatsanwalt um eine Rekonstruktion der allgemeinen Rahmenbedingungen des „Kriegs gegen die Zivilbevölkerung“⁹ und in diesem Zusammenhang insbesondere um das Befehlssystem des Oberkommandos der Wehrmacht, um dessen Grad an zwingender Verbindlichkeit, um die Grundzüge der im Sommer 1944 in der Toskana von der 16. SS-Panzergrenadier-Division durchgeführten Anti-Partisanen-Operationen. Die Fragestellungen zu den anderen Fällen galten hingegen eher den detaillierten Tiefenstrukturen. Sie bezogen sich auf die historische Rekonstruktion des Geschehens mit Angabe der verschiedenen Schauplätze und Beschreibung des räumlich-zeitlichen Rahmens sowie der konkreten Vorgehensweise bei den Operationen. Die Staatsanwaltschaft hoffte damit die Motive herauszufinden, die dem Handeln der Soldaten zugrunde lagen, eventuell vorhandene Beziehungen zwischen den Massakern und der Partisanentätigkeit aufzudecken, die einzelnen Umstände zu vertiefen und die an den Tatorten anwesenden italienischen und ausländischen Truppen und Kommandos zu identifizieren. Ferner sollten die hierarchischen Strukturen eines Kommandos bzw. einer Einheit bestimmt werden, wobei sich das besondere Augenmerk auf den Erlass und die Ausführung der Befehle zu richten hatte, die mit den in Frage stehenden Tatbeständen zusammenhingen. Es ging darum, nicht nur die Kommandierenden, sondern überhaupt alle am jeweiligen Ort befindlichen Soldaten zu identifizieren, ihre Dienstgrade und Aufgaben innerhalb jeder Einheit bzw. jedes Kommandos festzustellen, allgemeine Informationen über die SS (Rekrutierung und Zusammensetzung, Ideologie und Ziele) zu sammeln, die Namen der in dem jeweiligen Gebiet operierenden Partisanenführer und die Mitglieder der von ihnen befehligten Formationen herauszufinden und zu prüfen, inwieweit die Bevölkerung und die Partisanenführer damals von Massakern oder schweren Gewaltakten wussten, die die Deutschen bereits vorher begangen hatten. Auch sollte nachgeforscht werden, wer von den beteiligten Soldaten noch lebte (damit haben sich allerdings nur der zweite Sachverständige, Carlo Gentile, und natürlich die Gerichtspolizei befasst) und wie hoch die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung und den Partisanen war, deren Identität es in diesem Zusammenhang festzustellen galt. Schließlich sollten mögliche Zeugen benannt werden, die nützliche Aussagen zum Geschehen machen konnten, und mögliche vorgängige Strafverfahren ermittelt werden. In allen vier Fällen habe ich für die Staatsanwaltschaft einen schriftlichen, den Verfahrensakten beigefügten Bericht angefertigt und wurde zu ihnen im Verlauf der Verhandlungen angehört. Einige der aufgeworfenen Fragen verlangten eine spezifisch historiographische Interpretation und berührten Problemfelder, die von den Historikern diskutiert werden: die Natur der Massaker, die ihnen zugrunde liegenden Motive und ihr eventuell ideologischer Charakter, das Kommandosystem und die Befehlsketten, die Aufteilung

 Michele Battini/Paolo Pezzino, Guerra ai civili. Occupazione tedesca e politica del massacro. Toscana 1944. Venedig 1997.

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der Aufgaben zwischen der Wehrmacht und der SS, die Rolle von Einheiten wie beispielsweise der 16. SS-Panzergrenadier-Division und der Division Hermann Göring, die auf derartige Aktionen spezialisiert waren, das Verhältnis zwischen den Massakern und der Partisanentätigkeit (handelte es sich dabei um Vergeltungsmaßnahmen im gewöhnlichen Sinn oder um vorbeugende und terroristische Säuberungsaktionen, die sich gegen die jeweilige Zivilbevölkerung richteten?). Weitere, innerhalb der Geschichtsforschung bis vor wenigen Jahren vielleicht ungewöhnlich anmutende Fragen gehören mittlerweile vollberechtigt zu ihrem Kanon: Die gemeinhin vernachlässigten Einzelumstände werden zunehmend gewichtiger für Studien, die darauf abzielen, geteilte Erinnerungen aufzuarbeiten, und dabei auch auf die zwischen diesen bestehenden Kontraste eingehen, um den jeweiligen Wahrheitsgehalt zu überprüfen. (Gab es vor dem Massaker eine Partisanenaktion? Sind die Beschuldigungen gegenüber den Partisanen, ihnen sei das Schicksal der Zivilbevölkerung gleichgültig gewesen, begründet oder beruhen sie auf Legenden? Wie sahen die Beziehungen zwischen den Partisanen und dem sie aufnehmenden Umfeld wirklich aus? Wie haben die Partisanen tatsächlich gehandelt, abgesehen von den epischen Erzählungen, die in der Nachkriegszeit vorherrschten?) Soweit es Namen und Zahl der Opfer betrifft, hatte ich dazu Nachforschungen mit Blick auf die Massaker in der Toskana durchgeführt;¹⁰ und auch die Suche nach Augenzeugen ist mittlerweile nicht mehr ungewöhnlich für Studien, die in zunehmendem Maße – und zuweilen auf übertriebene Weise, so dass die Grenzen zwischen Erinnerung und Geschichte zu verschwimmen drohen – mündliche Quellen heranziehen.

2 Einige Bemerkungen zur Vorgeschichte Seit ihrer Herausbildung als Disziplin – d. h. als kritische Methode, die auf ein vom jeweiligen Gegenstand bestimmtes Quellenkorpus angewandt wird, und mit einer narrativen Struktur, die den von den Wissenschaftlern allgemein anerkannten Normen und Konventionen entspricht – hat man auf die Geschichte und ihre Vertreter zurückgegriffen, um die Zugehörigkeit (zu einer örtlichen oder nationalen Gemeinschaft) zu definieren und „jenen Komplex an Ritualen und Glaubenssätzen“ zu untermauern, „der einem Volk Identität und Richtung gibt.“¹¹ Die Funktion des Historikers als eines Gerichtsgutachters ist allerdings jünger und weitreichender, weil damit der Anspruch verbunden ist, auf der Grundlage der „ethically ambiguous role of professional interpreter of the past“ Wahrheit und Gerechtigkeit zusammenzubringen: „Deciding wie es eigentlich gewesen acquires a new meaning and can have an in Vgl. die Ergebnisse in Gianluca Fulvetti/Francesca Pelini (Hrsg.), La politica del massacro. Per un atlante delle stragi naziste in Toscana. Neapel 2006, und in Gianluca Fulvetti, Uccidere i civili. Le stragi naziste in Toscana 1943 – 1945. Rom 2009.  Yosef Hayim Yerushalmi, Über das Vergessen, in: ders. [u. a.] (Hrsg.), Ein Feld in Anatot. Versuche über jüdische Geschichte. Berlin 1993 [1988], S. 11– 20, hier S. 16.

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comparably more profound impact, when communicated in court rather than in a lecture hall or in print“.¹² Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs griff man auf historische Studien zurück, um das nationalsozialistische Regime politisch zu verurteilen,¹³ doch in Nürnberg spielten die Historiker keine große Rolle. Der Jerusalemer Eichmann-Prozess verstand sich als eine wirkungsvolle Geschichtslektion, die sich sowohl an die eigenen Landsleute als auch an die internationale Gemeinschaft richtete.¹⁴ Zwar konsultierten die Ermittler auch die damals verfügbaren historischen Studien und nahmen die Hilfe des Archivs und der Mitarbeiter von Yad Vashem in Anspruch, die „bereits Erfahrung darin besaßen, Material für die in Westdeutschland durchgeführten Prozesse gegen die Naziverbrecher zu sammeln“, aber nur der Geschichtsprofessor Salo Baron, der an der Columbia University jüdische Geschichte lehrte, wurde von der Anklage zur Aussage vor Gericht geladen, um über das Leben der Juden vor ihrer Vernichtung durch die Nationalsozialisten zu sprechen.¹⁵ Im einige Jahre später stattfindenden Frankfurter Auschwitz-Prozess gegen 22 Offiziere und Funktionsträger des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau wurden hingegen zahlreiche Historiker des Münchner Instituts für Zeitgeschichte als Sachverständige der Anklage gehört. Nach Alberto Melloni bedeutete er einen Wendepunkt: An Stelle der Universalgeschichte Nürnbergs oder einer Geschichtsphilosophie, die Hannah Arendt in Jerusalem vergeblich sucht, finden hier das Recht des Strafprozesses und die Wahrheit des historischen Urteils formal zusammen.¹⁶

Im Rückblick war die Rolle der Historiker durchaus problematisch. Hans Buchheim, Martin Broszat und Helmut Krausnick legten während des Prozesses, der im Dezember 1963 begann und mehr als 180 Tage dauerte, eine 300-seitige Geschichte des Lagers vor. Die Sachverständigen wurden bei Verhandlungsbeginn gehört und veröffentlichten die Ergebnisse ihrer Nachforschungen schon 1965 in erster Auflage unter dem Titel Anatomie des SS-Staates (zu den drei genannten Wissenschaftlern kam noch Hans-Adolf Jacobsen, Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für

 Harriet Jones [u. a.], Introduction, in: dies. [u. a.] (Hrsg.), Contemporary History on Trial. Europe Since 1989 and the Role of the Expert Historian. Manchester/New York 2007, S. 2– 3, die sich in diesem Zusammenhang auf Olivier Dumoulin, Le rôle social de l’historien. Paris 2003, berufen.  Marina Cattaruzza erwähnt den 1955 erschienenen Band The Third Reich, der vom International Council for Philosophy and Humanistic Studies in Auftrag gegeben wurde und unter der Schirmherrschaft der UNESCO stand; an ihm arbeitete u. a. Leon Poliakov mit. Vgl. Leon Poliakov, La Storiografia della Shoah, in: Marina Cattaruzza [u. a.] (Hrsg.), Storia della Shoah. La crisi dell’Europa, lo sterminio degli ebrei e la memoria del XX secolo, Bd. 2: La memoria del XX secolo, Turin 2006, S. 83.  Idith Zertal, Israel’s Holocaust and the Politics of Nationhood. Cambridge 2005, S. 119.  David Cesarani, Adolf Eichmann. Anatomia di un criminale. Mailand 2006 [2004], S. 301, 320.  Odo Marquard/Alberto Melloni, La storia che giudica, la storia che assolve. Rom/Bari 2008, S. 19.

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Auswärtige Politik, hinzu). Im Vorwort erläutern die Autoren kurz, aber sehr klar, worin sie ihre Aufgabe während des mittlerweile abgeschlossenen Prozesses sahen: In den zahlreichen Prozessen, die gegenwärtig in Deutschland gegen nationalsozialistische Gewaltverbrecher geführt werden, wird die Frage nach diesem Zusammenhang [zwischen der politischen Tyrannei und dem ideologischen Verbrechen; nach der englischen Ausgabe, Anm. d. Üb.] unausweichlich gestellt. In der Notwendigkeit, darauf Antwort zu finden, liegt die Bedeutung der Prozesse über ihre eigentliche Aufgabe hinaus, begangenes Unrecht zu sühnen.

Nur wenn man von den Einzelfällen auf „das Geflecht der geistigen, politischen und organisatorischen Voraussetzungen“ schaue, lasse sich das Verhalten der Angeklagten richtig und gerecht beurteilen. Aufgabe des „historischen Sachverständigen“ sei also, „bei der Klärung dieser Voraussetzungen zu helfen“; hingegen sei er nicht dazu da, sich mit der individuellen Schuldfrage zu befassen, für die alleine das Gericht zuständig sei. Den Sachverständigen war gleichwohl bewusst, dass sie „mit über das weitere menschliche Schicksal der Angeklagten“ entschieden, indem sie die seit den Nürnberger Prozessen verfolgte Verteidigungsstrategie demontierten, die darauf zielte, „sich im Dickicht der organisatorischen Verflechtungen und einander überschneidenden Kompetenzen dem Zugriff richterlicher Tatsachenfeststellung zu entziehen.“ Gerade deshalb bedürfe die Erörterung der Geschichte der nationalsozialistischen Zeit im Rahmen eines Strafprozesses […] in besonders hohem Maße Rationalität und Nüchternheit […]. Diese pflichtgemäße Sorgfalt der Gerichte bildet in der öffentlichen Diskussion ein heilsames Gegengewicht gegen einen weitverbreiteten Stil emotionaler ‚Vergangenheitsbewältigung‘, die es, um einige höhere Wahrheiten wirkungsvoll darzustellen, mit der Wirklichkeit der geschichtlichen Fakten und Zusammenhänge nicht sonderlich genau nimmt. […] man bevorzugt das literarisch wirkungsvoll Geschriebene […], man strebt weg von der historisch-rationalen hin zur moralisch-emotionalen Betrachtungsweise. […] Die Strenge der Gerichtsverfahren bietet einen Maßstab für die Rationalität, deren wir bedürfen. Die Autoren der vorliegenden Gutachten waren bemüht, sich an diesem Maßstab zu orientieren.¹⁷

Der historische Sachverstand diente also dazu, den allgemeinen Rahmen der Gräueltaten herauszuarbeiten, für die die einzelnen Angeklagten sich zu verantworten hatten, und beschränkte sich nicht darauf, die Richter bei der Feststellung der individuellen Schuld zu unterstützen. Der Ort, an dem die Sachverständigen ihre Überlegungen vortrugen, d. h. ein Gerichtshof, machte es möglich, der öffentlichen Meinung einen rationalen Ansatz zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit aufzunötigen und damit eher politischen als strafrechtlichen Zielsetzungen zu entsprechen. Der Prozess erfüllte damit gegenüber der gesamten nationalen

 S. zu diesen Zitaten das Vorwort in Hans Buchheim [u. a.], Anatomie des SS-Staates. Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte (= Walter-Dokumente. Drittes Reich), Bd. 2: Hans Buchheim, Die SS – Das Herrschaftsinstrument. Befehl und Gehorsam. Olten-Freiburg/Br. 1965, S. 5 – 8.

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Gemeinschaft eine pädagogische Funktion, die letztendlich auf dieser gutachterlichen Tätigkeit der Historiker beruhte. Diese Form pädagogischer Aufklärung wies gerade hinsichtlich der historiographischen Analyse und der Rolle, die die Historiker im Prozess spielten, erhebliche Mängel auf: Vor allem war „the entire historical background given in the indictment […] irrelevant to the charges“.¹⁸ Ferner förderte die ausschließliche Konzentration auf den „SS-Staat“ eine im Grunde beschwichtigende Einschätzung des nationalsozialistischen Regimes und dessen gesellschaftlicher Verwurzelung: […] [U]m [Uferlosigkeit] zu vermeiden, schrieb das Gericht eine restriktive Lesart der deutschen Geschichte und damit auch des Völkermordes an den Juden fest, in der systematisch unterbelichtet blieb, welche strukturelle Beziehung zwischen dem Holocaust und der deutschen Gesellschaft bestanden hatte.¹⁹

Überdies bot sich auf dem Boden einer allgemeinen Betrachtung des nationalsozialistischen Regimes die Möglichkeit, während des Prozesses alternative, der marxistischen Orthodoxie verpflichtete Standpunkte, die sich von denen der Gutachter unterschieden, zur Geltung zu bringen. Tatsächlich wurde der DDR-Historiker Jürgen Kuczynski in den Zeugenstand gerufen. Die faschistischen Regime seien nur ein Ausdruck der Krise des Monopolkapitalismus gewesen, erklärte er, und die zentrale Rolle in Auschwitz müsse dem I.G. Farben-Konzern zugeschrieben werden. Er führte eine heftige Attacke gegen die kapitalistische Welt, der die Bundesrepublik Deutschland voll und ganz zugehöre, und behauptete, „dass die falschen Angeklagten auf der Anklagebank sitzen. Die Monopolkapitalisten und ihre Helfer dabei, an die Stelle der Gasöfen die Atombombe zu setzen, seien schuldig.“²⁰ Aus einem solchen Blickwinkel stellte sich die SS „gewissermaßen“ bloß als das „disziplinarische Exekutivorgan der IG“²¹ dar. Dergestalt mutierte die pädagogische Funktion in eine ideologische Auseinandersetzung über die Deutung der Vergangenheit. Es handelte sich dabei um einen exemplarischen Fall von öffentlichem Gebrauch der Geschichte. Die herausragende Rolle, die die Historiker dabei spielten, führte zu einer starken Verzerrung der Hauptzielsetzung des Strafverfahrens, die darin bestand, über die Schuld der einzelnen Angeklagten zu entscheiden. Ende der 1980er Jahre setzte sich eine neue Figur des Historikers durch, „who chose to play the role of ‚expert‘ in public debates about the past“.²² Diese Funktion hängt mit der Verbreitung der Mechanismen der Übergangsjustiz sowohl in den  Rebecca Wittmann, Beyond Justice. The Auschwitz Trial. Cambridge/London 2005, S. 271.  Davin O. Pendas, Der Auschwitz-Prozess. Völkermord vor Gericht. München 2013, S. 250.  Gerhard Maunz, Ein Professor aus Ostberlin. Kuczynski als Sachverständiger erst zu gelassen, dann abgelehnt, in: Die Welt, 20. 3.1964, zitiert nach ebd., S. 159.  Jürgen Kuczynski, Die Verflechtung von sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Interessen bei der Einrichtung und im Betrieb des KZ Auschwitz und seiner Nebenlager, in: Dokumentation der Zeit. Informations-Archiv 16, 1964, S. 36 – 42, hier S. 52, zitiert nach Pendas, Auschwitz-Prozess, S. 162.  Carole Fink, zitiert nach Jones[u. a.], Introduction, S. 1.

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postkolonialen als auch in den postsozialistischen Gesellschaften zusammen:²³ In den Wahrheits- und Gerechtigkeitskommissionen, auf dem Feld der Reparationsmechanismen, Eigentumsrückerstattung und Versöhnungspolitik sind neben Juristen, Politikern, Sozialwissenschaftlern, Journalisten auch professionelle Geschichtsforscher aktiv.²⁴ Weitere Bereiche, in denen Historiker auftreten, bilden die innerstaatlichen bzw. gemischten (zwischenstaatlichen) Untersuchungskommissionen, die darauf zielen, eine gemeinsame Sicht auf die besonders kontroversen Aspekte der Vergangenheit zu erarbeiten,²⁵ und die gerichtlichen Auseinandersetzungen über den sogenannten Negationismus in jenen Ländern, in denen er unter Strafe gestellt ist: Hier treten Historiker nicht nur als Sachverständige vor Gericht, wie sich am Fall Irving gegen Penguin UK and Lipstadt zeigt. David Irving verklagte Deborah E. Lipstadt, weil sie ihn in einem ihrer Bücher als „Hitler partisan wearing blinkers“ bezeichnet hatte, „[who] distort[ed] evidence […] manipulat[ed] documents, [and] skew[ed] […] and misrepresent[ed] data in order to reach historically untenable conclusions“.²⁶ Der Fall wurde im Winter 2000 vor dem Londoner Royal High Court verhandelt und die Angeklagte freigesprochen. Ihre Rechtskosten, die eine Gruppe von jüdischen und nichtjüdischen Unterstützern trug, beliefen sich auf 1½ Millionen Dollar, mit denen zum Teil ein Historikerteam finanziert wurde, das Irvings Unwahrheiten aufdecken sollte.²⁷ Dieser von Irving törichterweise ausgelöste Rechtsstreit bildet einen Meilenstein für die Behandlung der von den Negationisten verbreiteten Unwahrheiten nicht in

 Die Literatur zur Übergangsjustiz ist mittlerweile unüberschaubar; ich verweise hier nur auf das hervorragende kritische Panorama von Pier Paolo Portinaro, I conti con il passato. Vendetta, amnistia, giustizia. Mailand 2011.  John Torpey (Hrsg.), Politics and the Past. On Repairing Historical Injustices. New York 2003.  Vgl. Marina Cattaruzza/Sacha Zala, Negotiated History? Bilateral Historical Commissions in Twentieth-Century Europe, in: Jones [u. a.] (Hrsg.), Contemporary History on Trial, S. 123 – 143. Im selben Band vgl. Raoul Pupo, The Italo-Slovenian Historico-Cultural Commission, S. 144– 158. Im Dezember 2012 legte die Deutsch-Italienische Historikerkommission (der auch der Autor angehörte) den offiziellen Abschlussbericht vor; sie wurde im Laufe des bilateralen Gipfeltreffens in Triest am 18. November 2008 von der italienischen und deutschen Regierung mit dem Auftrag eingerichtet, „sich mit der deutsch-italienischen Kriegsvergangenheit und insbesondere dem Schicksal der nach Deutschland deportierten Italienischen Militärinternierten […] [zu] beschäftigen […]“, und trat im März 2009 zusammen, vgl. www.villavigoni.it/contents/files/Abschlussbericht.pdf (letztmalig abgerufen am 31.5. 2017).  Deborah E. Lipstadt, Denying the Holocaust. The Growing Assault on Truth and Memory. New York 1993, S. 161.  Ich danke R. Romanelli für den Hinweis, dass „das Team von Historikern, die im Prozess LipstadtIrving als Historiker dienten, von R. J. Evans, einem herausragenden Historiker des Nationalsozialismus, geleitet wurde; Evans, den das britische Gericht beauftragt hatte, die Sachlage zu erläutern, hat darüber in Richard J. Evans, Lying about Hitler. History, Holocaust, and the David Irving Trial. New York 2002, berichtet. Die Aufgabe war alles andere als einfach und nicht ohne Tücken, denn Irving kannte sich auf dem Gebiet zweifellos gut aus und überblickte auch die Archivlage“ (Email an den Autor vom 13.6. 2012).

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einer freien historiographischen Diskussion, sondern in einem Gerichtssaal.²⁸ Historiographische Kontroversen können also vor Gericht enden, wenn es darum geht, den „Wahrheitsgehalt“ von Behauptungen festzustellen, die man für falsch hält, oder wenn Historiker Beschuldigungen zurückweisen wollen, die sie als verleumderisch betrachten; dagegen sind auch solche Wissenschaftler wie Deborah Lipstadt nicht gefeit, die es ablehnen, dass Gesetze zur Bekämpfung des Negationismus erlassen werden. Und es ist nicht einfach, sich in derartigen Situationen zu verteidigen, wenn jemand, der sein Recht auf historische Kritik ausübt, damit rechnen muss, verklagt zu werden: Sein Handwerk gut auszuüben kann gefährlich sein, wenn man über kein Netzwerk finanziellen Schutzes verfügt oder kein solches zu aktivieren vermag. Der vorliegende Beitrag beschränkt sich auf die Rolle der Historiker in Strafverfahren gegen mutmaßliche Verantwortliche für Kriegsverbrechen. In Italien ist mir für die Zeit vor der letzten Prozesswelle nur ein einziger Fall bekannt, in dem ein Historiker als Sachverständiger auftrat: 1976 wurde Enzo Collotti im triestinischen Verfahren gegen die Verantwortlichen des Konzentrationslagers Risiera di S. Sabba als Sachkundiger des Schwurgerichts gehört. In der neuen Phase, die mit den Prozessen gegen Erich Priebke vor dem römischen Militärgericht einsetzte (1996 – 98), fungierte Gerhard Schreiber vom Freiburger Militärgeschichtlichen Forschungsamt als Fachgutachter der Anklage. Seitdem sind sechs Prozesse bis 2002 und vierzehn von 2002 bis heute geführt worden, in denen häufig Historiker zumeist auf Antrag der Anklage oder der Nebenkläger als Experten gehört wurden.²⁹

3 Richter und Historiker: Analogien und Differenzen Die Arbeitsweisen der Historiker und Richter ähneln sich, auch wenn vom erstgenannten in der Regel nur ein Urteil in ethischer Hinsicht verlangt wird. Der Urteilsbildung geht jedoch eine sorgfältige Rekonstruktion der Tatsachen voraus. Einige verneinen, dass der Historiker dazu in der Lage sei: Simon Schama beispielsweise schreibt bezüglich zweier Narrationen über den Tod einer historischen Figur, dass „verschiedene Berichte des Ereignisses um Glaubwürdigkeit bei den Zeitgenossen und der Nachwelt [wetteifern].“ (Aber, stellt sich die Frage, ist dem nicht auch so in den Gerichtssälen, wo die in der Regel entgegengesetzten Versionen von Anklage und Verteidigung aufeinandertreffen?) Seiner Meinung nach vermögen die Historiker das „Wahre“ gar nicht anzustreben, sie können sich ihm höchstens annähern und müssen im schmerzlichen Bewußtsein ihrer Unfähigkeit, eine tote Welt je wieder vollständig zu rekonstruieren, gleichviel, wie gründlich oder aufschlußreich ihre Dokumentation auch sein mag, ewig

 Vgl. auch David Kaufman [u. a.] (Hrsg.), From the Protocols of the Elders of Zion to Holocaust Denial Trials. London/Portland 2007.  Vgl. die Angaben in De Paolis, La punizione, S. 140 – 155.

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Schatten nachjagen. Natürlich behelfen sie sich anderweitig: mit der Formulierung von Problemen und der Erklärung von Ursache und Wirkung. Die Zuverlässigkeit solcher Antworten aber bleibt immer von der unüberbrückbaren Entfernung vom Thema abhängig.³⁰

Offener zeigte sich Carlo Ginzburg: Die Historiker, die sich mit Rechtsangelegenheiten beschäftigen, führen in seinen Augen indirekt – „vermittelt durch den Ermittlungsrichter oder Richter“ – eine Untersuchung durch, in deren Verlauf „sich das ‚Wahre‘ und ‚Wahrscheinliche‘‚ ‚Beweis‘ und ‚Eventualität‘ miteinander verknüpfen, auch wenn sie voneinander streng geschieden bleiben“³¹. In späteren Überlegungen hat Ginzburg die Meinung vertreten, dass es beiden, dem Richter und dem Historiker, zwar um die „Feststellung der Tatsachen und damit des Beweises“ gehe, dass der letztgenannte aber das Fehlen von Beweisstücken ausgleichen könne, indem er auf den „Kontext als den Ort des historisch bedingten Möglichen“ zurückgreift (ich möchte dabei allerdings anmerken, dass auch im Rahmen eines Gerichtsprozesses das Beweisstück dadurch Bedeutung erhält, dass es in die Indizienargumentation, die dem von den Historikern benutzten „Kontext“ entspricht, eingeordnet wird): Daraus ergeben sich Urteile historischer Kompatibilität […], Mutmaßungen, nicht nachgewiesene Tatsachen. Wer zu anderen Schlüssen gelangt, verneint nur die aleatorische, unberechenbare Dimension, die einen wichtigen (wenn auch nicht ausschließlichen) Bestandteil des Lebens des Einzelnen ausmacht³².

Mit Blick auf den Prozess gegen Adriano Sofri und andere Aktivisten von Lotta Continua, denen vorgeworfen wurde, die Auftraggeber und Vollstrecker des Mordes am Polizeikommissar Luigi Calabresi gewesen zu sein, hat Ginzburg vor diesem Hintergrund gerade unter Einbeziehung des „Kontextes“ und nach einer aufmerksamen Lektüre der Gerichtsakten ein regelrechtes Gegenverfahren durchgeführt, d. h. gestützt auf seine als Historiker entwickelten Kompetenzen und Fertigkeiten den von einem Schwurgericht gefällten Schuldspruch umgekehrt. In der Regel beruft man sich auf einen bekannten Satz von Marc Bloch, der den radikalen Unterschied zwischen den Vorgehensweisen eines Richters und eines Historikers deutlich macht: „‚Wer ist schuld‘, ‚wem gebührt das Verdienst?‘ – so spricht der Richter. Der Wissenschaftler stellt nur die Frage: ‚Warum‘? und er rechnet damit, daß die Antwort nicht einfach ist.“ Kurz vor seiner Hinrichtung in Lyon wegen seiner Zugehörigkeit zum Widerstand fand er noch die Kraft zu folgenden Sätzen, die gleichsam ein Resümee aus seiner Lucien Febvre gewidmeten, als „bloßes Beruhi-

 Simon Schama, Wahrheit ohne Gewähr. Über zwei historische Todesfälle und das Vexierbild der Geschichte. München 1991, S. 308 und 306.  Carlo Ginzburg, Prove e possibilità. In margine a „Il ritorno di Martin Guerre“ di N. Z. Davis. Postfazione, in: Natalie Z. Davis (Hrsg.): Il ritorno di Martin Guerre. Un caso di doppia identità nella Francia del Cinquecento. Turin 1984 [1982], S. 133, 135.  Carlo Ginzburg, Il giudice e lo storico. Considerazioni in margine al processo Sofri. Turin 1991, S. 106 – 108.

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gungsmittel […] schlimmster persönlicher wie auch gesellschaftlicher Ängste und Schmerzen“ verfassten Schrift bilden: Kurz gesagt, ein Wort ist es, das all unsere Studien leitet und erhellt: ‚verstehen‘. Sagen wir bloß nicht, dem Historiker seien Leidenschaften fremd; er wird zumindest diese eine haben.Wir wollen nicht leugnen: Das Wort ist mit vielen Schwierigkeiten verbunden, berechtigt aber auch zu großen Hoffnungen. Vor allem ist es ein Wort großer Freundschaft. Wir urteilen viel zu viel, selbst in unserem Handeln. Es ist so einfach, ‚an den Pranger!‘ zu rufen. Wir verstehen niemals genug. Wer anders ist als wir – der Ausländer, der politische Gegner – gilt fast notwendig als böse. Selbst um die unvermeidlichen Kämpfe zu führen, wäre etwas mehr Verständnis für die anderen vonnöten, und erst recht wäre Verständnis erforderlich, um Kämpfe zu vermeiden, solange noch Zeit dazu ist. Die Geschichte selbst sollte darauf verzichten, sich wie ein richtender Erzengel zu gebärden, sie könnte uns dann sogar helfen, von diesem Fehler abzulassen. Sie bietet eine breitgestreute Erfahrung menschlicher Vielfalt, sie ist eine lange Begegnung von Menschen. Im Leben wie auch in der Wissenschaft ist alles daran zu setzen, daß es eine brüderliche Begegnung werde.³³

Gleichwohl scheint mir die Entgegensetzung von „verstehen“ und „urteilen“ zu scharf, denn das Verständnis ist auch für einen Urteilsspruch unabdinglich, und viele Geschichtsbücher sind – wenn auch nur implizit – mit ethisch geprägten Urteilen durchsetzt. Ein wirkliches Problem stellt sich, wenn das Urteil frei schwebt, dem historischen Verständnis vorausgeht oder sich an dessen Stelle setzt. So hat Antoon De Baets hervorgehoben, dass the line between explaining and judging can be extremely thin. Indeed, when you investigate the causes of a war crime and when you can identify with some certainty the perpetrators of that war crime, then you are already very close to judging. The search for the causes of crimes almost inevitably leads to statements about perpetrator responsibility. Both are closely knit, as John Toews reminded us: ‘[B]ecause the construction of causal relations is closely tied to the attribution of responsibility for particular acts, it integrates cognitive schemes with systems of ethics.’ A narrative that asks for the causes of a crime almost automatically leads to the question who was guilty for it and thus to moral judgments – which does not imply that causes and responsibilities are necessarily identical.³⁴

Und Tzvetan Todorov hat hervorgehoben, dass Wertvorstellungen das menschliche Dasein in jeder Hinsicht prägten und es deshalb eine unmenschliche Aufgabe sei, wolle man in den Humanwissenschaften jegliche Verbindung zu den Werten durchschneiden.³⁵ Die Analogien zwischen dem Beruf des Historikers und des Richters beruhen also sowohl auf der Natur der Indizienargumentation, auf die beide zurückgreifen, als

 Marc Bloch, Apologie der Geschichte oder der Beruf des Historikers, übers. von Siegfried Furtenbach, rev. durch Friedrich J. Lucas, Stuttgart 1980 [dt. 1974], S. 23, 152, 198.  Email von A. De Baets vom 22.6. 2012 an den Verfasser. Vgl. Antoon De Baets, Responsible History. New York/Oxford 2009.  Tzvetan Todorov, Les morales de l’histoire. Paris 1991, S. 20.

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auch darauf, dass die Arbeit des Historikers es häufiger, als man denkt, mit Fragen der Gerechtigkeit zu tun hat. Das hat Charles Maier sehr wirkungsvoll gesagt: Geschichte schreiben und Gerechtigkeit üben sind zwei vornehmlich rechtliche Verfahren, weil sie versuchen, die konkreten Einzelfälle auf allgemeine Normen zurückzuführen, indem sie die Unterschiede zwischen dem Ereignis und der Regel abwägen. Die Beurteilung eines Verhaltens im Gerichtssaal oder in einem historiographischen Kontext verlangt eine Analyse Fall für Fall […] Mäßigung, Glaubwürdigkeit, gesunder Menschenverstand, Beachtung von Rahmenbedingungen und Grenzen menschlichen Handelns, Lebenserfahrung, Fähigkeit, das Besondere und das Allgemeine aufzurufen, Gabe, die Geschehnisse dergestalt zu rekonstruieren, dass sie der Öffentlichkeit verständlich werden und nicht schon aus komplizierten und esoterischen Argumentationen hervorgehen: das sind die Stichworte aus dem Tugendkatalog des Juristen und des Historikers. Das Problem besteht darin, dass wir Plausibilität, Kontextualisierung, soliden gesunden Menschenverstand, Urteilskraft und Weisheit gerade deshalb fordern, weil wir dem Richter und dem Historiker eine unmögliche Aufgabe übertragen. Sie müssen entscheiden, über wieviel Spielraum das Subjekt verfügte, um zwischen verschiedenen Alternativen wählen zu können, denn das ist die Grundbedingung dafür, um Verantwortung zuweisen zu können. In gewisser Weise müssen sie entscheiden, welche der von den Streitparteien gebotenen Tatsachenversionen der Wahrheit am nächsten kommt. […] Sowohl die Rechtsprechung als auch die Geschichte setzen voraus, dass aus ihrer Arbeit eine einzige, ausgeglichene Version der Vergangenheit hervorgeht, die ein höheres Maß an Wahrheit enthält als jede der von den Streitparteien gebotenen Varianten.³⁶

Zuweilen wurde dem Historiker die Verantwortung übertragen, in seinen Studien über die von den Deutschen an der italienischen Zivilbevölkerung begangenen Massaker, die in den ungefähr letzten zwanzig Jahren einen bemerkenswerten Aufschwung genommen haben, ein Urteil über Geschehnisse zu fällen, die in den davon betroffenen Orten Schuldzuweisungen hervorriefen und auch zu Entzweiungen führten. Während die konkreten Vollstrecker der Massaker im Hintergrund blieben, teilte sich die Erinnerung hinsichtlich der Rolle der Partisanen; eine Gruppe von Überlebenden bzw. Angehörigen der Opfer beschuldigte sie, mit unnötigen Aktionen die deutschen Vergeltungsmaßnahmen ausgelöst und die Bevölkerung ihnen schutzlos ausgeliefert zu haben.³⁷ Ich befasse mich mit den Massakern seit 1993. Damals wurde ich mit Blick auf den fünfzigsten Jahrestag der Ereignisse in Guardistallo, einem Ort in der Provinz Pisa, von den örtlichen Behörden und einem die verschiedenen Meinungen widerspiegelnden Bürgerkomitee damit beauftragt, der quälenden, die Bürgerschaft spaltenden Frage ein Ende zu setzen und endgültig festzustellen, wem die „Schuld“ für die fünfzig in einem Gefecht zwischen den im Rückzug befindlichen deutschen Truppen und dem örtlichen Partisanenverband getöteten Zivilpersonen zuzuweisen sei. Nach eingehenden Nachforschungen sollte ich angeben, wer zuerst geschossen hatte, und offen  Charles Maier, Fare giustizia, fare storia: epurazioni politiche e narrative nazionali dopo il 1945 e il 1989, in: Leonardo Paggi (Hrsg.): La memoria del nazismo nell’Europa di oggi. Florenz 1997, S. 245 – 246.  Vgl. beispielsweise Giovanni Contini, La memoria divisa. Mailand 1997; Paolo Pezzino, Anatomia di un massacro. Bologna 1997 (zweite Aufl. mit neuem Nachwort 2007), Baldissara/Pezzino, Il massacro.

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beschreiben, „wie es wirklich gewesen ist“, ohne Rücksicht darauf, welches der beiden Lager als „Sieger“ aus dem die Einwohnerschaft spaltenden Erinnerungskonflikt hervorgehen würde. Kurzum, die Bürgerschaft eines Ortes suchte die „Professionalität“ des Historikers als eines „Wahrheitsexperten“. Die Bürger von Guardistallo schlossen sich tatsächlich folgendem Gedanken an: Wer soll Wache stehen gegen die Agenten des Vergessens mit ihren Reißwölfen, gegen die Gedächtnisattentäter und die Revisoren der Enzyklopädien, gegen die zum Schweigen Verschworenen […]? Auf diesen Posten gehört der Historiker, weil er kraft seiner Berufung von strenger Leidenschaft für Fakten, Indizien und Beweise geleitet wird.³⁸

Die Nachforschungen liefen über drei Jahre und boten nicht nur einen wichtigen Prüfstein für das Verantwortungsprinzip, über das die Historiker seit einiger Zeit – nicht zufällig ausgehend von jenem Historikerstreit, der vor einigen Jahren die deutschen Historiker über das Thema Auschwitz entzweite –³⁹ erneut zu diskutieren beginnen, sondern waren auch eine außerordentliche Herausforderung für die Suche nach „Wahrheit“. Es ging hier nicht nur darum, Geschichte zu schreiben, vielmehr erwartete man von mir, das Geschehen in einem wahrscheinlichen, ja absolut wahrhaftigen Handlungsrahmen zu „erzählen“; dabei sollte vor allem den Opfern Gerechtigkeit verschafft werden, indem ihre Erfahrungen und Gründe gehört und in einen öffentlichen Diskurs eingebracht wurden, ohne dabei die Partisanen zu übergehen, die sich damals gegen ehrenrührige Anklagen zu verteidigen hatten. Gerechtigkeit hieß in diesem Fall nicht nur, wie Yosef Hayim Yerushalmi schreibt, dem Vergessen entgegenzutreten, sondern auch zumindest in ethischer Hinsicht die Verantwortlichkeiten festzustellen. Charles Maier hat betont, dass beide, der Historiker und der Richter, sich einerseits auf die Ermittlung der in den Strafverfahren (oder wissenschaftlichen Untersuchungen) behandelten Tatsachen stützen, andererseits – und gerade im Zusammenhang mit der Zuweisung der Verantwortlichkeiten – auf die Narration zurückgreifen: The historian has to provide a narrative that ‘explains’ or ‘accounts for’, which means probing intentionality and worldviews. The historian rarely assumes a wholly determined framework, even if he or she wants to illuminate the constraints on actors. Thus, the historian presupposes choice and has to account for choice. He or she does not have to find an appropriate penalty for

 Yerushalmi, Über das Vergessen, S. 19.  Vgl. eine Synthese der wichtigsten Stellungnahmen in Gian Enrico Rusconi (Hrsg.), Germania. Un passato che non passa. Turin 1987. Zur Verantwortung des Historikers sei an die Tagung Le responsabilità dello storico contemporaneo oggi erinnert, die vom Department History and Civilization des European University Institute, von der Società italiana per lo studio della storia contemporanea (SISSCO), und der Zeitschrift Passato e Presente in S. Domenico di Fiesole, 11. – 12. April 1996, organisiert wurde. Zum Thema vgl. auch Jean Stengers, L’historien face à ses responsabilités, in: Cahiers de l’Ecole des Sciences philosophiques et religieuses 15, 1994, S. 19 – 50, und die jüngste Veröffentlichung von Jones [u. a.] (Hrsg.), Contemporary History on Trial.

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evil choices [hier liegt der m. E. wichtigste Unterschied zum Richter; Anm. des Autors], but the weighing process is still akin to that of the judge.

Andererseits seien Erzählung und Kategorisierung entscheidend für das juristische Handeln, und selbst wenn es nachvollziehbare alternative Narrationen gibt, gehe man davon aus, dass nur eine der wirklichen Geschichte am nächsten kommt: Even if alternative stories are possible, one of them must prevail in order to prescribe corrective remedies, whether it is a money payment, a restraining order, or an assigned punishment. The historian, like the judge, has the duty of constructing a jurisprudential narrative. […] [T]he narrative […] relies primarily on contextualization to establish what constituted culpable or nonculpable or even praise-worthy action.⁴⁰

Meinen 1997 veröffentlichten Ergebnissen zu Guardistallo gab ich die Form eines regelrechten Prozessverfahrens mit einer Ermittlungs- und Verhandlungsphase und einem Urteilsspruch. Den Grund dafür habe ich im Buch genannt: Obgleich ich mir des Unterschieds zwischen der Arbeit des Richters und der des Historikers bewusst war, wollte ich der Forderung nach Wahrheit – und nach Gerechtigkeit – seitens der Einwohner von Guardistallo nachkommen und, wie ich es in der Einleitung zum Band formuliert habe, mich nicht mit dem „in diesem Fall zu einfachen Hinweis auf den ‚Kontext‘ jener Jahre der Frage derjenigen [entziehen], die wissen wollten, ‚wer denn nun der Schuldige sei‘“. Ich fügte hinzu, dass „die ‚Schuld‘ in erster Linie immer auf denjenigen zurückfällt, der das Gemetzel anrichtet“⁴¹; in einem zweiten Schritt hingegen verschob sich die Aufmerksamkeit von dem Problem, „wer als erster geschossen“ habe (ein Problem, in dem der die Bevölkerung spaltende Streit wurzelte und das an die nutzlose, den von Marc Bloch in seiner Apologie der Geschichte verspotteten Historikern aber so wichtige Frage erinnerte, wer denn in einem Konflikt den ersten Schuss getan habe), auf den allgemeinen Kontext des Krieges und auf die von den deutschen Truppen in Italien geführte spezifische Art des Krieges. Die Begegnung mit den Bürgern von Guardistallo (mit allen, sowohl mit denjenigen, die die Partisanen beschuldigten, als auch mit zumindest einigen Partisanen, die die Tragödie vom 29. Juni 1944 tief gezeichnet hatte) machte einen so nachhaltigen Eindruck auf mich, dass ich nicht der Versuchung widerstehen konnte, „bezüglich der Anklagepunkte, die meine Auftraggeber gegen einige der Akteure in jenem Geschehen vorgebracht hatten, die Eventualität der Eröffnung eines Hauptverfahrens oder eines Freispruchs vorherzusehen“⁴². Da es mir außerdem gelang, die deutschen Vollstrecker des Massakers zu identifizieren, die theoretisch noch strafrechtlich verfolgt werden konnten, ließen sich meine Forschungen auch als eine Operation begreifen, Gerechtigkeit im eigentlich  Charles Maier, Overcoming the Past? Narrative and Negotiation, Remembering, and Reparation. Issues at the Interface of History and the Law, in: Torpey (Hrsg.): Politics and the Past, S. 299 – 300.  Pezzino, Anatomia di un massacro, S. 20.  Ebd., S. 21.

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juristischen Sinne zu schaffen. Ruti G. Teitel hat zu Recht hervorgehoben, dass „‚truth‘ is not an autonomous response […]. Truth is seen by some as a precursor phase that leads to other legal processes, such as prosecution“ oder „sanctions against perpetrators, reparations for victims, and institutional changes“⁴³.

4 Wer ist verantwortlich? Angeklagte, die im Namen von politischen Ideen oder unter dem Befehl von totalitären Verbrecherstaaten Freveltaten begangen haben, haben sich vor Gericht immer mit dem Hinweis auf den Befehlsnotstand herausgeredet. Nun ist es zweifellos berechtigt, über die Grenzen menschlichen Handelns nachzudenken, über das Bedingungsgefüge, das die Gewalt in solchen Zusammenhängen als normal, plausibel und unausweichlich erscheinen lässt. Die „Verantwortung“ erweist sich hier als ein schwer zu fundierendes Prinzip; in diesem Sinne trug auch ein Themenheft der Zeitschrift Esprit den bezeichnenden Titel Les équivoques de la responsabilité, die häufig in eine Suche nach Sündenböcken einmündeten.⁴⁴ Im Film Drei Farben: Rot (1994) des polnischen Regisseurs Kieślowski denkt der Protagonist, ein Richter im Ruhestand, an die von ihm verurteilten Angeklagten zurück und bekennt, dass er an ihrer Stelle, „ihr Leben lebend, unter jenen Bedingungen gestohlen, getötet, gelogen“, d. h. sich genauso wie sie verhalten hätte – er habe seine Urteile nicht deshalb gefällt, weil er in ihrer Haut, sondern in seiner eigenen steckte. In einer solchen Perspektive zeigt sich, kurz gefasst, eine strenge Idee der Verantwortlichkeit, nicht dafür, was die Menschen gewollt haben, sondern dafür, was getan zu haben sie im Licht des Ereignisses entdecken. […] Sie erdrückt das Individuum in seinen Taten, vermengt das Objektive und das Subjektive, bürdet dem Willen die Macht der Umstände auf; sie unterschiebt auf diese Weise dem Individuum, wie es sich zu sein dünkte, eine Rolle oder ersetzt es durch ein Phantom, darin es sich nicht wiedererkennt, darin es sich jedoch wiedererkennen muß, denn gerade so erschien es seinen Opfern, und seine Opfer haben heute recht.⁴⁵

Zweifellos machen es gerade der Zwangscharakter der „Umstände“, die „Alltäglichkeit“ der Gewalt schwierig, in der langen Reihe der Ereignisse und Gegebenheiten, die zu einem Massaker führen, die Ebene auszumachen, auf der sich mit Klarheit die individuelle Verantwortung feststellen lässt. Wo tritt sie so deutlich hervor, dass sie

 Ruti G. Teitel, Transitional Justice. New York 2000, S. 88.  Olivier Mongin, Les équivoques de la responsabilité [Introduction], in: Esprit 206.11, 1994, S. 5: „ces dernières conduisant fréquemment à des phénomènes de recherche de boucs émissaires“.  Maurice Merleau-Ponty, Humanismus und Terror. Frankfurt a. M. 1990 [1947], S. 86 – 87. Der Kontext, in dem Merleau-Ponty seine Äußerung tat (Säuberungen in einem Buch über den kommunistischen Terror) mindert m. E. nicht den allgemeinen Wert dieser Aussage zum Thema der Verantwortung, das hier im Mittelpunkt meiner Überlegungen steht.

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nach einem strafrechtlichen Urteil, aber auch nach einer moralischen, politischen und historischen Bewertung verlangt? Es geht darum, herauszufinden, von welchem Glied in der Hierarchiekette an die Verantwortung zugewiesen werden kann und wie weit sich diese Kette verlängern lässt. Bis zum Soldaten, der im Handeln nur die Befehle seines Vorgesetzten ausführt, aber oftmals bei ihrer Umsetzung – wie viele Augenzeugenberichte über die Gemetzel belegen – eine derartige Gleichgültigkeit und Unbarmherzigkeit an den Tag legt, dass man ihn nicht von aller Schuld freisprechen kann? Bis zu den untergeordneten Offizieren, denen angelastet werden kann, dass sie allgemein gehaltene Befehle mit übereifriger Beflissenheit interpretiert haben? Bis zu den Divisionskommandanten oder den Kommandeuren der Armeekorps, bis zum Oberfehlshaber der Wehrmacht oder gar bis zu Hitler und dessen engstem Vertrautenkreis? Mit Blick auf die Verteidigungsstrategie, die in vielen Kriegsverbrecherprozessen darauf zielte, die Verantwortung für die Ereignisse auf andere abzuwälzen, hat David Cohen von einer „‚oszillierenden‘ Verantwortung“ gesprochen, der man „in so vielen Prozessen begegnet, in denen unabhängig von der eigenen Position innerhalb der Hierarchie immer den über oder unter dem Angeklagten stehenden Personen die vermutliche Verantwortung zugeschrieben wird“. In Wirklichkeit „schließt die Schuldhaftigkeit der höchsten Kommandoebenen keineswegs die Verantwortung der unteren Hierarchieränge aus“⁴⁶. Zweifellos gilt die individuelle Verantwortlichkeit für alle, doch der kollektive Charakter der Schuld, der Kriegen oder totalitären Regimen eigen ist, verbietet es, generell auf sie zurückzugreifen. Dazu hat sich jüngst Pier Paolo Portinaro mit nachvollziehbaren Argumenten geäußert, als er die Positionen der „Kritiker des ‚Nürnberger Modells‘“ über das „problematische Verhältnis zwischen der kollektiven Dimension der internationalen Verbrechen und der individuellen Dimension der strafrechtlichen Verantwortung“ analysierte. Zu Recht hat er hervorgehoben, „eine ausgewogenere Bilanz“ müsse differenzieren: In der Perspektive, die im Beschreiten des Gerichtsweges das einzige Bestrafungsmoment sieht, nach einer Alternativlösung zu suchen, die an die Stelle der unrealistischen Option tausender und abertausender Strafverfahren tritt, ist eine Sache; eine andere sind die Überlegungen, die, indem sie auf die kriminelle Natur eines gesamten politischen Systems abheben, in Wirklichkeit eine Kultur der Straflosigkeit befördern und die Forderung unterstützen, über die kriminelle Vergangenheit einen Schleier des Vergessens zu breiten.⁴⁷ In der Vergangenheit ist die Verantwortlichkeit der Einzelsubjekte bei dem Versuch, sie durch „rechtliche“ Kriterien zu definieren, zumindest in strafrechtlicher Hinsicht häufig untergegangen. Es entstand das Bild von einer totalitären, mit einer eigenen Zwangsgewalt versehenen, von dem Einzelwillen unabhängigen Maschinerie, als deren einzige Verantwortliche der Diktator und einige wenige unter seinen engsten Mitarbeitern benannt wurden; dergestalt verlor die vor Gericht zumeist maßgebliche

 Cohen, L’eredità di Norimberga, S. 253 – 254.  Portinaro, I conti con il passato, S. 86, 89.

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Dimension der individuellen Verantwortung jeglichen Sinn. Darüber, dass man den Befehlen gehorchen muss, herrscht im Übrigen allgemeiner Konsens, aufgrund dessen jede Streitmacht eine Maschine der Zerstörung zu sein vermag, ohne dass sich quälende Gewissenskonflikte aufdrängen, die der Krieg im Allgemeinen und die Vergeltungsmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung im Besonderen hervorrufen. Als Beispiel können in diesem Zusammenhang die Äußerungen eines Generals beim italienischen Heer, Aldo Menghini, dienen, der am 24. November 1947 einen Brief an den Staatsanwalt beim Militärgericht in La Spezia, General Giovanni Minaxhò, richtete und sich darin zugunsten eines Mitglieds des 3. Polizei-Freiwilligen-Bataillons Italien aussprach; diese Einheit setzte sich aus den Soldaten zusammen, die nach dem 8. September gefangen genommen worden waren und das Angebot angenommen hatten, in das republikanische bzw. direkt in das deutsche Heer einzutreten. Der von Menghini in Schutz genommene Soldat war angeklagt, am 13. und 14. Juni 1944 an dem Massaker an 83 Bergleuten im südtoskanischen Niccioleta mitgewirkt zu haben. Menghini rekonstruierte das Geschehen, betonte, dass die Kompanie seines Schützlings bei der Durchkämmungsaktion des Dorfes Waffen gefunden habe, während die Arbeiter gestreikt und eine rote Fahne gehisst hätten. Abschließend entschuldigte er sich für seinen „Gefühlsausbruch, den Du, ein alter Soldat wie ich, bestimmt nachvollziehen kannst.Wenn es sich so verhält […], wie ich es Dir geschildert habe, dass ein Soldat, der seiner Auffassung nach dem Vaterland – allerdings im entgegengesetzten Lager – gedient hat, begnadigt worden ist, wie kann man ihn verantwortlich machen für Handlungen, die ihm von seinen Vorgesetzten befohlen worden sind?“ Die Antwort war bereits in der rhetorischen Frage angelegt: „Der Soldat trägt im Heer keine Verantwortung.“⁴⁸ Das ist ein weiteres Beispiel für die Legitimitätsgarantie, in deren Genuss die „Soldaten jeglicher Gattung und jeglichen Ranges“ kommen, „die im Rahmen des vom Staat ausgeübten legalen Gewaltmonopols handeln“; dabei vollzieht sich eine paradoxe Umkehr der Verantwortlichkeiten: Die nationalsozialistischen Verbrecher handelten ‚regulär‘, weil sie sich im Rahmen einer konstituierten Gewalt bewegten, während die Partisanen, wie es in den Aufrufen der deutschen Kommandos hieß, Banditen waren, Gesetzlose, die keinen loyalen Krieg führten.⁴⁹

Nach Kriegsende suchte eine große Zahl von Berufssoldaten hinsichtlich der Frage der Kriegsverbrechen den Schulterschluss […]. Der gefährlichste Präzedenzfall war für die Berufssoldaten, dass der Be-

 Paolo Pezzino, Storie di guerra civile. L’eccidio di Niccioleta. Bologna 2001, S. 200.  Claudio Pavone, Note sulla Resistenza armata, le rappresaglie naziste e alcune attuali confusioni, in: Michele Battini [u. a.] (Hrsg.), Priebke e il massacro delle Ardeatine. Rom 1996, S. 43.

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fehlsnotstand als Rechtfertigungsgrund abgelehnt wurde; viele glaubten, die militärische Befehlskette würde dadurch untergraben⁵⁰.

Diese Verteidigungslinie passte sich in der Folge in das neue Klima des Kalten Krieges ein. Donald Bloxham hat die ganze Breite der Kritik dargelegt, die (nicht nur rechte) US-amerikanische politische Kreise an den Prozessen gegen die Vertreter der deutschen Streitkräfte übten, wobei die extremsten Wortführer sie für kommunistisch inspiriert hielten; jene Stimmen sahen in den Nürnberger Prozessen einen Angriff „auf die mythische Heiligkeit der Verteidigung von übergeordneten Befehlen“, der die Autorität der Offiziere angesichts eines Zusammenstoßes mit den Kräften des internationalen Kommunismus untergrabe. Nach Bloxham wurde damit vor allem die Idee einer gemeinsamen europäischen militärischen Kultur betont, der das deutsche Heer auch unter dem Nationalsozialismus angehört habe, weil es den „zivilisierten“ Regeln und Werten des christlichen Abendlandes gehorchte; auf diese Weise sei erneut „ein langfristiger antislawischer westlicher Chauvinismus“ zum Tragen gekommen, der dem Antichristentum der kommunistischen Welt entgegentrat.⁵¹ Ergibt sich aus der Logik von Befehl und Gehorsam – noch vor der strafrechtlichen – die moralische Unverantwortlichkeit eines Soldaten für alle Handlungen, die ihm befohlen worden sind, so kann auch kein Militärangehöriger für seine im Waffendienst verübten Taten vor Gericht gestellt werden. Und da jeder Vorgesetzte seinerseits einem hierarchisch Höherstehenden gegenüber zum Gehorsam verpflichtet ist, lässt sich die Verantwortung für jede kriminelle Aktion direkt dem militärischen Oberbefehlshaber bzw., im Falle eines totalitären Regimes, dem Diktator, dem die Streitkräfte in der Regel untergeordnet sind, zuschreiben. Kommt es dann später zu Prozessen, die die Zulässigkeit jener Befehle in Frage stellen, gibt es den Diktator zumeist nicht mehr und alle anderen werden aus der Verantwortung entlassen. Bereits am 14. März 1957 hatte der österreichische Abgeordnete Ernst Fischer in der Parlamentsdebatte zur Aufhebung des Kriegsverbrechergesetzes hervorgehoben, dass es dabei um die grundsätzliche Frage gehe, ob jemand, der Frauen und Kinder massakriere, Personen vergasen lasse und jede Art von Verbrechen begehe, zu seiner Rechtfertigung auf einen höheren Befehl verweisen könne. Im Hitlerdeutschland habe es immer einen „Vorgesetzten“ gegeben, und am Ende sei nur einer übriggeblieben, der die alleinige Schuld trage: Adolf Hitler; alle anderen seien nur sein Werkzeug gewesen und durch ein System zu Schuldigen geworden, hinsichtlich der eigenen Verbrechen aber unschuldig. Fischer hielt diesen Ansatz für falsch.⁵²

 Peter Maguire, La contraddittoria „lezione“ di Norimberga, in: Baldissara/Pezzino (Hrsg.), Giudicare e punire, S. 299, Anm. 49.  Donald Bloxham, I processi per crimini di guerra nell’Europa postbellica, in: Baldissara/Pezzino (Hrsg.), Giudicare e punire, S. 147– 176, hier S. 170 – 171 und S. 175.  Eva Holpfer, I processi ai criminali di guerra in Austria. L’esperienza delle corti d’assise, in: Baldissara/Pezzino (Hrsg.), Giudicare e punire, S. 230 – 231.

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In der Geschichtsschreibung hingegen ist das Thema der individuellen Verantwortung nachhaltig diskutiert worden, so beispielsweise von Christopher R. Browning und Tzvetan Todorov, nach deren Ansicht sich auf jeden Fall ein moralisches Urteil fällen lässt, wenn es Entscheidungsmöglichkeiten gibt: [L]es être humains n’obéissent pas à leurs lois avec la même régularité que tous les autres êtres; ils peuvent même décider de les enfreindre précisément parce qu’ils en ont pris conscience […]. En d’autres termes, l’être humain, bien que soumis à de nombreux déterminismes – historiques, géographiques, sociaux, psychiques –, se caractérise aussi par une liberté inaliénable.⁵³

Und Browning schließt sein Buch über das Polizeibataillon 101 mit der Bemerkung, dass immer eine Wahlmöglichkeit vorhanden sei: Diese Geschichte von ganz normalen Männern ist nicht die Geschichte aller Männer oder Menschen. Die Reserve-Polizisten hatten Wahlmöglichkeiten, und die meisten von ihnen begingen schreckliche Untaten. Doch jene, die getötet haben, können nicht aus der Vorstellung heraus freigesprochen werden, daß in ihrer Situation jeder Mensch genauso gehandelt hätte […]. Die Verantwortung für das eigene Tun liegt letztlich bei jedem einzelnen.⁵⁴

Es ist also kein Zufall, wenn man in den Kriegsverbrecherprozessen, die in den letzten Jahren in Italien stattfanden, im Allgemeinen auf den historiographischen Ansatz des „Krieges gegen die Zivilbevölkerung“ zurückgriff, bot er den Richtern doch eine eingehende Erklärung für die Barbarisierung des Krieges, die von einigen Einheiten der deutschen Wehrmacht in bestimmten Momenten des Italienfeldzuges vorangetrieben wurde: Die Definition ‚Krieg gegen die Zivilbevölkerung‘, die einige Historiker vorgezogen haben, um schlagwortartig das Phänomen der an der Zivilbevölkerung in Italien während des Zweiten Weltkrieges begangenen Massaker zu beschreiben, bezeichnen und erklären (in dem Sinne, dass man die Existenz eines organischen, von den Deutschen entwickelten und konkret umgesetzten Plans zur Terrorisierung der Zivilbevölkerung postuliert), erweist sich als völlig angemessen. Überträgt man diese Beobachtungen auf die juristische Ebene, kann man konkret von einem regelrechten „kriminellen Programm“ sprechen, das einige deutsche Militäreinheiten in Italien damals ausgeführt haben.⁵⁵

Eine Sache ist es nun, wenn die Richter Geschichtswerke lesen und daraus Überzeugungen und Lesarten gewinnen, die sie in Erfüllung ihrer Aufgabe als Ermittlungsbeamte oder Richter orientieren können, eine andere aber, wenn der Historiker mit einem dem Gericht vorgelegten Gutachten eine offizielle Rolle übernimmt: Auf die

 Todorov, Les morales d’histoire, S. 20. Dieselben Themen hat der Autor auch in Tzvetan Todorov, Face à l’extrême. Paris 1991, entwickelt.  Christopher R. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen. Reinbek 1993 [1992], S. 246.  De Paolis, La punizione, S. 131.

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mit diesem Funktionswechsel verbundenen spezifischen Probleme werde ich im letzten Teil meiner Ausführungen eingehen.

5 Das Wahre und das Falsche Mit Blick auf die Verantwortung des Historikers hat Peter Mandler jüngst hervorgehoben, es sei nicht seine Aufgabe, als Richter oder Schöffe der Gesellschaft aufzutreten: The canons of evidence and argument that prevail in the courtroom are different from those that prevail in the classroom, and that as a result historians often come off badly when they are dragged into judicial proceedings. In courtrooms, facts are ascertained and then measured up against the law. In classrooms, facts are ascertained and then interpreted. While superficially similar, these processes are in reality very different.

Mandler schließt daraus, dass die Historiker wohl in den Gerichtssälen auftreten könnten, allerdings „without illusions about their place and authority there“⁵⁶. Zumindest vor dem Hintergrund meiner persönlichen Erfahrungen stimme ich der letztgenannten Äußerung zu: Auch wenn die verhandelten Ereignisse sehr viel früher stattgefunden haben, wie es in den aktuellen Kriegsverbrecherprozessen in Italien der Fall ist, stellt die Gutachtertätigkeit des Historikers nur ein Moment der Ermittlungsarbeit dar, einen Ausgangspunkt für Untersuchungen, die dann den üblichen Modalitäten eines Rechtsverfahrens gehorchen. Mit anderen Worten: Dem Historiker wird wohl kaum eine Frage gestellt werden, die direkt auf die Schuld oder Unschuld der Angeklagten zielt, schwerlich wird seine Stellungnahme den zwingenden Charakter eines ballistischen Gutachtens oder eines DNA-Profils annehmen, und schwerlich wird sie die wesentliche Grundlage für die richterliche Urteilsfindung bilden. Diese nachrangige Rolle mag einerseits die Eitelkeit und den Narzissmus des historischen Beraters verletzen, andererseits gewährt sie ihm einen Freiheitsraum, der es ihm erlaubt, übermäßige Vereinfachungen in seinen Antworten zu vermeiden (zweifellos hängt vieles auch vom Charakter der Fragen und von der Art des Rechtsverfahrens ab, zu dem der Historiker herangezogen wird). Ich möchte auf einen weiteren Aspekt verweisen, d. h. auf die Möglichkeit, die sich einem Historiker als Berater eines Ermittlungsrichters bietet, Zugang zu Quellen seines Untersuchungsfeldes zu erhalten, der nicht den üblichen Nutzungsbeschränkungen des Archivmaterials unterliegt. Obgleich ich mir der „kumulativen bzw. evolutionären“⁵⁷ Natur der historischen Forschung bewusst bin und mir keinerlei Illusionen darüber mache, auf ein Dokument zu stoßen, das der „rauchenden Waffe“ aus  Peter Mandler, The Responsibility of the Historian, in: Jones [u. a.] (Hrsg.), Contemporary History on Trial, S. 15 – 16.  Klas-Göran Karlsson, Public Uses of History in Contemporary Europe, in: Jones [u. a.] (Hrsg.), Contemporary History on Trial, S. 35.

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den Krimis entspricht, muss ich gestehen, dass gerade jene Perspektive – neben einem gewissen Maß unleugbaren Berufsstolzes – für mich den wichtigsten Beweggrund zur Annahme des Auftrags bildete. In der Tat fällt es einem Berufshistoriker schwer, einer solchen Verlockung zu widerstehen; allerdings blieben meine Erfahrungen weit hinter den Erwartungen zurück, die ich in die theoretisch unbegrenzten Forschungsmöglichkeiten gesetzt hatte. Der größte Teil meiner Arbeit stützte sich auf mir bereits bekannte, zum größten Teil in meinem Besitz befindliche Quellen, die ich der Staatsanwaltschaft zur Verfügung stellte; ich erhielt Zugang zu Quellen aus dem Ufficio storico dello stato maggiore dell’esercito (Historisches Archiv des Generalstabs des Heeres), die jedoch ungefähr ein Jahr später freigegeben und allen Wissenschaftlern zugänglich gemacht wurden; kein einziges unveröffentlichtes Dokument habe ich hingegen im Archivio storico dell’Arma dei carabinieri (Historisches Archiv der Carabinieri) in Rom, im Archivio di deposito della Prefettura in Bologna (Ablagearchiv der Präfektur) und im Archiv des Carabinieri-Kommandos in Bologna gefunden. Die umfangreichen Ermittlungsakten, die ich als Sachverständiger der Staatsanwaltschaft unbeschränkt einsehen durfte, betrafen großenteils die Nachforschungen nach den Mitgliedern, aus denen sich die an den Massakern beteiligten Einheiten zusammensetzten, die Rechtshilfeersuchen usw. All das interessierte mich auch deshalb weniger, weil die über ein solches Ersuchen verhörten Angeklagten – wie abzusehen war – sich mehrheitlich über all die Geschehnisse ausschwiegen, für die sie vor Gericht standen (die wenigen bedeutsamen Ausnahmen wurden im Verlauf der Verhandlungen öffentlich erwähnt).⁵⁸ Der grundsätzlichste Einwand betrifft die Unvereinbarkeit zwischen der Arbeit des Historikers und der Aufgabe des Richters. Mandler hebt im oben zitierten Passus auf den Methodenunterschied ab, darauf, dass für den Historiker die Interpretation eine größere Bedeutung besitzt als die gewissenhafte Feststellung der Einzeltatsachen. Gleichwohl meine ich, dass das interpretatorische Interesse des Historikers seiner spezifischen Kompetenz zur Wahrheitsfindung keinen Abbruch tut. Der Rückbezug auf den Ereignisverlauf, der den Fragen des Ermittlungsbeamten an den Historiker zugrunde liegt, unterwirft dessen Werkzeuge einer ungewohnten, fruchtbaren Spannung und fordert dessen Fähigkeit heraus, darzulegen, „wie es wirklich gewesen ist“ (in dem Bewusstsein der eigenen Grenzen, denn die Vollständigkeit einer Rekonstruktion hängt von der jeweiligen Quellenlage ab). Gemeint ist damit die faktische Wahrheit, die histoire événementielle, die keineswegs vernachlässigt werden darf, wenn selbst Marc Bloch – dem man nicht nachsagen kann, er fühle sich zu ihr hingezogen – sich nicht zu schreiben scheut, dass er in seiner über dreißigjährigen Tätigkeit als Historiker viele Dokumente aus verschiedenen Epochen konsultiert habe,

 Auch Paul Bew sieht im Zugang zu noch nicht freigegebenen Quellen ein wichtiges Motiv für den Historiker als Sachverständigen; seine Erfahrungen waren allerdings im Vergleich zu den meinigen zufriedenstellender (Paul Bew, The Bloody Sunday Tribunal and the Role of the Historian, in: Jones [u. a.] (Hrsg.), Contemporary History on Trial, S. 67).

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um nach bestem Wissen und Gewissen das Wahre vom Falschen zu unterscheiden.⁵⁹ In der Forderung Rankes („der Historiker soll nur zeigen, ‚wie es eigentlich gewesen‘“) bzw. bereits früher in dem Anspruch Herodots („erzählen, was war“) sah er eine Mahnung, „hinter den Tatsachen zurück[zu]treten“, einen „Rat zur Redlichkeit“, um sich „aufrichtig der Wahrheit zu unterwerfen“. Er hielt sie für Eigenschaften, die der Richter und der Historiker gemeinsam hatten. Erst an diesem Punkt schieden sich ihre Wege: „Der Wissenschaftler beobachtet und erklärt. Danach hat er seine Aufgabe beendet. Dem Richter bleibt noch die Pflicht, das Urteil zu fällen.“⁶⁰ Mit Blick auf diesen Unterschied hat Claudio Pavone zu Recht präzisierend angemerkt, „dass er weder für den einen noch für den anderen zu einem Alibi werden darf: Für beide gilt der ethische Imperativ, die Wahrheit zu suchen, ein jeder mit den ihm eigenen Werkzeugen und Zielsetzungen“⁶¹. Mit der Einforderung des Kontextes wählt der Historiker korrekterweise einen komplexeren Bezugsrahmen und meidet eindimensionale Erklärungsmuster oder zu eng gefasste Kausalitätsketten, doch zweifellos unterstreicht die Rückbesinnung auf den Ereignisverlauf, auf die Grundelemente des historischen Geschehens (Wer?, Wo?, Wann? und Wie?) die „Professionalität“ des Historikers als eines „Wahrheitsexperten“; der Wahrheitsbegriff ist dabei zweifellos nicht in einem absoluten und positivistischen Sinn zu verstehen, bezieht sich vielmehr auf die Rekonstruktion und Identifizierung einer plausiblen oder, besser: der plausibelsten Ereignisverkettung, bezeichnet eine Ausrichtung, die der Deontologie des Historikers zugrunde liegt. Im Übrigen hat Yerushalmi hervorgehoben, dass der Historiker differenziert, analysiert, Zweifel weckt: Für ihn „steckt Gott wirklich im Detail.“⁶² Diese Rückbesinnung wendet sich gegen die offensichtlichen Verfälschungen, die falschen Revisionen, die philologische Oberflächlichkeit derjenigen, die gegenüber der historischen Rekonstruktion die politische Polemik bevorzugen. Ohne die interpretatorische Kreativität kasteien zu wollen, muss der Historiker immer wieder zu den „Tatsachen“ zurückkehren, d. h. zum Quellenstudium, zur Indiziensuche, zur Prüfung, wie weit er mit seinen Feststellungen gehen kann und was sich hingegen als Ausdeutung erweist: Diese Fundamentalregel bildet das Gegengift gegen jede Manipulation des historiographischen Verfahrens.

6 Keinen Prozess gegen die Geschichte führen Auf einen anderen Aspekt richten sich die Überlegungen, in denen Henry Rousso sich mit der Möglichkeit befasst, die Verantwortlichen für die Judenvernichtung im Vichy Marc Bloch, L’étrange défaite. Témoignage écrit en 1940. Paris 1990 [1946], S. 30.  Ders., Apologie der Geschichte, S. 147– 148.  Claudio Pavone, Note sulla Resistenza armata, le rappresaglie naziste e alcune attuali confusioni, in: Battini [u. a.] (Hrsg.), Priebke, S. 39 – 40.  Yerushalmi, Über das Vergessen, S. 19 und S. 18.

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Regime mit der Anklage auf Verbrechen gegen die Menschheit, die vom französischen Parlament am 26. Dezember 1964 für unverjährbar erklärt worden waren, vor Gericht zu stellen. Rousso hob hervor, dass der hochsymbolische Charakter derartiger Prozesse auch einige Gefahren in sich berge: C’est demander à la justice de formuler une condamnation des générations passées, de faire, au sens strict du terme, un procès de l’histoire […]. Ce n’est pas le rôle de la justice de faire – ou refaire l’histoire.⁶³

Folgerichtig weigerte sich Rousso also, im Prozess gegen Maurice Papon (1998 – 99), den Generalsekretär der Präfektur im Département Gironde während der deutschen Besatzung, auszusagen. Die Situation ist nicht mit der Lage in Italien zu vergleichen. Jene Prozesse besaßen, wie Rousso selbst in einem seine Überlegungen vertiefenden Artikel eindrucksvoll dargelegt hat, eine hochsymbolische Bedeutung, sei es doch darum gegangen, nach mehr als einem halben Jahrhundert „nicht nur über einen Mann, sondern auch über ein Regime, ja eine ganze Epoche ein Urteil zu fällen.“⁶⁴ Rousso begründet diese Aussage überzeugend mit einem Exkurs über die „lange Geschichte der Erinnerung an Vichy“, der in die nachvollziehbare, über den Einzelfall hinausreichende Schlussfolgerung einmündet: Insgesamt waren der Papon- wie auch der Touvier-Prozeß Ergebnisse eines langen Bewußtseinswandels, der von der Vorstellung getragen war, daß die Justiz ein Hauptagent der Erinnerung sei […].⁶⁵

In einem solchen Rahmen entsteht nicht nur ein Spannungsverhältnis zwischen der Deutungsfreiheit der Historiker, der richterlichen Strenge und der Einhaltung der rechtlichen Verfahrensweisen, vielmehr lassen sich auch die von den Historikern erwarteten Aussagen nicht mit einer den Regeln des Strafverfahrens gehorchenden juristischen Expertise vergleichen.⁶⁶ Die Historiker wurden in der Vorbereitungsphase nicht hinzugezogen und hatten daher keine ausreichende Zeit, die Archivunterlagen zu sichten und zu begutachten, mit denen die Anklage hauptsächlich begründet wurde. […] Mit anderen Worten: Die geladenen Historiker

 Henry Rousso im Gespräch mit Serge Klarfeld, befragt von Éric Conan und Daniel Lindenberg, abgedruckt in: Histoire et justice. Débat entre Serge Klarsfeld et Henry Rousso, in: Esprit 181.5, 1992, S. 36 – 37.  Henry Rousso, Justiz, Geschichte und Erinnerung in Frankreich. Überlegungen zum Papon-Prozeß, in: Norbert Frei [u. a.] (Hrsg.), Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit. München 2000, S. 141– 163, hier S. 143.  Ebd., S. 153– 54.  Sechs akademische Historiker und drei Schriftsteller und Journalisten haben ausgesagt. Rousso, ein deutscher Akademiker und ein französischer Schriftsteller haben sich geweigert, es zu tun. Vgl. ebd., Anm. 4 auf S. 162.

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verfügten über keinerlei Aktenkenntnis, da die meisten Dokumente der Präfektur der Gironde aufgrund der juristischen Voruntersuchungen und der sich hieraus ergebenden Nichteinsehbarkeit über Jahre hinweg gesperrt waren. Jeder der Zeugen äußerte sich über mehrere Stunden, konnte sich aber dabei weder auf Notizen noch auf Unterlagen stützen, und seien sie noch so allgemeiner Art – eine für Historiker recht unübliche Art der Berufsausübung. […] Weder können sie allgemeine Gesetze geltend machen, noch können sie die Absichten des Angeklagten, seine tieferen Beweggründe usw. wirklich einschätzen. […] Und hier liegt der Hauptwiderspruch dieses Prozesses: Die Historiker waren von vornherein an der einzigen Form des Gutachtens gehindert, das sie wirklich sachverständig hätten abgeben können[,]

wenn sie in die Lage versetzt worden wären, das Handeln des Generalsekretärs des Départements Gironde auf der Basis aller verfügbaren Archive und Zeugnisse im Zusammenhang mit der Besatzungssituation zu analysieren. Daraus folgt die Frage, die Rousso verneint: Ist es einem Historiker überhaupt möglich, einen historischen Zusammenhang zu rekonstruieren, ohne daß er sich eine Vorfrage zurechtlegt und a priori bestimmt, welches Ziel er verfolgt?

Offensichtlich nein, denn „Kontexte ‚an sich‘ existieren ja nicht, ohne daß man sie zuvor problematisiert.“⁶⁷ Die grundlegenden Unterschiede zum italienischen Fall scheinen mir auf der Hand zu liegen. Der erste betrifft die Natur der Prozesse: In Italien ging es nicht darum, die Geschichte der Salò-Republik aufzuarbeiten, sondern ein Urteil über die Teilnahme deutscher Soldaten an unter Missachtung aller militärischen Regeln durchgeführten Vernichtungsaktionen zu fällen (ja, gerade der Umstand, dass wegen der verschiedenen, eine eventuelle italienische Mitwirkung verdunkelnden Amnestien nur ausländische Soldaten vor die Militärgerichte gebracht werden konnten, hat im Gegenteil möglicherweise dazu geführt, dass die Mitverantwortung des republikanischen Faschismus in den Hintergrund trat). Überdies besaßen die Prozesse zweifellos eine symbolische Bedeutung, die allerdings eher darin bestand, dass nach Jahrzehnten der Verschleierung endlich Recht gesprochen wurde, d. h. dass die Verfahren überhaupt stattfanden; keinesfalls markierten sie eine Wende in der nationalen Erinnerung hinsichtlich des Kollaborationismus. Dementsprechend sind strenge Strafverfahrensregeln angewandt worden und haben sich die Prozesse pflichtgemäß auf die Grundfrage konzentriert, nämlich auf die strafrechtliche Verantwortung der einzelnen Angeklagten im Rahmen des Geschehens, das zur Verhandlung anstand. Auch die Aufgabe der historischen Sachverständigen, denen schriftliche, von den Anklagevertretern formulierte Fragen vorlagen und die schriftliche Gutachten anfertigen sollten, war eine völlig andere; und selbst wenn man in den Vorgaben auf die allgemeineren Rahmenbedingungen Bezug nahm, galten diese den Modalitäten, in denen die Anti-Partisanen-Aktionen durchgeführt wurden, z. B. dem „Befehlssystem“, in das sie eingebettet waren, während man von allgemeinen (und unbestimmten)  Ebd., S. 157– 159.

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Urteilen über die deutsche Besatzung und den italienischen Kollaborationismus Abstand nahm, weil es darum ging, die individuellen Verantwortlichkeiten im Verlauf der Aktionen einzuordnen und zu verstehen. Dementsprechend gab man den beteiligten Historikern Gelegenheit, nicht nur die ihnen zur Verfügung stehenden normalen archivalischen Quellen zu konsultieren, sondern auch die gerichtlichen Ermittlungsakten einzusehen (in welchem Maße sie dann Eingang in die Gutachten fanden, steht auf einem anderen Blatt, hat aber mit Roussos Einwänden nichts zu tun). Kurzum, während meiner Sachverständigentätigkeit war ich zu keinem Zeitpunkt gezwungen, die deontologischen Regeln meines Berufes zu übertreten, auch wenn ich mich darum bemühte, mich eng an die mir gestellten Fragen zu halten und zu vermeiden, weiter auszugreifen und allgemeinere Hypothesen oder Interpretationen zu versuchen, die für mich von großem Interesse gewesen wären, aber nicht den Zielsetzungen des Verfahrens und des mir erteilten Auftrags entsprachen. Aus diesen Gründen teile ich nicht Isabella Rosonis jüngst entwickelte Argumentation.⁶⁸ Auf dem Hintergrund eines grundsätzlichen Misstrauens gegenüber dem Strafrechtssystem – für die Autorin ähnelt die Wahrheit im Strafverfahren „mehr einer politischen als einer historischen Wahrheit. Eine solche Wahrheit dient dazu, den Gewaltgestus des Bestrafens politisch zu rechtfertigen“⁶⁹ – liquidiert Rosoni das Nürnberger Paradigma als Beispiel für den auf ein politisches Urteil zielenden Gebrauch von Geschichte. Anschließend wendet sie sich dem italienischen Fall und konkret dem Beispiel des Verfahrens zum Massaker von Sant’Anna di Stazzema zu; hier vertritt sie die Ansicht, dass die Richter die „von den Sachverständigen formulierten Erfahrungsgrundsätze“ übernommen hätten, ohne sie einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Zum Beweis führt sie die Entscheidung des Gerichts an, auf Antrag der Verteidigung den „in Rechtskreisen sehr beliebten“ Paolo Paoletti nicht anzuhören, weil er als „Revisionist“ gelte. Nun ist es durchaus richtig, dass sich die Erfahrungsgrundsätze im Urteilsspruch an zahlreichen Stellen in bestimmten auf die historischen Rahmenbedingungen bezogenen Äußerungen widerspiegeln; am entscheidenden Punkt jedoch, an dem es darum geht, die Natur der Aktion von Sant’Anna zu erklären, rücken die Richter von ihnen ab: Im Paragraphen 8.2 nehmen sie von meiner These Abstand, wonach die Deutschen in Sant’Anna Partisanen verfolgt hätten und – soweit es die Gleichsetzung von Partisanen und Zivilbevölkerung betrifft (die allen Massakern zugrunde liegt, in denen die Einwohner einer ganzen Gemeinde ausgelöscht wurden) – die Anti-Partisanen-Operation die vorab geplante Eliminierung aller innerhalb des Sperrgebiets befindlichen Personen implizierte. Im Urteil hingegen heißt es m. E. widersprüchlicherweise (was beweist, dass in jedem Fall ein dialektisches Spannungsverhältnis zwischen dem historischen Sachverständigen und den Richtern, die dessen Sach-

 Isabella Rosoni, Lo storico alla sbarra. La perizia storica nel processo penale, in: Giornale di storia costituzionale, 18.2, 2009, S. 181– 190.  Ebd., S. 182.

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gutachten lesen und benutzen, besteht), die Deutschen seien davon ausgegangen, dass es in Sant’Anna keine Partisanen gab: Letztendlich lässt sich nicht sagen, wie der Sachverständige [der Autor, Anm. d. A.] zu meinen scheint, dass die Anwesenheit einiger weniger [Partisanen, Anm. d. A.] begründen kann, die Deutschen seien von der Präsenz von Partisanen in Sant’Anna überzeugt gewesen. […] Dementsprechend muss auf der Grundlage der untersuchten Elemente und der soeben entwickelten Überlegungen davon ausgegangen werden, dass die Aktion der SS sich tatsächlich auf das Massaker an den Einwohnern und auf die Zerstörung eines ganzen Dorfes richtete. Ihr einziger Zweck bestand darin, verbrannte Erde für die Partisanen zu schaffen und – neben der Unterstützung durch die Bevölkerung in anderen Orten – ihre Rückkehr in diese Region zu verhindern.⁷⁰

Auch die Art und Weise, in der man im Urteil die heikle und komplexe Frage des Verhältnisses zwischen der Bevölkerung und den Partisanen behandelte („die wehrlose Bevölkerung musste sich in erster Linie oft gegen die Plünderungen durch die Partisanen verteidigen“, hieß es hier, und mit Anklang an die früheren Auseinandersetzungen über das von den Partisanen verteilte Flugblatt: „wenn es tatsächlich eine nachhaltige Beziehung gegeben hätte, wäre die Bevölkerung trotz des Aufrufs, mit der sie wenige Tage zuvor aufgefordert worden war, in ihren Häusern zu bleiben, zweifellos nicht ihrem Schicksal überlassen [kursiv v. A.] worden“⁷¹), entstammt nicht dem Gutachten des Sachverständigen und entspricht keineswegs seinem historischen Verständnis. Wohl kaum kommt also m. E. im Urteil „mehr historische Wahrheit als Gerichtswahrheit“, d. h. politische Wahrheit zum Ausdruck, und ebenso wenig ergibt sich aus ihm, dass „die historische Wahrheit die einzige sei, die vom Gesetz geschützt und pflichtgemäß erinnert wird“⁷². Abgesehen von der Aufnahme einiger Elemente aus den schriftlichen Gutachten (nicht nur aus meinem), bezieht sich die vom Gericht festgestellte Wahrheit auf die Schuld der einzelnen Angeklagten, während die historischen Sachverständigen ihre Unabhängigkeit zum selbständigen Urteil und zur Kritik an den Schlussfolgerungen des Richterspruchs behalten, auch wenn darin in einigen Teilen die gutachterlichen Äußerungen eingegangen sind.⁷³  Urteil des Militärgerichts von La Spezia vom 22. Juni 2005 (registriert am 20. September 2005) im Strafverfahren gegen 1. Sommer G., 2. Schöneberg A., 3. Bruss W., 4. Schendel H., 5. Sonntag L. H., 6. Rauch G., 7. Goring L., 8. Concina A., 9. Gropler K., 10. Richter H., § 8.2, „I motivi dell’eccidio“, S. 113 – 115, in: www.santannadistazzema.org/immagini/Sentenza_Stazzema.pdf (letztmalig abgerufen am 20. 8. 2012).  Ebd., § 12, „La qualificazione giuridica del fatto“, S. 177.  Rosoni, Lo storico alla sbarra, S. 189.  Die Nichtanhörung Paolettis erklärt sich nicht daraus, dass er ein „Revisionist“ war, sondern liegt darin begründet, dass er in Wahrheit den bereits in den Verhandlungen ermittelten Fakten nichts Neues hinzuzufügen hatte und seine allgemeine Darstellung des Geschehens – es habe sich nicht um eine Aktion gehandelt, die von Anfang an auf ein Massaker ausgerichtet gewesen sei, sondern um eine Razzia, die nach einer in Sant’Anna während der ersten Operationsphase vermeintlich eingetretenen bewaffneten Auseinandersetzung in ein Massaker umgeschlagen sei – bereits von den Ermittlungsergebnissen der Anklage (nicht nur auf der Grundlage meines Gutachtens, sondern einer Mehrzahl

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Dem ungeachtet halte ich einen Aspekt der Überlegungen Roussos und Rosonis für nachvollziehbar, und zwar die Sorge vor der sogenannten „Vergerichtlichung der Geschichte“. Alberto Melloni hat es wie folgt ausgedrückt: Das Gericht im Namen dessen anrufen, was dem Wissenschaftler eignet – von der Gegenwart ausgehen und kritisch die Distanz ausmessen, die uns von der Vergangenheit trennt, die individuellen Geschicke nicht betrachten, um einige zu beschuldigen und andere freizusprechen, sondern im Gegenteil die ‚Prozesse‘ zu erfassen, an denen sie nicht notwendigerweise bewusst teilhaben –, heißt, die Vergangenheit und ihre beschränkte Erkennbarkeit unwiederbringlich zu verlieren.⁷⁴

Die Institutionalisierung des historischen Urteils birgt zweifellos die Gefahr in sich, dass seine Ermittlung durch Gerichtsurteil zur neuen Quelle für die historische Wahrheit wird. Sobald sich eine bestimmte Narration in einem Richterspruch wiederfindet, ist sie schon an sich authentisch (so geschehen gerade im Zusammenhang mit Sant’Anna, als kritische Stimmen in den Diskussionen über Spike Lees Film Wunder von Sant’Anna auf eine durch das Gericht von La Spezia festgestellte endgültige historische Wahrheit rekurrierten)⁷⁵: Ist es möglich, dass man sich nicht der Gefahr bewusst ist, auf diese Weise einer „offiziellen“ Version der Geschichtserzählung Vorschub zu leisten? Das geschieht immer dann, wenn man sich Instanzen anvertraut, die man für Verwahrer der historischen Wahrheit hält – in Wirklichkeit verbreiten sie nur eine bestimmte Version, die mehr oder weniger ihren eigenen Interessen entspricht – oder die Gerichte anruft, deren Aufgabe nicht darin besteht, ein für alle Mal eine Wahrheit über die Vergangenheit zu fixieren, sondern Schuld oder Unschuld einer Einzelperson festzustellen, gleich welcher Tat sie angeklagt ist. Dabei handelt es sich um ein allgemeineres Problem, d. h. es betrifft die Vermittlung mehr oder weniger deformierter, der Kontrolle und Überprüfung durch die Berufshistoriker entzogener historischer Kenntnisse, die in den Massenmedien – Kino, Fernsehen, Presse, Internet – verbreitet werden. Sie modellieren als Akteure die Kollektiverinnerung – d. h. die breite Wahrnehmung des vergangenen Geschehens –, nachdem die Agenturen, denen traditionell diese wichtige Aufgabe anvertraut war, versagt haben: vor allem die Schulen und damit die staatlichen Einrichtungen, aber auch die Parteien und ihre politischen Ideologien. Allgemein leitet sich daraus nicht ab, dass in den Gerichtssälen in Einzelfällen (die es jeweils zu analysieren und zu bewerten gilt) eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Historikern und Richtern unmöglich ist – wenn auch mit der gebotenen Vorsicht und differenzierten Sicht, wie sie der vorliegende Beitrag nahelegt.

verschiedener und übereinstimmender Zeugnisse und Gutachten) widerlegt worden war. Seine Anhörung konnte dementsprechend vom Gericht zu Recht als eine dem Prozess abträgliche Verzögerungstaktik gewertet werden.  Marquard/Melloni, La storia che giudica, S. 27.  Ich verweise zur Behandlung dieses Punktes auf das Abschlusskapitel meiner zitierten Studie Sant’Anna di Stazzema.

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Die Literatur zur Transitional Justice ist in den letzten Jahren in den verschiedensten kulturellen Kontexten außerordentlich angewachsen. Ihr Gegenstand ist die empirische Untersuchung des Rechts, d. h. der Modalitäten, unter denen historische Akteure die Rechtsideale in schnellen, kontrastreichen Wandlungsszenarien umsetzen. Die Ergebnisse dieser Studien sind allerdings alles andere als eindeutig. Zunächst haben sie unterschiedliche Epochen behandelt, indem sie beispielsweise Übergangsprozesse aufeinander bezogen, welche die von Samuel Huntington so benannten drei „Demokratisierungswellen“¹ begleitet haben (und mit dem arabischen Frühling trotz dessen verheerender Anfänge – aber die Geburt demokratischer Strukturen war nie konfliktfrei und schmerzlos – eine vierte). Ferner haben sie ihren Untersuchungsraum auf alle Kontinente des Planeten (selbst Ozeanien nicht ausgeschlossen) ausgeweitet und damit einen Forschungszweig begründet, der sich zu Recht als Tochter des Globalisierungsprozesses betrachten lässt (dafür spricht auch das Interesse der neuen Forschungsdisziplin für die Globalgeschichte).² Man kann sogar sagen, dass die Literatur zur Transitional Justice seit einiger Zeit in eine Phase der kritischen Reflexion und Revision eingetreten ist; empirisch hat sich nämlich ergeben, dass es viele Begriffe von „Recht“ gibt, auf die man sich bezieht, und dass die Übergangsprozesse sich unterschiedlich gestalten je nach der Art von „Diktatur“, von der sie ihren Ausgang nehmen, oder je nach der Konfliktart, die ihnen zugrunde liegt (bis hin zu den Extremen des Bürgerkriegs und des Völkermords).³ Die vergleichende Analyse der verschiedenen Erfahrungen erlaubt schon deshalb keine einfachen Verallgemeinerungen, weil Akteure, Motivationen, Entscheidungen und Kontexte extrem heterogen sind. Grundsätzlich lässt sich allerdings sagen, dass die Vergangenheitspolitiken in den konsolidierten Demokratien sich a) durch eine Tendenz zur rechtlich-gerichtlichen Vergangenheitsbewältigung, b) durch eine Abneigung gegen die Institutionalisierung des Vergessens im Zuge einer Amnestie und

 Samuel P. Huntington, La terza ondata. I processi di democratizzazione alla fine del XX secolo. Bologna 1995.  Vgl. Daniel Levy/Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter. Frankfurt a. M. 2001; Ruti G. Teitel, Globalizing Transitional Justice. Contemporary Essays. Oxford 2014; Anne K. Krüger, Wahrheitskommissionen. Die globale Verbreitung eines kulturellen Modells. Frankfurt a. M. 2014.  Zur Frage des Übergangs vgl. im allgemeinen Paolo Pombeni/Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), La transizione come problema storiografico. Le fasi critiche dello sviluppo della modernità 1494– 1973. Bologna 2013, und darin einige spezifische Beiträge zum hier untersuchten Thema. https://doi.org/10.1515/9783110541144-013

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c) durch die Forderung nach Entschädigungsmaßnahmen für die Opfer auszeichnen.⁴ Das setzt voraus, dass beim Übergang von einem Regime zum anderen der staatliche und insbesondere der juristische Zwangsapparat zumindest noch teilweise funktioniert und zu agieren in der Lage ist. Handelt es sich hingegen um einen noch in den Anfängen stehenden Demokratisierungsprozess (dessen Erfolg überdies alles andere als gesichert ist, denn die angestrebte Regierungsform und ihre normativen Vorgaben sind den Akteuren alles andere als klar), stellt sich die Lage komplizierter dar. Das gilt insbesondere für Übergangsregierungen, die aus Bürgerkriegen im Kontext wirtschaftlicher Rückständigkeit und bei Fehlen einer effektiven Zentralgewalt (so im Fall der – nach politologischer Typologie – failing bzw. failed states) hervorgegangen sind. Sie schlagen in der Regel die entgegengesetzte Richtung ein, denn sie verfügen über keine oder nur über eine stark kompromittierte juristische Infrastruktur zur Durchführung der Prozesse, während das Ausmaß der von beiden Seiten begangenen Verbrechen allein den Weg der Amnestie offen lässt und die Ressourcen für eine nicht nur symbolische Entschädigungspolitik entweder ganz fehlen oder höchst ungenügend sind.⁵ Bezüglich der Probleme zur Befriedung von Gesellschaften, die einem Bürgerkrieg ausgesetzt waren, können grundsätzlich zwei Strategien unterschieden werden. Die erste, die sich unter der Formel stateness first zusammenfassen lässt, zielt vor allem auf den Aufbau einer Zentralgewalt, die über die Sicherheit wacht; hier liegt die Annahme zugrunde, dass das state-building sowie die Herausbildung eines militärischen und Steuereinnahmemonopols und damit eines funktionierenden Zwangsapparates in historischer Perspektive der Entstehung der Zivilgesellschaft und dem Demokratisierungsprozess vorausgeht.⁶ Die zweite, ein Minimum an Staatlichkeit voraussetzende Strategie betont hingegen, dass andere gesellschaftliche Faktoren, insbesondere die ethnische bzw. religiöse Zersplitterung und die mangelnde Kommunikation zwischen Gruppierungen, die sich in eine Art freiwilliger Apartheid begeben, die Konfliktträchtigkeit schüren (und sich gegen eine Aussöhnung sperren); zur Wiederherstellung gesellschaftlicher Beziehungen zwischen feindlich gesinnten

 Grundlegend Jon Elster, Chiudere i conti. La giustizia nelle transizioni politiche. Bologna 2008. Vgl. Teitel, Transitional Justice; Mahmoud Cherif Bassiouni (Hrsg.), Post-conflict justice. Ardsley 2002; Joanna R. Quinn (Hrsg.), Reconciliation(s). Transitional Justice in Postconflict Societies. Montreal 2009; Elazar Barkan, The Guilt of Nations. Restitution and Negotiating Historical Injustices. New York 2000; Koen De Feyter [u. a.] (Hrsg.), Out of the Ashes. Reparation for Victims of Gross and Systematic Human Rights Violations. Antwerpen 2005. Manfred Berg/Bernd Schaefer (Hrsg.), Historical Justice in International Perspective. How Societies are Trying to Right the Wrongs of the Past. Cambridge 2009; Melissa S. Williams [u. a.] (Hrsg.), Transitional Justice. New York 2012; Fatima Kastner, Transitional Justice in der Weltgesellschaft. Hamburg 2015.  Heinrich W. Krumwiede/Peter Waldmann (Hrsg.), Bürgerkriege. Folgen und Regulierungsmöglichkeiten. Baden-Baden 1998; Ulrich Schneckener, Auswege aus dem Bürgerkrieg. Frankfurt a. M. 2002; Ders. (Hrsg.), Fragile Staatlichkeit. „States at Risk“ zwischen Stabilität und Scheitern. Baden-Baden 2006; David E. Cunningham, Barriers to Peace in Civil War. Cambridge 2011.  Francis Fukuyama, „Stateness“ First, in: Journal of Democracy 16, 2005, S. 84– 88.

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Gruppen wird es in diesem Fall unabdingbar, gleichsam unterirdisch bzw. auf EUEbene vorzugehen.⁷ Die erste Linie begründet einen legalistischen Problemansatz, der in der Justizialisierung der politischen Verbrechen (insbesondere derjenigen, die von den Rechtswissenschaften nach dem Londoner Statut von 1945 als internationale Verbrechen bezeichnet werden; ihnen wurde später noch, obgleich in der ursprünglichen Formulierung bereits implizit enthalten, der Tatbestand des Völkermords hinzugefügt) den Königsweg sieht, um die Rahmenbedingungen für die Sicherheit wiederherzustellen und auf dieser Grundlage das gegenseitige Vertrauen zwischen den Rechtssubjekten wiederaufzubauen.⁸ Die zweite Linie richtet sich hingegen auf die Suche nach Alternativen zur rechtlichen Vergangenheitsbewältigung; sie hat im Verlauf der letzten Jahre über die Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, Vertretungseinrichtungen für die Opferkategorien, Entschädigungsverfahren und Hilfsmaßnahmen verschiedenster Art eine zentrale Funktion in der Theorie und Praxis der Übergangsregierungen übernommen.⁹ Hier wird deutlich, dass – im Rückgriff auf philosophische Kategorien – die Transitional Justice nicht nur Fragen der austeilenden, sondern auch der ausgleichenden und austauschenden Gerechtigkeit aufwirft sowie zusätzlich mit der Einführung der Kategorie der wiederherstellenden bzw. opferorientierten Gerechtigkeit (Restorative Justice) ein neues, ergänzendes Paradigma entwickelt, dessen Hauptziel in der Wiederversöhnung und der Instandsetzung des zerrissenen sozialen Gewebes besteht.¹⁰ Nach sozialwissenschaftlichen Begriffen tritt  Marcel Baumann, Zwischenwelten. Weder Krieg noch Frieden. Über den konstruktiven Umgang mit Gewaltphänomenen im Prozess der Konflikttransformation. Wiesbaden 2008, S. 89 ff.  Martha Minow, Between Vengeance and Forgiveness. Facing History after Genocide and Mass Violence. Boston 1998; Gary Jonathan Bass, Stay the Hand of Vengeance. The Politics of War Crimes Tribunals. Princeton 2000; Luca Baldissara/Paolo Pezzino (Hrsg.), Giudicare e punire. I processi per crimini di guerra tra diritto e politica. Neapel 2005; Ellen L. Lutz/Caitlyn Reiger (Hrsg.), Prosecuting Heads of State. Cambridge 2009.  Grundlegend Priscilla B. Hayner, Unspeakable Truths. Transitional Justice and the Challenge of Truth Commissions. New York 2011. Vgl. auch Paul Gready, The Era of Transitional Justice. The Aftermath of the Truth and Reconciliation Commission in South Africa and Beyond. Oxford 2011; Anita Ferrara, Assessing the Long-term Impact of Truth Commissions. The Chilean Truth and Reconciliation Commission in Historical Perspective. London 2015.  Vgl. Gerry Johnstone, Restorative Justice. Ideas, Values, Debates. Cullompton 2002; Margarita Zernova, Restorative Justice. Ideals and Realities. Aldershot 2007; Gerry Johnstone/Daniel W. Van Ness (Hrsg.), Handbook of Restorative Justice. London 2011. Die Einführung der wiederherstellenden Gerechtigkeit ist von verschiedener Seite als rechtlicher und moralischer Fortschritt gewertet worden. Man kann sie aber auch (unter dem Blickwinkel des westlichen modernen Rechts) als einen Rückschritt ins Archaische betrachten, in einen Zustand der Ununterscheidbarkeit zwischen Rechtsbereichen, die sich im Verlaufe der Rechtsentwicklung ausdifferenziert hatten, nun aber aufgrund ihrer verbreiteten Delegitimierung darauf drängen, sich zu integrieren und gegenseitig zu unterstützen. Da sich die wiederherstellende Gerechtigkeit nicht auf ein formalisiertes Verfahren zurückführen lässt, kommen archaische Modelle zum Zuge, insbesondere die antike jüdische Methode der Konfliktbeilegung (il ryb). Im jüdischen Recht handelt es sich beim ryb um die Steuerung einer Streitsache auf niedriger Ebene, die nicht auf die Bestrafung des Schuldigen zielt, sondern die Kontroverse mit der

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damit immer häufiger die historische Gerechtigkeit der (sich durch Unabhängigkeit und Unparteilichkeit auszeichnenden) legalen Gerechtigkeit und der politischen Gerechtigkeit (die Übergangsgerechtigkeit ist zwangsläufig eine solche in mehr als nur einer Begriffsbedeutung) zur Seite.¹¹ Insgesamt kennzeichnet die globalistischen Theorien der Transitional Justice ein ganzheitlicher Ansatz und die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen den vier Instrumenten, auf die eine Politik zurückgreifen kann, die eine von gewaltsamen, die Menschenrechte verletzenden Konflikten zerrissene Gesellschaft befrieden will: gerichtliche Verfahren, Kommissionen zur historischen Wahrheitsfindung, materielle und symbolische Entschädigungen, institutionelle Reformen. Aus jedem dieser Instrumente folgt für die öffentlichen Gewalten eine spezifische Pflicht und für die Bürger der entstehenden Demokratie ein geltend zu machendes Recht (vor allem das, was in den jüngeren Verfassungstheorien als „Recht auf Wahrheit“ bezeichnet wird).¹² Keine dieser Modalitäten allein vermag in der Überwindung der historisch bedingten Traumata entscheidende Ergebnisse herbeizuführen – gerade deshalb müssen die Theorien der Übergangsjustiz auf ihre synergetischen Effekte setzen.¹³ Wenn sie in einer einheitlichen Strategie zusammenwirken sollen, kann im Übrigen keine von ihnen mit radikaler Konsequenz angewandt werden: Die Übergangsjustiz orientiert sich an den situationsabhängigen Maximen der Umsicht und nicht an den Vorgaben einer normativen Ethik. Nicht zufällig scheint im Hintergrund ein maßvoll-umsichtiges Instrument zur Befriedung auf: die Amnestie.¹⁴

Anerkennung des begangenen Unrechts, der Vergebung und schließlich der Versöhnung beilegen will. Es geht darum, Frieden zu schaffen und ein durch das begangene und erlittene Unrecht zerstörtes Gemeinschaftsgefühl wiederherzustellen.  Vgl. eine kritische Untersuchung des Begriffs in Lukas H. Meyer, Historische Gerechtigkeit. Berlin/ New York 2005.  Mark Freeman, Truth Commissions and Procedural Fairness. Cambridge 2006, S. 6: „The obligation to investigate, prosecute, and punish serious human rights violations corresponds to the right to justice (or the right to an effective remedy); the obligation to investigate and identify victims and perpetrators of serious human rights violations corresponds to the right to truth (or the right to know); the obligation to provide restitution and compensation for serious human rights violations corresponds to the right of reparation; and the obligation to prevent serious human rights violations corresponds to the right to guarantees of nonrepetition“.  Vgl. Naomi Roht-Arriaza/Javier Mariezcurrena (Hrsg.), Transitional Justice in the Twenty-First Century. Beyond Truth versus Justice. Cambridge 2006; Rosalind Shaw/Lars Waldorf (Hrsg.), Localizing Transitional Justice. Interventions and Priorities after Mass Violence. Stanford 2010.  Gary Smith/Avishai Margalit (Hrsg.), Amnestie oder die Politik der Erinnerung in der Demokratie, Suhrkamp. Frankfurt a. M. 1997; Ronald C. Slye, The Legitimacy of Amnesties Under International Law and General Principles of Anglo-American Law. Is a Legitimate Amnesty Possible?, in: Virginia Journal of International Law 43, 2002, S. 173 – 247; Lisa J. Laplante, Outlawing Amnesty. The Return of Criminal Justice in Transitional Justice Schemes, in: Virginia Journal of International Law 49, 2008, S. 915 – 984; Mark J. Osiel, Mass Atrocity. Collective Memory and Law. Cambridge 2009.

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2 Bezüglich der Suche nach Lösungen gewinnt man deshalb den Eindruck eines wachsenden Synkretismus, der aus der schwachen Funktionalität der eindeutigen, der Komplexität der jeweiligen gesellschaftlichen Situation nicht gerecht werdenden Strategien folgt. Die gerichtliche Aufarbeitung ist kostspielig und bleibt oftmals ergebnislos, die Entschädigungszahlungen unterliegen den objektiven Grenzen knapper Ressourcen, die sich auf konkurrierende Zielsetzungen verteilen, die Amnestie widerspricht den grundlegenden Prinzipien des Verfassungs- und internationalen Rechts, die Versöhnung ist ein schwieriger, verletzlicher Prozess, das Verzeihen kann nicht kollektiv auferlegt oder gewährt werden.¹⁵ Der Ausweg scheint zuweilen darin zu bestehen, dass man der Erinnerung und seiner Institutionalisierung die Funktion zuweist, die Schwierigkeiten und Beschränkungen zu umgehen, indem man das Problem einfach auf seinen Kommunikationsaspekt reduziert. Aber dies ist ganz offensichtlich nicht möglich. Auch die moralische Aufarbeitung der Vergangenheit wird schon allein deshalb von Fehlschlägen nicht verschont bleiben, weil die Erinnerung eines Gemeinwesens, das tragische Spaltungen erlebt hat, konstitutiv gespalten ist. Der clash of ethnic memories stellt ein Element des Prozesses dar, durch den die schwer lastende Erbschaft des Genozids, der Verbrechen gegen die Menschheit oder der Kriegsverbrechen von den verschiedenen Gruppen (Täter, Opfer und Zeugen) aufgearbeitet wird. Die ethnischen Identitäten sind konstruiert, lassen sich von daher auch wieder abbauen; für beide Operationen besitzen die Strategien der Erinnerung eine fundamentale Bedeutung. Es lässt sich sogar sagen, dass der Bereich, in dem die Erinnerung manipuliert werden kann, zuweilen (aber trügerischerweise) unendlich scheint: Man denke nur mit Blick auf die entferntere Vergangenheit an die Konstruktion unglaublicher Herrschergenealogien und für die jüngere Zeit an die Mythenbildung imaginärer ethnischer Gemeinschaften. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigt dann auch sehr nachdrücklich, dass die Aufarbeitung der Vergangenheit auch zu auffälligen Asymmetrien führt: Asynchronien in der Vergangenheitsbewältigung hat die Geschichtsschreibung in den letzten Jahrzehnten umfassend nachgewiesen.¹⁶ Es gibt einen europäischen und westlichen Sonderweg in der Aufarbeitung der Vergangenheit, aus dem die Heterogenität des internationalen Systems

 Zur Präzisierung des Begriffs aus einem philosophischen Blickwinkel vgl. Thomas Dürr, Hannah Arendts Begriff des Verzeihens. Freiburg 2009.  Vgl. Gert Pickel, Nostalgie oder Problembewusstsein? Demokratisierungshindernisse aus der Bewältigung der Vergangenheit in Osteuropa, in: Sigmar Schmidt [u. a.] (Hrsg), Amnesie, Amnestie oder Aufarbeitung?. Wiesbaden 2009, S. 129 – 158; Joseph. Rothschild, Return to Diversity? A Political History of East Central Europe Since World War II. New York/Oxford 2000; Stefan Troebst (Hrsg.), Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven. Göttingen 2010; Ders., Erinnerungskultur – Kulturgeschichte – Geschichtsregion. Ostmitteleuropa in Europa. Stuttgart 2013; Arnd Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerung an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945. Paderborn 2012.

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auch hinsichtlich der Dimension der Erinnerung hervorgeht; dadurch wird ihre Kosmopolitisierung behindert, die die internationalen Einrichtungen in den Maßnahmenkatalog aufgenommen haben, dessen die Konsolidierung des Friedens unter den Nationen bedarf. Der Trend zur Transnationalisierung der Erinnerung, der die Entwicklungen der westlichen Demokratien kennzeichnet, darf zweifellos nicht unterschätzt werden.¹⁷ Die Stockholmer Holocaust-Konferenz aus dem Jahr 2000 hat beispielsweise entschieden dazu beigetragen, einen Synchronisierungs- und Vereinheitlichungsprozess der nationalen Erinnerungskulturen in Gang zu setzen, der die politische Identität der Europäischen Union stärken und die Nachahmung in vielen anderen Ländern stimulieren sollte.¹⁸ Aber kann man wirklich davon ausgehen, dass es zu einem dauerhaften interkulturellen Prozess der Kosmopolitisierung der Erinnerung gekommen ist? Und lässt sich tatsächlich behaupten, dass das europäische Modell der Aussöhnung ein universalisierbares Paradigma darstellt, das sich dazu eignet, die Verbrechen und historischen Ungerechtigkeiten der kolonialen Ausbeutung in Angriff zu nehmen? Viele Indikatoren legen das Gegenteil nahe. Beim Übergang (nach 1990) vom posttotalitären sowjetischen Regime zu einer (trotz der früheren Aussicht auf Glasnost) wenig zur Transparenz neigenden Demokratie wählte Russland grundsätzlich den Weg, die Vergangenheit zu ignorieren.¹⁹ So lässt sich unschwer erfassen, warum sich das Land so gleichgültig gegenüber den Verbrechen des vergangenen Regimes gezeigt und damit in der Vergangenheitspolitik einen Weg eingeschlagen hat, der dem westlichen und insbesondere dem im Nachkriegsdeutschland verfolgten entgegengesetzt war. Der Grund liegt im spezifischen Charakter der stalinistischen Verbrechen, die einem Demozid, nicht einem Genozid entsprachen. Der größte Teil der nationalsozialistischen Opfer gehörte zu anderen ethnischen Gruppierungen, hier kam eine horizontale Diskriminierung zum Tragen. Unter dem stalinistischen Regime hingegen wirkte eine vertikale Diskriminierung nach vorherrschenden Klassengegensätzen, wie willkürlich die Definition des Klassenfeindes auch gewesen sein mochte. Die Opfer fallen oftmals mit den Verfolgern zusammen, so dass der Aufbau einer kohärenten generationenübergreifenden Erinnerung unmöglich ist. Die Reaktion der postsowje-

 Zum Begriff und zum Phänomen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der Wende von 1989 vgl. Norbert Frei (Hrsg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Göttingen 2006; sowie Hartmut Kaelble [u. a.] (Hrsg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2002.  John Roth, Holocaust Politics. Louisville 2001; Jens Kroh, Transnationale Erinnerung. Der Holocaust im Fokus geschichtspolitischer Initiativen. Frankfurt a. M. 2006.  Con molte resistenze e reticenze anche la Federazione russa si sta avviando per questa strada (la verità su Katyn è stata ammessa solo di recente). Vgl. Victor Zaslavsky, Pulizia di classe. Il massacro di Katyn. Bologna 2006; George Sanford, Katyn e l’eccidio sovietico del 1940. Verità, giustizia e memoria. Turin 2007; Micha Brumlik/Karol Sauerland (Hrsg.), Umdeuten, verschweigen, erinnern. Die späte Aufarbeitung des Holocaust in Osteuropa. Frankfurt a. M. 2010.

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tischen Gesellschaft auf die stalinistischen Verbrechen lässt sich deshalb mit einer Situation vergleichen, die nach einem Bürgerkrieg eintritt.²⁰ Ein Vierteljahrhundert nach der großen Zäsur ist festzustellen, dass die schwere Last der politischen Makrokriminalität der kommunistischen Regime im Wesentlichen der Vergessenheit anheimgefallen ist. Der Diskurs lässt sich ohne weiteres von Russland auf China ausdehnen, das vom europäischen Sonderweg noch weiter entfernt ist. In der chinesischen Volksrepublik bleibt einerseits die ins Zehnmillionenfache gehende Zahl der Toten, die das maoistische Regime zu verantworten hat, völlig ungeahndet, andererseits wird versucht, jeden intellektuellen Herd der Selbstanklage unter dem Deckmantel der nationalistischen Ideologie zu ersticken.²¹ Bezeichnend ist auch der Fall Kambodschas, wo nach der vietnamesischen Invasion ein revolutionäres Volksgericht Pol Pot und Ieng Sary in Abwesenheit zum Tode verurteilte, während Pol Pot an der Spitze der Guerilla-Bewegung der Khmer blieb. Die Amnestie von 1996 ermöglichte es dann tausenden Roten Khmer, den bewaffneten Kampf aufzugeben; in ihren Genuss kamen auch die Folterknechte aus den Lagern, darunter Ieng Sary.²² Schon 1982 war eine Kommission ins Leben gerufen worden, um den Geno- und Demozid zu dokumentieren, und 1986 wurde auf dem Asean Foreign Ministers’ Meeting in Manila die Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofes für die kambodschanischen Verbrechen empfohlen (dem sich im übrigen die Vereinigten Staaten widersetzten), doch erst 1994 verabschiedete der US-Kongress den Cambodian Genocide Justice Act, und erst 2004 schuf die gesetzgebende Versammlung in Kambodscha die Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia, die unter der Ägide der Vereinten Nationen eine moderate Tätigkeit entfalteten. Dieses heterogene geopolitische Bild stellt erneut unter Beweis, dass Erinnerung historisch nicht so sehr versöhnt, sondern oftmals dazu benutzt wird, um zu trennen, Konflikte zu schüren und feindliche Vorstellungswelten aufzubauen. Insofern die Erinnerung in einem ambivalenten Verhältnis zur sowohl kollektiven als auch individuellen Identität steht, kann sie als „zementierendes“²³ Element auch Hass, Ressentiments und Rachegedanken wecken. Einen nicht zweitrangigen Aspekt der kulturellen Prozesse, über den die milde Ethik des Kosmopolitismus hinwegzusehen neigt, stellt in der Tat die Thesaurisierung des Ressentiments dar. Der Widerstand, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, birgt andererseits für eine Gesellschaft oder eine politische Führungsschicht die Gefahr der Stigmatisierung oder sogar der Kriminalisierung durch andere Länder in sich, die unter bestimmten Um-

 Dan Diner, Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust. Göttingen 2007, S. 58 – 60.  Vgl. Uradin E. Bulag, Twentieth-Century China. Ethnic Assimilation and Intergroup Violence, in: Donald Bloxham/A. Dirk Moses (Hrsg.), The Oxford Handbook of Genocide Studies. Oxford 2010, S. 426 – 444 und Robert Cribb, Political Genocides in Postcolonial Asia, in: ebd., S. 445 – 465.  Craig Etcheson, After the Killing Fields. Lessons from the Cambodian Genocide. Westport 2005, S. 167 ff.  Avishai Margalit, The Ethics of Memory. Cambridge 2004, S. 201.

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ständen unvermeidlich einen strategischen Gebrauch von der Vergangenheitspolitik machen. Die nicht intendierten Folgen der Erinnerunspolitiken sind ein von den Sozialwissenschaften noch unbearbeitetes Terrain.

3 In dem facettenreichen Panorama der Übergangsszenarien springt die Unterschiedlichkeit zwischen dem europäischen Modell und den Erfahrungen auf den anderen Kontinenten ins Auge. Das eine richtet sich vorrangig an der internationalen Strafgerichtsbarkeit und damit an einer Lösung aus, die sich im Grunde als eine Fortsetzung und Außenprojektion der europäischen Staatskultur darstellt.²⁴ Die anderen greifen hingegen auf soziale Praktiken und kulturelle Traditionen zurück, die wenig mit der westlichen Moderne zu tun haben, auch wenn deren institutionelle Strukturen verschiedenen Hybridisierungen unterworfen waren und sind.²⁵ Auf der einen Seite beobachten wir also eine Tendenz zur Vereinheitlichung und Zentralisierung, auf der anderen Seite eine zentrifugale Dynamik, die Anpassungsleistungen an gesellschaftliche Bedingungen mit endemischem Gewaltpotential begünstigt. Die immer nachhaltigere, durch die Globalisierung bedingte Herausbildung multiethnischer und multikultureller Gesellschaften lässt dementsprechend vorausahnen, dass die Tendenz zur Differenzierung und zur Kontaminierung von Konfliktlösungsmodalitäten (auch in den Gesellschaften mit einer konsolidierten Demokratie) immer mehr zunehmen wird. Das europäische Modell wird überdies nicht nur vom juristischen Medium dominiert, sondern ist in verschiedener Hinsicht auch ein Produkt der Säkularisierungsprozesse, und zwar nicht nur in dem Sinne, dass es weltlichen Einrichtungen die Aufgabe überträgt, Frieden zu schaffen und das gegenseitige Vertrauen wiederherzustellen, sondern auch deshalb, weil mit ihm eine Kultur der Sakralisierung der Menschenwürde und –rechte sowie eine Institutionalisierung der Erinnerung der Betroffenen an ein rational nicht zu erklärendes und zu rechtfertigendes Opfer einhergeht. Die außereuropäischen Erfahrungen ordnen sich in einen anderen Kontext ein, insofern hier dem religiösen Glauben die Funktion zufällt, das Zusammenleben in allen seinen Äußerungsformen zu regeln, und den Kirchen überdies noch die Vergangenheitspolitik übertragen wird. Die Verbreitung der Wiederversöhnungsstrategien in einem Großteil der Welt hat zweifellos auch mit diesen Rahmenbedingungen

 David Bosco, Rough justice. The International Criminal Court in a World of Power Politics. Oxford/ New York 2014; Jackson N. Maogoto,War Crimes and Realpolitik. International Justice from World War I to the 21st Century. Boulder 2004. Eine Zusammenfassung der Gegenargumente in Mark J. Osiel, Why prosecute? Critics of Punishment for Mass Atrocity, in: Human Rights Quarterly 22, 2000, S. 118 – 147.  Christina Steenkamp, Violence and Postwar Reconstruction. Managing Insecurity in the Aftermath of Peace Accords. London 2009; Rosalind Shaw/Lars Waldorf, Localizing Transitional Justice. Interventions and Priorities after Mass Violence. Stanford 2010.

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zu tun, die kein ideales Terrain bilden, auf dem das europäische Paradigma der rechtlichen Vergangenheitsbewältigung gedeihen kann (wie im Falle Südafrikas und Ruandas²⁶). Den paradigmatischen, weil am eingehendsten untersuchten Fall einer Übergangsjustiz (unter dem Begriff der Vergangenheitsbewältigung) stellt im europäischen Kontext das deutsche Modell aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg dar. Der Begriff beinhaltet nach Wolffsohn vier Elemente: die Kenntnis des Geschehenen, das Vorhandensein moralischer und rechtlicher Beurteilungsparameter, die Solidarität mit den Opfern und der Wille, dass das Geschehene sich nicht wiederholt.²⁷ Daraus folgt, dass es sich bei der Überwindung der Vergangenheit um einen langen Prozess handelt, den die Gesellschaft (oder die soziale Gruppe, der die Verbrechen anzulasten sind) durchlaufen muss, um die Kollektividentität eines von der Gemeinschaft der Nationen moralisch und rechtlich anerkannten Subjekts zurückzugewinnen. Auf fast dialektische Weise setzt die Vergangenheitsbewältigung zwei Momente voraus, das der von außen auferlegten Bestrafung (die Gesellschaften gehen bei der Umsetzung der eigenen masochistischen und selbststrafenden Impulse umsichtiger vor als die Einzelpersonen) und das der von innen kommenden Verdrängung, die sich selbst legitimiert, indem sie das Recht auf Entlastung von der Vergangenheit einfordert.²⁸ Sie ist schließlich erst dann abgeschlossen, wenn die materiellen, institutionellen und psychologischen Voraussetzungen der Versöhnung gegeben sind, doch hier haben wir es mit einer Vielfalt von Verlaufsprozessen und Ergebnissen zu tun. Wendet man ein derartiges abstraktes, philosophisch ausgerichtetes Schema an, läuft man allerdings Gefahr, die Besonderheiten (mit den entsprechenden Komplikationen) aus den Augen zu verlieren. Dabei stellt die deutsche Erfahrung nun einen Sonderfall dar, der in normativer Hinsicht als Modell gelten kann, auch wenn er sich

 Vgl. Emily Hahn-Godeffroy, Die südafrikanische Truth and Reconciliation Commission. Recht und Verfassung in Südafrika. Baden-Baden 1998; Nike Durczak, Der Versuch einer Vergangenheitsbewältigung in Südafrika durch die Wahrheits- und Versöhnungskommission. Frankfurt a. M. 2001; James Wilmot (Hrsg.), After the TRC. Reflections on Truth and Reconciliation in South Africa. Ohio/Athen 2001; Deborah Posel/Graeme Simpson (Hrsg.), Commissioning the Past. Understanding South Africa’s Truth and Reconciliation Commission. Witwatersrand/Johannesburg 2002; Clarissa Ruge, Versöhnung durch Vergangenheitsbewältigung? Die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission und ihr Versuch zur Friedenssicherung. Frankfurt a. M. 2004; René Lemarchand, The Politics of Memory in Post-Genocide Rwanda, in: Phil Clark/Zachary D. Kaufman (Hrsg.), After Genocide. Transitional Justice, Post-Conflict Reconstruction and Reconciliation in Rwanda and Beyond. London 2008, S. 65 – 77, hier S. 65 ff.; Will Kymlicka/Bashir Bashir (Hrsg.), The Politics of Reconciliation in Multicultural Societies. Oxford 2008.  So der israelische Historiker Michael Wolffsohn, zitiert in Ulrich Brochhagen, Nach Nürnberg. Vergangenheitsbewältigung und Westintegration in der Aera Adenauer. Hamburg 1994, S. 11.  Auf die Notwendigkeit der Verdrängung hat bekanntlich die revisionistische Geschichtsschreibung beharrt. Aus kritischer Perspektive vgl. Aleida Assmann/Jan Assmann (Hrsg.), Schweigen. München 2013.

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unter deskriptiven und erklärenden Gesichtspunkten nicht verallgemeinern lässt.²⁹ Gewinnen lässt sich aus seiner Analyse, dass a) einschneidende Säuberungsmaßnahmen nur dann ergriffen werden, wenn sie nach einer militärischen Niederlage von außen auferlegt werden; b) die Fremdbestimmtheit der Sanktionen nach einer gewissen Zeit die Wiederherstellung der nationalen Einheit erleichtert, ohne große Ressentiments überwinden zu müssen (da die Bestrafungen ursprünglich von den Besatzern ausgingen und die nationale Gemeinschaft in der „Solidarität der Schuldigen“ einen gangbaren Weg gefunden hatte, damit umzugehen; c) der Erfolg des Demokratisierungsprozesses von vorgängigen Faktoren innerhalb der Institutionen und der politischen Kultur abhängt, die ihn begünstigen (das wird für gewöhnlich übersehen, wenn man die Geschichte Deutschlands auf Militarismus und staatsbezogenen Autoritarismus reduziert); d) die Stabilisierung der Demokratie und die Durchsetzung einer Kultur der Rechte es den nachfolgenden Generationen ermöglichen, Dossiers aus der Vergangenheit wiederaufzugreifen, ohne sich der Gefahr auszusetzen, tiefgreifende Konflikte heraufzubeschwören.³⁰ Offensichtlich war im größten Teil der von den Studien zur Transitional Justice untersuchten Fälle keine dieser Bedingungen gegeben. Auch wenn sich eine Koalition unter der Ägide der internationalen Gemeinschaft nach dem Prinzip der responsibility to protect zu einem humanitären Eingriff veranlasst sieht, folgt darauf keine hinreichend einschneidende und dauerhafte militärische Besetzung: das korrespondierende Prinzip der responsibility to rebuild unterliegt den Beschränkungen einerseits des internationalen Rechts, andererseits der tatsächlichen Bereitschaft zur Hilfestellung seitens der Interventionsmächte.³¹ Günstige Bedingungen zur Stabilisierung der

 Jeffrey K. Olick, In the House of the Hangman. The Agonies of German Defeat 1943 – 1949. Chicago 2005, S. 338: „Since 1989, Germany has been the obvious reference point in the growing discourse of collective memory, transitional justice, and postconflict reconciliation“. Ein Großteil des analytischen Instrumentariums bezüglich dieser Probleme ist vom deutschen Wortschatz bestimmt: Neologismen wie Geschichtspolitik, Erinnerungspolitik, Vergangenheitspolitik, Geschichtsaufarbeitung und vor allem Vergangenheitsbewältigung sind mittlerweile zu einem festen Bestandteil der Fachsprache geworden. Vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. München 1996; Helmut König, Von der Diktatur zur Demokratie oder Was ist Vergangenheitsbewältigung, in: Helmut König [u. a.] (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung am Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts. Opladen 1998, S. 371– 392; Edgar Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948 – 1990. Darmstadt 1999; Norbert Frei [u. a.] (Hrsg.), Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit. München 2000; Ulrike Jureit/Christian Schneider, Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Stuttgart 2010.  Bezeichnend sind hier schon die Unterschiede zwischen den Nationen, die den gewaltsamen Zusammenbruch des jeweiligen totalitären Regimes erlebt haben: vgl. zumindest Christoph Corneliβen [u. a.] (Hrsg.), Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945. Frankfurt a. M. 2003.  Über die schwierige Zusammenführung der beiden Prinzipien responsibility to protect und responsibility to rebuild vgl. Sonja Grimm, Erzwungene Demokratie. Politische Neuordnung nach militärischer Intervention unter externer Aufsicht. Baden-Baden 2009; Roland Paris/Timothy S. Sisk

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Demokratie fehlen, wie gesagt, in den failed und failing states und lassen sich auch nicht leicht erzeugen: Vielmehr besteht sehr häufig die Gefahr einer politischen Polarisierung zweiten Grades (nach der zwischen incumbents und insurgents), die bis an die Schwelle eines „Zusammenstoßes der Kulturen“ reichen kann. Innerhalb derartiger Szenarien hat eine juristische und moralische Vergangenheitsbewältigung so gut wie keine Aussichten auf Erfolg, so dass der Rückgriff auf eine Amnestie bzw. auf gesellschaftliche Praktiken der gemeinschaftlichen, von den formalen rechtsstaatlichen Garantien weit entfernten Versöhnung unvermeidlich ist.

4 In einem jüngst erschienenen Aufsatz hat Aleida Assmann die Ergebnisse einer langjährigen Forschungsarbeit zum Thema zusammengefasst und dabei zwischen vier verschiedenen Erinnerungsmodellen unterschieden: dialogic forgetting, remembering in order to prevent forgetting, remembering in order to forget, dialogic remembering. ³² Dialogic forgetting bezieht sich auf den von allen geteilten Verdrängungsimpuls, auf den Pakt des Schweigens und das kollektive Beschweigen, wovon in den 1980er Jahren bereits Hermann Lübbe gesprochen hatte. Das zweite Modell, remembering in order to prevent forgetting, meint den Übergang von einer Kultur der Amnesie zu einer Kultur der Anamnese; als Beispiel dient hier der Holocaust, der nach einer Verdrängungsund Latenzphase zentrale Bedeutung gewonnen hat. Für das dritte Modell, remembering in order to forget, steht die südafrikanische Kommission für Wahrheit und Versöhnung; hier wird die Erinnerung nicht in apotropäischer Funktion dazu genutzt, ein vergangenes Ereignis zu bannen, sondern als therapeutisches Werkzeug, das auf das Bedürfnis antwortet, weiterzugehen (leave behind and go beyond) und die Aussöhnung anzustreben. Das vierte Modell, dialogic remembering, richtet sich auf die Kosmopolitisierung der Erinnerung, auf den Aufbau einer geteilten transnationalen Erinnerung. In ihm liegt wohl auch die Zukunftsperspektive, wobei noch offen ist, ob die dialogischen und kommunikativen Formen in der Lage sind, die Kriegsgespenster der Vergangenheit zu besänftigen. Die vier Modelle scheinen nach Art einer aufsteigenden Skala angeordnet zu sein. Das erste öffnet sich in der Tat der „Solidarität der Schuldigen“ und duldet damit einen gewissen Grad an „historischer Ungerechtigkeit“, die mit einer verfassungs-

(Hrsg.), The Dilemmas of Statebuilding. Confronting the Contradictions of Postwar Peace Operations. London 2009; Larry May, After War Ends. A Philosophical Perspective. Cambridge 2012.  Aleida Assmann, From Collective Violence to a Common Future. Four Models for Dealing with a Traumatic Past, in: Ruth Wodak/Gertraud Auer Borea (Hrsg.), Justice and Memory. Confronting Traumatic Pasts. An International Comparison. Wien 2009, S. 31– 48. Das Thema wurde vertieft in Aleida Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München 2013, S. 180 ff. Vgl. von dies., Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 2010.

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mäßigen, die Rechte ernst nehmende Demokratie unvereinbar ist.³³ Die beiden folgenden Modelle besitzen keinen ausdrücklich „dialogischen“ Charakter, eignen sich viel eher, wie die Geschichte immer wieder zeigt, zu einem strategischen Gebrauch der Erinnerung und des Vergessens, wobei die Gefahren in Kauf genommen werden, die eine verordnete Vergangenheitspolitik mit sich bringt. Das kommunikative Erinnerungsmodell ist in normativer Hinsicht am anspruchsvollsten, allerdings mit all den Mängeln eines idealisierenden Ansatzes behaftet, der die objektive Bedingtheit, denen die Vergangenheitspolitiken ausgesetzt sind, deren Widersprüche und Paradoxe nicht angemessen berücksichtigt. Zudem stimmt die Literatur zur Übergangsjustiz mit Elster darin überein, dass ökonomische Zwänge, die sowohl von der Ressourcenknappheit als auch von der Unvereinbarkeit der Ziele herrühren (Wirksamkeit, legale Validität, substantielle Gerechtigkeit kollidieren hier wie auf anderen Gebieten oftmals miteinander), einer Ausweitung der Entschädigungsmaßnahmen entgegensteht.³⁴ Das Fehlen angemessener Mittel verleitet die Politik dazu, auf die rituellen Gesten der Bitte um Verzeihung, auf die Symbolik des apologizing zurückzugreifen; eine derartige symbolische Politik stößt jedoch schnell an ihre Grenzen.³⁵ Die dialogischen Theorien überschätzen ferner tendenziell die Rolle der positiven Gefühle, während sie das Gewicht der negativen Empfindungen, insbesondere das Dringlichkeitsempfinden und die emotionelle Ungeduld unterschätzen (Elster hat auch darüber erhellende Seiten geschrieben).³⁶ Einige Analysen betrachten diese „Obsession der Erinnerung“ demnach mit einem kritischen Auge; sie gehen davon aus, dass sie nicht nur zuweilen die Aushandlung pragmatischer Kompromisse behindert, sondern auch offen mit den Dringlichkeiten einer Gesellschaft in Konflikt tritt, die sich einer Reihe neuer Herausforderungen zu stellen hat, und einer rein kompensatorischen Logik der Musealisierung der Vergangenheit gehorcht. Bekanntlich wirft man den Historikerkommissionen Nutzlosigkeit vor, wenn man sie nicht gar politischer Abhängigkeit verdächtigt. Die Frage steht im Raum, ob die von einer solchen Erinnerungspolitik postulierte Verantwortung gegenüber der Vergangenheit nicht mit der Verantwortung gegenüber den nachfolgenden Generationen kollidiert. So diagnostiziert man immer häufiger den „Verlust der Zukunft“ in den gegenwärtigen Gesellschaften, die unfähig seien, die anstehenden Probleme zu bewältigen und darauf mit der „Flucht in die Vergangen-

 Gesine Schwan, Politik und Schuld. Die zerstörerische Macht des Schweigens. Frankfurt a. M. 1997.  Jon Elster, Chiudere i conti, S. 289 ff.  Roy L. Brooks (Hrsg.), When Sorry Isn’t Enough. The Controversy over Apologies and Reparations for Human Injustice. New York 1999; Elazar Barkan/Alexander Karn (Hrsg.), Taking Wrongs Seriously. Apologies and Reconciliation. Stanford 2006.  Martha Minow, Between Vengeance and Forgiveness, S. 2, spricht in seinem Buch von den „two dangers of wallowing in the past and forgetting it. Too much memory or not enough; too much enshrinement of victimhood or insufficient memorializing of victims and survivors; too much past or too little ackowledgment of the past’s staging of the present; these joined dangers accompany not just societies emerging from mass violence, but also individuals recovering from trauma“.

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heit“ reagieren. Daraus folgt für manchen Kritiker eine Mutation der Conditio humana: Noch nie sei die Agenda der Gesellschaften derart vergangenheitsgesättigt und zukunftsarm gewesen.³⁷ Selbstverständlich stellte die „Obsession der Erinnerung“ eine notwendige Komponente des – wie es genannt wurde – „Zeitalters des Humanitarismus“ dar.³⁸ Dieses Zeitalter war (negativ) vom eudämonistischen Programm der Verringerung des gegenwärtigen, aber auch des vergangenen Leidens bestimmt. Es zielte darauf, die Henker vom Sockel zu stoßen und ihnen jegliche charismatische Aura zu nehmen, stellte vielmehr die Geschichte der Opfer und Augenzeugen in den Mittelpunkt des Interesses. Es ging dabei um den schwierigen Versuch, die „Wahrheit der subjektiv erlebten Erfahrung“, die „juristische Wahrheit“ und die „historische Wahrheit“ untereinander zur Deckung zu bringen. Gleichwohl darf man nicht das Potential der zahllosen Krisen- und Gewaltherde unterschätzen, die den Globalisierungsprozess begleiten; ihnen gegenüber erweisen sich die durchaus zahlreichen Instrumente der Übergangsgerechtigkeit doch nur in der Lage, die Unumkehrbarkeit der historischen Prozesse mit einem moralischen Urteil zu sanktionieren. So bleibt die Frage offen, ob der neue moral frame der internationalen Beziehungen sich tatsächlich zu stabilisieren beginnt und wirkliche Erfolgsaussichten hat oder doch nur die große Heuchelei der Globalisierung darstellt. Neben der Hypermoral, die sich in der Übernahme der Verantwortung gegenüber der Vergangenheit ausdrückt, registrieren wir auch einen gewissen Überdruss am Thema der Erinnerung. Die Auseinandersetzungen beschränken sich dabei nicht nur auf das ethische Terrain und die akademischen Debatten. Es gab in der Vergangenheit eine Hyperpolitik, aber auch eine Antipolitik, die in den populistischen Auswüchsen der zeitgenössischen Demokratien immer lauert. Die Alternative zwischen dem Schlussstrich unter die nicht aufgearbeitete Vergangenheit und dem Rechenschaft ablegen über die Vergangenheit, ohne je einen Schlussstrich zu ziehen, bedrängt unablässig die Übergangsgerechtigkeit, die sich zwischen diesen beiden Polen bewegt und Fall für Fall eine nicht nur moralisch legitimierbare, sondern auch pragmatisch umsetzbare Lösung finden muss. Aus der Unausweichlichkeit dieser Alternative erklärt sich zum Teil auch das teils vorsichtige oder verantwortungslose, teils noble oder zynische Spiel zwischen der wirklichen und der symbolischen Aufarbeitung.

 Harald Welzer, Vergangenheitsüberwältigung, in: Ignacio Olmos/Nikky Keilholz-Rühle (Hrsg.), Kultur des Erinnerns. Vergangenheitsbewältigung in Spanien und Deutschland. Frankfurt a. M. 2009, S. 29 – 34, hier S. 32: „So viel Vergangenheit war nie. So wenig Zukunft auch nicht.“  Michael Barnett, Empire of Humanity. A History of Humanitarianism. Cornell/Ithaca 2013; Silvia Salvatici, Nel nome degli altri. Storia dell’umanitarismo internazionale. Bologna 2015.

Michele Battini

Die Wahrheitsfrage: Gerechtigkeit, Erinnerung und Geschichte

In den letzten Jahren hat die Zahl der Studienkommissionen zugenommen, in denen Historiker aus verschiedenen, untereinander einst verfeindeten Ländern zusammenkamen und deren Ziel darin bestand, die Fundamente für eine öffentliche Erinnerung in jenen Staaten zu legen, in denen der Krieg zu schweren Menschenrechtsverletzungen geführt hatte.¹ In zahlreichen Kommissionen spielte die Bundesrepublik Deutschland eine führende Rolle, was mit ihrer Geschichte und mit dem Bemühen der deutschen Regierungen zusammenhing, unter der gemeinsamen Definition der „totalitären Vergangenheit“ eine öffentliche Erinnerungspolitik zur Geschichte des Nationalsozialismus und des DDR-Kommunismus zu entwickeln. Neben der deutschitalienischen Historikerkommission gab es also noch die historisch-kulturellen Kommissionen zwischen Deutschland und Polen bzw. zwischen Deutschland, der Slowakei und Tschechien. Die Kommissionen hatten unterschiedliche Zielsetzungen und Funktionen: die Sammlung und Veröffentlichung von lange verborgen gehaltenen Dokumenten, die Aktualisierung des Forschungsstandes, der Vergleich zwischen den vorherrschenden historiographischen Perspektiven in den verschiedenen Ländern und vor allem die Zusammenstellung von Materialien, die Abfassung von Schulbüchern und die Errichtung von gemeinsam bejahten Monumenten; sie sollten als mögliche Plattformen einer öffentlichen Erinnerung für Nationalstaaten dienen, die eine Vergangenheit voller Konflikte, Verbrechen gegen die Menschheit und Verletzungen des Völkerrechts entzweite, die heute aber ein und demselben politischen Gemeinwesen, der Europäischen Union, angehören. Selbstverständlich birgt das Bemühen um derartiges Erinnern aufgrund der ihm notwendigerweise innewohnenden Logik enorme Risiken in sich – sie ähnelt derjenigen, die sich seit Jahren in der Rechtspraxis, d. h. in den Einrichtungen (Gerichte oder Kommissionen) durchgesetzt hat, die im Übergang von der Diktatur zur Demokratie mit der Bestrafung der Verbrechen gegen die Menschheit und mit der Verwaltung der Justiz befasst sind.² Ich werde im Folgenden kurz den dreifachen Konflikt zwischen zwei Paradigmen der Übergangsjustiz (und zwei Modellen von Rechtswahrheit), zwischen der Rechtswahrheit und der historischen Wahrheit, zwischen der Geschichtsschreibung und der Erinnerung untersuchen. Das Ziel besteht darin, einen Beitrag zu einigen mit-

 Eine Kurzform meines Beitrages ist in Parolechiave 53, 2015, S. 171– 179, erschienen.  Zur „Übergangsgerechtigkeit“ vgl. George Ginsburg/Vladimir Kudriavtsev (Hrsg.), The Nuremberg Trial and International Law. Dordrecht 1990; Jon Elster, Closing the Books. Transitional Justice in Historical Perspective. Cambridge 2004, und vor allem Pier Paolo Portinaro, I conti con il passato. Vendetta, amnistia, giustizia. Mailand 2011, S. 180 ff. https://doi.org/10.1515/9783110541144-014

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einander nicht leicht zu vereinbarenden strategischen Alternativen zu leisten, mit denen sich die historischen Kommissionen auseinandersetzen müssen und derer sich auch die Kollegen der deutsch-italienischen Kommission nicht vollständig bewusst gewesen zu sein scheinen. Ich möchte mich jedoch nicht allzu sehr auf die methodologischen Aspekte versteifen und halte es hier mit den sinnigen Worten des Sinologen Marcel Granet, wonach die „Methode“ in Wirklichkeit ein Weg voller Unsicherheiten und Irrtümer ist, ein Pfad, der sich erst am Ende, d. h. nach Abschluss der Arbeit, als kohärent erweist. Deshalb werde ich mich darauf beschränken, das methodologische Problem zu beschreiben, indem ich einfach die einzelnen Schritte meiner „Forschungsreise“ erkläre. Die Frage des Konflikts zwischen den Gerechtigkeitsparadigmen, zwischen den verschiedenen Formen von Wahrheit, zwischen Erinnerung und Historiographie stellte sich mir, als ich die Kriegsführung der deutschen Wehrmacht und der nationalsozialistischen Formationen gegen die Zivilbevölkerung in der Toskana im Sommer 1944 (den sogenannten „Krieg gegen die Zivilbevölkerung“, eines der wichtigsten Ereignisse in der Geschichte der italienischen Resistenza) untersuchte. Ich gewann daraus die feste Überzeugung von der historischen Bedeutsamkeit des Befehlssystems, das höchste Stellen der deutschen Besatzungsmacht, die den Krieg gegen die Zivilbevölkerung „führten“, aufeinander abgestimmt hatten; es handelte sich dabei keineswegs um sporadische, ungeordnete Vergeltungsmaßnahmen als Reaktion auf Partisanenaktionen, sondern um einen aus militärischen und politischen Erfordernissen geplanten regelrechten Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Die Analyse der Gründe, die die angloamerikanischen Behörden veranlasste, die Verantwortlichen des Besatzungssystems nicht vor Gericht zu stellen, überzeugte mich von der Notwendigkeit, die Übergangsgerechtigkeit in Europa mit der von der italienischen Justiz und Staatsgewalt durchgeführten politischen Säuberung der faschistischen Einrichtungen und Eliten vergleichend zu untersuchen.³ Die Schwierigkeit des Vergleichs bestand nun darin, eine korrekte Methodologie zu finden, um die aus einem spezifischen historischen Fall gewonnenen Ergebnisse auf andere historische Zusammenhänge, kulturelle Traditionen und Sprachen zu übertragen. Ich habe versucht, dieses Hindernis zu überwinden, indem ich konkrete Aspekte bestimmte, die als Ausgangspunkte dienen konnten – Auerbach nennt sie Ansatzpunkte – und von denen aus sich induktiv der globale historische Prozess rekonstruieren ließ; im vorliegenden Fall die Geschichte der Übergangsgerechtigkeit

 Michele Battini, The Missing Italian Nuremberg. Cultural Amnesia and Postwar Politics, New York/ London 2007 (engl. Übersetzung von Peccati di memoria. La mancata Norimberga italiana. Rom/Bari 2003). Ders., Riconsiderando il problema dell’epurazione in Italia dopo il 1945, in: Christiane Liermann/Marta Margotti/Francesco Traniello (Hrsg.): Vom Umgang mit der Vergangenheit. Ein deutschitalienischer Dialog. Tübingen 2007, S. 67– 75. Ders., Sins of Memory: Reflections on the Lack of an Italian Nuremberg and the Administration of International Justice after 1945, in: Journal of Modern Italian Studies, 9.3, 2004, S. 349 – 363. Ders., Prova, storia e retorica giudiziaria, in: Contemporanea. Rivista di storia dell ’800 e del ’900 Contemporanea, 7.1, 2009, S. 615 – 631.

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und des Völkerstrafrechts. Ein Vergleich zwischen den soeben genannten Aspekten beinhaltet entscheidende methodologische Fragen, die von den über die totalitären Systeme und den Zweiten Weltkrieg arbeitenden Historikern oftmals vernachlässigt worden sind. Weder die von Norberto Bobbio vor langer Zeit definierte Lehre vom „neuen Naturrecht“ und damit von den Menschenrechten, noch die Gesetzesbücher des Völkerstrafrechts, die es möglich machten, dass die Kader der faschistischen Mächte in der Nachkriegszeit vor Gericht gestellt wurden, haben zu einem kohärenten System von Einrichtungen, Regeln und Rechtsprozeduren geführt. Von 1946 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts sind zahlreiche, sich oftmals überlagernde Einrichtungen – internationale Militärgerichte, lokale Gerichte, Adhoc-Gerichte, Wahrheits- und Versöhnungskommissionen und schließlich das International Criminal Court – entstanden, während die verschiedenen Verfahrensweisen nachhaltig die Kategorie der „Rechtswahrheit“ verändert haben.⁴ Antonio Cassese, der erste Präsident des im Jahr 1993 eingerichteten Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien, hat immer die historische und rechtliche Bedeutung des Internationalen Militärgerichtshofes in Nürnberg (IMG) betont: Er stellte in seinen Augen eine geeignete Einrichtung dar, um die internationalen Verbrechen zu verurteilen und das Prinzip durchzusetzen, wonach die totalitäre Politik und ihre kriminellen Praktiken einem Strafprozess zu unterwerfen seien. Seit dem Nürnberger Statut, mit dem 1945 der Internationale Militärgerichtshof (IMG) eingerichtet wurde, zielte die Rechtsprechung darauf, den Übergang zur Nachkriegsdemokratie sicherzustellen: In der Tat sollte die Aufgabe des Tribunals nicht nur in der Bestrafung der Personen bestehen, die sich verfolgbarer Straftaten (Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschenrechte) schuldig gemacht hatten, sondern auch die Sammlung und Klassifizierung historischer Dokumente sowie die Konstruktion einer der antitotalitären und antifaschistischen Pädagogik entsprechenden Erinnerung einschließen. Das IMG-Statut betrachtete das Problem, worin denn die historische Wahrheit im Vergleich zur Rechtswahrheit bestehe, auf eine völlig neue Art und Weise. Das Fehlen von Anwälten und Richtern aus neutralen Ländern und die nicht gegebene Trennung zwischen der politischen und der rechtsprechenden Gewalt innerhalb der Vereinten Nationen selbst führte dazu, dass die Richter tendenziell den Siegermächten gehorchten; dies schuf einen poten-

 Einen guten Überblick über die historische Entwicklung der rechtlichen Bestimmungen bietet Jack Nusan Porter, Genocide and Human Rights. A Global Anthology, University Press of America. Washington 1982; vgl. auch Antonio Cassese, Il diritto internazionale nel mondo contemporaneo. Bologna 1984. (Zum historischen Ursprung der Rechtsbestimmungen vgl. L. Casamayor, Nuremberg 1945. La guerre en procès. Paris 1985;Tony Judt, Dopoguerra. Come è cambiata l’Europa dal 1945 a oggi. Mailand 2007; Ennio Di Nolfo, Storia delle relazioni internazionali 1918 – 1992. Rom/Bari 1994).

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tiellen Konflikt zwischen dem iussum und dem iustum, der durch die Verletzung des Prinzips nullum crimen, nulla poena sine lege noch verschärft wurde.⁵ Hans Kelsen war der erste, der seine Bedenken über die Entscheidungen des Gerichtshofes äußerte. Carl Schmitt ging mit seiner in Der Nomos der Erde formulierten Kritik jedoch zu weit, diente sie ihm im Wesentlichen doch nur zur Selbstverteidigung seiner früheren Rolle als Präsident der nationalsozialistischen Juristen. Schmitt behauptete nämlich, 1919 habe mit den Strafklauseln des Versailler Vertrags und mit der Kaiser Wilhelm II. angelasteten Verantwortung für den Angriffskrieg eine Entwicklung begonnen, die 1945 zur völligen Zerstörung des Rechtssystems, des ius publicum Europeum, geführt habe, das seit dem Westfälischen Frieden die Beziehungen zwischen souveränen Staaten regelte. Der Nürnberger Prozess habe dieses Zerstörungswerk dann mit der Konvergenz der Kräfte von Ost und West, d. h. mit der antifaschistischen Allianz zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, fortgesetzt. Der IMG fasste jedoch – im Gegenteil – die Menschenrechtstheorie neu; in diesem Zusammenhang muss betont werden, dass das Statut und die Praxis des Gerichtshofes in historischer Perspektive nicht nur eine Rechtswahrheit, sondern auch konkrete Ergebnisse einer historischen Wahrheit produzierten (wenngleich die dem gerichtlichen Vorgehen gesetzten Grenzen die Einführung selektiver Kriterien in geographischer, statistischer und politischer Hinsicht sowie die Ausklammerung des alliierten Luftkrieges und des Abwurfs der Atombomben auf die japanischen Städte zur Folge hatten). Die rechtliche Selektivität führte auch zu einer gewissen Verzerrung der historischen Wahrheit, weil der Wille bzw. die Handlungsfähigkeit fehlte, die Verbrechen gegen die Menschheit außerhalb des Kontextes eines Angriffskrieges zu verfolgen, und weil man die Natur der totalitären Institutionen nicht verstand; so ließ sich das Feld der Verantwortlichkeiten in seiner ganzen Weite nur schwerlich identifizieren, wozu das Fehlen einer konsistenten, eigenständigen Tatbestandskategorie der Planung und kollektiven Organisation der Verbrechen gegen den Frieden (conspiracy) das Seinige beitrug. Nach Pier Paolo Portinaro entsprechen die internationalen Strafgerichtshöfe nur selten den von ihnen geweckten Erwartungen, Versöhnung, Gerechtigkeit und Wahrheit über die Vergangenheit herbeizuführen, und genau aufgrund dieser Schwierigkeiten tritt die Amnestie an die Stelle der strafrechtlichen Repression bzw. der moralischen (oder ökonomischen) Entschädigung. Im Laufe der Zeit haben derartige Beschränkungen zu dem Versuch geführt, mit der Einrichtung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, die die Strafgerichtshöfe ersetzen sollten, neue Wege zu gehen. Nach Gerhard Werle lässt sich nicht einmal aus dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes in den Haag ableiten, welches Verhältnis zwischen

 Zum Gegensatz iustum-iussum, vgl. Paolo Prodi, Una storia della giustizia. Dal pluralismo dei fori al moderno dualismo tra coscienza e diritto. Bologna 2000 (mit Verweis auf Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. Berlin 1974, S. 233 ff).

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der Repression, der Amnestie und den Kommissionen bestehen soll, denn in dieser Hinsicht gelangte man damals zu keiner Übereinkunft. Deshalb scheint in den rechtstheoretischen Überlegungen der letzten Jahre, so Robert I. Rothberg, Mark Osiel, Dennis Thompson und Jon Elster, die Tendenz vorzuherrschen, in Überwindung des strafrechtlichen Paradigmas der Wiederversöhnung größere Bedeutung zuzuschreiben. Dementsprechend meinen auch einige Historiker, dass zwar die Anklageerhebung gegen Personen, die sich eines Verbrechens gegen die Menschheit schuldig gemacht haben, nach den Bestimmungen der internationalen Gesetze eine rechtliche Pflicht darstelle, während von einer effektiven Bestrafung abzusehen sei, wenn sie den Frieden und die Gerechtigkeit gefährdet.⁶ Auf der Grundlage eines morphologischen Vergleichs zwischen verschiedenen Strafgerichtsmodellen entlang der historischen Zeitachse, die vom Athen des 5. Jahrhunderts bis ins Argentinien der 1980er Jahre des 20. Jahrhunderts reicht, hat Jon Elster die Einrichtungen, Akteure und Gesetze der Strafjustiz scharf kritisiert; gleichwohl hat er einräumen müssen, dass sich der Konflikt zwischen den widersprüchlichen Zielen der Strafrechts- und Versöhnungsverfahren (d. h. zwischen dem Friedens-, Gerechtigkeits- und Wahrheitspostulat) nicht lösen lässt. In Italien treten u. a. Marcello Flores und Andrea Lollini für die Überwindung des Strafprozessmodells ein: Nach Lollini hat die nach dem Zweiten Weltkrieg vorherrschende politische und juristische Logik zu einer Überlagerung der Figur des Richters und des Historikers geführt, dabei wiederholt Kontroversen über die Erinnerung hervorgerufen und tiefe kulturelle Risse im Nachkriegsitalien heraufbeschworen.⁷ Das Problem der Differenz zwischen Erinnerung und Geschichtsschreibung verlangt allerdings eine aufmerksamere Untersuchung der Affinitäten und Unterschiede zwischen der Rechtswahrheit und der historischen Wahrheit. Die getrennte, konfliktreiche Erinnerung innerhalb eines Landes und zwischen verschiedenen Gesellschaften dient oftmals dazu, die juristische Logik abzuweisen und die Verfahren der Versöhnungskommissionen zu bevorzugen; der Bericht der Deutsch-Italienischen Historikerkommission ist ebenfalls von einer solchen fast schon die Form einer neuen politischen Theologie annehmenden Tendenz geprägt. Eine derartige Versöhnungsbereitschaft, die auf den Geständnissen der angeklagten Personen, auf der Opfer-

 Grundlegend sind Luigi Ferrajoli, Diritto e ragione. Teoria del garantismo penale. Rom/Bari 1989, S. 32 ff., und Gerhard Werle, Diritti dei crimini internazionali. Bologna 2009. Scharfsinnige Beobachtungen vgl. schließlich in Daniela Bifulco, Negare l’evidenza. Diritto e storia di fronte alla menzogna di Auschwitz. Mailand 2012.  Zu den Versöhnungskommissionen und anderen Rechtseinrichtungen vgl. Robert Rothberg/Daniel Thompson (Hrsg.), Truth versus justice. The Morality of Truth Commissions. Princeton 2001; Mark J. Osiel, Why Prosecute?, in: Human Rights Quarterly, 118, 2000, S. 144– 147; Dinah Shelton (Hrsg.), International Crimes and Human Rights. The Role of the International Criminal Court. Oxford 2002; Emanuela Fronza/A. Manacorda, La justice pénale internationale dans les décisions des tribunaux ad hoc. Mailand 2003; Andrea Lollini, Costituzionalismo, giustizia, transizione. Il ruolo costituente della Commissione sudafricana verità e conciliazione. Bologna 2005 (aber auch die Sondernummer der Quaderni Storici: Memorie, fonti, giustizia, 128.2, 2008).

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entschädigung und auf der Gewissheit der Schuldaufhebung durch Amnestie beruht, muss in ihren Wahrheitswirkungen eingehend untersucht werden. Zweifellos erweist sich die Versöhnung als eine Art synkretistische Praxis, die Rechtsverfahren, wirtschaftliche Entschädigung und religiöse Bestrebungen, also die klar unterschiedenen Bereiche von Rechtssystem, Ethik und Politik „zusammenbringt“ und miteinander vermengt. Die Theologie der Versöhnung produziert eine Art Bekenntnisdiskurs der Schuldigen auf der Basis von Zeugenaussagen und Beweisen, zielt allerdings auf eine Amnestie, auf eine öffentliche, deklamierte „Wahrheit“, die in die Begründung einer von allen geteilten Erinnerung einmünden soll. Die ausgehandelte Wahrheit erweist sich letztendlich als Nichtangriffspakt zwischen Opfer und Täter auf einer synallagmatischen Basis. Im Rückgriff auf die Narration, in der Aushandlung und im Synkretismus der zugleich religiösen und rechtlichen Verfahren lässt sich unschwer die überkommene Wirkkraft des Beichtsakraments und des von John Bossy und Adriano Prosperi untersuchten Gewissensgerichts erkennen.⁸ Hier aber liegt die entscheidende Frage: Sobald der Richter der Versöhnungskommission bestimmt, dass kein Anlass besteht, rechtliche Maßnahmen zu ergreifen, und folglich kein Verfahren eröffnet, stellt sich dem Historiker das Problem der Art von „Wahrheit“, die sich aus dieser Vorgehensweise ergibt. Die Versöhnung als Alternative zum Strafprozess zielt nämlich nicht darauf, die kollektive Dimension eines Verbrechens zu definieren, das im Rahmen eines totalitären kriminellen Makrosystems begangen wurde, sondern bietet ein Paradigma von „Wahrheit“, das wesentliche Veränderungen in der Methode der Beweisaufnahme und -führung bewirkt. In seiner tiefgründigen Studie Diritto e Ragione zur Rechtsgarantie im Strafverfahren und zum Begriff der individuellen Verantwortung betont Luigi Ferrajoli, dass man durch Tatsachenaufnahme und Erörterung der verschiedenen Beweisarten zur Rechtswahrheit gelangt; deshalb könne sie mit der historiographischen Wahrheit verglichen werden, die sich aus Textrekonstruktion und Überprüfung der Beweisquellen ergibt. Der Strafprozess wird als eine Art historiographisches Experiment de vivo verstanden, in dessen Kontext der Richter aus einem Gesetzestext ableiten muss, dass eine bestimmte Handlung ein Verbrechen darstellt, gleichzeitig aber gehalten ist, aus dem Beweismaterial herauszufiltern, dass eine bestimmte Person tatsächlich dieses Verbrechen begangen hat. Für den Juristen Federico Stella ist das Recht heute von einer angemessenen Beweiskultur weit entfernt, doch der Richter darf sich nicht auf hypothetische statistische Wahrscheinlichkeitskalküle nach dem von Hempel für die Physik entwickelten Erklärungsmodell beschränken: Die Wahrheit lässt sich, so Michele Taruffo, nur durch einen Prozess feststellen, d. h. durch eine rationale Operation, die den Einsatz rechtlicher und epistemologischer Kompetenzen

 Zum Bekenntnisparadigma vgl. Adriano Prosperi, Tribunali della coscienza. Inquisitori, confessori, missionari. Turin 1996, S. 465 ff. und John Bossy, The Social History of Confession in the Age of Reformation, in: Transactions of the Royal Historical Society 25, 1975, S. 21– 38.

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voraussetzt. Zur Wahrheit gelangt man, indem die Zeichen und Signale entschlüsselt werden, die die vergangenen Ereignisse der Gegenwart eingeprägt haben, und aus ihnen Beweismaterial macht. Die Geschichtsschreibung erlangte erst in „neuerer“ Zeit, d. h. seit dem 17. Jahrhundert, ein methodologisches Bewusstsein. So hatten Herodot, Thukydides, Lukian von Samosata, Cicero und Quintilian nach Arnaldo Momigliano zwar proklamiert, dass es die Pflicht des Historikers sei, die Wahrheit zu sagen, dabei aber das Problem vernachlässigt, wie diese Wahrheit denn festgestellt werden soll. Wie Nicole Loraux es fasst, „war Thukydides kein Kollege“. Unsere Kollegen sind hingegen die Oratoren, Schlichter und Richter der griechischen Gerichte des 5. Jahrhunderts (nach der Rationalisierung des attischen Rechtes); sie regten Aristoteles an, darüber nachzudenken, welcher Status dem Beweis zukomme und welche rhetorische Technik am geeignetsten sei, um die Evidenz dessen, was tatsächlich geschehen ist, darzulegen. Die Wahrheit lässt sich nicht nach einem normativen Paradigma erbringen, sondern nur auf der Grundlage eines wahrscheinlichen (oder hinreichend plausiblen) Beweises, der einem oder mehreren Induktionsprinzipien gehorcht, und die Historiker verfügen über Disziplinen, die es erlauben, die Authentizität verschiedener Arten von Dokumenten festzustellen (Philologie, Numismatik, Archäologie, Ikonographie usw.). Allerdings reicht es nicht nachzuweisen, dass ein Dokument unecht ist, vielmehr muss auch das richtige Verhältnis zwischen Dokumenten, Narration des dokumentierten Geschehens, Beweisen, dass die Ereignisse stattgefunden haben, und Begründung (bzw. Interpretation) herausgearbeitet werden. Die Wahrheit lässt sich nicht ausschließlich auf den Text oder das Dokument beziehen, sondern setzt die historische Realität jenseits des Textes voraus, d. h. Tatsachen, wie sie wirklich geschehen sind. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzog sich im Rahmen der Transitional Justice ein bedeutsamer Veränderungsprozess, insofern sich das Interesse von der Rekonstruktion der historischen und Rechtswahrheit mittels rechtsstaatlich garantierter Strafverfahren auf neue, der Aussöhnung dienende Ansätze verschob; Ziel war es dabei, die auf einer vermeintlich von allen geteilten Erinnerung gegründete gesellschaftliche und supranationale Kohäsion zu stärken. In der zweiten Nachkriegszeit reduzierte sich die Justiz zunächst auf Rache, Hinrichtungen ohne Verfahren und radikale Säuberungsaktionen, ging in einer zweiten Phase auf legale Vorgehensweisen und Prozesse im Rahmen des Rechtssystems der alliierten Besatzer über, wurde in einem dritten Schritt von der jeweils nationalen Rechtsprechung übernommen und mündete schließlich in die Amnestie und das Vergessen, d. h. in das von Arnd Bauerkämper so benannte affirmative und sich selbst freisprechende Gedächtnis ein. In Italien und Deutschland hat sich in fast sieben Jahrzehnten eine starke Diskontinuität zwischen den Erinnerungen von Einzelpersonen, Gruppen und Generationen ergeben. Komplexer erwies sich das Phänomen dabei in Deutschland, weil hier zwei souveräne Staaten entstanden waren, während in Italien aufgrund des gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts eingetretenen Zusammenbruchs der republika-

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nischen Einrichtungen, der antifaschistischen Parteien und Politik ein Tiefstand erreicht worden ist. Es besteht ein Unterschied zwischen der deutschen Politik der Vergangenheitsbewältigung und dem in den 1990er Jahren ausgebrochenen italienischen Bürgerkrieg der Erinnerungen. In Italien ist besorgniserregend, dass nicht nur sich selbst freisprechende Mythologien weiterhin lebendig sind und die Mitverantwortung für den Aggressionskrieg der Achse verdrängt wird, sondern dass auch die Erinnerungen zerfallen und die jüngeren Generationen den Holocaust-Gedenktag zunehmend ablehnen. Es handelt sich dabei um Phänomene, die im Zusammenhang mit der kulturellen Krise der Europäischen Union, mit dem Scheitern des europäischen Konstitutionalisierungsprozesses und mit der Schwäche der von den europäischen Institutionen beanspruchten erinnerungspolitischen Initiativrolle zu sehen sind. Deshalb teile ich auch nicht die Empfehlungen der Historikerkommission, insofern sie nicht nur – legitimerweise – darauf zielen, neue (im Abschlussbericht nur zum Teil benannte) Forschungsfelder zu erschließen und die Quellen in Archiven zu sammeln, sondern darüber hinaus auch die Entwicklung neuer erinnerungspolitischer Ansätze einfordern: Es ist nun einmal nicht Aufgabe der Historiker, Lösungen zum Aufbau einer gemeinsamen Erinnerung vorzuschlagen, sei es auch im Namen einer neuen patriotischen, demokratischen und europäischen Identität. Die Erinnerung und die Suche nach der Wahrheit eines vergangenen, einzigartigen und unwiederholbaren, weil im Laufe der Zeit verschütteten Ereignisses sind von sehr unterschiedlicher Verfassung, wie Italo Calvino in Wenn ein Reisender in einer Winternacht schreibt. Das, was Yerushalmi den „Imperativ des Gedenkens“ nennt, gehört nicht zur Sphäre der öffentlichen Erinnerung, während der Impuls, zu dem zurückzukehren, was unwiederbringlich verloren und von der Zeit verschüttet ist, zweifellos eine Erinnerung schafft, dabei jedoch einen Zyklus reaktiviert, der zur Mythologie, nicht zur Geschichtsschreibung gehört. Nach Eugenio Montale stellt die Erinnerung keinen Frevel dar, solange sie nützt, andernfalls aber gebiert sie maulwürfige Blindheit, schimmelpilzige Degeneration. Die maulwürfige Blindheit kann also auch einem Zuviel an Erinnerung entspringen, d. h. einer sowohl von der Kulturindustrie als auch von den öffentlichen Einrichtungen hervorgerufenen Überproduktion. Der moderne memory boom kompensiert die falsche Erklärung der Gegenwart mit einer Vergangenheit, die über die Errichtung von Monumenten, über Schauspiele, Feiern und pädagogische Riten, die sich leicht für politische Zwecke missbrauchen lassen, in eine Show oder Mythologie umgeschlagen ist. Seine mythische Struktur erklärt auch die beständige Oszillation zwischen dem plötzlichen Aufblitzen und den langen Latenzphasen der Erinnerung. Erinnerung und Geschichte reichen damit sehr viel weiter zurück als die beiden Paradigmen der Rechtswahrheit: die Wahrheitsprüfung auf der Basis von Beweisen in den Gerichtsverhandlungen und die Aushandlung der Wahrheit mit dem Ziel der Aussöhnung. Der durch Gedenkfeiern, Denkschriften und Bilder geschaffene Mythos ist das Ergebnis rhetorischer und ikonographischer Schemata, die der ideologischen oder ikonographischen Tradition angehören, und birgt die Gefahr einer Verfälschung

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in sich. Gerade der Rückgriff auf die traditionellen ikonographischen Schemata verrät die ideologische Funktion des Textverweises und der Wiederholung von Bildern, legt zugleich aber ein falsches Verständnis von der historischen Situation nahe, indem sie einer bereits bekannten anverwandelt wird: Die vermeintliche Wahrheit der Erinnerung ist illusorisch und auf jeden Fall weit entfernt von einem kritischen, dem Imperativ des Gedenkens gehorchenden Ansatz. Ganz im Gegenteil: Die historische Wahrheit ist nur das rationale, bewusst partielle Ergebnis des Bemühens um Erkenntnis der vergessenen Ereignisse.

III. Historikerkommissionen und Erinnerungskulturen

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Allerjüngste Zeitgeschichte als Chance und Problem. Das Projekt zur Erforschung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ und ihrer Partnerorganisationen In der Geschichte der Historikerkommissionen lassen sich wenigstens drei Wellen unterscheiden: Eine erste große Welle entstand seit den 1980er Jahren, als Wirtschaftsunternehmen, Banken und Versicherungen in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern auf öffentliche Vorwürfe wegen ihrer Beteiligung am nationalsozialistischen Zwangsarbeitereinsatz sowie an der „Arisierung“ jüdischen Eigentums reagieren mussten. Daraufhin initiierten sie eine Reihe von Kommissionen, um vor allem ihre Rolle in der NS-Zeit historisch untersuchen zu lassen. Diese erste Konjunktur von Geschichtskommissionen kulminierte in den 1990er Jahren vor allem aufgrund von Sammelklagen in den USA, um dann im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts allmählich auszuklingen. Eine zweite, deutlich kleinere Welle befasste sich hingegen seit den 1990er Jahren mit der Rolle wissenschaftlicher Institutionen in der NS-Zeit. Anschließend rollte schließlich eine dritte Welle an, die nun allerdings die Ausmaße eines Tsunamis annahm, und ihre Wucht ist bis heute nicht gebrochen. Ihren Beginn markiert die 2010 veröffentlichte Studie über die Vergangenheit des Auswärtigen Amts¹, und seither erteilen in immer noch wachsender Zahl Ministerien, Behörden und Parlamente Aufträge an Historikerkommissionen, die deren NS-Vergangenheit sowie deren Nachwirkungen nach 1945 untersuchen sollen.² Das im folgenden Beitrag vorgestellte Projekt ist strukturell eng verwandt mit dem Phänomen der Historikerkommissionen, doch fällt es in verschiedener Hinsicht aus diesem Schema heraus. Dort ging es um die Erforschung der Geschichte der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) und ihrer Partnerorganisationen und des im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts abgeschlossenen Auszahlungsprogramms für ehemalige NS-Zwangsarbeiter. Hier handelte es sich also weder um ein privates Unternehmen noch um eine staatliche Einrichtung, sondern um eine deutsche Stiftung öffentlichen Rechts, die mit Hilfe von sieben internationalen Partnerorganisationen mit unterschiedlichem Rechtsstatus ein transnationales Entschädigungsprogramm durchführte. Grundlage dieser Tätigkeit war ein Betrag von rund zehn Milliarden DM, den die Bundesrepublik und die deutsche Wirtschaft gemeinsam aufgebracht hatten, um damit bislang nicht entschädigten Opfern des Nationalso-

 Eckart Conze [u.a.], Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. München 2010.  Christian Mentel/Niels Weise, Die Zentralen Deutschen Behörden und der Nationalsozialismus. Stand und Perspektiven der Forschung, hrsg. v. Frank Bösch [u.a.]. München/Potsdam 2016. https://doi.org/10.1515/9783110541144-015

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zialismus eine symbolische Anerkennung zukommen zu lassen. Man könnte hier also von einer vergangenheitspolitischen public-privat-partnership sprechen. Das verweist auf einen zweiten wichtigen Unterschied zu den genannten drei Wellen von Historikerkommissionen: Im EVZ-Projekt ging es nicht, wie es in sonstigen Kommissionen regelmäßig der Fall ist, um die NS-Geschichte beziehungsweise deren institutionelle und personelle Kontinuitäten nach 1945, sondern um ein institutionelles Geflecht, das dem Umgang mit den Folgen des Nationalsozialismus diente. Daran schließt wiederum ein dritter wichtiger Unterschied an: Das EVZ-Projekt operierte nicht wie andere historische Kommissionen aus einem sicheren zeitlichen Abstand heraus, und das bedeutete vor allem, dass Auftraggeber und Untersuchungsobjekte weitgehend identisch waren. Es handelte sich hier also um den zumindest für die zeithistorische Forschung eher ungewöhnlichen Fall einer Art von Vivisektion am lebenden Objekt. In der ersten Phase des Bestehens der 2001 auf Grundlage eines Bundesgesetzes gegründeten Stiftung EVZ bestand ihre Hauptaufgabe vor allem darin, ein umfangreiches Auszahlungsprogramm für ehemalige Zwangsarbeiter durchzuführen, um damit die juristischen Voraussetzungen für die Abweisung von Sammelklagen gegen deutsche Wirtschaftsunternehmen in den USA herzustellen. Dazu arbeitete die Stiftung EVZ mit sieben teils nationalen, teils internationalen Partnerorganisationen in Osteuropa, den USA und der Schweiz zusammen. Diese waren für die Annahme und Bearbeitung der Anträge zuständig, wozu auch der Verzicht der Antragsteller auf alle weiteren juristischen Forderungen gehörte – darunter insbesondere Klagen in den USA. Die Stiftung EVZ überwies daraufhin nach einer Überprüfung der Anträge die fälligen Tranchen an die Partnerorganisationen, welche das Geld dann schließlich an die individuellen Antragsteller auszahlten. Die Stiftung EVZ und ihre Partnerorganisationen waren also in einer komplizierten transnationalen Struktur miteinander verknüpft, und dabei trafen höchst unterschiedliche vergangenheitspolitische Kontexte und bürokratische Traditionen aufeinander, die mühsam austariert werden mussten.³

 Vgl. dazu ausführlich Michael Jansen/Günter Saathoff (Hrsg.), „Gemeinsame Verantwortung und moralische Pflicht“. Abschlussbericht zu den Auszahlungsprogrammen der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Göttingen 2007; Constantin Goschler (Hrsg.), in Zusammenarbeit mit José Brunner [u.a.], Die Entschädigung von NS-Zwangsarbeit am Anfang des 21. Jahrhunderts. Die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ und ihre Partnerorganisationen, 4 Bde. Göttingen 2012. Zur Vorgeschichte vgl. Ulrich Adamheit, „Jetzt wird die deutsche Wirtschaft von ihrer Geschichte eingeholt“. Die Diskussion um die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter am Ende des 20. Jahrhunderts. Berlin 2004; Matthias Arning, Späte Abrechnung. Über Zwangsarbeiter, Schlußstriche und Berliner Verständigungen. Frankfurt a. M. 2001; Henning Borggräfe, Zwangsarbeiterentschädigung. Vom Streit um „vergessene Opfer“ zur Selbstaussöhnung der Deutschen. Göttingen 2014; Stuart Eizenstat, Unvollkommene Gerechtigkeit. Der Streit um die Entschädigung der Opfer von Zwangsarbeit und Enteignung. München 2003; Anja Hense, Verhinderte Entschädigung. Die Entstehung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ für die Opfer von NS-Zwangsarbeit und „Arisierung“. Münster 2008; Susanne-Sophie Spiliotis,Verantwortung und Rechtsfrieden. Die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft. Frankfurt a. M. 2003.

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In den folgenden Jahren wurden insgesamt 8,7 Milliarden DM an 1.660.000 Zwangsarbeiter in 89 Ländern der Erde verteilt, wobei der Schwerpunkt der Auszahlungen in Ost- und Ostmitteleuropa lag. In den meisten Fällen handelte es sich um bescheidene Beträge von wenigen hundert oder tausend Euro. 2007 wurde das Auszahlungsprogramm schließlich feierlich für abgeschlossen erklärt. Seither arbeitet die Stiftung EVZ mit einem von den ursprünglichen 10 Milliarden DM beiseitegelegten Stiftungskapital in Höhe von heute etwa 458 Millionen Euro langfristig weiter – die Vertreter der deutschen Wirtschaft hatten ursprünglich gewünscht, jeweils die Hälfte des Gesamtbetrags in das Auszahlungsprogramm und in das Stiftungskapital zu geben. Zu den langfristigen Aufgaben der Stiftung gehören Aktivitäten im Bereich der Erinnerungskultur, der Menschenrechte und des Engagements für NS-Opfer, womit letztere Aufgabe nach dem Ende des Auszahlungsprogramms nicht mehr exklusiv im Mittelpunkt steht. Die zeithistorische Forschung kam nun genau an der Schnittstelle der institutionellen und programmatischen Transformation der Stiftung EVZ ins Spiel, nämlich als das Auszahlungsprogramm abgeschlossen war und der auf Dauer gestellte zukunftsbezogene Teil der Aufgaben in den Mittelpunkt rückte. 2008 startete – neben einem Ausstellungsprojekt zur Geschichte der nationalsozialistischen Zwangsarbeit – ein Forschungsprojekt zur Geschichte der Zwangsarbeiterentschädigung durch die Stiftung EVZ und ihre Partnerorganisationen. Es handelte sich um ein internationales und interdisziplinäres Team von 20 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus sieben Ländern. Dem Projektleiter – dem Verfasser dieses Beitrags – standen José Brunner (Tel Aviv), Krzysztof Ruchniewicz (Wroclaw) und Philipp Ther (Wien) als Kooperationspartner zur Seite. Das Projektergebnis erschien 2012 in Gestalt einer vierbändigen Darstellung mit 16 einzelnen Beiträgen.⁴ Die Gliederung orientiert sich an der institutionellen Struktur des Auszahlungsprogramms für NS-Zwangsarbeiter, so dass zur Stiftung EVZ sowie zu jeder der Partnerorganisationen ein einzelner Beitrag entstand. Hinzu kommt eine Reihe von Beiträgen zu speziellen Aspekten; dort geht es insbesondere darum, die Erfahrungsgeschichten der Antragsteller intensiver zu untersuchen. Im Folgenden werden nicht die inhaltlichen Ergebnisse dieses umfangreichen Forschungsprojektes präsentiert, sondern die Besonderheiten des Forschungsprozesses reflektiert, um davon ausgehend einige allgemeine Schlussfolgerungen für die gegenwärtige Konjunktur der Historikerkommissionen zu formulieren.

Altersheim oder Forschungsprojekt? Das Forschungsprojekt zur Geschichte der Stiftung EVZ wurde aus nicht verausgabten Verwaltungsmitteln, die 2007 am Ende des Auszahlungsprogramms übrig geblieben waren, finanziert. Diese Entscheidung war allerdings im Stiftungskuratorium, das sie

 Goschler (Hrsg.), Entschädigung.

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zu treffen hatte, nicht unstrittig gewesen: Sollten die nicht verausgabten Verwaltungsmittel für Erinnerungskultur und historische Forschung ausgegeben werden? Oder sollte man, wie andere Kuratoriumsmitglieder vorschlugen, die restlichen Mittel für zusätzliche Hilfsmaßnahmen für bedürftige Zwangsarbeiter verwenden – etwa ein Altersheim für ehemalige Zwangsarbeiter in Osteuropa? Ähnliche Konflikte über die Verwendung von Entschädigungsgeldern für individuelle Verfolgte oder erinnerungskulturelle Aufgaben waren in der Geschichte der Wiedergutmachung auch schon früher aufgetreten.⁵ Das Kuratorium der Stiftung EVZ entschied zuletzt nicht ohne Widerspruch, die verbliebenen Mittel zum einen für eine internationale Wanderausstellung zum Thema „Zwangsarbeit im Nationalsozialismus“ und zum anderen für ein Forschungsprojekt zur Geschichte der Stiftung EVZ und ihrer Partnerorganisationen zu verwenden. Im international besetzten Kuratorium der Stiftung EVZ saßen, neben Vertretern der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft, des Bundestags und des Bundesrats sowie Vertretern des Bundesfinanzministeriums und des Außenministeriums, auch Vertreter der sieben Partnerorganisationen. Dazu gehörten, neben der Jewish Claims Conference mit Hauptquartieren in New York und Frankfurt am Main sowie der in Genf angesiedelten International Organization for Migration, auch Vertreter nationaler Partnerorganisationen aus Polen, der Tschechischen Republik, der Ukraine, Weißrussland und Russland. Teils handelte es sich um NGOs, teils um Organisationen unter stärkerem Regierungseinfluss. Die Governance-Struktur dieses transnationalen Gebildes war somit recht verzwickt: Während die Stiftung EVZ die Auszahlungen durch die Partnerorganisationen kontrollierte, saßen die Partnerorganisationen gleichzeitig im Stiftungskuratorium und kontrollierten auf diese Weise die Kontrolleure und somit in gewissem Sinne auch sich selbst.⁶ Aufgrund der komplexen Zusammensetzung des Kuratoriums trafen nicht nur unterschiedliche Erwartungen bezüglich der Verteilung der restlichen Verwaltungsmittel aufeinander, sondern, als die Entscheidung erst einmal zugunsten von Gedenkkultur und wissenschaftlicher Aufarbeitung getroffen war, unterschiedliche Erwartungen an die Wissenschaft. Der Verfasser dieses Artikels, der das Projekt leitete, sah sich zunächst insbesondere von Vertretern der osteuropäischen Partnerorganisationen ins Kreuzverhör über seine wissenschaftlichen Ziele genommen, wobei er etwa ehemaligen hohen Offizieren der Roten Armee Rede und Antwort über sein Verständnis historischer Forschung stehen musste. Die Frage nach den möglichen politischen Implikationen zeithistorischer Forschung wurde in dieser besonderen

 So hatte Nahum Goldmann dafür gekämpft, einen Teil der Leistungen des 1980 eingerichteten und von der Jewish Claims Conference verwalteten Härtefonds für jüdische Überlebende für erinnerungskulturelle Ausgaben zu verwenden. Vgl. Constantin Goschler, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945. Göttingen 2013 [2005], S. 332-343.  Vgl. Benno Nietzel, Das letzte Kapitel der Wiedergutmachung? Die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ und die Entschädigung für NS-Zwangsarbeit, in: Goschler (Hrsg.), Entschädigung, Bd. 1: Die Stiftung. Der Abschluss der deutschen Wiedergutmachung?, S. 235-303.

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Konstellation wesentlich offener auf den Tisch gelegt, als es nach aller Erfahrung bei anderen Geschichtskommissionen der Fall ist. Hinter dem seitens der Partnerorganisationen deutlich artikulierten Misstrauen gegen ein zeithistorisches Forschungsprogramm steckte vor allem das strukturelle Problem des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie in der Stiftung EVZ. Die im Stiftungskuratorium vertretenen Partnerorganisationen befürchteten, dass ihr Anteil am Auszahlungsprogramm im Rahmen der wissenschaftlichen Erforschung an den Rand gedrängt werden würde, indem die Geschichte des Auszahlungsprogramms aus der deutschen Zentralperspektive geschrieben würde. Hinzu kam, dass die Existenz der Stiftung EVZ über das Auszahlungsprogramm hinaus durch die beiseitegelegten Stiftungsmittel auf Dauer gestellt war, während die institutionelle Zukunft der osteuropäischen Partnerorganisationen ungewiss war. Diese waren daher besonders daran interessiert, durch die Forschungsergebnisse nicht in ein ungünstiges Licht gestellt zu werden und dadurch ihre Chancen für einen Fortbestand gemindert zu sehen. Das EVZ-Projekt sah sich somit keineswegs einer einheitlichen Erwartung des Auftragsgebers gegenüber, sondern musste sich mit stark divergierenden Erwartungen innerhalb der verschiedenen Gruppierungen des Stiftungskuratoriums auseinandersetzen. Diese konstituierten ein Spannungsfeld, innerhalb dessen sich die Forscherinnen und Forscher des EVZ-Projekts vorsichtig bewegen mussten, ohne sie jedoch in ihren eigenen Analysen zu reproduzieren, sondern sie soweit als möglich in einen genuinen Untersuchungsgegenstand zu transformieren.

Allerjüngste Zeitgeschichte als Auftrag und Beruf Das Thema des Forschungsprojekts – die Erforschung des Auszahlungsprogramms an Zwangsarbeiter im transnationalen Rahmen – brachte es mit sich, dass ein internationales und interdisziplinäres Team zusammengestellt werden musste, da unter anderem ein großes Spektrum an Sprachkenntnissen und spezifische Kenntnisse über eine Vielzahl unterschiedlicher Länder erforderlich waren. Seit 2007 kamen nach und nach 20 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus sieben Ländern zusammen, neben zeithistorischer Expertise spielten auch Soziologie, Ethnologie und Psychologie eine wichtige Rolle im methodischen Spektrum. Ein großes Privileg dieses Projekts bestand darin, dass mit einem relativ offenen Projektdesign begonnen werden konnte, das erst nach und nach verfeinert und immer wieder auch nachjustiert werden konnte. Hier eröffneten sich Spielräume für eine dynamische Projektgestaltung, die man sich im Rahmen traditioneller Wissenschaftsförderungsinstrumente manchmal auch wünschen würde. Der Preis für diese Flexibilität war allerdings, dass die Ausgaben einer außerordentlich strengen Prüfroutine unterworfen waren, deren Ausmaß gleichfalls alle aus der üblichen Drittmittelpraxis bekannten Maßstäbe sprengte. Der Besuch eines Prüfteams der Stiftung EVZ, bei dem etwa eingereichte Kopien mit von der Verwaltung der Ruhr-Universität Bochum aufbewahrten Originalen verglichen wurden, um mögliche Betrugsfälle aufzudecken, folgte den während

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des Auszahlungsprogramms entwickelten Routinen, womit damals eine Wiederholung der bei einem früheren Entschädigungsprogramm in Osteuropa in den 1990er Jahren aufgetretenen zahlreichen Betrugsfälle verhindert werden sollte. Das führte zu einer merkwürdigen Überblendung der eigenen Erfahrung im Projekt mit Schilderungen der Partnerorganisationen über die von ihnen früher erfahrenen Kontrollen durch Prüfteams der Stiftung EVZ. Dabei handelte es um ein wesentliches Element des Narrativs, mit dem das komplizierte Verhältnis zwischen Stiftung und Partnerorganisationen charakterisiert wurde. Jenseits des anekdotischen Wertes verweist diese Episode darauf, dass die Untersuchung eines gerade erst abgeschlossenen Forschungsgegenstands und die daraus resultierende zeitliche Nähe zum Forschungsobjekt für die beteiligten Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker ungewohnte Situationen mit sich brachten. Fairerweise sollte man ergänzen, dass es für die andere Seite umgekehrt auch nicht viel einfacher war. Zu den Besonderheiten der Situation gehörte nicht zuletzt, dass die Akteure, deren Tätigkeit man untersuchte, die Forschungstätigkeit im Rahmen ihrer gegenwärtigen Funktion begleiteten, woraus notwendigerweise komplizierte Interferenzen resultierten, die wie gesagt bis zur Erfahrung des historischen Reenactments einer Finanzüberprüfung durch ein Prüfteam der Stiftung EVZ reichen konnte. Dass sich nun die eigene Kontrollerfahrung mit den Schilderungen der Partnerorganisationen über ihre damaligen Erfahrungen im Zuge des Auszahlungsprogramms überlagerte, könnte man als lustige Geschichte abhaken, allerdings sind die dabei auftretenden Identifikationsprozesse methodisch problematisch. Deshalb wurde ein in der ursprünglichen Planung nicht vorgesehener Workshop organisiert, auf dem sich das Projekt gewissermaßen auf die ethnologische Therapie-Couch legte und sich unter kundiger Anleitung eines namhaften Ethnologen einer eingehenden Analyse der bisherigen Forschungstätigkeit unterzog. Dazu gehörte gerade der Umgang mit den Interferenzen zwischen den Erfahrungen der Untersuchten und der Untersuchenden. Dass es aber ohne weiteres möglich war, ad hoc einen solchen internationalen Workshop zu organisieren, gehörte wiederum zu den großen Vorzügen der Rahmenbedingungen, unter denen das EVZ-Projekt durchgeführt werden konnte. Eine grundsätzliche Entscheidung bei der Projektorganisation bestand auch darin, im Regelfall keine Qualifizierungsarbeiten zu finanzieren,⁷ womit bewusst von einer verbreiteten Praxis von Historikerkommissionen abgewichen wurde. Damit sollte insbesondere die serielle Produktion von Dissertationen in einem vergleichsweise engen Themenfeld vermieden werden. Gleichzeitig konnten auf diese Weise Spezialisten für die einzelnen Länderstudien angeworben werden, die im Regelfall bereits auf einschlägige regionale und oft auch thematische Kenntnisse zurückgreifen konnten. Die Projektmitarbeiterinnen und Projektmitarbeiter konnten die Arbeit und ebenso die Bezahlung über einen längeren Zeitraum strecken und damit gegebe-

 Die gewichtige Ausnahme bildet die Studie von Borggräfe, Zwangsarbeiterentschädigung.

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nenfalls Lücken in schwierigen Karrierephasen überbrücken, die mehr und mehr von flexiblen Arbeitsverhältnissen geprägt sind. Damit ist eine heikle Frage angesprochen. Denn in beschäftigungspolitischer Hinsicht bringt die wachsende Zahl von Historikerkommissionen einige Probleme mit sich. Mittlerweile hat sich ein eigener Typus der Projektkarriere außerhalb regulärer Beschäftigungsverhältnisse an Universitäten und außeruniversitären Forschungsinstitutionen etabliert. Verantwortlich dafür sind allerdings nicht nur Historikerkommissionen, sondern vor allem auch die ständig wachsende Zahl von Drittmittelprojekten aus Zuwendungen der Forschungsfördereinrichtungen. Dabei gilt für Geschichtskommissionen wie Sonderforschungsbereiche gleichermaßen: Wo Galeeren gebaut werden, müssen auch viele Ruderer her, und dabei spielt die Frage, was aus diesen nach der hoffentlich erfolgreichen Hafeneinfahrt eigentlich werden soll, oftmals kaum eine Rolle. Im Ergebnis wächst die Zahl der beschäftigten Forscherinnen und Forscher inflationär an. Kurz- und mittelfristig können derartige Projektstellen von Vorteil sein und die Konkurrenz um knappe Stellen entlasten, längerfristig verschärft dies aber noch die Konkurrenz, sofern sich die Rahmenbedingungen für längerfristige Beschäftigungsverhältnisse nicht verbessern. Deshalb muss man sorgfältig gegeneinander abwägen, inwieweit die Mitarbeit in Historikerkommissionen den Einstieg in reguläre wissenschaftliche Karrieren oder in das wissenschaftliche Prekariat bedeutet. Auch in anderer Hinsicht gleichen sich die Probleme von konventioneller Drittmittelforschung und Auftragsforschung: Beide befördern Tendenzen, wonach Forschungsthemen nicht mehr der individuellen Suche nach neuen Forschungsfragen und -gegenständen entspringen, sondern vorgegebene Themenfelder und Aufgabenstellungen bearbeitet werden. Die Promotion in einer Historikerkommission bildet deshalb unter Umständen auch einen Wettbewerbsnachteil um feste Stellen, da dies mit weniger Prestige behaftet ist als die aus einem eigenständigen Ansatz hervorgegangene Forschung. Selbstkritisch muss konstatiert werden, dass der Druck, in ständig steigendem Maße Drittmittel zu akquirieren, Historikerkommissionen zu einer attraktiven Einnahmequelle macht, zumal es im direkten Vergleich mit der höchst aufwändigen und von Misserfolgen begleiteten Antragstellung bei traditionellen Wissenschaftsförderinstitutionen wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft viel weniger mühsam ist, entsprechende Aufträge zu erlangen. In vielen Fällen treten die Auftraggeber von sich aus an die späteren Auftragnehmer heran, die auf diese Weise nicht die übliche Mühsal des von vielen Fehlschlägen begleiteten Antragsschreibens durchlaufen müssen, sofern sie in das Beuteschema der Auftraggeber passen. Offen bleibt, inwieweit es sich bei den auf diese Weise akquirierten Mittel um ein süßes Gift handelt, das Abhängigkeiten herstellt und dazu verleitet, immer neue solcher Aufträge an Land zu ziehen.

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Teilnehmende Beobachtung und Empathie als Problem Eine typische Gemeinsamkeit von Historikerkommissionen besteht darin, dass sie normalerweise erst dann zustande kommen, wenn ein Generationenwechsel stattgefunden hat, der persönliche Involvierungen und Empfindlichkeiten weitgehend obsolet macht. Die heftigen Debatten um die Studie über das Auswärtige Amt lassen sich nicht zuletzt dadurch erklären, dass dieser Ablösungsprozess noch nicht abgeschlossen war und stattdessen eine Art von Generationenkonflikt mit Hilfe dieser Studie ausgetragen wurde.⁸ Das Forschungsprojekt zur Geschichte der Stiftung EVZ befand sich demgegenüber in einer ganz anderen Situation. Die Akteure, die in der Studie untersucht wurden, waren in der Regel noch aktiv und trafen nun mit den Forscherinnen und Forschern des Projekts zusammen. Auch wenn der Auszahlungsprozess an Zwangsarbeiter nunmehr abgeschlossen war, blieben die meisten Akteure weiter in ähnlichen Funktionen aktiv, und die Bewertung ihrer vergangenen Tätigkeit beeinflusste damit auch ihre aktuelle Situation. Und schließlich bewegten sich die Forscherinnen und Forscher nicht nur in Archiven, sondern vielfach auch innerhalb der Institutionen, die sie erforschten und wurden dabei ein Stück weit in diese Arbeitsumgebung integriert. Damit gerieten sie gelegentlich in eine Position teilnehmender Beobachtung, bei der die Forschungstätigkeit selbst Rückwirkungen auf den Forschungsgegenstand erlangen konnte. Dafür bietet die zeithistorische Methodik weniger Hilfestellungen als etwa die Soziologie und die Ethnologie, und deshalb wurde bei diesen Disziplinen auch Hilfe gesucht, um die auftretenden Probleme in den Griff zu bekommen. So trafen bei diesem Forschungsprojekt also biographische und institutionelle Sinnbildungen auf wissenschaftliche Erklärungsversuche. Diese Situation produzierte gleichermaßen erhebliche Zumutungen für die untersuchten Akteure, die sich nun von außen ihr Leben und ihre Arbeit erklären lassen mussten, als auch einige Schwierigkeiten für die Forscherinnen und Forscher. Letzteres hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass unterschiedliche Deutungen des Auszahlungsprozesses bei der Stiftung EVZ in Berlin und den auf verschiedene Teile der Welt verteilten Partnerorganisationen existierten, was wiederum damit zusammenhing, dass erstere sich in der Rolle des Kontrolleurs des Verfahrens befunden hatte, während die anderen sich mehr oder weniger als Objekte dieser Kontrolle wahrnahmen. Für die Forscherinnen und Forscher des Projekts resultierte daraus die Herausforderung, diesen Machtkonflikt zu analysieren und sich nicht nachträglich mit einer Seite zu identifizieren – das oben geschilderte Beispiel der Interferenz von Kontrollerfahrungen mag dafür als Beispiel  Vgl. dazu etwa Martin Sabrow/Christian Mentel (Hrsg.), Das Auswärtige Amt und seine umstrittene Vergangenheit. Eine deutsche Debatte. Frankfurt a. M. 2014; Magnus Brechtken, Mehr als Historikergeplänkel. Die Debatte um „Das Amt und die Vergangenheit“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 63, 2015, S. 59-91.

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genügen. Diese Forderung mag als eine Selbstverständlichkeit historischen Arbeitens erscheinen, aber die Herstellung historischer Distanz ist gewiss einfacher, wenn man mit den überlieferten Akten arbeitet als wenn man sich mit den konkreten Akteuren und ihren Deutungen auseinandersetzen muss. Die Herausforderung durch Empathie betraf aber nicht nur den Umgang mit den unterschiedlichen institutionellen Akteuren, sondern vor allem auch den Umgang mit den antragstellenden Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, die im EVZProjekt gleichfalls zum Untersuchungsgegenstand wurden. Auch hier spielte natürlich die Analyse einer Machtbeziehung eine wichtige Rolle, nämlich die zwischen den Antragstellern und den Institutionen, welche die Leistungen gewährten oder auch verweigerten. Zum Auszahlungsprozess gehörten wie bei allen bürokratisch geregelten Leistungsgesetzen Grenzziehungen zwischen Bewilligung und Nicht-Bewilligung, und konkret bedeutete dies eben auch, dass zahlreiche Menschen, die vermutlich im Zweiten Weltkrieg ein schlimmes Schicksal durch deutsche Hand erlitten hatten, leer ausgingen. Das produzierte auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Projekts immer wieder Momente moralischer Entrüstung, und es gehörte zu den schwierigsten methodischen Problemen, mit solchen Emotionen umzugehen. Der methodische Anspruch der Werturteilsfreiheit wurde vor allem durch konsequente Historisierung der während des Auszahlungsprogramms aufscheinenden Erwartungshorizonte, der Interaktionen und Kommunikationen und schließlich der Ergebnisse und Wirkungen des Auszahlungsprogramms und deren Bewertung umzusetzen versucht.⁹ Gleichwohl blieb stets die Gefahr bestehen, dass die jeweils eigenen Wertmaßstäbe die Analyse des historischen Prozesses einfärbten, und dies blieb bis zum Schluss ein Dauerthema innerhalb des Projekts.

Zeitzeugen und Zeithistoriker zwischen Unsichtbarkeit und Sichtbarmachung Aufgrund der besonderen Konstellation des EVZ-Projekts kollidierten im Forschungsprozess zwei Deutungsperspektiven, nämlich einerseits die der historischen Akteure, die sich nun gleichzeitig in der Rolle aktiver Mitarbeiter wie von Zeitzeugen wiederfanden, und andererseits die der Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker. Der bekannte Konflikt von Zeitzeugen und Zeitgeschichte¹⁰ wurde durch einen weiteren Gegensatz aufgeladen, nämlich den zwischen Praxis und Analyse. Kurz gesagt interessieren sich die Praktiker meist eher dafür, was trotz aller Widrigkeiten am Ende geklappt hat und betonen somit eher die erfolgreichen Routinen, und dies übersetzt

 Vgl. dazu Constantin Goschler, Vom asymmetrischen Tauschhandel zur humanitären Geste. Die moralische Ökonomie des Auszahlungsprogramms der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, in: ders. (Hrsg.), Entschädigung, Bd. 1, S. 15-46  Vgl. etwa Martin Sabrow/Norbert Frei (Hrsg.), Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Göttingen 2012.

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sich tendenziell eher in teleologische Narrative. Historikerinnen und Historiker interessieren sich dagegen stärker für Brüche und Konflikte und betonen zugleich eher die Kosten erfolgreicher Routinen. Auf diese Weise konkurrieren zwei unterschiedliche Erzählungen, denen man mit Hayden White unterschiedliche narrative Modellierungen zuordnen könnte: Bevorzugen also die Praktiker die optimistischen Varianten der Romanze und der Komödie, favorisieren Historikerinnen und Historiker eher die pessimistischen Töne der Tragödie oder auch der Satire,¹¹ wenn es darum geht, das Zusammentreffen von Leistungsverwaltungen und Antragstellern zu beschreiben. Die Präsenz der Akteure bei der Verfertigung der historischen Analysen der Stiftung EVZ spielte aber auch in anderer Hinsicht eine Rolle: Generell muss zeithistorische Forschung die Bedingungen des Datenschutzes sowie des Schutzes von Persönlichkeitsrechten erfüllen. Dies gilt gleichermaßen für die Antragsteller wie auch für die Beschäftigten der Stiftung EVZ und ihrer Partnerorganisationen. Der geringe zeitliche Abstand brachte hier besondere Schwierigkeiten mit sich, nicht zuletzt, weil die in den Analysen des Projektes beschriebenen Akteure damit rechnen mussten, dass sich die Ergebnisse der Untersuchung auf ihre gegenwärtige Tätigkeit auswirken könnten. So war nicht auszuschließen, dass die Projektergebnisse sogar Beschwerden und Klagen nach sich ziehen könnten, zumindest ließ die erwähnte Neigung der Historikerinnen und Historiker, gerade die Konfliktzonen des Auszahlungsprozesses aufzusuchen, solche Befürchtungen nicht von vornherein als unrealistisch erscheinen. Dabei ergab sich allerdings ein auffälliger Unterschied: Politische Akteure fürchteten eher die historische Unsichtbarkeit und wollten deshalb gerne die Spuren ihres Wirkens in der Geschichte dokumentiert sehen. Bürokratische Akteure sorgten sich dagegen eher um historische Sichtbarkeit und waren so vor allem daran interessiert, ihren persönlichen Anteil hinter scheinbar anonymen bürokratischen Prozessen verschwinden zu sehen. Dahinter stand insbesondere die Sorge, dass negative Entscheidungen konkreten Personen und nicht anonymen sachlichen Prinzipien zugeordnet werden könnten. Nicht ohne Grund vollzieht sich Verwaltungshandeln gewöhnlich in einem Arkanbereich, der in der Regel erst nach 30 Jahren geöffnet wird, und die in Rechtsstaaten garantierte Überprüfbarkeit von Verwaltungshandeln betrifft lediglich die Verfahren, aber nicht die daran beteiligten Personen. Daran findet auch die professionelle Neugierde von Zeithistorikerinnen und Zeithistorikern eine manchmal nur widerwillig ertragene Grenze. Der Gegensatz zwischen institutionellen Akteuren und Zeithistorikerinnen und Zeithistorikern sollte nicht moralisiert werden, indem etwa dem Offenlegungsanspruch der letzteren Gruppe eine höhere Dignität zugebilligt wird als dem Vertraulichkeitsanspruch der ersteren. Vielmehr handelt es

 Vgl. dazu das Kapitel zu den „Vier Formen des ‚Realismus‘ in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts“, in: Hayden White (Hrsg.), Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt a. M. 1991, S. 177-346.

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sich um den Ausdruck unterschiedlicher professioneller Logiken, und so gehören derartige Auseinandersetzungen gleichfalls zur Geschichte des EVZ-Projekts. Der Konflikt zwischen den konkurrierenden Erzählungen – der institutionellen und der zeithistorischen Erzählung – kulminierte schließlich am Ende des Forschungsprojekts. Die Veröffentlichung der Ergebnisse fiel sowohl bei der Stiftung EVZ als auch bei einigen ihrer Partnerorganisationen in eine Zeit des institutionellen Umbruchs, was besondere Sensibilitäten mit sich brachte. Für einige der Partnerorganisationen ging es dabei um das schiere Überleben, da ihr Fortbestand nach dem Ende des Auszahlungsprogramms auf der Kippe stand. Umso wichtiger erschien es ihnen, in welcher Weise sie nun im Rahmen der Ergebnisse des Forschungsprojekts dargestellt würden. Die Frage war am Ende auch, in welcher Weise sich die eigenartige strukturelle Spannung dieses transnationalen Auszahlungsprozesses – die Stiftung EVZ als Kontrolleur der Partnerorganisationen und zugleich als die von ihnen Kontrollierte – in den Projektergebnissen niederschlagen würde. Im Gegensatz zu den ursprünglichen Erwartungen, wonach die Studie ein auf Berlin zentriertes Bild hervorbringen würde, konzentrierten sich die 16 Teilstudien des Projekts überwiegend auf die Partnerorganisationen und die Antragsteller. Insbesondere untersuchten sie auch das sich über die Jahre hinweg signifikant verändernde Verhältnis zwischen der Stiftung EVZ und ihren Partnerorganisationen. Und so waren die Partnerorganisationen nach dem Abschluss der Studie durchaus zufrieden damit, dass sie keineswegs lediglich als Statisten in einer deutschen vergangenheitspolitischen Erfolgsgeschichte dargestellt wurden. Das EVZ-Projekt durfte sich freilich ebenso wenig wie andere Historikerkommissionen an den – in diesem Falle durchaus heterogenen – Erwartungen der Auftraggeber orientieren. Doch unter der besonderen Konstellation des Spannungsverhältnisses von Zeitgeschichte und Zeitzeugen mussten auch hier die Selbstdeutungen der Akteure und ihre Sensibilitäten ernst genommen werden. Hier bewegt man sich in einem methodischen und ethischen Horizont, wie er sonst eher aus der Oral History vertraut ist, auch wenn dabei das dort oftmals prägende Argument, denjenigen eine Stimme verleihen zu wollen, die normalerweise nicht in den Akten und damit in der Geschichte auftauchen, gewissermaßen auf den Kopf gestellt wurde. Ernstnehmen der Akteure heißt vor allem auch, dass die Gelegenheit geschaffen wird, sich über die gegensätzlichen Deutungsperspektiven zu verständigen. Dazu diente vor allem eine Abschlusspräsentation, anlässlich der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der untersuchten Institutionen ihre eigenen Deutungen mit den in den Projektergebnissen ausgebreiteten Deutungen konfrontieren konnten. Ein ernsthafter Versuch, Institutionen im Rahmen einer von ihnen selbst angestoßenen Forschung zu untersuchen, wird keine Denkmäler produzieren. Aber er kann sehr dazu beitragen, dass auch innerhalb dieser Institutionen selbst über die eigenen Deutungen ihrer Geschichte nachgedacht wird. Dies schließt ein Moment der Gegenseitigkeit ein: Auch die Deutungen der Zeitgeschichte sind nicht für die Ewigkeit geschaffen, sondern können kritisiert und überholt werden, und dazu haben prinzipiell auch die Akteure ein Recht,

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und davon haben sie durchaus Gebrauch gemacht, ohne dass dies die Unabhängigkeit der Ergebnisse des EVZ-Projekts beeinträchtigt hätte.

Fazit Für die Auseinandersetzung um Historikerkommissionen hat die Frage nach der Unabhängigkeit der Forschung von Anfang an eine zentrale Rolle gespielt. Dass ein Auftraggeber für etwas bezahlt, was ihm am Ende nicht gehört und worauf er im besten Fall keinen inhaltlichen Einfluss hat, erscheint zu Recht nicht als selbstverständlich. Natürlich existiert auch jener Bereich der Auftragsforschung, in dem mehr oder weniger hagiographische Darstellungen nach Bedarf geliefert werden, bei solcher Eindeutigkeit gibt es allerdings nicht viel zu diskutieren. Doch gilt für das EVZProjekt ebenso wie für alle anderen dem Verfasser einsichtigen Historikerkommissionen dieser Art, dass die strikte Unabhängigkeit der Ergebnisse zugesagt und auch eingehalten wurde. Soweit so gut. Aber was bedeutet das? Schließt dies aus, dass subtilere Formen der Beeinflussung oder der Abhängigkeit existieren als das Absegnen oder Nicht-Absegnen von Forschungsergebnissen? Zwei Aspekte sind dabei besonders bedenkenswert: Erstens lässt sich darüber diskutieren, inwieweit die thematischen Trends der zeithistorischen Forschung insgesamt durch die zahlreichen Historikerkommissionen geprägt werden. Das ist allerdings weniger ein Problem einzelner Projekte, sondern der Häufung solcher Projekte. Anders gefragt: Ab wann schlägt die Quantität von Historikerkommissionen in eine neue Qualität der zeithistorischen Forschung insgesamt um? Diese Frage lässt sich allerdings nicht diskutieren, ohne sich mit den inhaltlichen Ergebnissen dieser Projekte auseinanderzusetzen. Zu fragen wäre also, inwieweit diese Projekte am Ende neue Forschungsperspektiven eröffnen. Hier gilt bekanntlich das Sprichwort: „The proof of the pudding is in the eating“. Mit Blick auf das EVZ-Projekt muss der Verfasser dieses Beitrags die Antwort dem Fachpublikum überlassen und hofft dabei auf ein günstiges Urteil, und auch im Übrigen muss dies im Falle jeder einzelnen Geschichtskommission neu bewertet werden. Gegenüber der Vorstellung einer im Elfenbeinturm autonom vor sich hinarbeitenden Wissenschaft lässt sich zudem argumentieren, dass insbesondere die zeithistorische Erforschung des Nationalsozialismus auch schon vor der Existenz von Historikerkommissionen oftmals innovative Themen und Fragestellungen aufgegriffen hat, die zunächst in der Öffentlichkeit aufgekommen waren, etwa auf Grund der Initiative von Journalisten, Verlegern und anderen Akteuren zu einer öffentlichen Geschichte.¹² In einem interaktionistischen Verständnis besteht kein Gegensatz von Wissenschaft und Gesellschaft, sondern existiert Wissenschaft in der Gesellschaft. In einer solchen Sichtweise

 Vgl. dazu Frank Bösch/Constantin Goschler (Hrsg.), Public History. Öffentliche Darstellungen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft. Frankfurt a. M. 2012.

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markiert es auch keinen Makel, sondern geradezu ein konstitutives Element von Wissenschaft, dass Innovationen etwa aus einer Reaktion der professionellen Zeitgeschichtsforschung auf die öffentliche Thematisierung historischer Gegenstände entstehen können, und dies schließt prinzipiell auch die Ursprungsintentionen von Historikerkommissionen ein. Zweitens: Was aber erwarten eigentlich die Auftraggeber, wenn denn mundgerechte Ergebnisse nicht das Ziel sein können? Nicht zuletzt, weil dies die fachliche Reputation derjenigen, welche diese gegebenenfalls zu liefern bereit wären, schwer beschädigen würde, was zumeist nur ungern in Kauf genommen wird. Zwei Aspekte spielen hierbei eine besondere Rolle: Zunächst liefern die Ergebnisse von Historikerkommissionen oftmals einen wichtigen Beitrag zur jeweiligen Corporate Identity der auftraggebenden Institution, und dies ist gleichermaßen wichtig für deren Unternehmenskultur wie öffentliche Selbstdarstellung. Zudem gelten Historikerkommissionen als öffentlicher Nachweis eigener Transparenzanstrengungen und damit auch des gesellschaftlichen Verantwortungsbewusstseins.¹³ Dies gilt insbesondere in Situationen der öffentlichen Auseinandersetzung um die historische Rolle des jeweiligen Untersuchungsgegenstands, die sich insbesondere an der NS-Geschichte entzünden. Historikerkommissionen produzieren somit symbolisches Kapital, das aber gerade daran hängt, dass ihr unabhängiger Status zweifelsfrei öffentlich anerkannt wird. Und so drängen manche Auftraggeber sogar von sich aus darauf, belastende Elemente der eigenen Vergangenheit in den von ihnen in Auftrag gegebenen Studien zu thematisieren, da dies den Wert der eigenen Aufarbeitungsbemühungen in der Öffentlichkeit steigert. In einer solchen funktionalistischen Betrachtungsweise geht das Interesse der Auftraggeber an den von ihnen beauftragten Historikerkommissionen nicht in den mehr oder weniger kritischen Untersuchungsergebnissen auf, sondern bezieht sich vor allem auf die Prozedur, die gegenüber der Öffentlichkeit einen Wert an sich entfalten kann. Besteht also die Gefahr, dass zumindest gelegentlich nicht die sorgsam erarbeiteten Inhalte solcher Forschung das eigentliche Ergebnis darstellen, sondern die Tatsache der Aufarbeitung an sich? Produziert die zeithistorische Forschung also wenn schon nicht geschichtspolitische Persilscheine, so doch immerhin geschichtspolitische Ablasszettel? Solche Fragen kamen vor allem in der ersten Welle der Geschichtskommissionen auf, als deutsche Wirtschaftsunternehmen angesichts massiven öffentlichen Drucks mit Hilfe von historischen Studien aus der öffentlichen Defensive zu gelangen suchten. Inwieweit dies auch für die folgenden Phasen der Auftragsforschung ein Problem darstellt, wird weiter zu diskutieren sein. Allerdings wird diese Sorge schon allein dadurch relativiert, dass kaum eine der Institutionen, die in letzter Zeit Historikerkommissionen mit der Erforschung ihrer

 Vgl. dazu auch Frank Bajohr/Johannes Hürter, Auftragsforschung „NS-Belastung“. Bemerkungen zu einer Konjunktur, in: Ders. [u.a.] (Hrsg.), Mehr als eine Erzählung. Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik. Göttingen 2016, S. 221-233, hier S. 229f.

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Constantin Goschler

Vergangenheit beauftragt haben, unter vergleichbar starkem Druck stand wie die von Sammelklagen in den USA bedrohten deutschen Wirtschaftsunternehmen. So werden Forschungskommissionen heute nicht mehr in jedem Falle eingesetzt, um öffentlichen Diskussionen entgegentreten zu können, sondern gelegentlich auch, damit die Öffentlichkeit überhaupt von der betreffenden Institution Kenntnis nimmt. Zugespitzt könnte man sagen, dass Historikerkommissionen dann nicht der Entlastung von den Folgen schlechter Presse, sondern von den Folgen eines öffentlichen Aufmerksamkeitsdefizits dienen. In vielerlei Hinsicht unterscheiden sich Historikerkommissionen also nicht von anderen Forschungsprojekten, vor allem, wenn es um die Beurteilung ihrer fachlichen Ergebnisse geht. Wie das Projekt zur Stiftung EVZ und ihrer Partnerorganisationen gezeigt hat und wie sich an vielen anderen Historikerkommissionen gewiss bestätigen ließe, agieren diese aber in einem spezifischen Kräftefeld von Wissenschaft, Auftraggebern und Öffentlichkeit. Die damit verbundenen Risiken sprechen nicht prinzipiell gegen derartige Unterfangen, solange es gelingt, wissenschaftliche Fragen in das Zentrum zu stellen und die Bedingungen herzustellen, diese in einer den fachlichen Standards angemessenen Weise zu beantworten. Dazu gehört nicht zuletzt die Sicherung des Quellenzugangs und damit auch der Überprüfbarkeit durch Fachkolleginnen und -kollegen. Insgesamt entsprechen die spezifischen Herausforderungen, die sich durch das Format der Historikerkommission ergeben, den veränderten Rahmenbedingungen der Zeitgeschichtsforschung, die sich in anderer Weise als noch vor zwanzig Jahren auf die mediale Verfasstheit der Gesellschaft einlassen muss. Und so können die Reflexionen über die Rolle von Historikerkommissionen auch dazu dienen, sich die grundsätzliche Frage der Bedeutung der Zeitgeschichtsforschung in unserer Gegenwart vorzulegen.

Martin Sabrow

Expertenkommissionen in der DDR-Aufarbeitung

Expertenkommissionen zu Fragen der Vergangenheitsaufarbeitung stellen zumindest in Deutschland einen Sonderfall historischer Konfliktbewältigung dar. Sie sind politisch gebildet, und sie konstituieren von vornherein einen Begegnungsraum von Wissenschaft und Politik, in dem die unterschiedlichen Denk- und Handlungslogiken von Erkenntnis und Interesse, von rückblickender Forschungsneugier und zukunftsorientiertem Entscheidungswillen aufeinandertreffen. Ohne Vorläufer in der Bonner Republik entstanden nach 1990 parlamentarische Enquetekommissionen zur Auseinandersetzung mit der ostdeutschen Diktaturvergangenheit. Wie auch auf anderen Feldern der Vergangenheitsaufarbeitung, ist der Prozess dieser Kommissionsbildungen über 25 Jahre nach dem Aufgehen der DDR in der erweiterten Bundesrepublik immer noch im Fluss – noch 2014 nahm eine vom Deutschen Bundestag eingesetzte Kommission zur Zukunft der Behörde des Beauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) ihre Arbeit auf, die ihr Votum im April 2016 an den Bundestagspräsidenten übergab.¹ All diese Kommissionen hatten eine intentionale Wirkungsdimension für Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit; zugleich agierten sie selbst in einem politischen Feld der Spannung von Integration und Desintegration im Zuge des doppelstaatlichen Zusammenwachsens,² und schließlich waren sie Kristallisationspunkte der geschichtskulturellen Verfassung der Berliner Republik im Zeitalter der Aufarbeitung. Ihre Arbeit ist in der Literatur verschiedentlich untersucht worden.³ Die drei wich „Eine Expertenkommission wird die Zukunft der Behörde des Bundesbeauftragten für die StasiUnterlagen (BStU) klären. Der Bundestag verabschiedete am Freitag, 4. Juli 2014, einen entsprechenden Antrag von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen (18/1957). Die Linke enthielt sich der Stimme. Nach dem Willen des Parlaments soll sich die Kommission unverzüglich konstituieren und dem Bundestag spätestens bis zum Frühjahr 2016 Ergebnisse und Handlungsempfehlungen auf Grundlage des Gedenkstättenkonzeptes des Bundes vorlegen, damit noch in der laufenden Legislaturperiode eine Entscheidung über die zukünftige Fortführung der Aufgaben des BSTU getroffen werden kann.“ Deutscher Bundestag, Kommission zur Zukunft der Stasi-Akten eingesetzt, www.bundestag.de/doku mente/textarchiv/2014/kw27_de_stasiunterlagen/285588 (letztmalig abgerufen am 27. 3. 2017).  „Das gilt umso mehr, als der Umgang mit der DDR-Vergangenheit im Zuge der Wiedervereinigung zunehmend selbst zum konflikthaften Bestandteil des Vereinigungsprozesses geworden ist.“ Klaus Christoph, „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ – heute so wie gestern?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 63, 2013, 42– 43, S. 27– 33, hier S. 27.  Carola S. Rudnik, Die andere Hälfte der Erinnerung. Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989. Bielefeld 2011; Peter Maser, Die parlamentarische Aufarbeitung von Diktaturgeschichte am Beispiel der Enquetekommissionen des Deutschen Bundestages, in: Peter März/Hans-Joachim Venn (Hrsg.), Woran erinnern? Der Kommunismus in der deutschen Erinnerungskultur. Köln/Weimar 2006, S. 133 – 145; Peter Barker (Hrsg.), The GDR and its History. Rückblick und Revision. Die DDR im Spiegel der Enquete-Kommissionen. Amsterdam/Atlanta 2000; Andrew H. Beattie, Playing Politics with History. The Bundestag Inquiries into East Germany. New York/Oxford 2008; Christoph, Aufarbeitung. https://doi.org/10.1515/9783110541144-016

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Martin Sabrow

tigsten unter diesen Expertenkommissionen zur DDR-Vergangenheit stellten die beiden Enquetekommissionen des Deutschen Bundestags „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (1992– 1994) bzw. „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“ (1995 – 1998), die Kommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ (2005/2006) – zur Abgrenzung häufig als „Sabrow-Kommission“ bezeichnet – und die Enquetekommission des Brandenburgischen Landtags „Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur und des Übergangs in einen demokratischen Rechtsstaat im Land Brandenburg“ (2010 – 2014) dar. Sie sollen im Folgenden knapp umrissen und es soll nach ihrer politischen wie wissenschaftlichen Bedeutung gefragt werden, um hieraus im Anschluss einige vergleichende Bemerkungen zum Charakter der Vergangenheitsverständigung in der Aufarbeitungsepoche zu entwickeln.

Die einzelnen Kommissionen Die Idee einer Enquetekommission des Deutschen Bundestags zur DDR-Geschichte erwuchs aus einer Anregung ehemaliger DDR-Bürgerrechtler im Bundestag, namentlich Angelika Barbe, Martin Gutzeit und Markus Meckel. 1992 stimmte der Bundestag geschlossen der Einrichtung einer Kommission mit dem Namen „Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ zu, die „die bisher größte Enquete-Kommission in der deutschen Geschichte“ darstellte und drei Jahre lang, von 1992 bis 1994, arbeitete. Nach 44 ganztägigen Anhörungen und 186 Aussprachen mit eingeladenen Wissenschaftlern und Zeitzeugen sowie auf der Grundlage von 148 SachverständigenGutachten erarbeitete die Kommission im Mai 1994 ihren Bericht, verzichtete aber entgegen ihrem Auftrag auf konkrete Handlungsanweisungen für das Parlament. Dies führte zur Einsetzung einer zweiten Enquetekommission mit dem Namen „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“, die die Einrichtung einer bundeseigenen Stiftung zur Auseinandersetzung mit der Geschichte und den Folgen der SED-Diktatur empfahl. Daraufhin nahm im November 1998 die neugegründete „Stiftung (später: Bundesstiftung) zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ ihre Arbeit auf. Sie unterstützt „Projekte zur gesellschaftlichen Aufarbeitung, berät und betreut Opfer der Diktatur, sammelt Materialien und Forschungsarbeiten zum SED-Staat und erinnert an die deutsche Teilung und deren Folgen.“ Außerdem sprach sich die Enquetekommission für ein Gedenkstättenkonzept aus, das forderte, „allen Opfern von Unrecht und Gewalt sowohl der NS- als auch der SED-Diktatur zu gedenken“ und „dauerhaft […] Erinnerungsorte und Gedenkstätten“ von nationaler Bedeutung zu fördern.⁴

 Bundesregierung, Gesellschaftliche Aufarbeitung bleibt wichtig, www.bundesregierung.de/Webs/

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Die aus Historikern, Journalisten und ehemaligen Bürgerrechtlern zusammengesetzte Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ wurde im Frühjahr 2005 von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, Christina Weiss, mit dem Ziel eingesetzt, bis zum Herbst desselben Jahres ein Konzept für einen dezentral organisierten Geschichtsverbund zur Aufarbeitung der SED-Diktatur vorzulegen. Ausgehend von einer „Bilanz der bisherigen Aufarbeitungstätigkeiten“ und unter besonderer Berücksichtigung von Widerstand und Opposition, seien Eckpunkte eines DDR-bezogenen Geschichtsverbundes zu formulieren, der die dezentrale Struktur der Erinnerungslandschaft beibehalten, aber die Orte des Erinnerns konzeptionell und praktisch stärker aufeinander beziehen und miteinander vernetzen sollte. In die Empfehlungen sollten „nur Einrichtungen, die von gesamtstaatlicher Bedeutung sind“, einbezogen, neue Institutionen nicht geschaffen und Gesetzesänderungen „möglichst vermieden werden“; zudem sollte es nicht um finanzielle Ressourcen oder um eine Umverteilung von Geldern gehen. Bei Aufnahme ihrer Beratungen stellte die Kommission fest, dass sie sich im Interesse des ihr erteilten Auftrags an diese Vorgaben nicht in vollem Umfang gebunden fühlen könne. In diesem Sinne verabschiedete sie im Juni 2005 als Grundlage ihrer weiteren Arbeit ein Verständigungspapier, in dem sie ihren Anspruch auf Unabhängigkeit bekräftigte,⁵ sich ausdrücklich die Möglichkeit zur Abgabe von Sondervoten freihielt,⁶ und ihren Gegenstand wie folgt umriss: Gegenstand der Kommissionsberatungen ist eine Bestandsaufnahme und Perspektivenentwicklung der öffentlichen Aufarbeitung der SED-Diktatur als Teil der nationalen ‚Erinnerungslandschaft‘ im europäischen Kontext. Den Fokus der Kommissionstätigkeit bildet der Umgang mit den Sachzeugnissen und historischen Überresten des SED-Staates und seiner Gesellschaft, also DDR-bezogene Gedenkstätten und Erinnerungsorte, Zeugnissammlungen und historische Ausstellungen von überregionaler Bedeutung und Ausstrahlung. Primär der wissenschaftlichen Forschung und der politischen Bildung gewidmete Einrichtungen werden nur insoweit in die Empfehlungen der Kommission einbezogen, als sie an der gegenständlichen Formung dieser Erinnerungslandschaft beteiligt sind.

Breg/DE/Themen/Deutsche_Einheit/1_Zeit-Teilung/3-Gesellschaftliche-Aufarbeitung/_node.html (letztmalig abgerufen am 30. 3. 2017).  „Die Expertenkommission repräsentiert in ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit einen unabhängigen und nicht nach politischen Kriterien zusammengesetzten Kreis ausgewiesener Fachexperten, der nach seiner Berufung durch die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien in der nunmehr abgeschlossenen Konstituierungsphase das Recht zur Kooptierung weiterer Mitglieder wahrgenommen hat“. Verständigungspapier der Expertenkommission zur Erarbeitung einer Gesamtkonzeption für einen Geschichtsverbund „Aufarbeitung der SED-Diktatur“, 5.8. 2005.  „Die Kommission setzt sich zur Aufgabe, tragende Linien eines Gesamtkonzepts für einen Geschichts- und Gedenkstättenverbund zur öffentlichen Aufarbeitung der SED-Diktatur zu entwickeln, der die Bewertung des bisher Geleisteten mit Vorschlägen zu einer zukunftsfähigen Ausgestaltung verbindet. Dabei ist die Kommission nicht zur Abgabe eines einstimmigen Votums verpflichtet, sondern behält sich vor, fallweise Mehrheits- und Minderheitsvoten mit qualitativ gewichteten Empfehlungsalternativen zu formulieren.“ Ebd.

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Die im Juni 2006 vorgelegten Empfehlungen basierten nach der Einschätzung eines Beobachters auf einer zunächst vorgenommenen Bestandsaufnahme, aus der hervorging, dass ‚die repressiven und überwachenden Aspekte der DDR-Diktatur breit vergegenwärtigt werden, (während) die Bereiche ›Opposition und Widerstand‹ sowie ›Herrschaft und Gesellschaft‹ in unvertretbarer Weise unterrepräsentiert (sind)‘. Als zusätzlich defizitär erwies sich für die Kommission die fehlende Einbettung der SED-Diktatur in den politisch-historischen Kontext der deutschen Teilung und der Blockbildung. Entsprechend wurde als konzeptionelles Ziel formuliert, ‚dass der geplante Geschichtsverbund sowohl zur Aufklärung über den Diktaturcharakter der DDR […] und zur Würdigung von Widerstand und Opposition beiträgt, als auch die Vielschichtigkeit, ›Veralltäglichung‹ und ›konstitutive Widersprüchlichkeit‹ der DDR abbildet und in die beziehungsgeschichtlichen Dimensionen der deutschen-deutschen Doppelstaatlichkeit […] und des Ost-WestKonflikts rückt‘.⁷

Daraus leitete die Kommission drei zentrale „Aufarbeitungsschwerpunkte“ in Gestalt von „Herrschaft – Gesellschaft – Widerstand“, „Überwachung und Verfolgung“ sowie „Teilung und Grenze“ ab, die anschließend zum Ausgangspunkt einer erregten Debatte um das Verhältnis von Alltag und Herrschaft in der DDR und die Berechtigung unterschiedlicher Sichtweisen im Umgang mit der DDR-Vergangenheit wurden. Die Einsetzung einer Enquetekommission zur Geschichtsaufarbeitung und Folgenbewältigung der SED-Diktatur im Land Brandenburg schließlich ging auf die Aufdeckung der früheren Stasi-Mitarbeit mehrerer Abgeordneter der Links-Fraktion in der 2009 neugebildeten rot-roten Koalition in Brandenburg zurück. Sie führte zu einer erregten Debatte darüber, ob sich das gerne als „Kleine DDR“ bezeichnete Brandenburg gravierende Defizite in der Diktaturaufarbeitung, eine problematische Elitenkontinuität und einen nachlässigen Umgang mit MfS-Belastungen vor allem im Polizei- und Justizdienst vorwerfen lassen müsse. Immerhin hatte Brandenburg als einziges der neuen Bundesländer keinen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen ernannt, aber mit Manfred Stolpe einen langjährigen Ministerpräsidenten, dessen Verbindung zum MfS in den 1990er Jahren Gegenstand eines Untersuchungsausschusses des brandenburgischen Landtags war, auch wenn dieser am Ende keine „schuldhafte Verstrickung“ Stolpes hatte feststellen können. Im März 2010 beschloss der Landtag Brandenburg die Einsetzung einer Enquetekommission zur „Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur und des Übergangs in einen demokratischen Rechtsstaat im Land Brandenburg“, die nach vier Jahren ihren Abschlussbericht samt Handlungsempfehlungen vorlegte. Sie kam zu dem Ergebnis, dass es erhebliche Lücken bei den Stasi-Überprüfungen in Brandenburg gab, und sprach sich unter anderem

 Christoph, Aufarbeitung, S. 29.

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für weitere Stasi-Checks von Abgeordneten, mehr Zeitzeugen im Schulunterricht und mehr Hilfen für Opfer aus. Empfohlen wird auch, SED und Blockparteien der DDR bei der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit stärker in den Blick zu nehmen.⁸

Wissenschaftlicher Ertrag, politische Beeinflussung und öffentliche Wirkung Der wissenschaftliche Ertrag war in den drei skizzierten Fällen überaus unterschiedlich: Das in insgesamt 18 Teilbände gegliederte Werk der Enquetekommission des Bundestags stellt mit seinen vielen tausend Seiten bis heute eine wichtige Grundlage der Forschung dar, auch wenn die Kommissionsarbeit über ihren ganzen Zeitraum hinweg von einer Auseinandersetzung um die Erklärungstiefe des Totalitarismus-Paradigmas durchzogen war. Die Sabrow-Kommission löste eine innerfachliche Debatte um die Rolle von Herrschaft und Alltag aus, die aber weder empirisch noch analytisch Neuland betrat und eher von wissenschaftspolitischen als von wissenschaftlichen Gesichtspunkten getrieben war, wie in der Fachliteratur mit Recht hervorgehoben wurde: In der Substanz handelte es sich keineswegs um gänzlich neue Überlegungen. Renommierte Zeithistoriker wie Jürgen Kocka, Christoph Kleßmann oder Lutz Niethammer hatten mit Blick auf die Einschätzung der DDR-Gesellschaft schon Jahre zuvor aus unterschiedlichen thematischen Perspektiven vor schablonenhaftem Denken gewarnt und die Berücksichtigung historischer Kontexte und Interdependenzen empfohlen. Gleichwohl fanden die Empfehlungen der Kommission ein geteiltes Echo. Das war für ihre Mitglieder offenbar keine Überraschung, wohl aber die Heftigkeit der Kritik.⁹

Die Brandenburgische Enquetekommission wiederum erregte zunächst vor allem durch die mangelhafte Qualität ihrer angeforderten Expertisen Aufsehen: Die Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen der SEDDiktatur kommt im neuen Jahr nur schwer in Tritt. Auf der ersten Zusammenkunft im Potsdamer Landtag musste am Freitag ein Gutachten zur Thematik ‚Die DDR als Gegenstand in Lehre, Forschung und politischer Bildung. Eine Analyse für das Land Brandenburg‘ zurückgezogen werden. Kommissionsmitglieder rügten das Papier als unausgewogen und unpräzise. Kommissions-Vorsitzende Susanne Melior (SPD) sagte, dem Gutachter werde eine dreimonatige Nachfrist zur Überarbeitung eingeräumt. Die Enquete-Kommission soll Aufbau und Entwicklung Brandenburgs kritisch prüfen.¹⁰

 Yvonne Jennerjahn/Alexander Fröhlich, DDR-Enquete-Kommission. Woidke verteidigt den Brandenburger Weg, in: Potsdamer Neueste Nachrichten, 3.4. 2014.  Christoph, Aufarbeitung, S. 29.  Enquete-Kommission. Schwieriger Start ins neue Jahr, in: Bild-Zeitung, 21.1. 2011, www.bild.de/ regional/berlin/enquetekommission-schwieriger-start-ins-neue-15637316.bild.html (letztmalig abgerufen am 27. 3. 2017).

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In der Folge gab die Kommission ihre ursprüngliche Absicht auf, auch wissenschaftliche Einrichtungen in Brandenburg wie die Universität Potsdam und das Zentrum für Zeithistorische Forschung in die Untersuchung einzubeziehen und kritisch nach dem von ihnen vermittelten DDR-Bild zu fragen. Stattdessen verlagerte sich die Kommission im Weiteren weg von wissenschaftlichen und geschichtspolitischen Erkenntnisfestschreibungen hin zu politischen Handlungsempfehlungen. Alle drei Kommissionen waren parlamentarisch oder ministeriell gebildet, auch wenn in ihnen Einigkeit darin bestand, dass die politische Beauftragung die Experten nicht binde.¹¹ Im selben Sinne wies der Vorsitzende des Kulturausschusses des Deutschen Bundestags, Siegmund Ehrmann (SPD), eine Kritik der Links-Fraktionen an ihrer Ausgrenzung bei der Bildung der 2014 eingerichteten Kommission für die Zukunft der BStU zurück, indem er auf die Unabhängigkeit der von den Fraktion benannten Experten hinwies: „Die Tatsache, dass die großen Fraktionen mehr Mitglieder benennen dürfen, bedeute nicht, dass diese Experten sich ‚blind‘ in den Dienst einer Partei stellen.“¹² Eine unmittelbare Lenkung lässt sich in keinem Fall konstatieren, wohl aber anhaltende Bemühungen,Verlauf und Ergebnisse der Enquete durch politische Kontakte mit Sachverständigen zu beeinflussen. Die Arbeit der beiden Enquetekommissionen im Deutschen Bundestag folgte von vornherein der Intention aller Parteien, die DDR vollständig zu delegitimieren und den antitotalitären Konsens in der Gesellschaft zu festigen – mit Ausnahme der PDS, die zugleich eine gesamtdeutsche Aufarbeitung forderte und zu diesem Zweck eine eigene Kommission einsetzte. Die Enquetekommissionen im Berliner und im Potsdamer Parlament folgten darüber hinaus parlamentarischen Regeln in Bezug auf Gesprächskultur, Redezeit und Erarbeitung eines Abschlussberichts, der zum Gegenstand politischer Beschlussfassung wurde. Die Sabrow-Kommission hingegen gab lediglich „Empfehlungen“ ab, deren Wert und Verbindlichkeit schon bei der Vorstellung und später in der Erörterung im Kulturausschuss des Bundestags erheblich relativiert wurden. Gleiches widerfuhr nach gegenwärtigem Stand auch den von der Brandenburgischen Enquete ausgesprochenen Empfehlungen, die zunächst bis zur Landtagswahl im September 2014 auf Eis gelegt wurden und anschließend im politischen Betrieb weithin aus dem Blick gerieten, während die Empfehlungen der zweiten BundestagsEnquete als bindender Handlungsauftrag verstanden wurden. Die drei Kommissionen halfen jeweils, das Bewusstsein in der Gesellschaft für den konfliktreichen Umgang mit der DDR-Vergangenheit zu schärfen. Dazu trug insbesondere die Debatte um Reizvokabeln wie „Unrechtsstaat“ und „Alltag“ bei. Das Votum der Sabrow-Kommission erzeugte eine heftige Resonanz, die sich besonders an der Frage entzündete, welche Bedeutung der „Alltag“ in der künftigen Erinnerung an die DDR haben dürfe und solle. „Die Stasi dürfte doch wohl charakteristischer für die

 Deutscher Bundestag, Kommission zur Zukunft der Stasi-Akten eingesetzt, www.bundestag.de/ dokumente/textarchiv/2014/kw27_de_stasiunterlagen/285588 (letztmalig abgerufen am 30. 3. 2017).  Ebd.

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DDR gewesen sein als die Kinderkrippen“¹³, lautete das Argument, das der Empfehlung der Expertenkommission entgegengehalten wurde, der DDR-Gesellschaft und ihrer Lebenswelt einen breiteren Platz in der zukünftigen Aufarbeitung einzuräumen. Kontrovers diskutiert wurde insbesondere die Auffassung der Expertenkommission, dass „in der gegenwärtigen Gedenklandschaft, insbesondere Alltag und Widerstand einer diktaturunterworfenen Bevölkerung weitgehend ausgeblendet [bleiben] und damit auch die spannungshafte Wechselbeziehung von Herrschaft und Gesellschaft zwischen Akzeptanz und Auflehnung, Begeisterung und Verachtung, missmutiger Loyalität und Nischenglück“.¹⁴ Kritiker verwahrten sich entschieden dagegen, dass „dem Alltag und den Bindungskräften in der kommunistischen Diktatur durch staatlich finanzierte Einrichtungen verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt“ werden, und werteten die „aufdringliche Homöopathisierung der ostdeutschen Diktaturgeschichte“ als Verharmlosung der politischen Realitäten in einer unfreien Gesellschaft.¹⁵ Dass die Kommission bis in die Fachwelt hinein scharfe, teils sogar ehrenrührige Kritik erfuhr, stellte in der Tat, und hier argumentiere ich ebenso als Zeitzeuge wie als Zeithistoriker, eine fachlich wie persönlich überraschende Entwicklung dar, wie sie etwa in der folgenden Einschätzung zum Ausdruck kam: Spitzelwesen, Erpressung, Folter und Mord in einem System, das die erschoß, die beim Verlassen des Landes erwischt wurden – solche Härten sollen künftig nicht mehr so im Vordergrund stehen. Ein Geschichtsrevisionismus ganz eigener Art bricht sich da Bahn. Getragen von ehemaligen Stasi-Kadern, die wieder laut und stolz ihre Stimme erheben, und von orientierungslosen westdeutschen Politikern und Publizisten, denen es peinlich ist, selbst die DDR über Jahrzehnte in einem naiven, romantisierenden Licht gezeichnet zu haben. Beim Kampf um die Deutungshoheit arbeiten sie mit dem Weichzeichner. Wenn sich ihr rosarotes Geschichtsbild durchsetzt, wäre das eine Verhöhnung der Opfer. Das Beste, was der Bundestag mit der Empfehlung der Experten tun kann, ist: ablehnen und ablegen.¹⁶

Ebenso ging 2010 die Brandenburgische Enquetekommission von normativen geschichtspolitischen Voraussetzungen aus: „Zum Selbstverständnis gehört auch eine zumindest grundsätzliche Übereinstimmung im Geschichtsbild“, hieß es in einem Grundsatzpapier eines Kommissionsmitglieds.¹⁷ Der Vorwurf speziell an „linke Poli-

 Horst Möller, Trabi, Stasi, Kinderkrippen. Das Gedenken an das SED-System wird neu geregelt. War die DDR nur ein Unterdrücker-Staat? Gab es einen normalen Alltag? Ein Zwischenruf, in: Rheinischer Merkur, 22.6. 2006.  Die „Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ‚Aufarbeitung der SED-Diktatur‘“, in: Martin Sabrow [u. a.] (Hrsg.), Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte. Bonn 2007, S. 17– 45, hier S. 31 f.  Ines Geipel, Kleine, graue, miese DDR. Das Expertenpapier zur Aufarbeitung der SED-Diktatur markiert keinen Paradigmenwechsel, in: Die Welt, 9.6. 2006.  Mathias Döpfner, Keine DDR light, in: Die Welt, 20.6. 2006.  Klaus Schroeder, Geschichtsbilder und Geschichtspolitik, Anlage zum Abschlussbericht der Enquete-Kommission 5/1 „Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur

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tologen und Historiker“ lautete, dass mit der Ablehnung des Begriffs „Unrechtsstaat“ oder Begriffsprägungen wie „partizipatorische Parteidiktatur“ die „Trennlinie zwischen Demokratie und Diktatur vernebelt“ werde.¹⁸ In beiden Fällen blieb die Skandalisierung eines differenzierten DDR-Bildes Episode und Strohfeuer. Heute ist die begrenzte wissenschaftliche Tauglichkeit totalitaristischer Interpretationen kommunistischer Herrschaft ebenso ein Gemeinplatz wie die Einbeziehung des Alltags in die Herrschaft auch von Diktaturen. Die Arbeit der Bundestags-Enquetekommissionen bestimmte eine markante Entwicklung von einem anfänglichen Aufarbeitungskonsens¹⁹ hin zu einer lagerpolitischen Zerstrittenheit, die innerfachlich vor allem als Auseinandersetzung über die Deutungskraft des Totalitarismus-Paradigmas geführt wurde und politisch über die Bewertung des Handelns von Politik und Wissenschaft vor 1989. Bereits in der Absicht initiiert, „die revisionistische Geschichtspolitik der PDS zu demontieren“²⁰, beförderte sie die Herausbildung und Verhärtung eines Kampfes um die Deutungshoheit über die untergegangene DDR, in dem ein staatlich gestütztes Diktaturgedächtnis mit dem aus der Öffentlichkeit abgedrängten, ambivalenten Alltagsgedächtnis und einem allmählich schwächer werdenden DDRfreundlichen Fortschrittsgedächtnis rang. Folgerichtig konnte die Kommission sich nicht auf einen gemeinsamen Schlussbericht einigen; die SPD gab – ebenso wie die PDS – ein Sondervotum ab, das insbesondere die Aussparung von Themen zur Opposition der 1980er Jahre und deren inneren Spannungslinien kritisierte. Sondervoten kennzeichneten auch die Arbeit der zweiten Bundestagskommission. Sie drehte sich vor allem um die Gleichsetzung der Opfer von Nationalsozialismus und Kommunismus, zeichnete sich aber in ihrem Verlauf durch zunehmende Versachlichung aus und fand am Ende zu einem differenzierenden Begriff der Diktatur und ihrer Opfer, der sich in der sogenannten Faulenbach-Formel in der Folgezeit als Konsens durchgesetzt hat: „Das stalinistische Unrecht darf die NS-Verbrechen nicht relativieren, die NSVerbrechen dürfen das stalinistische Unrecht nicht bagatellisieren.“ Bemerkenswert an der Arbeit der Brandenburgischen Kommission war hingegen, dass sie umgekehrt ganz zerstritten begann und in weitgehendem Konsens endete. An ihrem Beginn standen heftige Auseinandersetzungen, wie sie etwa das alarmierte Schreiben eines bestellten Gutachters an Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) wiedergibt. Erschrocken bin ich über deren gegenwärtigen Zustand und meine eigenen Rechercheerfahrungen als Experte. Unser Ziel war es, durch eine kritische Rückschau, Brandenburg endlich von der

und des Übergangs in einen demokratischen Rechtsstaat im Land Brandenburg“, Papier zur Kommissionssitzung vom 21.1. 2011, S. 1, www.parldok.brandenburg.de/parladoku/w5/drs/ab_8500/8500_ 36.pdf (letztmalig abgerufen am 14.5. 2016).  Ebd., S. 12 f.  Carola Rudnik hob als „geschichtspolitischen Grundkonsens aller Parteien […] den Integrationswillen, das Streben nach innerer Einheit und die hohe Bedeutung jeglicher Geschichtsaufarbeitung“ hervor. Rudnik, Hälfte, S. 54.  Ebd., S. 52.

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‚kleinen DDR‘ abzunabeln. Damit sollten neuen Perspektiven für das Land im 21. Jahrhundert eröffnet werden. Wir sollten uns erinnern, wie es zum Thema Vergangenheitsaufarbeitung kam. Nicht die Enquete hat alte Wunden aufgerissen. Die SPD und die Regierung war es selbst, als sie mit der PDS/Linkspartei eine Koalition eingingen, ohne vorher genügend zurückgeblickt zu haben. Fast 20 Jahre nach der deutschen Einheit saßen überdurchschnittlich viele ehemalige IM in der Fraktion ihres Koalitionspartners. Das war Anlass für viele Fragen. […] Aufklärung war gefragt, das war die Geburtsstunde der Enquete. Und wir waren froh, als auch von Ihnen und vernünftigen Stimmen in Ihrer Partei das Signal kam, dass die SPD, die Regierung mittun will. Denn was wir bei diesem Thema nicht wollten, war Parteienstreit.Was wir jetzt haben, ist Parteienstreit, z.T. auf niedrigstem Niveau. […] Es war schon schwer Gutachter mit Niveau zu finden, viele haben im Vorfeld abgewunken, sind in der Vertragsphase abgesprungen, jetzt gibt es die ersten Rücktritte. […] Absagen von Experten, kleinkarierter Parteienstreit, Beschimpfungen von Gutachtern das wirkt so, wie man schon immer Brandenburg im Verdacht hatte: provinziell.²¹

Am Ende stand hingegen ein erstaunlicher Konsens: „Der märkische Landtag hat über den Bericht der DDR-Enquete-Kommission debattiert. Mehr Hilfen für SED-Opfer fordern alle. Und der Ministerpräsident lobt den Konsens in der Politik.“²² Bemerkenswerterweise stimmte auch die Linkspartei, Koalitionspartner in der Landesregierung, dieser Einschätzung zu und fand, dass „die Arbeit der Kommission Lücken aufgedeckt [habe], zum Beispiel bei der Unterstützung der Regionalmuseen oder beim Umgang mit Opfern des SED-Regimes“, wenngleich sie darauf insistierte, dass die Diktaturvergangenheit auch in den gescholtenen 1990er Jahren keineswegs unter den Teppich gekehrt worden sei. Vorbehaltlose Zustimmung fand das Votum der Kommission auch bei der Opposition, für die die „Grünen“ erklärten: Die Enquetekommission hat Brandenburg gutgetan. Sie hat Menschen eine Stimme gegeben, die vorher außen vor blieben, einen Lernprozess eröffnet und 24 Seiten mit Handlungsempfehlungen erarbeitet. Benachteiligte sollen besser unterstützt, die Gedenkstättenarbeit gefördert, Schulen bei der Geschichtsvermittlung geholfen werden. Es liegen Anregungen für eine nachhaltige Landwirtschaft auf dem Tisch, ebenso wie zur Stärkung der demokratischen Kultur. Die meisten Vorschläge wurden einvernehmlich verabschiedet, Brandenburg damit bundesweit beachtetes Vorbild. Darauf dürfen alle Beteiligten stolz sein, auch die Linke, die dabei wohl den weitesten Weg gehen musste.²³

Wie ist diese Doppelbewegung erst vom Konsens zum Dissens in den 1990er Jahren und später umgekehrt vom Konflikt zum Konsens in den vergangenen Jahren zu erklären? Die politische Delegitimierung mit historischen Mitteln hatte eine nach 1990 zunächst ansteigende und später wieder fallende Konjunktur. Wir sind allmählich in die Phase einer weitergehenden Historisierung der DDR eingetreten, und das  Christian Booß, Der Brief an Ministerpräsident Matthias Platzeck, in: Der Tagesspiegel, 24.7. 2011, www.tagesspiegel.de/berlin/brandenburg/dokumentiert-der-brief-an-ministerpraesident-matthiasplatzeck/4427720.html (letztmalig abgerufen am 30. 3. 2017).  Jennerjahn/Fröhlich, DDR-Enquete-Kommission.  Zwei Politiker bewerten die Arbeit der „Enquetekommssion“. Aufarbeitung der DDR-Zeit in Brandenburg, in: Märkische Allgemeine Zeitung, 23. 2. 2014, www.maz-online.de/Brandenburg/Aufarbei tung-der-DDR-Zeit-in-Brandenburg (letztmalig abgerufen am 16.4. 2017).

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schließt die westdeutsche Entspannungspolitik ein. Wie die aktuelle deutsche Wiederholungsdebatte um die zutreffende oder nicht zutreffende Charakterisierung der DDR als „Unrechtsstaat“ zeigt, kann historische Aufarbeitung im politischen Raum zwar rasch wieder in alte Schützengräben zurückgleiten. Das erklärt die Härte der Auseinandersetzungen zu Beginn der Brandenburger Historikerkommission. Doch zugleich kann der Platz der DDR im kulturellen Gedächtnis unserer Zeit als gefestigt angesehen werden. Bemerkenswerterweise sank gerade in der Arbeit der Brandenburger Enquetekommission das Konfliktpotential mit dem Rückzug der Fachhistoriker und verbreiterte sich die Erkenntnis, dass es eine parteiübergreifende Verantwortung für Mängel der Aufarbeitung gibt. Die Brandenburger Kommission verlor an Kontroversität, als sie sich auf konkrete vergangenheitspolitische Handlungsempfehlungen statt auf geschichtspolitische Urteile konzentrierte.

Expertenkommissionen als geschichtskulturelles Gegenwartsphänomen Die Einsetzung von Enquetekommissionen zur Auseinandersetzung mit einer schmerzhaften Vergangenheit stellt für die politische Kultur in Deutschland ein Novum dar; sie ist allenfalls mit dem Untersuchungsausschuss der Deutschen Nationalversammlung 1919 über die Schuldfragen des Weltkriegs zu vergleichen.²⁴ An diesem ungewöhnlichen parlamentarischen Vorgang lässt sich ermessen, was sich im Sprechen über die Herrschaft des Unrechts in den vergangenen vierzig Jahren verändert hat. Vieles deutet darauf hin, dass sich der Geschichtsdiskurs in Deutschland seit dem Ende der 1980er Jahre und dem Untergang der kommunistischen Herrschaft in Europa strukturell gewandelt hat. Er hebt sich heute von früheren Mustern der Verständigung über die Vergangenheit so prägnant ab, dass er als Paradigma der Vergangenheitsaufarbeitung von den älteren Narrativen der Vergangenheitsentlastung und der Vergangenheitsbewältigung unterschieden werden kann.

 „Die Frage nach der Schuld für den Ausbruch, Verlauf und Ausgang des Ersten Weltkrieges entwickelte sich unmittelbar nach Kriegsende zu einem der am meisten drängenden Probleme des politisch-gesellschaftlichen Diskurses im Reich – insbesondere vor dem Hintergrund der als ‚Lüge‘ aufgefassten Schuldzuweisung der Entente im Versailler Vertrag. Zur Klärung dieser Frage konstituierte sich noch während der Weimarer Nationalversammlung am 21. August 1919 ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss gemäß Art. 34 der Reichsverfassung. Er bestand aus einem Generalsekretariat und vier Unterausschüssen, welche parteiparitätisch besetzt waren. Die vier Unterausschüsse arbeiteten 1. zur ‚Vorgeschichte des Weltkrieges‘, 2. zu den ‚Friedensmöglichkeiten während des Weltkrieges‘, 3. zum ‚Völkerrecht im Weltkrieg‘ und 4. zu den ‚Ursachen des deutschen Zusammenbruchs im Jahre 1918‘.“ Parlamentarischer Untersuchungsausschuss für die Schuldfragen des Ersten Weltkriegs, in: Kritische Online-Edition der Nuntiaturberichte Eugenio Pacellis 1917– 1929, Schlagwort Nr. 3032, www.pacelli-edition.de/Schlagwort/3032 (letztmalig abgerufen am 30. 3. 2017).

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Aufarbeitung tendiert in ihrer Gegenwartsorientierung regelmäßig dazu, die für Historiker so entscheidende Grenze zwischen Deskription und Präskription, zwischen Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik ebenso einzureißen wie die zwischen Geschichtspolitik und Vergangenheitspolitik oder die zwischen Recht und Politik, weil ihr wichtigster Bezugspunkt nicht die reine Anschauung ist, sondern deren praktische Anwendung. Aus dieser moralisch legitimierten Engführung von Erkenntnis und Interesse ergibt sich in der Folge eine eigentümliche Nähe der Vergangenheitsaufarbeitung zur Politik und zum politischen Personal, wie sie für andere Zeiten und Gesellschaften undenkbar wäre und die in der Einsetzung der hier skizzierten Untersuchungskommissionen ihren prägnanten Ausdruck findet. Mit solchen Kommissionen verbindet sich das zum politischen Konsens erhobene Bekenntnis zur Erinnerung und gegen das Vergessen, und dies regelmäßig unter Berufung auf das frühere fatale Schweigen über die NS-Vergangenheit. Die Legitimation des Plädoyers für das Wachhalten der Erinnerung und damit der eigentliche Sinn der Aufarbeitung steckt dabei in ihrer heilenden Wirkung, auf der schon 1990 niemand stärker als Joachim Gauck insistierte und die die Grundlage der Kommissionsarbeit bildet: Vor der Gesundheit kommt der Heilungsprozeß. In dieser Zeit geschieht viel Arbeit, werden medizinisches Wissen und die physischen und psychischen Kräfte des Patienten einen Bund eingehen, und am Ende dieses Prozesses kann dann alles gut werden. So wollen wir in unsere neue Demokratie eintreten: wach, informiert und angetrieben vom Willen zu mehr Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit.²⁵

Heilung durch Wahrheit, Versöhnung durch Ehrlichkeit – mit diesen Formeln schließt der in Kommissionen institutionalisierte Aufarbeitungsdiskurs unmittelbar an die Arbeit besonders der südafrikanischen Truth-And-Reconciliation-Kommissionen an und offenbart zugleich einen konstitutiven Zielkonflikt, der sie bis heute begleitet und vorantreibt. Das akteursbezogene Versprechen auf Aussöhnung durch Ehrlichkeit steht im Widerspruch zum Anspruch, die Lehren aus der Geschichte für die Zukunft zu bewahren, also sie von einer Generation auf die nächste zu übertragen. Aufarbeitung als geschichtskulturelles Paradigma gründet heute mehr denn je auf einer prinzipiellen Unabschließbarkeit, die ihrer gleichermaßen fundamentalen Vergebungsbereitschaft zuwiderläuft. Die Arbeit der drei Enquetekommissionen stand unter der Aporie einer Aufarbeitung, die die Vergangenheit zugleich loslassen und festzuhalten entschlossen ist. Stets wurde ihre Arbeit von den noch bestehenden Aufarbeitungsdefiziten in der noch gespaltenen Gesellschaft, von dem mangelnden historischen Wissen von Schülern und von der Verstocktheit alter SED-Eliten begleitet, und zugleich hat ihre Arbeit die geschichtskulturelle Polarisierung über zwei Jahrzehnte hinweg nicht vermindert,

 Joachim Gauck, Erst erinnern, dann vergeben. Was wird aus der Stasi-Vergangenheit?, in: Die Zeit, 13.4.1990.

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sondern eher noch erhöht. Alles spricht dafür, dass diese Auseinandersetzung zwischen einer normativ grundierten Aufarbeitung und einer stärker auf kontextualisierende Einordnung gerichteten Historisierung sich auch in absehbarer Zukunft fortsetzt. Für diese Vermutung spricht zumindest das Schicksal einer im Juli 2014 vom Bundestag berufenen „Expertenkommission zur Zukunft der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU)“, die laut ihrem Einsetzungsauftrag über eine mögliche Neuausrichtung des Umgangs mit der kommunistischen Diktaturvergangenheit nachdenken sollte: Da seit dem Ende der SED-Diktatur vor nunmehr 25 Jahren eine vielfältige Aufarbeitungs- und Gedenkstättenlandschaft aus zivilgesellschaftlichen Initiativen und staatlichen Einrichtungen entstanden ist, ist nun zu klären, welche Entwicklungsperspektiven sich für die bislang von der BStU erfüllten Aufgaben ergeben und wie sich diese zukünftig in das entstandene Gefüge der Aufarbeitungslandschaft einfügen.²⁶

Die aus Politikern und Wissenschaftlern, aus Vertretern der akademischen und der angewandten Zeitgeschichte, aus Frauen und Männern ost- und westdeutscher Herkunft mit unterschiedlicher biographischer Prägung und politischer Haltung zusammengesetzte Kommission brauchte lange, bis sie sich auf eine gemeinsame Linie einigen konnte.²⁷ Aber am Ende der sich über fast zwei Jahre hinziehenden und zahlreiche Anhörungen einschließenden Kommissionsarbeit stand ein erstaunlicher Konsens. Nur ein einziges Mitglied der vierzehnköpfigen Kommission mochte sich den Handlungsempfehlungen zur Zukunft der BStU nicht anschließen, die sich im Zuge der allmählichen Annäherung der wechselseitig ausgetauschten Sichtweisen und Erwägungen herauskristallisiert hatten und die die Kommission dem Bundestagspräsidenten im April 2016 übergab. Sie sahen vor, die Institution eines Bundesbeauftragten auch in Zukunft beizubehalten, aber als „Ombudsperson für Opfer der kommunistischen Diktatur und Betroffene im Sinne des StUG“ – gemeint ist das sogenannte Stasi-Unterlagen-Gesetz – neu zu profilieren und von weiten Bereichen seiner bisherigen Zuständigkeit zu entlasten. Im Einzelnen sollten die Stasi-Unterlagen sowie die in den fünf ostdeutschen Ländern bestehenden BStU-Außenstellen unter Wahrung ihrer eigenständigen Sichtbarkeit in das Bundesarchiv integriert und

 Deutscher Bundestag, Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Einsetzung einer „Expertenkommission zur Zukunft der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU)“, Drucksache 18/1957, 18. Wahlperiode, 1.7. 2014, S. 1 f.  An der Kommission wirkten mit: Prof. Dr. Wolfgang Böhmer (Vorsitzender), Prof. Dr. Dr. h. c. Richard Schröder (stellvertretender Vorsitzender), Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Prof. Dr. Klaus-Dietmar Henke, Prof. Dr. Angelika Menne-Haritz, Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Horst Möller, Hildigund Neubert (seit 26. 5. 2015), Prof. Dr. Martin Sabrow, Prof. Dr. Silke Satjukow, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Prof. Dr. HansJoachim Veen, Rainer Wagner (bis 26. 5. 2015), Wolfgang Wieland, Prof. Dr. Manfred Wilke, Dr. Peter Wurschi.

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ein novelliertes Bundesarchivgesetz die Vorschriften des Stasi-Unterlagen-Gesetzes erübrigen. Die bisherige Behördenforschung sollte, der Zuständigkeit des Bundesbeauftragten entzogen, zu einer eigenständigen „Forschungsstelle DDR-Staatssicherheit in vergleichender Perspektive“ entwickelt werden, deren längerfristige Perspektive allein von ihrer wissenschaftlichen Leistungskraft abhängig zu machen und nach sieben Jahren vom Wissenschaftsrat zu evaluieren sei. Insgesamt votierte die Kommission für eine zukünftig stärkere Trennung von Politik und Wissenschaft, die die archivarischen und fachhistorischen Komponenten des Bundesbeauftragten weitgehend in die Hand des Faches zurückgab und zugleich die symbolpolitische Bedeutung des Amtes stärkte: Die/der künftige Bundesbeauftragte ist dann nicht mehr der ‚Herr der Akten‘. Sie/er wird somit keine Behördenleiterin bzw. kein Behördenleiter mehr sein und von den administrativen Aufgaben entlastet. Der/die neue Bundesbeauftragte soll eine deutlich politischere Funktion innehaben. Sie/er wird nach wie vor Symbolfigur der Jahre des Umbruchs 1989/1990 sein. Ein Schwerpunkt ihrer/seiner Arbeit soll die Rolle einer Ombudsperson für die Opfer der SED-Diktatur sein. Als unabhängige Instanz soll sie/er die Weiterführung der Aufarbeitung im Blick behalten und das Thema gesellschaftspolitisch begleiten. Dabei ist wissenschaftliche Expertise nach wie vor erforderlich, um zu bestimmten Aspekten jederzeit kompetent Auskunft geben und öffentlich Stellung nehmen zu können. Einer eigenen Forschungskompetenz bedarf es hierfür künftig nicht mehr.²⁸

Die CDU/CSU-Fraktion wollte sich mit den Vorschlägen der Experten nicht in Gänze anfreunden. Die Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft lehnte sie gar als „Signal für das Ende der Aufarbeitung“ ab. Auch Marianne Birthler, die Amtsvorgängerin des damaligen Chefs der Behörde Roland Jahn, zeigte sich nicht überzeugt: Die Kommission habe keine überzeugenden Argumente genannt, warum eine so erfolgreiche und weltweit anerkannte Behörde aufgelöst und die Akten in den Zuständigkeitsbereich des Bundesarchivs verschoben werden sollten. Jahn selbst begrüßte die Kommissionsvorschläge prinzipiell. Entscheidend sei, dass der Aktenbestand und das Recht auf Einsicht erhalten blieben. Doch der Expertenkonsens ließ sich auch nicht in die Öffentlichkeit tragen. Das Votum der Kommission löste eine erregte Debatte aus, in der die sich dem Aufarbeitungsanliegen verpflichtet fühlenden Kritiker rasch die Meinungshoheit gewannen: Überhaupt scheint die Expertenkommission durch die Hintertür die vom Bundestag beschlossene Gedenkstättenkonzeption, die sich zur Vielfalt bei der Beschäftigung mit der DDR-Geschichte ausdrücklich bekennt, ändern zu wollen. Die Auseinandersetzung mit der SED‐Diktatur ist eine gesellschaftliche Diskussion. Unser Museum (Stasimuseum im Haus 1 des Ministeriums

 Deutscher Bundestag, Bericht der Expertenkommission zur Zukunft der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), Abschlussbericht der Expertenkommission, Drucksache 18/8050, 18. Wahlperiode, 5.4. 2016, S. 10, www.bundes tag.de/ausschuesse18/gremien18/bstu (letztmalig abgerufen am 27. 3. 2017).

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Martin Sabrow

für Staatssicherheit), getragen von einem unabhängigen Verein, beteiligt sich daran. Die von der Expertenkommission vorgesehene Zentralisierung ist das Gegenteil davon.²⁹

Daraufhin zögerte auch die von CDU und SPD getragene Bundesregierung, dem Votum zu folgen und vertagte die Entscheidung auf die nächste Legislaturperiode. Der im selben Jahr vom Bundestag wiedergewählte Behördenchef Roland Jahn wurde immerhin beauftragt, ein Konzept für eine Überführung der Akten ins Bundesarchiv zu entwickeln, während ein entsprechender Bundestagsbeschluss über die Zukunft der Behörde und ihres Leiters keine Aussagen machte und auch die Zukunft der Behördenforschung im Ungewissen ließ.³⁰ Wie sich hieran zeigt, stehen sich in Bezug auf die belastete Vergangenheit die Prinzipien der Historisierung und der Aktualisierung im Kern immer noch unverändert gegenüber, auch wenn gerade die Arbeit der verschiedenen eingesetzten Expertenkommissionen immer wieder zu einer erheblichen Abschwächung der Gegensätze beigetragen hat. Es ist zu vermuten, dass die seit bald einem Vierteljahrhundert geführte Auseinandersetzung um das Verhältnis von Geschichtspolitik und Geschichtswissenschaft die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur in Deutschland auf absehbare Zeit auch weiterhin prägen wird.

 Aussage Jörg Drieselmann, zitiert nach: Harsche Kritik an Expertenkommission zu Stasi-Unterlagen. Expertenkommission zur Zukunft des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen hat laut Sprecher des Stasimuseums Auftrag verfehlt, in: Berliner Morgenpost, 4.4. 2017.  Alexander Weinlein, Auf der Suche. Roland Jahn fordert zukunftsfähige Strukturen, in: Das Parlament, 27. 3. 2017.

Filippo Focardi

Die Deutsch-Italienische Historikerkommission und die Konstruktion einer „gemeinsamen Erinnerungskultur“. Nationale Dimensionen, bilaterale Beziehungen und europäische Rahmenbedingungen Will man die Tätigkeit einer bilateralen Historikerkommission untersuchen, müssen zunächst die Motive erhellt werden, welche die politischen Auftraggeber zu ihrer Einrichtung bewogen haben. Dazu sagte Wolfgang Schieder, Ko-Präsident der Deutsch-Italienischen Historikerkommission: „Richten zwei Staaten eine offizielle Historikerkommission ein, dann ist das immer das Zeichen für eine aktuelle politische Krise“, und fügte zugleich hinzu: „Wenn die Politiker keinen Weg sehen, um einen toten Punkt zu überwinden, dann erinnern sie sich der Historiker, von denen erwartet wird, dass sie gleich der Feuerwehr eingreifen, um ein – großes oder kleines – Feuer zu löschen.“¹ Auch die von 2009 bis 2012 tätige Deutsch-Italienische Historikerkommission entstand in einem solchen Rahmen. Sie wurde geschaffen, um das Feuer bzw. – genauer – den Brandherd einer möglichen Krise im Verhältnis zwischen Italien und Deutschland zu löschen, die durch das Wiederaufleben von Problemen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besetzung Italiens ausgelöst worden war. Vor einer Analyse der Kommissionsarbeit – des Feuerwehrweinsatzes, ist man versucht zu sagen –, ist es also opportun, der Ursache des Feuers, dessen Intensität und Auswirkungen auf die bilateralen Beziehungen nachzugehen. Zwei Faktoren haben den Brandherd gelegt: einerseits eine neue Prozesswelle gegen die nationalsozialistischen Kriegsverbrecher, die von italienischen Militärgerichten für ihre Massaker gegen italienische Zivilisten und Militärangehörige im Zeitraum von 1943 bis 1945 zur Verantwortung gezogen wurden. Andererseits ging es um die die Frage der Entschädigung für die italienischen Militärinternierten, also für jene ungefähr 600.000 Soldaten, die nach der Proklamation des italienischen Waffenstillstands am 8. September 1943 von den deutschen Stellen verhaftet, deportiert, interniert und entgegen aller vom internationalen Kriegsgefangenenrecht verbrieften Garantien in der Kriegsökonomie des „Dritten Reiches“ eingesetzt worden waren.²

 Wolfgang Schieder, Riflessioni sui lavori della Commissione storica italo-tedesca 2008 – 2013, in: Italia Contemporanea 278, 2013, S. 425 – 437, hier S. 425.  Vgl. grundlegende Arbeiten zu den IMI: Gerhard Schreiber, Die italienischen Militärinternierten im deutschen Machtbereich 1943 – 1945. Verraten, verachtet, vergessen. München 1990; Gabriele Hammermann, Zwangsarbeit für den „Verbündeten“. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der italienischen Militärinternierten in Deutschland 1943 – 1945. Tübingen 2002. https://doi.org/10.1515/9783110541144-017

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Die Prozesswelle gegen die deutschen Kriegsverbrecher setzte in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre mit dem Verfahren gegen den SS-Offizier Erich Priebke wegen seiner Beteiligung am Massaker der Fosse Ardeatine (24. März 1944), in dem 335 Italiener getötet wurden, ein. Priebke war 1995 von Argentinien an Italien ausgeliefert worden; 1996 wurde er in erster Instanz freigesprochen, ein Jahr später in zweiter Instanz zu 15 Jahren Haft, 1998 schließlich letztinstanzlich zu lebenslänglicher Haftstrafe verurteilt.³ Im Verlauf des ersten Ermittlungsverfahrens waren 1994 im zentralen Sitz der Militäranwaltschaft, im römischen Palazzo Cesi, Hunderte von Aktenbündeln über nationalsozialistische Gewaltverbrechen aufgefunden worden, die die italienische Militärgerichtsbarkeit dort 1960 unrechtmäßig archiviert hatte.⁴ Die italienische Presse prägte wenig später den wirkungsvollen Ausdruck „Schrank der Schande“, um die Verschleierung der Akten anzuprangern.⁵ Die Faszikel enthielten über 500 Namen von deutschen Soldaten (aber auch von vielen Kollaborateuren der RSI), die in über 2000 Kriegsverbrechen verwickelt waren und den Tod von mehreren tausend italienischen Zivilisten und Soldaten zu verantworten hatten.⁶ Die Verteilung der Faszikel auf die zuständigen Militärgerichte führte in den Folgejahren zu einer neuen, in Europa beispiellosen Prozesswelle gegen frühere deutsche Wehrmachtsund SS-Angehörige. Abgesehen von den Fällen Priebke und Misha Seifert, einem von Kanada an Italien ausgelieferten Wächter des Bozener Konzentrationslagers ukrainischer Herkunft, fanden die Prozesse in Abwesenheit der Angeklagten statt. Ihre Zahl ist auf jeden Fall beeindruckend. Die Aktivitäten der italienischen Gerichte erreichten ihren Höhepunkt zwischen 2003 und 2008, was vor allem auf die von Marco De Paolis geleitete Militäranwaltschaft zurückging, die 435 Ermittlungsverfahren eröffnete und 12 Prozesse gegen ungefähr 80 Angeklagte durchführte; 55 von ihnen wurden in Abwesenheit zu lebenslänglicher Haft verurteilt.⁷ Darunter befanden sich die Verantwortlichen von einigen der bekanntesten und grausamsten Massaker gegen Italiener in Sant’Anna di Stazzema, Monte Sole/Marzabotto, Civitella in Val di Chiana und Kefalonia. Wie intensiv diese Gerichtstätigkeit war, lässt sich durch einen Vergleich mit der Zeit zwischen 1947 und 1951 ermessen, als 12 Prozesse gegen 25 deutsche Kriegsverbrecher vor italienischen Militärgerichten geführt worden waren; zwölf von

 Über den Prozessverlauf und die Reaktionen der öffentlichen Meinung in Italien und Deutschland vgl. Joachim Staron, Fosse Ardeatine und Marzabotto. Deutsche Kriegsverbrechen und Resistenza. Paderborn [u. a.] 2002, S. 330 – 364.  Vgl. Mimmo Franzinelli, Le stragi nascoste. L’armadio della vergogna. Impunità e rimozione dei crimini di guerra nazifascisti 1943 – 2001. Mailand 2002.  Vgl. Franco Giustolisi, L’armadio della vergogna. Rom 2004.  Vgl. die beiden 2006 veröffentlichten Berichte der „Commissione parlamentare d’inchiesta sulle cause dell’occultamento di fascicoli relativi a crimini nazifascisti“ und insbesondere den Bericht der Minderheit.  Vgl. Marco De Paolis, La punizione dei crimini di guerra in Italia, in: Silvia Buzzelli/Marco De Paolis/ Andrea Speranzoni (Hrsg.), La ricostruzione giudiziale dei crimini nazifascisti in Italia. Turin 2012, S. 61– 155.

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ihnen wurden dabei freigesprochen und nur zwei zu lebenslänglicher Haft verurteilt (Herbert Kappler und Walter Reder).⁸ Die Welle der Strafverfahren hatte, angefangen beim Fall Priebke, nachhaltige Auswirkungen sowohl auf die inneritalienische Debatte als auch auf die bilateralen Beziehungen zwischen Italien und Deutschland. Die Pressekampagnen, die das Verschleiern der Ermittlungsakten im „Schrank der Schande“ anprangerten, trafen damit bei einem Großteil der italienischen öffentlichen Meinung einen empfindlichen Nerv und weckten ein Interesse, das weit über die Grenzen der Ortschaften hinausging, welche die so lange ungesühnt gebliebenen nationalsozialistischen Gewaltverbrechen erlitten hatten. Überdies wurde die Erinnerung an diese Vorgänge während der politischen Hegemonie Berlusconis von einem Teil der antifaschistisch geprägten Kultur im öffentlichen Diskurs wirkungsvoll dazu eingesetzt, einerseits die Angriffe der revisionistischen Rechten auf die Resistenza abzuwehren und andererseits den Kompromissversuchen zwischen dem Mitte-Rechts-Lager und einem konsistenten Teil der gemäßigten Linken entgegenzutreten, die darauf zielten, eine gemeinsame Erinnerungskultur zu schaffen.⁹ Auf der Ebene der zwischenstaatlichen Beziehungen breitete sich in den italienischen Massenmedien eine gewisse Unduldsamkeit gegenüber Deutschland aus und zwar nicht nur deshalb, weil die von den italienischen Gerichten in Abwesenheit verurteilten Deutschen nicht ausgeliefert wurden (ohne dabei die einer solchen Maßnahme entgegenstehenden Bestimmungen des deutschen Grundgesetzes zu bedenken), sondern auch wegen der mangelnden Entschlossenheit, mit der die deutsche Justiz die Verantwortlichen für die an Italienern begangenen Verbrechen verfolgte. Im Zuge der italienischen Entwicklungen hatte man in der Tat auch in Deutschland die Verfahren gegen die Deutschen, die sich in Italien eines Vergehens schuldig gemacht hatten, wiederaufgenommen, doch häufig wurden sie eingestellt oder endeten mit einem geringen Strafmaß;¹⁰ nur ein Leutnant der Gebirgsjäger, Josef Scheungraber, wurde am 11. August 2009 wegen eines in der Toskana begangenen Massakers zu lebenslänglicher Haft verurteilt.¹¹ Aus deutscher Sicht erwies sich der Ausgang des 2006 in La Spezia im Zusammenhang mit dem Massaker von Civitella durchgeführten Prozesses, in dem der Unteroffizier Max Josef Milde zu lebenslänglicher Haft und Deutschland zu einer Ent-

 Vgl. Filippo Focardi, Criminali di guerra in libertà. Rom 2008, S. 37 f.  Vgl. Filippo Focardi, Il passato conteso. Transizione politica e guerra della memoria in Italia dalla crisi della prima Repubblica ad oggi, in: Ders./Bruno Groppo (Hrsg.), L’Europa e le sue memorie. Politiche e culture del ricordo dopo il 1989. Rom 2013, S. 71– 73.  2002 beispielsweise wurde der SS-Obersturmbannführer Siegfried Engel, der bereits 1999 in Turin wegen einer Reihe in Ligurien begangener Massaker zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden war, mit sieben Jahren Gefängnis bestraft (die er aufgrund seines Ablebens nicht verbüßte). Ein weiteres Beispiel stellt die unterlassene Verfolgung der Verantwortlichen für das Massaker in Kefalonia dar; dazu vgl. Paolo Pezzino, Il rifiuto della giustizia penale, in: Camillo Brezzi (Hrsg.), Né eroi, né martiri, soltanto soldati. La Divisione „Acqui“ a Cefalonia e Corfù settembre 1943. Bologna 2014, S. 284– 300.  Scheungraber war bereits 2006 vom Militärgericht in La Spezia zu derselben Strafe verurteilt worden; vgl. De Paolis, La punizione, S. 146.

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schädigungsleistung an die Familien der Opfer verurteilt wurde, als besonders alarmierend.¹² Zum ersten Mal hatte ein italienisches Militärgericht Nebenkläger zugelassen, die von Deutschland Entschädigungsleistungen für die von deutschen Soldaten 1944 in Civitella begangenen Verbrechen gegen die Menschheit verlangten. Damit war das im internationalen Recht bisher übliche Prinzip der staatlichen Immunität durchbrochen und der Weg für weitere wirtschaftliche Forderungen der Geschädigten beschritten. In denselben Jahren, in denen die italienische Justiz ihre Tätigkeit gegen die Kriegsverbrecher wiederaufnahm, trat auch die Frage der unterbliebenen Abfindungen für die italienischen Militärinternierten (IMI) wieder auf den Plan. Nachdem sie bereits beim bilateralen Abkommen von 1961 über die Entschädigung für rassische und politische Opfer der nazionalsozialistischen Verfolgung ausgeschlossen worden waren,¹³ blieben sie auch 2001 nach anfänglichem Zugeständnis bei den Entschädigungen für die früheren Zwangsarbeiter durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ unberücksichtigt.¹⁴ Das Anrecht wurde ihnen aufgrund eines Rechtsgutachtens, welches das deutsche Finanzministerium beim Experten für internationales Recht, Christian Tomuschat, eingeholt hatte, wieder genommen; danach hatten die IMI auch nach ihrer 1944 erfolgten Klassifizierung als Zivilarbeiter ihren Status als Kriegsgefangene beibehalten.¹⁵ Was man den Italienern verweigerte, wurde allerdings bedenkenlos den polnischen Kriegsgefangenen gewährt, die ebenfalls als Zivilarbeiter eingestuft worden waren. Insgesamt sind über 1,6 Millionen frühere Zwangsarbeiter, zum größten Teil osteuropäische Arbeiter, von Deutschland entschädigt worden.¹⁶ Aus Italien kamen über 130.000 Anträge überwiegend von früheren Militärinternierten oder ihren Familienangehörigen, doch nur etwas mehr als 2.800 wurden positiv beschieden.¹⁷ Nachdem sie erneut mit leeren Händen ausge-

 De Paolis, La punizione, S. 135 f.  Von 12.673 Entschädigungen, die „von nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen betroffenen italienischen Bürgern gewährt worden waren“, gingen 8.275 an frühere Zivildeportierte, 3.321 an aus rassistischen Gründen Deportierte und nur 1.077 an Militärinternierte. Über 323.000 Anträge waren eingegangen, ungefähr 267.000 davon hatten Militärinternierte gestellt. Zuteilungskriterium war die erfolgte Internierung in einem Konzentrationslager; vgl. Filippo Focardi/Lutz Klinkhammer, Quale risarcimento alle vittime del nazionalsocialismo? L’accordo globale italo-tedesco del 1961, in: Italia Contemporanea 254, 2009, S. 23.  Vgl. Gabriele Hammermann, Le trattative per il risarcimento degli internati militari italiani 1945 – 2007, in: Italia Contemporanea 249, 2007, S. 541– 557.  Zu einer Kritik des Gutachtens Tomuschats vom 31. Juli 2001 vgl. Hammermann, Le trattative, S. 550 f.  Vgl. Schieder, Riflessioni, S. 427. Zum Thema vgl. auch Constantin Goschler, Die Bundesrepublik und die Entschädigung von Ausländern seit 1966, in: Hans Günter Hockerts [u. a.] (Hrsg.), Grenzen der Wiedergutmachung. Die Entschädigung für NS-Verfolgte in West- und Osteuropa 1945 – 2000. Göttingen 2006, S. 94– 146, hier S. 133 – 142.  Nach Gabriele Hammermann wurden 127.711 Anträge in erster Instanz abgelehnt und 2.845 angenommen. Wie bereits 1961 wurden nur die Anträge der IMI berücksichtigt, die in ein Konzentrationslager eingeliefert worden waren; vgl. Hammermann, Le trattative, S. 551.

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gangen waren, beschritten viele IMI den Rechtsweg und wandten sich nicht nur an das deutsche Verfassungsgericht und das Berliner Verwaltungsgericht, sondern auch an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg und den Internationalen Gerichtshof im Haag. Als all diese Bemühungen nichts fruchteten, gingen einige IMI vor die italienischen Zivilgerichte. Deutschland widersetzte sich dieser Initiative unter Berufung auf das Prinzip der staatlichen Immunität, wonach kein Staat in einem anderen Land vor Gericht zitiert werden kann und auch eine Urteilsvollstreckung ihm gegenüber nicht möglich ist. 2004 allerdings verweigerte das italienische Kassationsgericht Deutschland die gerichtliche Immunität, indem es ein Urteil bestätigte, mit dem das Gericht von Arezzo einem italienischen Staatsbürger, Luigi Ferrini, der in die deutschen Arbeitslager deportiert worden war, ein Recht auf Entschädigung zuerkannte.¹⁸ Daran schlossen sich etwa 50 weitere Zivilprozesse an, in denen ungefähr 250 Personen aus analogen Gründen eine Entschädigung von Deutschland forderten.¹⁹ In der öffentlichen Meinung waren die früheren IMI und ihre Verbände (ANRP und ANEI) nun stärker präsent:²⁰ Die Geschichtsschreibung und die Massenmedien hatten die Militärinternierten in den 90er Jahren wiederentdeckt und Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi (1999 – 2006), der in einem neo-patriotischen Impetus die Aufwertung des ethisch-politischen Erbes der Resistenza betrieb, würdigte ihre Leistung.²¹ Ausgehend von der Grundannahme, wonach die Resistenza für eine „Einheit von Volk und Streitkräften“ stand, hatte Ciampi sowohl die Rolle der Soldaten, die sich wie die Divisione Acqui auf Kefalonia mit der Waffe in der Hand den Deutschen widersetzt hatten, als auch die Bedeutung von den mehreren hunderttausend Militärinternierten hervorgehoben, die nach Gefangennahme und Deportation das Martyrium der Gefangenschaft auf sich genommen und sich geweigert hatten, Mussolinis RSI zu dienen. Nachdem die IMI für lange Zeit in der öffentlichen Debatte übergangen worden waren, konnten ihre Forderungen nun mit einer breiten öffentlichen Aufmerksamkeit in Italien rechnen. Zunächst fielen die konkreten Resultate jedoch bescheiden aus und gingen nicht über ein Gesetz vom Dezember 2006 hinaus, das den

 Vgl. das Urteil in Ferrini (n. 5044/04, Eingang am 11. 3. 2004), scienzepolitiche.unipg.it/tutor/uplo ads/ferrini_c__repubblica_federale_di_germania.pdf (letztmalig abgerufen am 25.10. 2016).  Der Hinweis entstammt der Rede, die der deutsche Botschafter Michael Steiner im März 2009 anlässlich der Einsetzung der Deutsch-Italienischen Historikerkommission gehalten hat, http://www. italien.diplo.de/contentblob/4204932/Daten/372004/hist_konf_rede_bo_pdf.pdf (letztmalig abgerufen am 25.10. 2015).  ANRP: Associazione nazionale reduci dalla prigionia, dall’internamento, dalla Guerra di Liberazione e loro familiari; ANEI: Associazione Nazionale Ex-Internati.  Vgl. Filippo Focardi, Präsident Ciampis „Krieg um die Erinnerung“, in: Neue Politische Literatur 52, 2007, S. 11– 24.

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Zwangsarbeitern in Deutschland, darunter auch den Militärinternierten, eine Ehrenmedaille zugestand.²² 2008 war ein regelrechtes annus horribilis für die deutsch-italienischen Beziehungen, die durch die Frage der Strafverfolgung der Kriegsverbrecher und das gleichzeitig auftauchende Problem der verweigerten Entschädigungszahlungen an die IMI auf eine harte Probe gestellt wurden. Eine Beschleunigung erfuhren diese Vorgänge durch eine Reihe von Verordnungen vom 29. Mai 2008, mit denen das Kassationsgericht das bereits dem Urteil im Fall Ferrini zugrundeliegende Prinzip bestätigte, wonach es legitim sei, zivilrechtliche Ansprüche gegenüber Deutschland geltend zu machen. Der engagierte Präsident der ANRP, Enzo Orlanducci, forderte von der italienischen und deutschen Regierung die Einrichtung einer bilateralen Kommission, „um unverzüglich die Fragen hinsichtlich der Entschädigungsanträge zu klären, die legitimerweise von den Ex-Deportierten und Militärinternierten gestellt worden waren.“²³ Anstatt die Forderungen der ANRP zu unterstützen, lehnte sich die die vierte von Berlusconi geleitete italienische Regierung an die deutsche Position an. Das ergab sich eindeutig aus einem am 20. Juni 2008 veröffentlichten Interview, das der damalige Außenminister Franco Frattini im Rahmen eines Deutschlandsbesuchs der Süddeutschen Zeitung gegeben hatte.²⁴ Frattini hielt die Entscheidung des Kassationshofes zugunsten der Entschädigungsanträge für „gefährlich“, untergrabe sie doch den Grundsatz der Staatenimmunität. Die früheren Zwangsarbeiter benötigten die 3.000 Euro (der ungefähre Mindestsatz, den das deutsche Entschädigungsgesetz vorsah) überhaupt nicht mehr, vielmehr ginge es um eine symbolische Geste, z. B. um eine gemeinsam von Italien und Deutschland gebaute Gedenkstätte oder um ein Museum der Erinnerung. Der italienische Außenminister betonte ausdrücklich, eine Aushebelung der Staatenimmunität – die aus der Anerkennung des Rechts der IMI auf Entschädigung folge – berge die Gefahr in sich, dass die von Italien in Afrika (Libyen und Äthiopien) und auf dem Balkan (Jugoslawien und Griechenland) besetzten Länder analoge Forderungen an Italien richteten.²⁵ Italien und Deutschland zeigten also ein gemeinsames Interesse daran, die Entschädigungsfrage zu blockieren. Die Worte des Ministers lösten heftige Reaktionen bei den Interessensverbänden der Militärinternierten aus. Orlanducci bezeichnete Frattinis Behauptungen als „gefährlich“ und bekräftigte, die Militärinternierten hätten ein Recht darauf, eine „an Gesetz Nr. 396 vom 27.12. 2006. Vgl. Medaglia d’Onore: Un riconoscimento morale per gli internati nei Lager nazisti, www.anrp.it/associazione/_finanziaria_2007.htm#articolo (letztmalig abgerufen am 29.9. 2016)  Vgl. Comunicato ANRP del 5 giugno 2008 – Cassazione. Per gli schiavi di Hitler Germania e Italia devono risarcire – Un atto di giustizia che riapre un nuovo contenzioso tra Roma e Berlino, http://www. anrp.it/associazione/_comunicati_ANRP.htm#5_06_2008 (letztmalig abgerufen am 29.9. 2016).  Ital. Übersetzung vgl. www.anrp.it/associazione/comunicati/frattini%20Sz%2020 %206 %2008. doc (letztmalig abgerufen am 29.9. 2016)  Die Nennung Jugoslawiens bezog sich selbstverständlich auf einige von dessen Nachfolgestaaten, in erster Linie auf Slowenien und Kroatien, mit denen es noch offene Fragen im Zusammenhang mit der italienischen Besetzung gab.

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gemessene Entschädigung“ zu verlangen.²⁶ Walter Merazzi, Leiter des Istituto di storia contemporanea in Como und Delegierter des Coordinamento degli enti e delle associazioni per il risarcimento del lavoro coatto bei der Internationalen Organisation für Migration (IOM), setzte sich für „eine Lösung ein, die eine formale Entschuldigung, die Anerkennung der Missbräuche und eine symbolische Entschädigungssumme umfasst“, um auf diese Weise einen „Punkt des Gleichgewichts“ zu finden.²⁷ Nach Merazzi sollte an einer solchen Lösung sowohl die deutsche als auch die italienische Regierung mitwirken. Tatsächlich forderte er auch die italienische Regierung auf, die eigene Verantwortung in der Frage der Militärinternierten einzugestehen und die „von allen Nachkriegsregierungen verfolgte Verdrängungspolitik“ aufzugeben, die sich in Frattinis Erklärungen mit „alarmierender Kontinuität“ fortsetze. Zwischenzeitlich war zur Frage der Wiedergutmachungsleistungen für die Militärinternierten auch die Frage der Entschädigung für die Opfer der nationalsozialistischen Massaker getreten. Denn am 29. Mai 2008 hatte der Kassationshof (Urteil Nr. 14.199) über die endgültige Vollstreckung des 1997 vom Athener Gericht gefällten Urteils entschieden, wonach Deutschland ungefähr dreißig Millionen Euro an die Angehörigen der Opfer des Massakers von Distomo, einem kleinen griechischen Dorf, in dem 1944 über 200 Personen getötet worden waren, zahlen sollte.²⁸ Nachdem die Umsetzung des Urteils in Griechenland blockiert worden war, wandten sich einige Familienangehörige an das Florentiner Gericht, das ihnen Recht gab.²⁹ Auf dieser Grundlage wurde die im deutschen Eigentum befindliche Villa Vigoni, Sitz eines bekannten deutsch-italienischen Kulturzentrums, mit einer Zwangshypothek belegt.³⁰ Daran orientiert bestätigte der Kassationshof am 21. Oktober 2008 das Urteil, das das Gericht von La Spezia im Prozess über das Massaker von Civitella gefällt hatte und mit dem Deutschland auferlegt worden war, einigen Angehörigen der Opfer eine Entschädigung in Höhe von 800.000 Euro zu zahlen. Im Verlaufe des Jahres 2008 wuchs aufgrund der Initiative der italienischen Gerichte in Deutschland die Befürchtung, eine Welle von Entschädigungsforderungen würde über das Land hereinbrechen, ausgelöst sowohl von den Angehörigen der Personen, die nicht nur in Italien, sondern auch in Griechenland (und potentiell im

 Vgl. die von Orlanducci verfasste Pressemitteilung der ANRP vom 21.6. 2008, http://www.anrp.it/as sociazione/_comunicati_ANRP.htm#com_interv_frattini (letztmalig abgerufen am 29.9. 2016).  „Comunicato del Centro di ricerca Schiavi di Hitler sulle dichiarazioni del ministro Frattini alla stampa tedesca“, 21.6. 2008. Im Netz abrufbar ad vocem; vgl. auch Andrea Tarquini, Gli „schiavi di Hitler“ contro la Farnesina, in: La Repubblica, 26.6. 2008.  Vgl. Constantin Goschler, Distomo und die Glokalisierung der Entschädigung. Vom griechischen Massakerort zum europäischen Erinnerungsort, in: Cryssoula Kambas/Marilisa Mitsou (Hrsg.), Die Okkupation Griechenlands im Zweiten Weltkrieg. Griechische und deutsche Erinnerungskultur. Köln [u. a.] 2015, S. 155 – 167.  Die Familienangehörigen wurden vom deutschen Rechtsanwalt Joachim Lau vertreten, der bereits die Rechte vieler italienischer Opfer des Nationalsozialismus verteidigt hatte.  Vgl. Federico Fubini, Berlino ricorre in Cassazione. „No all’ipoteca di Villa Vigoni“, in: Corriere della sera, 2.9. 2007.

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gesamten besetzten Europa) einem Massaker zum Opfer gefallen waren, als auch von den Militärinternierten oder ihren Familien, die einen Prozess gegen Deutschland angestrengt hatten, oder es zu tun beabsichtigten. In dieser angespannten Lage kam es schließlich Anfang November zu einem diplomatischen Zwischenfall; hervorgerufen hatte ihn ein Artikel des Korrespondenten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Heinz-Joachim Fischer, der den italienischen Staatspräsidenten Giorgio Napolitano wegen einiger während seines Besuches in El Alamein gemachter Äußerungen kritisierte und ihm im Wesentlichen vorwarf, einem unzeitgemäßen Antifaschismus zu huldigen.³¹ Ausdrücklich polemisierte er dabei gegen die italienische Resistenza und die Urteile des Kassationshofes. Zur selben Zeit focht Deutschland vor dem internationalen Gerichtshof im Haag die Urteilssprüche der italienischen Gerichte an, weil sie das Prinzip der Staatenimmunität verletzten.

Die Einsetzung der Kommission und ihr Mandat Am 18. November, wenige Tage nach Fischers bedenklichem Artikel, fand in Triest ein deutsch-italienisches Gipfeltreffen statt. In diesem Zusammenhang besuchten der deutsche Außenminister Frank Steinmeier und sein italienischer Kollege Franco Frattini das Lager Risiera di San Sabba und vollzogen damit – wie es in der gemeinsamen Erklärung heißt – „eine Geste von hohem moralischen und menschlichen Wert“, um „der italienischen Militärinternierten zu gedenken, die sich vor ihrer Deportation nach Deutschland in diesem Durchgangslager aufhielten, sowie aller Opfer, für die dieser Ort steht“³². Einleitend betonten sie die Gemeinsamkeit der „Ideale von Versöhnung, Solidarität und Integration, die das Fundament des europäischen Aufbauprozesses bilden“. In diesem Geiste der Zusammenarbeit, heißt es weiter, befassten sich die beiden Länder auch mit den „schrecklichen Ereignissen des Zweiten Weltkriegs; zusammen mit Italien erkennt Deutschland uneingeschränkt das immense Leid an, dass Italienern insbesondere bei Massakern und ehemaligen italienischen Militärinternierten zugefügt wurde, und erhält die Erinnerung daran aufrecht“. Die italienische Regierung respektiere „ihrerseits die deutsche Entscheidung, den Internationalen Gerichtshof anzurufen“, damit dieser sich mit Blick auf das Prinzip der Staatenimmunität über die italienischen Urteile äußere. All dies entsprach der vom Außenminister Frattini bereits im Interview mit der Süddeutschen Zeitung im vorhergegangenen Juni vorgezeichneten Linie: symbolische Gesten, um Solidarität mit den italienischen Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung auszudrücken, aber

 Vgl. Heinz-Joachim Fischer, Es wird wieder geschossen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.11. 2008. Von italienischer Seite vgl. Marzio Breda, La „Faz“ contro il Colle, scuse della Germania, in: Corriere della sera, 4.11. 2008.  Vgl. die „Gemeinsame Erklärung zum deutsch-italienischen Gipfel am 18. November 2008, www.ar chive-it-2012.com/open-archive/732963/2012-11-22/; www.villavigoni.it/index.php?id=169& L=2 (letztmalig abgerufen am 18. 3. 2016).

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gemeinsame Front zwischen Berlin und Rom bezüglich der heiklen Entschädigungsfrage. Im Rahmen des Gipfeltreffens von Triest kündigten die beiden Regierungen mit der Einrichtung einer bilateralen Historikerkommission eine weitere Initiative an, die darauf zielte, das durch das schwierige Erbe des Kriegs verursachte Unbehagen zu überwinden. Die Kommission wurde offiziell am 28. März 2009 im Rahmen eines bilateralen Treffens eingesetzt, das bezeichnenderweise in der mit einer Zwangshypothek belasteten Villa Vigoni stattfand. Die Wahl des Ortes stellte in gewisser Hinsicht eine politische Herausforderung der italienischen Gerichte durch die deutsche und italienische Regierung dar. Der deutsche Botschafter in Rom, Michael Steiner, erläuterte sowohl die Gründe, die die beiden Regierungen zur Einberufung der Kommission veranlasst hatten, als auch die Ziele, die sie damit verfolgten.³³ Eingebunden in einen „Reflexions- und Heilungsprozess, den es so in den deutsch-italienischen Beziehungen noch nicht gegeben hat“, seien Deutschland und Italien nun dazu aufgerufen, „offen, mutig und ernsthaft“ mit den von Steiner so benannten „Schatten einer bösen Vergangenheit“ umzugehen, „die immer noch auf unsere bilateralen Beziehungen fallen“³⁴. „Die unzureichende gemeinsame Aufarbeitung der deutsch-italienischen Vergangenheit und hallo […] des damaligen Umgangs mit den ungefähr 600.000 italienischen Militärinternierten“ stellte für den Botschafter „tatsächlich ein Problem“ dar. Die Massenmedien hätten dessen „öffentliche Resonanz“ in beiden Ländern noch erhöht, zum Teil unter Rückgriff auf einige zählebige „Stammtisch“-Stereotypen: Hier das Bild vom „herzlosen Deutschen“, dort der bornierte Einwand, den Italienern stünde mit Blick auf ihre eigene problematische Kriegsvergangenheit besser Schweigen an.³⁵ Deutschland und Italien sähen sich „einer schwierigen Gemengelage aus rechtlichen, politischen, moralischen und historischen Elementen“ gegenüber.³⁶ Allerdings sollte die juristische Dimension, auch wenn sie mit der politisch-moralischen Ebene verflochten war, nach Steiner gesondert, „parallel“ angegangen werden.³⁷ Es sei Aufgabe des Haager Internationalen Gerichtshofs, eine „juristische Klärung“ der von den italienischen Gerichten bestätigten Wiedergutmachungsforderungen herbeizuführen. Zur Vertiefung des politisch-moralischen Aspekts hingegen hätten die beiden Regierungen beschlossen, eine bilaterale Historikerkommission einzusetzen, die „sich eingehend und offen mit der deutsch-italienischen Kriegsvergangenheit und insbesondere dem Schicksal der italienischen Militärinternierten beschäftigen und auf diese Weise zur Schaffung einer gemeinsamen Erinnerungskultur beitragen soll“³⁸. Wenig später präzisierte Steiner, dass die Aufgabe der Kommission nicht so

 Vgl. Steiners Rede, www.archive-it-2012.com/open-archive/732963/2012-11-22/; http://www.villavi goni.it/index.php?id=225&L=2 (letztmalig abgerufen am 18. 3. 2016).  Ebd  Ebd.  Ebd.  Ebd.  Ebd.

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sehr darin bestehe, „historisches Teilwissen zusammenzutragen“, sondern vielmehr darin, „das historische Wissen so aufzuarbeiten, dass [a] wenn immer möglich, gemeinsame Deutungen der Geschichte angeboten und gemeinsam als irreführend empfundene historische Legenden entkräftet werden; [b] diese Deutungen dank eines gemeinsamen deutsch-italienischen Verständnisses an öffentlicher Wahrnehmung und Wirkung gewinnen; [c] Ansatzpunkte dafür aufgezeigt werden, wie Deutschland und Italien ihrem gesellschaftlichen Auftrag zur Schaffung einer gemeinsamen Erinnerungskultur nachkommen können.³⁹

Die im Anschluss an das Treffen verfasste Pressemitteilung beschrieb im Rückgriff auf Steiners Worte die Aufgabe der Kommission dahingehend, dass sie gemeinsam die deutsch-italienische Kriegsvergangenheit und insbesondere das Schicksal der italienischen Militärinternierten aufarbeiten und damit einen Beitrag zum Aufbau einer gemeinsamen Erinnerungskultur leisten solle.⁴⁰ Wie bereits gezeigt, hatte Steiner die Notwendigkeit betont, den von der Kommission erarbeiteten „gemeinsamen Deutungen der Geschichte“ eine „öffentliche Resonanz“ zu verschaffen, d. h. er hatte eine gemeinsame Erinnerungspolitik ins Auge gefasst, mit der sich die Schatten der Vergangenheit angehen und vertreiben ließen. Die Verbände, die die Interessen der Militärinternierten vertraten, reagierten zunächst ausgesprochen negativ auf die Einsetzung dieser Kommission. In einem Kommuniqué vom März 2009 kritisierte der Präsident der ANRP Orlanducci den von beiden Regierungen demonstrierten „rein rhetorischen Impetus zur ‚Wiedergutmachung‘“ und erklärte, dass für die sogenannten „Sklaven Hitlers“, die in die deutschen Lager deportiert worden waren, die Einsetzung der Historikerkommission nichts anderes als ein „reines Trostpflaster“ darstelle, handle es sich dabei doch um einen „Nebelschleier, hinter dem sich der Immunitätspakt der beiden Länder“ verberge.⁴¹ Orlanducci drückte den Wunsch aus, die Kommission möge entgegen des von ihr erhaltenen Auftrags auch die jüngste Frage der verweigerten Wiedergutmachung für die Angehörigen der Opfer der nationalsozialistischen Massaker, der Zivildeportierten und der als Zwangsarbeiter eingesetzten Militärinternierten, aufgreifen. Man hielt also an dem Ziel fest, Entschädigungen für diejenigen einzufordern, die bisher von der deutschen Wiedergutmachung ausgeschlossen waren.

 Ebd.  Il testo del comunicato, www.italien.diplo.de/contentblob/4204924/Daten/371997/hist_konf_cs _pdf.pdf (letztmalig abgerufen am 16.11. 2015).  Vgl. Enzo Orlanducci, Italia-Germania. Chiamano storici per nascondere il loro patto di impunità?, www.anrp.it/associazione/_comunicati_ANRP.htm#commissione (letztmalig abgerufen am 29.9. 2016).

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Der Abschlussbericht der Kommission und ihre Empfehlungen Die bilaterale Historikerkommission setzte sich aus jeweils fünf vom deutschen und italienischen Außenministerium bestimmten Mitgliedern zusammen. Die deutschen Wissenschaftler Wolfgang Schieder, Lutz Klinkhammer, Gabriele Hammermann, Thomas Schlemmer und Hans Woller haben sich alle durch Arbeiten zu grundlegenden Aspekten der Beziehungen zwischen dem faschistischen Italien und dem nationalsozialistischen Deutschland vor und während des Zweiten Weltkriegs ausgezeichnet. Die italienischen Gruppe mit Mariano Gabriele, Paolo Pezzino, Carlo Gentile, Valeria Silvestri und Aldo Venturelli ließ hingegen kritische Stimmen über ihre fachspezifischen Kompetenzen aufkommen, weil nur zwei Wissenschaftler, Gentile und Pezzino, einschlägige Forschungserfahrungen zu den in Frage stehenden Themenbereichen vorzuweisen hatten.⁴² Wie dem auch sei, die Kommission hat unter den beiden Präsidenten Wolfgang Schieder für Deutschland und Mariano Gabriele für Italien pflichtbewusst und sorgfältig gearbeitet. Nach den Worten Schieders ist es zu keinem Zeitpunkt zu Frontenbildungen zwischen den beiden nationalen Gruppen gekommen.⁴³ Die Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich einiger Fragen hatten immer eine sozusagen transnationale Dimension. Im Juli 2012 legte die Kommission einen Abschlussbericht vor, der im Dezember desselben Jahres im Rahmen einer Veranstaltung beim italienischen Außenministerium im Beisein des deutschen Außenministers Guido Westerwelle und seines italienischen Kollegen Giulio Terzi di Santa ʼGata der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.⁴⁴ Der Bericht enthält ein Vorwort, in dem der Auftrag, die Arbeit und die Ergebnisse kurz skizziert werden; es folgen die vier Kapitel Italiener und Deutsche zwischen 1943 und 1945, Die Perspektive der deutschen Soldaten, Die Erfahrungen der italienischen Bevölkerung mit der deutschen Besatzungsmacht, Die Erfahrungen der italienischen Militärinternierten; am Ende schließlich stehen die Empfehlungen der Kommission an die Regierungen der beiden Länder.⁴⁵ Drei Anlagen ergänzen die Kommissionsarbeit:

 Venturelli ist ein bekannter Germanist und Kenner der deutschen Literatur, Gabriele ein Experte für die Geschichte der italienischen Militärmarine, Valeria Silvestri eine junge Wissenschaftlerin, die sich mit den Menschenrechten befasst hat. Nach Nicola Labanca fehlte es der italienischen Gruppe vor allem an spezifischen Kompetenzen hinsichtlich der italienischen Militärinternierten; vgl. Nicola Labanca, La Commissione dal „Rapporto“, in: Italia Contemporanea 278, 2013, S. 456 – 481, hier S. 463.  Vgl. Schieder, Riflessioni, S. 427.  Zur Arbeit der Kommission vgl. neben der thematischen Vertiefung in Italia Contemporanea, 278, 2013 (mit Beiträgen von Wolfgang Schieder, Nicola Labanca und Mariano Gabriele) auch Christiane Liermann, Note su una Commissione storica italo-tedesca, in: Contemporanea 1, 2014, S. 165 – 172.  Bericht der von den Außenministern der Bundesrepublik Deutschland und der Italienischen Republik am 28. 3. 2009 eingesetzten Deutsch-Italienischen Historikerkommission. Der Bericht kann auf www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/633874/publicationFile/175272/121219-DeuItalHis torikerkommission-Bericht.pdf eingesehen werden.

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ein Inventar des Archivmaterials zur Geschichte der Militärinternierten; ein Sammelband autobiographischer Schriften von Militärinternierten, der für ein breiteres Publikum in Deutschland gedacht war; eine Datenbank zu den deutschen Gewaltverbrechen in Italien auf der Grundlage von Anzeigen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit von den italienischen Carabinieri aufgenommen worden waren. Die Kommission betonte zunächst vor allem, sie habe aufgrund der „kurzen Zeit und mit den beschränkten Mitteln, die ihr zur Verfügung standen“⁴⁶, keine systematischen Untersuchungen durchführen können und „von vorneherein“ darauf verzichtet, „eine Gesamtdarstellung der deutsch-italienischen Beziehungen im Zweiten Weltkrieg in Angriff zu nehmen.“⁴⁷ Es sei auch nicht ihre Aufgabe gewesen, die „komplexen erinnerungspolitischen Prozesse“, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland und Italien herausgebildet hätten, zum Gegenstand ihrer Arbeit zu machen. Sie hielt es überhaupt für fraglich, angesichts der so unterschiedlich angelegten nationalen Erinnerungskulturen kurzfristig zu einer – im Auftrag formulierten – „geschichtspolitische[n] Gemeinsamkeit“ gelangen zu können.⁴⁸ Als mögliches Ziel betrachtete die Kommission es, „jeweils den Blick für die andere Seite zu öffnen und nicht die eigene Sichtweise absolut zu setzen.“ Ihrer Meinung nach wäre schon „viel gewonnen, wenn in beiden Ländern nicht mehr exkulpatorische Interpretationen der Vergangenheit vorherrschten, sondern zunehmend selbstkritische Fragen gestellt würden“⁴⁹. Als heikelstes Moment betrachtete man auf jeden Fall die Notwendigkeit, die „dauerhafte Belastung“ der bilateralen Beziehungen durch die Kriegsereignisse zu überwinden. Obwohl die deutsche und italienische Geschichtsschreibung, so heißt es im Abschlussbericht, mittlerweile in der Deutung der von beiden Ländern während des Zweiten Weltkriegs gemachten Erfahrungen übereinstimmten, erinnere man sich in Italien und Deutschland „an zwei gänzlich verschiedene Vergangenheiten“⁵⁰. Dies sei der Bildung unterschiedlicher „Legenden“ geschuldet, die in den beiden Ländern einen besonders antagonistischen Charakter hatten“: in Deutschland eine Variante der Nachkriegslegende von der ‚sauberen‘ Wehrmacht, in Italien die „Monumentalisierung der Resistenza“⁵¹. Es handelt sich dabei um zwei gegensätzliche Legenden, die in beiden Ländern dieselbe exkulpatorische Funktion bedienten und auf diese Weise sozusagen das nationale Gewissen reinwuschen; der Preis bestand allerdings darin, dass sich in dem jeweiligen Land negative Klischees über den früheren Achsenpartner verbreiteten. In Deutschland entstand eine geschönte Erinnerung an das Verhalten während der zwanzigmonatigen Besatzung Italiens, die zum großen Teil von den autobiogra-

     

Ebd., S. 40. Ebd., S. 4. Vgl. Ebd., S. 11. Ebd., S. 41. Ebd., S. 12. Ebd., S. 12– 16.

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phischen Zeugnissen der wichtigsten deutschen Akteure auf höchster Ebene, so des Feldmarschalls Albert Kesselring und des Regierungsbevollmächtigten Rudolf Rahn, befördert wurde. Das Leid, das der italienischen Bevölkerung zugefügt wurde, und die an ihr verübten Verbrechen, die in Deutschland für lange Zeit nicht verfolgt wurden, blieben hier außen vor. Man betonte das korrekte Verhalten der Wehrmacht und dämonisierte eher das Vorgehen der italienischen Resistenza, der vorgeworfen wurde, einen erbarmungslosen und heimtückischen illegalen Krieg geführt zu haben. Nach diesem Narrativ war für einzelne, das deutsche Bild diskreditierende, illegitime Handlungen – vom Massaker der Fosse Ardeatine bis zu den Ereignissen in Monte Sole/Marzabotto – aussschließlich die SS verantwortlich; diese sich hartnäckig haltende Überzeugung wurde u. a. dadurch genährt, dass mit Herbert Kappler und Walter Reder zwei SS-Offiziere in Italien verurteilt worden waren und lange Zeit in italienischen Gefängnissen einsaßen.⁵² Der Topos vom italienischen „Verrat“ verstärkte überdies die negative Sicht auf den italienischen Widerstand und begriff darin das gesamte italienische Volk mit ein. Goebbels Propaganda hatte ihn nach dem September 1943 erfolgreich und mit bis heute anhaltender Wirkung in Umlauf gesetzt. Im Gegensatz dazu betrieb die italienische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg eine von Mariano Gabriele so benannte „Sakralisierung der Resistenza“⁵³, die sich ausschließlich auf die grausame Unterdrückung durch die Deutschen und den heroischen Kampf der Italiener gegen den deutschen Besatzer bezog. Dieses Bild hatten, so der Abschlussbericht, vor allem die Kommunisten und Sozialisten nach ihrem Ausschluss aus den Regierungen der nationalen antifaschistischen Einheit seit 1947 verbreitet; aus ihm leitete sich eine durch den manichäischen Gegensatz von den „guten Italienern“ und den „bösen Deutschen“ gekennzeichnete Kriegserfahrung ab, die den Italienern ermöglichte, der Auseinandersetzung mit der eigenen Verwicklung ins Achsenbündnis und mit dem Salò-Kollaborationismus auszuweichen.⁵⁴ Nach Ansicht der Kommission kann man der Verbreitung der Stereotypen und Legenden entgegensteuern, wenn man sie bei ihrem Namen nennt und „in ihrer historischen Bedingtheit“ erkennt.⁵⁵ Auch wenn sie sich dabei keineswegs „der Illusion hin[gibt], stereotype Vorurteile mit einem Schlag beseitigen zu können“⁵⁶, hielt sie es „für zwingend notwendig, auf beiden Seiten den Blick freizumachen für historische Verstrickungen und Verantwortlichkeiten“.⁵⁷ Auf deutscher Seite muss dabei der in der Öffentlichkeit vorherrschenden Gleichgültigkeit gegenüber den Leiden der Italiener in der Endphase des Zweiten Weltkrieges entgegengearbeitet werden. Dazu gehört vor allem auch die Wahrnehmung des erschreckenden Schicksals, das die

 Vgl. Ebd., S. 15.  Vgl. Mariano Gabriele, Riflessioni sui lavori della Commissione storica italo-tedesca 2008 – 2013. Dall’Italia, in: Italia Contemporanea 278, 2013, S. 437– 456, hier S. 440.  Vgl. Bericht, S. 16.  Vgl. Ebd., S. 18.  Ebd.  Ebd.

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italienischen Juden und die Zwangsdeportierten in den deutschen Konzentrationslagern, aber auch die nach Deutschland deportierten Soldaten des den Faschismus stützenden königlichen Heeres, die als sogenannte Militärinternierte zu Opfern des nationalsozialistischen Regimes geworden sind, erlitten haben. In Italien bedarf es des öffentlichen Eingeständnisses, dass die Diktaturregime Mussolinis und Hitlers seit 1936 im Zeichen der „Achse Rom-Berlin“ bündnispolitisch engstens zusammengearbeitet, seit 1940 in Frankreich, in Griechenland, in Jugoslawien, in Nordafrika und in der Sowjetunion gemeinsam Krieg geführt sowie in der RSI auch bei den dunkelsten Formen der Repression miteinander kooperiert haben. Zugespitzt gesagt müssten die Deutschen in ihrer historischen Erinnerungskultur anerkennen, dass die Italiener nicht nur Mittäter waren, sondern auch Opfer. Die Italiener ihrerseits müssten akzeptieren, dass die nicht nur Opfer waren, sondern in gewissem Umfang auch Helfershelfer und Mittäter.

Das Ziel ließe sich in den Augen der Kommission auf zwei Wegen erreichen: Der eine beruhe auf einer Kritik der exkulpatorischen Interpretationen durch Enthüllung ihres ‚mythologischen‘ Charakters; der andere bestehe in einer Dekonstruktion der „Vereinfachungen“ und „verbreiteten Vorurteile“ durch einen neuen, erfahrungsgeschichtlich begründeten historiographischen Ansatz, d. h. durch eine Geschichte der „gemeinsamen Kriegsvergangenheit“ aus dem Blickwinkel des individuellen Schicksals der italienischen und deutschen Kriegsteilnehmer. Die erste Option war nach Aussage der Kommission nicht über erste Ansätze hinausgekommen, denn von der Nachkriegszeit bis heute hatte man sich bewusst nicht mit der jeweiligen Erinnerungspolitik und -kultur auseinandergesetzt. Gangbar schien der Kommission hingegen die zweite Option, die über die im öffentlichen Diskurs der beiden Länder weit verbreiteten Stereotypen hinausging, insofern sie im Rückgriff auf zahlreiche autobiographische Quellen (Tagebücher, Briefe, in verschiedenen Zusammenhängen gesammelte Augenzeugenberichte) „auf die Pluralität und den ambivalenten Charakter der Erfahrungen ab[hebt], die Deutsche und Italiener während des Zweiten Weltkrieges miteinander gemacht haben.“ Im Vorwort heißt es: Die Kommission sieht einen vielversprechenden Weg darin, die deutsch-italienische Geschichte im Zweiten Weltkrieg über die Erlebnisse der Zeitgenossen erfahrungsgeschichtlich aufzuarbeiten. Dieser methodische Zugriff soll nicht zu einer Neubewertung der historischen Fakten führen, er soll aber auch die individuellen Interpretationen der Zeitgenossen berücksichtigen, welche diese den historischen Ereignissen gegeben haben. Das soll zu keiner Revision gültiger Geschichtsdeutungen oder gar zu einer Relativierung von deutschen Kriegsverbrechen in Italien führen, sondern eine zusätzliche historische Perspektive, besonders auch in Hinsicht auf die Opfer, eröffnen. Aus dem Spannungsverhältnis von struktureller historischer Bedingtheit und individueller Erfahrung ergibt sich nach Auffassung der Kommission ein anderer Blick auf die vielfältig verflochtene Geschichte der Deutschen und der Italiener im Zeichen von Diktatur und Krieg von der Ausrufung der „Achse Rom-Berlin“ durch Mussolini am 1.11.1936 bis zur Kapitulation der Wehrmacht in Italien am 2. 5.1945.⁵⁸

 Bericht, S. 4 f.

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In den drei zentralen Kapiteln des Berichts wird dieser methodische Zugriff auf die Erfahrungen der deutschen Soldaten in Italien, der italienischen Zivilbevölkerung mit der deutschen Besatzungsmacht und der italienischen Militärinternierten angewandt. Letztendlich ging es nach Nicola Labanca darum, das Bild „zu vertiefen, zu differenzieren und zu zerlegen“⁵⁹. Mit Blick auf die während des Zweiten Weltkriegs in Italien stationierten deutschen Soldaten (ungefähr eine Million) werden beispielsweise mindestens vier verschiedene „Erfahrungsräume“ angegeben, die es in ihrer jeweiligen Besonderheit zu untersuchen gelte: „Front“, „Hinterland“, „Partisanenkampf“, „Kriegsgefangenenlager“⁶⁰. Nur ein Teil der Soldaten sei an der gewaltsamen nationalsozialistischen Repressionspolitik, die im Partisanenkrieg gipfelte, beteiligt gewesen („nicht alle deutschen Divisionen in Italien [sind] von dieser Vernichtungsmentalität erfasst worden“)⁶¹. Es habe „Unterschiede im Verhalten“ gegeben, die beispielsweise aus Liebesverhältnissen zwischen italienischen Frauen und deutschen Soldaten herrührten oder mit dem weniger häufigen, aber bedeutsamen Phänomen der deutschen und österreichischen, sich teilweise den Partisanen anschließenden Deserteure zusammenhingen.⁶² Ebensowenig dürfe man die Erfahrungen der deutschen Zivilbeamten in Italien vernachlässigen. Auch die italienische Bevölkerung müsse differenziert betrachtet werden. Ihre Reaktionen gegenüber der Widerstandsbewegung seien „sehr viel komplexer“ gewesen, „als sich das in der späteren Erinnerung darstellte. Sie reichten von verdeckter Zustimmung und Unterstützung über Gleichgültigkeit bis hin zu deutlicher Ablehnung und offener Kampfansage.“⁶³ Eine „große Forschungslücke“ bestand in den Augen der Kommission ferner hinsichtlich der „Kollaboration von Italienern mit der deutschen Besatzungsmacht in der RSI“⁶⁴. Eine vertiefte erfahrungsgeschichtliche Untersuchung verdiente überdies die Haltung der katholischen Kirche gegenüber der deutschen Besatzung.⁶⁵ Dasselbe gilt auf einer allgemeineren Ebene für die Rekonstruktion des Alltagslebens im besetzten Land. Für die Mehrheit sei sie zweifellos vor allem von Gewalt geprägt gewesen,⁶⁶ wie sich nicht nur an den zahlreichen Verbrechen gegenüber der Zivilbevölkerung, sondern auch an der weit verbreiteten Furcht vor der Rekrutierung von Zwangsarbeitern für Deutschland zeige.⁶⁷ Aber nicht in allen italienischen Regionen sei diese Gewalt, die überdies auch nicht die einzige Erfahrung darstellte, zum Tragen gekommen. Andere Aspekte, beispielsweise die Rolle der Frau, müssten eingehender untersucht werden.⁶⁸ Ein

         

Labanca, La Commissione, S. 469 – 471. Vgl. Bericht, S. 61. Vgl. Ebd., S. 37. Vgl. Ebd., S. 37; 70; 121 f. Bericht, S. 30; 112– 120. Vgl. Ebd., S. 30. Vgl. Ebd., S. 31. Vgl. Ebd., S. 88 – 112. Vgl. Ebd., S. 32. Vgl. Ebd., S. 32 f.

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wichtiges erfahrungsgeschichtliches Untersuchungsfeld bildete schließlich das Problem der Militärinternierten in seinen verschiedenen Momenten, wie den Reaktionen auf Waffenstillstand, Entwaffnung und Überführung in ein Lager, der Option, sich der Republik von Salò anzuschließen, dem Lagerleben, das Hunger und Unterernährung mit sich brachte, der gemeinsamen Arbeit mit gewöhnlichen Deutschen, der Befreiung und Heimkehr.⁶⁹ Über den Vorschlag, die deutsch-italienische Kriegsvergangenheit erfahrungsgeschichtlich aufzuarbeiten, hinaus formulierte die Kommission in ihrem Bericht abschließend einige Empfehlungen.⁷⁰ Die ersten betreffen die Erinnerung an die italienischen Militärinternierten. Die Kommission hält es für notwendig, dass in Deutschland eine Gedenkstätte für die IMI und gleichzeitig in Italien analoge Erinnerungsstätten geschaffen werden. Insbesondere denkt sie dabei an einen Erinnerungsort in Berlin, wo der bereits vorhandene Gedenkort im ehemaligen Zwangsarbeiterlager in Niederschöneweide erweitert werden könnte.⁷¹ Mit Blick auf Italien verweist sie hingegen auf das von der ANEI (Associazione Nazionale degli Ex-Internati) in Padua eingerichtete Museum und wünscht sich, dass die italienische Regierung in Rom einen neuen Erinnerungsort für die IMI einrichten möge.⁷² Eine besonderes Gewicht erlangt im Kommissionsbericht die Erinnerungsstätte in Berlin-Niederschöneweide, der „zweierlei Funktionen“ zugeschrieben werden: Einerseits solle ein künstlerisch gestaltetes Denkmal an das Schicksal der IMI erinnern, andererseits solle sie wissenschaftliche und geschichtsdidaktische Aufgaben erfüllen. In diesem Zusammenhang empfiehlt die Kommission die Anlage eines „Totengedenkbuchs“, um darin alle italienischen Militärinternierten einzutragen, die in Deutschland oder in den vom nationalsozialistischen Regime kontrollierten Gebieten umgekommen sind, ferner die Einrichtung eines Photoarchivs mit den Orten, in denen die IMI interniert und wo sie als Zwangsarbeiter eingesetzt wurden, schließlich den Aufbau einer Dauerausstellung zur Geschichte der IMI und die Schaffung eines zentralisierten Informationssystems.⁷³ Überdies schlägt die Kommission die Einrichtung einer Deutsch-Italienischen Zeitgeschichtsstiftung mit der Aufgabe vor, die wissenschaftliche Erforschung des Verhältnisses von Deutschen und Italienern in der Zeit des Zweiten Weltkriegs systematisch zu fördern und die didaktische Vermittlung der daraus hervorgehenden wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Öffentlichkeit beider Länder dauerhaft zu sichern⁷⁴.

     

Vgl. Bericht, S. 127– 169. Vgl. Ebd., S. 171– 180. Vgl. Ebd., S. 172. Vgl. Ebd., S. 173. Vgl. Ebd., S. 173 f. Ebd., S. 176.

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An der Stiftung sollten sich – nicht näher bestimmte – deutsche und italienische Institutionen beteiligen, aber auch „Firmen und gesellschaftliche Organisationen […], die Militärinternierte seinerzeit in Deutschland beschäftigt haben“. Mit eigenem Stiftungskapital oder „eine[r] dauerhafte[n] öffentliche[n] Förderung“ versehen, sollte sie „verschiedene wissenschaftliche und geschichtsdidaktische Projekte“ unterstützen, „deren Auswahl durch ein deutsch-italienisches Kuratorium bestimmt und evaluiert wird“. Die Kommission hat auch einige von der Stiftung ihrer Meinung nach vorrangig zu betreibende Projekte angeregt, so vor allem die Erweiterung der von der Kommission schon bereitgestellten „dokumentarischen Basis“, die Erarbeitung einer Gesamtdarstellung über die Kriegsereignisse in den Jahren 1943 bis 1945, die Entwicklung der von der Kommission bereits vorgelegten, durch einen Atlas der Gewalt zu ergänzenden Datenbank zu den deutschen Gewalttaten und die Organisation einer geschichtsdidaktischen Wanderausstellung zur deutsch-italienischen Geschichte in der Zeit der Achse Rom-Berlin, „welche durch die Goethe-Institute in Italien und die Istituti di Cultura Italiana in Deutschland zirkulieren könnte“⁷⁵. Für „besonders wichtig“ hielt die Kommission auch die Einrichtung von Forschungsstipendien und die „regelmäßige Abhaltung von ‚Summerschools‘ zur deutschitalienischen Zeitgeschichte“⁷⁶. Über einen eigenen Fonds könne ferner die Übersetzung wissenschaftlicher Veröffentlichungen gewährleistet werden, während es in Zusammenarbeit mit zwei Historikervereinigungen, die sich mit den deutsch-italienischen Beziehungen befassen, d. h. die Arbeitsgemeinschaft für die neueste Geschichte Italiens und die Società italiana per la storia contemporanea dell’area di lingua tedesca (Siscalt), vorstellbar sei, ein gemeinsames historisches Forum zu schaffen.⁷⁷ Nach Ansicht der Kommission ermöglicht „die Realisierung der hier vorgelegten, in enger gegenseitiger Abstimmung entstandenen Empfehlungen“, dass „in Deutschland und Italien festgefahrene Stereotype dauerhaft“ überwunden und die „durch Krieg, Besatzung und Deportationen hervorgerufenen Konflikte und Traumata“ aufgearbeitet werden„⁷⁸. Zur Umsetzung dieser Vorschläge wünscht sie sich die Bereitstellung angemessener Finanzierungen, die „Investitionen in eine europäische Zukunft“ gleichkämen.⁷⁹

    

Bericht, S. 176 – 178. Ebd., S. 178 f. Vgl. Ebd., S. 179. Ebd. Vgl. Ebd., S. 171.

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Mythen, Erinnerungen, Stereotypen. Überlegungen zum Abschlussbericht der Kommission Vor einer Erörterung der Kommissionsempfehlungen und ihrer Aufnahme durch die beiden Regierungen seien einige Erwägungen zum Inhalt des Abschlussberichtes und insbesondere zu dem Teil, welcher der Erinnerung des Zweiten Weltkriegs gewidmet ist, vorausgeschickt. Wie bereits angedeutet, ging es der Kommission nicht darum, die in den beiden Ländern von 1945 bis heute verfolgte Erinnerungspolitik zu rekonstruieren; ihr reichte es hervorzuheben, dass die heute noch in der gegenseitigen Wahrnehmung wirkenden Vorurteile und Stereotypen in der Legende von der „sauberen Wehrmacht“ und im Resistenza-Mythos wurzeln. Nicola Labanca hat scharfsichtig erkannt, dass die Kommission dahin tendierte, die beiden Legenden als „analog und gleichwertig“ zu betrachten.⁸⁰ Nun mag es stimmen, dass sie in „der deutschen und italienischen Nachkriegszeit ähnliche Legitimationsfunktionen“ erfüllten, „gleichwertig“ waren sie jedoch keineswegs. Zweifellos stimmt das Bild von der Wehrmacht nicht, denn sie hat in Italien keinen sauberen, sondern einen schmutzigen, von zahlreichen Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung begleiteten Krieg geführt.⁸¹ Die Glorifizierung der Resistenza seitens der antifaschistischen Parteien gründet hingegen in dem hartnäckigen nationalen Befreiungskampf, der zwischen September 1943 und April 1945 in den Gebieten, welche die Deutschen und SalòFaschisten besetzt hatten, immer größere Segmente der italienischen Gesellschaft erfasste. Die Resistenza war zweifellos nicht so heldenmutig und wurde auch nicht so umfassend unterstützt, wie bestimmte Beschreibungen suggerieren, nach welchen das gesamte Volk „in den Untergrund“ gegangen sei, doch immerhin gehörte sie zu den mächtigsten europäischen Widerstandsbewegungen, war in Westeuropa sogar die stärkste. Schon vor Längerem hat selbst die antifaschistisch orientierte Geschichtsschreibung die Resistenza kritisch durchleuchtet und entmythologisiert, dabei weder ihre politischen und militärischen Schwächen noch ihr schwieriges, schwankendes Verhältnis zur Bevölkerung verschwiegen, ohne dabei jedoch in irgendeiner Form anzuzweifeln, dass sie in der Geschichte des Landes eine wichtige Rolle spielte. Der Bericht tendiert hingegen dazu, sich auf ihre Schwachpunkte zu konzentrieren und gelangt damit zu einer verkürzten Beurteilung. An einigen Stellen scheinen in der Tat Positionen durch, die in den 90er Jahren Romolo Gobbi und Renzo De Felice während des Revisionismusstreits vertreten hatten, wonach es sich bei den Partisanen und den Salò-Faschisten um zwei „aktive Minderheiten“ gehandelt habe, die sich verbissen

 Vgl. Labanca, La Commissione, S. 476.  Aus der umfangreichen italienischen und deutschen Literatur seien hier nur genannt: Michele Battini/Paolo Pezzino, Guerra ai civili. Occupazione tedesca e politica del massacro. Toscana 1944. Venedig 1997; Lutz Klinkhammer, Stragi naziste in Italia 1943 – 44. Rom 1997; Gerhard Schreiber, Deutsche Kriegsverbrechen in Italien. Täter – Opfer – Strafverfolgung. München 1996; Carlo Gentile, Wehrmacht und Waffen-SS im Partisanenkrieg. Italien 1943 – 1945. Paderborn 2012.

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bekämpften, während die übergroße Mehrheit der italienischen Bevölkerung, die sogenannte „Grauzone“, nur den Krieg unversehrt überstehen wollte;⁸² Vor allem im ersten Kapitel ist De Felices Sichtweise deutlich erkennbar.⁸³ Auf der anderen Seite wird insbesondere im Kapitel über die Erfahrungen der italienischen Bevölkerung mit der deutschen Besatzung zu Recht festgestellt, dass die Partisanenbewegung im Volk auf zunehmende Unterstützung gestoßen sei, während Mussolinis Salò-Republik am Ende fast völlig isoliert war.⁸⁴ Es geht hier nicht darum, historiographische Dispute auszulösen.Vielmehr sei ein weiterer Aspekt vertieft, d. h. die Funktion, die der Mythos der Resistenza in der Nachkriegszeit ausgeübt hat. Der Kommission ist darin zuzustimmen, dass die Glorifizierung der Resistenza zu einem mit vereinten Kräften geführten nationalen Kampf den Blick der Italiener von der vorausgegangenen engen Kooperation zwischen dem faschistischen Italien und dem nationalsozialistischen Deutschland abgelenkt hat. D. h., die Widerstandsbewegung diente – auch wenn es zumeist nicht intendiert war – als Alibi zur Läuterung von der Schuld, die Italien unter Mussolini auf sich geladen hatte. Dieses Bestreben erwuchs im übrigen nicht nur aus dem Erfordernis der linken Parteien, sich innenpolitisch zu legitimieren, wie es im Abschlussbericht heißt, sondern auch aus dem von allen Regierungen der nationalen Einheit verfolgten Wunsch, einen Straffrieden für das Land zu vermeiden.⁸⁵ Italien forderte, nach den Verdiensten seiner Partisanen und nicht nach den Untaten Mussolinis beurteilt zu werden. Aber es führt in die Irre, will man die Herausbildung des Stereotyps vom „bösen Deutschen“ und – damit zusammenhängend – vom „guten Italiener“ ausschließlich der Resistenza-Erinnerung zuschreiben. Die Resistenza zeichnete zweifellos eine antideutsche Grundhaltung aus, die all ihre politischen und kulturellen Komponenten einte, und vor allem in der Adenauerzeit griff die Linke mit Blick auf Westdeutschland wiederholt auf das negative Stereotyp vom „bösen Deutschen“ zurück, doch zumindest der besonnenere Teil ihrer Eliten bemühte sich fortwährend, zwischen dem Deutschland der Braunhemden und dem demokratischen „anderen Deutschland“ zu unterscheiden, das kein Anhänger, sondern ein Opfer des Nationalsozialismus gewesen sei.⁸⁶ Überdies trugen noch andere Akteure zur dauerhaften Durchsetzung des doppelten Stereotyps bei, so jene heute als „anti-antifaschistisch“ bezeichneten kulturellen Segmente, die von der in der unmittelbaren Nachkriegszeit starken Bewegung des Uomo qualunque bis zu den nationalkonservativen Kreisen und zum Antifaschismus selbst reichten – ein buntgemischtes politisches und kulturelles Universum, welches sich dadurch auszeichnete, dass es Mussolini während

 Vgl. Romolo Gobbi, Il mito della Resistenza. Mailand 1992; Renzo De Felice, Rosso e nero. Mailand 1995; Ders., Mussolini l’alleato. La guerra civile 1943 – 1945. Turin 1997.  Vgl. Bericht, S. 26 f.  Vgl. Ebd., S. 112– 120.  Vgl. Filippo Focardi, Falsche Freunde? Italiens Geschichtspolitik und die Frage der Mitschuld am Zweiten Weltkrieg. Paderborn 2015, S. 82– 110.  Vgl. Ebd., S. 201– 233.

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des Ventennio vorbehaltlos unterstützt hatte. All diese Kräfte haben entschieden daran mitgewirkt, dass sich in der kollektiven Erinnerung die Gegenüberstellung vom „guten Italiener“ und dem „bösen Deutschen“ verbreitete, wobei zu den erstgenannten auch der „gute Kerl Mussolini“ gezählt und dem deutschen, in Adolf Hitler personifizierten „Genius des Bösen“ gegenübergestellt wurde.⁸⁷ Der Vergleich mit dem grausamen, blutrünstigen Deutschland dient also bis heute dazu, ein geschöntes, gefälliges Bild vom Faschismus zu entwerfen. Es ist meines Erachtens bezeichnend, dass die Neuauflage der antideutschen Stereotypen, wie sie in den letzten Jahren im Zuge der durch die ökonomische Krise hervorgerufenen Ressentiments in Italien – und in anderen Ländern – beobachtet werden konnte, ihre wichtigste Plattform in den Massenmedien fand, die dem rechten politischen Spektrum angehörten und gewiss nicht in der antifaschistischen Kultur beheimatet waren.⁸⁸ Gerade diejenigen, die in den letzten zwanzig Jahren heftigst gegen den Resistenza-„Mythos“ polemisiert hatten, zeigten nun in schärfster Form antideutsche Gefühle. Um zu beurteilen, ob die von der Kommission formulierten Vorschläge zur Umorientierung der Sache dienen und gangbar sind, ist es angebracht, auch einen Blick auf die Erinnerungskulturen zu werfen, wie sie sich jeweils in Italien und in Deutschland entwickelt haben. Zweifellos fügt sich der Wunsch, den „Mythos von der sauberen Wehrmacht“ zu überwinden, sehr gut in die moderne deutsche Erinnerungskultur ein. Nun muss es darum gehen, die Prozesse, die in Deutschland verdienstvollerweise ab der zweiten Hälfte der 90er Jahre und insbesondere nach der Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht eingeleitet wurden, auch auf Italien auszudehnen. Die italienischen Ereignisse kamen in der Ausstellung nicht vor, da diese sich auf die an der Ostfront begangenen Kriegsverbrechen konzentrierte. Gleichwohl hat in Deutschland das Wissen über die Kriegsverbrechen in Italien große Fortschritte gemacht, wozu sowohl die Geschichtsforschung als auch die Behandlung des Themas in den Massenmedien beigetragen hat; man denke nur an die Publikationen und Fernsehsendungen, die das Massaker von Kefalonia behandeln.⁸⁹ In der öffentlich-institutionellen Erinnerung Italiens hingegen hat die Resistenza eine Schlüsselrolle behalten, auch wenn seit Mitte der 90er Jahre und zumindest bis 2011, als die letzte Regierung Berlusconi fiel, beständig versucht worden war, ihr Bild zu demontieren.⁹⁰ Während in der Bundesrepublik von Anfang an eine im Antitota-

 Vgl. Filippo Focardi, Die Unsitte des Vergleichs. Die Rezeption von Faschismus und Nationalsozialismus in Italien und die Schwierigkeiten, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen, in: Gian Enrico Rusconi/Hans Woller (Hrsg.), Parallele Geschichte? Italien und Deutschland 1945 – 2000. Berlin 2006, S. 106 – 139.  Unter den zahlreichen möglichen Beispielen sei hier die Polemik zwischen dem „Giornale“ und dem „Spiegel“ in den Tagen nach dem Schiffbruch der Costa Concordia im Januar 2012 erwähnt; vgl. Alessandro Sallusti, A noi Schettino, a voi Auschwitz, in: Il Giornale, 27.1. 2012.  Lutz Klinkhammer, Crimini della Wehrmacht. La memoria di Cefalonia in Germania, in: Camillo Brezzi (Hrsg.), Né eroi, S. 163 – 186.  Focardi, Il passato conteso, S. 51– 90.

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litarismus wurzelnde und den Antifaschismus als ideologische Basis der DDR verurteilende nationale Erinnerung entstand, die vom wiedervereinigten Deutschland fortgesetzt wurde, stützte sich die nationale Erinnerung in Italien auf das auf der Resistenza beruhende antifaschistische Paradigma, das nach 1945 verschiedene Konjunkturen durchlaufen hatte und, obgleich entschieden bekämpft, zu keinem Zeitpunkt verdrängt oder ersetzt worden war. Es widerstand auch den heftigsten Angriffen seitens des Revisionismus und fand einen wirksamen institutionellen Schutz durch den Staatspräsidenten. Im Zusammenhang mit den Gedenkfeiern zum 70. Jahrestag der Befreiung im Jahr 2015 waren im Übrigen Signale eines energischen Versuchs spürbar, die Resistenza als Grundpfeiler der nationalen Erinnerung neu zu stärken.⁹¹ Die Entmythisierung der Resistenza – die bereits in erheblichem Maße stattgefunden hat – bietet also keinen gangbaren Weg, um eine Neutralisierung der negativen Stereotype über die Deutschen zu erreichen und eine „gemeinsame Erinnerungspolitik“ aufzubauen. Eine Aussöhnung über die Vergangenheit kann nicht von der unterschiedlichen Basis absehen, auf der die jeweilige nationale Erinnerung ruht: auf der einen Seite der Antitotalitarismus, auf der anderen Seite die antifaschistische Resistenza. Der Fortbestand, vielleicht sogar das Wiederaufleben des Resistenza-Gedenkens, befördert allerdings nicht zwangsläufig die Verbreitung antideutscher Stereotypen und Gefühle, wenn diese – natürlich – selbstlobende Erinnerung durch eine selbstkritische Erinnerung an die italienische Verantwortung für den Faschismus, den Achsenkrieg und die in den besetzten Gebieten in Europa und Afrika begangenen Verbrechen ergänzt wird. In diese Richtung weisen und bewegen sich schon längst Historiker und Intellektuelle, Vereinigungen und Einrichtungen antifaschistischer kultureller Herkunft.

Welcher Weg für die deutsch-italienische Aussöhnung? Die Empfehlungen der Kommission und die Entwicklung der bilateralen Beziehungen Einige Monate vor der Übergabe des Abschlussberichtes in Rom am 19. Dezember 2012 hatte der Internationale Gerichtshof im Haag sein Urteil verkündet (3. Februar 2012), wonach Italien die Immunität verletzt hatte, die der Bundesrepublik nach den Bestimmungen des internationalen Rechts zustünde. Damit wurden auch die Entscheidungen aufgehoben, mit denen die italienischen Gerichte Deutschland zu Entschädigungszahlungen für die Opfer der Massaker und für die zur Zwangsarbeit ver-

 Zu diesen Signalen zählen der entschiedene Einsatz des neuen Staatspräsidenten Sergio Mattarella und das ebenso nachhaltige Engagement des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, wie es im Programm „Viva il 25 aprile!“ zum Ausdruck kommt, das RAI Uno am frühen Abend live übertragen hat.

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pflichteten Militärinternierten verurteilt hatte.⁹² Unter Punkt 99 hatten die Richter jedoch „Überraschung“ und „Bedauern“ über die Behandlung der IMI geäußert, denen 1943 der Kriegsgefangenenstatus verweigert worden war und die man im Jahr 2000 von den Zuwendungen der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ mit der Begründung ausgeschlossen hatte, dass es sich bei ihnen um Kriegsgefangene gehandelt habe. Unter Punkt 104 deuteten sie ferner an, dass die Forderungen der IMI und anderer italienischer Staatsbürger „Gegenstand weiterer Verhandlungen“ zwischen Italien und Deutschland sein könnten. Für Berlin war damit der Rechtsstreit entschieden und die Entschädigungsfrage vom Tisch. Ähnlich sah es die Regierung Monti in Italien. In der italienischen Öffentlichkeit kam es hingegen zu zahlreichen negativen Reaktionen in den Zeitungen und seitens der Verbände der IMI,⁹³ die für die verletzten Rechte der italienischen Opfer eintraten;⁹⁴ die römische Regierung wurde – unter Einbeziehung des Parlaments –⁹⁵ aufgefordert, in der Entschädigungsfrage mit Berlin sofort in politische Verhandlungen einzutreten. Die ersten Antworten auf die Veröffentlichung des Kommissionsberichts gingen in diese Richtung. Nachdem bei der offiziellen Übergabe des Abschlussberichts die beiden Außenminister Westerwelle und Terzi di Sant’Agata gesprochen hatten, würdigte der Senator Carlo Smuraglia, Präsident der Associazione Nazionale Partigiani d’Italia (ANPI), die Arbeit der Historikerkommission positiv, fügte aber hinzu, es könne sich dabei bloß um einen „Ausgangspunkt“ und nicht um einen „Zielpunkt“ handeln.⁹⁶ Nach Smuraglia durfte sich die auch von Westerwelle bekräftigte „Übernahme der Verantwortung“ gegenüber den italienischen Opfern des Nationalsozialismus nicht auf eine „formale Anerkennung“ beschränken, sondern sollte in „konkrete Gesten“ und „Wiedergutmachungsmaßnahmen“ münden. Nicht zwangsläufig dachte er dabei an Entschädigungszahlungen zugunsten der Opfer oder ihrer Familienangehörigen. Vielmehr hatte er im Auge, „öffentliche Arbeiten“ in den von den deutschen Gewalttaten betroffenen Gemeinden zu finanzieren, trat für die Förderung eines Atlas der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen ein, den der von ihm vertretene Verband in Zusammenarbeit mit dem Istituto nazionale per la storia del mo-

 Das Urteil lässt sich nachlesen auf der Seite www.icj-cij.org/docket/files/143/16883.pdf (letztmalig abgerufen am 10.10. 2016).  Vgl. beispielsweise Enzo Collotti, Memoria senza diritti, in: Il Manifesto, 7. 2. 2012; Fausto Pocar, La sentenza dell’Aja non convince, in: Il Sole24ore, 5. 2. 2012.  Enzo Orlanducci, I diritti degli Stati prevalgono sui diritti umani, in: Rassegna della ANRP, 1/2, 2012, S. 3 f.  Vgl. die parlamentarische Anfrage „über die Verhandlungen mit Deutschland bezüglich der Entschädigungsmöglichkeiten zugunsten der Opfer nationalsozialistischer Verbrechen“, die die Senatoren des Partito democratico, Mariangela Barbolini und Giuliano Bastico, am 9. Februar 2012 im Senat einreichten. Den Wortlaut der Anfrage und die (negative) Antwort des Staatssekretärs im Außenministerium, Marta Dassù, auf der Webseite: www.senato.it/japp/bgt/showdoc/frame.jsp?tipodoc=Re saula&leg=16&id=00627427&part=doc_dc-allegatob_ab-sezionetit_icrdrsatto_406841&parse=no (letztmalig abgerufen am 10.10. 2016).  Vgl. Smuraglias Rede, in: Patria Indipendente 1, 2013, S. 2– 4.

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vimento di liberazione in Italia (INSMLI) bereits angelegt hatte, und forderte von Deutschland die Vollstreckung der Strafurteile, die die italienische Militärgerichtsbarkeit gegen deutsche Kriegsverbrecher gefällt hatte. Auch die kämpferischste unter den Organisationen der IMI, die ANRP, bezog eine ähnliche Position. Deren Vorsitzender Orlanducci betonte,⁹⁷ die IMI fänden in Deutschland und Italien nun endlich, dank der Arbeit der Kommission und dank der Vorschläge, in Berlin und Rom Gedenkstätten zu errichten, eine angemessene Entschädigung (die IMI „treten in die Geschichte ein“). Orlanducci hielt allerdings auch nicht mit Kritik zurück: Er beklagte, dass die Kommission sich nicht mit dem juristischen Problem der Entschädigungen befasst habe, und im Zusammenhang mit dem im Haag verhandelten Streitfall merkte er an, Deutschland habe mit dem Ausschluss der IMI von den Entschädigungen im Jahr 2000 „nicht weniger als 100 Millionen Euro“ gespart. Die ANRP würdigte also die von der Kommission empfohlene Erinnerungspolitik, ohne jedoch auf die Möglichkeit zu verzichten, Verhandlungen über die Entschädigungen zu führen. Welche Auswirkungen hatten die Empfehlungen der Kommisison? Und allgemeiner, welche Richtung hat die deutsch-italienische Zusammenarbeit mit Blick auf eine „gemeinsame Erinnerungskultur“ genommen? Das deutsche Parlament hat 4 Millionen Euro für die Gründung eines „deutschitalienischen Zukunftsfonds“ bereitgestellt, der von der Deutschen Botschaft in Rom verwaltet wird und dazu gedacht ist, eine Reihe von Vorhaben zu fördern. Dazu gehören einige von der Historikerkommission vorgeschlagene Projekte, so die neuen Gedenkstätten für die IMI in Berlin-Niederschöneweide und in Rom oder der von der ANPI und der INSMLI erarbeitete Atlas der Gewalt,⁹⁸ aber auch Gedenkinitiativen, welche von den italienischen Opferverbänden und den Gemeinden, die der nationalsozialistischen Gewalt ausgesetzt waren, entwickelt werden sollen. Da es zu all dem keine vollständige öffentliche Dokumentation gibt, lassen sich hier nur einige im Netz gefundene Beispiele nennen. So wurde die neue Webseite des „historischen“ Verbands der Internierten, die ANEI, aus diesem Fonds finanziert.⁹⁹ Auch die Einrichtung eines digitalen Erinnerungsarchivs in Bucine, einem Ort in der toskanischen Provinz Arezzo, zum Massaker im Ortsteil San Pancrazio wurde gefördert.¹⁰⁰ Für zwei Ausstellungen über die IMI flossen ebenfalls Gelder. In der Berliner Gedenkstätte wurde damit eine Dauerausstellung finanziert; bei der anderen handelt es sich um die Ausstellung „Vite di IMI. Percorsi di vita dal fronte di guerra ai lager tedeschi 1943 –

 Enzo Orlanducci, Internati militari italiani finalmente nella storia?, in: Rassegna della ANRP, 1/2, 2013, S. 3 – 5.  In dieses Projekt fließen auch Gelder von italienischer Seite. Auch die neue IMI-Gedenkstätte in Rom wird unter italienischer Beteiligung errichtet (ihren Sitz hat das Verteidigungsministerium zur Verfügung gestellt).  Vgl. anei.it/benvenuti (letztmalig abgerufen am 10.10. 2016).  Vgl. valdarnopost.it/news/archivio-digitale-della-memoria-di-san-pancrazio-sabato-inaugura zione-del-progetto-finanziato-dalla-collaborazione-tra-italia-e-germania (letztmalig abgerufen am 10.10. 2016).

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1945“, die von der ANRP bei ihrem römischen Sitz organisiert worden war und von Februar bis Mai 2015 geöffnet war.¹⁰¹ Die ANRP hat für zwei weitere Projekte, für die Erstellung eines Registers der in den nationalsozialistischen Lagern umgekommenen IMI und für die Erarbeitung eines online konsultierbaren Biographischen Wörterbuchs der IMI,¹⁰² Fördergelder erhalten. Wie sich aus dem hier skizzierten, zweifellos partiellen Bild ergibt, blieb die Idee der Kommission, eine deutsch-italienische Stiftung zu gründen, die systematische Forschungsaktivitäten über die „deutsch-italienische Kriegsvergangenheit“ auch zu populärwissenschaftlichen und didaktischen Zwecken entwickeln und koordinieren sollte, völlig unbeachtet. Nun haben sich in diesem Zusammenhang schon von Anfang an kritische Stimmen erhoben, die auf die Gefahr verwiesen, eine neue kostspielige Einrichtung zu schaffen, während es bereits konsolidierte Institutionen gibt, deren Aufgabe die Erforschung der Geschichte der deutsch-italienischen Beziehungen ist, so das Studienzentrum Villa Vigoni, das Deutsche Historische Institut in Rom, das Münchener Institut für Zeitgeschichte und das Mailänder Insmli.¹⁰³ Aber auch die Kritiker dieses Plans betonten die Notwendigkeit einer regelmäßigen Förderung von Forschungs- und historisch-didaktischen Projekten, die von einem deutsch-italienischen wissenschaftlichen Ausschuss geprüft werden sollten. Nicht nur von der Stiftung, auch von diesen bilateral koordinierten historisch-wissenschaftlichen Aktivitäten fehlt jede Spur. Mit der Stiftung hat man anscheinend auch alle anderen damit zusammenhängenden Vorschläge fallengelassen, so die Einrichtung eines Übersetzungsfonds, die Bereitstellung von einschlägigen Stipendien und die Durchführung von Summerschools, die Organisation eines dauerhaften Diskussionsforums zwischen der Arbeitsgemeinschaft und der Siscalt. Völlig untergegangen ist schließlich das Projekt einer großen Wanderausstellung zur deutsch-italienischen Geschichte während des Achsenbündnisses (1936 – 1945), die nach den Vorstellungen der Kommission in den Goetheinstituten und den italienischen Kulturinstituten hätte zirkulieren können. Seitens der beiden Regierungen wurden die Empfehlungen der Kommission nur sehr bruchstückhaft aufgenommen, wobei man in erster Linie die Bedürfnisse der Verbände und der Gemeinden berücksichtigte, die noch schwer an der „Erbschaft“ der nationalsozialistischen Besetzung tragen. In diese Richtung zielte auch die Entscheidung für eine offizielle Erinnerungspolitik, die sich in einer Reihe von Staats-

 Vgl. www.giornidistoria.net/percorsi-di-vita-dal-fronte-di-guerra-ai-lager-tedeschi-1943 – 1945/ (letztmalig abgerufen am 10.10. 2016).  Vgl. Gustavo Bellocchio, Vite di internati militari. Una mostra ne ripercorre le vicende, in: Instoria 86, 2015, abrufbar auf der Webseite www.instoria.it/home/mostra_internati_militari.htm (letztmalig abgerufen am 10.10. 2016). Hinweise auf bereits realisierte oder noch zu realisierende Projekte der ANRP finden sich auch in der Rede, die die neue deutsche Botschafterin, Marianne Wasum-Reiner, am 7. Oktober 2015 vor dem Senat gehalten hat; vgl. www.italien.diplo.de/Vertretung/italien/de/02-rom/ Events/2015 __10__07__IMI.html (letztmalig abgerufen am 10.10. 2016).  Vgl. Labanca, La Commissione, S. 474.

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besuchen an den Orten der nationalsozialistischen Massaker äußerte. Unter Wiederaufnahme einer Praxis, die der damalige Bundespräsident Johannes Rau in Begleitung des italienischen Staatspräsidenten Ciampi 2002 mit dem Besuch in Marzabotto eingeleitet hatte, entwickelten Berlin und Rom seit 2012 eine Politik der Versöhnung, die auf derartigen gemeinsamen Initiativen beruhte; die wichtigsten davon waren das Treffen zwischen dem deutschen Staatspräsidenten Gauck und seinem italienischen Kollegen Giorgio Napolitano am 24. März 2013 in Sant’Anna di Stazzema und die Zusammenkunft vom 29. Juni 2014 zwischen den beiden Außenministern Frank-Walter Steinmeier und Federica Mogherini in Civitella in Val di Chiana. Beide Besuche vollzogen sich in einem Klima größter emotionaler Intensität, trafen hier doch die Vertreter des deutschen Staats auf die betagten Überlebenden der Massaker, die, tief bewegt, Gaucks und Steinmeiers Trauer und Bitte um Verzeihung für das von deutschen Soldaten während des Kriegs verübte Leid würdigten. Gleich zehnmal erklang in der kurzen Rede Gaucks der Appell zur Versöhnung,¹⁰⁴ während Steinmeier in italienischer Sprache betonte, die „Orte des Schreckens“ – Civitella, Sant’Anna di Stazzema und Marzabotto – seien mittlerweile auch zu „Orten der Begegnung und der Versöhnung“ geworden.¹⁰⁵ Auch Napolitano hatte in Sant’Anna di Stazzema von der Versöhnung zwischen Deutschland und Italien unter einem gemeinsamen europäischen Dach gesprochen;¹⁰⁶ dazu müsse nicht nur Deutschland, sondern auch Italien beitragen, indem es „die Verantwortung für die uns vorangegangenen Generationen“ übernehme. Napolitano verwies als Beispiel auf die Geste Brandts, der 1970 vor dem Mahnmal für die Opfer des Aufstandes im Warschauer Ghetto niederkniete. […] Wir Italiener sind stolz auf den leidenschaftlichen und heldenhaften Willen zur Befreiung, den wir zwischen dem September 1943 und dem April 1945 mit dem Widerstand unter Beweis gestellt haben, […] aber wir dürfen nicht die Untaten des Faschismus vergessen, die Schande und die Katastrophe, in die der Faschismus Italien hineingezogen hat.

Das waren zweifellos institutionelle Akte und Worte von großem Gewicht, die einen effektiven Versöhnungsprozess zwischen Deutschland und den von den nationalsozialistischen Gewalttaten betroffenen Gemeinden einleiteten, soweit es nicht bereits dazu gekommen war. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Aussöhnung mit den Opfern, seien es nun die IMI oder die Zivilbevölkerung von Sant’Anna und anderer „Orte des Schreckens“, den einzigen Weg bildet, um zu einer vollständig versöhnten Erinnerung zwischen Italien und Deutschland zu gelangen. Lassen sich auf diese Weise die „festgefahrenen Stereotypen“ in Italien und Deutschland überwinden und

 Vgl. die Rede auf der Webseite: www.rom.diplo.de/contentblob/3849606/Daten/3119836/gauck_ sant anna.pdf (letztmalig abgerufen am 16.11. 2015).  Die Zitate sind dem Redetext entnommen, der während des Treffens verteilt wurde.  Vgl. presidenti.quirinale.it/elementi/Continua.aspx?tipo=Discorso&key=2674 (letztmalig abgerufen am 10.10. 2016).

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die durch den Krieg erzeugten „Konflikte und Traumata“ tatsächlich aufarbeiten? Zweifel daran sind erlaubt. Die in den 1990er Jahren vom wiedervereinigten Deutschland im Zeichen der Versöhnung betriebene nachhaltige Ostpolitik gegenüber den europäischen Nachbarn, die Opfer der nationalsozialistischen Aggression gewesen waren, insbesondere gegenüber Polen, der Tschechischen Republik und der Slowakei, wurde von der jeweiligen Seite mit großem Mut ausgeführt. Dauerhafte Historikerkommissionen wie im deutsch-tschechischen und deutsch-slowakischen Fall wurden eingerichtet, vor allem aber hatten Regierungsvertreter und Staatsoberhäupter Gelegenheit, im Parlament zu sprechen, so beispielsweise der polnische Außenminister Wladislaw Bartoszewski im April 1995 vor dem Deutschen Bundestag. Auch im deutsch-italienischen Zusammenhang wäre dies der fruchtbarste Weg gewesen. Die Reden Napolitanos oder Steinmeiers hätten zweifellos ein ganz anderes Echo gefunden, wären sie im italienischen Parlament gehalten worden. Hingegen haben sie in der öffentlichen Meinung Italiens und außerhalb der direkt interessierten Kreise kaum Spuren hinterlassen. Offensichtlich bestand das von den beiden Regierungen verfolgte politische Hauptziel in der Neutralisierung der Entschädigungsforderungen, die von den Familienangehörigen der italienischen Opfer des Nationalsozialismus gestellt worden waren. Dieses Ziel scheint im Übrigen definitiv nicht erreicht worden zu sein, hat doch der Urteilsspruch des italienischen Verfassungsgerichtshofs vom 22. Oktober 2014 die Entschädigungsfrage wieder aufgerollt, insofern er die vom Haager Gerichtshof bestätigte Geltung des staatlichen Immunitätsprinzips für die Fälle negierte, in denen die Staatshandlungen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit beinhalteten, die „die unveräußerlichen persönlichen, von der Verfassung garantierten Rechte“ verletzten.¹⁰⁷ Damit scheint die vollständige Umsetzung der Empfehlungen der Kommission hinsichtlich einer gemeinsamen Erinnerungspolitik ebenso wie das Bemühen um einen „Punkt des Gleichgewichts“, von dem Walter Merazzi 2008 gesprochen hatte, wieder aktuell zu werden; gemeint ist damit eine gemeinsame Anstrengung Italiens und Deutschlands, die sich nicht nur auf die Schuldanerkennung und die Forderung nach einer Entschuldigungsgeste beschränkt, sondern auch die Festlegung von Formen der Wiedergutmachung für diejenigen anstrebt, die bisher davon ausgeschlossen waren und die einen entsprechenden Antrag stellen wollen. Die Historikerkommssion hat alles in ihrer Macht Stehende getan, doch – um mit den Worten Wolfgang Schieders zu schließen – „die historische Forschung kann die Politik nicht ersetzen“.¹⁰⁸

 Vgl. das Kommuniqué der ANRP: La Corte Costituzionale e gli „schiavi di Hitler“. La dignità dell’uomo viene prima degli Stati. Berlino gela ancora, in: www.anrp.it/associazione/comunicati/_ sentenza_cor tecost.html (letztmalig abgerufen am 10.10. 2016).  Vgl. Schieder, Riflessioni, S. 425.

Luca Baldissara

Die Konstruktion einer Erinnerung zwischen Vergangenheit und Zukunft. Zur Erinnerungspolitik in Europa 1 Europa: Eine Heilanstalt für kriegsversehrte Länder In einem anregenden Buch setzt sich Jean-Frédéric Schaub kritisch mit der Frage auseinander, ob der europäische Kontinent eine eigene Geschichte habe, verstanden als mögliche Basis einer gemeinsamen Identität seiner Bewohner, nicht als Summe verschiedener Nationalgeschichten, und versucht in einem eigenen Kapitel darzulegen, dass Europa in erster Linie eine „Tochter der Katastrophe“ sei.¹ Gemeint ist mit dieser Katastrophe der Zweite Weltkrieg. Im nationalsozialistischen Krieg kamen alle Formen kriegerischer Gewalt zusammen und steigerten sich, in ihm flossen Erfahrungen und Kulturpraktiken ein, die sich langfristig herausgebildet hatten. Aus einem solchen Blickwinkel stellt also der „dreißigjährige Krieg“ (1914– 1945)² eine einheitsstiftende Erfahrung für die Europäer dar. Auch wenn sich Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern erkennen lassen, erfassten die damaligen Erschütterungen den ganzen Kontinent in einem ambivalenten Prozess, der einerseits zur Europäisierung des Krieges führte, andererseits die europäischen Konflikte auf die ganze Welt ausweitete; das war bereits zur Zeit der napoleonischen Kriege geschehen, gewann nun aber eine ganz neue Dimension. Die Tragödie des Krieges machte ebenso wie die tiefen ideologischen Brüche zwischen Faschismus und Antifaschismus, Kommunismus und Antikommunismus den Erfahrungsschatz eines Großteils der europäischen Bürger aus. Gleichzeitig offenbarte sich der Verfall der weltumgreifenden europäischen Vorherrschaft. Diese Entwicklung trat in der unmittelbaren Nachkriegszeit in ihre entscheidende Phase, als die traditionellen Mächte und der gesamte Kontinent gegenüber den USA und der UdSSR als den eigentlichen Gewinnern des Zweiten Weltkrieges rapide an Bedeutung verloren. In gewisser Hinsicht haben also die nationalsozialistischen Eroberungszüge eine Art Einigung des Kontinents bewirkt. Einerseits wurde damals ein Großteil der Länder der Herrschaft des „Dritten Reiches“ unterworfen, die dabei überall auf die Kollaborationsbereitschaft, ja auf Zustimmung zu den Plänen eines „neuen Europa“ stieß; andererseits rief das „Dritte Reich“ Gegenreaktionen hervor, so dass der Antifaschis-

 Jean-Frédéric Schaub, L’Europe a-t-elle une histoire? Paris 2008, S. 17– 48.  Enzo Traverso, À feu et à sang. De la guerre civile européenne 1914– 1945. Paris 2007. https://doi.org/10.1515/9783110541144-018

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mus bei vielen Europäern zu einem Kohäsionsfaktor wurde und sich als Bezugspunkt für den Wiederaufbau und den Übergang zur Demokratie anbot:³ L’Europe continentale unie dans le projet nazi face à l’Europe rêvée des résistants de tout bord. On comprend que, dans l’immédiat après-guerre, le projet européen a pu demeurer quelque chose de suspect, en devenant un horizon indispensable tout à la fois. […] Ainsi le club européen était-il hôpital des pays blessés. L’Europe en devenir se ferait donc par agrégation de nations qui, d’une façon ou d’une autre, avaient subi une ou plusieurs défaites entre 1940 et 1945. L’urgence de reconstruire dans l’unité est apparue d’autant plus forte que la perte de légitimité et de souveraineté avait été profonde, du fait de l’occupation nazie et de la libération par les Alliés, ou du fait des deux.⁴

Zweifellos war es nicht leicht, diese beiden Erfahrungsprofile – Kollaboration und Widerstand – zu einer gemeinsamen Erinnerung zu verschmelzen, die eine gegenseitige Anerkennung und die Anbahnung jeweils neuer nationalgeschichtlicher Geschichtsnarrationen ermöglicht hätte. So ging die Entwicklung dahin, jegliche Kriegsverantwortung dem nationalsozialistischen Deutschland zuzuschreiben. Das war damals wohl die einzig mögliche Option, um die zweifellos minoritäre aktive Massenopposition gegen die Faschismen zur Geltung zu bringen, die ebenfalls minoritäre, wenn auch verbreitete Kollaboration zu verschleiern und für die Mehrheitsbevölkerung, die nicht offen Partei ergriffen hatte, ein beruhigendes Opferalibi zu schaffen. Diese Orientierung kam im Übrigen bereits bewusst während des Krieges selbst auf, wollte man doch die aufgebrochenen Spaltungen möglichst schnell überwinden. Briten, Amerikaner und Sowjets hatten sich beispielsweise im Oktober 1943 in Moskau darauf geeinigt, Österreich als „erstes Opfer“ des Nationalsozialismus zu betrachten. Auf dieser Grundlage ließ sich aus dem Kollektivbewusstsein verdrängen, dass die nationalsozialistische Bewegung dort bereits vor 1938 Wurzeln gefasst hatte und nicht wenige Österreicher in den militärischen Formationen des „Dritten Reiches“ an Gewaltakten und Massakern beteiligt waren. Nach Tony Judt kam es dadurch zu einer Polarisierung der Erinnerung: Auf der einen Seite stand das, was „die Deutschen“ an „uns“ verbrochen hatten, auf der anderen Seite das, was „wir“ mit „ihnen“ während des Krieges „anderen“ angetan bzw. wie „wir“ uns nach dem Krieg verhalten hatten, wobei die zweite Erinnerung durch die erste überdeckt, ja verdrängt wurde.⁵ Für Mark Mazower wurden der Faschismus und Nationalsozialismus nach ihrem Zusammenbruch als politische Pathologien liquidiert:

 Alberto de Bernardi/Paolo Ferrari (Hrsg.), Antifascismo e identità europea. Rom 2004.  Schaub, L’Europe, S. 19 f.  Tony Judt, The Past Is Another Country. Myth and Memory in Postwar Europe, in: Daedalus 121.4, 1992, S. 83 – 118, hier S. 89 (erneut veröffentlicht in: István Deák/Jan T. Gross/Tony Judt (Hrsg.), The Politics of Retribution in Europe. Princeton 2000, S. 293 – 323). Vgl. auch Ders., Postwar. A History of Europe since 1945. New York 2005.

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Gerade weil die nationalsozialistische Utopie eines dynamischen und rassisch reinen deutschen Reiches […] geradezu alptraumhaft das destruktive Potential der europäischen Zivilisation enthüllte – indem sie Europäer wie Afrikaner behandelte und somit den Imperialismus gleichsam auf den Kopf stellte –, wurde die Erfahrung der nationalsozialistischen Neuen Ordnung nach 1945 so schnell wie möglich verdrängt.⁶

Judt und Mazower stimmten mit vielen anderen Autoren darin überein, dass hier der Grund für die Konstruktion des antifaschistischen Mythos gelegt wurde, auch wenn er in West- und in Osteuropa eine jeweils unterschiedliche Bedeutung annahm. Das Bemühen um eine Art übergreifender (vielleicht Meta‐)Erfahrung, die Einheit stiftete und nicht entzweite, hat zweifellos – allerdings nicht überall und nicht immer mit derselben Wirkkraft – die Verdrängung der „unangenehmen“ Erinnerungen aus der Geschichte begünstigt und dazu beigetragen, ein „von der Geschichte losgelöstes Europa“ (Mazower) zu schaffen. Möglicherweise war diese Verdrängung zumindest in den ersten Nachkriegsjahren der Preis, der dem Umfang der Zerstörungen und Spaltungen entsprach, ein Obolus, der im Vergessen und in der Verfälschung der jüngsten Vergangenheit bestand und entrichtet werden musste, um den Wiederaufbau der durch den Krieg tief erschütterten Zivilgesellschaften zu beschleunigen. Ist das Problem des selektiven Vergessens und der fortschreitenden Monumentalisierung des Antifaschismus erst einmal erkannt, muss es den Historikern darum gehen, die Phasen und Formen zu identifizieren und zu rekonstruieren, in denen sich dieser Prozess vollzog.⁷ Wobei zweierlei zu bedenken ist: Einerseits überwand die Arbeit am Mythos keineswegs die jüngsten Risse, die sich vielmehr bei jeder Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Bedingungen wieder auftaten, andererseits stellte die Legitimierung des Antifaschismus in einigen westeuropäischen Ländern eine – vielleicht die einzig mögliche – Form der demokratischen Legitimierung und Konsolidierung dar. Der Antifaschismus bot sich überdies als Ideologie des Wiederaufbaus an, so in Italien, wo alle Erwartungen zur Modernisierung des Landes, zur Überwindung des kulturellen Konformismus sowie zur Reform des Staatsapparates und der öffentlichen Verwaltung an ihn geknüpft waren. Das Ende eines anderen langen europäisch-weltweiten Konflikts, d. h. des „Kalten Kriegs“, veränderte das Szenarium grundlegend. Ein neues Beben erschütterte Europa zwischen 1989 und 1991 mit dem Fall der Berliner Mauer und der Implosion der Sowjetunion. Nach 1989 begannen in den nationalen öffentlichen Narrativen neue Aufarbeitungsprozesse, in denen es mitunter zu harten Auseinandersetzungen bei der Einschätzung der bisherigen Nachkriegsentwicklungen kam und politisch-kulturelle Konflikte um die Neudefinition der identitätsbegründenden kollektiven Erinnerungen

 Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2002, S. 12.  Es fehlt nicht an diesbezüglichen Versuchen; ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei hier verwiesen auf Henry Rousso, Le syndrome de Vichy. De 1944 à nos jours. Paris 21990; Pieter Lagrou, The Legacy of Nazi Occupation. Patriotic Memory and National Recovery in Western Europe 1945 – 1965. Cambridge 1999; Philip Cooke, The Legacy of the Italian Resistance. New York 2011.

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entstanden. Die für die Zeit zwischen 1945 und 1989 geltenden Fundamentalwerte wurden in Frage gestellt. An die Stelle der früheren, im Antifaschismus ruhenden Ordnung schien eine neue, im Antitotalitarismus verankerte zu treten. Damit wurde auch auf der Ebene der Erinnerung eine Vereinigung der beiden Europas möglich, die einerseits von der Ähnlichkeit, wenn nicht Gleichheit zwischen dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus und andererseits vom Fortbestand der für illiberale Regime typischen Regierungspraktiken in den östlichen Gesellschaften ausging.⁸ Wie bereits nach 1945, wurde auch nach 1989 die Vergangenheit unter dem Blickwinkel aufgearbeitet, dass „sie“ – die Kommunisten, die Sowjets – „uns“, die Bürger jener Staaten, die zur sowjetischen Einflusszone im Rahmen des Warschauer Paktes gehörten, zu Opfern gemacht hatten. Erneut verdrängte man die Kollaborationserfahrungen und die im Alltagsleben eingegangenen Kompromisse, während Repression und Dissens nachdrücklich hervorgehoben wurden. Ähnlich wie im Fall des italienischen Faschismus und Vichys gehören allerdings die Formen der – wenn auch von der UdSSR gestützten oder aufgezwungenen – „Volksdemokratien“ zur Geschichte jener Länder und lassen sich nicht aus ihr herauslösen. Ebenso wenig können aus der Geschichte ihres Antikommunismus die Teilnahme am Judenmassaker und die Kollaboration mit den Nationalsozialisten verdrängt werden. Nach Judt hingegen wurden „the many unpleasant truths about that part of the world“ durch „a single beautiful lie“ ersetzt.⁹ Es sei ergänzt, dass sich dieses Phänomen zu einem Gutteil aus den asymmetrischen Erinnerungskulturen hinsichtlich des Zweiten Weltkrieges ergibt, wie sie aufgrund der verschiedenen politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungsverläufe in den beiden Teilen des Kontinents zwischen 1945 und 1989 entstanden sind: Wie anders lässt sich beispielsweise die in den baltischen Staaten verbreitete Vorstellung deuten, wonach der Zweite Weltkrieg erst 1991 zu einem Abschluss kam, als schließlich auch die auf die nationalsozialistische Herrschaft folgende sowjetische Besetzung endete?

2 Von Nürnberg nach Berlin: Der gerichtliche Weg zu einem historischen Gemeinsinn In seiner einleitenden Rede zum Nürnberger Prozess skizzierte der Hauptankläger der Vereinigten Staaten Robert Jackson äußerst eindrücklich die verschiedenen Dimensionen des Strafverfahrens. Die erste war gerichtlicher Natur, d. h. bezog sich auf die Bestrafung von Männern, die sich der Kriegsverbrechen, der Verbrechen gegen die Menschheit und gegen den Frieden schuldig gemacht hatten:

 Henry Rousso (Hrsg.), Stalinisme et nazisme. Histoire et mémoire compares. Paris/Brüssel 1999.  Judt, The Past Is Another Country, S. 108.

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Leider bedingt die Art der hier verhandelten Verbrechen, daß in Anklage und Urteil siegreiche Nationen über geschlagene Feinde zu Gericht sitzen. (118) […] Sind diese Männer die ersten, die als Kriegsführer einer besiegten Nation sich vor dem Gesetz zu verantworten haben, so sind sie auch die ersten, denen Gelegenheit gegeben wird, im Namen des Rechts ihr Leben zu verteidigen. […] (119) Diesen Angeklagten einen vergifteten Becher zu reichen, bedeutet, ihn an unsere eigenen Lippen zu bringen. Wir müssen an unsere Aufgabe mit so viel innerer Überlegenheit und geistiger Unbestechlichkeit herantreten, daß dieser Prozeß einmal der Nachwelt als die Erfüllung menschlichen Sehnens nach Gerechtigkeit erscheinen möge (118).

Die zweite Dimension besaß eine rechtliche Perspektive, die sich darauf richtete, ein neues internationales Recht zu begründen und den Krieg als Instrument der zwischenstaatlichen Beziehungen auszuschließen: Die wahre Klägerin vor den Schranken dieses Gerichts ist die Zivilisation. […] Es ist wahrlich nicht nötig […], nach besonderer Begründung für den Satz zu suchen, daß es im Sittlichen das schlimmste Verbrechen ist, einen Angriffskrieg zu beginnen oder zu führen. […] Die Zivilisation fragt, ob das Recht so zaudernd und träge sei, daß es gegenüber so schweren Verbrechen, begangen von Verbrechern von so hohem Rang, völlig hilflos ist. Die Zivilisation erwartet nicht, daß sie [sic! – das Gericht] den Krieg unmöglich machen können. Wohl aber erwartet sie, daß Ihr Spruch die Kraft des Völkerrechts mit seinen Vorschriften und seinen Verboten und vor allem mit seiner Sühne dem Frieden zum Beistand geben werde, so daß Männer und Frauen guten Willens in allen Ländern leben können, „keinem untertan und unter dem Schutz des Rechts“. (183)

Eine dritte, politische Dimension ging dahin, durch den Prozess den Rachegedanken zu unterbinden und den Aufbau stabiler Beziehungen zwischen den Völkern und Staaten zu befördern: Daß vier große Nationen, erfüllt von ihrem Siege und schmerzlich gepeinigt von dem geschehenen Unrecht, nicht Rache üben, sondern ihrer gefangenen Feinde freiwillig dem Richtspruch des Gesetzes übergeben, ist eines der bedeutsamsten Zugeständnisse, das die Macht jemals der Vernunft eingeräumt hat. (115)

Eine historiographische Dimension ergab sich daraus, dass der Urteilsspruch des Gerichts auch eine historische Deutung des Nationalsozialismus und seiner Verantwortung einschließen würde: Denn wir dürfen niemals vergessen, daß nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden. (118)

Die programmatische Dimension schließlich bestand darin, dass man über ein ex post als kriminell bezeichnetes Verhalten verhandelte, dessen Wiederholung man offensichtlich vermeiden wollte:

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Die Untaten, die wir zu verurteilen und zu bestrafen suchen, waren so ausgeklügelt, so böse und von so verwüstender Wirkung, daß die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann, sie unbeachtet zu lassen, sie würde sonst eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben. (115)¹⁰

Jackson war sich also bewusst, dass es in Nürnberg nicht nur um individuelle Verantwortlichkeiten ging, sondern dass sich in den Prozessen auch ein Gründungsakt des Völkerrechts vollzog. Sie brannten auf einer rechtlichen Ebene Wunden aus, die andernfalls vom Hass infiziert worden wären, sie bestätigten die Validität der Leitprinzipien der Sieger und legitimierten das westliche Rechtssystem und die westliche Demokratie – all dies mit dem Ziel, eine solide Grundlage für die politische und rechtliche Nachkriegsordnung zu schaffen. Aus einer solchen Verflechtung der Ebenen erklärt sich auch, warum die Beurteilung dessen, was in jenem Gerichtssaal geschah, bis heute zwischen einer Vielfalt von Positionen schwankt, in denen sich die verschiedenen Blickwinkel widerspiegeln und die Aspekte zum Ausdruck kommen, die vom jeweiligen Autor in seiner kritischen Analyse bevorzugt behandelt werden.¹¹ In Nürnberg wurde also ein politisches Ziel rechtlich sanktioniert, d. h. die Fixierung von Regeln, die von der Staatengemeinschaft geteilt und beachtet werden. Das Recht interpretierte den politischen Willen und goss ihn in Normen. Die Vereinigten Staaten, die wichtigsten Befürworter des Prozesses, gingen als Hegemonialmacht aus dem Konflikt hervor und zogen sich, anders als nach dem Ersten Weltkrieg, nicht aus der politischen Pflicht zurück, sondern wollten dem System der internationalen Beziehungen die größtmögliche Stabilität verleihen. Man hatte aus der gescheiterten Strategie nach dem Ersten Weltkrieg gelernt, dass es ohne politische Hegemonie keine ökonomische Vormachtstellung geben konnte. Nürnberg antwortete also – wie Tokyo und die späteren Prozesse – in erster Linie auf die Notwendigkeit, einer politischen Entscheidung eine rechtliche Basis zu verschaffen. Der Prozess sollte sich zwar nicht ausschließlich, aber eben auch als politischer Akt erweisen, als ein Gründungsakt des internationalen Rechts, das dem Friedensgedanken gehorcht und über dem Nationalinteresse steht. In diesem Gründungsakt liegt der Grund für den historischen Bruch von 1945. So hält Jackson fest: „Denn wir dürfen niemals vergessen, daß nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden“, hatte Jackson mit fast drohendem Unterton gesagt. Tatsächlich ergibt sich die Rolle der Strafjustiz für die historische Konstruktion in aller Klarheit aus der Verknüpfung der auf den Zweiten Weltkrieg bezogenen Strafverfahren mit den historischen Narrationen über diese

 Zitiert von Telford Taylor, The Anatomy of the Nuremberg Trials. New York 1992, hier nach: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg 14. November 1945 – 1. Oktober 1946. Nürnberg 1947, fotomechanischer Nachdruck München und Zürich 1984.  Pier P. Portinaro, I conti con il passato. Vendetta, amnistia, giustizia. Mailand 2011.

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Zeit. Rechtliche Vorstellungen erleichterten das historische Verständnis der in Kriegszeiten begangenen Greueltaten.¹²

Dementsprechend hätten die Nürnberger Prozesse eine Auffassung vom Zweiten Weltkrieg als einem umfassenden Komplott gegen die Zivilisation begründet und damit ermöglicht, dessen Geschichte zu schreiben¹³. Gerd Hankel stimmt dieser Sichtweise mit der Bemerkung zu, dass die Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg in den Nürnberger Gerichtssälen begonnen habe. Die Aussagen der Opfer und Zeugen wie auch die den Richtern vorgelegten Beweise hätten eine erste realistische Idee davon geboten, was das „tausendjährige Reich“ eigentlich bedeutete.¹⁴ Der Prozess legte in der Tat den Grundstein für eine Deutung des Nationalsozialismus, die von einer konspirativen Natur des verbrecherischen, die nationalsozialistische Machtgruppe um Hitler zusammenschweißenden Paktes ausging. Die Anwendung der Kategorie der conspiracy – eine typische Kategorie aus der USRechtsprechung, mit der ein krimineller Komplott, d. h. die Übereinkunft zwischen mehreren Einzelpersonen zur Begehung einer ungesetzlichen Tat, definiert wird – und ihre Aufnahme unter die Anklagepunkte der Londoner Charta gehorchten der Notwendigkeit, den bereits vor 1939 geplanten „Angriffskrieg“ zu verurteilen und zu ahnden. Der Wille, der nationalsozialistischen Ideologie an sich die Schuld zu geben, sie als eine wesentlich totalitäre, staatsvergötternde kriminelle Philosophie zu betrachten, sowie die Notwendigkeit, die Rassentrennung und Judenvernichtung (mittels des Begriffs des „Verbrechens gegen die Menschheit“) zu bestrafen, begünstigten den Rückgriff auf die Kategorie der conspiracy, die nach Overy von „verführerischer Einfachheit“ war.¹⁵ Der Komplottcharakter, den der Nürnberger Urteilsspruch dem Nationalsozialismus zuschrieb, hemmte das historische Gesamturteil über die konkrete Funktionsweise, die kollektiven Verantwortlichkeiten und die verbreitete Duldsamkeit, aufgrund derer das Herrschaftssystem rasch wachsen, sich konsolidieren und bis zum letzten Tag ohne größere Einbrüche halten konnte. Die Vereinten Nationen wandten ein selektives und partielles Recht an, um mittels des strafrechtlichen Urteils das endgültige historische Urteil über den Nationalsozialismus zu fällen, doch

 Ruti Teitel, Giustizia di transizione come narrativa liberale, in: Marcello Flores/Bruno Mondadori (Hrsg.), Storia, verità, giustizia. I crimini del XX. secolo. Mailand 2001, S. 262– 277, hier S. 263; Dies., Transitional Justice. New York 2000.  Isabelle Flandrois, Le procès de Tokyo, in: Annette Wieviorka (Hrsg.), Les procès de Nuremberg et de Tokyo. Brüssel 1996, S. 159 – 177, hier S. 171.  Beitrag von Gerd Hankel während des von Annie Deperchin moderierten runden Tisches: La guerre anticipée. Normes juridiques et violence de guerre, veröffentlicht in: Stéphane Audoin-Rouzeau [u. a.] (Hrsg.), La violence de guerre 1914– 1945. Approches comparées des deux conflits mondiaux. Brüssel 2002, S. 45 – 72, hier S. 67 f.  Richard Overy, Interrogations. The Nazi Elite in Allied Hands 1945. New York 2001.

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diese Entscheidung löste eine Kettenreaktion aus und trug dazu bei, die Natur des totalen Krieges und der Verbrechen gegen die Menschheit zu verschleiern.¹⁶

Nach Nürnberg wurde es schwierig, den Nationalsozialismus zu historisieren, entzog der Urteilsspruch ihn doch der Geschichte. A priori schloss das juristische Urteil das historische Urteil über die politische Verantwortung der westlichen Demokratien aus, die dem Nationalsozialismus und dem Faschismus nur halbherzig entgegengetreten waren, weil er auf jeden Fall hätte nützlich sein können, um die „rote Gefahr“ aus dem Osten (und aus dem „inneren“ Osten in jedem westlichen Land) zu bannen. Hinsichtlich der kriminellen Kriegsführung ignorierte das Urteil die von den Alliierten verfolgte Politik der totalen Zerstörung, die sich beispielsweise in der Bombardierung der deutschen Städte äußerte. Es reduzierte den Faschismus und Nationalsozialismus auf eine Art organisierte Gangsterbande, die durch Zwang und Täuschung das Gewissen der Menschen korrumpiert und in ihnen verbrecherische Impulse geweckt hätte. Auf exemplarische, spektakuläre Weise zog es den Schlussstrich unter ein düsteres Kapitel und forderte eine rasche Rückkehr zur Normalität ein. Das Verwachsen des antifaschistischen mit dem rechtlichen Maßstab schloss schließlich den Kreis: Dem totalitären, imperialistischen Komplott des Faschismus hatte sich ein antifaschistisches Bündnis entgegengestellt, das im harten Kampf die Freiheit verteidigte und am Ende die Oberhand behielt. In diesem Sinn stellt das Jahr 1945 eine Zäsur dar, die eine Neuordnung der Vergangenheit einleitete: Im öffentlichen Bereich ging es darum, eine noch schwache demokratische Kultur aufzubauen und die schwerwiegenden Zerwürfnisse zu heilen, die dem Krieg oftmals vorausgegangen und von ihm überall verstärkt worden waren. Auf historiographischer Ebene wurde die Identifikation der tief in der europäischen Geschichte verankerten Wurzeln von Faschismus und nationalsozialistischer Gewalt, die weit hinter das Jahr 1945 zurückreichen, vom aktuellen öffentlichen Diskurs bestimmt, von dem man zuweilen Deutungsparameter und -kategorien übernahm. Der Nürnberger Rechtsspruch sanktionierte faktisch einen historisch-rechtlichen Kanon, der den Nationalsozialismus als einen verbrecherischen politischen Pakt betrachtete: Fast schon pathologisch kriminelle Personen hätten ihn abgeschlossen, durch Zwangsgewalt und Täuschung die Gewissen der Menschen korrumpiert und zu einem gleichfalls kriminellen Verhalten verleitet. Über diese Sichtweise stülpte sich der Versuch der Nachkriegsregierungen, die tiefen Spaltungen des „dreißigjährigen Krieges“ zu überwinden und das materiell wie moralisch zerstörte Europa wiederaufzubauen. Das geschah durch die Konstruktion einer öffentlichen Erinnerung von Nationalsozialismus und Faschismus, die einerseits deren Unverträglichkeit mit der europäischen Kultur und andererseits die Kraft und Einheit der antifaschistischen Koalition hervorgehoben hat. Die Begründung eines einheitsstiftenden antifaschistischen Mythos hat damit die weniger erbaulichen und widersprüchlichen Aspekte der

 Michele Battini, Peccati di memoria. La mancata Norimberga italiana. Rom/Bari 2003, S. 111 f.

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jeweiligen Nationalgeschichte sowie die getrennten, unvereinbaren Erinnerungen der beiden Kriegsparteien aus der Geschichte ausgeschlossen. Man denke nur an die Situation in Italien, wo sich das feierliche Gedenken an die Resistenza – mit dem Antifaschismus als der einzigen möglichen Quelle zur Legitimierung der republikanischen Demokratie – paradoxerweise in ein „Feigenblatt“ verwandelte,¹⁷ mit dem sich im öffentlichen Diskurs die Verantwortlichkeiten des Faschismus verschleiern, wenn nicht gar verheimlichen ließen. Noch heute weist Italien deutliche Defizite auf, wenn es darum geht, vom Faschismus Rechenschaft abzulegen. Aber zweifellos kam es zu diesem Widerspruch auch in anderen Ländern. In den 1960er Jahren trat neben das historisch-rechtliche Paradigma, das in den antifaschistischen Kanon zur Narration der Geschichte des Nationalsozialismus einmündete, das „jüdisch-universalistische“. Der Eichmannprozess (1961) – aber auch der Frankfurter Auschwitzprozess gegen 22 SS-Angehörige (1963 – 1965) – lenkte die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Tragweite der nationalsozialistischen Judenvernichtung, die zu einem Eckpfeiler der israelischen Identität wurde, wobei man die Maßlosigkeit der dahinterstehenden kriminellen Energie hervorhob und die zentrale Bedeutung der Opferaussagen anerkannte. Zur Verantwortung für die Entfesselung des Krieges trat die noch größere Last für die Massaker in den Vernichtungslagern. Zweifellos waren die Fakten nicht unbekannt und zum Teil bereits Gegenstand eines Urteils gewesen. Galt aber in den ersten 15 Nachkriegsjahren die Judenvernichtung nur als eine Ausdrucksform nationalsozialistischer Gewalt, wurde daraus nun die Matrix, die diese Gewalt insgesamt charakterisierte. Das Nürnberger Paradigma wurde dadurch zunächst gestärkt, weil das Jerusalemer und Frankfurter Verfahren die kriminelle Substanz des Nationalsozialismus bestätigten und sogar noch ausweiteten. Auf längere Sicht hingegen wurde es geschwächt, weil die Judenvernichtung zum Filter und Kriterium für jeglichen Diskurs über den Nationalsozialismus wurde, zum Faktor, der sein innerstes Wesen enthüllte. Der Krieg, der Judenvernichtung konkret möglich gemacht hatte, blieb im Hintergrund, das Projekt einer neuen europäischen Ordnung, das in erster Linie auf einer Umgestaltung der ethnischrassischen Verhältnisse beruhte, wurde auf den Antisemitismus und das „Böse“ zurückgeführt, die Deportation und Vernichtung wurden zum historischen Beurteilungsmaßstab nicht nur für den Nationalsozialismus, sondern auch für jegliche Art der Mitarbeit und des Kollaborationismus im besetzten Europa. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen und die Verlaufsformen unterschieden sich dabei von Land zu Land: In Israel und überall in den jüdischen Gemeinden wurde die Shoah zu einem tragenden Element im nationalen und supranationalen öffentlichen Diskurs. In Deutschland spielte sie eine zentrale Rolle in der Reflexion über die deutsche Identität und bei der kollektiven Gewissensprüfung; das Opfer und dessen Zeugenaussage er Cooke, The Legacy, a.a.O.; Filippo Focardi, La guerra della memoria. La Resistenza nel dibattito politico italiano dal 1945 a oggi. Rom 2012. Vgl. auch Luca Baldissara, Auf dem Weg zu einer bipolaren Geschichtsschreibung? Der öffentliche Gebrauch der Resistenza in einer geschichtslosen Gegenwart, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 82, 2002, S. 590 – 637.

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langte im Rahmen der historischen Narration eine bedeutsame Stellung als Quelle der „Wahrheit“.¹⁸ All dies wird nach 1989 – 1991 offensichtlich, als der öffentliche Diskurs in Europa sich neu orientierte und an die Stelle des Wortpaares Faschismus/Antifaschismus der Gegensatz von Totalitarismus/Antitotalitarismus trat. Ein neuer Bruch zog – nach dem von 1945 – einen tiefen Graben zwischen dem Vorher und Nachher: 1989 erwies sich rasch als „Stunde null“ der europäischen Geschichte, von der aus man das 20. Jahrhundert als eine Epoche des erbitterten Kampfes zwischen Totalitarismus und Demokratie betrachten konnte. West- und Osteuropa schienen endlich zusammenzufinden und ihre getrennten Geschichten miteinander zu verbinden. Und die deutsche Einheit bot sich nicht nur als eine Art Allegorie für das die Bühne betretende neue, größere Europa an, sondern auch als der bevorzugte Ort, um eine Erinnerungspolitik und eine Geschichtsnarration zu entwickeln, die diesem neuen Europa entsprachen. Denn Deutschland ist das einzige europäische Land, das auf seinem Staatsgebiet sowohl die nationalsozialistische als auch die kommunistische Herrschaft durchlebt und damit beide Totalitarismen kennengelernt hat. Wir können – wenn auch im Bewusstsein einer gewissen Verkürzung – diese Epochenwende dahingehend skizzieren, dass der Nürnberger historisch-rechtliche Ansatz dem Berliner postideologischen Paradigma wich, das die historische Ordnung von 1945 einem Revisionsprozess unterwarf und für die Tragödien und Verluste des XX. Jahrhunderts die politischen Ideologien zur Verantwortung zieht. Sie seien nichts anderes als Formen eines atheistischen, auf die Schaffung eines neuen Menschen zielenden Millenarismus gewesen und hätten auch nicht davor zurückgeschreckt, in dessen Namen die Menschen aus Fleisch und Blut zu opfern. Damit hätten sie unweigerlich auf Zwang und Gewalt zurückgegriffen, aus denen schließlich die Totalitarismen hervorgegangen seien. Eine Reihe von Folgen ergab sich daraus. So verbreitete sich in den 1990er Jahren auf dieser Grundlage die diffuse Vorstellung vom 20. Jahrhundert als einem „finsteren Jahrhundert“, einem „tragischen Jahrhundert“, einem „Zeitalter der Extreme“. Es kam zur Unterscheidung zwischen dem homo politicus und dem Antihelden; dem erstgenannten wurde eine Überzeugungsethik und ein Opfergeist zugeschrieben, der den Tod des Individuums akzeptierte (der Fanatiker) oder sich selbst aufopferte (der Held), wenn er es für nützlich hielt, während der Antiheld eine Verantwortungsethik vertrat und die Risiken abwägte, indem er weniger die Motivationen, sondern die Wirkungen des Handelns auf die konkrete, tägliche, unpolitische Moralität der Gemeinschaft beurteilte.¹⁹ Unter dem Einfluss von politischen, das moralische Verantwortungsgefühl verdrängenden Überzeugungen wurde die Epoche der Zeitgeschichte nunmehr ferner vorrangig aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, d. h. aus dem vorherrschenden Blickwinkel der Erinnerung an die  Annette Wieviorka, L’ère du témoin. Paris 1998.  Beispielhaft für diesen Ansatz ist Tzvetan Todorov, Les morales de l’histoire. Paris 1991; Ders., Une tragédie française. Été 1944, scènes de guerre civile. Paris 1994; Ders., Mémoire du mal, tentation du bien. Enquête sur le siècle. Paris 2000.

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Konzentrationslager und den Gulag,²⁰ der Gewalt und des Krieges, aus der Suche nach den Wurzeln der Massenmordaktionen durch die in Regimeform gegossenen Ideologien gedeutet. So bezog man den Standpunkt des an und für sich unschuldigen Opfers und enthob es damit jeglicher Verantwortung für die Ereignisse, die dessen Leid hervorgerufen hatten. Die Zentralität des Opfers steht für den Paradigmenwechsel bei der Deutung der nationalsozialistischen Gewalt. Sie markiert den Übergang vom politisch-rechtlichen Kanon von 1945, wonach die Nationalsozialisten Verbrechen begangen haben, weil ihre ursprüngliche Absicht verbrecherisch gewesen sei, zum postideologischen Kanon von 1989, wonach die politische Ideologie an und für sich verbrecherisch ist, insofern der von ihr praktizierte Götzendienst des neuen Menschen bei dessen Erschaffung unweigerlich zum Massaker führt. Im ersten Fall traten die aktiven Regimegegner, die den Fall von Faschismus und Nationalsozialismus betrieben hatten, in den Vordergrund. Ihre Entscheidung, die sie als Oppositionelle trafen, wurde zur Quelle von Wert und Sinn, diente als Beispiel und Kohäsionsfaktor für die Gesellschaften, die den Krieg hinter sich ließen. Im zweiten Fall sah man die „Helden“ in den Schindlers, den Perlascas, den „Gerechten“, die im Verborgenen durchaus auch ambivalent handelten, um Leben zu retten. Im Grunde förderten diese Konstrukteure trotz allem noch den optimistischen Glauben an die Menschheit. 1945 war diese Hoffnung notwendig, um den Sinn des Lebens und das Vertrauen in die Zukunft wiederzufinden; 1989 war sie noch notwendiger, weil die Gesellschaften, die aus einer Epoche der politischen und solidarischen Erlösungs- und Emanzipationsprojekte heraustraten, gemeinsamer Helden aus der Vergangenheit bedurften, an denen sie sich orientieren konnten, um sich der postideologischen Zukunft zuzuwenden. Auch dieser Übergang wurde von Strafprozessen eingeleitet und begleitet. Man denke nur an die Rolle der Verfahren gegen Klaus Barbie (1987), Paul Touvier (1994) und Maurice Papon (1997– 1998) in Frankreich, die das Ende einer Epoche markierten – die des Vichy-Syndroms – und die Bedeutung bestätigten, welche die Judendeportation und Judenvernichtung mittlerweile eingenommen hatten: Jedes Opfer zählt hier für sich, jede individuelle Geschichte bildet einen wichtigen Baustein für die kollektive Geschichte der Shoah, und das Erinnern ist eine Pflicht, ein Imperativ. Man denke nur an die Welle von Gerichtsverhandlungen, die sich an den Prozess gegen Priebke anschlossen, und an die gleichzeitige „Entdeckung“ von Hunderten von Akten über die zwischen 1943 und 1945 begangenen Massaker an der Zivilbevölkerung, die bis zu diesem Zeitpunkt mit Rücksichtnahme auf die Erfordernisse der internationalen Politik zurückgehalten worden waren. Man denke schließlich an die verschiedenen Maßnahmen, die ab 1989 – 1991 in den osteuropäischen Ländern eingeleitet wurden, um die kommunistischen Funktionäre einem Epurationsverfahren zu

 Emmanuel Droit, Le Goulag contre la Shoah. Mémoires officielles et cultures mémorielles dans l’Europe élargie, in: Vingtième Siècle 94.2 2007, S. 101– 120.

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unterwerfen und zu verurteilen.²¹ Im Übrigen kann man sich einer wenn auch verspäteten Strafpolitik nicht entziehen, wenn es Opfer gibt, denen der Anspruch auf Gerechtigkeit verweigert wurde. Der öffentliche Diskurs, der den Eintritt der Geschichte in die Gerichtssäle begleitet und legitimiert hat, zog Kraft und Antrieb aus der Gegenüberstellung von einem idealistischen „Wie es sein sollte“ (Gerechtigkeit für die Opfer durch Rechtsanwendung) und einem realistischen „Wie es gewesen ist“ (fehlende Gerechtigkeit aufgrund politischen Opportunismus). Auf diese Weise hat sich ein gemeinsamer historischer (und moralistischer) Sinn herausgebildet, der sich auf einen unvollständigen Ausgleich zwischen einem „Wie es hätte sein sollen“ und einem „Wie es hingegen nicht gewesen ist“ verstand.

3 „Your past is our past“ Um Situationen, die für das düstere 20. Jahrhundert charakteristisch waren, bzw. neue Fälle einer verhinderten Gerechtigkeit zu vermeiden, hat das institutionelle Europa nach 1989 rechtzeitig signalisiert, einen europäischen Erinnerungsraum definieren und den Erinnerungsgegenstand normativ regulieren zu wollen. Die Ereignisse selbst drängten in diese Richtung. Nach dem Fall der Berliner Mauer bestätigte die Implosion der UdSSR nicht nur das Ende des Kalten Krieges, sondern beschleunigte auch die politischen Veränderungen in Mittelosteuropa. Die Entscheidung für die Währungsunion in Maastricht (1992) schien den europäischen Konstruktionsprozess, der durch den Beitritt drei weiterer Länder (Österreich, Schweden und Finnland) neuen Auftrieb erhalten hatte, zu stärken und zu konsolidieren. Der Balkankrieg (1990 – 1995) machte deutlich, wie gefährlich das Erwachen der mikronationalistischen Strömungen nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der „Volksdemokratien“ war, und legte die diplomatisch-militärische Ohnmacht der Europäischen Union bloß. All dies vollzog sich vor dem Hintergrund eines machtvollen Ausbreitens der Kriegsszenarien auf der internationalen Bühne, so der erste Golfkrieg (1990 – 1991) und der ethnische Konflikt und Brudermord in Ruanda (1990 – 1993), welche die Schrecken des Krieges, dem vor allem Zivilpersonen zum Opfer fielen, in ihrer ganzen Spannbreite demonstrierten. Diese Ereignisse legten eine Erweiterung der Union nahe, hoffte man doch, bei den Konflikten und Spannungen unter einem gemeinsamen politisch-institutionellen Dach vermittelnd eingreifen zu können, das dazu allerdings einer Konsolidierung bedurfte. Deshalb entwickelte die Union im Rahmen des Europarats, der 1993 in Kopenhagen zusammenkam, drei Gruppen von Kriterien (die sogenannten „Kopenhagener Kriterien“) für den Beitritt neuer Länder: Das „politische Kriterium“ betraf da Carolina Castellano, ‚Verità salvifica‘ e verità storica. Alle origini della prima inchiesta parlamentare sulla dittatura della SED, in: 900. Per una storia del tempo presente 13, 2005, S. 41– 66; Stefano Bottoni, Memorie negate, verità di stato. Lustrazione e commissioni storiche nella Romania postcomunista, in: Quaderni storici 128.2, 2008, S. 403 – 431.

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bei die „institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten“. Es wäre höchst interessant nachzuprüfen, wie konkret – Fall für Fall – über die Aufnahmeanträge befunden wurde, um zu sehen, inwieweit diese Kriterien Anwendung gefunden haben. Dazu ist hier aber nicht der Ort. Im Allgemeinen ist in dieser Hinsicht allerdings ein beachtlicher Pragmatismus erkennbar. Die Gutachten weisen eine uneinheitliche Struktur mit differenzierten Antworten auf, sodass die Aufnahmebedingungen dem jeweiligen Land angepasst werden können. Dergestalt ist es möglich, indirekt die Maßnahmen zu beeinflussen, mit denen die Antragsteller den Forderungen nach Anpassung an den Unionsstandard zu genügen gedenken. Aus den seit 1998 regelmäßig abgefassten Progress Reports der Europäischen Kommission ergibt sich immerhin, dass man dem Minderheitenschutz eine besondere, dauerhafte Aufmerksamkeit widmet. Nicht zufällig erhielt dieses Kriterium seine spezifische Bedeutung im Zusammenhang mit der Osterweiterung, denn alle osteuropäischen Länder sehen sich mit ethnischen Minderheiten konfrontiert. Die Frage des armenischen Genozids von 1915 beispielsweise, den die Türkei nicht anerkennen will, gehört im Zusammenhang mit den Kopenhagener politischen Kriterien zu den Referenzpunkten des Minderheitenschutzes. Ähnliches gilt für das Gedenken an die Shoah, an dem sich implizit die Anerkennung der demokratischen Werte und damit die Eignung für den Eintritt in die EU messen lässt. In der Literatur hat man sogar von einem „Kopenhagener Kriterium des Gedenkens“ gesprochen, um für die Westeuropäer die politische und moralische „Pflicht zur Erinnerung“ zu bezeichnen.²² Dieses Kriterium macht aus dem „Opferparadigma“ ein vollgültiges politisches Paradigma, wodurch es in eine Norm umgesetzt und als institutionelle Verpflichtung sanktioniert wird. Zur Osterweiterung kam es tatsächlich, als der Europäische Rat auf seiner Sitzung vom Dezember 2002, die ebenfalls in Kopenhagen stattfand, offiziell den Beitritt zehn neuer Mitglieder zum 1. Mai 2004 verkündete.²³ Dieser Entscheidung lag die damals nachdrücklich von Romano Prodi vertretene Überzeugung zugrunde, dass die Erweiterung eine Ausdehnung des Prozesses, der uns fünfzig Jahre Frieden und Wohlstand geschenkt hat, auf den gesamten Kontinent bedeutet und unser politisches Meisterstück bildet.

Noch im September 2015 hat Prodi die Erweiterung der EU als den einzigen Fall bezeichnet, in dem der Export der Demokratie gelungen sei.²⁴ Das Ziel der ersten friedlichen Vereinigung in der Geschichte des Kontinents bestand darin, das als einen  Droit, Le Goulag contre la Shoah, S. 104.  Es handelt sich dabei um Zypern, Tschechien, Estland, Ungarn, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei und Slowenien.  Die erste Erklärung ist vom Oktober 2002, als Prodi, der von 1999 bis 2004 das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission bekleidete, die Entscheidung über die Aufnahme der neuen Länder verkündete; die zweite gab er im September 2015 im Rahmen einer Tagung ab, die von der Comunità di Sant’Egidio in Tirana zum Thema „Frieden ist immer möglich“ organisiert worden war.

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Raum konzipierte Europa zu stabilisieren und auszubauen. In diesem Sinne war der Export von Stabilität und Demokratie auf friedlichem Wege zu verstehen, womit implizit auf den positiven Unterschied zum amerikanischen Modell des Exports auf militärischem Wege angespielt wurde. In diesem Rahmen fand die Osterweiterung des geeinten Europas in dem Versuch, eine europäische Identität zu schaffen, die beide Erinnerungen, die westliche und die östliche, zu vereinen vermochte, eine wichtige, wenn auch mit den ökonomischen Impulsen nicht vergleichbare Stütze. Im Juni 1996 ging die parlamentarische Versammlung des Europarates in ihrem Beschluss Measures to dismantle the heritage of former communist totalitarian systems auf das Erbe der totalitären kommunistischen Regime ein, das es zu beseitigen galt. Um dieses Ziel zu erreichen, müsse der Prozess des demokratischen Übergangs von zwei Momenten begleitet werden: einerseits von einer „transformation of mentalities (a transformation of hearts and minds)“,²⁵ mit der sich die totalitären Unwerte (Angst vor der Übernahme von Verantwortung, fehlende Achtung vor der Unterschiedlichkeit, extremer Nationalismus, Intoleranz, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit) durch die demokratischen Werte ersetzen ließen (Punkt 6), andererseits von der Verfolgung von Straftaten (Punkt 7), die auch rückwirkend als solche beurteilt wurden, wenn sie eine klare Verletzung der von den „civilised nations“ anerkannten Rechtsprinzipien darstellten. Und während in Italien – zum Teil auch in Deutschland – die letzte Phase der Prozesse gegen die im Zweiten Weltkrieg begangenen Verbrechen eingeleitet wurde, begann in den osteuropäischen Ländern die Lustration, d. h. die Sanierung des öffentlichen Lebens in einer hybriden Form von politisch-administrativer Säuberung und Verbrechensbestrafung.²⁶ Diese spezifische Art eines Übergangsprozesses ergab sich aus der besonderen Lage der postkommunistischen Länder, in denen die Regime nicht aufgrund einer starken inneren politischen Opposition gestürzt wurden, sondern durch Implosion in sich zusammenfielen. Dabei zeigte sich, dass die Gesellschaften kommunistischer geprägt waren, als man glauben wollte. Die Funktionsmechanismen der Macht erwiesen sich als weit komplexer und gingen über die einfache Unterdrückung hinaus, umfassten vielmehr verbreitete Formen von Kollaboration, Austausch und Korruption in einem durchlässigen Netzwerk von Eliten, technokratischen Regierungen und Sicherheitsapparaten. Die Definition dessen, was denn ein „Verbrechen“ sei, war nicht leicht, ging es doch in diesem Zusammenhang um die Handlungen eines legitimen Staates und vollgültigen Mitglieds der internationalen Gemeinschaft gegen seine Staatsbürger, so dass es nicht möglich war, auf bereits bekannte, erprobte Typologien wie „Kriegsverbrechen“ und „Verbrechen gegen

 Die Formel wurde von Vojtech Cepl, Richter beim tschechischen Verfassungsgericht, wiederaufgenommen in The Transformation of Hearts and Mind in Eastern Europe, in: Cato Journal 17.2, 1997, S. 229 – 234. Eine erste, von Mark Gillis verfasste Version (Making Amends after Communism) war im Journal of Democracy 7.4, 1996, S. 118 – 124 erschienen.  Lustrationsgesetze und -normen wurden unter anderem in der Tschechslowakei und in Litauen (1991), in Bulgarien (1992), Ungarn (1994), Albanien (1995), Polen (1997) und Serbien (2003) erlassen.

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die Menschheit“ zurückzugreifen. So fallen die Urteile über den Erfolg derartiger Lustrationspraktiken immer noch sehr unterschiedlich aus. Sie schwankten zwischen der empirischen Anerkennung ihrer Verknüpfung mit den Demokratisierungsprozessen einerseits,²⁷ und den Bedenken über die Risiken einer „Transitionsungerechtigkeit“ andererseits.²⁸ Ein Gesamturteil bedarf sicher einer genauen Untersuchung über die Art und Weise, in der die Lustration in jedem einzelnen Land konkret ausgeführt worden ist, doch besteht kein Zweifel daran, dass es in der Transitionsphase erneut zu einer problematischen Verknüpfung von historischem und strafrechtlichem Urteil kam. Damit sollte auf rechtlichem Wege die Objektivierung einer Wahrheit erreicht werden, die nicht nur die Verantwortlichkeiten feststellte, sondern auch in eine historische Wahrheit oder zumindest in einen Deutungskanon für die Vergangenheit übergehen konnte. Die 1990er Jahre waren allerdings noch eine Zeit des vorsichtigen Vortastens. In vielen osteuropäischen Regierungen spielten weiterhin Personen eine herausragende Rolle, die ihre ersten Erfahrungen auf national- oder lokalpolitischer Ebene bereits in der Zeit vor 1989 gesammelt hatten. Und es ging auch gar nicht anders, fehlte es doch an umfassenden politischen oppositionellen Bewegungen, aus denen eine alternative politische Führungsschicht hätte hervorwachsen können. In Westeuropa blickte man deshalb mit einer gewissen Reserve sowohl auf die EU-Beitritte, die einer Prüfung anhand der Kopenhagener Kriterien unterzogen wurden, als auch auf die Erinnerungspolitik, die West und Ost zu harmonisieren und Elemente einer potentiell gemeinsamen Vergangenheitserinnerung zu finden versuchte. Gleichwohl begann das 21. Jahrhundert mit dem Beitritt zehn neuer Mitglieder im Jahr 2004, nachdem viele von ihnen ihre politischen und staatlichen Führungsschichten ausgetauscht hatten. Umso ertragsreicher, und vielleicht dringlicher erschien damit eine Erinnerungspolitik, die die beiden Europas einander annäherte und zusammenführte. Zum 60. Jahrestag des Kriegsendes im Jahr 2005 erlangte also das Ziel, „Herz und Verstand“ der europäischen Bürger zu verändern, eine politisch-institutionelle Priorität. Am 9. Mai fand im Europäischen Parlament eine Gedenksitzung zum Ende des Zweiten Weltkrieges statt, die der Parlamentspräsident Josep Borell mit der Bemerkung einleitete, dass Europa 1945 ein zerstörter, geteilter Kontinent gewesen sei und die in Yalta beschlossene Weltordnung einem anderen Totalitarismus ermöglicht habe, „halb Europa als Geisel“ zu nehmen. In jener Sitzung sollte also, wie Borrell hervorhob, ein „wiedervereinigtes“, nicht ein „erweitertes“ Europa gefeiert werden. Am folgenden 11. Mai fand dann eine Aussprache über die Zukunft Europas 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg statt, die nach Borrell „ein Ausblick auf unsere Zukunft sein [sollte], gestützt auf die Erinnerung an unsere Vergangenheit.“ Jean-Claude Juncker bekräftigte diese Perspektive wenig später nachdrücklich: „Die Pflicht zur  Natalia Letki, Lustration and Democratisation in East-Central Europe, in: Europe-Asia Studies 54.4, 2002, S. 529 – 552.  Roman David, Transitional Injustice? Criteria for Conformity of Lustration to the Right to Political Expression, in: Europe-Asia Studies 56.6, 2004, S. 789 – 812.

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Erinnerung ist ein dringendes Gebot“, und das umso mehr, als die direkten Kriegszeugen immer weniger würden. Die Freude über das Kriegsende dürfe allerdings nicht verschleiern, dass die Anfang Mai 1945 wiedererlangte Freiheit nicht überall in Europa in gleichem Maße spürbar [wurde]. Wir in unserem westlichen Teil Europas, die wir fest in unseren alten Demokratien etabliert waren, konnten nach dem Zweiten Weltkrieg in Freiheit leben […] Doch diejenigen, die in Mitteleuropa und in Osteuropa lebten, kamen nicht in den Genuss der Freiheit, die wir fünfzig Jahre lang erlebten. […] Es gab den freien Teil Europas und den Teil Europas, der durch die unheilvolle Entscheidung der Geschichte, die Entscheidung von Jalta gelähmt war, die verfügte, dass Europa für immer in zwei Teile geteilt sein sollte, in zwei Teile, die sich oft feindselig gegenüberstanden und zwischen denen wir allzu oft keine Brücken zu schlagen vermochten. […] Wie viele verlorene Chancen! Wie viel Zeit wurde in Europa mit diesen stupiden Bewertungen der unmittelbaren Nachkriegszeit verloren! Freuen wir uns heute, dass wir nicht mehr der unerbittlichen Logik des Kalten Krieges folgen müssen und den Frieden zwischen den beiden Teilen Europas herstellen können.

José Manuel Barroso, der Nachfolger Prodis als Präsident der Europäischen Kommission, griff in dieser Aussprache auf die historiographische Kategorie des „europäischen Bürgerkrieges“ zurück. Es folgten zahlreiche Zitate Winston Churchills über die Stärke der Demokratie, die früher oder später vom Westen ausgreifend auch den Osten befreien würde. Hans-Gert Poettering verschweißte diese Perspektive auf die Geschichte Europas und auf die Zukunft der Europäischen Union mit dem Bewusstsein von der dramatischen Vergangenheit: 1945 war der nationalsozialistische Totalitarismus besiegt. Aber der stalinistische Totalitarismus führte Europa in die Spaltung hinein und überzog die Völker Mittel-, Ost- und Südosteuropas mit seinen Unrechtsregimen. […] 1989 endete die doppelte Last des Totalitarismus in Europa. 1989 lehrte uns, welche Kraft Europas Werte für uns alle haben […] Nach 1989 konnte Europa wieder beginnen, mit beiden Lungen zu atmen, […] Die Völker des europäischen Westens haben dazu eine wertvolle, unverzichtbare und bleibende Vorarbeit geleistet. Der Aufbau der Europäischen Union mit gemeinsamen Werten, deren Kern die Menschenwürde ist, der übernationale Zusammenschluss zu einer rechtsverbindlichen Gemeinschaft der Freiheit waren die folgerichtige Antwort auf die Chance des Kriegsendes. Die europäische Einigung ist ein Projekt des Friedens und der Freiheit. Der nun gemeinsame Weg des wiedervereinten Europa ist die Chance und Aufgabe aller Europäer.

Die beiden Europas strebten ihre Vereinigung in der Erinnerung an, dass sie beide Opfer totalitärer Regime mit deren Verachtung für die Freiheit und die Menschenrechte waren. Die demokratischen Strukturen des Westens, wie sie die EU verkörperte, wurden dabei als Garant für die demokratische Transition in den osteuropäischen Ländern verstanden: Die lange Nachkriegszeit fand damit endlich ihren Abschluss. Die Erarbeitung einer gemeinsamen Erinnerung, die den Krieg, den Kampf gegen Nationalsozialismus und Faschismus und den Kampf gegen die kommunistische Unterdrückung miteinbezog, bildete das Fundament für eine Erinnerung der EU, deren Kern der Antitotalitarismus als Form einer demokratischen Ideologie war. Und für

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dieses Europa nahm Deutschland eine Art Modellcharakter an. In diesem Sinne präzisierte Daniel Cohn-Bendit: Und wir, die wir nach 1945 geboren wurden, sind die Kinder Europas, aber auch die Kinder des Antitotalitarismus. Dieses Europa ist geschaffen worden, um das Wiedererstehen des Totalitarismus, ob des linken oder des rechten, für immer auszuschließen. […] Es gibt keine Ideologie zur Befreiung der Menschen. Es gibt nur ein kleines anfälliges Etwas, über das viele spotten und das ganz einfach ‚Demokratie‘ heißt. […] Aber Deutschland hat Beides gekannt: den Nationalsozialismus – diese Barbarei – und den kommunistischen Totalitarismus. So ist Deutschland auch Symbol für Europa, und wenn wir heute als Generation eine Verpflichtung haben, dann ist es die Verpflichtung zur Wahrheit. […] Weil wir zu dieser Wahrheit verpflichtet sind und weil wir an Europa glauben, müssen wir alle im Namen dessen, was Europa war und was es nie wieder werden darf, das Europa der Zukunft gestalten und organisieren.²⁹

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Auseinandersetzung um die Vergangenheit also zu einem Schlüsselfaktor für die zukünftige europäische Identität. Zum einen kam es vor allem zwischen Nachbarstaaten zu Versöhnungs- und Befriedungsversuchen, wobei es historisch gewachsene Spannungen aufzulösen galt. Hier lag der bevorzugte Tätigkeitsbereich der bilateralen „historischen Kommissionen“, die sich aus Wissenschaftlern der jeweiligen Nachbarstaaten zusammensetzen. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die 1990 eingerichtete Deutsch-Tschechische Kommission, die die Konfliktpunkte in der Geschichte der Beziehungen zwischen den beiden Staaten untersuchen sollte. Ihre Arbeit mündete in die von beiden Parlamenten verabschiedete Gemeinsame Erklärung von 1997 über die nationalsozialistischen Verbrechen an der tschechischen Bevölkerung und die Vertreibung der Sudetendeutschen durch die tschechoslowakische Regierung ein;³⁰ oder die von 1993 bis 2000 aktive italienisch-slowenische Kommission, die die Beziehungen zwischen den beiden Ländern im Zeitraum von 1880 bis 1956 durchleuchtete;³¹ schließlich die deutschitalienische Kommission, die von 2009 bis 2012 die Kriegserfahrungen zwischen 1943 und 1945 aufarbeitete und dabei ihr besonderes Augenmerk auf die italienischen Militärinternierten richtete.³² Erwähnen könnte man hier auch die Schulbuchkom-

 Die Diskussion führte zu einer Entscheidung über die Zukunft Europas, in der die Notwendigkeit einer Erinnerungspolitik zum Zwecke der Versöhnung betont wurde; Ziel sei es, „unsere Erinnerungen auf dem Weg zu einem wirklich europäischen Gedenken zu teilen und miteinander zu verschmelzen und ein Wiederaufleben von Nationalismus und Diktatur zu verhindern.“ Der Beschluss wurde am 12. Mai 2005 mit 463 Ja-Stimmen, 49 Nein-Stimmen und 33 Enthaltungen angenommen.  Frank Hadler, Germany and the Czech Republic. Getting away from the past, in: The Polish Review 54.1, 2009, S. 77– 87.  Krozek Premik (Hrsg.), Relazioni italo-slovene 1880 – 1956. Relazione della Commissione storicoculturale italo-slovena. Triest 2004.  Wolfgang Schieder [u. a.], Riflessioni sui lavori della Commissione storica italo-tedesca 2008 – 2013, in: Italia contemporanea 272, 2013, S. 425 – 481; Christiane Liermann, Note su una Commissione storica italo-tedesca, in: Contemporanea. Rivista di storia dell’800 e del ’900 17.1, 2014, S. 165 – 172.

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missionen³³ und die Arbeitskreise, die sich in den einzelnen Ländern spezifischen Schlüsselmomenten der jeweiligen Nationalgeschichte zuwandten.³⁴ Diese intensive Arbeit der Wissenschaftler stellte eine nachhaltige politische Investition, eine Ressource – wie der deutsche Fall zeigt – für die Diplomatie und die internationalen Beziehungen dar.³⁵ Zum anderen beschäftigte man sich eingehend mit der (angeblichen) Kontinuität zwischen den beiden Totalitarismen und mit den Verbrechen des Kommunismus. In Übereinstimmung mit den anlässlich des 60. Jahrestages von 1945 formulierten Prinzipien erklärte der Beschluss 1481 des Europarates von 2006 zur Notwendigkeit der internationalen Verurteilung von Verbrechen totalitärer kommunistischer Regime unter Punkt 7 ausdrücklich, Geschichtskenntnisse und -bewusstsein stellten die Grundvoraussetzung dafür dar, dass sich künftig solche Verbrechen nicht wiederholten. Eine klare Position der internationalen Gemeinschaft, heißt es noch deutlicher, sei in diesem Zusammenhang grundlegend für die Erziehung der jungen Menschen. Immer mehr verschwommen nun die Grenzen zwischen einem historischpolitischen Urteil und der Beschlussfassung über eine historische Wahrheit – oder zumindest der Auferlegung einer Erinnerungspflicht. Die Gesetze, die sich auf unterschiedliche Weise, aber mit demselben Ziel gegen den „Negationismus“ richteten,³⁶ waren ein untrügliches Zeichen dafür, dass man entscheidende Aspekte und Themen aus jüngster Geschichte mit Entschiedenheit besetzen und bestimmen wollte, was wie erinnert werden sollte. Während also einerseits die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges im europäischen Bewusstsein weiterhin eine zentrale Rolle spielte, machte sie andererseits nicht mehr dessen Kern aus. Sie wurde vielmehr dahingehend umgedeutet und neu gefasst, dass sie ein Kapitel in der Geschichte des ideologischen Konflikts und der totalitären Regime im 20. Jahrhundert bildete. Sinn und Zweck bestand darin, eine Vereinigung der Erinnerungen vorzunehmen, welche die Erweiterung der EU-Grenzen begleitete.

 Deutschland hat bilaterale Schulbuchkommissionen zur Erarbeitung gemeinsamer Lehrbücher mit Frankreich, Polen, Tschechien und Israel eingerichtet; analoge Kommissionen bestehen zwischen Österreich und Slowenien, Ungarn und Tschechien.  Man denke nur an die Kommissionen und ihre Tätigkeit in den baltischen Ländern, die im Übrigen nicht ohne Spannungen ablief.  Mary N. Hampton/Douglas C. Peifer, Reordering German Identity. Memory Sites and Foreign Policy, in: German Studies Review 30.2, 2007, S. 371– 390; Jenny Wüstenberg/David Art, Using the Past in the Nazi Successor States from 1945 to the Present, in: The Annals of the American Academy of Political and Social Science 617.1, 2008, S. 72– 87. Vgl. auch Lily Gardner Feldman, The Principle and Practice of ‚Reconciliation‘ in German Foreign Policy. Relations with France, Israel, Poland and the Czech Republic, in: International Affairs 75.2, 1999, S. 333 – 356.  Die entsprechenden Gesetze wurden zwischen 1990 und 1997 in sieben europäischen Ländern verabschiedet (Frankreich, Österreich, Belgien, Spanien, Luxemburg, Schweiz und Deutschland); vgl. Andrea Brazzoduro, Una storia di Stato? Leggi memoriali, religione civile, conflitto, in: Studi storici 47.2, 2006, S. 405 – 422.

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Im Jahr 2008 fand diese Orientierung ihre Bestätigung. Zusätzlich zu den Gedenktagen, die in den verschiedenen europäischen Ländern gesetzlich eingeführt worden waren, erklärte am 23. September das Europäische Parlament den 23. August zum European Day of Remembrance for Victims of Stalinism and Nazism. Und am 28. November verpflichtete der Rahmenbeschluss 913 des Rates der Europäischen Union zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um das „öffentliche Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen“ zu verfolgen und zu bestrafen. Viele europäische Länder folgten dieser Aufforderung, so dass nunmehr 17 Staaten den Tatbestand des „Negationismus“ in ihre Strafgesetzbücher eingeführt haben.³⁷ Diese Entscheidung ging einige Monate später in den Beschluss des europäischen Parlaments vom 2. April 2009 mit dem Titel Europas Gewissen und der Totalitarismus als einer ihrer Leitsätze ein. Obgleich in ihr eingeräumt wurde, dass es keine völlig objektive Geschichtsschreibung geben und kein Parlament die Vergangenheit gesetzlich regulieren könne, hieß es wie bereits in der Resolution des Europarates von 2006, dass „die Erinnerung an die tragische Vergangenheit Europas wach gehalten werden muss, um die Opfer zu ehren, die Täter zu verurteilen und die Fundamente für eine Aussöhnung auf der Grundlage von Wahrheit und Erinnerung zu legen.“³⁸ Im Dezember 2010 erklärte die europäische Kommission: Die Erinnerung an die Verbrechen totalitärer Regime zu pflegen und weiterzutragen ist auch deshalb wichtig, weil vor allem den jüngeren Generationen die Bedeutung der Förderung von Demokratie und Grundrechten nahegebracht werden soll.

Mit der Erziehung zur aktiven Bürgerschaft sollten „wesentlich die staatsbürgerliche Kompetenz und die demokratischen Werte Jugendlicher“ gefördert werden. In die gleiche Richtung geht die Warschauer Erklärung vom 23. August 2011 über

 Emanuela Fronza, Il negazionismo come reato. Mailand 2012; Dies., Diritto e memoria. Un dialogo difficile, in: 900. Per una storia del tempo presente 10, 2004, S. 47– 59.  2009 finanzierte die europäische Kommission eine vom Madrider Instituto de Poli´ticas y Bienes Pu´ blicos durchgeführte Studie über die Art und Weise, in der die Mitgliedsstaaten die Fragen zur Erinnerung der von den totalitären Regimen verübten Verbrechen behandelten. Die von Carlos Closa Montero koordinierte, in den ersten Monaten des Jahres 2010 abgeschlossene Untersuchung (Study on how the memory of crimes committed by totalitarian regimes in Europe is dealt with in the Member States,) wurde den Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament überreicht. Am 22. Dezember 2010 hat die Kommission dem Parlament einen Bericht über die Erinnerung an die von den totalitären Regimen begangenen Verbrechen vorgelegt. Er enthält einen „Aktions“plan, der von der Einrichtung von Gedenktagen bis zur Unterstützung von Maßnahmen einer „aktiven europäischen Erinnerung“, von der Finanzierung von Forschungsvorhaben und audiovisuellen Projekten bis zur Einrichtung einer Plattform für das Gedächtnis und das Gewissen Europas (konsultierbar unter der Adresse www.me moryandconscience.eu, letztmalig abgerufen am 21.9. 2017) reicht.

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our determination to uphold the remembrance of the crimes committed by totalitarian regimes, in particular through raising awareness of our common history and by fostering European values, and thus prevent their reoccurrence.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich die Entwicklung einer öffentlichen Erinnerung in Europa von 1945 bis heute in drei Phasen untergliedert. In der ersten identitätspolitischen Phase, die von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in die zweite Hälfte der 1970er Jahre reicht, herrschte die nationale Ausrichtung der Erinnerung vor. Deren wichtigste Träger waren die politischen Parteien und Regierungen; sie wechselten zwischen der patriotisch ausgerichteten Gedenkfeierkultur und dem militanten Antifaschismus und verknüpften diese beiden Dimensionen, wobei sie je nach dem politischen Zusammenhang und den internen Spaltungen innerhalb eines jeden Landes den einen oder den anderen Aspekt betonten. Darauf folgte in den 1980er und 1990er Jahren eine institutionell-pädagogische Phase, in der die öffentliche Erinnerung zunehmend den Charakter einer institutionellen, institutionalisierten Erinnerung annahm, wobei die Institutionen, vor allem die Regionalregierungen, als Organisatoren an die Stelle der Parteien traten. Das Instrument der Politik und der kollektiven Identität ging tendenziell in eine administrative Funktion über, und das Paradigma der „Erinnerungspflicht“, (der staatsbürgerlichen und pädagogischen Notwendigkeit, die Erinnerung zu pflegen)³⁹ das aus der zentralen Rolle, die die Shoah im öffentlichen Diskurs über den Krieg und Nationalsozialismus spielte, folgte und durch sie bedingt wurde, erlangte eine institutionelle Bedeutung. Mit dem neuen Jahrtausend schließlich setzte die normativ-transnationale Phase ein. Die (pädagogische) „Erinnerungspflicht“ mündete in die (normative) „Pflicht der europäischen Identität“, wobei man davon ausging, dass das – im Westen herangereifte und entworfene – Europa historisch der Träger und Hüter der Werte von Demokratie und Freiheit, von Frieden und Gerechtigkeit war. Gemeint ist damit das Europa der Rechte, der Justiz, der Solidarität, wie es das Stockholmer Programm für den Zeitraum von 2010 bis 2014 skizziert hat. Vorrangig sollte die Unionsbürgerschaft gestärkt und – im Anschluss an den Rahmenbeschluss von 2008 gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sowie insbesondere mit Blick auf die Schutzbedürftigkeit der Opfer – ein europäischer Rechtsraum in der gesamten EU geschaffen werden. Das angestrebte Europa ist ein Raum, in dem gemeinsame Werte gelten, die unvereinbar mit Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen, einschließlich Verbrechen von totalitären Regimen, sind [und wo] die Erinnerung an jene Verbrechen im Interesse der Versöhnung eine kollektive Erinnerung sein [muss], die von uns allen geteilt […] wird.

 Hans Kellner, „Never Again“ is Now, in: History and Theory 33.2, 1994, S. 127– 144.

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Dieses Europa, das sich historisch als Bollwerk gegen jegliche Form von Totalitarismus und zur Verteidigung der Demokratie versteht, will aus dieser historischen „Berufung“ eine Identitätssäule für seine Einwohner machen. Im Rahmen eines ehrgeizigen Versuchs zur Europäisierung der nationalen Erinnerungen waren die Bürger der europäischen Staaten zu Beginn dieses Jahrhunderts dazu aufgerufen, eine gemeinsame Identität zu akzeptieren und die nationale Zugehörigkeit um die europäische Identität zu bereichern, ja durch sie zu ersetzen.⁴⁰ Die Erinnerung und das Gedenken wurden nun in einen neuen, immateriellen politischen Raum gestellt, in den des europäischen Bewusstseins. Dieser Übergang in eine neue Phase wurde in den Ansprachen greifbar, mit denen der italienische und der deutsche Staatspräsident, Carlo Azeglio Ciampi und Johannes Rau, am 17. April 2002 gemeinsam des Massakers von Monte Sole-Marzabotto gedachten. So führte Ciampi aus: Nie mehr soll es zu Hass und Blutvergießen unter den Völkern Europas kommen. Seit damals haben die Ablehnung der totalitären Ideologien und Nationalismen, die disziplinierende Kraft von Freiheit und Demokratie eine immer engere Union von Menschen und Staaten geschaffen: die Europäische Union. Dank dieses Werkes, das wir fortführen wollen, befinden wir uns heute hier, als Bürger Europas, geboren in Deutschland und geboren in Italien, verbrüdert, vereint durch dieselben Gefühle und Ziele.

Und entsprechend äußerte sich Rau: Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, als die Waffen endlich schwiegen, da lagen große Teile Europas in Trümmern und Versöhnung schien kaum möglich. […] Unter den Staatsmännern, die sich daran gemacht haben, die Fundamente für ein neues Europa zu legen, waren ein Italiener und ein Deutscher, zwei Gegner von Faschismus und Nationalsozialismus: Alcide de Gasperi und Konrad Adenauer. Sie wollten, das war ihre Vision, dass nationaler Egoismus durch Zusammenarbeit ersetzt werde, und allen sollten daraus Vorteile erwachsen. Es ging nicht nur um Wohlstand, es ging auch um Friede und Sicherheit. Diese Vision ist jetzt Wirklichkeit geworden. Wir können dankbar und mit Freude sagen, dass unsere beiden Länder großen Anteil daran hatten und haben, das neue, geeinte Europa zu bauen. Das große Einigungswerk wird nur Erfolg haben, wenn wir es zu unserer Sache machen – mit Herz und Verstand. […] Ich möchte Ihnen heute dafür danken, dass Marzabotto ein Ort ist, der Italiener und Deutsche nicht entzweit, sondern zusammenführt. Was hier geschehen ist, das Schreckliche, ist Teil unserer gemeinsamen Geschichte. Aber daraus erwächst ein Auftrag für eine gemeinsame, friedliche Zukunft.

Derselbe Vorgang wiederholte sich 2013 in S. Anna di Stazzema, wo der deutsche und der italienische Staatspräsident, Joachim Gauck und Giorgio Napolitano, zusammenkamen, um des Massakers zu gedenken. „Es wäre unerhört“, sagte Napolitano, wenn wir zuließen, dass sich das von uns geschaffene Gut der Einheit und Brüderlichkeit auflöst. Die Regierungen in Deutschland und in Italien werden nicht erlauben, dass dieses Gut verschwendet wird, sondern werden den europäischen Aufbau vorantreiben.

 Jan Palmowski, The Europeanization of the Nation-State, in: Journal of Contemporary History 46.3, 2011, S. 631– 657.

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Und Gauck fügte hinzu: „In Sant’Anna di Stazzema wurde die menschliche Würde mit Füßen getreten, und heute sind wir hier, um das Wunder der Versöhnung zu feiern.“ Bleibt jedoch die Frage, ob der Versuch, nach dem Leitwort der europäischen Dokumente „Your past is our past“ eine gemeinsame Geschichte zu entwerfen, nicht wieder darauf hinausläuft, dass die unangenehmen Erinnerungen verdrängt werden –⁴¹ so zum Beispiel die Tatsache, dass Italien und Deutschland, die heute die gemeinsame Erinnerung der Gewalttaten vereint, früher mit vereinten Kräften die Prozesse gegen die Verantwortlichen versanden ließen; oder die noch heute in der öffentlichen Meinung nachwirkende, durch die Selbstdarstellung Italiens als Opfer (des nationalsozialistischen Deutschlands) möglich gewordene Verdrängung der drückenden Verantwortung der Italiener für die Entfesselung des Krieges und für die Gewalttaten gegenüber den Völkern Griechenlands, Jugoslawiens, der UdSSR und Nordafrikas. Zu fragen bleibt ferner, welche Auswirkungen die Verdrängung und Kriminalisierung der kommunistischen Vergangenheit hatten, verhindern sie doch – wie bereits nach dem Krieg in Frankreich, Italien, Deutschland und überall dort, wo es eine Form von Kollaborationismus gegeben hat – die kritische Reflexion darüber, wie man unter dem Regime eines autoritären Einparteienstaats leben und sogar mit ihm kollaborieren kann. Zu fragen bleibt schließlich, ob die vorrangige Deutung des 20. Jahrhunderts als ein „Jahrhundert der Wölfe“ – in dem man im Rudel handelt und den Opfern keinen Ausweg lässt – nicht einen Schleier des Vergessens über ein nicht weniger typisch europäisches und nicht weniger gewaltträchtiges Phänomen wie den Totalitarismus breitet, d. h. den Nationalismus (der im Übrigen in den heutigen osteuropäischen Ländern einen weit wirkungsvolleren Kohäsionsfaktor darstellt als die artifizielle europäisch-transnationale Erinnerung). Und schließlich muss man sich als Historiker fragen, welchen Einfluss der öffentliche Diskurs und die Erinnerungspolitik auf die Geschichtsschreibung ausüben, inwiefern sie ihre Lesarten und Untersuchungsperspektiven orientieren und den Wissenschaftlern eine Rolle zuschreiben, die über die Forschung und Lehre hinausweist.⁴²

4 Historiker und Geschichte „The question whether the punishment of war crimes committed by the enemy is desirable, expedient and practicable is a problem of politics rather than of law“, schrieb 1944 ein hervorragender Jurist, Hersch Lauterpacht, mit Blick auf die Frage, ob nach Kriegsende Prozesse eingeleitet werden sollten. Er legte nahe, aufmerksam zu prüfen, welche Folgen die Straflosigkeit auf das Recht und eine Bestrafungspolitik auf  Małgorzata Pakier/Bo Stråth (Hrsg.), A European Memory? Contested Histories and Politics of Remembrance. New York 2010; Filippo Focardi/Bruno Groppo (Hrsg.), L’Europa e le sue memorie. Politiche e culture del ricordo dopo il 1989. Rom 2013.  Elazar Barkan, Historians and Historical Reconciliation, in: The American Historical Review 114.4, 2009, S. 899 – 913.

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die Versöhnung der früheren Feinde und die Rückkehr zur Normalität in den internationalen Beziehungen haben würde. Daraus ergab sich nach Lauterpracht der politische Charakter der Bestrafung von Kriegsverbrechen, die hier als Verbrechen gegen das internationale Recht verstanden werden. Doch gerade die Bestrafung „of these crimes, however distasteful it may be in its concrete application, is a by no means belated measure of enforcement of international law.“⁴³ Darin besteht der unüberwindbare Widerspruch – es ist dies der Grundwiderspruch der Nürnberger Prozesse und anderer analoger Strafverfahren – zwischen dem politischen Charakter des internationalen Rechts und der Notwendigkeit, es zum Zwecke der Abschreckung gegen Kriegsverbrechen und der Friedenswahrung zu stärken einerseits, und der Übertragung der Urteilsvollmacht auf den Sieger, d. h. der Gewalt, unvermeidlich eine Form von politischer Justiz auszuüben andererseits. Nicht sehr viel anders stellt sich die Frage des öffentlichen Gebrauchs von Geschichte. Dass die Vergangenheit bei einem Regimewechsel – auch zum Zwecke der Legitimierung der neuen Ordnung – Diskussionen und Manipulationen ausgesetzt ist, überrascht nicht und erregt auch keinen Anstoß. In Anlehnung an Lauterpracht handelt es sich dabei aber um ein politisches, nicht um ein historiographisches Problem. Der öffentliche Diskurs über die Vergangenheit bietet sicherlich einen Weg, um nach einem Regimewechsel die Wunden zu heilen und die Geister zu versöhnen. Aber das ist Aufgabe der neuen Führungsschichten, nicht der Historiker, zumindest insofern diese ihrem eigentlichen Beruf nachgehen und die Vergangenheit untersuchen. Die Versöhnung schaut in die Zukunft, sie ebnet der Politik den Weg zu einem geteilten gemeinsamen Ziel. Die historische Forschung richtet sich auf die Vergangenheit, sie kann dem kritischen Verständnis der Gegenwart dienen, darf aber gewiss nicht auf die Erfordernisse eines Zukunftsplanes hingebogen werden. Sache der Politik ist es, Elemente und Faktoren zu ermitteln, die die Kohäsion unter den Staatsbürgern fördern, und nach Wegen zu suchen, die einen Schlussstrich ermöglichen. Insofern die Regierung der Gesellschaft in ihren Händen liegt, muss sie einen zukunftsbezogenen Diskurs über die Vergangenheit erarbeiten. Aus der politischen Anerkennung der in der Vergangenheit aufgetretenen Brüche können Überlegungen hervorgehen, die sich auf eine Versöhnung richten. Die Geschichtsschreibung kann in dieser Hinsicht auf keinen Fall an die Stelle der Politik treten. Sie tat es nicht 1945; damals setzten sich die politischen Führungsschichten für die Beseitigung der durch den Krieg verursachten moralischen – mehr noch als der materiellen – Schäden ein. Auch in der langen Nachkriegszeit waren Gesten von symbolischer Kraft, so Willy Brandts Kniefall 1970 in Warschau zur Erinnerung an die Zerstörung des Ghettos oder Kohls und Mitterands Initiative, als sie 1984 in Verdun Hand in Hand der Gefallenen  Hersch Lauterpacht, The Law of Nations and the Punishment of War Crimes, in: British Year Book of International Law 21, 1944, S. 58 – 95; jetzt auch in Guénaël Mettraux (Hrsg.), Perspectives on the Nuremberg Trial. Oxford 2008. Hier zitiert nach Hersch Lauterpracht, International Law. Collected Papers, hrsg. v. Elihu Lauterpracht, Bd. 5: Disputes,War and Neutrality, parts IX – XIV. Cambridge 2004, S. 491– 537, hier S. 491.

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des Ersten Weltkrieges gedachten, von unschätzbarem pädagogischem und staatsbürgerlichem Wert – sie zeugen davon, dass die Politik die Verantwortung für die Gestaltung der Zukunft übernommen hatte. Nichts Derartiges findet man in dem hier nur in groben Zügen nachgezeichneten Zeitraum. Zweifellos äußerte sich die Politik nach 1989 zur Vergangenheit, insofern sie das Demokratiemodell für Europa auf den antitotalitaristischen Diskurs gründete. Aber es schien dabei eher um die aktuelle Delegitimierung derjenigen zu gehen, denen vor allem im Osten vorgeworfen wurde, die Erben der kommunistischen Vergangenheit zu sein, als um die Entwicklung eines Zukunftsprojekts. Die Geschichte wird hier gegen jemanden und nicht zugunsten eines politischen Versöhnungsplans eingesetzt. Nachdem man den Grundstein für die politische Erfindung einer gemeinsamen europäischen Identität gelegt hatte, behandelte man die Angelegenheit wie einen beliebigen, den „Technikern“ überlassenen Verwaltungsakt. Unter ihnen die Historiker, die die Rolle zu übernehmen scheinen, sich innerhalb ihrer Zunft über die großen Fragen der Vergangenheit – immer wieder Grenz- und Gewaltprobleme – zu verständigen und auf der Grundlage der Ergebnisse, zu denen sie durch den interhistoriographischen Kompromiss gelangen, den Prozess zur Erarbeitung eines neuen gemeinsamen historischen Sinnes anzustoßen vermögen. Die neutrale historiographische Technik scheint gleichsam eine Art „Objektivierung“ zu bewirken, mit der die Historiker als „Experten“ und „Spezialisten“ dem Allgemeinverständnis und dem politischen Diskurs über die Vergangenheit einen „Wahrheitswert“ zuzuteilen vermögen. Die Frage stellt sich, inwieweit davon nicht die Definition selbst der historiographischen Relevanz berührt wird. So mag es durchaus sein, dass die bilateralen historischen Kommissionen nicht von ihren Auftraggebern beeinflusst wurden und ihre Arbeit nicht nur neue Erkenntnisse brachte und neue Quellen erschloss, sondern auch die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen historischen Kulturen einleitete. Es ist aber ebenso wahr, dass die Auftraggeber über die Relevanz der behandelten Themen entschieden, steckten sie doch die zu behandelnden Themenfelder ab und legten implizit das politisch-staatsbürgerliche Ziel der Forschungsarbeit fest, wobei sie sich von der vagen, zugleich aber auch versteckt normativen Absicht leiten ließen, in Ländern, die sich in der jüngsten Vergangenheit feindlich gegenüberstanden, eine gemeinsame Erinnerung zu schaffen. Der Abschlussbericht der Deutsch-Italienischen Historikerkommission beispielsweise betont, dass es dringlich sei, Stereotypen abzubauen und ihrer Verbreitung „in einem allmählichen Prozess historischer Aufklärung“ entgegenzuwirken, dass es „zwingend notwendig [sei], auf beiden Seiten den Blick freizumachen für historische Verstrickungen und Verantwortlichkeiten“, und dass man die Gleichgültigkeit gegenüber den Leiden der Opfer bekämpfen und die Verantwortlichkeiten öffentlich

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anerkennen müsse.⁴⁴ Sind das Aufgaben der Historiker? Selbst wenn sie in diese Richtung gehen wollten, bleibt die Frage, mit welchen Mitteln sie derart weitreichende kulturelle, politische und gesellschaftliche Prozesse unterstützen können, die von gesellschaftspolitischen Entscheidungen, von der Definition, was erinnert werden soll, und von den komplexen Funktionsmechanismen der Erinnerung und des Gedenkens abhängen. Gehört es tatsächlich zu den Aufgaben von Historikern, gegen Stereotypen anzukämpfen, Verantwortung für ein ganzes Land zu übernehmen, der Gleichgültigkeit entgegenzuwirken und Selbstkritik zu fördern? Das können sie in ihrer Eigenschaft als Staatsbürger tun, nicht aber, wenn sie sich als Wissenschaftler äußern. Im Übrigen hat die Deutsch-Italienische Historikerkommission selbst Zweifel in diesem Zusammenhang angemeldet und nur dazu geraten, sich aus einem historiographischen Blickwinkel offen dem jeweils anderen Partner zuzuwenden. Und wenn sie einerseits erklärt, dass die Positionen der Historiker bei der allgemeinen Einschätzung der Gegebenheiten nicht voneinander abweichen, andererseits aber feststellt, dass außerhalb der scientific community die Differenzen weitaus größer sind, räumt sie damit nicht implizit ein, dass der Ort und die Werkzeuge zur Erfindung einer gemeinsamen Erinnerung andere sind? Und dass die Historiker auf diese Erinnerungsprozesse nur einen relativ geringen Einfluss ausüben können? Außerdem stellt sich die Frage, ob ein wissenschaftliches Forschungsprojekt nicht von historischen Problemknoten, sondern von potentiell oder tendenziell antagonistischen Spannungsfeldern zwischen nationalen Identitäten und Erinnerungen seinen Ausgang nehmen kann. Auch bleibt zweifelhaft, ob das Kernproblem der europäischen Geschichte tatsächlich im Totalitarismus des 20. und nicht vielmehr im Nationalismus des 19. Jahrhunderts zu suchen ist, erscheinen die verschiedenen totalitären Formen in Wirklichkeit doch nur als eine kurze Phase in der Geschichte der europäischen Nationalismen, während das Jahr 1989 – im Osten, aber nicht nur dort – wieder die Schleusen für die unterschiedlichen aggressiven, ausländerfeindlichen, rassistischen Partikularismen und Patriotismen geöffnet hat. Hier gilt es selbstverständlich den jeweils eigenen Entwicklungsgang in West- und in Osteuropa zu berücksichtigen. Im ersten Fall erleichtert die Existenz von Historiographien, die sich in den letzten Jahren – wenn auch nur teilweise – mit dem Thema der Grenzen, der nationalen Identitäten, der supranationalen Dimension der historischen Prozesse auseinandergesetzt haben, dass der Weg des Dialogs beschritten wird, während im Osten die postkommunistische Wende mit der Wiederaufwertung der nationalen, oftmals nationalistisch durchsetzten Dimension den Konsens und die politisch-gesellschaftliche Kohäsion gegenüber der neuen Regierungen gefördert hat. Wie lässt sich im Spannungsfeld zwischen dem Versuch, die nationalen Geschichten zu europäisieren, und dem Wiederauftreten von Nationalismus und Partikularismus eine gemeinsame Erinnerung entwickeln? Müsste man nicht eher von der historisch kon-

 Bericht der von den Außenministern der Bundesrepublik Deutschland und der Italienischen Republik am 28.03. 2009 eingesetzten Deutsch-Italienischen Historikerkommission, S. 18.

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fliktträchtigen Dimension der innereuropäischen Beziehungen, von der unterschiedlichen Geschichte der beiden Europas und weniger von der Erfindung einer nicht vorhandenen geteilten europäischen Erinnerung ausgehen? Das einzige Element, dass die europäischen Staatsbürger miteinander zu verbinden scheint, findet sich im der erwähnten Beschluss vom 2. April 2009 mit dem Titel Europas Gewissen und der Totalitarismus, worin die Erinnerung als ein Weg zur Ehrung der Opfer verstanden wird. Die Solidarität mit den Opfern – möglicherweise ein Reflex der Ära des Zeitzeugen – erweist sich also als ein Fundament der zeitgenössischen Demokratien, gleichsam als eine spezifische Form der égalité. Dieses „Opferparadigma“ hat sich nicht nur in der Politik, sondern auch in der Geschichtsschreibung nachhaltig durchgesetzt und es wäre interessant zu untersuchen, in welchem Maße dieses Phänomen mit der gleichzeitigen Ausdehnung der unterschiedlich gefärbten populistischen Strömungen in Europa zusammenhängt: Ein Berührungspunkt könnte in der Darstellung der „Zivilperson“ als eines Opfers von Nation und Staat (und Armee, die nur deren Weiterung ist), d. h. der von der großen Politik angenommenen Formen liegen. Die Zivilperson scheint zur Metapher des Menschen – des Staatsbürgers – zu werden, der zwangsläufig den Schikanen, Missbräuchen und Verfolgungen durch die Macht unterliegt. Die Solidarität mit den Opfern kann vielleicht in einer gewissen Weise ein Verlangen nach Gerechtigkeit und nach Bestrafung der „Henker“ hervorrufen, vor allem dann, wenn die Opfer keine angemessene Entschädigung sei es rechtlicher, ökonomischer oder moralischer Natur erhalten haben. In diesem Zusammenhang sei bemerkt, dass dem „Verrechtlichungsprozess“, dem die Geschichte unterworfen ist, die Rolle entspricht, die die Historiker in zunehmendem Maße als Sachverständige in Entschädigungs- und Strafverfahren einnehmen, in denen die Taten aus der Vergangenheit verhandelt werden.Werden die Historiker auf der zeitgeschichtlichen Bühne, die immer mehr von Opfern und Henkern bevölkert wird, am Ende als die „Retter“ und „Erlöser“ auftreten? Diese Frage führt gleich zur nächsten: Was wird aus dem Konzept der historischen Wahrheit? Denn wenn die Historiker sich das Ziel setzen, „Gerechtigkeit zu üben“ – in dem Sinne, dass sie die Opfer zu Wort kommen lassen und von ihrem Leiden Zeugnis ablegen –, wenn sie zur Versöhnung und Befriedung beitragen und an einem staatsbürgerlichen Erziehungsprojekt teilhaben wollen, dann verzichten sie darauf, an der historischen Wahrheit mitzuwirken, geben vielmehr der politischen Wahrheit den Vorrang. Man sucht nicht mehr nach einer Wahrheit, die den tatsächlichen Ereignissen nahe kommt, die jederzeit auf der Grundlage neuer Forschungen und Quellenfunde bzw. durch neue Fragestellungen in Zweifel gezogen werden kann, die also nie endgültig ist, man ersetzt sie vielmehr durch eine Wahrheit, mit der die politische Aktion gerechtfertigt und ein abschließendes Urteil ratifiziert werden soll.⁴⁵

 Michele Battini, La questione della verità. Giustizia, memoria, storia, in: Parole chiave 53.1 2015, S. 171– 180; aus einem anderen Blickwinkel Isabella Rosoni, Verità storica e verità processuale. Lo storico diventa perito, in: Acta Historiae 19. 1/2, 2011, S. 127– 140.

Die Konstruktion einer Erinnerung zwischen Vergangenheit und Zukunft

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Die Zunahme der Erinnerungsgesetze, die Festlegung dessen, was wie kollektiv erinnert werden soll, die daraus resultierende Orientierung von Ressourcen und Forschungsstrukturen, die wachsende Tendenz, die Ereignisse der Vergangenheit vor Gericht zu ziehen, suggeriert all dies nicht, dass es Wahrheiten gibt, die sich auf administrativem und gerichtlichem Wege klären lassen? Das Problem besteht nicht nur in der potentiellen Gefahr für die Meinungsfreiheit, wie in vielen Ländern eingewandt wurde, sondern in der von diesen normativen Maßnahmen geförderten Annahme, dass es die eine Wahrheit in der Geschichte gebe, d. h. eine umfassend geteilte, unanfechtbare Lesart der historischen Fakten, auf deren Grundlage Recht und Unrecht festgelegt und verteilt werden kann. Demgegenüber besteht der einzige für die Historiker verfügbare Wahrheitsraum darin, solche instrumentellen Deutungen von Partikularinteressen insbesondere identitätsstiftender, nationaler oder transnationaler Natur systematisch zu delegitimieren. Aus einem solchen kritischen Ansatz kann nur eine fragile historische Wahrheit hervorgehen, die zuweilen unangenehm, aber niemals willfährig ist. Möglicherweise können nur zum Teil exzentrische, zum Teil in den Institutionen und in der Kulturindustrie nur eine marginale Rolle spielende Wissenschaftler diese Form von Wahrheit wirklich praktizieren: Wahrscheinlich kann man der Aufgabe nur gerecht werden, wenn man in der Gesellschaft und im eigenen Fach eine gewisse Außenseiterrolle einnimmt: Der Historiker als Hofnarr, der den Mächtigen einige unangenehme Wahrheiten sagt, worüber sie dann zur Tagesordnung übergehen können.⁴⁶

Andernfalls muss man fürchten, dass nach 1989 auch für Europa gilt, was Sebald über den legendäre[n] und […] bewundernswerte[n] deutsche[n] Wiederaufbau [sagte, der] einer in sukzessiven Phasen sich vollziehenden zweiten Liquidierung der eigenen Vorgeschichte gleichkam [indem er die] Bevölkerung ausnahmslos auf die Zukunft aus[richtete] und […]sie zum Schweigen über das [verpflichtete], was ihr widerfahren war [und] ein auf die individuelle und kollektive Amnesie bereits eingestimmtes, wahrscheinlich von vorbewußten Prozessen der Selbstzensur gesteuertes Instrument zur Verschleierung einer auf keinen Begriff mehr zu bringenden Welt [schuf].⁴⁷

 Zur Begründung dieser These vgl. Wolfgang Reinhard, Storiografia come delegittimazione, in: Scienza & Politica 27, 2002, S. 3 – 13.  Winfried G. Sebald, Luftkrieg und Literatur. Frankfurt a. M. 2001, S. 16 f.

IV. Kommentar

Axel Schildt

In der Welt historischer Kommissionen. Oder: Die Spezifik der Deutsch-Italienischen Historikerkommission Ich habe meinem Kommentar den Titel „In der Welt historischer Kommissionen“ gegeben, weil ich meine, dass wir unter den Rahmenbedingungen einer vitalen privaten und staatlichen Auftragsforschung zur Aufarbeitung von Vergangenheiten leben. Das heißt, dass ein Wehklagen darüber oder gar eine Verteufelung dieser Welt nur als kulturpessimistisches Lamento vorstellbar wäre. Etwas anderes ist es aber, die Situation als historisch gewordene und damit veränderbare zu begreifen; insofern als Historiker Teil eines erinnerungspolitischen Komplexes sind, nicht als rein passiver Teil, sondern als Akteure, die realistisch ihre Einflussmöglichkeiten und damit ihre gesellschaftliche Verantwortung auszuloten haben.

I Wir beobachten eine wachsende Zahl von Kommissionen auf nationaler, regionaler und lokaler sowie auf transnational-bilateraler Ebene (Deutschland-Polen, Deutschland-Frankreich, Deutschland-Tschechien/Slowakei, Deutschland-Italien und hoffentlich auch irgendwann einmal Deutschland-Griechenland) zur Aufarbeitung der verbrecherischen Aspekte des „Dritten Reiches“ und des Zweiten Weltkriegs. Sie sind Teil einer geschichtspolitisch induzierten Erinnerungslandschaft, die – ungeachtet einiger Vorläufer – seit dem Ende des Kalten Krieges, also seit den 1990er Jahren, die politische Kultur prägt. Das allgemeine Muster besteht seitdem darin, dass vergessene und verdrängte Sachverhalte in der Öffentlichkeit – ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende und länger – skandalisiert werden und staatliche sowie private Institutionen Betroffenheit und die Bereitschaft ausdrücken, heiklen Fragen nicht länger auszuweichen und Aufklärung zu schaffen. Als berufene Experten sind – in erster Linie – Historikerinnen und Historiker dafür mit Aufträgen bedacht worden. Es schlug die Stunde der Kommissionen. Fast immer, auch das gehört zum allgemeinen Muster, wurde betont, dass diese „unabhängig“ arbeiten, ein Gütesiegel, das eigentlich eine wissenschaftliche Selbstverständlichkeit transportiert, auf dem allgemeinen Markt kommerzieller Werbung aber üblich ist und zudem öffentlichem Misstrauen nach Jahrzehnten staatlicher Untätigkeit Rechnung trägt. Warum ist eigentlich der Begriff der „Kommission“ so prominent geworden? Der Hauptgrund ist wohl, dass der Begriff in der medialen Öffentlichkeit die Weisheit eines Expertenkollektivs suggeriert. Gemeinsam diskutiertes Wissen fungiert als unübertreffliche Super-Addition, die etwas autoritativ Einschüchterndes in sich trägt https://doi.org/10.1515/9783110541144-019

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und haben soll, als Suggestion der Abgeschlossenheit eines Forschungsthemas. Wenn eine Kommission gemeinsam die Wahrheit festgestellt hat, dann steht sie scheinbar unumstößlich fest und wird kaum durch einzelne Wissenschaftler außerhalb des Verbundes infrage gestellt werden. Damit ist die Gefahr verbunden, dass, gegen den wissenschaftlichen Impetus der Öffnung neuer Forschungsfelder, gegen den Gedanken der prinzipiellen Unabgeschlossenheit empirischer Studien und den des Nachdenkens über ein Problem, mit dem Abschlussbericht das Zertifikat einer Überprüfung steht, wie wir es von technischen Kontrollen etwa bei Automobilen oder Flugzeugen kennen. Dieses Zertifikat lässt sich von den Auftraggebern stolz vorzeigen. Die Konjunktur der Kommission hat also in erster Linie etwas mit außerwissenschaftlichen, präziser: mit politischen und medialen Logiken zu tun. Dagegen ließe sich einwenden, dass kollektive Arbeitsformen von Deutungseliten zur Signatur der Moderne gehören. Aber für unser Thema ist dies zeitlich zu präzisieren. Es ist zu beobachten, dass Kommissionen erst seit den 1980/1990er Jahren zur dominanten geschichtspolitischen Formation für Forschungen über die faschistische bzw. nationalsozialistische Zeit, über die Verbrechen des NS-Regimes und den Umgang damit in der Nachkriegszeit geworden sind. Diese kollektive Form hat die Ausnutzung der Prominenz einzelner Historiker abgelöst, wie sie in den 1980er Jahren noch üblich war, als es noch nicht um staatliche, sondern um Aufträge zur Erforschung der NS-Vergangenheit einzelner großer Unternehmen ging, wie etwa bei der Beauftragung von Hans Mommsen durch den Automobilkonzern Volkswagen, wobei dann in der Regel für die Auswertung der Quellen jüngere Bearbeiter angeworben wurden.¹ Es gibt zwar immer noch den einzelnen Zeithistoriker, der exklusiven Zugang zu privaten Archiven erhält, wie etwa Hans Peter Schwarz für seine Biographie über den Medien-Tycoon Axel Springer oder Gregor Schöllgen für seine zahlreichen Porträts von Unternehmerpersönlichkeiten.² Aber um die Seriosität der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit staatlicher oder öffentlich-rechtlicher Unternehmen zu beglaubigen, bedarf es heute, wenn es um vermutete „Leichen im Schrank“ geht, in der Regel einer Kommission. Ziel ist dabei nicht in erster Linie der Aufweis pluraler Perspektiven auf ein Geschehen, sondern die Präsentation einer nach harten Forschungsanstrengungen gemeinsam vertretenen Meinung.

II Die Gründe für die verstärkte Diskussion um die Verbrechenskomplexe des Zweiten Weltkriegs in Deutschland können mittlerweile bereits aus der Distanz eines Viertel Hans Mommsen/Manfred Grieger, Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich. Düsseldorf 31997 [1996].  Hans-Peter Schwarz, Axel Springer. Die Biographie. Ungekürzte Ausgabe. Berlin 2009 [2008]; zuletzt Gregor Schöllgen, Gustav Schickedanz 1895 – 1977. Biographie eines Revolutionärs. Berlin 2010.

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jahrhunderts benannt werden. Für die enorme Dynamik, die die Diskussion in den 1990er Jahren gewann, waren in erster Linie nicht die nach dem Ende des Kalten Krieges neu, vor allem in den osteuropäischen Ländern, zur Verfügung stehenden Quellen ursächlich, anhand derer sich besonders vergessene deutsche Kriegsverbrechen besser untersuchen lassen. Dies war fachwissenschaftlich wichtig, spielte aber wohl nur eine sekundäre Rolle in der allgemeinen Öffentlichkeit. Vielmehr ging es dort primär um die Skandalisierung des Umgangs mit diesem Themenfeld, um die jahrzehntelange Vertuschung und Weichzeichnung konkreter Verantwortung und um die enorme biographische Kontinuität in staatlichen Behörden, der Polizei, der Armee, den Geheimdiensten, aber auch in Kirchen, Universitäten, Banken und Industrieunternehmen in der gesamten Gesellschaft der Bundesrepublik. Tatsächlich konnte man in etlichen Feldern der Funktionseliten in den Gründerzeiten der Bundesrepublik nur dann erfolgreich Karriere machen, wenn man sich in den professionellen Netzwerken zu bewegen wusste, die aus dem „Dritten Reich“ herrührten. Das galt für den Justiz- und Polizeidienst ebenso wie für den Journalismus: Die Karrieren der Polizeipräsidenten der westdeutschen Großstädte hatten zum weit überwiegenden Teil über das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) geführt, viele kannten sich aus jenen Tagen³; und ähnlich lag der Fall, mutatis mutandis, bei den Journalisten, also jener Profession, die für die öffentliche Thematisierung solcher Fakten zuständig gewesen wäre. Aber was hätte man erwarten sollen, wenn mehr als vier Fünftel auch in der NS-Zeit ihren Beruf ausgeübt und die Publizisten der meinungsbildenden Blätter der Bundesrepublik zum großen Teil – übrigens bis hin zum ersten Bundespräsidenten – für die von Joseph Goebbels herausgegebene Wochenzeitung „Das Reich“ gearbeitet hatten?⁴ Diese Kontinuität ist seit den späten 1950er Jahren zunehmend und besonders radikal von der Studentenbewegung 1968 thematisiert worden. Seit den 1980er Jahren wuchs zudem die (geschichts‐)wissenschaftliche Einsicht, dass es sich nicht nur um eine Elitenkontinuität handelte, sondern auch über eine „Volkskontinuität“ (Lutz Niethammer) diskutiert werden müsste. Aber auch danach wurden kritische Historiker, die sich mit personellen Kontinuitäten und Kontinuitäten staatlicher Institutionen und ihres Amtsverständnisses über die Regimegrenzen hinweg befassten, diffamiert und – zumindest – als naive Helfer der kommunistischen Propaganda hingestellt. Wer eine akademische Karriere anstrebte, ließ besser die Finger von diesem Problemkomplex.⁵

 Klaus Weinhauer, Schutzpolizei in der Bundesrepublik. Zwischen Bürgerkrieg und innerer Sicherheit. Die turbulenten sechziger Jahre. Paderborn 2003; Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburg 2002.  Reiner Burger, Theodor Heuss als Journalist. Beobachter und Interpret von vier Epochen deutscher Geschichte. Münster 1999.  Das zeigt die Kampagne der Apologeten des Auswärtigen Amtes gegen die Studien von Hans-Jürgen Döscher, Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der „Endlösung“. West-Berlin

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Erst in den 1990er Jahren, nach der Verrentung und Pensionierung auch der jüngsten Soldaten des Zweiten Weltkriegs, entbrannte wegen der „Wehrmachtsausstellung“ („Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht; Wanderausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 1995 – 1999) eine breite öffentliche Diskussion, die teilweise wie ein letztes generationelles Gefecht der „Tätergeneration“ wirkte. Als Resultat wurde die Legende von der „sauberen Wehrmacht“ und der Beschmutzung deutscher Soldatenehre allein durch die SS endgültig verabschiedet. Die tiefe Verstrickung der Wehrmacht in den Holocaust wird seither in der „seriösen“ Geschichtsschreibung nicht mehr negiert.⁶ Als Pendelausschlag der Diskussion war seit den 1990er Jahren in einem Teil der progressiven Öffentlichkeit sogar eine simple Dichotomisierung des Geschehens – hier deutsche Täter, dort die zivilen Opfer – prägend, bis hin zur unhaltbaren These von Daniel Goldhagen (1996), der „eliminatorische Antisemitismus“ sei als „nationales Projekt“ von Anfang an ein deutscher Wesenszug gewesen.⁷ Zugleich hat sich die Geschichtswissenschaft, wie es ihre Aufgabe ist, um eine Differenzierung des Bildes bemüht. Unser Wissen um die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten quantitativ und qualitativ enorm erweitert, aber selbst Spezialisten vermögen kaum noch die Literaturflut zu überblicken, so viele Komplexe sind inzwischen eingehend thematisiert worden. Die Untersuchungen dieser Komplexe – letztere sind etwa die Mechanismen und Praktiken des Holocaust, die Behandlung von Kriegsgefangenen, von Kriegsinternierten, die Ausplünderung der besetzten Gebiete („Raubgold“, „Raubkunst“), das Schicksal der Fremd- und Zwangsarbeiter und weitere Verbrechenskomplexe – erfordern zwar unterschiedliche Kombinationen der wissenschaftlichen Expertise, aber der gemeinsame Kern der darum gebildeten Historiker-Kommissionen bildete die Basis des exklusiven Erstzugangs zu großen Aktenbeständen. Als eine Zäsur in der Entwicklung der Historikerkommissionen kann das Jahr 2004 angesehen werden, in dem eine international und politisch pluralistisch zu-

1987; ders., Verschworene Gesellschaft. Das Auswärtige Amt unter Adenauer zwischen Neubeginn und Kontinuität. Berlin 1995.  Genauer gesagt waren es zwei Wanderausstellungen, von 1995 – 1999 bzw. 2001– 2004, die 900.000 bzw. 450.000 Besucher ansahen; vgl. die beiden Kataloge: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944. Hamburg 1996; Dass. (Hrsg.), Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges. Hamburg 2002. Heftige Angriffe erfolgten von rechtskonservativer und rechtsextremer Seite. Geschichtswissenschaftliche Kritik erfuhr vor allem die Bildauswahl der ersten Ausstellung.  Daniel J. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin 1996; als fundamentale Kritik Norman G. Finkelstein/Ruth B. Birn, Eine Nation auf dem Prüfstand. Die Goldhagen-These und die historische Wahrheit. Hildesheim 1998; eine Auswahl der Diskussionsbeiträge dokumentieren Julius H. Schoeps (Hrsg.), Ein Volk von Mördern? Die Dokumentation zur Goldhagen-Kontroverse um die Rolle der Deutschen im Holocaust. Hamburg 1996, sowie Johannes Heil/Rainer Erb (Hrsg.), Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit. Der Streit um Daniel J. Goldhagen. Frankfurt a. M. 1998.

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sammengestellte Kommission eingesetzt wurde, um die Vergangenheit des Auswärtigen Amtes im „Dritten Reich“ einschließlich der in die Zeit der Bundesrepublik reichenden Kontinuitäten zu untersuchen. Die Spezifik dieser ersten großen Untersuchung eines Ministeriums, also einer Spitzenbehörde, lag bereits in ihrem Zustandekommen. Der damalige Bundesminister des Auswärtigen Joschka Fischer (Grüne) setzte sie nämlich bewusst gegen eine Phalanx deutschnational verstockter Berufsdiplomaten ein, die eine angeblich fast fleckenfreie Tradition mit allen Mitteln verteidigten (Anlass war ein besonders apologetischer Nekrolog). Die Ergebnisse der Untersuchung, obwohl nicht grundstürzend überraschend, enthüllten ein nationalsozialistisch nicht unbeträchtlich belastetes Ministerium und bedrückende Kontinuitäten in der Nachkriegszeit. Um einzelne diskutable Begriffe und Interpretationen entspann sich eine heftige, auch polemisch geführte Diskussion in der Öffentlichkeit, die zeigte, dass ein Nerv getroffen worden war. Am Ende zeigte sich, dass die Reputation des Auswärtigen Amtes gestärkt worden war, weil es sich seiner Vergangenheit gestellt hatte. Aus einem defensiven politischen Akt war eine Erfolgsgeschichte geworden.⁸ Und eben dieser Erfolg führte dazu, dass nun zahlreiche Ministerien und andere Spitzenbehörden den gleichen Weg einschlagen wollten. Auch der Gedanke der Prophylaxe stand dabei Pate, denn kritische Fragen in der Presse zielten selbstverständlich auf eine Ausweitung. Zuerst drängten die Spitzen der politischen Polizei und der Geheimdienste (BKA, VS, BND, MAD) auf eine solche Untersuchung ihrer Vergangenheit. Und hier kamen neue, ambivalente Momente ins Spiel. Selbstverständlich besaß der Zugang zum Arkanbereich dieser Behörden für „Intelligence“-Experten eine große Faszination. Aber dieser Zugang bestand bzw. besteht eben exklusiv, während viele Historiker schon lange gefordert hatten, die für die heutige Sicherheit geheimdienstlicher Aktivitäten, und zumal nach der Wiedervereinigung, wirklich nicht mehr schutzwürdigen Akten endlich freizugeben. Auch wenn es mittlerweile zum Goldstandard der Kommissionen gehört, dass die Öffnung der Akten nach der jeweiligen Untersuchung zu erfolgen habe – wie sollte auch sonst eine wissenschaftlich unverzichtbare Überprüfung durch weitere Forscher möglich sein –: Die Kontrolle über diesen Prozess haben nicht die Kommissionen, was auch immer vertraglich vereinbart worden sein mag. Die zum Schweigen verpflichteten Historiker berichten bisweilen von den harten Kämpfen um die Aktenfreigabe, in denen sie die Öffentlichkeit als Drohmittel einsetzen – ein Argument, das angesichts des Marketing-Primats für die Auftraggeber mehr zählt als berufsethische Erwägungen. In einer von Mitarbeitern der beiden großen zeithistorischen Institute, dem Institut für Zeitgeschichte (München/ Berlin) und dem Zentrum für Zeithistorischen Forschung (Potsdam), erstellten verdienstvollen Bestandsaufnahme staatlicher Auftragsforschung spiegelt sich das Un Eckart Conze [u. a.], Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und die Bundesrepublik. München 2010; die Diskussion darum dokumentieren Martin Sabrow/Christian Mentel (Hrsg.), Das Auswärtige Amt und seine umstrittene Vergangenheit. Eine deutsche Debatte. Frankfurt a. M. 2014.

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wohlsein der darin involvierten Historiker, die durchaus um die knapp skizzierten wissenschaftsethischen Risiken wissen. In dieser Bestandsaufnahme wird nämlich begrifflich unpräzise von „Behördenforschung, konkreter: der behördlich unterstützten Forschungsprojekte“⁹ gesprochen. Aber nur, wenn unmissverständlich klar ist, dass es sich um staatliche Auftragsforschung handelt, kann man auch das Verhalten von Historikern in diesem Geschehen realistisch diskutieren. Insgesamt bleiben die Historiker angewiesen auf die Bereitschaft der Auftraggeber, das in den Behörden vorhandene Herrschaftswissen über den Arkanbereich mitzuteilen und Akten zur Verfügung zu stellen. Noch problematischer ist aber, dass mit der Einsetzung einer Historikerkommission die erwähnten Forderungen von Historikern, die Akten etwa der westdeutschen Geheimdienste wenigstens einige Jahrzehnte nach den Ereignissen zu öffnen, mit Hinweis auf die Beauftragung „unabhängiger Kommissionen“ torpediert bzw. wenigstens dilatorisch behandelt werden könnten. Hier bedarf es misstrauischer Wachsamkeit, denn wenn eine Kommission ihre Ergebnisse publiziert hat, schwindet für jüngere Historiker, die Themen für ihre Qualifikationsarbeiten suchen, das Interesse an einem abgegrasten Feld rapide. Ein weiterer Effekt der inflationär betriebenen behördlichen Auftragsforschung besteht darin, dass viele Ergebnisse keine breite öffentliche Aufmerksamkeit mehr erfahren; das Ergebnis eines quantitativ (Parteimitgliedschaften) ermittelten Belastungsgrads bleibt häufig als einziges Element im Gedächtnis haften.¹⁰ Ein weiterer problematischer Aspekt, der das professionelle Selbstverständnis der Historiker tangiert: Die Kommissionen werden von den Auftraggebern – von wem eigentlich genau? – selbst eingesetzt, das Ziel der Untersuchung wird in einem, mittlerweile immerhin meist öffentlich ausgeschriebenen, Auftrag formuliert und nicht von den beteiligten Wissenschaftlern. Transparenz ist dabei bisher nicht gegeben; und das in einer Zeit, in der im Wissenschaftsbetrieb ubiquitär von kompetitiven Verfahren, Bestenauslese, peer review die Rede ist. Auftragsforschung sei Zuwendungsforschung, argumentieren manche, aber gegenüber sogenannten Drittmittelprojekten, die etwa von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert werden, fehlen eben die wissenschaftlichen Standards, vor allem die kritische Eva-

 Christian Mentel/Niels Weise, Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus. Stand und Perspektiven der Forschung, hrsg. von Frank Bösch [u. a.]. München/Potsdam 2016, S. 9.  Zuletzt erschienen die Ergebnisse der Kommission zum Verfassungsschutz (VS), die ersten vier Bände der BND-Kommission und ein zusammenfassender Band der Finanzministeriumskommission, vgl. Constantin Goschler/Michael Wala, „Keine neue Gestapo“. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und die NS-Vergangenheit. Reinbek 2015; Christoph Rass, Das Sozialprofil des Bundesnachrichtendienstes. Von den Anfängen bis 1968. Berlin 2016; Gerhard Sälter, Phantome des Kalten Krieges. Die Organisation Gehlen und die Wiederbelebung des Gestapo-Feindbildes „Rote Kapelle“. Berlin 2016; Ronny Heidenreich [u. a.], Geheimdienstkrieg in Deutschland. Die Konfrontation von DDR-Staatssicherheit und Organisation Gehlen 1953. Berlin 2016; Sabrina Nowack, Sicherheitsrisiko NS-Belastung. Personalüberprüfungen im Bundesnachrichtendienst in den 1960er Jahren. Berlin 2016; Manfred Görtemaker/Christoph Safferling, Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NSZeit. München 2016. Das generelle Ergebnis: Es war alles noch schlimmer als ohnehin gedacht.

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luation durch Fachkollegen, die Fairness und Transparenz der Ausschreibung weitgehend. Höchstens könnte man sagen, die Auftragsforschung sei eine spezifische Form der Zuwendungsforschung (wobei ich hier völlig ausklammere, dass wir in Deutschland eine wichtige Diskussion darüber führen, ob es denn den Hochschulen nützt, wenn die Höhe der Grundausstattung stagniert bzw. prozentual immer geringer, die Einwerbung von Drittmitteln immer mehr zur ultima ratio wird).

III Grob gesagt, haben sich mittlerweile zwei Modelle für Untersuchungen von Historikerkommissionen durchgesetzt, das ältere Modell einer zeitlichen Beschränkung auf den Zeitraum des „Dritten Reiches“ hat ausgedient. Mittlerweile ist die Einbeziehung des Umgangs mit dieser Vergangenheit üblich geworden. Für die Ministerien und Behörden ist die Frage nach dem Übergang von der Vorgängerinstitution zur Nachfolge in der Bundesrepublik zentral. Dabei geht es längst nicht mehr darum, dass die nationalsozialistische Belastung verschwiegen, verschleiert oder verharmlost werden soll. Im Gegenteil! Man gewinnt geradezu den Eindruck, dass die Glaubwürdigkeit einer ehrlichen Aufarbeitung mit jedem NSDAPMitglied in den Nachkriegsbehörden steigt. Aber es ist damit auch die Tendenz einer personalisierenden Einengung angezeigt, die längst nicht mehr dem Stand zeithistorischer Forschung entspricht, denn die enorme NS-Belastung des westdeutschen Staatsapparats in der Gründerzeit ist keine Neuigkeit. Auf dieser Basis, für die Auftraggeber prinzipiell ausreichend, beginnen vielmehr erst die Fragen nach dem Verhältnis von Kontinuität und Wandel in den einzelnen staatlichen Tätigkeitsfeldern, die mit einem Nachweis persönlicher Belastung längst nicht beantwortet werden können. Auch hier ergibt sich eine latente Diskrepanz zwischen den Zielen historischer Forschung und denen von behördlichen Auftraggebern. Im Übrigen wird auch der Untersuchungszeitraum sehr kunstvoll politisch konstruiert. Er reicht in der Regel von 1933 bis 1969: „Damit wird die Etablierung der NS-Diktatur als Beginn und der Regierungsantritt der sozialliberalen Koalition und die damit versinnbildlichte sogenannte Neu- oder Umgründung der Bundesrepublik als Endpunkt bestimmt.“¹¹ Zum einen bildet die These einer „Neu- oder Umgründung der Bundesrepublik“ keineswegs einen allgemein geteilten Konsens der Zeithistoriker; zum anderen widerspricht der Untersuchungsbeginn 1933 dem tatsächlich wohl von niemandem widersprochenen Postulat einer Einbettung der NS-Zeit in die Geschichte der gesamten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das Beispiel des Untersuchungszeitraums ist nicht das Einzige, das ein Spannungsverhältnis von Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik anzeigt. Hinzu kommt, dass die Auswahl der zu untersuchenden Institutionen, wenn sie von Histo-

 Mentel/Weise, Behörden, S. 12.

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rikern nach Maßstäben geschichtswissenschaftlicher Relevanz festgelegt würde, sicherlich die Regierungszentrale, das Bundeskanzleramt, und die zentrale Propagandazentrale, das Bundespresseamt, prioritär einbeziehen würde, die sich aber bisher noch weigern, sich der Aufklärung ihrer NS-Belastungen zu unterziehen. Ob das durchgehalten werden kann, wird von der Entwicklung des öffentlichen Meinungsdrucks abhängen. (Erst in allerjüngster Zeit, im Sommer 2017, zeichnet sich hier eine Veränderung ab). Die Auftragsforschung – ich spreche hier nur von der nationalen Ebene, von Deutschland – ist in ihrer Ambivalenz von Wissenschaft und Politik, von Aufklärung und geschichtspolitischen Interessen zu sehen. Diese Ambivalenz wird in der Zukunft noch markanter zum Ausdruck kommen. Denn inzwischen ist die Untersuchung der institutionellen NS-Belastung als Auftrag jeweiliger Rechtsnachfolger längst auf regionaler und lokaler Ebene angekommen. Die Bundesländer Schleswig-Holstein, Bremen, Hamburg, Hessen haben Aufträge erteilt, über NSDAP-Mitglieder in ihren Parlamenten nach 1945 zu forschen; kommunale Betriebe wie U-Bahn oder Wasserwerke und zahlreiche private Unternehmen sind ihnen gefolgt, und es wird nicht mehr lange dauern, bis die Landesministerien, wie ihre Vorbilder im Bund, untersucht werden. Es breitet sich auch dort bei den Verantwortungsträgern die Meinung aus: „Wir sollten präventiv tätig werden, bevor das Thema in der Öffentlichkeit angemahnt wird, dann kann uns niemand kritisieren und wir haben das Problem ein für alle Mal erledigt.“ Zugleich wird darauf geachtet, die Kosten dafür klein zu halten.¹² Der Boom um den – im Sinne mancher Auftraggeber gedachten – Schlussstrich wird vielen jungen Historikerinnen und Historikern befristete Jobs und Qualifikationsmöglichkeiten bieten, aber es handelt sich um Auftragsforschung. Ob dabei günstige Qualifikationsmöglichkeiten bestehen, wäre am jeweiligen konkreten Fall zu diskutieren; die Risiken liegen prinzipiell im Sich-Einlassen auf die außerwissenschaftliche bzw. geschichtspolitische Logik der Auftraggeber, etwa die Fixierung auf personelle Skandalisierung, die sehr ähnliche Fragen und Methoden evoziert: Empirismus, Positivismus und geringe Innovationskraft. Aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es im Einzelfall möglich sein kann, mit privilegiertem Quellenzugang geschichtswissenschaftlich innovative Fragestellungen zu entwickeln, also aus politisch motiviertem Auftrag wissenschaftlichen Nutzen zu generieren.

IV Wie auch immer: Da wir in der Welt der Kommissionen angekommen sind – man könnte ja sagen: endlich auch die Geisteswissenschaften als die Letzten, denn in

 Zahlreiche konkrete Angaben zu der finanziellen Ausstattung der Auftragsprojekte vgl. ebd.; es ergibt sich ein sehr buntscheckiges Bild von ausreichend ausgestatteten Projekten und solchen, bei denen mit geringen finanziellen Mitteln das gewünschte Zertifikat erteilt werden soll.

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anderen Wissenschaftsbereichen war das immer schon selbstverständlich –, haben wir uns in dieser Welt zu bewegen, und das geht nur, wenn wir unsere Doppelrolle reflektieren. Wir sind zum einen Historiker und müssen unsere professionellen wissenschaftlichen Standards wahren, zum anderen sind wir Angehörige einer Gruppe halbfreier Berufe, häufig mit dem Standbein in Institutionen der Forschung und/oder Lehre, und müssen als gefragte Experten unsere Arbeitsbedingungen aushandeln. Dieser Doppelcharakter unserer Existenz wird in dem Fünf-Punkte-Mindeststandardkatalog von Hans-Jürgen Bömelburg deutlich, den er auf der Konferenz, zu der dieser Sammelband entstanden ist, formuliert hat. Er ist sozusagen unsere „Charta von Rom“. Ich möchte seinen Katalog noch einmal in Erinnerung rufen, der sich auf staatlich beauftragte Kommissionen bezieht, aber sinngemäß auch für solche Kommissionen, bei denen private Unternehmen die Auftraggeber sind, Geltung beanspruchen könnte: 1. Notwendigkeit eines ausreichenden institutionellen Unterbaus bei Forschungsprojekten; 2. ein längerfristig und flexibel nutzbares Budget; 3. ein nicht zu eng definierter Arbeitsauftrag; 4. keine Nominierung der Mitglieder einer Kommission durch Ministerien/Behörden und Möglichkeiten autonomer Kooptation (warum nicht über den Fachverband der deutschen Historiker VHD, warum keine Ausschreibung über die DFG?); 5. keine übermäßige Bürokratisierung durch Satzungen o. ä.; 6. Freiheit zur Publikation. Das sind wichtige Punkte, die für Aushandlungsprozesse mit staatlichen Behörden sehr nützlich sein können. Wenn man wirklich zu einer „Charta von Rom“ für die Arbeit historischer Kommissionen kommen möchte, müsste zudem noch weiter über das Verhältnis „Auftragsforschung – ‚freie Forschung‘“ nachgedacht werden, denn auch der Begriff „freie Forschung“ sollte nicht idealistisch überhöht werden, wie etwa die indirekte, aber durchaus sehr wirksame außerwissenschaftliche, politisch-mediale Steuerung auch für die „freie Forschung“ und nicht nur für explizite Auftragsforschung gilt (als Beispiel ist die jubiläumskalendarische Erwartung genannt worden). Sollte man nicht als Leitlinie für Historiker einfach fragen (ob nun Auftragsforschung oder allgemeine Drittmittelforschung): Hättet ihr die Fragen/Probleme/Themen, die euch mit einem Kommissionsauftrag vorgegeben worden sind oder die ihr kompetitiv eingeworben habt, sonst auch erforscht, weil sie euch geschichtswissenschaftlich relevant erscheinen? Wieweit seid ihr (wissenschaftlich zu legitimierende) Kompromisse eingegangen?

V Vor dem Hintergrund der allgemeinen kritischen Diskussion möchte ich nur kurz auf die Besonderheit der Deutsch-Italienischen Historikerkommission eingehen. Vorweg sei gesagt, dass die direkten Verbindungen dieses transnationalen Sonderfalls zur nationalen deutschen Ebene gering sind. Aber die Aktivitäten dieser Kommission sind nur vor dem Hintergrund der allgemeinen deutschen Geschichtskultur zu ver-

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stehen, die eben ihren Ausdruck auch in den skizzierten deutschen Kommissionen findet. Hinzu müsste ein entsprechender Überblick über die italienische Szenerie treten. Diesen kann ich mangels Kenntnissen hier nicht liefern. Meine Perspektive auf die Deutsch-Italienische Historikerkommission ist also eine deutsche. Die Besonderheit dieser Kommission besteht darin, dass sie ihre Gründung zwar auch nicht geschichtswissenschaftlichen, sondern geschichtspolitischen Antrieben verdankt, dass aber der Kontext ein anderer ist. Es waren Urteile italienischer Gerichte, die Klagen auf Schadensersatz von Opfern (oder deren Angehörigen und Nachkommen) deutscher Kriegsverbrechen zuließen, was wiederum die erfolgreiche juristische Gegenwehr der deutschen Seite vor europäischen Gerichten und schließlich die Untermauerung der moralischen Schuldanerkenntnis durch die Initiative zur Schaffung der Kommission nach sich zog. An dieser Stelle möchte ich allerdings noch einen Punkt hinzufügen, einen ereignisgeschichtlichen Punkt, der interessanterweise nur beiläufig Erwähnung fand und der unbedingt zu nennen ist, wenn man verstehen möchte, warum der Take-Off zur Welt der Kommissionen in den 1990er Jahren begann: Das Ende des Kalten Krieges machte es überhaupt möglich, dass in Deutschland nach vier Jahrzehnten juristisch eingemauerter Positionen neu diskutiert werden konnte. Völkerrechtlich sind zwei Jahreszahlen für die deutsche Wiedergutmachung von NS-Verbrechen im Zweiten Weltkrieg entscheidend. Die erste ist 1952, da in diesem Jahr das Luxemburger Abkommen mit Israel und der Conference for Jewish Material Claims Against Germany abgeschlossen wurde (ca. drei Milliarden DM in Warenlieferungen).¹³ Das Abkommen war in der Bundesrepublik nicht populär. Adenauers Regierungsmehrheit reichte für die Ratifizierung nicht aus, weil FDP und Deutsche Partei ihre Zustimmung prinzipiell oder wegen der Höhe der vereinbarten Zahlungen verweigerten. Nur mit Hilfe der sozialdemokratischen Opposition konnte das Abkommen den Deutschen Bundestag passieren. In London waren zwischenstaatliche Reparationen ausgeklammert worden; sie sollten in einem Friedensvertrag geregelt werden. Das zweite Schlüsseljahr ist 1990, das Jahr der deutschen Wiedervereinigung. Bewusst wurde nämlich darauf verzichtet, den Einheitsvertrag mit einem Friedensvertrag zu verbinden. Es erschien anachronistisch, weil die Bundesrepublik ein anerkanntes Mitglied der Völkerfamilie geworden war, aber auch riskant, da etliche Länder (mindestens 18) noch Ansprüche auf Wiedergutmachung hatten. Als Resultat der parallel auch wieder mit der genannten Claims Conference geführten Verhandlungen wurde lediglich vereinbart, dass 85.000 noch ermittelte Überlebende des Holocaust eine einheitliche monatliche Rente von ca. 300 DM erhielten. Hinzu kam

 Vgl. Ursula Rombeck-Jaschinski, Das Londoner Schuldenabkommen. Die Regelung der deutschen Auslandsschulden nach dem Zweiten Weltkrieg. München 2005.

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eine entscheidende Einschränkung: Keine Zahlungen sollten an Opfer in osteuropäischen Ländern erfolgen; diese Einschränkung entfiel erst 1998.¹⁴ Obwohl auch das Zwei-plus-Vier-Abkommen Reparationsansprüche als nicht mehr relevant abtat, traf Deutschland in den 1990er Jahren Vereinbarungen mit einer Reihe osteuropäischer Staaten (mit Polen 1991, Belarus, der Ukraine und Russland 1993, mit Tschechien 1997). Es wurden jeweils Fonds zur Linderung unmittelbarer Not gebildet für sogenannte „humanitäre Zahlungen“ mit einer Größenordnung von insgesamt ca. zwei Milliarden DM. Diese Zahlungsvereinbarungen wurden mit dem Zusatz versehen, dass damit keine Anerkennung rechtlicher Ansprüche auf Entschädigung verbunden sei. Es handle sich vielmehr um eine Präsentation moralischer Selbstverpflichtung. ¹⁵ In der politischen Öffentlichkeit wurde dies bisweilen als Ablenkungs- und Präventivmanöver kritisiert, um die bei einer individuellen Entschädigung der Opfer viel höheren Geldsummen zu vermeiden. Seit Mitte der 1990er Jahre gibt es in der Bundesrepublik allerdings eine neue Rechtslage. Das Bundesverfassungsgericht entschied 1996, dass deutsche Gerichte auf Klagen von Ausländern einzugehen haben. Inzwischen hatte sich die Bedeutung einer Moralpolitik und die öffentliche Aufmerksamkeit beträchtlich erhöht, allerdings zu einer Zeit, in der die Opfer des Zweiten Weltkriegs in der großen Mehrheit ihr Lebensende bereits erreicht hatten, nach Jahrzehnten schäbiger Hinhaltemanöver der deutschen Seite.¹⁶ Dies gilt nicht zuletzt für die Entschädigung der Zwangsarbeiter nach langwierigen Verhandlungen mit der Claims Conference vor dem Hintergrund von Gefahren für das Image deutscher Waren in den USA und anderen Ländern. Das Resultat war die Gründung der Stiftungsinitiative „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (1999), um anhängige Rechtsstreitigkeiten aus dem Weg zu räumen. Staat und deustche Wirtschaft sollten jeweils fünf Milliarden DM einzahlen, aber letztere hat durch Steuervorteile viel weniger zur Gesamtsumme beigetragen. Nur ein kleiner Teil der ehemaligen Zwangsarbeiter erhielt zwischen 2.500 und 7.500 DM, wenn sie eine Erklärung unterschrieben, auf weitere rechtliche Forderungen zu verzichten. Es herrschte also weiterhin das Prinzip: Keine Wiedergutmachung, sondern freiwillige Zahlungen.¹⁷ Vor diesem Hintergrund ist auch die Abweisung von Entschädigungs-Forderungen aus Griechenland und Italien zu sehen. Die Ermordung von 218 Einwohnern der

 José Brunner [u. a.],Vernetzte Gutmachung. Die Praxis der Entschädigung von NS-Verbrechen nach dem Kalten Krieg, in: dies. (Hrsg.), Die Globalisierung der Wiedergutmachung. Politik, Moral, Moralpolitik. Göttingen 2013, S. 7– 33.  Henning Borggräfe, Embedded Historians? Entschädigung der NS-Zwangsarbeit und historische Forschung nach dem Ende des Kalten Krieges, in: José Brunner [u. a.] (Hrsg.), Globalisierung, S. 34– 103.  Vgl. zahlreiche Einzelbeispiele in Norbert Frei [u. a.] (Hrsg.), Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel. Göttingen 2009.  Vgl. die Homepage der Stiftung „Erinnerung,Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) mit einschlägigen Links: www.stiftung-evz.de (letztmalig abgerufen am 7.6. 2017).

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griechischen Kleinstadt Distomo durch eine SS-Einheit im Rahmen der sogenannten Partisanen-Bekämpfung 1944 führte gut fünfzig Jahre später, 1995, zu einer Klage von Nachkommen vor griechischen Gerichten; 1997 wurde ihnen vom Landgericht Athen recht gegeben, die Entschädigungssumme auf (umgerechnet) 30,2 Mrd. € festgesetzt. Die Bundesrepublik berief sich dagegen auf den Grundsatz der „Staatenimmunität“ und verweigerte jede Zahlung. Spektakuläre Maßnahmen dagegen – etwa die Zwangsversteigerung des deutschen Goethe-Instituts in Athen – wurden zwar angekündigt, aber nicht durchgeführt. 2002 siegte die Bundesrepublik auch indirekt vor dem obersten griechischen Gericht, weil den Klägern das Recht abgesprochen wurde, weiterhin die internationalen Beziehungen zu stören. Im Zusammenhang mit den maßgeblich von Deutschland bestimmten EU-Sparauflagen gegen Griechenland wurde in den letzten Jahren die Forderung nach Reparationen für die deutschen Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg wieder laut. Der Streit ist nicht gelöst, die Realisierung einer gemeinsamen deutsch-griechischen Historikerkommission ist in naher Zukunft wohl nicht zu erwarten. Ähnlich verlief der Streit wegen der Massaker der SS in Italien, wobei Italien mit der spektakulären Belastung der in deutschem Besitz befindlichen Villa Vigoni mit einer Zwangshypothek durch das Oberlandesgericht Florenz 2007 noch einen Schritt weiter als Griechenland ging. Das Gericht hatte das Argument der völkerrechtlichen Immunität Deutschlands zurückgewiesen. Die gemeinsame Anrufung des Europäischen Gerichtshofs 2008 durch Deutschland und Italien (Griechenland trat dem Verfahren bei) endete am 3. Februar 2012 mit einem juristischen Erfolg Deutschlands, vielleicht auch nicht zum Unwillen Italiens, das selbst sonst mit Ansprüchen aus seinen früheren Kolonialgebieten konfrontiert worden wäre. 2008 fiel auf hoher diplomatischer Ebene die Entscheidung zur Gründung der Deutsch-Italienischen Historikerkommission.¹⁸ Wir Historiker diskutieren damit heute unter den Rahmenbedingungen eines juristisch (völkerrechtlich) zunächst entschiedenen Streits mit der Maßgabe, was wir, die wir keine Experten des Rechts sind, beitragen könnten. Dieser Beitrag kann meines Erachtens nur in der rücksichtslosen Suche nach der Wahrheit bestehen und in der Forderung an die verantwortlichen Regierungen, die Forschungen dafür materiell zu unterstützen. Dass das Ergebnis auch differenziertester Forschungen nur sein kann, dass es eine tiefe Kluft zwischen Recht und Gerechtigkeit gab und immer noch gibt, wird wohl der einzige Konsens sein, der zu erzielen ist. Es geht um diesen immateriellen Mehrwert, den die Opfer damit erhalten, die öffentliche Aufmerksamkeit für ihr „Opfer-Sein“. Was politisch als deutscher Trick zur Vermeidung der Zahlung von Entschädigungen kritisiert worden ist bzw. immer noch kritisiert wird, hat sich im konkreten Fall

 Vgl. den Bericht der von den Außenministern der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Italien am 28. 3. 2009 eingesetzten Historikerkommission, Juli 2012, http://www.villavigoni.it/contents/ files/Abschlussbericht.pdf (letztmalig abgerufen am 8.6. 2017).

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als Glücksfall für die historische Forschung zum Verhältnis von Deutschland und Italien erwiesen: a) Indem ausgewiesene Experten für dieses Themenfeld auf beiden Seiten benannt wurden, die auf Grund ihrer eigenen Forschungen die Desiderata bei der Aufhellung der Geschehnisse zwischen Deutschen und Italienern im Zweiten Weltkrieg genau benennen konnten; b) Durch die geradezu ostentative Nüchternheit und Zurückhaltung bei der Formulierung und Präsentation der Ergebnisse, deren Kompromisscharakter hervorgehoben wurde, in der Öffentlichkeit, womit die Suggestion von völliger Einigkeit, die sonst häufig begegnet, vermieden wurde; c) Durch die Betonung weniger der Befunde, die ja auch nicht restlos neu sind, als vielmehr der Perspektiven nicht nur des Gedenkens, sondern auch der weiter notwendigen Forschung, womit gegen jeden Wunsch eines Schlussstriches deutlich geworden ist, dass die Kommission nicht das Ende, sondern der Anstoß zu künftiger Forschung sein will. Meines Erachtens wären dafür einige lobbyistische Beiklänge nicht nötig gewesen, etwa die Aussage, im Gegensatz zum gut untersuchten Kriegsgeschehen in Osteuropa sei dasjenige in Italien weniger gut bekannt – nach meiner Einschätzung wären für die Verbrechenskomplexe in Ost- und Südosteuropa während des Zweiten Weltkriegs ähnliche Listen von Desiderata zu erstellen. Jedenfalls finde ich es gut, den staatlichen Auftraggebern zu zeigen, dass es auch Geld kosten wird, wenn man den Anspruch erfüllen will, über noch unzureichend bekannte Geschehnisse während des Krieges aufzuklären. Offenbar haben diese Auftraggeber ja auch noch an den Empfehlungen zu kauen, die öffentliche Diskussion darüber ist zudem noch nicht recht merkbar¹⁹; d) Sehr zu begrüßen ist der in der Geschichtswissenschaft zwar nicht neue, aber gerade bei politisch-moralisch so heiklen Problemen wie des Weltkriegsgeschehens doch immer noch vernachlässigte erfahrungshistorische Ansatz, die Betonung sehr unterschiedlicher Perspektiven und Wahrnehmungen, nicht nur „der Italiener“ und „der Deutschen“, sondern auch innerhalb der nationalen Gruppen, die erst die Komplexität der Konstellationen erkennen lässt. Dass in der Öffentlichkeit kritisiert wurde, dadurch würde der Widerstand kleingeredet, muss hingenommen werden, denn die Aufmerksamkeitsökonomie der Medien verlangt nun einmal schwarz-weiße Bilder. Hier finde ich auch die Argumentation des Abschlussberichts etwas zu defensiv, wenn an einigen Stellen betont wird, der erfahrungshistorische Ansatz solle nicht die Verbrechen der Deutschen relativieren. Im Gegenteil: Erst die Einbeziehung unterschiedlicher Wahrnehmungen und Erfahrungen zeigt das ganze Bild, und dieses zeigt, etwa indem es auch die Perfidie deutscher Kollaborationspolitik darstellt, die  So ist zu kritisieren, dass der Vorschlag einer permanenten Institution in Form einer deutsch-italienischen Stiftung für Zeitgeschichte nicht aufgegriffen wurde, vgl. dazu die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag, Drucksache 18/928 vom 26. 3. 2014, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/009/1800928.pdf (letztmalig abgerufen am 8.6. 2017).

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Brutalität der Verbrechen noch viel eindrücklicher – allerdings um den Preis der Verabschiedung geschichtspolitischer Legenden wie der, es habe nur deutsche Verbrecher und italienische Opfer gegeben. Die Reduktion von Komplexität kann nicht die Aufgabe von Geschichtswissenschaft sein, hier müssen die Historiker politische Erwartungen enttäuschen. Es wird in den nächsten Jahren darum gehen, dass sich die politisch Verantwortlichen nicht stillschweigend von ihren Zusagen einer gründlichen Aufarbeitung und eines repräsentativen Gedenkens, die erhebliche finanzielle Mittel erfordern werden, verabschieden. Die Arbeit einer Kommission kann immer nur einen Anfang bedeuten.

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Introduzione

Le commissioni storiche vivono già da alcuni anni un periodo di congiuntura favorevole. I loro inizi risalgono al periodo compreso tra le due guerre del secolo scorso. A partire dagli anni ’50 esse assunsero un ruolo importante e nuovo ai fini della comprensione storico-politica oltre i confini nazionali e dei blocchi. L’ultima importante cesura è segnata dalla fine della guerra fredda, che rappresentò l’inizio di una nuova fase della storia delle commissioni storiche, in termini sia quantitativi che qualitativi.¹ Fu infatti a partire da quel momento che sempre più spesso governi e istituzioni pubbliche, ma anche imprese private, fondazioni, associazioni o società iniziarono a rivolgersi a commissioni storiche ogni qualvolta si trattava di moderare discussioni pubbliche, talora particolarmente accese e di grande attualità, su conflitti storici così come sulla base di richieste relative a domande di riparazione per ingiustizie subite.² Uno degli esempi più recenti in questo senso è costituito dalla decisione assunta nel novembre 2008 dai governi italiano e tedesco, in occasione di un vertice italotedesco a Trieste, di istituire una commissione storica bilaterale. L’occasione concreta fu la sentenza della Corte suprema di Cassazione italiana a Roma che – contrariamente al regolamento giuridico del Governo tedesco – aveva giudicato legittimo il ricorso individuale presentato da ex-internati militari italiani nei confronti della Repubblica Federale Tedesca allo scopo di ottenere un risarcimento economico per il periodo in cui erano stati prigionieri dei tedeschi tra il 1943 e il 1945. Furono considerati “internati militari” dai nazionalsocialisti gli oltre 600.000 soldati italiani che dopo l’armistizio dell’8 settembre 1943, stipulato tra l’Italia e gli Alleati, vennero disarmati a forza dalla Wehrmacht e deportati in Germania, dove la maggior parte fu avviata poi ai lavori forzati. Il contenzioso giuridico portò i due paesi davanti alla Corte Internazionale di Giustizia dell’Aia la quale, con una sentenza del 3 febbraio 2012 (Jurisdictional Immunities of the State. Germany vs. Italy. Greece Intervening), decretò a grande maggioranza – con dodici voti favorevoli e tre contrari – la violazione da parte dell’Italia dell’immunità giurisdizionale garantita alla Repubblica Federale Tedesca dal diritto internazionale. La Corte Internazionale sollecitò di

 Si veda Marina Cattaruzza/Sascha Zala, Negotiated History? Bilateral historical commissions in twentieth century Europe, in: Harriet Jones/Kjell Östberg/Nico Randeraad (a cura di), Contemporary History on Trial. Europe since 1989 and the Role of the Expert Historian. Manchester/New York 2007, pp. 123 – 143.  Una relazione parziale viene offerta in riferimento alla Germania in: Christian Mentel/Niels Weise, Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus. Stand und Perspektiven der Forschung, a cura di Frank Bösch et al. München 2016. Si veda anche Oliver Rathkolb, Die späte Wahrheitssuche. Historikerkommissionen in Europa, in: Historische Anthropologie 8, 2000, pp. 445 – 453. https://doi.org/10.1515/9783110541144-020

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conseguenza il governo italiano ad annullare tutte le decisioni di segno contrario prese dalle corti di giustizia competenti.³ A causa della diversa interpretazione giuridica data dai governi italiano e tedesco, la nuova commissione storica venne incaricata di analizzare le condizioni e le conseguenze del modo in cui la Germania condusse la guerra in Italia dopo l’uscita di quest’ultima dalla Seconda guerra mondiale nel settembre 1943, con particolare attenzione agli internati militari italiani. Entrambe le parti speravano di riuscire a creare, attraverso un’accurata ricostruzione degli avvenimenti storici, i presupposti per una comune cultura della memoria. In linea di principio un simile obiettivo appare ambivalente, dato che nelle società a costituzione democratica è fisiologico che le memorie risultino discordanti. Ancora più discutibili suonano gli appelli oggi frequenti per la fondazione di una memoria collettiva transnazionale. In realtà, le aspettative nei confronti e da parte delle commissioni storiche dovrebbero essere formulate in modo molto più obiettivo. Nella sostanza il loro compito è quello di favorire la conoscenza o forse addirittura la consapevolezza dei punti di vista e delle esperienze dell’altra parte sui conflitti storici e sulle dispute interpretative ad essi collegate. Il loro potenziale si fonda non in ultima nel fatto che esse sono in grado di liberare il discorso pubblico – per lo meno parzialmente – dalle accuse reciproche delle parti coinvolte, nel senso che correggono le percezioni e rappresentazioni storiche errate più o meno consapevoli di gruppi rivaleggianti, sostituendole con altre interpretazioni storicamente fondate.⁴ In questo senso le commissioni storiche aspirano idealmente, sostenute in ciò da altre istituzioni (soprattutto nel sistema educativo e nei media) a conferire alle culture della memoria pubbliche una dimensione autoriflessiva più forte. In questo modo si possono porre le fondamenta, in ambito sia pubblico che privato, per affrontare criticamente una storia molto conflittuale. Le commissioni storiche possono inoltre offrire un contributo – sia pur piccolo – a tutti i tentativi di arrivare, con l’aiuto della giurisdizione, a un giudizio equo su gravi crimini collettivi commessi in epoche talora molto remote.

Le commissioni storiche dalla fine della guerra fredda Se si analizza attentamente il compito di riesame affidato alla commissione storica italo-tedesca si riconoscono diverse tendenze che caratterizzano in generale il boom

 Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy: Greece intervening), si può consultare sulla pagina della Corte Suprema Internazionale http://www.icj-cij.org/en/case/143 (consultata l’ultima volta il 12.9. 2017).  Alexander Karn, Depolarizing the Past. The Role of Historical Commissions in Conflict Mediation and Reconciliation, in: Journal of International Affairs 60, 2006, pp. 31– 50.

Introduzione

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in questo campo dalla fine della guerra fredda in poi. In primo luogo il declino dei regimi comunisti in Europa orientale ha spianato la strada verso una profonda riconsiderazione delle dittature del XX secolo, al centro della quale si è venuto a trovare l’approfondimento dei crimini di guerra di massa perpetrati dal regime fascista durante la Seconda guerra mondiale e rimasti per lungo tempo poco considerati. Furono gli ex-lavoratori coatti nel “terzo Reich” e i loro rappresentanti legali, già nel corso degli anni ’80, a mettere in moto tale discussione e in ciò presero di mira non solo istituzioni statali, ma anche e soprattutto grandi imprese internazionali come la Daimler-Benz AG o la Volkswagen. Esse dovettero prendere atto del fatto che un’analisi fino ad allora tentennante, se non addirittura assente, sul loro ruolo svolto durante il “Terzo Reich” minacciava di avere forti ripercussioni sull’attività economica.⁵ Per tale ragione queste aziende affidarono ampi compiti a commissioni storiche, che pochi anni dopo presentarono i risultati delle loro ricerche in corposi volumi.⁶ A queste seguì, a partire dalla fine degli anni ’90, una massiccia ondata di commissioni storiche incaricate di ricerche sulle istituzioni, le quali iniziarono ad occuparsi di singoli ministeri e alte cariche del “Terzo Reich” con l’intento di indagarne il ruolo e la concreta collaborazione con la politica criminale nazista. Ad aprire la via fu uno studio sul Ministero degli Affari Esteri che scatenò nell’opinione pubblica tedesca e internazionale un’accesa discussione, talora fortemente polemica, sugli “intrecci” dei membri del Ministero e del corpo diplomatico durante il “Terzo Reich”.⁷ Il trend delle “ricerche sulle istituzioni” perdura tutt’oggi e nel frattempo si è allargato anche a campi di indagine per lungo tempo scarsamente considerati. Tra questi, ad esempio, la storia dell’economia agricola e della pianificazione agricola, che dal luglio 2016 è oggetto di studio da parte di una commissione storica internazionale nominata dal Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL). Il suo compito consiste nell’“indagare il passato del BMEL nel contesto della storia tedesca del XX secolo”.⁸ Un secondo fattore costitutivo di molte commissioni storiche a partire dagli anni ’90 fece la sua comparsa negli stati postsocialisti, perché fu qui che dopo il crollo dei

 Dietmar Henke, Premessa del curatore, in: Johannes Bähr (a cura di), Die Dresdner Bank in der Wirtschaft des Dritten Reichs. München 2006, pp. IX – X.  Hans Mommsen/Manfred Grieger, Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich. Düsseldorf 31997 [1996]. Cfr. Neil Gregor, History to Order? Commissioned Research, Contained Pluralism and the Limits of Criticism, in: Zeitgeschichte-online, Dezember 2012, www.zeitgeschichte-online.de/ thema/history-order (consultata l’ultima volta il 12.9. 2017).  Martin Sabrow/Christian Mentel (a cura di), Das Auswärtige Amt und seine umstrittene Vergangenheit. Eine deutsche Debatte. Frankfurt a. M. 2014.  Una relazione dei primi lavori della commissione si trova sotto: www.bmel.de/DE/Ministerium/ Texte/Historikerkommission_Zwischenbericht.html?nn=310768 (consultata l’ultima volta il 21.9. 2017). Ha suscitato un certo interesse recentemente la pubblicazione di: Manfred Görtemaker/Christoph Safferling, Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit. München 2016.

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regimi comunisti passarono in primo piano le urgenti questioni della responsabilità e della colpa delle ex élites governative. Appare evidente la natura altamente esplosiva di una simile istanza, in forza delle sue conseguenze politiche e sociali. Non sorprende perciò che, specie nei paesi in via di trasformazione dell’Europa centroorientale e orientale, le commissioni storiche siano divenute un’istituzione molto diffusa. In una fase in cui il rapporto fra oppressione e consenso popolare in queste società era tutt’altro che chiaro e in cui emergevano innumerevoli domande di riparazione o – al contrario –divieti di ulteriore impiego nel settore pubblico o la rimozione dal proprio posto di lavoro, si alzò a gran voce la richiesta di commissioni storiche “indipendenti”. Proprio da questa situazione nacque ad esempio in Polonia nel 1998, sulla base di un procedimento legislativo parlamentare, l’Istituto Polacco per la Memoria Nazionale [Instytut Pamieci Narodowej IPN], il cui obiettivo principale era quello di far luce sui metodi e sulle aggressioni della repressione stalinista, ma che allo stesso tempo incaricò anche commissioni storiche di indagare la storia dell’olocausto e i rapporti controversi tra polacchi ed ebrei.⁹ Alla base della congiuntura favorevole delle commissioni storiche dagli anni ’90 vi era però anche un terzo elemento molto profondo. Si trattava del cambiamento storico-culturale generale che a seguito dell’allontanamento dalle “storie magistrali” nazionali portava ora al centro dell’attenzione pubblica non più gli eroi nazionali venerati fino ad allora, bensì in maniera molto più prominente il destino delle vittime di atti di violenza. Tale cambiamento si fece sentire anche nel panorama mediatico, che prestò pubblica attenzione alle ingiustizie subite nella storia. Per la prima volta molte persone vennero a conoscenza di avvenimenti storici accaduti oltre l’orizzonte delle loro stesse esperienze. Tale evoluzione si combinò ben presto con le richieste di risarcire ora finalmente le “vittime” di crimini della storia di ciò che loro spettava. Di fronte alle compensazioni economiche prospettate, ma anche nella lotta per ottenere il posto di primo piano nell’attenzione pubblica, questo scatenò quasi inevitabilmente una sorta di concorrenza tra i diversi gruppi di vittime. Era evidente che la Guerra fredda aveva lasciato aperti molti “conti storici”, che si ripresentarono proprio nel momento in cui in Europa si aprirono i confini. La crescente disponibilità di realtà statali ma anche private a far luce sui capitoli oscuri del loro passato attraverso il lavoro delle commissioni storiche fu favorita da un ulteriore quarto fattore pratico. La graduale apertura degli archivi nell’Europa orientale fece infatti sì che per la prima volta venissero in superficie nuove conoscenze sull’occupazione nazista, ma in particolare sulla politica di annientamento nazista. In questo modo presero l’avvio indagini approfondite sulla confisca della proprietà da parte dei nazisti, così come sul ruolo svolto dalle banche e dalle assicurazioni nel sequestro dei beni patrimoniali di persone ebree o di altra origine,

 L‘Homepage ufficiale si trova sotto: http://www.ipn.gov.pl. Cfr. Elazar Barkan [et al.] (a cura di), Shared History. Divides Memory. Jews and others in Soviet-occupied Poland, 1939 – 1941. Leipzig 2007.

Introduzione

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perseguitati per motivi razziali o politici.¹⁰ In questo contesto furono non per ultimo opinioni opposte sulle pretese di risarcimento collegate a quei fatti a portare alla nomina di altre commissioni storiche. Ciò vale anche per la Svizzera, dove sia la diplomazia e la politica così come l’opinione pubblica reagirono inizialmente con un atteggiamento di incomprensione, quando nei primi anni ’90 si sollevò l’accusa secondo cui la politica, l’economia e la società avrebbero tratto profitti durante la Seconda guerra mondiale dagli scambi economici con il “Terzo Reich” e quindi anche consapevolmente dal sequestro di beni agli ebrei. All’apice della crisi politica Parlamento e governo nominarono una commissione costituita da nove esperti di fama internazionale, a cui affidarono l’incarico di indagare sui rapporti economici e finanziari intrattenuti dalla Svizzera con i paesi belligeranti della Seconda guerra mondiale, nonché sui provvedimenti presi dallo stato nel dopoguerra per la restituzione di patrimoni arrivati illecitamente in Svizzera. Sotto l’egida di un’Europa unita questioni difficili sul collaborazionismo di istituzioni statali, imprenditori privati e personalità famose con il regime nazista entrarono contemporaneamente nell’agenda di molti altri paesi. Anche nella parte più occidentale del continente, in Spagna, le discussioni politico-culturali indussero nel 2011 il Presidente del Consiglio spagnolo uscente José Luis Rodriguez Zapatero, a nominare, poco prima del passaggio delle consegne, una commissione di esperti per l’applicazione della “legge sulla memoria storica” approvata quattro anni prima. Già al momento dell’insediamento della commissione appariva evidente che gli obiettivi posti non avrebbero potuto essere più raggiunti per via dell’imminente cambio di governo. Ma la pressione sulla politica fu così forte che si rese necessario trovare rapidamente delle risposte alle delicate questioni storico-politiche. Tutti questi sviluppi fecero emergere una forte carica emotiva nelle controversie pubbliche storico-politiche, che in varie occasioni rischiarono addirittura di trasformarsi in vere e proprie polveriere e con ciò di compromettere seriamente le relazioni di vicinato appena avviate su nuovi binari. Fu proprio in questa situazione che i responsabili della politica e della società decisero di istituire delle commissioni storiche, alle quali venne affidato di norma il compito di fornire una spiegazione scientifica dei complessi fatti storici e di elaborare suggerimenti su come relazionarsi responsabilmente nel presente nei confronti di ingiustizie subite nel passato.¹¹ Sebbene la responsabilità di individuare forme individuali di colpa e di stabilire le condanne per i crimini di guerra e per i crimini contro l’umanità continuassero a rimanere di competenza dei tribunali, anche in questo caso le storiche e gli storici svolsero un ruolo importante. Sempre più spesso vennero chiamati a testimoniare in

 Clemens Jabloner (a cura di), Schlussbericht der Historikerkommission der Republik Österreich. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich. Zusammenfassungen und Einschätzungen. Wien 2003. Sulle relazioni della commissione svizzera Bergier si vedano le indicazioni sotto www.uek.ch/de/index.htm (consultata l’ultima volta il 21.9. 2017).  Karn, Depolarizing the past.

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tribunale in qualità di esperti della storia. Di qui venne alla luce come i confini tra la scienza della storia da un lato e la giurisprudenza e l’amministrazione della giustizia dall’altro fossero sempre più sfuocati, e ciò può essere visto come uno dei tratti caratteristici di una cultura della storia che si sta formando in modo nuovo.¹² Nella ricerca delle scienze giuridiche e sociali questo ha portato alla nascita e alla rapida espansione di istituti sulla Transitional Justice.

Transitional Justice e commissioni storiche Il filone di studi ormai consolidato affronta sotto il concetto generale di Transitional Justice (giustizia di transizione) le più svariate forme di atteggiamenti sociali e politici nei confronti dei crimini commessi da dittature o durante una guerra civile. Gli studi inquadrabili sotto questa etichetta affrontano il passaggio da regimi autoritari o totalitari alla democrazia e si interrogano sull’atteggiamento da adottare nei confronti di criminali e di altri responsabili, ovvero su come essi debbano essere ora chiamati a rendere conto del loro agire di fronte alla giustizia. Negli anni ’80, dopo la fine delle dittature militari in America latina, fu inizialmente questo lo spazio geografico al centro dell’interesse della ricerca, prima che i profondi cambiamenti politici negli stati dell’ex blocco orientale così come il superamento dell’apartheid in Sudafrica e il crollo dei regimi autoritari in diversi stati dell’Africa e dell’Asia non indirizzarono lo sguardo della ricerca anche in questa direzione. Al centro di un ampio interesse pubblico fu per un lungo periodo l’attività della Commissione per la Verità e Riconciliazione in Sudafrica, i cui successi nel raggiungere una duratura conciliazione sociale o addirittura politica vengono considerati nel frattempo problematici.¹³ Complessivamente si registra comunque nella seconda metà del XX secolo un profondo cambiamento nell’ambito della Transitional Justice, in quanto l’interesse si è spostato dalla ricostruzione della verità storica e giuridica attraverso procedimenti penali garantiti dallo stato di diritto verso nuovi approcci al servizio della riconciliazione. Con ciò è passato in primo piano l’obiettivo di rafforzare la

 Charles S. Maier, Doing History, Doing Justice. The Narrative of the Historian and of the Truth Commission, in: R. I. Rotberg/D. Thompson (a cura di), Truth v. Justice. The Morality of Truth Commissions. Princeton 2000, pp. 261– 278; Norbert Frei [et al.] (a cura di), Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit. München 2000.  Anne K. Krüger, Transitional Justice, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 25.01. 2013, http:// docupedia.de/zg/Transitional_Justice?oldid=125451 (consultata l’ultima volta il 21.9. 2017); Kathryn Sikkink, The Justice Cascade. How Human Rights Prosecutions are Changing World Politics. New York 2011; Fatima Kastner, Retributive versus restaurative Gerechtigkeit. Zur transnationalen Diffusion von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen in der Weltgesellschaft, in: Regina Kreide/Andreas Niederberger (a cura di), Staatliche Souveränität und transnationales Recht. München 2010, pp. 194– 210; Manfred Berg/Bernd Schaefer (a cura di), Historical Justice in International Perspective. How Societies are Trying to Right the Wrongs of the Past. Cambridge 2009.

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coesione sia sociale che sovranazionale sulla base di una memoria che si suppone condivisa da tutte le parti.¹⁴ Nell’ambito della Transitional Justice si possono identificare due grandi filoni. Da un lato la Retributive Justice (giustizia retributiva), ossia la giustizia centrata sulla dimensione punitiva. In questo contesto i processi per crimini di guerra tenutisi a ridosso della fine della Seconda guerra mondiale ebbero una funzione orientativa, poiché su questi si basarono gli innumerevoli processi nei decenni successivi.¹⁵ Al contempo la ripresa tardiva e forzata di tali processi, avvenuta in alcuni casi solo negli anni ’90, indica forti resistenze e efficaci manovre dilatatorie da parte delle élites sia politiche che sociali. Questo atteggiamento riluttante si spiega in parte – come nel caso dei rapporti italo-tedeschi – con il fatto che allo svolgimento dei processi contro crimini di guerra si opponevano interessi statali. Fu così che dopo il 1945 il governo italiano rinunciò alla domanda di estradizione dei criminali di guerra, per il timore di doversi confrontare con rivendicazioni analoghe. Si trattava fondamentalmente di impedire che altri stati (tra cui l’Unione Sovietica, la Grecia, l’Albania, l’Etiopia e soprattutto la Jugoslavia) presentassero a loro volta domande di estradizione per i criminali di guerra italiani. Alla fine tutti rimasero nel proprio paese e anche in Italia nessuno dovette temere procedimenti giudiziari, fatte salve pochissime eccezioni.¹⁶ Sul piano internazionale, una svolta fondamentale si ebbe soltanto negli anni ’90, quando nel segno delle guerre in Jugoslavia venne sempre di più alla luce la mancanza di strumenti efficaci per una gestione dei conflitti, e ciò causò forti appelli per una condanna dei responsabili secondo il diritto internazionale. A questo scopo venne istituita nel maggio 1993 dal Consiglio di Sicurezza delle Nazioni Unite la Corte Internazionale di Giustizia per la ex-Jugoslavia, che per la prima volta dai processi per crimini di guerra di Norimberga e di Tokio ebbe il compito di punire legalmente crimini di guerra e condannare i responsabili dello scoppio e della conduzione del conflitto.¹⁷ Un ulteriore passo in avanti fu segnato dalla risoluzione del 1998 per l’istituzione della Corte Penale Internazionale dell’Aia. Il secondo filone della Transitional Justice riguarda forme della Restorative Justice, intendendo con ciò la riparazione per le sofferenze subite. La giustizia ripa-

 Cfr. l’articolo di Michele Battini in questo volume.  Wolfgang Form, Transitional Justice. Alliierte Kriegsverbrecherprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa, in: Kerstin von Lingen (a cura di), Kriegserfahrung und nationale Identität in Europa nach 1945. Erinnerung, Säuberungsprozesse und nationales Gedächtnis. Paderborn 2009, pp. 52– 73; Norbert Frei (a cura di), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Göttingen 2006.  Filippo Focardi/Lutz Klinkhammer, La questione dei “criminali di guerra” italiani e una Commissione di inchiesta dimenticata, in: Contemporanea. Rivista di storia dell’’800 e del ‘900 4, 2001, pp. 497– 528. Sul caso italiano si veda ora Marco De Paolis/Paolo Pezzino, La difficile giustizia. I processi per crimini di guerra tedeschi in Italia 1943 – 2013, Roma 2016.  Richard A. Whalen, Judging History. The Historical Record of the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, in: Human Rights Quarterly 27, 2005, pp. 908 – 942.

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rativa (o restaurativa) prevede il ripristino delle “condizioni” precedenti per chiunque sia stato privato dei suoi beni, abbia dovuto subire limitazioni dei diritti di cittadinanza, discriminazioni nel campo del lavoro, sfruttamenti economici o simili. Sono incluse in questo concetto anche forme di risarcimento e riparazione economica, tra cui compensazioni sotto forma di pensioni, pacchetti di servizi in vari campi, dalla sanità al sistema educativo oppure sostegno attraverso assistenza legale. Questo ambito riguarda anche varianti della riparazione simbolica.¹⁸ A questo proposito si ripropone costantemente la questione di fondo, che Pier Paolo Portinaro ha già posto in altre sedi, se sia ragionevole che la giustizia penale internazionale punti a fare giustizia su un passato spesso non recente, poiché nel far ciò si trascura il fatto che il diritto in fin dei conti non è lo strumento adatto per rimodellare il passato.¹⁹ Allo stesso tempo rientra nel concetto di giustizia restaurativa la creazione di memoriali o monumenti in ricordo delle vittime, cerimonie pubbliche, dichiarazioni di scuse da parte di rappresentanti delle istituzioni e il riconoscimento di responsabilità per i crimini commessi. Anche l’attività delle commissioni storiche rientra nella sfera delle riparazioni simboliche. Il loro compito principale è di risolvere le controversie tra i paesi rispetto alle proprie responsabilità o di creare una condivisione di responsabilità nella transizione alla democrazia.

Sfide politiche e teorico-specialistiche nei confronti delle commissioni storiche L’istituzionalizzazione di commissioni storiche solleva questioni di vario genere nel panorama della ricerca attuale. In ciò svolge costantemente un ruolo fondamentale l’accusa secondo cui le commissioni storiche, incaricate dai governi o altre istituzioni pubbliche o private, mirerebbero con le loro indagini a una “verità ufficiale” che di per sé è in forte contraddizione con quello che si ritiene un elemento fondamentale della ricerca storica: giungere a un giudizio scientificamente fondato, indipendente dalla politica, dalle istituzioni e da finalità specifiche.²⁰ I risultati di queste commissioni inciderebbero inoltre sulla cultura della memoria ufficiale formata politicamente, caricando gli storici di compiti che in realtà non attengono al loro “mestiere”. Per il fatto che i committenti si attenderebbero dagli storici coinvolti un contributo alla conciliazione di diversi gruppi a livello locale, nazionale e addirittura internazionale, verrebbe data alla ricerca storica una missione ben precisa.

 Per una rapida sintesi del caso italiano si veda Paolo Pezzino, Italy, in: Lavinia Stan/Nadya Nedelsky (a cura di), Encyclopedia of Transitional Justice, vol. 2, Cambridge 2012, pp. 248 – 254.  Pier Paolo Portinaro, I conti con il passato. Milano 2011, p. 24.  Christoph Cornelißen, Historie im politischen Auftrag? Zur ambivalenten Rolle nationaler und internationaler Historikerkommissionen, in: Claudia Fröhlich/Harald Schmid (a cura di), Brauchen Demokratien Geschichte? Stuttgart 2013, pp. 201– 206 (=Jahrbuch für Politik und Geschichte 3).

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Allo stesso tempo lo storico diventerebbe apertamente e direttamente attore della riconciliazione politica e della costruzione di una nuova identità sociale nella transizione dalla dittatura alla democrazia. Di fronte a una simile strumentalizzazione della storia ai fini del discorso pubblico si pone ancor più urgentemente la questione di come gli storici possano trasmettere una pluralità di identità e una pluralità di punti di vista se al contempo privilegiano posizioni specifiche. Il ruolo dello storico quale “esperto della verità” non dovrebbe certamente essere sovraccaricato. Il suo compito consiste anzitutto nella ricostruzione plausibile degli eventi, ma sicuramente non nella creazione di identità. Egli è in grado di svelare le vie della politica del passato, paragonabile in questo forse ai pirati saraceni: lo storico nel suo lavoro depreda tutto ciò che gli può tornare utile. E anche quando lo riconosce apertamente, questo viene avvertito – giustamente – come modo di agire ostile. Lo storico non può sposare alcun costrutto di identità, deve piuttosto mirare a dimostrare la pluralità di azioni e di dimensioni, in sostanza a rappresentare un quadro complesso di fatti che altrimenti vengono interpretati per lo più in chiave unidimensionale. Deve smascherare le invenzioni delle tradizioni, smontare le costruzioni collettive di memorie, ricomprendere i contesti in una cornice più ampia anziché in una più ristretta. Là dove le politiche dell’identità portano regolarmente a semplificazioni e generalizzazioni, lo storico invece distingue, disseziona, analizza, instilla dubbi. Yosef Yerushalmi evidenziava al proposito come “per lo storico Dio dimora certamente nei dettagli, mentre la memoria da parte sua insorge contro il fatto che i dettagli tendono a diventare dei.”²¹ La ricerca filologica, la grande attenzione alle fonti ed al loro uso, il senso metodologico dello storico, tutto questo serve a porre domande, nella consapevolezza che le risposte dipendono in ultima dallo stato delle fonti. Senza un grande esercizio di umiltà e di tolleranza, e senza la convinzione che entro i confini della plausibilità sono sempre possibili interpretazioni diverse, lo storico non può lavorare in modo efficace. Tutto ciò mostra che la ricerca storica ha un grande valore civile, che si oppone a evidenti falsificazioni di un revisionismo, becero, spesso con evidenti intenti di giustificazionismo politico, mentre riconosce senz’altro un revisionismo che metta sul banco di prova stereotipi e luoghi comuni – perché è esattamente questo il compito di una ricerca storica critica. Essa si oppone all’oblio, all’omologazione o al livellamento della ricostruzione storica su direttive politico-ideologiche. Per quanto possa suonare banale, lo storico deve attenersi ai fatti pur senza limitare la propria creatività interpretativa su di essi. Si tratta dello studio delle fonti, distinguendo esattamente tra affermazioni di fatti e interpretazioni. Osservazioni di questo tipo sono tornate ad essere importanti dopo un secolo che ha visto prevalere ideologie

 Yosef Hayim Yerushalmi, Ein Feld in Anatot. Versuche über jüdische Geschichte. Berlin 1993 [Paris, 1988], pp. 20 – 21.

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fondate su una continua manipolazione della storia, ma anche in un’epoca in cui le “fake news” determinano i dibattiti pubblici. A prescindere dai problemi appena delineati, sarebbe oltremodo avventato rinunciare a queste esperienze di commissioni storiche, in particolare nei casi in cui si garantisce la libertà della ricerca e soprattutto la libertà di scelta dei temi.²² Considerando la congiuntura attuale di queste istituzioni è opportuno esaminare caso per caso la loro attività sottoponendo a verifica critica le modalità della loro istituzione, la loro composizione, il metodo di lavoro, i risultati e infine l’utilizzo che ne viene fatto dai committenti. Esattamente questo è quanto ci si propone con questo volume.

Struttura del volume Il presente volume si basa su un convegno tenutosi il 9 e 10 ottobre 2014 presso l’Accademia Nazionale dei Licei a Roma. Similmente al convegno, anche il volume persegue l’obiettivo in primo luogo di fare il punto della situazione sulla molteplicità delle commissioni storiche attuali. In secondo luogo si vogliono illustrare le precise condizioni storiche del loro insediamento e i compiti che sono stati loro affidati, e in terzo luogo ci si prefigge di riflettere criticamente sui problemi e i limiti della loro attività. Dal punto di vista organizzativo i contributi sono stati divisi in tre grandi blocchi tematici. Nella prima parte ci si occupa del ruolo delle commissioni storiche internazionali e nazionali; si passa quindi a considerare il complesso intreccio di rapporti tra le commissioni storiche e la giustizia, nonché il ruolo che gli storici hanno assunto in qualità di esperti nei tribunali o nelle commissioni parlamentari. Infine ci si concentra sul contributo delle commissioni storiche nella costruzione e/o decostruzione di culture della memoria. Già i contributi introduttivi di Wolfgang Schieder (Colonia) e Mariano Gabriele (Roma) sulla commissione storica italo-tedesca mettono in evidenza come tali istituzioni non possano semplicemente sostituire il compito che è proprio della politica. I risultati del lavoro della commissione storica italo-tedesca mostrano piuttosto che di regola occorre molto tempo da un lato per rielaborare temi gravosi della storia della Seconda guerra mondiale in modo bilaterale e scientificamente fondato, dall’altro per far sì che l’opinione pubblica dei paesi in questione familiarizzi con i risultati della ricerca storica. La commissione storica, attiva tra il 2009 e il 2012, è riuscita anche a indicare alla ricerca storica nuove prospettive per un futuro approfondimento della “guerra tedesca contro la popolazione civile” nell’Italia settentrionale. Inoltre è risultato evidente come le associazioni italiane delle vittime siano riuscite solo grazie alle raccomandazioni della commissione a presentare con maggior efficacia le loro richieste anche in Germania. Essa concepì come proprio

 Moshe Zimmermann, Aufklärung und Anstoß. Über den Nutzen von Historikerkommissionen, in: Fröhlich/Schmid (a cura di), Brauchen Demokratien Geschichte, pp. 207– 212.

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compito anzitutto l’elaborazione di procedure utili a comprendere in un’ottica scientifica vari tipi di memorie collettive. In secondo luogo si trattava di trovare un approccio metodologico che potesse considerare memorie di guerra italiane e tedesche di lungo periodo partendo da una prospettiva storica unitaria. La commissione storica non si concentrò quindi sulla ricostruzione storica di processi di memoria italiani e tedeschi in gran parte controversi, ma cercò un nuovo approccio metodologico al fine di correggere in questo modo i radicati pregiudizi nei due paesi. Per questo propone che l’analisi storica futura dei rapporti italo-tedeschi durante la Seconda guerra mondiale consideri non solo le decisioni principali e di carattere statale o ripercorra la sola storia della guerra, ma rivolga la propria attenzione anche alle esperienze individuali dei testimoni. La commissione ha anche inserito nel suo rapporto alcune raccomandazioni, che hanno spinto il governo della Repubblica Federale Tedesca a istituire “un Fondo Italo-Tedesco per il Futuro per finanziare progetti. Questi progetti vengono scelti in stretta collaborazione con il Ministero italiano degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale”.²³ Fra i progetti finanziati, L’Atlante delle stragi naziste e fasciste in Italia, un censimento della violenza sugli inermi promosso dall’Associazione Nazionale Partigiani d’Italia e dall’istituto nazionale “Ferruccio Parri” di Milano, che ha coinvolto oltre 120 ricercatori di tutto il paese.²⁴ Le riflessioni contenute in questo volume collettaneo sulle commissioni storiche bilaterali e anche trilaterali tra stati europei occidentali e stati dell’Europa centroorientale e orientale dimostrano come in discussioni e progetti di questo tipo pesi in modo particolare l’eredità sia dei crimini delle potenze occupanti sia dell’esodo e delle deportazioni durante e dopo la Seconda guerra mondiale. In relazione a ciò scoppiarono regolarmente aspre controversie storico-politiche, come spiega Raoul Pupo (Trieste) considerando le commissioni italo-slovene e italo-croate. Queste due commissioni storico-culturali miste furono istituite nell’ottobre 1993 dai Ministeri degli Affari Esteri coinvolti, in occasione di uno scambio di note. La proposta iniziale di limitarsi con il lavoro delle commissioni alla storia delle foibe venne tuttavia profondamente modificata. Mentre i membri della commissione italo-slovena riuscirono, seppur dopo animate discussioni, a presentare nel 2000 una relazione finale comune, la commissione italo-croata non iniziò mai i lavori previsti. Secondo la prospettiva italiana di Pupo, un bilancio sulla “giornata della memoria” risulta per questo dopo dieci anni complesso. Sebbene non mancasse una generica strumentalizzazione della storia nel dibattito pubblico, pur tuttavia l’interesse improvviso, massiccio, politico, mediatico e storiografico per gli avvenimenti sulle sponde orientali dell’Adriatico ha incrementato in modo duraturo non solo l’indagine dei  http://www.italien.diplo.de/Vertretung/italien/it/08-kultur-und-bildung/Erinnerungskultur/Er innerungskultur.html. Consultato il 28 luglio 2016.  Si veda http://www.straginazifasciste.it/, e Gianluca Fulvetti/Paolo Pezzino (a cura di), Zone di guerra, geografie di sangue. L’Atlante delle stragi naziste e fasciste in Italia (1943 – 1945). Bologna 2016.

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rapporti tra l’Italia e i paesi slavi meridionali, ma anche la diffusione delle conoscenze su questo tema. Diversamente dalla storia delle commissioni di italiani e slavi meridionali, Christoph Cornelißen (Francoforte sul Meno) descrive come la commissione storica tedesco-ceco-slovacca sia giunta nel frattempo a un quarto di secolo di attività. Ciò può essere inteso anche come prova del fatto che occorre decisamente un progetto di ampio respiro per riuscire, grazie a raccomandazioni elaborate congiuntamente, a placare avvelenate controversie storico-politiche. Nel caso della commissione storica tedesco-ceco-slovacca non si trattava (e non si tratta) di trovare formule di compromesso per una storia comune “negoziata”. Essa perseguiva piuttosto – e persegue tuttora – l’obiettivo di elaborare una posizione accettabile da tutte le parti, anche quando si tratta di affrontare temi pesantemente minati. La commissione è riuscita a moderare controversie politiche con connotazione nazionale attraverso uno scambio scientifico regolato e in questo modo, dalla sua iniziale funzione di strumento politico per favorire uno scambio binazionale o trinazionale, ha saputo diventare parte integrante del panorama della ricerca tedesco-ceco-slovacca. Inizialmente lo scopo di molte commissioni storiche internazionali è stato spesso quello di “decontaminare” i programmi e libri di testo scolastici. Hans-Jürgen Bömelburg (Gießen) e Thomas Strobel (Braunschweig) riferiscono nei loro contributi delle esperienze personali fatte in seno alla Commissione congiunta tedesco-polacca per i libri di testo. Già prima della fine della Guerra fredda erano state nominate numerose commissioni sui libri di testo, ma a partire dagli anni ’90 il loro lavoro si è enormemente intensificato, anche se i problemi chiave sussistono tuttora. Anche nel caso della commissione tedesco-polacca per i libri di testo si nota che l’idea politica, secondo cui la commissione avrebbe dovuto scrivere un libro di storia “comune” per la scuola, non ha potuto finora realizzarsi concretamente, a causa dei diversi sistemi scolastici e delle procedure di autorizzazione relative ai nuovi libri di testo, ma anche a causa di franchi tiratori politici in entrambi paesi. In un altro saggio del primo blocco tematico sulla commissione storica tedescoucraina Martin Schulze Wessel (Monaco di Baviera) delinea la storia di una commissione che non è nata come progetto politico, ma che è stata chiamata in vita dalle associazioni degli storici di entrambi i paesi. Ciò nonostante essa si trova in una situazione particolarmente tesa dal punto vista politico – cosa che la pone al centro dell’attenzione pubblica, perché è stata fondata nel 2015 dopo il Majdan e l’annessione della Crimea da parte della Russia e anche durante il conflitto militare per le “repubbliche popolari” ucraine orientali Donezk e Luhansk. La giovane commissione persegue lo scopo di analizzare le forti ripercussioni della storia tedescoucraina, sebbene queste attualmente non svolgano un ruolo negativo. Allo scopo di rispondere per così dire preventivamente a possibili accuse, diversi Ministeri e autorità federali tedeschi hanno scelto di spontanea volontà in questi ultimi anni la strategia di far indagare il passato nazista della propria istituzione da esperti della storiografia. Nessuna altra commissione ha ricevuto pubblicamente un’eco così forte come il lavoro della “Commissione storica indipendente sulla storia

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del Ministero degli Affari Esteri”. Nel suo saggio, Eckart Conze (Marburgo) traccia anzitutto la genesi della commissione per tematizzare subito dopo in modo dettagliato l’asprezza della discussione pubblica scatenatasi dopo la pubblicazione di Das Amt (“Il Ministero e il passato”). Tale asprezza sarebbe stata alimentata dal concorso di diversi fattori: la discussione sul “1968” di crescente intensità dopo la vittoria elettorale della SPD (Partito socialdemocratico tedesco) e dei Verdi del 1998 e la formazione di un governo federale rosso-verde, come anche il ruolo svolto da Joschka Fischer nelle proteste studentesche di Francoforte. Senza questi contrasti non sarebbe comprensibile il cosiddetto “Nachrufaffäre” (“l’affare delle rievocazioni”) degli anni 2004/05, incentrato sulla questione se e come dovessero essere commemorati ex diplomatici del Ministero degli Affari Esteri che tra il 1933 e il 1945 avevano fatto parte del NSDAP (Partito Nazionalsocialista Tedesco dei Lavoratori) o di un’altra organizzazione nazista. I controversi dibattiti nell’opinione pubblica andarono ben oltre la questione dell’appartenenza al NSDAP. Infatti: che cosa s’intendeva nei vari momenti, nei decenni dopo il 1945 – e in realtà fino ad oggi – per peso nazista? Dietro a questo si ripresenta sempre la domanda, secondo Conze, di come la società tedesca occidentale sia riuscita, malgrado l’indubbio peso del passato nazista, a raggiungere un grado di democratizzazione e liberalizzazione quale quello che è stato descritto dalla letteratura storica. Che il campo di azione delle commissioni storiche sia andato oltre la funzione delle autorità pubbliche e di altre istituzioni è documentato dal contributo di Tim Schanetzky (Jena) sul ruolo delle commissioni storiche istituite da grandi gruppi economici. Ciò riguarda in prima linea la Repubblica Federale Tedesca, dove dal 1983 ad oggi grandi imprese hanno assegnato più di 30 incarichi di ricerca a singole persone o a commissioni. Schanetzky riassume gli sviluppi in questo campo e li colloca nell’ambito delle discussioni, particolarmente sentite dall’opinione pubblica, sui risarcimenti degli ex-lavoratori coatti. In questi casi si riconosce spesso lo schema stimolo-reazione, in quanto allo scandalo pubblico del passato nazista di una data impresa seguì prontamente l’assegnazione di un incarico di ricerca sul tema a una commissione storica.

Commissione storica e giurisprudenza Anche nella Svizzera apparentemente indenne da tutti questi sviluppi, scoppiarono negli anni ’90 controversie sul cosiddetto “oro nazista”. I suoi retroscena furono portati ampiamente alla luce fin dalla fine degli anni ’90 da una commissione di giuristi e storici. Daniel Thürer (Zurigo) osserva tuttavia criticamente come sia sempre cattiva scienza quella che valuta gli eventi di allora sulla base di misure che avevano iniziato ad affermarsi solo successivamente e proprio come conseguenza di questi fatti. Ma esattamente questa era stata una pratica corrente tra i suoi colleghi storici di allora.

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Lutz Klinkhammer (Roma) si mette sulle tracce “dell’armadio della vergogna” rinvenuto nel 1996 nella sede degli organi giudiziari militari romani e contenente centinaia di vecchi fascicoli d’inchiesta contro crimini nazi-fascisti durante la Seconda guerra mondiale. La commissione d’inchiesta nominata a tale scopo dal parlamento italiano, di cui faceva parte come esperto lo stesso Klinkhammer, riuscì in realtà secondo quest’ultimo a contribuire alla discussione meno di quanto non seppero fare articoli di giornale. Le possibilità di ricerca degli esperti vennero limitate, perché il lavoro della commissione parlamentare sottostava alle considerazioni politiche risultanti dalla maggioranza nella commissione parlamentare. Anche Paolo Pezzino (Pisa) espone le sue esperienze di consulente tecnico presso la Procura militare di La Spezia, dove dal 2002 al 2004 era stato incaricato come storico di collaborare alla ricostruzione degli eventi di alcune grandi stragi commesse dall’esercito tedesco in Italia (fra queste Sant’Anna di Stazzema e Monte SoleMarzabotto). Pezzino confronta il modo di operare dello storico e del giudice e afferma che sostanzialmente si assomigliano. Tuttavia si ricollega anche a una constatazione di Peter Mandler, secondo cui il compito dello storico non sarebbe quello di presentarsi come giudice o giurato della società, perché in un tribunale valgono altre regole rispetto a quelle che vigono nello studio dello studioso. Mandler conclude che gli storici possono certamente comparire nei tribunali, ma “without illusions about their place as an authority there”. Pezzino conferma tale affermazione sulla base delle sue esperienze personali, per cui la consulenza tecnica dello storico rappresenta solo un momento del lavoro di indagine, un punto di partenza delle indagini che rispondono poi alle usuali modalità di un procedimento giudiziario. In tribunale si può giungere certamente in singoli casi a una proficua collaborazione tra gli storici e i giudici – occorrono tuttavia la dovuta precauzione e un punto di vista storiografico differenziato nei confronti dei processi e fenomeni storici. Infine Pier Paolo Portinaro (Torino) analizza lo sviluppo e il ruolo della Transitional Justice e giunge alla conclusione che in essa si osserva un crescente sincretismo di diversi pareri giuridici e morali provenienti da diverse parti del mondo. Proprio al di fuori dell’Europa è emerso come a causa delle pratiche sociali e tradizioni culturali qui predominanti spesso risulti difficile applicare norme del diritto penale internazionale a procedure giuridiche nel caso di crimini contro l’umanità o processi per crimini di guerra. Per Portinaro permangono pertanto incertezze, se il nuovo moral frame dei rapporti internazionali possa avere veramente possibilità di successo o rappresenti solamente “una grande ipocrisia della globalizzazione”. Nell’ultimo articolo di questa parte Michele Battini (Pisa) concentra l’attenzione sui conflitti tra paradigmi della giustizia e della verità storica da un canto e della storiografia e della memoria dall’altro. Partendo da quest’ottica egli mette in evidenza che nella seconda metà del XX secolo si è verificato nell’ambito della Transitional Justice un profondo mutamento. L’interesse si è infatti spostato dalla ricostruzione della verità storica e giudiziaria, grazie a processi giudiziari garantiti dallo stato di diritto, a favore di un approccio che ha il fine di raggiungere la conciliazione. Ma dal punto di vista di Battini la questione della differenza tra memoria e storio-

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grafia impone di soffermarsi più attentamente su somiglianze e differenze tra verità giudiziaria e verità storica, perché la memoria conflittuale all’interno di un paese e tra società diverse è spesso usata contro la logica giudiziaria a favore delle procedure delle commissioni per la riconciliazione. Il memory boom moderno compenserebbe addirittura una falsa comprensione del presente con un passato che attraverso la costruzione di monumenti, spettacoli, celebrazioni e riti pedagogici rischia di trasformarsi in show o in mitologia.

Commissioni storiche e culture della memoria La Fondazione “Erinnerung, Verantwortung und Zukunft”, di cui parla Constantin Goschler (Bochum), è una realtà di diritto pubblico. Uno dei motivi principali per la sua creazione fu quello di riuscire in questo modo a respingere una serie di accuse sollevate all’epoca negli Stati Uniti. Goschler descrive nel suo saggio anzitutto la nascita della fondazione che si occupò principalmente dell’assistenza agli ex-lavoratori coatti in particolare nell’Europa centro orientale. Egli si sofferma poi sulle attività della fondazione nel campo della cultura della memoria, dei diritti dell’umanità e dell’impegno per le vittime del nazismo. La fondazione fruisce di un capitale che ammonta oggi a 450 milioni di dollari, ma esclude finora un risarcimento per gli internati militari italiani. Il contributo di Martin Sabrow (Potsdam/Berlino) sulle Commissioni per l’Accertamento dei Fatti per l’elaborazione del passato della SED (Partito del Socialismo unitario tedesco) colloca l’attività di questa commissione nel solco della tradizione storica a partire dalla commissione d’inchiesta dell’Assemblea Nazionale Tedesca dell’anno 1919, che si era occupata di questioni di colpevolezza della Prima guerra mondiale. Sabrow riconduce il compito politico affidato alla commissione al cambiamento del discorso storico, che a partire dalla fine degli anni ’80 si distanzierebbe spiccatamente dai precedenti modelli della concezione del passato. La pretesa “guarigione attraverso la verità, conciliazione attraverso l’onestà” permette di riconoscere dei chiari parallelismi con il discorso di rielaborazione istituzionale delle commissioni sudafricane Truth-And-Reconciliation, ma al contempo svela un conflitto costitutivo sugli obiettivi, che ancora oggi la accompagna e la porta avanti. Secondo Sabrow si tratta da un lato di una promessa di riconciliazione attraverso l’onestà dipendente dagli attori, dall’altro viene formulata la pretesa di conservare per il futuro gli insegnamenti della storia, tramandandoli di generazione in generazione. Nel suo contributo Filippo Focardi (Padova) inserisce l’attività della commissione storica italo-tedesca in un ambito più ampio e sottolinea come nel dibattito pubblico l’attribuzione della responsabilità sia leggermente unilaterale. Ciò renderebbe il lavoro delle commissioni storiche ancora più necessario, perché solo grazie a loro sarebbe possibile contribuire ad abbattere miti reciproci. Focardi trova significativo il fatto che ultimamente la questione delle riparazioni per gli internati militari italiani o

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anche il mito del “tradimento degli italiani” abbia provocato commenti adirati nell’opinione pubblica sia in Italia che in Germania. Luca Baldissara (Pisa) affronta nel suo saggio la funzione della storiografia dopo le cesure nella storia europea del XX secolo. Descrive l’unione dell’Europa dopo la Seconda guerra mondiale tramite l’antifascismo, dopo il crollo dell’Unione Sovietica a causa dell’antitotalitarismo. Secondo Baldissara nei discorsi pubblici avrebbe avuto luogo un cambio di paradigma che ha posto sempre di più le vittime nel focus delle culture della memoria. Inoltre i procedimenti giuridici si dimostrerebbero non esclusivamente ma anche come atti politici, come atti costitutivi del diritto internazionale che risponde alle idee di pace e si pone al di sopra dell’interesse nazionale. Allo stesso tempo l’autore sottolinea le ripercussioni delle iniziative europee per lo sviluppo di una cultura del memoriale sullo spinoso tema dei crimini di guerra. Anche in questi casi, senza il sostegno dei media le commissioni storiche non potrebbero svolgere con successo la loro attività.

Commento Nel suo commento finale Axel Schildt (Amburgo) pone sotto una luce critica la congiuntura delle commissioni storiche dagli anni ’90. Egli le riconduce principalmente a una logica politica e mediale, in cui le commissioni nella loro funzione di collettivo di esperti hanno sostituito l’importanza dei singoli storici e vengono incaricate di stabilire la “verità” con la “suggestione di ciò che è concluso”. Schildt argomenta che nella discussione sui crimini della Seconda guerra mondiale fu posto in primo piano lo scandalo per mettere in evidenza da un lato le diverse linee di continuità nel personale delle élites e dall’altro per delimitare il campo della ricerca. Il “mondo delle commissioni storiche” offre per l’autore un’occasione propizia per riflettere criticamente sul doppio ruolo del mestiere della corporazione degli storici come studiosi e quali membri di un gruppo di professioni “semilibere”.

Ringraziamenti La realizzazione del convegno presso l’Accademia dei Lincei e la pubblicazione dei contributi non sarebbero stati possibili senza il generoso sostegno di diverse istituzioni. In primo luogo i curatori desiderano ringraziare il Presidente del Centro Linceo Interdipartimentale ʻBeniamino Segre’, dell’Accademia dei Lincei di Roma, Professor Tito Orlandi, che ha messo a disposizione la foresteria, le prestigiose sale della sede dell’Accademia e un contributo finanziario. In secondo luogo un particolare ringraziamento va alla Deutsche Forschungsgemeinschaft, in quanto solo con il suo contributo finanziario è stato possibile organizzare la comprensione bilaterale italotedesca sui compiti e i problemi delle commissioni storiche. Altrettanto riconoscenti siamo verso l’Ambasciata Tedesca di Roma e in particolare verso l’Istituto Storico

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Germanico di Roma, nella persona del suo direttore Professor Martin Baumeister, che ha reso possibili le traduzioni in tedesco dei contributi italiani. Ringraziamo vivamente per il suo ottimo lavoro di traduzione il dottor Gerhard Kuck dell’Istituto Storico Germanico di Roma. Last but not least desideriamo ringraziare anche Carla Reitter della Facoltà di Storia Contemporanea dell’Università di Francoforte sul Meno, per la cura e l’impegno nel lavoro redazionale del volume.

Autorenverzeichnis Luca Baldissara, Professor für Zeitgeschichte, Università di Pisa Michele Battini, Professor für Neueste sowie Politikgeschichte, Università di Pisa Hans-Jürgen Bömelburg, Professor für Osteuropäische Geschichte, Justus-Liebig-Universität Gießen Eckart Conze, Professor für Neueste Geschichte (19./20. Jh.), Philipps-Universität Marburg Christoph Cornelißen, Professor für Neueste Geschichte, Goethe-Universität Frankfurt am Main Filippo Focardi, Professor für Zeitgeschichte, Università di Padova Mariano Gabriele, em. Professor für Neuere Geschichte und Politiker, ehem. Ko-Vorsitzender der Deutsch-Italienischen Historikerkommission, Rom Constantin Goschler, Professor für Zeitgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum Lutz Klinkhammer, Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte und stellvertretender Direktor am Deutschen Historischen Institut, Rom. Paolo Pezzino, Professor für Zeitgeschichte, Università di Pisa Pier Paolo Portinaro, Professor für politische Theorie, Università di Torino Raoul Pupo, Professor für Zeitgeschichte, Università di Trieste Martin Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung, Potsdam und Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität, Berlin Tim Schanetzky, Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena Wolfgang Schieder, em. Professor für Neueste Geschichte an der Universität zu Köln, ehem. Ko-Vorsitzender der Deutsch-Italienischen Historikerkommission Axel Schildt, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Hamburg und Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Martin Schulze Wessel, Professor für die Geschichte Ost- und Südosteuropas, Ludwig-MaximiliansUniversität München Thomas Strobel, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung, Braunschweig Daniel Thürer, em. Professor für Völkerrecht, Europarecht, Öffentliches Recht und Verfassungsvergleichung, Universität Zürich

https://doi.org/10.1515/9783110541144-021

Register der Institutionen Accademia dei Lincei, Rom 11, 17, 344. Achse Rom-Berlin 272, 275. Alleanza nazionale 61, 63, 163 f. Associazione Nazionale Reduci dalla Prigiona (ANRP) 48, 263 – 265, 268, 280 – 282, 284. Arbeitsgemeinschaft für Angewandte Geschichte/Public History 125. Arbeitsgemeinschaft Alpe Adria 56. Akademie der Wissenschaften der Ukraine 99. Archiv des Carabinieri-Kommandos 198. Archivio di deposito della Prefettura 198. Archivio storico dell’Arma die carabinieri (Historisches Archiv der Carabinieri) 198. Associazione Nazionale Ex Internati (ANEI) 47 f., 263, 274, 281. Associazione Nazionale Partigiani d’Italia (ANPI) 12, 45 – 46, 280 – 281, 339. Asean Foreign Ministers‘ Meeting 211. Auswärtiges Amt 3, 13, 70, 73, 84, 109 – 113, 117, 174, 232, 319. Berliner Parlament 250. Bundeskriminalamt 319. Bundesnachrichtendienst 319 f. Bundesgericht 143. Brandenburgische Kommission 252. Brandenburgischer Landtag 246, 248. Bündnis 90/Die Grünen 13, 110, 245, 253. Bundeskanzleramt 322. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) 3 – 4, 331. Bundespresseamt 322. Bundesrat 135, 138. Bundesregierung 1, 13, 22, 70, 94, 246, 258, 327. Bundesverfassungsgericht 325. Cambodian Genocide Justice Act 211. Carabinieri 39, 165, 169, 198, 270. Collegium Carolinum 69, 71 f., 80. Columbia University 182. Conditio humana 217. Consiglio della magistratura militare 161. Corte Internazionale di Giustizia dell’Aia 329. Corte suprema di Cassazione italiana 329. Corti d’assise straordinaria 167.

https://doi.org/10.1515/9783110541144-022

Daimler-Benz AG 3, 119 – 120, 126, 331. Democrazia Cristiana (Christliche Demokratie, DC) 24, 60. Deutscher Akademischer Austauschdienst (DAAD) 104, 106. Deutsches Auswärtiges Amt 70, 117. Deutsche Bank 120, 124, 126 f. Deutsche Botschaft, Rom 17, 267, 281. Deutsche Partei 324. Deutscher Bundestag 245, 250, 284, 324, 327. Deutsches Historisches Institut (DHI) 17, 30, 70, 105, 154. Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) 17, 237, 320. Deutsche Nationalversammlung 16, 254. Deutsch-italienische Zeitgeschichtsstiftung 274. Deutsch-Italienischer Zukunftsfonds 12, 174, 281. Deutsch-tschechische Kommission 301. Division Hermann Göring 181. Drittes Reich 3, 5, 28, 37, 110, 115, 117, 120, 122, 125, 128 – 131, , 137, 143 – 146, 165, 170, 183, 231, 259, 285 f., 315 – 317, 319, 321, 331. Eichmann-Prozess 182, 293. Enquetekommission Brandenburg „Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur“ 246, 248. Europäische Kommission 303. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 263. Europäisches Parlament 299, 303. Europäische Union (EU) 60, 70, 82, 162, 210, 219, 226, 296 f., 299 f., 302 – 305, 326. Europarat 296. EVZ-Projekt 232, 235 f., 239, 241 f. Expertenkommission zur Zukunft der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU) 256 f. Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia 211. Ferruccio Parri 12, 339. Freie Demokratische Partei 324. Finanzministerium, Berlin 234, 262. Florentiner Gericht 265.

350

Register der Institutionen

Forschungsstelle DDR-Staatssicherheit in vergleichender Perspektive 257. Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik 182 f. Foreign Office, London 166. Forza Italia 163, 171. Frankfurter Allgemeine Zeitung 100. Frankfurter Auschwitz-Prozess 182, 293. Freiburger Militärgeschichtliches Forschungsamt 186. Fresenius Medical Care 126. Gebirgsjäger 261. Georg-Eckert-Institut. Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung 83 – 87, 94. Gesellschaft für Unternehmensgeschichte 119. Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft 83. Goethe-Institute in Italien 275. Guerilla-Bewegung der Khmer 211. Hamburger Institut für Sozialforschung 153, 318. Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts 120. Historikerkommission – Deutsch-Italienische Historikerkommission 3, 12, 21 – 50, 185, 259, 309, 315 – 328. – Deutsch-Polnische Schulbuchkommission 83 – 95. – Deutsch-Russische Geschichtskommission 96, 102, 107. – Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Historikerkommission 69 – 82. – Deutsch-Ukrainische Historikerkommission 95 – 108. – Historikerkommission „Schweiz-Zweiter Weltkrieg“ 148. – Italienisch-Slowenische und Italienisch-Kroatische historisch-kulturelle Kommissionen 52. – Südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth-and-Reconciliation-Kommission) 7, 213. – Ukrainisch-Polnische Kommission 107. – Unabhängige Expertenkommission SchweizZweiter Weltkrieg (UEK) 136 f, 142, 149 f. – Unabhängige Historikerkommission zur Geschichte des Auswärtigen Amtes 110. Holocaust-Konferenz 210.

I.G. Farben-Konzern 184. Infineon 126. Institut für Wissenschaft am Menschen (IWM) 106. Internationale Gemeinschaft 182, 214, 298, 302. Internationale Organisation für Migration (IOM) 265. Internationaler Gerichtshof 1 f., 22, 162, 263, 266 f. Internationaler Militärgerichtshof (IMG) 221, 290. Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien 221. Internationales Rotes Kreuz 37. International Organization for Migration 234. Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien 8. Istituti di Cultura Italiana in Deutschland 275. Istituti di Storia del Movimento di Liberazione 46. Istituti per la Storia della Resistenza 64. Istituto di storia contemporanea in Como 265. Istituto nazionale per la storia del movimento di liberazione in Italia (INSMLI) 64, 280 – 282. Istituto Polacco per la memoria Nazionale (IPN) 332. Italienische Militärinternierte 34, 36,39, 41 – 43, 47 – 49, 259, 262 – 264, 274, 280 – 283. Italienisches Außenministerium 12, 167. Italienisches Parlament 14, 171, 174 – 175. Italienischer Verfassungsgerichtshof 160. Italienisches Verteidigungsministerium 48. Italian War Crimes Central Commission 166. Jewish Claims Conference

234.

Kassationsgerichtshof, Rom 1, 68, 74 f. Kassationshof 265. Kommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ 246 f., 251. Kommission zur Zukunft der Behörde des beauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) 245. Kulturausschuss des Deutschen Bundestags 250.

Register der Institutionen

Lager Risiera di San Sabba 266. Lega Nord 163, 170. Londoner Charta 291. Londoner Royal High Court 185. Londoner Statut von 1945 207. Lotta continua 187. Luxemburger Abkommen 324. Militärischer Abschirmdienst 319. Max-Planck-Gesellschaft 125. Max-Planck-Institut für Geschichte 72. Max-Weber-Stiftung 30. Militäranwaltschaft 260. Militärgeneralstaatsanwaltschaft Rom 160. Militärjustizbehörden 165. Ministero degli Affari Esteri 167, 331, 341. Movimento Sociale Italiano (MSI) 164. Münchner Institut für Zeitgeschichte 182. National Archiv der USA 170. Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) 14, 110, 115, 129, 321 – 322, 341. NATO 56, 110. Nürnberger Prozess 222, 288. Nürnberger Statut 221. NSDAP 14, 110, 115, 129, 322, 341. Obergericht Kanton Zürich 14. Oberlandesgericht Florenz 326. Oberster Militärgerichtshof 167. Partito Comunista Italiano (Kommunistische Partei Italiens, PCI) 24. Partito Democratico della Sinistra 61. Partito Socialista Italiano (Sozialistische Partei Italiens, PSI) 24. Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) 250, 252 f. Penguin UK 185. Polizeibataillon 101 109, 196. Polizei-Freiwilligen-Bataillon Italien, 3. 194. Polnisches Institut für das Nationale Gedächtnis (Instytut Pamieci Narodowej, IPN) 4, 332. Polnische Akademie der Wissenschaften 85 f., 94. Potsdamer Parlament 250. Präfektur im Département Gironde 200. Procura generale militare presso il Tribunale Supremo Militare 167.

351

Reichssicherheitshauptamt (RSHA) 317. Repubblica Sociale Italiana (RSI) 24, 26 – 27, 35 – 36, 41, 42, 44 – 45, 47, 61, 63, 159, 164, 177, 182, 201, 260, 271, 272 f., 274, 276 – 277, 260, 263, 272 – 273. Resistenza 24 – 27, 64, 163, 174, 220, 261, 263, 266, 270 – 271, 276 – 279, 293. Restorative Justice 8, 207, 335. Robert Bosch Stiftung 104, 106. Römisches Militärgericht 186. Rote Armee 234. Ruhr-Universität Bochum 235. Russische Akademie der Wissenschaften 101. Sabrow-Kommission 246, 249 f. SAP 126. Sicherheitsrat der Vereinten Nationen 8. Slowakische Akademie der Wissenschaften 74. Slowakisches Nationalkomitee der Historiker 74. Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 13, 110, 245, 249 f., 252,–253, 256, 258, 341. Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) 16, 246 – 249, 253 – 258, 343. SS-Panzergrenadier-Division, 16. 178, 180 f. Staatliche Bühne Darmstadt 143. Stasi-Unterlagen-Gesetz 256 f. Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) 16, 126, 231 – 244, 262, 280, 325, 343. Stiftung (später: Bundesstiftung) zur Aufarbeitung der SED-Diktatur 246. Stockholmer Programm 304. Studienzentrum Villa Vigoni 282. Süddeutsche Zeitung 97, 264, 266. Transitional Justice 6 – 8, 15, 192, 205 – 209, 211 – 215, 217, 219, 225, 291, 334 – 336, 342. Truth-And-Reconciliation-Kommissionen 16, 255. Ufficio storco dello stato maggiore dell’esercito 38, 198. UNESCO-Kommissionen 83 – 85, 87, 90, 182. Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft 257. United Nations War Crimes Commission (UNWCC) 158, 167.

352

Register der Institutionen

Untersuchungsausschuss der Deutschen Nationalversammlung 1919 über die Schuldfragen des Weltkrieges 16, 254. UNWCC 158, 167 f. Uomo qualunque 277. US-Kongress 211. Verband der Historikerinnen und Historiker Deutschlands (VHD) 94 – 99, 103 – 105, 323. Verband der Osteuropahistoriker 96. Vereinte Nationen 8, 170, 211, 221, 291. Versailler Vertrag 222, 254. Verteidigungsministerium 48, 165, 281

Volkswagen AG 3, 120 – 121, 126, 316, 331. Verfassungsschutz (VS) 319 f., 329. Waffen-SS 24, 35, 158 Währungsunion 296. Warschauer Erklärung 303. Warschauer Pakt 56. Wehrmacht 1, 22 – 23. Yad Vashem 182. Zentrum für Historische Forschung (Berlin) 86. Zentrum für Zeithistorische Forschung 250. Zwei-plus-Vier-Abkommen 325.

Personenregister Abs, Hermann Josef 124 Adenauer, Konrad 169, 277, 305, 324 Agnone, Giuseppe 154 Albano, Paolo 153, 154, 156 Andrae, Friedrich 156, 157 Andreotti, Giulio 175 Anschütz, Gerhard 137 Arendt, Hannah 182 Aristoteles 225 Assmann, Aleida 215 Aurel, Marc 50 Badoglio, Pietro 36 Baldissara, Luca 16, 17, 344 Bandera, Stepan 101 Barbe, Angelika 246 Barbie, Klaus 295 Barkai, Avraham 122 Baron, Salo 182 Barroso, José Manuel 300 Bartoszewski, Wladislaw 284 Barvinska, Polina 99, 106 Battini, Michele 15, 171, 342 Baumeister, Martin 17, 345 Becker, Hellmut 116 Bergier, François 135 Berlusconi, Silvio 159, 163, 164, 170, 261, 264, 278 Birthler, Marianne 257 Bloch, Marc 187, 191, 198 Bloxham, Donald 195 Bobbio, Norberto 221 Bömelburg, Hans-Jürgen 13, 89, 323, 340 Boldrini, Laura 173 Bonjour, Edgar 149 Borell, Josep 299 Borodziej, Włodzimierz 89 Bossy, John 224 Boveri, Margret 116 Brandes, Detlef 71, 73 Brandt, Willy 83, 283, 307 Broszat, Martin 182 Browning, Christopher 155, 196 Brunner, José 233 Buchheim, Christoph 129 Burckhardt, Walther 144

https://doi.org/10.1515/9783110541144-023

Cadogan, Alexander 166 Calabresi, Luigi 187 Calvino, Italo 226 Capobianco, Giuseppe 154 Carandini, Nicolò 166 Carli, Carlo 163 Casini, Pier Ferdinando 163 Cassese, Antonio 221 Churchill, Winston 300 Ciampi, Carlo Azeglio 159, 263, 283, 305 Cicero, Marcus Tullius 225 Cohen, David 193 Cohn-Bendit, Daniel 301 Collotti, Enzo 46, 186 Conze, Eckart 13, 14, 341 Cornelißen, Christoph 12, 340 Crasemann, Peter 159 Čubarjan, Aleksandr 101, 102 De Baets, Antoon 188 De Felice, Renzo 276, 277 De Feo, Alessandro 159 De Filippo, Eduardo 43 De Gasperi, Alcide 24, 305 De Paolis, Marco 161, 172, 178, 260 De Zayas, Alfred 155 Di Sante, Costantino 175 Dienstbier, Jiří 70, 71, 73 Dini, Lamberto 159 Dini, Sergio 161 Dönhoff, Marion Gräfin 116 Dostler, Anton 159 Eckert, Georg 83, 85 Ehrmann, Siegmund 250 Eizenstat, Stuart 149 Elster, Jon 216, 223 Febvre, Lucien 187, Feldman, Gerald 122, 124 Ferrajoli, Luigi 224 Ferrini, Luigi 162, 263, 264 Fini, Gianfranco 61 Fischer, Ernst 195 Fischer, Heinz-Joachim 266 Fischer, Joschka 13, 110, 111, 112, 319, 341 Flick, Friedrich 127 Flick, Giovanni Maria 160

354

Personenregister

Flores, Marcello 223 Focardi, Filippo 16, 164, 171, 343 Forsthoff, Ernst 137 Franzinelli, Mimmo 171 Frattini, Franco 22, 272, 265, 266 Frei, Norbert 112 Frister, Erich 83

Hitler, Adolf 23, 33, 37 Holmes, Oliver Wendell 140 Hrycak, Jaroslav 99 Hrynevyč, Vladislav 105 Huntington, Samuel 205

Gabriele, Mariano 11, 29, 269, 271, 338 Gall, Lothar 122 Gauck, Joachim 172, 255, 283, 305, 306 Genscher, Hans-Dietrich 70, 71 Gentile, Carlo 46, 155, 172, 179, 180, 269 Gerasimov, Ilya 102, 103 Geyer, Michael 155 Giacometti, Zaccaria 139, 140, 141, 144 Gierek, Edward 83 Ginzburg, Carlo 187 Giustulisi, Franco 159, 171 Gobbi, Romolo 276 Goebbels, Joseph 271, 317 Göring, Hermann 181 Golczewski, Frank 96 Goldhagen, Daniel 318 Goschler, Constantin 16, 113, 343 Granet, Marcel 220 Grinčenko, Gelinada 105 Guariglia, Raffaele 36 Gutzeit, Martin 246

Jablonický, Jozef 74 Jackson, Robert 288, 290 Jacobsen, Hans-Adolf 182 Jahn, Roland 257, 258 James, Harold 122 Judt, Tony 286, 287, 288 Juncker, Jean-Claude 299

Haffner, Sebastian 144, 145 Hagen, Mark von 105 Hahn, Hans Henning 92 Hammermann, Gabriele 269 Hankel, Gerd 291 Hartung, Gustav 143 Hasser, Ernst 37 Hausmann, Guido 99 Havel, Václav 70 Hayes, Peter 112, 129 Heller, Hermann 137 Hentschel, Volker 120 Herodot 199, 225 Herrhausen, Alfred 120 Heumos, Peter 75 Hilberg, Raul 118 Hildebrand, Klaus 112 Hilgert, Nora 104 Himmler, Heinrich 37 His, Eduard 144

Irving, David

185

Kant, Immanuel 141 Kappeler, Andreas 96, 103, 104, 105 Kappler, Herbert 24, 161, 261, 271 Kaufmann, Erich 137 Keitel, Wilhelm 37 Kellerhoff, Sven-Felix 131 Kelsen, Hans 137, 222 Kesselring, Albert 157, 159, 271 Kieślowski, Krzysztof 192 Kinkel, Klaus 72 Kleine-Brockhoff, Thomas 81 Klinkhammer, Lutz 14, 155, 163, 269, 342 Kohl, Helmut 307 Kováč, Dušan 74 Krapf, Franz 110 Krausnick, Helmut 182 Křen, Jan 72, 73, 74, 75, 77 Kubik, Jan 105 Kuck, Gerhard 17, 345 Kuczynski, Jürgen 184 Kudin, Kateryna 104 La Malfa, Ugo 44 Labanca, Nicola 273, 276 Lau, Joachim 153, 162 Lauterpacht, Hersch 306 Lee, Spike 204 Lehnigk-Emden, Wolfgang 154, 155, 156, 160, 161 Lemberg, Hans 76, 79 Lipstadt, Deborah E. 185, 186 Löwenberg, Erich 143 Lollini, Andrea 223 Loraux, Nicole 225

Personenregister

Ludwig, Carl 149 Lübbe, Hermann 215 Lukian von Samosata 225 Lysenko, Oleksandr 105 Mackensen, Eberhard von 159 Mälzer, Kurt 159 Maier, Charles 155, 189, 190 Malaparte, Curzio 43 Mandler, Peter 15, 197, 198, 342 Markiewicz, Władysław 89 Mayer, Arno 155 Mazower, Mark 286, 287 Meckel, Markus 246 Melior, Susanne 249 Melloni, Alberto 182, 204 Menghini, Aldo 194 Merazzi, Walter 265, 284 Mertineit, Walter 89 Mesić, Stjepan 66 Milde, Max Josef 261 Minaxhò, Giovanni 194 Mitterand, François 307 Mönch, Regina 100 Mogherini, Federica 283 Momigliano, Arnaldo 225 Mommsen, Hans 120, 121, 316 Montale, Eugenio 226 Müller, Michael G. 79, 89 Mussolini, Benito 23, 26, 28, 36, 169, 173, 263, 272, 277, 278 Muti, Riccardo 67 Napolitano, Giorgio 49, 66, 266, 283, 284, 305 Niethammer, Lutz 249, 317 Orlandi, Tito 17, 344 Orlanducci, Enzo 264, 268, 281 Osiel, Mark 223 Ostenc, Michel 34 Overy, Richard 291 Paggi, Leonardo 153, 155 Paoletti, Paolo 202 Papon, Maurice 200, 295 Pavone, Claudio 46, 199 Penter, Tanja 99 Perrow, Charles 123 Petersen, Jens 154

355

Pezzino, Paolo 15, 154, 155, 163, 171, 174, 269, 342 Pinto-Duschinsky, Michael 122, 123 Platzeck, Matthias 252 Poettering, Hans-Gert 300 Pohl, Hans 119 Poliakov, Léon 118 Portinaro, Pier Paolo 8, 15, 193, 222, 336, 342 Portnov, Andrij 103, 104 Pot, Pol 211 Priebke, Erich 153, 158, 160, 161, 177, 186, 260, 261, 295 Prodi, Romano 159, 297, 300 Prosperi, Adriano 224 Pupo, Raoul 12, 339 Puškov, Aleksej 101 Quintilian, Marcus Fabius

225

Raisi, Enzo 163, 174 Ranke, Leopold von 199 Rau, Johannes 283, 305 Reder, Walter 24, 178, 261, 271 Reemtsma, Jan-Philipp 119 Reitlinger, Gerald 118 Reitter, Carla 18, 345 Řeznik, Miloš 105 Rhode, Gotthold 88, 89 Ribbentrop, Joachim von 117 Ricci, Raimondo 159, 161 Rosoni, Isabella 202, 204 Rothberg, Robert I. 223 Rousso, Henry 199, 200, 201, 202, 204 Ruchniewicz, Krzysztof 233 Sabrow, Martin 16, 246, 249, 250, 343 Šapoval, Jurij 99 Sary, Ieng 211 Scalfaro, Oscar Luigi 175 Schaub, Jean-Frédéric 285 Schama, Simon 186 Schanetzky, Tim 14, 341 Scherrer, Jutta 105 Scheungraber, Josef 261 Schieder, Wolfgang 11, 154, 259, 269, 284, 338 Schildt, Axel 17, 344 Schindler, Dietrich 139, 140, 141, 144 Schindler, Oskar 295 Schlemmer, Thomas 269

356

Personenregister

Schlink, Bernhard 145 Schmitt, Carl 141, 222 Schöllgen, Gregor 316 Schreiber, Gerhard 36, 153, 154, 155, 157, 186 Schröder, Gerhard 97, 170 Shultz, George 149 Schulze Wessel, Martin 13, 78, 99, 340 Schuster, Kurt 161 Schwarz, Hans Peter 316 Ščupak, Igor 99 Sebald, Winfried G. 311 Segre, Beniamino 17, 344 Seifert, Misha 260 Silvestri, Valeria 269 Simon, Max 159, 178 Smend, Rudolf 137 Smuraglia, Carlo 45, 280 Snyder, Timothy 103, 104 Sofri, Adriano 187 Spoerer, Mark 128 Springer, Axel 316 Steinberg, Jonathan 122 Steiner, Michael 267, 268 Steinmeier, Frank Walter 22, 266, 283, 284 Stelmach, Sergij 99, 105 Stella, Federico 224 Stolleis, Michael 146 Stolpe, Manfred 248 Strobel, Thomas 13, 340 Struve, Kai 105, 106 Sysyn, Frank 103, 104, 105 Tanzilli, Flavio 163 Taruffo, Michele 224 Teitel, Ruti G. 192 Tensfeld, Willy 159 Terzi di SantʼAgata, Giulio Ther, Philipp 233 Thürer, Daniel 14, 341

Thoma, Richard 137 Thompson, Dennis 223 Thukydides 225 Tito, Josip Brosz 51, 54 Todorov, Tzvetan 188, 196 Tomuschat, Christian 262 Touvier, Paul 200, 295 Traba, Robert 86, 89, 92 Triepel, Heinrich 137 Turner, Henry 112 Ueberschär, Gerd

157

Vassalli, Giuliano 175 Venturelli, Aldo 269 Vierhaus, Rudolf 72 f., 77, 79 Violante, Luciano 61 Vulpius, Ricarda 99 Wala, Michael 113 Wawrykowa, Maria 88 Weingart, Peter 122 Weizsäcker, Ernst von 116 Wendland, Anna Veronika 96, 99 Werle, Gerhard 222 Westerwelle, Guido 269, 280 White, Hayden 240 Wickert, Erwin 110, 111 Wilhelm II. (Deutscher Kaiser) 222 Wojciechowski, Marian 89 Woller, Hans 269 Wulf, Josef 118 Yerushalmi, Yosef Hayim 337

269, 280

10, 190, 199, 226,

Zapatero, José Luis Rodríguez Zernack, Klaus 92 Zimmermann, Moshe 112

5, 333

Ortsregister Adria 12, 51, 59, 64, 66 – adriatische Frage 53 El Alamein 23, 200 Albanien 7, 40 f., 298 Alpen 33, 178 – Apuanische Alpen 178 Amerika – amerikanisch 41, 104, 126, 135, 149, 159, 195, 220, 298 Afrika 6, 29, 33, 264, 279 – Nordafrika 23, 272 Apennin 24 Arezzo 155, 263, 281 – Arezzo-San Pancrazio 281 Argentinien 158, 223, 260 Armenien – armenisch 297 Asien 6 – ostasiatisch 91 Athen 213, 223, 326 Äthiopien 7, 24, 171, 264 Auschwitz 88, 182, 184, 190 – Auschwitz-Birkenau 182 Balkan 23, 24, 29, 54, 64, 157, 264 – Balkankrieg 296 Babyn Jar 106 Bardine di S. Lorenzo 178 Belarus Belgrad 325 Belgrad 52 f. Bergell 139 Berlin 16, 23, 31 f., 36, 46, 48, 70, 78, 86, 94, 99, 102, 104 ff., 116, 144, 156, 162, 184, 232, 238, 241, 245, 250, 263, 267, 272, 274 f., 280 f., 283 f., 287 f., 294, 296, 317, 319, 343 – Berlin-Schöneweide 46, 274, 281 Bochum 16, 120 f., 135, 235, 343 Bologna 178, 198 Bonn 112, 119, 156, 245 Bozen 260 Brandenburg 90, 246, 248 ff., 252 ff. – brandenburgisch 94, 246, 249 – 252 Bremen 322 Bucine 281 Caiazzo 154 Capodistria 66 https://doi.org/10.1515/9783110541144-024

Caporetto 32 Cassino 35 China 211 Civitella di Val di Chiana 155, 260 ff., 265, 283 Certosa di Farneta 178 f. Como 265 Dalmatien 54, 61 ff., 65 Dänemark 33 Den Haag 1, 8, 22, 147, 162, 222, 263, 266 f., 279, 281, 284 Deutsche Demokratische Republik (DDR) 75, 84 f., 109, 121, 184, 219, 245 – 258, 279 Distomo 265, 326 Donbas 103 Donezk 13, 95, 340 El Alamein 23, 266 Finnland 296 Fiume 61 ff., 65, 67 Florenz 162, 265, 326 Fosse Ardeatine 24, 158, 160 f., 260, 271 Frankreich 23, 29, 33, 40, 170, 200, 272, 295, 306 Frankfurt am Main 12, 14, 18, 100, 110, 182, 234, 266, 293 Genf 147, 234 Görz/Gorizia 53, 59, 63, 66 Griechenland 7, 29, 33, 40, 41, 170, 264, 265, 272, 306, 315, 325, 326 – griechisch 162, 225, 265, 326 Grizzana 178 Großbritannien 128, 170 Grüne Linie 35 Guardistallo 153, 155, 189 ff. Gustavlinie 35 Hamburg 17, 70, 96, 106, 117, 120, 153 – 155, 157, 206, 213, 317 f., 322 Hessen 47, 143, 322 Israel 213, 293, 302, 324 Istrien 53 f., 61, 63, 65 Jalta 299, 300 Jerusalem 112, 182, 293

358

Ortsregister

Jugoslawien 7 f, 29, 40, 51, 52, 54, 56, 59, 62, 63, 65, 66, 169, 171, 175, 264, 272, 306 – jugoslawisch 51, 52, 53, 54, 57, 59, 60, 62, 63, 65, 66 Julisch Venetien 51, 53 f., 60, 62 Kambodscha 211 Kanada 260 Kassel 47, 118 Kefalonia 260 f., 263, 278 Kopenhagen 296 f., 299 Koper 59 Köln 11, 96, 119, 154, 172, 179 Krim 13, 85, 98 Kroatien 12, 51 – 54, 60, 66 f. Kyjiw 96, 98 f., 103, 105 La Spezia 15, 172, 178, 194, 204, 261, 265, 342 Libyen 24, 264 Ljubljana 52 f., 57 London 30, 66, 144, 166 f., 185, 207, 291, 324 Lucca 178 Luhansk 13, 95, 340 Lviv 99, 105 Maastricht 296 Mailand 12, 46, 282 Malta 33, 297 Massa-Carrara 178 Manila 211 Monte Sole/Marzabotto 15, 158, 172, 178, 260, 271, 283, 305, 342 Monzuno 178 Memelgebiet 33 Mitteleuropa 59, 300 Molise 154 Monte Carmignano 154 Monte Sole 24, 158, 172, 178, 305, 342 Moskau 30, 96, 102, 166, 286 München 13, 71 f., 79, 99, 102, 182, 282, 319 Neapel 26, 43 New York 170, 234 Niccioleta 194 Norwegen 33 Nürnberg 8, 117, 142, 146 f., 182 f., 193, 195, 202, 221 f., 288, 290 – 294, 307

Oberitalien 11 Odessa 106 Österreich 5, 32 f., 76, 170, 286, 296, 302, 333 – österreichisch 76, 195, 273 Osteuropa 3, 5, 12, 121, 154, 232, 234, 236, 287, 294, 300, 309, 327 – Mittelosteuropa 65, 296 – osteuropäisch 234, 235, 262, 287, 294, 295, 297, 298, 299, 300, 306, 317, 325 – Südosteuropa 300, 327 Ozeanien 205 Padua 47 f., 178, 274 Palazzo Cesi 174, 177, 260 Paris 30, 66, 105, 168 Pirano 66 Pisa 15 f., 46, 189, 342, 344 Polen 4, 29, 33, 83, 84, 86, 88, 90, 91, 93, 94, 95, 100, 157, 217, 219, 234, 284, 315, 325 – polnisch 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 100, 101, 105, 192, 262, 284 – polnisch-jüdisch 4 Postojna 66 Potsdam 16, 103, 249 f., 319, 343 Pula 67 Punta Stilo 33 Rheinland 33 Risiera di S. Sabba 186, 266 Rom 1, 8, 11, 14, 17, 22 f., 30 – 34, 36 f., 39, 41 – 43, 48, 51, 54 f., 63, 65, 109, 153 f., 156, 158 – 160, 162 f., 166 – 171, 181 f., 194, 198, 220 f., 223, 260 f., 264, 267, 272, 274 – 276, 279, 281 – 283, 286, 292 f., 306, 323, 329, 335, 338, 342, 344 f. – römisch 14, 24, 43, 47, 53, 67, 139, 158, 160, 175, 177 f., 186, 222, 260, 280, 282 Ruanda 213, 296 Russland 33, 95 – 102, 104, 157, 210 f., 234 Sant‘ Anna di Stazzema 13, 35, 46, 172, 178, 202 f., 260, 283, 306, 342 Santa Maria Capua Vetere 154, 156, 160 f. Schleswig-Holstein 322 Schloss Štiřín 74 Schweden 296 Schweiz 5, 14, 135 – 146, 148 – 150, 232, 302 Sizilien 26, 36, 42

Ortsregister

Slowenien 12, 51 f., 56 ff., 66 f., 264, 297, 302 Slowakei 12 f., 69 – 82, 95 f., 99, 219, 284, 297, 315 Sowjetunion/UdSSR 7, 17, 23, 29, 33, 97, 100, 103, 222, 272, 285, 287 f., 296, 306 – sowjetisch 37, 40, 97, 98, 103, 210, 288 Spanien 5, 105 – spanisch 5 – Spanischer Bürgerkrieg 33 Stalingrad 23 Stockholm 210, 304 Straßburg 263 Stuttgart 120, 172 Sudeten 33 – Sudetendeutsche 73, 75, 77, 301 Südafrika 213 – südafrikanisch 6, 7, 16, 215, 255 Tel Aviv 233 Tokio/Tokyo 8, 110, 290, 335 Toskana 153 f., 162, 180 f., 194, 220, 261 Triest 1, 12, 31, 49, 51 – 54, 56, 59, 61, 63, 66, f., 185 f., 266 f., 301, 329, 339 Tschechien 69, 75, 81 f., 219, 297, 302, 315, 325 – tschechisch 12 f., 69 – 82, 95 f., 99 f., 105, 284, 298, 301 – Tschechische Republik 70, 80, 234, 284 – Tschechoslowakei 29, 69, 71, 74, 75, 77, 95, 298 – tschechoslowakisch 56, 70, 73, 76, 301

Tschernobyl Türkei 297

359

122

Ukraine 95 – 106, 234, 325 USA/Vereinigte Staaten von Amerika 16, 137, 149, 155, 170 f., 211, 222, 232 f., 244, 285, 288, 290, 325 Valla 178 Verdun 201, 307 Versailles 33 Vichy 199 f., 288, 295 Villa Vigoni 265, 267, 282, 326 Vinca 178 Warschau 30, 56, 83 f., 89, 93, 105, 283, 288, 303 Washington 30 Weißrussland 234 Westdeutschland 182, 277 – westdeutsch 14, 84, 118, 251, 254, 256, 317, 320 f. Westeuropa 12, 16, 29, 178, 231, 276, 287, 294, 299, 309 Wien 53, 96, 98, 103, 105 f., 233 Wrocław 233 Yalta 299 Zagreb 52 Zara 63, 67 Zürich 140,144