Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich. [Band 1] Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich: Das Nominal [2 vols., 1,600 pp. total ed.] 9783110341461, 9783110341355

This functionally oriented contrastive grammar is devoted to nominal word classes (such as nouns, adjectives, and pronou

361 46 10MB

German Pages 2004 [1990] Year 2017

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Table of contents :
Inhaltsübersicht
Vorwort
Verzeichnis der Abkürzungen
Verzeichnis der Sprachsiglen
Verzeichnis der Symbole
Einleitung
A. Funktionale Domänen
A1. Überblick
A2. Referenz und Identifikation
A3. Nomination
A4. Modifikation
A5. Nominale Quantifikation
B. Wort und Wortklassen
B1. Wortklassen
B1.1 Überblick
B1.2 Artikel und Demonstrativa
B1.3 Adjektive
B1.4 Substantive
B1.5 Pronomina
B2. Kategorisierungen
B2.1 Überblick
B2.2 Genus
B2.3 Numerus
B2.4 Kasus
C. Nominalflexion
C1. Einleitung
C2. Genus
C3. Person und Possession
C4. Numerus
C5. Kasus
C6. Flexive in Phrasen
C7. Charakteristik der deutschen Nominalflexion
D. Nominale Syntagmen
D1. Syntax der Nominalphrase
D2. Nominalphrasen mit adjektivischem oder partizipialem Kopf
D3. Possessive Attribute
D4. Nicht-possessive PP- und NP-Attribute
D5. Numerativkonstruktionen
D6. Relativsyntagmen
D7. Partizipialattribute
Inhaltsverzeichnis
Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Register
Sprachenregister
Sachregister
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Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich. [Band 1] Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich: Das Nominal [2 vols., 1,600 pp. total ed.]
 9783110341461, 9783110341355

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Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich Das Nominal

Schriften des Instituts für Deutsche Sprache

Herausgegeben von Ludwig M. Eichinger und Angelika Linke

Band 14.1

Lutz Gunkel, Adriano Murelli, Susan Schlotthauer, Bernd Wiese, Gisela Zifonun

Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich Das Nominal Unter Mitarbeit von Christine Günther und Ursula Hoberg

Teilband 1: Funktionale Domänen, Wort und Wortklassen

Redaktion: Melanie Steinle

ISBN 978-3-11-034135-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-034146-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039535-8 ISSN 1861-566X Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Die vorliegende „Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich: Das Nominal“ setzt die Tradition des IDS fort, große umfassende und theoretisch weiterführende Beschreibungen zur Grammatik des Deutschen zu erarbeiten. Den Charakter der 1997 erschienenen „Grammatik der deutschen Sprache“ prägt eine aufeinander bezogene Kombination einer formalen und einer semantisch-pragmatischen Beschreibung. Das hier in zwei umfänglichen Bänden vorgelegte Werk baut auf den Erkenntnissen auf, die in der Arbeit an dieser Grammatik gewonnen worden waren. Es lässt sich wie diese als eine „funktionale, empirisch orientierte wissenschaftliche Grammatik“ charakterisieren. Zudem stand Gisela Zifonun als Leiterin der Abteilung Grammatik von Anfang bis Ende an der Spitze beider Vorhaben – und für beide Vorhaben. Ihr sei schon hier dafür gedankt, dass sie diese Funktion bis zum Abschluss des Projekts, der weit in die Zeit ihres Ruhestands hineinreichte, beibehalten hat. Dank gilt gleichzeitig der Abteilung Grammatik unter ihrer Leiterin Angelika Wöllstein für die kontinuierliche Unterstützung des Vorhabens. Die „Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich: Das Nominal“ setzt dann aber doch auch ganz anders und neu an. Was nicht im Widerspruch dazu steht, dass sie mit der Fokussierung auf das „Nominal“ auch als eine Art Ergänzung gelesen werden kann. Neuartig ist die Ausarbeitung einer deutschen Grammatik unter dem durchgehend leitenden Prinzip des Vergleichs in einer typologisch fundierten vergleichenden Darstellung, die das Spezifische des Deutschen ebenso erkennen lässt wie seine Einbindung in den Bestand „europäischer Optionen“ grammatischer Kodierung. In einer frühen Vorstellung des Projekts wird hervorgehoben, dass eine „Profilierung der grammatischen Eigenschaften des Deutschen vor dem Hintergrund entsprechender Optionen in anderen europäischen Sprachen“ als ein wissenschaftlicher Beitrag zu einem „europäischen Sprachbewusstsein“ gelten könne. Solch eine europäische Dimension – verbunden mit (euro)typologischen Überlegungen – steht auch hinter der Wahl der ausführlich und zentral herangezogenen Vergleichssprachen Englisch, Französisch, Polnisch und Ungarisch. Die Ausarbeitung des funktionalen Vergleichskonzepts, in dem mit der Beschreibung des Deutschen der Hintergrund aufscheint, in den das Deutsche und die Vergleichssprachen gemeinsam einzuordnen sind, erforderte eine intensive Auseinandersetzung mit den theoretischen Annahmen, aber auch mit den Verhältnissen auf der morphologischen und semantischen Ebene, wie man sie in den ersten Jahren des Projekts nicht vorhersehen konnte. Die Herausgeber danken dem Verfasserteam, dass es die Mühe nicht gescheut hat, diesen Weg konsequent zu Ende zu gehen. Wir wünschen dem Werk viel Erfolg! Ludwig M. Eichinger

Angelika Linke Mannheim im Februar 2017

Inhaltsübersicht Ein ausführliches Inhaltsverzeichnis befindet sich in Teilband 2, S. 1839.

Teilband 1 Vorwort  V Verzeichnis der Abkürzungen  IX Verzeichnis der Sprachsiglen  XIV Verzeichnis der Symbole  XVI Einleitung  1

A

Funktionale Domänen

A1 A2 A3 A4 A5

Überblick  16 Referenz und Identifikation  33 Nomination  64 Modifikation  83 Nominale Quantifikation  185

B

Wort und Wortklassen

B1 B1.1 B1.2 B1.3 B1.4 B1.5 B2 B2.1 B2.2 B2.3 B2.4

Wortklassen  222 Überblick  222 Artikel und Demonstrativa  254 Adjektive  343 Substantive  408 Pronomina  519 Kategorisierungen  800 Überblick  800 Genus  804 Numerus  846 Kasus  889

VIII

Inhaltsübersicht

Teilband 2 Verzeichnis der Abkürzungen  VII Verzeichnis der Sprachsiglen  XII Verzeichnis der Symbole  XIV

C

Nominalflexion

C1 C2 C3 C4 C5 C6 C7

Einleitung  1040 Genus  1046 Person und Possession  1090 Numerus  1127 Kasus  1175 Flexive in Phrasen  1283 Charakteristik der deutschen Nominalflexion  1326

D

Nominale Syntagmen

D1 D2 D3 D4 D5 D6 D7

Syntax der Nominalphrase  1339 Nominalphrasen mit adjektivischem oder partizipialem Kopf  1525 Possessive Attribute  1568 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute  1638 Numerativkonstruktionen  1699 Relativsyntagmen  1736 Partizipialattribute  1807

Inhaltsverzeichnis  1839 Quellenverzeichnis  1860 Literaturverzeichnis  1862 Register  1944 Sprachenregister  1944 Sachregister  1948

Verzeichnis der Abkürzungen 1 2 3 A AQ AR arch. ABL ABS ADE ADJ ADV Adv AdvP AFF AG Ajk AjkP AKK ALL ANIM AP APP ART ASS ATT bel BEN C D DAT DEF DEL DEM DemP DET DIR DIST DISTR DN

erste Person zweite Person dritte Person Adjektiv (Konstituentenkategorie) Qualitätsadjektiv Relationsadjektiv archaisch Ablativ Absolutiv Adessiv Adjektiv(ierungssuffix) Adverb, Adverbiale Adverb (Konstituentenkategorie) Adverbphrase Affix AGENS

Adjunktor (Konstituentenkategorie) Adjunktorphrase Akkusativ Allativ belebt Adjektivphrase Appellativum Artikel (definit/indefinit) assoziativer Plural Attribut belebt BENEFIZIENS

Konsonant Determinativ (Konstituentenkategorie) Dativ definit/definiter Artikel Delativ Demonstrativum Demonstrativphrase Determinator direkt distal Distributiv Deskriptor-Nomen

X

DO DP DP ELA EN ERG ESS ESS-M F fam. FD FIN FOK FRS FUT geh. GEN GER GQ GRD H H HON HUM IK ILL IMP INAN INDEF INDIR INDIV INE INF INS INT IO IPRF KADV KAKK KAU KDAT KGEN

Verzeichnis der Abkürzungen

direktes Objekt Determinativphrase Determinatorphrase (in generativen Theorien) Elativ Eigenname Ergativ Essiv Essiv-Modal Femininum familiär funktionale Domäne finit Fokus freies Relativsyntagma/freier Relativsatz Futur gehoben Genitiv Gerundium Generalized Quantifier graduierend hartstämmig Hierarchie Honorifikativum menschlich Infinitivkonstruktion Illativ Imperativ unbelebt indefinit/indefiniter Artikel indirekt Individuativum Inessiv Infinitiv/infinit Instrumental Intensität(spartikel) indirektes Objekt Imperfekt Adverbialkomplement Akkusativkomplement Kausal(-Final) Dativkomplement Genitivkomplement

Verzeichnis der Abkürzungen

Kjk KL KLF KOM KOMP KOMP KOMPR KOND KONJ KONT KOPF KPRD KPRP KSU LOK M MANIM MAX MIN MINAN MPERS N N NEG NN NOM NOM NON NP NQNP NR NumP OBJ OBL obs. OCOMP P Pform PA PART PASS PAT

Konjunktor (Konstituentenkategorie) Klitikon Klassifikator Komitativ Komplementierer Komplement (syntaktische Funktion) Komparativ Konditional Konjunktiv Kontinuativum Kopf Prädikativkomplement Präpositivkomplement Subjektkomplement Lokativ Maskulinum Maskulinum animatum maximal minimal Maskulinum inanimatum Personalmaskulinum Neutrum Nomen (Konstituentenkategorie) Negation NONAGENS - NONPATIENS NONPAT IENS Nominativ NOM-Syntagma/-Konstituente nicht-/nonNominalphrase nicht-quantifizierte Nominalphrase Nominalisierer Numeralphrase Objekt, Objekt-Argument Obliquus, obliques Objekt obsolet Vergleichsobjekt/„object of comparison“ Adposition/Präposition (Konstituentenkategorie) ‚formale‘ Präposition Partizipialattribut Partitiv Passiv PAT IENS PATIENS

XI

XII

PERS PFV PL PN POR POS POSS POT PP PPL PRÄD PRF PRO PROG PROP PROX PRP PRS PRT PTL PTZP PUM PV Q QNP R RADV ref REF REFL REL REZ REZP RPRO RPTL RS S SADV SF SG Sjk SjkP

Verzeichnis der Abkürzungen

Personal(pronomen) Perfektiv Plural Person-Numerus Possessor Possessum Possessiv(suffix) Potential Adpositionalphrase/Präpositionalphrase Possessum-Plural Prädikativ(komplement) Perfekt Pronomen, pronominal Progressiv proprial proximal Präposition Präsens Präteritum Partikel Partizip Possessumsuffix Präverb/Verbpartikel Quantifikator quantifizierte Nominalphrase Relation Relativadverb referentiell Referenz Reflexiv(pronomen) Relativum/Relativisator REZIPIENT

Reziprok(pronomen) Relativpronomen Relativpartikel Relativsatz/-syntagma Satz Adverbialsupplement semantische Funktion Singular Subjunktor (Konstituentenkategorie) Subjunktorphrase

Verzeichnis der Abkürzungen

SOZ SU SUB SUBJ SUBST SUP SUPL SUPP TOP TRA U ugs. UL V V VEL VOK VP W

Soziativ Subjekt, Subjekt-Argument Sublativ Subjunktiv Substantiv Superessiv Superlativ Supplement Topik Translativ Utrum umgangssprachlich Umlaut Verb Vokal auf Velar Vokativ Verbalphrase weichstämmig

XIII

Verzeichnis der Sprachsiglen AFR AHD ALB BAM BAS BKS BLR br.ENG BUL CZE DÄN DEU ENG FÄR FIN FRA FRI GRI IR ITA JAP KOB KOR LAT LET LIT MAZ MHD NDL NHD NOR OSO OSS POL POR RUM RUS SLN SPA SWE

Altfranzösisch Althochdeutsch Albanisch Bambara Baskisch Bosnisch-Kroatisch-Serbisch Weißrussisch britisches Englisch Bulgarisch Tschechisch Dänisch Deutsch Englisch Färöisch Finnisch Französisch Friesisch (Neu-)Griechisch Irisch Italienisch Japanisch Kobon Koreanisch Latein Lettisch Litauisch Mazedonisch Mittelhochdeutsch Niederländisch Neuhochdeutsch Norwegisch Obersorbisch Ossetisch Polnisch Portugiesisch Rumänisch Russisch Slowenisch Spanisch Schwedisch

Verzeichnis der Sprachsiglen

TID TÜR UKR UNG UTE WAL

Tidore Türkisch Ukrainisch Ungarisch Ute Walisisch

XV

Verzeichnis der Symbole * ?

/

??

# %

(*x) *(x) >/< >/< >> [_] __ Ø /…/ […] 〈…〉 σ ∃ ∀ ¬ ∩ λ ⊕ ⊆ *P ⊗P

ungrammatisch fragwürdig / sehr fragwürdig semantisch abweichend / nur in anderer Interpretation möglich nicht für alle Sprecher akzeptabel/substandardsprachlich Ausdruck wird ohne Setzung von x ungrammatisch Ausdruck wird mit Setzung von x ungrammatisch hierarchische Ordnung diachrone oder synchrone Beziehung lineare Ordnung Lückenbildung, Pro-Drop „angestammter Platz“ ausdrucksseitig nicht realisiertes Inhaltselement phonologische Repräsentation phonetische Repräsentation orthographische Repräsentation Silbe Existenzquantor Allquantor Negator Schnittmenge/Schnittmengenoperator Lambdaabstraktor mereologische Summe / mereologischer Summenoperator Teilmenge/Teilmengenzeichen Pluralprädikat echtes Pluralprädikat

Einleitung 1 Gegenstand Gegenstand dieses Handbuchs ist die Grammatik nominaler Kategorien und Konstruktionen des Deutschen im Vergleich mit europäischen Kontrastsprachen. Damit wird einerseits die Tradition kontrastiver Grammatiken, wie sie am IDS erarbeitet wurden (vgl. Zemb 1978; Kaneko/Stickel 1983–1987; Engel/Mrazović 1986; Cartagena/ Gauger 1989; Engel et al. 1993; Engel et al. 1999), fortgesetzt. Andererseits aber wird im Unterschied zu dem dort verfolgten Ansatz eine sprachtypologische Fundierung angenommen und statt des bilateralen Vergleichs des Deutschen mit je einer Kontrastsprache liegt hier ein multilateraler Vergleich des Deutschen mit vier Kern-Kontrastsprachen und weiteren europäischen Sprachen vor. Fokus der Darstellung ist die deutsche Standardsprache. Das Werk lässt sich als funktionale, empirisch orientierte wissenschaftliche Grammatik charakterisieren. Damit schließt sie an die IDS-Grammatik (1997) an. Die Darstellung ist keinem bestimmten theoretischen Rahmen verpflichtet, sondern ist bestrebt, Erkenntnisse unterschiedlicher theoretischer Ansätze aufzugreifen und zu integrieren und sie in einer möglichst verständlichen Form für einen Benutzerkreis zugänglich zu machen, bei dem wir sprachwissenschaftliche Vorbildung, aber keine speziellen grammatiktheoretischen Kenntnisse voraussetzen.

2 Sprachtypologie – Sprachvergleich – einzelsprachliche Grammatik Die Verbindung von Sprachtypologie, Sprachvergleich und einzelsprachlicher Grammatik stellt eine besondere Herausforderung dar, bietet jedoch die Chance von auf anderem Wege nicht gewährleistetem Erkenntnisgewinn und Innovation. Die sprachtypologische Forschung, deren Anfänge in das frühe 19. Jahrhundert zurückreichen, hat sich vor allem seit Mitte des 20. Jahrhunderts, besonders seit Greenberg (1963) als diejenige Forschungsrichtung etabliert, die sich der Gesamtheit natürlicher Sprachen widmet, in dem Sinne, dass Generalisierungen über die Verteilung von Eigenschaften, Kategorien und Konstruktionen in den über 6000 natürlichen Sprachen der Welt erzielt werden sollen. Dabei wurden auch sprachliche ,Universalien‘ identifiziert, also Eigenschaften, die alle Sprachen teilen. Diese haben allerdings oft „nur“ statistische Gültigkeit oder aber es handelt sich um ,implikative Universalien‘, bei denen unterschiedliche Eigenschaften in Abhängigkeit voneinander verteilt sind (Whaley 1997: 31–43; Croft 2003: 49–86). Derartige Generalisierungen können ihrerseits Grundlage für die Einteilung in Sprachtypen bilden, wie etwa die bekannte morphologische Typenbildung mit der Unterscheidung von flektierenden bzw. fusionierenden, agglu-

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Einleitung

tinierenden, isolierenden, inkorporierenden bzw. polysynthetischen und introflexivischen Sprachen oder die syntaktische Typenbildung mit der Unterscheidung von akkusativischen und ergativischen Sprachen. Sucht man, wie dies in der neueren Sprachtypologie geschieht, entsprechende Generalisierungen auf möglichst vielen Ebenen der Sprachsysteme und im Hinblick auf möglichst viele Phänomenbereiche, so gelangt man zu „konstruktionsbezogenen“ (vgl. Comrie 1996: 16) bzw. „phänomenologischen Typologien“, wie man sie allgemeiner nennen könnte, und nicht in erster Linie zu Typisierungen der Sprachen. Denn Sprachen stellen dann jeweils die Schnittstelle einer ganzen Reihe von phänomenologischen Typen dar. Diese sind in der Regel nicht unabhängig voneinander, aber auch nicht durcheinander determiniert. So dürfte bezüglich des Deutschen die Zugehörigkeit zum fusionierenden Typ mit einer (zumindest partiell) funktionsindizierenden Nominalmorphologie (bei gleichzeitiger Tendenz zu analytischen Strukturen) nicht unabhängig sein von der Möglichkeit einer informationsstrukturell variablen Stellungsfolge; aber es besteht kein notwendiger Zusammenhang. Das „typologische Gesamtporträt“ einer Sprache (vgl. Lang 1996: 14) besteht dann aus einer charakteristischen und „einmaligen“ Verbindung aus vielen Merkmalen und Eigenschaften, die ihrerseits jeweils bestimmten phänomenologischen Typen zugeordnet werden können. Das vorliegende Handbuch kann als eine erste Skizze zu einem Teilausschnitt eines solchen Porträts des Deutschen verstanden werden – wobei im Hintergrund noch unschärfere Skizzen der Kontrastsprachen beigegeben sind. Allerdings: Das Handbuch ist selbstverständlich kein Beitrag zur typologischen Forschung. Dazu fehlen schon die empirische Basis und die entsprechende Methodik. Typologische Aussagen sind valide, wenn sie aufgrund eines ausgewogenen Samples von Sprachen erarbeitet wurden. Die Handvoll hier untersuchter areal eng benachbarter Sprachen steht in krassem Widerspruch zu diesen Voraussetzungen. Es kann also nur darum gehen, bereits vorliegende Erkenntnisse der Sprachtypologie auf die Vergleichssprachen zu beziehen, daraus Schlussfolgerungen für die Beschreibung eben dieser Sprachen zu ziehen und ggf. auch Revisionen und Korrekturen im Detail (vgl. weiter unten) an typologischen Aussagen über die Vergleichssprachen zu machen. Kontrastive Grammatik kann, so wird in König (1995) vermerkt, als Komplement zur Sprachtypologie betrachtet werden. Sie ist auf den umfassenden, feinkörnigen Vergleich zwischen zwei oder einigen wenigen Sprachen ausgerichtet und legt dabei – so zumindest in den neueren Ansätzen – das typologische Raster möglicher Optionen oder ,Varianzparameter‘, wie sie in dieser Grammatik genannt werden, für einen Phänomenbereich zugrunde. Die detailgenaue Untersuchung kann zu einer Verfeinerung der Parametrisierung selbst beitragen oder sie kann auch erst, wie König (2012: 24) betont, auf bisher wenig beachtete sprachliche Erscheinungen aufmerksam machen und umfassendere typologische Untersuchungen anstoßen. So konnten, wie das Ergebnis unserer Untersuchungen zeigt, solche feineren Unterschiede bei unseren Vergleichssprachen festgestellt werden, die einerseits (zumindest bis zu einem  

Einleitung

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gewissen Grade) systematisch, also nicht beliebig sind, andererseits aber bislang offensichtlich durch das Raster der typologischen Parameter gefallen sind. Im vorliegenden Fall ist von Vorteil, dass, neben zahlreichen kontrastiven Einzeluntersuchungen, bilaterale kontrastive Grammatiken oder Handbücher zu Deutsch und einer europäischen Sprache vorliegen und von uns herangezogen werden konnten, darunter auch mit Engel et al. (1999) zu Deutsch – Polnisch, König/Gast (2012) zu Englisch – Deutsch, Pilarský et al. (2013) zu Deutsch – Ungarisch und Zemb (1978) zu Deutsch – Französisch unsere Kern-Kontrastsprachen betreffende. Allerdings sind diese im Hinblick auf die Nominalgrammatik nicht so detailliert, wie es für unsere Zwecke notwendig erschien. Es blieb also eine Menge Spielraum für die eigene grammatische Forschung. Bei dieser – so ist sicherlich am Endprodukt erkennbar – ist die Prägung durch die einzelsprachliche, sprich deutsche Forschungstradition unverkennbar. In sprachtypologischen Untersuchungen und sprachvergleichenden Grammatiken ist der Rekurs auf die Funktion grammatischer Einheiten notwendigerweise bedeutsamer als in einer einzelsprachlichen: Während in einer deutschen Grammatik – für den Muttersprachler – die Funktionalität grammatischer Konstruktionen und Kategorien ggf. als bekannt vorausgesetzt und implizit bleiben kann, ist der Sprachvergleich – ob auf den universalen Vergleich oder auf die Kontrastierung weniger Sprachen ausgerichtet – auf die explizite Klarstellung von Funktionen angewiesen. Sie sind das primäre Tertium Comparationis. Von dieser Klarstellung der Funktionsseite grammatischer Entitäten wird in Zukunft auch die einzelsprachliche Grammatikschreibung profitieren. Grammatiken, die sich der Aufgabe stellen, Form und Funktion aufeinander zu beziehen, können hinter die übereinzelsprachliche Funktionsanalyse nicht mehr zurück. Komparative Funktionsbestimmung zeigt, dass einerseits ein hohes Maß an zwischensprachlicher Identität gilt – gelten muss, sonst wäre Verständigung auf dem gegebenen Niveau natürlichsprachlicher Interaktion nicht möglich – andererseits aber auch Differenzierung gegeben ist. Es herrscht Analogie bei Diversifikation. Es ist daher ein „Alleinstellungsmerkmal“ der komparativen Analyse, dass der invariante Kern grammatischer Funktionen von den einzelsprachlichen Zugaben und Modifikationen geschieden werden kann. Nur auf dem Weg der typologisch fundierten Komparation ist die einmalige Chance gegeben, a) funktionale Konstanten zu identifizieren und zu bestimmen, b) die Varianzbreite und die Differenzmerkmale zu ermitteln. Die funktionale Analyse der Nominalgrammatik, insbesondere die Bestimmung der ,funktionalen Domäne‘ nominaler Konstruktionen und der sie konstituierenden ,Subdomänen‘ spielen daher in der vorliegenden Grammatik eine fundamentale Rolle. Zwar konnten wir dabei an typologische Vorgaben anschließen, denn Sprachtypologie ist ja in ihren verschiedenen Richtungen in aller Regel funktional ausgerichtet. Zu verweisen ist hier auf die großen funktional-typologischen Forschungsprojekte, die seit den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten und Europa durchgeführt wurden und die das Wissen über die Sprachen der Welt enorm verbreitert haben, u. A. das „Stanford Project on Language Universals“ (dazu Greenberg/Ferguson/Moravcsik 1978), das  

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Einleitung

Kölner UNITYP-Projekt (dazu Seiler 2000), das EUROTYP-Projekt (hier vor allem der von Plank (2003) herausgegebene Band zu „Noun Phrase Structure in the Languages of Europe“) sowie in jüngster Zeit das WALS-Projekt (dazu Haspelmath et al. (Hg.) 2005). Bei der Definition und der Systematisierung der funktionalen Konzepte musste jedoch auch in vielen Fällen Neuland betreten werden. Ein großes Problem, das sich uns stellte, war, ob und ggf. in welcher Form funktionale Erklärungen unterschiedlicher Provenienz, von der logisch-semantischen Analyse bis zu unterschiedlichen Spielarten pragmatischer Analysen, zusammengeführt und zu einem möglichst genauen, aber auch verständlichen Beschreibungsrahmen integriert werden könnten. Die von uns gewählte Strategie besteht im Wesentlichen darin, die meist eher informelle und pragmatisch orientierte Begrifflichkeit der Sprachtypologen, wo es sich anbietet und wo es uns möglich war, mithilfe des Instrumentariums der formal fundierten Semantik zu präzisieren. Was für die funktionale Analyse zutrifft, trifft in höherem Maße für die Analyse der grammatischen Formen zu. Sie stellen den eigentlichen Differenzbereich zwischen den Sprachen dar und damit auch den Schwerpunkt dieser sprachvergleichenden Grammatik. Was die (flexions-)morphologische und syntaktische Analyse angeht, so orientieren wir uns am derzeitig erreichten Standard der einzelsprachlichen Grammatikschreibung. In dieser möglichst exakten und detaillierten formalen Beschreibung sehen wir den entscheidenden Mehrwert gegenüber dem häufig (notwendigerweise) eher pauschalen sprachtypologischen Vorgehen. Das syntaktische Beschreibungsformat orientiert sich weitgehend an oberflächenorientierten Ansätzen und an einer der traditionellen Grammatikographie verpflichteten Begrifflichkeit (z. B. mit Blick auf die Unterscheidung zwischen Kategorien und Funktionen). Konkrete Vorbilder grammatikographischer Praxis sind vor allem Huddleston/Pullum (2002) sowie Eisenberg (2013a, 2013b, neben früheren Auflagen) für das Strukturformat und die IDS-Grammatik (1997) für das Inventar an Kategorien. Annahmen zum Verhältnis von Syntax und Semantik sind – wenn auch zumeist implizit – durch Lieb (1983) geprägt. Bei der Flexionsmorphologie stützen wir uns auf den in den speziellen Handbüchern dokumentierten Forschungsstand; vgl. insbesondere Corbett (1991, 2000, 2006), Blake (2001), Malchukov/Spencer (Hg.) (2009). Vor allem aber orientieren wir uns am derzeitig erreichten Standard der einzelsprachlichen Grammatikschreibung, wie er in der Vielzahl der herangezogenen Grammatiken der Vergleichssprachen niedergelegt ist. Was nun den Beitrag einzelsprachlicher Grammatik und den Ertrag für die Beschreibung der Einzelsprache Deutsch angeht, so ist einerseits in der Regel das Deutsche der methodische Ausgangspunkt der Untersuchungen: Anhand der Analyse eines (funktional identifizierten) Phänomenbereichs im Deutschen werden unter Bezug auf das typologische Raster erste Varianzparameter identifiziert; der Abgleich mit den Kontrastsprachen führt zu einer Revision und der letztlich gültigen Bestimmung des Varianzspielraums (vgl. dazu Zifonun 2001c). Wenn es um den Ertrag für die Beschreibung des Deutschen geht, so ist in Rechnung zu stellen, dass die deutsche Standardsprache grammatisch sehr gut erforscht ist und Erkenntnisgewinn weniger

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Einleitung

in quantitativer als in qualitativer Hinsicht zu erwarten ist. Die Kontrastierung der Realisierungsoptionen des Deutschen mit denen der Kontrastsprachen liefern neben positiver auch negative Evidenz. Sie zeigt also auch, was im Deutschen nicht möglich ist, welche in einer Kontrastsprache mögliche Differenzierung nicht getroffen wird. Man denke hier z. B. an die (nahezu) nicht-existente Unterscheidung zwischen proximalen und distalen Demonstrativa, an das Fehlen einer formalen Unterscheidung zwischen restriktiven und nicht-restriktiven Relativsätzen oder an die fehlende Differenzierungsmöglichkeit für Adjektivattribute aufgrund von pränominaler oder postnominaler Stellung – nur im Deutschen und Ungarischen sind diese Attribute obligatorisch pränominal. Das viergliedrige Kasussystem des Deutschen erscheint gegenüber dem polnischen und vor allem dem ungarischen Kasussystem beschränkt, was u. a. zur Übernahme von Funktionen bei den vorhandenen Kasus führt, die z. B. im Ungarischen durch spezifische ,Prädikativkasus‘ wahrgenommen werden. Eine aus der Sicht des Deutschen gänzlich unerwartete Ausdrucksmöglichkeit ergibt sich durch nominale Personalsuffixe, wie sie im Ungarischen vorhanden sind. Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch zahlreiche Feindifferenzierungen des Deutschen, die keine Parallele bei den Kontrastsprachen haben. Es sei hier nur auf die Doppelmarkierung des Possessivpronomens der 3. Person mit Possessor-Genus und -Numerus (im Wortstamm) plus Possessum-Genus und -Numerus (im Flexiv) verwiesen wie in sein(es) Haus(es)/seine(r) Mutter versus ihr(es) Haus(es)/ihre(r) Mutter. Auf diese Weise erhält die grammatische Analyse des Deutschen Tiefenschärfe und Kontur; das Profil wird erkennbar.  







3 Vergleichssprachen Kern-Kontrastsprachen sind: Englisch, Französisch, Polnisch und Ungarisch. Bei der Sprachenwahl spielten verschiedene Gesichtspunkte eine Rolle: Es sollten die wichtigsten Zweige der indoeuropäischen Sprachfamilie und eine nicht-indoeuropäische vertreten sein. Es sollten möglichst „größere“ Sprachen vertreten sein, damit auch bei einer künftigen Verwertung der Erkenntnisse für die Vermittlung des Deutschen als Fremdsprache ein größerer Nutzer- und Interessentenkreis in der jeweils „anderen“ Sprache gegeben wäre. Schließlich spielte auch eine Rolle, dass wir bei den ausgewählten Sprachen nicht nur auf die eigene Kompetenz und die Informationen aus schriftlichen wissenschaftlichen Quellen bauen mussten, sondern auch eng mit muttersprachlichen Informanten kooperieren konnten (vgl. auch die Danksagungen weiter unten). In Kauf genommen haben wir dabei, dass es sich nun bei den Vergleichssprachen um enge Nachbarsprachen des Deutschen handelt, die wie etwa das Französische oder das Englische keineswegs typisch für ihre jeweilige Sprachfamilie sind: Das Französische ist keine typisch romanische Sprache, das Englische keine typisch germanische. Auch die Wahl des Polnischen etwa trotz seiner im Vergleich zum Russischen kleineren Sprecherzahl kann kritisiert werden. Aber angesichts der

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Einleitung

Tatsache, dass die pragmatisch bedingte Beschränkung auf einige wenige Kontrastsprachen ohnehin jede Auswahl angreifbar macht, sind diese berechtigten Bedenken hinzunehmen. Eine gewisse Abhilfe wird dadurch geschaffen, dass auch andere europäische Kontrastsprachen einbezogen werden können. Dies geschieht anders als bei den Kern-Kontrastsprachen nicht obligatorisch, sondern phänomenabhängig und nach Bedarf. So werden etwa Italienisch oder Spanisch herangezogen, um Parallelen oder auch Abweichungen gegenüber dem Französischen (etwa bei den Personalklitika) zu demonstrieren. Der Blick auf Niederländisch und die skandinavischen Sprachen, aber auch auf das Rumänische soll z. B. die Informationen über pronominale und substantivische Genussysteme im europäischen Raum abrunden. Das Türkische als weitere große europäische nicht-indoeuropäische Sprache wird öfter herangezogen und gerade mit dem Ungarischen verglichen, das Russische und Bosnisch/Kroatisch/Serbisch (BKS) oder auch das Sorbische werden neben Polnisch gestellt.

4 Aufbau des Handbuchs Das Handbuch besteht aus vier Großkapiteln: A ,Funktionale Domänen, B ,Wort und Wortklassen‘, C ,Nominalflexion‘, D ,Nominale Syntagmen‘. In Großkapitel A werden die funktionalen Konzepte, die in den folgenden Kapiteln herangezogen werden, definiert und anhand von Beispielen aus den Vergleichssprachen illustriert. Es handelt sich um die funktionale Domäne ,Referenz‘ mit den Subdomänen ,Identifikation‘, ,Nomination‘, ,Modifikation‘ und ,nominale Quantifikation‘. Großkapitel B besteht aus zwei größeren Teilen: Teil B1 ist den nominalen Wortklassen gewidmet; hinzuweisen ist hier besonders auf das einleitende Überblickskapitel, das die Unterscheidung von nominalen Wortklassen allgemein und den nominalen Wortarten Artikel, Adjektiv und Substantiv begründet und einen typologischen Ausblick bietet. Zudem werden in B1 die ,Nominalhierarchien‘ (insbesondere die so genannte „Belebtheitshierarchie“) eingeführt, die als ein bedeutsames, wohl universal wirksames Strukturprinzip gelten und daher im gesamten Werk eine wichtige Rolle spielen. Teil B2 behandelt die nominalen Kategorisierungen (im Sinne von Eisenberg 2013a) Genus, Numerus und Kasus. Großkapitel C zur Nominalflexion greift die kategorialen Unterscheidungen von B2, ergänzt um die Klassifikation nach Person und Possession, als Ordnungsprinzipien wieder auf und behandelt nach dieser Maßgabe einerseits die Flexion von Pronomen, Artikel und Adjektiv und andererseits die Substantivflexion. Dabei sind sprachabhängige Schwerpunkte zu setzen. Die Kooperation flexivischer Markierungen der Wortformen in der deutschen Nominalphrase wird abschließend gesondert herausgearbeitet. Großkapitel D bietet mit Teil D1 einen umfassenden Überblick zur Syntax der Nominalphrase in den Vergleichssprachen. Dabei werden zunächst die Grundzüge der Nominalsyntax mit den zugehörigen Kategorien und syntaktischen Funktionen beschrieben. Daran schließt sich ein vergleichender Überblick über die syntaktischen Strukturen der Nominalphrasen in den  





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Vergleichssprachen an. Die Teile D2 bis D5 beschreiben spezifische Formen nominaler Syntagmen. D2 befasst sich mit Nominalphrasen, deren Kopfposition nicht durch ein Substantiv, sondern durch ein Adjektiv oder Partizip belegt ist; der nominale Gebrauch dieser Ausdrucksklassen ist in den Vergleichssprachen in unterschiedlichem Maße grammatikalisiert. Kapitel D3 behandelt die zentrale Form substantivisch basierter attributiver Syntagmen, die ,possessiven Attribute‘, also Attribute, die wie die deutschen Genitivattribute prototypischerweise eine Possessorrelation ausdrücken. Teil D4 beschreibt das „Komplement“ zum Gegenstand von D3: die substantivisch basierten Attribute, die nicht possessiv sind (im definierten Sinne). Es handelt sich um Adpositionalphrasen, also Prä- bzw. Postpositionalphrasen oder auch Phrasen in einem semantischen Kasus wie vor allem im Ungarischen. Kapitel D5 beschreibt eine besondere Form des nominalen Syntagmas, die Numerativkonstruktion. Es stellt eine elaborierte Form der nominalen Quantifikation dar und hat einen von der Grundstruktur abweichenden syntaktischen Aufbau. Kapitel D6 und D7 behandeln mit dem Relativsyntagma und dem Partizipialattribut zwei nominale Syntagmen, die auf Verbformen beruhen und somit propositionale Information modifikativ in eine NP einbringen. Bei dem Spezialfall des ,freien Relativsatzes‘ ist zudem kein Kopfnomen gegeben, dem das Relativsyntagma attribuiert wird. Behandelt werden somit im Wesentlichen der Kategorienbestand, die flexionsmorphologische und die syntaktische Struktur nominaler Einheiten und zwar sowohl unter formalen wie unter funktionalen Gesichtspunkten. Nicht systematisch behandelt werden die phonologische und die graphematische Strukturierung. Diese Ebenen werden nur dann berücksichtigt, wenn dort für die „höheren“ Ebenen der Nominalflexion bzw. der Syntax relevante Beschränkungen gegeben sind. Auch die nominale Wortbildung wird nicht in eigenen Kapiteln abgehandelt. Allerdings werden Derivation und Konversion, insbesondere aber Komposition vielerorts in größerem Detail angesprochen, und zwar vor allem, wenn mit diesen Verfahren sprachspezifisch bestimmte funktionale Domänen oder Subdomänen realisiert werden, bei denen in anderen Vergleichssprachen z. B. syntaktisch verfahren wird. Die einzelnen Kapitel der Teile B und D sind im Allgemeinen nach folgender Vorgabe aufgebaut: In einem einleitenden Teil wird der Gegenstandsbereich unter Rückgriff auf die in Kapitel A eingeführten Konzepte funktional und ggf. typologisch charakterisiert. Dabei werden auch die für die Vergleichssprachen einschlägigen Varianzparameter herausgearbeitet. Diese Varianzparameter stellen Gliederungsgesichtspunkte für die folgenden Teile des Kapitels dar. Die Belegung der Varianzparameter, nicht die jeweilige Sprache ist somit strukturbildend. Das Deutsche – oder eine beliebige Kontrastsprache – wird daher im Verhältnis zu jeder der Varianzdimensionen thematisiert und in einem Kapitel, wie etwa Personalpronomen oder Numerativkonstruktion, in mehreren verschiedenen Abschnitten behandelt. Das Deutsche soll, wie bereits gesagt, im Vordergrund stehen. Allerdings ist an vielen Stellen auch eine detaillierte Behandlung der Optionen in Kontrastsprachen notwendig, um die Prinzipien der zwischensprachlichen Variation angemessen erfassen zu können. In der  

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abschließenden Zusammenfassung eines Kapitels liegt der Schwerpunkt auf dem Deutschen: Hier soll der Ertrag für die grammatische Beschreibung des Deutschen kurz skizziert und ggf. auch eine Einordnung im Rahmen der europäischen Sprachen bzw. des „Standard Average European“ (SAE) vorgenommen werden. Der Gegenstand von Kapitel C, Nominalflexion, – die nominale Formenbildung – schließt eine direkte Orientierung an den funktionalen Konzepten von Kapitel A aus. Die Leistung morphologischer Markierungen besteht vorrangig in der ausdrucksseitigen Abbildung von Kategorien und Kategoriensystemen (wie Kasus, Numerus und Genus), die ihrerseits Gegenstand funktional orientierter Betrachtung sind (insbesondere in Teil B2). Was flexivische Markierungen anzeigen können, ist die Zugehörigkeit zu flexionsmorphologischen Kategorien, nicht schon Bedeutungen oder Funktionen, die bestimmten funktionalen Domänen zuzuordnen wären. Insofern Strukturen morphologischer Systeme aber durch die Funktionalität der Kategoriensysteme, die sie abbilden, geprägt sind, spielen damit vorgegebene semantische Gesichtspunkte, wie sie etwa für die verschiedenen Ausprägungen der Nominalhierarchie konstitutiv sind, für flexivische Differenzierungen (oder Nichtdifferenzierungen), etwa die ausdrucksseitige (Nicht-)Unterscheidung bestimmter Kasusformen, eine wesentliche Rolle. Die dabei zwischen den Einzelsprachen zu beobachtenden Unterschiede (oder Übereinstimmungen) bilden die Grundlage für flexionsmorphologische Parametersetzungen und es liegt insofern eine zu den übrigen Kapiteln analoge Fragestellung vor. Die einzelnen Kapitel des Handbuchs sind wie aus der jeweiligen Titelseite ersichtlich von bestimmten Autoren verfasst und kein Gemeinschaftswerk. Vorfassungen der Kapitel wurden in der Projektgruppe diskutiert und in der redaktionellen Phase vor allem auch auf eine intensive Vernetzung zwischen den Teilen hin bearbeitet. Ziel war es, ein einer gemeinsamen Gesamtkonzeption entsprechendes, inhaltlich und terminologisch möglichst einheitliches, zumindest widerspruchsfreies Werk vorzulegen. Die Kapitel tragen jedoch die Handschrift der einzelnen Autoren. Das mag zu Unausgewogenheiten, auch zu Doppelungen führen. Dafür bitten wir um Verständnis.  



5 Empirische Grundlagen Die vorliegende Grammatik ist nicht korpusbasiert. Zwar wurden nach Möglichkeit Belege aus den verfügbaren elektronisch gespeicherten Sprachkorpora zu den Vergleichssprachen herangezogen, so neben dem „Deutschen Referenzkorpus“ D E R E K O das „British National Corpus“ (BNC) und das „Corpus of Contemporary American English“ (COCA), das französische Korpus FRANTEXT (FT) sowie auch das inzwischen nicht mehr zugängliche französische Korpus ABU, das „Polnische Nationalkorpus“ (Narodowy Korpus Języka Polskiego, NKJP) und das „Ungarische Nationalkorpus“ (Magyar Nemzeti Szövegtár, MNSz). Dies konnte jedoch nicht systematisch oder gar mit Aussagen zur Frequenz von Phänomenen im Vergleich geschehen, da entspre-

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chende Parallelkorpora nicht existieren. Auch erschien in dieser ersten Phase eines so innovativ angelegten Projekts die Erarbeitung der Analysekonzepte und der Beschreibungsgrundlagen vordringlicher als der notwendigerweise aufwändige Aufbau eines eigenen Korpus. Für die nächste Phase des Projekts, die der Verbgrammatik gewidmet ist, ist eine stärkere Korpusorientierung vorgesehen. Aufgrund der erwähnten Beschränkungen beruhen Aussagen zur Usualität oder Nicht-Usualität von Strukturen auf bereits in anderen Zusammenhängen ermittelten Daten, auf Aussagen in Grammatiken oder aber auf eigenen Hypothesen. In einigen Fällen wurden für das Deutsche Erhebungen im Deutschen Referenzkorpus D E R E K O vorgenommen, um einer bestimmten beschränkten Fragestellung nachzugehen. Was die Verlässlichkeit und Korrektheit fremdsprachlicher Daten angeht, so haben wir die entsprechenden Beispiele und Belege im Englischen, Französischen, Polnischen und Ungarischen von muttersprachlichen Informanten durchsehen lassen. Belege aus den elektronisch recherchierten Korpora (außer Zeitungstexten) wurden ggf. mit Angaben zum zugehörigen Text (gesprochene oder geschriebene Varietät, Textsorte) oder mit Nennung des Autors und einem Kurztitel versehen. Daneben haben wir gelegentlich auch Belege aus Druckwerken aufgenommen; diese sind im Quellenverzeichnis dokumentiert.

6 Technische Hinweise Sprachbeispiele zu den Kontrastsprachen außer Englisch werden im Allgemeinen glossiert. Dabei orientieren wir uns an den „Leipzig Glossing Rules“ (https://www.eva. mpg.de/lingua/pdf/Glossing-Rules.pdf), die wir unseren Zwecken entsprechend erweitert und angepasst haben. Die in den Glossen verwendeten Abkürzungen sind im Abkürzungsverzeichnis enthalten. In der Regel wurden nur die für den jeweils thematisierten grammatischen Gegenstand relevanten Teile eines Beispiels oder Belegs glossiert, während für die übrigen Teile eine deutsche Übersetzung in die Glossierung eingefügt wurde. Wurden Beispiele aus der Fachliteratur übernommen, so wurde, ohne eigens darauf hinzuweisen, die dort angegebene Glossierung an unsere Konventionen angepasst. Typografische Auszeichnungen in solchen Beispielen (etwa Majuskeln zum Zweck der Hervorhebung) haben wir außer Acht gelassen. Auch wurde die dort ggf. angegebene englische Übersetzung durch eine Übersetzung ins Deutsche ersetzt. Was generell die Übersetzungen fremdsprachlicher Beispiele oder Belege angeht, so wurden sie von uns angefertigt und in Zweifelsfällen von Muttersprachlern überprüft. Bei den Übersetzungen haben wir uns im Interesse der Transparenz für den Leser soweit wie möglich am Wortlaut des Originals orientiert; wir erheben dabei keinen Anspruch auf idiomatische Angemessenheit oder stilistische Eleganz im Deutschen. Sprachliche Ausdrücke, über die wir sprechen, zeichnen wir durch Kursivsetzung aus. Dabei machen wir im Allgemeinen keinen Unterschied zwischen den Formen eines lexikalischen Wortes (bzw. anderen syntaktischen Einheiten) und dem lexika-

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lischen Wort selbst. Nur in den Kapiteln zur Kategorisierung Kasus (Kapitel B2.4) und zur Nominalflexion (Kapitel C) wird zwischen lexikalischem Wort (in Kapitälchen) und den übrigen Einheiten (kursiv) unterschieden. Neben dem bereits erwähnten Abkürzungsverzeichnis sind, um dem Leser rasches und bequemes Nachschlagen zu ermöglichen, ein Verzeichnis der Abkürzungen für Sprachbezeichnungen und ein Verzeichnis der Symbole am Anfang beider Bände eingefügt. Im Anhang finden sich ein ausführliches Inhaltsverzeichnis, ein Quellenund ein Gesamtliteraturverzeichnis, darüber hinaus ein Register zu den Sprachen, auf die wir neben den Kern-Kontrastsprachen in gewissem Detail eingehen, mit Angabe der entsprechenden Stellen, und ein Sachregister.  

7 Danksagungen Die Arbeit an diesem Handbuch erstreckte sich über eine ganze Reihe von Jahren. Dabei wurde nicht nur unser Durchhaltevermögen auf eine harte Probe gestellt, sondern auch die Geduld und das Verständnis der Gremien des Instituts für Deutsche Sprache. Dafür sprechen wir unseren Dank aus, in dem Bewusstsein, dass uns hier in durchaus privilegierter Weise gegenüber den Bedingungen andernorts der nötige kreative Freiraum gewährt wurde. Allen voran danken wir dem Direktor des Instituts, Ludwig M. Eichinger, der uns gerade in der letzten schwierigen Phase besonders geund unterstützt hat. Ihm ebenso wie Angelika Linke, der derzeitigen Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Beirats, danken wir auch für die Aufnahme des Handbuchs in die Reihe Schriften des Instituts für Deutsche Sprache. Angelika Wöllstein, der jetzigen Leiterin der Abteilung Grammatik, gilt unser Dank für die große Sympathie unserem Unternehmen gegenüber und dafür, dass sie immer wieder Nachsicht gegenüber den allfälligen Freistellungen „ihrer“ Mitarbeiter für unsere Zwecke übte. Dank schulden wir den zahlreichen Kollegen, die die Konzeption des Handbuchs oder bestimmte Themen mit uns diskutiert haben, beginnend mit dem Kolloquium, das wir im Jahr 1999 veranstaltet haben, über die Kolloquien und Workshops, bei denen wir unsere Arbeit vorstellen konnten, bis zu Arbeitsaufenthalten von Kollegen am IDS, etwa von Jan Rijkhoff und Cathrine Fabricius-Hansen. Unsere Arbeit hat naturgemäß sehr profitiert von den Diskussionen im Haus und vor allem innerhalb der Abteilung Grammatik. Allen unseren Kollegen danken wir hiermit von Herzen. Besonders viel verdanken wir Joachim Ballweg, Elke Donalies, Ursula Hoberg und Gereon Müller, die in der Anfangsphase an unserem Projekt beteiligt waren, sowie Dániel Czicza und Christine Günther, die später eine Zeitlang mit uns gearbeitet haben. Unseren Kollegen Anne Mucha und Hagen Augustin aus der Abteilung Grammatik danken wir für die sorgfältige Durchsicht der Kapitel in der Abschlussphase. Einer ganzen Reihe von Informanten zu Daten aus den Kontrastsprachen gilt unser herzlicher Dank. Sie haben sich der mühevollen Aufgabe unterzogen, vorhan-

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dene Beispiele und Belege zu überprüfen, aber auch ggf. selbst entsprechendes Material zu „produzieren“, wenn unser Informationsbedürfnis nicht durch vorhandene Daten gestillt werden konnte. Zum Französischen wurden wir unterstützt durch Jacqueline Kubczak und Martine Dalmas, systematisch durchgesehen hat Astrid Rothe die französischen Daten. Daten zum Englischen haben David Hünlich und Renate Raffelsiefen für uns durchgesehen. Bezüglich des Polnischen, z. T. auch des Ungarischen hat Ewa Drewnowska-Vargáné uns tatkräftig unterstützt; polnische Daten haben auch Marek Konopka, Robert Mroczynski, Beata Trawiński und Magdalena Wojtecka mit uns diskutiert. Krisztina Molnár hat ebenso wie Dániel Czicza Fragen zur ungarischen Grammatik mit uns erörtert; auch Viktória Dabóczi, Péter Kappel, Andrea Kraus und Attila Péteri haben Fragen zum Ungarischen beantwortet. Die polnischen und ungarischen Belege und Beispiele systematisch durchgesehen und kommentiert haben Beata Trawiński und Krisztina Molnár. Hinweise zum Rumänischen verdanken wir Ruxandra Cosma, zum Griechischen Christina Alexandris und zum Spanischen María José Domínguez Vázquez. Unser Dank gilt auch der langjährigen Sekretärin der Abteilung Grammatik, Ruth Maurer, die vor allem in den ersten Jahren der Projektarbeit noch die Kapitelentwürfe sorgfältig erfasst und bearbeitet und uns in organisatorischer Hinsicht entlastet hat. Literaturerfassung und -verwaltung, Korpusrecherche, Formatierungs- und Korrekturarbeiten und vieles mehr haben für uns kompetent, clever und stets hilfsbereit unsere wissenschaftlichen Hilfskräfte erledigt: Bouchra Boukhriss und Anna Volodina (damals noch in dieser Funktion, inzwischen Mitarbeiterin der Abteilung) in der Anfangsphase des Projekts, in der Folgezeit Justyna Śliwa, Leonie Trefs und Monika Urbanik sowie in der „heißen“ Phase des Projektabschlusses Claudia Laskowitz, Melanie Drothler, Anja Westphale und Zita Zitterbart. Bei der Publikationsstelle des IDS, namentlich bei Melanie Steinle bedanken wir uns für die redaktionelle Betreuung und die Durchführung der Endkorrektur, bei Helena-Marie Becker für das Einbringen der Korrekturen und bei Norbert Volz für die Bearbeitung eines Teils der Abbildungen. Daniel Gietz, Wolfgang Konwitschny und Lena Ebert vom Verlag De Gruyter danken wir für die freundliche und versierte Betreuung, für die Unterstützung bei der Erstellung der Register und für die rasche und kompetente Drucklegung. Alle verbleibenden Fehler und Unzulänglichkeiten liegen in der Verantwortung der Autoren. Die Koordination der Endredaktion hat Susan Schlotthauer mit größter Umsicht und einer auch auf die anderen ausstrahlenden Gelassenheit besorgt. Die Ko-Autoren schulden ihr dafür ganz besonderen Dank.  

A Funktionale Domänen

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Überblick

A1.1

Welche Tertia Comparationis sind für den Sprachvergleich geeignet?  16

A1.2

Funktionale Domänen als Tertium Comparationis  19

A1.3

Die funktionalen Domänen der NP und ihre Subdomänen  22

A1.4

Funktion und Form  28

A1.5

Die Behandlung funktionaler Domänen und Subdomänen in dieser Grammatik  31

Gisela Zifonun

A1 Überblick A1.1 Welche Tertia Comparationis sind für den Sprachvergleich geeignet? Eine sprachvergleichende Grammatik bedarf einer übereinzelsprachlichen Vergleichsgrundlage. Übereinstimmende Benennungen von Kategorien und Konstruktionen in den Vergleichssprachen sind kein Garant für die Übereinzelsprachlichkeit des so Benannten. Man kann also nicht davon ausgehen, dass es sich jeweils um dasselbe in verschiedenem Gewand handle, wenn in der Grammatik des Englischen wie in der des Deutschen z. B. vom Subjekt eines Satzes, einer Apposition oder einem Genitivattribut die Rede ist. Es wäre daher zu kurz gegriffen, betrachtete man ,Subjekt‘, ‚Apposition‘ oder ‚Genitivattribut‘ als Tertia Comparationis. Zwar muss es Gemeinsamkeiten zwischen den Sprachen geben, denn alle Sprachen erfüllen im Wesentlichen dieselbe Aufgabe. Diese besteht darin, Ausdrucksformen bereitzustellen für das, was Menschen einander kommunikativ vermitteln wollen. Die Grammatiken der Einzelsprachen stellen Lösungen für diese Aufgabe bereit, die diesen Zwecken gerecht werden. Oder anders gesagt: Die Grammatik einer Einzelsprache hat das kommunikativ zu Vermittelnde, also Bedeutung, in phonologische, morphologische und syntaktische Form umzusetzen. Die Art dieser Umsetzung, die phonologische, morphologische und syntaktische Struktur, macht das Wesen jeder Einzelsprache aus und kann zwischen den Sprachen mehr oder weniger stark differieren. Sie ist somit nicht als Tertium Comparationis geeignet, jedenfalls nicht in direktem Zugriff. Das, was gesagt wird, sprachliche Bedeutung also, ist nun aber der strukturalistischen Konzeption zufolge eng an die Ausdrucksseite gebunden. Somit mögen sich, neben der bekannt unterschiedlichen Aufteilung von lexikalischen Feldern (wie etwa das Feld um ,Holz‘ und ,Wald‘ in europäischen Sprachen), durchaus Unterschiede in der grammatisch relevanten sprachlichen Kategorisierung von Gegenständen und Sachverhalten ergeben, die zunächst die Idee eines jeweiligen „sprachlichen Weltbildes“ nahelegen mögen. Daraus wiederum könnte folgen, dass auch die Inhaltsseite von Sprachen grundsätzlich nicht als Vergleichsgegenstand taugt. Nach dem heutigen Stand der Forschung ist es aber keineswegs ausgemacht, dass sprachliche Kategorisierung eine analoge kognitive Kategorisierung voraussetzt – oder umgekehrt gar bedingt.  

Ein Beispiel im vorliegenden Handbuch ist die Verteilung von miteinander übersetzungsäquivalenten Wörtern auf unterschiedliche Substantivklassen gemäß der Dimension der Individuation: Bezeichnungen für gewisse Pflanzen(teile), die im Deutschen zu den Individuativa gehören, wie Kartoffel, Erbse, Bohne, Linse, werden im Russischen und teilweise auch im Polnischen als Kontinuativa kategorisiert. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass diese Dinge von den Sprechern jeweils „anders gesehen“ werden.

A1 Überblick

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Dramatischere Unterschiede liegen beim Vergleich mit „exotischen“ Sprachen vor. So beruhen die Hypothesen von Benjamin Whorf, die zum Teil als widerlegt gelten, auf Beobachtungen an der uto-aztekischen Sprache Hopi. Ein Fall, der in jüngerer Zeit für Aufsehen sorgte, ist die in einer brasilianischen Urwaldregion gesprochene Sprache Pirahã, die dem Ethnolinguisten Daniel Everett zufolge weder Numeralia noch Farbbezeichnungen noch Nebensätze kenne. Letzteres angebliche Defizit hat zu einer Debatte um die Rekursivität als notwendige Eigenschaft menschlicher Sprache geführt. Wesentlich für den vorliegenden Zusammenhang ist u. a., dass fehlende grammatische Kategorien, etwa ein fehlendes Tempussystem, mit lexikalischen Mitteln (z. B. zeitdeiktische wie ‚gestern‘ und zeitrelationale Ausdrücken wie ,danach‘) ausgeglichen werden können. Die Frage, wie differenziert, genau und ausgreifend auch in Zukunft oder Vergangenheit solche zeitbezüglichen Angaben sind, ist für die ethnologische Anthropologie und die vergleichende Kognitionsforschung von Belang, gegebenenfalls auch für die vergleichende Lexikologie, nicht aber in grammatischem Zusammenhang.  



Auch beim Vergleich europäischer Sprachen zeigen sich große Divergenzen im Ausbau des Tempus-Aspekt-Systems. So hat das Deutsche keinen grammatikalisierten Aspekt; auch hier wird gegebenenfalls auf lexikalische Mittel zurückgegriffen, etwa auf das Adverb gerade, um eine englische Progressivform wiederzugeben. Was den nominalen Bereich angeht, so zeigen sich besonders starke Unterschiede im Hinblick auf die Grammatikalisierung von Artikelsystemen. Ob damit auch Folgen für die kognitive Leistung der Identifikation von Gegenständen verbunden sind, erscheint als eher fraglich.

Vielmehr können zwischensprachliche Kategorisierungsunterschiede oder auch fehlende Ausdrucksinventare von den Sprechern unterschiedlicher Sprachen erkannt – ebenso wie vom Linguisten bei der Sprachbeschreibung – und auf eine gemeinsame Basis der Verständigung bezogen werden. Was in einer Sprache gesagt werden kann, kann aus unserer Sicht grundsätzlich auch in jeder anderen Sprache gesagt werden – wenn denn der Wortschatz in entsprechender Weise elaboriert ist oder wird. Die Vorstellung der sprachlichen Relativität, wie sie in der so genannten Sapir-WhorfThese formuliert wurde, kann allenfalls bis zu einem gewissen Grad Gültigkeit haben: Auch wo große Unterschiede in den Kategorien gegeben sind, besteht doch immerhin die Möglichkeit des Transfers, d. h. eines näherungsweisen Verständnisses, bei dem bei allen Differenzen Analogien und Ähnlichkeiten reflektierend erkannt werden.  

Trabant (2000: 122) formuliert so: „Die Menschen lassen aber durch ihre geistige Tätigkeit die Einzelsprache hinter sich, sie bilden Konzepte jenseits der Einzelsprache, sie erzeugen universelles Wissen über die Welt. Die Einzelsprachen geben uns zwar die Welt auf eine bestimmte Art und Weise, wir transzendieren dieses Gegebensein aber durch unsere geistige Arbeit.“

Das heißt aber auch, dass es unverzichtbare gemeinsame Bausteine der Bedeutungsseite von Einheiten der Kommunikation geben muss, die der Erfüllung der kommunikativen Aufgaben, die sich auf verschiedenen Ebenen stellen, gerecht werden. Am augenfälligsten ist dies sicherlich dort, wo es um die Formen des sprachlichen Handelns selbst geht: Sprachen stellen Formen bereit, um Aussagen und Feststellungen zu machen, um Fragen zu stellen und Aufforderungen zu formulieren usw.

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A Funktionale Domänen

Auf dieser Ebene gibt es nach König/Siemund (2007) eine große Übereinstimmung zwischen den Sprachen der Welt. Bei diesen sprachlichen Handlungen wiederum geht es in aller Regel um Sachverhalte, die mitgeteilt, erfragt oder – bei Aufforderungen zum Beispiel – herbeigeführt werden sollen. Auf diese Sachverhalte bezieht sich der propositionale Gehalt der Redeeinheiten oder, wie es in der Sprechakttheorie von Searle (1969) heißt, mit dem propositionalen Akt stellt der Sprecher in seinen Sprechhandlungen den Bezug auf die Außenwelt her. Propositionale Akte wiederum konstituieren sich aus prädikativen und referentiellen Akten. In den Redeeinheiten auf der Sprachsystemebene sind somit neben dem Sprechaktpotential auch das propositionale Potential und damit Referenzpotential und Prädikationspotential angelegt. Auf diese funktionalen Bausteine von Redeeinheiten beziehen sich auch neuere Ansätze der sprachtypologischen Forschung; vgl. Croft (1990, 1991, 2003), Sasse (1993b), Lehmann (2013). Sie betrachten in erster Linie Referenz und Prädikation als geeignete Tertia Comparationis für den Sprachvergleich. Verglichen werden dann diejenigen Ausdrucksformen natürlicher Sprachen, die z. B. über Referenzpotential oder Prädikationspotential verfügen. Und allgemeiner gewendet, gleichsam als Zusammenfassung der vorliegenden Argumentation, wird die Position vertreten, der Sprachvergleich erfordere funktionale, nicht in erster Linie formale bzw. syntaktische Vergleichsgrößen:  

The essential problem is that languages vary in their structure to a great extent; indeed, that is what typology (and more generally linguistics) aims to study and explain. But the variation in structure makes it difficult if not impossible to use structural criteria, or only structural criteria, to identify grammatical categories across languages. Although there is some similarity in structure (“formal” properties) that may be used for cross-linguistic identification of categories, the ultimate solution is a semantic one, or to put it more generally, a functional solution. (Croft 1990: 11)

In Haspelmath (2012: 114) wird besonders auf den Status grammatischer Kategorien abgehoben, die als jeweils sprachspezifische Laut-Bedeutungs-Kombinationen keine Tertia Comparationis abgeben können: Clearly, then, languages cannot be compared directly on the basis of their grammatical categories. We need a tertium comparationis that is not language-particular, but is universally applicable. To be universally applicable, comparative concepts can be defined on the basis of meaning or sound, but not on the basis of meaning-sound combinations, because these are languageparticular.

Bei der Suche nach komparativen Konzepten auf der Bedeutungsseite allerdings konzentrieren sich viele Autoren auf den Vergleich auf der Ebene der parts of speech im Sinne von Wortklassen. Dann wird etwa herausgestellt, dass Sprachen zwar notwendigerweise über Ausdrucksformen für die Prädikation und die Referenz verfügen müssen, aber keineswegs über distinkte Wortarten, die jeweils Prädikation und Referenz leisten, also über Verben und Nomina bzw. Substantive. Weniger explizit erscheinen die Aussagen über die syntaktischen Kategorien, die jeweils referentiellen und prädikativen Ausdrücken zuzuweisen sind. So zeigt Lehmann (2013: 146–149)

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überzeugend, dass in zahlreichen Sprachen referentielle und prädizierende Ausdrücke ohne Rückgriff auf Stämme gebildet werden, die per se als „nominal“ oder „verbal“ kategorisiert wären. Erst das Vorkommen an einer bestimmten Stelle im Satz oder die Kombination mit einem bestimmten Klitikon markiere z. B. in der Sprache Kharia, einer Munda-Sprache (austroasiatische Sprachfamilie), einen Stamm als „verbal“ oder „nominal“ und die jeweiligen Syntagmen – wohl aufgrund von Merkmalsvererbung – als verbale oder nominale Konstruktionstypen. Man kann dies auch anders deuten: Erst eine bestimmte syntaktische Konstruktion erzeugt referentielle Ausdrücke bzw. prädikative Ausdrücke, und zwar auf der Basis von kategorial unspezifischen Stämmen. Es besteht dann keine Notwendigkeit, diese Konstruktionen jeweils als „nominal“ oder „verbal“ zu bezeichnen, wie Lehmann es tut, da dies dem Aufbau der Konstruktion, die per definitionem weder Nomen noch Verb enthält, nicht entspricht. In dieser Sehweise sind dann nicht nur die Wortarten, sondern auch die syntaktischen Kategorien nicht universal vorgegeben, sondern nur die Funktionen, die durch jeweils geeignete Konstruktionen umgesetzt werden. Allerdings gehören die europäischen Vergleichssprachen, die in dieser Grammatik behandelt werden, zu derjenigen Klasse von Sprachen, bei der, wie Lehmann (2013: 148) formuliert, syntaktische bzw. funktionale Kategorisierung nicht erst auf der Satzebene, sondern auf einer niedrigeren Ebene antizipiert werden könne. Schon an den Wortstämmen ist erkennbar, ob es sich z. B. um Substantive oder Verben handelt. Von daher können wir auch nominale (bzw. verbale) Konstruktionen als gegeben betrachten, insbesondere die NP, deren syntaktischer und semantischer Kopf im Regelfall ein Nomen bzw. in unserer Terminologie ein Substantiv ist.  



Diese Antizipierbarkeit der Funktion auf der Wortstammebene gilt in unseren Vergleichssprachen jedoch in unterschiedlichem Maße. Insbesondere im Englischen ist die Festlegung auf eine Wortart in bestimmten Bereichen weniger stark ausgeprägt, es gibt zahlreiche Stämme, die sowohl in verbaler als auch in substantivischer Funktion gebraucht werden (wie ENG hunt ,jagen; Jagd‘, rain ,regnen; Regen‘) oder auch in substantivischer und adjektivischer Funktion (wie ENG German ‚Deutsche(r); deutsch‘, female ,Frau; weiblich‘, ritual ,Ritual; rituell‘), vgl. dazu → B1.1.4.2.

A1.2 Funktionale Domänen als Tertium Comparationis Wir werden in der vorliegenden Grammatik aus den im vorangehenden Abschnitt geschilderten Gründen bei der Wahl der Vergleichsgrößen in erster Linie sprachliche Funktionen, und zwar ,funktionale Domänen‘ zugrunde legen. Wir schließen dabei an das Konzept der ‚funktionalen Domäne‘ bei Givón (1981a), Frajzyngier (1999), Lehmann (2004) an. Vergleichbare Ansätze liegen z. B. auch vor in Koptjevskaja-Tamm (2002, 2003b), Rijkhoff (2004), Seiler (1985, 1996, 2000). Warum wir insbesondere von ,Domänen‘ sprechen, hat verschiedene Gründe: Zum einen lässt die Zuweisung eines Bereichs, einer Domäne, anders als die Zuweisung einer eindeutig benannten Funktion, per se einen Spielraum in der Ausdifferenzierung zu. Denn es  

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A Funktionale Domänen

gilt nach Haspelmath (2007b: 127): „There is ample evidence that meaning, too, is conventional and varies across languages.“ Wenn in einer Sprache etwa Identifikation durch definite und durch deiktisch-demonstrative Determinative strikt unterschieden werden, mag sie in einer anderen zusammenfallen. Oder ,Possession‘ mag in verschiedenen Sprachen unterschiedlich ausgelegt sein. So unterscheiden viele Sprachen außerhalb Europas ausdrucksseitig stark zwischen alienabler und inalienabler Possession, während europäische Sprachen tendenziell kaum differenzieren und somit ein einheitliches Konzept der Zugehörigkeit im Gegensatz zu einem ,gespaltenen‘ nahelegen. Immerhin aber wird z. B. im Isländischen und Färöischen die inalienable Beziehung zwischen Person und Körperteil als lokale Relation mithilfe von Präpositionen wie á ,an, auf‘ oder í ,in‘ realisiert (vgl. Stolz 2012: 56, sowie → D3.6). Allerdings konnte gezeigt werden, dass solche Unterschiede in der Strukturierung funktionaler Domänen nicht willkürlich erfolgen, sondern bestimmten Prinzipien folgen. Solche Prinzipien werden z. B. in Form von Hierarchien bzw. Skalen formuliert. Die von uns in diesem Handbuch behandelten ,Nominalhierarchien‘ werden in → B1.1.5 zusammenfassend genannt. Daneben werden komplexere Zusammenhänge in implicational maps oder ,semantischen Landkarten‘ erfasst, vgl. → B1.5.5 bzw. → D3.2.1. Das bedeutet auch, dass funktionale Domänen als ,komparative Konzepte‘ (vgl. Haspelmath 2012) Konstrukte der Sprachbeschreibung sind, die durch Abstraktion und Vergleich aus Sprachen gewonnen werden. Zum anderen ist auch insofern von ,Domänen‘ zu sprechen, als es nicht um eine einfache Liste einzelner Funktionen geht, sondern um komplex strukturierte Aufgabenbereiche. Funktionale Domänen können insbesondere in der Weise strukturiert sein, dass eine übergeordnete Aufgabe das Zusammenspiel von Teilaufgaben voraussetzt. So setzt die ,Referenz‘ als übergeordnete Aufgabe der NP im Normalfall voraus, dass die Teilaufgaben der ,Nomination‘ und der ,Identifikation‘ erfüllt sind (wie in DEU der Tisch, ENG the table, FRA la table). Optional kann auch ,Modifikation‘ und ‚Quantifikation‘ gegeben sein (wie in DEU die zwei großen Tische in der Mitte). Wir sprechen dann von der Domäne ,Referenz‘ mit ihren Subdomänen ,Nomination‘, ‚Modifikation‘ usw. Funktionale Domänen fallen somit unter die von Rijkhoff relational genannten Kategorien: „[…] functional categories […] are RELATIONAL CATEGORIES, as they specify the semantic contribution that a part of a linguistic expression makes to the whole.“ (vgl. Rijkhoff 2009b: 102). Diese Herangehensweise ist somit auf die Konstitution von Satzbedeutungen aus den semantischen Beiträgen der Teile ausgerichtet, bzw. auf der hier behandelten Ebene auf die Konstitution von NP-Bedeutungen – also Referenzpotentialen – aus den funktionalen Beiträgen der einzelnen Bestandteile der Phrase. Es wird also in gewisser Weise nach dem semantischen Kompositionalitätsprinzip (Frege-Prinzip) vorgegangen, allerdings mit dem Unterschied, dass nicht wie etwa in der Kategorialgrammatik direkt auf die syntaktischen Teile des Ausdrucks in ihrer syntaktischen Verknüpfung zugegriffen wird, sondern auf die Funktionen von ggf. einer ganzen Menge unterschiedlicher syntaktischer Konstruktionen, die jeweils denselben semantischen Beitrag zu leisten imstande sind.  





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Bei Frege selbst heißt es in den „Grundlagen der Arithmetik“ (1884: X) im zweiten „Grundsatz“: „Nach der Bedeutung der Wörter muss im Satzzusammenhange, nicht in ihrer Vereinzelung gefragt werden.“ Diese Aussage wurde später in vielfältiger Weise modifiziert und ausgebaut, etwa zu: „The Principle of Semantic Compositionality is the principle that the meaning of an expression is a function of and only of the meaning of its parts together with the method by which those parts are combined“ (Pelletier 2004: 133). Oder auch mit starker Betonung der syntaktischen Struktur: „Die Bedeutung eines syntaktisch komplexen Ausdrucks ergibt sich vollständig und eindeutig aus der Bedeutung seiner unmittelbaren syntaktischen Teile und der Art und Weise, wie diese syntaktisch miteinander kombiniert sind.“ (Dölling 2004: 2).

Dieser indirekte Zusammenhang zwischen Funktionen und syntaktischen Kategorien und Konstruktionen beruht darauf, dass Funktion und Form häufig in einer „mehrmehr-deutigen“, nicht in einer eineindeutigen Beziehung zueinander stehen: Eine Funktion, vor allem auf der Ebene der funktionalen Subdomänen, kann durch mehrere verschiedene Ausdruckstypen realisiert werden und ein und derselbe Ausdruckstyp kann gegebenenfalls unterschiedliche Funktionen erfüllen. Dies gilt zum einen bezogen auf eine Einzelsprache, zum anderen aber vor allem im zwischensprachlichen Vergleich. Auf der für diese Grammatik wesentlichen übergeordneten Ebene, der Ebene der funktionalen Domäne Referenz, haben wir eine recht eindeutige Korrelation von Funktion und Form: Über Referenzpotential, im Sinne des hier vorliegenden Verständnisses von Referenz, verfügen in erster Linie Nominalphrasen. Auch Pronominalphrasen, die wir als einen Konstruktionstyp der NP betrachten, haben diese Funktion, allerdings kommt das Referenzpotential ohne die Artikulation eines den Referenten charakterisierenden begrifflichen Inhalts – also ohne Nomination – zustande, ebenso besteht kein Bedarf für einen zusätzlichen Ausdruck mit der Funktion der Identifikation, also ein Determinativ. Es bleibt vielmehr bei ,direkt referentiellen‘ Pronomina (wie ich z. B. in Ich habe nicht gelogen) oder ggf. modifikativ erweiterten Pronomina in Pronominalphrasen (wie der mit dem Hut in Der mit dem Hut hat gelogen). Dies wiederum korreliert, wie gezeigt, mit Unterschieden im Aufbau der beiden NP-Konstruktionstypen. Auf der anderen Seite haben Nominalphrasen neben der zentralen Referenzfunktion auch die Funktion der Prädikation, allerdings beschränkt auf bestimmte syntaktische Umgebungen, z. B. als Komplemente in Kopulasätzen (wie etwa die NP ein guter Schüler in Hans ist ein guter Schüler). Wir betrachten die Prädikation als periphere funktionale Domäne der NP. Sie wird in dieser Grammatik nicht systematisch behandelt, sondern ist Thema der Grammatik des Verbs bzw. der Satzgrammatik. Wie auch in anderen Fällen unterscheiden wir somit zwischen zentralen und peripheren funktionalen Domänen. Als zentral betrachten wir in unserem Zusammenhang nur diejenigen Funktionen eines Ausdruckstyps, die a) sprachübergreifend für unsere Vergleichssprachen gelten und für die b) im Vergleich zur Realisierung anderer Funktionen die wenigsten Beschränkungen und kontextuellen Bedingungen und der höchste Grad an Ausdifferenzierung gelten.  



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Dem Thema der Nominalgrammatik entsprechend werden in diesem Werk auch Sätze oder Infinitivkonstruktionen, denen man ggf. Referenzfunktion zuweisen könnte, nicht behandelt. Mit Argumentsätzen (Subjekt- und Objektsätze) und Argument-Infinitiven wie in DEU Dass gestern ein Abkommen zwischen den beiden Staaten getroffen wurde, ist erfreulich / Wir erwarten, morgen ein Abkommen zwischen den beiden Staaten zustande zu bringen wird gegebenenfalls auf Ereignisse oder andere Sachverhalte referiert. Anders als die für Referenz prototypischen nominalen Konstruktionen sind in diesen verbalen Formen die unterschiedlichen Referenzarten ausdrucksseitig kaum differenziert.

Ein besonders ausgeprägtes Spektrum an unterschiedlichen Ausdrucksformen für eine funktionale Subdomäne bietet die Modifikation. Modifikativ innerhalb der NP wirken adjektivische Attribute, vollständige NPs und PPs, nominale Syntagmen ohne Determinativ (mit der syntaktischen Kategorie NOM), aber auch die Erstglieder von Komposita. Und selbst wenn wir die Modifikation noch rekursiv weiter in feinere Subdomänen aufgliedern, gibt es weder innersprachlich noch zwischensprachlich eineindeutige Form-Funktions-Beziehungen. Adjektive z. B. leisten in allen Vergleichssprachen nicht nur qualitative Modifikation (wie in DEU das rote Tuch), sondern auch klassifikatorische Modifikation (wie in DEU die königliche Familie, ENG the royal family, FRA la famille royale, POL rodzina królewska, UNG királyi család). Allerdings mögen in den unterschiedlichen Vergleichssprachen bevorzugt andere Ausdrucksformen der klassifikatorischen Modifikation gewählt werden, z. B. im Deutschen die Komposition (wie in DEU Kirchensteuer gegenüber FRA impôt ecclésiastique ,Steuer Kirche.ADJ ‘). Daher werden in den folgenden Kapiteln nicht nur die generellen Ausdrucksmöglichkeiten der funktionalen (Sub-)Domänen in den Vergleichssprachen zu behandeln sein, sondern auch die jeweils sprachspezifischen Präferenzen und Besonderheiten.  



A1.3 Die funktionalen Domänen der NP und ihre Subdomänen Wir betrachten die Referenz als zentrale funktionale Domäne nominaler Konstruktionstypen, insbesondere der NP, und wir schließen damit an die funktional-typologische Forschung insgesamt an, im Besonderen aber an Seiler (1985, 2000). Wir orientieren uns auch an seiner Unterscheidung zwischen verschiedenen Teilaufgaben oder Subdomänen, wobei er in erster Linie zwischen ,Nomination‘ und ,Determination‘ (in einem erweiterten Sinne dieses Begriffs) unterscheidet. Seiler (1985, 2000) spricht statt von ,Referenz‘ von (der „universalen Dimension“ oder auch „funktionalen Domäne“) ,Identifikation‘. In seiner Konzeption sind die von uns als Subdomänen betrachteten Teilfunktionen „fokale Instanzen“ innerhalb eines Kontinuums von Teilaufgaben, die innerhalb der NP geleistet werden und die er in Seiler (1985) insgesamt als ,Determination‘ bezeichnet. Dieses Kontinuum umfasse „zwei konvers zueinander stehende funktionale Prinzipien“ (ebd.: 441), nämlich das der Inhaltsfestlegung und das der Referenzfestlegung. Dieser

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Vorstellung nach sind gewisse Adjektivklassen, etwa die Farb- und Stoffadjektive, die Numeralia und die Demonstrativa fokale Instanzen innerhalb dieses Kontinuums, wobei gilt, dass „Demonstrativa als Referenzfestleger par excellence anzusehen sind, Adjektive als Inhaltsfestleger par excellence, und dass Numeralia die Übergangsposition par excellence markieren“ (ebd.: 442). Inhaltsfestlegung – im Sinne der intensionalen Spezifikation des nominativen Kerns – entspricht in unserem Ansatz der Subdomäne der Modifikation, während Referenzfestlegung in unserem Ansatz als Identifikation gefasst wird. Es bestehen also vor allem im Hinblick auf den Terminus der Identifikation Abweichungen. Auch in unserem Ansatz haben wir Ausdrucksklassen im Blick, die nicht als jeweils fokale Instanzen anzusehen sind, insbesondere Fälle, wo Wortart und prototypische Funktion der Wortart nicht in Einklang stehen, etwa Adjektive wie letzt, vorig, diesbezüglich, die keine Inhaltsspezifikation, sondern Lokalisierung im Rederaum leisten, oder auch z. B. die Possessivpronomina, die zumindest im Deutschen, Englischen und Französischen unserem Ansatz nach sowohl Identifikation als auch verankernde Modifikation leisten.  

Wir geben nun zum Zweck einer ersten Orientierung kurze Bestimmungen zur funktionalen Domäne Referenz und ihren Subdomänen, im Einzelnen ist auf die folgenden Teilkapitel von Großkapitel A zu verweisen. Referenz Nominalphrasen werden von den Sprechern im Regelfall gebraucht, um zu referieren. Als Typen (types), Gegenstände des Sprachsystems und damit der Grammatik, verfügen NPs über ,Referenzpotential‘, wie wir sagen wollen. Als façon de parler sprechen wir jedoch auch kurz von ,referentiellen NPs‘ oder davon, dass eine Nominalphrase referiert. Unter Referenz verstehen wir die Beziehung zwischen einem Sprecher, einem sprachlichen Ausdruck und einem außersprachlichen Gegenstand, dem Referenzobjekt. Unserer Konzeption nach kann es sich dabei auch um ein ,Pluralobjekt‘, eine Vielheit von Individuen (wie bei Die drei Kinder spielten im Garten), handeln oder auch etwa um ein Stoffquantum (wie bei Er schöpfte Wasser aus der Regentonne). Auch können Sprecher nicht nur auf konkrete Gegenstände referieren, sondern auf Gegenstände, auf die nominal Bezug genommen wird, im weitesten Sinne, unter Einschluss von Ereignissen, Eigenschaften und anderen abstrakten Gegenständen. Wir legen einen weiten Begriff von ,Referenz‘ zugrunde: Neben der definiten Referenz (wie in Luise singt, Das Kind schläft) unterscheiden wir die indefinite Referenz, die entweder spezifisch erfolgen kann (wie bei Ein guter Freund von mir hat gerade angerufen) oder nicht-spezifisch (wie in Ich suche einen neuen Arbeitsplatz). Auch quantifizierte Nominalphrasen (wie in Drei Männer standen vor der Tür) verstehen wir als einen Spezialfall von referentiellen NPs. Identifikation Durch Identifikation wird das Referenzpotential auf einen oder mehrere Gegenstände der Extension beschränkt, und zwar nach Maßgabe der Art und des Grades ihrer Identifizierbarkeit in der jeweiligen Sprechsituation. Es handelt sich also um eine auf Sprechsituationen ausgerichtete und in diesem Sinne pragmatische Be-

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schränkung des Referenzpotentials, die begriffliche Bedeutung und damit die Semantik des nominalen Ausdrucks bleibt, anders als bei der Modifikation, unberührt. Identifikation wird in erster Linie durch Artikel geleistet, die Hinweise auf die Art der Identifizierbarkeit oder Gegebenheit des Referenzobjekts geben können. Aber die funktionale Domäne der Identifikation kann auch ohne direkte lexikalische oder morphologische Kodierung realisiert werden, etwa beim Gebrauch von Eigennamen oder in artikellosen Sprachen wie dem Polnischen. Nomination Durch Nomination erfolgt die begriffliche Einordnung von Referenten, auf die mit der betreffenden NP referiert werden kann: Der Sprecher ordnet den bzw. die Referenten als unter diesen Begriff fallend ein. Es liegt somit eine semantische Beschränkung des Referenzpotentials vor: Durch die Wahl des von Hut bezeichneten Begriffs, also des Begriffs ,Hut‘, z. B. in dieser schwarze Hut, werden die in Frage kommenden Gegenstände auf solche beschränkt, die zutreffend durch diesen Begriff charakterisiert werden.  

Diese Bestimmung gilt zumindest für diejenigen Referenzakte, bei denen die Identifikation des gemeinten Gegenstandes nur von der sprachlichen Bedeutung des referentiellen Ausdrucks geleitet wird und erfolgreich verläuft, also weder Fehlwahrnehmungen oder Verwechslungen noch bewusst falsche Zuschreibungen vorliegen. Wie Donnellan (1966) zeigt, kann auch in solchen Fällen ein Referenzakt gelingen, wenn der Adressat diese Abweichungen vom kommunikativen Standardfall erkennt und das Gemeinte aus anderen Indizien, z. B. Zeigegesten oder anderen Kontextinformationen, erschließen kann.  

Die Benennung des begrifflichen Kerns eines deskriptiven referenzfähigen Ausdrucks, eines Gattungsbegriffs, durch Nomination erfolgt im einfachsten Fall durch ein Substantiv wie Hut, also ein Simplex. Aber auch durch Wortbildung entstandene Einheiten wie die Suffixbildungen Lehrer, Kindchen oder Komposita wie Hutschachtel nehmen diese Funktion wahr. Nomination kann schließlich auch durch syntagmatische Fügungen geleistet werden wie DEU Indischer Elefant, gelber Sack. Bei endozentrischen Komposita und Syntagmen beruht die Nomination in der Regel auf klassifikatorischer Modifikation. Klassifikatorisch modifizierte Begriffe wie Hutschachtel oder Indischer Elefant sind aufgrund ihres Status als feste begriffliche Größen gleichzeitig Nominationseinheiten. Sie werden im mentalen Lexikon der Sprachbenutzer als Einheit gespeichert und – im Falle syntagmatischer Einheiten – im Sprachgebrauch über wiederkehrende Kollokationsmuster, also über den Usus, identifiziert. Nomination ist also in unserem Ansatz eine konzeptuelle Kategorie, die sich sprachlich durch unterschiedliche Techniken manifestiert. Modifikation Durch ,Modifikation‘ werden komplexe Begriffe erzeugt: Der durch Begriffswahl, Nomination, bereitgestellte Begriff wird inhaltlich angereichert. Dadurch wird gegenüber der zugrunde liegenden Nomination in der Regel eine semantische Beschrän-

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kung des Referenzpotentials erreicht: Mit Hutschachtel kann mit Wahrheit nur auf eine Teilmenge der Gegenstände referiert werden, auf die mit Schachtel referiert werden kann. Aus sprachvergleichender Perspektive ist bedeutsam, dass syntaktische Attribution und morphologische Komposition die gleiche funktionale Domäne der Modifikation realisieren können. Dieses morphologische Verfahren wird daher in die Behandlung einbezogen (vgl. Lehmann 1984: 174). Wir unterscheiden folgende Typen der Modifikation: – – – –

Klassifikatorische Modifikation Qualitative Modifikation Referentielle Modifikation Assertorische Modifikation

Klassifikatorische und qualitative Modifikation können als zwei Spielarten begrifflicher Modifikation verstanden werden. Der Modifikator selbst ist ein Begriff wie etwa der Begriff ,Hut‘, der mit dem Nominationsbegriff, z. B. ,Schachtel‘ im Falle von Hutschachtel, klassifikatorisch verknüpft wird. Man könnte hier von einer Verknüpfung zweier ,Gegenstandsbegriffe‘ sprechen. Bei qualitativer Modifikation wird prototypischerweise ein Eigenschaftsbegriff, etwa ,schwarz‘, mit einem Gegenstandsbegriff verknüpft wie etwa mit dem Begriff ,Hut‘ bei schwarzer Hut. Klassifikatorische Modifikation ist subsektiv. Es wird ein Unterbegriff zu einem Oberbegriff erzeugt. Extensional liegt eine Teilmengenrelation vor: Hutschachteln sind eine Teilmenge aller Schachteln. Qualitative Modifikation hingegen ist normalerweise intersektiv. Schwarze Hüte fallen sowohl unter den Begriff ,schwarz‘ als auch unter den Begriff ‚Hut‘; sie liegen also in der Schnittmenge der Extension beider Begriffe. (Trivialerweise ist dadurch auch die für Modifikation generell gültige Bedingung der Subsektivität gegenüber der Nominationseinheit erfüllt.) Bei referentieller Modifikation ist der Modifikator ein Referenzobjekt, also ein Gegenstand unter Einschluss von Stoffen, Vielheiten und abstrakten Gegenständen. Der durch Nomination bereitgestellte Begriff wird in Beziehung gesetzt zu einem außersprachlichen Gegenstand / zu außersprachlichen Gegenständen wie etwa bei Hut von Eva oder Schüler aus mehreren Bundesländern. Die Modifikatoren Eva bzw. mehrere Bundesländer sind selbst nominale Ausdrücke, verfügen über Referenzpotential. Die Objekte, auf die mit ihnen referiert wird, werden in eine Beziehung zu den Nominationseinheiten ,Hut‘ bzw. ,Schüler‘ gesetzt, wobei im ersten Fall aufgrund der Verknüpfung durch von eine Possessorrelation anzunehmen ist, im anderen eine lokativische Beziehung, die durch die Präposition aus ausgedrückt wird. Auch bei referentieller Modifikation erfolgt eine Beschränkung des Referenzpotentials: Unter den Begriff ,Hut von Eva‘ fällt nur eine Teilmenge aller Hüte. Wir fassen auch die Anbindung von referentiellen Argumenten an einen relationalen Kopf wie in Sohn von Eva und Hans oder Verkauf des gesamten Besitzes als referentielle Modifikation und beziehen uns auf die gradienten Abstufungen zwischen  

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Argumentstatus und der im engeren Sinn als Modifikation betrachteten semantischen Form der Anbindung, vor allem aber auf die weitgehenden formalen Parallelen zur im dependentiellen Sinne ,freien Modifikation‘, wie sie in den bisher genannten Beispielen vorliegt. Auch hier kann man von einer inhaltlichen Anreicherung des durch Nomination Bereitgestellten sprechen, wenn auch diese Anreicherung, z. B. bei ‚Sohn‘ bzw. ,Verkauf‘, notwendig erscheint und erst von einem Begriffsschema zu einem vollständigen Begriff führt. Wir sprechen jeweils von ,referentiell-verankernder‘ und ‚referentiell-sättigender‘ Modifikation, wenn wir die beiden Typen nach ihrer kompositionalen Funktion unterscheiden. Bei assertorischer Modifikation erfolgt die semantische Anreicherung des durch Nomination bereitgestellten (und ggf. bereits modifikativ erweiterten) Begriffs dadurch, dass er in Beziehung gesetzt wird zu einer Proposition, die der Sprecher (in der wirklichen oder einer möglichen Welt) als wahr betrachtet. Entsprechende Ausdrucksformen sind in den Vergleichssprachen Relativsyntagmen wie in Das Problem, das wir hier sehen / das man hier sehen könnte, ist nicht lösbar oder Partizipialattribute wie Ein bisher nicht gelöstes Problem ist folgendes. Hier wirken die Modifikatoren restriktiv und die entsprechende Proposition wird somit präsupponiert, als wahr vorausgesetzt. Bei In Berlin, das heute als Mekka der europäischen Kulturszene gilt, beginnt heute die Berlinale handelt es sich um nicht-restriktive Modifikation, die Proposition wird also als solche erst als wahr gesetzt und behauptet. Wir machen hier somit von einem erweiterten Konzept der Assertion Gebrauch, bei dem es um die Betonung der sprecherseitigen Festlegung auf das Zutreffen der Proposition geht.  

   

Nominale Quantifikation Bei nominaler Quantifikation bleibt der komplexe Begriff, der auf der Basis von Nomination und Modifikation bezeichnet wird, unangetastet, vielmehr erfolgt eine quantitative Beschränkung des Referenzpotentials: Auch bei drei schwarze Hüte liegt der komplexe Begriff vor, der durch Modifikation aus der Nominationseinheit ,Hut‘ mittels des qualitativen Modifikators ,schwarz‘ hervorging. Der Quantifikator ,drei‘ beschränkt die Anzahl der Entitäten, auf die bei einer referentiellen Verwendung des Ausdrucks Bezug genommen wird und die unter den Begriff ,schwarzer Hut‘ fallen, auf drei. Nominale Quantifikation ist somit in unserem Ansatz keine Form der Modifikation, sondern eine eigenständige Subdomäne. Den hier unterschiedenen vier Subdomänen (mit den Subtypen bei der Modifikation) können nicht in jedem Fall eindeutig alle vorkommenden Teilkonstituenten von nominalen Syntagmen zugeordnet werden. Es ist mit zahlreichen Grenzfällen oder auch Übergangserscheinungen zur rechnen. Insofern ist die seilersche Vorstellung, es handle sich hier um ein Kontinuum, teilweise zutreffend. Ein Beispiel für Randphänomene der klassifikatorischen Modifikation (vgl. → A4.2) sind die Materialbezeichnungen in adjektivischer Form oder als Erstglied von Komposita wie hölzern bzw. Holzz. B. in ein großer, runder hölzerner Tisch / ein großer runder Holztisch sowie die  

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Bezeichnungen für Nationalitäten, Ethnien und geografische Gebilde wie italienisch in italienischer Wein, italienische Schuhe. Privative Adjektive wie falsch oder angeblich in ein falscher Fünfziger, ein angeblicher Freund scheinen sich den Kriterien, die wir für begriffliche Modifikation ansetzen, zu widersetzen, insofern als sie gemäß einer intuitiven Analyse weder subsektiv noch intersektiv sind (vgl. aber → A4.1.2). Auch pseudo-referentielle Modifikation wie in Königsmord, Kohl-Sohn (vgl. → A4.3.3.5.2) ist eines von zahlreichen weiteren Beispielen, anhand derer in dieser Grammatik die graduelle Abstufung in der Erfüllung von Kriterien für bestimmte Kategorien und Funktionen demonstriert wird. Außerdem ist die „attitudinal modification“ zu nennen (vgl. Rijkhoff 2010), mit der der Sprecher seine emotionale Einstellung, Gefühle wie z. B. Sympathie oder Verachtung, gegenüber einem Referenzobjekt ausdrückt, wie z. B. in DEU du armes Kind oder NDL Stakkels dig ,du Armer‘. Sie erfolgt nicht durch einen einzigen (modifizierenden) Ausdruck, sondern manifestiert sich in der Regel gleichzeitig durch verschiedene morphosyntaktische, prosodische und andere Mittel wie etwa die Stimmfärbung. Auf diesen Typ gehen wir nicht systematisch ein; man vergleiche jedoch zu Pronominalphrasen wie ich Armer (→ B1.5.1.9) und zu attitudinalen Adjektiven in Verbindung mit Eigennamen (→ B1.4.3). Neben Seilers Konzeption ist der Ansatz von Rijkhoff (2004, 2009a, 2010) verwandt mit dem hier vorgestellten Ansatz, vor allem was die Subklassifikation der funktionalen Domäne Modifikation angeht. Die wichtigsten Unterschiede gegenüber Rijkhoff bestehen darin, dass wir Quantifikation als eigenständige Subdomäne von der Modifikation abtrennen und andererseits die Argumentsättigung als Variante der referentiellen Modifikation fassen.  



Was weitere Unterschiede im Detail angeht, so nimmt Rijkhoff (2010) neben der bereits erwähnten querliegenden „attitudinal modification“ fünf Typen der Modifikation an, die er im Sinne von Diks Functional Grammar als „layers of modification“ begreift: klassifikatorische (classifying), qualitative (qualifying), quantifikative (quantifying), lokalisierende (localizing) und diskursreferentielle (discourse-referential) Modifikatoren. (In Rijkhoff 2004 werden diskursreferentielle Einheiten, etwa Artikel und Demonstrativa, noch unter die lokalisierenden subsumiert.) In diesem Modell werden sowohl Funktionswörter (Artikel, Pronomina) als auch Inhaltswörter und Syntagmen als Modifikatoren betrachtet; er spricht jeweils von Operatoren (operators = grammatische Modifikatoren) und Satelliten (satellites = lexikalische/phrasale Modifikatoren). Wir fassen Modifikation jedoch enger im Sinne einer semantisch-deskriptiven Anreicherung und haben daher die diskursreferentielle Funktion, sofern sie durch Funktionswörter geleistet wird, von der Modifikation abgetrennt und der funktionalen Subdomäne der Identifikation zugeordnet. Zu verweisen ist auch auf Löbner (2016), der an die rijkhoffschen Ebenen der NP-Bedeutung anschließt – er spricht von „nominal onion“ – und diese im Sinne der logischen Semantik präzisiert.

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A1.4 Funktion und Form Wie zuvor erläutert, steht das vorliegende Handbuch in einer Tradition, nach der Sprachen Werkzeuge der Kommunikation sind, mit der Aufgabenstellung, menschliches Handeln zu koordinieren – im Unterschied etwa zu der Auffassung, sie seien Teil des menschlichen Kognitionssystems mit der Aufgabenstellung, die äußere Welt zu repräsentieren. (Dabei ist die Bezugnahme auf die Realität, deren Teil wir sind und in die wir handelnd eingreifen, selbstverständlich auch bei einer instrumentalen Sprachkonzeption inbegriffen.) Diese Tradition wird auf Platon, insbesondere den Kratylos-Dialog, zurückgeführt (vgl. Keller 1995). In der Moderne gilt Wittgenstein als einflussreichster Vertreter. Allerdings ist es irreführend, wenn damit Sprachen Artefakten gleichgesetzt werden, die für einen bestimmten Zweck entworfen sind und deren Form intentional ihrem Zweck angepasst ist. Eine solche Sehweise klingt etwa in folgender Perspektive auf Sprache an: Es sei anzunehmen „that human language is a purposeful instrument designed to code and communicate information, and that like other instruments, its structure is not divorced from its function“ (Givón 1993: 2). Die Idee eines solchen „intelligenten Designs“ wird hier nicht vertreten. Sprachliche Formen werden für bestimmte Funktionen genutzt; sie werden oder wurden aber nicht „gemacht“, um bestimmte Formen zu tragen. Vielmehr ist eine evolutionäre Sehweise auf die Entstehung und Entwicklung von Sprachen anzunehmen, bei der sprachliche Formen beim kindlichen Erwerb und beim späteren Gebrauch unter verschiedensten Bedingungen Variationen und Änderungen erfahren und sich gegebenenfalls neu konfigurieren mögen. Die Durchsetzung und Sanktionierung solcher unter Umständen zufälliger „Mutationen“ jedoch ist in der Regel abhängig von deren funktionaler Tauglichkeit. Die jeweils tauglicheren Varianten – dabei kann Tauglichkeit von leichterer Aussprechbarkeit über bessere Verständlichkeit und semantische Transparenz bis zu höherem Prestigewert reichen – werden größere Chancen haben als ihre Konkurrenten: Mehr Sprecher werden sie bevorzugen und sie werden bei mehr Gelegenheiten gebraucht werden. Frequenz spielt also auf dem langen Wege zur Etablierung oder zum Obligatorisch- und Grammatisch-Werden eine wesentliche Rolle. Veränderungen, die in funktionaler Hinsicht zu Verschlechterungen führen, z. B. zum Verlust von relevanten Unterscheidungen, können durch Ersatz oder Reanalyse ausgeglichen werden. Ein prominentes Beispiel ist der Verlust der Kenntlichkeit des Genitivs bei femininen und pluralischen Substantiven im Deutschen, wo die auf alle allein stehenden Genitive verallgemeinerte Umschreibung durch die von-Form (wie in *der Verkauf Milch/Bauten/Öls versus der Verkauf von Milch/Bauten/Öl) bzw. die Reanalyse pseudo-partitiver Strukturen als enge Apposition (wie in ein Liter Milch mit Milch im Nominativ gegenüber ein Liter frischer Milch mit frischer Milch im Genitiv) funktionalen Ersatz bieten; vgl. dazu → C6.7.4.1. In dieser Fähigkeit, sich an veränderte Gegebenheiten unter Wahrnehmung von dadurch gegebenen Vorteilen im Gebrauch anzupassen, liegt das adaptive Potential von Sprachen.  

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Dabei sind selbstverständlich nicht die Sprachen selbst als Akteure zu betrachten, sondern die Sprecher bleiben auch bei solchen „invisible hand“-Prozessen wie dem Sprachwandel die Verursacher. Es handelt sich um „die kausale Konsequenz einer Vielzahl individueller intentionaler Handlungen, die mindestens partiell ähnlichen Intentionen dienen“ (Keller 1990: 88), deren Resultat jedoch nicht gewollt oder beabsichtigt ist. Haspelmath (1999c) nennt es den „unintended cumulative outcome of numerous individual intentional actions“. Die Durchsetzung einer funktional tauglichen Variation erfolgt zudem immer lokal und ohne Voraussicht. Sie ist keineswegs die beste aller denkbaren Möglichkeiten, sondern eine opportune unter den aktual gegebenen. Zu diesem Aspekt der „bricolage“, der quasi handwerklichen Ausbesserung, vgl. Haider (2015: 211). Funktionalisten und Formalisten mögen darüber streiten, in welchem Maße sprachliche Formen oder „Grammatiken“ insgesamt durch nicht-sprachspezifische, autonome kognitive Fähigkeiten bestimmt sind. Beide Positionen vertreten in Anlehnung an Darwins Theorie einen evolutionären Standpunkt mit Blick auf das Phänomen Sprache. Die Formalisten verstehen den evolutionären Prozess als „cognitive evolution in the variation + selection game“, wie Haider (2015: 203 f.) es formuliert, wobei die autonomen Verarbeitungsfähigkeiten des Gehirns als Selektionsfilter für Varianten in sprachlichen Strukturen im Variationspool einer bestimmten Sprache fungieren. Die Funktionalisten hingegen sprechen von „kultureller Evolution“ (vgl. Gerard/Kluckholm/Rapoport 1956; Keller 1990: 175–190), wobei die Sprecher selbst durch den individuellen Sprachgebrauch und auch in Reaktion auf soziale Anforderungen durch allmähliche Veränderung der sprachlichen Normen die Entwicklung bestimmen. So schon Paul (1880/1920c: 32): „Im übrigen spielt der Zweck bei der Entwicklung des Sprachusus keine andere Rolle als diejenige, welche ihm Darwin in der Entwicklung der organischen Natur zugewiesen hat: die größere oder geringere Zweckmäßigkeit der entstandenen Gebilde ist bestimmend für Erhaltung oder Untergang derselben.“ Beiträge zur Debatte von funktional-typologischer Seite sind u. a. Croft (2000b), Haspelmath (1999c, 2002b, 2008), aus Sicht der Formalisten Haider (2001, 2015), Newmeyer (2000, 2014) für eine Auseinandersetzung mit beiden Standpunkten. Der Disput um das Verhältnis zwischen Angeborenem und kulturell Erworbenem in der Grammatik ist für die vorliegende Argumentation und für das vorliegende Handbuch jedoch letztlich ohne Belang: Wir streben einen deskriptiven Zugang zu den jeweiligen formalen morphosyntaktischen Phänomenen an, ohne dabei Aussagen über deren mögliche kognitive Beschränkungen zu machen, jedoch unter Korrelation mit ihren funktionalen Eigenschaften, ohne dabei Aussagen über finale Zusammenhänge zwischen Form und Funktion zu machen.  



Der funktionale Blick auf formale grammatische Erscheinungen darf somit nie teleologisch gerichtet sein. Teleologische Erklärungen grammatischer Erscheinungen basieren, wie u. a. in Haider (2015: 211 f.) gezeigt, auf einem logisch ungültigen reduktiven Schluss: Was vorliegt, ist ein grammatischer Befund R – z. B. pränominale Eigennamen-Genitive im Deutschen. Er wird bei teleologischer Erklärung auf eine funktionale Erklärung F als Ursache zurückgeführt. R liege vor, weil F. Oder auch: Es gäbe R zum Zwecke von F. Im Beispielfall: Pränominale Eigennamen-Genitive seien existent oder auch beim generellen Abbau des pränominalen Genitivs erhalten geblieben, weil damit der Bedarf nach einem optimalen thematischen Anknüpfungspunkt und referentiellen Anker für die NP insgesamt befriedigt werden kann. Vom Resultat wird unzulässig auf eine Ursache zurückgeschlossen. Die Gefahr, in dieser Weise zumindest rhetorisch dem „teleologischen Trugschluss“ (teleological fallacy, vgl. Haspelmath 1999c: 188) zum Opfer zu fallen, ist vergleichsweise hoch, da sie gängigen Denk 







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mustern des Menschen zu entsprechen scheint. Zulässig hingegen, wenn auch möglicherweise ebenfalls unzutreffend, sind korrelative Aussagen, bei denen das Zusammentreffen einer bestimmten Funktion bzw. eines funktionalen Vorteils mit einem grammatischen Phänomen oder einer grammatischen Regel konstatiert wird. In diesem Sinne sind die funktionalen „Erklärungen“ in diesem Handbuch zu verstehen. Ein offensichtliches Indiz für die Unangemessenheit teleologischer funktionaler Erklärung ist zudem die Vielfalt der Korrelationen von Form und Funktion, die gerade im Sprachvergleich an den Tag tritt und die in dieser Grammatik immer wieder thematisiert wird. Eine wichtige Konsequenz, die hier aus diesem Faktum gezogen wird, ist, dass die Beschreibung der Formseite, also von Morphologie und Syntax, als Aufgabenstellung eigenen Rechts und nicht etwa als sekundäre Aufgabe wahrgenommen wird. Gerade wenn unterschiedliche syntaktische Formen unter dem Gesichtspunkt der Realisierung vergleichbarer Funktionen betrachtet werden, wie es hier geschieht, wäre es zirkulär und somit fatal, würde man syntaktische Kategorien allein nach semantischen Kriterien definieren: „We cannot hope to understand the relationship between syntactic categories and meaning, for example, if we have used semantic criteria in identifying those categories.“ (Newmeyer 2000: 342). Die komplexe Interaktion zwischen funktionaler und formaler Bestimmung kann beispielhaft an der übereinzelsprachlich gebrauchten syntaktischen Begrifflichkeit gezeigt werden, die bereits zu Beginn etwa mit ‚Genitiv(attribut)‘ oder auch ‚Akkusativ‘ erwähnt wurde. Zunächst ist – man vergleiche insgesamt → B2.4 – etwa für das Deutsche unter Absehung von unterschiedlichen durch Wortklasse, Genus oder Deklinationsklasse definierten morphologischen Auszeichnungen (vgl. diesen Mann/diesen Ochsen vs. diese Frau vs. dieses Kind) die syntaktische Kategorie ‚Akkusativ‘ zu identifizieren, und zwar aufgrund von syntaktischen Regeln wie Rektion und Kongruenz. Unter den verschiedenen Vorkommensweisen des so bestimmten Akkusativs im Deutschen lässt sich – auch unter Korrelation mit bestimmten formalen ‚Verhaltenseigenschaften‘ wie der Passivfähigkeit – diejenige als direktes Objekt (DO ) als die primäre syntaktische Funktion identifizieren. In dieser syntaktischen Funktion steht der Akkusativ als Kasus für die semantische Rolle PATIENS bzw. als NONAGENS -Kasus dem rollen-unspezifischen Nominativ gegenüber. Von dieser auf funktionale Konzepte bezogenen, aber nicht mit ihnen identifizierten Bestimmung aus kann die Brücke zu den Kontrastsprachen geschlagen und festgestellt werden, dass in der Tat „das Deutsche und alle Kontrastsprachen – trotz großer Unterschiede der Kasussysteme und der Kasusverwendungen – einen Akkusativ besitzen“ (vgl. → B2.4.2.5.2.1). Im Englischen und Französischen allerdings stehen nur (personal)pronominale direkte Objekte im Akkusativ: Beide Sprachen kennen bei substantivischen Nominalphrasen keine Kasusunterscheidung. Eine Gleichsetzung von syntaktischer Kategorie (Akkusativ), syntaktischer Funktion (DO ) oder gar semantischer Funktion (PATIENS ) wird in unserem Ansatz nicht vollzogen. Anders als der Akkusativ ist jedoch der Kasus Genitiv nur bei den Kern-Vergleichssprachen Deutsch und Polnisch vorhanden. Mit Bezug auf den englischen s-Marker kann von ‚Genitiv‘ und damit auch von ‚Genitivattribut‘ allenfalls als façon de parler gesprochen werden. Die anderen Kontrastsprachen realisieren possessive Attribute – dies die zentrale Funktion des Deutschen und polnischen Genitivs – in anderer Form.  



Bei dieser Herangehensweise an den Sprachvergleich ergeben sich notwendig mehrere Ebenen der Korrelation zwischen übereinzelsprachlich gültiger Funktion und einzelsprachlicher Form (vgl. dazu im Einzelnen → B1.1 und → D1). So gibt es eine vergleichsweise enge, wenn auch nicht eineindeutige, Korrelation zwischen funk-

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tionalen Subdomänen der Referenz und syntaktischen Funktionen: Die funktionale Domäne der Identifikation wird von Determinatoren realisiert, Nomination im einfachen Fall durch den Kopf der NP, Modifikation prototypischerweise durch Attribute. Syntaktische Kategorien oder ,Konstituentenkategorien‘ vermitteln zwischen syntaktischer Funktion und lexikalischer Klasse. So ist die komplexe Konstituentenkategorie NP in erster Linie mit der syntaktischen Funktion des Komplements oder Supplements im Satz verknüpft, daneben auch – auf dem Weg der Rekursion – mit der des (referentiellen) Attributs in der NP. Kopf der NP sind Elemente der einfachen Konstituentenkategorie N für ,Nomen‘: Nomina rekrutieren sich aus verschiedenen lexikalischen Klassen, zum einen aus der Wortart der Substantive, zum anderen aus der lexikalischen Klasse der Pronomina. Aber auch Elemente anderer Wortklassen, vor allem Adjektive können „nominalisiert“ werden und dann dieser syntaktischen Kategorie angehören. Lexikalische Klassen stellen somit die „unterste“ Ebene der Funktion-Form-Korrelation dar. Zwar haben vor allem die Inhaltswortarten des nominalen Bereichs, nämlich Substantiv und Adjektiv, einen Kernbereich mit einer eindeutigen Zuordnung zu funktionaler Domäne und syntaktischer Funktion; daneben gibt es aber auch Elemente dieser lexikalischen Klassen, die sich in Abhängigkeit von den Einzelsprachen anders verhalten. Lexikalische Klassen wie Pronomen und Numerale zeigen generell im Hinblick auf die zugeordnete funktionale Domäne und/oder die syntaktische Funktion und Kategorie ein heterogenes und zwischen den Vergleichssprachen divergierendes Verhalten.

A1.5 Die Behandlung funktionaler Domänen und Subdomänen in dieser Grammatik Die funktionale Domäne Referenz wird zusammen mit der Subdomäne Identifikation in einem eigenen Kapitel des vorliegenden Großkapitels A abgehandelt, den Subdomänen Nomination und nominale Quantifikation sind ebenfalls eigene Kapitel gewidmet. Auf derselben Ebene werden auch drei Typen der Modifikation behandelt: klassifikatorische, qualitative und referentielle. Die assertorische Modifikation erhält keine gesonderte Darstellung, da in diesem Fall – anders als bei den anderen Modifikationstypen – eine vergleichsweise eindeutige Beziehung zwischen Funktion und Ausdrucksform besteht: Relativsyntagmen und Partizipialattribute sind die entsprechenden Realisierungen. Auf die entsprechenden Kapitel ist also zu verweisen. Im Übrigen wird in den Kapiteln, bei denen primär von Wortklassen oder syntaktischen Formtypen ausgegangen wird, vor allem im jeweils einleitenden Abschnitt ,Funktionale (und typologische) Charakterisierung‘ der Bezug zu der funktionalen Domäne bzw. den funktionalen Domänen hergestellt, die durch die entsprechenden Formen realisiert werden.

A2

Referenz und Identifikation

A2.1

Vorbemerkung  33

A2.2

Referenz  33

A2.3

Referentielle und nicht-referentielle Nominalphrasen  37

A2.4

Kategorien referentieller Ausdrücke  39

A2.5

Referenz und Quantifikation  41

A2.6 Identifikation  49 A2.6.1 Referentielle Modi  50 A2.6.1.1 Definitheit  50 A2.6.1.2 Indefinitheit  54 A2.6.1.3 Spezifizität und Nicht-Spezifizität  55 A2.6.2 Ausdrucksformen der Identifikation  58

Lutz Gunkel

A2 Referenz und Identifikation A2.1 Vorbemerkung Referenz als die primäre funktionale Domäne von Nominalphrasen und Identifikation als eine der funktionalen Subdomänen werden in diesem Kapitel zusammen abgehandelt. Dies ist wie folgt begründet: Durch die sprachliche Handlung der Referenz bezieht sich der Sprecher auf einen außersprachlichen Gegenstand, über den er etwas mitteilen will. Der referentielle Ausdruck, also die Nominalphrase, die er dabei gebraucht, soll dem Hörer zu verstehen geben, welchen Gegenstand der Sprecher meint; der Hörer soll dessen referentielle Intentionen erschließen können. Die grammatischen, konventionalisierten Ausdrucksformen solcher referentiellen Intentionen fallen wiederum in die funktionale Domäne der Identifikation. Referentielle Ausdrücke sagen in der Regel etwas darüber aus, ob das Referenzobjekt aus Sicht des Sprechers für den Hörer zugänglich oder identifizierbar ist. Identifizierbarkeit kann wie bei Eigennamen mit dem nominalen Ausdruck selbst bereits gegeben sein. Bei Nominalphrasen mit einem appellativischen Kopf hingegen werden grammatische Marker herangezogen, um zu signalisieren, ob der Referent in der Sprechsituation identifizierbar ist oder nicht. Als Ausdrucksformen der Identifikation, i. e. Determinatoren, fungieren typischerweise Artikel und (adnominale) Pronomina. Die Subdomäne der Identifikation ist enger an die Referenz geknüpft als etwa die Modifikation; im Gegensatz zu Modifikatoren sind Determinatoren in vielen Fällen obligatorische Teile einer NP.  

A2.2 Referenz Referenz ist die primäre funktionale Domäne von Nominalphrasen (→ D.1.1, für die sprachtypologische Tradition vgl. u. a. Lehmann 1984: 39; Dik 1997: Kap. 7; Givón 2001b: 438–466; Croft 2003: 132–136; Rijkhoff 2004: 19; für die grammatikographische – mehr oder weniger explizit – Huddleston/Pullum 2002: 400; Eisenberg 2013b: 52; für die theoretische linguistische Literatur exemplarisch Lieb 1980b, 1993: 465; Moltmann 1992: 39). Nominalphrasen – in ihrer prototypischen Funktion – „stehen für außersprachliche Gegenstände“. Was es heißt, „für einen außersprachlichen Gegenstand“ zu stehen, d. h., wie, wenn überhaupt, die Etablierung einer solchen Beziehung möglich ist, ist eines der zentralen Themen der Sprachphilosophie, speziell der philosophischen Semantik. Wir schließen uns – im Einklang mit der funktional-typologischen Literatur – einer handlungsorientierten Konzeption des Referenzbegriffs an, wie sie in der Sprechakttheorie (vgl. vor allem Searle 1969) vorgeschlagen und in zahlreichen Arbeiten unterschiedlicher theoretischer Provenienz weiterentwickelt worden  





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ist. Referenz ist demnach eine Beziehung zwischen einem Sprecher, einem sprachlichen Ausdruck und einem Gegenstand – dem Referenzobjekt oder Referenten des Ausdrucks –, wobei der Sprecher mithilfe des Ausdrucks auf den Gegenstand referiert (Strawson 1950, 1959; Searle 1969: 28; Burge 1971, 1974). Referenz ist in diesem Sinn eine Handlung, wobei die Beziehung eines Ausdrucks auf einen Gegenstand wesentlich durch die referentiellen Intentionen des Sprechers gesteuert ist. Der Referenzbegriff ist in seiner ursprünglichen, sprachphilosophischen Konzeption eng mit dem der Prädikation verbunden. Als konstitutive Bestandteile von Propositionen sind Referenz und Prädikation unmittelbar aufeinander bezogen. Referiert wird im Vollzug eines Sprechaktes, in dem über den Referenten etwas ausgesagt, i. e. prädiziert wird.  

„One only refers as part of the performance of an illocutionary act, and the grammatical clothing of an illocutionary act is the complete sentence. An utterance of a referring expression only counts as referring if one says something.“ (Searle 1969: 25) – „Diese wesensmäßige Ergänzungsbedürftigkeit der Funktion des singulären Terminus wird deutlich, wenn wir die Funktion, für einen Gegenstand zu stehen, als die Funktion charakterisieren, anzugeben, welcher Gegenstand gemeint ist. Wenn eine Handlung darin besteht, daß sie angibt, welcher Gegenstand gemeint ist, verweist sie wesentlich auf eine komplementäre Handlung, die etwas zu verstehen gibt, was sich auf einen bestimmten Gegenstand bezieht. Auf der elementarsten Ebene ist eine solche Handlung, die etwas zu verstehen gibt, was sich auf einen bestimmten Gegenstand bezieht, die mittels eines Prädikats vollzogene Charakterisierungshandlung.“ (Tugendhat 1979: 367)

Wir knüpfen an diese Vorstellung an (→ D1.1) – ebenso wie unterschiedliche Arbeiten aus der linguistischen Semantik, die einen sprecherbezogenen Referenzbegriff voraussetzen (so etwa explizit Lehmann 1984: 30; Chur 1993: 8). Anders aber z. B. Lieb (1980b: 131), der betont, dass der im Rahmen der von ihm entwickelten Integrativen Satzsemantik konzipierte Referenzbegriff keinen Prädikationsbegriff voraussetze oder impliziere. Vgl. zu diesem Ansatz auch Moltmann (1992). – Im Übrigen darf die Redeweise vom Aufbau einer Proposition aus referentiellen und prädikativen Teilen (bzw. eines propositionalen Aktes aus einem referentiellen und einem prädikativen Teilakt) nicht so verstanden werden, dass Referenz und Prädikation ausdrucksseitig notwendigerweise separate Korrelate haben. So bleiben etwa in Sprachen, die in der Grammatikforschung unter der Bezeichnung Pro-DropSprachen figurieren, Subjekt- oder Objektpronomina unter bestimmten informationsstrukturellen Bedingungen unrealisiert, vgl. etwa DEU Ich arbeite vs. ITA Lavoro. In beiden Sprachen wird mit der Äußerung des jeweiligen Satzes etwas über eine Person (in diesem Fall den Sprecher) ausgesagt, aber im Italienischen können Referenz und Prädikation hier ausdrucksseitig nicht analytisch getrennt werden: Der Subjektreferent ist in diesem Fall allenfalls über die Flexionsendung rekonstruierbar, aber mit der Flexionsendung wird nicht referiert.  

Eine solche Auffassung von Referenz hat eine Reihe von konzeptuellen Konsequenzen. Ausdrücke, mit denen referiert wird, sind immer aktuale Vorkommen (token) von Ausdruckstypen in Sprechakten. Ein Sprecher referiert weder mit lexikalischen Wörtern noch mit Formen von lexikalischen Wörtern (Wortformen) oder syntaktischen Verknüpfungen solcher Formen (vgl. Bach 1994). Die Unterscheidung ist wichtig, da der Referenzbegriff in der philosophischen und linguistischen, hier vor allem forma-

A2 Referenz und Identifikation

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len Semantik auch so verwendet wird, dass er mit dem Begriff der Denotation oder manchmal auch dem der Extension zusammenfällt (vgl. dazu auch Abbott 2010: 3). Auf eine weitere potentielle Ambiguität des Referenzbegriffs weist Bach (1994) hin; vgl. auch Lyons (1977a: 178). Notice that there are two ways of taking the phrase ‘use an expression to refer’, depending on whether it is the user or the expression itself that is doing the referring. To see the difference, just compare the likely ways in which the phrases ‘use a pencil to calculate’ and ‘use a computer to calculate’ would be taken. (Bach 1994: 56, Fn. 54)  

In dem von uns intendierten Sinn vollzieht der Sprecher die Referenz als sprachliche Handlung („doing the referring“). Für die semantische Beziehung, die zwischen einem sprachlichen Ausdruck und einer oder mehreren außersprachlichen Entitäten aufgrund der Bedeutung (Intension) des Ausdrucks besteht, verwenden wir dagegen die Termini Denotation und Extension, wobei wir zwischen beiden keine strikte begriffliche Trennlinie ziehen, um terminologisch flexibel zu sein. Tendenziell sprechen wir aber eher dann von der Extension eines Ausdrucks (eines lexikalischen Worts, einer Wortform oder einer syntaktischen Einheit), wenn es (i) um den Typ des Ausdrucks und zwar (ii) unabhängig von speziellen Verwendungskontexten geht. Die Extension des lexikalischen Worts Brille ist dann – wie in der linguistischen Semantik üblicherweise angenommen – die Menge aller Brillen; gleiches gilt für die jeweiligen Formen des Wortes Brille, und entsprechend ist die Extension der syntaktischen Einheit rote Brille die Menge aller roten Brillen (Näheres auch in → A4.1). Geht man davon aus, dass pluralische Nominale für Pluralobjekte (→ A5, → B2.3.1) stehen, ist diese Charakterisierung dahingehend zu modifizieren, dass die Extension einer Pluralform des Wortes Brille für die Menge aller mereologischen Summen einzelner Brillen steht. Entsprechend sind dann den Singular- und Pluralparadigmen lexikalischer Wörter verschiedene Extensionen zuzuordnen. Momentan werden wir der Einfachheit halber von dieser Komplikation absehen.

Den Terminus Denotation verwenden wir dagegen tendenziell eher dann, wenn es um das geht, wofür ein Ausdruck in einer konkreten sprachlichen Verwendungssituation steht. Die Denotation (oder das Denotat) eines Ausdrucks ist in diesem Sinn eine kontextuell eingeschränkte Extension des Ausdrucks und damit eine Teilmenge der Extension. Sowohl Extension als auch Denotation sind keine auf referentielle Ausdrücke beschränkten semantischen Eigenschaften; sie kommen etwa auch Adjektiven, Adverbien, Adpositionen, Verben und deren phrasalen Erweiterungen, inklusive Sätzen, zu. Bezogen auf (nominale) referentielle Ausdrücke entspricht Denotation in etwa dem, was manchmal als semantische Referenz (semantic reference, vgl. Kripke 1991; Bach 1994 spricht von linguistic reference) der Sprecherreferenz (speaker reference) gegenübergestellt wird. Entscheidend ist, dass die Denotation (semantische Referenz) eines referenzfähigen Ausdrucks – anders als dessen Sprecherreferenz – unabhängig von den referentiellen Intentionen des Sprechers relativ zu dem fraglichen Ausdruck ist. Die Denotation eines (referenzfähigen) Ausdrucks kann daher

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A Funktionale Domänen

auch als dessen Referenzpotential charakterisiert werden. Ein einfaches Beispiel mag zur Illustration dienen: Befinden sich in Sichtweite eines Sprechers zwei Schnapsgläser und der Sprecher sagt Ich möchte bitte dieses Glas, dann ist die Denotation des Ausdrucksvorkommens dieses Glas ambig. Zeigt er aber gleichzeitig auf eines der beiden Gläser, dann ist die Sprecherreferenz eindeutig. Die Zeigegeste hat dabei die Funktion, die referentielle Intention des Sprechers für den Hörer sichtbar zu machen; sie ist aber keine Komponente der sprachlichen Bedeutung des Ausdrucksvorkommens von dieses Glas. Der Einfachheit halber werden wir auch davon sprechen, dass ein Ausdruck selbst auf etwas referiert; diese Ausdrucksweise ist als façon de parler zu verstehen, die den handelnden Sprecher implizit lässt (vgl. Searle 1969: 28). Für die Auffassung von Referenz als Sprecherreferenz gibt es einerseits sprachphilosophische Gründe, andererseits lässt sie sich auch unter Rekurs auf einen vorauszusetzenden satzsemantischen Bedeutungsbegriff motivieren. Wichtig ist aber, dass sich der Referenzbegriff auch „von der Sache her“ rechtfertigen lässt. Damit ist gemeint, dass sich bestimmte semantische Phänomene gar nicht anders analysieren lassen als unter der Einbeziehung der referentiellen Intentionen des Sprechers relativ zu der Äußerung eines referentiellen Ausdrucks. Die referentiellen Intentionen eines Sprechers betreffen unterschiedliche Dimensionen einer Referenzhandlung. Grammatisch relevant ist vor allem die Art und Weise, wie und in welchem Grad der Sprecher das oder die Referenzobjekte als für den Hörer zugänglich oder identifizierbar auszeichnet. Solche Modi der Referenz (traditionell: ‚Definitheitsunterschiede‘) fallen in die funktionale Domäne der Identifikation und lassen sich als definite oder indefinite oder ggf. als andere referentielle Modi auszeichnen. Mit Blick auf die grammatische Ebene ist entsprechend von definiten oder indefiniten etc. Nominalphrasen die Rede. Aufgabe einer grammatischen Beschreibung ist es, das Referenzpotential einer Nominalphrase zu bestimmen, d. h. mit Blick auf die funktionale Domäne der Identifikation die grammatischen Modi als formbezogene Korrelate möglicher referentieller Intentionen des Sprechers zu spezifizieren. Solche Korrelate können als das Ergebnis der Grammatikalisierung pragmatischer Distinktionen, die durch die referentiellen Intentionen des Sprechers gegeben sind, verstanden werden. Das bedeutet, dass die Beziehung zwischen referentiellen Modi und referentiellen Intentionen keine eindeutige Beziehung ist. Das Referenzpotential eines Ausdrucks ist ggf. mit verschiedenen referentiellen Modi vereinbar, während unterschiedliche referentielle Intentionen durch den gleichen referentiellen Modus ausgedrückt werden müssen und damit sprachlich nicht differenziert werden können.  

A2 Referenz und Identifikation

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A2.3 Referentielle und nicht-referentielle Nominalphrasen Die Tradition der sprachphilosophischen Semantik (vgl. etwa Strawson 1950, 1959; Searle 1969) orientiert sich fast ausschließlich an einfachen Subjekt-Prädikat-Strukturen, in denen das Subjekt ein Eigenname ist (vgl. (1)) oder eine definite singularische NP, deren Kopf ein Individuativum ist (vgl. (2), Individuativ-NP, → D1.1.1). Definite Individuativ-NPs werden aus semantischer Perspektive oft (definite) Kennzeichnungen (definite descriptions) genannt (vgl. etwa Abbott 2010: Kap. 6; Löbner 2013: 75; Reimer/Michaelson 2014; für die Grammatikographie Eisenberg 2013b: 154). (1)

Fido schläft.

(2)

Der Hund unseres Nachbarn schläft.

In beiden Fällen handelt es sich um eine definite NP, mit der – in Standardverwendungen der Sätze – auf ein Einzelding referiert wird. Eigennamen lassen wir im Folgenden unberücksichtigt, dazu → B1.4.3. Im prototypischen Fall der Verwendung von definiten NPs steht die Identität des Referenten für den Sprecher und den Hörer zum Sprechzeitpunkt fest. Neben NPs wie in (2) rechnen wir aber auch NPs der folgenden Arten zu den referentiellen Ausdrücken (vgl. (3)–(5)). (3)

Der 50. Präsident der Vereinigten Staaten wird ein Mann sein.

(4)

Das nächste Mal werde ich einen meiner Studenten das Seminarprotokoll schreiben lassen, ich weiß aber noch nicht welchen.

(5)

Ein Freund von dir hat heute Morgen ein Geburtstagsgeschenk für dich abgegeben.

In (3) liegt zwar auch eine definite NP vor, hier steht die Identität des Referenten zum Sprechzeitpunkt aber nicht fest, zumindest nicht in dem Sinn, wie sie in Verwendungen wie in (2) feststeht. Analoges gilt für die indefinite NP in (4). Definite NPs wie in (3) werden gelegentlich (vgl. etwa Reboul 2001: 513), indefinite NPs wie in (4) dagegen oft als nicht-referentielle NPs eingeordnet. In Fällen wie (4) gilt dies insbesondere für formal-semantische Arbeiten (vgl. u. a. Reboul 2001: 512). Mit Blick auf indefinite NPs wie in (5) weisen bereits Strawson (1950: 342) sowie Searle (1969: 28 f.) darauf hin, dass Referenz nicht auf definite NPs beschränkt sein kann und der Referenzbegriff daher so konzipiert werden muss, dass er solchen Fällen ebenfalls Rechnung trägt. Ebenso betrachten wir (bestimmte) pluralische oder allgemeiner: (bestimmte) quantifizierende NPs als referentielle Ausdrücke. Auf diese kommen wir speziell in → A2.5 zu sprechen. Ziel der folgenden Ausführungen ist es, den Referenzbegriff  





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A Funktionale Domänen

soweit zu explizieren, dass hinreichend deutlich wird, inwiefern Referenz als die (ausgezeichnete) funktionale Domäne von Nominalphrasen gelten kann. Ferner differenzieren wir nicht zwischen singularischen und pluralischen referentiellen Ausdrücken, so dass wir die bereits eingeführte Redeweise beibehalten können, nach der ein referentieller Ausdruck auf einen Gegenstand referiert. Diese Redeweise ist unserem Ansatz nach insofern sachlich fundiert, als wir annehmen, dass pluralische referentielle Ausdrücke auf sog. Pluralobjekte referieren (→ A5, → B2.3.1). In → A2.5 werden wir aber noch einen alternativen Ansatz vorstellen, der nicht mit dem Konzept des Pluralobjekts operiert.

Ob ein Ausdruck in der Äußerung eines Satzes als referentieller Ausdruck fungiert, hängt von seinen syntaktischen, semantischen und auch pragmatischen Eigenschaften ab. Ein gängiger Test für das Vorliegen von Referentialität ist der sog. Pronominalisierungstest, dem zufolge ein Ausdruck dann referentiell ist, wenn er durch ein anaphorisch verwendetes Personalpronomen wiederaufgenommen werden kann. So ist etwa die Nominalphrase die Katastrophe in (6a) nach Aufweis des Pronominalisierungstests referentiell, die Nominalphrase eine Katastrophe in (6b) dagegen nicht. (Die Beziehung zwischen Pronomen und Bezugswort, dem Antezedens, wird wie üblich durch Koindizierung angezeigt.) (6)

a. [NP Die Katastrophe]i war nicht mehr aufzuhalten. Siei war schlimmer, als man es sich hätte vorstellen können. b. Der Lehrer war [NP eine Katastrophe]i. *Siei war schlimmer, als man es sich hätte vorstellen können.

Bevor wir zeigen, welche Ausdrücke sich durch den Test als referentielle Ausdrücke erweisen lassen und welche nicht, ist es sinnvoll, sich klar zu machen, wodurch der Pronominalisierungstest theoretisch fundiert ist, d. h., weshalb er das zeigt, was er zeigen soll. Ebenso wenig wie andere grammatische Tests ist der Pronominalisierungstest im Sinne einer operationalen Definition oder Teil einer operationalen Definition des Begriffs der Referenz zu verstehen. Vielmehr beruht der Test auf der Annahme, dass sich mithilfe des Referenzbegriffs, so wie er in die semantische Teiltheorie der Grammatik eingeführt worden ist, die Grammatikalität/Ungrammatikalität bestimmter Pronominalisierungen bzw. die Zulässigkeit/Unzulässigkeit bestimmter Lesarten bei Pronominalisierungen erklären lässt. Die spezielle Annahme, die hier eine Rolle spielt, besteht dabei darin, dass die Möglichkeit der Pronominalisierung (einer pronominalen Wiederaufnahme eines Ausdrucks, einer Antezedens-PronomenBeziehung) darauf beruht, dass Antezedens und Bezugsausdruck koreferentiell sind, d. h., dass beide Ausdrücke auf denselben Gegenstand referieren. Zu beachten ist, dass der Pronominalisierungstest (zunächst) nur im Sinne einer notwendigen Bedingung verstanden werden kann: Wo immer der Test versagt, kann der Bezugsausdruck selbst kein referentieller Ausdruck sein. Daher werden wir von dem Test in verschie 



A2 Referenz und Identifikation

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denen Kapiteln Gebrauch machen, wenn es um die Unterschiede zwischen referentiellen und nicht-referentiellen Attributen geht (→ A4.3.1, → D3, → D4). Auf Fälle, die als „Variablenbindung“ beschrieben werden müssen, kommen wir in → A2.5 zurück.

A2.4 Kategorien referentieller Ausdrücke Referentielle Ausdrücke sind kategorial nicht auf Nominalphrasen (einschließlich Pronomina) beschränkt. So können etwa auch lokal- und temporaldeiktische Adverbien referentiell verwendet werden, vgl. (7). In diesen Fällen sind die Referenzobjekte Raum- bzw. Zeitabschnitte. (7)

a. Hier wird nur selten gearbeitet. b. Heute ist ein sehr schöner Sommertag.

Als referentiell können ferner freie Relativsätze wie in (8) gelten (vgl. IDS-Grammatik 1997: 1460–1462, → D6.8). Diese sind in etwa paraphrasierbar durch die Nominalphrasen in (9), die aus einem Pronomen bzw. deiktischem Adverb und einem restriktiven Relativsatz bestehen, und als Ganze referentiell verwendet werden. (8)

a. Wer mir den Becher kann wieder zeigen, er mag ihn behalten, er ist sein Eigen. (Schiller, Der Taucher) b. Wo sich verwischt, die goldene Tassenschrift, im Schnörkel von Blume und Trauben, wird mir lesbar, – o wie es mich trifft: Liebe, Hoffnung und Glauben. (Eich, Schuttablage) c. Was du sagst, stimmt nicht.

(9)

a. Derjenige, der mir den Becher wieder zeigen kann … b. Dort, wo sich die goldene Tassenschrift verwischt … c. Das, was du sagst, stimmt nicht.

Wir beschränken uns hier auf Nominalphrasen und klammern damit andere potentiell referentielle Ausdrücke aus. Die für uns entscheidende Frage ist, welche Nominalphrasen in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen Form und Funktion referentiell verwendet werden können. Diese Frage diskutieren wir in → A2.6. Zu den referentiellen Ausdrücken zählen syntaktische Einheiten nominaler, aber auch nicht-nominaler Kategorien. Referentielle Ausdrücke, deren Kopf ein nominaler Ausdruck ist, kategorisieren wir einheitlich als Nominalphrasen (NPs, → D1). Dazu gehören speziell selbstständige Pronomina sowie pronominale NPs (→ B1.5), Eigennamen (→ B1.4.3), appellativische NPs, i. e. NPs mit appellativischem Kopf (→ D1), sowie adjektivische und partizipiale NPs (→ D2).  

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A Funktionale Domänen

(Nicht-nominalisierte) Verben, vor allem in der Funktion des verbalen Prädikats, betrachten wir nicht als referentielle Ausdrücke, auch dann nicht, wenn sie im Sinne der Ereignissemantik (Davidson 1985; Parsons 1990) für Ereignisse als konkrete raumzeitliche Entitäten stehen. Wir beschränken uns in diesem Kapitel auf nominale referentielle Ausdrücke, vor allem auf appellativische NPs. Auch NPs in einem semantischen Kasus, wie sie im Polnischen und vor allem im Ungarischen auftreten (→ B2.4, → D4), gelten als referentielle Ausdrücke. In syntaktischer Hinsicht verhalten sie sich wie NPs, in semantischer dagegen wie (kanonische) Adpositionalphrasen (PPs), da sie zusätzlich zu ihrer referentiellen eine relationierende Bedeutungskomponente aufweisen. Der Einfachheit halber beschränken wir uns auf solche NPs, deren Kasus eine räumliche Relation ausdrückt, und bezeichnen sie kurz als lokale NPs – in Analogie zu lokalen PPs. Mit lokalen NPs und PPs wird jeweils ein Referenzobjekt in Beziehung zu einer anderen Entität gesetzt. Bei lokalen PPs lassen sich relationierender und referentieller Teil unterschiedlichen Konstituenten zuordnen, der Adposition (P) und ihrem NP-Komplement. Dies ist wichtig für den Aspekt der satzsemantischen Komposition: Der satzsemantische Bedeutungsbeitrag der PP wird kompositionell errechnet, die Komposition greift dabei auf unterschiedliche syntaktische Konstituenten (P und NP) zurück. Bei lokalen NPs dagegen entsprechen referentieller und relationierender Teil nicht unterschiedlichen syntaktischen Einheiten. (Allenfalls lässt sich bei Agglutination der relationierende Teil einer morphologischen Einheit zuordnen.) Referenz und Relation werden von der NP als Ganzer kodiert; die NP referiert und relationiert zugleich. Dennoch sind Referenz und Relationierung unterschiedliche satzsemantische Komponenten. Daher könnte man auch davon sprechen, dass eine lokale PP zugleich referiert und relationiert, nur entsprechen in diesem Fall die Komponenten nicht unterschiedlichen syntaktischen Teilen der PP. Das formal-funktionale Gegenstück zu lokalen NPs bilden PPs mit formalen, d. h. semantisch (weitgehend) „leeren“ oder „ausgebleichten“ Adpositionen. Diese sollen hier kurz formale PPs – im Gegensatz zu semantischen PPs, i. e. PPs mit semantischer Adposition – genannt werden. Formale PPs haben nur eine referentielle, aber keine relationierende Bedeutungskomponente, da der Adposition keine (inhaltliche) Bedeutung zukommt. Dennoch schreiben wir den referentiellen Bedeutungsbeitrag nur der formal eingebetteten NP zu, da die als referentieller Ausdruck auch außerhalb der PP vorkommt. Eine PP selbst ist daher übereinzelsprachlich kein referentieller Ausdruck; sie lässt sich nur insofern als referentiell charakterisieren, als sie einen referentiellen Ausdruck (NP oder AdvP) als echte syntaktische Konstituente enthält.  



A2 Referenz und Identifikation

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A2.5 Referenz und Quantifikation Unter den Begriff der quantifizierenden Nominalphrase (QNP) subsumieren wir in diesem Abschnitt sowohl NPs, die ein Quantifikativum (im Sinne von → D1.2.2.1) enthalten, als auch generell pluralische NPs ohne Quantifikativum. ‚Quantifizieren‘ orientiert sich damit an der funktionalen Bestimmung von Quantifikation in → A5, vgl. auch ‚QuantifikationFD‘ in → D.1.1.3.3. QNPs stehen für Vielheiten, die entweder aus Einzeldingen oder aus Stoffquanten bestehen. Auf QNPs des letzteren Typs gehen wir hier nur am Rande ein. Bestehen Vielheiten aus Einzeldingen, bezeichnen wir sie im Folgenden auch als Gruppen. So auch Link (1991) sowie Moltmann (2016), die ebenso wie wir den Terminus informell und weder im Sinne des mathematischen Gruppenbegriffs noch im Sinne speziellerer Gruppenbegriffe wie etwa Landman (1989) gebrauchen (vgl. Link 1998: 43, Fn. 42).  

QNPs werfen – eben weil sie für Vielheiten stehen – die Frage auf, ob und inwiefern sie als referentielle Ausdrücke behandelt werden können. In → A2.2 haben wir Referenz als die funktionale Domäne von NPs bestimmt und uns dabei an den prototypischen grammatischen Verwendungen, speziell an den syntaktischen Funktionen, die eine NP im Satz typischerweise eingehen kann, orientiert. Hierbei handelt es sich um die zentralen Komplementfunktionen wie die Subjekt- oder Objektfunktion, in denen das, was die NP bezeichnet, eine semantische Argumentstelle des verbalen Prädikats füllt. In diesen Funktionen können aber quantifizierende und nicht-quantifizierende NPs (NQNPs) gleichermaßen auftreten; es gibt keine systematischen Restriktionen, die eine QNP in einer dieser Funktionen ausschließen würde (vgl. auch Gil 2001). Eine weitere relevante Gemeinsamkeit zwischen QNPs und NQNPs besteht in der Pronominalisierbarkeit. Wie wir in → A2.3 gesehen haben, lassen QNPs in den meisten Fällen Pronominalisierung zu; unproblematische Fälle sind in jedem Fall QNPs wie in (10). (10)

Alle/Viele/Einige/Drei Gäste kamen zu spät. Sie hatten den Bus verpasst.

Der anvisierte Referenzbegriff muss daher so konzipiert werden, dass QNPs als referentielle Ausdrücke beschrieben werden können. Dennoch gehen wir nicht davon aus, dass alle referentiellen Nominale den gleichen Status haben. Vielmehr nehmen wir an, dass der Bereich der referentiellen Ausdrücke prototypisch strukturiert ist, setzen also entsprechend einen skalaren Begriff von Referentialität voraus. QNPs sind unter dieser Voraussetzung dem weniger prototypischen Bereich einer Referentialitätsskala zuzuordnen. Dafür sind mindestens die folgenden Gründe ausschlaggebend: (i) QNPs werden in der Regel nicht nur indefinit, sondern oft auch nichtspezifisch verwendet. Dieses Problem betrifft QNPs gleichermaßen wie indefinite NQNPs und wird in → A2.6.1.3 in Zusammenhang mit dem Problem der Nicht-Spezifizität behandelt. (ii) Indefinite QNPs, die einen Quantifikator enthalten, lassen sich nicht

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A Funktionale Domänen

unbedingt analog zu Plural-NPs behandeln, für die sich annehmen lässt, dass sie auf ein Pluralobjekt referieren. (iii) QNPs können „Variablen binden“, d. h. in einer semantischen Beziehung zu Pronomina stehen, die keine Koreferentialität ist und in dem das Pronomen nicht die Rolle eines referentiellen Ausdrucks spielt, vgl. (11).  

(11)

a. Jeder Mensch, der EU-Bürger ist, darf in Deutschland arbeiten. b. Kein Mann, der sich täglich rasiert, hat einen Bart.

In diesen Fällen ist die Bezugs-NP nicht koreferentiell mit dem Relativpronomen, sondern bindet dieses in der semantischen Struktur des Satzes (vgl. hierzu etwa Sternefeld 1993). Jedenfalls lizenzieren QNPs pronominale Ausdrücke, die zwar in einer relevanten semantischen Beziehung zu diesen stehen, aber selbst nicht als referentielle Ausdrücke analysiert werden können. In der formalsemantisch orientierten Forschung zur NP-Semantik lassen sich für die Behandlung von NQNPs und QNPs grob zwei Ansätze unterscheiden: Der eine setzt auf eine einheitliche Beschreibung beider Arten und analysiert sie als generalisierte Quantoren (→ A5.1). Selbst wenn man davon absieht, dass die Analyse für singuläre definite NPs schlicht kontraintuitiv ist, hat sie den Nachteil, den Begriff des quantifizierenden Ausdrucks so zu überdehnen, dass er relevante semantische Unterschiede zwischen prototypischen NPs, die für Einzeldinge stehen (Eigennamen, Kennzeichnungen) und solchen, die für Vielheiten stehen, nicht mehr erfassen kann. (So sind etwa definite NPs niemals Skopusträger, vgl. hierzu und zu weiteren Unterschieden Seuren 1985; Löbner 2013 u. a.) Der zweite Ansatz setzt dagegen auf eine Trennung zwischen Referenz und Quantifikation und entsprechend auf unterschiedliche Modellierungen des Bedeutungsbeitrags referentieller (i. e. nicht-quantifizierender) und quantifizierender NPs. Referentielle NPs werden semantisch als Individuenterme behandelt; für quantifizierende wird dagegen angenommen, dass sie wie die Quantoren einer geeigneten prädikatenlogischen Sprache fungieren, die zur Repräsentation von Bedeutungen natürlichsprachlicher Sätze herangezogen wird. Damit bleibt aber der funktionale Zusammenhang zwischen beiden NP-Arten (weitgehend) außen vor.  



Explizit fordert Dik (1997: 169), QNPs so zu analysieren, dass ihre semantische Repräsentation in Form und Funktion der des natürlichsprachlichen Ausdrucks analog ist: „[…] we need a theory of quantification which can do justice to the fact that quantifying expressions in natural languages typically pattern as term operators rather than as predicates, predication, or proposition operators.“ – Werden etwa Allquantifikationen nach dem in der Prädikatenlogik (1. Stufe) üblichen Verfahren analysiert, ist die Struktur der semantischen Repräsentation weitgehend von der des zu repräsentierenden Satzes dissoziiert und der quantifizierenden NP entspricht in der Repräsentation auch kein einzelner Ausdruck (vgl. „[∀x(mensch’(x) → sterblich’(x)]“ als Repräsentation des Satzes Alle Menschen sind sterblich). Quantitativ unbestimmte (vage) Quantifikativa wie viele, einige lassen sich zudem so nicht analysieren (Link 1998: 47, → A5): „The most important formal consequence of an adequate semantical treatment of vague quantifiers is the recognition that the quantifier and the noun it modifies have to be taken as a unit. This is why Barwise and Cooper (1981) call quantifier the whole quantified NP.“ (ebd.) Der Preis für eine Analyse von QNPs als

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A2 Referenz und Identifikation

generalisierte Quantoren besteht allerdings in einer Umkehrung der Prädikat-Argument-Beziehung: Die als generalisierter Quantor analysierte QNP figuriert als höherstufiges Prädikat, das die semantische Repräsentation der Verbalphrase als Argument nimmt (→ A5.1).

Wir werden in diesem Abschnitt keinen „dritten“ Ansatz vorschlagen, sondern versuchen, den semantischen Beitrag von QNPs zur Satzbedeutung so zu beschreiben, dass am Ende ein gemeinsamer funktionaler Kern von NQNPs und QNPs erkennbar wird. Soll im Zusammenhang mit QNPs von Referenz gesprochen werden, so ist zunächst zu klären, was man sich unter einer Referenz auf Vielheiten vorzustellen hat und wie die Bedingungen aussehen könnten, unter denen Referenz auf eine Vielheit als gelungen angesehen werden kann oder nicht. Das liegt u. a. daran, dass sich QNPs – anders als NQNPs – bezüglich des Parameters der quantitativen Bestimmtheit unterscheiden können (→ B.1.5.5.4.6, → D1.2.2.1); die Quantifikation kann quantitativ bestimmt oder unbestimmt sein. Quantitative Bestimmtheit/Unbestimmtheit ist nicht das gleiche wie Spezifizität/Nicht-Spezifizität. Um das zu sehen und um die Diskussion generell von dem Problem der nicht-spezifischen Referenz zu trennen, betrachten wir zunächst nur NPs in spezifischer Lesart. Den ersten und einfachsten Fall stellen NPs mit attributiven Kardinalnumeralia dar. Diese beziehen sich auf Vielheiten, die durch das Kardinalnumerale quantitativ bestimmt sind (vgl. (12)).  



(12)

a. Die drei Kinder kamen erst spät nach Hause. b. Drei Kinder standen vor der Tür.

In Beispielen dieser Art ist die Vorstellung von einer Referenz auf Vielheiten mehr oder weniger unproblematisch; die NP steht für eine bestimmte Anzahl von Objekten, die prinzipiell identifizierbar sind. Offen bleibt an dieser Stelle, ob (i) auf drei einzelne Individuen oder (ii) auf ein einzelnes, aus drei Individuen bestehendes Pluralobjekt (s. u.) referiert wird. Ebenfalls keine Rolle spielt momentan die Unterscheidung zwischen distributiver und kollektiver Satzprädikation (→ A5.4). Der zweite Fall ist durch Beispiele gegeben, in denen statt des Kardinalnumerales ein quantitativ unbestimmtes Quantifikativum realisiert wird (vgl. (13)).  

(13)

a. Viele Gäste kamen zu spät. b. Einige Gäste kamen zu spät.

Für solche NPs gibt es mindestens zwei Verwendungssituationen. In der einen könnte der Sprecher statt eines vagen Quantifikativums auch ein quantitativ bestimmtes verwenden: Er kennt zwar die genaue Anzahl, lässt sie aber im Vagen und könnte sie nachträglich zum Ausdruck bringen (vgl. (14)). Aus Sicht des Sprechers steht die NP für eine quantitativ bestimmte Vielheit, so dass man sie hier – analog zum o. g. ersten Fall – als referentiell charakterisieren kann.  

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(14)

A Funktionale Domänen

a. Viele Gäste kamen zu spät – nämlich A, B, C, … und K. b. Einige Gäste kamen zu spät – nämlich A, B, C, … und K. Bach (1994: 244) hat solche Verwendungsmöglichkeiten im Auge, wenn er davon spricht, dass jede QNP grundsätzlich auch referentiell gebraucht werden kann. Wichtig ist, dass genau an dieser Stelle der Schnitt zwischen referentiellen und nicht-referentiellen NPs gezogen wird: Nur quantifikative NPs, in denen der Sprecher die einzelnen Entitäten benennen könnte, gelten nach Bach als referentiell.

In der zweiten Verwendungssituation kennt der Sprecher die Anzahl der Gäste nicht und verwendet gerade deshalb ein vages Quantifikativum. Nach Maßgabe des in → A2.6.1.3 bestimmten Spezifizitätsbegriffs sind die QNPs dennoch spezifisch, denn die Identität dessen, wofür sie stehen, steht zum Sprechzeitpunkt „prinzipiell“ fest. (Beide Sätze drücken Ereignisse aus, die bereits eingetreten sind. Damit stehen die involvierten Partizipanten fest.) Da aber die Anzahl der (diskreten) Teile quantitativ unbestimmt ist, ist die Identität der Vielheit für den Sprecher nicht vollständig gegeben: Er kann die Vielheit, für die die QNP steht, nicht über ihre (diskreten) Teilgruppen identifizieren, sondern nur holistisch erfassen. Bezogen auf die Beispiele (14a, b) heißt das: Die jeweils zu spät gekommenen Gäste könnten ihm sogar in einer Wahrnehmungssituation begegnet sein, ohne dass er deren Zahl erfassen und sie im Einzelnen hätte identifizieren können. Anders als im ersten Fall (13a, b) sind die diskreten Teile der Vielheit dem Sprecher nicht (vollständig) bekannt (und nicht identifizierbar). Die Vielheit, holistisch betrachtet, ist ihm dagegen in beiden Fällen bekannt. Auch im zweiten Fall lassen sich die QNPs in dem Sinn als referentiell charakterisieren, dass sie für etwas stehen, worüber eine Aussage gemacht, i. e. etwas prädiziert wird. Das gilt gleichermaßen für die Vielheit als Ganzes wie für deren Teile: Bei distributiver Lesart, die in den angeführten Beispielen dominant ist, wird ja über die einzelnen Gäste (Teile) prädiziert. Im Unterschied zum ersten Fall ist jedoch nicht ohne Weiteres klar, wie man sich die fragliche Referenzbeziehung vorstellen soll, insbesondere nicht bei distributiver Lesart, die einen Zugriff auf die relevanten Teile der Vielheit voraussetzt. Wie hier zu verfahren ist, liegt nicht auf der Hand. In Betracht kommen (mindestens) zwei Ansätze für eine semantische Analyse von QNPs, die wir im Folgenden skizzieren.  



Vielheiten als Individuen Der erste Ansatz geht davon aus, dass QNPs für Pluralobjekte stehen. Pluralobjekte sind keine Mengen von Einzeldingen wie Menschen, Bäume oder Zahnbürsten, sondern aus solchen Einzeldingen „zusammengesetzt“. Formal werden sie als algebraische Strukturen (bestimmter Art) modelliert (zu den Einzelheiten → A5; allgemein Link 1983, 1991). Entscheidend ist, dass Pluralobjekte selbst Individuen und als solche damit auch potentielle Referenzobjekte sind. Um beide Subtypen von Individuen terminologisch zu unterscheiden, sprechen wir im Folgenden auch von Einzelobjekten (Einzeldingen) vs. Pluralobjekten (→ A5, → B.2.3).

A2 Referenz und Identifikation

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Für die Annahme von Pluralobjekten sind aus sprachwissenschaftlicher Sicht die folgenden Motive wichtig: – Die Extensionen von Singular- und Pluralformen eines Substantivs sind formal gleiche Entitäten, nämlich Mengen von Objekten. Bei den Singularformen handelt es sich um Einzelobjekte, bei den Pluralformen um Pluralobjekte, die aus den Elementen der Extension der entsprechenden Singularform zusammengesetzt sind (vgl. Landman 1991: 300). – Definite Singular- und Plural-NPs können einheitlich behandelt werden; der semantische Beitrag der definiten Artikel ist in beiden Fällen der gleiche (vgl. etwa Link 1998: 43).  



Für eine Definitheitstheorie wie die von Hawkins (1978, 1991) heißt das speziell, dass die Gebrauchsbedingung für NPs mit definitem Artikel einheitlich über den Begriff der Einzigkeit (uniqueness) gefasst und damit auf den zusätzlichen Begriff der Inklusivität (inclusiveness) verzichtet werden kann.

– QNPs mit individuativischem und kontinuativischem Kopfsubstantiv können semantisch weitgehend parallel analysiert werden. Pluralobjekte und Stoffe haben analoge semantisch-ontologische Eigenschaften, insbesondere die der Kumulativität (Link 1998: 37 f., 65, → A5, → B1.4.2): Fügt man zwei Pluralobjekte der gleichen Art zusammen, etwa zwei Quantitäten von Äpfeln, ergibt sich wiederum ein Pluralobjekt der gleichen Art, i. e. eine Quantität von Äpfeln. Fügt man zwei Stoffe der gleichen Art zusammen, etwa zwei Quantitäten von Wasser, ergibt sich wiederum ein Stoff der gleichen Art, i. e. eine Quantität von Wasser. Ebenso weisen NPs mit individuativischem und kontinuativischem Kopf parallele syntaktische Eigenschaften auf, indem sie z. B. ohne Determinativ realisiert werden können (→ D1.1.3.1.19). Dass eine einheitliche Behandlung geboten ist, zeigt sich ausdrucksseitig auch darin, dass in beiden Fällen das gleiche Quantifikativum involviert sein kann (vgl. (15), → A5), und dass es Verben gibt, die Pluralobjekte oder Stoffe, aber keine Einzelobjekte selegieren (vgl. (16), Link 1998: 49 f., → B 1.4.2).  











(15)

a. Viele Tomaten lagen auf dem Tisch. b. Viel Gemüse lag auf dem Tisch.

(16)

a. Die Gäste verteilten sich auf der Tanzfläche. b. Die Flüssigkeit verteilte sich auf dem Boden.

Mit der Annahme von Pluralobjekten besteht die Möglichkeit, nominale Quantifikation als eine Art von adnominaler Modifikation aufzufassen, bei der das Quantifikativum die Größe des jeweiligen Pluralobjekts bestimmt (→ A5). Damit ist der Weg frei, QNPs wie in (17a)–(17d) als referentielle Ausdrücke zu behandeln.

46

A Funktionale Domänen

Link (1998: 46, 70) schlägt eine Analyse von Quantifikation qua adnominaler Modifikation für Kardinalnumeralia vor: Diese fungieren demnach intersektiv und „schneiden“ aus der Extension der Pluralform diejenigen Objekte mit der entsprechenden Kardinalität heraus. – Dik (1997: Kap. 7.4) – unter Berufung auf Brown (1985) – behandelt alle Quantifikativa nach dem Modell der adnominalen Modifikation, allerdings im Rahmen der von ihm initiierten und maßgeblich entwickelten Theorie der Functional Grammar. Der Kerngedanke lässt sich informell so darstellen: Quantifikativa bestimmen die Größe von Mengen, für die (ggf. modifikativ erweiterte) Appellativa stehen. Die Größenbestimmung besteht formal in einer Teilmengenbildung. Diese operiert nicht auf der Extension U des betreffenden nominalen Ausdrucks, sondern auf einer bereits kontextuell angepassten Teilmenge D (D ⊆ U) davon. Die QNP steht dann wiederum für eine Teilmenge R dieser Teilmenge D (R ⊆ D ⊆ U; Dik 1997: 171–176). – Wichtig ist, dass Quantifikation und Modifikation auf formal gleichen Verfahren beruhen, nämlich der Teilmengenbildung. Was vage Quantifikativa wie viele, wenige angeht, so verweist Dik (ebd.: 172–173) auf die Ähnlichkeit zu relativen Adjektiven, da in beiden Fällen normative und ggf. weitere außersprachliche Faktoren in die „Berechnung“ einbezogen werden (vgl. wenige/große Ameisen vs. viele/kleine Elefanten). – Im gleichen theoretischen Rahmen behandelt Rijkhoff (2004: Kap. 5) Quantifikativa als quantifying modifiers, berücksichtigt aber ausschließlich Kardinalnumeralia und sieht unter Verweis auf eine ungenügende Datenbasis von der Diskussion anderer Quantifikativa ab (ebd.: 156), die er aber gleichermaßen als quantifizierende Modifikatoren auffasst (ebd.: 338 sowie Rijkhoff 2001: 18 f., 2014).  



(17)

a. b. c. d.

Drei Studenten trafen sich nach dem Seminar. Viele Studenten trafen sich nach dem Seminar. Einige Studenten trafen sich nach dem Seminar. Alle Studenten trafen sich nach dem Seminar.

In den Sätzen (17a–d) referiert die Subjekt-NP auf ein Pluralobjekt, das aus einzelnen, kontextuell gegebenen Studenten besteht. In (17a) besteht dieses aus drei, in (17b) aus vielen, in (17c) aus einigen und in (17d) aus allen Studenten. Die Größenangaben viele, einige und alle erfolgen relativ zum Kontext; hier greifen die üblichen, in der Quantorensemantik formulierten Bedingungen. Eine Unterscheidung zwischen distributiver und kollektiver Lesart ist nicht an die Referenz, sondern an die Prädikation geknüpft und spielt somit für die referentielle Bedeutung einer NP keine Rolle. In den Beispielen (17a)–(17d) ist die Bedeutung aufgrund der lexikalischen Bedeutung des verbalen Prädikats ausschließlich kollektiv, prädiziert wird also jeweils über das Pluralobjekt als Ganzes. Ist daneben eine distributive Lesart möglich wie in (18a) oder ausschließlich möglich wie in (18b), wird dagegen über die Einzelobjekte prädiziert, aus denen das Pluralobjekt besteht; dieses wird dann bei der Prädikation in seine atomaren Bestandteile „zerlegt“ (in diesem Sinne Link 1998: 52). D. h., mit der Prädikation ist eine (versteckte) Allquantifikation über eben diese Atome verknüpft (Moltmann 2016: 7).  

(18)

a. Drei Gäste brachten eine Dose Ölsardinen mit. b. Mehrere Gäste hatten die Grippe.

A2 Referenz und Identifikation

47

Entscheidend ist, dass durch die Referenz auf das Pluralobjekt auch dessen atomare Teile vollständig erfasst sind. Sie können somit bei distributiver Prädikation „mechanisch abgearbeitet werden“. Dass ihre Anzahl – wie etwa in (18b) – quantitativ unbestimmt sein kann, ist insofern unproblematisch, als mit der Prädikation eine Allquantifikation über die fraglichen Teile verknüpft ist. Wir gehen in diesem Abschnitt nicht auf sog. intermediäre Lesarten ein, in denen Vielheiten angesprochen sind, die Teile, aber keine atomaren Teile (Einzelobjekte) des Pluralobjekts sind, für das die QNP steht. Vgl. etwa den Satz Sechs Schüler trafen sich zum Rauchen außerhalb des Schulgeländes, der auch dann wahr ist, wenn sich jeweils eine Zweier- und eine Vierergruppe getroffen haben (Link 1998: 53 f., → A5.4).  

Dennoch ist nicht ausgemacht, dass sich alle Fälle nominaler Quantifikation nach dem Modell der adnominalen Modifikation beschreiben lassen. Wir beschränken uns hier nur auf das folgende Problem: Zu beachten ist, dass die Annahme von Pluralobjekten in der Semantik unabhängig von der hier diskutierten Frage ist, ob sich nominale Quantifikation als ein Fall von adnominaler Modifikation unter Rekurs auf Pluralobjekte fassen lässt. Selbst wenn diese Frage zu verneinen ist, bleiben die zentralen, in der Literatur zugunsten der Annahme formulierten Argumente davon unberührt.

In Sprachen wie Deutsch, Englisch, Französisch oder Polnisch wird eine prototypische Individuativ-NP als Singular kategorisiert, wenn sie für ein Einzelding steht, und als Plural, wenn sie für eine Vielheit steht (→ A5, → B2.3). Hier treten Pluralobjekte nur in den Extensionen von pluralischen Individuativa auf, nicht aber in denen von singularischen. Daher bringen QNPs Pluralobjekte nur dann ins Spiel, wenn sie ein pluralisches Kopfsubstantiv enthalten. Die nicht-kollektiven universalen Quantifikativa DEU jeder, ENG every, FRA chaque und POL każdy (→ A5) kombinieren aber nur mit singularischen Formen (vgl. (19)). (19) DEU ENG FRA POL

Jeder Gast brachte ein Geschenk mit. Every guest brought a present. Chaque invité apporta un cadeau. Każdy gość przyniósł prezent.

Soll eine QNP wie DEU jeder Gast, ENG every guest, FRA chaque invité, POL każdy gość auf ein Pluralobjekt referieren, muss dieses durch eine Zusatzannahme eingeführt werden. So ließe sich annehmen, dass die betreffenden Quantifikativa (i) die Bedeutung eines singularischen Appellativums in die des entsprechenden pluralischen Appellativums umwandeln und gleichzeitig (ii) eine distributive Prädikation erzwingen. Das Problem mit dieser Annahme bestünde in ihrem Ad-hoc-Charakter: Morphosyntaktisch ließe sie sich wegen des Singulars nicht unabhängig motivieren und

48

A Funktionale Domänen

semantisch insofern nicht, als es wegen der notwendigen Distributivität keine Prädikation über ein Pluralobjekt geben kann. Vielheiten als Vielheiten Ein zweiter, alternativer Ansatz könnte so aussehen: QNPs referieren nicht auf Pluralobjekte, sondern auf Einzelobjekte. QNPs, die durch universale Quantifikativa eingeleitet sind, referieren auf alle kontextuell relevanten Einzelobjekte, die in die Extension des (ggf. modifikativ erweiterten) Kopfsubstantivs fallen. Da auf alle Einzelobjekte referiert wird, tritt das o.g. Vagheitsproblem nicht auf, selbst wenn die Anzahl quantitativ unbestimmt ist. Der Sprecher muss ja lediglich eine gegebene Menge von Einzelobjekten „referentiell abarbeiten“. Das Vagheitsproblem kehrt aber bei anderen als universalen Quantifikativa zurück. Ein Kandidat dafür ist DEU (so) mancher / manch ein in Verbindung mit Singularformen wie in (20). (20)

Der Duft von verschiedenen Parfüms und Puder stand im Raum, untermischt mit einem Hauch von Mottenpulver, so als ob mancher Gast den besten Anzug aus der Winterlagerung zum erstenmal herausgeholt hätte. (books. google.de) Die QNP steht hier für eine quantitativ unbestimmte Vielheit, aber die Quantifikation ist nicht universell. Die Lesart einer singularischen mancher-QNP ist aber notwendigerweise distributiv – Mancher / Manch ein Gast wollte das Klavier nach oben tragen kann nicht kollektiv gelesen werden. Zu beachten ist weiter, dass es – unabhängig von irgendeiner speziellen Analyse von (so) mancher / manch ein – jedenfalls nicht ausgeschlossen ist, dass Quantifikativa dieses Typs in den Sprachen der Welt existieren. – Weitere Alternativen sind denkbar. Lieb (1980b, 1983, 1992) entwickelt in einer Reihe von Arbeiten eine Referenztheorie, in der QNPs grundsätzlich referentielle Ausdrücke sind. Unabhängig vom jeweiligen Quantifikativum referiert demnach jede (indefinite) QNP jeweils auf alle kontextuell relevanten Einzelobjekte, die unter das (ggf. modifikativ erweiterte) Kopfsubstantiv fallen. Damit referieren alle QNPs einheitlich. Die Quantifikation kommt erst auf der Ebene der Satzprädikation (oder: Proposition) zum Tragen: Der Quantifikator bindet hier eine Variable, die nur für Objekte aus dem qua Referenz ausgesonderten Bereich steht. Zu beachten ist, dass in diesem Ansatz die Objekte, auf die referiert wird, nicht (notwendigerweise) identisch sind mit denen, über die eine wahre Aussage gemacht werden soll: Werden die Sätze Wenige Hunde trugen kein Halsband sowie Viele Hunde trugen ein Halsband in der gleichen Situation verwendet, so referiert die Subjekt-QNP ja jeweils auf die gleiche Menge von Hunden. – Die Frage, wie distributive von kollektiven Lesarten zu unterscheiden sind, wird in den o. g. Arbeiten nicht diskutiert, vgl. aber hierzu Moltmann (1992: Kap. 3).  





Es spricht daher manches für die Annahme, dass Referenz auf Vielheiten als Vielheiten (i. e. nicht als Pluralobjekte, die ja logisch gesehen Individuen darstellen) möglich sein muss, d. h., dass Vielheiten via Referenz ins Spiel gebracht werden können und nicht ausschließlich durch distributive Prädikation über Pluralobjekte. Bezogen auf die o. g. Beispiele heißt das, dass der Sprecher mit einer jeder-QNP auf eine Vielheit von Entitäten referiert, und zwar auf jede Entität als Einzelne, wobei die Größe (der Umfang) der Vielheit dadurch bestimmt ist, dass alle Entitäten in den Blick genom 





A2 Referenz und Identifikation

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men werden. Das nicht-universale („existentielle“) Gegenstück solcher QNPs sind die vom Typ so manches N / manch ein N. Hier wird ebenfalls eine Vielheit anvisiert, die allerdings quantitativ unbestimmt ist. Referiert wird auf Exemplare einer vorgegebenen Bezugsmenge. Beide Fälle setzen die Möglichkeit sog. arbiträrer Referenz voraus. Für die Annahme arbiträrer Referenz wird in neueren Arbeiten zur Philosophie der Mathematik (Breckenridge/Magidor 2012; Boccuni 2015), aber auch der linguistischen Semantik (Moltmann 2016) argumentiert.

A2.6 Identifikation Wir sprechen entgegen der Tradition nicht von Determination (s. u.), sondern von Identifikation, weil wir unter Determination eine syntaktische Funktion verstehen (→ D1.1.3.3.3). Diese syntaktische Funktion ist mit einer semantischen Funktion der IdentifikationSF verknüpft, die ihrerseits in die funktionale Domäne der IdentifikationFD fällt. (Genaueres zum Verhältnis zwischen semantischen Funktionen und funktionalen Domänen in → D1.1.3.3.) Auch affixale Marker für Definitheit und Indefinitheit fallen in die funktionale Domäne der Identifikation, sind aber keine Determinatoren, da Determination per definitionem eine Beziehung zwischen syntaktischen Einheiten ist. Auch anderen syntaktischen Mitteln wie Wortstellung oder Satzintonation (einschließlich Satzakzent), für die in manchen, insbesondere artikellosen Sprachen eine Zuordnung zur Domäne der Identifikation erwogen werden könnte, entspricht keine syntaktische Funktion der Determination.  

Funktionale Domäne der Artikel ist die Identifikation nominaler Ausdrücke (→ A1.3). In der Literatur figuriert diese Domäne unter der Bezeichnung Determination (Seiler 1978, 1985: 199; Lehmann 2004: Kap. 8; Eroms 2000: 248; Zifonun 2001c: 178, 2002: 147, 2004c: 193). Wir fassen Determination als eine syntaktische Funktion auf, die in prototypischer Weise der semantischen Funktion der Identifikation zugeordnet ist und die funktionale Domäne der Identifikation realisiert. In den Arbeiten von Seiler (vgl. Seiler 1996, 1997, 2000: Kap. 5) ist „Identifikation“ der Oberbegriff für die durch Determinative, Attribute und substantivische Köpfe geleistete semantische Bestimmung eines Referenzobjekts. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass zwischen Determination (im traditionellen Sinn) und Attribution ein fließender Übergang herrscht und der Gesamtbereich als Kontinuum gedacht ist (ähnlich auch Rijkhoff 2008).

Im Unterschied zur Modifikation führt Identifikation nicht zu einer begrifflichen Veränderung des nominalen Ausdrucks. Die begriffliche Bedeutung eines nominalen Ausdrucks legt dessen Extension fest und beschränkt damit sein Referenzpotential dahingehend, dass potentielle Referenzobjekte in der Extension des Ausdrucks liegen müssen. Durch Identifikation wird dieses Referenzpotential weiter auf einen oder mehrere Gegenstände der Extension beschränkt, und zwar nach Maßgabe der Art und des Grades ihrer Identifizierbarkeit in der jeweiligen Sprechsituation für den Sprecher und den Hörer. Sind die fraglichen Gegenstände für den Hörer in der Sprechsituation identifizierbar, so liegt definite Identifikation vor. Der so abgesteckte Bereich

50

A Funktionale Domänen

der definiten Identifikation (Definitheit) umfasst als spezielle Fälle die deiktische und phorische Identifikation, in denen die potentiellen Referenzobjekte für den Hörer im unmittelbaren Wahrnehmungs- bzw. Diskurskontext gegeben sein müssen. Von dieser Beschränkung ausgenommen ist der sog. „anamnestische“ („recognitional“) Gebrauch der Demonstrativa (→ B1.2.2.7.1).

Deiktische und phorische Identifikation wird in den meisten Sprachen durch Demonstrativa gekennzeichnet, wobei die beiden Funktionen in der Regel formal nicht differenziert werden, d. h., der gleiche Ausdruck kann sowohl deiktisch als auch phorisch verwendet werden. In Artikelsprachen ist deiktische und phorische Identifikation auch mithilfe des definiten Artikels möglich. Zwischen dem Anwendungsbereich des definiten Artikels und dem des adnominalen Demonstrativums gibt es somit einen Überschneidungsbereich. Auf deiktische und phorische Identifikation gehen wir in diesem Kapitel nicht ein, sondern verweisen dazu auf → B1.2 und die dort angeführten Beispiele. Indefinitheit kann zunächst ex negativo als Abwesenheit von Definitheit bestimmt werden und zwar in dem Sinne, dass der Sprecher bei der Verwendung eines indefiniten Nominals nicht von der Annahme ausgeht, dass das Referenzobjekt für den Hörer in der Sprechsituation identifizierbar ist. Damit ergibt sich aber auch ein Spielraum, unterschiedliche referentielle Intentionen des Sprechers mit Blick auf die epistemische und ontologische Gegebenheitsweise des Referenzobjektes zum Ausdruck zu bringen: Der Sprecher kann das Referenzobjekt selbst kennen oder nicht, dieses kann zum Sprechzeitpunkt existieren oder nicht etc. Solche semantischpragmatischen Differenzierungen im Bereich der Indefinitheit werden vor allem mithilfe unterschiedlicher adnominaler Indefinita realisiert und sind Gegenstand von → B1.5.5.3.1. Auch Adjektive wie DEU bestimmt, beliebig, ENG certain, arbitrary können modifikativ zu solchen Differenzierungen herangezogen werden. Wir beschränken uns in diesem einführenden Kapitel ausschließlich auf Nominalphrasen, die entweder artikellos oder durch grammatikalisierte Identifikatoren gekennzeichnet sind.  



A2.6.1 Referentielle Modi A2.6.1.1 Definitheit Die Diskussion zum Definitheitsbegriff hat eine lange Tradition in der philosophischen und linguistischen Semantik. Ziel ist es dabei, die prätheoretische Intuition, der zufolge ein Sprecher mithilfe einer definiten Nominalphrase (oder auch verkürzt ausgedrückt: mit dem definiten Artikel) einen „bestimmten“ Gegenstand meint, zu explizieren. Zu fragen ist also, ob und wie sich die Redeweise von Bestimmtheit auf andere, grundlegendere Begriffe zurückführen lässt.

A2 Referenz und Identifikation

51

Dass der Begriff der Bestimmtheit nicht ausreicht, definite von indefiniten Nominalphrasen referenzsemantisch abzugrenzen, zeigt ein Vergleich der Sätze in (21). (21)

a. Sie sägt gerade den Ast ab. b. Sie sägt gerade einen Ast ab.

In (21a) ist zweifellos von einem bestimmten Ast die Rede, der gerade abgesägt wird, aber das gilt gleichermaßen für (21b). Und wie (22) verdeutlicht, lassen sich Adjektive mit der Bedeutung ‚bestimmt‘ problemlos in indefiniten Nominalphrasen verwenden. (22)

Sie sägt gerade einen bestimmten Ast ab.

Unter den zahlreichen theoretischen Ansätzen, die vorgeschlagen wurden, um den Definitheitsbegriff zu erklären, lassen sich grob zwei Hauptlinien unterscheiden, die wir im Anschluss an die einschlägige Literatur als die Bekanntheitstheorie (familiarity theory) und die Einzigkeitstheorie (uniqueness theory) bezeichnen. Vertreter der jeweiligen Theorien versuchen, Definitheit wesentlich unter Rekurs auf den Begriff der Bekanntheit bzw. den der Einzigkeit zu bestimmen. Dabei ist zu beachten, dass sich unter den konkreten Vorschlägen kaum einer findet, der eine „Reinform“ der betreffenden Theorie darstellen würde. D. h., zumeist wird auf Zusatzbegriffe rekurriert, die unter Umständen auch der jeweiligen Konkurrenztheorie angehören können. Dennoch ist es methodisch sinnvoll, beide Hauptlinien zu unterscheiden, da die zentralen Begriffe ‚Bekanntheit‘ bzw. ‚Einzigkeit‘ sich nicht voneinander ableiten lassen. Wenn wir im Folgenden exemplarisch einzelne Ansätze vorstellen, geht es nicht darum, eine Typologie von Definitheitstheorien zu entwerfen. Vielmehr soll lediglich ein tragfähiger Definitheitsbegriff für einen funktional-typologischen Ansatz, wie wir ihn in diesem Handbuch zugrunde legen, umrissen werden.  

Zur Übersicht vgl. hierzu (und auch für das Folgende) vor allem Lyons (1999). Statt von uniqueness spricht Hawkins (1978: 17) auch von inclusiveness, um damit gleichzeitig definiten Summativ-NPs Rechnung zu tragen. Hawkins (1991) verwendet dagegen uniqueness gleichermaßen für Summativ- wie für Nicht-Summativ-NPs.

Als Initiatoren der beiden Theoriestränge gelten einerseits Christophersen (1939) für die Bekanntheitstheorie und andererseits Russell (1905, 1918: Kap. 6) für die Einzigkeitstheorie. Die Idee, dass Definitheit etwas mit der Bekanntheit des Referenten (für den Hörer) zu tun hat, findet sich aber schon früher. Exemplarisch sei hier die Bestimmung in Blatz (1896: 161) angeführt: Der bestimmte Artikel d e r , d i e , d a s , ist das an Bedeutung und Betonung abgeschwächte Pronomen Demonstrativum und bezeichnet im Singularis einen Gegenstand als einen b e s t i m m t e n o d e r b e r e i t s b e k a n n t e n , im Pluralis mehrere Gegenstände derselben Gattung als b e s t i m m t e o d e r b e k a n n t e .

52

A Funktionale Domänen

Bemerkenswert ist dieser Vorschlag insofern, als Blatz sich nicht auf den Bekanntheitsbegriff beschränkt, sondern als weiteres, und zwar alternatives Explikandum ‚Bestimmtheit‘ anführt. Mit Blick auf die o. g. Beispiele (21b) sowie (22) bleibt damit das Problem bestehen. Konsequenter wäre es, auf Bestimmtheit im Explikandum zu verzichten und stattdessen zu versuchen, die Bestimmtheit des fraglichen Referenzobjekts als aus dessen Bekanntheit ableitbar zu erklären. In diesem Sinne lässt sich der klassische Erklärungsversuch von Christophersen (1939: 72) verstehen.  

The article the brings it about that to the potential meaning (the idea) of the word is attached a certain association with previously acquired knowledge, by which it can be inferred [Hervorhebung L. G.] that only one definite individual is meant. This is what is understood by familiarity.  

Dass Bekanntheit aber nicht hinreichend für Bestimmtheit sein kann, zeigen die Beispiele in (23), die auf ein Argument von Wolfgang Klein zurückgehen (vgl. Klein 2006). (23)

a. Ein Junge und ein Mädchen betraten das Lokal. Der Junge weinte. b. Zwei Jungen und ein Mädchen betraten das Lokal. %Der Junge weinte.

In (23a) werden im ersten Satz ein Junge und ein Mädchen in das Diskursuniversum eingeführt. Auf den Jungen kann im Anschluss mit der definiten Nominalphrase der Junge referiert werden. Jeder Hörer kann die Nominalphrase so verstehen, dass es sich um den Jungen handelt, der zuvor das Lokal betreten hat. In (23b) werden zwei Jungen und ein Mädchen in das Diskursuniversum eingeführt. Aber hier kann der Hörer aufgrund des situativen Kontexts und der als definit gekennzeichneten Nominalphrase nicht verstehen, um welchen der beiden Jungen es sich handelt. Die definite Referenz schlägt somit fehl. Das kann nicht auf einem Unterschied bezüglich der Bekanntheit der beiden Situationen und der darin auftretenden Personen beruhen. Der Unterschied besteht vielmehr darin, dass im ersten Fall nur von einem Jungen die Rede ist und dieses Faktum ist offenbar kriterial dafür, dass – wie es im obigen Zitat heißt, „it can be inferred that only one definite individual is meant“. Der Begriff der Bekanntheit, will man ihn weiterhin zur Explikation des Definitheitsbegriffs heranziehen, muss also zumindest genauer spezifiziert bzw. ergänzt werden. Damit sind wir bei der Einzigkeitstheorie. Diese ist im Laufe der Auseinandersetzung mit dem Definitheitsbegriff vielfach elaboriert worden. Die ursprünglichen Fassungen von Russell (1905, 1918: Kap. 6) und Strawson (1950, 1959) im Anschluss an Russell sind in so gut wie allen einschlägigen Einführungen in die philosophische und linguistische Semantik beschrieben worden (vgl. z. B. Lyons 1999). Die Grundidee lässt sich wiederum anhand der Beispiele in (23) skizzieren. Der zweite Satz aus (23a)= (23aii)  

(23aii)

Der Junge weinte.

A2 Referenz und Identifikation

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besagt nach dem üblichen Verständnis der russellschen Theorie, dass ein Junge existiert, dieser Junge weinte und dass darüber hinaus kein anderer Junge weinte, d. h. der fragliche Junge der einzige Junge war, der weinte. Strawsons Kritik an Russell betrifft im Wesentlichen den Punkt, dass mit (23aii) die Existenz eines Jungen nicht behauptet, sondern durch die NP präsupponiert wird. Wir klammern vorerst die Frage aus, ob und inwiefern mit der NP eine Bedeutungskomponente ins Spiel gebracht wird, die etwas mit der Existenz dessen zu tun hat, wofür die NP steht. Das ist schon deshalb sinnvoll, weil diese Bedeutungskomponente in der Regel auch einer indefiniten NP wie Ein Junge weinte zugeschrieben wird (vgl. z. B. Hawkins 1991: 407) und daher für die Frage der Unterscheidung zwischen Definitheit und Indefinitheit keine Rolle spielt. Relevant ist dagegen, wie es zu verstehen ist, dass es sich um den „einzigen Jungen“ handeln soll. Offensichtlich muss Einzigkeit auf einen bestimmten Kontext relativiert werden. Solche Kontexte werden etwa durch die jeweils ersten Sätze in (23a) und (23b) etabliert; und wie wir bereits gesehen haben, ist die Einzigkeitsbedingung nur in (23a) erfüllt. Eine Definitheitstheorie, die an dem Grundgedanken der Einzigkeitsbedingung festhält, gleichzeitig aber wesentlich den relevanten Kontext ins Spiel bringt, auf den die Bedingung relativiert wird, ist in verschiedenen Arbeiten von Hawkins, insbesondere Hawkins (1978, 1991) ausgearbeitet worden. Wir beziehen uns hier ausschließlich auf die Fassung in Hawkins (1991). Hawkins spricht in diesem Zusammenhang von sog. P-Mengen und meint damit pragmatisch zugängliche, d. h. in der Sprechsituation gegebene Mengen von Gegenständen. Der Bedeutungsbeitrag des definiten Artikels wird dann von Hawkins (1991: 414) wie folgt expliziert:  





The: conventional implicature: P-membership The conventionally implicates that there is some subset of entities, {P}, in the universe of discourse which is mutually manifest to S[peaker] & H[earer] on-line within which definite referents exist and are unique.

Wichtig ist zum einen, dass die relevante P-Menge auf unterschiedliche Weise etabliert werden kann, durch den sprachlichen wie durch den außersprachlichen Kontext und in Abhängigkeit von den Annahmen des Sprechers über den Wissensstand des Hörers. Dadurch und durch die Forderung, dass die P-Menge für Sprecher und Hörer in der Äußerungssituation „mutually manifest“ sein muss, wird in gewisser Weise dem zentralen Gedanken der Bekanntheitstheorie Rechnung getragen, die ja wesentlich den Wissensstand des Hörers als Bedingung ins Spiel bringt.

54

A Funktionale Domänen

A2.6.1.2 Indefinitheit Indefinitheit ist in der linguistischen Literatur am ausführlichsten im Zusammenhang mit der Bedeutung von Indefinitpronomina untersucht worden, die ja z. T. auch als Determinative auftreten (→ B1.5.5). Verglichen mit der Forschung zur Semantik definiter Artikel (und zu Definitheit im Allgemeinen) liegen nur wenige Vorschläge zur Bedeutung des indefiniten Artikels vor, die darüber hinausgehen, die Bedeutung des indefiniten Artikels als Negation der Bedeutung des definiten Artikels oder schlicht als Abwesenheit jedweder Definitheitsbedeutung zu erklären. Was die letztgenannte Strategie angeht, so ist diese auf den ersten Blick insofern nicht von der Hand zu weisen, als – wie in → B1.3 ausgeführt – die meisten Sprachen, die überhaupt über Artikel verfügen, ausschließlich definite Artikel besitzen. Und auch in Sprachen, in denen sich beide Artikelarten finden, sind diese nicht komplementär verteilt, da für die meisten Sprachen – mit wenigen Ausnahmen wie etwa dem Französischen – für Summativ-Nominale keine indefiniten Artikel existieren (vgl. (24a) vs. (24b, c)).  

(24)

a. An der Decke war ein Wasserfleck. b. An der Decke waren Wasserflecken. c. Im Keller war Wasser.

Die Subjekt-NPs in den Beispielen (24b, c) sind im Deutschen ohne Zweifel indefinit, ohne dass sie durch ein Determinativ gekennzeichnet wären. Analog ließe sich nun mit Blick auf die indefinite Subjekt-NP in (24a) argumentieren, dass der indefinite Artikel hier überhaupt keine Bedeutung habe, sondern etwa rein syntaktisch bedingt sei (wie auch immer man letzteres im Einzelnen begründen würde). Ein weiteres Argument, das in die gleiche Richtung zielt, lässt sich aufgrund der Präsenz von indefiniten Artikeln bei Prädikativkonstruktionen (bei Prädikatsnomina) gewinnen. Da Prädikative keine referentiellen Ausdrücke sind, können indefinite Artikel auch keinen Beitrag zur referentiellen Bedeutung des Nominals leisten, d. h., Indefinitheit kann hier nicht die Rolle eines referentiellen Modus spielen. Eine elaboriertere Auseinandersetzung mit dem Konzept der Indefinitheit findet sich wiederum in Hawkins (1991), die wir im Folgenden skizzieren.  

Hawkins beschränkt seine Ausführungen ausschließlich auf indefinite Artikel mit spezifischer Bedeutung.

Hawkins schreibt dem indefiniten Artikel zwei Bedeutungskomponenten zu – die allerdings auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind. In semantischer Hinsicht bestehe der Bedeutungsbeitrag des indefiniten Artikels in einer Existenzpräsupposition. Wir hatten bereits oben im Zusammenhang mit dem Definitheitsbegriff die Frage aufgeworfen, inwiefern eine Existenzpräsupposition eine durch den Artikel induzierte und auf dessen lexikalischer Bedeutung beruhende Bedeutungskomponente einer

A2 Referenz und Identifikation

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(definiten oder indefiniten) NP sei. Das aus unserer Sicht wesentliche Problem mit dieser Auffassung besteht darin, dass die fraglichen Existenzpräsuppositionen auch für referentielle NPs in artikellosen Sprachen gelten. Und auch in Artikelsprachen wie dem Deutschen gibt es, wie wir gerade gesehen haben, mit den Summativ-NPs artikellose NPs, für die in referentieller Verwendung eine Existenzpräsupposition angenommen werden muss. Wir nehmen daher an, dass die Existenzpräsupposition nichts mit Definitheit oder Indefinitheit zu tun hat, sondern letztlich an die referentielle Verwendung der Nominalphrase geknüpft ist. Mit anderen Worten: Sofern eine NP referentiell verwendet wird, präsupponiert sie die Existenz ihres Referenten. Das trägt im Übrigen auch dem Umstand Rechnung, dass definite und indefinite Artikel auch in prädikativen NPs auftreten. Wichtiger ist die zweite von Hawkins angenommene „Bedeutungskomponente“, die durch den Gebrauch eines indefiniten Artikels induziert wird. Diese zeigt sich darin, dass der indefinite Artikel in bestimmten Kontexten gewissermaßen das Gegenteil des definiten Artikels bedeuten kann, indem er statt Einzigkeit Nicht-Einzigkeit ausdrückt. Anders als beim definiten Artikel, bei dem ‚Einzigkeit‘ nach Hawkins Teil der lexikalischen Bedeutung ist, wird die Nicht-Einzigkeitsbedeutung des indefiniten Artikels durch eine konversationelle Implikatur induziert und beruht damit auf den griceschen Konversationsmaximen. Das relevante, die Implikatur auslösende Räsonnement ist demnach wie folgt: Wäre Einzigkeit erfüllt, würde der Sprecher den definiten Artikel verwenden, da er aber dies nicht tut, kann ceteris paribus von NichtEinzigkeit ausgegangen werden. Betrachten wir dazu die folgenden Beispiele: (25)

a. Paul hat im Krieg ein Bein verloren. b. Paul hat im Krieg eine Nase verloren.

Da der Mensch nur eine Nase hat, ist (25b) pragmatisch abweichend: Der Sprecher müsste eigentlich den definiten Artikel verwenden; da er aber den indefiniten gebraucht, wird die Implikatur ausgelöst, dass mehrere Nasen im Spiel sind.

A2.6.1.3 Spezifizität und Nicht-Spezifizität Für indefinite Nominalphrasen – und manchmal auch für definite – wird mit Blick auf ihre identifikatorische Leistung (im Sinne der betreffenden funktionalen Domäne) eine Unterscheidung zwischen spezifischen und nicht-spezifischen Nominalphrasen getroffen. Wir betrachten zunächst die indefiniten Nominalphrasen. Indefinite Nominalphrasen Spezifische und nicht-spezifische indefinite Nominalphrasen unterscheiden sich zunächst pragmatisch aufgrund der unterschiedlichen referentiellen Intentionen des Sprechers. Ein Sprecher verwendet eine indefinite Nominalphrase spezifisch, wenn er

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A Funktionale Domänen

annimmt, dass deren Referenzobjekt prinzipiell identifizierbar ist (→ B1.5.5.3.1). Umgekehrt ist bei nicht-spezifischen indefiniten NPs die Identität des Referenzobjekts zum Sprechzeitpunkt nicht gegeben. In (26) finden sich Beispiele aus den Vergleichssprachen für spezifische, in (27) für nicht-spezifische indefinite Nominale.  

(26) DEU FRA ENG POL UNG

Anna hat schon einmal einen berühmten Schauspieler getroffen. Anna a déjà rencontré un acteur célèbre. Anna once met a famous actor. Anna już raz spotkała (takiego) sławnego aktora. Anna egyszer már találkozott egy híres színésszel.

(27) DEU ENG FRA POL UNG

Anna möchte einmal einen berühmten Schauspieler treffen. Anna would like to meet a famous actor sometime. Anna aimerait bien un jour rencontrer un acteur célèbre. Anna chciałaby spotkać (jakiegoś) sławnego aktora. Anna szeretne egy híres színésszel találkozni.

Spezifisch-indefinite NPs lassen sich problemlos durch Personalpronomina wiederaufnehmen und sind damit nach Maßgabe dieses Tests als referentielle Ausdrücke ausgewiesen (vgl. (28)). (28)

Anna will morgen in ein italienisches Restaurant gehen. Es ist ihr Lieblingsrestaurant.

Nicht-spezifisch-indefinite Nominalphrasen sind ebenfalls pronominalisierbar; allerdings muss hier ein modaler Kontext geschaffen werden. (29)

Anna will morgen in ein italienisches Restaurant gehen. Sie weiß aber noch nicht, in welches. Es sollte aber nicht zu teuer sein.

Eine der umstrittensten Fragen der Referenzsemantik ist, ob und inwiefern eine nichtspezifische indefinite NP – trotz Pronominalisierbarkeit – als referentieller Ausdruck gelten kann. Karttunen (1976) spricht in diesem Zusammenhang davon, dass nichtspezifische indefinite Nominalphrasen die Existenz eines Diskursreferenten etablieren. Ist dies erst einmal geschehen, kann die NP – wie (29) zeigt – „koreferentielle“ Beziehungen mit Personalpronomina in darauffolgenden Sätzen eingehen. Da es sich um eine „koreferentielle“ Beziehung handelt – so lässt sich argumentieren –, muss die Bezugs-NP trivialerweise ein referentieller Ausdruck sein. Allerdings ist die Referentialität der Bezugs-NP in diesem Fall allenfalls „schwach“. Der relevante Unterschied zwischen den indefiniten NPs in (28) und (29) zeigt sich, wenn man annimmt,

A2 Referenz und Identifikation

57

dass der Satz, in dem sie vorkommen, falsch ist. Für (28) ist davon auszugehen, dass die Identität des Restaurants zum Sprechzeitpunkt feststeht. Wenn sich (28) als falsch herausstellt, weil sich der Sprecher in Bezug auf Annas Pläne geirrt hat, dann hat er mit der indefiniten NP dennoch auf etwas referiert, nämlich Annas Lieblingsrestaurant. Das ist anders in (29). Wenn man zunächst davon ausgeht, dass (29) wahr ist und fragt, worauf mit der indefiniten NP referiert wird, dann ergibt sich als einzig mögliche Antwort: „das Restaurant, in das Anna morgen gehen will“. Die Identität des Diskursreferenten wird also durch eine Kennzeichnung festgelegt, in die die Satzprädikation als wesentlicher, identitätskonstituierender Bestandteil eingeht. Nimmt man dagegen an, dass (29) falsch ist und fragt wiederum, worauf mit der indefiniten NP referiert wurde, dann kann die Antwort nicht sein: „das Restaurant, in das Anna morgen gehen will“. Es lässt sich aber auch keine andere Kennzeichnung als Antwort angeben. Daraus würde folgen, dass die Referentialität einer nicht-spezifischen indefiniten NP von der Wahrheit des Satzes abhängt, in der sie vorkommt. Dass in diesem Fall keine Referenz vorliegt, wird nachdrücklich von Geach (1970: ix) hervorgehoben (vgl. auch Ben-Yami 2004: 52): A principle that I have repeatedly used to eliminate false theories of reference is the principle that the reference of an expression E must be specifiable in some way that does not involve first determining whether the proposition in which E occurs is true. The first explicit statement of this principle that I have found is in Buridan’s Sophismata (c.vi, sophisma v); the principle might suitably be called Burdidan’s Law. (Geach 1970: xi)

Nicht-spezifische indefinite Nominalphrasen stellen für alle grammatischen Theorien ein Dilemma dar, die für Nominalphrasen, wie sie in kanonischen syntaktischen Funktionen, nämlich als Subjekte oder Objekte, auftreten können, eine einheitliche funktionale Domäne ansetzen wollen. Entweder man gibt dieses Desiderat auf und opfert damit an dieser Stelle das Prinzip des Form-Funktions-Zusammenhangs oder man betrachtet die nicht-spezifischen indefiniten NPs als Grenzfall referentieller Ausdrücke und schwächt damit die in semantischen Theorien etablierten Prinzipien für Referentialität. Da wir grundsätzlich einen skalaren Referenzbegriff annehmen, entscheiden wir uns für das zweite Horn des Dilemmas: Nicht-spezifische indefinite Nominalphrasen sind insofern referentiell, als sie pronominalisierbar sind und damit einen Diskursreferenten etablieren. Definite Nominalphrasen Für definite Nominalphrasen wird im Anschluss an Donnellans Unterscheidung zwischen einer referentiellen und einer attributiven Verwendung von definiten Nominalphrasen (vgl. Donnellan 1966) eine Unterscheidung getroffen, die in gewisser Hinsicht der Spezifizitätsunterscheidung bei indefiniten Nominalphrasen analog ist. Gelegentlich wird auch terminologisch so verfahren, dass zwischen spezifischen („referentiellen“) und nicht-spezifischen („attributiven“) definiten Nominalphrasen unterschieden wird. Beispiele für spezifisch-definite Nominalphrasen – das sind die

58

A Funktionale Domänen

kanonischen Fälle – sind für die Vergleichssprachen in (30) angeführt, solche für nicht-spezifisch-definite finden sich in (31). (30) DEU ENG FRA POL UNG

(31) DEU ENG FRA POL UNG

Anna glaubt, dass ihr Vater in Hollywood den Hauptdarsteller von „Vom Winde verweht“ getroffen hat. Anna believes that her father met the leading man of “Gone with the wind” in Hollywood. Anna pense que son père a rencontré à Hollywood l’acteur principal de «Autant en emporte le vent» à Hollywood. Anna sądzi/myśli, że jej ojciec spotkał w Hollywood odtwórcę głównej roli w „Przeminęło z wiatrem“. Anna azt gondolja, hogy az apja találkozott Hollywoodban az „Elfújta a szél“ főszereplőjével.

Der Inhaber des Wagens mit dem Kennzeichen XYZ wird gebeten, sich bei der Polizei zu melden. The owner of the vehicle with the license plate XYZ is asked to report to the police. Le propriétaire de la voiture immatriculée XYZ est prié de contacter la police. Właściciel samochodu z rejestracją XYZ jest proszony o stawienie się na policji. A XYZ rendszámú gépkocsi tulajdonosát arra kérik, hogy jelentkezzen a rendőrségnél.

Die Beispiele in (30) sind die kanonischen Fälle definiter NPs und problemlos pronominalisierbar. Für die Beispiele in (31) müssen die Folgesätze entsprechend modalisiert sein; aber auch hier sind die NPs pronominalisierbar. Anders als im Fall der indefiniten NPs ist die Referenz hier auch bei den sog. „nicht-spezifischen definiten NPs“ unabhängig von der Wahrheit des Satzes. Die Besonderheit der fraglichen Nominalphrasen besteht lediglich darin, dass das anvisierte Referenzobjekt nur unter der durch die Nominalphrase ausgedrückten Beschreibung identifizierbar ist.

A2.6.2 Ausdrucksformen der Identifikation Der Artikel teilt die funktionale Domäne der Identifikation mit einer Reihe anderer Determinatoren: Zum einen mit Demonstrativa und Indefinita, die sprachübergreifend als Exponenten von (In-)Definitheit in der Nominalphrase fungieren, zum ande-

A2 Referenz und Identifikation

59

ren mit Possessiva und (pränominalen) possessiven Attributen, die aber nicht in allen Sprachen Definitheit oder Indefinitheit signalisieren. Eine funktionale Domäne, die ein Ausdruck in einer seiner syntaktischen Funktionen sprachübergreifend belegt, bezeichnen wir als zentral. Periphere funktionale Domänen sind dagegen potentiell einzelsprachspezifisch. Die Frage, welche peripheren funktionalen Domänen ein Ausdruck abdecken kann, ist damit ein möglicher Varianzparameter. Identifikation ist in diesem Sinn die zentrale funktionale Domäne von Artikeln sowie adnominalen Demonstrativa und Indefinita. Alle anderen Adnominale fungieren dagegen nicht oder nur peripher identifizierend. Innerhalb der Nominalphrase sind Possessiva sowie Possessivattribute zentral modifizierend, in Sprachen wie dem Deutschen auch peripher identifizierend. Einen Überblick über zentrale und potentiell periphere funktionale Domänen adnominaler Ausdrücke gibt Tabelle 1. (Zentrale Funktionen sind mit ‚+‘ gekennzeichnet, periphere mit ‚±‘.)  

Tab. 1: Zentrale und periphere funktionale Domänen adnominaler Einheiten Identifikation

Modifikation

Artikel

+



Demonstrativum

+



Indefinitum

+



Possessivum

±

+

Genitivattribut

±

+

Adjektiv(phrase)



+

Relativsatz



+

Die (In-)Definitheit eines Nominals kann durch syntaktische oder morphologische Ausdrucksmittel gekennzeichnet werden. Syntaktische Mittel kommen (primär) in artikellosen Sprachen zur Anwendung. Dazu gehören vor allem die Wortstellung (zum Russischen vgl. Birkenmaier 1979; Gladrow 1979; zum Polnischen vgl. Sadziński 1995–1996; Mendoza 2004) sowie Satz- bzw. Phrasenakzente, die im Ossetischen (Indoiranisch, Krámský 1972: 186) und Tongaischen (Austronesisch, Broschart 1997: 132) als Definitheitsmarker eingesetzt werden. Für die artikellosen slawischen Sprachen Russisch und Polnisch wird die Korrelation zwischen der informationsstrukturellen Gliederung in einen thematischen und einen rhematischen Teil der Äußerung (bzw. in topic und comment) und der Definitheit/Indefinitheit von NPs herausgestellt. So können nach Sadziński (1995–1996: 83) bereits bekannte, thematische und damit definite NPs unmarkiert vor dem finiten Verb (in dem im Polnischen auch mehrere Konstituenten umfassenden „Vorfeld“) erscheinen wie in (32b) als Übersetzung von (32a).

60

A Funktionale Domänen

(32) a. Der Vater hat schon das Auto verkauft. POL b. Ojciec już samochód sprzedał. verkauf.PRT . 3SG . M Vater schon Auto.AKK Aber auch die Positionierung einer thematischen, definiten NP im nach dem finiten Verb befindlichen „Hauptfeld“ sei unmarkiert möglich. Im Hauptfeld allerdings erscheinen auch rhematisch-indefinite NPs. So heißt es bei Birkenmaier (1979: 50, Fn. 26):  

The sentence ,The door opened and a young man came in‘ would have the following Polish equivalent: ,Drzwi otworzyły się i wszedł (młody) człowiek‘. If we make ,a young man‘ definite, i. e. ,the young man‘ as in ,the door opened and the young man came in‘ the appropriate Polish equivalent will be rather: ,Drzwi otworzyły się i młody człowiek wszedł‘.  

Ein weiteres syntaktisches Mittel, das sich in Nicht-Artikelsprachen ebenso wie in Artikelsprachen findet, stellen spezielle syntaktische Konstruktionen mit identifizierender Funktion dar. Ein Beispiel sind die pränominalen Genitivattribute in Sprachen wie Deutsch, Englisch oder Schwedisch. Hier hängt die Definitheit der gesamten Nominalphrase weder von der des Attributs noch von der des eingebetteten Nominals ab, sondern wird syntaktisch (konstruktionell) kodiert (vgl. Zifonun 2005a: 87, → D3.7, → D3.9; speziell zum Englischen Woisetschlaeger 1983). Zu beachten ist, dass Genitivattribute nur in einer ihrer beiden möglichen Positionen identifizierend sind; in den europäischen Sprachen ist das in der Regel die pränominale Position. Die Korrelation von identifizierender Funktion und Position findet sich darüber hinaus – wenn auch nicht sprachübergreifend – bei den Possessiva (vgl. dazu Haspelmath 1999a: 229 ff.; Zifonun 2005a: 66, → B1.5.4.8). Die morphologischen Ausdrucksmittel einer funktionalen Domäne umfassen sowohl segmentale als auch suprasegmentale Marker. Als suprasegmentale Marker fungieren Töne, die in Tonsprachen eine Wortform als definit oder indefinit bzw. definitheitsneutral kennzeichnen. Im Bambara (Niger-Kongo) ist dies der Ton auf der wortfinalen Silbe, vgl. (33).  



(33) a. káfè BAM ‚Kaffee‘ b. káfê ‚der Kaffee‘

(Evans 2000: 717)

Zu den segmentalen Markern zählen alle Wortformen, Klitika oder Affixe, die in einer ihrer Funktionen kraft ihrer lexikalischen oder grammatischen Bedeutung die fragliche Domäne realisieren. Zu den morphologischen Ausdrucksmitteln der Identifikation gehören daher auch sämtliche Pronomina, die in adnominaler Stellung Definitheit oder Indefinitheit kodieren. Diese sind zur Konstituentenkategorie der Determinative (Engel 1988: 18, 523 f., 866; IDS-Grammatik 1997: 33, → D1.2.3.1) zusammengefasst. Wir machen ebenfalls von der Kategorie der Determinative Gebrauch und fassen darunter  

A2 Referenz und Identifikation

61

Formen lexikalischer Wörter unterschiedlicher Wortarten zusammen, deren Gemeinsamkeit syntaktisch, insbesondere distributionell verankert ist. Die morphologischen/lexikalischen Ausdrucksmittel von Definitheit und Indefinitheit werden in → B1.2 sowie → B1.5.5 behandelt. Mit Blick auf die morphologischen (In-)Definitheitsmarker ist weiter zwischen interner und externer Identifikation zu unterscheiden. Interne Identifikation ist der Normalfall; hier bilden (In-)Definitheitsmarker und Determinandum zusammen ein Nominal (vgl. (34)). Bei externer Identifikation steht der Marker dagegen außerhalb des maximalen, das Identifikandum enthaltenden Nominals (vgl. (35)). (34)

(35)

Interne Determination [NP[D E F ] … Definitheitsmarker …] Externe Determination a. Definitheitsmarker [NP[+def] …] b. [NP[D E F ] …] Definitheitsmarker

Externe Identifikation liegt z. B. vor bei bestimmten Konstruktionen des Ungarischen, in denen die Definitheit eines direkten Objekts durch flexivische Merkmale am Verb markiert wird.  

(36) a. Lát-ok egy asztalt. INDEF Tisch.AKK UNG seh-1SG . SU : INDEF . OBJ ‚Ich sehe einen Tisch.‘ b. Lát-om az asztalt. seh-1SG . SU : DEF . OBJ DEF Tisch.AKK ‚Ich sehe den Tisch.‘ (Moravcsik 2003b: 404) Affixale Aspekt- oder Kasusmarker können als periphere externe bzw. interne (In-) Definitheitsmarker auftreten. Aspektmarker fungieren als periphere externe (In-)Definitheitsmarker in slawischen Sprachen wie Russisch und Polnisch, Kasusmarker dagegen als periphere interne Marker im Türkischen und Finnischen. Ein Beispiel für Determination via Akzentsetzung ist das Ossetische (Indoeuropäisch, Iranisch), nach Krámský (1972: 186): Bei definiten Substantiven wird der Akzent auf die erste Silbe verschoben, falls er normalerweise auf der zweiten liegt, vgl. (37). Geht solchen Substantiven ein attributives Adjektiv voran, so wird der Akzent zur Kennzeichnung von Definitheit um zwei Silben nach links verschoben, zur Kennzeichnung von Indefinitheit dagegen um eine Silbe, vgl. (38). Substantive, deren Wortakzent auf der ersten Silbe liegt, können dagegen keinen Definitheitskontrast ausdrücken. (Akzenttragende Silben sind durch Großschreibung des Silbennukleus gekennzeichnet.)

62

A Funktionale Domänen

(37) a. bælAs OSS ‚(ein) Baum‘ c. bydYr ‚(ein) Feld‘ e. færÆt ‚(eine) Axt‘

b. bÆlas ‚der Baum‘ d. bYdyr ‚die Felder‘ [sic!] f. fÆræt ‚(die) Axt‘ (Krámský 1972: 186)

(38) a. cyrgb fÆræt ‚(eine) scharfe Axt‘ OSS b. cYrgb færæt ‚die scharfe Axt‘ (ebd.) Ein weiteres Beispiel ist das Tongaische (Churchward 1953: 25–27; Clark 1974; Broschart 1997: 132), für das gilt: „The entire argument phrase is marked as definite by an accent shift on the last syllable of the phrase.“ (Broschart 1997: 132). Himmelmann (2001: 836) argumentiert jedoch, dass der fragliche Akzent als Demonstrativmarker fungiere, da er typischerweise in anaphorischen und anamnestischen Kontexten auftrete. Tongaisch verfügt darüber hinaus über einen speziellen morphologischen Spezifizitätsmarker e.

A3

Nomination

A3.1

Bestimmung  64

A3.2

Das Verhältnis von Nomination und klassifikatorischer Modifikation  67

A3.3

Komplexe Formen der Nomination versus komplexe Wörter  70

A3.4

Konzeptuelle Hierarchien und Nominationseinheiten im interlingualen Vergleich  77

Gisela Zifonun

A3 Nomination A3.1 Bestimmung Unter Nomination (‚Benennung‘) verstehen wir die funktionale Domäne, die der semantische Kern eines referenzfähigen Ausdrucks im prototypischen Fall wahrnimmt. Es handelt sich hier um die Bereitstellung eines Gattungsbegriffs. Für Gattungsbegriffe stehen Gattungsnamen (common names nach Gunkel/Zifonun 2009) wie DEU Hund, Regenbogen, Gelber Enzian. Gattungsnamen denotieren Klassen von Gegenständen (im weiteren Sinne: sowohl von konkreten Dingen als auch von Stoffen und abstrakten Entitäten), während Individualnamen wie Hans Maier oder London Einzelgegenstände benennen. Die Benennung durch Individualnamen unterscheidet sich semantisch und syntaktisch erheblich von der Benennung durch Gattungsnamen. Individualnamen haben anders als Gattungsnamen keine begriffliche Bedeutung im Sinne der prädizierenden Zuschreibung charakteristischer Merkmale an das Bezeichnete. Vielmehr stehen Individuenkonzepte in ,direkter Referentialität‘ für die entsprechenden Gegenstände (vgl. dazu → B1.4.3.1.1). Wir beschränken den Terminus ,Nomination‘ und damit auch die Thematik dieses Kapitels auf Gattungsbegriffe, zu Individualnamen ist auf das Kapitel zu Eigennamen (→ B1.4.3) zu verweisen. Wie gezeigt, ist der Terminus ,Gattungsname‘ nicht koextensional mit ,Appellativum‘. Appellativa sind eine Teilklasse der Wortart Substantiv, die ihrerseits die lexikalische Instanziierung der Gattungsnamen darstellt. Gattungsnamen können aber auch die Form von Lexemverbindungen oder Syntagmen haben. Die von Gattungsnamen bezeichnete Klasse nennen wir auch ,Art‘ (kind), → A4.2. Gattungsnamen sind somit ggf. als Namen von Arten in einem umfassenden Sinne zu verstehen, unabhängig davon, ob diese Gruppierung „corresponds to a grouping that reflects the structure of the natural world rather than the interests and actions of human beings“ (Bird/Tobin 2015). Der Terminus ‚Nomination‘ wird mit unterschiedlicher Akzentsetzung in zwei linguistischen Forschungstraditionen gebraucht: zum einen in der germanistischen Wortschatz- und Wortbildungsforschung, zum anderen in der Universalienforschung von und in der Nachfolge von Seiler. In der Wortschatzforschung bezeichnet der Ausdruck „diejenigen sprachlichen Teilhandlungen, mit Hilfe derer ein Sprecher gemeinte Gegenstände, Sachverhalte oder Begriffe durch ausgewählte oder neu gebildete Benennungen verfügbar macht“ (Knobloch/Schaeder 1996: 7 f.). In diesem Ansatz wird besonders abgehoben auf die verschiedenen Arten „nominativer Grundstrukturen […] oder Arten der lexematischen Realisierung der Benennung“. Dabei wird für das Deutsche unterschieden zwischen „Benennung in Form von Simplizia, Wortbildungsprodukten und Mehrwortstrukturen“ (Barz 1996: 130). Seiler (1975: 5–7), ähnlich Seiler (2000: 161–164), betrachtet Nomination als eine der universal gültigen sprachlichen Dimensionen, die „die Prinzipien der deskriptiven und der etikettierenden Benennung“ beinhalte: „The naming of objects, properties, processes, and the like is, of course, a problem that has to be solved by every language […]“ (Seiler 2000: 161). Die Optionen reichten von maximal deskriptivem Benennen bis zu maximal etikettierendem (i. e. „indicative“) Benennen. Im Deutschen gebe es hier ein Kontinuum, z. B. von Lehrer,  





A3 Nomination

65

Tänzer, Schneider bis Arzt. Lehrer sei am meisten deskriptiv; es erlaube die Paraphrase ‚einer der lehrt‘. Arzt hingegen „is a complete label, for its morphological composition provides no clue as to its semantic content“. Seiler nimmt an, es gebe einzelsprachlich „a drift, usually diachronic, along this continuum from more descriptive to less descriptive to labelling“ (ebd.: 162). Im zwischensprachlichen Vergleich stellt Seiler das auch im nominalen Bereich überwiegend deskriptive Cahuilla (Uto-Aztekisch, Südkalifornien) dem eher etikettierenden Deutschen bzw. anderen indoeuropäischen Sprachen gegenüber. Dabei entspricht ‚deskriptiv‘ weitgehend dem strukturalistischen ,motiviert‘, ,etikettierend‘ entspricht ,arbiträr‘. Man vergleiche etwa Stein, Pfeil, Korb mit den auf Deskription beruhenden „Gegenstandsbegriffen“ für Stein, Pfeil, Korb im Cahuilla, hier wiedergegeben durch „Transposition in entsprechende deutsche Elemente“ (Seiler 1975: 5): „Stein“ : ,das, was hart geworden ist‘ „Pfeil“ : ,die Streckung‘, ,das Gestreckte‘ „Korb“ : ,die Flechtung‘, ,das Geflochtene‘

Die drei in der germanistischen Wortschatzforschung unterschiedenen Nominationsstrukturen bei Gattungsnamen sind neben dem Deutschen auch in den anderen Vergleichssprachen gegeben: (i)

Simplizia

DEU ENG FRA POL UNG

Hund, Gras, Tisch dog, grass, table chien, herbe, table pies, trawa, stól kutya, fű, asztal

(ii)

Wortbildungsprodukte

(ii.1)

Derivationen

DEU ENG FRA POL UNG

Lehrer, Tänzer teacher, dancer enseignant (substantiviertes Partizip zu enseigner ,lehren‘), danseur (zu danser ,tanzen‘) nauczyciel (zu nauczać ,lehren‘), tancerz (zu tańczyć ,tanzen‘) tanító (substantiviertes Partizip zu tanít ,lehren‘), táncos (zu tánc ,Tanz‘)

(ii.2)

Komposita

DEU ENG FRA POL UNG

Sportplatz sports field (terrain de sport) (boisko sportowe) sportpálya

66

A Funktionale Domänen

Die in Klammer gesetzten Übersetzungsäquivalente im Französischen und Polnischen gehören zu Gruppe (iii).

(iii)

Wortgruppen mit substantivischem Kern

DEU ENG FRA POL UNG

Indischer Elefant Indian elephant éléphant indien słoń indyjski indiai elefánt

Neben Gattungsnamen dieser drei Strukturtypen, Individualnamen sowie Pronomina werden auch Elemente nicht-substantivischer Wortklassen als Kern eines referenzfähigen Ausdrucks in der Form einer NP gebraucht. Man spricht dann von nominalem Gebrauch z. B. von Partikeln (wie in DEU sein Ja, ohne Wenn und Aber), von Adverbien (wie in DEU das Gestern, das Hier und Jetzt), von Pronomina (wie in DEU das Nichts), vor allem aber von Adjektiven (wie in DEU die Reichen, das Gute). In diesem Fall liegt keine Nomination vor, da keine Gattungsbegriffe artikuliert werden. Allerdings kann bei Adjektiven (bzw. Partizipien) auch ein Wechsel der semantischen Form von der Eigenschafts- zur Gattungsbezeichnung stattfinden, vgl. z. B. (der/die) Invalide, (der/ die) Parteivorsitzende; hier ist trotz morphologischem Status als Adjektiv Substantivierung auf der semantisch-konzeptuellen Ebene vollzogen; vgl. auch (in diesem Kapitel) Beispiele wie FRA enseignant ,Lehrer‘, mondain ,Mann von Welt‘ oder UNG sárga ,Fuchs‘ (Pferd mit gelbem bzw. rötlichem Fell zu dem Farbadjektiv sárga ,gelb‘) sowie → D2.  



In der sprachanalytischen Philosophie werden common names als ein spezifischer Typ der general terms, also der Prädikate im logischen Sinne, betrachtet. Die Abgrenzung gegenüber anderen Typen von general terms, vor allem Adjektiven, intransitiven Verben, wurde u. a. von Geach (1970) und Strawson (1959) diskutiert. Im Vordergrund steht dabei (vgl. Geach 1970: 39 f.) das „Kriterium der Identität“, also die Frage, ob ein general term F sinnvoll in einem Urteil der Form ,x ist der/ die/dasselbe F wie y‘ gebraucht werden kann oder nicht: Geach bezeichnet general terms, für die dieses Identitätsurteil gelingt, als „substantival“. Zählbarkeit, also Status als Individuativum, ist eine hinreichende Bedingung für die Zugehörigkeit zu dieser Klasse, jedoch nach Geach keine notwendige. Man könne z. B. auch von demselben Gold sprechen, das zunächst eine Statue war, dann eine Menge Münzen. Somit kann nach Geach auch ein Kontinuativum ein substantival term sein. Nur substantival terms können nach Geach als (common) names gebraucht werden, nicht etwa adjectival terms als ein anderer Typ von general terms. Die Grundidee der Unterscheidung besteht darin, dass Gattungen bzw. Arten als Denotate von substantival terms/common names, im Gegensatz zu Eigenschaften als Denotate von adjectival terms für die Identität eines Gegenstands in Raum und Zeit relevant sind. Auch in der sprachwissenschaftlichen Literatur wird teilweise auf den unterschiedlichen semantischen Typ von Substantiven und Adjektiven abgehoben. So spricht Bloomfield bezüglich des Substantivs von „class-meaning which can be roughly stated as ‘object of such and such a species’; examples are boy, stone, water, kindness“, während die Bedeutung deskriptiver Adjektive im „qualitative character of specimens“ (Bloomfield 1933: 202) bestehe. Die  





A3 Nomination

67

Zugehörigkeit zu einer Art/Gattung beruhe, so auch vor allem Wierzbicka (1986: 362), nicht auf einer einzelnen kriterialen Eigenschaft, sondern auf einem Bündel (cluster) von Eigenschaften. Häufig wird auch vom sortalen Charakter von Substantiven gegenüber Adjektiven gesprochen, wobei allerdings offenbleibt, ob alle Appellativa, einschließlich der Kontinuativa, Sorten denotieren (zu einer modelltheoretischen Bestimmung von Sorte als Denotat von common names vgl. Gupta 1980). Vgl. dazu auch genauer → A4.1.1.

A3.2 Das Verhältnis von Nomination und klassifikatorischer Modifikation Beispiele wie a) DEU Lehrer, Rotkehlchen, Vergissmeinnicht, FRA allume-cigarette ‚Zigarettenanzünder‘, ouvre-bouteille ,Flaschenöffner‘ und b) DEU Haustier, Indischer Elefant, Blauer Enzian, schwarzes Loch oder Tag der Arbeit zeigen, dass Nomination syntaktisch wie semantisch komplex erfolgen kann. In Derivationen, exozentrischen Komposita bzw. Konversionen aus phrasalen oder satzförmigen Strukturen, wie unter a) genannt, sind wortbildungsspezifische Prinzipien wirksam, die sich nicht mit den für die Syntax der Nominalphrase gültigen funktionalen Subdomänen berühren. Insbesondere wird in Fall a) kein Unterbegriff spezifiziert zu einem Oberbegriff, der durch den Kopf oder auch einen anderen Teil des Wortbildungsprodukts bezeichnet würde. Man vergleiche dazu Gunkel/Zifonun (2009: 208): For instance, the concept expressed by the French derivation pommier (‘apple tree’) is not a subconcept of the concept expressed by its lexical base pomme (‘apple’). Similarly, the French exocentric compound ouvre-bouteille expresses a concept (‘bottle opener’) that is neither a subconcept of the concept ‘open’ nor a subconcept of the concept ‘bottle’.

Anders jedoch bei den unter b) genannten endozentrischen Strukturen. Hier denotiert das Kompositum bzw. das nominale Syntagma einen Unterbegriff zu dem vom Kopf denotierten Begriff. Somit schließt bei diesen Beispielen die Nomination klassifikatorische Modifikation ein. Die Nomination durch Haustier z. B. beruht auf der klassifikatorischen Modifikation des Begriffs ,Tier‘ durch den Begriff ,Haus‘; zum type Tier wird ein subtype Haustier erzeugt (vgl. → A4.2). Nicht jede klassifikatorische Modifikation jedoch führt zu einer Nominationseinheit: Die Ad-hoc-Bildung von Komposita (z. B. Untertier, Seelentier, Tränentier, Wundertier, Luxusbischof, Menschenlandschaft) oder die freie Kombination von klassifikatorischem Adjektiv und Substantiv (wie in wirtschaftliches Desaster) fällt per se nicht unter Nomination.  



Die in elexiko recherchierten Komposita auf -tier wurden unter dem Gesichtspunkt ihrer niedrigen Frequenz im elexiko-Korpus (Teilkorpus von D E R E K O ) ausgewählt; diese deutet auf ihren okkasionellen Status hin. Untertier ist im Korpus nicht belegt, wurde nur aufgrund der Erwähnung in canoo.net als bildbare Einheit aufgenommen. Seelentier und Tränentier gehören der „Frequenzschicht II (1–9 mal belegt)“ an, Wundertier der so genannten „Frequenzschicht III (10–50 mal belegt)“. Wundertier allerdings ist in Grimm/Grimm (1854–1954: s. v.) gebucht mit der Angabe  

68

A Funktionale Domänen

„seit dem 13. Jh. in einer verwendung bezeugt, die älteren gebrauch des wortes voraussetzt“, in der auf Menschen bezogenen übertragenen Bedeutung ,Tyrann, Wüterich, Ungeheuer, Barbar‘ sei es vor allem im 16. und 17. Jahrhundert „sehr geläufig“ gewesen. Luxusbischof ist eine Ad-hocBildung, gehört in SWR1 am 15.10.2013. Menschenlandschaften ist der deutsche Titel eines Gedichtbandes des türkischen Autors Nazim Hikmet. Der Ausdruck ist eine Lehnübersetzung von TÜR insan manzaralari (Mensch.NOM .SG Landschaft.PL .POSS ), einer possessiven syntaktischen Konstruktion, wobei vergleichbar dem Ungarischen Kopfmarkierung vorliegt. Ad-hoc-Komposita sind u. a. charakteristisch für dichterischen Sprachgebrauch; der Status als Nominationseinheiten kommt ihnen per se nicht zu. Beispielsweise findet sich auf einer einzigen Seite (S. 382) der deutschen Übersetzung des Romans „Rote Spur“ von Deon Meyer eine Reihe okkasioneller Komposita, die assoziativ mit den Konzepten ,Wort‘ und ,Wasser‘ verknüpft sind, darunter: Lebenswörter, Bodenwörter, Steinwörter, Wortwasser, Wortwassertier. An dem Kompositum Phantomtor kann exemplarisch der „Aufstieg“ einer okkasionellen Prägung zu einer Nominationseinheit verfolgt werden. Der Ausdruck geht wohl auf eine griffige Prägung in der Sportberichterstattung über ein in einem Bundesligaspiel 1994 irregulär erzieltes Tor zurück. Während die okkasionelle Prägung einfach klassifikatorisch zu deuten ist als ,Tor, das ein Phantom, also ein Trugbild, ist‘, hat der zur Nominationseinheit avancierte Ausdruck jetzt die Lesart ,ein Tor, das vom Schiedsrichter anerkannt wird, obwohl der Ball oder Puck die Torlinie nicht den Regeln entsprechend überschritten hat‘ (vgl. Wikipedia-Eintrag zu Phantomtor).  







Wir verstehen unter Nomination die Bereitstellung einer etablierten (im semantischen Lexikon der Sprachteilnehmer verankerten) Bezeichnung (eines common name) für eine Art. In dem Terminus ,Nomination‘ sind somit sprachstrukturell-semantische Kriterien und ein Kriterium des Sprachgebrauchs, des Usus in einer Sprachgemeinschaft, vereinigt. Simplizia sind „geborene“ Nominationseinheiten; dort ist Nomination nicht zurückführbar auf andere funktionale Domänen, etwa klassifikatorische Modifikation. Zudem spielt bei Simplizia das Kriterium der Etabliertheit, des Usus, kaum eine Rolle, da es synchron kaum zur Wortschöpfung von Simplizia kommt, somit Simplizia des Allgemeinwortschatzes im Allgemeinen als etablierte Wortschatzelemente gelten können. Anders verhält es sich bei Wortbildungsprodukten, insbesondere Komposita. Die Frage, ob Komposita wie Magerquark, Holzfeuer, Tränentier unter Nomination fallen oder unter klassifikatorische Modifikation, ist nur scheinbar auf eine exklusive Alternative ausgerichtet. Klassifikatorische Modifikation liegt in allen drei Fällen vor, von Nomination hingegen würde man bei Tränentier nicht sprechen. Denn Nomination ist letztlich eine extragrammatische Kategorie des Usus. Usualität ist, wie an anderer Stelle gezeigt (→ A4.2), häufig verknüpft mit zunehmender Spezialisierung der Bedeutung, mit der Anreicherung um stereotypische Bedeutungsmerkmale, somit auch mit abnehmender Kompositionalität zugunsten von zunehmender Lexikalisierung. Nomination ist irreduzibel bei Simplizia, aber grammatisch im prototypischen Fall zurückführbar auf klassifikatorische Modifikation bei endozentrischen Komposita und etablierten Phrasen. Auf der Ebene des Sprachsystems können nominale Gruppen (der Kategorie NP bzw. NOM) verschiedene Typen der Modifikation ausdrücken, darunter auch klassifikatorische. Endozentrische Komposita sind sprachsystematisch im Normalfall auf klassifikatorische Modifikation festgelegt. Auf der Ebene des Usus können feste Fügungen, die syntaktisch die Form von

A3 Nomination

69

NP bzw. NOM haben, Nominationseinheiten darstellen, etablierte Komposita sind ebenfalls Nominationseinheiten. Freie NP- bzw. NOM-Ausdrücke hingegen betrachten wir (auch wenn sie klassifikatorische Modifikation ausdrücken) nicht als Nominationseinheiten, ebenso wenig wie okkasionelle Komposita. Man vergleiche dazu Abbildung 1 für die Verhältnisse auf der Ebene des Sprachsystems und des Usus:

Abb. 1: Modifikation und Nomination in Sprachsystem und Usus  

Auch in Schlücker (2014) wird zwischen klassifikatorischer Modifikation und Benennungsfunktion als „konzeptionell nicht identisch“ (ebd.: 195) unterschieden. Allerdings wird anders als im vorliegenden Ansatz die Benennungsfunktion als notwendige Konsequenz klassifikatorischer Bedeutung betrachtet: „Komplexe Verbindungen mit klassifikatorischer Bedeutung fungieren also grundsätzlich als Benennungseinheiten“ (ebd.). Zwar handle es sich bei Benennungen in der Regel um etablierte und konventionalisierte Einheiten, aber auch „neugebildete Ad hoc-Komposita“ könnten „als Benennungseinheiten fungieren“. In diesem Fall erzwinge ihre Verwendung „die Akkommodation einer entsprechenden Art“ (ebd.). Ähnlich wird auch in Schuster (2016: 17 f.) argumentiert. „Ad-hoc-Benennungen können also dann entstehen, wenn Sprecher diese als verbindliche Namen inszenieren.“ Prinzipiell sei „daher für einen relativ weit anzuwendenden Benennungsbegriff zu plädieren, der sowohl Ad-hoc-Benennungen als auch lexikalisierte Benennungen berücksichtigt“.  

70

A Funktionale Domänen

A3.3 Komplexe Formen der Nomination versus komplexe Wörter Da Nomination, i. e. Begriffsbildung, als ein Terminus auf der funktionalen Ebene betrachtet wird, ist die ausdrucksseitige Realisierungsform im Prinzip nicht festgelegt: Lexikalische wie syntaktische Bildungsweisen sind möglich. Häufig wird allerdings Begriffsbildung mit Wortbildung gleichgesetzt. Bei diesem Herangehen werden auch Bildungsweisen für Nominationseinheiten, die syntaktische Mittel nutzen, wie die Verbindung von Substantiv und flektiertem attributivem Adjektiv in Indischer Elefant oder schwarzes Brett oder die Nutzung von Präpositionen wie in ENG bird of prey ‚Raubvogel‘, FRA boîte à lettre / boîte aux lettres ,Briefkasten‘ als Verfahren der Wortbildung betrachtet. Dies gilt insbesondere für romanische Sprachen einschließlich des Französischen sowie teilweise für das Englische (vgl. dazu Klinge 2006), wo Begriffsbildung sich überwiegend dieser (eigentlich) syntaktischen Mittel bedient. Wir schließen uns dieser Sehweise nicht an. Vielmehr unterscheiden wir:  





Begriffsbildung (funktionale Ebene: Begriff als etablierte Einheit der Kategorisierung) versus Wortbildung (Wort: Einheit der Sprachstruktur: kleinste selbstständig bewegliche Einheit, „minimum free form“ nach Bloomfield 1933: 178) mentales Lexikon versus lexikalisches Inventar einer Sprache.

Begriffsbildung im Sinne der Bildung etablierter Begriffe, also Nomination, bereichert das mentale Lexikon einer Sprachgemeinschaft, Wortbildung bereichert das lexikalische Inventar einer Sprache. Zwischen beiden gibt es sprachabhängig einen mehr oder weniger großen Überschneidungsbereich. Im mentalen Lexikon sind u. a. auch die Nominationseinheiten gespeichert, nicht nur die lexikalischen Einheiten, neben indisch und Elefant enthält das mentale Lexikon eines (durchschnittlich gebildeten) Sprechers des Deutschen auch die Einheit Indischer Elefant; im lexikalischen Inventar des Deutschen fehlt, nach unserer Wortdefinition, eine solche Einheit.  

Etwas anders ist der Schnitt gelegt in Barz (2005: 1671): Benennungsbildung und Wortschatzerweiterung seien nicht gleichzusetzen; „die Wortschatzerweiterung setzt die Lexikalisierung von Benennungen voraus“. Lexikalisierung ist zu verstehen als „historischer Prozess des Festwerdens von Benennungen im Wortschatz (bzw. im sprachlichen Wissen der Sprecher)“, mit drei Phasen: Initial-, Verbreitungs- und Approbationsphase. Allerdings ist einzuräumen, dass Wort ähnlich wie Satz kein scharf abgegrenztes Konzept darstellt. Es können zum einen verschiedene Kriterien herangezogen werden, die extensional zu unterschiedlichen Wort-Mengen führen. So spricht man diese unterschiedlichen Kriterien benennend vom ,graphischen‘ gegenüber dem ,phonologischen‘ bzw. dem ,morphologischen‘ oder ‚syntaktischen‘ Wort. Aus typologischer Perspektive halten Dixon/Aikhenvald (2002) die Unterscheidung zwischen phonologischem und grammatischem Wort für sinnvoll. Zu der Frage „Do all languages have words?“ kennen die Autoren (vgl. ebd.: 32) keine klare Antwort. Insbesondere isolierende (wie das Chinesische) und polysynthetische Sprachen würden hier Probleme aufwerfen. Zum anderen werden jedoch in unterschiedlichen Ansätzen jeweils andere aus der Kriterienmenge für die

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Abgrenzung der Ebenen fokussiert. Dabei ist für unsere Vergleichssprachen insbesondere für das Englische, aber auch das Ungarische, das graphische Wort keine verlässliche Bezugsgröße. Für das graphische Wort gilt die Bestimmung: ,Ein Wort ist eine Einheit zwischen zwei Spatien‘. Bekanntlich werden im Englischen Komposita nicht grundsätzlich zusammen oder mit Bindestrich geschrieben; auch im Deutschen führt diese Konzeption z. B. bei „syntaktischer Trennung“ von Partikelverben (in Verberst- oder Verbzweitsätzen: Kaufst du ein? – Ich kaufe gleich ein versus Ich will einkaufen) zu Problemen. Bezüglich des Französischen kann argumentiert werden, es könne dort vom phonologischen bzw. prosodischen Wort keine Rede sein. Matthews (2002: 275) weist darauf hin, dass der für das Französische charakteristische ausdrucksfinale Akzent sowohl Syntagmen wie etwa je ne l’ai pas vú ‚ich habe ihn nicht gesehen‘ betreffe als auch komplexe Wörter wie les chauves-sourís (DEF kahl.PL -Maus.PL ,die Fledermäuse‘). Für unsere Zwecke werden wir hier die phonologisch-prosodische wie auch die graphematische Ebene jedoch in der Regel ausklammern.  

Bezüglich der Vergleichssprachen ist die grundsätzliche Unterscheidbarkeit von Einheiten auf der Wortebene und der syntagmatischen Ebene nicht in Frage zu stellen. Für komplexe Wörter in unserem Sinne sind die bei J. Jacobs (2005) genannten Einzelkriterien einschlägig. Für „kernmorphologische Bildungsmuster“ gelten danach u. a. folgende Bedingungen:  



– – – –

(E1) „keine Bewegung von Teilausdrücken“ (J. Jacobs 2005: 56) (E2) „keine syntaktische Erweiterung von Teilausdrücken“ (ebd.: 57) (E3) „keine separate Flexion von Teilausdrücken“ (ebd.: 58) (E4) „spezifisch morphologische Verarbeitung“ (ebd.: 63)  

Mit (E1) wird das Kriterium der „cohesiveness“ von Dixon/Aikhenvald (2002: 19) aufgegriffen, das dort um die Bedingung des Vorkommens in fester Reihenfolge ergänzt wird. Die vier genannten Kriterien (E1) bis (E4) zerfallen jedoch in zwei Gruppen: (E1) und (E2) gelten für Nominationseinheiten übergreifend, nicht nur für komplexe Wörter. So kann insbesondere (E2) herangezogen werden, um klassifikatorische Modifikation ohne Nomination gegenüber klassifikatorischer Modifikation unter Nomination zu differenzieren: Freie klassifikatorisch modifizierende Verbindungen wie häuslicher Streit oder Mann des Ausgleichs können sowohl bezüglich des Kopfs syntaktisch erweitert werden (z. B. durch ein valenzgebundenes Attribut wie in häuslicher Streit zwischen Eltern und Kindern (D D E R E K O -Beleg), häuslicher Streit ums Geld oder in Form einer Koordination (Männer und Frauen des Ausgleichs)) als auch bezüglich des Modifikators (häusliche bzw. alltägliche Probleme (D D E R E K O -Beleg), Mann des Ausgleichs und des Kompromisses). Klassifikatorisch modifizierte Nominationseinheiten hingegen widersetzen sich dem syntaktischen Ausbau: schwarzes Brett versus *schwarzes bzw. für Aushänge bestimmtes Brett, Tag der Arbeit versus *Tag und Nacht der Arbeit. (E3) und (E4) hingegen gelten nur für Worteinheiten, nicht für Nominationseinheiten allgemein: So ist die separate Flexion (vgl. (E3)) bei Nominationseinheiten wie schwarzes Brett (Plural: schwarze Bretter, Pluralflexion an Kopf und Modifikator), Indischer Elefant (Plural: Indische Elefanten), Tag der deutschen Einheit (Plural: Tage der deutschen Einheit, Pluralflexion am Kopf, flexivischer Genitiv am Modifikator)  

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A Funktionale Domänen

notwendig gegeben. Separate Flexion des Modifikators in Komposita kommt dagegen im Deutschen nur in Ausnahmefällen vor: So genannte „Binnenflexion“ wie bei die Langeweile ist peripher; zudem wird nur das Schwa als Adjektivflexiv gesetzt, das bei Genitiv- bzw. Dativrektion geforderte Flexiv -en erscheint nur ausnahmsweise. Insofern zeigt sich auch hier das generelle Gebot der „lexical integrity“, d. h., alle Teile des Kompositums außer dem Kopf sind für syntaktische Regeln unzugänglich.  

In D E R E K O gibt es nur 44 Vorkommen von Langenweile (Genitiv-/Dativformen). Sie entstammen dem Goethe- bzw. Thomas-Mann-Korpus sowie Feuilletonbeiträgen u. a. aus der „Zeit“. Dem stehen 2.040 Treffer für der Langeweile gegenüber.  

In FRA (les) chauves-souris (vgl. oben) liegt ebenfalls – zumindest in der Schrift – Binnenflexion, nämlich Pluralmarkierung, des Adjektivs vor. Allerdings kann diese auch unterbleiben, die entsprechende Pluralform (les) chauve-souris wird von Informanten als üblicher eingeschätzt.

Unter „spezifisch morphologischer Verarbeitung“ (E4) versteht Jacobs die Möglichkeit, auch komplexe Wörter rekursiv morphologischen Prozessen, vor allem der Derivation, zu unterziehen. So kann das Kompositum DEU Eisenbahn rekursiv weiter abgeleitet werden zu Eisenbahner und Eisenbahnerschaft. Zu dem Übersetzungsäquivalent FRA chemin de fer hingegen kann keine Berufsbezeichnung mit einem der einschlägigen Ableitungssuffixe, z. B. -ier, gebildet werden – weder durch Suffigierung des Kopfs noch durch Suffigierung des Dependens: *chemin de ferier / *cheminier de fer. Stattdessen wird auf das Simplex chemin als Ableitungsbasis für cheminot ,Eisenbahner‘ zurückgegriffen. Dies werten wir als Argument gegen eine Einordnung von präpositionalen Fügungen wie chemin de fer, boîte à lettre als Wortbildungsprodukte. Denn es gibt „keine Akzeptanz für syntaktisch komplexen Input“ in der Morphologie, wie J. Jacobs (2005: 63) formuliert.  



Nach Grevisse/Goosse (2011: 171) ist die suffixale Derivation nur bei graphischen Wörtern, also zusammengeschriebenen Komposita (composé agglutiné wie gendarme versus gendarmerie, vinaigre versus vinaigrier) unproblematisch. Bei anderen komplexen Nominationseinheiten ist die Derivation zunehmend beschränkter. Bei Komposita mit Bindestrich sei die Derivation nur in einigen Fällen möglich wie auto-stop (mit auto-stoppeur), tire-bouchon ,Korkenzieher‘ (mit tirebouchonner ,(den) Korken ziehen‘). Die „Reduktion auf eines der Elemente als Basis“ wie in chemin de fer versus cheminot ist ein gängiges Ersatzverfahren, genannt werden (vgl. ebd.: 172) u. a. volley-ball mit volleyeur, États-Unis d’Amerique mit Américain. Auch der Wegfall der Präposition unter Voranstellung des Modifikators in der Ableitungsbasis kommt vor, vgl. Afrique du Nord mit Nord-Africain, Allemagne de l’Est mit est-allemand. Auch die Derivation nur auf Basis des ersten Elements komme vor, zumal wenn zu diesem Simplex schon eine entsprechende Suffixbildung vorliege: conseil municipal ,Stadtrat‘ (als Institution) mit conseiller municipal ‚Stadtrat‘ (als Person), jardin d’enfants ,Kindergarten‘ mit jardinière d’enfants ,Kindergärtnerin‘. In diesem Fall verliere das Adjektiv bzw. der Modifikator „sa justification première“. Man kann dies auch als einen Fall von Klammerparadox betrachten: Entgegen der Konstituentenstruktur, nach der conseiller und municipal Schwestern sind, gehören semantisch conseil und municipal zusammen; auf dieser „virtuellen Konstituente“ müsste semantisch die -er-Derivation operieren.  

Auch bezüglich phrasaler Nominationseinheiten im Polnischen lässt sich Vergleichbares beobachten. So kann DEU Allgemeinmedizin zu Allgemeinmediziner, allgemeinmedizinisch abgeleitet

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werden, Allgemeinarzt entsprechend zu allgemeinärztlich. Das polnische Übersetzungsäquivalent medycyna ogólna erlaubt keine Derivation, sondern erfordert wiederum phrasale Paraphrase, z. B. für Allgemeinmediziner POL lekarz pierwszego kontaktu, wörtlich: ,Arzt des ersten Kontaktes‘.  

Für den Bereich der Komposition allerdings gilt der Ausschluss von phrasalem Input nicht in vollem Umfang. Phrasale Erstglieder werden zwar allgemein als peripher betrachtet, kommen aber im Englischen in bestimmten Textsorten häufig vor (vgl. Lawrenz 1997: 112), auch im Deutschen sind sie laut den Untersuchungen von Hein (2011, 2015) in Zeitungstexten gut belegt. Bildungen wie prisoner of war camp ,Kriegsgefangenenlager‘ (Klinge 2006: 246) müssen daher nicht als Argument für den Status von prisoner of war als Kompositum gewertet werden. Wir gehen also wie J. Jacobs (2005: 56) von „typisch morphologischen“ gegenüber „typisch syntaktischen Bildungsmustern“ aus. So betrachten wir Funktionswörter wie Artikel oder Präpositionen, bezogen auf unsere Vergleichssprachen, als syntaktische Bildungselemente. Kommen sie als Teilausdrücke in Nominationseinheiten vor, so spricht das gegen Wortstatus. Im vorliegenden Handbuch wird Nomination in erster Linie unter dem Gesichtspunkt ihres funktionalen Beitrags zur Gesamt-NP betrachtet. Komplexe Formen der Nomination – die also nicht nur aus einem Lexem, einem atomaren Begriffswort, bestehen – werden nur dann in den Blick genommen, wenn sie a) in einzelsprachlicher Perspektive (usualisierte) Resultate klassifikatorischer Modifikation sind oder wenn sie b) in sprachvergleichender Perspektive die Varianz im Ausdruck klassifikatorischer Modifikation von der wortbildungsmorphologischen bis zur syntaktischen Ebene verdeutlichen. Unter Gesichtspunkt b) erweist sich die begriffliche Differenzierung zwischen Begriffsbildung/Nomination und Wortbildung als besonders fruchtbar. Sie erlaubt es, die Nutzung der unterschiedlichen Nominationsverfahren der Vergleichssprachen von der Wortbildungsebene bis zur syntaktischen Ebene miteinander zu korrelieren. Dabei gilt für unsere Vergleichssprachen die folgende Präferenzordnung der Nominationsverfahren:  

auf Wortebene realisiert > syntaktisch reduziert realisiert > syntaktisch voll ausgebaut realisiert Im Einzelnen gelten sprachübergreifend diese Prinzipien: (i) Nomination nutzt nach Möglichkeit die lexikalische Ebene. (ii) Auch Nomination, die auf klassifikatorischer Modifikation beruht, erfolgt, sofern in einer Sprache möglich, unmarkiert auf der lexikalischen Ebene, also durch Komposition. (iii) Wenn in einer Sprache Komposition nicht möglich oder wenig usuell ist, insbesondere zum Ausdruck klassifikatorischer Modifikation, werden die syntaktischen Verfahren, die klassifikatorische Modifikation realisieren können, herangezogen.

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A Funktionale Domänen

(iv) Syntaktisch reduzierte Verfahren (Einsparen von Artikeln, Verschmelzungen von Artikel und Präposition, Einsatz formaler gegenüber semantischen Präpositionen) werden voll ausgebauten gegenüber präferiert. Zu den syntaktisch reduzierten Verfahren vgl. auch Gunkel/Zifonun (2011). Diese Prinzipien sind allerdings zu beziehen auf die strukturellen Möglichkeiten der Vergleichssprachen. Dabei ergibt sich folgendes Bild: Tab. 1: Nutzung der Nominationsverfahren in den Vergleichssprachen

DEU

ENG

FRA

POL

auf Wortebene

syntaktisch reduziert

syntaktisch voll ausgebaut

hoch produktiv

wenig produktiv

wenig produktiv

Raubvogel, Nervenkrieg, Königshaus, Königssohn, Haustür, Atom-/Nuklearwaffe, Hausschlüssel, Linienschiff

Mann von Welt

schwarzes Brett, Tag der Arbeit/Tag der offenen Tür

hoch produktiv

hoch produktiv

hoch produktiv

front-door, latchkey, notice board/notice-board Labour Day

bird of prey, war of nerves

royal house, nuclear weapon man of the world, ship of the line

peripher

hoch produktiv

hoch produktiv

journée portes ouvertes [Tag Tür.PL offen.PL ]

oiseau de proie, bateau de ligne, (alternativ zu tableau noir: tableau d’affichage)

maison royale, arme nucléaire, guerre des nerfs, fils du roi, porte de la maison, clé de la maison, fête du travail tableau noir

peripher

peripher

hoch produktiv ptak drapieżny [Vogel räuberisch.M ] ,Raubvogel‘ drzwi zewnętrzne [Tür außen.PL ] próba nerwów [Probe Nerv.GEN . PL ] ,Nervenkrieg‘ klucz od domu [Schlüssel ab Haus.GEN ] ‚Hausschlüssel‘ tablica ogłoszeń [Tafel Aushang.GEN . PL ] ‚schwarzes Brett‘

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UNG

auf Wortebene

syntaktisch reduziert

syntaktisch voll ausgebaut

hoch produktiv

peripher

produktiv

uralkodóház [uralkodó ,Herrscher‘ ház ,Haus‘] idegháború [ideg ,Nerv‘ háború ,Krieg‘] kapukulcs [kapu ,Tor‘ kulcs ,Schlüssel‘] atomfegyver [atom ,Atom‘ fegyver ,Waffe‘]

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bejárati ajtó [Eingang.ADJ Tür] nyílt nap [offen Tag] ‚Tag der offenen Tür‘ a munka ünnepe 3 SG ] [DEF Arbeit Tag.3 ‚Tag der Arbeit‘

Zu beachten ist bei dieser Übersicht, dass a) die Etablierung von Nominationseinheiten teilweise sprach- und kulturabhängig ist, somit nicht notwendigerweise „Nominationsäquivalente“ vorliegen, und dass b), auch wenn es solche äquivalenten Nominationseinheiten gibt, diese nicht notwendigerweise in allen Vergleichssprachen überhaupt nach Verfahren der klassifikatorischen Modifikation gebildet sein müssen. Die Entsprechung für ‚Mann von Welt‘ ist das substantivierte Adjektiv FRA mondain, im Polnischen steht für ‚Königshaus‘ nur das (auf das Altgriechische zurückgehende) dynastia zur Verfügung, wozu es auch in den anderen Sprachen, als Alternative zu Königshaus / royal house / maison royale / uralkodóház Entsprechungen gibt. Das Deutsche ist somit, zusammen mit dem Ungarischen, die Sprache, bei der Komposition als Verfahren der Nomination auf Basis klassifikatorischer Modifikation eindeutig dominiert, Prinzip (i) sich also unbeschränkt durchsetzen kann. So gilt auch nach Barz (1996: 132) „Die Wortstruktur ist im Deutschen die typische Struktur für die Fixierung von Begriffen“, während Wortgruppen als Benennungen „eher eine ‚sprachtypologische Randerscheinung‘ [Braun (1991: 56)] des Deutschen“ sind (Barz 1996: 130). Im Englischen sind sowohl Komposition als auch syntaktische Verfahren stark vertreten. Dies steht auf der einen Seite im Zusammenhang mit dem Einfluss des Französischen, durch den neben der auch in anderen germanischen Sprachen ausgebauten Komposition auch syntaktische Nominationsverfahren zum Tragen kamen. Besonders auffällig ist die Parallele zwischen Englisch und Französisch bei der syntaktisch reduzierten Strategie, wo der Modifikator artikellos angeschlossen wird und nur eine kleine Anzahl ‚formaler‘ bzw. semantisch wenig spezifischer Präpositionen in Frage kommen. Im Englischen ist dies in erster Linie of, daneben auch in und at (Klinge 2005: 357): ENG bird of prey ,Raubvogel‘, beast of burden ,Lasttier‘, flag of convenience ,Billigflagge‘, prisoner of war ,Kriegsgefangener‘, burden of proof ,Beweislast‘, cause of action ,Tatursache‘, war of nerves ,Nervenkrieg‘, brother in arms ‚Waffenbruder‘, mother in law ,Schwiegermutter‘, partner in crime ,Komplize‘, commander in chief ,Oberbefehlshaber‘, pianist in residence ,Gastpianist‘, sergeant at arms ,Zeremonienmeister‘, attorney at law ,Rechtsanwalt‘. Im Französischen werden neben de

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A Funktionale Domänen

auch à und en gebraucht: FRA oiseau de proie ,Raubvogel‘, pot à lait ,Milchtopf‘, moulin à café ,Kaffeemühle‘, commandant en chef ,Oberbefehlshaber‘ (ebd.: 362). Auch Adjektiv-Nomen-Verbindungen sind, obwohl komplette syntaktische Gruppen, aufgrund fehlender Adjektivmorphologie, im Englischen vergleichsweise „wortnah“ (vgl. black market als Nominationseinheit (in Form einer A-N-Verbindung) ‚Schwarzmarkt‘ versus blackbird als Nominationseinheit (in Form eines Kompositums) ,Amsel‘ versus black bird (freie syntaktische A-N-Verbindung) ,schwarzer Vogel‘). (Der Hauptakzent liegt bei black márket und black bírd auf dem substantivischen Kern, beim Kompositum bláckbird auf dem Modifikator und unterscheidet somit die A-N-Verbindungen auf der syntaktischen Ebene vom Kompositum.) Im Niederländischen hingegen können A-N-Nominationseinheiten in syntaktisch reduzierter Form, und zwar ohne das Schwa-Flexiv der Adjektivdeklination, auftreten: NDL een/de geheim-∅ agent ,ein/der Geheimagent‘, een/de toegepast-∅ taalkundige ,ein/der angewandte/r Sprachwissenschaftler‘ (vgl. → A4.2.3.2). Klinge (2009: 172 f.) weist darauf hin, dass durch den Verlust an „konfigurationaler Morphologie“, der im Übergang vom Altenglischen zum neueren Englisch stattfand, der Slot unmittelbar vor dem Substantiv auch für andere Wortarten neben dem Adjektiv zugänglich wurde, nämlich für Substantive (wie in gold watch ,Golduhr‘, bzw. auch erweiterte Einheiten auf der NOM-Ebene wie in white gold watch ,Weißgolduhr‘) oder Adverbien (wie in inside watch ,innere Uhr‘). Weiter heißt es (ebd.: 172): „Once English has lost its configurational morphology, there was no clear formal reason why the formal pattern should not also become a direct source of lexicalisation.“ Er nennt hier Beispiele für A-N-Konstellationen mit „classifying adjective“ wie musical instrument, solar energy, tropical disease oder racial hatred. Die Entsprechungen sind sowohl im Deutschen (mit Musikinstrument, Sonnenergie, Tropenkrankheit, Rassenhass) als auch im Dänischen N-N-Komposita.  

Bezüglich des Französischen ist zu beachten, dass artikellose de-Konstruktionen auch außerhalb der Domäne klassifikatorische Modifikation bzw. Nomination möglich sind: So erscheint bei der Anbindung eines indefiniten pluralischen Komplements mithilfe von de der Partitivartikel des nicht (l’absence de *(des) preuves ,Abwesenheit von Beweisen‘, vgl. Jones 1996: 206, → D1.2.1.3). Auch von daher erweist sich die de-Konstruktion als genuin syntaktisches, nicht lexikalisches Verfahren.

Im Polnischen kann aufgrund des Fehlens von Artikeln nicht zwischen syntaktisch reduzierten und voll ausgebauten NPs differenziert werden. Anders als im Französischen oder Englischen (wie auch im Deutschen) steht keine formale Präposition zur Verfügung. Es ist also entweder im Sinne eines syntaktischen Nominationsverfahrens der Genitiv (wie in tablica ogłoszeń ,schwarzes Brett‘) oder eine semantische Präposition zu setzen (wie die Präposition od ,ab, seit‘ in klucz od domu ,Hausschlüssel‘) bzw. eine syntaktische A-N-Verbindung (wie in ptak drapieżny ,Raubvogel‘). Festzuhalten ist, dass die sprachspezifischen Präferenzen im Prinzip für klassifikatorische Modifikation generell gelten, nicht nur für Nominationseinheiten (→ A4.2.3.1). Sie werden jedoch bei Nomination zugunsten der „wortnäheren“ Verfahren verstärkt. Dies wird im Deutschen sichtbar, wenn nominative und nicht-nominative Strukturen zu demselben Modifikator verglichen werden. Man vergleiche die nominativen (1) und

A3 Nomination

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die nicht-nominativen Strukturen (2) zu dem modifizierenden Begriff ,König‘. Die Nominationseinheiten sind präferiert Komposita mit dem Erstglied König, bei okkasionell klassifikatorisch modifizierten Einheiten wird eher auf das Relationsadjektiv königlich zurückgegriffen: (1)

Königspalast, Königskrone, Königsdrama, Königssohn

(2)

königliches Schlafgemach, königliches Erbe, königliche Gemäldesammlung

A3.4 Konzeptuelle Hierarchien und Nominationseinheiten im interlingualen Vergleich Folgt man der kognitiv orientierten Forschung zur menschlichen Kategorienbildung, so könnte man annehmen, dass so genannte „basic level categories“ (vgl. Berlin/ Kay 1969; Rosch 1977, 1978) sprachübergreifend durch simplizische Nominationseinheiten bezeichnet würden. Cruse (2002: 354) stellt am Beispiel des Englischen konzeptuelle Hierarchien für zwei unbelebte und ein belebtes Objekt vor, wobei der graphisch hervorgehobene Ausdruck für die „basic level category“ steht. Kategorien der Basisebene zeichneten sich gegenüber Nachbarkonzepten aus „durch Maximalisierung von Informativität, interne Homogenität und Distinktheit“. Dabei tendierten sie zu morphologischer Einfachheit und würden zuerst gelernt. Die cruseschen Hierarchien für die drei Konzeptfamilien sind so bezüglich der Vergleichssprachen zu ergänzen: (3) ENG DEU FRA POL UNG

object – machine – vehicle – CAR – hatchback Gegenstand – Maschine – Fahrzeug – AUTO – Fließheck(limousine) objet – machine – véhicule –VOITURE / AUTO – voiture à hayon arrière przedmiot – maszyna – pojazd – SAMOCHÓD / AUTO – hatchback dolog – gép – GÉPKOCSI / AUTÓ – ferde hátú

(4) ENG DEU FRA POL UNG

object – living thing – animal – DOG – spaniel Gegenstand – Lebewesen – Tier – HUND – Spaniel objet – être vivant – animal – CHIEN – épagneul przedmiot – istota żyjąca – zwierzę – PIES – spaniel dolog – élőlény – állat – KUTYA – spániel

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A Funktionale Domänen

(5) ENG DEU FRA POL UNG

object – implement – item of cutlery – SPOON – teaspoon Gegenstand – Gerät – Besteck – LÖFFEL – Teelöffel objet – appareil – couvert – CUILLIÈRE – petite cuillère / cuillière à café przedmiot – sprzȩt – sztućce – ŁYŻKA – łyżeczka do herbaty dolog – eszköz – evőeszköz – KANÁL – kávéskanál ,Kaffeelöffel‘ / teáskanál ‚Teelöffel‘

Die Tendenz zu morphologischer Einfachheit bei den Basiskategorien bestätigt sich in den Vergleichssprachen hier nicht vollständig. Zwar sind die präsumptiven Basiskategorien in zwei von den drei Fällen, nämlich in (4) und (5), in allen fünf Sprachen weder echte Derivate noch Komposita noch phrasale Nominationseinheiten. Aber DEU Löffel, FRA cullière und POL łyżka enden jeweils auf ein „Pseudosuffix“ (vgl. Eisenberg 2013a: 203). Sie ähneln also strukturell Suffixableitungen, ohne dass (zumindest synchron) die Segmentierung in Stamm und Suffix möglich wäre. Im dritten Fall, vgl. (3), ist nur im Englischen mit car eindeutig ein Simplex gegeben; FRA voiture enthält mit -ure (vgl. z. B. blessure ,Verletzung‘) wieder ein „Pseudosuffix“, im Polnischen und Ungarischen liegen Komposita vor (POL samochód: selbst+Gang, UNG gépkocsi: Maschine+Kutsche), DEU Auto ist ein Kurzwort zu der gräkolateinischen Bildung Automobil ,selbstbewegend‘.  

Auch in den anderen Vergleichssprachen ist das entsprechende Kurzwort FRA/POL/(amerikanisches) ENG auto, UNG autó in Konkurrenz zu indigenen Bildungen im Gebrauch. Die Herleitung aus einem neoklassischen Kompositum ist für die Sprecher (im Allgemeinen) ohne Belang. Dieser Internationalismus hat (vgl. z. B. auch Foto versus Fotografie, Dia versus Diapositiv, ENG phone versus DEU Telefon) also im Sprachverkehr den Status einer morphologisch einfachen, kurzen, leicht memorierbaren Einheit – wie oben erwähnt somit alles Voraussetzungen für die Bezeichnung einer Basiskategorie. Dies mag einer der Gründe sein, warum sie sich sprachübergreifend zumindest als Zweitform behauptet. ENG car (< LAT carrus ,Lastwagen‘) und FRA voiture (< LAT vectura ,Fahrzeug‘ zu vehere ,fahren‘) stellen in der Bedeutung ,Automobil‘ Bedeutungsverengungen dar, vgl. ähnlich DEU Wagen, das aber nur im gehobenen Sprachgebrauch mit Auto konkurriert.  

Für die untergeordnete Ebene bestätigt sich dagegen die Hypothese (vgl. Koch 2001: 1151); hier fänden sich „Komposita, deren Kopf der entsprechende Ausdruck der Basisebene“ (basic level term) ist. Oder, so wäre zu ergänzen, Ausdrücke, die eine andere Form morphologischer oder syntagmatischer Komplexität aufweisen. Bei den drei Konzeptfamilien kommen auf der untergeordneten Ebene (sieht man von den Entsprechungen für Spaniel ab) jeweils präferierte Verfahren der Nomination zum Zuge: Komposition im Deutschen, Englischen und Ungarischen, Derivation im Polnischen und syntaktische Komplexbildung im Französischen. Was die direkt der Basisebene übergeordnete Ebene angeht, so gilt in diesem Fall die Beobachtung von Koch (ebd.), nämlich dass häufig „the morphosyntactic features [. . .] are somewhat deviant“; es handle sich nicht um die für das Substantivlexikon prototypischen  



A3 Nomination

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numerusdifferenzierten Individuativa, sondern z. B. um (eher) kontinuative Kollektiva; vgl. → B1.4.2.5.2 (wie hier bei ENG cutlery, DEU Besteck) oder auch um Pluraliatantum wie hier bei POL sztućce; vgl. auch DEU Geschwister, ENG sibling zu den Basiskategorien Bruder/brother und Schwester/sister.  

Darüber hinaus ist auch auf das methodische Problem der Bestimmung von basic level terms hinzuweisen. Wenn etwa (vgl. Koch 2001: (table 85.82) 1146) für das im Deutschen, Englischen, Russischen usw. durch einen Ausdruck abgedeckte Konzept HAAR im Französischen, Italienischen wie auch im Ungarischen zwei Ausdrücke gelten (FRA cheveu ITA capello UNG haj ‚menschliches Kopfhaar‘, FRA poil ITA pelo UNG szőr ,Körperhaar‘), bzw. mit anderer Aufteilung das Polnische włos ,menschliches Kopfhaar‘ sowie sierść ,Tierhaar‘ ebenfalls zweifach, sowie andere Sprachen sogar drei- bzw. vierfach differenzieren, welcher Ausdruck repräsentiert die Basisebene? Auch für das häufig genannte Basiskonzept BIRD gibt es z. B. im Makedorumänischen (Aromunischen) keinen äquivalenten Ausdruck, nur pul’ für ,kleiner Vogel‘ (ebd.: 1151). Betrachtet man die Etablierung der Basisebene als kulturabhängig, so entfällt die Möglichkeit, sie als Tertium Comparationis zu nutzen. Allerdings gebe es durchaus Indizien für „different levels of abstraction“ bzw. „different cognitive styles“ (Ausdruck von Dell Hymes, vgl. Koch 2001: 1152) in verschiedenen Sprach- bzw. Kulturräumen.  

Im Folgenden wird noch an einigen Beispielen die interlinguale Varianz in der Nomination von Konzepten gezeigt. Bei Konzepten aus der Tier- und Pflanzenwelt scheint es generell keine direkte Korrespondenz zwischen der in der Biologie herausgehobenen Ebene der Spezies, der natürlichen Art, und der Konzeptualisierung als basic level term auf der Basis einer „Volks-Taxonomie“ (folk taxonomy, Koch 2001: 1151) zu geben. Eine Fokussierung auf Arten durch Belegung mit basic level terms gilt allenfalls für den Bereich der Hausund Nutztiere bzw. der großen Säugetiere (Hund, Katze, Pferd, Tiger, Löwe usw.) oder einige wenige besonders prominente Pflanzen (Baumarten wie Eiche, Blumen wie Rose). Ansonsten wird sprachspezifisch die Spezies-Ebene durch morphologisch simple Benennungen häufig unter- oder auch überschritten. Ein Beispiel für simplizische Benennungen unterhalb der Spezies-Ebene sind sprachübergreifend häufig die common names für Hunderassen wie durchgehend in (6) und partiell in (7) und (8). (6)

DEU Pudel ENG poodle FRA caniche POL pudel UNG uszkár

(7)

DEU Dackel (auch: Dachshund) ENG sausage dog FRA basset POL jamnik UNG tacskó

(8)

DEU Windhund ENG greyhound FRA levrier POL chart UNG agár

Im Deutschen werden auch Unterkonzepte zu Pferd durch Simplizia wie Schimmel, Rappe, Fuchs benannt, im Polnischen liegt mit siwek ,Schimmel‘ eine Ableitung zum Farbadjektiv siwy ,grau‘, mit kary eine Substantivierung des Farbadjektivs für ‚schwarz‘ vor, das Simplex POL kasztan ,Kastanie‘ ist ähnlich wie DEU Fuchs eine

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A Funktionale Domänen

Metapher. Im Lateinischen werden hier syntagmatische Fügungen als Nominationseinheiten gebraucht: LAT equus albus/niger/russeus (Koch 2001: 1151). Entsprechend heißt es FRA cheval blanc, cheval noir, cheval alezan. Die englischen und ungarischen Entsprechungen für Schimmel und Rappe sind syntagmatisch, ENG grey/white horse, black horse, UNG fehér ló [weiß + Pferd], fekete ló [schwarz + Pferd], für Fuchs steht in beiden Sprachen ein Simplex, das auf der Farbbezeichnung beruht: ENG chestnut – anders als POL kasztan (Substantiv) ,Kastanie‘ ist chestnut sowohl Substantiv als auch Adjektiv –, UNG sárga (Substantivierung des Adjektivs sárga ,gelb‘). Ein Beispiel für ein Simplex oberhalb der Spezies-Ebene ist DEU Beere, ENG berry, das konsequent zur Nomination von zum Teil ganz unterschiedlichen Frucht-Arten bzw. -Gattungen in Form endozentrischer Komposita herangezogen wird, während in den übrigen Kontrastsprachen keine solche Konzeptfamilie der „Beerenfrüchte“ existiert und die einzelnen Spezies voneinander unabhängige und z. T. simplizische Bezeichnungen tragen, vgl.:  

(9)

a. b. c. d.

DEU Erdbeere ENG strawberry FRA fraise POL truskawka UNG eper DEU Himbeere ENG raspberry FRA framboise POL malina UNG málna DEU Brombeere ENG blackberry FRA mûre POL jeżyna UNG szeder DEU Heidelbeere/Blaubeere ENG huckleberry/blueberry FRA myrtille POL jagoda UNG áfonya

Ein weiterer Varianzparameter betrifft die Frage, ob überhaupt ein Konzept in eine Begriffshierarchie einbezogen ist oder nicht. Im Bereich der Körperteilbezeichnungen betrifft dies z. B. das Verhältnis von ,Finger‘ und ,Daumen‘ sowie ,Finger‘ und ,Zeh‘. So würden nach Job (2005: 974) die Konzepte ,Finger‘ und ,Daumen‘ in den meisten SAE-Sprachen „monolexemisch unterschieden“, während im Türkischen der Ausdruck für ,Daumen‘ Hyponym zum Ausdruck für ,Finger‘ ist: TÜR başparmak ‚Hauptfinger, Daumen‘ zu parmak ,Finger‘. Auch ,Finger‘ und ,Zeh‘ werden in den SAESprachen im Prinzip lexikalisch geschieden, vgl. ENG toe, aber im Französischen existiert neben FRA orteil ,Zeh‘ auch FRA doigt de pied ,Fußfinger‘ sowie POL palec u nogi ,Finger am Bein‘, UNG lábujj ,Fußfinger, Zeh‘ zu láb ,Pfote, Fuß‘ und ujj ,Finger‘.  

A4

Modifikation

A4.1 Qualitative Modifikation  83 A4.1.1 Einleitung  83 A4.1.2 Semantische Strukturtypen und Charakteristika  90 A4.1.2.1 Intersektive und subsektive Strukturen  90 A4.1.2.2 Subsektive Strukturen  92 A4.1.2.3 Nicht-subsektive Strukturen  93 A4.1.2.4 Privative Strukturen  95 A4.1.2.5 Zusammenfassung  96 A4.1.3 Ausdrucksformen qualitativer Modifikatoren  96 A4.2 Klassifikatorische Modifikation  99 A4.2.1 Einleitung  99 A4.2.2 Semantische Charakteristika klassifikatorischer Strukturen  102 A4.2.2.1 Gegenstands- und ereignisbezeichnende Modifikatoren  103 A4.2.2.1.1 Kompositionalität vs. semantische Spezialisierung  103 A4.2.2.1.2 Nicht-Referentialität  104 A4.2.2.1.3 Klassifikatorische Strukturen als Artbezeichnungen  108 A4.2.2.2 Eigenschaftsbezeichnende Modifikatoren  109 A4.2.2.3 Abgrenzungen und Grenzfälle  112 A4.2.2.3.1 Zweckbezeichnungen  112 A4.2.2.3.2 Materialbezeichnungen  113 A4.2.2.3.3 Bezeichnungen für Nationalitäten, Ethnien und geografische Gebiete  116 A4.2.2.3.4 Form- und Farbbezeichnungen  117 A4.2.2.3.5 Kopf-Argument-Strukturen  118 A4.2.3 Strukturtypen und formale Charakteristika klassifikatorischer Modifikation  120 A4.2.3.1 Strukturtypen klassifikatorischer Modifikation  120 A4.2.3.2 Formale Charakteristika klassifikatorischer Modifikatoren  122 A4.3 Referentielle Modifikation  136 A4.3.1 Bestimmung  136 A4.3.2 Referentiell-verankernde („freie“) Modifikation  140 A4.3.2.1 Übersicht zu referentiell-verankernden Attributen nach Maßgabe ihrer Referenzfunktion  141 A4.3.2.1.1 Possessorattribute  141 A4.3.2.1.2 Adpositionale Attribute und ihre Äquivalente  144 A4.3.3 Argumentanbindung als Form referentieller Modifikation  147 A4.3.3.1 Possessive Argumente  148

A4.3.3.2

Exkurs zu den Argumenten für und wider die Analyse der Argumentsättigung als Spezialfall der Modifikation  150 A4.3.3.3 Argumente in Form von PPs  157 A4.3.3.4 Nicht-Realisierung von genitivischen Verb-Argumenten im Deutschen  162 A4.3.3.5 Schwach referentielle und pseudo-referentielle Modifikatoren  164 A4.3.3.5.1 Verankernde Modifikatoren  164 A4.3.3.5.1.1 Possessiva  164 A4.3.3.5.1.2 Wortbildungen auf der Basis von Eigennamen  165 A4.3.3.5.1.3 Adverbien  171 A4.3.3.5.1.3.1 Juxtaponierte Adverbien  171 A4.3.3.5.1.3.2 Adjektivierung und formale Verknüpfung von Adverbien  175 A4.3.3.5.2 Pseudo-referentielle Argumente  179

Lutz Gunkel

A4.1 Qualitative Modifikation A4.1.1 Einleitung Die qualitative Modifikation stellt einen zentralen Subtyp der funktionalen Domäne der Modifikation dar. Modifikation, so hatten wir gesehen, besteht generell in der Anreicherung eines Begriffs, der durch ein substantivisches Nominal der Kategorien N oder NOM ausgedrückt wird (vgl. hierzu – mit Blick auf attributive Adjektive – Wierzbicka 1986: 374).  

Anmerkung zur Terminologie: Wir unterscheiden im Anschluss an die logisch-semantische Tradition (vgl. Arnauld/Nicole 1662: 61 f.; Mill 1868: 31–48; Frege 1892; Carnap 1956; Montague 1974b) zwischen zwei semantischen Dimensionen von sprachlichen Ausdrücken, ihrer Intension und Extension. Diese Unterscheidung ist auf Ausdrücke beschränkt, die keine sog. „starren Designatoren“ sind, also keine Ausdrücke, die in allen möglichen Welten (in allen Möglichkeitskontexten), in denen sie überhaupt etwas bezeichnen, die gleiche Extension haben (vgl. Kripke 1980; LaPorte 2008). Starre Designatoren sind u. a. Eigennamen (zu deren Semantik → B1.4.3), möglicherweise Bezeichnungen für natürliche Arten (Gold, Tiger, vgl. Putnam 1975) sowie Ausdrücke, die Intensionen bezeichnen (Schönheit, vgl. etwa Gamut 1991). Intensionen nicht-wahrheitsfähiger Ausdrücke wie Substantive, Adjektive, Verben, Adverbien und deren „phrasale Projektionen“ bezeichnen wir auch als Begriffe, Intensionen wahrheitsfähiger Ausdrücke (Sätze) dagegen als Propositionen. Welcher ontologische Status Begriffen und Propositionen zukommt und wie diese im Rahmen einer semantischen Theorie zu konzipieren sind, lassen wir offen. Als Extension eines nicht-wahrheitsfähigen Ausdrucks, also eines Ausdrucks, dessen Intension ein Begriff ist, fassen wir die Menge der (außersprachlichen) Gegenstände auf, die unter den Begriff fallen. Dass ein Gegenstand a unter einen Begriff F fällt, der durch ein Prädikat F ausgedrückt wird, heißt, dass die Aussage ‚Fa‘ wahr ist (vgl. Tugendhat/Wolf 1983: 128). Begriffe können einfach oder komplex sein. Um diesen Unterschied beschreiben zu können, verwenden wir in einer theorieneutralen, aber reglementierten Redeweise den Begriff des Attributs. (Dieser semantisch-ontologische Begriff bleibt ausschließlich auf die vorliegende Skizze unserer wortbedeutungstheoretischen Grundannahmen beschränkt. Insbesondere ist er strikt abzugrenzen vom grammatischen Begriff des Attributs als Träger der syntaktischen Funktion der Attribution, → D1.1.3.3.2.) Attribute sind ein- oder mehrstellige intensionale Relationen; einstellige Attribute werden auch als Eigenschaften bezeichnet. Zudem nehmen wir an, dass es Attribute gibt, die „einfach“ sind in dem Sinne, dass sie sich nicht in weitere Attribute zerlegen lassen. Ein einfacher Begriff „enthält“ genau ein einfaches Attribut, „entspricht“ genau einem einfachen Attribut, „besteht aus“ genau einem einfachen Attribut oder „ist identisch mit“ genau einem einfachen Attribut – welche der Formulierungen hier zu wählen ist (‚enthalten‘, ‚entsprechen‘, ‚bestehen aus‘, ‚identisch sein mit‘), wäre im Rahmen einer semantischen Theorie zu klären. Ein komplexer Begriff dagegen „enthält“ (etc.) ein Bündel oder eine Menge von einfachen Attributen. Ein Begriff F kann durch Attribute „angereichert“ werden; dies geschieht dann, wenn zu den Attributen, die der Begriff F „enthält“ (etc.), weitere Attribute hinzukommen, die noch nicht in F enthalten sind, und auf diese Weise ein neuer und komplexerer Begriff Fʹ entsteht. Solche Anreicherung erfolgt sprachlich durch Modifikation. (Zu einer elaborierten Theorie der Wortbedeutung, an der sich die hier skizzierte Darstellung partiell orientiert und in der Begriffe als konzeptuelle Entitäten konzipiert sind, vgl. Lieb 1980a, 1983, 1985). – Wenn wir im Folgenden  













84

A Funktionale Domänen

terminologisch zwischen „Adjektivbegriffen“ und „Substantivbegriffen“ unterscheiden, so ist diese Unterscheidung zunächst informell. Wir setzen lediglich ein intuitives Verständnis dafür voraus, dass sich Ausdrücke, die typischerweise als Modifikatoren fungieren, begrifflich von Ausdrücken unterscheiden lassen, die typischerweise der Benennung (Nomination) dienen.

Bei qualitativer Modifikation erfolgt die begriffliche Anreicherung durch Qualitäten. Diese gehören unterschiedlichen Dimensionen an und werden übereinzelsprachlich durch Adjektive versprachlicht, sofern die betreffende Sprache über Adjektive verfügt (→ B1.3). Einige Beispiele solcher Dimensionen mit den entsprechenden Adjektiven aus dem Deutschen gibt (1) (vgl. auch Thompson 2004: 1112 im Anschluss an Dixon 1977: 31).  

(1)

a. groß, klein, lang, kurz, breit, schmal, weit, dick, dünn, hoch, tief (Länge, Fläche, Volumen) b. schwer, leicht (Gewicht) c. golden, gläsern (Material) d. rund, oval, eckig, viereckig (Form) e. rot, grün, blau (Farbe) f. alt, jung, neu (Alter) g. schnell, langsam (Geschwindigkeit) h. gut, schlecht, nützlich (Wert) i. männlich, weiblich (Geschlecht) j. warm, heiß, kalt, kühl (Temperatur) k. laut, leise (Lautstärke) l. freundlich, klug, schlau, verschlagen, böse, gerissen (Charaktereigenschaft) m. unverheiratet, verheiratet, geschieden, verwitwet (Familienstand)

Die Redeweise von der Anreicherung oder Modifikation eines Begriffs setzt voraus, dass die semantische Beziehung zwischen Modifikator und Modifikandum asymmetrisch ist. Dies gilt auch dann, wenn sich die Art der semantischen Verknüpfung extensional als Intersektion auffassen lässt. So kann etwa die Extension des Ausdrucks grünes Blatt als Durchschnitt der Extensionen von grün (i. e. der Menge aller grünen Gegenstände) und von Blatt (i. e. der Menge aller Blätter) beschrieben werden. Da Intersektion selbst eine symmetrische Operation ist – ebenso wie ihr prädikatenlogisches Gegenstück, die Konjunktion von Prädikaten – sagt die Art der Verknüpfung nichts darüber aus, welcher der Ausdrücke als Modifikator und welcher als Modifikandum fungiert bzw. welcher der beteiligten Begriffe durch welchen angereichert wird. Zugrunde liegt dieser Sichtweise die traditionelle philosophische Unterscheidung zwischen Eigenschaften und Gegenständen bzw. Adjektivbegriffen und Substantivbegriffen. Schreibt man dagegen Substantiven und Adjektiven Bedeutungen des gleichen Typs zu, indem man sie einheitlich als Eigenschaften analysiert, kann der Unterschied zwischen Modifikator und Modifikandum in der semantischen Repräsentation nicht nachvollzogen werden, vgl. (2):  



A4 Modifikation

(2)

85

a. grünes Blatt b. λx[grün(x) & blatt(x)]

Um hier eine Asymmetrie herstellen zu können, sind mindestens drei verschiedene Strategien denkbar. Zunächst ließe sich annehmen, dass die semantische Asymmetrie syntaktisch induziert wird. Dies entspräche der Annahme, dass die Semantik natürlicher Sprachen nicht einfach logisch-semantische Verhältnisse abbildet, sondern „entlang“ der Syntax verläuft und ggf. zusätzliche Differenzierungen einbringt; vgl. dazu auch → D1.1.3.1.18. So schlagen etwa Kamp/Partee (1995: 161) vor, dass die Interpretation von Modifikator-Modifikandum-Strukturen einem allgemeinen Interpretationsprinzip unterliegt, das sie Head Primacy Principle nennen:  

In a modifier-head structure, the head is interpreted relative to the context of the whole constituent, and the modifier is interpreted relative to the local context created from the former context by the interpretation of the head.

Dieses Prinzip sorgt u. a. dafür, dass Fälle wie (3a) und (3b), in denen Modifikator und Modifikandum insofern semantisch ähnlich sind, als sie ihre semantischen Funktionen auch vertauschen könnten, im angegebenen Sinn unterschiedlich interpretiert werden. Es ist klar, dass ein solches Prinzip dann in „gewöhnlichen“ intersektiven Strukturen wie (2) a fortiori appliziert und Interpretationen wie ,blättrige Grünheit‘ o. Ä. ausschließt.  



(3) a. giant midget ,riesenhafter Zwerg‘ ENG b. midget giant ,zwergenhafter Riese‘ Eine weitere Möglichkeit besteht darin, die Bedeutungen von Adjektiven grundsätzlich anders zu konzipieren als die von Substantiven. Je nachdem, ob man hier bei den Adjektiven oder den Substantiven ansetzt, sind zwei unterschiedliche Wege denkbar, die in der Tradition tatsächlich beschritten wurden. Für den ersten Weg steht die Analyse von Montague (1974a: 211–213) – vgl. auch Kamp (1975: 127), Parsons (1980: 54–56), zum Deutschen die IDS-Grammatik (1997: 1997–2006) –, in der Adjektivbedeutungen einheitlich als Funktionen konzipiert werden, die Eigenschaften auf Eigenschaften abbilden. Werden Substantivbedeutungen als Eigenschaften oder Eigenschaftskomplexe aufgefasst, wären Adjektivbedeutungen demnach Funktionen von Substantivbedeutungen in Substantivbedeutungen. Für Adjektive mit einer intersektiven Semantik wie z. B. den Farbadjektiven liegt eine solche Analyse jedoch nicht auf der Hand; sie wird von Montague (1974a) – ausgehend von Adjektiven mit nicht-intersektiver Semantik – auf diese Klasse verallgemeinert, um für alle semantischen Klassen von Adjektiven eine einheitliche Analyse zu gewinnen. (Partee 2010: 273 nennt dies „[t]he strategy of ‘generalizing to the worst case’“, vgl. auch Partee 1995b: 343).  

86

A Funktionale Domänen

Der zweite Weg zeigt sich in verschiedenen Vorschlägen, die Semantik der Substantive (womit im Folgenden ausschließlich Appellativa gemeint sind) anders zu konzipieren als die der Adjektive. Zunächst gilt der Hinweis von Hermann Paul, dass die Bedeutungen von Substantiven üblicherweise komplexer sind als die von Adjektiven (vgl. auch Jespersen 1924: 75): „Das Adj. bezeichnet eine einfache oder als einfach vorgestellte Eigenschaft, das Subst. schliesst einen Komplex von Eigenschaften in sich.“ (Paul 1920c: 358 f.). Paul weist allerdings darauf hin, dass diese Charakterisierung angesichts der Möglichkeit, Substantive zu adjektivieren (kriegerisch) und Adjektive zu substantivieren bzw. – in der Terminologie von → D2 – zu nominalisieren (der Gute), Einschränkungen unterliegt (ebd.: 359). Er zeigt dann aber, dass der Übergang in die jeweils andere Kategorie häufig mit Bedeutungsveränderungen im Sinne einer Annäherung an den jeweiligen Prototyp verbunden ist: Nominalisierte Adjektive nehmen manchmal Merkmale an, die über die Bedeutung der adjektivischen Basis hinausgehen; man denke etwa an der Alte in pejorativem Sinne (mit Merkmalen wie ,altmodisch‘, ,starrsinnig‘ usw.) oder auch in positivem Sinne (mit Merkmalen wie ,erfahren‘, ,altersweise‘). Und umgekehrt können sich desubstantivische Adjektive „[…] zu Bezeichnungen ganz einfacher Qualitäten entwickeln“ (ebd.: 359), wie sich vor allem am Beispiel von Farbadjektiven (wie in DEU orange < Orange, FRA lilas < lilas ‚Flieder‘, FRA violet ‚violett‘ < violette ‚Veilchen‘) belegen lässt. Was Substantive angeht, so findet sich eine analoge Argumentation bei Wierzbicka (1986: 359), einerseits mit Blick auf Substantive, die sich zumindest synchron nicht als deadjektivisch einstufen lassen, aber ähnlich wie Adjektive nur einzelne Eigenschaften auszudrücken scheinen (ENG fool ,Dummkopf‘ vs. stupid ,dumm‘, saint ,Heiliger‘ vs. holy ,heilig‘), andererseits auch in Bezug auf synchron deadjektivische Substantive (ENG blonde ‚Blondine‘, fatty ,Dicker‘):  



I think that, generally speaking, an adjective can be used as a noun if, for cultural reasons, the property described by this adjective is seen as constituting “a type”.

Tatsächlich sieht Wierzbicka den wesentlichen semantischen Unterschied zwischen Substantiven und Adjektiven darin, dass Substantive zur Kategorisierung von Gegenständen dienen, indem sie Arten (kinds) bezeichnen, während Adjektive nicht zur Kategorisierung, sondern zur Beschreibung von Gegenständen herangezogen werden (ebd.: 357 f.). Eine ähnliche Auffassung vertritt bereits Bloomfield (1933: 202), vgl. auch → A3.1. Wierzbicka (1986: 360) geht noch einen Schritt weiter und behauptet, dass Substantivbedeutungen zwar durch die Angabe eines Bündels von Eigenschaften paraphrasiert werden können, aber nicht in solchen Eigenschaftsbündeln aufgehen:  



The meaning of a noun cannot be represented as a set of “features”, because the basic function of a noun is to single out a certain KIND, a kind which may be partly described in terms of features but which cannot be reduced to a set of features.

Da der Artbezeichnungscharakter von Substantiven damit ein irreduzibles Moment ihrer Bedeutung ist, stellt sich die Frage, woran sich dieses Merkmal festmachen lässt.

A4 Modifikation

87

Die oben zitierten Arbeiten belassen es entweder bei der Feststellung eines grundsätzlichen Unterschieds zwischen Kategorisierung und Charakterisierung oder ergänzen diese Unterscheidung durch Hinweise auf eine komplexere Bedeutungsstruktur von Substantiven. Wie auf diese Weise Arten und Eigenschaften semantisch-ontologisch voneinander abgegrenzt werden können, bleibt dabei offen. Thematisiert wird diese Frage in Arbeiten, die in der Tradition der philosophischen Semantik stehen und ebenfalls dafür plädieren, Substantive – als Bezeichnungen für Arten – von Adjektiven – als Bezeichnungen für Eigenschaften – semantisch abzugrenzen. Eine der wichtigsten dieser Arbeiten ist Geach (1970); eine formale Umsetzung der Grundidee findet sich in Gupta (1980). Nach Geach (1970: 39 f.) besteht die Kategorisierungsleistung von Substantivbedeutungen gerade darin, Identitätsbedingungen für die Gegenstände zu beinhalten, die durch sie kategorisiert werden:  









I maintain that it makes no sense to judge whether x and y are “the same”, or whether x remains “the same”, unless we add or understand some general term—“the same F”. That in accordance with which we thus judge as to the identity, I call a criterion of identity […] I shall call “substantival” a general term for which “the same” does give a criterion of identity. Countability is a sufficient condition for considering a term as substantival; this is so because we (logically) cannot count As unless we know whether the A we are now counting is the same A as we counted before. But it is not necessary, in order that “the same A” shall make sense, for the question “How many As?” to make sense; we can speak of the same gold as being first a statue and then a great number of coins, but “How many golds?” does not make sense; thus “gold” is a substantival term, though we can not use it for counting.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang dreierlei: Zunächst die zentrale These, dass sich die Frage nach der (numerischen) Identität oder Verschiedenheit eines Gegenstands – worunter in diesem Zusammenhang nicht nur Einzeldinge, sondern auch Substanzen zu fassen sind – nur sinnvoll unter Rekurs auf Ausdrücke wie der/die/das gleiche F stellen lässt, wobei ‚F‘ für ein Substantiv („einen substantivischen Term“) steht, das sowohl ein Individuativum (vgl. (4)–(6)) als auch ein Kontinuativum (vgl. (8)) sein kann. (4)

a. Sind die Bücher, die jetzt in deinem neuen Büro stehen, die gleichen Bücher, die in deinem alten Büro standen? b. Bring mir bitte zwei verschiedene Bücher!

Betrachten wir dagegen Beispiele, in denen der relevante Ausdruck kein Substantiv, sondern lediglich ein Adjektiv enthält. Sätze wie (5a) und (6a) sind nur dann semantisch wohlgeformt, wenn die relevanten Ausdrücke elliptisch zu verstehen sind, also z. B. wie die entsprechenden Sätze in (5b) und (6b), wobei das relevante Substantiv aus dem Kontext ergänzt oder auch durch Zeigegesten ermittelt werden kann.  

(5)

a. Sind die dicken, die jetzt in deinem neuen Büro stehen, die gleichen, die in deinem alten Büro standen?

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A Funktionale Domänen

b. Sind die dicken Bücher, die jetzt in deinem neuen Büro stehen, die gleichen Bücher, die in deinem alten Büro standen? (6)

a. Bring mir bitte zwei verschiedene interessante. b. Bring mir bitte zwei verschiedene interessante Bücher.

Eine zweite Möglichkeit, die etwa in Beispiel (7) vorliegt, besteht darin, das Adjektiv als Attribut durch ein semantisch weitgehend leeres Substantiv wie Etwas, Ding, Gegenstand, Substanz, Stoff etc. zu ergänzen (vgl. (7a)) oder alternativ das Adjektiv „nominal zu verwenden“ (vgl. (7b), → D2.1.1).  

(7)

a. Ist dies der gleiche rote Gegenstand wie der? b. Ist das der gleiche Dicke wie gestern?

Hier wird das Identitätskriterium jedoch nicht durch das Adjektiv geliefert, sondern durch einen spezifischen Substantivbegriff, der mit dem jeweiligen Ausdruck assoziiert wird (vgl. Dummett 1981: 547 f.). Eine Frage wie (7a) ist stets zu verneinen, wenn der Sprecher mit dies und der auf Gegenstände verschiedenen Typs referiert, auch wenn sie von der gleichen roten Farbe sind. Bei nominalen Verwendungen wie (7b) muss der Referent ohnehin eine Person sein (→ D2.1.1), deren Geschlecht zudem durch das Genus des Ausdrucks festgelegt wird. Das Identitätskriterium liefert in diesem Fall daher der Begriff ,weibliche Person‘ bzw. ,männliche Person‘. Der zweite Punkt betrifft die Tatsache, dass Geach explizit Individuativa und Kontinuativa, und damit alle Appellativa gegenüber Adjektiven semantisch abgrenzt und die identitätsstiftende Funktion von Substantivbedeutungen nicht auf sortale Prädikate beschränkt (vgl. dazu auch Dummett 1981: 548 f.). Üblicherweise dient der Begriff des sortalen Prädikats (oder äquivalenter Konzepte) dazu, Individuativa gegenüber Kontinuativa und Adjektiven abzugrenzen, so etwa in Strawson (1959: 168) oder auch Quine (1960: 91), der als Beispiel für einen mass term auch das Adjektiv red anführt. (Zur Geschichte und Problematik des Begriffs sortals vgl. Grandy 2008.) Wie die Beispiele in (8) zeigen, können Kontinuativa ebenso identitätsstiftend fungieren wie Individuativa.  





(8)

a. Ist der Nasenring aus demselben Gold, aus dem vorher deine Ohrringe waren? b. Ist der Ketchup an der Wand derselbe Ketchup, der vorher in der Flasche war?

Der dritte erwähnenswerte Punkt besteht darin, dass die semantische Abgrenzung gegenüber Adjektiven nicht nur für solche Substantive erfolgt, die sog. natürliche Arten bezeichnen (natural kind terms, NKTs), wie es manchmal in der Literatur vorgeschlagen wird (so z. B. in Hamann 1991: 659 im Anschluss an Carlson 1991). So hebt Carlson (1991: 382) hervor: „[…] it is quite clear that the category of nouns alone has the logical properties necessary for the expression of natural kinds.“ Aber es ist  

89

A4 Modifikation

ebenso klar, dass viele prototypische Substantive gerade keine natürlichen Arten, sondern Artefakte – Geach etwa nennt die Beispiele Münzen und Statuen (s. o.) – bezeichnen, wie die Charakterisierung des Begriffs der natürlichen Art in Carlson (1991: 370) deutlich macht:  

The central cases of natural kinds are generally taken to include species of plants and animals such as lemon-trees and tigers, chemical substances such as gold or helium, elements of physical theory such as electrons or quarks, diseases such as measles and polio and perhaps phenomena like heat and pain. In general, natural kinds are the sorts of things that are naturally amenable to scientific investigation.

Allerdings wird der Begriff der natürlichen Art gelegentlich auch weiter gefasst, so dass er auch Artefakte einschließt (und möglicherweise ist er von Carlson (1991) auch in diesem weiteren Sinn intendiert). So schreibt etwa Chierchia (1998b: 348) unter Bezugnahme auf Carlson (1977) und Krifka et al. (1995): By ‘natural’ kinds, we do not necessarily mean, in the present context, just biological ones or even ‘well-established’ ones. Artifacts (like chairs or cars) or complex things (like intelligent students or spots of ink) can qualify as kinds, to the extent that we can impute to them a sufficiently regular behavior […]. What counts as kind is not set by grammar, but by the shared knowledge of a community of speakers. It thus varies, to a certain degree, with the context, and remains somewhat vague. Lexical nouns identify kinds. Complex nouns may or may not.

Chierchia schreibt damit einfachen Substantiven die Eigenschaft, Arten zu bezeichnen, gewissermaßen als kategoriales Merkmal zu, ähnlich wie Wierzbicka (1986) mit Blick auf „prototypical nouns“ (ebd.: 360, 385, Fn. 2). Komplexen Substantiven und – so ließe sich ergänzen – komplexen Nominalen kann dagegen ein solcher Charakter nur unter speziellen Bedingungen zukommen. Morphologisch einfache Substantive sind damit Artbezeichnungen par excellence; komplexe Substantive und komplexe Nominale kommen desto eher als Artbezeichnungen in Frage, je mehr sie einfachen Substantiven in syntaktischer und semantischer Hinsicht ähneln (→ A4.2, → A3.3). Festzuhalten bleibt, dass sich Substantivbegriffe im prototypischen Fall von Adjektivbegriffen unterscheiden. Substantivbegriffe sind komplex und liefern Identitätskriterien für Gegenstände, die unter sie fallen. Adjektivbegriffe sind in aller Regel nicht komplex und fungieren nicht identitätsstiftend. Abweichungen von den begrifflichen Prototypen können sich im Fall von Substantivierungen bzw. Adjektivierungen einstellen. Offen bleibt, ob der Artbezeichnungscharakter von Substantiven als ein „essentielles“ Merkmal der Wortart Substantiv nachgewiesen werden kann oder nicht lediglich durch die Komplexität ihrer Bedeutungsstruktur bedingt ist.  



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A Funktionale Domänen

A4.1.2 Semantische Strukturtypen und Charakteristika A4.1.2.1 Intersektive und subsektive Strukturen Die Annahme einer funktionalen Subdomäne der qualitativen Modifikation setzt voraus, dass sich die betreffenden Modifikationsstrukturen durch einheitliche semantische Charakteristika auszeichnen. Solche Charakteristika bestehen in der Art der semantischen Beziehung zwischen Modifikandum und Modifikator. Den konzeptuell einfachsten Fall einer solchen Beziehung stellt die Intersektion ihrer Extensionen bzw. die logische Konjunktion ihrer prädikatenlogischen Repräsentationen dar. Im Folgenden wird zu prüfen sein, ob sich alle Fälle von qualitativer Modifikation so analysieren lassen. Weitgehend unbestritten ist, dass sich die Modifikation durch absolute Adjektive wie grün, viereckig oder verheiratet (→ B1.3) als Intersektion beschreiben lässt; das gilt auch für NPs oder PPs wie von grüner Farbe, deren nominaler Teil aus einem absoluten Adjektiv und dem dazu passenden substantivischen Dimensionsausdruck besteht. Für qualitative Modifikatoren dieses Typs lässt sich ein allgemeines Schema für die Bedeutungskomposition wie in (9a) wiedergeben, wobei ‚P‘ für einen beliebigen qualitativen Modifikator und ‚N‘ für ein beliebiges Substantiv steht. Ein Anwendungsbeispiel ist (9b) (vgl. etwa Partee 1995b: 323 f.).  



(9)

a. Ein nominaler Ausdruck, der aus einem qualitativen Modifikator P und einem nominalen Modifikandum N besteht, bezeichnet diejenige Menge von Gegenständen, die sich aus dem Durchschnitt der Extensionen von P und N ergibt. b. ||grünes Blatt|| = ||grün|| Ç ||Blatt||  

Dagegen wird die Modifikation durch relative Adjektive wie klein oder schnell (oder entsprechende NPs/PPs wie von kleiner Größe oder von großer Schnelligkeit) oft als nicht-intersektiv charakterisiert. Bei Intersektivität – so das Standardargument – müsste aus den Prämissen Jumbo ist ein kleiner Elefant und Jumbo ist ein Tier der Satz Jumbo ist ein kleines Tier folgen (vgl. Parsons 1970: 322). Dieser Schluss ist aber ungültig, da Jumbo zwar ein kleiner Elefant, aber durchaus ein großes Tier sein kann. Wichtig ist jedoch, dass relative Adjektive oder – allgemeiner formuliert – relative Modifikatoren nicht einfach Mengen von Gegenständen bezeichnen, die unabhängig vom sprachlichen und situativen Kontext gegeben sind. Eine Menge von kleinen Gegenständen, um das obige Beispiel aufzugreifen, lässt sich daher überhaupt nicht absolut bestimmen; was sich lediglich bestimmen lässt, sind Mengen von Gegenständen, die klein sind relativ zu bestimmten Parametern. So argumentieren Partee (1995b: 330–336) sowie Heim/Kratzer (1998: 70–72) – vor allem im Anschluss an Kamp (1975) und Siegel (1976) –, dass relative Adjektive in semantischer Hinsicht grundsätzlich kontextabhängig und vage sind:  

A4 Modifikation

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„[…] “relative” adjectives like tall, heavy, and old are context-dependent as well as vague, with the most relevant aspect of context a comparison class that is often, but not exclusively, provided by the noun of the ADJ + N construction.“ (Partee 1995b: 331)

Entscheidend ist hierbei die Relativierung auf eine Vergleichsmenge von Gegenständen, die im kanonischen Fall (s. u.) eine Teilmenge der Extension des Kopfsubstantivs ist. In dem obigen Beispiel Jumbo ist ein kleiner Elefant wird also die vage Grundbedeutung des Adjektivs auf eine Vergleichsmenge von (eventuell kontextuell gegebenen) Elefanten relativiert und dadurch semantisch angepasst. Heim/Kratzer (1998: 71) schlagen für ENG small ,klein‘ die Bedeutungsexplikation in (10a) vor, die sich in mengentheoretischer Notation wie in (10b) wiedergeben lässt.  

(10)

a. „‖ small ‖ = λx Î De . x’s size is below c, where c is the standard made salient by the utterance context“ b. ‖ klein ‖ = { X | X ist ein Gegenstand und die Größe von X liegt unter C, wobei C ein durch den Äußerungskontext gegebener Standard ist.} c. ‖ kleiner Elefant ‖ = ‖ klein ‖ Ç ‖ Elefant ‖

Die Extension des Ausdrucks kleiner Elefant ist die Schnittmenge aus der Menge aller Elefanten und der Menge aller Gegenstände, deren Größe unter dem durch den Äußerungskontext gegebenen Standard liegt, vgl. (10c). (Als durch den Äußerungskontext gegebenen Standard kommt u. a. die Standardgröße von Elefanten in Frage.)  

Dass aus Jumbo ist ein kleiner Elefant nicht zwingend Jumbo ist ein kleines Tier folgt, liegt daran, dass sich der Kontext vom ersten zum zweiten Satz ändern kann, etwa dann, wenn der relevante Kontext in beiden Fällen durch das jeweilige Kopfsubstantiv geliefert wird. Ist der Kontext hingegen konstant, wäre der betreffende Schluss gültig (vgl. Heim/Kratzer 1998: 71).

Dass der für die Bestimmung der Vergleichsklasse ausschlaggebende Äußerungskontext nicht allein vom Bezugssubstantiv abhängt, zeigen die Beispiele in (11). (11)

a. Jumbo, der Elefant, hat kleine Ohren. b. Fritz, die Maus, hat große Ohren.

Aus (11a) und (11b) kann nicht geschlossen werden, dass die Ohren des Elefanten kleiner sind als die der Maus. Also muss für die Bestimmung der Vergleichsklasse die Information hinzugezogen werden, dass es sich einmal um die Ohren eines Elefanten und einmal um die einer Maus handelt. Daneben besteht die Möglichkeit, dass das Bezugssubstantiv für die Bestimmung der Vergleichsmenge gar keine Rolle spielt. Dieser Fall fällt möglicherweise mit dem der nicht-restriktiven Modifikation zusammen, was zumindest die diesbezüglichen, in der Literatur angeführten Beispiele nahelegen (vgl. Higginbotham 1985; Partee 1995b; Heim/Kratzer 1998: 71). Wird der Modifikator in einem Ausdruck wie die großen

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A Funktionale Domänen

Elefanten und die kleinen Mäuse nicht-restriktiv verwendet, wird die relevante Eigenschaft nicht durch die Bedeutung des Kopfsubstantivs parametrisiert, sondern durch andere Begriffe, bei denen es sich auch schlicht um Begriffe von kontextuell gegebenen und/oder salienten Gegenständen handeln kann: Von den großen X lässt sich auch dann reden, wenn die X in dem fraglichen Äußerungskontext (signifikant) größer sind als alle anderen Gegenstände. Generell offen ist die Wahl des Parameters bei prädikativer Verwendung relativer Adjektive; hier kann der Parameter durch die Bedeutung des Bezugssubstantivs gegeben werden, muss es aber nicht (vgl. Higginbotham 1985: 563). Vagheit ist im Übrigen nicht auf die Klasse der relativen Adjektive beschränkt, sondern zeigt sich auch bei Teilklassen von Adjektiven, die üblicherweise zu den absoluten Adjektiven gezählt werden, wie etwa Form- oder Farbadjektive (vgl. Kamp/ Partee 1995: 143). Anders als bei absoluten Adjektiven wie verheiratet oder schwanger variiert die Bedeutung eines Form- oder Farbadjektivs wie rund oder rot mit der des Bezugssubstantivs: Ein rundes Gesicht oder eine rote Nase sind auf andere Weise rund bzw. rot als etwa eine runde Kuchenform oder eine rote Nelke.

A4.1.2.2 Subsektive Strukturen In den vorangehenden Abschnitten hatten wir dafür argumentiert, dass typische Fälle von qualitativer Modifikation als intersektive Strukturen analysiert werden können, und zwar auch dann, wenn sie – bei adjektivischen Modifikatoren – relative Adjektive involvieren. Der Musterfall einer intersektiven Struktur liegt sicher bei absoluten Adjektiven vor, während bei relativen Adjektiven eine geeignete Kontextualisierung vorausgesetzt werden muss. Neben diesem prototypischen Strukturtyp existiert ein zweiter, „irreduzibel“ subsektiver Typ, der sich nicht unter Rekurs auf Intersektion beschreiben lässt. Kennzeichen dieses Typs ist, dass der qualitative Modifikator selbst eine „Eigenschaft“, „Funktion“ oder „soziale Rolle“ eines Gegenstandes (einer Person) modifiziert, die dem Gegenstand (der Person) als Ganzem zukommt, wie das gerade für Funktionen oder (soziale) Rollen charakteristisch ist. Hier wird nicht dem Gegenstand selbst, sondern einer seiner Eigenschaften (Funktionen, Rollen) eine Eigenschaft zugeschrieben. Typische Beispiele dieser Modifikationsstrukturen beinhalten relative Adjektive wie in (12a), es können aber auch absolute Adjektive wie in (12b) auftreten (vgl. Kamp 1975; Kamp/Partee 1995; Bouchard 2002; Partee 2010: 275). (12)

a. talentierter Imker, guter Friseur, schneller Läufer b. promovierter Chemiker, begnadigter Mörder

Tatsächlich ist die Menge der talentierten Imker eine Teilmenge der Menge der Imker und die Menge der promovierten Chemiker eine Teilmenge der Menge der Chemiker.

A4 Modifikation

93

Aber keine dieser Mengen lässt sich durch Intersektion gewinnen. Ein und dieselbe Person kann als Imker talentiert, als Kaninchenzüchter aber völlig untalentiert sein. Analog kann eine Chemie- und Physiklehrerin als Chemikerin promoviert sein, als Physikerin dagegen nicht. Würde man die Menge aller in irgendeiner Hinsicht talentierten Personen mit der Menge aller Imker schneiden, enthielte die Schnittmenge wohl ebenso Personen, die gleichzeitig talentierte Imker und untalentierte Kaninchenzüchter sind, wie solche, die gleichzeitig untalentierte Imker und talentierte Kaninchenzüchter sind. (Und Analoges gilt für den Fall der Lehrer, die nur in einer ihrer beiden akademischen Ausbildungen promoviert sind.) Und das zeigt, dass sich die Bedeutungskomposition der fraglichen Ausdrücke nicht via Intersektion erklären lässt, formal handelt es sich lediglich um einen Fall von Subsektion. Zu beachten ist, dass der Unterschied zu den im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen Strukturen mit relativen Adjektiven darin besteht, dass dort der Adjektivbegriff (z. B. klein wie in kleine Maus oder kleiner Elefant) unter Rekurs auf eine Vergleichsmenge extensionaler Entitäten und einen kontextuell gegebenen Standard relativiert wird. Bei den rein subsektiven Strukturen dagegen ist das nicht möglich, weil es hier nicht um die Zuschreibung einer Eigenschaft zu einem Gegenstand, sondern zu einer Eigenschaft geht (die Eigenschaft, ein Imker zu sein, oder die Eigenschaft, ein Chemiker zu sein). Relativiert man aber einen Begriff wie ‚talentiert‘ auf die Eigenschaft, ein Imker zu sein, erhält man einen Begriff wie ‚talentiert als Imker‘, d. h., die Semantik des Gesamtausdrucks ergibt sich bereits durch die Parametrisierung des Modifikators. Die entsprechende Bedeutung des Gesamtausdrucks wäre damit allenfalls trivialerweise intersektiv.  



A4.1.2.3 Nicht-subsektive Strukturen Nicht-subsektiv ist die Modifikation in Beispielen wie (13) und (14); kennzeichnend für diese Strukturen ist ferner, dass der Modifikationsausdruck nicht prädikativ verwendbar ist, vgl. (15). Adjektive, die in dieser Funktion auftreten, können in der Regel auch adverbial gebraucht werden, vgl. (16). (13) DEU ENG

(14) DEU

frühere, zukünftige, gegenwärtige Ehefrau his current girlfriend, an erstwhile gangster, the eventual outcome, his former wife, future progress, new friend, my old school, the original plan, past students, the present manager, the previous attempt, its ultimate demise (Huddleston/Pullum 2002: 556)

angebliche, vermutliche, mutmaßliche, wahrscheinliche, mögliche, tatsächliche Attentäter

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A Funktionale Domänen

ENG

the actual cause, an apparent discrepancy, a certain winner, the likely benefits, a possible explanation, a potential customer, the probable result, the putative father, the true course of events (ebd.: 557)

(15)

a. *Der Präsident ist zukünftig. b. *Der Attentäter ist angeblich.

(16)

a. Er ist der frühere Präsident. – Er war früher der Präsident. b. Er ist der angebliche Attentäter. – Er ist angeblich der Attentäter.

Die Menge der früheren Präsidenten ist keine Teilmenge der Menge der Präsidenten, die Menge der angeblichen Attentäter ist nicht notwendigerweise eine Teilmenge der Menge der Attentäter. Die Menge der gegenwärtigen Präsidenten fällt allerdings mit der Menge der Präsidenten zusammen, Analoges gilt für die Menge der tatsächlichen Attentäter. Dennoch scheint zumindest auf den ersten Blick (siehe aber unten) keine dieser Modifikationen von der Art zu sein, dass es darum geht, bestimmte Teilmengen aus der Extension des Kopfsubstantivs herauszuschneiden. Vielmehr haben Kopf-Modifikator-Strukturen dieses Typs die Aufgabe, das Zutreffen des durch das Kopfsubstantiv ausgedrückten Begriffs auf ein Referenzobjekt in einer temporalen oder modalen Dimension zu parametrisieren. Ein zukünftiger Präsident ist eine Person, auf die der Begriff des Präsidenten zu einem (nicht näher spezifizierten) zukünftigen Zeitpunkt zutrifft, ein angeblicher Attentäter eine Person, auf die der Begriff des Attentäters in einer epistemisch-modalen Dimension zutrifft. Im Rahmen einer Möglichen-Welten-Semantik würde man davon sprechen, dass die betreffenden Begriffe in einer temporal-zukünftigen bzw. einer epistemisch-modalen Welt auf die Person zutreffen. Letztlich heißt das aber auch nichts anderes, als dass die Begriffe (bzw. Intensionen) temporal bzw. modal parametrisiert sind.

Auffällig ist aber, dass Temporalisierungen und Modalisierungen dieses Typs überhaupt als Modifikator-Kopf-Strukturen mit adjektivischem oder partizipialem Attribut – und damit nach dem prototypischen Muster der qualitativen Modifikation – versprachlicht werden. Wie die Beispiele in (17) zeigen, besteht diese Möglichkeit auch in den Kontrastsprachen.  

(17) ENG FRA POL



the former/future president ,der frühere/zukünftige Präsident‘, the alleged/ possible assassin ,der angebliche/mögliche Attentäter‘ l’ancien/le futur président ,der frühere/zukünftige Präsident‘, le présumé/ l’éventuel assassin ,der angebliche/mögliche Attentäter‘ były/przyszły prezydent ,früherer/zukünftiger Präsident‘, rzekomy/możliwy zamachowiec ,angeblicher/möglicher Attentäter‘

A4 Modifikation

UNG

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az állítólagos gyilkos ‚der angebliche Mörder‘, a jelenlegi és az egykori tagok ‚die gegenwärtigen und die ehemaligen Mitglieder‘

Der Konnex zu subsektiven Strukturen lässt sich jedoch durch folgende Überlegung herstellen. Betrachtet man als Extension von Appellativa wie Präsident oder Attentäter nicht nur die Personen, auf die die Begriffe in der Gegenwart tatsächlich zutreffen, sondern auch diejenigen, auf die sie zu einer beliebigen Zeit tatsächlich oder nach deontischen und epistemischen Gesichtspunkten möglicherweise zutreffen könnten, erweisen sich die Modifikationsstrukturen als subsektiv: Aus der temporal und modal unbeschränkten Gesamtmenge aller Präsidenten und Attentäter wird jeweils eine Teilmenge herausgegriffen.

A4.1.2.4 Privative Strukturen In analoger Weise lassen sich Modifikationen durch sog. privative Adjektive wie in (18) erfassen. (18) DEU ENG FRA POL UNG

falsche Diamanten false diamonds faux diamants fałszywe diamenty hamis gyémántok

Modifikationen dieser Art sind auf den ersten Blick ebenfalls nicht-subsektiv: Die Menge der falschen Diamanten ist keine Teilmenge der Menge der Diamanten, denn falsche Diamanten sind keine Diamanten. Die Modifikation führt dazu, dass der modifizierte Begriff (,falsche Diamanten‘) gerade nicht auf das zutrifft, was unter den unmodifizierten Begriff (,Diamant‘) fällt. Dass es dennoch einen sachlichen Zusammenhang zwischen falschen Diamanten und Diamanten geben muss, zeigt sich schon darin, dass niemand auf die Idee käme, einen Marshmallow als falschen Diamanten zu bezeichnen. Falsche Diamanten sind Gegenstände, die so aussehen wie Diamanten und damit mit Diamanten in einer Ähnlichkeitsbeziehung stehen. Partee (2010) argumentiert dafür, dass in solchen Fällen die Extension des Appellativums erweitert wird, so dass nicht nur die echten Diamanten, sondern auch die falschen dazugehören. Nur unter dieser Annahme ist auch die Redeweise von echten Diamanten sinnvoll, die ansonsten ein reiner Pleonasmus wäre. Privative und redundante Modifikation durch Adjektive wie echt, richtig, wirklich etc. bilden dabei zwei Seiten desselben Typs. Dass solche Akkommodierungen häufig auftreten, zeigen Bildungen wie in (19).

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(19)

A Funktionale Domänen

a. Spielzeugpferd, Gummiente, Schokoladengiraffe b. Ente aus Gummi, Giraffe aus Schokolade c. Scheinasylant

Ein Spielzeugpferd gehört nicht zur Extension des Substantivs Pferd, sofern diese ausschließlich Säugetiere der Gattung Equus enthält. Aber ebenso wie falsche Banknoten in einer Ähnlichkeitsbeziehung zu „echten“ stehen, stehen Spielzeugpferde in einer Ähnlichkeitsbeziehung zu „echten“ oder „wirklichen“ Pferden. Auch hier ist davon auszugehen, dass die Extension des Kopfes entsprechend erweitert werden kann, um den betreffenden Strukturen eine sinnvolle Interpretation zu geben. Ob es sich dabei um klassifikatorische oder qualitative Modifikation handelt, tut nichts zur Sache. Entscheidend ist vielmehr, dass Fälle wie in (19) zeigen, dass es sich bei den üblicherweise als privativ ausgezeichneten Modifikationsstrukturen um einen Subtyp eines generellen sprachlichen Phänomens handelt.

A4.1.2.5 Zusammenfassung Die Strukturtypen qualitativer Modifikation teilen sich im Wesentlichen in zwei Subtypen: Zum einen intersektive und damit a fortiori subsektive Strukturen, und zum anderen irreduzibel subsektive Strukturen. In beiden Fällen kann ein adjektivischer Modifikator ein absolutes oder relatives Adjektiv sein. Bei den irreduzibel subsektiven Strukturen dürften relative Adjektive eindeutig der dominante und frequentere Typ sein. Die Bezugssubstantive sind hier häufig Ausdrücke, die Funktionen (bei Gegenständen) oder soziale Rollen (bei Personen) bezeichnen. Als subsektiv lassen sich aber insbesondere auch Modifikationsstrukturen mit Adjektiven wie ehemalig oder angeblich charakterisieren, die üblicherweise als Paradebeispiele für nicht-subsektive Strukturen gelten. Analoges gilt für Modifikationsstrukturen mit sog. privativen Adjektiven wie falsch. Die Unterscheidung ,intersektiv vs. subsektiv‘ ist damit nicht ausschlaggebend für die Unterscheidung zwischen qualitativer und klassifikatorischer Modifikation. Allerdings sind klassifikatorische und nicht-intersektive qualitative Modifikation eindeutig unterschieden durch die jeweilige Art der semantischen Beziehung zwischen Modifikator und Modifikandum.

A4.1.3 Ausdrucksformen qualitativer Modifikatoren Prototypische qualitative Modifikatoren sind Adjektive. Wenn eine Sprache überhaupt Adjektive besitzt, dann Qualitätsadjektive, die entsprechend als qualitative Modifikatoren eingesetzt werden. Neben Adjektiven können aber auch andere Ausdruckstypen als qualitative Modifikatoren auftreten. (Zu den Einzelheiten → D3.11, → D4.4, → D6.2,  





A4 Modifikation

97

→ D7.1.) Wir skizzieren hier ausschließlich die Grundzüge der qualitativen Modifikation durch NP- und PP-Attribute. Beispiele für qualitative Modifikation durch possessive Attribute sind in (20)–(24) angegeben. (25) zeigt, dass nicht immer ein entsprechendes possessives Attribut möglich ist. In (26) werden beispielhaft Ausdrucksformen für die Qualität ,besteht aus Material X‘ genannt. Solche Materialbezeichnungen werden im Deutschen vor allem durch die Nicht-Köpfe von Komposita oder durch PPs mit der Präposition aus realisiert. Sie weichen in dieser wie auch in anderen Hinsichten von den prototypischen qualitativen Modifikatoren ab und werden in der Literatur teilweise auch als klassifikatorische Modifikatoren eingeordnet, zu einer Diskussion → A4.2.2.3.2.  





(20)

a. langes/kurzes Surfbrett – Surfbrett von großer/mittlerer/geringer Länge b. zwei Meter langes Surfbrett – Surfbrett von zwei Metern Länge c. breites Bett, tiefer Graben, dicker Stoff

(21)

alter/junger Mensch – Mensch hohen/mittleren/geringen Alters

(22)

gutes/schlechtes Werkzeug – Werkzeug (von) hoher/mittlerer/niedriger Qualität – Werkzeug (von) guter/schlechter Qualität

(23)

a. runder/viereckiger Tisch – Tisch von runder/viereckiger Form b. rotes/weißes Hemd – Hemd von roter/weißer Farbe

(24)

a. heißes/warmes/kaltes Wasser – Wasser von hoher/mittlerer/niedriger Temperatur b. heißes/kaltes Getränk – Getränk von hoher/niedriger Temperatur

(25)

unverheirateter/verheirateter/geschiedener/verwitweter Mann – *Mann von unverheiratetem Familienstand

(26)

hölzerner Tisch – Holztisch – Tisch aus Holz

Bei possessiven Attributen (wie in (20)–(24)) liegt eine Art „Explizitform“ der adjektivischen Version vor, die mit dieser weitgehend semantisch übereinstimmen kann. Dem Qualitätsadjektiv steht ein Substantiv gegenüber, das obligatorisch durch ein Adjektiv, und zwar ggf. durch ein „neues“ Adjektiv modifiziert wird. Bei den Dimensionsadjektiven in (20) ist das Substantiv aus dem Adjektiv durch Derivation abgeleitet: lang/breit/hoch/tief vs. Länge/Breite/Höhe/Tiefe. Hier handelt es sich bei dem „neuen“ Adjektiv um eine Angabe zur Ausdehnung eines Objekts in der entsprechenden Dimension. In (20a) erfolgen diese Angaben relativ zu einer anzunehmenden Norm. In (20b) wird die metrisch spezifizierte Angabe, die bereits in der adjektivischen Ausdrucksform vorhanden ist, nun dem Substantiv hinzugesetzt.

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A Funktionale Domänen

In den übrigen Fällen mit possessiver Attribution steht das Substantiv der Explizitform nicht in einer Ableitungsbeziehung zum Qualitätsadjektiv, sondern nennt den Oberbegriff für die semantische Klasse, zu der dieses gehört: Alter, Qualität, Form, Farbe, Temperatur. Auch hier sind „neue“ Adjektive in Form normabhängiger Größenbestimmungen bzw. Bewertungen hinzuzusetzen. Nur bei den Explizitformen zu absoluten Adjektiven (wie in (23)) wird das ursprüngliche Adjektiv zum klassenbezeichnenden Substantiv gesetzt.

Lutz Gunkel

A4.2 Klassifikatorische Modifikation A4.2.1 Einleitung Als klassifikatorische Modifikation bezeichnen wir eine Subdomäne der Modifikation, die im Deutschen vor allem durch Substantivkomposita (AN-, VN-, NN-Komposita, vgl. (1)) sowie durch syntaktische Verbindungen mit Adjektiv- oder Genitivattribut realisiert wird (vgl. (2), (3)). (1)

a. Altpapier, Weißwein, Tiefbrunnen, Schnellzug, Magermilch b. Esstisch, Spazierstock, Schlafsofa, Waschmaschine c. Autoreifen, Hutschachtel, Fensterglas, Teebeutel

(2)

a. grüner Tee, kurze Hosen, kalter Braten, saure Gurken b. medizinisches Gerät, städtische Müllhalde, menschliches Skelett, parlamentarische Demokratie

(3)

Mann des Theaters, Ort der Begegnung, Schrei der Verzweiflung

Mit dem Konzept eines speziell auf Subklassifikation ausgerichteten Modifikationstyps knüpfen wir an entsprechende Vorschläge aus der sprachtypologischen Literatur an (vgl. Rijkhoff 2009a). Äquivalente Konzepte finden sich auch in sprach- oder grammatiktheoretisch sowie in einzelsprachlich bezogenen Arbeiten. Halliday (2004: 319–322) nennt die betreffende Funktion Classifier, die typischerweise durch Adjektive und Substantive realisiert werde. Andere Arbeiten verstehen den Begriff der klassifizierenden Funktion nicht kategorienübergreifend, sondern beziehen ihn ausschließlich auf bestimmte Adjektive, die entsprechend als classifying adjectives kategorisiert werden (vgl. Warren 1984; Alexiadou/Haegeman/Stavrou 2007: 318–320). Auf die funktionale Äquivalenz solcher klassifizierenden Adjektive mit modifikativen Bestandteilen von Substantivkomposita wird oft hingewiesen (vgl. Teleman/Hellberg/ Andersson 1999: 156; Huddleston/Pullum 2002: 34; Halliday 2004: 320). Subklassenbildung gilt seit jeher als das wesentliche semantische Charakteristikum der Substantivkomposition (vgl. u. a. Henzen 1965: 52). Der Begriff der Subklassenbildung ist allerdings zunächst in einem allgemeinen Sinn zu verstehen, in dem auch qualitative und referentielle Modifikation subklassenbildend sind. Modifikation, so wie wir sie hier als zentrale funktionale Domäne im Bereich komplexer Nominale verstehen, ist grundsätzlich subklassenbildend und wird ausdrucksseitig durch endozentrische Strukturen realisiert.  

100

A Funktionale Domänen

Die fraglichen Subklassen müssen keine echten Teilmengen sein, so dass Subklassenbildung auch bei nicht-restriktiver Lesart einer Modifikationsstruktur trivialerweise vorliegt. – Zu beachten ist, dass wir Strukturen wie vermeintlicher Mörder oder falsches Gold ebenfalls als subklassenbezeichnend ansehen (→ A4.1.2.4).  

Die Verfahren der qualitativen und referentiellen Modifikation – wie auch der assertorischen Modifikation, die wir hier bei der Abgrenzung außer Betracht lassen können – zeichnen sich zusätzlich durch spezifische Merkmale aus, die für die Klassenbildung jeweils bestimmend sind. Bei qualitativer Modifikation wird ein komplexer Begriff gebildet, indem der von dem Kopfsubstantiv bezeichnete Begriff mit dem von dem Modifikator bezeichneten Eigenschaftsbegriff verknüpft wird (vgl. → A4.1.1). Nur Gegenstände (oder Ereignisse), die die betreffende Eigenschaft – in einer bestimmten Hinsicht – aufweisen, fallen unter den komplexen Begriff und gehören zu der entsprechenden Subklasse. Bei referentieller Modifikation hingegen wird ein von dem Kopfsubstantiv bezeichneter Begriff zu einer außersprachlichen, nicht-begrifflichen Entität (einem Gegenstand oder einem Sachverhalt) in Beziehung gesetzt (→ A4.3). Nur Gegenstände (oder Ereignisse), die in der fraglichen Beziehung zu der außersprachlichen Entität stehen, fallen unter den entsprechenden komplexen Begriff und gehören damit zu der betreffenden Subklasse. Auf die klassifikatorische Modifikation trifft keines dieser Merkmale zu. Bei diesem Modifikationstyp wird der von dem Kopfsubstantiv bezeichnete Begriff mit dem von dem Modifikator bezeichneten Begriff zu einem komplexen Begriff verknüpft, so dass nur solche Gegenstände (oder Ereignisse) unter den komplexen Begriff fallen, die auch unter den vom Kopfsubstantiv bezeichneten Begriff fallen und zudem mit dem vom Modifikator bezeichneten Begriff in einer z. T. erst kontextuell bestimmbaren Weise assoziierbar sind. In Abgrenzung zu den Charakteristika der qualitativen und der referentiellen Modifikation sind für die klassifikatorische Modifikation zwei Merkmale kennzeichnend: Drückt der Modifikator einen Eigenschaftsbegriff aus (vgl. (1a), (2a)), besteht die Assoziation eines von dem Kopfsubstantiv bezeichneten Gegenstands mit der Eigenschaft nicht – oder besser gesagt: nicht notwendigerweise – in dem Zutreffen der Eigenschaft auf den Gegenstand. Tatsächlich kann die Eigenschaft zutreffen (Saure Gurken sind in aller Regel auch sauer.), aber sie muss es nicht, d. h., das Zutreffen der Eigenschaft ist, anders als bei qualitativer Modifikation, kein definitorischer Bestandteil des Konzepts der klassifikatorischen Modifikation (Grüner Tee ist nicht grün.). Drückt der Modifikator einen Begriff aus, unter den Gegenstände (vgl. (1c), (2b)) oder Ereignisse (vgl. (1b)) fallen, besteht die Assoziation nicht in der Beziehung zu solchen Gegenständen oder Ereignissen selbst, also extensionalen Entitäten, sondern lediglich zu deren begrifflichen Gegenstücken. Die Verwendung eines NN-Kompositums wie Hutschachtel beinhaltet keine Sprecherreferenz auf aktuale oder mögliche Hüte; der Begriff der Schachtel wird hierbei nicht mit Hüten als außersprachlichen Gegenständen in Beziehung gesetzt, sondern mit dem Begriff des Hutes. Analog bringt die Äußerung eines VN-Kompositums wie Waschmaschine keine Wasch-Ereignisse als außersprachliche, raum-zeitliche Entitäten ins Spiel, sondern lediglich den Begriff des Waschens.  







A4 Modifikation

101

Die Abgrenzung der klassifikatorischen von der qualitativen und referentiellen Modifikation erfolgt im Kern rein ex negativo. Tatsächlich bildet die klassifikatorische Modifikation den mit Bezug auf die involvierten semantischen Verfahren einfachsten und am wenigsten spezifischen Fall der Subklassenbildung: Die Beziehung zwischen Modifikator und Kopf ist semantisch weitgehend unspezifisch (analog zur referentiellen Modifikation in ihrer unmarkierten Ausprägung als possessive Konstruktion) und der Modifikator fungiert nicht referentiell (analog zur qualitativen Modifikation). Neben der Subklassenbildung können klassifikatorische Strukturen ein weiteres, positives Merkmal aufweisen, das oft als charakteristisch für diesen Modifikationstyp angesehen wird und das darin besteht, dass die fraglichen Subklassen den Charakter von Arten (kinds) haben (vgl. Rijkhoff 2009a: 62 f.; zum Französischen bereits Carlsson 1966: 43, 80 f., der in diesem Zusammenhang von „espèce particulière“ spricht). Solche klassifikatorischen Strukturen bilden begriffliche Einheiten und drücken einheitliche Begriffe aus (vgl. Koptjevskaja-Tamm 2002: 154 für possessive Strukturen). In diesem Sinne beschreibt Dahl (2004: 180) – exemplarisch für viele andere Darstellungen – den Unterschied zwischen Komposita und syntaktischen Attributionen wie folgt (vgl. auch Zimmer 1971: C12–16, 1981: 236, Fn. 4, 251, Fn. 20; Downing 1977: 823; Gunkel/Zifonun 2009; Bücking 2010a).  









It is a common characteristic of word-level patterns such as compounding that the resulting pattern should denote a “unitary concept”. For instance, a compound consisting of an adjective and a noun would tend to denote a well-established and stable “kind” rather than the accidental combination of two properties that the corresponding syntactic combination may well express.

Klassifikatorische Strukturen, die im angegebenen Sinn Arten bezeichnen, haben den Status von Benennungen. Sie fallen ebenso wie substantivische Simplizia in die funktionale Domäne der Nomination (→ A3). Dazu gehören etwa Komposita wie Altpapier oder Syntagmen wie saure Sahne oder parlamentarische Demokratie aus den Beispielen (1) und (2).  

In der Literatur zur sprachphilosophischen Semantik findet sich bereits in Geach (1970) die Beobachtung, dass sich Appellativa – im Unterschied zu Adjektiven – dadurch auszeichnen, dass sie kategorisierbare Entitäten (mit eigenen Identitätsbedingungen) bezeichnen (vgl. auch Gupta 1980). Carlson (1980, 1991) spricht explizit von kinds.

Die Eigenschaft, als Benennungen von Arten zu fungieren, scheint auf den ersten Blick geeignet, klassifikatorische Strukturen von solchen der qualitativen und referentiellen Modifikation abzugrenzen. Strukturen mit qualitativem oder referentiellem Modifikator sind – wie wir sehen werden – keine Artbezeichnungen. Sie sind als syntaktisch komplexe und semantisch kompositionale Ausdrücke nicht lexikalisiert und bilden keine Benennungseinheiten (→ A3). Aber auch klassifikatorische Strukturen figurieren nicht durchgehend als Benennungen von Arten. Ob eine solche Struktur eine Art (im relevanten Sinn) bezeichnet, hängt wesentlich vom ihrem Lexikalisie 

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A Funktionale Domänen

rungs- oder Idiomatisierungsgrad ab. Die klassifikatorischen Attribute haben mit referentiellen, possessiven Attributen – also solchen ohne semantischen Relator (semantische Adposition oder semantischen Kasus) – gemein, dass die semantische Beziehung zum Kopf innerhalb eines Spektrums möglicher inhaltlicher Belegungen variieren kann. In diesem Sinne haben wir oben von „assoziativ“ gesprochen. Genaueres dazu in → A4.2.2.1, → A4.2.2.2. Kompositional ist die Bedeutung der Gesamtstruktur dennoch, solange sie innerhalb des fraglichen Bedeutungsspektrums angesiedelt ist, andernfalls ist sie idiomatisch und nicht mehr kompositional. Zu unterscheiden ist also zwischen klassifikatorischen Strukturen mit und solchen ohne Benennungscharakter (→ A3.2).  





Anders aber z. B. Schlücker (2014) und Schuster (2016). Schlücker geht davon aus, „dass sprachliche Ausdrücke mit klassifikatorischer Bedeutung grundsätzlich als Benennungseinheiten fungieren“ (Schlücker 2014: 195)  

Der Gesamtbereich trägt dennoch Züge eines Kontinuums, dessen Ränder auf der einen Seite durch idiomatisierte Ausdrücke (Gelbfieber, kleines Doktorat, Mann von der Straße) auf der anderen Seite durch transparente und produktive Muster (Technikmuseum, technische Überprüfung, Frage der Technik) gekennzeichnet sind, die ebenso als semantisch kompositional einzustufen sind, wie es für possessive Attribute der Fall ist. Der dazwischenliegende Bereich ist dadurch gekennzeichnet, dass eine oder mehrere der potentiellen, kompositional zulässigen Lesarten salienter als alle anderen und ggf. usualisiert (→ A3.2) sind. Usualisierung geht aber oft einher mit der Herausbildung zusätzlicher Bedeutungsmerkmale, die nicht kompositional herleitbar sind, so dass die Struktur graduell an semantischer Transparenz verliert und gleichzeitig an Benennungscharakter gewinnt. Wir gehen daher in diesem Kapitel nicht so vor, dass wir klassifikatorische Strukturen, die Arten benennen, und solche, bei denen das nicht der Fall ist, durchgehend separat behandeln. Abschnitt → A4.2.2.1.3 ist speziell der Frage gewidmet, unter welchen Bedingungen Subklassen als Arten gefasst werden. Abschnitt → A4.2.2.3 diskutiert die Frage, ob Strukturen, deren Kopf und Modifikator in einer bestimmten inhaltlichen Beziehung zueinander stehen, als Fälle von Artbenennungen zu betrachten sind. Die Unterscheidung zwischen Benennungen und nicht-artbezeichnenden klassifikatorischen Strukturen wird in → A3.2 thematisiert.  







A4.2.2 Semantische Charakteristika klassifikatorischer Strukturen Die Mindestbedingung für das Vorliegen einer klassifikatorischen Struktur, so hatten wir gesehen, ist die Subklassenbildung; zusätzlich können solche Subklassen den Charakter von Arten annehmen. Subklassenbildung ist auch bei qualitativer und referentieller Modifikation gegeben. Um die klassifikatorische Modifikation von die-

A4 Modifikation

103

sen beiden Modifikationstypen abzugrenzen und gleichzeitig ihre typologische Relevanz als eigenständige funktionale Subdomäne herauszustellen, unterscheiden wir zwei Gruppen, die bereits im vorangehenden Abschnitt umrissen wurden: Strukturen, in denen der Modifikator einen Gegenstands- bzw. Ereignisbegriff bezeichnet, und solche, in denen er einen Eigenschaftsbegriff ausdrückt. Motiviert ist diese Differenzierung durch die semantische und formale Nähe der ersten Gruppe zur referentiellen und der zweiten zur qualitativen Modifikation. Gegenstandsbegriffe werden prototypischerweise von Substantiven, Ereignisbegriffe von Verben und Eigenschaftsbegriffe von Adjektiven benannt (vgl. Croft 1991: 55, → B1.1.2). Abweichungen vom Prototyp zeigen sich u. a. in Relationsadjektiven, die in der Regel Gegenstandsbegriffe bezeichnen, und Nominalisierungen von Verben und Adjektiven, die Ereignis- bzw. Eigenschaftsbegriffe ausdrücken.  



Die Ausnahme sind Relationsadjektive wie international (vgl. internationale Beziehungen), in denen das Adjektiv ein von einer Präposition abgeleitetes Präfix enthält und daher begrifflich einer Präpositionalphrase entspricht. Solche Adjektive drücken daher keine Begriffe von (konkreten oder abstrakten) Gegenständen aus, sondern Begriffe von Beziehungen zu oder zwischen solchen Gegenständen.

A4.2.2.1 Gegenstands- und ereignisbezeichnende Modifikatoren A4.2.2.1.1 Kompositionalität vs. semantische Spezialisierung Strukturen mit gegenstands- oder ereignisbezeichnenden Modifikatoren lassen sich danach unterteilen, ob die semantische Relation zwischen Kopf und Modifikator offen oder restringiert ist. Semantische Offenheit korrespondiert mit der Abwesenheit, semantische Restringiertheit mit der Präsenz eines semantisch spezifischen Verknüpfungselements (vgl. Gunkel/Zifonun 2011). Bei den Strukturen mit gegenstandsbezeichnenden Modifikatoren zählen zur ersten Gruppe neben den Komposita (Hutschachtel) vor allem Strukturen mit Relationsadjektiven (ärztliches Verbot) sowie possessive Konstruktionen (Mann des Friedens, vgl. Zifonun 2010a: 124, zu weiteren Details → A4.3, → D3.2). Als ereignisbezeichnende Modifikatoren treten neben Verbstämmen (DEU Waschmaschine, ENG checklist ‚Checkliste‘) vor allem infinite und partizipiale Formen auf (DEU behandelnder Arzt, ENG paying guest ‚zahlender Gast‘), die – wie im Französischen – auch durch eine Präposition verknüpft sein können (FRA cartes à jouer ‚Spielkarten‘). Solche Formen lassen sich auch als Nominalisierungen deuten. Nominalisierungen wie in DEU Freude des Wiedersehens, ENG scenes of drinking ‚Saufszenen‘ (COCA), swimming pool ‚Schwimmbecken‘ sind ebenfalls zu den ereignisbezeichnenden Modifikatoren zu rechnen. Bei den Partizipien wiederum besteht ein potentielles Abgrenzungsproblem zu den Adjektiven und somit zu den eigenschaftsbezeichnenden Modifikatoren (→ D7).  





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A Funktionale Domänen

Der NN-Typ waiting room unterscheidet sich von dem VN-Typ paying guest darin, dass nur bei letzterem der substantivische Kopf als semantisches Argument des partizipialen Modifikators fungiert (→ D7).  

Semantisch offen ist die Beziehung zwischen Kopf und Modifikator in solchen Strukturtypen insofern, als sie ausdrucksseitig nicht kodiert ist und potentiell durch den Verwendungskontext bestimmt werden kann. Das generelle Bedeutungsschema lässt sich daher durch ‚N1, das etwas mit N2 bzw. V zu tun hat‘ bzw. ‚N1, das mit N2 bzw. V in Beziehung steht‘ wiedergeben, wobei ‚N1‘ für den substantivischen Kopf und ‚N2‘ für den nominalen und ‚V‘ für den verbalen Teil des Modifikators steht (vgl. für Komposita bereits Coseriu 1970, Lipka 1971: 228 f. sowie Booij 2009: 232 in Bezug auf Relationsadjektive). Bei possessiven Konstruktionen ist der Interpretationsspielraum durch die generellen, für diesen Typ geltenden Beschränkungen begrenzt (→ D3). Viele Ausdrücke zeigen jedoch eine mehr oder weniger starke semantische Spezialisierung in dem Sinne, dass eine bestimmte Beziehung lexikalisiert und damit dominant ist: So ist die gängige Bedeutung von Handbohrer die, dass es sich um einen Bohrer handelt, den man manuell in Bewegung setzt (im Gegensatz etwa zu elektrischen Bohrern), es handelt sich nicht einfach um einen Bohrer, den man in der Hand halten kann (das könnte auch für Bohrmaschinen gelten); und man bezeichnet damit auch keine Hände, die als Bohrer fungieren und auch keine Bohrer, mit denen man in Hände bohrt (z. B. für chirurgische Zwecke). Solche semantischen Spezialisierungen sind mit Blick auf Komposita in der Wortbildungsliteratur ausführlich beschrieben worden; sie gelten aber auch für die anderen o. g. Strukturtypen. Ebenso aus der Wortbildungsliteratur bekannt ist aber der Umstand, dass trotz der Lexikalisierung einer dominanten Lesart andere Lesarten, die die o. g. Bedeutungsschemata erfüllen, grundsätzlich möglich sind: Unter geeigneten kontextuellen Bedingungen können auch elektrische Bohrer als Handbohrer bezeichnet werden, weil man diese – im Gegensatz zu anderen Typen von Bohrern – in der Hand halten und in diesem Sinn manuell bedienen kann. Auch diese weiterführenden Interpretationsmöglichkeiten gelten für die anderen angeführten Strukturtypen der klassifikatorischen Modifikation. Werden Modifikator und Kopf durch einen semantischen Kasus oder eine semantische Präposition zueinander in Beziehung gesetzt, ist der Interpretationsspielraum entsprechend beschränkt (→ D4.5). Beispiele für gegenstandsbezeichnende Modifikatoren sind DEU Haus am See, FRA sculpture sur bois ‚Holzarbeit‘, ENG room with shower ‚Zimmer mit Dusche‘, POL chustka na głowę (chustka Tuch, na an, głowę Kopf.AKK ) ‚Kopftuch‘, UNG szoba fürdőszobával (szoba Zimmer, fürdőszobával Bad.INS ) ‚Zimmer mit Bad‘, solche für ereignisbezeichnende FRA lunettes pour lire ‚Lesebrille‘.  











A4.2.2.1.2 Nicht-Referentialität Für die gerade genannten Strukturtypen stellt sich die Frage nach der Abgrenzung vom Typ der referentiellen Modifikation (→ A4.3). Klassifikatorische Modifikatoren, so hatten wir oben festgestellt, fungieren nicht als referentielle Ausdrücke. Daher  

A4 Modifikation

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können sie auch keine Personal- oder Possessivpronomina phorisch binden. Die Nicht-Pronominalisierbarkeit klassifikatorischer Modifikatoren ist daher eines der entscheidenden semantischen Abgrenzungskriterien gegenüber der referentiellen Modifikation. Generell nicht-pronominalisierbar sind zunächst gebundene Stämme innerhalb von Komposita (vgl. (3)) sowie Relationsadjektive bzw. deren substantivische Basen (vgl. (4)). Gleiches gilt für alle einfachen oder komplexen Nominale, die keine Nominalphrasen sind, da ihnen ein Artikel oder ein anderer Determinator fehlt (vgl. (5), (6)), wozu auch in bestimmten Fällen die Nominale in Präpositionalphrasen mit sog. Verschmelzungen zu rechnen sind (vgl. (6), → D1.1.3.1.13).  

(3)

a. Sie öffnete die Hutischachtel. *Eri hatte eine rote Feder. b. Sie öffnete die Schachtel mit dem Huti. Eri hatte eine rote Feder.

(4)

a. *wegen einer ärztilichen Anordnung, deni er konsultiert hatte b. wegen der Anordnung eines Arztesi, deni er konsultiert hatte

(5) a. *a young womeni’s magazine, whoi are interested in that kind of stuff ENG wörtl. ‚*eine Junge-Fraueni-Zeitschrift, diei sich für dieses Zeug interessieren‘ b. a magazine for young womeni, whoi are interested in that kind of stuff ‚eine Zeitschrift für junge Fraueni, diei sich für dieses Zeug interessieren‘ (6) a. *le panneau de réclamei quei j’ ai DEF Schild von Reklame RPTL KL . 1SG hab.1SG FRA vue hier gesehen gestern wörtl. ‚*das Reklameischild, diei ich gestern gesehen habe‘ (vgl. Wandruszka 1972: 140) quei j’ b. le panneau de cette réclamei DEF Schild von DEM Reklame RPTL KL . 1SG ai vue hier gesehen gestern hab.1SG ‚das Schild mit dieser Reklamei, diei ich gestern gesehen habe‘ (7) a. #Sie haben ein Haus am Seei, deri übrigens sehr tief ist. DEU b. Sie haben ein Haus an einem Seei, deri übrigens sehr tief ist. Bei Modifikatoren, die aus einer NP bestehen oder eine NP enthalten – im Folgenden als NP/PP-Modifikatoren bezeichnet – ist die Abgrenzung zur referentiellen Modifikation grundsätzlich schwierig, da Pronominalisierung in diesen Fällen weitgehend möglich zu sein scheint. Eine Ausnahme bilden idiomatisierte Ausdrücke wie in (9).

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A Funktionale Domänen

(8)

a. Es ist die Straßei, diei ich gestern überquert habe. b. Es ist die Straßei, diei ein Rockmusiker braucht.

(9)

a. b.

(10)

#der #der

Mann von der Straßei, diei ich gestern überquerte Mann von der Straßei, diei ein Rockmusiker braucht

ein Zahn des Säbelzahntigersi, deri vor langer Zeit ausgestorben ist

Wie die Beispiele in (8) zeigen, kann die NP die Straße einmal in referentiell-spezifischer (vgl. (8a)) und einmal in referentiell-spezifischer oder generischer Lesart (vgl. (8b)) auftreten, wobei im letzteren Beispiel die generische Lesart relevant ist (‚Was ein Rockmusiker braucht, ist die Straße.‘). In (9) sind diese Lesarten blockiert, sofern die von-PP als klassifikatorischer Modifikator fungiert. Dass dies auch für Beispiele wie (9b) gilt, zeigt, dass begriffliche Entitäten, wie sie von klassifikatorischen Modifikatoren eingeführt werden, nicht dasselbe sind wie generische Entitäten, auf die wie in (8b) referiert werden kann bzw. wie in (10) referiert werden muss. Diese Unterscheidung wird in der Literatur z. T. nicht so gezogen (vgl. z. B. Booij 2008: 6; Härtl 2015). Ein weiterer Test, der mit Blick auf das Polnische (und das Serbische) vorgeschlagen wurde, rekurriert auf die Weglassbarkeit eines Kopfsubstantivs in koordinierten Modifikationsstrukturen. Bei idiomatisierten N+PP-Strukturen im Polnischen, so die These, kann bei Koordination kein Kopfsubstantiv weggelassen werden (vgl. (11a)). Bei nicht-idiomatisierten N-A-Strukturen mit klassifikatorischem Adjektiv sind entsprechende Reduktionen dagegen möglich (vgl. (11b), Rutkowski/Progovac 2005: 292).  



(11) a. *Kupiłem dwie tubki pasty do zębów i G EN zu Zahn.GEN . PL und POL kauf.PRT . 1SG zwei Tube.AKK . PL Paste.GEN trzy tubki [_] do butów. Schuh.GEN . PL drei Tube.AKK . PL [_] zu wörtl. ‚Ich kaufte zwei Tuben Zahnpasta und drei Schuhcreme.‘ b. Zaprezentowałem dwie analizy syntaktyczne i syntaktisch.AKK . PL und präsentier.PRT .1SG zwei Analyse.. AKK . PL trzy [_] fonologiczne. drei [_] phonologisch.AKK . PL ‚Ich präsentierte zwei syntaktische Analysen und drei phonologische.‘ Was nicht-idiomatisierte Strukturen betrifft, besteht nun das Problem darin, dass selbst bei entsprechender, referentiell-spezifische Lesarten ausschließender Kontextualisierung wie in (9b), in aller Regel generische oder sonstige generalisierende referentielle Lesarten möglich sind, die damit auch Pronominalisierung zulassen. Dies zeigt sich vor allem in Nicht-Artikelsprachen wie dem Polnischen, wo NP/PPModifikatoren in den entsprechenden Strukturen zumindest als ambig gewertet werden müssten (vgl. (12)). Das Problem tritt aber gleichermaßen in Artikelsprachen in

107

A4 Modifikation

Fällen wie (13) auf, in denen NP/PP-Modifikatoren durch semantische Präpositionen eingeleitet werden (zur Abgrenzung → D4.3, → D4.5).  

(12) POL

(13)

książka dla Buch für ‚Kinderbuch‘



dzieci Kind.GEN . PL

a. Wir führen nur Bücher für Kinderi. Auch siei müssen viel lesen. b. Wir freuen uns auf den Urlaub in den Bergeni. Siei faszinieren mich.

Für das Polnische existiert allerdings ein Abgrenzungstest, der auf den Stellungsmöglichkeiten des Genitivattributs beruht. Dieses steht im Polnischen im unmarkierten Fall vor allen postnominalen PP-Attributen, sofern diese referentiell sind, d. h. eine referentielle NP beinhalten, vgl. (14a). In Ausdrücken wie (14b) muss die PP bei der angezeigten Strukturierung als klassifikatorischer Modifikator gelesen werden; hier bezieht sich das referentielle Genitivattribut auf die gesamte NP, deren substantivischer Kopf książka ist.  

(14) a. [książka Janka] dla dzieci EN für Kind.GEN . PL POL Buch Janek.GGEN ‚Janeks Buch für (die) Kinder‘ b. [książka dla dzieci] Janka Janek.GGEN EN Buch für Kind.GEN . PL ‚Janeks Kinderbuch‘ Die Wortfolge in (14b) ist noch mit einer anderen Struktur und Bedeutung möglich, vgl. (14c). Hier bezieht sich das Genitivattribut Janka aber nicht auf die Konstituente, deren Kopf książka ist, sondern auf die im PP-Attribut eingebettete NP dzieci. (14)

c.

książka [dla dzieci Buch für Kind.GEN . PL ‚(das/ein) Buch für Janeks Kinder‘

Janka] Janek.GEN

Der Pronominalisierungstest lässt sich auch in Bezug auf ereignisbezeichnende Modifikatoren anwenden: Modifikatoren, die auf Ereignisse referieren, können pronominalisiert werden, und zählen damit zum referentiellen Typ (vgl. (15a)). Klassifikatorische Modifikatoren sind dagegen nicht-pronominalisierbar (vgl. (15b), Härtl 2015). (15)

a. Wir brauchen eine Maschine zum Schuheputzeni. Dasi dauert mir einfach immer zu lange. b. *Wir brauchen eine Schuhputzimaschine. Dasi dauert mir einfach immer zu lange.

108

A Funktionale Domänen

Umgekehrt gilt allerdings nicht, dass nicht-pronominalisierbare verbale Modifikatoren stets klassifikatorisch sind. Tatsächlich sind nicht-appositive Partizipialphrasen – zumindest in den Vergleichssprachen – niemals pronominalisierbar (vgl. (16)). Zu weiteren Abgrenzungskriterien → D7.  

(16)

a. *Wir haben nur zahlendei Gäste. Sie tun esi gern. b. *Ein lachenderi Mann stand an der Ecke. Er tat esi gern.

A4.2.2.1.3 Klassifikatorische Strukturen als Artbezeichnungen Das zweite zentrale Charakteristikum besteht, wie oben angedeutet, darin, dass klassifikatorische Modifikatoren typischerweise komplexe Ausdrücke bilden, die Arten (kinds) bzw. Unterarten (subkinds) bezeichnen. Die semantische Beziehung zwischen Modifikator und Kopf wird – mit Blick auf Komposita – gelegentlich auch als generisch beschrieben (vgl. Gleitman/Gleitman 1970: 96; Downing 1977: 822 f., 837; Zimmer 1981: 236, Fn. 4). So ist eine Hutschachtel eine bestimmte Art von Schachtel, ein Schuhkarton, der einen Hut beherbergt, wird dadurch nicht zur Hutschachtel. Eine ärztliche Anordnung muss einen medizinischen Gehalt haben, nicht jede beliebige Anordnung vonseiten eines Arztes ist daher eine ärztliche Anordnung. Ein Zimmer mit Aussicht sollte einen Ausblick auf eine charakteristische Landschaft, nicht auf einen Hinterhof haben. Die zugrunde liegende Intuition lässt sich – im Sinne des oben genannten Zitats von Dahl (→ A4.2.1) – dahingehend explizieren, dass die Bedeutung solcher Ausdrücke spezifischer ist, als sie aufgrund ihrer kompositionalen Herleitung sein könnte; sie lässt sich daher nicht vollständig kompositional erschließen. Vielmehr zeichnen sich die begrifflichen Bedeutungen vieler klassifikatorischer Strukturen durch eine Reihe von zusätzlichen, z. T. stereotypen Merkmalen aus, die für ihren Benennungscharakter kennzeichnend sind.  





Zu Stereotypen als Komponenten von lexikalischen Bedeutungen vgl. – im Anschluss an Putnam (1975) – Lutzeier (1985: 115–130). Zum Benennungscharakter von etablierten Komposita vgl. Bauer (1978: 78) sowie → A3.2.  

Benennen sie Arten, so sollten sie sich in dieser Hinsicht nicht von anderen, lexikalisch einfachen Artbezeichnungen unterscheiden (→ A4.1, → A3). Solche Gemeinsamkeiten zeigen sich bei generischer Verwendung (vgl. hierzu Gunkel/Zifonun 2009: 207 f.). Ein von Carlson (1977: 442) eingeführter Test ist der so-called-Test, der bei Artbezeichnungen zu informativen, bei anderen Ausdruckstypen dagegen zu trivialen, weil tautologischen Aussagen führt (vgl. (17a, b) vs. (17c)).  





(17) a. Cardinals are so called because of their colour. ENG ‚Kardinäle heißen so wegen ihrer Farbe.‘ b. Indian elephants are so called because their largest population is found in India.

A4 Modifikation

109

‚Indische Elefanten heißen so, weil sich ihre größte Population in Indien findet.‘ c. Big elephants are so called because they are big. ‚Große Elefanten heißen so, weil sie groß sind.‘ Ein weiterer einschlägiger Test besteht in der Prädikation von Ausdrücken, die Artbezeichnungen selegieren (kind-level predicates, kind predicates) wie z. B. aussterben, erfunden werden, selten sein, weit verbreitet sein (vgl. (18a, b) vs. (18c); Carlson 1991: 371; Krifka et al. 1995: 10, 2004: 111 → B1.2.3.8).  



(18)

a. Tiger sind fast ausgestorben. b. Sibirische Tiger sind fast ausgestorben. c. ??Tiger mit Magenproblemen sind fast ausgestorben.

Der Artbezeichnungscharakter von Ausdrücken mit klassifikatorischen Modifikatoren korrespondiert offensichtlich mit ihrer semantischen Spezialisierung. Die kognitive Grundlage für dieses Verhältnis lässt sich wie folgt beschreiben: Semantisch spezialisierte Ausdrücke müssen als Ganze gelernt werden, da sich ihre Bedeutung nicht kompositional errechnen lässt. Hier besteht eine Gemeinsamkeit mit lexikalisch einfachen Wörtern, die gewissermaßen die Ausdrücke par excellence zur Bezeichnung konzeptuell relevanter Kategorien sind. Nur für solche Kategorien ist die Prägung eines Appellativums sinnvoll, für arbiträre Klassen wäre sie unökonomisch und als kommunikative Strategie nur begrenzt handhabbar (→ A3.2).  

A4.2.2.2 Eigenschaftsbezeichnende Modifikatoren Klassifizierende Ausdrücke mit eigenschaftsbezeichnenden, insbesondere adjektivischen Modifikatoren (Qualitätsadjektiven) sind strukturell an den Typ der qualitativen Modifikation angelehnt, aus dem sie z. T. durch Idiomatisierung hervorgehen. Typische Beispiele sind A+N-Komposita wie in (19) sowie AN-Syntagmen wie in (20).  

(19) DEU ENG UNG

(20) DEU ENG

Weißwein, Kaltwasser, Festplatte greenhouse ‚Treibhaus‘ fehérbor (fehér weiß, bor Wein) ‚Weißwein‘, vadrizs (vad wild, rizs Reis) ‚Wildreis‘

grüne Bohnen, rote Beete, blauer Fleck, saure Sahne, starkes Verb, kleiner Finger white wine ‚Weißwein‘, hard disk ‚Festplatte‘, fresh water ‚Süßwasser‘

110

A Funktionale Domänen

FRA POL UNG

vin blanc ‚Weißwein‘, disque dur ‚Festplatte‘, gros intestin ‚Dickdarm‘ dysk twardy (dysk Platte, twardy fest) ‚Festplatte‘, białe wino (białe weiß, wino Wein) ‚Weißwein‘, jelito grube (jelito Darm, grube dick) ‚Dickdarm‘ fehér bab (fehér weiß, bab Bohne) ‚weiße Bohne(n)‘

Bei diesem Typ finden sich eine Fülle von idiomatisierten Ausdrücken (Weißwein, blauer Fleck, kleiner Finger, starkes Verb). Für die A+N-Syntagmen ist semantische Spezialisierung das entscheidende Abgrenzungskriterium zu entsprechenden Syntagmen, in denen das Adjektiv qualitativer Modifikator ist. Trotz semantischer Spezialisierung sind die Strukturen gelegentlich aber noch insofern semantisch transparent (Kaltwasser, Rotlicht, Rundbogen, Süßspeise), als die Prädikation des Modifikators zu einer wahren Aussage führen muss, damit der betreffende Gegenstand seinen Namen verdient: Ein Dessert, das nicht wenigstens ansatzweise süß schmeckt, als Süßspeise zu bezeichnen, wäre wohl ein schlechter Scherz. Wegen der zu beobachtenden semantischen Spezialisierung kann die semantische Beziehung zwischen Modifikator und Kopf – anders als bei qualitativer Modifikation (→ A4.1) – dennoch nicht als intersektiv beschrieben werden. Stattdessen ist auch hier von dem oben für gegenstands- und ereignisbezeichnende Modifikatoren angeführten allgemeinen Bedeutungsschema auszugehen: ,N, das mit A in Beziehung steht‘, wobei ‚N‘ für das Kopfsubstantiv und ‚A‘ für den eigenschaftsbezeichnenden Modifikator steht (vgl. auch Booij 2009: 232). Dabei unterscheidet sich die Art der Beziehung zwischen dem Denotat des Kopfes und der durch den Modifikator ausgedrückten Eigenschaft durch den Grad der semantischen Spezialisierung: Am einen Ende des Spektrums besteht die Beziehung im Zutreffen der Eigenschaft auf den Gegenstand; im Unterschied zu qualitativer Modifikation handelt es sich hierbei jedoch nur um eine notwendige, nicht um eine hinreichende Bedingung: Weitere Kriterien müssen erfüllt sein, damit sich von einem Gegenstand der betreffenden Art sprechen lässt. Am anderen Ende des Spektrums ist die Beziehung rein assoziativ; der Modifikatorausdruck fungiert mehr oder weniger als „Etikett“, um zu kennzeichnen, dass der Ausdruck eine Subklasse der von dem Kopf bezeichneten Klasse bezeichnet (schwaches Verb). Damit wird nicht bestritten, dass die Wahl des Modifikatorausdrucks motiviert wäre. Behauptet wird lediglich, dass es Fälle gibt, in denen die fragliche Eigenschaft auf keine Komponente und auf keinen Bedeutungsaspekt des Denotats zutrifft.  

Vgl. auch Carlsson (1966: 71): „Il semble clair que dans un ours blanc, la relation porteur-qualité est à décrire comme seulement virtuelle. Même si, accidentellement, la peau d’un des représentants de cette espèce venait à présenter une nuance de couleur ne méritant pas la qualification de blanche, l’animal resterait un ours blanc, tandis que p. ex. un chien noir n’est appelé ainsi qu’à condition de mériter effectivement son épithète.“ Bücking (2010a) fordert in seiner semantischen Analyse von nicht-lexikalisierten AN- und VN-Komposita, dass der adjektivische Modifikator eines AN-Kompositums in einer Relation zu einer Entität stehe, die ein „essential part of the head-noun’s semantic make-up“ sei (ebd.: 261), muss aber dann eingestehen, dass die Beschränkung auf „wesentliche Teile“ zugunsten anderer, kontextuell salienter Entitäten suspendiert

111

A4 Modifikation

werden kann, die keine wesentlichen Teile ausmachen (ebd.). Die Eingrenzung des Bedeutungsumfangs von „essential part“ überlässt er der Phantasie des Lesers.

Fällt diese Komponente der semantischen Spezialisierung weg, d. h., enthalten die fraglichen Modifikator-Kopf-Strukturen keine zusätzlichen Bedeutungsbestandteile, haben wir es nicht mit klassifikatorischer, sondern mit qualitativer Modifikation zu tun (→ A4.1). Kandidaten für Ausdrücke, die diese funktionale Subdomäne realisieren, wären im Bereich der Komposita Beispiele wie in (21a); vgl. dazu auch Schlücker/ Hüning (2009: 211). Solche Bildungen scheinen sich semantisch nicht von den entsprechenden A+N-Syntagmen in (21b) zu unterscheiden, die Ausdrucksformen qualitativer Modifikation sind.  



(21)

a. Optimallösung, Großchance, Erstbesteigung b. optimale Lösung, große Chance, erste Besteigung

Auch im Bereich der nicht-referentiellen NP- und PP-Attribute treten Abgrenzungsprobleme zur qualitativen Modifikation auf, sofern die Modifikatoren im weitesten Sinn Eigenschaften ausdrücken (vgl. (22)). Solche Fälle werden ausführlich in → D3 und → D4 behandelt.  



(22) ENG DEU

man of great experience ‚Mann von großer Erfahrung‘ Hemd ohne Kragen, Pommes mit Majo

Dennoch lässt sich fragen, ob es Strukturen geben könnte, die sowohl klassifikatorische als auch qualitative Lesarten haben, die aber dabei koextensiv sind. Solche Strukturen würden sich intensional nur durch die unterschiedliche Konzeptualisierung der betreffenden Klassen von Gegenständen unterscheiden, etwa so, dass im Fall der klassifikatorischen Lesart die betreffende Klasse zusätzlich den Charakter einer Art oder einer konzeptuell relevanten Kategorie aufweist. Denkbar wäre, dass Ausdrücke mit qualitativen Modifikatoren diachron klassifikatorische Bedeutungen annehmen, eben weil die betreffende Klasse von Gegenständen sich – z. B. aus gesellschaftlichen oder kulturellen Gründen – zu einer konzeptuell relevanten Kategorie gewandelt hat, z. B. der Mann zwischen 50 und 60 oder – vertrauter – der Mittfünfziger, man denke an Beispiele wie: Wir haben unser Kosmetikangebot speziell auf den Mann zwischen 50 und 60 / den Mittfünfziger zugeschnitten. Auch bei klassifikatorischer Lesart wäre jede Person, die die Beschreibung „Mann zwischen 50 und 60“ bzw. „Mittfünfziger“ erfüllt, Element der Extension des Ausdrucks. Die Möglichkeit, solche Kategorien zu bilden, wird in der kognitiven Psychologie unter dem Begriff der Ad-hoc-Kategorisierung diskutiert (Barsalou 1983, 2005). Auch in Schlücker (2014) und Schuster (2016) wird von dieser Vorstellung der Ad-hoc-Kategorisierung Gebrauch gemacht. Wenn es sich nicht um eine etablierte Benennungseinheit handle, sondern z. B. um ein Ad-hoc-Kompositum, erzwinge ihre Verwendung „die Akkommodation einer entsprechenden Art“ (Schlücker 2014: 196). Schuster (2016: 17) plädiert dafür, „auch Benennungen, die nur einmalig und kontextgebunden auftreten, als feste Verbindung in Bezug auf ein Konzept“ zu verstehen. Ad-hoc-Benennungen können also dann entstehen, „wenn Sprecher diese als verbindliche Namen inszenieren“. Wir werden jedoch im Folgenden von der Möglichkeit solcher Fälle absehen, vgl. auch → A3.2.  







112

A Funktionale Domänen

Fassen wir die bisherigen Ergebnisse zusammen: Klassifikatorische Strukturen sind lexikalisch oder syntaktisch komplexe Nominale. In formaler Hinsicht handelt es sich um endozentrische, in semantischer Hinsicht um subsektive Strukturen. Der Modifikator ist nicht referentiell und die Modifikation besteht nicht in der Zuschreibung einer Qualität im engeren Sinne, einer physischen oder psychischen Eigenschaft oder einer Bewertung. Ein Teil der klassifikatorischen Strukturen hat Benennungsstatus und bezeichnet Arten. Eine komplexe Modifikator-Kopf-Struktur bezeichnet eine Art, wenn sie eine sinnvolle Antwort auf eine Frage der Form „Was für eine Art von N ist das?“ abgibt, wobei ‚N‘ für den Kopf der Struktur steht. Solche Artbezeichnungen sind semantisch spezialisiert, d. h., sie haben spezifischere Bedeutungen, als sich allein aus der Bedeutungskomposition ergibt. In generischer Verwendung unterscheiden sie sich von Ausdrücken, die keine Arten bezeichnen, dadurch, dass sie mit speziellen Prädikatsausdrücken kombiniert werden können (kind predicates, → A4.2.2.1.3).  



A4.2.2.3 Abgrenzungen und Grenzfälle Wir besprechen in diesem Abschnitt einige komplexe Modifikator-Kopf-Strukturen, die in der Literatur anders behandelt werden, als wir es in diesem Kapitel getan haben. Es handelt sich hierbei um bestimmte, semantisch definierbare Klassen von Modifikatoren bzw. Modifikator-Kopf-Beziehungen.

A4.2.2.3.1 Zweckbezeichnungen Komposita, bei denen die Beziehung zwischen Modifikator und Kopf in einer Zweckrelation besteht (vgl. Zimmer 1981: 251, Fn. 20), sind auf den ersten Blick nicht als Artbezeichnungen charakterisierbar. Das ist insofern auffällig, als Komposita gewöhnlich Benennungen von Unterarten darstellen, eine Subklassifizierung von Gegenständen nach ihrer Zweckbestimmung aber gelegentlich dem Funktionsspektrum klassifikatorischer Modifikatoren zugerechnet wird (vgl. Halliday 2004: 320; Rijkhoff 2009a: 63). Betrachten wir die Beispiele in (23).  

(23)

a. Herrenumkleidekabine, Damenumkleidekabine b. Gästehandtuch, Gästezahnbürste c. Händehandtuch

Eine Herrenumkleidekabine (vgl. (23a)) ist eine Umkleidekabine für Herren, aber sie unterscheidet sich in keinem spezifischen (physischen) Merkmal an der Sache selbst von einer Damenumkleidekabine – sondern „nur“ in ihrer Zweckbestimmung. Auch in Bezug auf die Beispiele in (23b) ist der Zweck das alleinige Kriterium für die Subklassenbildung: Gästehandtücher sind Handtücher für Gäste, Gästezahnbürsten

A4 Modifikation

113

Zahnbürsten für Gäste. Der jeweiligen Zweckbestimmung entspricht auch hier keine manifeste konkrete Eigenschaft. Ambig sind Fälle wie (23c): Als Händehandtuch kann einerseits ein normales Handtuch fungieren. Es kann sich aber auch um ein Handtuch handeln, das speziell für den Gebrauch als Händehandtuch hergestellt ist und bestimmte Merkmale aufweist, z. B. kleiner als gewöhnliche Handtücher ist. Das Vorhandensein oder Fehlen von physischen Unterscheidungsmerkmalen scheint aber hier – anders als bei natürlichen Arten – nicht das wesentliche Kriterium zu sein: Auch kulturell und institutionell bedingte Funktionen können Arten definieren. Herrenumkleidekabinen und Damenumkleidekabinen sind aufgrund einer solchen Funktion Unterarten der Umkleidekabinen, Händehandtücher – mit oder ohne physisches Unterscheidungsmerkmal – eine Unterart der Handtücher. Dass es sich hierbei vor allem um Zweckrelationen handelt, scheint kein Zufall zu sein: Oft kann ein und derselbe Gegenstand für verschiedene Zwecke geschaffen sein. Das gilt auch für abstrakte Entitäten, wie z. B. Geld (als abstrakte Größe, nicht im Sinne von konkreten Münzen oder Scheinen), das für unterschiedliche Zwecke eingesetzt werden kann, vgl. (24).  



(24)

a. b. c. d.

Busgeld (vgl. Zimmer 1981: 251, Fn. 20), Haushaltsgeld, Kleidergeld Handwerkerrechnung, Zahnarztrechnung, Hotelrechnung Heizkosten, Übernachtungskosten Strompreis, Benzinpreis

Im Übrigen spricht auch die Möglichkeit der Anwendung von kind predicates dafür, dass es sich bei Zweckbezeichnungen um Artbezeichnungen handelt. Man denke z. B. an Aussagen wie: „Durch den neuen Tarifvertrag wurde das Kleidergeld wieder eingeführt.“ Strukturen dieser Art, in denen die Beziehung zwischen Kopf und Modifikator auf eine bestimmte semantische Relation festgelegt zu sein scheint, ähneln zum einen Strukturen mit einer semantisch spezifischen Präposition wie in FRA chaussures pour femmes ,Damenschuhe‘ (→ D4.5), zum anderen Kopf-Argument-Strukturen (→ A4.2.2.3.5).  





A4.2.2.3.2 Materialbezeichnungen In der Literatur finden sich gelegentlich Beispiele für semantisch definierte, typische Klassen von klassifikatorischen Modifikatoren. Dazu werden u. a. Materialbezeichnungen wie in (25)–(29) gerechnet (Halliday 2004: 320).  

Rijkhoff (2009a: 57, 74) schreibt zwar adnominalen Materialbezeichnungen qualitative Funktion zu, referiert dann aber Hallidays Bestimmung der potentiell klassifikatorischen ModifikatorKopf-Relationen (s. o.), zu denen dieser auch die Materialrelation zählt (vgl. ebd.: 63).  

114

A Funktionale Domänen

(25)

a. Holzregal, Plastikbecher, Lederschuh b. Stahlhelm, Lehmhütte, Schilfdach

(26) DEU ENG POL

goldener Ohrring, lederne Hose, seidenes Kleid wooden rack ‚Holzregal‘ kurtka skórzana (kurtka Jacke, skórzana Leder.ADJ ) ‚Lederjacke‘, hełm stalowy (hełm Helm, stalowy Stahl.ADJ ) ‚Stahlhelm‘

(27) a. steel helmet ‚Stahlhelm‘, plastic cup ‚Plastikbecher‘, leather shoe ‚LederENG schuh‘ b. paper airplane ‚Papierflugzeug‘ (28) NDL (29) DEU FRA

een huis van steen (INDEF Haus von Stein) ‚Steinhaus‘ (Rijkhoff 2009a: 57)

Ring aus Gold étagère en bois ‚Holzregal‘, gobelet en plastique ‚Plastikbecher‘, chaussure en cuir ‚Lederschuh‘, cabane en torchis (Hütte in Strohlehm) ‚Lehmhütte‘

Die Materiallesart ergibt sich jeweils aus dem Schema ,N1, das aus N2 besteht‘, wobei ‚N1‘ für das Kopfsubstantiv und ‚N2‘ für den substantivischen Bestandteil des Modifikators steht. Hier liegt aber nach unseren Kriterien keine klassifikatorische, sondern qualitative Modifikation vor. Es geht schlicht um die Eigenschaft, aus einem bestimmten Material zu bestehen. Unterschiedliche Materialeigenschaften konstituieren aber per se keine unterschiedlichen Arten; Regale, die aus Holz sind, sind keine andere Art von Regal als Regale, die aus Metall sind. Daneben kann geltend gemacht werden, dass sich Materialadjektive mit bestimmten Qualitätsadjektiven koordinieren lassen (vgl. (30a, b)), nicht aber mit Relationsadjektiven (vgl. (30c)). (30)

a. das runde und gläserne Gebäude (www.pressreader.com) b. die schwere und hölzerne Tür (www.bookrix.com) c. *die hölzerne und mechanische Traktur vs. die hölzerne mechanische Traktur (www.morgenpost.de) Hier existieren möglicherweise sprachspezifische Unterschiede, da sich etwa für bei einer Google-Recherche (am 04.01.2017) für ENG heavy and wooden door oder heavy and iron door (im Gegensatz zu heavy wooden door und heavy iron door – beide belegbar durch books.google.de) keine Belege finden ließen.

A4 Modifikation

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Materialadjektive liegen im peripheren Bereich der Qualitätsadjektive; anders als deren typische Vertreter – etwa Größen-, Form- oder Farbadjektive – sind sie etwa im Deutschen aus der prädikativen Funktion ausgeschlossen. (Für das Polnische gilt dies allerdings nicht.) Zudem konkurrieren adjektivische Materialzuschreibungen mit Ausdrucksmitteln, die typischerweise als klassifikatorische Modifikatoren auftreten, vor allem modifikativen Substantivstämmen in NN-Komposita (Kupferdraht), speziell im Englischen auch substantivischen Attributen (ENG cotton shirt ,Baumwollhemd‘) und im Französischen en-PPs (FRA une tong en cuir ,eine Ledersandale‘), die ebenso wie andere klassifikatorische PPs im Französischen enger am Kopf stehen können als Qualitätsadjektive und von weiteren klassifikatorischen Modifikatoren gefolgt werden können (FRA une tongF en cuirM blancheF ‚eine weiße Ledersandale‘, une tong en cuir femme ‚eine lederne Damensandale‘). Zur Stellung von Materialadjektiven bei mehreren kookkurrierenden Adjektivattributen vgl. genauer → D1.2.3.1.7. Allerdings können sich auch hier speziellere Lesarten ausbilden, wie die Komposita in (25) zeigen, wobei solche spezielleren und klassifikatorischen Lesarten bei den Ausdrücken in (25b) dominant, bei denen in (25a) dagegen eher schwach ausgeprägt sind: So könnte man z. B. unter Lederschuh einen bestimmten Typ von elegantem Herrenschuh (einen Brogue oder einen Norweger) verstehen; ein Turnschuh, der aus Leder ist, wäre dann in dieser Lesart kein Lederschuh. Der (partiell) lexikalisierte Status der Ausdrücke in (25b) wiederum zeigt sich u. a. in deren Übersetzungsäquivalenten, in denen der Modifikator z. T. überhaupt kein materialbezeichnender Ausdruck ist (vgl. DEU Stahlhelm vs. FRA casque lourd, casque ‚Helm‘, lourd ‚schwer‘), z. T. aber auch das relevante Material spezifischer als im Deutschen bezeichnen kann (vgl. DEU Lehmhütte vs. FRA cabane en torchis, cabane ‚Hütte‘, en ‚in‘, torchis ‚Strohlehm‘). Solche speziellen, lexikalisierten Bedeutungen finden sich auch bei Relationsadjektiven sowie N- und PP-Modifikatoren (vgl. (26)–(29)). Die Nähe der Materialbezeichnungen zur klassifikatorischen Modifikation, die sich in den genannten ausdrucksseitigen Besonderheiten gegenüber prototypischen qualitativen (wie auch klassifikatorischen) Modifikatoren zeigt, mag auch darin begründet sein, dass zumindest bei Alltagsgegenständen unterschiedliches Material oft ein salientes und stereotypes Unterscheidungsmerkmal für Gegenstände verschiedener Subarten ist, die zu der gleichen Oberart gehören wie etwa bei: Holzlöffel vs. Silberlöffel, Ledersandalen vs. Plastiksandalen, Porzellangeschirr vs. Plastikgeschirr. Das Material, aus dem ein Gegenstand besteht, ist auch eine notwendige Voraussetzung dafür, um überhaupt einen Gegenstand einer bestimmten Art herstellen zu können. Bestimmte Gegenstände können nicht aus jedem beliebigen Material geschaffen sein. Löffel etwa setzen ein festes, aber formbares (und ggf. unschädliches) Material, z. B. Metall, Holz, Plastik, voraus. In dieser Hinsicht ist das Material „konstitutiv“ für die entsprechende Art.  











Koptjevskaja-Tamm (2002: 157) weist darauf hin, dass im Türkischen Materialbezeichnungen anders als sonstige nicht-referentielle (non-anchoring) N/NOM/NP-Modifikatoren kodiert werden: „In Turkish, for instance, the usual non-anchoring pattern does not cover the relation of Material,

116

A Funktionale Domänen

which may be expressed by juxtaposition (e.g., tahta köprü – wood bridge, ‘a wooden bridge’) […]“.

A4.2.2.3.3 Bezeichnungen für Nationalitäten, Ethnien und geografische Gebiete Ein weiterer Typ, der in der Literatur manchmal zu den klassifikatorischen Modifikatoren gerechnet wird, sind Bezeichnungen für Nationalitäten, Ethnien oder geografische Bereiche in Form von Adjektiven oder Substantivstämmen (vgl. (32a, b)). Alexiadou/Haegeman/Stavrou (2007: 313) sprechen in diesem Zusammenhang von Ausdrücken, die die Herkunft oder den Ursprung von Gegenständen (vgl. (32b)) bezeichnen. Wir werden ebenfalls vereinfachend von den Termini ‚Herkunftsbezeichnung‘ oder speziell auch ‚Herkunftsadjektiv‘ in diesem weiteren Sinn Gebrauch machen, ohne dabei vorauszusetzen, dass im konkreten Fall eine Herkunftsbezeichnung vorliegt. (32)

a. italienische Regierung, Italienreise b. italienische Freundin, italienischer Wein, italienische Schuhe c. italienisches Essen

Auch diese Modifikatoren unterscheiden sich von prototypischen klassifikatorischen Modifikatoren: Weder ist eine italienische Regierung eine bestimmte Art von Regierung, noch ist eine italienische Freundin ein bestimmter Typ von Freundin. Eine italienische Regierung ist eine Regierung des Staates Italien, eine Italienreise ist eine Reise im oder ins Land Italien, italienischer Wein ist Wein aus dem geografischen Gebiet Italiens und eine italienische Freundin ist eine Freundin italienischer Herkunft. Solche Adjektive basieren auf Eigennamen, die als Modifikatoren auch dann verankernd fungieren können, wenn sie in Form von Adjektiven oder Nicht-Köpfen von NN-Komposita auftreten (zum Begriff der Verankerung → A4.3.2). Zwar sind solche Modifikatoren nicht-referentiell, wie sich durch Pronominalisierungstests leicht nachweisen lässt, aber sie verankern dennoch den Begriff des Kopfsubstantivs in Bezug auf den abstrakten oder konkreten Gegenstand, den sie bezeichnen (Staat, Gebiet, Nationalität oder Ethnie). Wir bezeichnen solche Modifikatoren als pseudo-referentiell (→ A4.3.3.5). Pseudo-referentielle Funktion liegt insbesondere dann vor, wenn der Modifikator zum Modifikandum in einer Argument- oder Possessorrelation steht (also z. B. bei deutsche Invasion in Polen, italienische Regierung), vgl. (32a) sowie → A4.2.2.3.5. In diesen Fällen wird die Relation zwischen Modifikator und Modifikandum wesentlich durch die Bedeutung des Modifikandums festgelegt, der substantivische Modifikator (bzw. das im Modifikator enthaltene Substantiv) entspricht als Eigenname für ein geografisches oder staatliches Gebilde den entsprechenden sortalen Beschränkungen des Kopfes, drückt aber keine spezifische Relation aus. In dieser Hinsicht und insofern, als das entscheidende Kriterium der Subklassenbildung gegeben ist, gleichen diese Verwendungen dem prototypischen Fall klassifikatorischer  







A4 Modifikation

117

Modifikation, und wir fassen daher insgesamt nicht-referentielle modifikative Herkunftsbezeichnungen als klassifikatorische Modifikatoren i. w. S. auf. In anderen Fällen, wo keine Argument- oder Possessorrelation vorliegt, wird die Relation dagegen regulär als Herkunftsrelation gedeutet (vgl. (32b)). Diese noch immer unspezifische Eigenschaft, aus einer bestimmten Region zu stammen, kann als Basis für die Herausbildung speziellerer Verwendungsweisen dienen. So versteht man unter italienischen Schuhen sicher keine Turnschuhe, auch wenn diese in Italien hergestellt worden sind, sondern handwerklich und nach einem bestimmten Design hergestelltes, für das Tragen in der Stadt gedachtes Schuhwerk. Mit dem Ausdruck sind somit stereotypische Merkmale assoziiert, die ihn in Richtung Artbezeichnung rücken. Bei lexikalisierten Verbindungen wie Mailänder Salami, Schweizer Käse haben wir es eindeutig mit Artbezeichnungen zu tun; -er-Ableitungen von geografischen Eigennamen gehen besonders häufig in solche Benennungen ein. Auf der anderen Seite sind auch Spezialisierungen möglich, die qualitativ im engeren Sinne zu interpretieren sind: Ein italienisches Essen (vgl. (32c)) muss weder in Italien noch von Italienern zubereitet sein und auch die Zutaten müssen nicht aus Italien stammen, sondern es muss vielmehr bestimmte Eigenschaften aufweisen; das Adjektiv fungiert hier demnach als qualitativer Modifikator.  



A4.2.2.3.4 Form- und Farbbezeichnungen Alexiadou/Haegeman/Stavrou (2007: 313) behaupten, dass alle Adjektive, die „objektive Eigenschaften“ (im Sinne von Vendler 1967: 173) bezeichnen, klassifikatorisch fungieren können, wobei zu solchen „objektiven Eigenschaften“ nicht nur Nationalität/Ursprung und Material, sondern auch Farbe und Form gehören. Eines der angeführten Beispiele ist ENG round table: Similarly […] round table may denote a type of table: round tables as opposed to square tables, for instance. Classifying adjectives such as […] round […] subcategorize the denotation of the noun: they create a subset of the set denoted by the noun. […] we could almost say that the adjective +noun combination identifies a ‘natural class’, in this particular case […] a ‘table type’ ([…] ‘round tables’). (Alexiadou/Haegeman/Stavrou 2007: 318 f.)  

Absolute Adjektive des genannten Typs bezeichnen Eigenschaften, die situativ invariabel sind und daher für die fraglichen Gegenstände stabile Reidentifikationskriterien manifestieren. Es handelt sich aber hier um Fälle qualitativer Modifikation, die Eigenschaft, rund zu sein, trifft auf den Gegenstand Tisch zu. In → A4.2.2.2 hatten wir gesehen, dass klassifikatorische Strukturen mit eigenschaftsbezeichnendem Modifikator typischerweise idiomatisiert und damit Artbezeichnungen sind. Das trifft auf Farb- und Formbezeichnungen nicht zu, vgl. (33) und (34).  

(33)

a.

??Der

runde Tisch ist ein typisches Möbelstück der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts.

118

A Funktionale Domänen

b. Der Nierentisch ist ein typisches Möbelstück der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts. (34)

Was für eine Art von Tisch ist das? a. ??Ein runder Tisch. b. Ein Nierentisch.

A4.2.2.3.5 Kopf-Argument-Strukturen Kopf-Argument-Strukturen im nominalen Bereich fassen wir unter die Modifikationsstrukturen, zählen also Argumente von Substantiven zu den Modifikatoren im weiteren Sinne (→ A4.3.3). In Bezug auf ihre formalen Eigenschaften entsprechen KopfArgument-Strukturen entweder referentiellen (vgl. (35)) oder klassifikatorischen Strukturen mit gegenstandsbezeichnendem Modifikator (vgl. (36), (37)).  

(35) DEU ENG FRA POL

(36) DEU ENG (37) DEU ENG FRA UNG

Pflege der Zähne / von Zähnen, Produktion von Getreide care of teeth, production of grain soins des dents, production de céréales pielęgnacja zębów (pielęgnacja Pflege, zębów Zahn.GEN . PL ), produkcja zbóż (produkcja Produktion, zbóż Getreide.GEN . PL )

Zahnpflege, Getreideproduktion tooth care, grain production

dentale Pflege dental care soins dentaire, production céréalière ‚Getreideproduktion‘ hajfestés (haj Haar, fest-és färb-NR ) ‚Haarefärben‘, gabonatermesztés (gabona Getreide, termeszt-és anbau-NR ) ‚Getreideproduktion‘

Bei nicht-referentiellen Modifikatoren, unter die auch die in → A4.2.2.3.3 erörterten pseudo-referentiellen Strukturen einzubeziehen sind, rechnen wir solche Ausdrücke zu den klassifikatorischen Strukturen. Allerdings unterscheiden sie sich von diesen in einer wesentlichen semantischen Hinsicht: Wegen der Relationalität des Kopfsubstantivs ist die Beziehung zwischen Modifikator und Kopf weitgehend – d. h. abgesehen von möglichen Ambiguitäten – thematisch festgelegt, und die Bedeutung des Gesamtausdrucks ist kompositional erschließbar und damit transparent. Werden Kopf-Argument-Strukturen rein relational, d. h. ausschließlich im Sinne der KopfArgument-Beziehung interpretiert, bezeichnen sie zwar Subklassen aber keine Arten:  





A4 Modifikation

119

Weder ist Zahnpflege eine Art von Pflege, noch ist Getreideproduktion eine Art von Produktion. Auch das mütterliche oder väterliche Erbe ist keine Art von Erbe. Dennoch können sich auch in Kopf-Argument-Strukturen klassifikatorische Lesarten einstellen. Das ist immer dann der Fall, wenn die Bedeutungen semantische Merkmale beinhalten, die nicht aus dem kompositionalen Aufbau der Ausdrucksbedeutung folgen. Strenggenommen handelt es sich in diesen Fällen aber auch nicht mehr um Kopf-Argument-Strukturen, d. h., das Denotat des Modifikators füllt dann auch keine Argumentstelle des Kopfes. Ob eine solche Lesart tatsächlich vorliegt oder vorliegen kann, lässt sich testen, indem man den Ausdruck mit einem weiteren, allerdings referentiellen NP/PP-Modifikator verknüpft, der die fragliche Argumentstelle füllt. Dazu einige Beispiele (z. T. aus Gunkel/Zifonun 2009), in denen mögliche thematische Lesarten des nicht-referentiellen Modifikators durch das jeweilige PPAttribut überschrieben werden. In (38) geht es um die Lesart als AGENS , in (39) um die als PATIENS . Der nicht-referentielle Modifikator fungiert in beiden Fällen klassifikatorisch.  



Einige Beispiele dieser Art werden nicht von allen Sprechern als akzeptabel oder als grammatisch eingestuft.

(38) DEU ENG

(39) DEU ENG DEU ENG

das Hundebellen meines Dackels, die ärztliche Einschätzung durch das Pflegepersonal the governmental supervision by the states etwa: ‚die staatliche Kontrolle durch die Staaten‘

der Vulkanausbruch des Eyjafjallajökull the volcanic eruption of Pinatubo ‚der Vulkanausbruch des Pinatubo‘ die Stadtverwaltung von Leipzig, die Tierpflege von Hasen the colonial administration of India ‚die Kolonialverwaltung von Indien‘

In Beispielen wie (40) kann der Modifikator dagegen nicht klassifikatorisch gedeutet werden. Möglich ist hier ausschließlich eine Deutung als Argument, die jedoch auch die einzige Möglichkeit für den referentiellen NP/PP-Modifikator darstellt. Dies führt zur Ungrammatikalität. (40)

*die Getreideproduktion von Weizen, *die Weizenproduktion von Getreide

In welchen Fällen Argumentlesarten nicht-referentieller Modifikatoren zulässig oder gar zwingend sind, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab, auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll. Die wichtigsten betreffen die Form des Modifikators (NichtKopf eines NN-Kompositums, Relationsadjektive, NP/PP-Attribut) sowie den möglichen semantisch-ontologischen Typ (Gegenstand, Ereignis etc.) des Kopfes (vgl. hier-

120

A Funktionale Domänen

zu Gunkel/Zifonun 2009). Relevant ist aber auch der Idiomatisierungsgrad des Gesamtausdrucks, d. h. der Anteil von Merkmalen, die nicht aus der kompositionalen Struktur des Gesamtausdrucks herleitbar sind. So ist etwa Getreideproduktion offensichtlich weniger idiomatisiert als Tierpflege; Getreideproduktion bedeutet nichts anderes als ‚Produktion von Getreide‘; wie und mit welchen Mitteln diese Produktion abläuft, bleibt völlig offen.  

A4.2.3 Strukturtypen und formale Charakteristika klassifikatorischer Modifikation In diesem Abschnitt beschreiben wir die wichtigsten formalen Charakteristika von klassifikatorischen Strukturen. Wir beginnen mit einer Darstellung der Strukturtypen, wie sie sich in den Vergleichssprachen finden, und skizzieren im Anschluss formale Eigenschaften und Beschränkungen, die für klassifikatorische Strukturen – im Unterschied zu qualifizierenden und referentiellen – kennzeichnend sind.

A4.2.3.1 Strukturtypen klassifikatorischer Modifikation Komposita gehören in den Sprachen, die überhaupt über Komposition verfügen, zu den präferierten Ausdrucksformen klassifikatorischer Modifikation. Aufgrund der Subsektivitätsbedingung sind alle klassifizierenden Komposita per definitionem endozentrisch. Neben den in → A4.2.2 bereits angeführten AN-, VN- und NN-Komposita können mehr oder weniger alle Kompositionstypen klassifikatorisch fungieren, so z. B. im Deutschen auch Bildungen mit präpositionalem (Nachbetreuung, Voruntersuchung) oder adverbialem Modifikator (Inneneinrichtung, Außenbeleuchtung). Als syntaktische Modifikatoren in klassifikatorischer Funktion treten adjektivische, partizipiale, nominale und präpositionale Attribute auf. Adjektivische Modifikatoren sind im prototypischen Fall Relationsadjektive (vgl. (41a)), daneben finden sich auch Qualitätsadjektive (vgl. (41b)). Partizipiale Attribute können aktivisch (ENG running shoes ‚Laufschuhe‘) oder passivisch (DEU gekochter Schinken) sein. Bei den nominalen Attributen handelt es sich um einfache Substantivformen (N, vgl. (42)), phrasal ausgebaute Syntagmen der Kategorie NOM (vgl. (43)) oder um Nominalphrasen (NPs, vgl. (44), → D1.1.3.1). Wie die Beispiele zeigen, wird das Attribut in einigen Fällen durch einen formalen Verknüpfer angebunden, der entweder am Attribut wie im Englischen (vgl. (42b), (43a)), Deutschen und Polnischen (vgl. (44a)) oder am Kopf wie im Ungarischen und Türkischen (vgl. (44b)) steht. Formale Verknüpfer sind entweder Affixe wie im Deutschen, Polnischen, Ungarischen oder Türkischen, Klitika wie im Englischen oder formale Präpositionen, wie sie bei PP-Attributen auftreten (vgl. (45a)). Als inhaltliche Verknüpfer finden sich entsprechend Präpositionen oder Affixe für semantisch spezifische Relationen (vgl. (45b), → D4).  







A4 Modifikation

(41a) DEU RUS

(41b) DEU ENG FRA POL NDL

(42a) ENG FRA

(42b) ENG

(43) ENG FRA NDL (44a) DEU POL GRI LIT ALB

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militärische Uniform, menschliche Knochen, orthopädische Schuhe ženskoe plat’e (ženskoe Frau.ADJ , plat’e Kleid) ‚Frauenkleid‘ (vgl. Koptjevskaja-Tamm 2002: 155)

grobe Leberwurst, schöne Künste, kalter Krieg red wine ‚Rotwein‘ vin rouge ‚Rotwein‘, nature morte ‚Stillleben‘, guerre froide ‚kalter Krieg‘ czerwone wino ‚Rotwein‘ dikke darm ‚Dickdarm‘ (Booij 2009: 224), rode wijn ‚Rotwein‘, vrije tijd ‚Freizeit‘ (Schuster 2010: 169)

gold and silver coins ‚Gold- und Silbermünzen‘, orange and lemon orchards ‚Orangen- und Zitronengärten‘ (BNC) musique pop ‚Popmusik‘, sortie piétons ‚Fußgängerausgang‘, cigarette filtre ‚Filterzigarette‘

baby’s chair ‚Babystuhl‘, bird’s nest ‚Vogelnest‘, women’s magazine ‚Frauenmagazin‘, policeman’s uniform ‚Polizeiuniform‘, man’s name ‚Männername‘ (BNC), men’s room ‚Herrentoilette‘, people’s democracy ‚Volksdemokratie‘

young women’s magazine ‚Zeitschrift für junge Frauen‘, old men’s mentality ‚Altmännermentalität‘ (BNC) cuisinière quatre feux ‚Vier-Flammen-Herd‘, assurance tous risques ‚Versicherung gegen alle Risiken‘ (vgl. Booij 2009: 223) directeur artistieke zaken ‚künstlerischer Direktor‘ (vgl. ebd.: 221)

Mann des Theaters kierowca samochodu (kierowca Fahrer, samochodu Auto.GEN ) ‚Autofahrer‘ zoni asfalias (zoni Gurt, asfalias Sicherheit.GEN ) ‚Sicherheitsgurt‘ (Booij 2009: 223) duonos peilis (duonos Brot.GEN , peilis Messer) ‚Brotmesser‘ bukë grur-i (bukë Brot, grur-i Weizen-ABL ) ,Weizenbrot‘ (vgl. KoptjevskajaTamm 2002: 155)

122

A Funktionale Domänen

(44b) UNG TÜR

az erdő állatai (az DEF , erdő Wald, állatai Tier.PPL ) ,Tiere des Waldes‘ komodin lambası (komodin Nachttisch, lambası Lampe.POSS ) ,Nachttischlampe‘

(45a) ENG FRA NDL RUM

house of prayer ,Bethaus‘ pot de chambre ,Nachttopf‘, pot à lait ,Milchtopf‘ een man van de geest ,ein Mann des Geistes‘ (vgl. Rijkhoff 2009a: 57) fiul de rege (fiul Sohn.DEF , de von, rege König) ,Königssohn‘

(45b) DEU FRA

Haus am See, Versicherung gegen alle Risiken, Minister für Verteidigung impression par laser ,Laserdruck‘, roman avec photos ,Fotoroman‘, espace pour fumeurs ,Raucherbereich‘ (vgl. Fradin 2009: 433), sculpture sur bois ‚Holzarbeit‘ room with shower ,Zimmer mit Dusche‘ kosz na śmieci (kosz Korb, na auf, śmieci Papier.AKK ) ,Papierkorb‘ szoba fürdőszobával (szoba Zimmer, fürdőszobával Bad.INS ) ,Zimmer mit Bad‘

ENG POL UNG

Wir betrachten die Strukturen des Französischen in (45a) als Syntagmen (vgl. Benveniste 1974; Corbin 1992, 1997; Booij 2012: 85 f.; Fradin 2009: 419). Paillard (2000: 45) und Fradin (2009: 419) weisen darauf hin, dass solche Strukturen in der Tradition oft als Komposita klassifiziert werden, vgl. Darmesteter (1911: 10–16), Bally (1965: 94), Riegel/Pellat/Rioul (2014: 910–913). Bloomfield (1933: 234) spricht von „semi-syntactic compounds“. Ihr syntaktischer Status zeigt sich vor allem darin, dass Pluralsuffixe an den substantivischen Kopf (FRA les chemins de fer ‚die Eisenbahnen‘) und nicht ans Ende des gesamten Ausdrucks (FRA *les chemin de fers) treten, vgl. Booij (2012: 85 f.). Analoges gilt für französische N+N/N+NOM-Strukturen wie in (42a) und (43). Statt als linksköpfige Komposita sind sie als Syntagmen mit postnominalem Attribut zu analysieren (vgl. Booij 2009: 223), da auch hier Pluralsuffixe ausschließlich an den linksstehenden Kopf treten (FRA des cigarettes filtre). Vgl. dazu auch → A3.3.  





A4.2.3.2 Formale Charakteristika klassifikatorischer Modifikatoren Klassifikatorische Modifikatoren zeichnen sich durch eine Reihe von ausdrucksseitigen Charakteristika aus, die offenbar Reflexe ihrer semantischen Eigenschaften und Funktionen sind (vgl. hierzu etwa Quirk et al. 1985: 1339 sowie Rijkhoff 2009a: 63). Die meisten dieser Charakteristika sind ausschließlich für klassifikatorische Adjektive einschlägig, da sie Eigenschaften betreffen, die Ausdrücke anderer Kategorien ohnehin nicht haben können. Für manche der im Folgenden aufzuzeigenden Beschränkungen stehen zufriedenstellende semantische Erklärungen noch aus. Keine der genannten Beschränkungen gilt ausschließlich für klassifikatorische Modifikatoren;

A4 Modifikation

123

relevant ist vielmehr, dass klassifikatorische Modifikatoren diesen Beschränkungen so gut wie immer unterliegen. Klassifikatorische und qualitative Modifikatoren können nicht miteinander koordiniert werden; dies gilt für adjektivische (vgl. (46), (47)) ebenso wie für possessive Modifikatoren (vgl. (48); zu Relationsadjektiven im Französischen vgl. Wandruszka 1972: 118 et passim; zu Genitivattributen als qualitative Modifikatoren im Deutschen → A4.1, → D3.11). Allerdings unterliegt Koordination generell semantischen Beschränkungen. Nach Lang (1977: 60) muss sich für die Bedeutungen der Konjunkte eine „Gemeinsame Einordnungsinstanz“ finden lassen (vgl. auch Wandruszka 1972: 118, Fn. 111). Entscheidend ist somit, dass eine solche Instanz bei der Koordination funktional unterschiedlicher Modifikatoren prinzipiell ausgeschlossen ist.  

(46) DEU ENG

NDL FRA

(47) DEU NDL FRA

(48) DEU FRA



??strikte

und ärztliche Anordnungen civil and mechanical/*rude engineer wörtl. ‚Bau- und Maschinenbau-/unhöflicher Ingenieur‘, continental and oceanic/*expensive studies wörtl. ‚kontinentale und ozeanische/teure Studien, literary and musical/*bitter criticism wörtl. ‚Literatur- und Musik-/bittere Kritik‘ (Levi 1978: 23) ?het grote (paleis) en koninklijke paleis wörtl. ‚der große und königliche Palast‘ (vgl. Booij 2009: 231) des difficultés imprévisibles et insurmontables ‚unvorhergesehene und unüberwindliche Schwierigkeiten‘, des difficultés économiques et financières ‚ökonomische und finanzielle Schwierigkeiten‘ vs. *des difficultés économiques et imprévisibles wörtl. ‚ökonomische und unvorhergesehene Schwierigkeiten‘ (vgl. Wandruszka 1972: 118), les élections présidentielles et sénatoriales ‚die Präsidentschafts- und Senatswahlen‘ vs. *les élections présidentielles et immédiates wörtl. ‚die Präsidentschafts- und sofortigen Wahlen‘ (Stephany 1970: 68)

?warmes

und helles Bier, #reife und grüne Bohnen ?vieze en rode kool wörtl. ‚schmutziger und Rotkohl‘ (Booij 2008: 7) *une simple et petite porte wörtl. ‚eine einfache und Hintertür‘ (Stephany 1970: 70)

??ein

Mann vieler Talente und des Ausgleichs un homme d’action et de vision ‚ein Mann der Tat und der Vision‘ vs. ??un homme d’action et de talent ‚ein Mann der Tat und mit Talent‘

Dagegen sind klassifikatorische Modifikatoren miteinander auch dann koordinierbar, wenn sie unterschiedlichen Kategorien angehören. Im Deutschen ist es z. B. möglich –  

124

A Funktionale Domänen

wenn auch stilistisch markiert –, Relationsadjektive mit den modifikativen Elementen von NN-Komposita zu koordinieren (vgl. (49)); das Englische erlaubt entsprechend die Koordination von attributiven Adjektiven und Substantiven (vgl. (50)). Im Französischen, Italienischen und Spanischen können Relationsadjektive mit klassifikatorischen PPs koordiniert werden (vgl. (51)). (49) DEU

von Alltags- zu wissenschaftlichen Begriffen, einige Print- und elektronische Medien, im Preußischen Ministerium für [g]eistliche-, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, in politischen und Fernsehdiskussionen (Askedal 2001b: 218, 221, 224, 227)

(50) ENG

electrical and mining engineers ‚Elektro- und Bergbauingenieure‘, corporate and divorce lawyer ‚Firmen- und Scheidungsanwalt‘, domestic and farm services ‚häusliche- und landwirtschaftliche Dienstleistungen‘ (Levi 1978: 22)

(51) FRA ITA

SPA

attaque aérienne ou de tirs ‚Angriff aus der Luft oder durch Beschuss‘ (vgl. Wandruszka 1972: 141) crisi universitaria, politica, tecnica, di cultura, di nervi ‚universitäre, politische, technische, kulturelle und Nervenkrisen‘, prodotti tecnici, industriali, e di consumo ‚technische, industrielle und Konsumprodukte‘, industrie alimentari e di profumeria ‚Lebensmittel- und Parfümindustrien‘ (vgl. Wandruszka 1972: 141) sistema viario y de servicios ‚Kommunikations- und Dienstleistungssystem‘, trajes deportivos, de tarde y de gala ‚Sport-, Abend- und Galakleidung‘, zona residencial y de recreo ‚Wohn- und Erholungsgegend‘ (vgl. Wandruszka 1972: 141)

Klassifikatorische Syntagmen zeichnen sich weiter dadurch aus, dass sie – konstruktionell ikonisch zu der durch sie bezeichneten begrifflichen Einheit – formale Einheiten bilden, insofern als sie sich in unterschiedlichen Hinsichten wie einfache Wortformen verhalten (→ A3.3). Klassifikatorische Modifikatoren tendieren im Zuge der Lexikalisierung der Gesamtstruktur dahin, ihren Status als eigenständige syntaktische Ausdrücke zu verlieren. Je nach Ausdrucks- und Sprachtyp sind solche „Erosionserscheinungen“ mit unterschiedlichen formalen und semantischen Merkmalen verbunden. Im Deutschen, einer „kompositionsfreudigen Sprache“ (vgl. Schlücker 2012), zeigt sich diese Tendenz zunächst darin, präferiert Komposita zum Ausdruck klassifikatorischer Modifikation einzusetzen. Daneben besteht für eine begrenzte Klasse von derivierten Adjektiven – vor allem solche auf -al, -il, -an oder -ar – die Möglichkeit, als Erstelemente von AN-Komposita zu fungieren, während dieser Kompositionstyp sonst nur mit morphologisch einfachen Formen möglich ist (vgl. (52), Gunkel/Zifonun 2009: 213 f.).  



A4 Modifikation

(52)

125

a. Dentalpflege, Mentaltrainer, Sozialversicherung, Kommunalpolitiker b. nukleare Waffen – Nuklearwaffen, soziale Struktur – Sozialstruktur, soziale Leistungen – Sozialleistungen (Fleischer 2012: 132) c. Niedrigwasser, Suggestivfrage (Booij 2009: 225) d. medialer Wandel vs. *Medialwandel, soziale Marktwirtschaft vs. *Sozialmarktwirtschaft

Für syntaktische Verbindungen ist übereinzelsprachlich festzustellen, dass klassifikatorische Attribute immer näher am substantivischen Kopf stehen als Attribute mit einer anderen semantischen Funktion – vorausgesetzt, beide Attribute sind nicht koordiniert und stehen gleichermaßen vor oder nach dem Kopfsubstantiv; speziell zur Linearisierung bei Kookkurrenz von Relations- und Qualitätsadjektiven vgl. auch → D1.2.3.1.7. Die syntagmatische Enge klassifikatorischer Strukturen spiegelt damit ikonisch den Charakter der begrifflichen Verknüpfung wider. Zu beachten ist, dass Verbindungen von klassifikatorischem Attribut und Substantiv auch dann nicht von qualitativen Attributen linear unterbrochen werden können, wenn diese kontrastiert sind (vgl. (53)). Werden Qualitätsadjektive postnominal realisiert, müssen sie nach klassifikatorischen (postnominalen) PPs (oder NPs) platziert werden (vgl. (54a)), wie die Beispiele aus dem Französischen zeigen, wo Adjektiv-Attribute sonst PP-Attributen vorangehen, wenn beide die gleiche semantische Funktion haben (vgl. (54b)) oder das PP-Attribut referentiell fungiert (vgl. (54c)).  

(53) DEU ENG FRA

neue nukleare Waffen vs. *nukleare neue/NEUe Waffen new nuclear weapons vs. *nuclear new/NEW weapons armes nucléaires dangereuses vs. *armes dangereuses/dangeREUSES nucléaires ‚gefährliche Nuklearwaffen‘

(54) a. la voiture de sport rouge ‚der rote Sportwagen‘, la chemise de nuit longue FRA ‚das lange Nachthemd‘ b. un match international de football ‚ein internationales Fußballspiel‘, les partis politiques d’opposition ‚die Oppositionsparteien‘, le record mondial de vitesse ‚der Geschwindigkeitsweltrekord‘ (vgl. Carlsson 1966: 81) c. le toit rouge de la maison ‚das rote Dach des Hauses‘ Carlsson (1966: 83–91) zeigt jedoch anhand von zahlreichen Belegen wie journaux britanniques du matin ‚britische Morgenzeitungen‘ (ebd.: 87), le ministre canadien de la Défense ‚der kanadische Verteidigungsminister‘ (ebd.: 87) oder leur costume noir du dimanche ‚ihr schwarzes Sonntagskleid‘ (ebd.: 89), in denen die Modifikator-PP einen Binnenartikel aufweist, dass die o. g. Reihenfolgebeschränkungen im Französischen durchbrochen werden können. Dabei ist allerdings zu beachten, dass der größte Teil – wenn nicht alle – der von Carlsson angeführten Beispiele, Adjektive beinhalten, die  



126

A Funktionale Domänen

von Eigennamen abgeleitet sind und geografische bzw. politische (auch: les organisations hitlériennes de la jeunesse ‚die hitlerschen Jugendorganisationen‘, ebd.: 89) Entitäten bezeichnen. Beispielen wie FRA leur costume noir du dimanche lässt sich möglicherweise durch die Annahme Rechnung tragen, dass das Farbadjektiv hier klassifikatorisch fungiert (vgl. auch DEU schwarzer Anzug). Weiter treten im Französischen eine Reihe von A+N-Verbindungen mit klassifikatorischer Bedeutung auf, die aus einem pränominalen Qualitätsadjektiv und einem Substantiv bestehen (vgl. (55a)). Diese verhalten sich insofern wie einfache Wortformen, als sie mit der Form des des indefiniten Pluralartikels kombiniert werden (vgl. (55b)), statt mit der sonst bei Vorhandensein pränominaler Adjektive und Numeralia üblichen Form de (vgl. (55c)). Im Übrigen zeigt die Pluralkongruenz zwischen Modifikator und Kopf, dass es sich nicht um Komposita handelt. (55) a. le bon mot ‚das Bonmot‘, le petit pain ‚das Brötchen‘, le grand film ‚der HauptFRA film‘, le gros intestin ‚der Dickdarm‘, le grand lit ‚das Doppelbett‘ b. des bons mots ,Bonmots‘, des petits pains ,Brötchen‘, des grands lits ,Doppelbetten‘ c. de bonnes notes ‚gute Noten‘, de petites pommes ‚kleine Äpfel‘ Klassifikatorische Modifikatoren sind generell nur bedingt syntaktisch ausbaubar oder durch reguläre morphologische Prozesse veränderbar. Relations- und Qualitätsadjektive in klassifikatorischer Funktion können nicht mithilfe von Intensifikatoren graduiert, synthetisch oder analytisch kompariert und auch nicht affixal negiert werden. Wo entsprechende Beispiele akzeptabel erscheinen, liegen qualitative Lesarten vor. Für Relationsadjektive können diese Beschränkungen darauf zurückgeführt werden, dass sie Begriffe von kategorialen Entitäten ausdrücken, nämlich Gegenständen oder Ereignissen, die etwa im Gegensatz zu Qualitäten nicht skalierbar oder negierbar sind (vgl. (56)). Bei Qualitätsadjektiven wird dagegen deutlich, dass die Beschränkungen durch den lexikalisierten Status des Syntagmas bedingt sind (vgl. (57)). (56a) DEU ENG FRA

(56b) DEU FRA

*Sie gab eine sehr/besonders ärztliche Anordnung. *very urban riots wörtl. ‚sehr städtische Ausschreitungen‘ vs. very destructive riots ‚sehr zerstörerische Ausschreitungen‘ (Levi 1978: 19) *les élections extrêmement présidentielles wörtl. ‚die extrem präsidentiellen Wahlen‘ (Stephany 1970: 68)

*Eine noch ärztlichere Anordnung konnte sie nicht geben. *les élections moins/plus présidentielles wörtl. ‚die weniger präsidentiellen/ präsidentielleren Wahlen‘ (Stephany 1970: 68)

A4 Modifikation

(56c) DEU ENG (57)

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Das ist keine wissenschaftliche Arbeit. vs. Das ist eine unwissenschaftliche Arbeit. This is not a scientific work. vs. This is an unscientific work. a. #Zum Abendessen servierte man uns ziemlich kalten Braten. b. #Sie trank ein helles Bier, er dagegen ein noch helleres. c. Sie beschäftigt sich mit schöner Literatur. vs. #Sie beschäftigt sich mit unschöner Literatur.

Eine Möglichkeit, Relationsadjektive syntaktisch auszubauen, besteht in der Hinzufügung von fokussierenden Adverbien oder Adjektiven. Wie bei allen fokussierenden Elementen besteht der semantische Effekt solcher Modifikatoren darin, einen Bezug zu Alternativen herzustellen. Relationsadjektive, so hatten wir gesehen, dienen typischerweise zur Bezeichnung von Unterarten, und zwar Unterarten der Art, die von dem jeweiligen Kopfsubstantiv benannt werden. Durch Fokussierung eines Relationsadjektivs wird nun die betreffende Unterart zu anderen potentiellen, alternativen Unterarten in Beziehung gesetzt, wobei der Typ dieser Beziehung inhaltlich durch den fokussierenden Modifikator bestimmt wird. Typische Beispiele sind solche wie in (58). (58) DEU a. [e]ine vor allem polizeiliche Tätigkeit (books.google.de) b. Bruneis staatliche Rundfunk- und Fernsehanstalt hat […] Kanäle für ausschließlich religiöse Sendungen reserviert. (www.auswaertiges-amt.de) c. für hauptsächlich therapeutische und pädagogische Maßnahmen (books. google.de) d. durch ein in erster Linie physikalisches Verfahren (www.ebooksread.com) ENG a. a solely fiscal measure ‚eine ausschließlich fiskalische Maßnahme‘ (www. gov.uk) b. an exclusively fiscal function ‚eine ausschließlich fiskalische Funktion‘ (books.google.de) c. an especially political endeavor ‚ein insbesondere politisches Bestreben‘ (Internet) d. a mainly political history ‚eine hauptsächlich politische Geschichtsschreibung‘ (books.google.de) e. a particularly political person ‚eine besonders politische Person‘ (books. google.de) f. a primarily national phenomenon ‚ein in erster Linie nationales Phänomen‘ (books.google.de) FRA a. un acte surtout politique et symbolique ‚ein vor allem politischer und symbolischer Akt‘ (Internet)

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A Funktionale Domänen

b. [p]rotéger les investissements des entreprises françaises à l’étranger contre les risques extra-commerciaux et plus particulièrement politiques ‚die Investitionen der französischen Unternehmen im Ausland vor außerwirtschaftlichen und insbesondere politischen Risiken schützen‘ (Internet) c. un ensemble de 62 logements exclusivement sociaux ‚ein Komplex mit 62 Wohnungen, die ausschließlich Sozialwohnungen sind‘ (Internet) d. une approche quasi exclusivement présidentielle ‚eine quasi ausschließlich präsidentische Vorgehensweise‘ (www.lexpress.fr) POL a. dla przede wszystkim terapeutycznych i für vor allem therapeutisch.GEN . PL und pedagogicznych celów Zweck.GEN .PL pädagogisch.GEN . PL ‚für vor allem therapeutische und pädagogische Zwecke‘ b. to głównie gospodarcza działalność das hauptsächlich wirtschaftlich Tätigkeit ‚das ist eine hauptsächlich wirtschaftliche Tätigkeit‘ c. religia traktowana jako zjawisko wyłącznie psychiczne Religion betrachtet als Erscheinung ausschließlich psychisch ‚Religion betrachtet als ausschließlich psychische Erscheinung‘ (Internet) UNG a. illetve a forgalom átmeneti szünetelése volt DEF Verkehr vorübergehend Unterbrechung.3SG war bzw. főként rendőrségi intézkedések, hatósági behördlich hauptsächlich polizeilich Maßnahme.PL ellenőrzések miatt wegen Kontrolle.PL ,beziehungsweise die vorübergehende Unterbrechung des Verkehrs geschah aufgrund hauptsächlich polizeilicher Maßnahmen und behördlicher Kontrollen‘ (Internet) b. kizárólag egészségügyi szolgáltatásra jogosultak ausschließlich Gesundheitswesen.ADJ Dienstleistung.SUB berechtigt.PL ,die zu Dienstleistungen ausschließlich im Gesundheitswesen berechtigten‘  



Einen weiteren Fall stellen die Beispiele in (59) dar, in denen das Relationsadjektiv durch ein epistemisches Adverb oder Adjektiv modifiziert ist. Dabei wird die Zugehörigkeit der durch das Kopfsubstantiv bezeichneten Klasse oder Art (z. B. Knochen) in die durch die Attributionsstruktur bezeichnete Subklasse oder Unterart (menschliche Knochen) epistemisch relativiert. Diese Form der ad-adjektivischen Modifikation erfolgt nach dem Muster ad-substantivischer Modifikation durch entsprechende adjektivische Modifikatoren, vgl. mutmaßlicher/vermutlicher/offensichtlicher Täter (→ A4.1).  



A4 Modifikation

129

(59) DEU a. Insgesamt 30 Schädel, 17 Unterkiefer und verschiedene andere, mutmaßlich menschliche Knochen zählte eine sofort alarmierte Spezialeinheit der peruanischen Kriminalpolizei. (Internet) b. Resten vermutlich militärischer Anlagen aus der Eisenzeit (Internet) c. eine offensichtlich geheimdienstliche Stelle der britischen Regierung (Internet) ENG a. an apparently political organization ‚eine offensichtlich politische Organisation‘ (books.google.de) b. an allegedly political objective ,ein angeblich politisches Ziel‘ (books. google.de) FRA a. une seule littérature soi-disant nationale ‚eine einzige sogenannte nationale Literatur‘ (books.google.de) b. les conflits apparemment psychologiques ‚die offensichtlich psychologischen Konflikte‘ (Internet) POL a. różne inne, prawdopodobnie ludzkie kości menschlich.PL Knochen.PL verschieden.PL ander.PL mutmaßlich ,verschiedene andere, mutmaßlich menschliche Knochen‘ b. pozostałości przypuszczalnie wojskowych urządzeń vermutlich militärisch.GEN . PL Anlage.GEN . PL Überrest.PL z epoki żelaza aus Epoche.GEN Eisen.GEN ,Reste vermutlich militärischer Anlagen aus der Eisenzeit‘ UNG a. például azokat a feltételezhetően emberi lábnyomokat DEM . PL . AKK DEF mutmaßlich.ADV menschlich Spur.PL . AKK z. B. ,zum Beispiel diese mutmaßlich menschlichen Spuren‘ (Internet) b. Nyilvánvalóan titkosszolgálati eszközökkel jutottak offensichtlich.ADV geheimdienstlich Mittel.PL . INS gelang.PRT .3PL az információkhoz. DEF Information.PL . ALL ‚Mit offensichtlich geheimdienstlichen Mitteln gelangten sie zu den Informationen.‘ (Internet)  

Klassifikatorische NP/PP-Attribute sind zumindest partiell durch adjektivische Attribute ausbaubar, es sei denn, das Syntagma ist stark idiomatisiert (vgl. Zifonun 2010a: 141). Das zeigt, dass die Syntax dieser Strukturen noch soweit intakt ist, dass sie Analogiebildungen zulässt (vgl. (60), → A3.3).  

130

A Funktionale Domänen

(60) DEU a. ein Mann der (unerschrockenen) Tat, ein Mann des (fairen) Ausgleichs (Zifonun 2010a: 141) b. ein Mann der Tat und des Geschäfts (books.google.de), kein Mann der Tat und des Willens (books.google.de), [d]er Mann der Tat und des tiefen Gedankens (books.google.de) ENG a man of quick/bold action ‚ein Mann der schnellen/beherzten Tat‘ FRA homme dʼaction prompte et énergique ‚Mann der schnellen, beherzten Tat‘ (Sadi Carnot, S. 78) Charakteristisch für syntaktische Strukturen mit klassifikatorischer Funktion ist weiter, dass sie oft mit Blick auf syntaktische Eigenschaften, die sie als phrasale Ausdrücke aufweisen müssten, defizitär sind. Auch dies ist ein Indiz für ihren janusköpfigen grammatischen Status: Teils verhalten sie sich wie einfache Wörter, teils wie syntaktische Phrasen. Solche Defizite betreffen immer den Modifikator des Syntagmas und reduzieren seine Eigenständigkeit als syntaktischen Ausdruck. Auf der semantischen Seite zeigt sich dies – wie wir in → A4.2.2 gesehen haben – in verschiedener Hinsicht: Qualitätsadjektive können nicht ihren üblichen Bedeutungsbeitrag leisten, da sie in klassifikatorischer Funktion nicht intersektiv fungieren. Klassifikatorische NOM/NP/PP-Modifikatoren wiederum sind nicht referentiell. Relationsadjektive wiederum sind als Adjektive nicht intersektiv, weil sie gegenstandsbezeichnend sind, und als gegenstandsbezeichnende Ausdrücke nicht referentiell, weil sie Adjektive sind. Im Niederländischen kann die Flexionsendung (Schwa) des Adjektivs in A+NVerbindungen (in bestimmten Fällen) weggelassen werden, wenn diese klassifikatorische Funktion haben. Solche Strukturen ähneln zwar segmental AN-Komposita, verhalten sich aber prosodisch wie Syntagmen, indem sie weiterhin Phrasenakzent aufweisen (vgl. (61), Booij 2002: 47, 2009: 230).  

(61) NDL

een/de geheim-Æ agent ‚ein/der Geheimagent‘, een/de toegepast-Æ taalkundige ‚ein/der angewandte/r Sprachwissenschaftler‘

Die Fälle beschränken sich auf NPs im Utrum Singular/Plural oder Neutrum Singular. Seltener und für weniger Sprecher akzeptabel ist der Wegfall im Neutrum Plural (vgl. Booij 2009: 230). Allerdings führt der Wegfall der Flexionsendung nicht notwendigerweise zu klassifikatorischen Lesarten, sondern kann auch zur Differenzierung und Nuancierung qualitativer Lesarten führen (vgl. Schuster 2010: 162–167). Eine bei klassifikatorischen NP/PP-Attributen häufig anzutreffende Eigenschaft ist das Fehlen eines Artikels, der in der jeweiligen Sprache zur Realisierung einer NP sonst obligatorisch wäre. So ist der definite Artikel in Genitivattributen des Griechischen in bestimmten Fällen optional, wenn diese klassifikatorisch sind; in entsprechenden Strukturen des Englischen ist er ausgeschlossen (vgl. (62)).

131

A4 Modifikation

(62) GRI

ENG

vivlío (tis) istorias Buch DEF . GEN Geschichte.GEN ‚Geschichtsbuch‘ a [young children’s] game ‚ein Spiel für kleine Kinder‘

In klassifikatorischen PP-Attributen des Französischen wird der Binnenartikel in der Mehrheit der Fälle dann weggelassen, wenn es sich um eine formale Präposition, also um de oder à handelt (vgl. (63a)), bei en steht ohnehin kein Artikel, → D1.2.1.3. Artikellose de- und à-Phrasen sind insofern die Regel, als sie bei Neubildungen eingesetzt werden. Unter den semantischen Präpositionen können vor allem avec ‚mit‘ und sans ‚ohne‘, daneben auch andere ohne Artikel auftreten (vgl. (63b)). Im Deutschen müssen bei einer Reihe von Präpositionen (an, bei, in, von, zu) in klassifikatorischen PP-Attributen Verschmelzungen gewählt werden, sofern diese für die entsprechende Merkmalskombination aus Genus und Kasus zur Verfügung stehen (vgl. (64a)). Bei anderen Präpositionen kann die PP ohne Artikel stehen (vgl. (64b)).  

(63) a. chemise de nuit ‚Nachthemd‘, moulin à vent ‚Windmühle‘ FRA b. chambre avec douche ‚Zimmer mit Dusche‘, cuisine sans fenêtre ‚Küche ohne Fenster‘, voyage par avion ‚Flugreise‘, période hors saison ‚Nebensaison‘ (64)

a. Haus am See, Obst vom Markt, Anzug von der Stange b. Zimmer mit Aussicht, Urlaub ohne Kind

Schließlich können klassifikatorische Modifikatoren generell nicht als Prädikative fungieren (vgl. Rijkhoff 2009a: 63). Wir beschränken uns zur Illustration auf adjektivische Formen. Bei Qualitätsadjektiven in prädikativer Funktion ist eine potentielle klassifikatorische Bedeutung blockiert (vgl. (65)), bei Relationsadjektiven führt die Verwendung entsprechend zur Ungrammatikalität (vgl. (66)). (65)

(66) DEU ENG FRA

a. Ich trinke nur schwarzen Tee. vs. Ich trinke nur Tee, der schwarz ist. b. Wir machten ihm kalte Umschläge. vs. Wir machten ihm Umschläge, die kalt waren.

*Sie erstellte ein Gutachten. Es war medizinisch. national exports ‚nationale Exporte‘ – *Those exports are national. sonic barrier ‚Schallmauer‘ – *That barrier is sonic. (Levi 1978: 24) *Les élections sont présidentielles. wörtl. ‚Die Wahlen sind präsidentiell.‘ (Stephany 1970: 67), ??Ce problème est financier. wörtl. ‚Dieses Problem ist finanziell.‘ (Jones 1996: 317), ??Ce phénomène est social. wörtl. ‚Dieses Phänomen ist sozial.‘ (ebd.)

132

A Funktionale Domänen

Bestimmte Relationsadjektive lassen eine Umdeutung im Sinne einer qualitativen Lesart zu (vgl. (67)); teilweise existieren homonyme Lexeme mit klassifikatorischen und qualitativen Bedeutungen (vgl. (68)). (67) (68)

Es herrschte eine wissenschaftliche Atmosphäre. a. Sie hatte schon längst das gesamte väterliche Erbe durchgebracht. b. Sein väterliches Verhalten ließ sich kaum ertragen.

Ansonsten werden prädikative Verwendungen wie in (69a) in der Regel dann als mehr oder weniger akzeptabel bewertet, wenn ihnen eine Lesart im Sinne von (69b)–(69d) zugeordnet werden kann (vgl. hierzu auch Bolinger 1967: 15 f.).  

(69) a. Ihre Probleme sind psychisch. DEU b. Ihre Probleme sind psychische (Probleme). c. Ihre Probleme sind psychischer Art. d. Ihre Probleme sind psychisch bedingt/motiviert etc. Relativ unklar ist zum einen die Akzeptabilität solcher Beispiele – hier in (70) für alle Vergleichssprachen exemplifiziert – und zum anderen die Frage, welche Faktoren dafür verantwortlich sind, dass manche prädikativen Verwendungen eher ungrammatisch, andere dagegen allenfalls stilistisch markiert erscheinen. Wir belassen es an dieser Stelle bei einigen Plausibilitätsüberlegungen. (70) DEU a. Die Implikationen sind vor allem politisch, was auf den Umstand hinweist […] (books.google.de) b. Organisationen sind in erster Linie sozial! Sie bestehen aus evolutionär, kulturell und individuell geformten Menschen. (books.google.de) c. Die Motive für die Nutzung, Zucht und Pflege von alten einheimischen Nutzviehrassen oder von auswärtigen Weidetieren sind in erster Linie ökonomisch. (books.google.de) d. Solche Entscheidungen sind zutiefst ökonomisch – und politisch. (www. faznet.de) e. Die materielle Welt der Waren und Technologien ist zutiefst kulturell. (books. google.de) ENG a. The reasons are mainly political but partly also economic. ‚Die Gründe sind hauptsächlich politisch, aber teilweise auch ökonomisch.‘ (books.google.de) b. It argues that the roots of this change are mainly social rather than biomedical – the result of poor policy decisions, stress and an unhealthy diet.

A4 Modifikation

FRA a. b.

c.

d. POL a.

b.

UNG a.

b.

c.

133

‚Es behauptet, dass die Wurzeln für diese Veränderung in erster Linie sozial statt biomedizinisch sind – das Ergebnis von schlechten politischen Entscheidungen, Stress und einer ungesunden Ernährung.‘ (www.amazon.de, Buchpublikation) La motivation est surtout politique. ‚Die Motivation ist in erster Linie politisch.‘ (www.marianne.net) La décision du Conseil constitutionnel de censurer la taxe à 75% est juridique mais le coup est évidemment politique. ‚Die Entscheidung des Verfassungsrats, die 75%-Steuer zu verbieten, ist juristisch, aber der Coup ist offensichtlich politisch.‘ (books.google.de) […] les conséquences du retard dans l’application de la convention sont scolaires et sociales pour les enfants, en termes d’équité et de résultats scolaires. ‚[…] für die Kinder sind die Folgen des verspäteten In-Kraft-Tretens der Weisung schulischer und sozialer Art mit Blick auf Chancengleichheit und Schulerfolg‘ (books.google.de) Cette crise est plutôt sociale qu’économique. ‚Diese Krise ist eher sozial als ökonomisch.‘ (Jones 1996: 317) Moja zależność od alkoholu jest raczej psychiczna. POSS . 1SG Abhängigkeit von Alkohol.GEN ist eher psychisch ‚Meine Alkoholabhängigkeit ist eher psychischer Art.‘ Ten pokój jest gościnny, a ten jadalny. DEM Zimmer ist gastlich und DEM Speise-.ADJ ‚Dieses Zimmer ist ein Gästezimmer und dieses ein Esszimmer.‘ elsősorban Az ellenérvek eléggé szubjektívek és DEF Gegenargument.PL ziemlich subjektiv.PL und in erster Linie szakmaiak, nem jogiak politikaiak, nem NEG fachlich.PL NEG juristisch.PL politisch.PL ‚Die Gegenargumente sind ziemlich subjektiv und in erster Linie politisch, nicht fachlich, nicht juristisch.‘ (MNSz) akár Legyenek ezek a változások DEM . PROX . PL DEF Veränderung.PL sogar sein.IMP . 3PL akár politikaiak, akár gazdaságiak társadalmiak, politisch.PL sogar wirtschaftlich.PL gesellschaftlich.PL sogar vagy szociológiaiak. oder soziologisch.PL ‚Seien diese Veränderungen auch gesellschaftlicher, politischer, wirtschaftlicher oder auch soziologischer Natur.‘ (Internet) és ezek a kapcsolatok nem csak földrajziak, und DEM . PROX . PL DEF Verbindung.PL NEG nur geografisch.PL hanem kulturálisak, és vallásiak is und religiös.PL auch sondern kulturell.PL

134

A Funktionale Domänen

,und diese Verbindungen sind nicht nur geografischer, sondern auch kultureller und religiöser Art‘ (Internet) Relevant ist offenbar, dass die Prädikativkonstruktion nach dem Muster von (69b) gelesen werden kann. Es muss sich um die Einordnung in eine Subklasse handeln, die durch die attributive Verbindung aus Relationsadjektiv und Substantiv wie DEU Art, ENG kind etc. benennbar ist. Daher sind Beispiele wie (71) ausgeschlossen. (71) ENG POL FRA

*This system is solar. *Ten układ jest słoneczny. *Ce système est solaire. intendiert: ‚Dieses System ist das Sonnensystem.‘

Weiter fällt auf, dass sich die Akzeptabilität von Relationsadjektiven in prädikativer Funktion verbessert, wenn sie durch einen fokussierenden Modifikator (s. o.) oder durch Koordination hervorgehoben sind (zum Französischen so schon Jones 1996: 317). Fokussierung und Koordination haben beide den semantischen Effekt, Alternativen ins Spiel zu bringen. In den Beispielen handelt es sich um alternative Subklassen: Ausgedrückt wird, dass etwas eher der einen als der anderen Subklasse angehört, oder ausschließlich oder überhaupt nicht in eine bestimmte Subklasse fällt. Die angesprochenen (oder implizit vorausgesetzten) Subklassen sind dabei in der gleichen konzeptuellen Dimension angesiedelt (z. B. politische vs. gesellschaftliche vs. kulturelle Veränderungen/Probleme). Das ist entscheidend, damit überhaupt von Alternativen, hier speziell alternativen Subklassen, die Rede sein kann.  



Alternativen sind immer Alternativen relativ zu dem gleichen Typ von Optionen oder eben relativ zu der gleichen Art. In diesem, intendierten Sinn steht etwa Sonnensystem nicht als Alternative von Ökosystem zur Debatte, weil die für ein Ökosystem ausschlaggebenden Organisationsformen völlig anders sind als die für das Sonnensystem.

Zudem wird die zu subklassifizierende Entität durch den verwendeten benennenden (Ober-)Klassenbegriff (z. B. Veränderung, Problem) vollständig erfasst. Die Einordnung in eine Subklasse führt zu einer zusätzlichen Information. Die semantische Form einer prädikativ ausgedrückten Subklasseneinordnung ist daher grob ‚X gehört (mehr oder weniger) zu Subklasse X1 (statt X2, X3 etc.)‘. Diese Struktur kommt jedenfalls einer prädikativen Struktur mit Qualitätsadjektiv sehr nahe und das scheint der Schlüssel für die Möglichkeit der prädikativen Verwendung von Relationsadjektiven zu sein: Durch die Zuschreibung einer Qualität werden ja (zumindest implizit) ebenfalls Alternativen, i. e. alternative Qualitäten der gleichen Dimension (Farbe, Form, Größe, Alter etc., → A4.1) ins Spiel gebracht und auch die zu qualifizierende Dimension ist durch den benennenden Begriff vollständig erfassbar (Dieser Bauklotz ist gelb).  





A4 Modifikation

135

Zu beachten ist weiter, dass die Prädikativfunktion – im Sinne einer syntaktischen Funktion – in semantischer Hinsicht nicht grundsätzlich eine Qualitätszuschreibung ausdrückt. Prädikative in Form von bloßen Substantivformen oder NP-Syntagmen, die aus einem indefiniten Artikel und einem Appellativum bestehen (vgl. José ist Imker, Dieser Hund ist ein Langhaardackel) qualifizieren nicht, sondern klassifizieren. Durch sie wird die Zugehörigkeit zu einer Art bzw. einer Unterart ausgedrückt. Daher kann angenommen werden, dass der semantische Spielraum der syntaktischen Prädikativfunktion bei der Einbeziehung von Relationsadjektiven ausgedehnt wird, insofern als die semantische Interpretation des substantivischen Konstruktionstyps auf den adjektivischen übertragen wird. Der Anstoß für diese Ausdehnung liegt – wie oben skizziert – in der Analogie zum prädikativen Gebrauch der Qualitätsadjektive. Relationsadjektive, die prädikativ gebraucht werden, werden im Übrigen teilweise auch adverbial verwendet. Sie spezifizieren dann z. B. die Hinsicht oder den Bereich, auf den die verbale Prädikation beschränkt ist (wie in etwas politisch betrachten / etwas ästhetisch ablehnen). Festzustellen ist aber auch, dass die fraglichen Belege von keinem unserer Informanten als (völlig) einwandfrei beurteilt wurden. Das gilt für alle Vergleichssprachen. Es handelt sich also in jedem Fall um markierte Fälle. Zu berücksichtigen ist weiter, dass viele der Beispiele fach- und wissenschaftssprachlichen Texten entstammen und dass auch die Adjektive selbst (z. B. die aus Disziplinbezeichnungen abgeleiteten Adjektive ökonomisch, medizinisch) in den jeweiligen Fachwortschatz fallen, was nicht zuletzt an ihrer Zugehörigkeit zu den gräkolateinischen Lehnwortbildungen erkennbar ist. Im alltagssprachlichen Sprachgebrauch dürften prädikative Konstruktionen dieser Art – so eine durch Korpusuntersuchungen zu belegende These – kaum vorkommen.  



Gisela Zifonun

A4.3 Referentielle Modifikation A4.3.1 Bestimmung Referentielle Modifikation liegt vor, wenn der Modifikator eine außersprachliche Entität bezeichnet, die in Relation zum Denotat des Kopfsubstantivs steht, und wenn auf diese außersprachliche Entität selbst pronominal im Kontext Bezug genommen werden kann. Referentielle Modifikation kommt nach der Konzeption hier in zwei verschiedenen Ausprägungen vor: als freie Modifikation, d. h. Modifikation durch nicht valenzgebundene Ausdrücke, und als Argumentsättigung. In anderen Ansätzen werden Modifikation und Argumentsättigung als getrennte funktionale Domänen betrachtet (vgl. z. B. Rijkhoff 2004). Die Klassifikation von referentiellen Argumenten als Modifikatoren bedarf daher einer gesonderten Rechtfertigung; dazu ist auf → A4.3.3, insbesondere auf den Exkurs in → A4.3.3.2, zu verweisen. Die Relation zwischen dem Denotat des Kopfnomens und der außersprachlichen Entität kann bei freien Modifikatoren ohne eigenen lexikalischen Ausdruck bleiben wie typischerweise bei possessiven Attributen (vgl. Fahrrad [meines Vaters]ATT). Oder aber sie wird z. B. durch eine Adposition eigens ausgedrückt (wie in Garten [mit [einer hohen Linde]]ATT). Bei referentiellen Argumenten ist das Kopfsubstantiv selbst relational. Die Argumente werden häufig in Form possessiver Attribute angeschlossen (vgl. Vater des Mannes, Rückkehr des verlorenen Sohnes); aber wie bei freien Modifikatoren kann auch ein adpositionaler Relator hinzutreten (wie in Fahrt nach Berlin, Hoffnung auf Frieden). Referentialität wird an dem ausdrucksseitigen Kriterium der Wiederaufnahme festgemacht, wobei wir von einem engen Konzept der referenzidentischen Bezugnahme ausgehen: Wir betrachten in erster Linie Personalpronomina als entsprechende Formen. Im Zentrum steht dabei das Personalpronomen der 3. Person, also die Anapher im Sinne der IDS-Grammatik; zum theoretischen Status des Tests vgl. auch → A2.3. Die folgenden Erörterungen zum Pronominalisierungstest und die Wiederaufnahme durch adverbiale Proformen erfolgen im Allgemeinen anhand von freien Modifikatoren. Sie gelten jedoch ebenso für referentielle Argumente. Für den unmarkierten Fall der Wiederaufnahme durch die Anapher lautet der Pronominalisierungstest wie folgt: Pronominalisierungstest: Das Attribut kann durch ein kongruierendes Personalpronomen der 3. Person (die Anapher im Sinne der IDS-Grammatik 1997) wieder aufgenommen werden. Das Attribut ist Antezedens der Anapher. Wie (1) zeigt, betrifft die anaphorische Wiederaufnahme bei NP-förmigen Attributen den Modifikator insgesamt, bei modifikativen PP-Attributen die NP-förmigen Komplemente der Adposition.  











A4 Modifikation

(1)

137

a. Hier steht [das Fahrrad [meines Vaters]i]. Eri hat es gestern gekauft. b. Hier steht [das Fahrrad [von [meinem Vater]i]]. Eri hat es gestern gekauft. c. Die Familie besaß [einen großen Garten [mit [einer hohen Linde]i]]. Siei stand in voller Blüte. d. Die Familie besaß [einen großen Garten [vor [einem alten Schuppen]i]]. Eri war halb zerfallen. e. Sie betrachtete [das Bild [hinter [ihrem Freund]i]] intensiv. Eri verdeckte zur Hälfte das Porträt.

Schwieriger zu beurteilen ist es, wenn die Anapher referenzidentisch ist mit einem Personalpronomen der 3. Person selbst, das als Teil des Attributs fungiert: (2)

a. Hier steht [das Fahrrad [von ihmi]]. Eri hat es gestern gekauft.

Im Allgemeinen ist das erste Vorkommen des Personalpronomens im Text bereits anaphorisch auf eine NP bezogen, die als eigentliches nominales Antezedens (dann für beide Vorkommen) in einer referentiellen Kette fungiert. Hier kann ergänzend auf eine weitere Pronominalisierungsform zurückgegriffen werden: die Relativierung: (2)

b. Hier steht [das Fahrrad [von ihmi]], deri sich endlich zum Kauf entschlossen hat. Zu beachten ist, dass es sich hier um einen appositiven Relativsatz handelt. Appositive Relativsätze beziehen sich auf Nominalphrasen in referentieller Verwendung, während restriktive Relativsätze auch zu NPs in nicht-referentieller, z. B. prädikativer Verwendung treten können.  

Als weitere Pronominalisierungsform dient die Reflexivierung. Auch diese spricht hier für den referentiellen Status des Personalpronomens: (3)

[Das enorme Vertrauen [von ihmi] auf sichi selbst] erstaunte mich.

Der Relativierungstest erweist sich auch als hilfreich im Hinblick auf Personalpronomina der 1. und 2. Person, die Kommunikantenpronomina. Entsprechend ihrem Status als referentielle Ausdrücke, wenn sie als Verbkomplemente gebraucht werden (wie etwa in Ich erwarte dich morgen), ist auch mit einem Gebrauch als referentielle Modifikatoren zu rechnen. So können wir analog zu (2a) eine Satzfolge konstruieren wie: (4)

Hier steht das Fahrrad [von mir/dir/uns/euch/Ihnen]i. Ich/Du/Wir/Ihr/Siei habe/hast/haben/habt/haben es gestern gekauft.

Dann könnten wir die Personalia des 1. Satzes als Antezedens für die Personalia des zweiten Satzes betrachten. Im Unterschied zum Personalpronomen der 3. Person, der

138

A Funktionale Domänen

Anapher, allerdings werden die „deiktischen“ Personalpronomina (der 1. und 2. Person) – eben als deiktische Ausdrücke – auch ohne Antezedens gebraucht, so dass ein Vorkommen wie in (4) nicht als hinreichender Test für Referentialität betrachtet werden kann. Die mögliche Relativierung – hier stellvertretend für die 2. Person Singular – betrachten wir aber als hinreichend für den referentiellen Status des Attributs:  

(5)

Hier steht das Fahrrad von diri, deri sich endlich zum Kauf durchgerungen hat.

Reflexivierung wiederum ist zumindest im Deutschen bei den Kommunikantenpronomina nicht hilfreich, da das Deutsche nicht über spezifische reflexive Formen verfügt, so dass eine Wiederaufnahme nicht nachzuweisen ist. Von den drei Pronominalisierungstests, dem der Anaphorisierung, der Relativierung und der Reflexivierung, greift bei Kommunikantenpronomina nur die Relativierung. Bei den Beispielen (1b–d) stellt sich die Frage, ob nicht die attributiven PPs selbst ebenfalls – wie ihre NP-förmigen Teile bzw. statt ihrer NP-förmigen Teile – als referentielle Modifikatoren zu interpretieren sind. Bei dem possessiven von-Attribut in (1b) ist eine von (1a) abweichende Pronominalisierung im Sinne der Wiederaufnahme der PP als Verbkomplement eines folgenden Satzes ausgeschlossen (zur Wiederaufnahme durch ein Possessivum vgl. → A4.3.3.1). Dies entspricht der Tatsache, dass die von-Phrase hier als analytische Variante zum possessiven Genitiv wie in (1a) zu betrachten ist. Die „komitative“ mit-PP von (1c) kann nicht pronominalisiert werden. Die „Wiederaufnahme“ etwa durch damit – die als solche bereits randgrammatisch ist – ist genauer betrachtet wiederum eine Wiederaufnahme des NP-förmigen Teils des Attributs, insofern als das Präpositionaladverb/Pronominaladverb ja zusammengesetzt ist aus der Präposition mit und dem anstelle der Anapher ihr (für die Linde) erscheinenden Adverb da: (1)

c.’ Die Familie besaß [einen großen Garten [mit [einer hohen Linde]i]]. Daimit war dieser Garten schon lange ausgestattet.

Anders verhält es sich bei (1d, e). Hier liegt ein lokales PP-Attribut vor. In diesem Fall kann die ganze PP wiederaufgenommen werden, allerdings nicht durch ein Pronomen, sondern durch ein Adverb wie da/dort, das man als „Pro-Adverb“ bezeichnen könnte: (1)

d.’ Die Familie besaß [einen großen Garten [vor [einem alten Schuppen]]]. Dort, im Schatten des alten Gemäuers, war reichlich Platz für die Anlage dieses Gemüsegartens. e.’ Sie betrachtete [das Bild [hinter [ihrem Freund]]] intensiv. Da hing noch ein weiteres Bild, ebenfalls halb verdeckt von dem breiten Rücken des Freundes.

A4 Modifikation

139

Diese Möglichkeit entspricht der Tatsache, dass lokale PPs Raumabschnitte bzw. Regionen bezeichnen, die gegebenenfalls ähnlich wie Dinge bzw. Körper, als spezifische Entitäten konzeptualisiert werden können. In (1d) handelt es sich um die VOR HINTER ER -Region des Freundes. Region des Schuppens, in (1e) die HINT In der IDS-Grammatik (1997: 2099) wird hier von dem Bedeutungsaspekt a) lokaler Präpositionen gesprochen: „Angewandt auf ein ,inneres Argument‘, typischerweise die Spezifikation eines dreidimensionales Gegenstandes, also eines Körpers, liefern sie jeweils präpositionsspezifische Regionen, also Denotate der Sorte ,Ort‘.“ Über diese gegenstandskonstituierende Funktion hinaus haben lokale PPs im Satz auch eine kompositionale Funktion, als Beitrag zur Bedeutung der Syntagmen, von denen sie Teil sind, hier somit als attributiver Teil der NP. Im Anschluss an die IDSGrammatik (1997: 2099 f.) kann man hier von dem „relationsstiftenden“ Bedeutungsaspekt lokaler Präpositionen sprechen. Diesen Bedeutungsaspekt b) erläutert die IDSGrammatik (1997: 2100) am Beispiel von auf so: „[. . .] auf bedeutet nicht einfach nur ‚AUF -Region von y‘, sondern ,in der AUF -Region von y befindlich‘, übertragen auf unsere Beispiele also: ,in der VOR -Region des Schuppens befindlich‘ bzw. ,in der HINTER -Region des Freundes befindlich‘.“ Im Falle „autonom kodierender“ Präpositionen (vgl. IDS-Grammatik 1997: 1039– 1041, 2098) ergibt sich somit die relationsstiftende Funktion, hier also die Modifikator-Funktion der PP, per default aus der Bedeutung der Präpositionen. Neben den lokalen Präpositionen sind adnominal noch temporale Präpositionen zu berücksichtigen, bei denen mit einem analogen Verhalten zu rechnen ist. Auch lokale und temporale Adverbien – auf diese beiden semantischen Klassen ist das adnominale Vorkommen von Adverbien, ebenso wie das der entsprechenden PPs, weitgehend beschränkt (vgl. Gunkel/Schlotthauer 2012: 275) – beziehen sich auf Raum- oder Zeitabschnitte, können durch Adverbien/Pro-Adverbien wieder aufgenommen werden und somit ggf. referentielle Modifikation leisten. Man vergleiche:  





(6)

Sie richtete ihren Blick auf die Fläche daneben/oben. Da hing noch ein weiteres Bild, ebenfalls halb verdeckt von dem breiten Rücken des Freundes.

(7)

Sie berichtete von ihrem Traum gestern. Da konnte sie fliegen.

Wir schätzen jedoch die „pro-adverbiale“ Bezugnahme anders ein als die pronominale und gehen in diesen Fällen allenfalls von ,schwach referentiellen‘ Modifikatoren aus. Man vergleiche dazu die ausführliche Diskussion in → A4.3.3.5.1.3.

140

A Funktionale Domänen

A4.3.2 Referentiell-verankernde („freie“) Modifikation Freie referentielle Modifikatoren haben, so kann man im Anschluss an KoptjevskajaTamm (2002) und die dort genannte Literatur sagen, eine ,verankerndeʻ (anchoring) Funktion: Diese besteht darin, dass sie das Denotat der NP, innerhalb derer sie Attribut sind, an einem außersprachlichen Gegenstand festmachen und dieses Denotat somit auf besonders effektive Weise beschränken. Bei referentieller Verwendung der Gesamt-NP ist die Identifikation des gemeinten Gegenstandes vergleichsweise leicht möglich: Wenn ich nur von Fahrrädern spreche, ist das Spektrum ggf. zu identifizierender Gegenstände groß, spreche ich dagegen von Fahrrädern von Hans, so kann die Identifikation leicht fallen. Der ,Ankerʻ ist somit derjenige außersprachliche Gegenstand, auf den der Modifikator verweist und an dem die Ermittlung des Denotats der Gesamt-NP ansetzen kann, metaphorisch: wo das Denotat ,verankertʻ wird. Koptjevskaja-Tamm (2002: 147) verknüpft die verankernde Funktion des referentiellen Modifikators bei possessiven NPs (PNPs) unmittelbar mit der Identifikation des Referenten des einbettenden Ausdrucks: „It has been suggested that the common semantic (or pragmatic) denominator in the majority of PNPs is the function of possessors as “anchors” (Fraurud 1990, Hawkins 1991), or “reference point entities” (Langacker 1995, Taylor 1996: 17) for identification of the head’s referents. Thus, knowing who Peter is we can identify Peter’s bag, arm, brother: in Taylor’s (ibid.) words, “in opting to use a possessive expression, the speaker is instructing the hearer on how best to identify the referent that he, the speaker, intends”.“ Der Ansatz hier unterscheidet sich in zwei Punkten von dieser pragmatischen bzw. kognitiv orientierten Herangehensweise: Wir unterscheiden zum einen zwischen der semantischen Funktion referentiell-verankernder Modifikatoren und ihrer pragmatischen Funktion. Die semantische Funktion besteht darin, dass der vom Kopfsubstantiv bezeichnete Begriff zu einer außersprachlichen Entität in Relation gesetzt und dadurch beschränkt wird. Die pragmatische Funktion besteht darin, dass bei referentieller Verwendung der Gesamtphrase eine Identifikation des Referenten dieser Gesamtphrase befördert wird. Damit tragen wir auch der Tatsache Rechnung, dass NPs, die ein referentiell-verankerndes Attribut enthalten, auch selbst nicht-referentielle, z. B. prädikative Verwendungen haben können, wie in: Das hier ist Peters Tasche. In diesem Fall geht es auf der Ebene der Gesamtphrase Peters Tasche nicht um die Identifikation eines Referenzobjekts, auf das ja mit das hier bereits verwiesen wurde, sondern um eine Prädikation. Zum anderen verallgemeinern wir das Konzept der referentiellen Verankerung auch auf andere, nichtpossessive Attribute. Wir sehen auch z. B. bei dem präpositionalen Attribut in der Garten mit der hohen Linde die semantische wie die pragmatische, also verankernde, Funktion dieses Typs von Modifikator verwirklicht, und zwar durch die darin enthaltene NP der hohen Linde.  



Verankerung ist bei freien Modifikatoren das funktionale Analogon der Sättigung bei Argumenten. Wir können somit genauer auch von referentiell-verankernden und referentiell-sättigenden Modifikatoren sprechen. Während im prototypischen Fall die beiden Bestimmungsstücke jeweils gebündelt vorkommen, können Verankerung und Argumentsättigung auch in markierteren Fällen ohne Referentialität des Modifikators

A4 Modifikation

141

bzw. ggf. mit abgeschwächter Referentialität realisiert werden. Auf diese Fälle gehen wir in → A4.3.3.5 näher ein. Referentialität ihrerseits – ein Kennzeichen prototypischer NP-Vorkommen auch außerhalb der Modifikation, so vor allem bei NPs als Verb-Argument – kommt auch bei NPs vor, die auf der Oberfläche modifikativen Attributen ähneln, die aber der funktionalen Domäne der nominalen Quantifikation zuzuordnen sind wie die partitiven NPs/PPs etwa in eine Tasse von diesem heißen Tee (vgl. → A5 und → D5).

A4.3.2.1 Übersicht zu referentiell-verankernden Attributen nach Maßgabe ihrer Referenzfunktion Wie bereits festgehalten, unterscheiden wir zwischen referentiell-verankernden Modifikatoren in Form von possessiven Phrasen und solchen, die nicht diese Form haben, sondern sprachabhängig durch Adpositionalphrasen oder andere mit diesen übersetzungsäquivalente Ausdrucksformen realisiert werden. Beiden Typen sind ausführliche Kapitel dieses Handbuchs gewidmet (vgl. → D3 und → D4). Wir beschränken uns hier auf eine Dokumentation von Belegen in authentischen Textausschnitten und bieten davon ausgehend Übersichten, die die unterschiedlichen Referenzfunktionen des Attributs im sprachlichen Kontrast vor Augen führen sollen. Wie im Kapitel zur funktionalen Domäne Referenz (→ A2) gezeigt, legen wir einen weiten Begriff der Referentialität zugrunde, bei dem auch indefinite und quantifizierende Phrasen Referenzfunktion haben können. Bei referentieller Modifikation werden, insofern als die modifizierenden Attribute in eine NP eingebettet sind, die möglichen Referenzfunktionen, die eine NP generell besitzt, auf einer „rekursiven“ Ebene genutzt, also um auf Basis der so bestimmten Entitäten gegebenenfalls andere Entitäten, die in Relation zu ihnen stehen, zu bestimmen. Es werden Belege aus Henning Mankells Roman „Die weiße Löwin“ jeweils in der Übersetzung in den fünf Vergleichssprachen herangezogen. Der erste Ausschnitt zu den Possessorattributen entstammt dem „Prolog“, der zweite Ausschnitt entspricht dem (gekürzten) Anfang des ersten Kapitels. Die einschlägigen Attribute sind in Fettdruck hervorgehoben. Diese Phrasen werden glossiert und kommentiert. Im Anschluss werden die Attribute abgewandelt, um andere Möglichkeiten der Referenz zu demonstrieren.

A4.3.2.1.1 Possessorattribute (8) DEU

1990 wurde Nelson Mandela von Robben Island freigelassen, wo er fast dreißig Jahre als politischer Gefangener inhaftiert gewesen war. Während die Welt jubelte, betrachteten viele Buren Nelson Mandelas Freilassung als eine unsichtbar ausgestellte und unterschriebene Kriegserklärung. Präsident de

142

ENG

A Funktionale Domänen

Klerk wurde zum gehaßten Verräter. In äußerster Heimlichkeit traf sich zu diesem Zeitpunkt eine Anzahl Männer, um die Zukunft der Buren in die Hand zu nehmen. (Mankell-DEU: 22) In 1990 Nelson Mandela was released from Robben Island, where he had been a political prisoner for almost 30 years. While the world rejoiced, many Afrikaners regarded the release of Nelson Mandela as an unspoken declaration of war. President de Klerk became a hated traitor. At the time of Mandela’s release, a group of men met in secret to take upon themselves responsibility for the future of the Afrikaners. (Mankell-ENG: Prologue) En 1990, Nelson Mandela quittait la prison de Robben Island, après vingt-sept ans de détention. Tandis que le reste du monde acclamait sa libération, beaucoup de Boers virent dans ce geste une déclaration de guerre. Le président De Klerk devenait à leurs yeux un traître, un pur objet de haine. Ce fut à cette époque qu’un petit groupe se réunit dans le plus grand secret pour prendre en main l’avenir des Boers. (Mankell-FRA: 22) W 1990 roku Nelson Mandela opuścił Robben Island, gdzie przesiedział blisko trzydzieści lat jako więzień polityczny. Kiedy świat wiwatował, wielu Burów uznało jego uwolnienie za wypowiedzenie wojny. Prezydent de Klerk stał się znienawidzonym zdrajcą. W najgłębszej tajemnicy zebrała się wówczas grupa mężczyzn, gotowych wziąć na siebie odpowiedzialność za przyszłość Burów. (Mankell-POL: 19) Nelson Mandela 1990-ben szabadult a Robben Island-i börtönből, ahol majdnem harminc évig sínylődött politikai fogolyként. Míg a világ örvendezve fogadta a hírt, sok búr Nelson Mandela szabadon bocsátását egy láthatatlan kéz által írt hadüzenetnek tekintette. Elnökük, De Klerk, gyűlölt áruló lett. Ezzel egy időben a legnagyobb titoktartás közepette férfiak egy csoportja találkozóra gyűlt össze, hogy a búrok jövőjéről tárgyaljon. (Mankell-UNG: 18)  

FRA

POL

UNG

Glossierung: DEU ENG FRA POL UNG

die

Zukunft der Buren DEF Zukunft DEF .GEN .PL Bure.PL the future of the Afrikaners DEF Zukunft PRP DEF Afrikaander.PL l’ avenir des Boers DEF Zukunft von.DEF .PL Bure.PL przyszłość Burów Zukunft Bure.GEN .PL a búrok jövő-jé-ről DEF Bure.PL Zukunft-3SG - DEL

A4 Modifikation

143

Kommentierung: Formal sind hier die sprachspezifisch verschiedenen Ausdrucksformen possessiver Attribution zu beobachten: Genitivphrasen liegen im Deutschen und Polnischen vor, wobei genitivische Markierung im Deutschen am definiten Artikel, im Polnischen am Substantiv realisiert wird. Im Englischen und Französischen wird die entsprechende formale Präposition ENG of, FRA de eingesetzt, wobei im Französischen Verschmelzung mit dem definiten Artikel zu der Form des eintritt. Im Ungarischen steht die nominativische Possessorphrase pränominal; das Kopfsubstantiv trägt neben dem Possessormarker noch ein Delativsuffix, das vom Prädikatsverb gefordert ist. Funktional handelt es sich um ein Possessorattribut mit generischer Referenz, das eingebettet ist in eine NP, die ihrerseits definit referentiell verwendet wird, um auf einen abstrakten Gegenstand Bezug zu nehmen. Was den Ausdruck der Referenzfunktion angeht, so wird sowohl auf der Attributsebene als auch auf der Ebene der Gesamtphrase im Deutschen, Englischen und Französischen jeweils der definite Artikel (im Französischen in Verschmelzung mit der Präposition) eingesetzt, im Ungarischen erscheint der definite Artikel nur einmal (zum Problem der Zugehörigkeit solcher Artikelvorkommen vgl. → D1.2.3.3.4.2), im Polnischen ist auf beiden Ebenen kein Determinativ gesetzt. Andere Möglichkeiten des Referenzbezugs: Sprachübergreifend gilt, dass in einem anderen Kontext ein Vorkommen eben dieser Phrase auch im Sinne definiter pluralischer Referenz des Attributs gebraucht werden könnte, und zwar um auf eine kontextuell saliente, z. B. vorerwähnte Vielheit von Buren Bezug zu nehmen. Bei Abwandlung der Konstruktion ergeben sich beispielhaft folgende Möglichkeiten:  

1.

Definite Referenz auf eine bestimmte saliente, z. B. vorerwähnte, Entität  

(8a) DEU ENG FRA POL UNG

2.

die Zukunft des Buren the future of the Afrikaner / the Afrikaner’s future l’avenir du Boer przyszłość Bura a búr jövő-je DEF Bure Zukunft-3SG

Generische Referenz mit definit-singularischer Phrase

In allen Vergleichssprachen kann hier dieselbe Ausdrucksform wie in 1. gebraucht werden.

144

3.

A Funktionale Domänen

Spezifische Referenz auf eine kontextuell identifizierbare Entität

(8b) DEU ENG FRA POL UNG

die Zukunft eines Buren (steht auf dem Spiel) the future of an Afrikaner / an Afrikaner’s future l’avenir d’un Boer przyszłość Bura egy búr jövő-je INDEF Bure Zukunft-3SG  



4. Nicht-spezifische Referenz In allen Vergleichssprachen kann hier dieselbe Ausdrucksform wie in 3. gebraucht werden. 5.

Referenz bei Quantifikation

(8c) DEU ENG FRA POL UNG

die Zukunft aller Buren the future of all (the) Afrikaners l’avenir de tous (les) Boers przyszłość wszystkich Burów minden búr jövő-je jeder Bure Zukunft-3SG

Im Englischen ist die Gesamtphrase eingebettet als PP-Attribut zu dem relationalen Kopfsubstantiv responsibility. Sie hat somit die Funktion eines referentiell-sättigenden Modifikators: responsibility for the future of the Afrikaners. In diesem Abschnitt findet sich auch ein possessives Attribut in der Funktion des referentiell-sättigenden Modifikators: DEU Nelson Mandelas Freilassung, ENG the release of Nelson Mandela, UNG Nelson Mandela szabad-on bocsátás-á-t (N.M. freiADV Gabe-3SG - AKK ). Im französischen und polnischen Text wird statt des Eigennamens als Attribut ein Possessivum gesetzt: FRA sa libération, POL jego uwolnienie.

A4.3.2.1.2 Adpositionale Attribute und ihre Äquivalente (9) DEU

Die Frau aus Ystad Die Immobilienmaklerin Louise Åkerblom verließ die Bankfiliale in Skurup am Freitag, dem 24. April, kurz nach drei Uhr. […] Sie überquerte den Marktplatz und hielt sich links, wo die Bäckerei lag. Eine Glocke bimmelte, als sie die Tür öffnete. Sie war die einzige Kundin im Geschäft, und die Frau hinter dem Ladentisch, Elsa Person, würde sich später daran erinnern, daß Louise Åkerblom gut gelaunt zu sein schien und davon gesprochen hatte, wie schön es sei,  

A4 Modifikation

ENG

FRA

POL

UNG

145

daß der Frühling endlich käme. Sie kaufte ein Roggenbrot und beschloß, die Familie zum Nachtisch mit Blätterteigtörtchen zu überraschen. Dann ging sie zur Bank zurück, wo sie auf dem rückwärtigen Parkplatz ihren Wagen abgestellt hatte. Unterwegs traf sie das junge Paar aus Malmö, dem sie gerade ein Haus verkauft hatte. (Mankell-DEU: 25) Louise Åkerblom, an estate agent, left the Savings Bank in Skurup shortly after 3.00 in the afternoon on Friday, April 24. […] She crossed the square and turned to the left where the bakery was. An old-fashioned bell tinkled as she opened the door. She was the only customer. Later, the lady behind the counter would remember that Louise Åkerblom seemed to be in a cheerful mood, and remarked how good it was that spring had arrived at last. She bought some rye bread, and decided to surprise the family with napoleons for dessert. Then she returned to the bank, where her car was parked at the back. On the way she met a young couple from Malmö to whom she had just sold a house. (Mankell-ENG: 3) Le vendredi 24 avril, peu après quinze heures, l’agente immobilière Louise Åkerblom sortit des bureaux de la Caisse d’épargne de Skurup […] Elle traversa la place et entra dans une boulangerie. Elle était la seule cliente. La boulangère, qui s’appelait Elsa Person, se rappellerait par la suite que Louise Åkerblom avait semblé de bonne humeur. Elles avaient un peu parlé du printemps qui était enfin arrivé, quelle joie. Elle demanda un pain de seigle et décida dans la foulée de surprendre sa famille avec des pâtisseries pour le dessert. Son choix se porta sur des tartelettes pomme vanille. Elle se dirigea ensuite vers le parking où elle avait laissé sa voiture, derrière la Caisse d’épargne. En chemin, elle croisa le jeune couple de Malmö avec qui elle venait de faire affaire. (Mankell-FRA: 27) Kobieta z Ystadu Pośredniczka w handlu nieruchomościami Louise Åkerblom wyszła ze Sparbanken* w Skurupie tuż po trzeciej po południu w piątek 24 kwietnia. […] Przecięła plac i skręciła w lewo, do piekarni. Kiedy otworzyła drzwi, zabrzmiał staroświecki dzwonek. Była jedyną klientką i kobieta stojąca za ladą, Elsa Person, zapamięta, że Louise Åkerblom miała dobry humor i cieszyła się z nadejścia wiosny. Postanowiła zrobić rodzinie miłą niespodziankę i prócz żytniego chleba kupiła napoleonki, które zjedzą na deser po kolacji. Wróciła pod bank, gdzie na zapleczu zaparkowała samochód. Po drodze spotkała młode małżeństwo z Malmö, któremu właśnie sprzedała dom. (Mankell-POL: 21) Az ystadi asszony Louise Akerblom ingatlanügynök április 24-én pénteken, röviddel három óra után lépett ki a skurupi takarékpénztár épületéből. […] Az asszony átvágott a piactéren, majd balra fordult a pékség irányába. Az öreg csengő csörrent egyet, amint benyitott az ajtón. Egyedül volt az üzlethelyiségben. A pult mögött álló asszony, akit Elsa Personnak hívtak, majd úgy fog emlékezni, hogy

146

A Funktionale Domänen

Louise Akerblom jókedvűnek látszott, és arról beszélt, milyen jó, hogy végre itt a tavasz. Rozskenyeret vásárolt, és közben elhatározta, hogy desszertként rétessel fogja meglepni a családját. Ezután visszament a bankhoz, kocsiját ugyanis az épület háta mögött állította le. Visszafelé menet összefutott azzal a fiatal malmői párral, amelyiknek épp most adott el egy házat. (MankellUNG: 20) Glossierung: DEU

die

Bankfiliale in Skurup Bankfiliale in Skurup die Frau hinter dem Ladentisch DEF Frau hinter DEF .DAT Ladentisch das junge Paar aus Malmö DEF ADJ Paar aus Malmö the Savings Bank in Skurup DEF Sparkasse in Skurup the lady behind the counter DEF Frau hinter DEF Ladentisch a young couple from Malmö INDEF jung Paar aus Malmö des bureaux de la Caisse d’épargne von DEF Sparkasse von.DEF .PL Büro.PL le jeune couple de Malmö DEF jung Paar von Malmö Sparbanken* w Skurupie Sparkasse in Skurup.LOK kobieta stojąca za ladą Frau steh.PTZP .PRS .F hinter Ladentisch.INS młode małżeństwo z Malmö Ehepaar aus Malmö jung.N *Bank Oszczędnościowy Bank Sparsamkeit.ADJ DEF

ENG

FRA

POL

de von

Skurup Skurup

In der polnischen Ausgabe ist das schwedische Sparbanken in einer Fußnote durch die polnische Übersetzung erläutert.

UNG

a

skurup-i takarékpénztár épület-é-ből DEF Skurup-ADJ Sparkasse Gebäude-3SG - ELA EL A a pult mögött álló asszony DEF Ladentisch hinter steh.PTZP .PRS Frau az-zal a fiatal malmő-i pár-ral DEM -INS DEF jung Malmö-ADJ Paar-INS

A4 Modifikation

147

Kommentierung: Bei den drei Phrasen handelt es sich, geht man vom Deutschen aus, um NPs mit Lokalattributen, die jeweils verschiedene lokale Relationen zwischen dem Denotat des Kopfsubstantivs und der von der Attributs-NP bezeichneten Region ausdrücken. Im Deutschen, Englischen und Französischen werden die Lokationen durch einander entsprechende Präpositionen ausgedrückt, zu denen die Attributs-NP, Ausdruck des referentiellen Modifikators, das Komplement ist. Im Französischen wird allerdings statt Frau hinter dem Ladentisch die nominale Kennzeichnung boulangère ,Bäckerinʻ gesetzt. Auch im Polnischen erscheinen nur zwei PPs. Für DEU Frau hinter dem Ladentisch wird eine partizipiale Umschreibung (wörtlich: ,Frau stehend hinter Ladentischʻ) gesetzt, entsprechend wird im Ungarischen verfahren, wobei hier die attributive Partizipialphrase pränominal, die Adposition nach ihrem Bezugswort steht. Statt der beiden anderen Lokationsphrasen in den übrigen Vergleichssprachen werden im Ungarischen mit skurupi und malmői Adjektivierungen der Ortsnamen gesetzt, es wird also nicht Lokation, sondern Zugehörigkeit ausgedrückt. Diese Vermeidung attributiver Adpositionalphrasen entspricht generellen Tendenzen im Ungarischen (vgl. dazu → D4.1). Hinzuweisen ist auch auf die unterschiedlichen Bildungsweisen für klassifikatorische Modifikation in Benennungseinheiten: Komposition im Deutschen, Englischen, Ungarischen mit DEU Bankfiliale, ENG Savings bank, UNG takarékpénztár (,Spar. Kasse‘), DEU Roggenbrot, ENG rye bread, UNG rozskenyér (,Roggen.Brotʻ), DEU Blätterteigtörtchen, syntaktische Verfahren in den anderen Vergleichssprachen, so bei FRA des tartelettes pomme vanille (Modifikation durch syntaktisch reduzierten NOMAusdruck mit Rechtsverzweigung: ,Törtchen Apfel Vanilleʻ); Adjektivierung des Modifikators im Polnischen mit Bank Oszczędnościowy (als Übersetzung für das schwedische Fremdwort Sparbanken), żytniego chleba (Genitiv zu żytni chleb ,Roggen.ADJ Brotʻ). Im Englischen und Polnischen findet sich anstelle von Blätterteigtörtchen die Bezeichnung napoleons bzw. napoleonki (zum Eigennamen Napoleon). Formale Verknüpfung erscheint im Französischen mit caisse d’épargne (,Kasse von Sparenʻ) und pain de seigle (,Brot von Roggenʻ).

A4.3.3 Argumentanbindung als Form referentieller Modifikation Wir fassen Argumentanbindung im nominalen Bereich als Spezialfall der adnominalen Modifikation, nicht als weitere funktionale Domäne neben der Modifikation. Das bedeutet konkret, dass z. B. in das Buch des Kindes und der Vater des Kindes der Ausdruck des Kindes als referentieller Modifikator betrachtet wird. In beiden Fällen gelingt der Pronominalisierungstest, den wir als formales Kriterium referentieller Modifikation betrachten. des Kindes z. B. kann, wie folgende Beispiele zeigen, in beiden Fällen durch das anaphorische Personalpronomen wiederaufgegriffen werden. Das gilt auch für die attributiven Genitive bei Nominalisierungen:  



148

A Funktionale Domänen

(10)

Wir schauten uns um [nach [dem Buch [des Kindes]i] / [dem Vater [des Kindes]i]]. Esi hatte uns darum gebeten.

(11)

Wir warten noch auf die Rückkehr [der Vertriebenen]i / die Rettung [der Gefangenen]i. Siei befinden sich an einem geheimen Ort.  

Aus semantischer Perspektive kann die Subsumption der Argumentanbindung unter die Modifikation fragwürdig erscheinen. Während bei der freien Modifikation ein durch Nomination gegebener Begriff verändert, also im wörtlichen Sinne ,modifiziert‘ wird, wird bei der Argumentanbindung erst ein vollständiger Begriff erzeugt. Relationale Begriffe wie ,Vater‘ oder ,Rückkehr‘ und ,Rettung‘ werden durch die Anbindung eines Arguments nicht zu veränderten, spezifischeren Begriffen, sondern erst in ihrer Begrifflichkeit vollendet. Während das Konzept ,Buch‘ als solches auf Gegenstände in der Welt mit Wahrheit angewendet werden kann – etwa indem wir auf einen Gegenstand zeigen und sagen „Das ist ein Buch“ – , können wir ,Vater‘ nur dann mit Wahrheit auf eine Person anwenden, wenn (mindestens) eine andere Person ins Spiel gebracht ist, zu der die erste Person in dieser Beziehung steht. Eigentlich wird also durch Nomination nicht der Begriff ,Vater‘ bereitgestellt, sondern der Begriff ,Vater von‘. Dennoch, so nehmen wir an, gibt es vor allem formale, aber auch funktionalsemantische Gründe, freie Modifikation und Argumentanbindung als Spielarten der referentiellen Modifikation zu betrachten. Der funktionale Unterschied zwischen den beiden Ausprägungen kann, wie angedeutet, durch die spezifischeren Bezeichnungen ,referentiell-verankernd‘ versus ‚referentiell-sättigend‘ erfasst werden. (Im Allgemeinen verzichten wir in diesem Buch jedoch auf diese Feindifferenzierung.) Wir argumentieren zunächst ausführlicher am Beispiel von Argumentgenitiven bzw. possessiven Phrasen als Argumenten für die vorgeschlagene Sehweise, gehen dann noch auf Attribute in Form von PPs wie Buch auf dem Tisch versus Buch über das Leben bzw. Nachdenken über das Leben ein.

A4.3.3.1 Possessive Argumente Ergänzend zu dem für alle referentiellen Modifikatoren geltenden Pronominalisierungstest besteht eine formale Gemeinsamkeit zwischen possessiven freien und argumentsättigenden NPs/PPs darin, dass sie den Test auf Substitution durch ein Possessivum (kurz: Substitutionstest) bestehen. Substitutionstest: Wenn possessive NPs/PPs, die den Pronominalisierungstest bestehen, somit referentiell sind, durch ein adnominales Possessivum ersetzt werden können, handelt es sich – in Abhängigkeit vom substantivischen Kopf – um Verankerung oder Argumentsättigung. Possessorattribute sind referentiell-verankernde freie Modifikatoren, possessive Argumente referentiell-sättigende Modifikatoren.

149

A4 Modifikation

(12)

Wir schauten uns um [nach [dem Buch [des Kindes]i] / [dem Vater [des Kindes]i]]. – Seini Buch / Seini Vater war nirgends zu sehen.

(13)

Wir warten noch auf die Rückkehr [der Vertriebenen]i / die Rettung [der Gefangenen]i. – Ihrei Rückkehr / Ihrei Rettung liegt noch in weiter Ferne.

Referentielle partitive possessive Attribute bestehen den Substitutionstest nicht: (14)

Gib mir doch bitte [eine Tasse [von [diesem heißen Tee]i]]. *Seinei Tasse schmeckt mir besonders.

Wenn possessive Argumentausdrücke als referentielle Modifikatoren gefasst werden, müssen neben dieser formalen Gemeinsamkeit auch starke funktionale Gemeinsamkeiten mit den referentiell-verankernden possessiven Attributen, also den Possessorattributen, nachgewiesen werden. Dabei ist zunächst immer noch offen, ob Modifikation/Possession oder Argumentsättigung hier als die modellbildende Relationsform für beide Spielarten zu betrachten ist. Beide Positionen werden in der Literatur vertreten. Vorschläge, alle „Genitive“ als Argumente zu betrachten, finden sich z. B. in Jensen/Vikner (1994), Partee/Borschev (2000), Vikner/Jensen (2002).  

Der Fall des Ungarischen, bei dem Possession durch Kopfmarkierung am Kernsubstantiv ausgedrückt wird, wobei große Übereinstimmungen zwischen den Possessoraffixen und den Personalsuffixen beim Verb bestehen (so dass man, → C3.3.1, sogar teilweise von ,transkategorialen‘ (bezogen auf V und N) Affixen sprechen kann), könnte als Indiz für die Annahme gesehen werden, Possessivverhältnisse würden nach dem Muster der Argumentanbindung im Satz realisiert. Man vergleiche dazu: The ‘standard’ theory of the Hungarian possessive construction, elaborated by Szabolcsi […] is based on the insight that the relation between the possessor and the possession is both formally and functionally similar to the relation between the subject and the predicate. The possessor bears the same agreement relation to the possessed noun that the subject bears to the verb, and it is assigned the same nominative case by nominal inflection that the subject is assigned by verbal inflection. (É. Kiss 2002: 160) Hier wäre es naheliegend, dass die Argumentanbindung beim Substantiv als Bindeglied zwischen der Argumentanbindung im Satz und der modifikativen Possessorrelation dient. Wir hätten also folgende Analogien: Argumentanbindung beim Verb → Argumentanbindung beim Substantiv → Possessorrelation.

In der typologischen Literatur (vgl. z. B. Heine 1997a) dagegen wird eher die umgekehrte Sehweise angenommen, nach der Argumentsättigung (bei Nominalisierungen) nach dem Modell der Modifikation konstruiert wird. Auch Bücking (2012), der beide Ansätze diskutiert – die „uniforme Argumentanalyse des Genitivs“ (ebd.: 96–108) und die „uniforme Modifikatoranalyse des Genitivs“ (ebd.: 108–128) – vertritt eine generalisierte Modifikatorkonzeption für den Genitiv. Wir schließen uns dieser Sehweise an und werden daher die Möglichkeit, Argumentsättigung als Modell für Modifikation  

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A Funktionale Domänen

(im Sinne der Possession), nicht weiter verfolgen. (Zu den Argumenten von Koptjevskaja-Tamm aus typologischer Sicht für die Sehweise ,Argumentsättigung folgt dem Modell der Possession‘ vgl. → D3.10). Der entscheidende Gesichtspunkt dabei ist, dass sowohl bei der freien Modifikation in Form possessiver Attribute als auch bei der formal identischen Argumentrelation die Relation zwischen Kopf und Attribut als jeweils besonders saliente Relation aus dem Kontext gewonnen wird. Bei der freien Modifikation handelt es sich um die jeweils kontextuell nächstliegende Relation gemäß der semantischen Landkarte der Possession (vgl. → D3.2.1), bei Argumenten ist die inhärente Relationalität des Kopfes ausschlaggebend: Ein relationaler Kopf wie Vater, Schönheit oder Belagerung fordert die Sättigung durch ein Argument, die Argumentrelation ist daher aufgrund des engen sprachlichen Kontextbezuges zwischen Kopf und Attribut die salienteste Relation; sie wird (in aller Regel) als die anzunehmende Relation zwischen Kopf und Attribut verstanden.

A4.3.3.2 Exkurs zu den Argumenten für und wider die Analyse der Argumentsättigung als Spezialfall der Modifikation Wir diskutieren nun die Argumente für und wider die von uns vertretene Position, nominale Argumente als Spezialfall nominaler Modifikatoren zu betrachten, und konzentrieren uns auf eine Diskussion folgender Alternativen: a.

In Übereinstimmung mit der Übernahme der entsprechenden Kodierungstechnik ist Argumentsättigung im nominalen Bereich eine Form von Modifikation. Hier würde nach Seiler (1983: 53) gelten: Abstrakte Substantive folgen der Technik einer Behandlung von Aktionen und Prozessen als Dinge, also liegt wie bei Possession eine Relation zwischen zwei Substanzen vor. b. Trotz der Übernahme der entsprechenden Kodierungstechnik ist Argumentsättigung im nominalen Bereich keine Form von Modifikation bzw. sind bestimmte Argumente keine Modifikatoren. Hier kann man mit Seiler (1983: 53) von einer reinen Transposition des Objekt- bzw. Subjektkasus in den Genitiv sprechen. Im Folgenden werden die Positionen pro (a) und pro (b) kurz erörtert. Position pro (a): Argumentsättigung als Modifikation Hier können zwei Argumente vorgebracht werden. Das erste Argument zugunsten der Konzeption von Argumentsättigung als Modifikation betrifft das Verhältnis des AGENS -Argumentes einer Nominalisierung zum Possessor einer alienablen Possession (vgl. semantische Landkarte der Possession in → D3.2.1). Nach Seiler (1983: 53) kann über das Merkmal der Kontrolle eine Verbindung zwischen Possession und Argumentsättigung hergestellt werden:

A4 Modifikation

151

„It is the control which the P OSSESSOR exerts in non-inherent possessive relations with regard to the acquisition or selection of the P OSSESSUM ; and it is the control which an agent exerts with respect to his action.“ Man beachte dabei, dass ,Kontrolle‘ eine der so genannten Proto-Agens-Dimensionen im Sinne von Dowty (1991) ist. In Primus (1999a) wird, anders als bei Dowty selbst, auch die PossessorRolle als Proto-Agens-Rolle, also als semantische Rolle, die mindestens eine der Proto-AgensDimensionen verkörpert, eingeordnet, gerade aufgrund der mit anderen Proto-Agens-Rollen geteilten Eigenschaft der Kontrolle (vgl. auch Primus 2012: 26).

Auf diese Weise ist der Possessor des Prototyps einer alienablen Possession (wie in Auto meines Freundes) mit der AGENS -Größe einer Nominalisierung (wie in Einschreiten meines Freundes) verbunden. Allerdings sind die Argument-Relationen von Handlungsbezeichnungen anders als Eigentümerschaft nicht auf Dauer angelegt. Das zweite, stärkere Argument betrifft die inhärente Relationalität bei inalienabler Possession. Bei den beiden prototypischen Spielarten der inalienablen Possession, nämlich der Körperteil- und der Verwandtschaftsrelation sowie bei der Teil-GanzesRelation, der Eigenschafts- und der Zustandsträgerschaft sind die Possessum-Begriffe selbst inhärent relational: Kopf (von), Mutter (von), Vorderseite (von), Mut (von), Größe (von), Schmerzen (von). Wie bei der deverbalen Nominalisierung ist Relationalität notwendiger Teil ihrer begrifflichen Bedeutung. Die in vielen Fällen mögliche Verbalisierung dieser Relationalität durch eine haben-Prädikation stellt diese Typen zwar klar in Konnex mit Possession, bringt aber keine neue Relation ein. Vielmehr kann hier die in der Konstruktion explizit lexikalisch (haben) oder implizit (adnominal) gegebene Relation identifiziert werden mit der inhärent vom Kernbegriff mitgebrachten. Die possessive Beziehung, die wir als Prototyp einer modifikativen Relation betrachten, kann somit bei geeignetem lexikalischem Kopf auch eine Argumentbeziehung sein. Man könnte von Possessor-Argumenten bei inhärenter, inalienabler Zugehörigkeit sprechen gegenüber freien Possessoren bei alienablen Verhältnissen. Modifikator- und Argument-Status sind somit in vielen Fällen nicht scharf geschieden. Man vergleiche Partee/Borschev (2003: 68): Many, perhaps all, genitives seem to have some properties of arguments and some of modifiers, yet some seem more like arguments, and some more like modifiers.

Im Ansatz von Jensen/Vikner (2004) wird dem dadurch Rechnung getragen, dass nicht dichotomisch zwischen Argument- und Modifikatorstatus unterschieden wird, sondern eine Abstufung in drei Schritten vorgenommen wird (vgl. dazu → D3.2.2). Auf der Satzebene wird z. B. in der IDS-Grammatik (1997) statt einer strikten Unterscheidung zwischen Argument- und Modifikatorstatus bzw. zwischen Komplement und Supplement eine graduelle Abstufung angenommen. Auch in neueren konstruktionsgrammatischen Ansätzen wird angenommen „that the borderline between adjuncts and arguments is neither rigid nor dichotomous“ (Ariel et al. 2015: 309).  

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A Funktionale Domänen

Angesichts einer solchen Überlappung erscheint es als beschreibungsökonomischer ggf. nicht zwischen Modifikator- und Argumentstatus differenzieren zu müssen. Bei Nominalisierungen von Verben kann anders als bei unabgeleiteten relationalen Köpfen (wie Vater, Kopf) oder deadjektivischen Nominalisierungen (wie Größe, Klugheit) nicht die Possessorrelation als Bindeglied zwischen Modifikation und Argumentsättigung geltend gemacht werden. Hier muss auf einer abstrakteren Ebene argumentiert werden: Die modifikative Relation, kodiert durch possessive Attribution, drückt eine „saliente“ Relation R aus, die im Kontext instanziiert wird. Bei relationalem Kopfnomen erfolgt Unifikation mit dem bzw. einem vom Kopf lizensierten Argument. In Partee/Borschev (2003) wird der Vorschlag unterbreitet, dem wir hier folgen, und zwar der Vorschlag, nach dem „all genitives could be modifiers“ (ebd.: 98). Hier wird der Genitiv wie in (of) Mary’s als Modifikator interpretiert, der der Bedeutung des Kopfsubstantivs eine freie Relation RGEN hinzufügt. RGEN steht für die Relation, die das Denotat des Kopfsubstantivs zum Denotat des Attributs, also z. B. dem Denotat von Mary im gegebenen Kontext hat. Für die Interpretation von RGEN könne gewissermaßen optimalitätstheoretisch vorgegangen werden: „What we need are principles that say that if a noun already had a relational part of its meaning, then that should normally be used, and the more obligatorily relational the noun is, the more strongly that inherent relation is preferred. […] RGEN likes to be agentive, it likes to be part-whole […]“ (ebd.: 93). RPOSS so heißt es weiter (ebd.: 97) könne einfach als „one of the most salient relations (or family of relations) accessible“ betrachtet werden. Ist der Kopf jedoch ein relationales Substantiv, so sollte dessen Bedeutung in einen „sortalen“ Anteil plus Relation aufgespalten werden. Weiter sei sicherzustellen, dass dieses „inherent R“ nicht leicht ignoriert werden könne (ebd.: 98), sondern als Lesart von RGEN herangezogen werde. Allerdings machen die Autoren doch (ebd.: 98–101) gewisse Zweifel gegenüber der Generalisierbarkeit der Lösung geltend, vor allem mit Bezug auf die englischen prädikativen Genitive wie in This book is Mary’s, die, wenn keine Ellipse des Kopfsubstantivs vorliegt, grundsätzlich eine Possessorrelation ausdrücken.  

Zur Unterscheidung zwischen sortalen und relationalen/funktionalen Substantiven vgl. auch Löbner (2011). Der Gedanke, von relationalen Substantiven einen sortalen Anteil abzuspalten, kann auch darauf gestützt werden, dass relationale Substantive ggf. auch sortale Verwendungen haben, bei denen von ihrer Relationalität abgesehen wird; typischerweise geschieht das bei prädikativer Verwendung des Substantivs in einer Rollenlesart wie in Sie ist eine späte Mutter / Er ist ein exzellenter Chef.

Position pro b): Argumentsättigung als von Modifikation verschiedene funktionale Domäne Bei dieser Position werden die Übereinstimmungen zwischen Possessor- und Argument-„Genitiven“ als rein syntaktische, nicht als semantische Phänomene betrachtet. Es wird dabei zwischen semantischem und syntaktischem Argumentstatus bzw. zwischen Argumentstatus [Semantik] und Komplementstatus [Syntax] und den entsprechenden Repräsentationsebenen strikt getrennt. In der nominalen Domäne gebe es anders als in der verbalen kein (vergleichsweise) eindeutiges linking von Argument (in der Semantik) und Komplement (in der Syntax) sowie freiem Modifikator (in der Semantik) und Supplement (in der Syntax). Vielmehr werde die semanti-

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sche Unterscheidung in der Syntax zugunsten des Supplementstatus aufgehoben: Gewisse Supplemente wie etwa das Genitiv-Attribut in der Vater dieses Mannes, das Buch dieses Autors können oder müssen unter geeigneten Kontextbedingungen als Argumente interpretiert werden. Eine entsprechende Lösung wird in der IDS-Grammatik (1997) und Solstad (2010) vorgeschlagen. Als Begründung für die semantische Differenz trotz formaler Anpassung dient die Vererbung semantischer Rollen im Falle relationaler Substantive: Das offene Spektrum, das häufig bei der Interpretation der Modifikatoren vorliegt (vgl. die Argumentation zu Karls Haus in → D3.2.1) ist bei Nominalisierungen nicht gegeben. Vielmehr werden hier semantische Rollen des Verbs vererbt (vgl. Selkirk 1982; Di Sciullo/Williams 1987) oder gemäß dem modularen Ansatz von Ehrich/Rapp (2000: 262 f.) aus der logisch-semantischen Struktur des Verbs abgeleitet und durch so genannte „linking“-Regeln auf das possessive Attribut bzw. die beiden possessiven Attribute abgebildet. Diese Positionen seien somit belegt; eine Possessor-Lesart scheide als Interpretation des possessiven Attributs von vornherein aus. In dieser absoluten Form wird die Position nicht (mehr) vertreten, diskutiert wird eine nach den semantischen Rollen der Argumente gespaltene Lösung. Dabei soll ein mit dem „externen“ Argument, dem Subjekt-Argument, des Verbs assoziiertes AttriAG ENS -Rolle festgelegt sein, diese Rolle werde somit nicht but nicht zwingend auf die AGENS vererbt. Für das mit dem Objekt-Argument, dem „internen Argument“ assoziierte Attribut hingegen liege die PATIENS - /THEMA -Rolle absolut fest, sie werde vererbt. Betrachten wir zunächst das externe Argument: Hier wird zum einen behauptet (vgl. Bücking 2010b: 50–53), die mit dem AGENS assoziierte Position, z. B. im Deutschen ein pränominaler Genitiv in einer possessiv-possessiven Struktur, könne kontextgesteuert auch eine weitere Interpretation (im Sinne der Possessor-Auslegungen) haben. Man vergleiche folgenden Kontext:  



(15)

In seiner berühmten militärhistorischen Studie setzt sich Ranke mit der Eroberung Galliens im 1. vorchristlichen Jahrhundert auseinander. Rankes Eroberung von Gallien findet allerdings schon bei Lutetia ein Ende. Weiter seien die Römer nicht vorgedrungen.

Hier kann der pränominale Genitiv nicht als AGENS interpretiert werden, obwohl dies im Standardfall bei der Konstellation pränominaler + postnominaler Genitiv im Deutschen der Fall ist. Man vergleiche zu weiteren Beispielen einer „variablen Interpretation des ‘agentiven Genitivs’“ Bücking (ebd.: 50–53). Abweichungen von der AGENS -Interpretation bedürfen jedoch in der Regel eines hohen Kontextualisierungsaufwandes. Auch die Beispiele von Bücking für eine nicht-agentive Interpretation des pränominalen Genitivs sind ähnlich wie (15) gelagert: Aufgrund des Kontextes ist klargestellt, dass dieser Ausdruck keine AGENS -Rolle haben kann; es handelt sich um personale Argumente, die als Verursacher der von anderen Agenten durchgeführten Verbalhandlung fungieren, oder die (wie in (15)) als

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A Funktionale Domänen

Urheber (Autoren oder Komponisten) ein historisches Geschehen oder ein Geschehen auf der Bühne verantworten bzw. in Szene setzen. Man kann darüber streiten, ob es sich hier nicht um uneigentlichen Sprachgebrauch oder gar um Verschiebungen auf eine metasprachliche Ebene handelt, die grammatisch nicht von Belang sind.

Gewichtiger erscheint folgendes Argument: Ehrich/Rapp (2000: 298) weisen darauf hin, dass bei ung-Nominalisierungen in der Lesart als Bezeichnungen des Resultatobjekts Genitiv-NPs, die einem AGENS beim Verb entsprechen, als Urheber (Genitivus Auctoris) zu interpretieren sind: (16)

a. Die Bemalung der Schüler wurde entfernt. ,die Bemalung, die durch die Schüler verursacht wurde‘

(17)

a. Die Erfindung des Konstrukteurs war im Technikmuseum zu besichtigen.

Im Unterschied zu AGENS -NPs können statt Auctoris-NPs keine durch-Phrasen gesetzt werden: (16)

b. *Die Bemalung durch die Schüler wurde entfernt.

(17)

b. *Die Erfindung durch den Konstrukteur war im Technikmuseum zu besichtigen.

Die Argumentation für den Modifikatorstatus lautet hier: Die AGENS -Rolle wird nicht vom Verb vererbt, sondern nur bei einer Interpretation der Nominalisierung als Ereignis kontextuell lizensiert; bei einer Lesart als Resultatobjekt ist diese Rolle blockiert und es wird auf eine Rolle aus dem Spektrum der Possession umgestiegen – AG ENS -Rolle hat, die laut Ehrich/Rapp (2000: 299) eine „gewisse Ähnlichkeit“ mit der AGENS die aber dem aspektualen Charakter ,Resultat‘ entspricht, nämlich die Auctoris-Lesart. Die Kontextabhängigkeit der Interpretation ist ein generelles Kennzeichen possessiver Modifikatoren, somit ist auch hier von Modifikatorstatus auszugehen. PAT IENS - /THEMA Im Gegensatz zu den Rollen des externen Arguments sei die PATIENS Interpretation des „internen“ Arguments absolut festliegend, daher komme ihr Argument-, nicht Modifikatorstatus zu: Die semantischen Rollen des dem Objekt des Verbs AG ENS -Rolle des Subjektentsprechenden internen Arguments seien, anders als die AGENS Arguments, nicht mit Possessor-Merkmalen vereinbar. Im Gegensatz zum AGENS ist die PAT IENS - /THEMA -Rolle nicht über ,Kontrolle‘ mit dem Possessor verbunden: Das PAPATIENS TIENS - bzw. THEMA -Argument ist gerade nicht Kontrolleur der Relation, in aller Regel ist sein Denotat sogar unbelebt. Eine pragmatische Auslegung der für das THEMA Argument vorgesehenen Position z. B. als „temporärer Possessor“ scheint konzeptuell ausgeschlossen zu sein: Cäsars Eroberung von Ranke kann z. B. nicht in die Lesart ‚Cäsars Eroberung (eines implizit bleibenden Landes), über die Ranke berichtet‘ gezwungen werden.  



A4 Modifikation

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Wenn, wie hier angestrebt, Argumentsättigung und Argumentrealisierung durch NP bzw. PPform (generell und insbesondere bei Nominalisierungen) als Sonderfall der Modifikation eingeordnet werden und somit eine Verbindung der Argumente zu Possessoren hergestellt werden soll, so ergibt sich, dass in erster Linie die PATIENS - / THEMA -Argumente Probleme bereiten, während die AGENS -realisierende Position als interpretationsoffen und somit modifikativ anerkannt wird. Eine Auseinandersetzung muss sich daher auf das PATIENS - /THEMA -Argument und den ihm zugeschriebenen PAT IENS - /THEMA spezifischen Status konzentrieren und überprüfen, ob in der Tat eine PATIENS Rolle absolut fest geschrieben ist. Bekanntlich kann postnominal (im Deutschen und Englischen) nur eine NP/ PPform realisiert werden. Es ist daher bei Nominalisierungen transitiver Verben für diese Phrase entweder die Interpretation als AGENS /Possessor oder als THEMA zu erwarten, wenn eine strikte Abgrenzung der THEMA -Rolle (gegenüber allen modifikatormäßigen Weiterungen) gegeben ist. Man vergleiche folgenden Kontext: (18)

Bei der Eroberung Galliens mussten beide Seiten viel einstecken. Meist besiegten und demütigten die Römer die gallischen Stämme, aber auch die Gallier demütigten die römischen Krieger häufig. Die Demütigungen Cäsars – sowohl die verübten als auch die erlittenen – sind besonders zahlreich.

Der postnominale Genitiv wird hier kontextuell in eine Lesart gezwungen, bei der die Vereinigung von AGENS - und THEMA -Rolle vorliegt. Zwar kann in den Einzelereignissen nur eine der beiden Rollen vom Partizipanten wahrgenommen werden, aber das pluralische Kopfsubstantiv schließt die rollenverschiedene Belegung der Stelle nicht aus. Dies ist am ehesten mit der Annahme vereinbar, dass die Stelle Modifikatorstatus hat. Die – zugegebenermaßen – starken Beschränkungen zugunsten der Identifikation mit nur jeweils einer der Argument-Rollen sind dann den semantischen Eigenschaften des Kopfsubstantivs (Ereignisstruktur, Bindungsenge von Partizipantenrollen usw.) geschuldet, nicht der Relation zwischen Kopf und attributiver NP/PPform. Auch Koordinationen von Kopfsubstantiven, bei denen das possessive Attribut AG ENS -Argument), sind nicht rollenverschieden zu interpretieren ist (als THEMA - bzw. AGENS ausgeschlossen und stützen diese Analyse: (19)

Cäsars Demütigungen und Siege waren legendär. Im Verbalsatz ist Identität der syntaktischen Funktion Voraussetzung für die Möglichkeit von Koordinationsellipsen, unabhängig von der semantischen Rolle. So kann bei Koordinationen das zweite Vorkommen eines referenzidentischen Subjekts auch bei Rollenverschiedenheit weggelassen werden, nicht aber ein mit einem Objekt referenzidentisches Subjekt: (19.1) (19.2)

Cäsar wurde gedemütigt und siegte. *Man demütigte Cäsari und [_]i siegte/unterlag.

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A Funktionale Domänen

Man könnte nun annehmen, dass auch bei (19) Koordination von „Subjekt“-Argumenten wie im entsprechenden Verbalsatz (19.1) vorliege. Allerdings zeigt sich bei Erweiterungen, dass adnominal wie in (19.3) das possessive Attribut Skopus über die erweiterte Koordination haben kann, nicht jedoch seine Entsprechung im Verbalsatz: (19.3) (19.4) (19.5) (19.6) (19.7)

Cäsars [legendäre Demütigungen und Siege in Gallien] Cäsar [wurde auf legendäre Weise gedemütigt] und [siegte in Gallien]. Cäsar [wurde in Gallien gedemütigt] und [siegte auf legendäre Weise]. In Gallien [wurde Cäsar gedemütigt] und [siegte auf legendäre Weise]. *Auf legendäre Weise wurde Cäsar gedemütigt und siegte in Gallien.

In (19.4) bezieht sich auf legendäre Weise nicht auf [Cäsar] siegte in Gallien und in Gallien nicht auf Cäsar wurde gedemütigt. In (19.5) bezieht sich in Gallien nicht auf [Cäsar] siegte und auf legendäre Weise nicht auf Cäsar wurde gedemütigt. Andere Permutationen wie z. B. (19.7) sind ungrammatisch.  

Daraus kann geschlossen werden, dass es sich im adnominalen Fall nicht um Koordinationen bei einem zugrunde liegenden (ggf. rollenverschiedenen) Subjekt handelt, sondern um Koordinationen zu einem possessiven Attribut mit einer unspezifischen Modifikator-Funktion, die indifferent ist gegenüber Rollenunterschieden.

Betrachten wir abschließend das Argument, die PATIENS - /THEMA -Rolle, die vom externen Argument des Verbs vererbt werde, passe nicht zum Possessor-Begriff und spreche somit gegen den Modifikatorstatus. Seiler (1983) verweist darauf, dass die Ambivalenz zwischen Subjekt- und Objekt-Lesart charakteristisch sei bei Possession auch außerhalb der speziellen Subdomäne Argumentsättigung. So verweist er (ebd.: 45–48) darauf, dass in Bantusprachen bestimmte Possessoren (in Körperteil- und Teil-Ganzes-Beziehungen) bei transitiven Verben zum Objekt promoviert werden können, bei intransitiven zum Subjekt. Auch bei unseren Sprachen ist im speziellen Fall von Possessa wie Bild, Foto der Possessorausdruck ambig zwischen der Lesart als kontrollierender Verursacher (Urheber-Lesart) oder kontrolliertes Objekt (Urbild-Lesart) wie in Foto von Anna. Wie beim possessiv-possessiven Kodierungstyp von Nominalisierungen können auch beide Modifikatoren durch Possessorausdrücke realisiert werden: Peters Foto von Anna – Cäsars Eroberung von Gallien Die Parallele kann auch so herausgestellt werden: Der auktoriale Urheber (Peter) ist AGENS einer Handlung, die zum Zustandekommen des Produkts (Foto) geführt hat, das Urbild zu einem Abbild (Anna) ist PATIENS einer Handlung, die zum Zustandekommen PAT IENS - /THEMA -Argument des Abbilds geführt hat (Jemand fotografiert Anna). Das PATIENS einer Nominalisierung ist also sehr wohl mit einer (wenn auch nicht-prototypischen) Erscheinungsform auf der semantischen Landkarte für Possession verbunden. Seiler (1983: 48 et passim) weist die Affinitäten zwischen der Possessorrelation und beiden Partizipanten einer prototypischen Handlung dann einer noch allgemeineren Ebene zu. Siewierska (1998: 19 f.) fasst die Argumentation wie folgt zusammen:  

157

A4 Modifikation

The semantics of the relationship between possessor and possessed elaborated by Seiler [. . .] is suggestive of the existence of possessor affinities with both the A and the O. Seiler argues that since alienable possession calls for a possessor agent that does the acquiring while in inalienable possession the possessor is inactive, affinities with the A are characteristic of alienable possession and those with the O of inalienable possession.  



Wir halten also fest, dass unbeschadet möglicher weitergehender inhaltlicher Übereinstimmungen mit bestimmten Typen der semantischen Landkarte der Possession die Realisierung von Argumenten von Nominalisierungen nach Kodierungstypen der Possession so erfolgt, dass die konstruktionell geforderte kognitiv saliente Relation mit der dem Kernbegriff inhärenten Relation unifiziert wird. Bei zwei possessiven Attributen tragen neben differenzierenden semantischen Merkmalen der jeweiligen Attribute zusätzliche konstruktionelle Beschränkungen zur Zuweisung der jeweiligen Argument-Rolle bei (→ D3.10).

A4.3.3.3 Argumente in Form von PPs Auch Attribute in Form von NPs in einem semantischen Kasus (im Ungarischen) bzw. in Form von Adpositionalphrasen mit einer „semantischen“ Präposition (sowie Adverbien) können Argumentstatus haben. Wie in → D4.2 im Einzelnen gezeigt, werden nur die beiden obersten Positionen der für den Satz angesetzten Hierarchie syntaktischer Funktionen, also Subjekt und direktes Objekt, potentiell auf possessive Attribute abgebildet (und dies nicht in jedem Falle), während Funktionen niedrigeren Rangs, teilweise beginnend mit dem indirekten Objekt, durch semantische Kasus oder Adpositionalphrasen realisiert werden. Wie in → D4.7 ausgeführt, wird im Ungarischen eine Postpositionalphrase als Attribut in der Regel adjektiviert und damit für die pränominale Position zugänglich gemacht. Wir fassen auch dies unter einen erweiterten Begriff von Adpositionalphrase.

Im Sinne einer Feinabstufung kommen die semantischen Rollen, die von den syntaktischen Funktionen jeweils wahrgenommen werden, als determinierende Faktoren hinzu. Bezüglich Subjekt- und Objekt-Argument gilt: –



AG ENS wie in Einschreiten der Polizei und Subjekt-Argumente (z. B. in den Rollen AGENS EXPERIENS wie in Liebe des Kindes) können in allen Vergleichssprachen durch AG ENS der Nominalisierung eines tranpossessive Attribute realisiert werden; der AGENS sitiven Verbs (wie in Abstimmung durch das Parlament) kann auch durch eine PP mit einer instrumentalen Adposition (DEU durch, ENG by, FRA par, POL przez, UNG által bzw. általi als adjektivierte Form der Postposition) bzw. eine NP im Instrumental (Polnisch) vertreten werden. Objekt-Argumente bei Nominalisierungen von Verben mit einem direkten Objekt werden possessiv (wie in Überschreiten der roten Line) oder adpositional (wie in  

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A Funktionale Domänen

Verachtung für Abweichler) kodiert. Die Präferenz für eine der beiden Möglichkeiten ist auf einer allgemeinen Ebene sprachabhängig. Sprachintern sind jedoch verschiedene Faktoren wie der Ableitungstyp oder die semantische Rolle relevant, letztlich legt jedoch das einzelne Verblexem die Kodierungsform fest. Die Entsprechung des indirekten Objekts bei Nominalisierungen von intransitiven (wie helfen mit Hilfe, antworten mit Antwort) und ditransitiven Verben (wie schenken mit Schenkung/Geschenk) wird nur (in gewissen Fällen) im Polnischen und Ungarischen durch einen adnominalen Dativ kodiert; die anderen Vergleichssprachen wählen die präpositionale Form.

Das Verhältnis zwischen der Argumentrealisierung beim Verb und beim Substantiv kann gemäß den folgenden drei Abbildungen zusammengefasst werden. Man vergleiche dazu die ausführliche Darstellung in → D4.2.4, wo hinsichtlich der Realisierungen von DO insbesondere am Beispiel von Ausdrücken mit einer STIMULUS -Rolle bzw. der PATIENS -Rolle bei „Ausdrücken der Aggression“ und „Ausdrücken des Verlangens“ argumentiert wird:

Abb. 1: Kodierungsformen allgemein  

Abb. 2: Einflussfaktoren  

A4 Modifikation

159

Kommentar zu Abbildung 2: Bei verbnahen und daher auch meist produktiven Ableitungstypen wie DEU -ung und dem nominalisierten Infinitiv, POL -cie/-nie sowie UNG -Ás kommt sprachübergreifend eher eine possessive Realisierung in Frage als bei anderen Derivationstypen oder bei (zumindest synchron) nicht abgeleiteten Substantiven: DEU POL UNG

Erfüllung eines Wunsches, (das) Fordern von Reformen żądanie/roszczenie/wymaganie reformG E N ,Forderung nach Reformen‘ reformok követeléseP O S S ,Forderung nach Reformen‘

versus: DEU POL UNG

Lust/Appetit auf Schokolade ochota/apetyt na czekoladę ,Lust/Appetit auf Schokolade‘ a csokoládé irántiinRichtung.A D J éhség/étvágy ‚der Hunger/Appetit auf Schokolade‘

Bei der STIMUL ST IMULUS US -Rolle sind sprachübergreifend neben der adpositionalen Realisierung auch possessive Attribute am ehesten und unabhängig vom Ableitungstyp möglich: DEU a. b. ENG a. b. FRA a. b. POL a. b. UNG a. b.

?die

Liebe der Macht / der Eltern die Liebe zur Macht / zu den Eltern the love of power / of the parents the love for power / for the parents l’amour du pouvoir / l’amour des parents l’amour ?pour le pouvoir / pour les parents umiłowanie władzyG E N / ?miłość rodzicówG E N miłość dozu władzy / dozu rodziców a hatalom szereteteP O S S / a szülők szereteteP O S S a hatalom irántiin Richtung.A D J szeretet / a szülők irántiin Richtung.A D J szeretet

Abb. 3: Sprachabhängige Verteilung  

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A Funktionale Domänen

Kommentar zu Abbildung 3: Das Französische ist die Sprache mit dem weitesten Anwendungsbereich für possessive Kodierung. Auch bei Argumenten in der PATIENS Rolle bei Substantiven der Aggression oder des Verlangens sind im Französischen ST IMUpossessive Attribute möglich, während im Englischen dies weitgehend auf die STIMULUS -Rolle (und dort nur analytisch) beschränkt ist. Die übrigen Vergleichssprachen tendieren bei allen Rollen-Varianten zu adpositionaler Kodierung, am ausgeprägtesten gilt dies für das Deutsche:  

FRA ENG POL UNG DEU

l’attaque de/à (la banque), chasse de/à, assassinat de, meurtre de raid on (a bank) / attack on/of, attempt on, assassination of, murder of napad naauf (bank), natarcie na, zamach na, mord na / morderstwo + GEN támadás . . . ellengegen, roham . . . ellengegen / POSS , merénylet . . . ellengegen / POSS , meggyilkolás + POSS Überfall auf, Angriff auf, Attentat auf, Mord an (auch: Anschlag auf, Attacke auf, Hatz auf, Jagd auf/nach)  











Insgesamt kann somit festgehalten werden, dass sprachübergreifend die semantischadpositionale Kodierungsform von Argumenten bei substantivischem Kopf ausgedehnter ist als bei verbalem; sie reicht weiter in den Bereich der Argumente hinein, bei denen man keinen eigenen semantischen Beitrag der Verknüpfungsform zur Satzbedeutung, keine Form der „autonomen Kodierung“ im Sinne der IDS-Grammatik unterstellt. „Autonome Kodierung“ leisten nach dieser Herangehensweise einerseits die adverbialen Supplemente (ohne Argumentstatus: wie z. B. bei Beim Suchen sah er auf/unter/hinter dem Tisch nach), aber auch die adverbialen Komplemente, die vermittels bedeutungsdifferenzierender, also „semantischer“ Adpositionen z. B. unterschiedliche Lokalisierungsverhältnisse im Rahmen eines Situativkomplementes ausdrücken (wie in Das Gesuchte lag auf/unter/hinter dem Tisch). Die Grenze zwischen lokalen, direktionalen oder auch temporalen, kausalen oder finalen Präpositionen bei Adverbialkomplementen und der mehr oder weniger ausgebleichten Bedeutung derselben Präpositionen bei Präpositivkomplementen ist fließend und damit auch die zwischen rein autonomer Kodierung und rein relationaler Kodierung. Auch für adpositional kodierte Argumente gilt somit die Aussage von Partee/ Borschev (2003) (vgl. oben), dass sie „einige Eigenschaften von Argumenten und einige von (freien) Modifikatoren“ haben. Bei Adverbialsupplementen, also im Fall reiner Modifikation, muss die autonom kodierende PP mit der Bedeutung des Restsatzes, somit auch mit der Verbbedeutung nur kompatibel sein. Es wird eine zusätzliche Prädikation über die durch Verb + Komplemente ausgedrückte Hauptproposition hinaus ausgedrückt. Bei Adverbialkomplementen überwiegen die modifikativen Eigenschaften, erkennbar an der autonomen Kodierungsleistung durch differenzierende Adpositionen bzw. semantische Kasus. Die argumentellen Eigenschaften bestehen darin, dass in der Bedeutung des Valenzträgers eine lokale, temporale usw. Bedeutungskomponen 



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A4 Modifikation

te angelegt sein muss, die die adverbialen Komplemente sättigt (aber auch differenzierend spezifiziert). Bei Präpositivkomplementen liegt in der Regel eine abstrakte(re) Bedeutung der jeweiligen Präposition vor, wobei aber bestimmte Merkmale der konkreteren Grundbedeutung im Zuge der Grammatikalisierung erhalten bleiben können. So ist bei auf, nach, zu auch in Präpositivkomplementen ein Aspekt der Gerichtetheit oder der Zukunftsorientierung erhalten (vgl. warten, hoffen auf / streben, suchen nach / neigen, sich bekennen zu); bei auf findet sich daneben oft ein Merkmal der Involvierung bzw. Insistenz, das entweder zukunftsorientiert (bei auf + AKK ) wie in pochen, sich verlassen auf, jemanden einschwören auf oder statisch sein kann (bei auf + DAT ) wie in beharren, bestehen auf (hier nach E-VALBU (Kubczak 2010) selten auch AKK ). Anders als bei Adverbialkomplementen wird damit aber nur eine Bedeutungskomponente, die der Valenzträger bereits enthält, zusätzlich „externalisiert“. Dies kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass die Adpositionen hier nicht oder kaum variieren können, sondern vom Valenzträger festgelegt sind. Dass ein Rest an autonomer Kodierung vorhanden ist, zeigt sich jedoch u. a. auch darin, dass immer ganze semantisch zusammengehörige Verbcluster dieselben Präpositionen lizensieren. Solche „Familienähnlichkeiten zwischen Argumentstrukturen“ (vgl. dazu Proost/Winkler 2015), die in jüngster Zeit auch durch Konstruktionen erfasst werden, betreffen z. B. die so genannte „nach-Konstruktion“ (vgl. Proost 2009, 2015) wie in suchen nach, fahnden nach, schreien nach. Wenn nun adnominal die adpositionale Realisierung auch die direkten und indirekten Objekte der zugrunde liegenden Verben betrifft, so wird dieser Prozess der Externalisierung von Bedeutungskomponenten des Kopfes weiter ausgedehnt. angreifen, überfallen, stürmen drücken eine auf Überwältigung gerichtete, aber in AG ENS und einem dieser Intention noch nicht vollendete Relation zwischen einem AGENS PAT IENS aus. fordern, verlangen, suchen sind Verben, die die Relation zwischen einem PATIENS menschlichen EXPERIENS oder AGENS und einer nicht realisierten (erwünschten) Situation oder einem nicht verfügbaren (erwünschten) Objekt ausdrücken. Sowohl bei den „Verben der Aggression“ als auch den „Verben des Verlangens“ wird das PAT IENS -Argument als DO (bei suchen fakultativ auch mit nach-PP) ausgedrückt. Bei PATIENS den Nominalisierungen Angriff, Attacke, Überfall, Sturm sowie Forderung, Verlangen, Suche hingegen steht obligatorisch die auf- bzw. nach-PP: Der Aspekt der Gerichtetheit bzw. Zukunftsorientierung wird also obligatorisch in Form einer PP externalisiert. Wie in → D4.2.4 gezeigt, lässt sich bei der Wahl der spezifischen Adposition in vielen Fällen eine Parallelität in den Vergleichssprachen feststellen. So finden sich bei den „Substantiven der Aggression“ sowohl im Englischen als auch im Polnischen Entsprechungen der deutschen Präposition auf wie in ENG attack on, raid on, POL natarcie na, atak na. Bei den „Substantiven des Verlangens“ stehen auch im Polnischen und Ungarischen wie im Deutschen Adpositionen mit der Bedeutung ,aufʻ oder ,nachʻ, nämlich POL na, UNG után, iránt. Dabei ist jedoch das sprachspezifisch  



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A Funktionale Domänen

durchaus unterschiedliche Bedeutungsspektrum der Adpositionen in Rechnung zu stellen – erkennbar z. B. hier am Gebrauch von ENG for bei Substantiven des Verlangens wie greed, thirst, desire for. Was die Testverfahren, nämlich den Pronominalisierungstest und den Substitutionstest angeht, so scheidet letzterer für PPs aus: Possessiva können nur possessive Phrasen ersetzen, also keine PPs außer von-Phrasen bzw. ENG of-Phrasen, FRA dePhrasen. Die Pronominalisierung von adnominalen Adverbialkomplementen verläuft parallel zu der von adverbialen Supplementen. Einerseits kann die eingebettete NP anaphorisch wiederaufgenommen werden; andererseits können lokale und direktive Komplemente selbst durch Adverbien aufgenommen werden:  

(20)

a. Er wünschte sich zum Geburtstag [eine Reise [nach Amerikai]]. Esi ist das Land seiner Träume. b. Er wünschte sich zum Geburtstag [eine Reise [nach Amerika]]. Dorthin wollte er schon immer fahren.

Bei adnominalen Präpositivkomplementen hingegen kann (wie bei possessiven Attributen) nur die eingebettete NP pronominal wiederaufgenommen werden. Die semantisch leere bzw. ausgebleichte Präposition leistet keinen eigenen semantischen Beitrag. Insbesondere ist sie kein Funktor, der eine Entität, das Denotat der eingebetteten NP, auf eine andere Entität – auf die dann eigens Bezug genommen werden könnte – abbildete. Das gilt auch, wenn wie in (21b) mit einem Pronominaladverb scheinbar die ganze PP wiederaufgenommen wird (vgl. oben): (21)

a. Das Warten [auf [die Gefangenen]i] zog sich hin. Siei waren noch immer in der Gewalt der Entführer. / Schließlich warteten sie vergeblich [auf siei]. b. Das Warten [auf [die Morgenröte]i] zog sich hin. Schließlich blieb siei aus. / Schließlich warteten sie vergeblich [dariauf].

A4.3.3.4 Nicht-Realisierung von genitivischen Verb-Argumenten im Deutschen Argumentstellen von Verben werden im Deutschen bei Nominalisierung, wie gezeigt, entweder durch possessive Konstruktionen – die ist in der Regel nur möglich für Subjekt-Argument und Objekt-Argument (DO ) – oder durch PPs repräsentiert. Adnominale PPs können dabei Argumenten des Verbs entsprechen, die adverbal verschiedene syntaktische Funktionen haben, einschließlich SU , DO , IO sowie der schon beim Verb präpositional realisierten Argumente. Auf diese Weise entsteht jedoch insbesondere für die hochmarkierten Genitivkomplemente des Verbs unter Nominalisierung eine Lücke. Bereits bei den Verben ist die Konstruktion mit dem Genitiv in vielen Fällen gegenüber einer präpositionalen veraltet, stilistisch markiert oder auf bestimmte Kollokationen beschränkt. ung-Nominalisierungen sind eher selten, hier wie auch

A4 Modifikation

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beim nominalisierten Infinitiv ist genitivischer Anschluss des entsprechenden Arguments nur ausnahmsweise möglich. Wir zeigen dies an einigen Belegen zu Nominalisierungen bei intransitiven Genitivverben, die auf wenige usuelle Verbindungen beschränkt zu sein scheinen. Die Verben selbst, wie entbehren, ermangeln, bedürfen, gedenken, sich erinnern, innewerden, lassen dagegen noch eher freie Kollokationen zu: (22)

In Ermangelung des dazu nötigen Schlüssels nahmen die Einbrecher einen Schweißbrenner zu Hilfe, um das Gerät zu öffnen. (Süddeutsche Zeitung, 30.12.1998)

(23)

Bei einer Gedenkstunde auf dem Jüdischen Friedhof würdigte der katholische Pfarrer Michael Ullrich, daß erstmals auch diese Stätte in das Gedenken der Toten einbezogen ist. (die tageszeitung, 14.02.1990)

Ähnliches gilt auch bei Nominalisierungen transitiver Genitivverben wie entbinden, entheben, entledigen, würdigen, beschuldigen. Für Entbindung/Enthebung des Amtes (vgl. Man hat ihn des Amtes entbunden/enthoben) oder Würdigung keines Blickes (vgl. Man würdigte ihn keines Blickes) finden sich keine Belege. Die Konstruktion mit Genitiv für das Argument, das beim Verb als Genitiv realisiert würde, wie in (24) erscheint als fragwürdig; die Kookkurrenz mit einem pränominalen Possessivum für das DO ist ganz ausgeschlossen (*seine Beschuldigung des Mordes): (24)

Mehr als 400 Personen sind nach Angaben der Staatsanwaltschaft in der aserbeidschanischen Industriestadt Sumgait festgenommen worden und unter Beschuldigung des Mordes, der Plünderung oder anderer Vergehen unter Anklage gestellt worden. (die tageszeitung, 23.03.1988)  

von-Periphrasen, wie sie etwa in Konstruktionen wie in Ermangelung von Beweisen, nach der Entbindung/Enthebung von seinen Ämtern vorkommen, sind bei Nominalisierungen, die den Genitiv nicht lizensieren, ebenfalls nicht möglich oder nicht usuell. Wo von-Anschluss ebenso wie Genitiv möglich ist, kann die Nominalisierung gegebenenfalls auf die verbale Konstruktion mit DO zurückzuführen sein, die etwa bei entbehren die üblichere Konstruktion ist. Erinnerung, Gedenken und Bedarf erscheinen regelmäßig mit an-PP, welche Konstruktion auch schon beim Verb die unmarkierte ist.

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A Funktionale Domänen

A4.3.3.5 Schwach referentielle und pseudo-referentielle Modifikatoren A4.3.3.5.1 Verankernde Modifikatoren Gemeinsames Merkmal von Possessiva wie mein, dein und Wortbildungen zu Eigennamen, z. B. Adjektivierungen wie in goethesch, britisch, Berliner oder Komposita wie Wulff-Villa, Mozart-Arie, Berlinfrage, Berlinpolitik, sowie deiktischen Adverbien wie heute, dort bzw. ihren Adjektivierungen heutig, dortig ist, dass sie auf einem Ausdruck mit „direkter Referentialität“ (vgl. → B1.4.3) beruhen: Possessiva, die als adnominale Variante der Personalia zu betrachten sind, inkorporieren einen personalpronominalen Possessor, verweisen also auf eine phorisch oder deiktisch zugängliche Entität, Adverbien und ihre Adjektivierungen wie die genannten inkorporieren den Verweis auf einen bestimmten Raum oder eine bestimmte Zeit. Wortbildungen zu Eigennamen schließlich inkorporieren den Verweis auf eine Person (oder auch auf Orte). All diese Formen sind insofern zwar verankernd oder können zumindest verankernde Lesarten haben, sie scheinen aber nicht insgesamt, jedenfalls nicht eindeutig oder in allen Vergleichssprachen, referentiell zu sein. Wir gehen zunächst auf Verwendungen als freie Modifikatoren ein. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass einige dieser Formen im Prinzip auch in Argumentfunktion, bzw. als Quasi-Argumente, gebraucht werden können. Die Besonderheiten dieser Verwendung werden in einem eigenen Abschnitt (vgl. → A4.3.3.5.2) angesprochen.  

A4.3.3.5.1.1 Possessiva Zu fragen ist, ob adnominale Possessivpronomina als referentiell-verankernde Modifikatoren (neben ihrer Funktion als Identifikator) einzuordnen sind. Wir greifen auf die in → A4.3.1 und → A4.3.3.1 genannten Testverfahren zurück: (25)

Hier steht mein/dein/unser/euer/Ihr Fahrrad. Ich/Du/Wir/Ihr/Sie habe/ hast/haben/habt/haben es gestern gekauft.

Im zweiten Satz können die entsprechenden Pronomina referenzidentisch mit dem Sprecher, Hörer usw. gebraucht werden, auf den jeweils als Possessor im Possessivum inkorporiert verwiesen wird. Wir haben jedoch bereits festgestellt, dass die Kommunikantenpronomina keines Antezedens bedürfen. Satzfolgen wie in (25) sind somit keineswegs hinreichend für den Nachweis der Referentialität des Possessivums. Wir können nun auf die Pronominalisierung durch einen appositiven Relativsatz zurückgreifen. Hier zeigt sich ein Unterschied zwischen von-Phrase + Personalpronomen (26a) und adnominalem Possessivum (26b): (26)

a. Hier steht das Fahrrad von ihmi, deri sich endlich zum Kauf durchgerungen hat. b. *Hier steht seini Fahrrad, deri sich endlich zum Kauf durchgerungen hat.

A4 Modifikation

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Der negative Ausgang dieses Tests beim Possessivum – gegenüber dem positiven Ergebnis bei von-Phrasen mit Personalpronomen – spricht gegen die Referentialität des adnominalen Possessivums. Allerdings spricht die Fähigkeit des Possessivums zur reflexiven Bindung wie in (27) für den referentiellen Status des Possessivums: [Seini enormes Vertrauen auf sichi selbst] erstaunte mich.

(27)

Es spricht also ein Test, die Relativierung, gegen die Referentialität des Possessivums, ein Test, die Anaphorisierung, ist indifferent, und ein Test, die Reflexivierung, spricht für Referentialiät. Wir betrachten somit die Possessiva als verankernd und – bezüglich des Deutschen – nur schwach referentiell.

A4.3.3.5.1.2 Wortbildungen auf der Basis von Eigennamen Ähnlich wie die Possessiva sind auch Adjektivierungen von Eigennamen in den Vergleichssprachen im Allgemeinen zwar verankernd, aber nicht eindeutig referentiell. In allen Vergleichssprachen gibt es denominale Adjektivsuffixe, die (auch) auf Eigennamen angewendet werden können: DEU ENG FRA POL UNG

-(i)sch: goethesch/goethisch, einsteinisch, merkelsch -ian: Shakespearian/Shakespearean, Wordsworthian, Thatcherian -ien/-ienne: cartésien, gaullien -owsk-: Mickiewiczowski, -in (bei Frauennamen): Anin dwór ,Annas Gut‘, -ow-: żebro Adamowe ,Adams Rippe‘ (Pisarkowa 1977: 85) -i: madáchi, telleri, orbáni

Bei DEU -(i)sch handelt es sich um eine Variante des Adjektivsuffixes, das auch auf appellativische substantivische Basen anwendbar ist, während das polnische Suffix -owsk- (+ Nominalflexiv) weitgehend auf die hier vorliegende Funktion beschränkt ist. ENG -ian und FRA -ien/ -ienne, beide zurückgehend auf LAT -ianus, erzeugen Derivate, die häufig sowohl der Wortklasse Adjektiv als auch der Wortklasse Substantiv angehören wie ENG Thatcherian ,thatcherisch/ Thatcheranhänger‘, FRA cartésien ,cartesisch/Cartesianer‘. ENG -ian wird anders als DEU -(i)sch auch zur Ableitung von Städtenamen gebraucht wie in ENG Bostonian ,Bostoner‘. Das gilt auch für das UNG -i: mannheimi ‚Mannheimer‘.

Sprachübergreifend gilt, dass die Adjektive nicht nur verankernd gebraucht werden wie in (28), sondern auch begrifflich modifizierend, d. h. klassifikatorisch (29) oder qualitativ (30):  

(28) DEU ENG FRA

Dieses goethesche Gedicht stammt aus dem Jahr 1820. This Shakespearian poem dates from 1609. Ce drame racinien date de l’année 1667.

166

POL

UNG

(29) DEU ENG FRA

POL

UNG

(30) DEU ENG

FRA

POL UNG

A Funktionale Domänen

Sienkiewiczowskie opisy walk są pełne okrutnych scen. ,Die Beschreibungen von Kämpfen bei Sienkiewicz sind voll von grausamen Szenen.‘ Az egész kertészi életmű a lelki emigrációról szól. ,Das gesamte kertészsche Lebenswerk dreht sich um die geistige Emigration.‘

Hier liegt eine freudsche Fehlleistung vor. This young man writes wonderful Shakespearian sonnets. ,Dieser junge Mann schreibt wundervolle shakespearesche Sonette.‘ De toute façon, c’est une bonne habitude, un réflexe quasi pavlovien. ,Ohne Zweifel ist das eine gute Angewohnheit, eine Art Pawlowscher Reflex.‘ (Internet) Ten tekst to czysty przykład nowoczesnej ballady mickiewiczowskiej. ,Dieser Text ist ein Paradebeispiel für eine moderne mickiewiczsche Ballade.‘ freudi elszólás ,freudscher Versprecher‘, shakespeare-i szonett, pavlovi reflex

Der Schauspieler deklamierte mit schillerschem Pathos. He described Steenkamp’s death as “a tragedy of Shakespearean proportions.” ,Er beschrieb Steenkamps Tod als eine Tragödie von shakespeareschem Ausmaß.‘ Les textes sont en anglais, mais un anglais plus molièrien que shakespearien. ,Die Texte sind auf Englisch, aber ein eher molièresches als shakespearesches Englisch.‘ (Internet) Grał swój własny utwór z szopenowskim (Chopin.ADJ .INS ) liryzmem. ,Er hat sein eigenes Werk mit chopinschem Lyrismus gespielt. ‘ A rendező madáchi (Madách.ADJ ) dimenziókig bontja ki a témát. ,Der Regisseur breitet das Thema in madáchschen Dimensionen aus.‘ (Internet)

Im Englischen werden die Adjektive grundsätzlich groß geschrieben, im Französischen und Ungarischen grundsätzlich klein. Für das Polnische gilt nach Swan (2002: 141): „Capitalization depends on whether the adjective is perceived as pertaining to the individual or has an established existence as an independent adjective with a more general reference, for example a style.“ Eine ähnliche, semantisch ausgerichtete Differenzierung, die auf die Abgrenzung der verankernden von den begrifflichen Lesarten abzielt, galt auch vor der Rechtschreibreform von 1996 für das Deutsche. Sie

A4 Modifikation

167

wurde zugunsten genereller Kleinschreibung abgeschafft. Groß geschrieben wird nur noch – lesartenunabhängig – bei Apostrophsetzung wie in das Goethe’sche Gedicht sowie wenn Adjektiv + Kopfsubstantiv einen Eigennamen bilden wie in die Cansteinsche Bibelanstalt. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf den verankernden Gebrauch und versuchen zu klären, ob gegebenenfalls auch volle Referentialität vorliegt. Eine bedeutende Rolle – zumal in verankernder Funktion – spielen diese so genannten Possessivadjektive vor allem in den slawischen Sprachen, wenn auch nicht unbedingt im Polnischen. Wir diskutieren ihren funktionalen Status daher zunächst mit Blick auf die Forschung zu diesen Sprachen. Possessivadjektive sind (vgl. Corbett 1987, 1995) besonders verbreitet im Obersorbischen, in BKS und Slowenischen, auch im Tschechischen und Slowakischen, in geringerem Maße auch im Russischen. Das Polnische aber ist diejenige der untersuchten slawischen Sprachen, bei denen Possessivadjektive im Verhältnis zum adnominalen Genitiv die geringste Rolle spielen. Gerechnet auf die Gesamtzahl der Vorkommen des Genitivs und des Possessivadjektivs in Texten machen im Polnischen die Adjektive nur 3% aus, gegenüber 51% im Tschechischen oder 52% in BKS (vgl. Corbett 1987: 325), zudem gelten sie im Polnischen als gehoben bzw. archaisch.

Possessivadjektive in den slawischen Sprachen werden gebildet zu Personen-Eigennamen, Verwandtschaftsbezeichnungen, sprachabhängig aber auch zu lebewesen-, insbesondere personenbezeichnenden Appellativa. Bedingung ist (wohl außer im Obersorbischen), dass die Possessorbezeichnung aus einem einzigen Wort besteht und (nach Browne 1993: 371 für BKS) definit-singularisch ist, wie etwa in mačkin rep zu mačk(a) ,Katze‘, also Katze.ADJ + Schwanz ,der Schwanz der Katze‘. Ihre Bildbarkeit unterliegt also der Belebtheits- und der Definitheitsskala (→ B1.1.5). Dieser Parameter steuert auch die Konkurrenz zum adnominalen Genitiv: (31) a. Pet-in-a golova Kopf RUS Peter-POSS .ADJ - F ,Peters Kopfʻ b. golova kukl-y Kopf Puppe-GEN ,ein/der Kopf einer/der Puppe‘ (Koptjevskaja-Tamm 2001b: 967) Die Referentialität von Possessivadjektiven ist in den slawischen Sprachen unterschiedlich ausgeprägt. Corbett (1987) geht dieser Frage im Detail nach, wenn auch nur indirekt unter dem Stichwort der ‚Kontrolle‘. Darunter fasst er die Fähigkeit eines adnominalen Possessivadjektivs (PA), ein adjektivisches Attribut, ein Personalpronomen oder ein Relativpronomen grammatisch zu determinieren. Er stellt dabei folgende Hierarchie auf, die ihrerseits stark an die Hierarchie für Genus-/ Numeruskongruenz (agreement hierarchy, → B2.2.2.2) angelehnt ist:

168

A Funktionale Domänen

Attributive < Relative pronoun < Personal pronoun „The PA can control attributive modifiers only if it can also control relative pronouns, and it can control relative pronouns only if it can also control personal pronouns.“ (ebd.: 318)

Dabei ist die „Kontrolle“ eines adjektivischen Modifikators auf das Obersorbische beschränkt: Dort kann wie etwa in mojeho (GEN .SG .M ) mužowa (NOM .SG .F ) sotra (NOM .SG .F ) ,die Schwester meines Mannes‘ ein Attribut wie mojeho ,meines‘, das semantisch auf den substantivischen Stamm des Possessivadjektivs, nämlich muž.M ‚Ehemann‘ bezogen ist, in der Weise hinzutreten, als sei das von muž abgeleitete kongruierende PA (auch) ein Genitiv. Insofern als der Genitiv von mojeho vom PA kontrolliert zu sein scheint, hat dieses Phänomen Ähnlichkeit mit der so genannten „Suffixaufnahme“, wo zwei Flexionsaffixe aufeinander folgen, nämlich Genitivaffix + Kongruenzaffix (vgl. dazu Corbett 1995 sowie → D3.7). Während im Obersorbischen und in weiteren west- und südslawischen Sprachen ein Possessivadjektiv durch ein Personalpronomen, und gegebenenfalls sogar durch ein Relativpronomen wieder aufgenommen werden kann, gilt für das Polnische – ähnlich trotz etwas größerer Frequenz auch für das Russische – nach Corbett (1987: 314), dass Relativierung ganz ausgeschlossen sei und Pronominalisierung durch eine Anapher nur von einem Teil der Sprecher akzeptiert werde. Er nennt das folgende fragwürdige Beispiel: (32) POL

matczyny dom. Przed nami stoi vor 1PL .INS steh.3SG Mutter.ADJ .M Haus.M Ona go chce sprzedać panu Nowakowi. es woll.3SG verkauf.INF Herr.DAT Nowak.DAT 3SG .F ,Vor uns steht Mutters Haus. Sie will es Herrn Nowak verkaufen.ʻ

Auch in den anderen Vergleichssprachen sind verankernde Possessivadjektive nicht referentiell. Wir diskutieren dies kurz am Beispiel des Deutschen. Zwar finden sich vereinzelt Belege, bei denen ein verankerndes Posssessivadjektiv als Antezedens zu einem Personal- bzw. Demonstrativpronomen gelten könnte, stets ist dabei aber der Eigenname selbst (also das zugrunde liegende Substantiv) bereits vorerwähnt: (33)

Was hat Friedrich Schiller damit zu schaffen? Safranski zitiert den Verzweiflungsruf des Klassikers und freiheitlichen Idealisten, der – selbst Arzt und Hirnforscher – mit Interesse die Wissenschaftsfortschritte seiner Zeit verfolgte: „Kühner Angriff des Materialismus stürzt meine Schöpfung ein!“ Wenn tausenderlei biologische, psychologische und soziale Faktoren das Sosein des Menschen fremdbestimmen und letztlich „keiner anders kann als er kann“ (Singer), dann wäre auch Schillers Streben nach Freiheit, Souveränität des Geistes, Vervollkommnung des Ichs durch Schönheit vergebliche Mühe. Aus dieser Angst resultiert laut Safranski auch das Schillersche Pathos: Er will

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den Idealismus gegen die Gefährdungen durch den Materialismus verteidigen. Wobei der Dichter nicht einfach ein Glaubensbekenntnis formuliert, sondern als Denker „der Freiheit eine Gasse“ bahnen will durch die kaum zu leugnenden Einflüsse und Zwänge der materiellen Umwelt. Schiller beschwört „die Aufmerksamkeit“ als Werkzeug zur Befreiung des Willens. (Rhein-Zeitung, 15.02.2005) (34)

Walser nimmt sich verständnisvoll der letzten großen Leidenschaft seines Dichterkollegen Johann Wolfgang von Goethe an. 1823 wirbt Goethe im Alter von 73 Jahren um die 19-jährige Internatsschülerin Ulrike von Levetzow. Blicke werden getauscht, Worte gewechselt, die beiden küssen einander. Wenn auch „nur“ auf die Goethesche Art. Der sagt: „Beim Küssen kommt es nicht auf die Münder an, sondern auf die Seelen.“ Doch der Dichterfürst verzehrt sich letztlich vergebens nach der jungen Schönen – er wird abgewiesen und schreibt in seinem Liebesschmerz die berühmte „Marienbader Elegie“. (Hamburger Morgenpost, 28.02.2008)

Relativierung, die wir in Übereinstimmung mit Corbett (1987) als stärkeres Indiz betrachten, ist in jedem Fall ausgeschlossen; man vergleiche folgende Abwandlung eines Ausschnittes aus (33): *Aus dieser Angst resultiert laut Safranski auch das Schillersche Pathos, der den Idealismus gegen die Gefährdungen durch den Materialismus verteidigen will.

(35)

Dabei spielt das Fehlen von Adjazenz zwischen dem vorangestellten Possessivadjektiv und dem nachgestellten Relativsatz nicht die entscheidende Rolle, denn auch vorangestellte Genitive kommen als Antezedentien für extraponierte Relativsätze in Frage: (36)

Die Qualität der Stuckarbeiten in den Schlössern erweckte selbst Goethes Interesse, der Isopi gerne für Weimar verpflichtet hätte. (URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Antonio_Isopi: Wikipedia, 2011)

Auch die Adjektive zu geografischen Namen auf -er wie in Berliner Schloss/Ensemble (vgl. dazu → B1.1.4) sind nicht referentiell. Ein pronominaler Bezug auf die zugrunde liegende geografische Einheit ist ausgeschlossen. So ist in folgendem Beleg das Relativum das nicht auf Berlin beziehbar, sondern nur auf die Gesamt-NP Berliner Ensemble. Auch bei der Abwandlung (vgl. (37’)) kann sich das Personalpronomen es nicht auf Berlin beziehen. (37) (37’)

Dem Berliner Ensemble, das wegen des bevorstehenden Umbaus bald ohne Theater sein wird, ist das zu teuer. (Berliner Zeitung, 01.10.1998) Dem Berliner Ensemble ist das zu teuer. Es wird wegen des bevorstehenden Umbaus bald ohne Theater sein.

170

A Funktionale Domänen

Neben dem Polnischen verdienen auch die Kontrastsprachen Englisch und Französisch noch Beachtung. Wie bei von Appellativa abgeleiteten Relationsadjektiven, etwa ENG brotherly, paternal, presidential, dramatic, FRA fraternel, paternel, présidentiel, dramatique können von Eigennamen abgeleitete Possessivadjektive bei Nominalisierungen transitiver Verben auch eine Objekt-Lesart annehmen wie in (38) und (39), im Deutschen ist dies nicht möglich, stattdessen erscheint der Eigenname als erstes Kompositumglied: (38) ENG DEU (39) FRA DEU

Shakespearian revivals, Shakespearian actor Shakespeare-Wiederaufführungen/Revivals, Shakespeare-Darsteller

interprétation racinienne, exégèse racinienne, critique racinienne, acteur racinien Racine-Interpretation, Racine-Auslegung, Racine-Kritik, Racine-Darsteller

Hier besteht eine Parallele etwa zu Objekt-Lesarten bei Ableitungen aus Appellativa: (40) ENG DEU

presidential election, dramatic/lyric writing (vgl. Gunkel/Zifonun 2008: 291) Präsidentenwahl, (das) Drama/Lyrik-Schreiben

(41) FRA DEU

élection présidentielle, acteur dramatique Präsidentenwahl, Drama-Darsteller

In den beiden folgenden Belegen erscheint ein Possessivadjektiv in (Quasi-)SubjektLesart zusammen mit einem possessiven Attribut in Objekt-Lesart: (42) ENG

This aspect of the Dream […] has little to do with my prime emphasis on the Shakespearean invention of character and personality. ,Dieser Aspekt des (Sommernachts-)Traums […] hat wenig zu tun mit meinem primären Interesse an der shakespeareschen Erfindung von Charakter und Persönlichkeit.ʻ (Internet)

(43) FRA

L’invention racinienne de l’amour d’Hippolyte pour Aricie, est ainsi en principe justifiée par une conception aristotélicienne de la faute du héros tragique qui […] ,Die racinsche Erfindung der Liebe des Hippolyt für Aricia ist so im Prinzip durch eine aristotelische Konzeption der Verfehlung des tragischen Helden gerechtfertigt, die […]ʻ (books.google.de)

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Eigennamen als Erstglieder von Komposita können ebenfalls verankernd (wie GoetheGedicht, Mozartoper, Wulff-Villa, Berlusconi-Prozess) und begrifflich-modifizierend, vor allem klassifikatorisch, gebraucht werden (wie Röntgenstrahlen, Hitlerbärtchen; vgl. Schlücker 2013: 462). Schlücker spricht hier von „identifying modification“ und meint damit wohl, dass der Modifikator auch das Denotat des Kompositums insgesamt auf ein Individuum einschränke. Sie nimmt nämlich an, dass solche Komposita nicht mit dem indefiniten Artikel vereinbar seien. So heißt es (Schlücker 2013: 462): „indefinite determiners and the identifying function of the modifier are mutually exclusive“. Dies scheint jedoch nicht zuzutreffen, so ist eine Mozart-Oper im Korpus vielfach belegt. Dass Wulff-Villa mit eine schwer zu kombinieren ist, liegt daran, dass Menschen (zumindest solche wie Wulff) meist höchstens eine Villa haben.

Wir halten somit fest, dass anders als im diskutierten Fall der Possessivadjektive gewisser slawischer Sprachen in Wortbildungen integrierte verankernde Eigennamen nicht referentiell gebraucht werden. Sie sind – außer marginal im Polnischen – nicht pronominal wiederaufzunehmen. Wir sprechen hier von ,pseudoreferentieller‘ Verwendung.

A4.3.3.5.1.3 Adverbien A4.3.3.5.1.3.1 Juxtaponierte Adverbien Lokale und temporale Adverbien können, in Abhängigkeit von der Anbindungsstrategie (vgl. im Einzelnen Gunkel/Schlotthauer 2012: 278–284), verankernde Modifikation leisten. Bei beiden Klassen spielen deiktische Adverbien, deren Denotat in ihrer prototypischen Verwendung nach dem Verhältnis zum Sprechereignis, also der Lokalisierung des Sprechers oder des Adressaten bzw. dem Sprechzeitpunkt bestimmt wird, eine zentrale Rolle. Werden solche Adverbien einfach dem Kopfsubstantiv in Nachstellung juxtaponiert wie etwa in DEU unser Haus hier oder mein Traum gestern, so bezeichnen sie einzelne Raum- bzw. Zeitabschnitte, relativ zu denen der vom Kopfsubstantiv denotierte Begriff näher eingegrenzt wird, und zwar extensional auf diejenige Klasse von Entitäten, die an dem entsprechenden Raum- bzw. Zeitabschnitt situiert sind. Wir nennen hier im Anschluss an Gunkel/Schlotthauer (2012: 276) einige Beispiele für die topologische (44) und die dimensionale Subklasse (45) der lokaldeiktischen Adverbien sowie die temporaldeiktischen (46) in unseren Vergleichssprachen. Zu beachten ist, dass in den Kontrastsprachen Englisch, Französisch und Polnisch die Entsprechungen zu den deutschen Adverbien in einigen Fällen die Form von mehr oder minder stark lexikalisierten PPs haben, die durch eine lokale Präposition eingeleitet werden; auch im Deutschen existieren solche Verbindungen, vgl. zur Rechten/ zur Linken für rechts, links: (44) DEU ENG

hier, dort/da here, there

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A Funktionale Domänen

FRA POL UNG

ici, là-bas tu/tutaj, tam itt, ott

(45) DEU ENG FRA POL UNG

links, oben, vorn on the left, above / at the top / on top / upstairs, in front à gauche, dessus / en haut, devant na lewo, na górze, z przodu / na przodzie balra, fent, elől

(46) DEU ENG FRA POL UNG

heute, gestern, morgen today, yesterday, tomorrow aujourd’hui, hier, demain dzisiaj, wczoraj, jutro ma, tegnap, holnap

Wie die lokalen bzw. temporalen PPs, mit denen die Adverbien zum Teil bedeutungserhaltend ausgetauscht werden können (das Haus hier versus das Haus an diesem Ort, der Mann oben versus der Mann im ersten Stockwerk, der Traum gestern versus der Traum am gestrigen Tag / in der gestrigen Nacht), können die adverbialen Attribute nicht durch ein Personalpronomen wiederaufgenommen werden. Nur ein Adverb, entweder ein weiteres Token desselben Adverbs oder ein „Pro-Adverb“ mit einer sehr allgemeinen Bedeutung wie etwa da/dort bzw. da/dann, kommt in Frage: (47)

a. Ich kenne [den Mann oben] nicht. Er wohnt erst seit ein paar Wochen oben/ dort. b. Ich kenne [den Mann [im ersten Stockwerk]] nicht. Er wohnt dort erst seit ein paar Wochen.

(48) a. Den Traum gestern vergesse ich nicht so schnell. Da bin ich geflogen. b. [Den Traum [in der gestrigen Nacht]] vergesse ich nicht so schnell. Da bin ich geflogen. Wie z. B. (48) zeigt, ist aber die Wiederaufnahme durch ein solches „Pro-Adverb“ sehr unspezifisch. Es kann durchaus auch anders bezogen werden, etwa bei (48) auf die Traumsituation insgesamt, nicht etwa auf die zeitliche Situierung. Auch bei Relativierung (durch das Relativadverb wo bzw. den Subjunktor als) ist die Konstruktion nur dann voll akzeptabel, wenn auch ohne das adverbiale Attribut noch Grammatikalität gewährleistet ist, vgl. (48a’, 48b’, 49). Ist dagegen ein Bezug auf die Gesamtphrase nicht möglich, wie in (47a’, 47b’), so wird die Konstruktion fragwür 

A4 Modifikation

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dig; sie erscheint allenfalls bei einem Verständnis als parenthetischer Einschub akzeptabel vgl. (48)–(50). Wir ordnen adnominale Adverbien somit als ,schwach referentiell‘ ein: (48) a.’ Den Traum gestern, als/wo ich geflogen bin, vergesse ich nicht so schnell. b.’ Den Traum [in der gestrigen Nacht], als/wo ich geflogen bin, vergesse ich nicht so schnell. (49)

Dann ist man in den Abschnitten oben, wo aus zeitgenössischen Quellen sehr interessant zitiert wird, nicht so iritiert (sic!), wenn von ihm die Rede ist. (Internet)

(47)

a.’ b.’

??Ich

kenne den Mann oben, wo er erst seit ein paar Wochen wohnt, nicht. kenne den Mann im ersten Stockwerk, wo er erst seit ein paar Wochen wohnt, nicht. ??Ich

Auch im Englischen sind entsprechende Relativierungen bei Juxtaposition möglich: (50) ENG

And late at night the barrier here where you slip in your parking-token is often open, and you can just drive straight through. ,Und spät in der Nacht ist die Barriere hier, wo du deine Parkmünze einsteckst, oft offen und du kannst einfach durchfahren.ʻ (BNC, HWM The jewel that was ours)

Auch Rauh (1997: 6 f.) geht davon aus, dass PPs mit lokalen und temporalen Präpositionen – sowie am Rande skalaren wie in In der Nacht war die Temperatur unter Null – „Räume als Referenten“ haben. Sie spricht in generativem Rahmen von der „Referentialität von maximalen Projektionen“ dieser Präpositionen. Auch sie rekurriert auf die Wiederaufnahme durch Deiktika wie da/dort oder dann und spricht hier von Koreferenz mit der PP. Allerdings befasst sie sich nicht mit der Verwendung solcher PPs als Attribute, die von uns beobachteten Verwendungsbeschränkungen für eine Wiederaufnahme mithilfe der „Pro-Adverbien“ kommen daher nicht zur Sprache. Vgl. zum Thema auch Rauh (2011: 96–100).  

Allerdings ist vor allem im Deutschen und Englischen die Juxtaposition in Nachstellung das Verfahren der Wahl bei verankernder Modifikation eines Kopfsubstantivs durch Adverbien. Im Französischen und Polnischen ist dieses Verfahren nur eingeschränkt möglich, im Ungarischen noch weitergehend ausgeschlossen. Stattdessen wird im Französischen in der Regel das Adverb mithilfe der formalen Präposition de angeschlossen, im Polnischen und Ungarischen wird das Adverb häufig adjektiviert. Somit ergeben sich für DEU der Mann hier und der Traum gestern folgende unmarkierte Entsprechungen:

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A Funktionale Domänen

(51) DEU ENG FRA POL UNG

der Mann hier the man here l’homme d’ici ten mȩżczyzna tutaj ez a férfi itt

Nur bei zusätzlicher Setzung des Demonstrativums UNG ez/az kann nach Informantenauskunft Juxtaposition erfolgen. Steht nur der definite Artikel, sollte adjektiviert werden: az itteni férfi. Allerdings hat dies hier eine ähnliche Interpretation wie DEU der hiesige Mann.

(52) DEU ENG FRA POL UNG

der Traum gestern the dream yesterday le rêve d’hier ten sen wczoraj / ten wczorajszy sen a tegnapi álom

Bei formaler Verknüpfung ist im Französischen unter vergleichbaren Bedingungen wie bei der Juxtaposition im Deutschen und Englischen Relativierung möglich; vgl. (53): (53) FRA

Dans mon rêve d’hier, quand je cherchais un abri, j’suis arrivé sur une plage, […] ,In meinem Traum gestern, als ich einen Unterschlupf suchte, bin ich an einen Strand gekommen, […]‘ (Internet)

Die drei folgenden Original-Belege sind Übersetzungsäquivalente aus dem EuroparlKorpus; sie zeigen, dass bei Verankerung durch ein temporales Adverb der formalen Verknüpfung, die im Französischen vorliegt, Adjektivierung im Deutschen und im Englischen formale Verknüpfung mithilfe des pränominalen Genitivs entsprechen kann. Die hinzugefügten polnischen und ungarischen Entsprechungen bedienen sich wie das Deutsche der Adjektivierung des Adverbs; Relativierung mithilfe von POL kiedy bzw. UNG amikor ,wann‘ ist möglich: (54) FRA

DEU ENG

regardez ce qui s’est produit au cours du débat d’hier, lorsque mon honorable ami, M. Heaton-Harris, nous a demandé ce sur quoi […] nous votions […] (europarl.europa.eu) Sehen Sie sich an, was in der gestrigen Aussprache passierte, als mein verehrter Kollege, Herr Heaton-Harris, uns fragte, worüber […] wir abstimmten: look at what happened in yesterday’s debate, when my honourable friend, Mr Heaton-Harris, asked us what […]

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POL UNG

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Widzi pan, co zaszło we wczorajszej dyskusji, kiedy mój szanowny kolega, pan Heaton-Harris zapytał nas, na co […] głosowaliśmy. Nézze meg, mi történt a tegnapi vitában, amikor a tisztelt kollégám, HeatonHarris úr kérdezett minket, mire […] szavaztunk.

Die Verfahren der formalen Verknüpfung und/oder der Adjektivierung können somit auch in den Sprachen zur Anwendung kommen, wo sie nicht im einfachen Fall der verankernden Modifikation durch Adverbien bereits grundsätzlich angezeigt sind, also zum Beispiel im Deutschen.

A4.3.3.5.1.3.2 Adjektivierung und formale Verknüpfung von Adverbien Wie im vorangehenden Abschnitt gezeigt, sind juxtaponierte adnominale Adverbien temporaler und lokaler Natur in jedem Fall verankernd. Neben der Juxtaposition sind in den Vergleichssprachen auch andere adnominale Anbindungsstrategien gegeben, die formale Verknüpfung mithilfe einer formalen Präposition, DEU von, ENG of, FRA de sowie die ’s-Markierung im Englischen (wie in yesterday’s debate) oder die Adjektivierung, die in allen Vergleichssprachen außer dem Französischen möglich ist (vgl. im Einzelnen Gunkel/Schlotthauer 2012: 278–284). Was die Attribuierung von temporalen Adverbien angeht, so wird in Gunkel/ Schlotthauer (ebd.: 285–289) für das Deutsche gezeigt, dass die einfache Juxtaposition in gewissen Fällen einer „Kotemporalitätsbeschränkung“ unterliegt, dass also (vgl. ebd.: 289) „der Zeitbezug des Temporaladverbs mit dem Satztempus vereinbar“ sein muss. Bei ereignisbezeichnenden Kopfsubstantiven wie Spiel, Vortrag, Auftritt usw. scheint diese Beschränkung auch für die formale Verknüpfung mit von und sogar die Adjektivierung zuzutreffen. Man vergleiche: (55)

a. Das Spiel gestern wurde/*wird von vielen Zuschauern gesehen. b. Das Spiel von gestern wurde/*wird von vielen Zuschauern gesehen. c. Das gestrige Spiel wurde/*wird von vielen Zuschauern gesehen. Die Beispiele werden akzeptabel, wenn wird gesehen als „historisches Präsens“ interpretiert wird.

Bezeichnet das Kopfsubstantiv hingegen einen konkreten Gegenstand, so ist bei formaler Verknüpfung und Adjektivierung die Kotemporalitätsbeschränkung aufgehoben: (56)

a. *Die Zeitung gestern liegt auf dem Tisch. b. Die Zeitung von gestern liegt auf dem Tisch. c. Die gestrige Zeitung liegt auf dem Tisch.

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A Funktionale Domänen

Gunkel/Schlotthauer (2012: 288) führen diesen Kontrast darauf zurück, dass der „temporale Bedeutungsbeitrag des Attributs“ in den Fällen (56b) und (56c) „außerhalb der NP […] semantisch unzugänglich“ sei und „daher nicht mit dem Tempus des Prädikatsverbs konfligieren“ könne. Sie sprechen daher von einer temporalen Eigenschaft, die „enger oder fester assoziiert“ sei mit dem Denotat des Kopfsubstantivs – enger als im Falle der Juxtaposition. Bei lokalen Adverbien ergeben sich noch deutlichere Kontraste zwischen Juxtaposition und den beiden anderen Verfahren. Wo die einfache Juxtaposition und Adjektivierung bzw. formale Verknüpfung in einer Sprache miteinander kookkurrieren, ergeben sich Oppositionen wie in (57) (vgl. ebd.: 290): (57)

a. DEU ENG FRA POL

die Sitzplätze hinten the seats at/in the back les sièges derrière siedzenia z tylu

vs. vs. vs. vs.

b. die hinteren Sitzplätze the back seats les sièges de derrière tylne siedzenia

Gunkel/Schlotthauer (ebd.) zeigen, dass in (57b) gegenüber den Beispielen (57a) mit Juxtaposition ein semantischer Effekt eintritt: Die betreffende lokale Eigenschaft, die ähnlich wie im temporalen Fall als „fester asssoziiert“ mit dem Begriff des Kopfsubstantivs gekennzeichnet wird, wird dem Träger als dauerhaftes Merkmal zugesprochen. Diese „Persistenz“ kommt darin zum Tragen, dass die zugrunde liegende Lokalisierung zu einem Sprechzeitpunkt gar nicht aktual gegeben sein muss, etwa wenn von den hinteren Sitzplätzen eines Wagens die Rede ist, die gerade bei einer Reparatur ausgebaut wurden und sich somit nicht hinten im Wagen befinden. Im Hinblick auf die funktionale Domäne des adjektivierten bzw. formal verknüpften adnominalen Adverbs kann dann nicht mehr von Verankerung gesprochen werden: Deiktische und topologische lokale Adverbien fungieren, wie in den Beispielen (57a), insofern als besonders effektive Anker für die Identifikation von Objekten (bei einer referentiellen Verwendung der Gesamtphrase), als sie auf aktuelle Gegebenheiten und damit auf wahrnehmbare Ressourcen rekurrieren – etwa im Gegensatz zu gespeichertem Wissen, das nicht von den Kommunikationspartnern geteilt werden muss. So können auch bewegliche Objekte, über deren „Eigenschaften“ wir nichts oder nur sehr wenig wissen, in einer Wahrnehmungssituation leicht über eine deiktische oder topologische Verankerung identifiziert werden; vgl. das Ding da drüben, die Leute hier usw. Zum Wesen dieser Art von adverbialer Verankerung gehört somit gerade die Nicht-Persistenz – selbst wenn die Position des Ankers selbst nicht verändert wird. Die Extension von die hiesigen Leute oder die Leute von hier hingegen bleibt konstant. Was nun die funktionale Domäne angeht, so hat im Deutschen die Verknüpfung mit von einen zwiespältigen Status: DEU von ist nicht rein formal-verknüpfend, sondern lässt kontextabhängig ablativische Deutungen zu. Die lokale Eigenschaft der Herkunft (von beweglichen Gegenständen) ist anders als die lokale Situierung ver-

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177

gleichsweise stabil. Wenn wir von z. B. in die Leute/die Lieder/der Käse von hier/von dort als eine semantische Präposition für die Relation ,aus x stammend‘ betrachten, so liegt die Analogie zu den referentiell-verankernden Modifikationen mit einer autonom kodierenden Präposition nahe:  

die Leute von hier ≈ die Leute aus Deutschland hier bezeichnet dann wie Deutschland eine verankernde Entität (nämlich die HIER Region), die über eine spezifische Relation, die der Herkunft, mit dem Kernbegriff verknüpft wird. Für diese Analyse spricht, dass lokale mit von an das Kopfsubstantiv angeschlossene Adverbien im Deutschen durch wo relativiert werden können, sogar in Fällen, wo dies bei Juxtaposition nur markiert möglich ist: (58)

Hinnerk Berlekamp: „Ich bin ein einfacher Mann von dort, wo die Palme wächst, und ehe ich sterbe, möchte ich mir diese Verse von der Seele singen. Guantanamera.“ (Berliner Zeitung, 08.07.2000)

(59)

Al-Berto präsentiert Lieder von dort, wo die Wellen brechen und die Sonne scheint. (St. Galler Tagblatt, 15.05.2012)

Bei Adjektivierung des Adverbs ist kein relativer Anschluss möglich, so ist in (59’) der wo-Satz nicht auf dortig beziehbar, sondern liefert eine Ortsspezifikation für das Präsentations-Ereignis: (59’)

Al-Berto präsentiert die dortigen Lieder, wo die Wellen brechen und die Sonne scheint.

Es ist also zwischen einem semantisch verknüpfenden von und einem formal verknüpfenden von zu unterscheiden. Bei ersterem liegt verankernde Modifikation vor, bei letzterem nicht. Die Unterscheidung mag im Einzelfall problematisch sein. Gunkel/Schlotthauer (2012: 292) nennen folgende Beispiele für nicht-ablativische Lesarten: die Gärten von hier, die Behörden von hier, die Lebensqualität von hier. In diesen Fällen ist eine Substitution durch hiesig möglich. Auch dies weist darauf hin, dass es sich um formale Verknüpfung handelt. Im Englischen hingegen sind die semantische Verknüpfung und die formale Verknüpfung durch das Nebeneinander von ENG from und ENG of deutlicher differenziert: (60) ENG

the people from here vs. the people of here

178

A Funktionale Domänen

Der semantische Spielraum der präpositionalen Verknüpfung von Adverbien mithilfe von FRA de scheint besonders weit zu sein. de wird gesetzt: a) verankernd (in Entsprechung zur reinen Juxtaposition im Deutschen), b) ablativisch, c) formal verknüpfend: (61) a. la vie d’ici FRA ,das Leben hier‘ b. les gens d’ici ,die Leute von hier‘ c. l’annuaire téléphonique d’ici ,das hiesige Telefonbuch‘ Aufgrund des Merkmals der Persistenz betrachten wir die Adjektivierung oder formale Verknüpfung von Adverbien, sofern sie bei den Vergleichssprachen in semantischer Opposition zur reinen Juxtaposition des Adverbs steht (bzw. ggf. auch in Opposition zur semantischen Verknüpfung im Sinne einer ablativischen Beziehung), nicht als ein Verfahren verankernder, sondern begrifflicher Modifikation. Wie Gunkel/Schlotthauer (2012: 293–296) weiter zeigen, ist mit der Adjektivierung bzw. formalen Verknüpfung lokaler Adverbien neben der Eigenschaft der Persistenz auch die der Oppositivität verbunden: Von hinteren Sitzen wird nur gesprochen, wenn auch vordere Sitze vorhanden sind. Eine obere Schublade setzt eine untere voraus, eine rechte Tür eine linke usw. Der Modifikator hat somit eine diskriminierende bzw. klassifikatorische, nicht eine qualitative Funktion. Die Adjektivierung von Adverbien im Ungarischen ist dagegen differenzierter zu betrachten: Deadverbale Adjektive mit dem Adjektivierungssuffix -i sind nicht oppositiv, ihre Attribuierung entspricht funktional der Juxtaposition der entsprechenden Adverbien etwa im Deutschen oder Englischen. Für oppositive Bildungen steht das Adjektivierungssuffix -só/-ső zur Verfügung. Damit liegt z. B. folgende Gegenüberstellung von nicht-oppositiven, verankernden und oppositiven, klassifikatorischen adjektivischen Modifikatoren vor (vgl. ebd.: 296):  

(62) a. a fenti fiók UNG ,die Schublade oben‘ b. a lenti kép ,das Bild unten‘

vs. vs.

a felső fiók ,die obere Schublade‘ az alsó kép ,das untere Bild‘

Wie (62b) zeigt, sind die beiden Adjektivierungssuffixe nicht immer an dieselben Stämme affigierbar.

A4 Modifikation

179

A4.3.3.5.2 Pseudo-referentielle Argumente Argumentanbindung ist im prototypischen Fall mit der Referentialität des Arguments bzw. der Argumente verbunden: Ein einstelliges Prädikat wird einem Referenten zugesprochen oder ein mehrstelliges Prädikat, eine Relation, wird von einem Paar oder auch einem Tripel von Referenten prädiziert. Die Verifikationsbedingungen von Prädikaten gelten für Individuen, also die Denotate referentieller Ausdrücke. Dies gilt sowohl für verbale Prädikat-Argument-Strukturen wie auch für nominale: (63)

Peter arbeitet / Arbeit von Peter

(64)

a. Peter liebt Anna / Peters Liebe zu Anna b. Peter schenkt Anna diesen Ring / Peters Schenkung eines Grundstücks an seine Enkel

Allerdings gibt es im nominalen Bereich sprachübergreifend Konstruktionstypen der Argumentanbindung, bei denen das Argument nicht referentiell ist. Diese Konstruktionstypen sind formal identisch mit denen der klassifikatorischen Modifikation (vgl. → A4.2). Es handelt sich in erster Linie um:  



Rektionskomposita/synthetic compounds, wie sie vor allem im Deutschen, Englischen und Ungarischen vorliegen (,Rektionskompositumʻ ist ein semantisch motivierter Terminus, formal gibt es keinen Unterschied gegenüber Komposita, deren Erstglieder freie Modifikatoren darstellen): –

DEU ENG UNG –

AG ENS -, EXPERIENS - oder THEMA -Rolle mit ,Subjekt-Argumentʻ in AGENS

Hundebellen, Zellteilung, Sprachentwicklung, Vulkanausbrauch dog barking, cell division, language development, volcano eruption kutyaugatás, sejtosztódás, nyelvfejlődés, vulkánkitörés mit ,Objekt-Argumentʻ in PATIENS -, THEMA - Rolle

DEU ENG UNG

Zeitungsausträger, Stadtplanung newspaper deliverer, city planning újságkihordó, várostervezés



Nominale Syntagmen, in denen der Modifikator (also der Argumentausdruck) keine voll ausgebaute NP/PP ist, sondern eine syntaktisch reduzierte Form, wobei ein ,formaler Verknüpferʻ, also etwa die formalen Präpositionen ENG of, FRA de oder der Genitivmarker im Englischen ein nominales Syntagma ohne Artikel bzw. Determinativ, also der Konstituentenkategorie

180

A Funktionale Domänen

NOM, einleitet. Man beachte, dass im Polnischen bei entsprechenden Genitivsyntagmen wie etwa POL wychowanie dzieci (wychowanie ,Erziehungʻ dzieci Kind.GEN .PL ) aufgrund der generell möglichen und prototypischen Determinativlosigkeit nur im Kontext entschieden werden kann, ob ein referentieller oder ein pseudo-referentieller Modifikator vorliegt, somit ‚Erziehung der Kinderʻ versus ,Kindererziehungʻ: – ENG FRA

– ENG FRA



mit ,Subjekt-Argument‘ in AGENS -, EXPERIENS - oder THEMA -Rolle women’s movement ,Frauenbewegungʻ, children’s illness ,Kinderkrankheitʻ aboiement de chiens ,Hundebellenʻ, planification d’entreprise ,Unternehmensplanungʻ mit ,Objekt-Argumentʻ in PATIENS -, THEMA -Rolle loss of income ,Einkommensverlustʻ, defraudation of tax ,Steuerhinterziehungʻ sustraction d’impôt ,Steuerhinterziehungʻ, retard de livraison ,Lieferverzögerungʻ Relationsadjektive, wie sie besonders stark im Polnischen und Französischen, daneben auch im Englischen, Ungarischen und gelegentlich Deutschen (siehe Übersetzungen) vertreten sind:

– POL FRA ENG

UNG

– POL FRA

AG ENS -, EXPERIENS - oder THEMA -Rolle mit ,Subjekt-Argumentʻ in AGENS

wycieczka zakładowa ,Betriebsausflugʻ, choroba dziecięca ,Kinderkrankheitʻ arrestation policière ,polizeiliche Festnahmeʻ, action gouvernementale ,Regierungshandelnʻ medical examination ,medizinische Untersuchungʻ, parental/maternal/paternal/fraternal protection ,elterlicher/mütterlicher/väterlicher/brüderlicher Schutzʻ vállalati kirándulás ,Betriebsausflug‘, orvosi/parlamenti vizsgálat ,ärztliche/ parlamentarische Untersuchung‘, anyai védelem ,mütterlicher Schutz‘, rendőri ellenőrzés ,polizeiliche Kontrolle‘ mit ,Objekt-Argumentʻ in PATIENS -, THEMA -Rolle ochrona środowiska ,Umweltschutzʻ, wybory prezydenckie (PL ) ,Präsidentenwahlenʻ rénovation urbaine ,Stadterneuerung‘, élection présidentielle ,Präsidentenwahlʻ, fraude fiscale ,Steuerhinterziehung‘

A4 Modifikation

ENG UNG

181

colonial administration ,Kolonialverwaltung‘, presidential election ,Präsidentenwahl‘, environmental pollution ,Umweltverschmutzung‘ elnöki választás ,Präsidentenwahl‘

Neben diesen Typen mit deverbalen bzw. deadjektivischen Kopfsubstantiven sind auch Konstruktionen mit inhärent relationalem Kopfsubstantiv zu nennen wie: (65) DEU ENG FRA POL UNG

Königssohn, Erfolgsaussicht/Überlebenschance king’s son, chance of success / of survival fils du roi, chance de succès / de survie królewski syn, szansa na sukces, szansa na przeżycie a király fia kilátás a sikerre DEF König Sohn.3SG Aussicht DEF Erfolg.SUB esély a túlélésre Chance DEF Überleben.SUB

ENG king’s son hat zwei syntaktische Funktionen und damit auch zwei Lesarten. Zum einen kann es zu einer vollständigen NP erweitert werden und dann als referentielles Genitivattribut fungieren wie in [[The king’s] younger son] was also present ,Der jüngere Sohn des Königs war ebenfalls anwesendʻ. Zum anderen kann es als determinativloser descriptive genitive klassifikatorisch fungieren wie in [The younger [king’s son]] was also present ,Der jüngere Königssohn war ebenfalls anwesendʻ. Auch FRA fils du roi ist in entsprechender Weise doppeldeutig (ohne dass unterschiedliche Strukturierung vorliegt). Im Französischen werden neben den reduzierten Formen häufig auch vollständige determinierte NPs in klassifikatorischer bzw. nicht-referentiell-argumentsättigender Funktion gebraucht (vgl. dazu auch → A4.2). Bei UNG kilátás a sikerre ,Erfolgsaussicht‘ und esély a túlélésre ,Überlebenschance‘ wird der Modifikator nicht durch ein possessives Attribut oder Erstglied eines Kompositums realisiert, sondern durch eine NP im Lokalkasus Sublativ (vgl. auch DEU Aussicht auf Erfolg).

In all diesen Beispielen können die Modifikatoren als argumentsättigend betrachtet werden, insofern als sie jeweils Leerstellen des Kopfes zu füllen und bestimmte semantische Rollen auszuüben scheinen, die als Argumentrollen betrachtet werden. In den genannten Beispielen sind die Modifikatoren selbst im Allgemeinen nicht wie referentielle bzw. referenzfähige Ausdrücke gebaut: Substantive bzw. Substantivstämme (die als Erstglieder von Komposita vorkommen) bzw. determinativlose nominale Syntagmen im Singular sind in den Vergleichssprachen außer dem Polnischen nicht referenzfähig. Bei den adjektivischen Formen ist generell in den Vergleichssprachen keine Referentialität gegeben. Was vor allem Letztere angeht, so kann auch deren Argumentstatus in Frage gestellt werden. Es ist auch eine Analyse möglich, bei der das Adjektiv nur als Spezifikation der Rolle bzw. Funktion eines implizit bleibenden Referenten gedeutet wird. So kann ENG presidential election bzw. FRA élection présidentielle als ,Wahl von X zum Präsidentenʻ oder ENG colonial administration als ‚Verwaltung von X als Kolonieʻ verstanden werden. Dafür spricht, dass gegebenen-

182

A Funktionale Domänen

falls auch ein referentielles Attribut als Objekt-Argument hinzugesetzt werden kann wie in ENG the colonial administration of India ,die Kolonialverwaltung von Indienʻ. Man vergleiche zu dieser Argumentation Gunkel/Zifonun (2008) sowie → A4.2.2.3.5. Auch Eigennamen, die per se referentiell gebraucht werden können, verlieren dieses Merkmal, wenn sie als Erstglieder von Komposita (oder auch in adjektivierter Form, vgl. → A4.3.3.5.1.2) erscheinen. Es ist also der Konstruktionstyp selbst, der Referentialität – sowohl bei freier Modifikation als auch bei Argumentsättigung – blockiert. Beispiele für Kopf-Argument-Strukturen mit Personen-Eigennamen als Erstglied sind etwa DEU Kohl-Sohn, Schiller-Lektüre, Marien-Verehrung. Beispiele für deonymische Adjektive in Kopf-Argument-Strukturen sind DEU die schillerschen Gedanken / die schillerschen ästhetischen Formulierungen (D D E R E K O -Belege), ENG Shakespearean revivals, Marian devotion. Mangelnde Referentialität lässt sich anhand des folgenden Belegs zeigen. Das Erstglied des Kompositums Marien-Verehrung kommt nicht als Antezedens für die in Frage. (66)

Setzte vielleicht nach dem Bau der ersten Kirche in Viernheim, der Marienkirche, eine besondere Marien-Verehrung ein, die in Darstellung der Madonnen-Figuren sichtbar wurde? (Mannheimer Morgen, 23.12.2006)

Bei Zusammensetzungen wie Wulff-Villa, wo das Erstglied keinen Argumentstatus hat, gehen wir (vgl. → A4.3.3.5.1.2) zwar nicht von einer referentiellen, jedoch von einer verankernden Funktion aus. Nicht dagegen bei Königspalast, also bei Komposita mit appellativischem Erstglied. Hier gehen wir von einer klassifikatorischen Funktion aus. Es ergibt sich damit eine Asymmetrie zwischen freier Modifikation und Argumentsättigung. Bei Argumentsättigung scheint der Unterschied zwischen Eigenname und Appellativum keine Rolle zu spielen. Beide sind in den entsprechenden Konstruktionstypen (vgl. z. B. Kohl-Sohn, Kanzler-Sohn) argumentsättigend und nicht-referentiell. Auch Schlücker (2013: 462) betrachtet das „interne Argument“ bei „synthetic compounds“ (Goethe-Verehrung, Sarkozy-Anhänger) nicht als „identifying modifier“.  

Ein möglicher Unterschied gegenüber „freien Modifikatoren“, die rein begrifflich verknüpft sind, besteht darin, dass bei referentieller Verwendung der Gesamt-NP mit einem nicht-referentiellen argumentsättigenden Modifikator eine Implikation auf die Existenz eines Referenzobjektes für den Modifikator besteht. So ist im folgenden Beleg davon auszugehen, dass es einen König gibt bzw. gab, dessen Sohn Vittorio Emanuele ist: (67)

Italiens Königssohn Vittorio Emanuele hat Heimweh. Wegen ihrer Zusammenarbeit mit den Faschisten waren die Mitglieder des italienischen Königshauses nach dem Zweiten Weltkrieg verbannt worden, und seit der Abschaffung der Monarchie war es männlichen Thronerben verboten, nach Italien einzureisen. (St. Galler Tagblatt, 05.07.1999).

Anders bei freien Modifikatoren: Die klassifikatorisch zu verstehenden Erstglieder etwa in entsprechenden Komposita sind häufig nicht wörtlich zu verstehen, sondern beruhen auf Analogien oder anderen Bedeutungsverschiebungen wie in DEU Königs-

A4 Modifikation

183

palme, Königspython, Königsopfer (gegenüber Bauernopfer). Eine Implikation auf die Existenz eines Königs ist hier völlig abwegig. Aber selbst wenn der Modifikator, also das Erstglied eines Kompositums oder die substantivische Basis eines Relationsadjektivs, wörtlich interpretiert wird und in einer Possessorrelation zum Kopfsubstantiv steht, ist eine solche Implikation weniger zwingend als bei Argumentstatus. Man denke an Beispiele wie DEU Königskrone, Königspalast ENG royal crown, royal palace usw. Hier gilt die Implikation nicht notwendigerweise. Die Possessorrelation ist, wie aus der semantischen Landkarte der Possession hervorgeht, so weit ausgelegt, dass keineswegs im gegebenen Kontext die prototypische Form vorliegen muss, bei der ein existenter Besitzer über das Possessum verfügt. Auch ein Bestimmtsein-Für (man denke z. B. an Blumenvase, Kleiderschrank), das nur eine virtuelle Zugehörigkeitsbeziehung vorsieht, kann gegeben sein. Man vergleiche folgenden Beleg für Königskrone:  

(68)

Monarch Juan Carlos feuert den ehrwürdigen Verein Real Madrid an. Der trägt die Königskrone im Wappen, musste sich in der Liga aber mit dem dritten Platz begnügen. (Die Rheinpfalz, 24.05.2014)

Man kann die Existenz-Implikation bei Argumentstatus des Modifikators auf eine starke Korrelation zwischen Argumentstatus und Referentialität zurückführen, die in der Natur von Prädikat-Argument-Strukturen gründet und die bereits zu Beginn des Abschnitts angesprochen wurde. Insofern mag es gerechtfertigt erscheinen, hier von pseudo-referentiellen Argumenten zu sprechen.

A5

Nominale Quantifikation

A5.1

Einführung  185

A5.2 Überblick zu den Formen nominaler Quantifikation  188 A5.2.1 Konstruktionstypen: juxtapositive und ,possessive Quantifikator-als-Kopf-Konstruktion‘ in (pseudo-)partitiver Lesart  189 A5.3 Subklassifikation der nominalen Quantifikatoren  193 A5.3.1 Auf Teilgruppen und Teilquanten bezogene Quantifikatoren  193 A5.3.2 Universale (auf die maximale Individuensumme/Teilquantensumme bezogene) Quantifikatoren  199 A5.3.3 Proportionale Quantifikatoren  201 A5.3.4 Quantifizierende Vergleichskonstruktionen, koordinierte und negierte Quantifikatoren  205 A5.3.5 Übersicht zu den Modifikationsmöglichkeiten bei den Quantifikatorenklassen  208 A5.4 Distributivität  209 A5.4.1 Allgemeines  209 A5.4.2 Zusammenspiel mit dem Prädikatsausdruck  210 A5.5 Implikationen und Implikaturen bei Quantifikatoren  215 A5.5.1 Skalare Relationen zwischen Quantifikatoren  215 A5.5.2 Monotonizität von Quantifikatoren  216

Gisela Zifonun

A5 Nominale Quantifikation A5.1 Einführung Durch die funktionale Domäne ,nominale Quantifikation‘ wird eine Beschränkung im Hinblick auf die Größe – als durch die Operationen des Zählens und Messens bestimmbare Eigenschaft – der Extension des Nominals vorgenommen. Wie bei anderen funktionalen Domänen gibt es keine eindeutige Korrelation mit einer Wortklasse, einer Konstituentenkategorie oder einer syntaktischen Konstruktion. Vielmehr können unterschiedliche Wortklassen (determinativische Pronomina wie DEU alle, einige, Ausdrücke einer spezifischen Klasse der Numeralia wie POL pięć, die den syntaktischen Status von Nomina haben, Adjektive wie ENG two) und Konstruktionstypen (einfache Juxtaposition mit dem Kopfsubstantiv wie in ENG two books, possessive Konstruktion wie in ENG both of the children, Numerativkonstruktion wie in UNG két szelet sonka ,zwei Scheiben Schinken‘) diese funktionale Domäne realisieren. Auch rein morphologische Markierung, nämlich die Numerusmarkierung, ist eine Ausdrucksform nominaler Quantifikation. Im Anschluss an Gil (2001) gebrauchen wir ‚Quantifikator‘ für freie Formen oder Syntagmen, die diese funktionale Domäne realisieren. In Gil (2001: 1275) werden „quantifiers“ definiert als „free-standing expressions whose meanings involve the notion of quantity such as English three, several, numerous, most, every, one hundred and twenty, all but seventeen, and so forth“. Durch das Kriterium des „freien Vorkommens“ („free standing“) werden „quantifiers“ von den Numerus-Kategorien abgegrenzt, mit denen sie „semantically related“ sind (ebd.: 1290). (Als deutsches Äquivalent für „quantifier“ wählen wir ‚Quantifikator‘. Quantifikativa/Quantifikativpronomina sind ebenso wie z. B. Numeralia eine Subklasse der Quantifikatoren.)  

,Verbale Quantifikation‘ (,viermal schlafen‘, ,immer/überall schlafen‘) ist nach Gil (2001: 1280) „more highly marked“ – gegebenenfalls sogar sekundär zur nominalen. In unseren Vergleichssprachen ist etwa (ad)verbale Ereignis-Quantifikation morphologisch in der Weise komplex, dass Numeralia mit zeitbezeichnenden oder aus Ausdrücken der Zeitmessung grammatikalisierten Substantiven kombiniert werden wie in ENG four times, POL cztery razy (razy ,Hieb, Schlag, Fall, Mal‘, PL ), DEU vier Mal (Mal ,signum, vices‘), vgl. auch FRA quatre fois (fois < LAT vices ‚Umdrehung, Folge‘, PL ). Nur die ,quantitativ unbestimmten‘ Quantifikatoren wie DEU viel, wenig, genug, FRA beaucoup, peu, assez, ENG much, little, enough werden auch adverbal gebraucht.

Nominale Quantifikation wird in allen Vergleichssprachen ‚kontinuierlich‘ realisiert im Sinne von Gil (2001: 1280 f.), d. h. innerhalb der nominalen Konstituente, auf die sie semantisch bezogen ist, dabei keineswegs notwendigerweise direkt adjazent zum nominalen Kopf. In anderen Sprachen ist auch die Möglichkeit einer ‚diskontinuierlichen nominalen Quantifikation‘ gegeben, in der Weise, dass etwa ein Numerale als  



186

A Funktionale Domänen

Präverb erscheint wie im Kutenai (gesprochen in der Grenzregion USA/Kanada) oder als Satzadverb wie im Japanischen. Die im Deutschen und eingeschränkter auch im Englischen und Französischen mögliche Distanzstellung von Quantifikatoren, das so genannte floating, wie in DEU Kinder hat er viele ist als gegenüber der kontinuierlichen Realisierung (Er hat viele Kinder) markiert und als sekundär einzustufen. Die Tatsache, dass Quantifikatoren als Teile der NP erscheinen, wird in der Forschung unterschiedlich interpretiert. Rijkhoff (2004) betrachtet sie neben den qualifying und localizing modifiers als dritte Art der Modifikatoren in der NP, als quantifying modifiers. In der theoretischen Linguistik hingegen ist seit der einflussreichen Publikation von Barwise/Cooper (1981) die Theorie der Generalized Quantifiers (GQ, „Generalisierte Quantoren“) verbreitet. Hier wird die gesamte NP, nicht etwa ein ggf. vorhandener, im landläufigen Sinne quantifizierender Teilausdruck, als GQ betrachtet. Die für Ausdrücke wie zwei Bücher als angemessen betrachtete Analyse (‚diejenige Menge von VP-Denotaten, so dass zwei Bücher in ihnen enthalten sind‘) wird auf NPs beliebiger Art generalisiert. Diese intuitiv schwer zugängliche Interpretation geht letztlich darauf zurück, dass NPs (vgl. z. B. kein Mensch) nicht in einem direkten Sinne Individuen denotieren, wie dies zunächst für Eigennamen angenommen werden könnte (→ A2). Wir können die Analyse vereinfacht so verstehen: GQ-Denotate werden als Mengen von VP-Denotaten (also von Prädikaten/Eigenschaften) verstanden, und zwar als diejenige Menge von Prädikaten, die auf die entsprechenden Individuen zutreffen. Wenn z. B. die Aussagen Zwei Bücher amüsieren und Zwei Bücher sind spannend bezüglich einer bestimmten „Welt“ wahre Aussagen sind, so muss in der Menge von VP-Denotaten, die das Denotat von zwei Bücher ist, ,amüsieren‘ und ,spannend sein‘ enthalten sein, da ja diese Prädikate/Eigenschaften auf zwei Bücher zutreffen – dies nun heißt auf der Ebene spezifischer Buch-Individuen, dass zwei Bücher, z. B. Buch a und b, etwa in der Extension von ‚amüsieren‘ enthalten sind und zwei Bücher, z. B. Buch c und d oder Buch b und c usw., in der Extension von ,spannend sein‘.  







Barwise/Cooper (1981) greifen hier auf eine Idee von Mostowski (1957) zurück, vor allem aber auf Montagues Arbeit „The Proper Treatment of Quantification in Ordinary English“ (1973). Barwise/ Cooper (1981: 165) illustrieren ihr Konzept an der Analyse, die sie für some person sneezed, every man sneezed, most babies sneezed jeweils geben. (Some person) x̂ [sneeze (x)] bzw. einfacher (Some person) (sneeze) (Every man) x̂ [sneeze (x)] bzw. einfacher (Every man) (sneeze) (Most babies) x̂ [sneeze (x)] bzw. einfacher (Most babies) (sneeze) „These sentences will be true just in case the set of sneezers (represented either by x̂ [sneeze (x)] or by sneeze) contains some person, every man, or most babies, respectively.“ (ebd.). Auch auf Eigennamen wird die Analyse übertragen. Auch sie werden als GQ behandelt, so dass ein Eigenname wie Harry analysiert werden kann „as denoting the family of sets which contain Harry“ (ebd.: 166). Die Quantifikatoren in unserem Sinne werden dann als Ausdrücke (im logischen Sinne als Funktionen) interpretiert, die aus dem Rest der NP, der semantisch als Prädikat/ Eigenschaft interpretiert wird, eine Menge von Prädikaten/Eigenschaften erzeugt, und zwar die Menge der VP-Denotate, die auf die Individuen des NP-Denotats zutreffen. Wie u. a. in Keenan/ Moss (1985: 75) gezeigt, ist dieser Ansatz (Quantifikatoren als Funktionen von Eigenschaften in Mengen von Eigenschaften) „mathematisch äquivalent“ mit dem Ansatz, Quantifikatoren als  

187

A5 Nominale Quantifikation

Relationen zwischen Eigenschaften (Rest-NP-Denotaten) und Eigenschaften (VP-Denotaten) zu interpretieren. Dies nun ist genau der Ansatz, der in Keenan/Paperno (Hg.) (2012) bzw. Keenan (2012) vertreten wird, an den wir unten bei der semantischen Analyse anschließen, vgl. Keenan (ebd.: 1): „We take the basic semantic type of quantifiers to be a relation between two properties, extensionally two sets, and we say they have type (1,1). No barber shaves himself relates the set of barbers and the set of people who shave themselves. NO says their intersection is empty.“ Partee (1995a: 544) stellt die „hierarchische“ Form des GQ-Ansatzes und die flachere Form, die z. B. bei Keenan gewählt wird, so gegenüber:  

(a) (b)

Generalized quantifiers: [D(A)](B) Relational treatment of determiners: D(A,B)

Bezüglich der dreiteiligen Struktur (b) wird verbreitet zwischen Restriktor A (restrictor) und Nukleus B (nuclear scope) der Quantifikation unterschieden. Sie legt im Gegensatz zu Struktur (a) keine syntaktische Konstituentenbildung zwischen dem determiner/Quantifikator D und dem Restriktor A in Form einer NP nahe. Da höchst umstritten ist, ob alle Sprachen der Welt über (quantifizierende) NPs verfügen – als Gegenbeispiele werden Wakash- und Salish-Sprachen an der Nordwestküste Nordamerikas und australische Sprachen wie Warlpiri genannt –, wird z. B. auch von Partee (1995a) diese dreiteilige Struktur als sprachübergreifender gemeinsamer Nenner für die Analyse der Quantifikation präferiert.  

Im Folgenden werden wir nicht an die Theorie der Generalisierten Quantoren anschließen, sondern wie bereits in der IDS-Grammatik sowie im Kapitel zum Numerus (→ B2.3) an die von Link (1983, 1991) entwickelte Pluralsemantik. In diesem Ansatz werden NPs – wie es eher der Intuition und dem syntaktischen Befund entspricht – als objektdenotierend interpretiert, vgl. auch → A2.5. Im Falle von Plural-NPs handelt es sich dann um „Pluralobjekte“ (Link 1991: 433) bzw. Pluralitäten oder auch Vielheiten. Quantifikatoren, so wollen wir annehmen, operieren in der Regel semantisch auf (der Extension von) echten Pluralprädikaten, indem sie diese auf Mengen von (Teil-) Gruppen dieser Extension abbilden. Nur das Numerale DEU ein-, FRA un, UNG egy (in diesen Sprachen homonym, aber nicht identisch mit dem indefiniten Artikel), ENG one, POL jeden operiert auf unechten Pluralprädikaten, indem es die Einzelobjekte aus dem Summenverband aussondert. Wie auch bei DEU jeder, FRA chaque, ENG every, each, POL każdy liegt zwar Singularmorphologie vor, semantisch ist jedoch von Pluralprädikaten auszugehen. Eine solche Inkongruenz zwischen Numerusmorphologie und Semantik gilt unter den Vergleichssprachen ganz besonders für das Ungarische, wo in NPs mit Quantifikator grundsätzlich die Singularform gesetzt wird. Auch für die anderen finnougrischen Sprachen trifft dies in der Regel zu. In Sprachen wie Mandarin weisen die substantivischen Köpfe von NPs in aller Regel keine Pluralmorphologie auf, wenn auf Vielheiten irgendwelcher Art Bezug genommen wird. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass nicht nur über Individuiertes (wie z. B. mit viele Goldstücke), sondern auch über Kontinuatives (wie z. B. mit viel Gold) quantifiziert wird. Wir schließen uns hier der weithin anerkannten Herangehensweise (vgl. z. B. Krifka 1991; Löbner 2016) an, die Semantik von Kontinuativa in bestimmten Aspekten analog zur Pluralsemantik (von Individuativa) zu betrachten. Die wesentli 





188

A Funktionale Domänen

che Parallele besteht in der Kumulativität bzw. ,Summativität‘ von Plural- und Kontinuativobjekten: Fügt man zu einem Pluralobjekt, das zutreffend z. B. als ,Goldstücke‘ charakterisiert werden kann, weitere Entitäten mit derselben Eigenschaft hinzu, handelt es sich wiederum um ein entsprechendes Pluralobjekt, also z. B. um Goldstücke. Ebenso verhält es sich, wenn man z. B. zu einem Quantum Gold ein weiteres Quantum dieses Stoffes hinzufügt. Auch mit Bezug auf dieses vergrößerte Stoffquantum kann zutreffend von ,Gold‘ gesprochen werden (vgl. auch → B1.4.2.1). Ähnlich wie wir die Extension eines Pluralprädikats als aus Summen von Individuen aufgebaut betrachten können, die untereinander durch die Teilgruppenbeziehung geordnet sind (vgl. → B2.3.1), können wir die Extension eines Kontinuativobjekts als aus ‚Quantensummen‘, also Quanten eines konkreten oder abstrakten ,Stoffs‘ oder eines Kollektivs, aufgebaut betrachten, die untereinander durch eine Teilquantenbeziehung geordnet sind. Viel Gold bezeichnet dann Teilquanten aus dieser Extension, deren Größe oberhalb eines Normwertes für Goldquanten (in einem gegebenen Kontext) liegt. Wie im Kapitel zum Numerus (→ B2.3) ausgeführt, entspricht der in der quantifizierten NP enthaltene N-- oder NOM-Ausdruck einem ,Pluralprädikat‘ (sofern es sich um ein Individuativum handelt) oder einem ,Quantenprädikat‘ (sofern es sich um ein Kontinuativum handelt).  





A5.2 Überblick zu den Formen nominaler Quantifikation Im Folgenden befassen wir uns nur mit den Formen nominaler Quantifikation, die innerhalb der NP einen eigenen Ausdruck durch lexikalische oder syntagmatische Mittel, also durch ,Quantifikatoren‘, finden; die Numerusmarkierung bzw. andere rein morphologische Markierungsformen bleiben unberücksichtigt. Keenan/Paperno (Hg.) (2012) unterscheiden wie bereits Partee (1995a) und Gil (2001) (vgl. → A5.1) zwischen „D-Quantifiers“ (determiner quantifiers) und „A-Quantifiers“ (adverbal quantifiers, die aber nach Keenan (2012: 1) insgesamt folgende Formen haben können: „verbal affixes, pre-verbs, auxiliary verbs, or predicate modifiers (adverbs, PPs)“). Nominale Quantifikatoren fallen dabei insgesamt unter den sehr weit gefassten Begriff des D-Quantifiers, mit dem nicht nur Determinative bzw. adnominale Pronomina wie jeder, einige, sondern auch attributive Adjektive wie drei, viel oder komplexe nominale Formen wie die quantifizierenden Teile von Numerativ- oder Quantifikator-alsKopf-Konstruktionen (jeder der Männer) gemeint sind. Gemäß dem hier vorliegenden Ansatz handelt es sich, sofern explizit quantifizierende Ausdrücke vorliegen, nicht um die funktionale Domäne der Identifikation, die z. B. durch die Artikel realisiert wird, sondern um Quantifikation. Wir können dennoch weitgehend an die bei Keenan (2012) entwickelte semantisch motivierte Subklassifikation für den genannten Bereich anschließen.  

A5 Nominale Quantifikation

189

Diese Subklassifikation ging in den Fragebogen ein, der der Beschreibung des Quantifikationssystems der in dem Sammelband Keenan/Paperno (Hg.) (2012) erfassten Sprachen zugrunde liegt.

Im Unterschied zu Keenan betrachten wir aber weder den indefiniten Artikel noch die Negationspronomina (wie DEU kein-) als Quantifikatoren; vgl. dazu → B1.5.5.1. Was im logischen Sinne als Existenzquantifikation bezeichnet wird, ist in unserem Ansatz eine Form von Referenz. Wir fassen daher unter die Klasse der ,teilgruppenbezeichnenden Quantifikatoren‘ nur solche Ausdrücke, mit denen über die reine (Nicht-) Existenzannahme hinaus noch die „Idee der Quantität“ (vgl. oben) verbunden ist wie DEU etliche, viel oder die Kardinalnumeralia. Wie im Kapitel zu Referenz und Identifikation (→ A2) gezeigt, wird in NPs wie Etliche/Viele/Vier neue Häuser wurden hier gebaut zum einen mithilfe der Quantifikatoren quantifiziert, zum anderen aber indefinit referiert. Es wird also neben der funktionalen Domäne Quantifikation auch (per default) die funktionale Domäne der Identifikation realisiert. Wie Keenan schließt Partee (1995a: 581) den definiten Artikel the aus der Quantifikation aus mit der Begründung, dass the anders als all weder Universalität noch Distributivität noch eine bestimmte Kardinalität impliziere. Wir beschränken wie ausgeführt noch weitergehend Quantifikation als funktionale Domäne.

A5.2.1 Konstruktionstypen: juxtapositive und ,possessive Quantifikator-als-Kopf-Konstruktion‘ in (pseudo-)partitiver Lesart An dieser Stelle erfolgt nur ein pauschaler Überblick, der als Grundlage funktionaler Erörterung dienen soll. Zur syntaktischen Strukturierung im Einzelnen vgl. → D1.2.2 und → D5. Im einfachen Fall werden die Quantifikatoren in Form von Adjektiven oder determinativisch gebrauchten Pronomina juxtapositiv mit dem Kopfsubstantiv verbunden wie in DEU einige/alle/viele/fünf Menschen. Dabei kann sprachabhängig morphologische Kongruenz gefordert sein. Einen Sonderfall von komplexer ‚nominaler Quantifikation‘ stellen so genannte ‚Numerativkonstruktionen‘ (vgl. Krifka 1991: 401–403) dar wie in zwei/viele Liter Bier, zwei/einige Scheiben Brot, zwei/alle Stück Vieh usw. Wie die Beispiele zeigen, gehen die oben genannten einfachen Mittel der Quantifikation (z. B. zwei, viele, einige, alle) als Teile in Numerativkonstruktionen ein, dazu → D5. Neben der Juxtaposition existiert in allen Vergleichssprachen die ,Quantifikatorals-Kopf-Konstruktion‘. Hier wird, zumindest auf der syntaktischen Ebene, der Quantifikator zum Kopf der Konstruktion und das Kernnominal wird mittels eines Relationsmarkers, eines Kasusmarkers bzw. einer Adposition, als vom Quantifikator dependente Phrase ausgewiesen.  

190

A Funktionale Domänen

In allen Vergleichssprachen kann hier die bzw. eine der Konstruktionen für possessive Attribution herangezogen werden. Im Deutschen sind Genitiv und vonPhrase möglich, im Englischen nur die of-Phrase, im Französischen wird die Präposition de gebraucht, im Polnischen der Genitiv. Im Ungarischen ist die possessive Konstruktion (dependente Phrase im Nominativ/Dativ, Kopfsubstantiv mit Possessormarker) z. B. bei mindegyik ,jeder‘ im Gebrauch.  

(1) DEU ENG FRA

viele der Studenten / zwei von den Studenten many of the students / two of the students beaucoup des étudiants / deux des étudiants

(2) POL

dużo studentów viel Student.GEN .PL ,viele Studenten‘

(3) UNG

a

diákok Schüler.PL ,jeder der Schüler‘ DEF

/

wiele/wielu viel/viel.MPERS

studentów Student.GEN .PL

mindegyike jeder.3SG

Dabei gehört (vgl. Swan 2002: 196) wiele/wielu (ebenso wie ile ,wie viel(e)‘, kilka ‚einige, wenige‘ und weitere bei Swan so genannte „indefinite numerals“, also ‚quantitativ unbestimmte‘ Numeralia, und die Zahlen 5–900) zu den Quantifikatoren, die nur in den direkten Kasus (Nominativ/Akkusativ/Vokativ) den Genitiv regieren, sich also wie „quasi-nouns“ verhalten; in den indirekten Kasus folgen sie dagegen „adjektivischer Syntax“, kongruieren also im Kasus mit dem Kernsubstantiv. Adverbien wie dużo ,viel‘, mało ,wenig‘ usw. hingegen regieren durchgehend den Genitiv. Die ,Quantifikator-als-Kopf-Konstruktion‘ stellt eine Form des „dependency reversals“ (vgl. Malchukov 2000) dar, insofern als nicht der Ausdruck mit der Funktion der Nomination, sondern der quantifizierende Teilausdruck syntaktisches Regens wird. Da der zum Kopf avancierte Quantifikator die Bezeichnung für eine Teilgruppe/ein Teilquantum aus der (virtuellen) vom Kern denotierten Gesamtheit darstellt, wird häufig unter Annahme eines ikonischen Verhältnisses zwischen Syntax und Semantik, auch von ,partitiver Relation/Konstruktion‘ gesprochen. Wir reservieren den Terminus ,partitiv‘ jedoch für die semantische Ebene. Semantisch ist bei ,Quantifikator-als-Kopf-Konstruktionen‘ zwischen „echten“ partitiven und pseudo-partitiven Verhältnissen zu unterscheiden. Bei partitiven Verhältnissen im engeren Sinne ist die dependente Phrase, also das Kernnominal referentiell wie in Beispiel (1), in pseudopartitiven (2) ist dies nicht der Fall. Die pseudo-partitive Verwendung der Konstruktion ist nach Koptjevskaja-Tamm (2001a: 535) eine Grammatikalisierung der partitiven Verwendung, die in den Vergleichssprachen unterschiedlich weit zur Anwendung kommt. Das Deutsche und das Englische kennen das pseudo-partitive Muster zwar im

A5 Nominale Quantifikation

191

Rahmen von Numerativkonstruktionen (vgl. z. B. Behälter-Konstruktionen wie DEU eine Tasse heißen Tees, ENG a cup of hot tea sowie → D5), nicht jedoch im Allgemeinen zum Ausdruck von einfacher Quantifikation bei Individuativa. Genau dies ist bei gewissen quantifizierenden Adverbien im Französischen der Fall und noch weit umfangreicher bei der Quantifikation im Polnischen; vgl. dazu z. B. Swan (2002: 331 f.), wo die verschiedenen Unterfälle des „genitive of quantity and amount“ aufgezählt werden. Im Französischen ist der Unterschied zwischen partitivem und pseudo-partitivem Verhältnis im Allgemeinen erkennbar: Bei referentiell-partitiven Verhältnissen ist das Kernnominal artikelhaltig, wie in (1) für das Französische gezeigt, wobei der definite Artikel auch in Verschmelzungen (des für *de les) integriert sein kann; bei pseudo-partitiven steht unveränderlich de (bzw. d’):  





(4) FRA POL

beaucoup d’étudiants wiele/wielu studentów ,viele Studenten‘

In der artikellosen Sprache Polnisch wäre der Unterschied dagegen formal nicht erkennbar. Soll ein partitives Verhältnis bei referentiellem Kernnominal ausgedrückt werden, wird daher in der Regel auf eine präpositionale Konstruktion zurückgegriffen: (5) POL

wielu spośród (tych) aus.unter (DEM . GEN .PL ) viel.MPERS ,viele der/dieser Studenten‘

studentów Student.GEN .PL

Auch im Ungarischen wird bei partitivem Verhältnis eine postpositionale Konstruktion gewählt: (6) UNG

a

diákok közül Student.PL zwischen ,viele/zwei der Studenten‘ DEF

sokan/ketten viel.ADV /zwei.ADV

Im Englischen ist bei universaler Quantifikation mit all, nicht aber mit every, im Deutschen und Französischen hingegen mit jeder bzw. chacun die possessive Quantifikator-als-Kopf-Konstruktion in partitiver Lesart möglich, ähnlich auch UNG mindegyik, vgl. (3). (7) DEU ENG FRA

jeder der Studenten all of the students chacun des étudiants

192

A Funktionale Domänen

Bei Quantifikatoren auf substantivischer Basis wie ENG a lot, a couple, plenty wird auch im Englischen obligatorisch, also sowohl bei partitivem als auch bei pseudopartitivem Verhältnis, die Quantifikator-als-Kopf-Konstruktion mit of gewählt, während das im Deutschen etwa bei ein bisschen, ein paar nicht der Fall ist (vgl. ein bisschen Zucker, ein paar Leute). Pluralisches DEU Dutzende, Hunderte, Tausende, Millionen wird fakultativ als Kopf mit abhängiger possessiver PP/NP konstruiert (Dutzende/Tausende Schaulustiger, Hunderte von Schaulustigen), daneben ist aber auch Juxtaposition mit dem Kernsubstantiv üblich: Dutzende Schaulustige. Im Französischen entspricht dem teilweise eine Suffixableitung auf -aine bzw. -ier wie in FRA des douzaines de ,Dutzende‘, des centaines de ,Hunderte‘, des milliers de ,Tausende‘. Auch im Polnischen (dziesiątki ,Dutzende‘, setki ,Hunderte‘, tysiące ,Tausende‘, miliony ,Millionen‘) und im Ungarischen (tucatjai ,Dutzende‘, százai ,Hunderte‘, ezrei ‚Tausende‘) wird hier possessiv konstruiert mit dem Quantifikator als Kopf. Bei den deutschen Formen gibt es Gebrauchsschwankungen, sowohl hinsichtlich der Morphologie als auch der Syntax und der (Groß-/Klein-)Schreibung, die mit Unsicherheiten bezüglich des Status als Adjektiv oder Substantiv bzw. einer nur unvollständig vollzogenen Substantivierung zusammenhängen. Im Genitiv wird bei Fehlen eines Determinativs regelmäßig adjektivisch (stark) flektiert: die Anwesenheit Dutzender Schaulustiger. Nach Determinativen wie der, dieser ist adjektivische (schwache) oder substantivische Flexion möglich: diese Dutzende(n) von Schaulustigen, dieser Dutzende(n) von Schaulustigen. In diesem Fall ist die Quantifikator-als-Kopf-Konstruktion üblicher, entgegen der Behauptung in Kobele/Zimmermann (2012: 238) ist jedoch auch juxtapositive Konstruktion nicht ausgeschlossen: (8)

Nicht zu vergessen die hunderte Opfer, die teils schwer verletzt und verstümmelt worden sind. (dpa, 17.09.2009)

(9)

Die hunderte Fans, die draußen in der Kälte fromm darauf warteten, reingelassen zu werden, wären umgekippt, wenn sie die beiden gehört hätten. (Berliner Zeitung, 08.04.2003)

Auch hier konstruiert das Englische obligatorisch mit of (dozens/hundreds/thousands/ millions of onlookers). Man beachte, dass diese auf Kardinalzahlen zurückgehenden Substantivierungen ihrerseits nicht mit einem Kardinalnumerale, also einer exakten Quantitätsangabe, verbunden werden können, sie sind „non-count“. Im Deutschen wird bei Hinzufügung eines Kardinalnumerales obligatorisch das zusammengesetzte adjektivische Zahlwort gesetzt, im Englischen kann auch eine „iteration of the head + complement construction“ vorgenommen werden (Huddleston/Pullum 2002: 351). In solchen Verbindungen kann auch das Zahlwort ten substantiviert werden: (10) DEU ENG

*zehn Tausende von Sternen versus zehntausend Sterne *ten thousands of stars versus tens of thousands of stars

Wir zeigen obligatorische Quantifikator-als-Kopf-Konstruktion in pseudo-partitiver Lesart durch Nennung des entsprechenden Markers an.

A5 Nominale Quantifikation

193

A5.3 Subklassifikation der nominalen Quantifikatoren A5.3.1 Auf Teilgruppen und Teilquanten bezogene Quantifikatoren Hier bezeichnet die quantifizierte NP diejenige Menge der echten Teilgruppen/Teilquanten, die über dem in der NP enthaltenen N- bzw. NOM-Ausdruck (als Plural- oder Quantenprädikat) gebildet werden kann, die eine der Bedeutung des Quantifikators entsprechende Größe haben. Diese Subklasse heißt bei Keenan (2012: 2) „existential (intersective) quantifiers“ und ist so definiert: „Here, for Q a quantifier, and A, B sets, Q(A)(B) is determined by AÇB, the set of As that are Bs.“ Dabei ist A das Denotat des NOM-Ausdrucks (des ,Restriktors‘) und B das Denotat des Restsatzes (des ,Nukleus‘).

Keenan berücksichtigt hier nicht die – von ihm so genannte – intersektive Quantifikation bei kontinuativen Entitäten, sondern behandelt diese getrennt. Die Datenlage, nach der bei Gruppe 1) ‚teilgruppenbezeichnende Quantifikatoren des mittleren Skalenbereichs‘ (siehe unten) für Individuativa und Kontinuativa häufig dieselben Ausdrücke gebraucht werden, legt jedoch, wie bereits angedeutet, eine gemeinsame Analyse nahe. Mit einem Satz wie (a) Viel Gold liegt im Safe etwa wird eine vergleichbare quantitative Aussage gemacht wie mit (b) Viele Schmuckstücke aus Gold liegen im Safe. Nur dass bei (b) über Objekte quantifiziert wird, bei (a) über Stoffquanten. In Link (1991) und Krifka (1991) wird eine verbands-, nicht mengentheoretische formale Semantik entwickelt, in der Plurale und Kontinuativa eine analoge Struktur aufweisen. Man kann dann (a) analysieren als: ,Es gibt eine Summe von Goldquanten, die im Safe liegt und die einen erwartbaren Normwert übersteigt‘, ähnlich wie man (b) analysieren kann als ,Es gibt eine Individuensumme von Schmuckstücken, die im Safe liegt und die einen erwartbaren Normwert übersteigt‘.  

1.

Teilgruppen und Teilquanten bezeichnende Quantifikatoren des mittleren Skalenbereichs

Hierher gehören sowohl (als Determinative verwendete) Pronomina als auch Adjektive bzw. Pronominaladjektive (bezüglich des Polnischen und Ungarischen) und flektierbare Numeralia, die wir jeweils zusammenfassend behandeln, als auch Adverbien und feste Verbindungen. Zugeordnet werden auch die bei Keenan so genannten „value judgment quantifiers“ wie ENG many, few, enough (in einer ihrer Lesarten). Diese, so argumentiert Keenan (2012: 29) unter Berufung auf Moltmann (1996), können intersektiv gebraucht werden, wenn sie sich auf einen „erwarteten Wert“, also eine (als Norm) erwartbare Anzahl (vgl. z. B. Hans besitzt viele Bücher) oder einen Durchschnittswert (z. B. Alle Kinder besitzen etliche Bücher, aber Hans hat besonders  



194

A Funktionale Domänen

viele) beziehen, nicht auf eine Proportion (vgl. z. B. Viele der Bücher von Hans sind englische Romane). Man beachte, dass mit DEU zahlreich, ENG numerous, FRA nombreux, POL liczny, UNG számos ein Quantifikator ohne proportionale Lesart vorliegt, der in etwa ,viele‘ als „value judgment“ entspricht. Auch FRA tant, POL tyle ,so viel(e)‘ sowie FRA trop ,zu viel(e)‘ ordnen wir hier ein: Hier wird neben der Quantifikation ausgedrückt, dass der Wert den „erwartbaren Wert“ überraschenderweise bzw. bedauerlicherweise überschritten hat. Gerade bei den Quantifikatoren des „value judgment“ ist sprachübergreifend auch der Typ der bei Keizer (2007: 109) so genannten quantifier-noun constructions (z. B. ENG a number of people, DEU eine Menge Leute) stark ausgeprägt. Hier werden Substantive abstrakter Natur (wie DEU Menge, Anzahl, ENG number, amount, FRA quantité, (bon) nombre, POL ilość, liczba, UNG mennyiség, szám) oder Bezeichnungen für konkrete „Anhäufungs“formen (wie DEU Haufen, ENG load ‚Ladung‘, FRA paquet ,Paket’, POL góra ,Berg‘, kupa ,Haufen‘, UNG csomó ,Haufen‘) herangezogen, um auf eine unbestimmte bzw. größere Anzahl oder ein unbestimmtes Quantum abzuheben. In den Artikelsprachen wird generell der indefinite Artikel gesetzt; im Deutschen existiert daneben die feste Verbindung jede Menge (Leute/Gold). Die Kombination mit einem Zahlwort ist ausgeschlossen; sie sind „non-count“. Dieser Typ wird als Grenzfall der Numerativkonstruktion in → D5.2.1 ausführlicher behandelt. Verwandt mit diesen Konstruktionen, insofern sie vage und häufig mit Emphase gebraucht werden, ist die in der deutschen Umgangssprache verbreitete Quantifikation mit zig (z. B. zig Bücher und Filme zu diesem Thema). Die freie Form zig geht auf das Numeralaffix für die Zehner-Zahlen (wie z. B. in fünfzig) zurück und kann wie die Kardinalnumeralia selbst nur mit Individuativa (im Plural) verbunden werden (vgl. Kobele/Zimmermann 2012: 237 f.)  









genug und seine Entsprechungen verhalten sich zum Teil idiosynkratisch: Im Deutschen und Englischen kann genug/enough dem Kopfsubstantiv auch nachgestellt werden: DEU Es gab genug Brot / Brot genug, ENG There was enough bread / bread enough. Im Deutschen, Englischen und Französischen hat genug/enough/assez bereits die Bedeutung ,genügend viel‘. Die (pleonastische) Verbindung viel genug X kommt gesprochensprachlich vor, z. B. Traue mir das nur nicht zu umzusetzen, weil ich davon nicht viel genug Ahnung habe (Wikipedia-Diskussion), nicht jedoch ENG *much enough (bread), FRA *assez beaucoup (de pain). Im Ungarischen hingegen heißt es elég sok kenyér ,genug viel Brot‘, während im Polnischen die Varianten mit und ohne dużo ,viel‘ bei teilweiser Bedeutungsdifferenzierung möglich sind: Mam dość/dosyć dużo chleba ,Ich habe ausreichend viel Brot‘, Mam dość/dosyć chleba ,Ich habe ausreichend viel Brot‘, ,Ich habe das Brot satt‘. Die deutsche Verbindung wenig genug wie z.B in Etwas weniger Arbeitslose, aber nicht wenig genug (Rhein-Zeitung, 09.05.1998) hat auch linear ihre direkte Entsprechung in ENG little enough (time) / few enough (friends), während im Französischen umgekehrt linearisiert wird, vgl. FRA assez peu (de temps) / d’amis.  

Wir unterscheiden nach der Kombinierbarkeit mit Individuativa (im Plural) bzw. mit Kontinuativa bzw. mit beiden Klassen von Substantiven:

A5 Nominale Quantifikation

195

1.1 Ausdrücke, die nur mit Individuativa kombinierbar sind Einfache lexikalische Einheiten: Pronomina, Adjektive, Pronominaladjektive, flektierbare Numeralia: DEU ENG FRA POL UNG

mehrere, zahlreich, zahllos several ‚mehrere‘, many ,viele‘, few ,wenige‘ quelques ,einige‘, certains ‚einige‘, plusieurs ‚mehrere‘ kilka ‚einige‘, liczne ,mehrere‘ néhány ‚einige‘, pár/egypár ‚ein paar‘, számos ‚zahlreich‘, számtalan ,zahllos‘

Feste Verbindungen: DEU ENG

ein paar a few ‚einige wenige‘

1.2 Ausdrücke, die nur mit Kontinuativa kombinierbar sind: Einfache lexikalische Einheiten: Pronomina, Adjektive, Pronominaladjektive, flektierbare Numeralia: DEU ENG

etwas much/more/most ,viel‘, little/less/least ,wenig‘

Feste Verbindungen: DEU ENG

ein bisschen, ein wenig a bit (of) ,ein bisschen‘, a little ,ein wenig‘

1.3 Ausdrücke, die mit Individuativa und Kontinuativa kombinierbar sind: Einfache lexikalische Einheiten: Pronomina, Adjektive, Pronominaladjektive, flektierbare Numeralia: DEU ENG POL UNG

genug, genügend some ‚etwas, einiger‘, enough, sufficient ‚genug, genügend‘ niektóry ‚einiger‘, pewien ,einiger‘, wiele ,viel(e)‘, tyle ,so viel(e)‘, parę ‚einige, ein paar‘, ile ,wie viel(e)‘ kevés ‚wenig‘, rengeteg ,sehr viel‘, sok ,viel‘, elég ,genug‘

196

A Funktionale Domänen

Adverbien ((pseudo-)partitiv): FRA POL

assez, beaucoup, combien, tant, trop, peu dużo ‚viel(e)‘, mało ‚wenig(e)‘, sporo ,ziemlich viel(e)‘

Feste Verbindungen: ENG FRA

plenty (of), a lot (of) un peu (de) / quelque peu (de) ,ein wenig‘ (Plural selten, vgl. Grevisse/ Goosse 2011 : 843), un brin (de) ,ein wenig‘ (wörtl.: ,ein Stängel/Halm von‘)

Bestimmte Gruppen dieser Quantifikatoren lassen eine Modifikation im Sinne einer Gradabstufung zu: Die Modifikation durch ,sehr‘ (oder die Entsprechungen von äußerst, extrem, ungemein, ziemlich usw.) kann adjektivische Quantifikatoren wie DEU viel, wenig, zahlreich ENG few, many, much, little von pronominalen Quantifikatoren wie DEU einige, mehrere, ENG several unterscheiden (sehr viele Bücher versus *sehr einige Bücher). FRA peu (Adverb) lässt eine entsprechende Modifikation (mit très, assez, bien, fort usw.; vgl. Grevisse/Goosse 2011: 1287) zu: très peu de livres ,sehr wenige Bücher‘, beaucoup dagegen nicht: *très beaucoup de livres ,sehr viele Bücher‘, dagegen ENG very many books, very few books, POL bardzo dużo książek, UNG nagyon sok könyv. In POL sporo ,ziemlich viel‘, UNG rengeteg ,sehr viel‘ ist die Abstufung Teil der lexikalischen Bedeutung. Gewisse Quantifikatoren schließen lexikalisch-semantisch eine solche Abstufung aus: *sehr genug/zahllose Regeln. Die ,paukale‘ Gruppe erlaubt das Hinzutreten von ,nur‘: DEU nur wenige Kinder, ENG only few children, FRA seulement peu d’enfants, POL tylko niewiele dzieci, UNG csak kevés gyerek. Bei den festen Verbindungen aus dem indefiniten Artikel und Quantifikator werden ggf. adjektivische Ausdrücke wie ,klein‘ zur Abstufung herangezogen: ENG a (very) little bit of distance/luck, FRA un (très) petit peu de distance / de bonheur, DEU ein (ganz) klein wenig Abstand, ein klein(es) bisschen Glück. In Kombination mit ein … wenig ist das Adjektiv klein stets unflektiert, bei ein … bisschen ist die flektierte Form nach D E R E K O häufiger als die unflektierte. 2.

Kardinalnumeralia

Zum Wesen der nominalen Quantifikation mithilfe von Kardinalnumeralia gehört, dass sie, zumindest was die hier berücksichtigten Sprachen angeht, ausschließlich mit Individuativa kombinierbar sind. Die numerische Quantifikation mit Bezug auf Kontinuativa setzt eine „Aufbereitung“ ihres Denotats in zählbare Entitäten, etwa Portionen, Stücke, Behälterinhalte, voraus. Dies geschieht mithilfe sogenannter Numerativkonstruktionen wie POL trzy kromki chleba, DEU drei Scheiben Brot oder ENG three slices of bread, die in → A5.2.1 kurz charakterisiert und ausführlich in → D5 behandelt werden. Kardinalnumeralia sind in den Vergleichssprachen in der Regel als  

A5 Nominale Quantifikation

197

Adjektive einzuordnen, die sprachspezifisch in attributiver Funktion nicht (ENG, UNG) oder nur marginal flektiert werden (DEU ein, markiert zwei, drei, FRA un). Nur im Polnischen zeigen die Numeralia ein stark differenziertes Flexionsverhalten (vgl. → C5.6.2). Die numerische Quantifikation mit Kardinalzahlen schließt eine Gradabstufung durch sehr usw. kategorisch aus, dagegen sind Öffnungen nach oben (drei und mehr, mindestens drei, mehr als drei) bzw. nach unten (höchstens drei, weniger als drei) sowie Genauigkeitsabschwächungen und -verstärkungen möglich (ungefähr drei, genau drei) sowie, vor allem bei größeren Anzahlen, die Kombination mit ,fast‘. Diese Art der Modifikation ist ihrerseits bei den Quantifikatoren des mittleren Skalenbereichs der Gruppe 1) ausgeschlossen; die beiden Gruppen verhalten sich also in diesem Bereich komplementär. Hinzusetzung von ,nur‘ hingegen ist wie bei den paukalen Ausdrücken möglich. Wir geben einen kleinen Überblick über die Vergleichssprachen: (11) DEU ENG FRA POL UNG

genau drei Kinder/Bücher exactly three children/books exactement/juste trois enfants/livres dokładnie troje dzieci/trzy książki pontosan három gyerek/könyv

(12) DEU ENG FRA POL UNG

höchstens drei Kinder/Bücher at most three children/books au maximum/au plus trois enfants/livres najwyżej troje dzieci/trzy książki legfeljebb három gyerek/könyv

(13) DEU ENG FRA POL UNG

mindestens drei Kinder/Bücher at least three children/books au moins trois enfants/livres przynajmniej troje dzieci/trzy książki legalább három gyerek/könyv

(14) DEU ENG FRA POL UNG

mehr als drei Kinder/Bücher more than three children/books plus de trois enfants/livres więcej niż troje dzieci/trzy książki több mint három gyerek/könyv

198

(15) DEU ENG FRA POL UNG

A Funktionale Domänen

weniger als drei Kinder/Bücher less than three children/books moins de trois enfants/livres mniej niż troje dzieci/trzy książki kevesebb mint három gyerek/könyv

Die genannten Feinabstufungen gelten zwar dem numerischen Wert, insofern ist eine direkte Adjazenz (in unseren Sprachen die Voranstellung) des graduierenden Ausdrucks zum Numerale und eine Konstituentenbildung mit ihm zu erwarten wie in [[mindestens drei] Bücher]. Es ist jedoch sprachübergreifend bei ,mindestens, höchstens‘ auch die Stellung nach dem Kopfsubstantiv möglich. Dies dient – auch unter parenthetischer Absetzung oder als Nachtrag wie in (17) – ggf. der (kontrastiven) Hervorhebung: (16)

Während zehn Jahren mindestens soll der Steuerfluss auf diesem Niveau bleiben, ist die behördliche Zielvorgabe. (St. Galler Tagblatt, 23.05.2008)

(17)

So ein Neuwagen kostet immer noch zwei bis drei Monatsgehälter. Mindestens. (Braunschweiger Zeitung, 28.01.2009)

(18) ENG

The temple must have been built and adorned in a period of some twenty years at most, probably less. ,Der Tempel muss in einem Zeitraum von höchstens um die zwanzig Jahren, wahrscheinlich weniger, gebaut und ausgeschmückt worden sein.‘ (BNC: FPW (A shorter history of Greek art) 1110)

(19) FRA

La réservation est fixée à deux ans au moins et dix ans au plus. ,Die Reservierung ist auf zwei Jahre mindestens und zehn Jahre höchstens festgelegt.‘ (Internet)

Im Französischen scheint die Nachstellung vergleichsweise verbreitet zu sein. Dabei kann eine Rolle spielen, dass au moins (bzw. au minimum) und au plus (bzw. au maximum) die präpositionale Verschmelzung au enthalten, die bei pränominaler Stellung häufig direkt nach einer Präposition wie de oder à zu stehen käme (vgl. bezüglich (19): à au moins deux ans). Für ,mindestens, höchstens n X‘ gibt es (außer im Ungarischen) syntagmatische Periphrasen in Form der indefiniten NP ,ein Minimum/Maximum von n X‘: DEU ein Minimum/Maximum von 10 Jahren, ENG a minimum/maximum of ten years, FRA un minimum/maximum de dix ans, POL minimum/maksimum dziesięć lat:

A5 Nominale Quantifikation

199

(20)

Bei allen am Meer gelegenen Orten müssen Höchstraten für den Touristenstrom festgesetzt werden, etwa ein Maximum von 600 Menschen pro Hektar Strand. (Internet)

(21) ENG

The room has been specially adapted to cater for a maximum of 12 children between the ages of 3 months and 5 years. ,Der Raum ist eigens dafür umgestaltet worden, um maximal 12 Kinder im Alter zwischen 3 Monaten und 5 Jahren zu versorgen.‘ (BNC: G2N [Collection of official leaflets] 1130)

(22) FRA

Elle (la salle polyvalente) peut accueillir un maximum de cent personnes. ,Sie (die Mehrzweckhalle) kann maximal 100 Personen aufnehmen.‘ (Internet)

In vielen Kontexten ist mit ,ein Maximum von n X‘ die Präsupposition verbunden, dass dieser Wert den Höchstwert in einer Vergleichsmenge realisierter Werte darstellt. Diese Präsupposition gilt für ,höchstens/maximal n X‘ nicht; vgl.: (23)

Nach Informationen der Demoscope Weekly stieg die Anzahl der Morde pro 100.000 Einwohner von 15 im Jahr 1991 innerhalb von drei Jahren auf 32,5 im Jahr 1994 an. Bis 1998 fiel sie wieder auf 22,5, um dann 2002 wieder ein Maximum von 30,5 zu erreichen und dann auf 20 im Jahr 2006 zu fallen. (Internet)

A5.3.2 Universale (auf die maximale Individuensumme/ Teilquantensumme bezogene) Quantifikatoren Hier bezeichnet die quantifizierte NP die Einermenge, die die maximale Individuensumme bzw. Quantensumme, die über dem in der NP enthaltenen N- bzw. NOMAusdruck gebildet wird, enthält. Diese Gruppe heißt nach Keenan (2012: 3) auch „co-intersective quantifiers“; sie wird so definiert; „Here QAB (sic!) depends on the property A – B, the set of As that are not Bs.“ Bei den universalen Quantifikatoren ,alle‘, ,jeder‘ usw. ist A – B leer, anders gesagt: Die As sind eine Teilmenge der Bs.

Sprachübergreifend ist diese Gruppe eher klein und besteht aus den im Folgenden genannten einfachen Formen. In Klammern beigefügt sind die so genannten ‚Totalisatoren‘, die in bestimmten Kontexten semantisch den universalen Quantoren entsprechen. Man vergleiche dazu und zum Thema insgesamt → B1.5.5.4.3. Zu beachten ist, dass sprachabhängig morphologisch komplexe Formen zur Bezugnahme auf bestimmte Denotatssorten (wie DEU jedermann, ENG everything) oder zum Ausdruck anderer Restriktionen (wie die zahlenmäßige Beschränkung in UNG mindhárom ,alle drei‘) ausgebildet sind:

200

(24) DEU ENG FRA POL UNG

A Funktionale Domänen

aller, jeder, sämtlich, (ganz) all, every, each, (whole) tout, chaque/chacun, (entier) wszystek, każdy, (cały) az összes, minden, (egész)

Man beachte, dass die Quantifikatoren DEU jeder, ENG each, every, FRA chaque, POL każdy mit singularischen, nicht mit pluralischen N-/NOM-Ausdrücken verbunden werden, während DEU aller, ENG all, FRA tout, POL wszystek, sofern das Kopfnomen ein Individuativum (mit Numeruskontrast, vgl. aber auch ENG all people) ist, eine Pluralform erfordern. Semantisch ist aber auch hier von einem Pluralobjekt auszugehen. Singularmorphologie ist hier dem Merkmal der Distributivität geschuldet, mit dem angezeigt wird, dass die Satzprädikation auf jedes der Atome aus der maximalen Individuensumme zutreffen sollte, nicht etwa auf die Summe als Ganze (vgl. auch → A5.4). Dies ist – neben der generellen Singularmorphologie bei quantifizierten NPs im Ungarischen – ein weiteres Indiz dafür, dass Morphologie und Semantik hier nicht eineindeutig korreliert sein müssen. Syntaktische Komplexität ist nur beschränkt möglich: Neben der Kombination mit ,nur‘ und ,fast‘ kann ,exzeptive‘ Modifikation erfolgen; dabei folgt die exzeptive Phrase sprachübergreifend nicht notwendigerweise auf das Kopfsubstantiv, vgl. (27):  

(25) DEU ENG FRA POL UNG (26) DEU ENG FRA POL UNG

(27) DEU ENG FRA

fast alle Kinder / fast jedes Kind almost all children / almost every child presque tous les enfants / presque chaque enfant prawie wszystkie dzieci / prawie każde dziecko majdnem az összes gyerek / majdnem minden gyerek

alle Kinder außer Hans / alle Kinder bis auf zwei all children but/except for John / all but two children tous les enfants sauf Jean / tous les enfants sauf deux wszystkie dzieci oprócz Janka / wszystkie dzieci oprócz dwojga Jánoson kívül minden gyerek / minden gyerek kettőt kivéve / kettő kivételével minden gyerek

Alle Kinder waren da, außer/bis auf Hans. All children were there, except for John. Tous les enfants étaient là sauf Jean.

A5 Nominale Quantifikation

POL UNG

201

Wszystkie dzieci tam były, oprócz Janka. Minden gyerek ott volt, kivéve Jánost.

A5.3.3 Proportionale Quantifikatoren Hier bezeichnet die quantifizierte NP die Menge der Teilgruppen/Teilquanten des definiten Pluralobjekts/Quantums, das über dem in der NP enthaltenen N- bzw. NOMAusdruck gebildet werden kann, die zu diesem Pluralobjekt/Quantum in dem Verhältnis stehen, das der Bedeutung des Quantifikators entspricht. Hier lautet die Bestimmung bei Keenan (2012: 4): „QAB (sic!) depends on the proportion of As that are Bs: |AÇB|/|A“.

Die Größe des Pluralobjekts/Quantums, das Denotat einer proportional quantifizierten NP ist, bezieht sich also auf die Größe eines Pluralobjekts/Quantums im Vergleich. Dieses Bezugsobjekt ist ein definites Pluralobjekt/Quantum, das mit der Bedeutung der quantifizierten NP explizit oder implizit gegeben ist. Explizit ist es gegeben, wenn eine partitive Quantifikator-als-Kopf-Konstruktion explizit vorliegt wie in DEU die meisten der Kinder / die Hälfte von Peters Besitz, FRA la plupart des enfants / la moitié des possessions de Pierre. Es kann aber auch implizit bleiben wie in DEU die meisten Kinder / das halbe Brot, ENG half the students. In diesen Fällen liegt syntaktisch keine attributiv eingebettete definite NP vor, die den Verhältniswert lieferte. Vielmehr muss aufgrund des N- oder NOM-Ausdrucks kontextuell auf eine definite Bezugsgröße geschlossen werden. In vielen Fällen ist die Kombination mit Individuativa und Kontinuativa möglich; wo dies nicht der Fall ist, wird mit (+INDIV) bzw. (+KONT) auf die Alternativen hingewiesen. Wir nennen zunächst die wichtigsten einfachen, d. h. nicht auf nominalen Syntagmen beruhenden, Formen aus den Vergleichssprachen, die allenfalls fakultativ eine (pseudo-)partitiv interpretierte Quantifikator-als-Kopf-Konstruktion fordern, sodann die obligatorisch so konstruierenden. Als syntaktisch komplex ordnen wir die Konstruktionen mit einem substantivischen Kopf wie ,Mehrheit‘, ‚Minderheit‘ ein. Hier wird der quantifizierende Ausdruck obligatorisch zum Kopf. ,Mehrheit‘ und ,Minderheit‘ sind sprachübergreifend in dieser Konstruktion nicht gleich verteilt. ,Mehrheit‘ ist deutlich frequenter und kann als der unmarkierte Pol der Opposition betrachtet werden. So stehen ca. 10.000 Vorkommen von DEU Minderheit der in D E R E K O ca. 150.000 Vorkommen von DEU Mehrheit der gegenüber. Zudem überwiegt bei Mehrheit die Kookkurrenz mit dem definiten Artikel, bei Minderheit die mit dem indefiniten. In dieser Weise syntaktisch komplex sind auch die prozentuale Quantifikation (wie in dreißig Prozent der deutschen Bevölkerung) sowie die entsprechenden Angaben in Bruchzahlen (ein Drittel der deutschen Bevölkerung). Prozentuale Quantifikation setzt die Definitheit der Vielheit, die als Verhältniswert zu betrachten ist, voraus;  

202

A Funktionale Domänen

prozentuale Quantifikation bezüglich einer existenziell quantifizierten VerhältnisVielheit ist daher ausgeschlossen: *Die Hälfte von (einigen/vielen) Anwesenden erhob sich. Syntaktisch kann, wie erwähnt, die Definitheit der Verhältnis-Vielheit implizit bleiben, es sei denn, es wird die Quantifikator-als-Kopf-Konstruktion gewählt: Bei Das meiste Brot wird weggeworfen ist der Verhältniswert ein kontextuell zu bestimmendes Quantum an Brot, z. B. das in Mannheim täglich (im Durchschnitt) verkaufte Brotquantum. Die Gesamtphrase informiert über den quantitativen Anteil an dem Verhältniswert, auf den die Satzprädikation zutreffen soll, der mit Näherungswerten und Spielräumen angegeben werden kann (genau / fast / mehr als / weniger als 30% der Anwesenden). Definite Referenz auf die beteiligten Individuen (bzw. Stoffquanten) erfolgt jedoch nicht – entgegen dem Anschein bei Verwendung des definiten Artikels wie in die meisten oder die Hälfte/der, die, das halbe.  

Löbner (2011: 297) zeigt am Beispiel des widerspruchsfreien Satzes Die Hälfte der Besucher ist (während des Vortrags) eingeschlafen und die Hälfte ist wach geblieben, dass es sich nicht um definite Referenz handeln kann: Bei definit referierenden Ausdrücken ist eine solche Koordination widersprüchlich: *Die Besucher sind (während des Vortrags) eingeschlafen und die Besucher sind (während des Vortrags) wach geblieben.

Im Französischen und fakultativ im Englischen steht bei adnominalem ,meist‘ bzw. ‚wenigst‘ der definite Artikel; vgl. ENG (the) most, (the) least, (the) fewest, FRA le plus, le moins. Nach Huddleston/Pullum (2002: 395) fungiert der definite Artikel hier als „modifying the comparative quantifier, rather than as a determiner in NP structure: the whole NP is indefinite“. Im Französischen und Englischen ist der Artikel generell Bestandteil der Superlativkonstruktion, auch bei adverbialer Funktion (vgl. ENG he worked the most, FRA il travaillait le plus ,er arbeitete am meisten‘). Im Deutschen kommt die adverbiale Konstruktion am meisten / am wenigsten auch adnominal vor, dies entspricht jedoch nicht der Norm, vgl.: (28)

Nicht zuletzt deshalb blüht auch das Geschäft mit Astro-Literatur. Am meisten Bücher über Sternzeichen kaufen Fische, Wassermänner, Schützen, Krebse und Skorpione. (Tiroler Tageszeitung, 22.11.1997)

(29)

„Je voller es auf den Straßen wird, desto weniger kann gerast werden“, heißt es beim Statistischen Bundesamt. Zwischen 1953 und 2000 wurden im Jahr 1970 am meisten Kinder im Straßenverkehr getötet. (Frankfurter Allgemeine, 18.05.2001) Allerdings ist in beiden Belegen auch adverbialer Bezug nicht völlig ausgeschlossen, jeweils mit der Lesart ,am häufigsten‘: In (28) läge dann doppelte Vorfeldbesetzung vor, in Form des adverbialen Supplements am meisten + indefinite NP Bücher über Sternzeichen.

Es ist eine Asymmetrie bezüglich ,meist/wenigst‘ zu beobachten. Im Englischen haben nach Huddleston/Pullum (2002: 394) fewest und least im Gegensatz zu most

A5 Nominale Quantifikation

203

keine proportionale, sondern nur eine superlativische Lesart. Im Deutschen allerdings sind auch proportionale Lesarten für die wenigsten belegt. Als Test kann die Paraphrasierbarkeit durch die entsprechende Quantifikator-als-Kopf-Konstruktion dienen. In Beleg (40) ist die wenigsten Europäer ersetzbar durch die wenigsten der Europäer: 1.

einfache, nicht obligatorisch mit Quantifikator-als-Kopf-Konstruktion konstruierende Ausdrücke:

(30) DEU ENG UNG

die meisten Kinder / das meiste Brot (the) most children / (the) most bread a legtöbb gyerek / a legtöbb kenyér

(31) DEU UNG

die wenigsten Kinder / das wenigste Brot a legkevesebb gyerek / a legkevesebb kenyér

(32) DEU ENG FRA UNG

das halbe Brot (+KONT) half the bread (+KONT) le demi pain/demi-pain (+KONT) fél kenyér (+KONT)

halb kann auch mit Individuativa im Singular kombiniert werden (wie in DEU der halbe Apfel), bezieht sich dann aber nicht auf den Teil einer Individuen- oder Quantensumme, sondern auf den Teil eines Gegenstandes. Diese Verwendung kommt hier nicht in Betracht.

2.

einfache, obligatorisch mit Quantifikator-als-Kopf-Konstruktion konstruierende Ausdrücke:

(33) FRA POL (34) FRA

le plus de pain ,das meiste Brot‘, le plus d’enfants ,die meisten Kinder‘ najwięcej chleba ,das meiste Brot‘, najwięcej dzieci ,die meisten Kinder‘

POL

le moins de pain ,das wenigste Brot‘, le moins d’enfants ,die wenigsten Kinder‘ najmniej chleba ,das wenigste Brot‘, najmniej dzieci ,die wenigsten Kinder’

(35) POL

pół chleba (+KONT) ,das halbe Brot‘

204

3.

A Funktionale Domänen

syntaktisch komplexe mit Quantifikator-als-Kopf-Konstruktion konstruierende Quantifikatoren

(36) DEU ENG FRA POL UNG

die Mehrheit/Minderheit der Kinder (+INDIV) the majority/minority of children (+INDIV) la plupart du pain / des enfants ,das meiste Brot / die meisten Kinder‘, la majorité/minorité des enfants (+INDIV) większość/mniejszość dzieci (+INDIV) a gyerekek többsége/kisebbsége

(37) DEU ENG FRA POL UNG

die Hälfte des Brotes / der Kinder half of the bread / of the children la moitié du pain / des enfants połowa chleba / dzieci a kenyér fele / a gyerekek fele

(38) DEU ENG FRA POL UNG

zehn Prozent der hier verkauften Bücher / des hier verkauften Brotes ten percent of the books sold here / of the bread sold here dix pour cent des livres vendus ici / du pain vendu ici dziesięć procent tutaj sprzedanych książek / tutaj sprzedanego chleba az itt eladott könyvek / az itt eladott kenyér tíz százaléka

(39) DEU ENG FRA POL UNG

ein Drittel der hier verkauften Bücher / des hier verkauften Brotes a third of the books sold here / of the bread sold here un troisième des livres vendus ici / du pain vendu ici jedna trzecia tutaj sprzedanych książek / tutaj sprzedanego chleba az itt eladott könyvek / az itt eladott kenyér egyharmada

,Mehrheit/Minderheit‘ ist sprachübergreifend mit (in der Regel nicht pluralfähigen) Kollektiva (mit menschlichem Denotat) kombinierbar wie die Mehrheit des Volkes (ca. 1000 D E R E K O Belege) / der Bevölkerung (ca. 12.000 D E R E K O -Belege) / der Jugend, nicht aber mit Kontinuativa, die Stoffe oder Kollektionen bezeichnen: *die Mehrheit des Wassers/des Viehs. Man vergleiche auch stellvertretend für die Kontrastsprachen POL większość ludu ,die Mehrheit des Volkes‘ versus ??większość wody ,*die Mehrheit des Wassers‘, wobei bezüglich der Akzeptabilität von większość in Kombination mit Kontinuativa die Sprecherurteile divergieren. Anders verhält sich FRA plupart, das auch mit Kontinuativa kombinierbar ist.  

(40)

Acht Prozent aller Europäer haben schon einmal Schmiergeld gezahlt oder wurden dazu aufgefordert. Das geht aus einer europaweiten Umfrage hervor,

A5 Nominale Quantifikation

205

die die EU-Kommission am Mittwoch in Brüssel veröffentlichte. Als besonders gravierend wird Korruption in Griechenland empfunden. Fast jeder der dort Befragten betrachtet Korruption als ernsthaftes Problem seines Landes (98 Prozent). […] Dass Korruption erfolgreich bekämpft werden kann, glauben die wenigsten Europäer: 70 Prozent sagen, Bestechlichkeit habe es schon immer gegeben, sie sei unvermeidlich. (dpa, 15.02.2012) (41)

Damit wird die Uhr zum Kunstobjekt, zur Spielerei oder gar zum Scherzartikel. Durchsetzen werden sich die wenigsten dieser Modelle [. . .] (St. Galler Tagblatt, 09.03.2012)  





A5.3.4 Quantifizierende Vergleichskonstruktionen, koordinierte und negierte Quantifikatoren Bei der Quantifikation spielt das Vergleichen eine große Rolle. In den Vergleichssprachen werden ein äquatives und ein komparatives Muster genutzt. Beide beruhen jeweils auf den generellen Mustern für das Vergleichen unter der Maßgabe ,so wie‘ bzw. ,anders als‘: Tab. 1: Äquatives Muster bei quantifizierenden Vergleichskonstruktionen DEU

ENG

a) (eben) b)

halb

/doppelt

/n-mal

so viel(e) XN wie YN

a) (just) b)

half

/twice

/n times

as much/many XN as YN

FRA

a)

POL

a) (też) b)

UNG

a) (éppen) b)

autant de XN que de YN

fél

dwa razy

/n razy

tyle XN(GEN ) co YN(GEN )

/kétszer

/n-szer/szor/ször

annyi XN, mint YN

Tab. 2: Komparatives Muster bei quantifizierenden Vergleichskonstruktionen DEU

(n-mal)

mehr/weniger XN als YN

ENG

(n times)

more/less XN than YN

FRA

(n fois)

plus/moins de XN que de YN

POL

(n razy)

więcej/mniej XN(GEN ) niż YN(GEN )

UNG

(n-szer/szor/ször)

több/kevesebb XN, mint YN

206

A Funktionale Domänen

Man beachte, dass bei Erweiterung (wie in n-mal so viel X wie Y versus n-mal mehr X als Y) äquatives und komparatives Muster für die ganzen Zahlen äquivalent sind; ist n im äquativen Muster eine Bruchzahl, so entspricht dies dem komparativen Muster mit ,weniger‘. Die Wahl zwischen beiden Mustern ist sprachabhängig. Im Französischen steht die autant-Phrase nicht für die Erweiterung b) zur Verfügung, es wird dann obligatorisch das komparative Muster gewählt, so steht z. B. für DEU halb so viel FRA deux fois moins. Im Deutschen wird das äquative Muster stark präferiert, das FRA deux fois moins direkt entsprechende zweimal weniger ist absolut unüblich, auch im Ungarischen ist das komparative Muster vor allem mit kevesebb ,weniger‘ nicht gebräuchlich. Im Polnischen ist das äquative Muster speziell bei ,halb‘ ausgeschlossen; es heißt POL o połowę więcej/mniej ,um die Hälfte mehr/weniger‘.  

(42) FRA

Un petit garçon affirme: j’ai autant de frères que de sœurs. Sa sœur répond: j’ai deux fois plus de frères que de sœurs. ,Ein kleiner Junge versichert: ich habe ebenso viele Brüder wie Schwestern. Seine Schwester antwortet: ich habe zweimal mehr Brüder als Schwestern.‘ (Internet)

(43)

Laut Statistik sind drei Mal mehr Schwarze als Weiße arm. (Braunschweiger Zeitung, 18.10.2006)

(44)

Trotzdem gab es beim Vorsingen vier mal mehr Bewerber als Partien. (Berliner Zeitung, 15.03.2005)

(45)

In Dubai leben fast drei Mal so viele Männer wie Frauen Dubai/Kairo (dpa) – In der arabischen Glitzer-Metropole Dubai nimmt der Männerüberschuss immer dramatischere Formen an. Die Zeitung „Gulf News“ berichtete am Mittwoch, nach der jüngsten Statistik kommen in dem Emirat auf jede Frau inzwischen fast drei Männer. Von den rund 1,24 Millionen Menschen, die in Dubai zwischen Wolkenkratzern und künstlich bewässerten Grünflächen leben, sind laut Statistik 73 Prozent Männer und 27 Prozent Frauen. (dpa, 30.08.2006)  



Quantifikatoren können disjunktiv (drei oder vier Kinder, entweder sehr viele oder sehr wenige Teilnehmer) verknüpft werden, adversative Verknüpfung findet sich häufig, wenn entsprechende Implikaturen zwischen den beteiligten Quantifikatoren vorliegen wie in einige/viele, aber nicht alle Teilnehmer, mindestens zwei, aber nicht mehr als fünf Teilnehmer. Sätze, die eine adnominale Quantifikation mit alle, jeder, viel enthalten, werden im Deutschen so negiert (im Sinne der Satznegation; vgl. (46b)), dass nicht direkt vor den Quantifikator gestellt wird und Teil der nominalen Konstituente (vgl. (46c)) wird, sofern es sich um ein Kasuskomplement (Subjekt, Akkusativ- oder Dativobjekt) han-

A5 Nominale Quantifikation

207

delt. (Bei Präpositivkomplementen kommt der Negator vor die Präposition zu stehen wie in Man dachte nicht an alle/viele Kinder.) Vgl.: (46)

a. Alle/Viele Kinder träumen. Man beschenkte alle/viele Kinder. b. Es ist nicht der Fall, dass alle/viele Kinder träumen. Es ist nicht der Fall, dass man alle/viele Kinder beschenkte. c. Nicht alle/viele Kinder träumen. Man beschenkte nicht alle/viele Kinder.

Diese Konstituentenbildung ist auch in den anderen Vergleichssprachen möglich: ENG not all children / not many children, FRA pas tous les enfants / pas beaucoup d’enfants, POL nie wszystkie dzieci / niewiele dzieci, UNG nem minden gyerek / nem sok gyerek. In Verbindung mit den Kardinalnumeralia ist nur eine kontrastive Negation wie in Er hat nicht vier, sondern fünf Bücher gekauft möglich. Auch definit pluralische und allquantifizierende Nominalphrasen verhalten sich im Hinblick auf Negation ganz unterschiedlich: Während der Negator eine Allquantifikation in seinen Skopus nehmen und damit die Inklusivität der Bezugnahme aufheben kann, sind definite Nominalphrasen wie andere ,Individuenterme‘ (Kennzeichnungen, Eigennamen) nicht negierbar, die Inklusivität der Bezugnahme bleibt unter Negation erhalten, es handelt sich wiederum um eine kontrastive Negation, wie in (47b) gegenüber (47a) (vgl. dazu und zu weiteren Unterschieden Löbner 1985: 283–287). Auch dies ist ein Argument gegen die Einbeziehung des Artikels unter die Quantifikatoren. (47)

a. Nicht alle Kinder spielen im Garten. b. Nicht die KINder spielen im Garten, sondern die ELtern.

208

A Funktionale Domänen

A5.3.5 Übersicht zu den Modifikationsmöglichkeiten bei den Quantifikatorenklassen Tab. 3: Modifikationen bei unterschiedlichen Quantifikatorenklassen Quantifikatoren des mittleren Skalenbereichs

Kardinalia

Proportionalia

Universalia Vergleichskonstruktionen

(+) [adj] ,sehr‘ sehr viele Bücher









Modifikation (+) ,nur‘ [paukal] nur wenige Bücher

+ nur fünf Bücher

(+) [paukal/ numerisch] nur wenige/ 3% der Männer

(+) [numerisch] nur doppelt so viele Männer wie Frauen



Öffnung – Präzisierung

+ drei und mehr Bücher, genau drei Bücher

(+) [numerisch] 3% der Männer und mehr, über 3% der Männer

(+) – [numerisch] über doppelt so viele Männer wie Frauen

Annäherung – ,fast‘

+ (+) fast 500 Bücher [numerisch] fast 3% der Männer

+ + fast (doppelt) fast alle Bücher so viele Männer wie Frauen





Gradabstufung

(+) [nom] ,klein‘ ein kleines bisschen Glück

Exzeption ,außer‘





+ alle Männer außer Hans

Wie die graue Unterlegung zeigt, sind drei der Erweiterungsmöglichkeiten konzentriert auf numerische Quantifikation, entweder in ihrer einfachen Form als Kardinalnumerale oder bei Einbindung in proportionale bzw. vergleichende Konstruktionen. Quantifikatoren des mittleren Skalenbereichs und universale Quantifikatoren überschneiden sich nur marginal in ihren Erweiterungsmöglichkeiten mit den numerischen.

A5 Nominale Quantifikation

209

A5.4 Distributivität A5.4.1 Allgemeines Wann immer Aussagen über Vielheiten getroffen werden, durch Koordination oder Pluralsetzung oder durch Quantifikatoren, stellt sich die Frage, ob über die einzelnen Elemente der Vielheit prädiziert wird (,distributiv‘) oder über die Vielheit als ganze (‚kollektiv‘). Alle genannten Formen der nominalen Quantifikation sind in unseren Vergleichssprachen non-distributiv, also mit distributiver und kollektiver Lesart vereinbar, bis auf die universalen Quantifikatoren. Wir werden daher im Folgenden die Unterschiede am Beispiel dieser Klasse erläutern: In (48) wird distributiv quantifiziert, in (49) kollektiv: (48) (49)

Jeder kauft die Zutaten für den Kuchen: Mehl, Butter, Zucker usw. a. Alle kaufen die Zutaten für den Kuchen. (Keiner darf sich drücken.) ,Die ganze Vielheit ist an der Einkaufsaktion beteiligt, so dass schließlich die Zutaten (Mehl, Butter, Zucker usw.) eingekauft sind.‘ b. Alle Spieler versammeln sich auf dem Sportplatz. ,Die ganze Spieler-Vielheit versammelt sich auf dem Sportplatz.‘ Die Einkaufsaktion in (49a) kann auf unterschiedliche Weise geschehen: Alle gehen gemeinsam Mehl, Butter und Zucker usw. einkaufen. Hier kann man im engeren Sinne von ,kollektiv‘ sprechen. Oder: Einige kaufen Mehl ein, einer besorgt Eier, der Rest Zucker und Butter. Oder: Einer kauft Mehl, einer Butter, der Rest Zucker, usw. Wenn jeweils einzelne ihren Beitrag leisten, so dass schließlich die erforderlichen Zutaten zusammenkommen, kann man auch von ,kumulativer‘ Lesart als Spezialfall der ,kollektiven‘ Lesart sprechen.

Nicht alle Sprachen verfügen über universale Quantifikativa. Warlpiri (südwestaustralische Sprachen) kennt keine (pro)nominalen Ausdrücke dieser Art und drückt die entsprechende Funktion innerhalb des Verbalsystems aus (vgl. Gil 1991: 2). Sprachen, die über ein einziges universales Quantifikativum verfügen wie etwa das Hebräische, gebrauchen ein und denselben Ausdruck, wenn distributiv wie in (48) oder kollektiv wie in (49a), (49b) quantifiziert werden soll; vgl. auch Francez/Goldring (2012: 367 f.). Mit Gil (1991) ist davon auszugehen, dass ein Ausdruck wie hebräisch kol, der an Stelle von jeder/alle zu erscheinen hätte, also (48) und (49) abdeckt, nicht etwa polysem ist im Hinblick auf diese beiden Lesarten, sondern nicht-spezifiziert ist bezüglich dieser Unterscheidung. Solche ‚non-distributive‘ Quantifikativa sind sprachübergreifend als der unmarkierte Typ zu betrachten (vgl. Gil 1991). Dies zeigt sich u. a. in folgenden Punkten:  





Das Vorhandensein eines distributiven universalen Quantifikativums in einer Sprache setzt das Vorhandensein eines non-distributiven voraus. Es gibt somit

210



A Funktionale Domänen

keine Sprachen, die distributive universale Quantifikativa enthalten, aber keine non-distributiven. Non-distributive universale Quantifikativa haben gegenüber distributiven das weniger eingeschränkte Vorkommen. Insbesondere sind sie adnominal in der Regel mit mehr semantischen Subtypen von Substantiven kombinierbar (z. B. auch Stoffnamen oder (genereller) Kontinuativa).  

A5.4.2 Zusammenspiel mit dem Prädikatsausdruck Die Unterscheidung in der Satzbedeutung, die wir mit (49a) gegenüber (49b) kenntlich machen und die wir als ,fakultativ bzw. kontextabhängig kollektiv‘ gegenüber ‚obligatorisch kollektiv‘ kennzeichnen können, geht auf den Beitrag der Bedeutung des verbalen Prädikats zurück, nicht auf das universale Quantifikativum im (Subjekts-)Nominal (das sprachübergreifend in beiden Fällen gesetzt wird): Prädikatsausdrücke wie kaufen sind ,non-distributive‘ Prädikate (vgl. IDS-Grammatik 1997: 2053– 2055), solche wie sich versammeln ,kollektive‘ Prädikate. Non-distributive Prädikate erzeugen in Kombination mit distributiven (Subjekts-) Nominalen distributiv quantifizierende Satzbedeutungen (vgl. (48)), in Kombination mit non-distributiven (Subjekts-)Nominalen kontextabhängig distributiv oder kollektiv quantifizierende Satzbedeutungen (vgl. (49a)). Zu den non-distributiven Prädikatsausdrücken gehören auch Verbalgruppen wie ‚drei Koffer tragen‘, ‚viele Äpfel essen‘, ‚viele Zutaten kaufen‘, also Verbgruppen mit einem Objekt, das ein Numerale oder einen Quantifikator des mittleren Skalenbereichs enthält. Das enthaltene Numerale ist selbst non-distributiv und diese Eigenschaft vererbt sich auf den gesamten Prädikatsausdruck weiter. Bei der Kombination non-distributiver (Subjekts-)Nominale mit non-distributiven Prädikatsausdrücken ist sprachübergreifend eine distributive Lesart auf der Ebene der Satzbedeutung allerdings in der Regel präferiert (vgl. etwa zu ENG all Huddleston/ Pullum 2002: 377). Um eine kollektive Lesart zu erzwingen, wird in der Regel ein Modifikator wie ‚zusammen, gemeinsam‘ hinzugesetzt; vgl. etwa verdeutlichend zu (49a): (49)

a.’ Alle zusammen kaufen die (drei, vier) Zutaten für den Kuchen.

Während non-distributive Prädikate auf Einzelindividuen zutreffen können, aber nicht müssen, setzen kollektive Prädikate ‚Vielheiten‘ voraus (i. e. Ansammlungen von Einzelobjekten, wie sie durch Plurale aber auch durch Kollektivbezeichnungen denotiert werden). Kollektive Prädikate können nur mit non-distributiven Nominalen kombiniert werden und erzeugen kollektive Satzbedeutungen; vgl. (49b) gegenüber ungrammatischem (49b’):  

A5 Nominale Quantifikation

(49)

211

b.’ *Jeder Spieler versammelt sich auf dem Sportplatz.

Von kollektiven Prädikaten abzugrenzen sind ‚kind-level predicates‘ (Carlson 1991: 371) bzw. ‚Klassenprädikate‘ wie ‚weit verbreitet sein‘, ‚zahlreich/selten sein‘, ‚in der Mehrzahl/Minderzahl sein‘, ‚überrepräsentiert/unterrepräsentiert sein‘‚ ‚aussterben‘. Sie prädizieren nicht über Ansammlungen oder Gruppen von Individuen, sondern über ‚Arten‘ (auch Unterarten) bzw. ‚Klassen‘ als ganze. In Kombination mit ihnen sind sowohl distributive als auch non-distributive universale Quantifikativa ausgeschlossen, es sei denn, es wird über Unterarten – etwa von Feldhasen – prädiziert: (50)

a. Feldhasen sind selten geworden. / Der Feldhase ist selten geworden. b. *Jeder Feldhase ist selten geworden. / *Alle Feldhasen sind selten geworden.

Kollektive Prädikate, wie sie hier verstanden werden, sind in erster Linie gruppierende Prädikate wie ‚sich versammeln/treffen‘, ‚einen Kreis bilden‘, daneben implizit oder explizit reziproke Prädikatsausdrücke wie einander gleichen/ähneln; gleich sein; (miteinander) übereinstimmen usw.: (51)

a. Alle Kuchen sind gleich. b. *Jeder Kuchen ist gleich.

Distributive Prädikate wie ,lachen‘, ,sterben‘, ,die Wahrheit sagen‘ dagegen können sinnvollerweise nur auf Einzelindividuen (aus einer Vielheit), aber nicht auf die Vielheit als ein Ganzes, als Entität eigenen Rechts, angewendet werden. DEU alle nun kann in Ergänzung zu den Beispielen oben offensichtlich (neben jeder) auch in Kombination mit distributiven Prädikaten gebraucht werden wie in: (52)

a. Jeder muss sterben. b. Alle müssen sterben.

alle erweist sich somit als ‚non-distributiv‘, muss daher als das unmarkierte universale Quantifikativum des Deutschen betrachtet werden. Wie das Deutsche verfügen nach Gil (1991) sehr viele Sprachen über ein ‚non-distributives‘ universales Quantifikativum (‚alle‘) und ein distributives (‚jeder‘). Wir können folgendes Schema für das Zusammenspiel von quantifikativem Nominal und verbalem Prädikatsausdruck am Beispiel des Deutschen festhalten:

212

A Funktionale Domänen

Tab. 4: Nominale Quantifikation, verbale Prädikation und resultierende Satzbedeutung Prädikat Nominal

distributiv

non-distributiv

kollektiv

distributiv jeder

+ [jeder lächelt]

+ [jeder kauft die (drei) Zutaten]

– [*jeder kommt zusammen]

distributive Satzbedeutung non-distributiv NPPL, andere Quantifikatoren, alle

+ [(drei) Kinder / drei Dutzend Kinder / alle lächeln]

+ [(drei) Kinder / drei Dutzend Kinder / alle kaufen die (drei) Zutaten]

+ [(drei) Kinder / drei Dutzend Kinder / alle kommen zusammen]

distributive Satzbedeutung

fakultativ: distributive oder kollektive (kumulative) Satzbedeutung

kollektive Satzbedeutung

Distributive universale Quantifikativa (‚jeder‘) sind nach Gil (2001: 1289) auch als skopale Quantifikativa zu begreifen, in dem Sinne, dass sie, sofern mit anderen Quantifikatoren, etwa Numeralia, im Satz kombiniert, auf weiten Skopus festgelegt seien. In einem Satz wie Jeder Mann trug zwei Koffer kennzeichnet dann das Numerale zwei die skopusdependente NP, diese identifiziert das Distributiv-Geteilte (distributive share) der Satzinterpretation, während jeder Mann den Träger bzw. Schlüssel der Distribution (distributive key) kennzeichne. Da im Deutschen Skopusverhältnisse eng mit der Reihenfolge im Satz assoziiert sind, wird eine Umkehrung der Skopusverhältnisse und damit des Verhältnisses von key und share am klarsten durch eine Passivkonstruktion wie in (54b) ausgedrückt: (54)

a. Jeder Mann trug zwei Koffer. Distributiv-Geteiltes: ,zwei Koffer (pro Mann)‘ b. Jeder Koffer wurde von zwei Männern getragen. Distributiv-Geteiltes: ,zwei Männer (pro Koffer)‘ Allerdings ist z. B. unter Fokussierung des Ausdrucks mit weitem Skopus auch enger Skopus bei z. B. DEU jeder möglich:  



(55)

DREI Bilder betrachtete jeder Museumsbesucher, den Rembrandt, den Dürer und den Picasso.

Auch hier kommen auf jeden Museumsbesucher drei Bilder, allerdings jeweils dieselben. Das Bild wird noch komplexer, wenn die zusätzliche Unterscheidung zwischen „participant key

213

A5 Nominale Quantifikation

readings“ gegenüber „temporal key readings“ herangezogen wird: Bei ersteren erfolgt Distribution (primär) über Partizipanten unter Annahme eines einzigen (Super-)Ereignisses, bei letzteren über Zeiten/Ereignisse; vgl. dazu Szabolcsi (2010: 109–140) und Csirmaz/Szabolcsi (2012: 432). Auch in den Kontrastsprachen spielt die Links-Rechts-Ordnung im Hinblick auf den Skopus von Quantifikatoren eine Rolle, wobei wie im Deutschen ggf. zum Passiv gewechselt werden muss. Im Ungarischen allerdings können durch reine Umstellung im präverbalen Bereich Skopusunterschiede ausgedrückt werden: (56) UNG

a. Több, mint hat diák minden könyvet elolvasott. les.PRT .3SG mehr als sechs Student jedes Buch.AKK ,Mehr als sechs Studenten lasen jedes Buch.‘ b. Minden könyvet több, mint hat diák olvasott mehr als sechs Student les.PRT .3SG jedes Buch.AKK ,Jedes Buch wurde von mehr als sechs Studenten gelesen.‘ (Csirmaz/Szabolcsi 2012: 402)

el. PV

Nur in (56b) kann die Gruppe der Studenten mit den Büchern variieren. Weitergehende Aussagen zu Skopusverhältnissen beziehen sich auf die Syntax und Linearstruktur des Satzes und werden hier nicht behandelt.

In manchen Sprachen, vergleichsweise selten: etwa im Georgischen (Südkaukasisch) und im Maricopa (nördliches Amerind), kommt auch ein skopusdependentes universales Quantifikativum vor, das sich „spiegelbildlich“ zum distributiven (‚jeder‘) verhält und das als ,jeweils alle‘ paraphrasiert werden kann. Es markiert eine universal quantifizierte NP (in Objektposition) als das Distributiv-Geteilte. (57)

a. Zwei Männer trugen jeweils alle Koffer. Distributiv-Geteiltes: ,alle Koffer (pro Mann)‘ b. Zwei Koffer wurden von jeweils allen Männern getragen. Distributiv-Geteiltes: ,alle Männer (pro Koffer)‘

Im Georgischen wird ,jeweils alle‘ durch q’vel-q’vela, die reduplizierte Form des nondistributiven Quantifikativums q’vela, wiedergegeben. Bei unseren Vergleichssprachen gibt es keine skopusdependenten universalen Quantifikativa. Das Phänomen der Reduplikation zur Anzeige von Skopusdependenz bzw. Distributiv-Geteiltem liegt jedoch bei den ungarischen Numeralia vor (vgl. Csirmaz/Szabolcsi 2012: 431): (58) a. A férfiak [két-két bőröndöt] vittek. DEF Mann.PL zwei-zwei Koffer.AKK trag.PRT .3PL UNG ,Die Männer trugen jeweils zwei Koffer.‘ b. [Két-két férfi] vitte a bőröndöket. DEF Koffer.PL .AKK zwei-zwei Mann trag.PRT .3SG .DEF ,Die Koffer wurden von jeweils zwei Männern getragen.‘

214

A Funktionale Domänen

Nur die finnougrischen Sprachen verfügen innerhalb Europas über reduplizierende Numeralia zur Anzeige von Distributivität; weit verbreitet ist dieses Verfahren in Afrika, in Indien, Südostasien und auch bei indigenen nordamerikanischen Sprachen; vgl. Karte zu „Feature 54a Distributive Numerals“ in Dryer/Haspelmath (Hg.) (2013) sowie Gil (2001: 1289 f.).  

Distributivität wird in den Vergleichssprachen häufig durch Distanzstellung (floating) der Quantifikatoren (,jeder‘, ,alle‘, ,beide‘, im Deutschen auch existenzielle Quantifikatoren wie: kein-, einig-, mehrere, viel und die Kardinalia) oder adverbiale Konstruktionen ausgedrückt. Zum floating vgl. diese deutschen und englischen Versionen von (58a), Weiteres Zifonun (2007a: 118–121, 133–137): (59) DEU ENG

Die Männer trugen jeder zwei Koffer. The men each carried two suitcases.

ENG each wird zudem als „binominal each“ (vgl. z. B. Szabolcsi 2010: 130–133) – bei Bezug auf den „Schlüssel“ – adjazent zum Ausdruck für das Distributiv-Geteilte gestellt:  

(59’)

The men carried two suitcases each.

Daneben wird Distributivität sprachübergreifend durch Adverbien bzw. Partikeln ausgedrückt; vgl. DEU je zwei Koffer, ENG two suitcases apiece, FRA deux valises respectivement, POL po dwie walizki. Als adverbialer Ausdruck von Distributivität existiert im Ungarischen ein eigenes an das Numerale angefügte Suffix -(V)n (traditionell, z. B. in Tompa 1968, als Kasus Modal-Essiv bezeichnet, → B2.4.3.1.4). Es kennzeichnet in (60) das Subjekt als Distributiv-Geteiltes. Eine Suffixreihung aus Adjektiv-, Possessumund Instrumentalaffix kennzeichnet in (60) das Objekt als Distributiv-Geteiltes:  

(60) UNG

A

férfiak ketten / kettesével vitték a bőröndöket. Mann.PL zwei.ADV zwei.ADJ .PUM .INS trag.PRT .3PL .DEF DEF Koffer.PL .AKK ,Die Männer trugen die Koffer zu zweit. / Die Männer trugen jeweils zwei Koffer.‘ DEF

Im Deutschen wird adverbiales jeweils (NP-intern oder distant) bzw. je (nur vor Kardinalnumeralia) gebraucht, daneben die präpositionale Konstruktion zu + Stamm der Ordinalzahl wie in zu zweit/dritt/viert/hundert, auch: zu Dutzenden/Hunderten/ Tausenden bzw. (veraltend) zu + flektiertes Kardinalnumerale (zu zweien/dreien/vieren/fünfen): (61)

Schüler der zweiten und dritten Klasse trugen mal zu dritt, mal zu viert, die Gedichte „Der Winter verwandelt sich“ und „Sommer“ auf. (Mannheimer Morgen, 20.03.2007)

A5 Nominale Quantifikation

215

Im Englischen liegen die adverbialen Verbindungen ,Kardinalnumerale by Kardinalnumerale‘ (two by two) bzw. ,in + Kardinalnumerale-s‘ (in twos) vor.

A5.5 Implikationen und Implikaturen bei Quantifikatoren A5.5.1 Skalare Relationen zwischen Quantifikatoren Für die nicht-numerischen Quantifikatoren gilt sprachübergreifend eine skalare Ordnung, die sich in Implikationen und Implikaturen zwischen den Elementen unterschiedlicher Skalenabschnitte äußert. Implikaturen können durch ,wenn nicht‘ aufgehoben werden. Paukale Quantifikatoren (‚wenig(e)‘) implizieren, dass multale (‚viel(e)‘) Quantifikation nicht vorliegt, und sie haben andererseits eine ‚Nicht-Null-Implikatur‘: (62)

Wenige sind gekommen.

impliziert: (63)

Es ist nicht der Fall, dass viele gekommen sind.

und implikatiert: (64)

Es ist nicht der Fall, dass niemand gekommen ist.

Daher auch mit Aufhebung der Implikatur: (65)

Wenige sind gekommen, wenn nicht überhaupt niemand.

‚Neutrale‘ Quantifikatoren (‚einige/mehrere‘) hingegen implikatieren, dass multale Quantifikation nicht vorliegt, und sie implizieren andererseits ‚Nicht-Null‘: (66)

Einige sind gekommen.

implikatiert: (67)

Es ist nicht der Fall, dass viele gekommen sind.

und impliziert: (68)

Es ist nicht der Fall, dass niemand gekommen ist.

216

A Funktionale Domänen

Multale Quantifikation schließlich implikatiert, dass ‚Nicht-Alle(s)‘ vorliegt und impliziert ebenfalls ‚Nicht-Null‘. Die skalare Ordnung der Quantifikatoren wird in Huddleston/Pullum (2002: 363–367) ausführlich für das Englische dargestellt. Besonders markant ist hier der Kontrast zwischen few als paukalem und a few als ‚neutralem‘ Quantifikator: Während bei few ‚Nicht-Null‘ nur implikatiert ist und daher aufgehoben werden kann, ist es bei a few impliziert und daher nicht aufhebbar; vgl. (69). Umgekehrt ist bei a few ,Nicht-Viel(e)‘ nur implikatiert und somit aufhebbar, bei few aber impliziert, vgl. (70). (69) ENG

Few, if any of her friends voted for him. / *A few, if any of her friends voted for him. ,Wenige, wenn überhaupt irgendwelche von ihren Freunden, stimmten für ihn. / *Einige, wenn überhaupt irgendwelche von ihren Freunden, stimmten für ihn.‘

(70) ENG

A few, if not many of her friends voted for him. / *Few, if not many of her friends voted for him. ,Einige, wenn nicht viele von ihren Freunden, stimmten für ihn. / *Wenige, wenn nicht viele von ihren Freunden, stimmten für ihn.‘

A5.5.2 Monotonizität von Quantifikatoren Eine weitere logische Eigenschaft der Quantifikatoren betrifft die Gültigkeit von Schlussfolgerungen bezüglich des Nukleus oder des Restriktors der Quantifikation; man spricht hier von der ,(Nicht-)Monotonizität‘ des Quantifikators. Diese Eigenschaften genießen in der logischen und semantischen Literatur zur Quantifikation starke Beachtung (vgl. z. B. Barwise/Cooper 1981, Van Eijck 1991, und zu einem aktuellen Überblick Szabolcsi 2010: 50–60). Wir fassen nur kurz zusammen; einen direkten sprachlichen Niederschlag finden diese Zusammenhänge vor allem in ,negativen Polaritätskontexten‘.  

Bei Monotonizität bezüglich des Nukleus, also bezüglich des einschlägigen Teils des Prädikatsausdrucks, (right monotonicity, Van Eijck 1991: 467) gilt: ,Aufwärts implizierend (bezüglich des Nukleus)‘ sind Quantifikatoren, wenn sie eine Schlussfolgerung auf einen Oberbegriff des Nukleus zulassen, bzw. eine ‚oder‘-Verknüpfung des Nukleus mit einem anderen Begriff. Aus Viele Kinder wünschen sich eine Katze kann gefolgert werden: Viele Kinder wünschen sich ein Haustier bzw. Viele Kinder wünschen sich eine Katze oder einen Hund. ,Abwärts implizierend (bezüglich des Nukleus)‘ sind Quantifikatoren, wenn sie eine Schlussfolgerung auf einen Unterbegriff des Nukleus zulassen, bzw. eine ‚und‘-Verknüpfung des Nukleus mit einem anderen Begriff. Aus Wenige Kinder wünschen sich eine Katze kann gefolgert werden: Wenige Kinder wünschen sich eine schwarze Katze bzw. Wenige Kinder wünschen sich eine Katze und einen Hund. Aufwärtsimplikation kennzeichnet universale und multale Quantifikation und neutrales ,einige‘, Abwärtsimplikation paukale Quantifikation und ,kein‘-Quantifikation. Die ,höchstens‘-Modifikation von Kardinalnumeralia ist ebenfalls aufwärts implizierend, die ,weniger als‘-Modifikation hingegen abwärts implizierend. Nukleusbe-

A5 Nominale Quantifikation

217

zogen abwärts implizierende nominale Quantifikation konstituiert einen ,negativen Polaritätskontext‘ (→ B1.5.5.3.1 und → B1.5.5.3.4), vgl. DEU Wenige Leute / Kein Mensch rührte(n) einen Finger, um dem Verletzten zu helfen, ENG Few people lifted a finger to help the injured man. Dagegen sind bei aufwärts implizierenden Quantifikatoren keine negativen Polaritätskontexte gegeben: *Alle/Viele/Einige Leute rührten einen Finger, um dem Verletzten zu helfen. Das Polnische verfügt im Gegensatz zu den anderen Vergleichssprachen mit nie ‚nicht, un-‘ über ein Präfix, durch das bei nominalen Quantifikatoren der Effekt der „Skalenumkehrung“ („scale reversal“, vgl. Haspelmath 1997: 113–116) erreicht wird: niewiele, niedużo ‚ziemlich wenig(e)‘, niemało ‚ziemlich viel(e)‘. Während wiele, dużo „aufwärts implizierend“ sind, sind niewiele, niedużo „abwärts implizierend“. Während mało „abwärts implizierend“ ist, ist niemało „aufwärts implizierend“. Im Deutschen ist un-Präfigierung, die in der Wortbildung des qualitativen Adjektivs dem polnischen Präfix nie entspricht, vgl. DEU unhöflich POL nieuprzejmy, DEU unglücklich POL nieszczęśliwy, bei Quantifikatoren nicht möglich: *unviel/*unwenig. Betrifft die Monotonizität den Restriktor (bzw. persistence, Barwise/Cooper 1981; left monotonicity, Van Eijck 1991: 469), so gelten analoge Schlussfolgerungen bezüglich des Restriktors. Die Quantifikatoren verhalten sich jedoch unterschiedlich im Hinblick auf den Nukleus und den Restriktor. So sind ,einige‘ und ,nicht alle‘ aufwärts implizierend bezüglich des Restriktors, nicht aber ,viel(e)‘: Aus Einige/Nicht alle schwarze(n) Katzen sind scheu folgt Einige/Nicht alle Katzen sind scheu. Aus Viele schwarze Katzen sind scheu folgt nicht Viele Katzen sind scheu. Abwärts implizierend bezüglich des Restriktors sind ,jeder‘, ,all(e)‘ und ,kein‘: Aus Alle Katzen sind scheu folgt Alle schwarzen Katzen sind scheu usw. ENG any, das u. a. negative Polaritätskontexte kennzeichnet, wird auch im Skopus restriktorbezogen abwärts implizierender Quantifikatoren gebraucht, vgl. Every sailor who accepted any of the gifts, perished ,Jeder Segler, der eines der Geschenke annahm, kam um‘ (Van Eijck 1991: 469). Hier handelt es sich jedoch nicht um einen negativen Polaritätskontext: *Every sailor who accepted any of the gifts, lifted a finger / *Jeder Segler, der eines der Geschenke annahm, rührte einen Finger.  

B Wort und Wortklassen

B1

Wortklassen

B1.1

Überblick  222

B1.1.1

Nominale Wortklassen und Wortarten in den Vergleichssprachen  222

B1.1.2

Grundlagen einer Wortartenunterscheidung  226

B1.1.3

Exkurs zur Distinktion zwischen den Inhaltswortklassen, insbesondere der Substantiv-Verb-Unterscheidung im typologischen Vergleich  234

B1.1.4

Sprachspezifische Bestimmung der nominalen Wortarten Substantiv und Adjektiv in den Vergleichssprachen  237 B1.1.4.1 Unterschiede in den morphologischen und syntaktischen Merkmalen  237 B1.1.4.2 Grad der Distinktheit von Substantiv und Adjektiv in den Vergleichssprachen  242 B1.1.5

Nominalhierarchien  249

B1.1.6

Übersicht zu den folgenden Kapiteln  250

B1 Wortklassen Gisela Zifonun

B1.1 Überblick B1.1.1 Nominale Wortklassen und Wortarten in den Vergleichssprachen Wortklassen bzw. Lexemklassen oder auch lexikalische Klassen sind Mengen von lexikalischen Wörtern, also im Sinne von Lieb (2005: 1623) von Paaren von Wortparadigmen und Wortbedeutungen, die unter bestimmten – im vorliegenden Fall grammatischen – Gesichtspunkten als zusammengehörig betrachtet werden. Wortarten sind dabei zunächst nur eine Teilmenge der Lexemklassen, denen aufgrund der grammatikographischen Tradition eine besondere Bedeutung zukommt. Die Gesichtspunkte der Wortartenklassifikation sind bekanntlich (vgl. z. B. IDS-Grammatik 1997: 23–28, aus typologischer Perspektive Simone/Masini (Hg.) 2014) äußerst heterogen, insofern als nicht nur im Hinblick auf das Gesamtinventar Kombinationen morphologischer, syntaktischer und semantischer Gesichtspunkte geltend gemacht werden, sondern auch im Hinblick auf einzelne Wortarten je spezifische Bündelungen dieser Merkmale herangezogen werden. Anders als die Ansätze etwa in Newmeyer (2000) oder Rauh (2011) setzen wir aber nicht ausschließlich auf eine monokriteriale Kategorienbildung gemäß dem syntaktischen Verhalten, also auf syntaktische Kategorien. Vielmehr halten wir an dem Grundgedanken einer Konstitution von Lexemklassen fest, bei der unterschiedliche grammatische Gemeinsamkeiten herangezogen werden, da diese auch im Sprachvergleich ein nützliches Tertium Comparationis darstellen können. Zu beachten ist vor allem, dass rein syntaktische Kategorienbildungen ja gerade für den Sprachvergleich nicht hinreichen können, insofern als die Syntax der verschiedenen Vergleichssprachen notwendigerweise divergiert und damit auch die syntaktischen Kategorien divergieren. Gemäß unserem funktionalen Ansatz spielen funktionale Gesichtspunkte auch bei der Lexemklassenbildung eine zentrale Rolle, ohne dass dabei andere Gesichtspunkte vernachlässigt würden. Wir legen daher für den nominalen Bereich eine in mehrfacher Weise gestufte Kategorienbildung zugrunde. Wir unterscheiden nicht nur auf der Ebene der lexikalischen Einheiten Wortklassen und Wortarten, sondern auch auf der syntaktischen Ebene ,Konstituentenkategorien‘ (→ D1.1.3). Dabei stehen lexikalische und syntaktische Kategorienbildung nicht unverbunden nebeneinander, sondern sind durch Fundierungsverhältnisse aufeinander bezogen: Wortformen der lexikalischen Klassen bilden jeweils die Grundelemente der Konstituentenkategorien. So sind Formen der Wortart Substantiv Grundelemente der Konstituentenkategorie Nomen.  

B1 Wortklassen

223

Als nominale Wortklassen unserer Vergleichssprachen auf einer obersten Hierarchiestufe betrachten wir Adjektive, Artikel, Numeralia, Pronomina und Substantive. Bezüglich dieser Ebene gilt als Beschränkung für die Kategorienbildung lediglich, dass gemeinsame grammatische Merkmale vorliegen müssen. All diese Wortklassen sind insofern nominal, als Wortformen ihrer Elemente als Teilkonstituenten von Nominalphrasen vorkommen und dies ihre prototypische Vorkommensweise ist. Darüber hinaus teilen die nominalen Wortklassen in einigen unserer Vergleichssprachen auch „nominale“ Kategorisierungen wie Kasus, Genus und Numerus. Von diesen fünf nominalen Wortklassen betrachten wir drei als Wortarten, nämlich Artikel, Adjektive und Substantive. Bei Wortarten, so bestimmen wir, gibt es im Kernbereich eine eindeutige Zuordnung zu einer funktionalen Domäne bzw. Subdomäne. So sind die beiden nominalen Inhaltswortarten Adjektiv und Substantiv jeweils Mengen von Lexemen, denen die funktionale Subdomäne der Modifikation (Adjektiv) bzw. der Nomination (Substantiv) innerhalb eines Ausdrucks mit Referenzpotential, also einer NP, zugeordnet ist. Die Elemente der Wortart Artikel realisieren die funktionale Subdomäne der Identifikation. Für die beiden Inhaltswortklassen Adjektiv und Substantiv gilt, dass die Elemente des Kernbereichs außer dieser zentralen und für sie notwendigen funktionalen Bestimmung auch andere Eigenschaften auf der semantischen, morphologischen und syntaktischen Ebene teilen. Bei den deutschen, französischen und polnischen Substantiven ist dies etwa die Genuskonstanz, bei den Adjektiven gelten im Allgemeinen prädikatives Vorkommen und Komparierbarkeit als weitere Gemeinsamkeiten. Diese Eigenschaften wiederum gelten auch für Elemente, die nicht die funktionale Kernbestimmung erfüllen: So haben Numerativsubstantive wie Liter oder Meter, die keine Nomination im Sinne einer Klassifikation des Gegenstandsbereichs ausdrücken, ein fixes Genus und verhalten sich morphologisch insgesamt wie Substantive, die unter die Kernbestimmung fallen. Wir rechnen auch solche Elemente zur Wortart Substantiv und zwar zu deren Peripherie. Lexeme wie DEU barfuß, kaputt, quitt kommen nicht attributiv vor, also nicht als Modifikatoren in der NP. Sie haben aber prädikativen und teilweise adverbialen Gebrauch und stimmen insofern mit dem Kernbereich der Adjektive überein. Wir rechnen sie daher zur Peripherie der Wortart Adjektiv. Wir schließen hier an Budde (2000: 72) an, wo ähnlich wie in dieser Grammatik die satzsemantischen „Grundfunktionen“ Prädikation und Referenz als Grundlage für die Bestimmung verbaler und nominaler Wortarten gewählt werden. Aufgrund von Beobachtungen etwa zu den „Hilfsverben“, die z. B. aus morphologischen Gründen zu den Verben gehören sollten, aber die Grundfunktion von Verben nicht erfüllen – sie drücken keine Prädikation aus, sondern zeigen z. B. deren zeitlichen Geltungsbereich oder auch eine Modalisierung an – kommt sie zu einer „Unterscheidung zwischen dem Kernbereich einer Wortart – kurz: dem Wortart-Kern – und der Erweiterung des Wortart-Kerns“. Mit Bezug auf letzteres sprechen wir auch von der ,Peripherie einer Wortart‘.  



Bei den drei nominalen Wortarten ist auch die syntaktische Funktion bei den Vergleichssprachen in ikonischem Verhältnis zur funktionalen Domäne für eben diesen

224

B Wort und Wortklassen

prototypischen Fall eindeutig festgelegt: Substantive sind Köpfe der NP, Adjektive Attribute in der NP, Artikel Determinatoren in der NP. Wir betrachten auch diese Korrelation von funktionaler Domäne und syntaktischer Funktion als ausschlaggebend für den Status als Wortarten. Im Folgenden bezeichnen wir diese beiden Gesichtspunkte jeweils als das ,zentrale funktionale Potential‘ und das ,zentrale syntaktische Potential‘, über das eine Wortart verfügt. Die nominalen Wortklassen Pronomen und Numerale betrachten wir nicht als Wortarten. Pronomina fungieren zwar in vielen Fällen als Köpfe referentieller Ausdrücke, aber sie nehmen diese Funktion nicht aufgrund von Nomination wahr, sondern aufgrund von deiktischen und phorischen Beziehungen zum Kontext oder auch insofern sie selbstständig identifizierend oder quantifizierend sind (vgl. dazu im Einzelnen → B1.5.1). Charakteristisch für Pronomina ist zudem, dass sie nicht nur selbstständig, sondern auch adnominal vorkommen. Bei adnominalem Vorkommen reicht ihr funktionales Spektrum von der Identifikation (etwa bei DEU dieser) über die Quantifikation (etwa bei DEU einige) bis zur referentiellen Modifikation (etwa bei ITA mio). Entsprechend haben sie auch unterschiedliche syntaktische Funktion, insofern sie als Determinatoren oder als Attribute fungieren. Folglich sind sie entweder der Konstituentenkategorie Determinativ oder Adjektiv zuzuordnen. So scheidet ein Status des Pronomens als Wortart aus. Andererseits aber sind die Pronomina durch ein ganzes Netz von typischen die Subklassen und die Elemente verbindenden Merkmalen ausgezeichnet: (1) die eben erwähnte weitgehende Kombination von selbstständigem und adnominalem Gebrauch, die sich auch in charakteristischen Paradigmenstrukturen widerspiegelt wie etwa (2) im Zusammenfall oder der Teilidentität zwischen den Paradigmen in beiden Vorkommensweisen oder (3) in flexivischen Besonderheiten wie suppletiven Paradigmen oder einer gegenüber der substantivischen oder adjektivischen Flexion abweichenden Flexion, sowie (4) die Strukturierung der Klasse durch Oppositionen wie ,definit‘ (Personalia und Demonstrativa) versus ,indefinit‘ (Indefinita im weiteren Sinne) oder ,lokal freies Vorkommen‘ (Personalia) versus ‚lokal gebundenes Vorkommen‘ (Reflexiva) oder auch ,identifizierende Funktion‘ (Personalia und Indefinita im engeren Sinn) versus ,auf Identifikation ausgerichtete Funktion‘ (Interrogativa). Wir betrachten somit die Pronomina als eine in sprachübergreifend etablierbare Subklassen gegliederte grammatisch bedeutsame Wortklasse, deren syntaktisches Verhalten jedoch intra- und interlingual stark variiert. Numeralia andererseits sind zwar im Kernbereich, also bezüglich der Kardinalia, funktional klar mit der Domäne der Quantifikation verbunden. Aber dies korreliert in den Vergleichssprachen nicht eindeutig mit einer syntaktischen Funktion; sie können als Determinatoren oder als Attribute fungieren, aber auch als Köpfe in der NP und als notwendige Bestandteile von Numerativkonstruktionen (vgl. dazu im Einzelnen → D1.2.2). Darüber hinaus gilt, dass die Ordinalia keine Quantifikatoren sind, aber in einer engen paradigmatischen Beziehung zu den Kardinalia stehen. Auch die Nume 



B1 Wortklassen

225

ralia betrachten wir somit als grammatisch relevante Lexemklasse, aber nicht als Wortart. Wie bereits angedeutet, können für die Wortarten, auf die wir uns im Folgenden konzentrieren, über die funktionale Grundbestimmung hinaus weitere Merkmale geltend gemacht werden. Wir setzen dabei, wie Sasse (1993a: 190) für den europäischen Vergleich insgesamt, die so genannte „schwache Äquivalenzhypothese“ bzgl. Wortarten voraus: Zwar gelte auch für diese Sprachen, dass sie nicht über „exakt die gleichen Kategorien“ verfügen, dennoch seien die Kategorien, aufgrund des Vorliegens von „typologischer Affinität“, im Prinzip vergleichbar. Sie verfügten über die gleichen „lexikalischen Kategorientypen“. Allerdings ist zu beachten, wie vor allem Haspelmath (2012: 111 f.) betont, dass die Existenz etwa der drei Inhaltswortklassen Substantiv, Adjektiv und Verb als Wortarten selbst im europäischen Bereich nicht ungeprüft vorausgesetzt werden kann. Man kann etwa für das Lateinische sehr wohl dafür argumentieren, dass Substantiv und Adjektiv keine major classes sind, sondern Subklassen einer Makroklasse Nomen – wie dies im Übrigen auch der auf Dionysius Thrax zurückgehenden Tradition der Grammatikschreibung bis ins 19. Jahrhundert hinein entspricht (auch → B1.4.1). Auf diesem wechselnden Status des „Nomens“ als Oberklasse bzw. eigenständige major class beruhen auch die unterschiedlichen Bezeichnungstraditionen, wenn wir mit Bezug auf die nicht-adjektivischen „Nomina“ etwa im Deutschen von Substantiven, im Englischen von nouns sprechen.  



Sasse betrachtet eine Bestimmung dieser Kategorien in der klassischen Tradition einer Bündelung unterschiedlicher Kriterienarten als für diese Sprachen angemessen und setzt, wie in der Grammatikographie europäischer Sprachen üblich, Merkmalsbündelungen auf verschiedenen Ebenen mithilfe von vier Parametern an: (1) formaler Parameter (Flexion, Derivation, Distribution), (2) syntaktischer Parameter (Slot-Filler-Verhältnis, potentielle Abbildungsfunktion auf „syntaktische Kategorien“), (3) ontologisch-semantischer Parameter (Zuordnung zu ontologischen Kategorien bzw. Bedeutungsklassen), (4) diskurspragmatischer Parameter (Zuordnung zu grundlegenden Diskursoperationen: Referenz, Prädikation, Modifikation) (Sasse 1993a: 196). Für das traditionelle „Nomen“ (i. e. in unserer Terminologie das Substantiv) und somit für den wichtigsten nominalen Kategorientyp gelte hier:  

Nomina sind eine Lexemklasse, die sich formal-morphosyntaktisch durch die grammatischen Kategorien Genus, Numerus, Kasus, Determination, semantisch durch ihre Festlegung auf die Denotation von Individuenkonzepten, Materienkonzepten, Lokalitäten und Sachverhaltsabstrakta, syntaktisch durch die Projektion auf eine Kategorie NP, und pragmatisch durch Referenzfähigkeit konstituiert. (ebd.: 197) Wenn Sasse hier von ,Sachverhaltsabstraktaʻ spricht, so wechselt er – wenn man die übliche und auch in diesem Buch geltende Terminologie zugrunde legt – die Ebene. Als Abstraktum bezeichnet man eine sprachliche Einheit, die übrigen Termini der obigen Aufzählung bezeichnen begriffliche bzw. außersprachliche (,Lokalitätenʻ) Einheiten. Bleibt man konsequent auf der begrifflichen Ebene, so könnte man allgemeiner von Gegenstandskonzepten sprechen und als deren Subtypen nennen: Gegenstandskonzepte für Dinge (wie bei Peter, Tisch), Stoffe/Materien (wie bei

226

B Wort und Wortklassen

Gold), Lokalitäten (wie bei Frankfurt, Gebirge), Sachverhalte (wie bei Befreiung). Hinzuzufügen wären mindestens noch Gegenstandskonzepte für Eigenschaften (wie bei Freiheit). Mit den umständlichen Benennungen ,Gegenstandskonzepte für Sachverhalte bzw. Eigenschaftenʻ soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass es einen konzeptuellen, nicht nur einen formalen Unterschied zwischen befreien und Befreiung sowie zwischen frei und Freiheit gibt. Durch die hier vorliegenden Nominalisierungsverfahren werden Sachverhaltsbegriffe und Eigenschaftsbegriffe auf Gegenstandsbegriffe höherer Ordnung abgebildet. In dieser Umpolung kommt hier die kategoriale Bedeutung der Wortart Substantiv zum Tragen. Wir sprechen hier auch vereinfachend von ,abstrakten Gegenständenʻ. Man vergleiche dazu z. B. Lyons (1983: 68–80).  

In den Parametern (2) und (4) sehen wir jeweils Entsprechungen zu unseren Konzepten des ,zentralen syntaktischen Potentials‘ und des ,zentralen funktionalen Potentials‘. Anders als Sasse nehmen wir eine Hierarchisierung zwischen den Parametern an, insofern als wir diese beiden Gesichtspunkte als entscheidend betrachten. Aus diesen Festlegungen ergibt sich für unseren Kontext eine Reihe von im Folgenden anzusprechenden Fragestellungen: (i) Was sind die Grundlagen von Wortartenunterscheidungen allgemein? Welche Rolle spielen hier die in diesem Ansatz dominant gesetzten Konzepte? Wie sieht deren Umsetzung außerhalb der für europäische Sprachen anzusetzenden Äquivalenztypen aus? Dabei soll auch in einem Exkurs kurz auf die Frage der Universalität der Unterscheidung zwischen den Inhaltswortarten, insbesondere der Substantiv-Verb-Unterscheidung verwiesen werden. (ii) Worin bestehen bei unseren Vergleichssprachen sprachspezifische Unterschiede zwischen Substantiv und Adjektiv und in welchem Grad differieren jeweils Substantiv und Adjektiv voneinander? (iii) Gibt es eine hierarchische Ordnung für nominale Subklassen? Wir behandeln in diesem Übersichtskapitel bereits die so genannten ,Nominalhierarchienʻ in ihren verschiedenen Ausprägungen als für viele grammatische Konstruktionen und Verhältnisse gültige Ordnungsprinzipien: Sie betreffen nicht nominale Wortarten insgesamt, sondern prominente Subklassen von ihnen sowie auch die syntaktische Kategorie der NP und ihre verschiedenen Ausprägungen. Hier ist der zentrale Referenzort, auf den an vielen Stellen verwiesen wird. (iv) Überblick zu den einzelnen zu behandelnden Klassen.

B1.1.2 Grundlagen einer Wortartenunterscheidung Richtet man den Blick auch auf Sprachen außerhalb des Bereichs der typologischen Affinität europäischer Sprachen, so verschärfen sich die Zweifel an der Existenz sprachübergreifender Kategorien auf der Wortartenebene noch einmal deutlich. So ist von vornherein klar, dass etwa in isolierenden Sprachen (wie Mandarin oder Vietnamesisch) die für unsere europäischen Sprachen geltend gemachten morphologi-

B1 Wortklassen

227

schen Charakteristika des Substantivs (Flexion nach Numerus, Kasus und ggf. Genus oder Determination) nicht als Charakteristika des präsumptiven Substantivs in Frage kommen können. In der modernen Sprachtypologie besteht daher weitgehend Konsens dahingehend, dass Wortarten wie Substantiv, Verb, Adjektiv sprachspezifisch bestimmt werden müssen. Besonders pointiert wird dies vertreten in Haspelmath (2007b, 2010, 2012). Man vergleiche Haspelmath (2012: 109): […] cross-linguistic categories do not exist […]. Categories represent language-particular generalizations and cannot be carried over from one language to another one.

Korrekterweise ist daher nach Haspelmath (2012: 111) z. B. vom „English Noun“ bzw. dem „Japanese Verbal Adjective“ zu sprechen. Auf der anderen Seite besteht durchaus Bedarf nach interlingualem Vergleich auch auf dieser grammatischen Ebene. Es gibt verschiedene Vorschläge dafür, wie zu möglichen Tertia Comparationis im Hinblick auf Wortarten zu gelangen ist. Wir geben einen kurzen Überblick und schließen daran einen Vergleich mit unseren eigenen Festlegungen im vorangehenden Abschnitt an. Evans (2000: 709 f.) schlägt ein bottom-up-Verfahren vor, bei dem zunächst für jede Sprache aufgrund distributioneller Kriterien Wortarten bestimmt und deren jeweilige prototypischen Elemente identifiziert werden. Sodann werden interlinguale Korrelationen zwischen den Wortarten auf der Basis der semantischen und funktionalen Eigenschaften des jeweils identifizierten Kernbereichs hergestellt. Abschließend soll die Distribution der verglichenen Klassen untersucht und das Maß an Konsistenz geprüft werden, mit dem Elemente bestimmter semantischer Typen den jeweiligen Wortarten zuzuordnen sind. Das evanssche Verfahren ist primär auf den Abgleich zwischen den prototypischen Klassenvertretern und die sprachspezifisch mehr oder minder großen Abweichungen von deren Verhalten bei weniger zentralen Subklassen gerichtet, was wiederum zu Mischungen zwischen den Wortartencharakteristika führen kann. So zeigt er, dass relationale oder prozessuale Konzepte, die in europäischen Sprachen durch Substantive denotiert werden, wie etwa Verwandtschaftsbezeichnungen, das Konzept ,Freundʻ oder dynamische Konzepte wie ,Blitzʻ, ‚Donnerʻ, ,Wasserfallʻ in zahlreichen Sprachen verbal repräsentiert werden. Die Frage nach dem Tertium Comparationis wird bei diesem Vorgehen mit dem Verweis auf zwischensprachliche semantische Korrelationen in gewisser Weise operationalisiert, aber nicht explizit thematisiert. Andere Autoren hingegen stellen sich dieser Aufgabe. Haspelmath (2012) stellt in seinem kurzen Überblick und Rückblick auf die neueren Ansätze fest, dass nur „comparative concepts“ als Tertia in Frage kommen, die sich entweder auf die Laut- oder auf die Bedeutungsseite sprachlicher Zeichen beziehen könnten, nicht aber auf die Laut-Bedeutungs-Kombination, die notwendigerweise sprachspezifisch geregelt ist. Die rezenten Vorschläge präsentieren in der Regel komparative Konzepte auf der Bedeutungs- bzw. Funktionsseite. Dabei werden entweder „ontologisch-semantisch“ (vgl. Sasse 1993a, Parameter 3), „konzeptuell-semantisch“ (Haspelmath 2010: 670)  



228

B Wort und Wortklassen

bzw. „kognitiv“ (Lehmann 2013: 154 et passim) genannte Konzepte herangezogen oder aber „diskurspragmatische“ (Sasse 1993a, Parameter 4) bzw. „kommunikative“ Funktionen (Lehmann 2013). Wir sprechen im Folgenden jeweils von ,begrifflicher Bedeutungʻ und ,kommunikativer Funktionʻ. Neuerdings wird im Anschluss an Croft (1991) häufig auf eine Kombination dieser beiden Gesichtspunkte gesetzt, auf die wir weiter unten kurz eingehen. In der traditionellen Wortartenlehre war eine aus heutiger Sicht simplifizierende Version des begrifflichen Gesichtspunkts vorherrschend, bei der Substantive als Dingwörter, Verben als Tunwörter und Adjektive als Eigenschaftswörter betrachtet wurden. Hier sind Modifikationen vorzunehmen. Zum einen wird der Denotatsbereich der genannten Wortarten stärker differenziert und einer modernen Semantikauffassung angepasst, wenn, wie erwähnt, Sasse z. B. für Substantive von Individuenkonzepten, Materienkonzepten, Lokalitäten und Sachverhaltsabstrakten spricht, die im europäischen Sprachtyp als Denotatsklassen vorkommen. Im Ansatz von Lehmann (2013) wird zudem die Rolle der „kognitiven Funktion“ im Sinne der Erfassung und Interpretation der Außenwelt als konstituierender Faktor für die „kategoriale Bedeutung“ der Wortarten eher gering eingeschätzt, wenn er (2013: 161) argumentiert: „word classes only have a derivative, if any, cognitive basis and therefore only a weak, if any, common semantic denominator“. Zum anderen wird, um die ererbte Mehrdeutigkeit des Konzepts der partes orationis zu überwinden, das sich sowohl auf die Einheiten auf der Satz- oder Textebene als auch auf Einheiten auf der abstrakteren Systemebene bezog, also eine Ambiguität zwischen syntaktischen Kategorien und Wortarten implizierte, nicht mehr von der Bedeutung der Wortarten, sondern von der Bedeutung von „Stammklassen“ (stem classes, so bei Lehmann) oder gar „Wurzelklassen“ (root classes, so bei Haspelmath) gesprochen. Lehmann zielt dabei vor allem darauf ab, dass Stämme im Gegensatz zu Lexemen in der Tat im Satz bzw. Text vorkommen. Haspelmath hat vor allem die wortbildungsmorphologische Ausdehnbarkeit etwa des Substantivwortschatzes im Auge. Diese führt, z. B. in unseren europäischen Vergleichssprachen, dazu, dass eben nicht nur Konzepte für konkrete Dinge oder Stoffe, sondern u. a. auch Gegenstandskonzepte für Eigenschaften (wie DEU Freiheit ENG freedom/liberty FRA liberté POL wolność UNG szabadság) und Sachverhalte (wie DEU Befreiung ENG liberation/deliverance FRA libération/délivrance POL uwolnienie UNG felszabadolás) von Substantiven bezeichnet werden. Im vorliegenden Fall gehen die beiden Reihen von abstrakten Konzepten auf adjektivische Wurzeln zurück, nämlich DEU frei ENG free FRA libre POL wolny UNG szabad, die durch Suffixe in substantivische Eigenschaftsbezeichnungen und auf dem Wege über entsprechende transitive Verben (wie DEU befreien, ENG to deliver, FRA libérer/délivrer, POL uwolnić, UNG felszabadít) zu substantivischen Sachverhaltsbzw. Ereignisbezeichnungen abgeleitet werden. Im Ungarischen gibt es daneben ein intransitives Verb UNG felszabadul ,frei werden, befreit werden‘.  





In den Kontrastsprachen Polnisch und Ungarisch gibt es weitere Entsprechungen für DEU Freiheit und Befreiung. Im Polnischen sind zum einen mit Bedeutungsdifferenzierung auch die Präfixbildungen wyzwolić/wyzwolenie und zwolnić/zwolnienie für ,befreien, Befreiungʻ möglich. Zum anderen existiert die Wurzel swobod, die nicht frei vorkommt, sondern in das Substantiv swoboda ,Freiheitʻ, das Adjektiv swobodny ,freiʻ sowie in das Verb oswobodzić eingeht. Auch im Ungarischen sind unter Bedeutungsdifferenzierung andere Präfigierungen statt fel- möglich, und zwar mit ki- oder meg-. Für das Englische ist das Nebeneinander von auf germanischer und auf lateinischer bzw. romanischer Grundlage basierenden Bildungen zu beobachten: So wird neben free hier LAT liber ,freiʻ alternativ für das Eigenschaftsabstraktum herangezogen. Im Verb bzw. dem Sachverhaltsabstraktum erscheint nur die lateinische bzw. romanische Basis.

B1 Wortklassen

229

Wenn die semantischen komparativen Konzepte sich, dem Vorschlag von Haspelmath (2012: 115, 123 f.) gemäß, auf die Wurzeln beschränken und die z. B. durch derivationelle Prozesse bewirkten Ausdehnungen des Wortschatzes der Hauptwortarten vernachlässigt werden, so kann der Vergleich sich auf folgende komparative Konzepte stützen, statt unzulässigerweise Kategorien wie Substantiv, Verb und Adjektiv heranzuziehen:  



a) thing-root: a root that denotes a physical object (animate or inanimate) b) action-root: a root that denotes a volitional action c) property-root: a root that denotes a property such as age, dimension or value Haspelmath exemplifiziert Kategorie a) durch Beispiele wie tree, door, child, Kategorie b) durch Beispiele wie run, talk, break und Kategorie c) durch Beispiele wie good, old, small. Auf den so definierten Kernbestand richte sich das Augenmerk des Typologen, während der deskriptive Grammatiker die Lexemklassen behandle, die sich in einer Sprache wie diese Wurzeln verhalten, die aber morphologisch komplex sein mögen (wie die Substantive Freiheit, Befreiung oder die bei Haspelmath genannten Beispiele für alle drei Lexemklassen: kingdom, enlarge und reddish) oder nicht den begrifflichen Typen entsprechen – ob sie nun Wurzeln sind (wie ENG war DEU Krieg, das kein konkretes Objekt bezeichnet) oder komplexe Lexeme (wie das Adjektiv ENG royal, das keine Eigenschaft bezeichnet, sondern klassifiziert, vgl. auch → A4.2) oder ein Verb wie love, das keine Handlung denotiert. Die zweite Quelle von komparativen Konzepten richtet sich auf die kommunikativen Funktionen sprachlicher Zeichen und orientiert sich dabei im Wesentlichen an der searleschen Sprechakttheorie, namentlich an den propositionalen Akten Referenz und Prädikation. Lehmann (2013: 155) stellt hier die Verbindung mit den Wortarten (bzw. Stammklassen) Substantiv und Verb in einem deduktiven Verfahren her, wenn als syntaktischer Ausdruck der beiden Akte jeweils die syntaktischen Funktionen von Subjekt und Prädikat identifiziert werden, die auf der syntaktisch-kategorialen Ebene als Nominal- und Verbalphrase instanziiert werden können und letztlich auf der lexikalischen Ebene als Nomen und Verb; vgl. dazu auch → A2.1.  





It is at the end of this chain of relations that the two principal word classes may be characterized in functional terms: a noun is a word of a category whose primary function it is to refer; a verb is a word of a category whose primary function it is to predicate.

Auch Lehmann betont, dass Referenz und Prädikation nicht notwendigerweise in einer Sprache durch lexikalische Klassen wie Substantiv und Verb geleistet werden müssen; die Existenz entsprechender Klassen werde damit nicht impliziert. Lehmann betrachtet diese beiden kommunikativen Funktionen als grundlegend, alle anderen Funktionen und damit auch ihre syntaktischen oder lexikalischen „Repräsentanten“ seien nachrangig. Dies gilt insbesondere auch für die Modifikation. Wie bei Searle selbst ist bei Lehmann Modifikation kein propositionaler Teilakt. Vielmehr ist Modifi-

230

B Wort und Wortklassen

kation eine Operation, die optional sowohl im Zuge von Referenz als auch bei Prädikation erfolgen kann. So heißt es (Lehmann 2013: 161): „Concepts may be modified in order to be used for reference and predication“. Formale Grundlage der Modifikation sei die „modifikative grammatische Relationalität“, also die Fähigkeit, aus einem Element einer Kategorie X ein Element derselben Kategorie X zu erzeugen, d. h. wiederum eine endozentrische Konstruktion zu projizieren. Die formale entspricht einer konzeptuellen Relationalität, die darin besteht, zu der Funktion eines anderen Konzepts beitragen zu können. Adjektive sind zur Modifikation im Rahmen referentieller Konzepte prädestiniert, Adverbien zu der im Rahmen prädikativer Konzepte. Diese Abstufung zwischen Referenz und Prädikation als übergeordnete Funktionen bzw. funktionale Domänen gegenüber der Modifikation als untergeordnete Funktion bzw. funktionale Subdomäne ist auch Grundlage der Konzeption in diesem Buch. Insbesondere betrachten wir Modifikation, u. a. in Form des Adjektivs, als funktionale Subdomäne der Referenz, die ihrerseits primär in Form von Nominalphrasen mit substantivischem Kopf erfolgt. Anders als Lehmann ordnen Sasse (1993a) und Haspelmath (2012) Modifikation als gleichrangig mit Referenz und Prädikation ein, Sasse (1993a: 196) spricht z. B. von den „drei grundlegenden Diskursoperationen Referenz, Prädikation, Modifikation“. Croft (1991: 51 f., 2003: 185) betrachtet zwar Modifikation nur als „sekundären propositionalen Akt“, der als restriktive Modifikation zur Etablierung von Referenz beitrage bzw. als non-restriktive Modifikation eine sekundäre Prädikation ausdrücke, bei seiner Charakterisierung der Klassen Substantiv, Verb und Adjektiv wird aber auf diese Rangabstufung nicht mehr eingegangen. Dieser zuerst in Croft (1991) formulierte Vorschlag für ein komparatives Konzept der Wortartenunterscheidung, das auf einer Kreuzklassifikation von begrifflichen und kommunikativen Funktionen beruht, wurde im Folgenden besonders einflussreich; vgl. u. a. Croft (2003), Haspelmath (2012). Die Grundidee ist dabei, dass jeder der drei Hauptwortarten im prototypischen Fall ein Paar bestehend aus einer bestimmten kommunikativen Funktion und einer bestimmten begrifflichen Bedeutung zuzuordnen sei – neben anderen nicht-prototypischen Kombinationen.  













Prototypische und nicht-prototypische Kombinationen folgten dem Markiertheitsmuster „struktureller Asymmetrie“, d. h., eine prototypische Kombination wird ,strukturell unmarkiertʻ kodiert gegenüber ,strukturell markierterʻ Kodierung von nicht-prototypischer Kombination. Strukturell markierte Kodierung ist morphosyntaktisch mindestens ebenso aufwändig wie unmarkierte (vgl. Croft 2000a: 88 f., 2003: 183–192).  



B1 Wortklassen

231

Es gelten die folgenden Kombinationen (nach Croft 1991: 53–62, 2003: 185): Tab. 1: Kreuzklassifikation der Hauptwortarten nach begrifflicher Bedeutung und kommunikativer Funktion bei Croft Referenz

Modifikation

Prädikation

UNMARKIERTE SUBSTANTIVE vehicle

Genitiv (vehicle’s), Adjektivierungen (vehicular), Präpositionalphrasen (in/on/… the vehicle)

substantivische Prädikatsnomina (in Kopulakonstruktionen) (be a/the vehicle)

Eigenschaften deadjektivische Substantive (whiteness)

UNMARKIERTE ADJEKTIVE (white)

adjektivische Prädikatsnomina (in Kopulakonstruktionen) (be white)

Handlungen

Partizipien (destroying, destroyed), Relativsätze

UNMARKIERTE VERBEN (destroy)

Objekte

deverbale Substantive (destruction), Komplementsätze, Infinitive (to destroy), Gerundien (destroying)

Die Beispiele in der Übersicht zeigen, dass in den aufgeführten Fällen strukturell markierter Kombinationen im Englischen gegenüber den unmarkierten jeweils ein morphosyntaktisches Mehr vorhanden ist: Die unmarkierte paarweise Kombination zeigt keine „function-indicating morpho-syntax“, während diese in den markierten Kombinationen gegeben ist. Dieses Mehr in Form von wortbildungsmorphologischen oder syntaktischen Elementen oder ,Markernʻ zeigt die kommunikative Funktion an. (Der Mehraufwand ist durch Fettsetzung gekennzeichnet.) Croft betont, dass auch die Abwesenheit von „function-indicating morpho-syntax“ („zero-marking“) bei markierten Kombinationen – bei gleichzeitigem zero-marking der unmarkierten Kombination – der Definition struktureller Markiertheit entspricht. Sie liegt z. B. vor in englischen Modifikationsstrukturen wie university housing, state budget; hier realisiert ein Substantivstamm ohne funktionsindizierende Morphosyntax die markierte Kombination (vgl. Croft 1991: 58 f.). Haspelmath (2012) hat aus diesen von Croft dargestellten Markiertheitsverhältnissen, wie oben gezeigt, die Konsequenz gezogen, dass als komparative Konzepte nur die „roots“ heranzuziehen seien, also die Wurzeln, die keine funktionsindizierenden morphosyntaktischen Marker aufweisen. So formuliert Haspelmath (2012: 124 f.) im Anschluss an Croft „associations of root-grouping and propositional-act type“.  







In Croft (2001) erscheint die Wortartenproblematik in einem teilweise neuen Licht. Im Rahmen der „Radical Construction Grammar“ werden nur sprachspezifische Kategorien, die ihrerseits aus sprachspezifischen Konstruktionen abgeleitet sind, anerkannt. Zwar werden auch hier Korrelationen zwischen „three propositional act constructions and three semantic classes“ für noun, adjective und verb wie in Tabelle 1 oben herangezogen (vgl. ebd.: 88). Diese werden jedoch explizit zu conceptual categories erklärt, die innerhalb eines conceptual space in bestimmter Weise angeordnet sind. Es handelt sich also nicht um sprachliche Kategorien, weder auf der

232

B Wort und Wortklassen

einzelsprachlichen noch auf der übereinzelsprachlichen Ebene. Für das Verhältnis zwischen diesem konzeptuellen Raum und einzelsprachlichen Kategorien gelte „The distribution patterns of part-of-speech constructions in any language can be MAPPED onto the conceptual space […].“ Wir schließen uns dieser Reinterpretation des Tertium Comparationis auf der „konzeptuellen“, also nicht-sprachlichen Ebene nicht an. Vielmehr gehen wir grundsätzlich von kommunikativem Potential und begrifflicher Bedeutung aus, die sich in sprachlichen Zeichen(kombinationen) manifestieren und in Theorien über sprachliche Zeichen(systeme) erfasst werden. Auch ist die Kritik Crofts am Distributionalismus (ebd.: 11–14, 29–47) als in der Wortartenlehre dominantem Ansatz überzogen und reflektiert einen längst überholten Forschungsstand: Distributionelle Verfahren können probate methodische Werkzeuge im Rahmen grammatischer Theorien sein – dabei ist in diesem theoretischen Rahmen der Zweck der Kategorienbildung klargestellt, aus dem u. a. auch Prinzipien der Gewichtung z. B. zwischen unterschiedlichen Distributionsklassen abgeleitet werden können. In welchem Verhältnis stehen nun die genannten Vorschläge zu dem hier entwickelten Konzept? Die Vorschläge von Croft und deutlicher noch von Lehmann stimmen mit unserer Vorgehensweise im Hinblick auf die ,kommunikative Funktion‘ bzw. des bei uns so genannten ,zentralen funktionalen Potentials‘ von Wortarten weitgehend überein. Allerdings sei nochmals betont, dass wir auch das kommunikative Potential als eine sprachliche Größe, als Eigenschaft sprachlicher Einheiten, betrachten. Im Unterschied zu unserem Vorschlag unterbleibt in diesen Vorschlägen jedoch eine Korrelation des funktionalen Potentials mit dem ,zentralen syntaktischen Potential‘ oder sie wird zumindest – so bei Lehmann – in ihrer Relevanz herabgestuft. Dies ist damit zu begründen, dass Nominalphrasen, wie wir sie aus den Vergleichssprachen kennen, nicht universal vorausgesetzt werden können. Auf der anderen Seite wird vor allem von Croft auch auf eine Differenzierung nach der begrifflichen Bedeutung der Wortarten gesetzt. Diese spielt in unserem Ansatz keine definitorische Rolle. Die jeweils angenommene begriffliche Bedeutung trifft, wie bereits gezeigt, nur auf Teilmengen der sprachspezifischen Wortarten zu. Immerhin kann eine differenziertere Analyse des begrifflichen Spektrums, das jeweils von einer sprachspezifischen Wortart abgedeckt wird und das über die Vereinfachungen im croftschen Ansatz hinausgeht, sich als ein Varianzparameter im Sprachvergleich erweisen: So ist nicht nur der Umfang des Substantivwortschatzes, sondern auch dessen begriffliche Entfaltung vor allem davon abhängig, wie stark die Wortbildung des Substantivs, also Derivation, Konversion und Komposition, jeweils entwickelt ist. Wir gehen auf dieses Thema hier nur am Rande ein, mit Hinweisen zu dem im Sinne von Croft morphosyntaktisch unmarkierten Bereich der Inhaltswortarten und einer Generalisierung auf den entsprechenden wortbildungsmorphologisch erweiterten Wortschatz von Substantiv und Adjektiv. Was ersteres angeht, so ist zu beachten, dass die begrifflichen Festlegungen Crofts für die Wortarten auch innerhalb des Bereichs, wo im Englischen bzw. im  



B1 Wortklassen

233

Deutschen und den übrigen Vergleichssprachen keine funktionsindizierenden morphosyntaktischen Marker vorliegen, also im unmarkierten Bereich, jeweils nur auf die prototypischen Vertreter abgestellt sind: Unabgeleitete Substantive unserer Vergleichssprachen bezeichnen neben den prototypischen konkreten „objects“ vor allem auch Stoffe wie Wasser, Gold usw. Unabgeleitete Verben bezeichnen neben den prototypischen Handlungen auch Prozesse und Zustände. Wir sprechen daher bezogen auf Substantive im allgemeineren Sinne von ,konkreten Gegenständenʻ (Dinge + Stoffe). Bezogen auf Verben wäre von ,Sachverhaltenʻ (i. e. Handlungen, Prozesse, Zustände) zu sprechen. Wir können somit für die beiden nominalen Inhaltswortarten in ihrem prototypischen Kernbestand zu ihrer definitorischen Bestimmung durch das Paar aus ,zentralem funktionalem Potential‘ und ,zentralem syntaktischem Potential‘ noch ergänzend eine begriffliche Bestimmung hinzunehmen:  

Substantive: , Begriff für einen konkreten Gegenstand Adjektive: , Eigenschaftsbegriff Der im Sinne von Croft markierte Wortschatzbereich von Substantiv und Adjektiv ist in allen Vergleichssprachen über den angegebenen begrifflichen Bereich hinaus ausgedehnt. Beim Substantiv handelt es sich in erster Linie um eine Ausdehnung auf abstrakte Gegenstände auf der Basis von Eigenschaftsbegriffen und Sachverhaltsbegriffen, man vergleiche etwa die in → B1.1.1 genannten Beispielreihen: (1)

DEU Freiheit ENG freedom/liberty FRA liberté POL wolność UNG szabadság

(2)

DEU Befreiung ENG liberation/deliverance FRA libération/délivrance POL uwolnienie UNG felszabadulás

Bei den Adjektiven sind in erster Linie die durch Derivation abgeleiteten Relationsadjektive zu nennen, die keine Eigenschaftsbegriffe bezeichnen, sondern eine Relation zu dem Begriff der Wortbildungsbasis, also einem durch ein Substantiv ausgedrückten Gegenstandsbegriff, man vergleiche: (3)

DEU königlich ENG royal FRA royal POL królewski UNG királyi

Für den erweiterten Substantiv- und Adjektivwortschatz bleibt die Korrelation zwischen dem funktionalen und dem syntaktischen Potential gültig, die Bestimmung der begrifflichen Bedeutung jedoch ist im Falle der Substantive auf ,Gegenstandsbegriff‘ zu erweitern. Für den erweiterten Adjektivwortschatz hingegen kann keine einheitliche begriffliche Bedeutung angegeben werden.

234

B Wort und Wortklassen

Mit der Festlegung der komparativen Konzepte, bestehend aus dem zentralen funktionalen und syntaktischen Potential von Substantiv und Adjektiv, sind die sprachspezifischen Kategorien noch nicht ermittelt und gegeneinander abgegrenzt. In → B1.1.4 werden wir auf die Bestimmung und Abgrenzung der beiden nominalen Hauptwortarten Substantiv und Adjektiv in den Vergleichssprachen näher eingehen und zwar unter den Fragestellungen: –



Wie kann das deutsche, englische, französische, polnische und ungarische Substantiv und Adjektiv bestimmt werden und welche Unterschiede ergeben sich zwischen den Sprachen? Wie nah bzw. distant in ihren Merkmalen sind die beiden nominalen Hauptwortarten in den Vergleichssprachen jeweils?

Zuvor wird in einem kurzen Exkurs die generelle Frage einer Unterscheidbarkeit der Inhaltswortklassen und insbesondere die Nomen/Substantiv-Verb-Unterscheidung diskutiert.

B1.1.3 Exkurs zur Distinktion zwischen den Inhaltswortklassen, insbesondere der Substantiv-Verb-Unterscheidung im typologischen Vergleich Die Frage, ob die Existenz von Nomina/Substantiven und Verben als sprachspezifische Wortarten ein Universale ist, beschäftigt die Sprachtypologie seit langem. So stellen bereits Sapir (1921: 141–143) und vor allem Swadesh (1939) bezüglich des Nootka (Familie: Wakash) eine Substantiv-Verb-Unterscheidung im Wortschatz in Frage, ähnlich geschah dies auch in den 1970er Jahren für die ebenfalls an der nördlichen Westküste Nordamerikas beheimatete Sprachfamilie der Salish-Sprachen. Die Substantiv-Verb-Unterscheidung wurde für diese Sprachen in Frage gestellt, weil dort Inhaltswörter insofern wortartenunspezifisch angelegt sind, als sie frei mit verbalen und nominalen Affixen zum Aufbau von nominalen bzw. verbalen Konstituenten kombinierbar sind. Sasse (1991) diskutiert in einem auf Grundsatzfragen zur Syntax und Satzkonstitution ausgerichteten Artikel anhand von Sprachen wie dem polysynthetischen Cayuga (Familie: Irokesisch) und dem auf den Philippinen gesprochenen Tagalog (Familie: Austronesisch) weitere Konstellationen, die die Nomen-Verb-Distinktion fraglich erscheinen lassen: Er unterscheidet zwischen state-of-affairs-Ausdrücken und Aktanten-Ausdrücken – also Ausdrücken, die funktional jeweils Prädikation und Referenz leisten und die in den europäischen „Modellsprachen“ lexikalisch auf Verb bzw. Substantiv beruhen. Es kann nun der Fall sein, dass state-of-affairs-Ausdrücke an Aktanten angenähert sind, wie dies nach seiner Analyse im Tagalog der Fall ist. Oder aber Aktanten können an state-of-affairs-Ausdrücke angenähert sein, wie dies nach

B1 Wortklassen

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seiner Analyse im Cayuga der Fall ist. Daneben diskutiert er auch die isolierende polynesische Sprache Tongaisch, die zu einer Sprachgruppe gehört, für die die Nomen-Verb-Unterscheidung ebenfalls bezweifelt wird. Haspelmath (2012: 116) gibt einen Überblick über den Stand der typologischen Forschung zur Frage der Substantiv-Verb-, der Substantiv-Adjektiv- und der VerbAdjektiv-Distinktion. Es zeigt sich, dass in allen drei Fragen sowohl die Position vertreten wird, alle Sprachen verfügten über die jeweilige Unterscheidung als auch die Position, nicht alle Sprachen verfügten über sie; auch mit Bezug auf einzelne Sprachen gibt es gegenteilige Meinungen in der Literatur. Er kommentiert den Befund (ebd.) so: The general trend seems to be that earlier work has tended to deny word-class distinctions, whereas more recent work has tended to (re-)assert word-class distinctions of the familiar type […] Thus, earlier linguists tended to be lumpers, whereas more recently they have tended to be splitters.

Hengeveld/Rijkhoff/Siewierska (2004) allerdings vertreten im Anschluss an Hengeveld (1992) diesem Trend widersprechend einen „lumping“-Ansatz, also eine Position, die das Fehlen von Distinktionen zwischen den Wortarten Verb, Substantiv, Adjektiv und (Modal-)Adverb insgesamt sowie abgestuft gemäß folgender Hierarchie als Option für die Sprachen der Welt zulässt. Hierarchie der Redeteile (Hengeveld/Rijkhoff/Siewierska 2004: 533): Kopf einer > präd. Phrase

Kopf einer ref. Phrase

>

Modifikator einer ref. Phrase

>

Modifikator einer präd. Phrase

Auffällig ist eine Asymmetrie in der Hierarchie: Prädizierende Köpfe sind referentiellen übergeordnet, die entsprechenden Modifikatoren sind aber umgekehrt geordnet. Zu einer Kritik an Hengeveld (1992) vgl. Croft (2000a, 2001).

Die Hierarchie hat folgende Interpretation: Je weiter links ein Slot erscheint, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Sprache auch über eine auf diese syntaktische Funktion spezialisierte Wortart verfügt. Damit reicht das Sprachenspektrum von „flexiblen“ Sprachen, in denen mehrere oder gar alle Slots von derselben Lexemklasse gefüllt werden können, über den „differenzierten Typ“ (bzw. „spezialisierten“ Typ in Hengeveld 1992: 69), bei dem alle vier Slots jeweils durch distinkte Wortarten belegt werden, bis zu „starren“ (rigid) Sprachen, die weniger als vier Wortarten (und im Extremfall nur eine) aufweisen, die jeweils der Hierarchie entsprechend auf bestimmte Slots spezialisiert sind. Im Sprachensample von Hengeveld/Rijkhoff/Siewierska (2004) sind von unseren Vergleichssprachen das Polnische und das Ungarische vertreten. Beide werden – wie das ebenfalls zur Illustration oft herangezogene Englisch – als dem „differenzierten Typ“ zugehörig eingeordnet. Kritisch ist hier die Adjektiv-Modaladverb-Distinktion. In den genannten Kontrastsprachen wie auch im Französischen fungieren „erweiterte Formen“ des Adjektivs als Modaladverbien. Die

236

B Wort und Wortklassen

Autoren gehen (ebd.: 537) explizit für das Englische von einer eigenen Wortart Modaladverb aus, obwohl es sich nahezu immer um aus dem Adjektiv abgeleitete Formen handele. Analog ist die Situation im Französischen, während im Ungarischen die entsprechende an das Adjektiv angefügte Endung -(e/a)n wie in UNG feketén ‚schwarz‘ (Adv), magasan ,hoch‘ (Adv) als Endsuffix häufig zu den Kasusaffixen gerechnet wird. Auch im Polnischen ist der Status der Adverbform auf -o bzw. -ʹe nicht eindeutig der Derivation zuzurechnen. Beide Suffixe entstammen ursprünglich der Flexion des Adjektivs. Neben der Einordnung von UNG -(e/a)n als Kasussuffix „1. Modal-Essiv“ etwa in Tompa (1968: 205, 1972: 124) wird auch die Einordnung als Derivationsaffix zur Ableitung von Modaladverbien aus Adjektiven vertreten, vgl. Kiefer (2000: 208). Bei den polnischen Suffixen handelte es sich nach Bartnicka (2004: 448) im Falle von -o um die Endung des Nominativ Singular Neutrum, im Falle von -ʹe um den Lokativ Singular Neutrum der einfachen Adjektivdeklination. Rothstein (1993: 705) spricht bei beiden Suffixen davon, dass in ihnen neutrale Kurzformen des Adjektivs konserviert sind. Beide Endungen sind aber in der Deklination des Adjektivs nicht mehr in der entsprechenden Funktion erhalten. Die Tatsache, dass es nur Tendenzen für die Wahl zwischen beiden Formen gibt, die Wahl also nicht strikt aufgrund der morphophonemischen Eigenschaften vorhersagbar ist und außerdem eine ganze Reihe von Dubletten existiert, die nur zum Teil semantisch und/oder syntaktisch verschieden sind wie etwa bei daleko ,weitʻ versus dalece (in Verbindungen wie jak dalece ,inwieweitʻ oder tak dalece, że ,so weit/sehr, dassʻ), spricht eher für einen synchronen Status als Wortbildungselemente. Andererseits sind bei einigen semantischen Adjektivklassen in Prädikativfunktion bei „pauschaler“ bzw. „unpersönlicher“ Prädikation, also wenn weder syntaktisch noch semantisch ein Abstimmungsverhältnis mit einem Antezedens (,Kongruenzʻ) vorliegt, nach wie vor Formen auf -o im Gebrauch: Im Präsens kann dabei die Kopula (jest) entfallen: zimno mi ,mir ist kaltʻ, ciemno tu ,hier ist es dunkelʻ (vgl. dazu Bartnicka et al. 2004: 451 f.), było nam bardzo smutno bez niego, wörtlich: ,es war uns sehr traurig ohne ihnʻ, ,wir waren sehr traurig ohne ihnʻ (Feldstein 2001: 57).  

Das Deutsche verhält sich klar wie das in Hengeveld (1992) und Rijkhoff (2004: 18) behandelte Niederländische. Ausdrücke wie NDL mooi ,schönʻ werden bei Hengeveld (1992: 69) als einer unspezifischen Modifikatorkategorie A/Adv zugehörig eingeordnet, das ganze System daher als „flexibel“. Sie gehören dabei insbesondere zu dem Untertyp von flexiblen Sprachen, den Lehmann (2013: 162) so kommentiert: „The adjective and the adverb are alike in their primary function of modifying another concept. Consequently some languages abide by a generic category of modifier, which may be combined indiscriminately with nouns and verbs.“ Auch im Deutschen sind entsprechende Modaladverbien jedoch sprachhistorisch als Flexionsformen des Adjektivs einzuordnen; im Althochdeutschen lautete das entsprechende Suffix -o, im Mittelhochdeutschen -e. Das Suffix ist im Neuhochdeutschen entfallen. Insofern kann, wie in der neueren deutschen Grammatikographie üblich, auch die Position vertreten werden, es liege nicht eine unspezifische Modifikatorkategorie vor, sondern es handle sich um die Wortart Adjektiv mit erweiterter Distribution und Funktionalität.

B1 Wortklassen

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Rijkhoff (2004: 16–18) behandelt das Niederländische als „rigid language“ mit den drei Wortarten V, N, A. Dies ist jedoch der Tatsache geschuldet, dass er – da nur auf das Thema NP fokussiert – Modaladverbien außer Betracht lässt und daher die drei hengeveldschen Typen V-NA/Adv, V-N-A-Adv und V-N-A zu einem Typ, nämlich V-N-A zusammenfasst. Dies trägt jedoch nichts zur Lösung der Frage bei, ob wir für NDL mooi und DEU schön in einer Gesamtgrammatik von der Wortart Adjektiv oder Modifikator auszugehen haben.  

Ob das Deutsche und das Niederländische (und gegebenenfalls auch andere Vergleichssprachen) nun über Adjektive, nicht aber über Modaladverbien als eigene Wortart verfügen, oder ob diese Sprachen, Hengeveld folgend, als flexible Sprachen nur eine unspezifische Modifikatorkategorie haben, sie folgen in jedem Fall der o. g. Hierarchie der Redeteile.  

B1.1.4 Sprachspezifische Bestimmung der nominalen Wortarten Substantiv und Adjektiv in den Vergleichssprachen B1.1.4.1 Unterschiede in den morphologischen und syntaktischen Merkmalen Substantive sind in den Genussprachen Deutsch, Französisch und Polnisch die einzige Wortart, deren Elemente generell über ein fixes Genus verfügen. Damit ist in diesen Sprachen jeweils die Kategorie eindeutig bestimmt, wobei die marginal auftretenden Genusschwankungen (wie bei DEU Abscheu M /F , Gelee N /M , FRA enzyme F /M ,Enzymʻ oder POL goleń M /F ,Schienbeinʻ) vernachlässigt werden können. Die Kategorisierungen Numerus und Kasus spielen in den Vergleichssprachen keine ähnlich ausgrenzende Rolle: Numerusdifferenzierungen liegen in allen Vergleichssprachen zumindest bei (gewissen) Pronomina und Determinativen (etwa bei den Demonstrativa ENG this/that, UNG ez/az ,dieser/jener‘) vor, im Deutschen, Französischen, Polnischen und Ungarischen zumindest in gewissen syntaktischen Konstruktionen, auch beim Adjektiv. Nur das Englische flektiert Adjektive nicht nach dem Numerus. Kasusunterscheidungen können im Englischen und Französischen weder Substantiv noch Adjektiv tragen; in den übrigen Vergleichssprachen können alle nominalen Wortarten, konstruktionsabhängig, kasusmarkiert werden. Im Ungarischen sind gewisse Kasussuffixe allerdings spezifisch für eine der nominalen Wortarten: So ist u. a. das Modalsuffix -(e/a)n auf Adjektive (und Numeralia) beschränkt. In ihrer syntaktischen Distribution ähneln sich die Substantive der Vergleichssprachen weitgehend. Dabei ist in erster Linie die syntaktische Funktion ein geeignetes Tertium Comparationis. Auf dieser, abstrakteren, Ebene zeigt sich z. B., dass die Substantive aller Vergleichssprachen als Köpfe nicht nur von Phrasen in der Funktion von (Verb-)Komplementen, Supplementen sowie im Deutschen, Englischen und Polnischen auch als Köpfe von (referentiellen) Attributen auftreten und damit – in der Regel als referentielle Ausdrücke –, sondern auch als Prädikative (Prädikatsnomina). Die dabei eingesetzten syntaktischen Konstruktionen sind im Einzelnen durchaus  



238

B Wort und Wortklassen

verschieden, so dass auf dieser Ebene selbstverständlich auch die Merkmale der sprachspezifischen Wortarten differieren. Eine Besonderheit etwa des englischen Substantivs ist sein Vorkommen in syntaktischen N+N-Verbindungen wie London Street, wo das vorangestellte Substantiv bzw. das erweiterte nominale Syntagma der Kategorie NOM (wie in [South London] street) ähnlich einem Relationsadjektiv klassifikatorische Modifikation leistet. Eine vollständige Extraktion der sprachspezifischen syntaktischen Merkmale der Substantive liefe auf eine Syntax aus der Sicht des Substantivs hinaus. Entsprechende Informationen sind somit aus der vorliegenden Grammatik insgesamt und insbesondere dem Kapitel zur Syntax der NP (→ D1) ableitbar. Hinreichende und notwendige Merkmale jeweils für das deutsche, das englische, das französische, das polnische und das ungarische Adjektiv zu benennen erweist sich als schwierig bis unmöglich. Auf der Ebene der Morphologie ist die Komparierbarkeit ein für alle Vergleichssprachen zentrales gemeinsames Merkmal; aber da es abhängig ist von Graduierbarkeit als Bedeutungsmerkmal des Adjektivs, tritt es sprachübergreifend bei gewissen Adjektivklassen (wie den Relations- und den Zahladjektiven) sowie einzelnen Lexemen wie DEU ledig, ENG single, FRA célibataire, POL niezamężna/nieżonaty, UNG hajadon/nőtlen (als Personenstandsmerkmal ,unverheiratetʻ) nicht auf. Zu weiteren nicht-komparierbaren Adjektiven vgl. → B1.3. Sowohl im Polnischen als auch im Ungarischen existieren für ,ledigʻ zwei Lexeme, jeweils bezogen auf weibliche und männliche unverheiratete Personen. Im Polnischen ist die wörtliche Übersetzung jeweils ,nicht-mit-Ehemann-ADJʻ und ,nicht-beweibtʻ. Auch UNG nőtlen (das sowohl substantivisch als auch adjektivisch gebraucht wird) ist transparent aus nő ‚Frau‘ und dem Deprivationssuffix -t(A)lAn ,los‘ gebildet, während die Etymologie von hajadon unsicher ist (wohl zu UNG haj ,Haar‘, hajadon dann wörtlich im Sinne von ,mit unbedecktem Haar‘).

Komparierbar sind daneben auch (seltener) Adverbien wie DEU oft, wohl (mit suppletiven Steigerungsformen eher, ehst-), gern (mit suppletiven Steigerungsformen lieber, liebst-), ENG soon ,baldʻ und quickly ,schnellʻ (Huddleston/Pullum 2002: 532), FRA z. B. loin ,weitʻ, tard ,spätʻ mit regelmäßigen analytischen Steigerungsformen sowie z. B. bien ,gutʻ mit den suppletiven Formen mieux, le mieux oder beaucoup ,vielʻ mit plus, le plus, UNG arra ,hin, heranʻ, ide ,hierherʻ (Tompa 1968: 68). In allen Kontrastsprachen sind darüber hinaus die aus Adjektiven abgeleiteten bzw. auf gemeinsame Stämme zurückgehenden Modaladverbien analog zu den zugrunde liegenden Adjektiven ggf. steigerungsfähig: ENG more beautiful, most beautiful – more beautifully, most beautifully ,schöner, schönst-ʻ, FRA plus lent, le plus lent – plus lentement, le plus lentement ,langsamer, langsamst-ʻ, POL jaśniejszy, najjaśniejszy – jaśniej, najjaśniej ,heller, hellst-ʻ, UNG szorgalmasabb, legszorgalmasabb – szorgalmasabban, legszorgalmasabban ,fleißiger, fleißigst-ʻ.  



Inwiefern auch im Polnischen und Ungarischen die adverbialen Formen dem Adjektiv zuzurechnen sind, und damit eine dem Deutschen entsprechende Situation gegeben ist, wird in → B1.1.3 kurz diskutiert.

B1 Wortklassen

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Auch das zentrale syntaktisch-distributionelle Merkmal, das attributive Vorkommen, wird nicht von allen Adjektiven in den sprachspezifischen Wortarten geteilt, vgl. dazu auch → B1.3.1.1. Allerdings sind hier sowohl die grammatischen Verhältnisse als auch die Beschreibungstraditionen unterschiedlich. Nur im Deutschen und Englischen wird (in Beschreibungen überwiegend) von nicht-attributiven bzw. nur-prädikativen Adjektiven gesprochen, und zwar mit Bezug auf z. B. DEU barfuß, entzwei, gewillt, pleite, quitt, ENG ablaze, afraid, asleep (und weitere a-Adjektive). Bezüglich des Französischen wird in Grevisse/Goosse (2011: 282) ein einziges nur-prädikatives Adjektiv genannt, nämlich das dem gehobenen Sprachstil zugehörige Lexem FRA aise ,entspannt, bequem‘ wie in Nous sommes bien aises de vous rencontrer ,Wir sind ganz angetan davon, euch zu treffen‘. Für diese Sprachen ist in diesen Fällen in Übereinstimmung mit unseren Festlegungen in → B1.1.1 von einer Zugehörigkeit zur Peripherie der Wortart Adjektiv auszugehen. Im Polnischen erscheinen in Kopulakonstruktionen „inflexible Prädikative“ wie można / trzeba ,(es ist) möglich / notwendigʻ bzw. Adverbformen z. B. in so genannten „unpersönlichen“ Konstruktionen wie POL (jest) gorąco/zimno ,es ist heiß/kaltʻ. Für die syntaktischen Distributionen der sprachspezifischen Adjektivkategorien gilt Entsprechendes wie bei Substantivkategorien: Auch hier könnte nur eine vollständige Syntax aus Sicht des Adjektivs die Unterschiede im Einzelnen aufzeigen. Ein wesentlicher Unterschied besteht im Verhältnis der Wortart Adjektiv zum so genannten ,Modaladverb‘, oder genauer zu der Kategorie von Lexemen, die als Verbgruppenadverbialia bzw. als Qualitativsupplemente im Sinne der IDS-Grammatik (1997: 1177– 1206) gebraucht werden. Im Deutschen sind (vgl. ebd.: 1182) nur eine Handvoll Adverbien wie bestens, besonders, blindlings, etwas, gern, stückweise, teilweise, sehr, so, wie Grundausdrücke dieser Kategorie. Adjektive machen den Löwenanteil aus. Man vergleiche folgenden Satzkontext, wo in der a-Version ein Adjektiv, in der b-Version ein Adverb als Qualitativsupplement fungiert:  





(4)

a. Er stürzt sich schnell/eifrig/ungebremst in die Arbeit. b. Er stürzt sich blindlings/gern/besonders in die Arbeit.

Adjektive fungieren somit in ihrer Grundform als Modaladverbiale. In vergröbernder Perspektive kann also auch für das Deutsche die Position vertreten werden, es gäbe keine getrennten Wortarten Adjektiv und Modaladverb, sondern nur die Wortart des Modifikators. Diese letztere Sehweise (vgl. dazu Hengeveld 1992 für das Niederländische sowie → B1.1.3) führt zu einigen offenen Fragen: Wie ist hier mit rein prädikativen Adjektiven, die ja keinen Modifikatorstatus haben, umzugehen? Deren Existenz wäre nur mit diesem Ansatz vereinbar, wenn prädikatives Vorkommen immer auch an adverbiales Vorkommen geknüpft ist (wie zutreffend auf barfuß, pleite; vgl. Er kam immer barfuß/pleite nach Hause) und als zu diesem sekundär betrachtet werden kann. Dem steht entgegen, dass z. B. quitt nur prädikativ, nicht adverbial vorkommt. Eine Lösung wäre, solche Lexeme von den Adjektiven abzutrennen und eine eigene  

240

B Wort und Wortklassen

Klasse, entsprechend der ,Adkopula‘ der IDS-Grammatik (1997: 55) bzw. der ,Kopulapartikel‘ bei Engel (2009: 421–423) anzusetzen. Da wir zwischen dem Kernbereich der Wortart Adjektiv und deren Peripherie unterscheiden, können wir sowohl nur-prädikative als auch nur prädikativ und adverbial gebrauchte Adjektive der Adjektiv-Peripherie zuordnen.

Der weitgehende Zusammenfall von Adjektiv und Modaladverb hat weitreichende syntaktische Konsequenzen. In den Vergleichssprachen mit einer eigenen Wortart Modaladverb (oder zumindest einer vom Adjektiv verschiedenen adverbialen Form) erscheinen Adjektive außerhalb der nominalen Domäne nur als Prädikative, und zwar entweder als Prädikativkomplemente, in erster Linie zu Kopulaverben wie in (5), oder als „predicative adjuncts“ (vgl. Huddleston/Pullum 2002: 529) bzw. ,freie Prädikative‘ bzw. ,sekundäre Prädikative‘ (vgl. → B1.3.5) wie in den englischen, französischen und polnischen Beispielen unter (6), nicht aber als „non-predicative adjuncts“, i. e. als „VP-oriented adjuncts“ wie in (7) bzw. als „clause-oriented adjuncts“ wie in (8) (vgl. Huddleston/Pullum 2002: 576). Hier werden stattdessen Adverbien eingesetzt. Im Deutschen hingegen können Adjektive auch als nicht-prädikative Adjunkte/Supplemente gebraucht werden, also in (7) und (8) erscheinen:  

(5) DEU a. b. c. ENG a. b. c. FRA a. b. c. POL a. b. c. UNG a.

Das war neu. ??Das scheint neu. Wir fanden es einfach. This was new. This seems new. We found it easy. Cela était nouveau. Cela paraît nouveau. Nous le trouvions facile. To było nowe. To wydaje się nowe. To wydawało się nam łatwe. Ez új volt. das neu war b. Ez újnak tűnik. schein.3SG das neu.DAT c. Egyszerűnek találtuk. find.PRT .1PL .DEF einfach.DAT

Im Ungarischen regiert sowohl tűnik ,scheinen‘ mit Subjektsprädikativ als auch das Verb talál ‚finden‘ mit Objektsprädikativ den Dativ des Adjektivs. Der Dativ ist der ungarische Prädikativkasus bei evidentiellen Verben (wie ,scheinen‘) und teilweise auch bei existimatorischen Verben mit Objektsprädikativ (wie ,finden‘); vgl. → B2.4.3.4.5.

B1 Wortklassen

(6) DEU ENG FRA POL UNG

241

Zornig stürmte er aus dem Raum. Furious, he stormed out of the room. Furieux, il s’est précipité hors de la pièce. Rozgniewany wybiegł z sali. Dühösen rohant ki a teremből. renn.PRT .3SG PV DEF Raum.ELA zornig.ADV

Im Ungarischen können Adjektive nicht als prädikative Adjunkte auftreten (vgl. → B2.4.3.4.3). Stattdessen wird das Modaladverb gesetzt. Der syntaktische Bezug erscheint hier ausschlaggebend zu sein. Prädikative Adjunkte sind nicht Teil der nominalen Konstituente, auf die sie semantisch bezogen sind, sondern unmittelbare Konstituenten des Satzes und können somit als Dependentien des Verbs betrachtet werden. Dieser syntaktische Bezug wird durch die Markierung als Adverb erfasst. Auch im Polnischen ist das Vorkommen freier Prädikative zugunsten des Modaladverbs stark beschränkt (vgl. → B2.4.3.4.3).

(7) DEU ENG FRA POL UNG

Sie ging unsicher/schwankend zur Tür. She walked *unsteady/unsteadily to the door. Elle marchait *instable/instablement à la porte. Szła *niepewna/niepewnie do drzwi. Bizonytalanul/inogva ment az geh.PRT .3SG DEF unsicher.ADV /schwank.GER

ajtóhoz. Tür.ALL

Das ungarische Suffix -Ul entspricht teilweise dem Suffix -(e/a)n. Entsprechend wird es bei Tompa (1968: 201, 1972: 123) als Essiv-Modal eingeordnet, bei Kiefer (2000: 208) bei adjektivischer Basis als Wortbildungsaffix zur Bildung von Modaladverbien. Tompa (1972: 201) spricht von zwei unterschiedlichen Funktionen. Bei substantivischer Basis fungiere es „mitunter als echte Zustandsbestimmung“ wie in Minket akartatok főmunkatársakul? (1PL .AKK woll.PRT .2PL Hauptmitarbeiter.PL .ESS - M ) ,Ihr wolltet uns als Hauptmitarbeiter?‘. Für den adjektivischen Gebrauch nennt er z. B. Sótlanul szeretem a vajaskenyeret (ungesalzen.ADV mög.1SG .DEF DEF Butterbrot.AKK ) ,Ich habe Butterbrot ohne Salz/ungesalzen gern‘. Wie in dem ungarischen Beispiel unter (6) handelt es sich semantisch um prädikativen Gebrauch des Adjektivs. Man kann somit sowohl bei substantivischer als auch bei adjektivischer Basis von einem Prädikativkasus sprechen, → B2.4.3.4.7.  

(8) DEU ENG FRA POL UNG

Politisch ist das Land immer unruhig. *Political/Politically, the country is always turbulent. *Politique/Politiquement, le pays est toujours troublé/inquiet. *Polityczny/Politycznie kraj jest zawsze niepewny. Politikai szempontból az ország mindig nyugtalan. Land immer unruhig politisch Gesichtspunkt.ELA DEF

Im Ungarischen kann hier das satzbezogene Adverbiale ,politisch‘ nicht direkt durch ein Adjektiv oder Adverb wiedergegeben werden. Es erfolgt Paraphrase durch eine NP im Elativ in der Bedeutung ,unter politischem Gesichtspunkt‘.

242

B Wort und Wortklassen

Auch auf Modifikationen zweiter Stufe, also die Modifikation von Modifikatoren wirkt sich dieser Unterschied aus. Man vergleiche z. B. die Modifikation von Adjektiven in (9) sowie von Adverbien in (10) in den Vergleichssprachen; nur in den deutschen Konstruktionen erscheint das Adjektiv als Modifikator des jeweils darauf folgenden Modifikators, sonst das Adverb:  

(9) DEU ENG FRA POL UNG

bemerkenswert nett remarkably nice remarquablement gentil nadzwyczaj/nadzwyczajnie miły (M .SG ) figyelemreméltóan kedves

(10) DEU ENG FRA POL UNG

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B1.1.4.2 Grad der Distinktheit von Substantiv und Adjektiv in den Vergleichssprachen Die beiden nominalen Inhaltswortklassen Substantiv und Adjektiv haben in unseren Vergleichssprachen übergreifend mehr morphosyntaktische Gemeinsamkeiten miteinander als jeweils eine der beiden Wortarten mit dem Verb. In der griechisch-lateinischen Tradition der Wortartenlehre gehörten daher Substantiv und Adjektiv als Teilkategorien Nomen substantivum und Nomen adiectivum einer Makroklasse ‚Nomenʻ eng zusammen. So teilen sich im Lateinischen die beiden Wortklassen nach Haspelmath (2012: 112) sieben der insgesamt neun Merkmale, als da sind: [1] „inflection“, [2] „case“, [3] „intrinsic number“, [4] „no person“, [5] „no tense“, [6] „predicative copula“, [7] „referential use“, [8] „attributive use“, [9] „comparative construction“ – das Adjektiv ist positiv spezifiziert bzgl. der Merkmale [8] und [9], das Substantiv negativ. Hingegen unterscheidet sich das Verb vom Substantiv in sechs der Merkmale, nämlich [2], [3], [4], [5], [6], [7], vom Adjektiv gar in acht (zusätzlich noch: Merkmal [8] und [9]). Allerdings gilt diese besondere Nähe zwischen Substantiv und Adjektiv für die modernen europäischen Sprachen, insbesondere unsere Vergleichssprachen nicht in diesem hohen Maße.  

Lehmann (1991: 222) zieht aus Faktoren wie der Stellungsfreiheit des lateinischen attributiven Adjektivs hinsichtlich des Kopfsubstantivs oder der unbeschränkten Verwendbarkeit des Adjektivs als eigenständiger Kopf einer NP den Schluss, das lateinische Adjektiv sei syntaktisch selbst-

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ständig und bilde keine Phrase mit dem Kopfsubstantiv: „[…] the adjective attributive is not strongly subordinate to the head noun but rather, through agreement, coreferential with it.“ In den modernen europäischen Sprachen ist die Stellung des attributiven Adjektivs hingegen innerhalb der NP auf bestimmte Slots beschränkt, der Gebrauch als selbstständiger nominaler Kopf kann, wie vor allem im Englischen, Beschränkungen unterliegen.

Zwar sind nach wie vor die Merkmale [4] bis [6] gemeinsame vom Verb diskriminierende Eigenschaften von Adjektiv und Substantiv in allen Vergleichssprachen. Merkmal [2], Kasusflexion, gilt für die englischen und französischen Substantive und Adjektive nicht mehr bzw., wenn man den englischen Genitiv als Kasusmarkierung einbeziehen sollte, nur noch marginal. Es ist also dort ein gemeinsames Merkmal ex negativo. In den Vergleichssprachen mit Kasusflexion bzw. Kasus-Numerus-Flexion jedoch gibt es große Übereinstimmungen im Marker-Inventar. So ist im Ungarischen ein weitgehend zwischen den nominalen Wortarten übereinstimmendes Inventar gegeben. Im Deutschen und Polnischen überlappen sich die Inventare immerhin teilweise (→ C5.4), wobei jedoch gegenüber dem Lateinischen im Polnischen eine größere Nicht-Übereinstimmung der Flexivsätze zu verzeichnen ist und bei der Nominalflexion des Deutschen das reduzierte Markerinventar in Rechnung zu stellen ist. Hervorzuheben ist hier jedoch vor allem, dass in beiden Sprachen Deklinationsklassen für Substantive existieren, die nach Maßgabe der Adjektivflexion flektieren. Im Deutschen handelt es sich um die so genannte schwache Deklination belebter Maskulina (wie bei Held, Bär, Bote). Im Polnischen wird ähnlich eine Reihe personaler Maskulina adjektivisch flektiert wie POL bogażowy ,Trägerʻ, krewny ,Verwandterʻ, podróżny ,Reisenderʻ; daneben werden Familiennamen häufig adjektivisch flektiert (vgl. dazu Swan 2002: 81 f., sowie insgesamt → C5.7). Merkmal [3], intrinsischer Numerus, (im Gegensatz zum Kongruenznumerus beim Verb), ist beim englischen Adjektiv nicht gegeben, wenn wir darunter das Vorhandensein einer morphologisch manifesten Numerusopposition verstehen. Eine solche ist bei den übrigen Vergleichssprachen zumindest immer dann gegeben, wenn Adjektive auch Merkmal [7] aufweisen, also referentiell gebraucht werden – oder anders gesagt, wenn sie als Kopf einer NP auftreten wie in (11):  

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der/die Reiche / ein(e) Reiche(r) – die Reichen le/la riche / un(e) riche – les riches bogaty (M )/bogata (F ) – bogate (MPERS )/bogaci (NONMPERS ) a gazdag / egy gazdag – a gazdagok

Im Englischen ist die referentielle Verwendung bzw. der nominale Gebrauch von Adjektiven stark beschränkt; eine morphologische Numerusmarkierung unterbleibt (vgl. im Einzelnen → D2.2.1.3). Vielmehr liegt ggf. bei einem adjektivischen Kopf der NP wie in (12) per se Bezug auf eine Vielheit vor, während der Bezug auf ein Einzelindividuum im Allgemeinen ausgeschlossen ist:

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B Wort und Wortklassen

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the rich ,die Reichenʻ versus *the rich, *a rich ,der Reiche, ein Reicherʻ

Auch die Genitivmarkierung ist beim englischen Adjektiv auf diese Konstellation beschränkt, vgl. the rich’s income ,das Einkommen der Reichenʻ.

Im Deutschen und Polnischen sowie mit Einschränkungen bezüglich der gesprochenen Sprache auch im Französischen weisen die Adjektive auch attributiv eine Numerusmarkierung auf; allerdings ist hier eher wie beim Verb nicht von einem intrinsischen, sondern einem Kongruenznumerus auszugehen. Was den attributiven Gebrauch der beiden Wortarten angeht, so ist dies sprachübergreifend die prototypische Verwendung des Adjektivs. Von allen sprachspezifischen Substantiv-Wortarten hat – entgegen der oben genannten Generalisierung – nur das englische Substantiv auch eine nicht-appositive attributive Verwendung als „pre-head modifier“ wie in London streets, television and computer screens (Huddleston/Pullum 2002: 449). Allerdings ist dieser pränominale Slot nicht auf Adjektive und Substantive bzw. Syntagmen auf deren Basis beschränkt, sondern auch offen für andere Einheiten, etwa Adverbien wie in the downstairs toilet ,die im Untergeschoss befindliche Toilette‘. In den anderen Vergleichssprachen ist ein dem Kopf nebengeordnetes Substantiv in einer NP auf appositive Verwendungen beschränkt, sieht man von dem speziellen Fall der Numerativkonstruktionen ab: (13) DEU ENG FRA POL UNG

die Oper Carmen the opera carmen l’abbé Prévost opera „Carmen“ Lear király ,König Lear ‘

Man kann somit für das sich etwas abweichend verhaltende Englische festhalten, dass Substantive teilweise syntaktische Funktionen des Adjektivs übernehmen können, das Adjektiv aber für die prototypische Funktion des Substantivs als Kopf einer NP weniger zugänglich ist als die anderen Vergleichssprachen. Neben den genannten syntaktischen Kriterien der Nähe zwischen den beiden Wortarten ist vor allem der lexikalische Aspekt heranzuziehen: So erscheinen die beiden Wortarten umso enger aufeinander bezogen zu sein, je mehr Homonymien bzw. Konversionen (im Sinne des Wortbildungsverfahren) es zwischen ihren Elementen gibt, oder – anders gesagt – je weniger eindeutig die entsprechenden Stämme/ Wurzeln auf eine der beiden Kategorien festgelegt sind. So fallen besonders die zahlenmäßig im Vergleich zum Deutschen stärkeren Adjektiv-Substantiv-Homonymien im Englischen (bzw. Konversionen, vor allem aus Adjektiven in Substantive; die umgekehrte Richtung ist sehr selten; vgl. Huddleston/ Pullum 2002: 1643) ins Auge. Neben Simplizia wie right ,recht/Rechtʻ, drunk ,betrun-

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ken/Betrunkenerʻ, sweet ,süß/Süßigkeitʻ handelt es sich vor allem um Adjektive auf -al(e), -an, -ar(y): a.

commercial ,wirtschaftlich/Werbespot‘, elemental ,elementar/Elementarkraft‘, female ,weiblich/weibliches Wesenʻ, intellectual ,intellektuell/Intellektuellerʻ, local ,lokal/Lokal (br.ENG)ʻ, original ,originell/Originalʻ, potential ,potentiell/Potentialʻ, professional ,professionell/Profiʻ, ritual ,rituell/Ritualʻ, royal ,königlich/ Angehöriger der königlichen Familieʻ, special ,speziell/Sonderangebot/-sendungʻ b. human ,menschlich/Mensch‘, vegetarian ,vegetarisch/Vegetarier‘, veteran ,altgedient/Veteran‘ c. primary ,primär/Primärfarbe, Vorwahlʻ, regular ,regulär/Stammgastʻ

Das Englische weist im Kontrast zum Deutschen auch besonders viele SubstantivVerb-Homonymien (im Sinne von Konversionen in beide Richtungen) auf. Huddleston/Pullum (2002: 1641) bemerken hierzu: „It is a notable property of English, that it has a great deal of homonymy between nouns and verbs.“ Sasse (1993a: 192) spricht allgemeiner, also auch mit Bezug auf das Verhältnis von Substantiv und Adjektiv, von „extrem produktive[r] Null-Ableitung (Konversion)“ im Englischen und davon, dass die „lexikalische Kategorienaffiliation“ im Englischen „nicht so stark konsolidiert ist“ (wie etwa im Lateinischen oder Griechischen und wohl auch im Deutschen). Daher spiele die syntaktische Kategorie, sprich für das Substantiv die Projektierbarkeit zur NP, eine vergleichsweise größere Rolle. Freizügigkeit der Konversion und rigorose phrasale Organisation gingen im Englischen Hand in Hand. Zu erwähnen sind im Besonderen auch die Ableitungen von (geografischen) Namen, wo im Default-Fall Adjektiv und Substantiv (z. B. Anhänger- oder Einwohnerbezeichnung) zusammenfallen: African, Canadian, Lutheran, Elizabethan usw. Vergleichbares gilt auch für das Französische: Auch hier fallen in der Regel Adjektiv und Substantiv bei Ableitungen aus geografischen Namen zusammen: africain, américain, autrichien, norvégien (als Adjektive, als Substantive mit Großschreibung). Auch zu den oben unter a) genannten Konversionen gibt es französische Parallelen, und zwar mit den Suffixen -el/-elle, -al/-ale: commercial ,kommerziell/ kaufmännischer Angestellterʻ, intellectuel ,intellektuell/Intellektuellerʻ, original ,originell/Originalʻ, potentiel ,potentiell/Potentialʻ, professionel ,professionell/Profiʻ, rituel ‚rituell/Ritualʻ.  

Die Unbestimmtheit bei diesen Einheiten geht auf die entsprechenden lateinischen Ableitungssuffixe zurück, mit denen sowohl Substantive als auch Adjektive abgeleitet werden konnten. Wichtig sind besonders folgende Suffixe oder Suffixgruppen, die insbesondere im englischen und romanischen Wortschatz fortleben, aber auch z. T. in den Lehnwortschatz anderer europäischer Sprachen Eingang gefunden haben:  

-arius, -aris, -alis (-elis, -ilis, -ulis, -uris) mit z. B. librarius ,Buchhändler‘, lactarius ,milchig‘  

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B Wort und Wortklassen

-anus, (-aneus, -ianus, -inus, -oenus, -unus, -undus) mit z. B. Africanus ,Afrikaner/afrikanisch‘, Latinus, Hispaniensis (vgl. oben die englischen und französischen Beispiele), humanus ,menschlich‘  

Im Deutschen sind Homonymien zwischen Substantiv und Adjektiv selten, im indigenen Simplex-Wortschatz ganz marginal (z. B. greis/Greis, recht/Recht). Ein auffälliges Faktum ist die Homonymie bei den -er-Derivaten von geografischen Namen, überwiegend Stadtnamen: Mannheimer, Salzburger usw., die sowohl substantivische Einwohnerbezeichnungen darstellen als auch – z. B. in Mannheimer Brezel – wie klassifikatorisch verwendete Adjektive fungieren. Zusätzlich zu den generellen Merkmalen klassifikatorischer Adjektive, nämlich rein attributives Vorkommen, keine Komparierbarkeit, weisen sie als Besonderheit die Unflektierbarkeit auf. Der Status als Adjektiv wird daher angezweifelt. Fuhrhop (2003: 95) geht jedoch von einer Konversion Substantiv zu Adjektiv aus.  



Diese für das Deutsche ungewöhnliche Konversionsrichtung lässt sich historisch erklären. Ursprünglich handelte es sich um vorangestellte Genitivattribute mit dem -er-Substantiv als Kopf wie in [der Mannheimer]NP Brezel. Im heutigen Deutsch flektiert der Artikel in Kongruenz zum Kopf der Gesamt-NP wie in die Mannheimer Brezel; somit ist auch das -er-Derivat nicht mehr als Substantiv zu verstehen, sondern es liegt Reanalyse zum attributiven Adjektiv vor. Die Konversion vom Substantiv zum Adjektiv kann alle Bewohnerbezeichnungen auf -er betreffen, nicht nur Derivate von Städtenamen; man vergleiche z. B. Schwarzwälder Schinken, Pfälzer Saumagen, Kraichgauer Bundesliga-Fußballer.  

Bei neoklassischen Entlehnungen/Lehnwortbildungen oder Entlehnungen aus dem Französischen gibt es vereinzelt Homonymien: automobil/Automobil, bourgeois/Bourgeois. In der Regel ist aber eine der beiden Verwendungen hochmarkiert (z. B. nur fachsprachlich wie bei aszendent/deszendent gegenüber fachsprachlichem der Aszendent/Deszendent, oder nur als Zitatwort nach dem Französischen wie bei dekadent versus der Dekadent). Im Deutschen wird (entsprechend dem Verfahren im indigenen Kernwortschatz vgl. betrunken, der Betrunkene) in der Regel entweder das Adjektiv syntaktisch nominalisiert wie in der Dekadente oder es erfolgt Ableitung wie in studentisch zu Student gegenüber FRA étudiant (Adjektiv und Substantiv). Was die Adaption der o. g. Lehnsuffixe angeht, so gilt tendenziell (von dem völlig integrierten -er, wohl < LAT -arius, wird abgesehen): Lehnsuffixe aus der lateinischen -arius-Gruppe sind im Deutschen: -ar/-är, -al/-ell (-ell über das Französische). Mit -är gibt es sowohl Substantive (Aktionär, Funktionär, Legionär) als auch Adjektive (illusionär, stationär). Aber nur wenige Homonyme (R/ revolutionär, R/reaktionär, V/visionär). Auf -ar gibt es ebenfalls beides: Substantive (Missionar, Bibliothekar) und Adjektive (atomar, insular). Auch hier sind kaum Homonymien gegeben: Wo solche nach dem Register des Deutschen Fremdwörterbuchs belegt sind, ist in der Regel eine der beiden Verwendungen veraltet, fachsprachlich oder kommt nur gebunden (als Bestandteil von Komposita) vor: skalar/Skalar, titular/  



B1 Wortklassen

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Titular. Das Adjektiv zu einem Substantiv auf -ar, trägt im Gegensatz zu einem auf -är (in der Regel) zusätzlich das Suffix -isch: missionarisch versus *funktionärisch; davon existieren nur wenige Ausnahmen wie militärisch. Auch mit -al gibt es Substantive (Personal, Material) und Adjektive (formal, fundamental) sowie etliche Homonymien (z.B. L/lokal). -ell wird nur (bei transparenter Derivation) zur Adjektivderivation gebraucht (Ausnahme: zeremoniell/Zeremoniell). Tendenziell ersetzt -ell auch adjektivisches -al (älteres general ersetzt durch jüngeres generell). Zu beachten ist auch der Wechsel zwischen gebundenem -al-Derivat und freiem -ell-Derivat wie in experimental/experimentell, daneben die Erweiterung zu -alisch wie in genialisch, musikalisch, physikalisch. Wie bei -ar ist in der Regel das Adjektiv zu einem Substantiv auf -al ein -isch-Derivat: moralisch, mineralisch (gegenüber ENG moral, mineral Substantiv und Adjektiv), oder aber dem -al-Substantiv steht ein -ell-Adjektiv gegenüber: Original – originell, Ritual – rituell. Suffixe aus der lateinischen -anus-Gruppe treten im Deutschen in der Form -an/ -än auf, vor allem bei Entlehnungen, sowohl bei Substantiven als auch bei einigen Adjektiven; ganz vereinzelt finden sich Homonymien: Veteran, Kastellan; human, souverän/Souverän. Anders als im Englischen und Französischen werden aber bei Ableitungen aus (geografischen) Namen Differenzierungen im Suffix vorgenommen: -(i)aner für Bewohner, Anhänger (Substantiv), -(i)anisch beim Adjektiv: Afrikaner/ afrikanisch, Elisabethaner/elisabethanisch, Hegelianer/hegelianisch. Im Polnischen wird ähnlich wie im Deutschen bei Bewohner- oder AnhängerBezeichnungen meist durch unterschiedliche Suffixe zwischen Adjektiv und Substantiv geschieden. Bei toponymischer Basis werden Adjektive mit dem Suffix -ski abgeleitet, wobei Vereinfachungen in den Auslaut-Segmenten der Basis eintreten können (vgl. Swan 2002: 139). Substantivische Bewohnerbezeichnungen erhalten die Suffixe -anin bzw. -czyk: afrykański ,afrikanischʻ versus Afrykanin/Afrykańczyk ,Afrikanerʻ zu Afryka kenijski ,kenianischʻ versus Kenijczyk ,Kenianerʻ zu Kenia rosyjski ,russischʻ versus Rosjanin ,Russeʻ zu Rosja luterański ,lutheranisch‘ versus luteranin ,Lutheraner‘ zu Luter Nach Swan (2002: 80) entfällt bei solchen Substantiven auf -anin im Plural das Singulativsuffix -in: Rosjanin – Rosjanie (PL ). Bei Lehnwörtern wie POL oryginał, potencjał, rytuał wird das Adjektivsuffix -ny angehängt: oryginalny, potencjalny, rytualny. Für das Ungarische nennt Lotz (1988: 192) neben den recht usuellen Ad-hocSubstantivierungen von Adjektiven folgende lexikalisierten Konversionen von Adjektiven zu Substantiven: reggeli ,Frühstückʻ zu reggel-i ,Morgen-ʻ (ADJ) (die adverbiale Basis reggel wird selbst auch substantivisch gebraucht ,morgens/Morgenʻ)

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B Wort und Wortklassen

egyenes ,Geradeʻ zu egyenes ,geradeʻ (ADJ) véletlen ,Zufallʻ zu véletlen ,zufälligʻ (ADJ) ezredes ,Oberstʻ zu ezredes ,tausend-ʻ (ADJ) (ADJ nach Informantenauskunft veraltet) Adjektiv und Substantiv unterscheiden sich ggf. bei Pluralisierung im Bindevokal: komikus ,Komiker‘ zu komikus ,komischʻ, Plural: komikus-ok ,die Komikerʻ, komikus-ak ,komischʻ (ADJ) fehérnemű ,Wäsche‘ zu fehérnemű ,weißartigʻ (ADJ nach Informantenauskunft veraltet), Plural: fehérnemű-k ,Wäscheʻ, fehérnemű-ek ,weißartigʻ (ADJ) Auch Bezeichnungen für die Bewohner einer geografischen Einheit bzw. die Anhänger einer Lehre sind im Ungarischen das Ergebnis einer Konversion des entsprechenden Adjektivs. Fungiert wie in b) ein Toponym als Basis, so wird das Adjektiv mit dem Suffix -i aus der onymischen Basis abgeleitet (und häufig konvertiert), Anthroponyme und ihre adjektivischen Entsprechungen wie unter c) werden uneinheitlich auf -án, -ánus bzw. -ista abgeleitet. a. b. c.

német ,deutsch/Deutscherʻ afrikai ,afrikanisch/Afrikanerʻ, amerikai ,amerikanisch/Amerikaner‘ mohamedán ,mohammedanisch/Mohammedaner‘, lutheránus ,lutheranisch/Lutheraner‘ buddhista ,buddhistisch/Buddhist‘ marxista ,marxistisch/Marxist‘

Auch die Entsprechung von ,Original/originellʻ, nämlich UNG eredeti, ist eine Instanz der häufigen Konversion vom Adjektiv zum Substantiv, daneben die häufigen, z. T. lexikalisierten Konversionen von Partizipien Präsens wie futó ,laufend/Läufer‘, író ‚schreibend/Schriftsteller‘. Wir können also festhalten, dass im Deutschen und Polnischen stärker als im Englischen und Französischen – zum Teil zurückgehend auf das Lateinische – zwischen den Suffixen zur Substantiv- und zur Adjektivableitung unterschieden wird. Dies gilt auch für neoklassische Bildungsmuster. Besonderheit des Deutschen ist die Tendenz zur funktionalen Differenzierung zwischen Suffixvarianten (-al beim Substantiv versus -ell beim Adjektiv). Wo es im Deutschen doch Überschneidungen bei den Suffixen gibt, ist der Anteil an Homonymien vergleichsweise geringer. Im Englischen und Ungarischen ist insgesamt die Konversion von Adjektiven zu Substantiven stärker ausgeprägt.  

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B1 Wortklassen

B1.1.5 Nominalhierarchien Zwischen den Ausdrücken verschiedener Klassen nominaler Ausdrücke bestehen sprachübergreifend wiederkehrende Asymmetrien, was ihr Verhalten in einer ganzen Reihe von grammatischen Konstruktionen und Kontexten angeht: Eine bestimmte Klasse, z. B. die Personalia der 1. Person, zeigen jeweils einen stärkeren Differenzierungsgrad als andere Klassen. Dieser stärkere Differenzierungsgrad kann z. B. eine größere Formenvielfalt betreffen, etwa im Hinblick auf die Kasusdifferenzierung, oder aber die Zugänglichkeit für bestimmte syntaktische Prozesse wie etwa die Passivierung. Solche Asymmetrien, die zuerst bezüglich der Kategorisierung Numerus beobachtet wurden (vgl. Smith-Stark 1974; Silverstein 1976), werden in der Sprachtypologie durch Hierarchien erfasst, die auf denotatsbezogenen Merkmalen wie dem der ‚Belebtheit‘ beruhen. Aufgrund dieser semantischen Ausrichtung liegen die betreffenden nominalen Klassen quer zu rein wortartenspezifischen und syntaktischen Klassifikationen. Eine klassische Formulierung für derartige Hierarchien findet sich bei Dixon (1979: 85). Eine an die Fassung von Croft (2003: 130) angelehnte deutsche Version dieser ,Allgemeinen Nominalhierarchie‘ (oder ‚Erweiterten Belebtheitshierarchie‘) – formuliert in Termen der transitiven Ordnungsrelation ‚>‘ im Sinne von ‚ist übergeordnet‘ – lautet:  



Allgemeine Nominalhierarchie: (i) Personalpronomen 1. und 2. Person > Personalpronomen 3. Person > Eigenname > Appellativum menschlich > Appellativum nicht-menschlich, belebt > Appellativum unbelebt Hierarchien dieser Art haben folgende Interpretation: Wenn die Elemente einer nominalen Klasse Nomi in der Hierarchie hinsichtlich einer Kategorisierung differenziert sind, dann weisen die Elemente aller Klassen Nomj, die Nomi in der Hierarchie übergeordnet sind, mindestens ebenso starke Differenzierungen auf wie die Elemente von Nomi. In Hierarchie (i) sind drei Teil-Hierarchien miteinander verwoben: eine Personenhierarchie, eine Referentialitätshierarchie und eine Belebtheitshierarchie im engeren Sinne. (i.1.) Personenhierarchie: 1., 2. Person > 3. Person (i.2.) Referentialitätshierarchie: Pronomen > Eigenname > Appellativum (i.3.) Belebtheitshierarchie i. e. S.: menschlich > belebt > unbelebt  



Daneben ist als weitere, eng mit der Belebtheitshierarchie assoziierte Abstufung die Definitheitshierarchie zu nennen: (ii) Definitheitshierarchie: definit > spezifisch > nicht-spezifisch (Croft 2003: 132)

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B Wort und Wortklassen

Referentialitätshierarchie (i.2) und Definitheitshierarchie (ii) wiederum sind unter Berücksichtigung komplexer referentieller Ausdrücke in Aissen (2003b: 437) zu folgender Hierarchie zusammengefasst: Pronomen > Eigenname > definite NP > indefinit spezifische NP > nicht-spezifische NP. Üblicherweise (vgl. auch Wiese 2004: 338) werden Belebtheitshierarchie i. e. S. und Definitheitsordnung aber als zwei getrennte Ordnungen gesehen.  



Auf die Allgemeine Nominalhierarchie wird in zahlreichen Kapiteln genauer Bezug genommen. Sie kann als einer der wesentlichen semantischen Parameter betrachtet werden, der die Grammatik von Sprachen prägt. Bezogen auf die Position ,menschlich‘, also bei den Personenbezeichnungen, können sprachabhängig noch weitere Abstufungen erfolgen. Diese betreffen den höheren oder niedrigeren Status von Personen. So sind bei der Flexionsformenbildung im Polnischen innerhalb der Personalmaskulina ,honorifikative‘ Formen – zum Ausdruck des Respekts vor einem hohen Rang – und ,depretiative‘ Formen – zum Ausdruck der Abwertung – zu unterscheiden, → C2.7.2, → C2.7.3. Andere bedeutende Hierarchien, die in der Typologie geltend gemacht werden (vgl. Haspelmath 2008: 96 f.) und auf die wir Bezug nehmen, sind:  

– – – –

die Hierarchie der Redeteile (vgl. → B1.1.3) Benennungshierarchien (vgl. → B1.4.3) die agreement hierarchy (vgl. → B2.2.2.2 und → B2.3.4.2) die Hierarchie syntaktischer Funktionen und die Kasushierarchie (vgl. → B2.4.3.1.8) eine Hierarchie für die syntaktischen Funktionen von Reflexiva (vgl. → B1.5.3.5) und ihre Antezedentien (vgl. → B1.5.3.6) sowie eine entsprechende Bindungshierarchie für reflexive Possessiva (vgl. → B1.5.4.9).  









B1.1.6 Übersicht zu den folgenden Kapiteln Den beiden Inhaltswortarten Substantiv und Adjektiv sind eigene Kapitel gewidmet. Beim Substantiv wird gesondert auf Eigennamen und Appellativa eingegangen. Letztere werden unter dem Stichwort Nominalaspekt, somit gemäß der Differenzierung in Individuativa und Kontinuativa, diskutiert. Ausführlich werden auch die Pronomina der verschiedenen Klassen dargestellt. Da sie als Funktionswörter besonders stark spezifische Eigenschaften des jeweiligen grammatischen Systems erkennen lassen, gilt ihnen in dieser sprachvergleichenden Grammatik ein besonderes Augenmerk. Anders als etwa bei den anderen nominalen Wortklassen wird auch auf syntaktische Besonderheiten außerhalb des nominalen Bereichs ausführlicher eingegangen, z. B. auf die lineare Folge klitischer Personalpronomina im Satz oder die Bindung der Reflexiva durch Antezedentien. Übergreifende Eigenschaften der Pronomina ein 

B1 Wortklassen

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schließlich einer Skizze der Syntax pronominaler Nominalphrasen sind in einem eigenen Überblickskapitel erfasst. Die Wortart Artikel wird zusammen mit den Demonstrativa, aus denen sie in den Vergleichssprachen zum Teil grammatikalisiert wurden, dargestellt.

B1.2 Artikel und Demonstrativa B1.2.1

Einführung und Überblick  254

B1.2.2 Demonstrativa  254 B1.2.2.1 Funktionale und typologische Charakterisierung  254 B1.2.2.2 Einführung der Varianzparameter  258 B1.2.2.3 Inventar der Demonstrativa  261 B1.2.2.3.1 Kernbereich  261 B1.2.2.3.2 Peripherie  262 B1.2.2.4 Selbstständige vs. adnominale Form  264 B1.2.2.5 Markierung von Distanzkontrasten  267 B1.2.2.6 Distanzparameter  269 B1.2.2.6.1 Eingliedrige Systeme  270 B1.2.2.6.2 Zweigliedrige Systeme  271 B1.2.2.6.3 Dreigliedrige Systeme  273 B1.2.2.6.4 Vier- und mehrgliedrige Systeme  275 B1.2.2.7 Gebrauchsweisen  275 B1.2.2.7.1 Exophorische Gebrauchsweisen  280 B1.2.2.7.2 Phorische Gebrauchsweisen  283 B1.2.3 Artikel  290 B1.2.3.1 Funktionale und typologische Charakterisierung  290 B1.2.3.2 Entstehung, Grammatikalisierung und Abgrenzung  293 B1.2.3.2.1 Definite Artikel  293 B1.2.3.2.1.1 Semantische Eigenschaften  293 B1.2.3.2.1.2 Syntaktische Eigenschaften  299 B1.2.3.2.2 Indefinite Artikel  300 B1.2.3.3 Bestimmung der Varianzparameter  306 B1.2.3.4 Differenziertheit von Artikelinventaren  309 B1.2.3.5 Form und Stellung des Artikels  314 B1.2.3.6 Einfache und multiple Definitheitsexponenz  316 B1.2.3.7 Blockierung oder Optionalität von (In-)Definitheitsmarkern  317 B1.2.3.7.1 Subjekt- und Objektfunktion  319 B1.2.3.7.2 Prädikative  320 B1.2.3.7.3 Negationskontexte  323 B1.2.3.7.4 Zusammenfassung  325 B1.2.3.8 Artikelsetzung (und Numerusmarkierung) in generischen Konstruktionen  325 B1.2.3.8.1 NP-Generizität  326 B1.2.3.8.1.1 Singular-NPs (Individuativa)  329

B1.2.3.8.1.2 Plural-NPs  331 B1.2.3.8.1.3 Kontinuativ-NPs  334 B1.2.3.8.2 Satz-Generizität  336 B1.2.4 Zusammenfassung  339

Lutz Gunkel

B1.2 Artikel und Demonstrativa B1.2.1 Einführung und Überblick Gegenstand dieses Kapitels sind die lexikalische Klasse der Demonstrativpronomina und die Wortart Artikel. Demonstrativa haben wie in der Regel andere Pronomenklassen selbstständige und adnominale Verwendung. Artikel sind rein adnominal. Adnominale Demonstrativa und definite Artikel haben große funktionale Gemeinsamkeiten. Sie realisieren die funktionale Domäne der definiten Identifikation innerhalb der Nominalphrase (→ A2.6.1.2). Dies erklärt sich daraus, dass definite Artikel sprachübergreifend, insbesondere auch in den Kern-Vergleichssprachen, durch Grammatikalisierung aus Demonstrativa hervorgegangen sind; auch ist für gewisse Ausdrücke, etwa das akzenttragende deutsche der/die/das die Einordnung als Demonstrativum oder Artikel umstritten. Artikel und Demonstrativa werden daher hier, dieser Nähe zwischen den Kategorien Rechnung tragend, innerhalb eines Kapitels behandelt. Dem Aspekt der Grammatikalisierung ist ein eigener Abschnitt gewidmet (→ B1.2.3.2); funktionale Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden besonders in den Abschnitten → B1.2.2.7 und → B1.2.3.2.1.1 herausgearbeitet. Allerdings unterscheiden sich die beiden Klassen doch in wesentlichen Aspekten, vor allem weil definite Artikel in erster Linie mit indefiniten Artikeln in einer grammatischen Opposition stehen. Daher ist auch für Demonstrativa und Artikel ein jeweils spezifisches Inventar an Varianzparametern vorzusehen. Somit ergibt sich eine Zweiteilung des Kapitels in einen ersten Abschnitt zu den Demonstrativa und einen zweiten zu den Artikeln. In der Zusammenfassung werden beide Kategorien berücksichtigt.  







B1.2.2 Demonstrativa B1.2.2.1 Funktionale und typologische Charakterisierung Demonstrativa sind Pronomina, die als selbstständige pronominale Nominalphrasen prototypischerweise zur Referenz auf außersprachliche Gegenstände dienen, die im Wahrnehmungsraum des Sprechers gegeben sind. Demonstrativa verfügen in dieser Verwendung über eine deiktische Bedeutungskomponente als definitorischen Bedeutungsbestandteil. Zusätzlich wird die Referenzhandlung hier häufig von einer Zeigegeste begleitet. Wir sprechen dann auch von einer gestisch-deiktischen Verwendung. So kann der Sprecher mit dem Demonstrativum die in DEU DIE duftet wunderbar z. B. auf eine Rose referieren, die er vor sich sieht und auf die er mittels einer Zeigegeste – die lediglich in einer Kopf- oder Augenbewegung bestehen kann – die Aufmerksamkeit des oder der Adressaten lenkt. Demonstrativa sind in deiktischer Ver 

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B1 Wortklassen

wendung immer auf von Sprecher und Adressat verschiedene Gegenstände bezogen; sie stehen damit im Gegensatz zu den Kommunikantenpronomina (wie DEU ich/wir – du/ihr/Sie, → B1.5.2.1). Während Sprecher und Hörer unmittelbar durch die Sprechsituation gegeben bzw. „aktiviert“ sind (vgl. Diessel 2012: 2418), und daher allenfalls bei mehreren potentiellen Adressaten eine zusätzliche Zeigegeste erforderlich ist, wird durch die Kooperation von Demonstrativa und Zeigegeste ein neuer Aufmerksamkeitsfokus erst etabliert oder ein Kontrast zwischen bereits etablierten Referenten angezeigt. Anders als die Kommunikantenpronomina sind die Demonstrativa nicht auf personale Referenz beschränkt, sondern was den Referenzbereich angeht, beliebige „andere“ Gegenstände, also sowohl Personen als auch Dinge, vergleichbar mit den Personalia der 3. Person (zu Unterschieden → B1.2.2.7). Wie die Personalia (→ B1.5.2) leisten sie definite Referenz, sind also eine definite Pronomenklasse und damit klar gegenüber den Indefinita im weiteren Sinne abgegrenzt (→ B1.5.5). Insofern als die Gegenstände, auf die mit Demonstrativa verwiesen wird, im Wahrnehmungsraum der Kommunikanten lokalisiert sind, besteht eine enge Beziehung zur lokalen Deixis. Allerdings betrachten wir die Demonstrativa nicht selbst als lokaldeiktische Ausdrücke. Zur unmittelbaren, also nicht weiter deskriptiv spezifizierenden, lokalen Deixis werden Adverbien wie DEU hier, dort, da usw. gebraucht; mit ihnen wird auf Raumabschnitte verwiesen, nicht auf dort lokalisierte Gegenstände.  







Diessel (2012) hingegen fasst lokaldeiktische Adverbien (wie ENG here, there) sowie Demonstrativa (wie ENG this, that) zur Kategorie der Ortsdeixis (place deixis) zusammen. Insgesamt ist die Klassifikation der deiktischen Ausdrücke in der Literatur vergleichsweise uneinheitlich: Nachhaltigen Einfluss hat etwa die bühlersche Vorstellung, alle sprachlichen Handlungen innerhalb des so genannten ,Zeigfelds‘ seien von drei Koordinaten, nämlich ,Ich-Hier-Jetzt‘ als Ausgangspunkt („Origo“) bestimmt. Von daher werden traditionell Person-, Orts- und Zeitdeixis unterschieden. Ehlich (1979) sowie die IDS-Grammatik (1997: 316–323) verstehen den Terminus ‚Persondeixis‘ in dieser Tradition, also im Sinne von ,Kommunikantenpronomina‘. Bei Diessel (2012) sind die Kommunikantenpronomina als ,Partizipantendeixis‘ gefasst, wobei einerseits die reine Personenunterscheidung (zwischen Sprecher und Adressat) mit der – nun enger zu verstehenden – Kategorie ,Persondeixis‘ erfasst wird, während Unterscheidungen nach dem Ausdruck von sozialem Rang oder Höflichkeit unter die Kategorie ,soziale Deixis‘ fallen. Für Demonstrativa ist in der an Bühler angelehnten Konzeptualisierung zunächst kein Platz vorgesehen; von daher ist wohl die Zusammenfassung mit der lokalen Deixis bei Diessel motiviert. Bei Ehlich (1979) und in der IDS-Grammatik (1997: 323–326) hingegen wird eine eigene Kategorie ,Objektdeixis‘ eingeführt, die auf die Demonstrativa (wie oben bestimmt) abzielt. Dagegen fallen bei Klein (2001: 580) auch die Kommunikantenpronomina (einschließlich der Possessiva wie DEU mein, dein) in die Kategorie ,Objektdeixis‘.  

Selbstständige Demonstrativa finden sich in allen Sprachen (Diessel 1999: 1, 2012: 2418), die Wortklasse ist „truly universal“ (Diessel 2012: 2418). Auch Dixon (2003: 61) betont, dass die Klasse der Demonstrativa anscheinend in allen Sprachen auftritt. Die Klasse kann aber ggf. aus nur einem einzigen Demonstrativlexem bestehen. Auch adnominal gebrauchte Demonstrativa sind ähnlich weit verbreitet. Eine Ausnahme ist das Hixkaryána (Karibisch), wo Demonstrativa nach Derbyshire (1979: 132 f., zit. nach  

256

B Wort und Wortklassen

Rijkhoff 2004: 180) adnominal nicht zulässig sind. Davon zu unterscheiden sind Sprachen, in denen Demonstrativa adnominal nur in appositiven Strukturen auftreten. Das Ungarische ist ein Kandidat für eine solche Sprache, wenn man von den Demonstrativa azon, ama, e, ezen, eme, die mehr oder weniger obsolet sind, absieht (siehe dazu → D1.2.1.1.2). Weitere Sprachen (darunter das West-Grönländische) werden in Rijkhoff (2004: 180) angeführt. Was die Diachronie der Demonstrativa angeht, so gibt es nach Diessel (2012: 2418) keine Evidenz dafür, dass Demonstrativa historisch aus Inhaltswörtern entstanden sind. Daher mögen sie älter sein als andere Funktionswörter.  

If we consider the particular function of demonstratives to establish joint attention, it seems reasonable to assume that demonstratives may have emerged very early in the evolution of human language and independently of other linguistic terms […].

Demonstrativa bilden ihrerseits die diachrone Quelle von Personalpronomina der 3. Person, wie etwa im Lateinischen oder Schwedischen, und definiten Artikeln (Vogel 1993; Diessel 2012: 2428). Zur Grammatikalisierung des definiten Artikels aus Demonstrativa in den Vergleichssprachen → B1.2.3.2.1.  



Für das lateinische Pronomen is/ea/id gilt nach Brugmann (1904: 33): „Seit Beginn der Überlieferung erscheint dieses Pronomen nur in der Rede auf Genanntes zurück- oder auf Folgendes vorweisend […]“; es ist also als Personalpronomen der 3. Person einzuschätzen (vgl. auch Kühner/Holzweissig 1986: 590). Allerdings geht es, wie der Vergleich mit anderen indoeuropäischen, insbesondere auch italischen Sprachen zeigt, auf ein Demonstrativum zurück.  

In den festlandskandinavischen Sprachen wird das Paradigma der Personalia der 3. Person durch Formen des Demonstrativums vervollständigt. Dies betrifft im Schwedischen die nicht-personalen Utrum- und Neutrumformen im Singular sowie die Pluralformen insgesamt. Hier ist nicht von Homonymie auszugehen, sondern von einem suppletiven Verhältnis. Man vergleiche die beiden Paradigmen für das Personalpronomen der 3. Person und das Demonstrativum in Tabelle 1.  

Tab. 1: Personalpronomina und Demonstrativa im Schwedischen  

B1 Wortklassen

257

Im Plural fallen – nach Braunmüller (1999: 51) – die Subjectivus- und Objectivusformen zusammen ([dɔm:]), was teilweise auch in der Schrift () nachvollzogen wird (ebd.). Damit enfällt die Kasusunterscheidung auch für den Plural; hier liegt dann ein maximaler Synkretismus mit nur einer einzigen Form vor.

Wie bereits erwähnt, werden Demonstrativa sprachübergreifend in der Regel sowohl selbstständig als auch adnominal gebraucht. Werden sie selbstständig ohne restriktives Attribut gebraucht wie in (1a), leisten sie selbst pronominale Referenz; der Referenzbereich kann aber auch durch ein restriktives Attribut eingeschränkt werden (vgl. (1b)). In beiden Fällen ist ihnen die Konstituentenkategorie Nomen (N) zuzuordnen. (1)

a. b.

NP[N

Die] duftet wunderbar. NP[N Die [PP mit den großen Blüten]] duftet wunderbar.

Adnominal fungieren sie als Identifikatoren. In den Vergleichssprachen Deutsch, Englisch und Französisch sind sie syntaktisch der Konstituentenkategorie des Determinativs (D) zuzuordnen. Im Polnischen haben sie die Konstituentenkategorie Adjektiv (A) und im Ungarischen fungieren sie adnominal wie ein selbstständiger N-Kopf, der mit der substantivischen NP quasi-appositiv verknüpft ist. Man vergleiche dazu die ausführliche Diskussion in → D1.2.1.1.2. Im adnominalen Gebrauch, etwa bei einer gestisch-situativen Verwendung von Diese Rose duftet wunderbar, werden nicht-deiktische Ausdrücke mit dem Demonstrativum verbunden. Man kann dann auch die gesamte NP als deiktisch gebraucht verstehen (vgl. Levinson 2004). Hier liefert das Demonstrativum die kontextuelle Information, ohne deren Unterstützung die Referenz nicht gelingen würde. Diese Unterstützung wiederum beruht nach Levinson (ebd.: 103) auf der wechselseitigen Aufmerksamkeit zwischen den Gesprächspartnern und ihrer Fähigkeit, die referentiellen Intentionen des Sprechers aufgrund der mit der Deixis verbundenen kontextuellen Anhaltspunkte zu erkennen. Die gestisch-deiktische Verwendung ist zwar die grundlegende bzw. „kanonische“ Verwendungsweise der Demonstrativa (wie anderer deiktischer Ausdrücke außer den Kommunikantenpronomina). Daneben gibt es aber sprachübergreifend eine ganze Reihe weiterer Gebrauchsweisen. Dabei können einerseits weitere Formen der deiktischen Verwendung neben der gestisch-deiktischen genannt werden, andererseits aber nicht-deiktische Verwendungen, bei denen nicht „gezeigt“ wird und unter denen der phorische Gebrauch an erster Stelle steht. Bei dieser Ausdehnung des Gebrauchsspektrums spielt die für die Bedeutung der Demonstrativa konstitutive Kontextabhängigkeit, der wie im prototypischen Fall situativ, aber auch durch andere Ressourcen Rechnung getragen werden kann, die entscheidende Rolle. Bei der Ausdehnung von deiktischer auf nicht-deiktisch-anaphorische Funktion wird der eingebaute kontextuelle Parameter des Demonstrativums statt durch den situativen Kontext durch den sprachlichen Kontext spezifiziert. Man vergleiche (1c) gegenüber (1a, b).  

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(1)

B Wort und Wortklassen

c. In der Vase war eine einzelne Rose. Diese duftete wunderbar.

Auf die einzelnen Gebrauchsweisen gehen wir in → B1.2.2.7 ein, wobei wir deren Bestimmung und Exemplifizierung in den Vergleichssprachen mit der Erörterung der hier anzutreffenden zwischensprachlichen Varianz verknüpfen.  

B1.2.2.2 Einführung der Varianzparameter Wir unterscheiden zwischen formalen (morphologischen und syntaktischen) und semantisch-pragmatischen Varianzparametern. Unter den formalen Parametern ist zunächst das Inventar der Demonstrativa in den Blick zu nehmen. Zwar gibt es in der Grammatikographie der Vergleichssprachen einen sprachübergreifenden Kernbestand, die ggf. distanzmarkierenden Objektdeiktika im engeren Sinne (wie DEU der, dieser, ENG this, that). Daneben werden aber weitere Elemente genannt, und zwar die ,Ähnlichkeitsdemonstrativa‘ (wie DEU solcher, derselbe, ENG such, FRA tel) oder auch das ,determinativische‘ DEU derjenige. Hier ist die Zugehörigkeit sowohl zur funktionalen Domäne der Demonstrativa als auch zur lexikalischen Klasse der Pronomina keineswegs eindeutig und, was letzteres angeht, divergent zwischen den Sprachen. Daneben spielt wie üblich bei den Pronomina das Verhältnis von selbstständigen und adnominalen Formen eine Rolle. Die Formen können wie z. B. bei DEU dieser, POL ten zusammenfallen oder sie unterscheiden sich im Komplexitätsgrad: Das selbstständige französische Demonstrativum zeigt gegenüber der adnominalen Form ce (M . SG ) eine Erweiterung zu celui-ci bzw. celui-là. Dabei versteht sich die Erweiterung um den Bestandteil -lui als Markierung einer starken Form (gegenüber der schwachen adnominalen). Die Erweiterung um -ci bzw. -là ist bereits ein Reflex eines weiteren formalen Parameters, nämlich der Opposition zwischen lexikalischer oder stammbezogener Markierung von Distanzkontrasten (wie in ENG this vs. that) und einer Markierung mittels Erweiterung durch eine deiktische Partikel, wie sie im Französischen vorliegt. Hier ist also eine direkte Abhängigkeit von der Semantik der Demonstrativa gegeben. Als weiterer potentieller formaler Varianzparameter ist wie bei den Pronomina generell die Kodierung der nominalen Kategorien Kasus, Genus und Numerus zu nennen. Wir rufen dies jedoch nicht eigens hier auf, sondern verweisen zum einen auf die Ausführungen im Kapitel zur Flexionsmorphologie (→ C) und auf die entsprechenden Abschnitte im Kapitel Pronomina, Überblick (→ B.1.5). Wir gehen nur kurz auf einige Spezifika der Demonstrativa ein. Numeruskontraste zwischen Singular und Plural, die nach Diessel (2012: 2422) frequent sind und z. B. in 64 Sprachen aus einem Sample von 85 beobachtet werden, liegen auch bei den Demonstrativa der Vergleichssprachen (zumindest partiell) vor. Selbstständige Formen zeigen in allen Vergleichssprachen Numeruskontraste; sogar im Englischen mit this – these, that – those. Nur  







B1 Wortklassen

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die englischen Personalia (mit Possessiva und Reflexiva) als weitere definite Pronomenklasse zeigen ebenfalls einen solchen Numeruskontrast, während die Indefinita im weiteren Sinne keine morphologische Numerusdifferenzierung haben. Wir betrachten dies als einen Effekt der Definitheitshierarchie (→ B1.1.5, B1.5.1.1). Wie sprachübergreifend üblich (vgl. Diessel ebd.) werden bei adnominaler Verwendung auch in den Vergleichssprachen seltener Numeruskontraste ausgedrückt, wobei sich hier die Demonstrativa an die für Determinative und Adjektive in der NP generell gültigen Kongruenzregeln (für Kasus, Genus, Numerus) halten; im Ungarischen werden aufgrund der anders gelagerten syntaktischen Struktur auch Singular und Plural (und die übrigen Kongruenzkategorien) adnominal markiert (→ B1.5.1.8). Was Genusmarkierung angeht, die nach Diessel (ebd.) nur eine Minorität der Sprachen betrifft, so zeigen die Genussprachen Deutsch, Französisch und Polnisch auch bei den Demonstrativa Genusdifferenzierung, während sie im Englischen und Ungarischen fehlt. Für die Genusmarkierung gelten ähnlich wie beim Numerus für die Vergleichssprachen pronomenübergreifende Prinzipien (→ B1.5.1.7), auch was den Zusammenhang von Genus mit Sexus und Personalität bzw. Sachbezug angeht. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang zwei Punkte: Die selbstständige Verwendung von Demonstrativa zum Bezug auf Personen kann speziellen Beschränkungen unterliegen; vgl. z. B. die Meidung von DEU der/die in gestisch-deiktischem Gebrauch. Darauf gehen wir im Zusammenhang mit den einzelnen Gebrauchsweisen ein (→ B1.2.2.7). Das neutrale Demonstrativum auf der anderen Seite (etwa DEU das und dies) hat besondere Verwendungsweisen im Kontext des von Jespersen (1924: 241– 243) so genannten „konzeptuellen Neutrums“ (conceptual neuter). Es konkurriert hier mit dem neutralen Personalpronomen der 3. Person (DEU es; → B1.5.2.6), wie etwa in DEU Gestern hat die Sonne geschienen. Das/Es war herrlich. Wir gehen auch darauf im Rahmen der Erörterung der einzelnen Gebrauchsweisen ein. Inhärente Kontextbezogenheit und gegenstandsbezogene Denotation unter Ausschluss der Kommunikanten sind, wie in → B1.2.2.1 ausgeführt, wesentliche Bedeutungskomponenten der Demonstrativa. Diese beiden Komponenten betrachten wir als mögliche Quellen für semantisch-pragmatische Varianzparameter. Was die Ausgestaltung der Kontextbezogenheit angeht, kommt bei der prototypischen deiktischen Verwendung in der Regel eine Perspektive, die räumlich unterschiedliche Positionierungen erlaubt, ins Spiel: Dabei kann (i) entweder die Distanz zum Sprecher als Mittel der Differenzierung eingesetzt werden oder (ii) die Lokalisierung relativ zu einem der beiden Kommunikanten als Unterscheidungsmerkmal herangezogen werden oder (iii) von beiden Möglichkeiten Gebrauch gemacht werden. Wir sprechen mit Bezug auf (i) bis (iii) auch verallgemeinernd von ,Distanzparameter‘. Das Vorhandensein eines Distanzparameters ist kein notwendiges (vgl. Himmelmann 1997: 53–62), jedoch ein häufig gegebenes Merkmal der Demonstrativa. Wo es nicht gegeben ist, haben wir es ggf. auch mit nur einem einzigen Demonstrativum zu tun. Beim Prototyp des Demonstrativums allerdings liegt eine Distanzmarkierung oder paradigmatische Organisation zum Ausdruck eines Distanzkontrasts vor. Bei den Ver 















260

B Wort und Wortklassen

gleichssprachen ist dies in unterschiedlichem Umfang und mit unterschiedlicher Ausdifferenzierung gegeben. Alle Kern-Kontrastsprachen haben im Prinzip nach der Distanz zum Sprecher organisierte Systeme, bei denen zwischen ,sprechernah‘ (proximal) und ,sprecherfern‘ (distal) unterschieden wird. Das Englische zeigt ein solches System mit this (proximal) und that (distal). Wie in → B1.2.2.6 gezeigt wird, sind die beiden Werte des Proximalen und des Distalen noch – jeweils sprachspezifisch – unter dem Gesichtspunkt der Markiertheit zu ordnen. Wir setzen diese spezifischeren Wertungen durch Kapitälchen von der allgemeineren Wertung als Nähe- oder Ferne-Demonstrativum ab, also etwa ,PROXIMAL ‘ (,als proximal markiert‘) vs. ,proximal‘ (NäheDemonstrativum).  

Der semantisch-pragmatische Varianzparameter ,Gebrauchsweisen der Demonstrativa‘, der ebenfalls aus deren Kontextbezogenheit resultiert, wurde bereits angesprochen. Was den Gegenstandsbezug angeht, so gibt es unter den bei Diessel (2012: 2421) genannten Kategorisierungen, nach denen die Demonstrativa gegliedert sein können, neben Numerus (number) und Genus (gender) auch zwei auf die Semantik bezogene Kategorisierungen, nämlich ‚semantisch-ontologischer Typ‘ (ontology) und ‚Begrenztheit‘ (boundedness). Sie sind für die Vergleichssprachen eher von geringerer Relevanz. Die Markierung des semantisch-ontologischen Typs entfällt, da wir anders als Diessel die Ausdrücke der lokal-adverbialen Deixis (hier, dort) nicht zu den Demonstrativa zählen. Zum Merkmal boundedness heißt es bei Diessel (2012: 2422): „Boundedness is a central feature of the deictic system in Inuktitut (Eskimo, North America), in which demonstratives indicate whether the referent is conceptualized as a ‘restricted’ or ‘extended’ entity.“ Reflexe einer solchen Abhängigkeit, die sich in der „Seinsart“ (vgl. Rijkhoff 2004: Kap. 2) bzw. dem Nominalaspekt der entsprechenden Ausdrücke niederschlagen würden, sind bei den Demonstrativa in den Vergleichssprachen nicht zu beobachten. Es werden somit folgende Varianzparameter untersucht:  

Formale Parameter: 1. Inventar der Demonstrativa 2. Selbstständige vs. adnominale Form 3. Markierung von Distanzkontrasten Semantisch-pragmatische Parameter: 4. Distanzparameter 5. Gebrauchsweisen

B1 Wortklassen

261

B1.2.2.3 Inventar der Demonstrativa Zu unterscheiden ist zwischen dem Kernbereich der Demonstrativa und einer Peripherie. Den Kernbereich bilden diejenigen Ausdrücke, die in der prototypischen Verwendung als objektdeiktische Ausdrücke, also zur Referenz auf Gegenstände im situativen Kontext, gebraucht werden können. Den Peripheriebereich bilden in erster Linie die Ähnlichkeitsdemonstrativa wie DEU solch(er). Daneben sind Ausdrücke zu nennen, die nur in einer nicht-deiktischen Verwendung vorkommen wie DEU derjenige. Unterschiede zwischen den Sprachen – etwa was eine Zuordnung zu den Demonstrativa oder zu einer anderen lexikalischen Klasse angeht – betreffen die Peripherie, nicht den Kernbereich.

B1.2.2.3.1 Kernbereich Im Deutschen werden traditionell die Demonstrativa dieser, jener und der dem Kernbereich zugeordnet. Dabei wird der als distanzneutral, dieser als proximal und jener als distal eingeordnet. Es lassen sich drei demonstrativvorstellungen sondern: die bloß anzeigende, welche das hier oder dort unentschieden läßt, und zwei andere, die richtung nach der nähe oder ferne schärfer aussprechende. so entspringen uns die pronomina der, dieser und jener [. . .]. das erste drückt da, das zweite hier, das dritte dort aus. dieser und jener machen einen gegensatz, der hält neutral die mitte zwischen beiden. (Grimm 1898, IV: 519)  



Allerdings ist jener im heutigen Deutsch auf die Schriftsprache beschränkt, so dass schon von daher eine deiktisch-distale Verwendung nicht in Frage kommt (vgl. Gunkel 2009: 215). Dennoch kommt seine distale Bedeutungskomponente noch heute varietäten- und textsortenabhängig in nicht-deiktischen Verwendungen zum Tragen (→ B1.2.2.7). Wir ordnen es daher der Peripherie zu. Englisch verfügt über this (proximal) und that (distal) als Elemente des Kernbereichs. Die französischen Demonstrativa des Kernbereichs reflektieren ebenfalls die Grundunterscheidung proximal vs. distal, sind aber aufgrund der morphologischen Unterscheidung zwischen adnominalen und selbstständigen Formen sowie Grundformen und partikelerweiterten Formen (→ B1.2.2.4) komplexer organisiert. Wir fassen die adnominalen Formen ce(-ci/-là) und die selbstständigen celui(-ci/-là) als Elemente im Kernbereich der Demonstrativa. Im Polnischen ist ten das proximale und tamten das distale Demonstrativum des Kernbereichs, daneben gibt es mit ów ein weiteres distales Demonstrativum, das allerdings als stilistisch markiert gilt und daher im Folgenden keine Berücksichtigung finden wird. Im Ungarischen fungieren ez als zentrales proximales, az als distales Demonstrativum. Daneben werden noch e, eme, ezen als proximale und azon, ama als distale Elemente genannt. Sie unterscheiden sich als so genannte „internal demonstratives“ (É. Kiss 2002: 153) syntaktisch von ez und az (→ D1.2.1.1.2). Im heutigen Ungarischen sind sie ungebräuchlich und werden im Folgenden nicht berücksichtigt.  





262

B Wort und Wortklassen

B1.2.2.3.2 Peripherie Mit Ähnlichkeitsdemonstrativa wird in selbstständiger Verwendung nicht auf (z. B. deiktisch oder anaphorisch identifizierbare) Gegenstände referiert, sondern auf Objekte, die „von der Art“ der Objekte sind, auf die deiktisch oder anaphorisch gezeigt wird. Es liegt also ein impliziter Vergleich zugrunde: Wenn z. B. mit einer entsprechenden Geste ein Schal in einer Warenauslage herausgegriffen und geäußert wird: Solche (Schals) mag ich besonders, referiert der Sprecher auf Schals, die mit dem Objekt, das gestisch herausgegriffen wurde, in einer Ähnlichkeitsrelation stehen, die also (im Hinblick auf unterschiedliche Aspekte wie Qualität, Farbe, Stoff usw.) von der gleichen Art sind. Insofern handelt es sich in der Tat um Demonstrativa. Ähnlichkeitsdemonstrativa verhalten sich sprachübergreifend nicht wie typische Pronomina und sind insbesondere adnominal häufig nicht der Konstituentenkategorie Determinativ zuzuordnen, sondern der Konstituentenkategorie Adjektiv (wie etwa bei DEU ein solcher Schal, dazu → D1.1.2). Entsprechend wird auch bei der Inventarisierung der Demonstrativpronomina in Grammatiken sehr uneinheitlich verfahren. Für das Deutsche wird gewöhnlich solch(er) genannt, daneben auch derartiger (Curme 1922: 159–163). Die „Identitätsausdrücke“ derselbe; selbiger (ebd.), der nämliche (ebd.) – bei Blatz (1896: 288) wird sogar das unflektierbare, üblicherweise heute als Fokuspartikel eingeordnete selbst genannt – sind semantisch anders gelagert: Wenn sie im abgeschwächten Sinne als Art-Demonstrativa gebraucht werden (also im Sinne von ,von derselben Art‘, z. B. Ich möchte denselben Schal), können sie vergleichbar solch(er) deiktisch gebraucht werden. Im strikten Sinne der Objekt-Identität allerdings sind nur phorische Verwendungen (‚dasselbe Objekt wie ein vorerwähntes‘, ,ein mit einem vorerwähnten identisches Objekt‘) bzw. diskursdeiktische Verwendungen (wie in Er hat gesagt, dass der morgen kommt. Dasselbe habe ich auch gesagt) möglich. Auf ein gestisch identifizierbares Objekt, z. B. einen ausliegenden Schal, kann nicht mit dasselbe X (z. B. derselbe Schal) anstelle etwa von dieses X referiert werden.  













In einer situationsbezogenen Verwendung etwa von Das ist derselbe Schal wird mit das referiert, derselbe Schal wird prädikativ und damit auch nicht referentiell und nicht deiktisch verwendet. In veraltetem Sprachgebrauch wird selbstständiges derselbe (bzw. archaisches selbiger) auch wie anaphorisch dieser bzw. das Personalpronomen der 3. Person gebraucht, vgl. Duden-Grammatik (2009: 290 f.). Dies hat eine, ebenfalls veraltete, Parallele im Englischen: In Quirk et al. (1985: 874) findet sich folgendes Beispiel: I invited Dr. Jones to see me and was invited by the same [= him] at 3 p.m.  



Deiktische Ähnlichkeitsausdrücke des Polnischen und Ungarischen sind jeweils POL taki und UNG ilyen/olyan ,solch(er)‘, wobei im Ungarischen wiederum eine proximale und eine distale Variante vorliegt. Die Ausdrücke sind in beiden Sprachen der Konstituentenkategorie Adjektiv zuzuordnen. Auch im Polnischen und Ungarischen wird wie im Deutschen das Identitätspronomen als komplexe Form realisiert, die aus einem Demonstrativum und dem DEU selbst, allein entsprechenden Ausdruck (POL

B1 Wortklassen

263

sam/sama/samo; UNG ugyan) besteht: POL ten sam (M ), UNG ugyanez/ugyanaz (mit proximalem und distalem Demonstrativum) ,derselbe‘. In den ungarischen Grammatiken (z. B. Tompa 1968: 64) erfolgt die Zuordnung zu den Demonstrativa, Swan (2002: 172) spricht bezüglich sam von „intensifying pronoun“, die Verbindung ten sam wird nicht eigens klassifiziert. Auch französisch même fungiert sowohl als Fokuspartikel als auch als Identitätsausdruck. Als Identitätsausdruck verhält es sich syntaktisch wie ein Adjektiv; es tritt attributiv, und zwar pränominal, und selbstständig (als Kopf einer NP) kombiniert mit dem definiten Artikel auf (Le même (homme) est venu aussi chez nous ,Derselbe (Mann) ist auch zu uns gekommen‘). Bei Grevisse/Goosse (2011: 866, 1009) wird même als déterminant bzw. pronom indéfini eingeordnet. Der englische Identitätsausdruck same hat keine Parallele als Fokuspartikel, verhält sich aber syntaktisch analog zum Französischen weitgehend wie ein Adjektiv. Allerdings kann the same selbstständig als „Ersatz“ für verschiedene Ausdrücke gebraucht werden (substitute form, Quirk et al. 1985: 873), wie in The milk smells sour and the butter the same ,Die Milch riecht sauer und die Butter genauso / auf dieselbe Art‘. Hier handelt es sich um den bereits für das Deutsche erwähnten diskursdeiktischen Gebrauch. Dieser dürfte auch in den anderen Vergleichssprachen gegeben sein. Schließlich sind noch für Deutsch und Englisch spezielle Formen mit determinativischer Funktion zu nennen. Darunter verstehen wir adnominale oder selbstständige Ausdrücke, die obligatorisch mit einem restriktiven Attribut verknüpft werden und eine spezielle Form des anaphorischen Verweises ausdrücken können (→ B1.2.2.7). DEU derjenige kommt adnominal und selbstständig vor und wird regelmäßig – wohl auch aufgrund seines internen Aufbaus aus potentiellen Demonstrativa – den Demonstrativa zugeordnet. ENG the one entspricht der selbstständigen Verwendung von derjenige, vgl. (2).  





(2) ENG DEU

The blonde girl I saw was older than the one you were dancing with. (Quirk et al. 1985: 872) Das blonde Mädchen, das ich gesehen habe, war älter als dasjenige, mit dem du getanzt hast. / Dasjenige Mädchen, mit dem du getanzt hast, war jünger als das blonde Mädchen, das ich gesehen habe.

Die Form one wird in diesem Kontext vergleichbar ihrem Vorkommen bei Ellipse eines Substantivs in adjektivisch erweiterten NPs gebraucht (the old man and the younger one ‚der alte Mann und der jüngere‘) und wird daher im Kontext des substitutiven one erörtert, dem demonstrativer Wert per se nicht zukommt. Curme (1922) allerdings erwähnt the one unter den Demonstrativa.

264

B Wort und Wortklassen

B1.2.2.4 Selbstständige vs. adnominale Form Auch bei den Demonstrativa sind in den Vergleichssprachen wie bei anderen Pronomina drei Möglichkeiten für die Beziehung zwischen der selbstständigen und der adnominalen Form zu unterscheiden: (i) Formidentität, (ii) flexivische Unterscheidung an mindestens einer Paradigmenstelle und (iii) Unterscheidung im Wortstatus (komplexe Einheit bei selbstständiger Verwendung vs. monomorphematische adnominale Einheit). Betrachten wir nun die Kern-Kontrastsprachen im Hinblick auf adnominale vs. selbstständige Formen. Formidentität (Option (i)) ist bei den ungarischen Demonstrativa ez, az, den polnischen ten, tamten und den englischen Demonstrativa this, that (mit den Pluralformen these, those) gegeben. Allerdings kann bei anaphorischer Gebrauchsweise fakultativ statt den einfachen Formen die Verbindung mit one auftreten (vgl. (3), Huddleston/Pullum 2002: 1508, → B1.5.1.5).  

(3) ENG

Do you like these flowers? – I like this/that (one). ‚Gefallen dir diese Blumen? – Mir gefällt die hier/da.‘

Wird substitutives one hinzugesetzt, verhalten sich die Demonstrativa analog zu Adjektiven in einer NP, deren nominaler Kopf semantisch aus dem Kontext zu ergänzen ist, während die Kopf-Position syntaktisch durch one belegt ist (→ D2.1). Differenziert wird dagegen durchgehend im Französischen, und zwar gemäß Option (iii). Im Französischen finden sich unterschiedliche Paradigmen für selbstständige (vgl. Tabelle 2) und adnominale (vgl. Tabelle 3) Demonstrativa. Die selbstständigen Formen sind aus der adnominalen Form ce + den starken/unverbundenen Formen der Personalia der 3. Person (lui M . SG , elle F . SG , eux M . PL , elles F . PL ) verschmolzene Verbindungen. Beide Paradigmen enthalten neben diesen Grundformen (formes simples nach Grevisse/Goosse 2011: 937) jeweils eine Reihe von partikelerweiterten Formen (formes composées nach ebd.; vgl. hierzu den nächsten Abschnitt → B2.2.6), bei denen eine der beiden deiktischen Partikeln, nämlich -ci (zu ici ,hier‘) und -là ,dort‘, hinzutritt. Bei den selbstständigen Demonstrativa ist die Partikel an die Grundform klitisiert, wobei alternativ zu cela die kontrahierte Form ça existiert. Bei den adnominalen Demonstrativa klitisiert die Partikel an das Nomen selbst.  







Tab. 2: Selbstständige Demonstrativa im Französischen SG

PL

M

F

(konzeptuelles Neutrum)

M

F

Grundform

celui

celle

(ce)

ceux

celles

erweiterte Form

celui-ci/-là celle-ci/-là

ceci/cela, ça

ceux-ci/-là

celles-ci/-là

B1 Wortklassen

265

Tab. 3: Adnominale Demonstrativa im Französischen SG

PL

M

M/F

Grundform

ce /sə/

cet(te) /sɛt/

ces /se(z)/

erweiterte Form

ce N-ci ce N-là

cet(te) N-ci cet(te) N-là

ces N-ci ces N-là

Zu der Kategorie ,konzeptuelles Neutrum‘ ist anzumerken, dass es sich formal nicht um eine Genuskategorie handelt: Das Französische hat nur die beiden Genuskategorien Maskulinum und Femininum. Daher wird die Kategorie hier in Klammern gesetzt. Wie ersichtlich, wird als Grundform für das konzeptuelle Neutrum die maskuline Form der adnominalen Demonstrativa gebraucht. Bei der adnominalen Grundform ist zu beachten, dass im Singular wie bei anderen französischen Pronomina und Adjektiven neben der maskulinen Kurzform eine konsonantisch auslautende Langform anzusetzen ist, die in der Liaison bei maskulinem und generell bei femininem Kopfsubstantiv gesetzt wird, wobei der Genusunterschied in der Schrift zum Tragen kommt, vgl. → C2.8.2.  

Option (ii), eine flexionsmorphologische Differenzierung zwischen adnominaler und selbstständiger Form, ist für das deutsche Demonstrativum der/die/das in Erwägung zu ziehen. Im Paradigma des selbstständigen Demonstrativums der sind im Genitiv Singular und Plural sowie im Dativ Plural zweisilbige Langformen, während adnominal nur Kurzformen vorkommen. An den übrigen Paradigmenpositionen finden sich selbstständig wie adnominal nur einsilbige Kurzformen, man vergleiche folgende Teilparadigmen (Tabelle 4).  

Tab. 4: Lang- und Kurzformen in den der-Paradigmen GEN .SG . NONF

GEN . F / PL

DAT . PL

Langform

dessen

deren, derer

denen

Kurzform

des

der

den

Unstrittig ist, dass das Paradigma mit den Langformen ein Demonstrativum konstituiert, ebenso, dass das Paradigma ohne Langformen den definiten Artikel konstituiert. Strittig ist hingegen, ob neben dem Artikel ein adnominales Demonstrativum anzusetzen ist, das aus den akzenttragenden Kurzformen des Paradigmas besteht, oder ob es sich adnominal stets um den definiten Artikel handelt, der ohne und mit Akzent vorkommt (zu einer Übersicht vgl. Thieroff 2000b; Gunkel 2006). Wir vertreten hier, an Gunkel (2006) anschließend, die letztgenannte Position. Bei adnominalem der handelt es sich stets um den definiten Artikel. Das bedeutet auch, dass das Deutsche nur über ein einziges Demonstrativum aus dem Kernbereich verfügt, das adnominal

266

B Wort und Wortklassen

gebräuchlich ist, nämlich dieser; jedoch über zwei Demonstrativa mit selbstständigem Gebrauch, nämlich dieser und der. (Wir sehen hier von dem Sonderfall jener ab.) Für die genannte Position sind in erster Linie folgende Argumente vorzubringen: –



Der Akzent auf adnominalen der-Formen sollte nicht als lexikalisch distinktives Merkmal betrachtet werden, da im Deutschen lexikalische Wörter generell nicht (allein) aufgrund der Merkmalsopposition betont vs. unbetont bestimmt werden. Nicht-Betonbarkeit ist kein notwendiges Merkmal von Artikeln. Zwar ist es zutreffend, dass der definite Artikel, sofern unbetont, phonetisch reduziert und sogar enklitisch werden kann; vgl. Eisenberg (2013b: 157 f.). Dies schließt jedoch die Existenz von betonten Vorkommen nicht aus. Auch in anderen Sprachen, darunter den Vergleichssprachen kann der definite Artikel betont werden; und zwar obwohl es von den Artikeln verschiedene adnominale Demonstrativa gibt, die gerade nicht in der entsprechenden semantischen Funktion eingesetzt werden, vgl. (4).  



(4) DEU ENG FRA UNG

Paris ist DIE Stadt. Paris is THE city. Paris est LA ville. Végre megtaláltam A megoldást. DEF Lösung.AKK endlich find.PRT . 1SG ‚Endlich habe ich DIE Lösung gefunden.‘ (Molnár 2014: 47, Fn. 733)

Hierbei handelt es sich um eine Art Verum-Fokus-Effekt (vgl. zu diesem Konzept Höhle 1992 sowie die Beiträge in Lohnstein/Blühdorn (Hg.) 2012). Der semantische Gehalt des Verum-Fokus liegt darin, den „uneingeschränkten Geltungsbereich“ der Prädikation auszudrücken, vgl. Sie HAT es getan. Analog lässt sich argumentieren, dass beim Verum-Fokus auf dem definiten Artikel der „uneingeschränkte Geltungsbereich“ der durch den Artikel kodierten Einzigkeitspräsupposition ausgedrückt wird. Dass der Effekt bei Verbalphrasen oder Sätzen auf der Ebene der Assertion, bei NPs dagegen auf der Ebene der Präsupposition angesiedelt ist, liegt wiederum daran, dass das Zutreffen von Bedeutungselementen auf das Referenzobjekt bei NPs generell im Bereich der Präsupposition liegt. Im Polnischen, als Nicht-Artikelsprache, wird in diesem Fall das Demonstrativum ten verwendet (vgl. Warszawa to jest TO miasto ‚Warschau ist DIE Stadt‘).

Bei der Akzentuierung von Formen des definiten Artikels handelt es sich ansonsten um den „normalen“ Satz- bzw. Fokusakzent. Dessen pragmatische Funktion besteht darin, dass ein Alternativenbezug ins Spiel gebracht wird. Bei betonten Vorkommen des definiten Artikels handelt es sich hier – sieht man vom zuvor erwähnten Sonderfall des Verum-Fokus ab – um eine Alternativenmenge von Referenzobjekten, die unter den durch das (erweiterte) Kopfsubstantiv bezeichneten Begriff fallen (vgl. (5)).

267

B1 Wortklassen

(5)

Ich möchte DEN (roten) Hut.

Hier wird der Bezug zu einer Alternativenmenge von (roten) Hüten hergestellt, aus denen der Sprecher einen bestimmten auswählt (vgl. Gunkel 2006: 82 f.). Akzentuierung des definiten Artikels ist daher primär in kontrastiven Kontexten deiktischer wie anaphorischer Natur angezeigt. Akzenttragende adnominale der-Formen sind in deiktischer Verwendung ohne Begleitgeste, dem nicht-gestischen Gebrauch nach → B1.2.2.7, ausgeschlossen. So ist eine Äußerung von Gib mir doch mal DAS Buch in einer Situation, wo nur ein einziges Buch im Wahrnehmungsfeld ist, unangemessen, während dieses hier unproblematisch eingesetzt werden kann. Das wiederum ist im Einklang mit der semantischpragmatischen Bestimmung für betontes adnominales der, durch die notwendig eine Alternativenmenge induziert wird. Ähnliches gilt auch für die sog. ,symbolische‘ Verwendung (→ B1.2.2.7) wie in In diesem Zimmer wird nicht geraucht vs. *In DEM Zimmer wird nicht geraucht. Dem definiten Artikel des Deutschen fehlt somit die für Demonstrativa wesentliche Bedeutungskomponente der situativen Verankerung. Ein Situationsbezug kann durch Zeigegesten oder auch inferentiell hinzukommen. Sofern dadurch eine Alternativenmenge etabliert werden kann, ist der Einsatz einer akzenttragenden adnominalen der-Form, also einer Artikelform möglich. Wir stellen zusammenfassend fest, dass der definite Artikel im Deutschen einen kanonischen Satzakzent tragen kann und die definiten Artikel in den Kontrastsprachen das nicht können; in allen Artikel-Vergleichssprachen ist jedoch Akzentsetzung im Sinne eines Verum-Fokus möglich. Durch die kanonische Akzentuierbarkeit hat der definite Artikel noch eine wesentliche Gemeinsamkeit mit dem Demonstrativum, aber die Akzentuierbarkeit macht ihn nicht zum Demonstrativum. Man vergleiche auch den Abschnitt zu den einzelnen Gebrauchsweisen der Demonstrativa (→ B1.2.2.7), wo jeweils auf die mögliche oder unmögliche Setzung von adnominalem akzenttragendem der hingewiesen wird.  







B1.2.2.5 Markierung von Distanzkontrasten In den Vergleichssprachen können Distanzkontraste entweder lexikalisch, d. h. durch unterschiedliche Stämme oder aber durch Verbindung eines deiktisch unspezifischen Stammes mit einem deiktischen Adverb oder einer deiktischen Partikel (,partikelerweiterte Demonstrativa‘) ausgedrückt werden. Lexikalische Differenzierung liegt im Englischen mit this (proximal) vs. that (distal) und im Ungarischen ez (proximal) vs. az (distal) vor. Im Ungarischen beruht der lexikalische systematisch auf einem phonologischen Kontrast: Sämtliche Demonstrativa (Kern und Peripherie) haben, so sieht es Tompa (1968: 64), „je zwei Varianten. Die eine mit palatalem Vokal verweist auf Näheres, die andere mit velarem Vokal auf Entlegeneres“. Im Kern der  

268

B Wort und Wortklassen

Demonstrativa betrifft dies ez und az; in der Peripherie z. B. die in → B1.2.2.3 genannten Paare ilyen/olyan ,solch(er)‘ und ugyanez/ugyanaz ,derselbe‘. Bei Differenzierung in Form von erweiterten Demonstrativa sind verschiedene Aspekte zu berücksichtigen:  



(i) Die Verbindung kann von der Art ,Demonstrativum + Partikel‘ sein oder aber von der Art ,andere Einheit + Partikel‘. In letzterem Fall erzeugt erst die Verbindung mit der Partikel ein Demonstrativum, während der deiktisch unspezifische Stamm gar nicht als Demonstrativum zu betrachten ist. (ii) Die Verbindung kann den Status eines Kompositums oder einer Partikel-Enklise haben. Oder aber es handelt sich um eine mehr oder weniger feste syntaktische Verbindung aus Wörtern. (iii) Die Verbindung kann nur einzelne oder alle Elemente eines mehrgliedrigen Systems von Demonstrativa betreffen. Erweiterte Formen sind besonders charakteristisch für die festlandskandinavischen Sprachen. So werden im Schwedischen zu dem Demonstrativum den (mit zugehörigen Genus-/Numerusformen) die deiktischen Adverbien här ,hier‘ und där ,dort‘ hinzugesetzt, die Verbindungen den här, den där werden als „two lexically complex, but syntactically simple, demonstrative determiners“ (Börjars 1998: 22) gewertet. Sie erscheinen sowohl selbstständig als auch adnominal und sind wohl – trotz Getrenntschreibung – als Komposita einzuschätzen. Dies ergibt sich daraus, dass auch adnominal der Partikelbestandteil fest mit dem einfachen Demonstrativum verbunden bleibt. Bei klitischem Status (wie im Französischen) oder syntaktischer Verbindung (wie im Deutschen) dürfte auch im Schwedischen die adverbiale Partikel nur postnominal und damit in Distanz zum einfachen Demonstrativum erscheinen. Die reguläre postnominale Stellung des Adverbs in syntaktischer Verbindung ist daneben auch im Schwedischen möglich, vgl. den här mannen ,dieser Mann‘ vs. den mannen här ‚der Mann hier‘. Die Erweiterung um eine deiktische Partikel führt hier, da fakultativ, zu einem zweigliedrigen System mit einem distanzneutralen und zwei in äquipollenter Opposition (→ B1.2.2.6) befindlichen distanzmarkierten Demonstrativa. Im Polnischen dient die Erweiterung um eine deiktische Partikel dazu, das distanzmarkierte vom unmarkierten Element in einem zweigliedrigen System zu unterscheiden: Dabei betrifft also Partikelerweiterung, die hier als feste Zusammenrückung oder Komposition zu verstehen ist, nur eines von zwei Demonstrativa: ten ,dieser, der‘ vs. tamten ,jener, der dort‘ (aus tam ,dort‘ + ten). Im Französischen handelt es sich um Partikel-Enklise. Die deiktischen Partikeln -ci und -là werden entweder an die demonstrative Grundform klitisiert (selbstständig) oder an das Kopfnomen (adnominal), → B1.2.2.4. Wie die Form ça vs. cela ,das‘ für das konzeptuelle Neutrum zeigt, kann auch eine weitergehende phonetische Verschmelzung mit der Grundform stattfinden.  



B1 Wortklassen

269

Auch im Englischen und Deutschen können Demonstrativa mit deiktischen Adverbien verknüpft werden wie in ENG this here, that book there, DEU dies hier, das Buch dort. Hier handelt es sich jedoch um eine freie syntaktische Verbindung, die kompositional zu interpretieren ist. Erweiterte Formen sind entsprechend ihrer formalen Struktur auf das Vorkommen in bestimmten, in der Regel deiktischen, Gebrauchsweisen beschränkt. Dabei bestehen aber Unterschiede zwischen den Vergleichssprachen, → B1.2.2.7. Im Zuge von Sprachentwicklung können partikelerweiterte Formen sich zunehmend verfestigen und ggf. obligatorisch werden. In diesem Fall kann die deiktische Funktion der Grundform abgeschwächt werden oder entfallen. So kann letztlich auch deren Status als Demonstrativum verlustig gehen (vgl. Option (i) oben).  

B1.2.2.6 Distanzparameter Demonstrativa enthalten nicht notwendigerweise als Teil ihrer Bedeutung eine Distanzkomponente, die bei deiktischer Verwendung ein Verhältnis der Nähe oder Ferne des Referenzobjekts zum Ausgangspunkt bzw. Zentrum der Perspektivierung beinhaltet. Daher sind sowohl Sprachen mit nur einem einzigen oder mehreren distanzneutralen Demonstrativa denkbar als auch Sprachen, die neben distanzausdrückenden auch distanzneutrale Demonstrativa besitzen. Wesentlich häufiger sind jedoch Sprachen mit mehreren Demonstrativa, die ein nach Distanzparametern geordnetes System bilden. Diese Systeme beruhen auf zwei Kontrastdimensionen: dem Ausgangspunkt oder Zentrum der Perspektivierung und der Entfernung relativ zu diesem Zentrum. Als Ausgangspunkt der Perspektivierung kommt entweder der Sprecher oder der Hörer in Betracht. Die Entfernung kann entweder als binäre Opposition gefasst werden (proximal gegenüber distal) oder aber als mehrgliedrige Opposition, wobei vor allem die ternäre (proximal, medial, distal) in Betracht zu ziehen ist. Nicht alle theoretisch denkbaren Möglichkeiten scheinen jedoch in den Sprachen der Welt gegeben zu sein. Dies liegt vor allem daran, dass die Orientierung am Sprecher gegenüber der am Hörer dominant erscheint, so dass in der Regel nur relativ zu diesem Ausgangspunkt, also zur Ich-Koordinate der bühlerschen Origo, auch Distanzkontraste zum Ausdruck kommen, während der Hörer eher distanzneutral ins Spiel kommt. So liegen Systeme vor, bei denen (i) entweder die Distanz zum Sprecher als Mittel der Differenzierung eingesetzt wird (,distanzbasierte Systeme‘) oder (ii) die Lokalisierung relativ zu einem der beiden Kommunikanten als Unterscheidungsmerkmal herangezogen wird (,personbasierte Systeme‘) oder (iii) von beiden Möglichkeiten, Distanz zum Sprecher und Lokalisierung relativ zu Sprecher und Hörer, Gebrauch gemacht wird. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass bei binärer Opposition beide Oppositionsglieder „gleichgewichtig“ oder aber „ungleichgewichtig“ sein können. Im ersteren Fall kann man auch von äquipollenter in letzterem von privativer Opposition sprechen. Üblicher ist wohl ein ungleichgewichtiges Verhältnis, bei dem eines der

270

B Wort und Wortklassen

beiden Glieder als unmarkiert, das andere als markiert zu betrachten ist. Der markierte Term drückt dann, sofern als PROXIMAL bestimmt, Nähe zum Zentrum aus, sofern als DIST AL bestimmt, Ferne relativ zum Zentrum, während der unmarkierte Term im VerDISTAL hältnis zu PROXIMAL entweder Ferne ausdrückt oder distanzneutral verstanden wird; entsprechend drückt der unmarkierte Term im Verhältnis zu DISTAL entweder Nähe aus oder neutrale Distanz. Wir unterscheiden somit: vs. NON - PROXIMAL (Ferne-Pol ist unmarkiert) vs. NON - DISTAL DIST AL (Nähe-Pol ist unmarkiert)

PROXIMAL DIST AL DISTAL

Die Belegung der Distanzparameter wird natürlicher- und üblicherweise aus den deiktischen Verwendungen der Demonstrativa abgeleitet. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass Distanzkontraste – sei es bei der anaphorischen Verwendung, sei es z. B. bei verschobenen Verwendungen – in nicht-deiktischen Kontexten ebenfalls vorliegen können. Wir werden daher bei der folgenden Systematisierung Demonstrativa, die keine deiktische Verwendung haben, etwa DEU jener, nicht als Glieder des Systems berücksichtigen. Befunde aus nicht-deiktischen Verwendungen, die für bestimmte Distanzmerkmale sprechen, sind demgegenüber zugelassen.  

Diese Systematisierung berücksichtigt naturgemäß nicht, dass es sich hier um besonders dynamische Systeme handelt, bei denen die Sehweisen der Sprecher im wörtlichen Sinne eine Rolle spielen können und bei denen auch synchron Umschichtungen und Veränderungen eintreten können, wie sie für die Entwicklung zu den heutigen Zuständen mannigfach gegeben sind. Außerdem dürften erhebliche Unterschiede zwischen Varietäten und vor allem zwischen mündlichem und schriftlichem Sprachgebrauch bestehen.

In den Sprachen der Welt liegen ein-, zwei-, drei- oder – selten – vier- oder mehrgliedrige Systeme vor. In eingliedrigen Systemen existiert kein Distanzkontrast; sie enthalten ein oder mehrere distanzneutrale Demonstrativa. In zwei-, drei- oder mehrgliedrigen Systemen liegen zwei, drei oder mehr verschiedene Distanzwerte vor. Daneben können zweioder mehrgliedrige Systeme auch Elemente enthalten, bei denen Distanzkontraste, die bei den anderen Systemgliedern vorliegen, neutralisiert sind. Dies betrachten wir nicht als Aufstockung der Systemglieder. Wir geben nun eine Übersicht, bei der die Vergleichssprachen und andere europäische Sprachen im Vordergrund stehen.

B1.2.2.6.1 Eingliedrige Systeme Unter den Kern-Kontrastsprachen ist Deutsch die einzige, für die ein eingliedriges System in Betracht zu ziehen ist. Wenn es, wie in Behaghel (1923: 293 f.), Himmelmann (1997: 50), Diessel (1999: 2, 38; 2013) argumentiert, im Deutschen keinen Distanzunterschied zwischen dieser und der gibt, dann läge hier ein eingliedriges System mit zwei exophorisch (,außersprachlich verweisend‘) verwendbaren Demonstrativa vor.  

Nach Diessel sind aber Sprachen, die überhaupt distanzneutrale Demonstrativa aufweisen, „crosslinguistically infrequent“ (Diessel 1999: 38): Deutsch, Alamblak, Französisch, Tschechisch, Koyra Chiini, Tok Pisin. In Diessel (2013a) werden nur 7 Sprachen angeführt, in denen einige der Demonstrativa deiktisch nicht-kontrastiv sind.

B1 Wortklassen

271

Während die Einordnung von der als distanzneutral unstrittig ist, ist umstritten, ob DIST AL oder als distanzneutral zu klassifizieren ist. Als dieses als proximal bzw. NON - DISTAL diagnostischer Test für Distanzneutralität gilt die Möglichkeit, das Demonstrativum mit distal unterschiedlichen deiktischen Adverbien kombinieren zu können. Demnach wäre dieser im Deutschen distanzneutral, denn die Ausdrücke dieses Buch hier und dieses Buch dort sind beide gleichermaßen grammatisch. Wir betrachten diesen Test jedoch nicht als zuverlässig. Zum einen bleibt – ohne weiteren Kontext – unklar, ob es sich bei dem Test um eine kontrastive Verwendung handelt oder nicht. In kontrastiver Verwendung wird bei einer Einschätzung als NON - DISTAL für dieser das Merkmal ,nah zum Zentrum‘ aktiviert und damit eine Kombination mit einem Adverb wie dort ausgeschlossen. In nicht-kontrastiver Verwendung wäre die Distanzopposition aufgehoben und non-distales dieser ohne Weiteres sowohl mit hier als auch mit dort kombinierbar. Die Einordnung von dieser als NON - DISTAL setzt ihrerseits voraus, dass die im Verhältnis zu jener in früheren Sprachzuständen ggf. gegebene oppositive Bedeutung für dieser erhalten bleibt, obwohl jener nicht mehr situationsdeiktisch gebraucht wird. Auch aus einem zweiten, generelleren Grund ist der Test unzuverlässig: Wenn Demonstrativum (+ N) und Adverb, wie es bei syntaktischer Verbindung der Fall ist, zunächst getrennt interpretiert und dann kompositional verrechnet werden, so ist es nicht auszuschließen, dass eine ,dort‘Region bestimmt wird, innerhalb derer das für den Sprecher saliente Objekt mit einem NäheDeiktikon wie proximalem dieser bezeichnet wird. Dabei kann als dritte Möglichkeit auch gelten, dass dieser nicht mehr in (privativer) Opposition zu einem Ferne-Demonstrativum steht, sondern zu einem reinen Nähe-Demonstrativum geworden ist. In diesem Fall ist das Deutsche als zweigliedriges System zu verstehen, dessen zwei Werte durch die Opposition zwischen dem distanzneutralen Demonstrativum der und einem Nähe-Demonstrativum dieser gegeben sind.

B1.2.2.6.2 Zweigliedrige Systeme Zwei- und dreigliedrige Systeme sind sprachübergreifend häufig (Diessel 2012: 2420). Unter den Vergleichssprachen sind Englisch (Diessel 2012: 2419), Polnisch und Ungarisch zweigliedrige distanzbasierte Systeme. Auch Französisch ordnen wir hier zu. DIST AL und tamten als DISTAL . Polnisch stellt den klarsten Fall dar: mit ten als NON - DISTAL Man vergleiche dazu: „Ten ta to […] is used in the sense of both ‘this’ and ‘that’, although tamten tamto tamta, with a declension similar to that of ten ta to, is available to express specifically ‘that other, that over there’.“ (Swan 2002: 171). Das Polnische ist insofern ein Sonderfall, als hier das Ferne-Element das markierte ist, während es sprachübergreifend sonst das Nähe-Element ist. Semantische Markiertheit von tamten gegenüber dem unmarkierten Glied ten korrespondiert mit der formalen Auszeichnung durch Komposition mit der deiktischen Partikel tam. Das folgende Beispiel DIST ALES ta deutet auf den unmarkierten Status von ten hin, insofern als in (6b) NON - DISTALES (F . SG ) mit dem Ferne-Adverb tam ,dort‘ syntaktisch kombiniert wird. (6) a. ta książka tutaj POL ,das Buch hier‘

272

B Wort und Wortklassen

b. ta książka tam = tamta książka ,das Buch dort‘ Das Ungarische folgt dagegen der allgemeinen Tendenz, insofern als das FerneElement az das unmarkierte (also NON - PROXIMAL ), das Nähe-Element ez das markierte Glied (also PROXIMAL ) ist. Englisch ist wohl wie Ungarisch einzustufen: Es verfügt mit that über ein unmarkiertes Ferne-Element (NON - PROXIMAL ) und mit this über ein markiertes Nähe-Element (PROXIMAL ). Himmelmann (1997: 53) zieht keinen Markiertheitsunterschied in Betracht, wenn er behauptet: „Im Englischen z. B. sind *this book there oder *that book here keine semantisch-pragmatisch wohlgeformten Ausdrücke.“ Auch Tests mit muttersprachlichen Informanten deuten in diese Richtung: Die Testsätze (7a, d), in denen this und that jeweils mit einem deiktisch gleichlaufenden Adverb oder einer solchen Adverbverbindung kombiniert werden, werden als „o. k.“ eingestuft, diejenigen, die this und that mit einem/einer gegenläufigen Adverb/Adverbverbindung kombinieren (7b, c, e) als „schlecht“.  



(7) a. Do you see this tree here? ENG b. *Do you see this tree there? c. ??Do you see this tree over there? d. Do you see that tree there? e. *Do you see that tree here? Belegt sind jedoch solche gegenläufigen Kombinationen, und zwar this + over there bzw. that + here in Texten durchaus, vgl. (8)–(10). Allerdings gibt es Muttersprachler, die die Akzeptabilität dieser Beispiele anzweifeln. (8) ENG

Such are the ways of our pre-philosophical thought and talk. “Do you see this tree over there?” you may ask, and I, perceiving the very same massive object as you do, may truthfully declare, “Yes, it’s an oak tree”. ,So ist unser prä-philosophisches Denken und Reden beschaffen. „Siehst du diesen Baum dort drüben?“, magst du fragen, und ich, die ich eben dasselbe massive Objekt wahrnehme wie du, mag wahrheitsgemäß erklären: „Ja, es ist eine Eiche.“‘ (books.google.de)

(9) ENG

“See this tree over there, that is her baby.” (Desda points to a smaller redwood tree nearby, about 7 yards from the mother tree we are speaking with) ‚„Schau dir diesen Baum dort drüben an, das ist ihr Baby.“ (Desda zeigt auf einen kleineren Mammutbaum in der Nähe, etwa 7 Yards entfernt von dem Mutterbaum, mit dem wir sprechen.)‘ (Internet)

B1 Wortklassen

(10) ENG

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The followers of Jesus Christ are supposed to be one people, united under one king. But this is seldom the case. We see this person over there or that person here serving God, but as soon as they are several together, they turn away from the lord and start looking at each other in envy and jealousy. ,Die Nachfolger von Jesus Christus sollen ein Volk sein, vereint unter einem König. Aber das ist selten der Fall. Wir sehen diese Person dort drüben und jene Person hier Gott dienen, aber sobald einige zusammen sind, wenden sie sich vom Herrn ab und beginnen einander mit Neid und Eifersucht zu betrachten.‘ (books.google.de)

Es ist also auch hier auf die Problematik solcher Indizien, auf die anlässlich des Deutschen eingegangen wurde, hinzuweisen. Es deuten jedoch andere Befunde auf den Status von that als unmarkiertem Element hin, vor allem die Tatsache, dass this in bestimmten Kontexten ohne (deiktischen oder textbezogenen) Distanzkontrast ausgeschlossen ist, das distanzunmarkierte that also obligatorisch ist; es handelt sich um die emphatische Gebrauchsweise und die anaphorische des Untertyps (iii), vgl. → B1.2.2.7. Im Französischen liegt bezüglich der selbstständigen Formen eindeutig ein zweigliedriges System vor, in dem die erweiterten Elemente celui-ci vs. celui-là in Distanzopposition stehen. Die Grundformen haben nach Grevisse/Goosse (2011: 937) ihre deiktische Funktion („valeur demonstrative“) verloren. Sie können somit auch nicht als distanzneutrale Elemente betrachtet werden. Dagegen könne, so die Autoren (ebd.: 834), bei den adnominalen Grundformen ce, cet(te), ces deiktische Funktion vorhanden sein. Sie sind, folgt man dieser Sehweise, als distanzneutral zu betrachten. Erweiterung um die Partikel là dürfte (adnominal wie selbstständig) das unmarkierte Glied (NON - PROXIMAL ), Erweiterung um die Partikel ci (PROXIMAL ) das markierte Glied darstellen. Das schwedische System (→ B1.2.2.5) ist ähnlich wie das französische ein zweigliedriges System mit distanzneutralen Elementen.  



B1.2.2.6.3 Dreigliedrige Systeme Dreigliedrige Systeme, in denen ein mittlerer Term hinzukommt, können entweder distanzorientiert oder personorientiert ausgelegt sein. In distanzorientierten Systemen bezieht sich der mittlere Term auf etwas in mittlerer Entfernung relativ zum Sprecher; in personorientierten auf etwas, das sich in der Nähe des Hörers befindet (Diessel 1999: 39), während die beiden anderen Terme (vergleichbar zweigliedrigen Systemen) jeweils Nähe und Ferne zum Sprecher ausdrücken. Unter den europäischen Sprachen wird in erster Line das Spanische als dreigliedriges System betrachtet. Es verfügt über die drei Demonstrativa este (proximal), ese (medial) und aquel (distal). (Selbstständige und adnominale Formen fallen zusammen, die selbstständigen For-

274

B Wort und Wortklassen

men werden in der Schrift durch einen graphischen Akzent auf dem Anfangsvokal gekennzeichnet.) Dabei werten Green (1988: 90), De Bruyne (1995: 170) das spanische System als personorientiert, vgl. (11) sowie den Beleg (12) aus De Bruyne (ebd.: 171). (11) a. este libro (cerca de mí) SPA ‚dieses Buch (hier bei mir)‘ b. ese libro (cerca de ti) ‚das Buch da (bei dir)‘ c. aquel libro (cerca de él) ‚das Buch dort (bei ihm)‘ (12) SPA

Y tu clarinete, papá, ¿cómo va ese clarinete? ,Na deine Klarinette, Papa, wie funktioniert diese Klarinette?‘ (J.A. de Zunzunegui, La vida como es, 50)

In Anderson/Keenan (1985: 282) hingegen wird das spanische System als distanzorientiert eingeordnet. Latein hat ebenfalls mit hic vs. iste vs. ille ein dreigliedriges System, das vergleichbar dem Spanischen personorientiert organisiert sein soll: hic: sprechernah, iste: adressatennah, ille: sprecherfern (vgl. Kühner/Stegmann 1988a: 619 f.; Klein 2001: 581). Allerdings, so Klein (ebd.), wissen wir wenig „über ihre tatsächliche Verwendung in der konkreten Redesituation“. Wahrscheinlich hat sich der Gebrauch in der alltäglichen Face-to-face-Interaktion im Lateinischen von dem in der Schriftlichkeit überlieferten Gebrauch deutlich unterschieden. Dies trifft nach Jungbluth (2001) auch auf das Spanische zu, wo erhebliche Unterschiede zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit beobachtet werden können. In gesprochener Sprache würden überwiegend nur este und ese gebraucht. aquel hingegen sei obligatorisch bei restriktivem Relativsatz, also wohl in determinativischem Gebrauch.  

Auch Irisch verfügt nach Diessel (2012: 2419) über ein distanzorientiertes dreigliedriges System mit den Werten proximal, medial, distal zum Sprecher. Auch Japanisch besitzt ein dreigliedriges System. Diessel (1999: 39) ordnet es im Anschluss an Kuno (1973) und Imai (1996) als personorientiert ein, Diessel (2012) hingegen als person- und distanzorientiert: nahe beim Sprecher, nahe beim Hörer, entfernt von Sprecher und Hörer. Dabei liegt ein systematisch aufgebautes Paradigma für Pronomen, Demonstrativum und Adverb vor (Diessel 2012: 2420). Man kann hier dafür argumentieren, dass (i) das distale Demonstrativum in den markierten Bereich fällt und (ii) im markierten Bereich die Personenunterscheidung neutralisiert wird.

B1 Wortklassen

275

B1.2.2.6.4 Vier- und mehrgliedrige Systeme Nach Anderson/Keenan (1985: 286–295) sind auch Systeme mit vier, fünf oder noch mehr Demonstrativa gegeben, die sich durch den Distanzparameter unterscheiden. Diessel (1999: 40) bemerkt jedoch, dass seine Daten solche Systeme nicht aufweisen. Vielmehr seien zumindest distanzorientierte Systeme gewöhnlich auf drei deiktische Werte beschränkt (ebd.). Bei Fillmore (1982b: 48 f.) heißt es: „there are never really more than three [distance categories]“. Nach Diessel (2012: 2421) gibt es auch Demonstrativa, die anzeigen, dass der Referent nicht sichtbar ist oder außerhalb des Sichtfelds liegt; dabei bleibt unklar, ob das nur für lokaldeiktische Ausdrücke oder auch für Demonstrativa im hier vorliegenden Sinne gilt.  

B1.2.2.7 Gebrauchsweisen Demonstrativa weisen sprachübergreifend mehrere Verwendungsmöglichkeiten auf. Die Variation ist nicht beliebig, vielmehr scheinen sich verschiedene Sprachen in unterschiedlichem Maße aus einem übereinzelsprachlich gegebenen Vorrat von Verwendungsmöglichkeiten zu bedienen. Die Variation betrifft zum einen den Umfang des Verwendungsspektrums und zum anderen den Einsatz der in der jeweiligen Sprache verfügbaren Demonstrativa in den jeweiligen Verwendungssituationen. Für eine Typologie des Verwendungsspektrums folgen wir dem Vorschlag in Levinson (2004: 107–109; vgl. auch Diessel 1999: 6), der die folgende Gliederung aufweist: A

B

deiktisch (deictic) A1 exophorisch (exophoric) A1.0 nicht-gestisch A1.1 gestisch (gestural) A1.1.1 kontrastiv (contrastive) A1.1.2 nicht-kontrastiv (non-contrastive) A1.2 symbolisch (symbolic) A1.3 verschoben (transposed) A2 diskurs-deiktisch (discourse deictic) nicht-deiktisch (non-deictic) B1 phorisch (anaphoric) B1.1 anaphorisch (anaphoric) B1.2 kataphorisch (cataphoric) B2 emphatisch (empathetic) B3 anamnestisch (recognitional) In Levinsons Darstellung liegt eine Inkonsequenz den deiktischen Gebrauch betreffend vor. In der schematischen Übersicht ist keine Position für den nicht-gestischen Gebrauch vorgesehen; für einen solchen wird jedoch mit (13) (vgl. ebd.: 218) ein Beispiel genannt. In der Tat wird oft die Meinung vertreten (vgl. z.B. König/Nishina 2015: 9), Demonstrativa seien stets auf mehr oder weniger

276

B Wort und Wortklassen

explizite non-verbale sprecherseitige Zusatzhinweise angewiesen, die im weiteren Sinne als Gesten gefasst werden können. Wir können daher nicht entscheiden, ob in Beispielen wie (13) kein oder nur ein minimaler gestisch-körperlicher Hinweis vonnöten ist. Dennoch berücksichtigen wir den Fall eines nicht-gestischen exophorischen Verwendungstyps (A1.0) der Vollständigkeit halber.

Im Folgenden geben wir einen illustrativen Überblick über die Gebrauchsweisen anhand von Übersetzungsäquivalenten aus den Kern-Kontrastsprachen. Die englischen Beispiele sind dabei direkt aus Levinson (2004: 108) übernommen, ebenso – ins Deutsche übersetzt – die erläuternden Kommentare. Akzentuierungen sind nur für den definiten Artikel des Deutschen durch Großschreibung verzeichnet. Zu beachten ist, dass die adnominalen Vorkommen von DEU der, die hier ebenfalls zu berücksichtigen sind, von uns nicht als Demonstrativa, sondern als Formen des definiten Artikels (mit und ohne Akzent) eingeschätzt werden (→ B1.2.2.4).  

Es handelt sich bei den gesetzten Demonstrativ-/Artikelformen jeweils um den treffenden oder präferierten Ausdruck. Wir schließen nicht aus, dass auch andere Demonstrativa ggf. in der entsprechenden Verwendung gesetzt werden können. Wo die Setzung eines anderen Demonstrativums (bzw. für das Deutsche auch des Artikels) eindeutig ungrammatisch oder im gemeinten Sinne unangemessen ist, wurde dies durch ‚*‘ vermerkt.

(13) ENG DEU FRA POL UNG

(A1.0, Buch im Situationskontext gegeben) Give me that book! Gib mir dieses/*DAS Buch! Donne-moi ce livre-là! Daj mi tę książkę! Add ide azt a hierher DEM . DIST . AKK DEF geb.IMP . 2SG

(14) ENG DEU

(A1.1.1, gestisch-kontrastiv) I broke this tooth first and then that one next. Ich hab mir zuerst diesen/DEN und als nächstes diesen/DEN Zahn angebrochen. Je me suis cassé d’abord cette dent-ci, et après celle-là. Złamałem/Złamałam sobie najpierw ten, a potem ten/tamten ząb. Először ebből, aztán ebből a fogamból DEM . PROX . ELA EL A dann DEM . PROX . ELA EL A DEF Zahn.1SG . ELA EL A zuerst tört le egy darab. ein Stück brech.PRT . 3SG PV

FRA POL UNG

(15) ENG DEU FRA

könyvet! Buch.AKK

(A1.1.2, gestisch, nicht kontrastiv, erfordert eine Geste oder ein Präsentieren des Fingers) I hurt this finger. Ich habe mir diesen/den Finger verletzt. Je me suis blessé ce doigt(-ci).

B1 Wortklassen

277

POL UNG

Skaleczyłem / Skaleczyłam sobie ten palec. Megsérült ez az ujjam. DEM . PROX DEF Finger.1SG verletz.PRT . 3SG

(16) ENG DEU FRA POL UNG

(A1.2, symbolisch, Geste nicht erforderlich) I like this city. Ich mag diese/*DIE Stadt. J’aime cette ville. Lubię to miasto. Szeretem ezt a várost. DEM . PROX . AKK DEF Stadt.AKK lieb.1SG . DEF

(17) ENG DEU

(A1.3, verschoben) He looked down and saw the gun: this was the murder weapon, he realized. Er schaute herunter und sah die Pistole: das war die Mordwaffe, wurde ihm klar. Il regarda vers le bas et vit le pistolet. C’était bien l’arme meurtrière, il s’en rendit compte. Spojrzał w dół i zobaczył pistolet: to było narzędzie zbrodni, pojął. Lenézett és meglátta a pisztolyt: ez herunterseh.PRT . 3SG und seh.PRT . 3SG . DEF DEF Pistole.AKK DEM . PROX volt a gyilkos fegyver, jött rá. mörderisch Waffe komm.PRT . 3SG PV war DEF

FRA POL UNG

(18) ENG DEU FRA POL UNG

(A2, diskurs-deiktisch) ‘You are wrong’. That’s exactly what she said. „Du hast unrecht.“ Genau das hat sie gesagt. «Tu as tort.» C’est exactement, ce qu’elle disait. “Nie masz racji.” Dokładnie ??to / tak powiedziała. “Nincs igazad.” Pontosan ezt NEG Recht.2SG genau DEM . PROX . AKK

(19) ENG DEU FRA POL

(A2, diskurs-deiktisch) It sounded like this: whoosh. Es hörte sich so an: whoosh. Ça sonnait comme ça: whoosh. Zabrzmiało to tak: whoosh. kling.PRT . 3SG . N es so. Így hangzott: whoosh. so kling.PRT . 3SG

UNG

mondta. sag.PRT . 3SG . DEF

278

(20) ENG DEU FRA POL UNG

B Wort und Wortklassen

(B1.1, anaphorisch) The cowboy came in. This man was not someone to mess with. Der Cowboy kam herein. Dieser/Der Mann war keiner, dem man in die Quere kommen sollte. Le cowboy entra. Cet homme n’est nul dont on devrait contrarier les desseins. Kowboj wszedł do środka. Mężczyzna ten nie był kimś, z kim powinno się zadzierać. Bejött a cowboy. Ez a férfi nem olyan hereinkomm.PRT . 3SG DEF Cowboy DEM . PROX DEF Mann NEG solchvolt, akivel érdemes ujjat húzni. REL . INS wert Finger.AKK zieh.INF war

(21) ENG DEU FRA POL UNG

(B2, emphatisch) He went and hit that bastard. Er ging und schlug dieses/*DAS Schwein. Il vint et frappa ce batard. Poszedł i uderzył tą / *tamtą świnię. Elment és megverte azt a geh.PRT . 3SG und schlag.PRT . 3SG . DEF DEM . DIST . AKK DEF

(22) ENG DEU

(B3, anamnestisch) Do you remember that holiday we spent in the rain in Devon? Erinnerst Du Dich an diesen Urlaub, den wir in Devon im Regen verbracht haben? Est-ce que tu te souviens de cette journée de vacances que nous avons passé à Devon sous la pluie? Pamiętasz ten/tamten dzień wakacyjny, który spędziliśmy w deszczu w Devon? Emlékszel még arra a nyaralásra, amit DEF Urlaub.SUB REL . AKK sich.erinner.2SG noch DEM . DIST . SUB az esős Devonban töltöttünk? DEF regnerisch Devon.INE verbring.PRT . 1PL

FRA POL UNG

disznót. Schwein.AKK

Es liegt somit, wie es der Prototypizität des deiktischen Gebrauchs entspricht, eine Hauptunterscheidung zwischen deiktischen und nicht-deiktischen Gebrauchsweisen vor. Unter den deiktischen ist die unter A1 zusammengefasste Verwendungsgruppe, die die Verwendungen umfasst, in denen das Referenzobjekt sich neben Sprecher und Hörer in der Wahrnehmungssituation befindet, die grundlegende. Die übrigen deiktischen ebenso wie die nicht-deiktischen Verwendungen sind als Ausdehnungen dieses prototypischen Gebrauchs zu verstehen. In der pragmatischen Literatur sind die unterschiedlichen Übertragungswege vor allem für die weiteren deiktischen Gebrauchsweisen dargelegt, wobei hier Bühler (1934) die entscheidenden Anstöße gege-

B1 Wortklassen

279

ben hat. Wir schließen dort an und gehen nur kurz auf die besonders erläuterungsbedürftigen Termini ,symbolisch‘, ,verschoben‘, ,empathisch‘ und ,anamnestisch‘ ein. Als ,symbolisch‘ ist eine Verwendung zu verstehen, bei der das Referenzobjekt den Sprecher mit einschließt; bei der somit das „innere“ Wahrnehmungsfeld auf Orte ausgedehnt wird, in denen das „Hier“ der Äußerungssituation sich befindet, (dieses Zimmer – dieses Haus – diese Stadt – dieses Land – diese Welt). Eine ,verschobene‘ Verwendung liegt vor, wenn die situative Deixis vom Sprecher auf eine andere Person, über die berichtet wird oder deren Gedanken präsentiert werden, verlagert wird. Von ‚emphatischer‘ Verwendung wird gesprochen, wenn emotionale Distanz in Form von Geringschätzung, Empörung usw. gegenüber dem Referenzobjekt, in der Regel einer Person, zum Ausdruck gebracht werden soll. Bei ,anamnestischer‘ Verwendung (in der englischen Literatur wird hier von recognitional use gesprochen) gibt der Sprecher zu verstehen, dass eine Identifikation des gemeinten Referenzobjekts aufgrund des von den Kommunikanten geteilten Wissens möglich ist; eine dem Sprecher und Hörer bekannte Person z. B. soll so aus dem Gedächtnis kognitiv aktiviert werden. Besonderer Diskussion bedarf die diskursdeiktische Verwendung. In den Beispielen, die Levinson gibt, verweist das Demonstrativum auf sprachliche Ausdrücke (beliebiger Art), die im vorangehenden Diskurs und Text geäußert wurden, und zwar auf die Zeichenverkettung, nicht auf deren außersprachliche Bedeutung. Allerdings wird in der Literatur der Terminus auch in erweitertem Sinne gebraucht, bei der auch der Verweis auf den Inhalt von Text- und Redeelementen mitgemeint ist (Ehlich 1979; Harweg 1990: 177–212). Wir schließen uns diesem weiteren Verständnis von ,diskursdeiktisch‘ bzw. auch ,textdeiktisch‘ an. Der wesentliche Grund ist, dass sprachübergreifend nicht zwischen der demonstrativ-deiktischen Bezugnahme auf Form und Inhalt von Rede- oder Text„stücken“ unterschieden wird: Es wird uniform ein Ausdruck im ,konzeptuellen Neutrum‘, also z. B. DEU das, ENG that, FRA ça/ceci, POL to gewählt. Diese Art der Bezugnahme ist unabhängig davon, ob es sich um ein Wort, eine NP, einen Satz oder einen ganzen Text(abschnitt) handelt, damit auch davon, ob diese Textstücke referentiell fungieren oder nicht. Damit unterscheidet sie sich scharf von der phorischen Bezugnahme, wie sie in Beispiel (20) vorliegt.  



Relevant ist die Unterscheidung zwischen diskursdeiktischem und phorischem Gebrauch und zwar in Hinblick auf den von uns vorausgesetzten Test auf Referentialität, der ausschließlich auf der phorischen Verwendung von Personalpronomina – kongruierender Art, nicht etwa eines es im konzeptuellen Neutrum – beruht.

Wir gehen nun auf den Gebrauch der Demonstrativa der Vergleichssprachen in den verschiedenen Gebrauchsweisen ein. Vorauszuschicken ist, dass wir in Ergänzung zu Levinson jeweils die adnominale und die selbstständige Verwendung, sofern beide gegeben sind, in den Blick nehmen, während Levinson in aller Regel nur adnominale Verwendungen nennt.

280

B Wort und Wortklassen

B1.2.2.7.1 Exophorische Gebrauchsweisen Die exophorischen Gebrauchsweisen A1 zeigen – was mit der Definition der Wortklasse vorauszusetzen ist – sprachübergreifend diejenigen Formen bzw. Formvarianten der Demonstrativa, die als zentrale, prototypische Varianten zu betrachten sind, somit Formen, die als Objektdeiktika selbst referentiell für Gegenstände im (ggf. inneren oder verschobenen) Wahrnehmungsfeld gebraucht werden können bzw. adnominal zur Identifikation von entsprechenden Gegenständen. Wichtig ist hier anzumerken, dass der deiktische Gebrauch von adnominalen Demonstrativa restriktiv zu interpretierende Attribute, in Form von Adjektiven und Relativsätzen ausschließt: Wie in Gunkel (2007: 213–218) gezeigt, wirkt jeweils das Demonstrativum (und ggf. die mit ihm verbundene Zeigegeste) disambiguierend, nicht etwa das Attribut. Wenn etwa in einer Wahrnehmungssituation Hüte unterschiedlicher Farbe gegeben sind, z. B. ein grauer und ein grüner, wird kein Demonstrativum gebraucht, sondern der definite Artikel gesetzt (in situativer Verwendung, Gebrauchsweise → A1.1.1), wenn auf einen der beiden referiert werden soll (z. B. mit Gib mir den grünen, nicht den grauen Hut). Hier leisten die Farbadjektive hinreichende Restriktion des Referenzbereichs auf ein einziges Objekt. Ist dagegen bei einer Farbe mehr als ein Hut vorhanden, so hilft die Farbdifferenzierung nicht mehr weiter und es wird auf ein Demonstrativum (+ Zeigegeste) zurückgegriffen. Sind z. B. zwei graue Hüte neben einem grünen zu sehen, wird mit Bezug auf den grünen nach wie vor der definite Artikel bei der Referenz herangezogen. Soll auf einen der grauen referiert werden, wird man von diesem oder DEM (grauen) Hut sprechen und zusätzlich auf das Objekt deuten. Das Farbadjektiv kann aber ebenso entfallen. Letztlich kann, kurz gesagt, allein durch das Demonstrativum und eine Zeigegeste das Objekt identifiziert werden. (Selbst das Substantiv ist nur eine verzichtbare Zusatzinformation.)  







Der Einsatz von unterschiedlich distanzmarkierten Demonstrativa ist, abhängig von der Wahrnehmungssituation, möglich. Sofern auf verschiedene, unterschiedlich lokalisierte Gegenstände im Kontrast Bezug genommen werden soll (vgl. Gebrauchsweise A1.1.1), werden, wenn die Sprache über solche verfügt, obligatorisch oder präferiert distanzdifferenzierte Demonstrativa eingesetzt (ENG this vs. that, FRA celui-ci vs. celui-là, POL ten vs. tamten, UNG ez vs. az). Nur beim symbolischen Gebrauch A1.2 muss in allen Vergleichssprachen auf das proximale Demonstrativum zurückgegriffen werden. Im Deutschen ist hier der akzentuierte Artikel ausgeschlossen, ebenso auch bei Gebrauchsweise A1.0, wo, ohne dass andere Gegenstände, also Alternativen der Bezugnahme, überhaupt ins Spiel kommen, ein deiktischer Referenzakt vollzogen wird. Dagegen ist die selbstständige Form das in den exophorischen Verwendungen durchgehend möglich (vgl. z. B. Gib mir bitte mal das! oder Ich hab mir das gekauft). Hier wird auf das konzeptuelle Neutrum zurückgegriffen: Der gemeinte Gegenstand wird nicht durch einen klassifikatorischen Begriff, also mithilfe eines Substantivs näher beschrieben, Genuskongruenz entfällt. Sollte ausnahmsweise doch eine genusspezifische Form gesetzt werden, z.B. Ich habe mir den verletzt, so ist das Substantiv (z. B. Finger) aus dem Wissen zu ergänzen. Personenbezogene maskuline, feminine oder pluralische Formen des Demonstrativums der (wie in Kennst du den/die?) gelten als herabsetzend oder zumindest unhöflich und werden gemieden. Entsprechendes  



B1 Wortklassen

281

gilt für das Englische, wo es heißt: „Independent this and that cannot in general be used of humans or animals“ (Huddleston/Pullum 2002: 1504). Statt des neutralen das kann auch dies erscheinen. Hier ist der Sonderstatus des konzeptuellen Neutrums deutlich zu erkennen. Die Kurzform dies wird gegenüber der Langform dieses vorwiegend als eine Form des konzeptuellen Neutrums eingesetzt (vgl. Duden-Grammatik 2009: 278). In den Kontrastsprachen wird entsprechend verfahren, also eine Form verwendet, die dem konzeptuellen Neutrum entspricht (ENG that/this, FRA ceci/cela, POL to, UNG az). Auch die englischen und französischen Formen sind morphologisch oder syntaktisch weniger komplex als Formen, die sonst zum Einsatz kommen (ENG this/that one, FRA celui(-ci/-là); vgl. auch weiter unten). Eben die Formen des konzeptuellen Neutrums sind es auch, die im diskursdeiktischen Gebrauch ausschließlich vorkommen. (Von anderen Möglichkeiten neben den Demonstrativa, nämlich der adverbialen Deixis ENG so und POL tak ‚so‘, die in diesem Zusammenhang genannt werden, sehen wir ab.) Bei der diskursdeiktischen Verwendung ziehen wir nur selbstständige Verweisformen in Betracht. Wenn wie etwa in (23) adnominale Formen vorliegen, wird durch das Kopfsubstantiv der Bezugsbereich im Diskurs begrifflich charakterisiert. Es liegt also eine Art Nominalisierung vor. (23)

Er hat mich zuerst gelobt. Dann hat er mir Vorwürfe gemacht. Diese Inkonsequenz hat mich irritiert.

Daneben wird das konzeptuelle Neutrum auch in bestimmten Kopulakonstruktionen gebraucht, und zwar in situationsdeiktischen Identifizierungskonstruktionen (→ B1.5.2.7) wie z. B. (24). Im Ungarischen kann das (singularische) konzeptuelle Neutrum nur dann stehen, wenn die „Identifizierungskonstituente“ selbst Singular ist oder aus zwei koordinierten singularischen Ausdrücken besteht. Ansonsten muss das Demonstrativum im Plural stehen.  

(24) DEU ENG FRA POL UNG



Das ist mein Mann. / Das sind Hans und Eva. / Das sind meine Freunde dort drüben. This is my husband / This is James and Eve. / That’s our friends over there. C’est mon mari. / Ce sont Charles et Eve. / Ce sont nos amis là-bas. To jest mój mąż. / To są Jan i Ewa. / To są moi przyjaciele tam po drugiej stronie. Ez a férjem. / Ez János és Éva. / Azok ott a barátaim.

Unter den nicht-deiktischen Gebrauchsweisen ist die emphatische wohl ausschließlich auf adnominalen Gebrauch beschränkt. Das Kopfsubstantiv ist in der Regel eine negativ-wertende Personenbezeichnung. Hier wird neben distanzneutralem FRA ce (und dem ggf. distanzneutralen DEU dieser) sprachübergreifend das bzgl. Distanz unmarkierte Demonstrativum (vgl. ENG that, POL ten, UNG az) verwendet, der akzentuierte Artikel des Deutschen ist – mangels Alternativenbezug – ausgeschlossen.

282

B Wort und Wortklassen

In anamnestischer Gebrauchsweise sind in den Kontrastsprachen proximale und distale Demonstrativa möglich, allerdings (wohl) nicht die durch lokale Partikeln erweiterten Formen des Französischen (vgl. Gary-Prieur 2001; Kleiber 2004, 2005; Kleiber/Sock 2006): Mit ihnen wird Distanz als physikalisch messbare Größe angezeigt, was auf die mehr oder weniger große Entfernung im Erinnerungsraum nicht zutrifft. Anamnestische Verwendungen sind adnominal, in aller Regel tritt neben dem Kopfsubstantiv ein restriktives Attribut hinzu. Im Deutschen werden anamnestisch dieser und jener gebraucht, der akzenttragende Artikel fehlt auch hier. In der gesprochenen Sprache kommt, entsprechend der Einschränkung von jener auf die Schriftsprache, nur anamnestisches dieser vor. Hier kann auch ein Attribut fehlen, wie in (28), und zwar sowohl in Verbindung mit einem Appellativum als auch mit einem Eigennamen. Das lässt sich damit erklären, dass der Sprecher die Möglichkeit hat, „weitere Informationen nachzuliefern, falls es ihm nicht gelingt, mit dem Demonstrativum allein die intendierte ‚Anamnese‘ auszulösen“ (Gunkel 2007: 224). Bei anamnestischem jener hingegen ist immer ein restriktives Attribut vorhanden. Man vergleiche folgende Beispiele zu den Vergleichssprachen; sie zeigen, dass außer im Französischen sowohl ein Nähe- als auch ein Ferne-Demonstrativum verwendet werden kann: (25) FRA

J’etais plongé dans une de ces rêveries profondes qui saississent tout le monde […] ,Ich war in einen jener tiefen Träume eingetaucht, die jeder kennt.‘ (Balzac, Sarrasine)

(26) FRA

Tu te souviens de ce prof qui ne donnait que de bonne notes ? ,Erinnerst du dich an diesen Lehrer, der nur gute Noten gab?‘ (Kleiber/Sock 2006: 260)

(27)

Er selbst fühlt sich überall zuhause. Und nirgendwo. Kotb ist einer dieser JobNomaden, wie man sie an Bord der „Freedom“ zuhauf findet. (Spiegel 41/ 2006, S. 104; zit. nach Gunkel 2007: 224)

(28)

(Zwei Freunde, A und B, machen einen Spaziergang und A äußert:) Vielleicht begegnen wir heute dieser Frau wieder! (Bisle-Müller 1991: 74; zit. nach Gunkel 2007: 224)

(29)

[…], sie ließ auch gleich die erste Garde protestantischer Theologie auffahren – und die Amerikaner in ihren Lexika nachschlagen, wer denn diese hochgerühmten Tillichs, Niebuhrs und Bonhoeffers eigentlich waren. (zit. nach Molnár 2010: 331)  

(30)

In einem Interview […] hatte Schostakowitsch jenes berühmte Geständnis abgelegt, dessen Kernsatz vor allem im Westen dann vielfach als Untertitel

283

B1 Wortklassen

seines Werks herhalten musste […] (Frankfurter Allgemeine, 30.09.2006, S. 47; zit. nach Gunkel 2007: 222)  

(31)

Das sei ein sehr bewegender Tag für ihn, sagte der Panikrocker und erinnerte an jene Zeit Ende der 1969er Jahre, als der gebürtige Gronauer in seiner neuen Wahlheimat Hamburg ankam. (Bild)

(32) ENG

You never wore that scarf I bought you. ,Du hast nie diesen Schal getragen, den ich dir gekauft habe.‘ (Huddleston/ Pullum 2002: 1510)

(33) ENG

It’s time something was done about these blackouts we’ve been having. ,Es ist Zeit, dass etwas gegen diese Blackouts getan wird, die wir haben.‘ (ebd.)

(34) UNG

Egy

Harley-Davidson motoron sebesen elvágtat, INDEF Harley-Davidson Motorrad.SUP schnell wegfahr.3SG kedvenc sárga kamgarnruhája van rajta, és még ist 3SG . SUP und noch geliebt gelb Kammgarnanzug.3SG az az őrült sárga cilinder is a fején van, [. . .] DEM . DIST DEF verrückt gelb Zylinder auch DEF Kopf.3SG . SUP ist ‚Er fährt auf einer Harley-Davidson schnell weg, er hat seinen gelben Lieblingsanzug aus Kammgarn an und sogar diesen blöden gelben Zylinder auf dem Kopf.‘ (Rejtő: Egy bolond száz bajt csinál; zit. nach Molnár 2010: 332)  



Von Heusinger (2012) interpretiert gewisse anamnestische Verwendungen von dieser als „indefinite Verwendungsweise“, wie etwa die folgende: (35)

Da war dieser Meisterdieb. Er wollte aussteigen. Aufhören, anderen Leuten die Juwelen aus dem Safe zu rauben. (von Heusinger 2012: 420)

Hier sei dieser durch den indefiniten Artikel ersetzbar. Es werde ein neuer Diskursreferent eingeführt, der im weiteren Diskursverlauf wieder aufgegriffen werde. Vergleicht man (35) z. B. mit (27), so stellt man fest, dass in (35) näher spezifizierende Information, die in (27) im Attribut genannt wird, in den nächsten Textsatz ausgelagert wird. Dadurch entsteht der von von Heusinger beobachtete diskursstrukturelle Effekt.  

B1.2.2.7.2 Phorische Gebrauchsweisen Bei anaphorischer Gebrauchsweise sind verschiedene Untertypen zu unterscheiden. (i) Anaphorisch-referenzidentisch mit Antezedens-NP In der prototypischen anaphorischen Gebrauchsweise, wie in (20) für die Vergleichssprachen gezeigt, wird eine NP mit adnominalem Demonstrativum – referenzidentisch mit einer im Text vorausgehenden NP gebraucht, wobei in der Regel das

284

B Wort und Wortklassen

proximale oder distanzneutrale, jedoch ggf. ohne deutlichen semantischen Kontrast auch das distale gesetzt wird. Allerdings kann, wie der folgende Beleg zeigt, auch distales jener hier eingesetzt werden, und zwar wenn speziell auf Entferntheit, in diesem Fall eine lang zurückliegende Zeit, hingewiesen werden soll (vgl. (36)). (36)

„Mich erinnert das an Italien vor 30 Jahren“, sagt Garavini, „da hieß es auch: Mafia, das ist doch nur der unterentwickelte Süden, hier ist das kein Problem. In Wahrheit hatten in jener Zeit die süditalienischen Mafiaclans längst ihre Stützpunkte in Mailand oder Turin aufgebaut […].“ (Spiegel 29.9.2016, S. 26)

Grundsätzlich kann hier sprachübergreifend (so vorhanden) auch der definite Artikel stehen oder aber statt der substantivischen NP das entsprechende Personalpronomen der 3. Person. Daneben kann in einigen – aber nicht allen – Vergleichssprachen das Demonstrativum allein (in der gegebenenfalls abweichenden selbstständigen Form) hier erscheinen, wobei in den Genussprachen Kongruenz mit dem Antezedens vorliegen muss. Anders als im Deutschen, Französischen und Ungarischen (vgl. (37a)), ist ein selbstständiges Demonstrativum im Englischen und Polnischen dagegen ausgeschlossen. Hier muss das Demonstrativum entweder zusammen mit dem Kopfsubstantiv auftreten, oder es muss auf ein Personalpronomen ausgewichen werden (vgl. (37b)). (37a) DEU FRA UNG

(37b) ENG POL

In der Hauswand war ein größeres Loch / ein größerer Riss. Dieses/Dieser war durch ein Erdbeben verursacht worden. Sur le mur extérieur, il y avait un trou assez grand / une fissure assez grande. Celui-ci/Celle-ci avait éte causé(e) par un tremblement de terre. A ház falán nagy lyukak / nagy repedések voltak. Ezeket a földrengés okozta. ‚In der Hauswand waren größere Löcher / größere Risse. Diese waren durch ein Erdbeben verursacht worden.‘

There was a large hole/crack in the wall of the house. It was due to an earthquake. W ścianie domu była duża dziura / duża szczelina. Powstała ona przez trzęsienie ziemi.

In allen genannten Fällen liegt anaphorisch-referenzidentischer Bezug vor. Für die Wahl zwischen den genannten Alternativen sind textuell-informationsstrukturelle Gegebenheiten verantwortlich, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen wird. Das Demonstrativum hat jedoch in der Regel eine Funktion, die über die der rein thematischen Fortführung bzw. der Topik-Kontinuität hinausgeht, die beim Personalpronomen und beim definiten Artikel vorliegt.

B1 Wortklassen

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Bosch/Umbach (2007: 50) etwa nennen folgenden Unterschied zwischen Personalpronomen und Demonstrativum: „The preferred referents of personal pronouns are discourse topics which are – under an assumption of referential continuity of discourse – the most expectable referents. Demonstrative pronouns choose their referents in contrast to the currently most expectable referent and thus avoid discourse topics as referents.“

Anaphorisch-referenzidentischer Bezug kann auch kontrastiv gestaltet sein. In diesem Fall wird in den Vergleichssprachen differenzierend ein proximales (für den textuell näheren Bezug) und ein distales selbstständiges Demonstrativum (für den textuell ferneren Bezug) – jeweils bezogen auf zwei verschiedene Gegenstände – eingesetzt. (38) FRA

Estragon et Vladimir se sont remis a examiner, celui-là [= Estragon] sa chaussure, celui-ci [= Vladimir] son chapeau. ,Estragon und Vladimir machten sich daran zu untersuchen: jener seinen Schuh, dieser seinen Hut.‘ (Beckett, zit. nach Grevisse/Goosse 2011: 940)

Im Englischen ist anaphorisch-kontrastiver Gebrauch von selbstständigem this und that nicht möglich (vgl. Huddleston/Pullum (2002: 1506) mit *I went Christmas shopping und bought a t-shirti and a CDj; thati is for Kim and thisj is for Pat). Hier muss stattdessen auf eine explizitere Ausdrucksform, etwa mithilfe von the former vs. the latter zurückgegriffen werden. Entsprechendes ist auch z. B. im Deutschen – insbesondere gesprochensprachlich statt dieser/e/es vs. jener/e/es – mit ersterer/e/es und letzterer/e/es zulässig; man vergleiche die Übersetzung des englischen Beispiels: Ich machte meine Weihnachtseinkäufe und kaufte ein T-Shirt und eine CD, ersteres ist für Kim, letztere für Pat. Adnominale Verwendung der distanzmarkierten Demonstrativa ist hingegen sprachübergreifend möglich. Hier wird bei anaphorisch-referenzidentischer Gebrauchsweise als Kopfsubstantiv z. B. ein Oberbegriff für beide kontrastierten Gegenstände eingesetzt, im Beispiel etwa DEU jenes Geschenk vs. dieses Geschenk, ENG that present vs. this present.  



(ii) Anaphorisch nicht-referenzidentisch, mit deiktischen Demonstrativa Ein anderer Typ der anaphorischen Verwendung liegt vor, wenn keine Referenzidentität mit einer vorausgehenden NP vorliegt, sondern das Kopfsubstantiv (vgl. (39)) oder das attributiv erweiterte Kopfsubstantiv (vgl. (40)) nur semantisch aus dem Kontext zu ergänzen ist (vgl. Huddleston/Pullum 2002: 1507). Im Ungarischen ist die relevante Struktur anders, da die Teilkonstituente selbst NP-Status hat. Dennoch besteht auch hier keine Koreferentialität mit der Teilkonstituente, da diese trotz ihres NP-Status kein selbstständig referierender Ausdruck ist (→ D1.2.1.2).  

(39) ENG DEU

[NPThis [N copy]] is clearer than [NP that (one)]. [NP Diese/Die [N Kopie]] ist deutlicher als [NP diese/die].

286

B Wort und Wortklassen

FRA POL UNG

[NP Cette [N copie-ci]] est plus claire que [NP celle-là]. [NP Ta [N kopia]] jest wyraźniejsza niż [NP ta/tamta]. [NP [NP Ez ] [NP a másolat]] jobb, mint [NP az].

(40) DEU ENG FRA POL UNG

[NP Der/Dieser [NOM Freund von dir ]] ist netter als [NP der/dieser]. [NP This [NOM friend of yours]] ist nicer than [NP that ( one)]. [NP Cet [NOM ami-ci ]] est plus gentil que [NP celui-là]. [NP Ten [NOM twój przyjaciel]] jest bardziej miły niż [NP ten/tamten]. [NP Ez [NP a barátod]] kedvesebb, mint [NP az].

In diesen Fällen (vgl. ,kontextbezogene‘ Verwendung von Pronomina, → B1.5.1.3) wird mit den beiden NPs, der Antezedens-NP und der rückbezüglichen, auf verschiedene Gegenstände referiert, die unter denselben (komplexen) Begriff fallen. Im Englischen wird hier in der rückbezüglichen NP bei (39) und (40) fakultativ one als Substitut für das fehlende Kopfsubstantiv hinzugesetzt. Im Deutschen wie auch im Französischen werden nicht die adnominalen, sondern die selbstständigen Formen gesetzt, also deutsch das Demonstrativum der, nicht der Artikel; im Französischen erscheint celui/celle, nicht ce(t)/ce(tte). Im Deutschen ist das deutlich an genitivischen oder dativischen Langformen erkennbar, vgl. (41).  

(41)

a. Wir erinnern uns [dieser/der Freunde von dir hier], nicht [derer dort]. b. Wir trauen [diesen/den Freunden hier von dir], nicht [denen dort].

In Fällen wie (39) bis (41) ist neben einer anaphorischen Beziehung zu einem (erweiterten) Kopfsubstantiv im Vortext auch ein deiktischer Bezug auf die Wahrnehmungssituation (erkennbar an den Demonstrativa) gegeben. Dies trifft auch auf den folgenden Fall (42) zu, wo noch eine appositive Erweiterung durch ein attributives Adjektiv gegeben ist. Hier muss im Englischen substitutives one stehen. (42) DEU ENG FRA POL

[NP Diese [NOM größere [N Kopie]]] ist deutlicher als [NP diese [NOM kleinere N [_]]]. [NP This [NOM bigger [N copy]]] is clearer than [NP that [NOM smaller [N one]]]. [NP Cette [N copie-ci]], la plus grande est plus claire que [NP celle-là], la plus petite]. [NP Ta [NOM większa N kopia]] jest wyraźniejsza niż [NP ta/tamta [NOM mniejsza N [_]]]. [NP [NP Ez] [NP a nagyobb másolat]] jobb, mint [NP [NP ez/az] [NP a kisebb]].  

UNG

B1 Wortklassen

287

(iii) Anaphorisch nicht-referenzidentisch, Demonstrativum nicht-deiktisch Hierher gehören Verwendungen wie in (44) und (45). Im Ungarischen gibt es für diesen Typ kein Äquivalent: In den entsprechenden ungarischen Possessivkonstruktionen kann kein Demonstrativum auftreten, vgl. (43). (43)

(44)

(45) DEU ENG FRA POL

Nemcsak a saját barátait hívta meg, einlad.PRT . 3SG . DEF PV nicht nur DEF eigen Freund.PPL . AKK hanem az apjáéit is. auch sondern DEF Vater.3SG . PUM . PPL . AKK ,Er lud nicht nur seine eigenen Freunde ein, sondern auch die seines Vaters.‘

Denn keinem der Leidtragenden war der Tag signalisiert worden, an dem Zschäpe erstmals im Gerichtssaal reden würde. Nicht einmal jenen unter den Nebenklägern […]. (Spiegel, 40/2016, S. 56)

Er lud nicht nur seine eigenen Freunde ein, sondern auch diejenigen/die/ jene/*diese seines Vaters. (vgl. Gunkel 2007: 216) He not only invited his own friends but also those/*these of his father. Il n’a invité que ses propres amis, mais aussi ceux de son père. Zaprosił nie tylko swoich własnych przyjaciół, ale także przyjaciół / *tych swojego ojca.

Wie in Verwendungsweise (ii) fungiert hier ein vorausgehender (erweiterter) substantivischer Kopf als Antezedens, im Beispiel das Kopfsubstantiv Freunde/friends/ amis/przyjaciół (Freund.AKK . PL . MPERS ). Im Deutschen können in dieser Funktion neben selbstständigem der, also dem Demonstrativum (vgl. Er traute nicht nur seinen eigenen Freunden, sondern auch denen seines Vaters), und jener (schriftsprachlich), auch derjenige gebraucht werden. Derjenige ist grundsätzlich nicht-deiktisch und in aller Regel sowohl, wenn es selbstständig, als auch, wenn es adnominal vorkommt, an das Vorhandensein eines restriktiven Attributs in Form eines Genitiv- oder Präpositionalattributs oder eines attributiven Relativsatzes gebunden. Hier liegt determinativischer Gebrauch vor (→ B1.2.2.3.2) – dieser Terminus ist jedoch zu unterscheiden von dem Terminus für die Konstituentenkategorie Determinativ. Entsprechend dem nicht-deiktischen Charakter der Verwendungsweise werden nur nicht-deiktische (wie derjenige), distanzneutrale (wie DEU der und die Grundformen im Französischen) oder die distanz-unmarkierten Demonstrativa gebraucht (wie das NON - PROXIMALE that im Englischen); im Polnischen kann kein Demonstrativum verwendet werden, das Substantiv wird wiederholt. Dass DEU dieser hier ausgeschlossen ist, spricht für DIST AL (→ B1.2.2.6). Außerdem ist für das Englische noch ein seinen Status als NON - DISTAL Belebtheitseffekt zu beachten. Personenbezogen ist die Singularform that hier nicht zugelassen, nur die Pluralform those. Huddleston/Pullum (2002: 1504) nennen als Beispiel (46).  



288

B Wort und Wortklassen

(46) ENG

*The premier of Victoria will be meeting with that of Queensland. ,Der Premierminister von Victoria wird den von Queensland treffen.‘ (intendiert)

(iv) Kataphorisch Kataphorische Verwendungen der Demonstrativa werden in Levinsons Systematisierung zwar erwähnt; es wird jedoch kein Beispiel gegeben. In der Tat ist kataphorischer Gebrauch gegenüber dem anaphorischen eher wenig gebräuchlich. Zum einen erscheinen Demonstrativa, wenn innerhalb eines komplexen Satzes ein Vorverweis stattfindet. Bei solchen strukturellen Verweisen kann im Deutschen, etwa wenn ein Komplementsatz im Nachfeld erscheint, statt es auch das Demonstrativum das erscheinen (Ich hab es/das nicht gewusst, dass Hans Eva betrogen hat; dazu → B1.5.2.7). Auch die Setzung eines Demonstrativums in der nicht-deiktischen und nicht-anaphorischen Verwendungsweise (v) kann als Grammatikalisierung eines satzinternen Vorverweises auf den durch den Relativsatz bezeichneten Gegenstand verstanden werden. Dazu ist auf die so genannten halb-freien Relativsätze zu verweisen (→ D6.8). Zum anderen finden satzgrenzenüberschreitende kataphorische (oder auch katadeiktische Verweise im konzeptuellen Neutrum) statt, etwa wenn auf eine Aufzählung vorverwiesen wird (vgl. (47)). Hier ist im Polnischen das Demonstrativum nicht möglich, stattdessen steht die Entsprechung von ,folgend‘.  



(47) DEU ENG FRA POL UNG

Wir müssen noch diese Kandidaten interviewen: Maier, Müller, Schmidt und Lehmann. There are still these candidates to interview: Lugton, Barnes, Airey and Foster. (Huddleston/Pullum 2002: 1509) Il reste ces candidats-là à interviewer: Dupont, Lenoir et Camus. Musimy jeszcze przeprowadzić wywiady z następującymi/*tymi kandydatami: Maier, Müller, Schmidt i Lehmann. Még ezeket a jelölteket kell interjúztatnunk: Balogh, Kovács, Nagy és Horváth.

Auch jener hat Verwendungen, die man als kataphorisch einstufen kann, vgl. (48). (48)

In der ersten Reihe vor dem Rednerpult saßen Rebecca Casati, die Witwe des vor zwei Jahren verstorbenen Herausgebers dieser Zeitung, und Ulla UnseldBerkéwicz. Es saßen dort jene, die den Schirrmacher-Preis ins Leben gerufen haben, Martin Meyer, Michael A. Gotthelf, Matthias Döpfner und Marco Scolari. (www.faz.net vom 28.09.2016, „Nennt mich Schriftsteller“)  

Neben dem kataphorischen Aspekt – in Form eines Vorverweises auf eine Reihe von Referenten – liegt hier auch ein determinativischer Gebrauchsaspekt vor, insofern als ein restriktiver Relativsatz vorhanden und jene durch diejenigen ersetzbar ist.

B1 Wortklassen

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(v) Determinativisch Ergänzend zu den bei Levinson genannten Gebrauchsweisen ist ein nicht-deiktischer und nicht-anaphorischer Gebrauch zu nennen, also eine Art Reduktionsstufe. Diese „rein determinativische“ Verwendungsweise schließt unmittelbar an den zuvor erläuterten Gebrauch (iii) an; sowohl im möglichen Einsatz bestimmter Demonstrativa als auch in anderen Beschränkungen gibt es weitgehende Übereinstimmungen. Man vergleiche die folgenden Beispiele mit selbstständigem (vgl. (49)) und adnominalem (vgl. (50)) Demonstrativum. (49) DEU ENG FRA POL UNG (50) DEU ENG FRA POL UNG

Diejenigen/Die/*Diese, die 90% der Punkte erreichen, erhalten einen Preis. Those/*These who obtain a score of 90% will win a prize. (Huddleston/Pullum 2002: 1504) Ceux qui obtiendront un score de 90% gagneront un prix. Ci, którzy osiągnęli 90% (z całkowitej liczby punktów), dostaną nagrodę. Azok/*Ezek, akik a pontok 90%-át elérik, jutalmat kapnak.

Diejenigen/Die/*Diese Teilnehmer, die 90% der Punkte erreichen, erhalten einen Preis. Those/The/*These participants who obtain a score of 90% will win a prize. Les/*Ces participants qui obtiendront un score de 90% demandé auront un prix. Ci uczestnicy, którzy osiągnęli 90% (z całkowitej liczby punktów), dostaną nagrodę. Azok/*Ezek a résztvevők, akik a pontok 90%-át elérik, jutalmat kapnak.

Auch hier findet sich im Deutschen neben dem Demonstrativum der das determinativische derjenige, dieser ist ausgeschlossen (jener ist im Prinzip auch hier möglich; allerdings im gegebenen Kontext nicht zu erwarten). Im Englischen ist wie in der anaphorischen Verwendung (iii) bei selbstständigem Demonstrativum neben dem distanzmarkierten this/these singularisch-personenbezogenes that ausgeschlossen. Adnominal kann im Deutschen und Englischen neben einem Demonstrativum auch der definite Artikel stehen, im Französischen ist dies die einzige Möglichkeit. Abschließend sollte festgehalten werden, dass die einzelnen Gebrauchsweisen nicht strikt voneinander zu trennen sind. Zum einen gibt es echte Mischungen, wie anhand von (48) gezeigt. Zum anderen lassen sich gewisse Verwendungsweisen auf andere zurückführen. Dieser allgemeine Befund, auf den bereits oben verwiesen wurde, kann besonders an DEU jener gezeigt werden, das anders als dieser und der ein beschränktes Verwendungsspektrum hat mit klar erkennbaren Verbindungslinien zwischen den jeweiligen Gebrauchsweisen. Sowohl die anamnestische als auch die determinativische Verwendung sind als „Erweiterungen“ einer phorischen Verwen-

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B Wort und Wortklassen

dung einzuordnen: Bei der anamnestischen Verwendung wird der diskursiv-textuell konstituierte und anaphorisch zugängliche Referenzbereich erweitert um einen von Sprecher und Hörer geteilten Erfahrungs- und Wissensbereich, dessen Existenz der Sprecher präsupponiert. Bei der determinativischen Verwendung wiederum wird ein kataphorisch zugänglicher Referenzbereich erweitert um einen Bereich von Referenten, die lediglich durch eine Kennzeichnung (definite description) in den Diskurs oder Text eingeführt werden: Durch den jeweils angeknüpften Relativsatz wird die Identität der Referenten ja erst festgelegt. Und anders als bei der kataphorischen Verwendung wird auf die anvisierten Referenzobjekte im folgenden Diskurs/Text nicht noch einmal referiert.

B1.2.3 Artikel In der grammatikographischen Tradition steht der Terminus Artikel für eine Wortart, d. h. für eine Klasse von lexikalischen Wörtern. Abweichend davon wird er in grammatischen Beschreibungen einzelner Sprachen sowie in typologischen Untersuchungen oft auch zur Bezeichnung von affixalen oder klitischen Markern für Definitheit oder Indefinitheit verwendet. Entsprechend ist dann von affixalen oder klitischen Artikeln die Rede.  

Vgl. etwa Allan/Holmes/Lundskaer-Nielsen (1998: 54) zum Dänischen, Holmes/Hinchliffe (1994: 49) zum Schwedischen, Thráinsson (1994: 152, 156), Kress (1982: 82) zum Isländischen, Feuillet (1996: 152) zum Bulgarischen, Borg/Azzopardi-Alexander (1997: 72) zum Maltesischen sowie sprachvergleichend Lyons (1999: 68–77) und typologisch Haspelmath (1999a), Lehmann/Moravcsik (2000: 741), Himmelmann (2001), Lehmann (2002: 34), Dryer (2013b). Anders dagegen Askedal (1994: 231) zum Norwegischen, Buchholz/Fiedler (1987: 233) zum Albanischen.

Diese Redeweise ist für sprachvergleichende Zwecke praktisch und als façon de parler unproblematisch. Wir werden daher ebenfalls formübergreifend von Artikeln sprechen und zwischen lexikalischen, affixalen (alternativ: Artikelaffixen) und klitischen Artikeln unterscheiden. Alternativ wird der Terminus des Markers (Definitheitsmarker, Indefinitheitsmarker) gebraucht, insbesondere wenn die formale Manifestation von Definitheit und Indefinitheit zur Debatte steht. Wir sprechen zudem von gebundenen Artikeln oder Markern, wobei der Terminus affixale und klitische Formen gleichermaßen benennt.

B1.2.3.1 Funktionale und typologische Charakterisierung Artikel sind neben adnominalen Demonstrativa (→ B.1.2.2) und Indefinita (→ B1.5.5) die zentralen Exponenten von Definitheit und Indefinitheit in Nominalphrasen. Funktionale Domäne der Artikel ist damit die Identifikation (→ A2). Wie wir sehen werden,  





B1 Wortklassen

291

ist das Auftreten von Artikeln – anders als im Fall von Demonstrativa – aber nicht auf referentielle Nominalphrasen beschränkt. Die Funktion der – vor allem indefiniten – Artikel in solchen Ausdrücken wird u. a. in → B.1.2.3.7 thematisiert. Während Demonstrativa zum lexikalischen Grundinventar aller Sprachen gehören, verfügt nur ein Teil der Sprachen der Welt – nach Dryer (1989: 85) ca. ein Drittel – über Artikel. Noch geringer fällt der Anteil an Sprachen mit definiten und indefiniten Artikeln aus.  



Dryers Schätzung beruht auf einem Sample von 400 Sprachen, von denen 125 Artikelsprachen sind, vgl. Dryer (1989: 85). Unter diesen weisen wiederum nur 31 Sprachen definite und indefinite Artikel auf (ebd.).

Artikel finden sich zwar in Sprachen unterschiedlichster genetischer Zuordnung, aber – so Wackernagel (1926: 127) – „[…] nirgends als etwas durchgängig Herrschendes; fast überall ist es so, dass nur ein Teil der zum gleichen Stamme gehörigen Sprachen den Artikel besitzt, und dass die Art seiner Bildung und seiner Verwendung stark variiert“. Unter den indoeuropäischen Sprachen weisen die indoiranischen, baltischen und slawischen Sprachen in der Regel keine Artikel auf. Die germanischen, romanischen und keltischen Sprachen, das Neugriechische, Albanische und Armenische sind dagegen Artikelsprachen. Von den nicht-indoeuropäischen Sprachen Europas besitzen das Baskische, Maltesische, Türkische, Ungarische Artikel. In Nordafrika und im Nahen Osten finden sich mit den Berbersprachen (Himmelmann 2001: 836), dem Arabischen und Hebräischen ebenfalls Artikelsprachen. Artikellos sind zumeist die kaukasischen, uralischen und altaischen Sprachen (vgl. Rijkhoff 1998: 338); ebenso das Chinesische, Japanische, Koreanische und die dravidischen Sprachen (so Steever 1998: 19).  

Zu den Ausnahmen: Die indoiranischen Sprachen Persisch (Iranisch) und Singhalesisch (Indoarisch) haben indefinite Artikel. Dabei ist aber zu beachten, dass oft homonyme Formen des Einernumerales (vgl. etwa DEU ein) als indefinite Artikel ausgewiesen werden. Theoretisch macht es einen Unterschied, Artikel und Einernumeralia als unterschiedliche lexikalische Wörter zu behandeln oder – wie es oft in grammatischen Beschreibungen geschieht – anzunehmen, dass das Einernumerale in manchen Kontexten wie ein indefiniter Artikel „verwendet“ werden kann. Eine Entscheidung in dieser Frage ist jedoch ohne auch frequenzbezogene Daten berücksichtigende Untersuchungen und ohne spezielle, theorieabhängige Annahmen kaum möglich. Aus grammatikalisierungstheoretischer Sicht ist ohnehin mit einem Übergangsbereich zu rechnen. Masica (1991: 370) etwa schreibt: „[…] in most NIA [sc. New Indo-Aryan] languages an unstressed form of the word ‘one’ […] is close to becoming an Indefinite Article.“ Was die dravidischen Sprachen betrifft, nimmt Rijkhoff (1998: 355) für Tamil einen indefiniten Artikel an. Wie das Tamil zeigt, kann die Grammatikalisierung von Einernumeralia zu indefiniten Artikeln entlang der Belebtheitshierarchie erfolgen: Die obligatorische Markierung von (In-)Definitheit – ein wesentlicher Grammatikalisierungsschritt (vgl. u. a. Lehmann 2002: Kap. 2.2) – setzt zunächst bei belebten Substantiven an:  



„Modern Tamil has no formal class of articles; other grammatical devices serve their function. The numeral oru ‘one’ may serve as an indefinite article. Further, by way of contrast, the absence

292

B Wort und Wortklassen

of oru with a human noun may convey the notion of a definite article, e. g. [oru manitaṉ] ‘a man’ vs. [Æ manitaṉ] ‘the man’.“ (Annamalai/Steever 1998: 109)  

Unter den slawischen Sprachen besitzt das westslawische Sorbische (Ober- und Niedersorbisch) einen definiten und indefiniten Artikel, das südslawische Bulgarische und Mazedonische jeweils einen gebundenen definiten Artikel. Unter den kaukasischen Sprachen finden sich im Abchasischen (Nordwestkaukasisch) nach Rijkhoff (1998: 354) gebundene definite und indefinite Artikel; wobei der definite Artikel nach Lehmann (1995: 38, 2002: 34 f.) hier präfigiert ist.  

Arealtypologisch signifikant ist zum einen das weitgehende Fehlen von Artikeln in den Sprachen Osteuropas und des angrenzenden asiatischen Sprachraums und zum anderen die relativ hohe Konzentration von Artikelsprachen im restlichen Europa. Zudem sind Artikelsprachen, die sowohl über einen definiten als auch über einen indefiniten Artikel verfügen, „vor allem“ in Europa zu finden, so dass das gleichzeitige Auftreten beider Artikelarten als arealtypologisches Charakteristikum des Standard Average European (Whorf 1956: 138) gewertet wurde (Haspelmath 2001b: 1494). Diese Generalisierung ist cum grano salis zu nehmen. Wie Lynch (1998: Kap. 6.2.2.) dokumentiert, finden sich in einigen ozeanischen Sprachen nicht nur Artikel, sondern gleichzeitig definite und indefinite Artikel, so etwa im Hawaiianischen, Mokilesischen und Yapesischen (ebd.: 110–112). Daneben weisen manche dieser Artikelsprachen weitere, pragmatisch feinkörnigere Differenzierungen unter den Definitheitsmarkern auf. So besitzt Fijianisch (das aber seinerseits wiederum keinen indefiniten Artikel hat) spezielle Definitheitsmarker für Eigennamen, insbesondere Personenbezeichnungen (ebd.: 110).

Zumindest in einigen europäischen Sprachen kann die Herausbildung von Artikeln auf Sprachkontakt mit unmittelbar benachbarten Artikelsprachen zurückgeführt werden: Sorbisch (Ober- und Niedersorbisch) steht seit dem 10. Jahrhundert in engem Kontakt zum Deutschen (vgl. Lötzsch 1996: 51) und besitzt als einzige slawische Sprache sowohl einen definiten als auch indefiniten Artikel. Im Sorbischen sind beide Artikel jedoch nur schwach grammatikalisiert. Der indefinite Artikel unterscheidet sich von dem Einernumerale segmental z. T. darin: „[…] daß die ursprüngliche Form jedyn (jaden) des Numerales in dieser unbetonten Position im Maskulinum nicht selten, im Obersorbischen sogar meist, durch kontrahiertes einsilbiges jen (jan) ersetzt wird.“ (Lötzsch 1996: 53). [Anmerkung: Die obersorbische Form ist jeweils zuerst genannt, gefolgt von der niedersorbischen.]  

Auch im Tschechischen und Slowenischen scheinen sich – wohl durch Sprachkontakt mit dem Deutschen – artikelähnliche Verwendungsmuster des Demonstrativums entwickelt zu haben. „As a result of these contacts, Slavic languages such as Sorbian, Czech and Slovenian have grammaticalized demonstrative attributes to use patterns serving the expression of definiteness, and Sorbian has grammaticalized its numeral ‘one’ to a marker of indefinite reference (Lötzsch 1996: 53 […]).“ (Heine/Kuteva 2005: 71) Zum arealen Einfluss des Deutschen auf das Sorbische und Slowenische vgl. auch Wackernagel (1926: 127), der zudem beobachtet, dass „[i]n einer serbo-kroatischen Kolonie in Italien geradewegs der italiänische Artikel gebraucht [wird]“.

293

B1 Wortklassen

Das Ungarische besitzt als einzige finnisch-ugrische Sprache einen definiten und indefiniten Artikel. Dass dies auf Sprachkontakt (mit dem Deutschen) zurückzuführen ist, ist in der Literatur aber nicht bestätigt. Das Finnische wiederum zeigt – ähnlich wie das Tschechische und Slowenische – eine starke Tendenz zu artikelartigen Verwendungsmustern des Demonstrativums (Laury 1997). Hier wiederum läge der Einfluss von Sprachkontakt mit dem Schwedischen nahe.

Arealer Einfluss kann ebenso mit Blick auf die Entstehung des indefiniten Artikels im Baskischen, Bretonischen und Romani (Indoarisch) angenommen werden: Im Baskischen wurde das Einernumerale nach dem Vorbild des gascognischen und/oder spanischen indefiniten Artikels grammatikalisiert, im Bretonischen, der einzigen keltischen Sprache mit indefinitem Artikel, nach dem des Französischen. Analoges gilt für das Romani, dessen Varietäten seit Jahrhunderten unter dem Einfluss verschiedener europäischer Artikelsprachen stehen (vgl. Heine/Kuteva 2005: 247 f.).  

B1.2.3.2 Entstehung, Grammatikalisierung und Abgrenzung Definite und indefinite Artikel entwickeln sich durch Grammatikalisierung adnominaler Formen anderer Wortarten. Für Artikelsprachen lassen sich daher stets frühere, artikellose Sprachstufen annehmen und zumeist auch nachweisen. In Sprachen, die definite und indefinite Artikel besitzen, hat sich der indefinite Artikel nach dem bisherigen Forschungsstand später entwickelt als der definite (so bereits Wackernagel 1926: 152). Im Erstspracherwerb (des Deutschen) ist die Reihenfolge umgekehrt; hier wird der definite Artikel später erworben als der indefinite (vgl. Bittner 1997).

B1.2.3.2.1 Definite Artikel B1.2.3.2.1.1 Semantische Eigenschaften Der definite Artikel geht in den meisten Sprachen auf ein distales bzw. nicht-proximales Demonstrativum zurück (vgl. Wackernagel 1926: 130; Greenberg 1978: 61, 1985: 279; Givón 1984: 418 f., 2001a: 468 f.; Lehmann 1995: 38, 2002: 34). Distale bzw. nicht-proximale Demonstrativa bilden oft das neutrale Glied in einer privativen Distanzopposition gegenüber dem markierten proximalen Demonstrativum (→ B1.2.2.6.2).  





Einige Ausnahmen nennt Himmelmann (2001): Personalpronomina der dritten Person in den australischen Sprachen Mparntwe Arrernte und Yankunytjatjara (ebd.: 838) werden regulär adnominal (genauer: postnominal) in anaphorisch wiederaufnehmenden NPs verwendet. Zu beachten ist jedoch, dass in indigenen australischen Sprachen nominale Einheiten appositiv konstruiert sein sollen, so dass sich die Frage stellt, ob es sich tatsächlich um einen definiten Artikel handelt. Ein weiteres von Himmelmann (2001: 839) angeführtes Beispiel ist Nama (Khoisan). Im Sardischen hat sich der Artikel aus dem lateinischen Identitätspronomen ipse hergeleitet (ebd. mit Verweis auf Selig 1992).

294

B Wort und Wortklassen

Nicht-proximale Demonstrativa dienen zur Referenz auf Entitäten am Rande des deiktisch bzw. phorisch zugänglichen Raums. Die Herausbildung des definiten Artikels lässt sich als Erweiterung des funktionalen Anwendungsbereichs des Demonstrativums über die Grenzen dieses Raums hinaus verstehen: Im Gegensatz zu Demonstrativa – abgesehen von Verwendungen der sog. verschobenen Deixis (→ B1.2.2.7) – beziehen sich durch definite Artikel eingeleitete Nominalphrasen auch auf Gegenstände, die im Wahrnehmungsraum oder im unmittelbaren sprachlichen Kontext nicht präsent sind:  



„[…] we see that the third person pronoun or article is derived from [sic!] distance demonstrative or an unmarked demonstrative which is used so widely that it includes distance deixis as one of its uses. Probably the main factor is that the distance demonstrative is easily extended to that which is absent as in narrative, or present but not visible as far distant or behind the speaker. It is therefore the natural candidate for the expression of that which was previously mentioned which will in most cases not be in the actual speech situation.“ (Greenberg 1985: 282) Eine Erweiterung des Anwendungsbereichs des Demonstrativums über den Bereich deiktisch oder anaphorisch nicht zugänglicher Gegenstände hinaus liegt bereits bei dem anamnestischen Gebrauch des Demonstrativums vor (→ B1.2.2.7). Himmelmann (1996, 1997) argumentiert daher mit Blick auf eine Reihe von typologisch verschiedenen Sprachen für die These, dass der Grammatikalisierungsweg des Demonstrativums zum definiten Artikel gerade über die anamnestische Verwendung des Demonstrativums verläuft. Dazu passt, dass es in der Regel nicht-proximale bzw. distale Demonstrativa sind, die anamnestisch gebraucht werden.  

Im Anschluss an Hawkins (1978) zum Englischen lassen sich fünf für den definiten Artikel charakteristische Verwendungsarten unterscheiden, die Vater (1984: 34–38) als deiktisch (vgl. (51)), anaphorisch (vgl. (52)), unmittelbar-situativ (vgl. (53)), abstrakt-situativ (vgl. (54)) und assoziativ-anaphorisch (vgl. (55)) bezeichnet. Der entscheidende Grammatikalisierungsschritt vom Demonstrativum zum definiten Artikel besteht dann darin, den fraglichen Ausdruck über die deiktische und phorische Verwendung hinaus auch in Situationen wie (53)–(55) gebrauchen zu können. Die entsprechenden Termini in Hawkins (1978: 115, 123) sind visible situation use, anaphoric use, immediate situation use, larger situation use sowie associative-anaphoric use. Zu beachten ist, dass Hawkins die deiktische Verwendung als Spezialfall der unmittelbar-situativen betrachtet.

(51) DEU ENG FRA POL UNG

(Kontext: Auf dem Tisch steht ein Salzstreuer.) Kannst du mir bitte mal den Salzstreuer geben? Could you please pass me the salt shaker? Donne-moi la salière, s’il te plaît. Możesz mi podać solniczkę? Ideadnád a sótartót?

B1 Wortklassen

(52) DEU

295

POL UNG

Der Vater stellte seinen Sohn vor. Der Sohn sollte bei dem Schuster in die Lehre gehen. The father introduced his son. The son was supposed to be apprenticed to the cobbler. Le père presenta son fils. Le fils devait être en apprentissage auprês du cordonnier. Ojciec przedstawił swojego syna. Syn miał iść na naukę do szewca. Az apa bemutatta a fiát. A fiának a suszterhez kellett gyakorlatra mennie.

(53) DEU ENG FRA POL UNG

(Bei einer Wohnungsbesichtigung:) Wo ist denn hier die Küche? Where is the kitchen? Où est la cuisine? Gdzie jest kuchnia? És hol van a konyha?

(54) DEU ENG FRA POL UNG

Hast Du die Nachrichten gehört? Der Ministerpräsident ist zurückgetreten. Have you heard the news? The prime minister has stepped down. As-tu écouté les actualités? Le premier ministre a démissionné. Słuchałeś/Słuchałaś wiadomości? Premier podał się do dymisji. Hallottad a híreket? A miniszterelnök lemondott.

(55) DEU ENG FRA POL UNG

Ein Auto fuhr vorbei. Die Bremsen quietschten fürchterlich. A car was passing by. The brakes were squeaking terribly. Une voiture passait. Les freins coinaient terriblement. Przejechało auto. Hamulce okropnie piszczały. Egy kocsi haladt el. A fékei szörnyen csikorogtak.

ENG FRA

Anders als in (51) und (52) kann in den Kontexten (53)–(55) kein Demonstrativum verwendet werden (vgl. (56)–(60)). ‚#‘ kennzeichnet hier und im Folgenden pragmatisch abweichende Äußerungen. Die Beispiele in (58)–(60) wären in anamnestischer Verwendung (→ B1.2.1.7) akzeptabel.  

(56) DEU ENG FRA POL UNG

(Kontext: Auf dem Tisch steht ein Salzstreuer.) Kannst du mir bitte mal diesen Salzstreuer geben? Could you please pass me this salt shaker? Donne-moi cette salière, s’il te plaît. #Możesz mi podać tę solniczkę? Ideadnád azt a sótartót?

296

(57) DEU ENG FRA POL UNG

B Wort und Wortklassen

Der Vater stellte seinen Sohn vor. Dieser Sohn sollte bei dem Schuster in die Lehre gehen. The father introduced his son. This son was supposed to be apprenticed to the cobbler. Le père presenta son fils. Ce fils devait être en apprentissage auprês du cordonnier. Ojciec przedstawił swojego syna. Ten syn miał iść na naukę do szewca. Apa bemutatta saját a fiát. Ennek a fiának kellett a suszterhez gyakorlatra mennie.

(58) DEU ENG FRA POL UNG

(Bei einer Wohnungsbesichtigung:) #Wo ist denn hier diese Küche? #Where is this kitchen? #Où est cette cuisine? #Gdzie jest ta kuchnia? #És hol van az a konyha?

(59) DEU ENG FRA POL UNG

Hast Du die Nachrichten gehört? #Dieser Ministerpräsident ist zurückgetreten! Have you heard the news? #This prime minister has stepped down. As-tu écouté les actualités? #Ce premier ministre a démissionné. Słuchałeś/Słuchałaś wiadomości? #Ten premier podał się do dymisji. Hallottad a híreket? #Ez a miniszterelnök lemondott.

(60) DEU ENG FRA POL UNG

Ein Auto fuhr vorbei. #Diese Bremsen quietschten fürchterlich. A car was passing by. #These brakes were squeaking terribly. Une voiture passait. #Ces freins coinaient terriblement. Przejechało auto. #Te hamulce okropnie piszczały. Egy kocsi haladt el. #Azok a fékek szörnyen csikorogtak.

Darüber hinaus wird oft noch der generische Gebrauch des definiten Artikels als separater Verwendungstyp unterschieden (vgl. (61a)). Außer in sog. taxonomischen Lesarten sind Demonstrativa ebenfalls von einem generischen Gebrauch ausgeschlossen (vgl. (61b)). (61)

a. Früher war der Wolf in Europa weit verbreitet. b. Früher war dieser Wolf in Europa weit verbreitet.

In Sätzen wie (61a) und (61b) wird durch die Prädikation eines sog. Artenprädikats (→ B1.2.3.8) eine generische Lesart der NP der Wolf bzw. dieser Wolf erzwungen. (61b)  

B1 Wortklassen

297

ist nur dann akzeptabel, wenn im Kontext von mehreren Wolfsarten die Rede ist und mit dieser Wolf auf eine Unterart referiert wird. Theoretisch lässt sich die generische Verwendung des definiten Artikels als Unterfall des abstrakt-situativen Typs verstehen: Dass Arten Unikate sind, ist Teil des Weltwissens des Sprechers und dass auf Arten als abstrakte Entitäten referiert werden kann, Teil seines Sprachwissens. Diese Auffassung findet sich bereits bei Wackernagel (1926: 134): Einen zweiten Typus stellen die Fälle dar, wo der Artikel den Begriff, auch ohne dass er vorher zur Erwähnung gekommen wäre, als bekannt und für den Sprecher und Hörer gegeben bezeichnet […]. Nicht ohne weiteres dasselbe lässt sich vom dritten, dem sog. generellen Gebrauch des Artikels sagen, dem Falle also, dass er bei Abstrakta steht, z. B. ἠ φιλοσοφία, bei Bezeichnung einer Gattung in pluralischer Form, z. B. οἱ ἵπποι, und endlich bei Bezeichnung einer Gattung durch singularische Setzung des den Begriff bezeichnenden Nomens, z. B. ὁ ἵππος „die Gattung Pferd“. […] – Zur Erläuterung dieses dritten Typus kann man wohl nur sagen, dass, sobald man einmal zu Gattungsbegriffen gelangt, diese für jeden etwas fest gegebenes sind, also in Erweiterung des zweiten Gebrauchstypus der Artikel am Platz ist.  





Dennoch besteht die Möglichkeit, dass die Verwendung des definiten Artikels zur Referenz auf Arten einen separaten Grammatikalisierungsschritt darstellt. So unterscheidet etwa Hawkins (2004) vier „major stages“ (ebd.: 84) mit Blick auf die Herausbildung des definiten Artikels. Die erste Stufe besteht in der Aufhebung der Beschränkung auf deiktische Verwendungen „and with it the explicit or implicit contrast between entities near the speaker or far from the speaker“ (ebd.: 88). Der Artikel kann damit auch phorisch gebraucht werden und umfasst daher die Verwendungsarten (51a) und (51b). Als Beispiele führt Hawkins (ebd.: 84) die anaphorisch verwendbaren Demonstrativa/Artikel des Gotischen (sa, nach Hodler 1954), des Lakhota (k’u, nach Lyons 1999: 54; Buechel 1939) und des Hausa (din, nach Lyons 1999: 85; Jaggar 1985) an. In der zweiten Stufe können die Artikel dann in den drei restlichen o. g. Kontexten verwendet werden (vgl. (51c)–(51e)). Beispiele hierfür seien das Definitheitssuffix im Hausa (-n, nach Lyons 1999: 52 f.; Jaggar 1985) sowie die definiten Artikel im Althochdeutschen (nach Hodler 1954). Entscheidend ist nun, dass Hawkins (2004: 85) als dritte Stufe die Ausdehnung auf den generischen Gebrauch betrachtet, der wiederum eine Erweiterung der abstrakt-situativen Verwendung ist:  



Stage 3: NPs with the definite article extend their usage possibilities to generic reference that signal inclusiveness only, with little or no pragmatic delimitation (the lion is a mammal, the Italians eat pizza). The level of accessibility that is required at the end of Stage 2 has become so weak that it can be abandoned and the definite article can be used with semantic and truthconditional content only. At the same time, pragmatic conditions of appropriateness still apply to NPs that are not used generically, and hearers must disambiguate between generic and nongeneric […] The middle and modern periods of the Germanic languages exemplify this stage. (Hodler 1954)  

Die vierte von Hawkins (2004: 85) angeführte Grammatikalisierungsstufe sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Hawkins beschreibt diese Stufe so, dass das Ver-

298

B Wort und Wortklassen

wendungsspektrum des Artikels so erweitert wird, dass NPs mit definitem Artikel zur indefinit-spezifischen Referenz gebraucht werden können. Als Beispiele werden die Artikel in den polynesischen Sprachen Tongaisch (e, nach Broschart 1997) sowie Maori (te, nach Bauer 1993) genannt. Diese Stufe nennt bereits Greenberg (1978). In der darauf folgenden, von Greenberg angeführten Stufe entwickeln sich die Artikel zu Genusmarkern bzw. Numeralklassifikatoren.

Unabhängig von der Frage, wie die Grammatikalisierungswege zum definiten Artikel im Einzelnen zu rekonstruieren sind, bleibt zu klären, worin sich Demonstrativum und definiter Artikel in ihrer lexikalischen Bedeutung unterscheiden. Lehmann (2002: 33) setzt für Demonstrativa zwei Bedeutungskomponenten an: eine deiktische und eine distanzkodierende. Demonstrativa verfügen – per definitionem – über eine deiktische Komponente, nicht aber notwendigerweise über eine distanzkodierende: In Systemen mit nur einem einzigen Demonstrativum deckt dieses gleichermaßen den Nah- und Fernbereich ab, ist also mit Blick auf den Distanzparameter neutral. Umgekehrt setzt aber die distanzmarkierende Komponente – zumindest im prototypischen Gebrauch – die deiktische voraus. So gibt es z. B. keine nicht-deiktischen Demonstrativpronomina und insbesondere keine definiten Artikel, die für Nähe und Ferne bestimmt wären. Der enge konzeptuelle Zusammenhang zwischen Distanzparameter und Deixis hat in der Literatur manchmal zu der Annahme geführt, dass sich definite Artikel und Demonstrativa allein durch den Distanzparameter unterscheiden. Die Neutralisierung eines Distanzunterschieds beim Demonstrativum würde demnach zum definiten Artikel führen. Problematisch ist diese Annahme deshalb, weil Demonstrativa auch neutral mit Bezug auf den Distanzparameter sein können. Neben adnominalen Demonstrativa bilden Personalpronomina der 3. Person eine weitere Grammatikalisierungsquelle für definite Artikel. Dabei ist zu beachten, dass Personalpronomina der 3. Person ihrerseits in aller Regel diachron auf Demonstrativa zurückgehen. Die in der Literatur genannten Fälle sind zumeist adnominale Personalpronomina in Funktionen, für die in Artikelsprachen typischerweise definite Artikel eingesetzt werden. Ein Beispiel ist (62) aus dem in Indonesien gesprochenen Tidore (West-Papua-Sprachen), in dem das Kernsubstantiv durch ein enklitisches Demonstrativum determiniert wird. Die Form ona ist damit als Definitheitsmarker redundant, was ein Indiz für ihren in dieser Funktion grammatikalisierten Status ist.  

(62) TID

ona guru=ge Lehrer=DEM 3PL ‚die/jene Lehrer‘ (vgl. Dryer 2007: 155; unter Verweis auf Van Staden 2000) Ähnliche Phänomene sind auch unter den Kern-Kontrastsprachen belegbar. In regionalen (und ggf. substandardsprachlichen) Varietäten des Englischen erscheint in adnominaler Verwendung das Personalpronomen they oder them anstelle von those (vgl. Denison 1996: 297, Fn. 10; für zahlreiche Belege für them statt those vgl. etwa den Western „The Wild Bunch“ von Sam Peckinpah).  

299

B1 Wortklassen

B1.2.3.2.1.2 Syntaktische Eigenschaften Definite Artikel haben spezielle formale Eigenschaften, durch die sie sich ebenfalls von Demonstrativa unterscheiden und die als kennzeichnend für die Wortart Artikel gelten können. Abgesehen davon, dass Artikel – per definitionem – nicht selbstständig auftreten, unterscheiden sie sich von Demonstrativa insbesondere darin, dass sie in Nominalphrasen positionsfest stehen, d. h. entweder links oder rechts vom Kopfsubstantiv (vgl. Himmelmann 2001: 832). Dagegen können Demonstrativa in manchen Sprachen sowohl prä- als auch postnominal auftreten. Zu entsprechenden Beispielen → D.1.2.1.1.2. Artikelsprachen zeichnen sich ferner dadurch aus, dass das Auftreten von definiten oder indefiniten Artikeln in einer Reihe von syntaktisch bestimmbaren Kontexten obligatorisch ist. Für die definiten Artikel sind das – nach Himmelmann (2001: 832) – Superlative (ENG the greatest singer ‚der größte Sänger‘) sowie Substantive mit Komplementsätzen (ENG the fact that they lost the game ‚die Tatsache, dass sie das Spiel verloren haben‘). Individuativa, die in „zentralen Argumentpositionen“ (core argument positions, ebd.) auftreten, müssen in Artikelsprachen bezüglich (In-)Definitheit oder (Nicht-)Spezifizität markiert sein. So sind etwa nicht-summativische, i. e. singularische und individuativische Nominale im Deutschen und Englischen in Subjektoder Objektfunktion obligatorisch durch einen Artikel oder einen anderen Determinator gekennzeichnet (→ D1.2.1.2). Definite Artikel treten in vielen Sprachen auch in Nominalen auf, deren Definitheit bereits anderweitig festgelegt ist, sei es etwa durch ein Demonstrativum oder die Zugehörigkeit des Kopfsubstantivs zur Klasse der Eigennamen. Der Artikel hat in solchen Fällen nicht nur eine semantische, sondern auch eine syntaktische Funktion, er markiert strukturell eine Nominalphrase. Mit Blick auf die Abgrenzung von den Demonstrativa sind diese Kontexte relevant, da sie die fraglichen Elemente als grammatikalisierte Marker und damit als echte Artikel ausweisen. Das spielt besonders dann eine Rolle, wenn definiter Artikel und distales bzw. nicht-proximales Demonstrativum homonyme Formen aufweisen, wie es u. a. im Deutschen, den festlandskandinavischen Sprachen, im Ungarischen und im Ute (Uto-Aztekisch) der Fall ist. Zum Ungarischen → D1.2.1.1.2. Durch (morpho)syntaktische Eigenschaften sind Artikel und Demonstrativum auch in Sprachen unterschieden, in denen sie in der Nominalphrase nicht kookkurrieren. Im Ute (Uto-Aztekisch) differieren sie positionell, wobei der Artikel rechts, das Demonstrativum links vom Substantiv steht (vgl. Dryer 2007b: 155). Darüber hinaus soll das Demonstrativum immer, der Artikel dagegen nie betont sein, vgl. (63).  











(63) a. ’ú ta’wáci UTE jener Mann ,jener Mann’

b.

ta’wáci ’u DEF Mann ,der Mann‘ (vgl. Dryer 2007b: 155)

300

B Wort und Wortklassen

In den festlandskandinavischen Sprachen lassen sich homonyme Formen von Artikel und Demonstrativum nur in bestimmten Kontexten distributionell voneinander unterscheiden. Im Schwedischen sind die Formen des sog. Adjektivartikels homonym mit denen des nicht-proximalen Demonstrativums SWE den (Utrum Singular den, Neutrum Singular det, Plural de, → B1.2.2.1, Tabelle 1). Der Adjektivartikel tritt in der Nominalphrase genau dann auf, wenn die definite Form des Substantivs durch ein Adjektiv modifiziert wird. In Nominalphrasen wie SWE det huset, die kein Adjektivattribut enthalten, wird SWE det daher als Demonstrativum betrachtet (vgl. (64a)). Entsprechend kann es in Nominalphrasen wie SWE det gamla huset entweder als Demonstrativum oder als Artikel analysiert werden (vgl. (64b); akzenttragende (betonte) Wortformen sind durch Großbuchstaben gekennzeichnet).  

(64) a. det huset SWE das Haus.DEF ‚DAS Haus‘

b.

det gamla huset das alte Haus.DEF ‚DAS/das alte Haus‘

Eine relevante Rolle kommt auch hier der Betonung zu: Als Demonstrativum sei den in der Regel betont bzw. stärker betont als der Artikel, so die Grammatiken (vgl. Holmes/Hinchliffe 1994: 162; Teleman/Hellberg/Andersson 1999: 322; zu den Ausnahmen vgl. ebd. 324, 326).

B1.2.3.2.2 Indefinite Artikel Der indefinite Artikel entsteht in den meisten Sprachen durch Grammatikalisierung des Einernumerales in adnominaler Funktion (Givón 1981b; Himmelmann 2001: 837). Neben anderen Grammatikalisierungsquellen (vgl. u. a. Moravcsik 1969: 83) spielen Entlehnungen eine wichtige Rolle. So hat Chamorro (Austronesisch) den indefiniten Artikel aus dem Spanischen entlehnt. Unter arealem Einfluss treten aber in der Regel Lehnbildungen auf, wobei das Einernumerale nach dem Vorbild von Verwendungsmustern des indefiniten Artikels anderer Sprachen grammatikalisiert wird (vgl. Heine/Kuteva 2002).  

Nach Lehmann verläuft der Grammatikalisierungsweg dabei über die Zwischenstufe eines adnominalen Indefinitums (Lehmann 1995: 53–55, 2002: 46 f. unter Verweis auf Heine/Reh 1984: 273; vgl. auch Weiss 2004). Theoretisch spreche dafür, dass auch die Herausbildung des definiten Artikels aus dem Demonstrativum ein Zwischenstadium einschließe, in dem das adnominale Demonstrativum ein „deiktisch unmarkiertes Determinativ“ (deictically unmarked determiner, Lehmann 2002: 46) sei, wie das deutsche (betonte) dér oder das vulgärlateinische ille. Analoges sei – so Lehmann (ebd.) – mit Blick auf die Herausbildung des indefiniten Artikels anzunehmen:  

301

B1 Wortklassen

[…] the numeral ‘one’ does not directly become an indefinite article, but passes through the intermediate stage of a numerically neutral indefinite determiner. Numerically neutral does not mean that more than one may be meant, but that the opposition to the other cardinal numbers is lost.

Diese Annahme mache wiederum die zutreffende Voraussage, dass indefinite Artikel auch aus anderen Indefinita entstehen können: So gebe es im Kobon (Trans-Neuguinea) ein (adnominal und pronominal auftretendes) Indefinitum ap (englisch ‚some‘), das nicht auf das Einernumerale zurückgehe und das regulär und obligatorisch in indefiniten Nominalphrasen postnominal auftrete, in Kombination mit einem Partitivmorphem rīmn- auch mit Kontinuativa (vgl. (65), Lehmann 2002: 46). (65) a. ni ap KOB ‚ein Junge‘ b. hałli rīmnap ‚some greens‘ (Lehmann 1995: 53, 2002: 47 unter Verweis auf Davies 1981: 60, 151) Unklar ist, ob die semantische Charakterisierung ‚numerisch neutral‘ das angenommene Indefinitum auch semantisch von einem echten indefiniten Artikel abgrenzt. Mit Blick auf die Analogie zur Entwicklung des definiten Artikels wäre dies erwartbar: Auch das ‚deiktisch neutrale Determinativ‘ (s. o.), das Lehmann als Zwischenstufe bei der Grammatikalisierung vom Demonstrativum zum definiten Artikel ansetzt, ist semantisch vom definiten Artikel unterschieden, und zwar dadurch, dass es weiterhin eine demonstrative Bedeutung enthalte, die Definitheit und eine Zeigegeste, i. e. eine deiktische Komponente, verkörpere (vgl. Lehmann 2002: 33, sowie → B1.2.3). Definite Artikel unterscheiden sich von solcherart Demonstrativa wiederum darin, dass der Artikel ausschließlich Definitheit kodiere: „The demonstrative component ist gradually reduced to mere definiteness, and the result is a definite article.“ (ebd.: 34). Lehmann nennt leider keine Beispiele für ‚numerisch neutrale‘ Indefinita. Gemeint sind wahrscheinlich Einernumeralia, die in Nicht-Artikelsprachen wie Russisch, Polnisch oder Tschechisch optional in speziellen Kontexten zur Kennzeichnung spezifischer indefiniter Nominalphrasen eingesetzt werden. Ein solcher Kontext ist die Einführung von Diskursreferenten, die für das folgende Geschehen relevant sind und daher zumeist sprachlich wiederaufgenommen werden. Für schwach grammatikalisierte indefinite Artikel, die sich auch durch weitere grammatische Eigenschaften von dem entsprechenden Einernumerale abgrenzen lassen, sind dies ebenfalls typische Verwendungskontexte, so Dryer (2013c):  





Where the numeral as indefinite article is optional in a language, its use often appears to be conditioned at least in part by the discourse prominence of the referent: when something is introduced for the first time and continues to be mentioned in the subsequent discourse, it is more likely to occur with the indefinite article on its first mention, while if something is mentioned only once in a discourse, it is more likely not to occur with the indefinite article (Givón

302

B Wort und Wortklassen

1981). The same contrast appears to be found in some languages in which the indefinite article is clearly distinct from the numeral for ‘one’ but still optional.

Der Beginn eines Grammatikalisierungsprozesses ist in der Regel dadurch gekennzeichnet, dass das fragliche Element zu einer Erhöhung des Informationsstatus führt (pragmatic enrichment, Hopper/Traugott 2003: 94). Darunter fällt einmal die Auszeichnung einer Entität als diskursprominent. Darunter fällt aber auch die Beschränkung, dass die so gekennzeichnete NP eine spezifische Lesart haben muss, die ihrerseits eine Individuen-Lesart (value-reading, vgl. Fauconnier 1985: Kap. 2) haben muss. Das im Folgenden aufgeführte Beispiel (66d) präferiert dagegen eine RollenLesart (role-reading, ebd.) und ist mit einer Individuen-Lesart nur unter der Annahme vereinbar, dass der Sprecher mehrere Chefs hat (unter denen dann ein bestimmter über gute Semantikkenntnisse verfügt). Daher erscheint (66e) auf den ersten Blick abwegig zu sein. (66) a. Popłynęła tam kiedyś jedna łódź. einmal ein Boot POL schwimm.PRT . 3SG . F dort(hin) ‚Einmal schwamm ein Boot dorthin.‘ b. Szukam jednego kelnera. Kellner.AKK solch.1SG ein.AKK ‚Ich suche einen (bestimmten) Kellner.‘ (Mendoza 2004: 314) c. Znam jedną kobietę, która na pewno ci pomoże. Frau.AKK REL kenn.1SG ein.AKK ‚Ich kenne eine (bestimmte) Frau, die dir sicher helfen wird.‘ (Swan 2002: 174) d. Mam szefa, który dobrze zna się na semantyce. gut kenn.1SG REFL auf Semantik.LOK hab.1SG Chef.AKK REL e. ?Mam jednego szefa, który dobrze zna się na semantyce. ‚Ich habe einen Chef, der sich gut in Semantik auskennt.‘ (Mendoza 2004: 316) Indefinite, durch das Einernumerale eingeleitete Nominalphrasen des Polnischen können jedoch weder nicht-spezifisch, noch generisch, noch prädikativ verwendet werden, weshalb nicht von einem indefiniten Artikel jeden im Polnischen auszugehen ist. Es stellt sich dennoch die Frage, ob diese Fälle bereits eine Grammatikalisierung des Einernumerales instanziieren oder ob es sich lediglich um eine im Rahmen der lexikalischen Bedeutung des Einernumerales mögliche Verwendungsweise handelt. Zu prüfen wäre, ob es Sprachen gibt, die keine indefiniten oder spezifischen Artikel besitzen und in denen eine numerisch neutrale Verwendung des Einernumerales zur Spezifizitätsmarkierung ausgeschlossen ist. Solche Fälle sind nicht bekannt. Auch Moravcsik (1969: 84) äußert sich diesbezüglich eher skeptisch:

B1 Wortklassen

303

Excepting […], in all languages explored the indefiniteness marker is identical or similar to the numeral “one”. For some languages, this marker is obligatory; for others grammars claim “no indefinite article”, but cardinal “one” “could sometimes be used in that function.” Basing our statement on the tenuous support of our finding no grammar which stated that “one” could not be so used, and on the commonsense principle of trying to make maximally general statements, we tentatively conclude that cardinal “one” is an optional indefiniteness marker in all languages.

Allerdings folgt daraus keine Gleichsetzung des indefiniten Artikels mit dem Einernumerale, wie es Moravcsiks weitere Ausführungen nahelegen (ebd.), und zwar auch dann nicht, wenn beide homonym sind. Die eine interessante These ist, dass für alle Sprachen gilt, dass das jeweilige Einernumerale in Kontexten auftreten kann, in denen seine numerische Bedeutung neutralisiert zu sein scheint. Eine zweite, unbestrittene Tatsache ist aber auch, dass Art und Umfang solcher Kontexte von Sprache zu Sprache variieren können. Je nachdem, ob das Wort nur spezifisch oder auch nicht-spezifisch, oder auch generisch oder auch in Prädikativkonstruktionen auftritt, lassen sich verschiedene Grammatikalisierungsgrade unterscheiden. Darauf beruht letztlich die Unterscheidung zwischen Einernumeralia und indefiniten Artikeln. Wird auf eine solche Unterscheidung verzichtet, werden semantisch und syntaktisch unterschiedliche Elemente unter die gleiche Wortart subsumiert. Indefinite Artikel, die aus dem Einernumerale hervorgegangen sind, sind sprachübergreifend auf singularische Individuativa beschränkt. Eine Ausnahme scheint das Koptische zu sein, wo der indefinite Artikel auch bei Kontinuativa stehen kann (vgl. Moravcsik 1969: 84). Für pluralische Individuativa verwendet das Koptische dagegen Suppletivformen (ebd.). Eine weitere potentielle Ausnahme sind die indefiniten Pluralartikel im Spanischen und Portugiesischen, deren Artikelstatus jedoch umstritten ist. Mit der kombinatorischen Beschränkung auf singularische Individuativa konservieren indefinite Artikel einen Rest der ursprünglichen Bedeutung des Einernumerales. Curme (1922: 60) spricht davon, dass der indefinite Artikel (im Deutschen) „individualization“ anzeige. Diese Bedeutungskomponente bezieht sich offensichtlich nicht auf die referenzsemantische, sondern auf die wortsemantische Ebene, da indefinite Artikel auch in Prädikativen auftreten, die ja ihrerseits Eigenschaften und damit keine Individuen bezeichnen. Die fragliche Bedeutungskomponente wäre daher am ehesten als Selektionsbeschränkung aufzufassen. Indefinite Artikel, die mit Kontinuativa und pluralischen Individuativa auftreten, wie die partitiven Artikel im Französischen und Italienischen, gehen diachron nicht auf das Einernumerale zurück. Sie unterscheiden sich auch formal von den übrigen indefiniten Artikeln der jeweiligen Sprachen. Analoges gilt für die rumänische Form nişte (< LAT nescio quid ‚ich weiß nicht, was‘) als pluralische (nominativische und akkusativische) Form des indefiniten Artikels. Aufgrund der engen diachronen Verwandtschaft treten in vielen Sprachen Homonymien zwischen Formen des Einernumerales und denen des indefiniten Artikels auf (Himmelmann 2001: 837). Einen Überblick über einige europäische Sprachen gibt

304

B Wort und Wortklassen

Tabelle 5, wobei nicht zwischen echten indefiniten Artikeln und schwächer grammatikalisierten Spezifizitätsmarkern unterschieden wird.  

Tab. 5: Einernumeralia und indefinite Artikel in europäischen Sprachen Numerale (adnominal)

Indefiniter Artikel

Deutsch

ein, eine

ein, eine

Englisch

one

a(n)

Niederländisch

een/één

een (’n)

Dänisch

en, et

en, et

Schwedisch

en, ett

en, et

Norwegisch (Bokmål)

én, ett

en, ei, et

Bretonisch

un, ur, ul

un, ur, ul

Französisch

un, une

un, une

Italienisch

un, uno, una

un, uno, una

Spanisch

uno, una

un, una (unos, unas)

Portugiesisch

um, uma

um, uma (uns, umas)

Baskisch

bat

bat

Rumänisch

un, o

un, o (unii, unele), nişte

Neugriechisch

énas, miá/mía, éna

énas, miá, éna

Albanisch

një

një

Ober-/Niedersorbisch

jedyn/jaden

jen/jan

Ungarisch

egy

egy

Türkisch

bir

bir

Romani

jekh

jekh/ekh/ek

Wortphonologisch sind Einernumerale und indefiniter Artikel einmal im Englischen unterschieden – hier hat sich das Numerale gegenüber dem ursprünglichen Stamm an- (vgl. auch any) zu on- verändert, während der Artikel vor konsonantisch anlautenden Formen das -n verloren hat – sowie im Niederländischen, wo der Artikel systematisch klitisiert und keinen vokalischen Anlaut aufweist. Satzphonologisch manifestieren sich auch in anderen Sprachen formale Unterschiede, da indefinite Artikel, ebenso wie ihre definiten Gegenstücke, in vielen Fällen klitisieren und dabei phonetisch reduziert werden. Analog zum Verhältnis von definitem Artikel und homonymem Demonstrativum führen die Grammatiken standardmäßig Akzentuierung als Unterscheidungsmerkmal ein. Vorsichtig formuliert lautet die Regel, dass Numeralia akzentuiert werden können, indefinite Artikel dagegen nicht. Ob Fälle wie ENG a book

B1 Wortklassen

305

[eɪ bʊk], wo der Vokal offensichtlich unter Akzent diphthongiert wird, als Ausnahmen zu betrachten sind, können wir hier offen lassen. Im Neugriechischen ist das Numerale unter Akzent auch segmental von dem (nicht-akzentuierbaren) indefiniten Artikel dadurch unterschieden, dass es bisyllabisch ist (Holton/Mackridge/Philippaki-Warburton 2012: 53). Wichtig ist aber, im Auge zu behalten, dass Numeralia nicht grundsätzlich akzentuiert sind. Offen bleibt ferner, ob die Nichtakzentuierbarkeit als kausaler Faktor der Klitisierung gesehen werden kann. Was die Abgrenzung des indefiniten Artikels vom Einernumerale angeht, so gilt analog zum Unterschied zwischen definitem Artikel und Demonstrativum, dass Numeralia auch selbstständig auftreten können (vgl. (67)). (67) DEU ENG FRA

Du hast zwei, aber ich habe nur eine. You have two, but I have got only one. Tu as deux, mais j’ai seulement une.

Im adnominalen Bereich gibt es darüber hinaus einzelsprachspezifische syntaktische Unterschiede. Dazu zählen spezielle syntaktische Konstruktionen, die auf Elemente einer der beiden Wortarten beschränkt sind. Im Englischen etwa können Zahlwörter und indefinite Artikel gleichermaßen vor Adjektivphrasen aus too + Adjektiv stehen, während die Nachstellung nur für indefinite Artikel möglich und zudem die eindeutig präferierte Variante ist (vgl. (68)). (68) a. a too big step ENG b. too big a step ‚ein zu großer Schritt‘ c. one too large passage ‚ein zu weiter Durchgang‘ d. *too large one passage Ein weiterer potentieller Unterschied ist die Wortstellung, wie das bekannte Beispiel aus dem Türkischen belegt: Indefiniter Artikel und Einernumerale sind hier homonym; tritt ein pränominales Adjektiv auf, so steht das Zahlwort vor dem Adjektiv, der Artikel dagegen zwischen Adjektiv und Substantiv (vgl. (69)). (69) a. büyük bir tarla ‚ein großes Feld‘ TÜR b. bir büyük tarla ‚ein [= 1] großes Feld‘ (vgl. Lewis 2000: 51) Kriterial für den Status als „echter“ indefiniter Artikel ist die Möglichkeit, in nichtspezifischen (vgl. (70a)), prädikativen (vgl. (70b)) oder generischen Nominalphrasen (vgl. (70c)) vorzukommen. Adnominale Einernumeralia sind von solchen Verwendungen ausgeschlossen, auch dann, wenn sie sonst in numerisch neutraler Bedeutung zur Spezifizitätsmarkierung eingesetzt werden können.

306

B Wort und Wortklassen

(70) a. I am looking for a book on math, do you have any? ENG ‚Ich suche ein Buch über Mathematik, haben sie welche?‘ b. He is a language professor. ‚Er ist Professor für Sprachen.‘ c. A dodo likes peanuts. ‚Ein Dodo mag Erdnüsse.‘ (Himmelmann 2001: 838)

B1.2.3.3 Bestimmung der Varianzparameter Ein grundlegender Varianzparameter, in Bezug auf den sich Artikelsprachen unterscheiden, besteht darin, ob eine Sprache nur über definite oder nur über indefinite oder über beide Artikeltypen verfügt. Wir setzen daher einen Varianzparameter ‚Differenziertheit von Artikelinventaren‘ an. Im globalen Sprachvergleich sind Sprachen, die nur über definite Artikel verfügen, wesentlich häufiger als Sprachen, die nur indefinite Artikel aufweisen; Definitheit wird also eher kodiert als Indefinitheit und erweist sich damit als die markierte Kategorie. (Offen ist, ob Sprachen mit definitem und indefinitem Artikel häufiger sind als Sprachen mit ausschließlich indefinitem Artikel.) Definite Nominale unterliegen stärkeren semantisch-pragmatischen Beschränkungen als indefinite, folglich kodiert der definite Artikel mehr Informationen als der indefinite. Die sprachübergreifend dominante Präferenz der morphologischen Markierung von Definitheit folgt damit dem Prinzip des konstruktionellen Ikonismus. In Sprachen, die einen definiten, aber keinen indefiniten Artikel besitzen, kann prinzipiell jede Nominalphrase nach Maßgabe ihrer morphologischen Merkmale eindeutig als definit oder indefinit interpretiert werden. Betrachtet man nur Nominalphrasen, die anderweitig nicht für (In-)Definitheit spezifiziert sind, dann gilt für solche Sprachen, dass eine Nominalphrase definit ist, wenn sie einen definiten Artikel aufweist, und indefinit, wenn sie artikellos ist. Entsprechend gilt für Sprachen, die sowohl über einen definiten als auch einen indefiniten Artikel verfügen, dass eine Nominalphrase definit ist, wenn sie einen definiten Artikel aufweist, und indefinit, wenn sie einen indefiniten Artikel hat (oder artikellos ist, s. u.). Funktional gesehen leistet also das Artikelsystem von solchen Sprachen nicht mehr als das von Sprachen mit ausschließlich definitem Artikel, ist aber offensichtlich unökonomischer. Das könnte erklären, weshalb die meisten Artikelsprachen nur über einen definiten Artikel verfügen. Was Sprachen angeht, die nur über einen indefiniten Artikel verfügen, so sind sie im Vergleich zu den beiden anderen Typen funktional defizitär: Da der indefinite Artikel in der Regel auf singularische Individuativa beschränkt ist, werden Kontinuativa sowie pluralische Individuativa im Artikelsystem solcher Sprachen nicht erfasst und sind bezüglich (In-)Definitheit systematisch ambig. Zu erwarten ist, dass Ambi 

B1 Wortklassen

307

guitäten dieser Art präferiert mithilfe von adnominalen Pronomina aufgelöst werden, einer Strategie, von der in artikellosen Sprachen generell Gebrauch gemacht wird. Dennoch bilden sich in etlichen Sprachen indefinite Artikel heraus, um in bestimmten syntaktischen Kontexten (In-)Definitheitsunterscheidungen zu markieren. Artikelsprachen unterscheiden sich darin, ob sie lexikalische (vgl. NDL huis ‚Haus‘, het huis ‚das Haus‘), klitische (vgl. BAS nere auto berri=a (DEF ) ‚mein neues Auto‘, nere auto=a ‚mein Auto‘ (DEF ), nere=a (DEF ) ‚meines‘, Saltarelli et al. 1988: 76) oder affixale Artikel (vgl. ALB líbër ‚Buch‘, líbri ‚das Buch‘) einsetzen. Auch können Artikel unterschiedlichen Typs in derselben Sprache verwendet werden. So verfügen die festlandskandinavischen Sprachen über lexikalische und suffixale Artikel, vgl. DÄN huset ‚das Haus‘, det gamle hus ‚das alte Haus‘). Affixale und klitische Artikel sind ferner danach zu unterscheiden, ob es sich um präfixale bzw. proklitische oder suffixale bzw. enklitische Formen handelt. Solche sprachübergreifenden Varianzen erfassen wir durch den Varianzparameter ,Form und Stellung des Artikels‘. In Sprachen wie Deutsch, Englisch oder Französisch kann die Definitheit oder Indefinitheit einer Nominalphrase höchstens an einer Stelle morphologisch kodiert sein, sei es durch einen (lexikalischen, klitischen oder affixalen) Artikel oder ein anderes Determinativ. Andere Sprachen machen dagegen systematisch von multipler (In-)Definitheitsexponenz Gebrauch (Varianzparameter: ,einfache vs. multiple (In-)Definitheitsexponenz‘). Multiple (In-)Definitheitsexponenz liegt nicht nur bei mehrfachem Auftreten von Artikeln vor, sondern auch bei gleichzeitiger Präsenz von Artikeln und anderen Determinativen. Ein weiterer Fall von multipler (In-)Definitheitsexponenz ist die Kombination von interner und externer (In-)Definitheitsmarkierung: So wird z. B. im Ungarischen die (In-)Definitheit eines direkten Objekts einmal durch die Kongruenzmorphologie des regierenden Verbs und einmal durch den Artikel angezeigt. Im europäischen Sprachraum findet sich multiple Definitheitsexponenz in den festlandskandinavischen Sprachen (Dänisch, Schwedisch, Norwegisch), im Ungarischen, in den Sprachen des Balkansprachbunds (Neugriechisch, Albanisch) sowie im Maltesischen, das ebenso wie die zentralen semitischen Sprachen Hebräisch und Arabisch Definitheitskongruenz zwischen Adjektiv und Substantiv zeigt. Universell betrachtet ist die gleichzeitige Präsenz von Artikeln und Demonstrativa kein seltener Fall (vgl. Dryer 2007: 161 f.). Sprachen mit mehrfacher Exponenz von Indefinitheit sind nach Himmelmann (2001: 838) nicht bekannt; nach Rijkhoff (1998: 368, Fn. 325) sind sie jedenfalls viel seltener („much rarer“) als Sprachen mit Mehrfachokkurrenz von Definitheitsmarkern in der Nominalphrase. Als Beispiel nennt Rijkhoff (1998: 324) das Jiddische (a sheyn meydl ‚ein schönes Mädchen‘ vs. a meydl a sheyne ‚ein Mädchen, ein schönes‘, vgl. Jacobs/Prince/van der Auwera 1994: 408), ein weiterer Kandidat ist das Persische. Artikel können in unterschiedlichem Maße zur Kodierung der nominalen Kategorisierungen Kasus, Numerus und Genus beitragen. Im Ungarischen und Englischen, zwei Sprachen mit Kasus und Numerus, aber ohne Genus, flektieren die Artikel über 

308

B Wort und Wortklassen

haupt nicht. Im Deutschen dagegen flektieren sie nach allen drei Kategorisierungen. Da Substantive nicht nach Genus flektieren, kommt den Artikeln in Genussprachen typischerweise die Funktion zu, das Genus flexivisch zu markieren, daher die traditionelle Bezeichnung ‚Geschlechtswort‘. Problematisch ist „[d]ieser alberne Terminus“ (Wackernagel 1924: 126) insofern, als er die primäre Funktion von Artikeln verdeckt und bereits in einer „Nachbarsprache“ wie dem Englischen völlig unmotiviert ist (vgl. hierzu Wackernagel ebd.).

Im Deutschen kodieren Artikel wie Substantive den Kasus und Numerus der Nominalphrase. Anders im Französischen. Abgesehen von den auf -al (Plural: -aux) endenden Substantiven wird der Plural am Substantiv phonologisch nicht markiert, wohingegen der Numerus beim Artikel unterschieden ist, und zwar beim definiten (le/la vs. les) ebenso wie beim indefiniten (un/une vs. des). Derartige Unterschiede in der Kodierungsleistung von Artikeln wären unter einem Varianzparameter ‚Kodierung von Kasus, Numerus und Genus‘ zu erfassen. Variationen dieser Art sind jedoch Gegenstand ausführlicher Diskussionen in → C, so dass sie in diesem Kapitel allenfalls am Rande, jedenfalls nicht in einem eigenständigen Abschnitt, thematisiert werden. Das Auftreten von definiten oder indefiniten Artikeln kann unter bestimmten syntaktischen Bedingungen blockiert sein, die von Sprache zu Sprache variieren oder gänzlich fehlen können. Ein relevanter Varianzparameter ist daher die Blockierung oder Optionalität von Artikeln in speziellen syntaktisch-semantischen Kontexten. Die Setzung oder Auslassung eines definiten oder indefiniten Artikels interagiert mit der Generizität der Konstruktion, in dem der Artikel erscheint. Artikelsprachen, die über definite und indefinite Artikel verfügen, unterscheiden sich darin, in welchen Formen von Generizität und unter welchen spezielleren semantischen oder informationsstrukturellen Bedingungen definite oder indefinite Artikel zugelassen oder ausgeschlossen sind. Ein weiterer Varianzparameter ist die Numerusmarkierung in generischen Konstruktionen. Wir behandeln diesen Parameter, der auch in NichtArtikelsprachen zum Tragen kommt, zusammen mit dem der Artikelsetzung (Varianzparameter: ‚Artikelsetzung (und Numerusmarkierung) in generischen Konstruktionen‘). Die im Folgenden zu diskutierenden Varianzparameter sind hier noch einmal zur Übersicht zusammengefasst:  

1. 2. 3. 4. 5.

Differenziertheit von Artikelinventaren Form und Stellung des Artikels Einfache vs. multiple (In-)Definitheitsexponenz Blockierung oder Optionalität von Artikeln Artikelsetzung (und Numerusmarkierung) in generischen Konstruktionen

309

B1 Wortklassen

B1.2.3.4 Differenziertheit von Artikelinventaren Einen Überblick über die Ausdifferenzierung des Artikelinventars in den europäischen Sprachen gibt Tabelle 6. Im Folgenden beschränken wir uns allerdings weitgehend auf die in diesem Handbuch behandelten Vergleichssprachen.  

Tab. 6: Inventare von Artikelformen in den europäischen Sprachen DEF SG

DEF PL

INDEF SG

INDEF PL

PART

I

Französisch, Italienisch

+

+

+

+

+

II

Spanisch, Portugiesisch, Rumänisch

+

+

+

(+)



IIIa

Englisch

+

+

+

(+)

(+)

IIIb

Deutsch, Niederländisch, Schwedisch, Dänisch, Norwegisch, Färöisch, Albanisch, Griechisch, Ungarisch

+

+

+





IV

Altgriechisch, Isländisch, Bulgarisch, Mazedonisch, Baskisch, Maltesisch, keltische Sprachen

+

+







V

Türkisch





+

–/(+)



VI

Russisch, Polnisch, Tschechisch, Ukrainisch, Serbokroatisch, Latein











Unter den Vergleichssprachen verfügt das Polnische wie die meisten slawischen Sprachen über keine Artikel. Das Ungarische weist einen definiten (a, vor Vokalen az) und einen indefiniten Artikel (egy) auf, der wie im Deutschen und Englischen nur mit singularischen Individuativa kombiniert. (71) a. az ember ‚der Mann‘ UNG b. egy ember ‚ein Mann‘ Im Vergleich zum Deutschen oder Englischen ist der indefinite Artikel im Ungarischen schwächer grammatikalisiert, d. h., er kann in Umgebungen weggelassen werden, in denen er in Sprachen wie Deutsch oder Englisch obligatorisch wäre (→ B.1.2.3.6). Die entsprechenden definiten und indefiniten Artikel im Deutschen und Englischen sind in (72)–(73) angegeben.  



(72) a. Der Mann schläft. DEU b. Die Männer schlafen. c. Ein Mann schläft. d. Schrauben sind in der Schachtel. e. Schlagsahne steht auf dem Tisch.

310

B Wort und Wortklassen

(73) a. The man ist sleeping. ENG b. The men are sleeping. c. A man is sleeping. d. Screws are in the box. e. Cream is on the table. Für das Englische wird gelegentlich behauptet, dass die unbetonte Form von some ([sm̩ ]) als indefiniter Plural- und Kontinuativartikel, also als eine Art partitiver Artikel analog zum Französischen (→ D1.2.1.1.1, s. u.) und Italienischen (vgl. etwa Renzi/Salvi/Cardinaletti 2001: 371–437) zu klassifizieren ist, vgl. (74). Als Artikel wäre some aber wesentlich schwächer grammatikalisiert als der englische Individuativartikel a (vgl. (75)) oder der französische indefinite Plural- und Kontinuativartikel du/de la/de(s). Zum einen existiert keine syntaktische Umgebung und kein semantischer Kontext, in dem some obligatorisch wäre, d. h., ein Satz ohne some lässt stets die gleiche Interpretation zu, die er mit some hätte (vgl. (74), → D2.1.2). Auch kann some nicht in generischen Prädikationen (vgl. (78a), Huddleston/Pullum 2002: 384) oder prädikativen Nominalen (vgl. (76b)) auftreten, zwei Verwendungen, die etwa die französischen Pluralartikel haben (vgl. (77) und (79)).  







‚Individuativartikel‘ nennen wir indefinite Artikel, die sich mit singularischen Individuativa, ‚Kontinuativartikel‘ solche, die sich mit Kontinuativa und Pluralartikel solche, die sich mit ‚Pluralartikeln‘ verbinden. Kontinuativ- und Pluralartikel werden auch als partitiver Artikel zusammengefasst, → D1.2.1.1.1.  

(74) a. I have bought (some) milk. ENG ‚Ich habe (etwas) Milch gekauft.‘ b. I have bought (some) books. ‚Ich habe (ein paar) Bücher gekauft.‘ (75) ENG

I have bought *(a) bottle of milk. ‚Ich habe eine Flasche Milch gekauft.‘

(76) a. A bird has (#some) feathers. ENG ‚Ein Vogel hat (#einige) Federn.‘ b. John and Mary are (*some) brothers and sisters. ‚John und Mary sind (*einige) Geschwister.‘ (77) FRA

L’oiseau a des plumes. ‚Ein Vogel hat Federn.‘

Im Französischen ist schließlich das Artikelsystem am stärksten ausdifferenziert, da auch indefinite Plurale und Kontinuativa in den zentralen syntaktischen Funktionen

B1 Wortklassen

311

durch einen indefiniten Artikel gekennzeichnet werden müssen (sofern kein anderes Determinativ gesetzt ist). (78) a. La femme dorme. FRA ‚Die Frau schläft.‘ b. Les femmes dorment. ‚Die Frauen schlafen.‘ c. Une femme dorme. ‚Eine Frau schläft.‘ d. J’ai acheté du lait. ‚Ich habe Milch gekauft.‘ e. J’ai acheté des livres. ‚Ich habe Bücher gekauft.‘ Der Plural- und Kontinuativartikel (kurz: der partitive Artikel) des Französischen lässt sich als die grammatikalisierte (und reanalysierte) Form einer Folge aus der Präposition de ‚von‘ und dem definiten Artikel in einer partitiven Struktur auffassen, und zwar nach dem folgenden Muster: DEU a. b. FRA a. b.

Ich habe [PP von der Milch] getrunken. → Ich habe [NP die Milch] getrunken. Ich habe [PP von den Äpfeln] gegessen. → Ich habe [NP die Äpfel] gegessen. J’ai bu [PP[D E F . M ] du lait]. → J’ai bu [NP[I N D E F . M ] du lait]. J’ai mangé [PP[D E F . P L ] des pommes]. → J’ai mangé [NP[I N D E F . P L ] des pommes].

Die Formen des Französischen du, de la und des sind ambig. Es kann sich einmal um Verschmelzungen (bzw. Verbindungen) aus Präposition (de) und definitem Artikel (le, la, les) und einmal um partitive Artikel handeln. Der Vergleich mit den deutschen Äquivalenten zeigt einerseits eine Gemeinsamkeit zwischen den jeweiligen partitiven PP-Objekten und den NP-Objekten und andererseits einen Unterschied. Die Gemeinsamkeit betrifft den Umstand, dass eine bestimmte Klasse von Verben als Objekte alternativ PPs oder – im Deutschen akkusativische – NPs regiert, wobei die semantische Kombination aus Prädikatsverb und PP eine partitive Interpretation haben muss. Es ist anzunehmen, dass diesem übereinzelsprachlichen Muster ein konzeptueller Zusammenhang zugrunde liegt, der zumindest als eine der Grundlagen für die Herausbildung des partitiven Artikels im Französischen gelten kann. Der Unterschied wiederum betrifft die Rolle und Präsenz des definiten Artikels. Die Objekt-NPs des Französischen sind indefinit, der ursprünglich definite Artikel ist als segmentaler Bestandteil des nunmehr partitiven Artikels reanalysiert. Dass die partitiven Artikel des Französischen auf Strukturen zurückgehen, die einen definiten Artikel beinhalteten, lässt sich damit erklären, wenn man die in den Ausgangsstrukturen involvierten NPs als generisch betrachtet, jedenfalls in dem Sinne als generisch, dass die Art des jeweiligen Gegenstands im Vordergrund steht. J’ai bu du lait, J’ai mangé des pommes

312

B Wort und Wortklassen

hieße demnach, dass der Sprecher etwas von der Art ‚Milch‘ bzw. von der Art ‚Apfel‘ gegessen hat. Zu beachten ist, dass im Französischen – anders als im Deutschen – generische NPs mit kontinuativischem oder pluralischem Kopfsubstantiv stets mit definitem Artikel konstruiert werden (→ B1.2.3.8). Wir belassen es bei dieser spekulativen Skizze. Wichtig ist festzuhalten, dass sich durch partitive Artikel eingeleitete NPs synchron nicht mehr so analysieren lassen, dass sie eine generische NP involvieren. Für das Französische ist insbesondere zu beachten, dass indefinite Pluralartikel auch in Prädikativkonstruktionen auftreten können, einem Kontext, in dem singularische indefinite Artikel ansonsten unter bestimmten Umständen suspendiert werden können (vgl. (79)). Eine analoge Verwendung liegt mit dem suppletiven Pluralartikel des Rumänischen vor (vgl. (80)). (79) FRA

Charles et Louis sont des voyous. ‚Charles und Louis sind Gauner.‘

(80) RUM

Ei sunt nişte americani adevăraţi. Amerikaner.PL echt.PL 3PL sind INDEF . PL ‚Sie sind echte Amerikaner.‘ (Cojocaru 2003: 118)

Pluralische Formen indefiniter Artikel finden sich darüber hinaus noch im Spanischen, Portugiesischen und Altfranzösischen. Anders als im (Neu-)Französischen und Italienischen haben diese Formen keinen partitiven Ursprung, sondern sind morphologisch reguläre Pluralbildungen des jeweiligen indefiniten Artikels bzw. des Einernumerales. Zu beachten ist, dass sich solche Pluralformen des Einernumerales auch in Sprachen finden, die über keinen indefiniten Artikel verfügen, und dass sie dort in einem Kontext zur Anwendung kommen, der auch einer der typischen Kontexte für die indefiniten Pluralartikel der Artikelsprachen ist, nämlich in Verbindung mit Pluraliatantum oder Appellativa, die typischerweise paarweise auftretende Gegenstände bezeichnen. Zwei Beispiele aus Nicht-Artikelsprachen, dem Lateinischen und Polnischen, finden sich in (81) und (82). Beispiel (83) stammt aus dem Isländischen, einer Sprache, die zwar über definite, anders als das Färöische (vgl. (84)) aber nicht über indefinite Artikel verfügt. (81) LAT

unae litterae ‚ein Brief‘ (im Unterschied zu LAT una littera ‚ein Buchstabe des Alphabets‘, McClean 1953: 34)

(82) a. jedne drzwi ‚eine Tür‘ POL b. jedne sanie ‚ein Schlitten‘ (Swan 2002: 174)

B1 Wortklassen

(83) ISL

a. b. c. d.

313

ein gleraugu ‚eine Brille‘ einir sokkar ‚ein Paar Strümpfe‘ einir skór ‚ein Paar Schuhe‘ einir vettlingar ‚ein Paar Handschuhe‘ (McClean 1953: 34)

(84) a. einar hosur ‚ein Paar Strümpfe‘ FÄR b. einar buksur ‚ein Paar Hosen‘ c. einar gardinur ‚ein Paar Gardinen‘ (McClean 1953: 34) Auch die regulär gebildeten Pluralformen der indefiniten Artikel im Portugiesischen (vgl. (85)), Spanischen (vgl. (86)) und Altfranzösischen (vgl. (87)) sind größtenteils beschränkt auf Verbindungen mit Substantiven der o. g. Typen.  

(85) a. Tinha uns olhos escuros. ‚Sie hat dunkle Augen.‘ POR b. umas calças pretas ‚ein Paar schwarze Hosen‘ (E. Gärtner 1998: 168) (86) a. unas tijeras ‚eine Schere‘ SPA b. unas pinzas ‚eine Kneifzange‘ c. unas tenezas ‚eine Zange‘ (McClean 1953: 34) (87) a. unes grosses levres ‚ein Paar dicke Lippen‘ AFR b. uns grans dens ‚[ein Mund mit] großen Zähnen‘ (Posner 1997: 385) Dass Pluralformen von Einernumeralia in Nicht-Artikelsprachen analogen Verwendungsbedingungen unterliegen wie die regulär gebildeten indefiniten Pluralartikel in Artikelsprachen, zeigt offenbar, dass die Herausbildung solcher Pluralartikel ihren Ursprung nicht in den grammatikalisierten, singularischen Artikelformen, sondern vielmehr in den nicht-grammatikalisierten Pluralformen von Einernumeralia hat. Die Grammatikalisierung von Pluralartikeln wie denen des Spanischen und Portugiesischen erfolgt also nicht so, dass sich singularische indefinite Artikel auf den Bereich der Vielheiten ausdehnen, sondern dass der Anwendungsbereich von Einernumeralia über Fälle wie Pluraliatantum und Ausdrücken für paarig auftretende Gegenstände hinaus erweitert und/oder gerade für diese Fälle zunehmend obligatorisch wird.

Als ein weiterer Fall ist schließlich das Rumänische zu nennen. Die reguläre GenitivPlural-Form des indefiniten Artikels kommt hier aus rein syntaktischen Gründen zum Einsatz, da der Genitiv anderweitig nicht markiert werden kann (vgl. (88)).

314

B Wort und Wortklassen

(88) a. copiii unor INDEF .PL .GEN RUM Kind.PL .DEF ‚die Kinder reicher Eltern‘ b. *copiii oameni bogaţi

oameni Mensch.PL

bogaţi reich.PL

B1.2.3.5 Form und Stellung des Artikels Der Begriff des Klitikons ist ein Sammelbegriff für eine Reihe heterogener Phänomene, deren gemeinsamer Nenner darin besteht, dass die betreffenden Elemente weder eindeutig als Affixe, noch eindeutig als Wortformen eingeordnet werden können (vgl. Halpern 1998; Nevis 2000: 388). Als Klitika gelten zum einen prosodisch schwache (unbetonte) Formen, die keine Affixe sind und die in unmittelbar benachbarte Wortformen prosodisch integriert werden (Halpern 1998: 101). Klitisierung in diesem Sinn ist ein satzphonologisches Phänomen; insbesondere braucht sich die Distribution solcher einfachen Klitika (simple clitics, Zwicky 1977) syntaktisch (distributionell) nicht von ihren nicht-klitischen Gegenstücken zu unterscheiden. Einfache Klitika im Bereich der Artikel sind etwa die definiten Artikel im Französischen und Italienischen vor vokalisch anlautendem Substantiv oder Adjektiv: ITA il giorno ‚der Tag‘ vs. l’undecimo giorno ‚der elfte Tag‘; FRA le jour ‚der Tag‘ vs. l’onzième jour ‚der elfte Tag‘. Da Artikel in der gesprochenen Sprache oft in phonetisch mehr oder weniger stark reduzierter Form realisiert werden, ist ihre Klitisierung in der gesprochenen Sprache ein ubiquitäres Phänomen. Einen weiteren Typ von Klitika bilden Formen, die wie einfache Klitika phonologisch gebunden sind, aber z. T. insofern Eigenschaften von Affixen aufweisen, als sie mit ihrer Basis morphophonologisch interagieren. Anders als bei typischer Affigierung ist die Realisierung solcher speziellen Klitika (special clitics, Zwicky 1977) in einer syntaktischen Domäne mehr oder weniger positional fixiert, während ihre Basis kategorial variieren kann. So tritt z. B. der definite Artikel im Baskischen immer an der letzten Wortform der Nominalphrase auf, unabhängig davon, ob es sich um ein Adjektiv (BAS nere auto berri=a ‚mein neues Auto‘), Substantiv (BAS nere auto=a ‚mein Auto‘) oder ein Pronomen handelt (BAS nere=a ‚meines‘). Spezielle Klitika dieser Art werfen Abgrenzungsprobleme gegenüber Affixen auf, was sich u. a. in Begriffsbildungen wie phrasal affixes zeigt. Um einer sachlichen Entscheidung nicht bereits terminologisch vorgreifen zu müssen, bezeichnen wir affixale und klitische Artikel (der genannten Art) zusammenfassend als gebundene Artikel. Im europäischen Sprachraum finden sich solche gebundenen Artikel in nordgermanischen Sprachen (Isländisch, Färöisch, Norwegisch, Schwedisch, Dänisch), in einigen Sprachen des Balkansprachbunds (Albanisch, Rumänisch, Bulgarisch, Mazedonisch) sowie im Baskischen.  





Falls nicht anders angegeben ist mit Norwegisch sowohl Bokmål als auch Nynorsk gemeint.

B1 Wortklassen

315

Die Artikel sind in diesen Sprachen suffixal bzw. enklitisch und kennzeichnen das Nominal als definit. Für die skandinavischen Sprachen ist ihre Einordnung als Suffixe im Allgemeinen unkontrovers. Für die Balkansprachen ist ihre Analyse als Suffixe bzw. Enklitika dagegen umstritten, da sie Eigenschaften aufweisen, die für beide Kategorien sprechen. Eindeutig enklitisch scheint am ehesten der Artikel im Baskischen zu sein, dessen semantisch-pragmatisches Funktionsspektrum jedoch nicht mit dem typischer definiter Artikel kongruiert. Nur im Maltesischen treten die aus anderen semitischen Sprachen (Hebräisch, Arabisch) bekannten präfixalen Artikel auf, die sich nach Himmelmann (2001: 836) auch in den Berbersprachen finden. Abgesehen von den phonologisch klitisierenden Artikeln einiger romanischer und keltischer Sprachen sowie des Neugriechischen gibt es proklitische definite Artikel in keiner europäischen Sprache. Ebenso wenig kommen in den europäischen Sprachen gebundene indefinite Artikel vor; diese sind auch im globalen Sprachvergleich nur vereinzelt belegt. Enklitisch scheint der spezifische Artikel -ī im Persischen zu sein, der alternativ an Adjektiven und Substantiven auftritt (vgl. Lyons 1999: 90; in den Grammatiken des Persischen wird dieser Marker als Suffix bezeichnet, vgl. Boyle 1966: 16 f.; Mahootian 1997: 203). Ebenfalls enklitischen Charakter hat der mit Substantiven oder Numeralia kombinierende indefinite Artikel im Singhalesischen (vgl. Masica 1991: 248, 250, 372). Sprachen mit proklitischen oder präfixalen indefiniten Artikeln sind uns aus der sprachvergleichenden Literatur nicht bekannt. In allen Vergleichssprachen, die Artikelsprachen sind, sind die Artikel lexikalische Wörter, die pränominal positioniert sind und die Nominalphrase nach links abschließen. Das Dänische und Schwedische (sowie das Norwegische) verfügen dagegen sowohl über lexikalische als auch affixale (suffixale) Artikel, wobei letztere ausschließlich Definitheitsmarker sind. Der lexikalische Artikel wird dann gesetzt, wenn der substantivische Kopf durch ein adjektivisches Attribut erweitert ist, er kombiniert also immer mit einem Ausdruck der Kategorie NOM. Der affixale Artikel steht dann, wenn der substantivische Kopf nicht attributiv ausgebaut ist und allein die Nominalphrase realisiert. Dänisch und Schwedisch unterscheiden sich darin, dass der affixale Artikel im Dänischen bei Setzung des lexikalischen Artikels wegfällt (vgl. (89)), im Schwedischen jedoch erhalten bleibt (vgl. (90)). Im Schwedischen haben wir es somit schon bei einfachen, attributiv ausgebauten Nominalphrasen mit einem Fall von doppelter Definitheitsmarkierung zu tun.  

(89) a. manden er høj ‚der Mann ist groß‘ DÄN a.’ den høje mand ‚der große Mann‘ b. børnene er søde ‚die Kinder sind lieb‘ b.’ de søde børn ‚die lieben Kinder‘ (Braunmüller 1999: 114)

316

B Wort und Wortklassen

(90) a. hus-et SWE Haus-DEF ‚das Haus‘ b. det röda hus-et DEF rot Haus-DEF ‚das rote Haus‘ In beiden Sprachen ist aber die Kombination des lexikalischen Artikels mit einem nicht-attributiv erweiterten Substantiv ausgeschlossen, wenn dieses den affixalen Artikel trägt, vgl. SWE *det huset. Allerdings sind die Artikelformen im Schwedischen homonym mit den jeweiligen Demonstrativdeterminativen, so dass SWE det huset grammatisch ist, wenn man das Determinativ als Demonstrativum liest.

B1.2.3.6 Einfache und multiple Definitheitsexponenz Dieser Varianzparameter betrifft vor allem Definitheitsmarker. Multiple Markierung von Indefinitheit ist beschränkt (→ B1.2.3.3). Im Bereich der multiplen Definitheitsexponenz sind unterschiedliche formale Ausprägungen zu unterscheiden. Wir trennen hier die folgenden zwei Fälle und beschränken die Diskussion in diesem Abschnitt auf den zweiten Fall. Das Unterscheidungskriterium bildet die formale Manifestation des Definitheitsmarkers, d. h. die Frage, ob der definite Artikel affixal oder lexikalisch realisiert wird. Den ersten Fall bilden damit Strukturen, in denen in einer Nominalphrase ein lexikalischer definiter Artikel zusammen mit einem weiteren lexikalischen Artikel, einem Demonstrativum oder einem Possessivum auftreten kann. Die ersten beiden Strukturtypen werden in → D1.2.1.1.2 behandelt, weil hier vor allem die Frage des syntaktischen Aufbaus der Gesamtphrase im Vordergrund steht. Der dritte Strukturtyp wiederum ist Gegenstand eines eigenen Abschnitts bei der Erörterung der Possessivpronomina (→ B1.5.4.8), weil die Frage, ob und unter welchen Umständen adnominale Possessiva überhaupt als definitheitsinduzierend betrachtet werden können, einen relevanten Varianzparameter für die lexikalische Klasse der Possessivpronomina darstellt. Aus diesem Grund beschränken wir uns in diesem Abschnitt auf Strukturtypen, in denen ein gebundener definiter Artikel mit einem weiteren Definitheitsmarker in einer Nominalphrase kookkurriert. Dieser Typ von doppelter Definitheitsmarkierung findet sich in den festlandskandinavischen Sprachen Schwedisch und Norwegisch. Beide Sprachen verfügen über einen affixalen und lexikalischen (definiten) Artikel. Zunächst ist festzuhalten, dass das Dänische keine doppelte Definitheitsmarkierung aufweist. Lexikalischer und affixaler Artikel sind hier komplementär verteilt. Der lexikalische Artikel tritt dann auf – und ersetzt den affixalen Artikel –, wenn das Kopfsubstantiv durch ein adjektivisches Attribut erweitert ist (und wird daher bisweilen auch ‚Adjektivartikel‘ genannt).  









B1 Wortklassen

(91) NOR

317

denne

feite grisen fett Schwein.DEF ‚dieses fette Schwein‘ DEM

(Svenonius 1993: 204) (92) a. hus-et (Haus-DEF ) ‚das Haus‘ DÄN b. det gamle hus (DEF alt Haus) ‚das alte Haus‘ c. *det gamle huset (DEF alt Haus.DEF ) (Santelmann 1993: 159) Im Schwedischen (und Norwegischen) bleibt der affixale Artikel bei Ausbau durch ein Adjektiv erhalten (vgl. (93)). (93) a. hus-et (Haus-DEF ) ‚das Haus‘ SWE b. det röda hus-et (DEF rot Haus-DEF ) ‚das rote Haus‘ c. *det röda hus (DEF rot Haus) d. det hus-et (DEM Haus-DEF ) ‚DAS Haus‘ (nur demonstrative Lesart) (vgl. Braunmüller 1999: 52 f.)  

Der lexikalische Artikel steht allerdings nicht, wenn das Kopfsubstantiv nicht pränominal, sondern nur postnominal attributiv erweitert wird, etwa durch PP-Attribute oder restriktive Relativsätze (vgl. (94)). (94) a. bild-en av min mor SWE Bild-DEF von mein Mutter ‚das Bild von meiner Mutter‘ b. roman-en om vikingarna Wikinger.PL .DEF Roman-DEF über ‚der Roman über die Wikinger‘ (Santelmann 1993: 158)

B1.2.3.7 Blockierung oder Optionalität von (In-)Definitheitsmarkern Dieser Varianzparameter betrifft vor allem indefinite Artikel. Was die definiten Artikel angeht, so sind diese in vielen Sprachen optional oder blockiert, wenn das Kopfsubstantiv ein Eigenname ist, der nicht attributiv ausgebaut ist (hierzu → B1.4.3). Weitere syntaktische Kontexte sind Koordinationsstrukturen (hierzu → D1.2.1.3) sowie die Einbettung in Adpositionalphrasen, wobei die Weglassung des definiten Artikels oder dessen Verschmelzung mit der Präposition u. U. auch semantisch-pragmatisch motiviert ist. Die Auslassung von Artikeln spielt zudem für die funktional-semantische Subklassifikation von PP-Attributen eine Rolle, da in klassifikatorischen PP-Attribu 





318

B Wort und Wortklassen

ten (vor allem bei den possessiven Attributen in den romanischen Sprachen) der Binnenartikel oft blockiert ist (→ D1.2.1.3, → D3.11.2.2.1). Was die indefiniten Artikel angeht, so gibt der Möglichkeitsspielraum für die Setzung oder Nicht-Setzung eines indefiniten Artikels in bestimmten syntaktischsemantischen Kontexten Aufschluss über dessen Grammatikalisierungsgrad. Darüber hinaus lassen sich dadurch Abgrenzungskriterien zu Einernumeralia finden, deren semantisch-pragmatische Verwendungsmöglichkeiten sich mit denen indefiniter Artikel überschneiden, denen aber kein eigenständiger Status als Wortart zugeschrieben werden kann. Relevant sind in diesem Zusammenhang die folgenden Kontexte:  

– – – –



Subjekt- und Objektfunktion Prädikative Negationskontexte (und andere Irrealis-Kontexte) generische Sätze

Aufgrund der Auftretensmöglichkeit (potentieller) indefiniter Artikel in den genannten grammatischen Kontexten lassen sich mit Blick auf den Grammatikalisierungsgrad des indefiniten Artikels drei Gruppen unterscheiden, in denen sich die Vergleichssprachen wie in Tabelle 7 einordnen lassen. Wir ziehen im Folgenden das Griechische zusätzlich heran, da es wie das Ungarische über einen nur schwach grammatikalisierten indefiniten Artikel verfügt. Gruppe 1 und Gruppe 2 unterscheiden sich darin, dass der indefinite Artikel in Sprachen der Gruppe 1 in den meisten relevanten syntaktischen Kontexten obligatorisch ist. In den Sprachen der Gruppe 2 ist der indefinite Artikel dagegen in weniger Kontexten obligatorisch, in einigen sogar ausgeschlossen. Sprachen der Gruppe 3 schließlich verfügen nicht über einen grammatikalisierten indefiniten Artikel, sondern lediglich über ein Einernumerale, das in bestimmten semantisch definierbaren Kontexten wie ein indefiniter Artikel verwendet werden kann. Relevant ist die Unterscheidung zwischen den Gruppen 1 und 2. In vielen Arbeiten (z. B. Heine 1997b) wird zwischen diesen nicht differenziert, da als ausschlaggebendes Kriterium die Verwendbarkeit des indefiniten Artikels in nichtspezifischen Kontexten angesehen wird. Durch eine Berücksichtigung weiterer syntaktisch-semantischer Kontexte lässt sich aber eine feinkörnigere Differenzierung erreichen, die die Gruppen 1 und 2 auseinanderhält.  









B1 Wortklassen

319

Tab. 7: Vergleichssprachen, sortiert nach dem Grammatikalisierungsgrad des indefiniten Artikels/ Einernumerales Gruppe 1

Gruppe 2

Gruppe 3

Deutsch Englisch Französisch

Ungarisch Griechisch

Polnisch

indefiniter Artikel

Einernumerale

Für die folgende Darstellung ist zu beachten, dass die relevanten syntaktischen oder semantischen Kontexteigenschaften möglichst isoliert betrachtet werden, um Interferenzen auszuschließen. Sofern bei der Untersuchung einer einzelnen Eigenschaft auch andere der genannten Eigenschaften auftreten, sollten letztere für die zur Debatte stehende Frage irrelevant sein. Generische Verwendungen behandeln wir in → B1.2.3.8 als separaten Varianzparameter und klammern sie in diesem Abschnitt ebenfalls aus.  

B1.2.3.7.1 Subjekt- und Objektfunktion Indefinite Artikel sind bei singularischen Individuativ-NPs in den zentralen syntaktischen Funktionen des Subjekts und Objekts im Deutschen, Englischen und Französischen obligatorisch. Zu einigen systematischen Ausnahmen → D1.2.1.3. Im Ungarischen ist der indefinite Artikel eindeutig schwächer grammatikalisiert und kann auch in zentralen syntaktischen Funktionen optionalisiert oder sogar blockiert sein, in denen er in den anderen Artikelsprachen obligatorisch wäre. Die hierfür relevanten Bedingungen sind komplex und noch vielfach unverstanden. Wir orientieren uns im Folgenden an den Darstellungen in Gunkel/Molnár (2009) sowie vor allem Molnár (2014), auf die wir auch für weitere Details verweisen. Weiter beschränken wir uns hier auf den präverbalen Bereich, zum postverbalen vgl. Molnár (ebd.). Die wesentliche Generalisierung lautet hier, dass der indefinite Artikel in der Topikposition obligatorisch, in der Fokusposition dagegen optional ist.  

(95) UNG

(96) UNG

*(Egy) autó a házunk előtt állt. Auto DEF Haus.1PL vor steh.PRT . 3SG ‚Ein Auto stand vor unserem Haus.‘ (Gunkel/Molnár 2009: 856) INDEF

[(Egy)] könyvet kezdtem lapozgatni, eldobtam. INDEF Buch.AKK beginn.PRT . 1SG blätter.INF beiseitewerf.PRT . 1SG ‚Ich […] begann in einem Buch zu blättern, warf es beiseite.‘ (ebd.)

Ein weiterer Fall sind Strukturen wie in (97). Hier steht das NP-Objekt zwar im Singular, fungiert aber semantisch „transnumeral“, indem es potentiell nicht nur für

320

B Wort und Wortklassen

Einzeldinge, sondern auch für Vielheiten stehen kann. Solche Strukturen haben Ähnlichkeiten mit „Objektinkorporationen“, wie wir sie etwa im Deutschen in Beispielen wie (98) finden. (97)

(98)

almát eszik. a. Kati ess.3SG Kati Apfel.AKK ,Kati isst einen Apfel/Äpfel.‘ bélyeget gyűjt. b. Kati sammel.3SG Kati Briefmarke.AKK ,Kati sammelt Briefmarken.‘ (Behrens 1995: 90) Ich möchte in Ruhe Zeitung lesen.

B1.2.3.7.2 Prädikative Nominalphrasen, die als Prädikative fungieren, sind nicht-referentiell. Artikel sind Ausdrucksmittel der funktionalen Domäne der Identifikation. Identifizierbarkeit – im hier intendierten Sinn – setzt Referentialität voraus, d. h., Identifizierbarkeit betrifft stets Entitäten, auf die referiert werden kann. Für Prädikative kann die Kennzeichnung (eines bestimmten Grades) von Identifizierbarkeit daher keine Rolle spielen. Das schließt aber nicht aus, dass Artikel in Prädikativen semantische Effekte annehmen können, die in einem weiteren Zusammenhang mit ihrer prototypischen Funktion stehen. Der Bereich der Prädikative ist weder formal noch semantisch einheitlich. So sind für das Deutsche zumindest die kanonischen Prädikative in Kopulakonstruktionen von wie- und als-Prädikativen zu unterscheiden.  

(99)

a. Er ist ein Affe. b. Er sieht aus wie ein Affe. c. Als Affe gehört er zu den Attraktionen im Zoo.

Wir beschränken und im Folgenden auf die kanonischen Prädikative in Kopulakonstruktionen. Zunächst sind im Anschluss an die Literatur zwei Fälle von substantivischen Prädikativen zu unterscheiden, klassifizierende und beschreibende (vgl. u. a. Witwicka-Iwanowska 2012: 63–77). Im ersten Fall benennt das Prädikativ einen „sozialen Status“ oder eine „soziale Rolle“ im weitesten Sinn. Dabei handelt es sich vor allem um Bezeichnungen für Berufe, Nationalitäten, Religionsgemeinschaften, politische Parteien und andere „etablierte“ soziale Gruppen. Die Bezeichnungen sind in der Regel nicht attributiv ausgebaut. Zulässig sind lediglich Attribute, die als Teil der Benennung fungieren. Der zweite Fall umfasst alle substantivischen Prädikative, die keine Statusbezeichnungen sind, egal ob sie einfach oder attributiv ausgebaut sind, sowie Statusbezeichnungen, die durch Attribute ausgebaut sind, die aber ihrerseits kein Teil der Benennung sind.  

321

B1 Wortklassen

Für viele (europäische) Artikelsprachen ist diese Unterscheidung signifikant mit Blick auf die Setzung oder Nicht-Setzung des indefiniten Artikels. Dabei gilt die Beschränkung, dass der indefinite Artikel bei beschreibenden, nicht aber bei klassifizierenden Prädikativen gesetzt wird. Das gilt a fortiori für Sprachen, bei denen der indefinite Artikel bei Prädikativen ohnehin optional ist. Eine Verletzung dieser Beschränkung führt entweder zu einer anderen Lesart oder schlicht zu Ungrammatikalität. Allerdings ist die Auswahl der zulässigen Lesarten weitgehend systematisch gesteuert: (i) Wird bei einer Nicht-Statusbezeichnung der Artikel weggelassen, wird eine Lesart als Statusbezeichnung erzwungen. (ii) Wird bei einer Statusbezeichnung der Artikel gesetzt, wird die mit dem Status stereotyp assoziierte Charakteristik als Eigenschaftskomplex über den Subjektreferenten prädiziert. Die Unterscheidung zwischen einer klassifizierenden und einer beschreibenden Funktion ist durch die Belebtheitshierarchie beschränkt. Klassifizierend kann ein Prädikativ nur fungieren, wenn das Subjekt eine Person bezeichnet (vgl. (100)).  

(100) a. Fido ist Blindenhund. (Personifizierung, vgl. Matushansky/Spector 2005: 243) b. Fido ist ein Blindenhund. Werden Statusbezeichnungen durch qualitative Attribute (oder auch restriktive Relativsätze) erweitert, muss der indefinite Artikel gesetzt werden (vgl. (101)). Für klassifikatorische Attribute gilt dies nicht, wenn die so modifizierten Ausdrücke den Charakter von Benennungen haben (vgl. (102)). (101) a. Ich bin Lehrer/Katholik/Kommunist/Engländer/Vegetarier. b. Ich bin ein guter Lehrer/Katholik/Kommunist/Engländer/Vegetarier. (102) a. Sie ist (*eine) wissenschaftliche Mitarbeiterin / (*eine) städtische Angestellte. b. Sie ist (*eine) Beamtin auf Lebenszeit / (*eine) Studentin im dritten Semester. Unter den Vergleichssprachen verhalten sich das Deutsche, Englische und Französische weitgehend gleich. Bei kanonischen beschreibenden Prädikativen muss ein indefiniter Artikel erscheinen (vgl. (103)). (103) DEU ENG FRA

Berlin ist eine (sehr schöne) Stadt. Berlin is a (very nice) town. Berlin est une ville (très jolie).

Das gleiche gilt für Statusbezeichnungen, die durch ein qualitatives Attribut erweitert sind (vgl. (104)). Was „einfache“, also nicht attributiv ausgebaute Statusbezeichnun-

322

B Wort und Wortklassen

gen angeht, so geht das Englische noch einen Schritt weiter als das Deutsche und Französische, indem es in diesen Fällen ebenfalls einen indefiniten Artikel verlangt (vgl. (105)). Aber auch im Englischen kann der indefinite Artikel fehlen und zwar bei professionellen Titeln wie in (106). (104) DEU ENG FRA

Paul ist ein guter Lehrer. Paul is a good teacher. Paul est un bon professeur.

(105) DEU ENG FRA

Paul ist Lehrer. Paul ist a teacher. Paul est professeur.

(106) a. She is professor of English at the University of Miami. ENG ‚Sie ist Professorin für Englisch an der Universität Miami.‘ b. She is Vice President of the European Parliament. ‚Sie ist Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments.‘ c. She is CEO of the Thomson Reuters Foundation and Founder of TrustLaw. ‚Sie ist CEO der Thomson-Reuters-Stiftung und Gründerin von TrustLaw.‘ (Internet) Im Ungarischen und Griechischen ist der indefinite Artikel bei substantivischen Prädikativen in aller Regel optional. Was die „Optionalität“ angeht, so gibt es allerdings auch hier Fälle, in denen die Setzung des Artikels mit einem speziellen semantisch-pragmatischen Effekt einhergeht. Strenggenommen handelt es sich in solchen Fällen nicht um Optionalität. Ein entscheidender syntaktischer Parameter für die Setzung eines indefiniten Artikels bildet im Ungarischen und Griechischen die syntaktische Komplexität des Prädikativs. Das ist unabhängig davon, ob das Prädikativ eine Statusbezeichnung enthält oder nicht. Für das Ungarische behaupten Kenesei/Vago/Fenyvesi (1998: 258), dass die Artikelsetzung in komplexen Prädikativen zur Regel wird. (107) GRI

O

Níkos íne (énas) meghálos vlákas. Nikos ist INDEF groß Dummkopf ‚(Der) Nikos ist ein großer Dummkopf.‘ (Ruge 2002: 134)

(108) UNG

mi osztályunk (egy) jó csapat volt. 1PL Klasse.1PL INDEF gut Team war ,Unsere Klasse war ein gutes Team.‘ (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 258 f.)

DEF

A

DEF



B1 Wortklassen

323

(109) GRI

Íne (énas) kalós kathigitís. INDEF gut Professor ist ‚Er ist ein guter Professor.‘ (Holton/Mackridge/Philippaki-Warburton 2012: 361)

(110) UNG

Ödön (egy) jó diák. Student Ödön INDEF gut ‚Ödön ist ein guter Student.‘

Ist das Prädikativ dagegen nicht attributiv ausgebaut, ist die Setzung des indefiniten Artikels im Ungarischen weitgehend optional, während sie im Griechischen einen kontrastiven Effekt induziert. (111) UNG

Ez (egy) szekrény. ‚Das ist ein Schrank.‘

(112) GRI

O

Fído íne énas skýlos. Fido ist INDEF Hund ‚(Der) Fido ist ein Hund [… und kein Mensch].‘ DEF

Das Auftreten eines indefiniten Artikels in Prädikativen ist in den angeführten Sprachen offensichtlich in unterschiedlichem Maße grammatikalisiert. Im Englischen muss der indefinite Artikel außer bei professionellen Titeln immer gesetzt werden. Im Deutschen und Englischen steht er bei allen Prädikativen, es sei denn, es handelt sich um „einfache“ Statusbezeichnungen. Im Ungarischen ist die Artikelsetzung optional, ebenso wie im Griechischen bei attributiv ausgebauten Prädikativen. Bei einfachen Prädikativen geht die Artikelsetzung im Griechischen allerdings mit einem speziellen semantischen Effekt einher. Der unterschiedliche Grammatikalisierungsgrad des indefiniten Artikels in Prädikativkonstruktionen lässt sich durch die Skala in (113) repräsentieren. (113)

ENG > {DEU, FRA} > UNG > GRI

B1.2.3.7.3 Negationskontexte Indefinite Nominalphrasen, die im Skopus eines Negationsträgers stehen, sind nichtspezifisch. Betrachtet man das Deutsche, Englische und Französische, so ist zunächst danach zu unterscheiden, ob der Negationsträger ein Pronomen wie niemand oder nichts oder ein Adverb wie niemals oder nirgends ist, das neben der Negationskomponente noch eine begriffliche Bedeutung (Person, Gegenstand, Zeit, Ort) aufweist, oder ob es sich um ein „reines“ Negationselement handelt. Im ersten Fall muss im Deutschen, Englischen und Französischen ein indefiniter Artikel gesetzt werden (vgl.

324

B Wort und Wortklassen

(114)). Im zweiten Fall ist im Deutschen im unmarkierten Fall (s. u.) das negative Indefinitum kein obligatorisch. Für das Englische ist entweder der indefinite Artikel oder ebenfalls ein negatives Indefinitum (any, no) obligatorisch, wobei wir auf die Verwendungsbedingungen hier nicht eingehen. Im Französischen wird standardmäßig die Form de gebraucht, und zwar unabhängig davon, ob es sich um ein Summativ-Nominal handelt oder nicht (vgl. (115)).  

(114) DEU ENG FRA (115) DEU ENG

FRA

Niemand gab mir einen Bleistift. Nobody gave me a pencil. Personne ne m’a donné un taille-crayon.

Ich habe kein Auto gekauft. I haven’t bought a car. I haven’t seen any horse. ‚Ich habe kein Pferd gesehen.‘ I have no brothers or sisters. ‚Ich habe keine Geschwister.‘ Je n’ai pas acheté de voiture / de vin. ‚Ich habe kein Auto / keinen Wein gekauft.‘

Im Griechischen ist der indefinite Artikel im Negationsskopus ausgeschlossen. Analoges gilt für das Ungarische, sofern die Nominalphrase nicht in der Topikposition steht (→ B1.2.3.7.1, (116)).  

(116) GRI

UNG

Den

ída álogo. NEG gesehen Pferd ‚Ich habe kein Pferd gesehen.‘ Nem láttam lovat. NEG seh.PRT . 1SG Pferd.AKK ‚Ich habe kein Pferd gesehen.‘

Zwischen Sprachen mit stark grammatikalisiertem indefinitem Artikel, dem Deutschen, Englischen und Französischen, auf der einen Seite und solchen mit eher schwach grammatikalisiertem indefiniten Artikel, dem Ungarischen (und Neugriechischen), auf der anderen Seite, zeigen sich bezüglich der Verwendung des indefiniten Artikels in Negationskontexten Parallelen. Eine besteht in der obligatorischen Verwendung der suppletiven Form de im Französischen. de kann auch als Reduktionsform der Vollformen des, du und de aufgefasst werden.

B1 Wortklassen

325

B1.2.3.7.4 Zusammenfassung Der Zusammenhang zwischen dem referenzsemantischen Status einer NP und dem Grammatikalisierungsgrad des indefiniten Artikels beruht auf den folgenden beiden Prinzipien; vgl. dazu auch die allgemeinere Aussage in Givón (1984: 416): The less referential and/or individuated an entity is, the less it is likely to be given independent coding expression in the grammar.

(i) Je weniger individuiert eine Entität ist, desto eher wird sie durch eine artikellose NP (bare noun phrase) kodiert. (ii) Je eher ein indefiniter Artikel in einer NP verwendet werden kann, um schwach individuierte Entitäten zu bezeichnen, desto stärker ist er grammatikalisiert. schwach grammatikalisiert

stark grammatikalisiert

______________________ Einsatz von indefiniten Artikeln ____________________ ▸ stark individuiert

schwach individuiert Grammatikalisierung

B1.2.3.8 Artikelsetzung (und Numerusmarkierung) in generischen Konstruktionen Generizität ist kein einheitliches Phänomen. Im Anschluss an Krifka (1987), GerstnerLink/Krifka (1995) sowie Krifka et al. (1995) unterscheiden wir zwischen zwei grundlegenden Formen von Generizität, der NP-Generizität und der Satz-Generizität. Daneben sprechen wir von generischen Konstruktionen (vgl. Farkas/de Swart 2007: 1658), wenn wir Sätze meinen, in denen sich entweder NP-Generizität, Satz-Generizität oder beides manifestiert. NP-Generizität ist eine Eigenschaft von Nominalphrasen. Generische NPs referieren auf Entitäten eines besonderen Typs, i. e. Arten. Der „generische Charakter“ von Konstruktionen, in denen artbezeichnende NPs (Art-NPs) auftreten, beruht darauf, dass sie Prädikationen über Arten zum Ausdruck bringen. Typische Beispiele sind Sätze wie in (117), in denen mit der Subjekt-NP auf die Art der Walfische, die der Dinosaurier oder die der Autos referiert wird.  

(117) a. Der Walfisch ist ein Säugetier. b. Der Dinosaurier ist ausgestorben. c. Das Auto wurde von Carl Benz in Mannheim erfunden. Satz-Generizität ist hingegen eine Eigenschaft von Sätzen. Hier beruht der „generische Charakter“ der Konstruktion nicht darauf, dass diese eine Prädikation über Arten involviert. Generische Sätze (generic sentences) zeichnen sich vielmehr dadurch aus,

326

B Wort und Wortklassen

dass sie Generalisierungen über Gegenstände oder über Ereignisse/Situationen zum Ausdruck bringen. Einige illustrierende Beispiele sind in (118) angegeben. (118) a. Ein Vogel hat zwei Flügel. b. Ein Mobiltelefon ist heutzutage nicht mehr teuer. c. Wissenschaftler ohne Marotten gibt es nicht. Beide Formen von Generizität können auch kombiniert auftreten, wir sprechen dann von Mischkonstruktionen. Solche Konstruktionen involvieren einmal eine Referenz auf eine Art und drücken gleichzeitig eine „generische“ Generalisierung über Exemplare der betreffenden Art aus, vgl. (119). (119)

Der Indische Elefant hat normalerweise kleinere Ohren als der Afrikanische Elefant.

Andere Bezeichnungen für generische Sätze sind charakterisierende Sätze (characterizing sentences, vgl. Krifka et al. 1995) oder generische Generalisierungen (generic generalizations, Farkas/de Swart 2007). – Churs (1993) Unterscheidung zwischen semantischer und pragmatischer Generizität (‚s-Generizität‘ vs. ‚p-Generizität‘) entspricht auf den ersten Blick der zwischen NP- und SatzGenerizität. Allerdings scheint Chur Mischkonstruktionen nicht in den Blick zu nehmen.

Wie der „generische Charakter“ generischer Sätze genau zu fassen und semantisch zu repräsentieren ist, ist gerade eine der zentralen Fragen zum Thema Generizität. Krifka et al. (1995) gehen von einer quantifikativen Satzstruktur aus und setzen in der semantischen Repräsentation einen zweistelligen, variablenbindenden Operator ‚GEN‘ an, für dessen Interpretation sie verschiedene Vorschläge diskutieren. Wir skizzieren zunächst die beiden Formen der Generizität, und zeigen dann, auf welche Weise sie mit der Artikel- und Numerusmarkierung der beteiligten NPs in den Vergleichssprachen interagieren. Mischkonstruktionen werden dagegen so weit wie möglich ausgeklammert, da sie zusätzliche theoretische Probleme aufwerfen, die den Rahmen unseres Themas sprengen würden. Es versteht sich von selbst, dass wir keine semantische Analyse generischer Konstruktionen anstreben. Semantische Differenzierungen innerhalb der Bereiche der NP- und Satz-Generizität können unberücksichigt bleiben, wenn sie (über)einzelsprachlich keine formalen Reflexe zeigen. Umgekehrt können für die Vergleichssprachen nur solche Differenzierungen berücksichtigt werden, zu denen in der Literatur zum Thema auch Untersuchungen vorliegen, die ein vergleichbares Maß an „analytischer Tiefe“ aufweisen.

B1.2.3.8.1 NP-Generizität Arten sind im Ansatz von Krifka et al. (1995) ontologisch als (abstrakte) Objekte – und damit auch als potentielle Referenzobjekte – und logisch als Individuen(konstanten) konzipiert. Zu Individuen, die Arten repräsentieren und zu denen insbesondere raum-

327

B1 Wortklassen

zeitliche (konkrete) Objekte gehören, stehen Arten in einer speziellen Realisierungsrelation R: ein Objekt x, das von der Art k ist, realisiert k (symbolisch: R(x,k)); ein einzelner Löwe namens ‚Leo‘ realisiert die Art / gehört zu der Art / repräsentiert die Art ‚Löwe‘, vgl. Krifka et al. (1995). Terminologisch lehnen wir uns so weit wie möglich an Krifka et al. (1995) an. Entitäten, die Arten realisieren, werden Objekte oder Einzeldinge genannt; ferner unterscheiden wir zwischen Objektreferenz und Artenreferenz. Die Realisierungsrelation geht auf Carlson (1977) zurück; anders als bei Carlson wird aber auf der Ebene der Objekte nicht zwischen individuals und stages unterschieden (Krifka et al. 1995: 66).

Satzsemantisch verhalten sich Art-NPs wie Eigennamen und referieren auf die jeweilige Art direkt (→ B1.4.3). Das wichtigste Kennzeichen artbezeichnender NPs und der entscheidende diagnostische Test zur Abgrenzung gegenüber nicht-artbezeichnenden NPs besteht in ihrer Kombinierbarkeit mit sog. Artenprädikaten, i. e. prädikativen Ausdrücken, die nur über Arten prädiziert werden können. Dazu gehören verbale Ausdrücke wie aussterben, erfinden, weit verbreitet sein etc. In (120) referieren die SubjektNPs auf Einzeldinge und können daher nicht mit Artenprädikaten kombinieren.  



(120) a. *Der Hund meiner Schwiegertochter ist ausgestorben. b. *Das Auto meiner Schwiegertochter wurde von Carl Benz erfunden. Art-NPs können nicht nur mit Artenprädikaten kombinieren, sondern auch mit Prädikaten, die in anderen Kontexten über Einzeldinge prädiziert werden. Der generische Charakter der Konstruktion muss daher auf einer Artbezeichnung beruhen. Solche Sätze dienen ebenfalls als Tests, um festzustellen, welche Formen von NPs als Artbezeichnungen fungieren können und welche nicht. Wir gehen auf diese Tests nicht im Einzelnen ein, sondern dokumentieren sie lediglich anhand einschlägiger Beispiele (vgl. Krifka 1987: 17–19; Gerstner-Link/Krifka 1993: 970 f., daraus z. T. auch die Beispiele).  



(121) a. Der Löwe hat eine Mähne. (generisch) b. Der Löwe in unserem Zoo hat eine Mähne. (nicht-generisch) (122) a. Der Mensch betrat den Mond im Jahre 1969. (generisch) b. Neil Armstrong betrat den Mond im Jahre 1969. (nicht-generisch) (123) a. In Kenia wurde der Löwe gefilmt. (generisch) b. In Kenia wurde der Löwe, der vor zwei Jahren geboren wurde, gefilmt. (nichtgenerisch) Generische NPs unterscheiden sich formal nicht von nicht-generischen NPs. Jede generische NP einer Sprache kann unter geeigneten kontextuellen Bedingungen auch

328

B Wort und Wortklassen

nicht-generisch gebraucht werden. Gerstner-Link (1995) formuliert diesen Sachverhalt auf der Basis eines Sprachensamples von 29 Sprachen als Universale: „Keine Sprache besitzt ein Kodierungselement, das ausschließlich und obligatorisch generische Nominalausdrücke kodiert und sie so formal von allen anderen Nominalausdrücken unterscheidet.“ (Gerstner-Link 1995: 190) Gerstner-Link (ebd.) weist darauf hin, dass es lexikalische Ausdrucksmittel gibt, die Nominale eindeutig als generische Ausdrücke auszeichnen, so etwa Wörter oder Stämme wie Art, Gattung, Spezies etc. in Ausdrücken wie die Gattung Hund oder die Hundeart Dackel. Im letzteren Fall wird der Ausdruck taxonomisch gebraucht, d. h. als expliziter Ausdruck einer Unterart. Zur Kennzeichnung von Nominalen als Artbezeichnungen sind solche Nominale aber nie obligatorisch (ebd.). Dagegen sind sie in einigen Sprachen – Gerstner-Link erwähnt als Beispiele das Japanische, Koreanische und Türkische (ebd.: 191) – in taxonomischen Verwendungen obligatorisch. Daher seien taxonomische Verwendungen von dem obigen Universale ausgenommen (ebd.).  

Allerdings können generische und nicht-generische Verwendungen von Nominalphrasen in Sprachen durch bestimmte morphosyntaktische Mittel unterschieden werden. So stehen etwa im Finnischen, einer Nicht-Artikelsprache, indefinite NPs im Nominativ, wenn sie generisch verwendet werden, und im Partitiv, wenn sie nichtgenerisch verwendet werden (Krifka et al. 1995: 117). (124) a. Koirat haukkuvat. bell.3PL FIN Hund.NOM . PL ‚Hunde bellen.‘ b. Koiria haukkuu. bell.3SG Hunde.PART . PL ‚Es bellen Hunde.‘ (125) a. Maito on makeaa. FIN Milch.NOM ist süß.PART ‚Milch ist süß.‘ b. Maitoa kaatui pöydälle. fall.IPRF . 3SG Tisch.ALL AL L Milch.PART ‚Milch war auf dem Tisch verschüttet.‘ (vgl. Krifka et al. 1995: 118) In Sprachen mit definitem und indefinitem Artikel werden Artbezeichnungen bevorzugt durch singularische NPs mit definitem Artikel gekennzeichnet, sofern das Kopfsubstantiv ein Individuativum ist. Das steht damit im Einklang, dass Artbezeichnungen als Namen fungieren und insofern definit sind. Dass sie einen definiten Artikel nehmen, ist ebenfalls keine Ausnahme, denn eine Reihe von Eigennamen nimmt ebenfalls einen definiten Artikel, z. B. Länderbezeichnungen (die Schweiz, der Irak, der Sudan) oder Eigennamen wie der Eiffelturm (→ B1.4.3). Umgekehrt fungieren singularische Nominalphrasen mit indefinitem Artikel übereinzelsprachlich nie als Artbezeichnungen.  



329

B1 Wortklassen

Zu beachten ist, dass diese Generalisierungen über Artikelsprachen, die sich in der Literatur zur Generizität finden, auf europäischen Artikelsprachen beruhen.

Zwischen singularischen, individuativischen Nominalphrasen mit definitem und solchen mit indefinitem Artikel bewegen sich Summativ-NPs (→ D1.1.3.1), also Nominalphrasen mit kontinuativischem oder pluralischem Kopf. Je nach Sprache (oder Sprachtyp) treten sie als Artbezeichnungen artikellos oder mit definitem Artikel auf, aber nicht mit indefinitem oder partitivem Artikel (Französisch, Italienisch) oder einem anderen indefiniten Determinativ. Summativ-NPs können aber stets – egal ob sie mit oder ohne Artikel konstruiert sind – auch nicht-generisch gebraucht werden. Bei Artikellosigkeit ist eine Abgrenzung zwischen generischer und nicht-generischer Verwendung mitunter schwierig: In generischer Verwendung beziehen sie sich auf die Gattung, in nicht-generischer nicht-spezifisch auf beliebige Exemplare der Gattung. Das Abgrenzungsproblem gilt insbesondere dann, wenn sie in generischen Sätzen auftreten (vgl. (126)).  

(126) a. Ich vertrage keine Milch. b. Ich fürchte mich vor Hunden. Wir betrachten Individuativ- und Kontinuativ-NPs getrennt und unterscheiden bei den Individuativ-NPs zudem zwischen Singular-NPs und Plural-NPs. Fälle von taxonomischen Lesarten bleiben ausgeklammert, weil sie speziellen Bedingungen unterliegen. Da für die Frage der Definitheit oder Indefinitheit einer NP im Folgenden nur die Artikel eine Rolle spielen, bezeichnen wir NPs mit definitem Artikel schlicht als definite NPs, solche mit indefinitem Artikel entsprechend als indefinite NPs. Zu letzteren sind auch determinativlose Plural-NPs (bare plurals) in Sprachen zu rechnen, die keinen indefiniten Pluralartikel besitzen. Darüber hinaus machen wir von Formulierungen wie ‚die generische Verwendung eines Artikels‘ Gebrauch – wie es auch in der Literatur üblich ist – wenn es genaugenommen ‚die generische Verwendung der durch den Artikel eingeleiteten NP‘ heißen müsste.

B1.2.3.8.1.1 Singular-NPs (Individuativa) Singular-NPs mit definitem Artikel können als Artbezeichnungen fungieren. Dies gilt für die Vergleichssprachen, aber auch für eine Reihe weiterer europäischer Sprachen, insbesondere die „bekannteren“ romanischen und germanischen Artikelsprachen sowie das Ungarische und Griechische (vgl. (127)–(128)). Umgekehrt sind SingularNPs mit indefinitem Artikel von dieser Funktion ausgeschlossen und können allenfalls in generischen Sätzen (s. u.) auftreten vgl. (130); Beispiele in (127) z. T. aus Farkas/de Swart (2007: 1659).  



330

B Wort und Wortklassen

(127) DEU ENG FRA ITA UNG GRI

Der Dinosaurier ist ausgestorben. The dinosaur is extinct. Le dinosaure a disparu. Il dinosauro è estinto. A dinoszaurusz kihalt. O dinosauros exei eklipsei.

(128) SWE

Dronten är utdöd. ‚Der Dodo ist ausgestorben.‘

(Dahl 1985: 58)

Wie auch bei nicht-generischen definiten Individuativ-NPs (→ D1.2.1.3) kann der definite Artikel bei singularischen Artbezeichnungen in Koordinationen (bzw. Aufzählungen) wegfallen, vgl. (129).  

(129)

Die Bestände der großen Säugetierarten wurden vor allem durch die Jagd beeinflusst. Braunbär, Wolf und Luchs wurden im 19. Jahrhundert ausgerottet. Der Luchs wurde in den frühren 1970er Jahren im Jura wieder eingebürgert [. . .] (books.google.de)  

(130) DEU ENG FRA ITA UNG



*Ein Dinosaurier ist ausgestorben. *A dinosaur is extinct. *Un dinosaure a disparu. *Un dinosauro è estinto. *Egy dinoszaurusz kihalt.

Im Deutschen und Englischen sind definite Singular-NPs als Bezeichnungen für Nationalitäten oder Ethnien obsolet (Krifka et al. 1995: 113), stattdessen wird auf Plural-NPs zurückgegriffen (vgl. (132)). Verwendungen wie in (131) sind daher stilistisch markiert, wobei eine ironische Färbung wie in dem Beispiel aus dem Deutschen ein häufig intendierter Effekt ist. (131) DEU ENG

(132) DEU ENG

Ist der Schwede ein Mensch? (Buchtitel, 2016) Like the Chinese, the Italian is a born gambler. (www.bartleby.com) ‚Ebenso wie der Chinese ist der Italiener ein geborener Spieler.‘

So hatte ich zuerst die Schweden als recht reserviert erlebt. (books.google.de) The Germans are a great people. (books.google.de) ‚Die Deutschen sind ein großartiges Volk.‘

Im Englischen kann man (‚Mensch‘) ohne Artikel (und im Singular) als Artbezeichnung fungieren. Dieser Fall ist idiosynkratisch und lässt sich am besten so beschreiben, dass hier kein

B1 Wortklassen

331

Appellativum, sondern ein Eigenname vorliegt – in Analogie zu den lateinischen Eigennamen in biologisch-taxonomischen Terminologien (Krifka 1987: 12). (133) ENG

a. Man lived in Australia for at least 40.000 years. b. Homo sapiens lived in Australia for at least 40.000 years. ‚Der Mensch / Der Homo Sapiens lebte seit mindestens 40.000 Jahren in Australien.‘ (vgl. Krifka 1987: 12)

In den Nicht-Artikelsprachen Polnisch und Tschechisch werden bei der Prädikation von Artenprädikaten, also bei Sätzen vom Typ (127), pluralische gegenüber singularischen NPs präferiert. „Bloße“ Singular-NPs (bare singulars) sind dennoch nicht ausgeschlossen (vgl. (134)), vor allem dann nicht, wenn der ontologische Status des relevanten Referenten „als Art“ zur Debatte steht, so etwa explizit in (135). (134) POL CZE

(135) POL

Dinozaur (już) wymarł. Dinosaur vymrel. ‚Der Dinosaurier ist (schon) ausgestorben.‘ Dziobak jest rzadkim gatunkiem zwierzęcia. Art.INS Tier.GEN Schnabeltier ist selten.INS ‚Das Schnabeltier ist eine seltene Tierart.‘ (Smólska/Rusiecki 1980: 56)

B1.2.3.8.1.2 Plural-NPs In allen Vergleichssprachen können Plural-NPs als Artbezeichnungen verwendet werden. Eine relevante Zweiteilung unter den Vergleichssprachen, die über diese hinaus auch weitere (europäische) Sprachen einschließt, betrifft die Artikelsetzung. Der Unterschied betrifft größtenteils auch Kontinuativ-NPs, also generell SummativNPs. Wir behandeln dennoch pluralische und kontinuativische NPs getrennt. Einen zusätzlichen Parameter bildet die grammatische Funktion der NP als Subjekt oder direktes Objekt. Im Englischen stehen pluralische Artbezeichnungen dominant ohne Artikel (vgl. (136)). Ausnahmen sind zum einen ethnische Bezeichnungen (vgl. (137)), sowie anaphorische Kontexte (vgl. (138)). In beiden Fällen ist der definite Artikel optional; ob es in diesen Bereichen Präferenzbedingungen gibt, bleibt offen. (136) ENG

When Dinosaurs appeared, they were not the dominant terrestrial animals. ‚Als die Dinosaurier auftraten, waren sie nicht die dominanten Landtiere.‘ (https://en.wikipedia.org/wiki/Dinosaur, 03.12.2015)

(137) a. Italians are amply known as the mothers of opera ENG ‚Die Italiener sind bekannt als die Väter [wörtl. Mütter] der Oper.‘

332

B Wort und Wortklassen

b. but the Italians re-established a strong presence in music ‚aber die Italiener gewannen wieder eine starke Stellung in der Musik‘ (https://en.wikipedia.org/wiki/Italians, 03.12.2015) (138) ENG

Saurischian Bipeds – The saurischians were the first of the two great groups to assume prominence. […] From certain of these forms, the saurischians were certainly derived. (Encyclopedia Britannica, 1972, p. 456, zit. nach Farkas/de Swart 2007: 1674). ‚Zweibeinige Echsenbeckensaurier – Die Echsenbeckensaurier waren die erste von zwei Gruppen, die Bedeutung erlangten. […] Aus bestimmten dieser Formen bildeten sich die Echsenbeckensaurier mit einiger Sicherheit heraus.‘

In Objektfunktion von Artenprädikaten sind artikellose (‚bloße‘) Plural-NPs (bare plurals) im Englischen nur schlecht möglich (Krifka 1987: 13). Passiviert man die Verben und lässt die Plural-NPs als Subjekte fungieren, werden die Sätze besser. (139) ENG

The settlers extinguished the lion / ?the lions / *lions. ‚Die Siedler haben den Löwen ausgerottet.‘ (ebd.)

Auch im Niederländischen sind pluralische Artbezeichnungen artikellos (vgl. (140a)); sie können aber ebenso wie im Englischen in anaphorischen Kontexten einen definiten Artikel aufweisen (vgl. (140b)). (140) a. Dinosaurussen zijn uitgestorven. NDL ‚Dinosaurier sind ausgestorben.‘ Dus de dieren die wij dinosaurussen noemen zijn echt uitgestorven. […] b. Het is niet precies bekend how de dinosaurussen zijn uitgestorven. ( ‚Demnach sind die Tiere, die wir Dinosaurier nennen, wirklich ausgestorben. […] Es ist nicht genau bekannt, wie die Dinosaurier ausgestorben sind.‘ (Farkas/de Swart 2007: 1659, 1674) Das Deutsche verhält sich anders. Pluralische Art-NPs finden sich sowohl mit (vgl. (141), (142)), als auch ohne definiten Artikel (vgl. (143), (144)). Hawkins (2004: 85) weist vor dem Hintergrund seiner Ausführungen zur Grammatikalisierung des definiten Artikels (s. o., → B1.2.3.2.1.1) auf diesen wichtigen Unterschied zwischen dem Englischen und Deutschen hin: „German has gone further than English and regularly uses the definite article with generic plurals where English does not: er zieht den Rosen die Nelken vor […] ‘he prefers carnations to roses.’ He prefers the carnations to the roses in English suggests pragmatically identifiable sets of each.“  



Artikellose Plural-NPs sind auch in generischen Sätzen möglich. Die Beispiele müssen daher so gewählt werden, dass Lesarten ausgeschlossen sind, in denen die NPs individuenbezeichnende

B1 Wortklassen

333

Ausdrücke in generellen Sätzen sind. Dies ist dann testbar, wenn die Prädikation (i) ein „reines“ Artenprädikat involviert, d. h. eines, das nicht ambig zwischen Artenprädikation und Objektprädikation ist, oder (ii) ein singuläres Ereignis bezeichnet, d. h. einen episodischen Sachverhalt ausdrückt. Bedingung (i) ist in (141), (143) und (144) erfüllt, Bedingung (ii) in (142).  



(141) a. Die Wölfe sind in zwei Arten jederzeit vertreten, der gemeine Wolf und der Präriewolf oder Coyote (Canis latrans). (books.google.de) b. Aber vom Aussterben bedroht sind die Wölfe. (books.google.de) c. Die Wölfe sind am Aussterben in diesem Land. (books.google.de) d. Die Sorge, dass die Störche aussterben könnten, ist uns sowieso fremd geworden. (books.google.de) e. Durch diese Maßnahmen werden weder die Zecken noch die Büffel ausgerottet, das Wachstum ihrer Populationen aber beschränkt […] (books. google.de) (142) a. Zu dieser Zeit sind die Bären auch nach Südamerika eingewandert und hier durch Arctotherium und Pararctotherium bekannt. (books.google.de) b. Durch Zufall entdeckten die Menschen vor Jahrtausenden den Vorteil der Milchsäuregärung [. . .] (books.google.de) c. Dabei wurden die Waldgiraffen, also die Okapis, erst relativ spät in Zentralafrika entdeckt und zu den Giraffen gehörig erkannt. (books.google.de)  



(143) a. Auch ich wäre wütend, wenn Kojoten oder Wölfe meine Tiere töten würden. „Es sind doch nur Nutztiere. Viehzüchter bekommen doch eh Entschädigung. Wölfe sind schließlich vom Aussterben bedroht.“ (books.google.de) b. Jetzt war es Echo, die verblüfft aussah. „Wie meinst du das?“ „Nun, dass sie aussterben.“ Sie prustete los. „Aussterben? Dodos werden doch niemals aussterben. Das ist doch lächerlich.“ (books.google.de) (144) a. Wo früher noch Bären und Wölfe verbreitet waren, wuchsen Städte und Industrien. (books.google.de) b. Fallstudien zeigen jedoch, dass sich die Beitrittsstaaten durch eine große Vielfalt wildlebender Tierarten, die in Westeuropa zum Teil vom Aussterben bedroht sind, auszeichnen. Hierzu gehören Bären, Wölfe, Luchse oder Biber, die vor allem in Slowenien und Estland weit verbreitet sind. (books.google.de) c. Wälder wurden abgehauen, Büffel ausgerottet, der Biber nahezu vernichtet [. . .] (books.google.de) d. Werden Hirsche und Büffel ausgerottet, verschwinden auch die Warane. (books.google.de)  



In den romanischen Sprachen, aber auch im Ungarischen und Griechischen ist dagegen ein definiter Artikel (der im Rumänischen affixal ist) in pluralischen Artbezeichnungen obligatorisch (vgl. (145)).

334

(145) FRA ITA RUM UNG GRI

B Wort und Wortklassen

Les dinosaures ont disparu. I dinosauri sono estinti. Dinosaurii au dispărut. verschwunden Dinosaurier.PL . DEF ist A dinoszauruszok kihaltak. DEF Dinosaurier.PL aussterb.PRT . 3PL I dinosauroi exoun eklipsei. DEF Dinosaurier.PL sind ausgestorben Oi asproi elephantes echoun exaphanistei. ‚Die weißen Elefanten sind ausgestorben.‘ (Farkas/de Swart 2007: 1659)

Eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse dieses Abschnitts gibt Tabelle 8. Tab. 8: Definiter Artikel mit pluralischen Individuativa in generischen Nominalphrasen + definiter Artikel

– definiter Artikel

Deutsch Französisch Italienisch Rumänisch Ungarisch Griechisch

Deutsch Englisch Niederländisch

B1.2.3.8.1.3 Kontinuativ-NPs Wie oben angedeutet, findet sich eine analoge Zweiteilung im Bereich der europäischen Sprachen mit Blick auf die Artikelsetzung von Kontinuativ-NPs, die als Artbezeichnungen auftreten. In den germanischen Artikelsprachen stehen solche Kontinuativ-NPs in der Regel artikellos (vgl. (146)), in den romanischen Sprachen (vgl. (149)) sowie im Ungarischen und Griechischen (vgl. (150)) dagegen obligatorisch mit definitem Artikel. (146) DEU ENG

Bronze wurde 3000 v. Chr. erfunden. Bronze was invented 3000 BC.

(vgl. Krifka o. J.: 2)  

Artbezeichnende Kontinuativ-NPs sind im Deutschen ebenfalls mit definitem Artikel möglich, aber weniger präferiert als ihre artikellosen Gegenstücke und auch vergleichsweise weniger akzeptabel als pluralische Individuativ-NPs mit definitem Artikel.

335

B1 Wortklassen

(147) a. (Die) Bronze wurde bereits 3000 v. Chr. erfunden. DEU b. (Das) Gold steigt im Preis.

(Krifka o. J.: 2) (Krifka et al. 1995: 68)  

Einen deutlichen Unterschied zeigen das Englische und das Deutsche in Bezug auf Abstrakta – als Subtyp der Kontinuativa: Während im Englischen der definite Artikel ausgeschlossen ist, ist er im Deutschen obligatorisch (vgl. (148)). (148) ENG DEU

Life is complicated. vs. *The life is complicated. Das Leben ist kompliziert. vs. *Leben ist kompliziert.

(149) FRA RUM

Le bronze fut déjà découvert 3000 ans avant Jésus-Christ. Bronzul a fost inventat încă în preajma anului 3000 î. H.

(150) UNG



A

bronzot már 3000 évvel Kr. e. Bronze.AKK schon 3000 v. Chr. ‚Bronze wurde bereits 3000 v. Chr. erfunden.‘ O chalkos anakalyfthike to 3000 p. X. DEF Bronze erfind. ‚Bronze wurde 3000 v. Chr. erfunden.‘ DEF

GRI

feltalálták. erfind.PRT . 3PL . DEF

Eine kurze Zusammenfassung findet sich wiederum in Tabelle 9. Tab. 9: Definiter Artikel mit Kontinuativa (Konkreta) in generischen Nominalphrasen + definiter Artikel

– definiter Artikel

(Deutsch) Französisch Italienisch Rumänisch Ungarisch Griechisch

Deutsch Englisch

Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Vergleichssprachen (einschließlich weiterer berücksichtigter Sprachen) mit Blick auf die Artikelsetzung und Numerusmarkierung in artbezeichnenden NPs lassen sich wie folgt zusammenfassen: –

Singularische Individuativ-NPs mit definitem Artikel können in allen Fällen als Artbezeichnungen fungieren. Ein indefiniter Artikel ist wiederum in allen Fällen ausgeschlossen.

336





B Wort und Wortklassen

Ein zentraler typologischer Unterschied innerhalb der Vergleichssprachen zeigt sich in Bezug auf pluralische Individuativ-NPs. Hier gilt für das Französische, ebenso für andere romanische Sprachen sowie für das Ungarische und Griechische, dass pluralische Individuativ-NPs in der Funktion als artbezeichnende Ausdrücke einen definiten Artikel aufweisen müssen. Artikellose Plural-NPs, ebenso wie Plural-NPs mit partitivem Artikel, sind hier ausgeschlossen. Im Englischen wiederum sind pluralische Individuativ-NPs in generischer Funktion artikellos. Im Deutschen sind dagegen generische Plural-NPs mit und ohne definiten Artikel zulässig. Für Kontinuativ-NPs gilt ceteris paribus die gleiche Generalisierung wie für pluralische Individuativ-NPs. Im Deutschen scheinen generische Kontinuativa mit definitem Artikel allerdings weniger akzeptabel zu sein als generische Plural-NPs mit definitem Artikel. (Diese Vermutung wäre aber durch empirische Untersuchungen zu überprüfen.) Sieht man davon ab, betrifft der entscheidende Varianzparameter den Unterschied zwischen Summativ-NPs und Nicht-Summativ-NPs: (i) In allen untersuchten Sprachen ist in generischen Summativ-NPs ein definiter Artikel obligatorisch. (ii) Im Französischen, Ungarischen und Griechischen ist in Nicht-Summativ-NPs ein definiter Artikel ebenfalls obligatorisch. Im Englischen sind generische Nicht-Summativ-NPs obligatorisch artikellos. Im Deutschen sind sie dominant ebenfalls artikellos, können aber auch durch einen definiten Artikel eingeleitet sein.

Die Generalisierungen für das Französische lassen sich auch auf andere romanische Artikelsprachen erweitern. Analoges gilt für die Generalisierungen für das Englische mit Blick auf andere germanische Artikelsprachen, außer eben dem Deutschen. Für die Nicht-Artikelsprachen Polnisch und Tschechisch wiederum lässt sich festhalten, dass als generische NPs dominant Summativ-NPs auftreten.

B1.2.3.8.2 Satz-Generizität Der wichtigste Test zur Identifikation von generischen Sätzen und damit zur Abgrenzung von nicht-generischen (episodischen) Sätzen besteht in der Paraphrasierbarkeit mit Sätzen, die quantifizierende Adverbien wie immer, gewöhnlich, typischerweise enthalten (vgl. (151)). (151) a. Eine Kartoffel enthält (immer/gewöhnlich) Vitamin C. b. Kartoffeln enthalten (immer/gewöhnlich) Vitamin C. Der Bereich, den wir im Anschluss an die Literatur als Satz-Generizität gefasst haben, ist äußerst heterogen. Wir beschränken die Diskussion daher auf wenige Beispiele vom Typ der Sätze in (151). Solche Sätze zeichnen sich dadurch aus, dass sie bestimm-

B1 Wortklassen

337

ten Gegenständen „charakteristische Eigenschaften“ zuschreiben, ohne aber den Status von Allquantifikationen zu haben. (Wie wir oben gesehen haben, werden sie in der Literatur ja auch unter der Bezeichnung ‚charakterisierende Sätze‘ behandelt.) Nachdem nun im vorangehenden Abschnitt festgestellt werden konnte, dass indefinite (einschließlich partitive) Artikel in artbezeichnenden NPs nicht auftreten können, fokussieren wir die folgende Untersuchung auf die Frage nach den Verwendungsmöglichkeiten des indefiniten (sowie partitiven) Artikels im Bereich der SatzGenerizität. NPs mit definiten Artikeln klammern wir schon deshalb aus, um das Problem o. g. Mischkonstruktionen so weit wie möglich zu umgehen. Die erste Generalisierung, die wir treffen können, ist, dass im Deutschen, Englischen und Französischen in generischen Sätzen indefinite Artikel in singularischen Individuativ-NPs auftreten können (vgl. (152)–(153)).  

(152) DEU ENG FRA

Eine Katze ist ein unabhängiges Tier. A cat is an independent animal. Un chat est un animal indépendent.

(153) DEU ENG FRA

Ein Fahrrad ist ein gutes Verkehrsmittel. A bike is a good means of transportation. Un vélo est un bon moyen de transport.

Die pluralischen Gegenstücke der Individuativ-NPs sind im Deutschen und Englischen erwartungsgemäß artikellos, dasselbe gilt für Kontinuativ-NPs in entsprechenden generischen Sätzen. Bemerkenswert ist dagegen, dass das Französische in solchen generischen Sätzen (jedenfalls in der Subjektfunktion) keinen Plural- oder Kontinuativartikel erlaubt. Stattdessen ist auch hier der definite Artikel obligatorisch (vgl. (154)–(155)). (154) DEU ENG FRA

Katzen sind unabhängige Tiere. Cats are independent animals. *Des/Les chats sont des animaux indépendents.

(155) DEU ENG FRA

Wasser ist gut für die Gesundheit. Water ist good for your health. *De l’eau / L’eau est bonne pour la santé.

Im Ungarischen und Griechischen wiederum muss in allen äquivalenten Konstruktionen der definite Artikel gewählt werden (vgl. (156)–(158)): Weder ist bei singulari-

338

B Wort und Wortklassen

schen Individuativ-NPs ein indefiniter Artikel zulässig noch können pluralische Individuativ-NPs sowie Kontinuativ-NPs artikellos stehen. (156) UNG

A

macska független állat. Katze unabhängig Tier I ghata ine aneksartito zoo. DEF Katze ist unabhängig Tier ‚Die Katze ist ein unabhängiges Tier.‘ (Alexiadou/Haegeman/Stavrou 2007: 177) DEF

GRI

(157) UNG

A

macskák független állatok. Katze.PL unabhängig Tier.PL I ghates ine anexsartita zoa. DEF Katze.PL sind unabhängig Tier.PL ‚Katzen sind unabhängige Tiere.‘ DEF

GRI

(158) UNG

GRI

A

víz jót tesz az egészségnek. DEF Wasser gut.AKK mach.3SG DEF Gesundheit.DAT ‚Wasser tut der Gesundheit gut.‘ To nero ina kalo gia tin hygeia. DEF Wasser ist gut für DEF Gesundheit ‚Wasser ist gut für die Gesundheit.‘

Die Ergebnisse der vorangegangenen Darstellung sind in Tabelle 10 zusammengefasst: Der relevante Parameter ist wieder die Unterscheidung zwischen summativischen und nicht-summativischen NPs: In Bezug auf nicht-summativische NPs bilden Deutsch, Englisch und Französisch eine Gruppe, indem sie hier einen indefiniten Artikel erlauben. Die zweite Gruppe bilden in diesem Bereich das Ungarische und das Griechische, die jeweils einen definiten Artikel verlangen. Bei den summativischen NPs wiederum ist die Gruppenbildung verschoben, insofern als das Französische, Ungarische und Griechische hier einen gemeinsamen Weg gehen.  

B1 Wortklassen

339

Tab. 10: Artikelverteilung in generischen Sätzen Nicht-Summativ-NPs

Summativ-NPs

Individuativ-NPs, SG

Individuativ-NPs, PL

Kontinuativ-NPs

DEU

INDEF

artikellos

artikellos

ENG

INDEF

artikellos

artikellos

FRA

INDEF

DEF

DEF

UNG

DEF

DEF

DEF

GRI

DEF

DEF

DEF

B1.2.4 Zusammenfassung Mit selbstständigen Demonstrativa referiert der Sprecher, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme einer Zeigegeste, prototypischerweise auf Gegenstände in dem ihn umgebenden Wahrnehmungsraum; mithilfe von adnominalen Demonstrativa identifiziert er entsprechende Gegenstände. Zentrale Demonstrativa des Deutschen sind dieser und das selbstständig gebrauchte der. Neben den zentralen Demonstrativa gibt es auch periphere Ausdrücke, sprachübergreifend z. B. Ähnlichkeitsdemonstrativa wie DEU solch(er) oder sprachspezifische Ausdrücke, die nicht (mehr) deiktisch gebraucht werden, wie DEU jener und das ,determinativische‘ derjenige. Im Deutschen werden bei dieser, jener und derjenige selbstständige und adnominale Variante nicht unterschieden; das Demonstrativum der unterscheidet sich von dem Artikel der an bestimmten Paradigmenstellen durch Langformen (dessen/deren, denen). Auch in den Kontrastsprachen fallen selbstständige und adnominale Variante meist zusammen, nur im Französischen ist die selbstständige Variante eine komplexe Form auf Basis der adnominalen. Demonstrativa bilden in der Regel ein auf Distanzkontrasten beruhendes mindestens zweigliedriges System, mit der Opposition zwischen Nähe und Ferne zu einem (oder auch mehr als einem) deiktischen Zentrum. In allen KernVergleichssprachen fungiert der Sprecher als Zentrum der deiktischen Perspektive. Neben dem Sprecher kann ggf. auch der Adressat als deiktisches Zentrum fungieren, wie es etwa für das Lateinische und das Spanische mit ihren dreigliedrigen Systemen postuliert wird. In den Kern-Kontrastsprachen liegen zweigliedrige Systeme mit je einem Nähe- und einem Ferne-Demonstrativum vor, wobei außer im Polnischen das distale bzw. non-proximale Element das unmarkierte Glied der Opposition darstellt. Die Distanzkontraste werden im Englischen und Ungarischen lexikalisch ausgedrückt (non-proximal ENG that, UNG az, proximal ENG this, UNG ez); im Französischen treten lokale Partikeln differenzierend zu den Grundformen hinzu (non-proximal: celui-là, proximal: celui-ci), im Polnischen ist das markierte distale Glied durch eine lokale Partikel ausgezeichnet (non-distal: ten, distal: tamten). Das Deutsche zeigt hier die  

340

B Wort und Wortklassen

Besonderheit, dass ein lexikalischer Kontrast zwischen der und dieser vorliegt, wobei der eindeutig als distanzneutral einzuschätzen ist, bei dieser aber eine Einordnung als Nähe-Demonstrativum oder als distanzneutral erwogen werden kann. Demonstrativa haben neben der deiktischen sprachübergreifend weitere, insbesondere anaphorische Gebrauchsweisen. Im Deutschen spielen hier mit jener (anamnestische, anaphorische und determinativische Verwendung) und derjenige (anaphorische und determinativische Verwendung) auch Elemente eine Rolle, die der Peripherie der Demonstrativa zuzuordnen sind. Definite und indefinite Artikel werden im Gegensatz zu Demonstrativa nur adnominal gebraucht und zwar jeweils als definite oder indefinite Identifikatoren. Ebenfalls im Gegensatz zu den Demonstrativa sind Artikel bei weitem nicht in allen Sprachen vertreten; allerdings sind abgesehen von den in den (nord)osteuropäischen Regionen Europas gesprochenen baltischen und (den meisten) slawischen Sprachen die europäischen Sprachen Artikelsprachen. Das Auftreten eines definiten und eines indefiniten Artikels gilt somit als ein Kennzeichen des Standard Average European (SAE). Polnisch ist unter den Kern-Vergleichssprachen die einzige Sprache, die weder über einen definiten noch über einen indefiniten Artikel verfügt. Der definite Artikel ist sprachübergreifend, so auch in den Artikelsprachen unter den Vergleichssprachen, durch Grammatikalisierung aus einem, in der Regel distalen bzw. non-proximalen Demonstrativum hervorgegangen, und zwar durch Erweiterung des Gebrauchsspektrums über deiktische und anaphorische Verwendung hinaus. Damit gibt es einen Überschneidungsbereich zwischen den Gebrauchsweisen beider Klassen; aber der definite Artikel hat, etwa mit dem Gebrauch in generischen Konstruktionen, Verwendungen, in denen Demonstrativa nicht (oder nur markiert) vorkommen. Der indefinite Artikel bei Individuativa geht sprachübergreifend, so auch in den Vergleichssprachen, die über ihn verfügen, auf das Einernumerale zurück (wie in DEU ein Mann). Was die Ausdifferenzierung des Artikelinventars angeht, so zeigt das Französische hier den größten Differenzierungsgrad, da es auch einen indefiniten Pluralartikel (des hommes ,Männer‘) und einen indefiniten Artikel bei Kontinuativa (,Kontinuativartikel‘: du pain ,Brot‘) besitzt. Deutsch, Englisch und Ungarisch haben einen definiten Singular- und Pluralartikel sowie einen indefiniten Singularartikel für Individuativa, wobei der indefinite Artikel des Ungarischen vergleichsweise schwächer grammatikalisiert ist. In allen Kern-Vergleichssprachen mit Artikel sind diese lexikalische Wörter, während etwa die festlandskandinavischen Sprachen sowohl über lexikalische als auch affixale Artikel verfügen. Dabei treten im Schwedischen und Norwegischen beide Artikelarten auch in Kombination auf; dies stellt eine Form multipler Definitheitsexponenz dar, die uns im Deutschen allenfalls bei Eigennamen mit Artikel oder bei Kombinationen von Demonstrativum und Possessivum (wie in dieses unser Land) begegnet. Die Setzung eines Artikels (oder eines anderen Determinativs) ist in den Artikelsprachen unter den Vergleichssprachen bei Individuativa im Singular für die zentralen Komplementfunktionen Subjekt und (Kasus-)Objekt im Allgemeinen obligatorisch, nur im Ungarischen gelten für den indefiniten Artikel speziel-

B1 Wortklassen

341

le Regeln vor allem in Bezug auf die präverbale Topik- und Fokusposition. In anderen syntaktischen Kontexten hingegen kann Artikelsetzung blockiert oder optional sein. Bei Nominalphrasen als Prädikative, somit bei nicht-referentiellen Ausdrücken, ist die Setzung eines Ausdrucksmittels der (an Referenz gebundenen) Identifikation, also eines Artikels, nicht zu erwarten. Allerdings finden sich hier sprachübergreifend neben artikellosen Nominalen auch NPs mit indefiniten Artikeln. Eine wichtige Rolle spielt hier die Unterscheidung zwischen klassifikatorischen und beschreibenden Prädikative. Klassifikatorische Prädikative (etwa zur Anzeige einer beruflichen Funktion oder einer anderen sozialen Rolle) können, sofern es um Personenbezeichnungen geht, artikellos erscheinen, beschreibende Prädikative erfordern einen indefiniten Artikel (vgl. DEU Er ist Lehrer vs. Er ist ein erfahrener Lehrer). Das Deutsche besetzt hier mit dem Französischen eine mittlere Position in einer Skala der Artikelsetzung, während Englisch grundsätzlich den Artikel fordert und Ungarisch in der Regel keinen Artikel zulässt. Definite und indefinite Artikel werden sprachübergreifend zur Auszeichnung von NPs in generischen Konstruktionen gebraucht. Dabei wird bei Individuativa der definite Singularartikel für Art-Bezeichnungen (oder auch ‚Art-Benennungen‘) im engeren Sinne verwendet (wie in DEU Der Dinausaurier ist ausgestorben); im Französischen und Ungarischen ist auch bei Kontinuativa der definite Singularartikel obligatorisch (FRA L’eau est bonne pour la santé vs. DEU Wasser ist gut für die Gesundheit). Indefinite Artikel sind hier ausgeschlossen. Im Deutschen und Englischen können auch Plural-NPs mit definitem Artikel und artikellose NPs bei generischem Bezug auf Arten auftreten, während im Französischen nur der definite Pluralartikel hier zur Anwendung kommt. Bei Satz-Generizität, also etwa wenn Aussagen über charakteristische oder stereotype Merkmale der Referenten gemacht werden, sind im Deutschen, Englischen und Französischen auch NPs mit indefinitem Artikel möglich, während dies im Ungarischen nur in wenigen Fällen möglich ist. Signifikant ist, dass im Ungarischen bei Satz-Generizität in der Regel auch in solchen generischen Sätzen definite Artikel obligatorisch sind, wo im Deutschen, Englischen oder Französischen indefinite auftreten würden.

B1.3

Adjektive

B1.3.1 Funktionale und typologische Charakterisierung  343 B1.3.1.1 Bestimmung der Wortart  343 B1.3.1.2 Semantische und syntaktische Funktionen  348 B1.3.1.3 Semantische Subklassen  354 B1.3.1.4 Spezifizierung der Varianzparameter  356 B1.3.2 Anteil morphologisch einfacher Adjektive in den zentralen semantischen Klassen  357 B1.3.3 Ausdrucksformen der Komparation  364 B1.3.4 Realisierung sekundärer funktionaler Domänen  384 B1.3.4.1 Prädikativkomplemente  384 B1.3.4.2 Depiktive  388 B1.3.4.3 Resultative  390 B1.3.4.4 Adverbialia  391 B1.3.5 Zur Wortbildung des Adjektivs  392 B1.3.5.1 Derivation von Relationsadjektiven (im Vergleich zur Derivation von Qualitätsadjektiven)  393 B1.3.5.2 Phrasale Ableitungen  399 B1.3.6 Zusammenfassung  404

Lutz Gunkel

B1.3 Adjektive B1.3.1 Funktionale und typologische Charakterisierung Adjektive sind keine universale Wortart. Anders als in Bezug auf Substantive oder Verben herrscht in der Sprachtypologie (weitgehend) Einigkeit darüber, dass Sprachen existieren, die nicht über eine grammatisch eigenständige Klasse von Adjektiven verfügen (vgl. u. a. Rijkhoff 2004: 17). Die primäre semantische Funktion von Adjektiven, die Zuschreibung von Qualitäten zu prototypischen materiellen Gegenständen – in erster Linie Personen – wird in solchen Sprachen durch andere, z. T. syntaktisch komplexe Ausdrucksmittel realisiert. In → A4.1, → D3, → D4 und → D7 wird gezeigt, in welchem Maße die von uns untersuchten Vergleichssprachen ebenfalls von solchen Mitteln – neben adjektivischen Attributen – Gebrauch machen. Da der Zugriff auf die Wortarten in unserem Ansatz über sprachübergreifende, pragmatisch-funktionale Domänen vermittelt ist, sei hier auf → A2, → A3 und → A4 verwiesen. Zu Abgrenzungsfragen der Wortarten untereinander vgl. vor allem → B1.1.  



B1.3.1.1 Bestimmung der Wortart Adjektive treten primär als syntaktische Attribute auf. Ihre zentrale funktionale Domäne ist die begriffliche (nicht-referentielle) Modifikation von substantivischen und damit von gegenstandsbezogenen Begriffen. Diese für die Wortart der Adjektive konstitutive Funktion bezeichnet Bhatt (2002: 757) als deren kategoriale Funktion. Sofern eine Sprache überhaupt über Adjektive verfügt, fungieren sie als adnominale, begriffliche und, wie wir weiter unten sehen werden, vor allem qualitative Modifikatoren. Neben ihrer modifikativen Funktion innerhalb einer Nominalphrase können Adjektive sprachabhängig in weiteren Funktionsbereichen auftreten, die gegenüber der adnominalen Modifikation als markiert gelten können. Wir sprechen dann von peripheren Funktionsbereichen. Bestimmte Subklassen von Adjektiven – insbesondere Quantitäts- und Relationsadjektive – sind sprachübergreifend weitgehend aus peripheren Domänen ausgeschlossen. Für die prototypische Subklasse der Qualitätsadjektive ist die Möglichkeit der Realisierung solcher Domänen dagegen sprachabhängig. Die Bestimmung der Wortart Adjektiv unter Rekurs auf die funktionale Domäne der Modifikation erfolgt im Anschluss an sprachtypologische Arbeiten wie Croft (1991: 67), Hengeveld (1992a: 58) oder Bhat (1994: 5). Sie ist aber nicht unumstritten (Baker 2003: 194 f.; Cinque 2010: 35). Problematisch sei – so die Kritik –, dass dabei die prädikative Funktion der Adjektive zugunsten ihrer modifikativen in den Hintergrund trete. Dagegen spreche, dass es Sprachen gebe, deren Adjektive nur prädikativ, nicht  

344

B Wort und Wortklassen

aber attributiv fungieren können (Baker 2003: 194 f.). Zudem fänden sich auch in Sprachen mit attributiven Adjektiven wie dem Englischen Teilklassen, die auf die prädikative Funktion beschränkt seien (ebd.).  

Baker (2003: 192) stellt zunächst fest: „The most obvious distinctive characteristic of adjectives is that they modify nouns directly, in the so-called attributive construction.“, will aber dann diese Eigenschaft offensichtlich nicht als notwendige Bedingung verstanden wissen (ebd.: 194): „Nevertheless, I believe that it is wrong to make the ability to modify nouns the defining or characteristic property of the category adjective.“

Beide Einwände sind nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen. Auch in einem Teil der typologischen Literatur wird der Adjektivbegriff so konzipiert, dass die attributive, modifikative Funktion keine notwendige Bedingung für die Zugehörigkeit zur Wortart der Adjektive darstellt. Dixon (2004: 10) etwa charakterisiert Adjektive als Wörter, die typischerweise zwei Funktionen in der Grammatik einer Sprache übernehmen können: Sie dienen entweder zur näheren Bestimmung des Referenten einer Nominalphrase oder zur Zuschreibung von Eigenschaften. Im ersten Fall sind sie adnominale Modifikatoren, im zweiten entweder „Kopulakomplemente“ (copula complements) oder „intransitive Prädikate“ (intransitive predicates). Die von Dixon angesprochenen zwei verschiedenen semantischen Funktionen, die Adjektive übernehmen können, entsprechen den funktionalen Domänen der adnominalen Modifikation und der Prädikation (→ A1.2). Die weitere Unterscheidung in „Kopulakomplemente“ und „intransitive Prädikate“ differenziert wiederum im Bereich der syntaktischen Funktionen: Kopulakomplemente sind nach dem von uns angenommenen Inventar an syntaktischen Funktionen (adjektivische) Prädikative, intransitive Prädikate wären Prädikate, wie sie prototypischerweise von verbalen Köpfen einer syntaktischen Einheit realisiert werden, die eine Proposition ausdrückt (→ A1). Ob Elemente der Wortart Adjektiv in ihrer syntaktischen Funktion als intransitive Prädikate der Konstituentenkategorie Adjektiv oder Verb zuzurechnen sind, ist eine weitere Frage, die auch von sprachspezifischen Bedingungen abhängt und der wir schon von daher nicht weiter nachgehen. Dixon (2004) führt im Laufe des Textes mit der Funktion des Adverbiales (adverbial) eine weitere syntaktische Funktion ein, die aber nicht weiter thematisiert wird. Die Funktion als intransitives Prädikat bezeichnen wir in diesem Abschnitt auch als verbale Funktion, um sie terminologisch deutlich von der prädikativen Funktion eines adjektivischen Prädikativs (oder Kopulakomplements) abzugrenzen.  

Dixon betont, dass es Sprachen gebe, in denen Adjektive nur jeweils eine der drei Funktionen – attributiv, prädikativ, verbal – realisieren. So treten Adjektive in einer Reihe von karibischen Sprachen, darunter Hixkaryána und Tiriyó (beide Brasilien, ebd.: 28) weder attributiv noch verbal, sondern lediglich prädikativ und adverbial auf. Um ein Kopfsubstantiv zu modifizieren, muss ein Adjektiv zunächst kategorial angepasst, d.h. im vorliegenden Fall nominalisiert werden (ebd.: 29). Eine weitere Gruppe bilden Sprachen mit „verbähnlichen“ Adjektiven, die ausschließlich als intransitive Prädikate fungieren. Solche Adjektive müssen wiederum, um auf ein Substantiv bezogen werden zu können, mit einem Relativmarker versehen werden. Nur wo dieser optional ist, ließen sich die Adjektive noch als adnominale Modifikatoren auffassen.

B1 Wortklassen

345

Obligatorisch sind solche Relativmarker dagegen im Edo (Niger-Kongo, Nigeria, ebd.: 30), wo die Adjektive also nur in Form von Relativsätzen angebunden werden können. Zu beachten ist, dass für die kritischen Fälle nicht attributiv verwendbarer Adjektive auch alternative Klassifizierungen diskutiert werden. Da aber die betreffenden Wörter mit Blick auf andere Wortarten ebenso wenig typische Vertreter darstellen würden, ist es schwierig, wenn nicht unmöglich, solche Klassifizierungsfragen empirisch zu entscheiden. Es geht letztlich darum, ob die fraglichen Wörter eher als untypische Adjektive, untypische Adverbien oder untypische Verben zu behandeln sind; und eine Entscheidung in dieser Frage hängt davon ab, welcher der betreffenden Wortartbegriffe sich entsprechend weit fassen lässt, ohne seine distinktive Funktion einzubüßen. Um auf eines der genannten Beispiele zurückzukommen: Die von Dixon als Adjektive klassifizierten Wörter der karibischen Sprachen werden von Derbyshire (1979, 1985) als Adverbien behandelt (Dixon 2004: 29), was Dixon allerdings für unangemessen hält, da Adverbien „normalerweise“ nicht als Kopulakomplemente auftreten würden. Auf die grammatische Nähe dieser Wörter zu den Adverbien weist er gleichwohl hin: „It is perhaps not surprising that the Carib adjective class, which functions only as copula complement and as adverb, should include words of place and time which are typically coded as adverbs in other languages.“ (Dixon 2004: 29) – Hinzu kommen offenbar Unklarheiten in der Datenanalyse: Die Adjektive im Edo, die nach Dixon in Relativsätze eingebettet werden müssen, bevor sie auf Substantive bezogen werden können, werden bei Baker (2003: 192) als Beispiele für Adjektive angeführt, die Substantive direkt modifizieren können.

Baker (2003: 207) wiederum führt Slave (Athapaskisch, Nord-Kanada) als Beispiel für eine Sprache an, in der Adjektive nur prädikativ, nicht aber attributiv auftreten können, ein Fall, auf den sich auch Cinque (2010: 35) beruft. Im Slave können Adjektive Substantive nicht „direkt“ modifizieren; um auf Substantive bezogen werden zu können, müssen sie in Relativsätze eingebettet werden, was in diesem Fall einen Komplementierer und eine Kopula erfordert (ebd.). In der Grammatik von Rice (1989), auf die sich Baker stützt, wird die Frage angerissen, inwiefern sich die Adjektive von Adverbien unterscheiden, mit denen sie eine Reihe grammatischer Eigenschaften gemeinsam haben (ebd.: 390): Ebenso wie Adverbien seien Adjektive im Slave unflektierbar (Partikeln) und könnten als Komplemente von Verben, darunter Kopulaverben, auftreten, nicht aber als Subjekte oder Objekte. Anders als Adjektive könnten aber Adverbien mit einer größeren Klasse von Verben kombiniert werden, während Adjektive wiederum im Gegensatz zu Adverbien Komplemente nehmen könnten. Angesichts dieser Datenlage ist es zumindest nicht zwingend, die fraglichen Wörter nicht als Subklasse der Adverbien zu behandeln. Betrachtet man die in Rice angeführten Beispielwörter, dann scheint die Etablierung einer eigenen Wortart Adjektiv nicht zuletzt semantisch motiviert zu sein: Es handelt sich um Wörter, die Qualitäten bezeichnen und im Englischen durch typische Qualitätsadjektive wie happy ‚glücklich‘, embarrassed ‚peinlich berührt‘, proud ‚stolz‘, angry ‚verärgert‘, difficult ‚schwierig‘ etc. wiedergegeben werden.

346

B Wort und Wortklassen

Wir halten daher an einer übereinzelsprachlichen konzeptionellen Festlegung der Wortart Adjektiv fest, der zufolge eine Sprache dann und nur dann über Adjektive verfügt, wenn deren prototypische Vertreter Wörter sind, deren Formen „direkt“ – d. h. im Sinne der Konzeptionen in Croft (1991) und Hengeveld (1992a) ohne zusätzliche formale Mittel – als Modifikatoren substantivischer Formen fungieren können.  

Die Bedingung ‚ohne zusätzliche formale Mittel‘ hat Ausnahmen: Wortarten müssen – wie alle grammatischen Kategorien – so konzipiert sein, dass sie sinnvolle, aussagekräftige und theoretisch fruchtbare Generalisierungen erlauben. Dixons Bestimmung macht explizit von einer disjunktiven Bedingung Gebrauch, die entsprechend unterschiedliche Klassen bestimmt, deren Zusammenfassung letztlich rein terminologisch erfolgt. Ob so gebildete Begriffe theoretisch tragfähig sind, mag dahingestellt bleiben. Für das Problem, wie in einer Sprache, die nicht über attributive Adjektive verfügt, prädikativ verwendbare Wörter zu kategorisieren sind, die auch nicht anderen Wortarten zugeordnet werden können, bietet sich als Alternativlösung an, sie als eigenständige Wortart zu etablieren. (So setzt z. B. die IDS-Grammatik 1997: 55 f. für ausschließlich prädikativ auftretende Elemente im Deutschen, die weder nominal noch adverbial sind, eine eigenständige Wortart Adkopula an.) Wir ziehen die Annahme einer solchen separaten Wortart jedenfalls einem disjunkten Adjektivbegriff vor.  



Die von uns angesetzte Minimalbedingung für das Vorliegen der Wortart Adjektiv wird von allen Vergleichssprachen erfüllt. Nach dem in → B1.1 angesetzten Wortartenbegriff kann eine Wortart in einer Sprache aber auch periphere Vertreter enthalten. Im vorliegenden Fall sind es Adjektive, die ausschließlich prädikativ verwendbar sind. Voraussetzung für die Kategorisierung als Adjektive sind allerdings signifikante grammatische Gemeinsamkeiten mit den prototypischen Vertretern der betreffenden Wortart. Die hierfür in Frage kommenden Bedingungen sind einzelsprachspezifisch festzulegen, wobei den zugrunde liegenden grammatischen Eigenschaften, sofern sie übereinzelsprachlich auftreten, von Sprache zu Sprache unterschiedliches Gewicht zukommen mag. Die Unterscheidung zwischen zentralen und peripheren Vertretern einer Wortart ist vor dem Hintergrund der in diesem Handbuch vorausgesetzten Wortartenkonzeption zu verstehen. Andere Grammatiker haben hierzu andere Auffassungen und gebrauchen ‚zentral‘ und ‚peripher‘ in einem anderen Sinn. So rechnen etwa Quirk et al. (1985: 403) nur solche Adjektive zum zentralen Bereich, die zugleich attibutiv und prädikativ fungieren können. Wenn man so verfährt, ist der zentrale Bereich allerdings sehr beschränkt und umfasst noch nicht einmal die Relationsadjektive, die zudem für das Englische eine wichtigere Rolle spielen als für das Deutsche. Wir vertreten dagegen – im Einklang mit den o. g. typologischen Arbeiten (Croft 1991; Hengeveld 1992a) – die Auffassung, dass die prädikative Funktion – genauer: ihr semantisches Korrelat, die Prädikation – eine periphere funktionale Domäne der Adjektive darstellt. Ausdrucksseitig zeigt sich das darin, dass die Realisierung der prädikativen Funktion durch ein Adjektiv häufig ein Kopulaverb (vgl. z. B. DEU Sie ist betrunken), ein Halbmodalverb (vgl. z. B. DEU Sie scheint betrunken) oder ein Vollverb (vgl. z. B. DEU Mit 2,3 Promille gilt man als betrunken) erfordert.  











Periphere Adjektive finden sich in allen Vergleichssprachen, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Beispiele sind in (1) aufgeführt. Manche der ausschließlich

B1 Wortklassen

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prädikativ verwendbaren Adjektive wie DEU untertan, zugetan verlangen ein obligatorisches Komplement (vgl. Sie ist dem Wein sehr zugetan). Im Polnischen existiert eine kleine Klasse von Adjektiven, die über Kurz- und Langformen verfügen; hier sind allein die – nur im Nominativ vorhandenen und als archaisch geltenden – Kurzformen in prädikativer Funktion zulässig. Die mit ‚%‘ gekennzeichneten Wörter sind für manche Sprecher des Ungarischen in prädikativer Funktion kaum akzeptabel. Die Frage, ob bestimmte Adjektive ausschließlich prädikativ verwendbar sind, spielt in der französischen Grammatikographie allenfalls eine marginale Rolle. Im Französischen sind so gut wie alle Adjektive attributiv verwendbar. Das mag damit zusammenhängen, dass im Französischen neben flektierenden auch nicht-flektierende attributive Adjektive existieren und dass durch die Nachstellung der Adjektive die Abgrenzung zu appositiven Strukturen nicht immer eindeutig ist (→ D1.2.3.1.5). (1) DEU a. entzwei, ok, knülle, pleite, schade, schuld, scheiße b. gewillt, untertan, zugetan ENG faint, ill, content, drunk, glad, present, rife, sorry, ok (Huddleston/Pullum 2002: 560) FRA aise ‚entspannt, bequem‘ (Grevisse/Goosse 2011: 282), ok, quitte ‚quitt‘ POL a. kontent ‚zufrieden‘, rad ‚froh‘ b. ciekaw ‚gespannt‘ (vs. ciekawy), godzien ‚würdig‘ (vs. godny), gotów ‚bereit‘ (vs. gotowy), winien ‚schuldig‘ (vs. winny), wart ‚wert‘ (vs. warty) (vgl. Brooks 1975: 269; Swan 2002: 137; Sadowska 2012: 238) Traditionell gilt nur die Kurzform wart als korrekt; Sadowska (ebd.) gibt jedoch auch die Langform warty an.

UNG

oké ,ok‘, mindegy ‚egal‘, kvitt ‚quitt‘, %igaz ‚wahr‘, %tilos ‚verboten‘

Dass es sich bei diesen Wörtern überhaupt um – wenn auch im peripheren Bereich der Wortart angesiedelte – Adjektive handelt, ist durch anderweitige syntaktische oder semantische Gemeinsamkeiten mit den prototypischen Vertretern der Wortart zu begründen. Einer der einschlägigen diagnostischen Tests besteht in der Graduierbarkeit mithilfe von Intensitätspartikeln, vgl. (2). Ein weiterer prüft die Möglichkeit, Komplemente zu nehmen, vgl. (3). (2) DEU sehr/zu/wirklich schade, ziemlich pleite, total scheiße ENG very drunk/ill/content/sorry POL a. Piotr był bardzo rad, że nie zachorował. NEG erkrank.PRT .3SG .M Piotr war sehr froh dass ‚Piotr war sehr froh, dass er nicht krank geworden ist.‘

348

B Wort und Wortklassen

b. Ten

samochód jest wiele wart. Auto ist viel wert ‚Dieses Auto ist viel wert.‘ UNG a. Nekem (ez) teljesen mindegy. DEM ganz egal 1SG . DAT ‚Mir ist das ganz egal.‘ b. Nagyjából kvittek vagyunk. sein.1PL im Großen und Ganzen quitt.PL ‚Im Großen und Ganzen sind wir quitt.‘ c. Ez nem oké. DEM NEG ok. ‚Das ist nicht ok.‘ DEM

Bei UNG kvitt zeigt sich der Adjektivstatus zudem in der Numeruskongruenz (Beispiel b). Im aBeispiel liegt keine Kongruenz vor, weil es sich um eine unpersönliche Konstruktion handelt. Dagegen zeigt UNG oké grundsätzlich keine Numeruskongruenz.

(3) DEU POL

jemandem untertan sein, einer Sache sehr zugetan sein Marek nie jest mnie wart. NEG ist POSS . SG . 1G GEN EN wert Marek ‚Marek ist meiner nicht wert.‘

Wir skizzieren zunächst die funktionale Domäne der Modifikation mit Blick auf die Möglichkeit der adjektivischen Realisierung ihrer Subdomänen, der qualitativen, klassifikatorischen und referentiellen Modifikation. Im Anschluss gehen wir kurz auf weitere funktionale Domänen ein. Dazu zählen die nominale Quantifikation, die Prädikation und die adverbiale Modifikation.

B1.3.1.2 Semantische und syntaktische Funktionen Adnominale Modifikation Als begriffliche Modifikatoren unterscheiden sich Adjektive einerseits von Relativsyntagmen, die assertorisch modifizierend wirken (→ D6), und andererseits von adnominalen Nominal- und Adpositionalphrasen (vor allem in der Funktion von Possessiv- und Lokalattributen), die in modifikativer Funktion in erster Linie referentiell – und sofern es sich um nicht-valenzgebundene Modifikatoren handelt – referentiell-verankernd fungieren (→ D3, → D4). Adjektive dienen dagegen prototypisch der qualitativen, daneben auch der klassifikatorischen Modifikation. Marginal können Adjektive auch in verankernder Funktion auftreten; sie verhalten sich dann wie referentielle Ausdrücke, ohne jedoch pronominalisierbar zu sein. Hierbei handelt es sich zumeist um Adjektive, die von Eigennamen (wie bei goethesch, Mannheimer) und

B1 Wortklassen

349

deiktischen Adverbien (wie bei dortig, heutig) abgeleitet sind (→ A4.3.3.5). Im Folgenden bezeichnen wir solche Ausdrücke als pseudo-referentiell-verankernd oder schlicht als pseudo-referentiell. Ein Überblick über die möglichen semantischen Funktionsbereiche adjektivischer Attribute ist – mit den entsprechenden Beispielen – in Tabelle 1 aufgeführt. Tab. 1: Funktionale Subdomänen adjektivischer Modifikatoren begrifflich

verankernd

qualitativ

die langen Haare

klassifikatorisch

die wirtschaftlichen Maßnahmen

pseudo-referentiell

die dortige Bevölkerung

Evidenz für den Status der qualitativen Modifikation als prototypischen Funktionsbereich der Adjektive lässt sich aus typologischer Perspektive gewinnen. Sprachen, die lediglich über geschlossene und quantitativ kleine Adjektivklassen verfügen, verwenden Adjektive ausschließlich zur Zuschreibung von Qualitäten aus Bereichen wie Alter, Dimension, Wert und Farbe (vgl. Dixon 1977, 1982). In Sprachen mit offenen Klassen von Adjektiven gilt Analoges für den Bereich der morphologisch einfachen Adjektive, da es sich bei klassifikatorischen und pseudo-referentiellen Adjektiven in aller Regel um explizite Ableitungen handelt. Zudem existiert sprachübergreifend eine Reihe von alternativen und konkurrierenden formalen Verfahren zur Realisierung klassifikatorischer Modifikation, i. e. Komposition und Attribution genitivischer und anderer, vor allem possessiver Attribute (→ A4.2, → D3.11), die auch in Sprachen, die über Adjektive verfügen, zum Tragen kommen. Dies gilt umso mehr für den Bereich der verankernden Modifikation, dessen adjektivische Realisierung ohnehin nur marginal ausgeprägt ist. Dagegen sind in Adjektivsprachen konkurrierende Verfahren zur Realisierung qualitativer Modifikation nur beschränkt vorhanden (→ A4.1). Für den zentralen Bereich der Attribution lässt sich für die Adjektive daher die Prototypizitätsskala in (4) etablieren (mit ‚ > >

distant from ego time unstable non salient

Bereits aus diesen Präferenzen ergibt sich, dass Lebewesen (Personen, höhere Tiere) und Orte die größte Chance auf Namensträgerschaft haben.

B1.4.3.1.1 Semantische Bestimmung von Eigennamen Eigennamen (wie Goethe) gehören ebenso wie Kennzeichnungen (wie der Verfasser des Faust) in der philosophisch-semantischen Tradition zu den singular terms: Im Gegensatz zu den general terms werden sie zur Referenz auf Individuen, nicht auf Klassen gebraucht; zu Eigennamen und Kennzeichnungen als referentielle Ausdrücke vgl. auch → A2.3. Dabei wird nach wie vor um die Kernpunkte zweier gegenläufiger Sehweisen debattiert: Auf der einen Seite werden Eigennamen in der Tradition von Frege und Russell als analog zu Kennzeichnungen interpretiert und somit in jedem Fall als beschreibende und somit prädizierende Ausdrücke – wobei wiederum strittig ist, ob von einer bestimmten Deskription oder von einem Bündel von Deskriptionen im Sinn von Searle (1958) auszugehen ist. Auf der anderen Seite steht die Auffassung als starre Designatoren (rigid designators) in der Tradition von Kripke, nach der ein Eigenname, anders als eine Kennzeichnung auch relativ zu kontrafaktischen Situationen (oder ‚möglichen Welten‘) immer ein bestimmtes, fixes Individuum bezeichnet. Dabei wird, so scheint es, auf der Seite des „Kennzeichnungsansatzes“ jene z. B. von Kneale (1962) vertretene Variante favorisiert, bei der die Kennzeichnung auf dem Prädikat ‚ist Träger des Namens X‘ bzw. ‚heißt X‘  



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B1 Wortklassen

beruht. Der Name Sokrates wäre dann zu lesen als die Kennzeichnung der Träger des Namens ‚Sokrates‘ bzw. das Individuum, das ‚Sokrates‘ heißt. Vorteil dieser Herangehensweise ist, dass Eigennamen hier wie andere Ausdrücke der Sprache Bedeutungen haben, die verschieden sind von dem Referenzobjekt. Diesem Ansatz wird entgegengehalten, er sei zirkulär bzw. er nutze als Definiens das, was eigentlich definiert werden soll. Zu ersetzen sei das Prädikat der Namensträgerschaft durch ein Konzept der Benennungstradition, das seinerseits auf Kripkes (1980: 91 f.) Idee einer „chain of communication“ zurückgeht. Hier wird auch von einer ‚kausalen Eigennamen-Interpretation‘ gesprochen. Anhänger der in dieser Weise modifizierten, auf die Namensträgerschaft reduzierten Kennzeichnungstheorie aus den Reihen der Linguistik (Geurts 1997; Karnowski/ Pafel 2005) machen Gemeinsamkeiten zwischen EN und Kennzeichnungen (i. e. definiten Deskriptionen) geltend, die den Status von EN als starre Designatoren in Frage stellen. Genannt werden u. a. folgende Punkte:  





1.

Auch bei EN gebe es die donnellansche Unterscheidung zwischen referentiellen und attributiven Lesarten. So könnten (vgl. Geurts 1997: 321) zwei Gesprächspartner, die aus der Ferne einen Herrn Smith beobachten und ihn fälschlicherweise für Herrn Jones halten, durchaus erfolgreich mit dem EN Jones auf Smith referieren. Nach Kripke (1993: 227–231, 251), auf den das Beispiel zurückgeht und der zwischen „semantischer Referenz“ und „Sprecherreferenz“ unterscheidet, ist dieses Beispiel nicht einschlägig (vgl. auch Kleiber 1981: 322–324; Wolf 1993: 40): Durch die fälschliche Namensverwendung haben die Gesprächspartner die bisherige Benennungstradition für Jones unterbrochen und ggf. eine neue etabliert. Das Beispiel ist jedoch keine Instanz einer referentiellen und damit nicht-attributiven Verwendung im Sinne von Donnellan, denn solche attributiven Lesarten liegen bei Eigennamen, die keinen deskriptiven Gehalt haben, nicht vor. Sehr wohl trifft jedoch zu, dass Namen de dicto-Lesarten haben, so dass in intensionalen Kontexten referenzgleiche EN nicht ohne Weiteres miteinander austauschbar sind, vgl. (2). (2)

Anna glaubt, dass Cicero/Tullius ein römischer Redner war.

Man beachte auch, dass Kripke (1993: 214) ausführlich erörtert, dass die beiden Dichotomien ‚referentiell – attributiv‘ und ‚de re – de dicto‘ auseinander zu halten sind.  

2.



Auch EN könnten generische Lesarten haben. Beispiel: (3)

Auch Coca Cola wurde in Amerika erfunden.

Das Beispiel überzeugt nicht. Coca Cola als Marken- nicht als Firmenbezeichnung ist unter semantischer Perspektive kein Eigenname, sondern kontinuatives Appellativum, das ebenso wie seine nicht-markenmäßigen und daher „nicht-künstlichen“ Gegenstücke, z. B. Bier, Sprudel usw. selbstverständlich generisch verwendet werden kann.  

Linguistische Anhänger der Starre-Designatoren-Sehweise (vgl. Longobardi 1994, 2005) dagegen weisen auf die großen Unterschiede hin und beharren insbesondere darauf, dass EN – zumindest in ihren „normalen“ Lesarten – weder attributive Les 



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B Wort und Wortklassen

arten haben noch generisch interpretiert werden, und versuchen ggf. diese Unterschiede gegenüber Appellativa auch in der Syntax sichtbar zu machen. Eine Kompromisslösung verfolgen Lerner/Zimmermann (1991). Sie wollen einerseits die intuitiven Vorteile der kripkeschen Sehweise – sie sprechen hier von „direkter Referentialität“ – wahren, auf der anderen Seite wollen sie auch bei EN wie bei anderen Sprachzeichen zwischen Bedeutung und Referenz unterscheiden. Die Bedeutung eines EN rekonstruieren sie als Individualbegriff, somit als Funktion, die relativ zu Äußerungskontexten (und unabhängig von Modalitäten/möglichen Welten) einem Eigennamen N ein Individuum x zuordnet, genau dann, wenn dieses Individuum „am Anfang der einschlägigen (Benennungs-)Tradition für N steht“ (Lerner/Zimmermann 1991: 355). Auch die Kommunikantenpronomina sind ähnlich direkt referentiell, für ihre Verwendung ist jedoch kein Akt der Benennung und keine Weitergabe der vereinbarten Benennung notwendig, sondern allein der Rekurs auf die Äußerungssituation.  



Im Gegensatz zu den Pronomina sind die Eigennamen nach Knobloch (1992: 467) „aperspektivisch“: „Die ratio der Namensgebung kommt eher da zwingend ins Spiel, wo über Individuen (Fernerstehende wie Näherstehende) unabhängig von der Stellung des Sprechers zu ihnen gesprochen wird. Sie treten da ein, wo die spontane Perspektivik der Sprecher die Kommunikation stört: in den Dimensionen der lokalen und personalen Orientierung, die das Zeigfeld überschreiten“. Wichtig erscheint der Hinweis, dass die Orientierungsräume, in denen Deiktika und Propria fungieren, die gleichen sind: „das räumliche und das sozial-personale Feld“ (ebd.: 468 f.). Unter Hinweis auf Kuryłowicz heißt es, Propria und Pronomina seien Sprachmittel, die keinen Inhalt haben, sondern nur eine Anwendungssphäre, Propria restringierten ihre Anwendungssphäre maximal, Pronomina dehnten sie maximal aus.  

Will man dabei berücksichtigen, dass relativ zu Äußerungskontexten für die Kommunikationspartner auch mehrere Träger desselben Namens als Referenten in Frage kommen können, so wäre noch, ähnlich wie bei Kennzeichnungen, das Konzept der Salienz heranzuziehen (vgl. von Heusinger 1997; Karnowski/Pafel 2005), in der Weise, dass es sich in einer Verwendungssituation um das jeweils salienteste Individuum handeln muss, das am Anfang einer einschlägigen Benennungstradition für den Eigennamen N steht. Wir schließen im Folgenden an diese semantische Bestimmung der Eigennamen als Individuenkonzepte mit direkter Referentialität auf der Basis einer Benennungstradition an. Dabei ist nicht vorausgesetzt, dass die „Referenzfixierung“ (Wimmer 1979) durch eine institutionelle Handlung, einen ‚Taufakt‘, erfolgt. Benennungstraditionen können auch informell und unter der Hand etabliert werden; Taufakte sind den so genannten ‚Taufnamen‘ (z. B. Personen-Vornamen, Schiffsnamen) vorbehalten.  

Auch in Nübling/Fahlbusch/Heuser (2012: 17–20) wird unter den Stichwörtern „Monoreferenz“ und „Direktreferenz“ auf die beiden konstitutiven Merkmale der Individuenbezeichnung und des Fehlens deskriptiver Bedeutung abgehoben.

B1 Wortklassen

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Aus linguistischer Sicht ist weniger die Frage bedeutend, ob nach dem Stand der philosophisch-semantischen Debatte nun EN als Kennzeichnungen zu betrachten sind oder nicht – in Karnowski/Pafel (2005: 51) wird hier von symmetrischer versus asymmetrischer Theorie gesprochen – als vielmehr die Tatsache, dass EN anders als Kennzeichnungen mit appellativischem Kopf nichts über den Namensträger aussagen, das über die Namensträgerschaft hinausginge. Wohl können mit Namen „konnotative“ Informationen verbunden sein, die sich aus den Benennungstraditionen bestimmter sozialer Gemeinschaften herleiten. An erster Stelle ist hier die in vielen Kulturen übliche Tendenz zu disjunkter Verteilung der Personen-Vornamen auf die beiden Geschlechter zu nennen. Aus der Tatsache, dass Eva ein weiblicher, Hans ein männlicher Vorname ist, folgt jedoch nicht, dass [+weiblich] bzw. [+männlich] jeweils Teil der Bedeutung dieser Vornamen wäre. Dass es sich um kulturelle Konventionen handelt, zeigt sich z. B. daran, dass türkische Vornamen häufig geschlechtsneutral sind; auch im Französischen (mit z. B. Dominique) oder im Deutschen (z. B. mit Helge) sind geschlechtsneutrale Vornamen nicht ausgeschlossen.  









Bei Kurz- bzw. Kosenamen, vor allem auf -i oder konsonantischen Auslaut (Toni, Uli, Sigi; Chris, Alex; Micha), ist Sexusambiguität häufig; nach Nübling/Fahlbusch/Heuser (2012: 174) stehe dies auch im Zusammenhang damit, dass Kosenamen „weniger referieren als adressieren“. Da man die Person, die man anspreche, kenne, bedürfe es keiner Sexusinformation. Vgl. zu der Auffassung, Sexusinformation sei nicht Teil der Eigennamenbedeutung, etwa Kleiber (1981: 366). Anders jedoch Langendonck (2007), der mit Bezug auf diese mit EN verbundene Sortierung nach „basic level categories“ von „kategorialer Bedeutung“ spricht, der er den Status einer Präsupposition zuordnet. Andere Formen von mit Personennamen verbundenen ‚konnotativen‘ Informationen behandelt Lötscher (1995: 453): „So dürfte in der Schweiz Huldrich mit größter Wahrscheinlichkeit einen reformierten Namensträger verraten, Pirmin dagegen einen (katholischen) Walliser.“ Konnotationen dieser Art sagen aber eher etwas über die Namensgeber als über den Namensträger aus – auch ein Pirmin mag seinem katholischen Glauben und seiner wallisischen Heimat den Rücken kehren – und gehören in den Bereich der Symptomfunktion (nach Bühler) oder der indexikalischen Zeichenfunktion, sie konstituieren keine symbolische Bedeutung.  



Dagegen scheint symbolische Bedeutung vorzuliegen, wenn im Litauischen die Form des Familiennamens einer weiblichen Person anzeigt, ob diese verheiratet oder unverheiratet ist: Namen auf -ytė (Usonytė), -aitė u. Ä. gelten für unverheiratete, Namen auf -ienė für verheiratete (Usonienė); die männliche Form lautet Usonis. Hier ist es aber das Suffix, das auf diese Eigenschaft verweist. Es ist also zu bedenken, ob diese Suffixe als Bestandteil des Eigennamens selbst zu werten sind, oder nicht einen deskriptiven Zusatz darstellen. Ein weiteres, näherliegendes Beispiel ist auch die Anzeige des Geschlechts des Namensträgers durch das Suffix in den slawischen Sprachen (POL Kowalski vs. Kowalska, RUS Volodin vs. Volodina).  

In einem non-trivialen Sinne sind Eigennamen also nicht-deskriptiv, d. h., sie drücken keine Prädikationen aus, ganz unabhängig davon, ob man sie formal über die Namensträgerschaft als Kennzeichnungen rekonstruiert oder nicht. Diese Tatsache lässt sich an den gravierenden Unterschieden ablesen, die auf verschiedenen Ebenen des Sprachsystems zwischen Appellativa und EN gemacht werden. Wichtige Punkte sind  

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B Wort und Wortklassen

die im Folgenden zu behandelnden Aspekte ,semantische Isoliertheit‘, ,Scheindeskriptivität‘ und die aus der nur scheinbaren Deskriptivität folgenden Merkmale.

B1.4.3.1.2 Semantische Isoliertheit, fehlende Sinnrelationen Während die Anwendung von Appellativa auf Gegenstände der Welt – sofern erfolgreich und wahrheitsgemäß – Anlass zu Schlussfolgerungen gibt, die allein in der Kenntnis der lexikalischen Bedeutungen dieser Appellativa gründen (wenn ich z. B. erfahre, dass A Junggeselle ist, so darf ich schließen, dass A unverheiratet und männlich ist), sind mit der erfolgreichen Anwendung eines Namens auf ein Objekt in der Regel keine von allen Sprechern geteilten Schlussfolgerungen verbunden, die auf konventionalisierten, mit den Wörtern vor ihrer Verwendung (also als type bzw. Zeichen) verbundenen „Bedeutungspostulaten“ beruhen würden. Der Gebrauch typischer Eigennamen (Personen-Vornamen wie Hans oder Eva, Flussnamen wie Rhein, Neckar, Stadtnamen wie Rom) ist nach Strawson (1993: 119)  





nicht durch allgemeine Referenz- und Zuschreibungskonventionen […], sondern durch ad-hocKonventionen geregelt […], die sich auf jeden speziellen Gebrauch […] beziehen. […] Unkenntnis des Namens einer Person ist nicht Unkenntnis der Sprache.

Solche Eigennamen stehen daher nicht in Sinnrelationen wie Synonymie, Hyperonymie oder Antonymie zu Elementen des deutschen Wortschatzes, sie sind nicht in ein Wortfeld eingebunden und sie sind nicht übersetzbar. Sehr wohl aber sind bestimmte Eigennamen (z. B. biblische Personennamen) in einem Kulturkreis sprachübergreifend mit jeweils sprachspezifischen morphophonologischen und graphematischen Anpassungen im Gebrauch. Geografische Namen erfahren in unterschiedlichem Maße sprachspezifische Anpassung (vgl. ITA Roma, Firenze, ENG Rome, Florence, DEU Rom, Florenz). Man kann hier auch von „proprialen Internationalismen“ sprechen (Šrámek 1995: 382). Daneben sind „Übersetzungen“ von Ortsnamen zu stellen wie POL Zielona Góra, DEU Grünberg sowie das Nebeneinander von Ortsnamen aus unterschiedlichen Benennungstraditionen wie bei DEU Wien, UNG Bécs; UNG Székesfehérvár, DEU Stuhlweißenburg; RUM Sibiu, DEU Hermannstadt.  

Die Schlussfolgerungen, die wir ggf. bei ihrer Verwendung über das jeweilige Objekt ziehen, entstammen lebensgeschichtlich-episodischem Wissen (wie etwa bei Verwendungen von Hans oder Eva usw.) oder enzyklopädischem Allgemeinwissen (wie etwa bei Rhein, Neckar oder auch Aristoteles).

B1.4.3.2 Scheindeskriptivität In scheinbarem Gegensatz zu den im vorigen Abschnitt geschilderten Fakten enthalten viele – präsumptive – EN nicht-propriale lexikalische Bestandteile (z. B. appellativische wie in (der) Eiffelturm oder adjektivische wie in (die) Hohe Tatra), die mögliche Implikaturen und damit deskriptive Bedeutungskomponenten nahe legen. Viele  





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B1 Wortklassen

Einheiten enthalten auch gar keine proprialen Bestandteile und sind nur in ihrer Gesamtheit als EN zu werten (vgl. z. B. (das) Institut für Wissensmedien, (die) Vereinigte(n) Staaten). Allerdings erweisen sich diese deskriptiven Bestandteile oft als trügerisch, in der Formulierung von Kripke (1980: 26):  

I guess everyone has heard about The Holy Roman Empire, which was neither holy, Roman nor an empire. Today we have The United Nations. Here it would seem that since these things can be so-called even though they are not Holy Roman United Nations, these phrases should be regarded not as definite descriptions, but as names.

Das heißt, in Eigennamen, auch in „sprechenden Eigennamen“, stehen nicht-propriale lexikalische Bestandteile und ein damit verbundener deskriptiver Gehalt nur im Dienst der Identifikation von Referenten. Die normalerweise somit angelegte Verifikationsregel (‚wenn ein Individuum Heiliges Römisches Reich heißt, muss es heilig, römisch und ein Reich sein‘) ist grundsätzlich dispensiert, auch wenn Deskriptionen durchaus zutreffen können. Man kann von ‚Scheindeskriptivität‘ sprechen. Dies steht nicht im Widerspruch dazu, dass sprachgeschichtlich Eigennamen in aller Regel auf nicht-propriale Bezeichnungen zurückgehen. Man denke an die Herleitung deutscher Familiennamen aus Berufs- oder Herkunftsbezeichnungen oder die Entstehung vieler Vornamen aus mit dem Taufakt verbundenen „Heilswünschen“ bzw. magischen Beschwörungsformeln (Lötscher 1995: 454). Mit dem Übergang zum Eigennamen geht die deskriptive Bedeutung verloren.

B1.4.3.3 Grammatische Folgen der Sonderstellung der Eigennamen Die offensichtlichste Folge aus der Tatsache, dass deskriptive lexikalische Einheiten in EN in gewissem Sinne „uneigentlich“ verwendet werden, ist, dass in EN, die die Struktur von Komposita mit substantivischem/appellativischem Kopf (Grundwort) haben, das Prinzip der Genusdetermination durch den Kopf aufgehoben sein bzw. durch übergeordnete Prinzipien der Genuszuweisung nach dem Namenstyp überschrieben werden kann. Man vergleiche Ortschaftsnamen wie Frankfurt, Weißensee, Neustadt, Meersburg. Diese haben wie alle Namen von Städten oder Dörfern neutrales Genus, obwohl ihre formalen Kopfkonstituenten Femininum oder Maskulinum sind. Ihre Kopfkonstituente ist nur „scheindeskriptiv“: Der Ort Frankfurt ist keine Furt, der Ort Weißensee ist kein See. In den anderen Vergleichssprachen mit (abstraktem) Substantivgenus, nämlich Französisch und Polnisch, sind die Verhältnisse z. T. anders. Wir untersuchen daher mit dem Parameter ‚Genusdetermination bei Eigennamen‘, von welchen Faktoren die Genusdetermination bei Eigennamen interlingual abhängt.  

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B Wort und Wortklassen

B1.4.3.3.1 Die Rolle des pragmatischen Faktors ‚Referenzfixierung‘ In die semantischen Bestimmungen von Eigennamen gehen pragmatische Komponenten notwendig ein: Eigennamen beruhen essentiell auf Akten der „Referenzfixierung“ (Wimmer 1979). Solche Akte der (relativ) freien Stiftung von Zuordnungen zwischen Sprachelementen und Elementen der Realität sind in entwickelten Sprachen außergewöhnlich, sind wir doch an die Konventionen des Sprachsystems einschließlich der konventionellen untereinander vernetzten Wortbedeutungen gebunden. Insofern als diese Freiheit der Bezeichnungsfixierung in die semantische Bestimmung mit eingeht, ist sie notwendig für den EN-Status. Diese pragmatische Besonderheit ist jedoch nicht hinreichend für den Status als Eigenname. Akte der Bezeichnungsfixierung kommen im Zuge von Entdeckungen, Erfindungen und Entwicklungen in Wissenschaft, Technik und Wirtschaft allenthalben vor. Um uns wimmelt es nur so von frisch geprägten Bezeichnungen für neue Pflanzenzüchtungen, Automarken, Flugzeuge, Computersysteme, Haarfärbemittel, Medikamente usw. Im Allgemeinen zielen diese Bezeichnungsakte aber nicht auf Individuen ab, sondern auf ganze Spezies (wie bei Pflanzenzüchtungen) oder auf Mengen von Artefakten, die als „massenhaft produzierte Serienobjekte“ (Šrámek 1995: 381) nach demselben Modell, derselben Bauanleitung oder Rezeptur hergestellt werden, wie (die) Concorde, (das) Windows-XP oder (die) Coca Cola. Allerdings ist das ontologische Verhältnis zwischen dem Computersystem als singulärem Produkt menschlicher Leistungen und seiner serienmäßigen Realisierung (Installation) auf unseren PCs ebenso prekär wie das Verhältnis zwischen dem „Faust“ als singulärem Produkt von Goethes Kreativität und seinen Materialisierungen in den Büchern, die wir lesen, oder den Theateraufführungen, die wir sehen.

Auch die Ergebnisse solcher (nach bestimmten Terminologiesystemen oder Firmenstrategien usw.) erfolgenden Bezeichnungsakte werden häufig unter dem Stichwort Namen (z. B. Produktnamen, Markennamen) geführt. Auch in der philosophischen Tradition gibt es eine Richtung, die insbesondere die Bezeichnungen für natürliche Arten (natural kinds, z. B. Tiger, Zitrone, Wasser, Gold) analog zu den Individualnamen auffasst. Auch sie seien (nach Putnam, Carlson) anders als nominal kinds (wie Junggeselle, Schriftsteller) eigentümlich bedeutungsarm – notwendige und hinreichende essentielle Merkmale kann der normale Sprachbenutzer nicht benennen – und ihre Bedeutung erschöpfe sich daher in der starren Designation, der Benennung oder „Benamsung“ einer Art. Vgl. auch → A4.2, → B1.2.3.8.1. Aus linguistischer Perspektive unterscheiden sich aber lexikalische Einheiten wie Tiger und Junggeselle, Wasser und Saft jeweils sehr viel weniger voneinander als etwa Tiger von Shir Khan oder Junggeselle von Otfried. Auch Concorde und Flugzeug, Coca Cola und Saft haben klare Gemeinsamkeiten, obwohl das erstere jeweils auf einem rezenten Bezeichnungsakt beruht und das letztere über eine Bedeutungsgeschichte verfügt, deren Ursprünge – im Fall von Flugzeug, was die beiden Teile angeht – im Dunklen liegen.  











B1 Wortklassen

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Wie alle individuativen Appellativa werden Tiger, Junggeselle, Concorde, Flugzeug im Singular (wie ihre Entsprechungen im Englischen, Französischen und anderen Artikelsprachen) nicht ohne Determinativ verwendet. Wie andere kontinuative Appellativa werden Coca Cola und Saft mit „Mengen-Quantifikativa“ wie viel, wenig, ein Liter verbunden. Alle diese Appellativa können zudem generisch gebraucht werden. Die Individualnamen Shir Khan und Otfried dagegen haben eigene grammatische Gebrauchsbedingungen und keine generische Verwendung. Produkt- und Markennamen werden daher ebenso wie Bezeichnungen für natürliche Arten im Folgenden nicht als Eigennamen gefasst. Es bestätigt sich somit folgendes Fazit: Als EN fassen wir nicht-deiktische (nichtindexikalische) Ausdrücke, die Individuenkonzepte mit direkter Referentialität auf der Basis einer Benennungstradition denotieren. In die semantische Bestimmung geht der pragmatische Gesichtspunkt einer expliziten (und daher gegenüber den Konventionen des Sprachsystems vergleichsweise freien) Bezeichnungsfixierung ein. Dieser pragmatische Gesichtspunkt ist für sich allein aber nicht hinreichend für den Eigennamenstatus.

B1.4.3.3.2 Das Konzept des grammatischen Eigennamens, Einführung der Varianzparameter Nicht alle Eigennamen im Sinne der oben gegebenen Definition zeichnen sich durch ein spezifisches grammatisches Verhalten gegenüber anderen nominalen Ausdrucksklassen aus. Eigennamen, die die Form von Nominalphrasen haben wie (das) Institut für Deutsche Sprache oder La belle noiseuse / Die schöne Querulantin (Film von Jacques Rivette), verhalten sich morphologisch und syntaktisch wie analog gebaute nichtpropriale Nominalphrasen. (Im Hinblick auf die Schreibung ergeben sich häufig Besonderheiten, die hier nicht behandelt werden sollen.) Aus ihren semantischen Eigenschaften folgt immerhin, dass keine Variation bezüglich der Numerus- und ggf. der Definitheitsmerkmale möglich ist (Biber et al. 2006: 245), ohne dass der Status als Eigenname verloren ginge. Allerdings gilt eine analoge Beschränkung auch für nominale Syntagmen, die Unikate bezeichnen, und die üblicherweise nicht als Eigennamen, sondern als definite Deskriptionen aufgefasst werden, vgl. die Sonne, der Mond, der Kosmos, das Universum, die Welt. Entweder ist hier Pluralsetzung oder die Setzung des indefiniten Artikels ganz ausgeschlossen oder das Substantiv hat bei einer solchen Änderung eine andere Lesart (→ B2.3.3.3). Wir müssen daher die Existenz eines Überschneidungsbereichs zwischen phrasalen Eigennamen und definiten Deskriptionen annehmen, bei dem grammatische Unterscheidungskriterien nicht wirksam werden. Für die Einordnung als definite Deskriptionen wird hier die lexikalisch-semantische Tatsache geltend gemacht, dass die Substantive deskriptiven Charakter haben, so etwa im Falle von Mond ‚Trabant eines Himmelskörpers‘. So kategorisiert von Langendonck (2007: 103) sun, moon als „appellative basic level terms“. Ihre Verwendung im Rahmen der Kennzeichnungen

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B Wort und Wortklassen

ENG the sun, the moon deutet darauf hin, dass es jeweils besonders saliente Elemente dieser Basiskategorien gibt, auf die normalerweise als Sonne bzw. Mond Bezug genommen wird. Anders verhalte es sich bei ENG the earth/the Earth, DEU die Erde, dies sei ein echter EN, vgl. die enge Apposition mit dem Basiskategorien-Ausdruck planet/Planet: ENG the planet Earth, DEU der Planet Erde. Im Englischen hat dieser Eigenname exzeptionellerweise einen Proprialartikel, während dies im Deutschen bei den EN für Gestirne der Regelfall ist. Im Folgenden stehen in erster Linie ‚grammatische Eigennamen‘ zur Debatte. So nennen wir die Subklasse der Eigennamen, die keine phrasale Attributionsstruktur haben. Darunter fallen: –



EN, die nur aus einem proprialen Bestandteil bestehen und somit Wortcharakter haben (wie Afrika, Deutschland). Diese nennen wir ‚grammatische Eigennamen im engeren Sinne‘. EN, die, sofern sie in Komplementfunktion gebraucht werden, neben einem proprialen Bestandteil obligatorisch einen definiten Artikel verlangen (wie DEU die Türkei, ENG the Crimea, FRA l’Afrique). Einen solchen definiten Artikel – oder besser: eine solche Verwendung des definiten Artikels – nennen wir ‚Proprialartikel‘, bezüglich der Eigennamen sprechen wir von ‚grammatischen Eigennamen mit Proprialartikel‘.  



Den Terminus ‚grammatischer Eigenname‘ verwendet auch Neef (2006), allerdings fasst er nur Eigennamen ohne Proprialartikel unter den Begriff. Grammatische Eigennamen im engeren Sinne sind eine Teilmenge der Wortart Substantiv. Man beachte, dass in Sprachen ohne definiten Artikel, wie dem Polnischen, die Unterscheidung zwischen den beiden Typen von grammatischen Eigennamen entfällt. Bei der Subklasse der grammatischen Eigennamen, insbesondere bei den grammatischen EN im engeren Sinne, ist mit grammatischen (morphologischen und syntaktischen) Unterschieden gegenüber sowohl den Appellativa als auch den Nominalphrasen zu rechnen, während (vgl. oben) die übrigen ‚semantischen Eigennamen‘ mit phrasaler Attributionsstruktur sich grammatisch wie definite Nominalphrasen verhalten. Allerdings ist vor allem bei Verbindungen wie ENG Lake Michigan, Isle of Wight, UNG Moszkva tér ‚Moskauer Platz‘, also bei Verbindungen mit Proprial-Deskriptoren (→ B.1.4.3.6), zu klären, ob bezogen auf die jeweilige Einzelsprache hier Besonderheiten bzw. Restriktionen gegenüber entsprechenden phrasalen Strukturen vorliegen, die es rechtfertigen würden, hier ebenfalls von (einer weiteren dritten Klasse von) grammatischen EN zu sprechen. Nach Nübling (2005) können sprachübergreifend auf verschiedenen Ebenen des Sprachsystems „grammatische Eigennamenmarker“ ausgemacht werden, mit deren Hilfe die Differenz gegenüber den Appellativa angezeigt wird. Auf der prosodischen Ebene sind z. B. abweichende Akzentstrukturen zu beobachten wie in Gelsen'kirchen,  

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Saar'brücken oder 'Vonderau, 'Zumthor. Auf der phonischen Ebene sind Fremdphone – etwa die zeitweilige Beibehaltung von Nasalen in aus dem Französischen entlehnten deutschen Familiennamen – zu nennen, daneben phonotaktische Besonderheiten. Bedeutender aber ist die graphische Ebene, ein „in vielen Sprachen […] stark genutztes Medium zur Onymizitätsanzeige“ (ebd.: 32). Im Deutschen sind bei Eigennamen die Abweichungen von den üblichen Phonem-Graphem-Korrespondenzen besonders stark ausgeprägt; man denke etwa an die Namensschreibungen , , gegenüber dem Appellativum . Was die Ebene der „Morphonologie“ angeht, so zeige sich, dass bei Eigennamen „die interne Morphologie tendenziell unterdrückt wird“ (ebd.: 35). Als Instanz dafür wird die Pluralbildung von deutschen Familiennamen mithilfe des uniformen s-Plurals genannt, wo Stammalternation durch Umlautung ausgeschlossen ist – z. T. im Gegensatz zu den regulär umgelauteten Pluralformen homonymer Appellativa: Kochs (EN) versus Köche, Manns (EN) versus Männer. Auf die Besonderheiten der Flexionsmorphologie von Eigennamen wird im entsprechenden Kapitel (→ C) eingegangen. Die anderen wortbezogenen Markierungsebenen (Prosodie, Phonie, Graphie) werden nicht behandelt. Im vorliegenden Kapitel steht die (Morpho-)Syntax im Zentrum. Auf der syntaktischen Ebene spielt die Artikelsetzung eine wichtige Rolle. Bereits genannt wurde der ‚Proprialartikel‘ in Fällen wie die Türkei. Im Vorgriff auf die noch zu erörternden weiteren Fälle von Artikelsetzung bei EN legen wir folgende terminologische Unterscheidungen zugrunde.  







Abb. 1: Artikelarten bei Eigennamen  

Beispiele für EN mit Proprialartikel sind etwa DEU die Schweiz, ENG the Crimea; für EN mit expletivem Artikel DEU die Maria, FRA la Marie; für EN mit syntaktisch determiniertem Artikel DEU das schöne Frankfurt, FRA le merveilleux Paris. Zu fragen ist nun im Folgenden zunächst, welche Individuensorten in den Vergleichssprachen mit grammatischen Eigennamen belegt werden. Hier ist im Prinzip nicht mit gravierenden sprachspezifischen Unterschieden zu rechnen. Wohl aber gibt es charakteristische Unterschiede im Hinblick auf die Setzung von Proprialartikeln, vgl. DEU Italien, ENG Italy, FRA l’Italie. Für die entsprechenden Regularitäten wird

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B Wort und Wortklassen

eine Hierarchie nach den mit EN belegten Individuensorten vorgeschlagen – wir bezeichnen sie als HierarchieProprialartikel. Der entsprechende Varianzparameter lautet: ‚Welche Individuensorten werden mit grammatischen Eigennamen belegt? In welchem Rahmen variiert die Setzung des Proprialartikels?‘. Zu klären ist im Anschluss, welchen Wortklassen die grammatischen Eigennamen im engeren Sinne und diejenigen mit Proprialartikel zuzuordnen sind. Diese Frage hängt auch eng zusammen mit den Bedingungen für die Setzung expletiver Artikel, wie sie sprachübergreifend (aber doch z. T. unter unterschiedlichen pragmatischen und sozialstilistischen Bedingungen) stattfindet – vgl. DEU die Maria, der Gerhard Maier, FRA la Callas, la Louise – sowie für die syntaktisch determinierte Setzung des Artikels unter Attribuierung wie in die nette Susi, der Franz vom Bauernhof. Der entsprechende Parameter ist: ‚Wortklassenzugehörigkeit grammatischer Eigennamen; die Verteilung expletiver und syntaktisch determinierter Artikel‘. Neben den NP-internen Besonderheiten gibt es vor allem im Deutschen und Englischen auch Besonderheiten, was die externe Syntax grammatischer EN angeht, also die Realisierung syntaktischer Funktionen, insbesondere die Funktion des Attributs wie in Peters bester Freund. Auf diese Beschränkungen wird an anderer Stelle, im Kontext des Aufbaus von NP eingegangen, vgl. → D1. Das usuelle bzw. obligatorische Vorkommen von (echten) deskriptiven Bestandteilen – im Folgenden ‚(Proprial-)Deskriptoren‘ – in Eigennamen (wie in DEU der Bodensee, der Alexanderplatz, ENG Park Avenue, FRA le Lac Leman) unterliegt einer Hierarchie, die teilweise zu der HierarchieProprialartikel analog ist. Im Rahmen des Varianzparameters ‚Das Verhältnis von Proprialdeskriptor und Eigenname: In welchem Rahmen variiert die Setzung von Proprialdeskriptoren?‘ wird auch geprüft, a) ob und in welchen Fällen solche Verbindungen insgesamt EN-Status haben und b) ob in den Verbindungen mit EN-Status ein „normales“ Attributions- bzw. Modifikationsverhältnis vorliegt oder ob auch hier mit Besonderheiten im Sinne der ‚grammatischen Eigennamen‘ zu rechnen ist. Auch der Parameter ‚Genusdetermination bei Eigennamen‘ wird hier in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der unterschiedlichen Arten von grammatischen Eigennamen und ihrer hierarchischen Ordnung behandelt. Ein wichtiger Faktor ist dabei, inwieweit das Genus eines appellativischen Pendants oder eines ggf. deskriptoralen Bestandteils des Eigennamens auf das Genus des Namens selbst durchschlägt: Vgl. DEU Frankfurt (Neutrum) vs. Furt (Femininum), aber POL Łόdź (Femininum) wie łόdź ‚Boot‘ (Femininum). Eigennamen können unter besonderen Bedingungen grammatisch wie Appellativa „behandelt“ werden, z. B. wenn sie mit restriktiven Attributen, dem indefiniten Artikel verknüpft oder in den Plural gesetzt sind, vgl. die große und die kleine Maria, Eine Maria hat hier angerufen, alle Marias. Hier bleiben die Eigennamen bzw. die „Propriallemmata“ aber immer noch nicht-deskriptiv. Anders verhält es sich, wenn Eigennamen bekannter Persönlichkeiten durch metaphorische oder metonymische Prozesse umkategorisiert werden, die nicht auf der Form des EN beruhen, sondern auf  













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Eigenschaften des Namensträgers (Er spielte sich als kleiner Napoleon auf; Ich habe mir einen Picasso angeschafft): Wir gehen unter der Parametersetzung: ‚Eigennamen in appellativischen Verwendungskontexten‘ in erster Linie dem zuerst genannten Fall nicht-deskriptiven Eigennamengebrauchs nach. Folgende Parameter wurden zusammengestellt: 1.

Welche Individuensorten werden mit grammatischen Eigennamen belegt? In welchem Rahmen variiert die Setzung des Proprialartikels? 2. Wortklassenzugehörigkeit grammatischer Eigennamen; die Verteilung expletiver und syntaktisch determinierter Artikel 3. Das Verhältnis von Proprialdeskriptor und Eigenname: In welchem Rahmen variiert die Setzung von Proprialdeskriptoren? 4. Genusdetermination bei Eigennamen 5. Eigennamen in appellativischen Verwendungskontexten

B1.4.3.4 Welche Individuensorten werden mit grammatischen Eigennamen belegt? In welchem Rahmen variiert die Setzung des Proprialartikels? Wie in → B1.4.3.1 bereits festgehalten, sind sprachübergreifend in erster Linie Personen sowie Haustiere und geografische Größen (einschließlich kosmologischer Größen wie Gestirne) mit Eigennamen belegt, daneben Institutionen (Firmen, Behörden, Parteien, Vereine usw.) und Objekte, für die es gesellschaftlich oder individuell einen Benamsungs-Usus gibt, wie etwa Schiffe. Während bei individuellen Schiffen mit der Schiffstaufe die Vergabe eines Namens sozial konventionalisiert ist, ist die Benamsung bei anderen Verkehrsmitteln (wie etwa den ICE-Zügen der Deutschen Bahn oder den Flugzeugen der Lufthansa; vgl. dazu Nübling/Fahlbusch/Heuser 2012: 307–313) abhängig von Unternehmensstrategien. Namen erhalten z. B. auch die europäischen Raumfahrtsonden, vgl. „Ariane“, „Rosetta“, oder auch meteorologische Ereignisse wie Hochs/ Tiefs oder Stürme (vgl. „Lothar“). Die Benennung von Gebrauchsgegenständen wie etwa die des eigenen Autos z. B. als „Emma“ oder „Linda“ ist eine Frage des individuellen Stils. Namensgebung kann hier als Zeichen der besonderen Nähe zu ego (Plank 2007: 8), einer „emotionalen Bindung“ (Nübling/Fahlbusch/Heuser 2012: 306) gesehen werden.  



Wir gehen im Folgenden zunächst kurz auf periphere bzw. problematische Eigennamentypen für Entitäten der Sorten Zeitabschnitte, Ereignisse, künstlerische Werke usw. ein, sodann auf komplexe Personennamen. Im Anschluss wird die Setzung des Proprialartikels behandelt.

B1.4.3.4.1 „Problematische“ Eigennamentypen Von problematischen Eigennamentypen sprechen wir dann, wenn nicht oder jedenfalls nicht eindeutig ein Individuenkonzept mit direkter Referentialität vorliegt, aber

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B Wort und Wortklassen

dennoch in der Literatur der Status als Eigenname angenommen wird. Plank (2007), der die möglichen Denotatsorten von Eigennamen nach den Dimensionen ‚who‘, ‚what‘, ‚where‘, ‚when‘ ordnet, nennt ein weites Spektrum, das neben zu diskutierenden problematischen Typen auch Bezeichnungen enthält wie diejenigen für Produkte oder Marken, die wir bereits als Eigennamen ausgeschlossen haben.

B1.4.3.4.1.1 Zeitbezeichnungen Die Dimension der Zeit wird durch Datumsangaben oder andere Angaben der Zeitmessung (z. B. Montag, der 26. Februar 2007, die Stunde nach Mitternacht am Montag, den 26. Februar 2007) individualisiert. Die so genannten Monats- und Wochentags„Namen“ selbst sind keine semantischen Eigennamen; sie bezeichnen keine Individuen, sondern in einem bestimmten Rhythmus regelmäßig wiederkehrende Zeitabschnitte. Das gilt entsprechend auch für die „Namen“ von religiösen Festen, Feiertagen usw. Gerade diese Bezeichnungen werden jedoch in den Grammatiken unserer Vergleichssprachen häufig als Beispiele für den Übergangsbereich zwischen Eigenname und Appellativum genannt, weil sie in der Regel artikellos und nur im Singular verwendet werden, somit für grammatische EN typische morphosyntaktische Erscheinungsformen aufweisen. Diese Bezeichnungen werden sprachübergreifend in zwei Verwendungskontexten gebraucht:  





– –

nicht-spezifisch bzw. generisch, wie in (4) und (5); spezifisch für den salientesten einschlägigen Zeitabschnitt, meist der Feiertag im laufenden/zurückliegenden/kommenden Jahr, vgl. (6) und (7).

(4) ENG

Britain has a log-jam of holiday weekends, particularly if Easter is late, when it is followed closely by May Day and not much later by the spring bank holiday. ,Britannien hat einen Stau von Ferienwochenenden, besonders falls Ostern spät liegt, wenn es gefolgt ist vom Maifeiertag und nicht viel später vom Frühlings-Bankfeiertag.‘ (BNC: A0C 52)

(5) FRA

Si Pâques tombe après le 15 avril […] nach DEF 15 April wenn Ostern fall.3SG ‚Wenn Ostern nach dem 15. April ist […] ‘ (Internet)  

(6) ENG

They are also on target to complete installation of toilets and showers by Easter. ,Sie sind auch dabei, den Einbau von Toiletten und Duschen bis Ostern abzuschließen.‘ (BNC: A7K 814)

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(7) FRA

Je partirais en vacances au moins jusqu’à F UT . 1SG in Ferien mindestens bis 1SG fahr.FUT ‚Ich fahre mindestens bis Ostern in die Ferien.‘ (Internet)

Pâques. Ostern

Die französischen Festnamen Pâques ‚Ostern‘ und Noël ‚Weihnachten‘ sind irregulär: Die ursprüngliche Pluralform Pâques „ist normalerweise maskulin im Singular und feminin im Plural“ (vgl. Grevisse/Goosse 2011: 625). Noël ist nach Grevisse/Goosse (ebd.: 626) üblicherweise Maskulinum, jedoch Femininum, wenn ohne Erweiterung, aber mit definitem Artikel gebraucht, wie in La Noël est tombée un dimanche l’année dernière ,Weihnachten ist letztes Jahr auf einen Sonntag gefallen‘. Es sind aber auch bei Erweiterung feminine Formen belegt: à la Noël prochaine ,nächste Weihnachten‘ (als temporale Angabe), à la Noël de 2003 ,Weihnachten 2003‘.

Im Englischen werden bei spezifischer Referenz auf den salientesten jeweiligen Zeitabschnitt unbeschränkter als im Deutschen auch die Bezeichnungen für Wochentage und für Monate und Jahreszeiten artikellos gebraucht, vgl. (8). Daneben sind – entsprechend appellativischem Gebrauch – pluralische Formen üblich, etwa bei Wochentagen (on Sundays), aber auch bei Feiertagen, wie in (9).  



(8) a. It was on the radio on Sunday. ENG ,Es war im Radio am Sonntag.‘ b. The UN team spent three weeks visiting the camps in September. ,Das UN-Team verbrachte im September drei Wochen damit, die Lager aufzusuchen.‘ c. When winter comes in 12 weeks, they will freeze. ,Wenn der Winter in 12 Wochen kommt, werden sie erfrieren.‘ (Biber et al. 2006: 262) (9) ENG

May all your Christmases be white. (aus „White Christmas“) ,Mögen alle eure Weihnachten weiß sein.‘

Im Französischen können die „Namen“ von Wochentagen und Monaten ebenfalls artikellos erscheinen, wie in (10); zu pluralischem Gebrauch von Feiertagsnamen mit Artikel vgl. (11). (10) FRA

Mardi / Décembre est encore loin. Dienstag Dezember ist noch weit ‚Dienstag/Dezember ist noch weit.‘ (Internet)

(11) FRA

On n’ a plus les Noëls blancs d’ antan […] man NEG hab.3SG mehr DEF . PL Weihnachten.PL weiß.PL von früher ‚Wir haben nicht mehr die weißen Weihnachten von früher […]‘ (Internet)

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B Wort und Wortklassen

Die polnischen Bezeichnungen für ‚Weihnachten‘ (Boże Narodzenie, wörtl. ‚göttliche Geburt‘) und ‚Ostern‘ (Wielkanoc, wörtl. ‚große Nacht‘) werden nicht pluralisiert. Vielmehr wird der Deskriptor święta ‚Feste‘ vorangestellt und die Festtagsnamen werden in den Genitiv gesetzt bzw. adjektiviert: (12) a. Święta Bożego göttlich.GEN . SG POL Fest.PL ‚Weihnachten‘ b. Święta Wielkanocne Ostern.ADJ .PL Fest.PL ‚Ostern‘

Narodzenia Geburt.GEN . SG

Im Ungarischen sind Feiertagsnamen ohne Weiteres pluralisierbar: z. B. karácsony ‚Weihnachten‘, Plural karácsony-ok, wie in (13); húsvét ‚Ostern‘, Plural húsvét-ok.  

(13) UNG

Érdekes karácsonyok voltak az ötvenes évek elején. Jahr.PL Anfang.3SG . SUP interessant Weihnachten.PL waren DEF 50-er ‚Interessante Weihnachten waren das Anfang der 50-er Jahre.‘ (MNSz)

Im Deutschen kommen die „Namen“ von Zeitabschnitten einschließlich religiösen Festen, Feiertagen usw. in vielen Kontexten auch artikellos vor, ähneln also echten grammatischen Eigennamen. Dies gilt sowohl für die nicht-spezifische/generische Verwendung (14a) als auch für die spezifische, mit Blick auf den salientesten entsprechenden Zeitabschnitt wie in (14b). (14)

a. Montag ist der gefährlichste Arbeitstag. (Internet) b. Montag ist Stautag – Die Bahn streikt. (Internet)  

Artikelloses (singularisches) Vorkommen ist von mindestens zwei Faktoren abhängig: –

der syntaktischen Funktion, gemäß folgender Hierarchie: Prädikativ > Adverbiale (mit Präposition > ohne Präposition) > Subjekt > Objekt Prädikativ: Heute ist Montag. Adverbiale: Er kommt bis/ab Montag / Montag. Subjekt: ?Montag / Der (nächste) Montag kommt viel zu schnell. Objekt: Ich verbringe ??Montag / den kommenden Montag bei meinen Eltern. Eine vergleichbare Hierarchie gilt wohl auch für die Artikelsprachen unter den Kern-Kontrastsprachen: Im Englischen, Französischen und Ungarischen wird in

B1 Wortklassen

479

Prädikativfunktion bei allen diesen Zeitabschnittsbezeichnungen kein Artikel gesetzt, in Adverbialfunktion fehlt der Artikel eher als bei Subjekt und Objekt. Wie erwähnt, ist im Englischen die Lizenz zur Weglassung des Artikels auch in letzteren Funktionen ausgeprägt. –

einer Salienzabstufung der zeitbezeichnenden Ausdrücke selbst: (religiöse) Feiertage, Jahreszahlen > Wochentage, Monate > Jahreszeiten Bei religiösen Feiertagen (Weihnachten, Neujahr, Karfreitag, Ostern, Fronleichnam, Pfingsten, Allerheiligen) ist in allen syntaktischen Funktionen, sofern kein Attribut vorliegt, Artikellosigkeit gefordert. Bei Wochentagen und Monaten (sowie z. B. Muttertag, Vatertag) ist Artikellosigkeit außer in Prädikativ- und Adverbialfunktion markiert. Bei den Bezeichnungen für Jahreszeiten kommt Artikellosigkeit nur prädikativ und adverbial mit Präposition vor: Jetzt ist Sommer / Er kommt ab Sommer.  

Andererseits kann – insofern es sich ja um wiederkehrende Intervalle handelt – auch appellativisch konstruiert werden: diesen Sonntag, jeden Sonntag usw. Bei den Festbezeichnungen Weihnacht(en), Ostern, Pfingsten konkurriert hier bei Bezug auf ein bestimmtes Fest singularischer Gebrauch wie in diese Weihnacht (22 Belege) bzw. dieses Weihnachten (93 Belege), dieses Ostern (14 Belege) mit pluralischem wie in diese Weihnachten (111 Belege), diese Ostern (34 Belege) (D D E R E K O -Belege vom 20.01.2012). Semantisch reguläre Plurale wie in mehrere Weihnachten, alle Ostern sind zwar belegt, werden aber eher gemieden (stattdessen: Weihnachts-/Osterfeste). Die ursprünglichen Pluralformen Weihnachten, Ostern, Pfingsten zeigen somit eine innersprachliche Varianz zwischen Pluraletantum (z. B. Diese Weihnachten waren eisig) und Reanalyse als Singularform (Dieses Weihnachten war eisig). Zur arealen Verteilung der Varianten vgl. Duden-Grammatik (2009: 179 f.).  







Bezeichnungen für Kulturepochen wie Renaissance, Barock oder erdgeschichtliche Perioden wie Kambrium, Tertiär, Quartär dagegen sind Individualnamen; sie haben sprachübergreifend in unseren Vergleichssprachen einen Proprialartikel.

B1.4.3.4.1.2 Ereignisse Ereignisse sind (als in der Zeit verankerte Gegenstände, vgl. Lyons 1983: 72–75) weniger klar individuiert als Gegenstände im Raum; als Namensträger erscheinen sie gemäß der plankschen Hierarchie (vgl. → B1.4.3.1) wenig präferiert. Nur besonders herausragende historische Ereignisse erhalten einen allgemein verbindlichen Namen wie in (15), (16). Es handelt sich hier um zum Namen verfestigte Kennzeichnungen; im Fall von (15) ist im Englischen und Französischen das einfache Kernnomen für ‚Geburt‘ ausreichend. Ereignisse werden häufig auch metonymisch bezeichnet etwa durch Nennung des Datums anstelle des Geschehnisses selbst wie in (17).

480

B Wort und Wortklassen

(15) DEU ENG FRA POL UNG

die Geburt Christi / Christi Geburt the Nativity la nativité Boże Narodzenie Krisztus születése

(16) DEU ENG FRA POL UNG

die Französische Revolution the French Revolution la Révolution française Rewolucja Francuska a francia forradalom

(17) DEU ENG FRA POL UNG

der 11. September Nine Eleven (9/11) le 11 septembre 11 września szeptember 11-e  

B1.4.3.4.1.3 Künstlerische Werke, geistige Produkte Namen für künstlerische Werke können nur aus einem Wort bestehen, z. B. einem Personennamen wie „Rigoletto“ (Oper von Giuseppe Verdi) oder einem Ortsnamen wie „Guernica“ (Gemälde von Picasso nach der gleichnamigen spanischen Stadt) oder auch einem Appellativum wie „Disgrace“ / „Schande“ (Roman des Nobelpreisträgers John M. Coetzee) oder aber aus beliebig gebauten Syntagmen (Nominalphrasen wie „Die Wahlverwandtschaften“, Sätzen wie „Denn sie wissen nicht, was sie tun“). Diese Ausdrucksformen werden „uneigentlich“ oder „verschoben“ verwendet, in der Weise, dass die „eigentliche“ Bedeutung, z. B. das mit dem Personennamen Rigoletto verbundene Individuenkonzept nur als Verweis auf ein anderes Individuenkonzept gebraucht wird, nämlich das für die Oper, in der die Person als zentraler Rollenträger fungiert. Werke der bildenden Kunst (Plastiken, Bilder) oder Monumente erfüllen aufgrund ihrer spezifischen Materialität die Individuationsbedingungen für Eigennamen problemlos. Andere künstlerische Werke werden trotz ihrer Reproduzierbarkeit in häufig mannigfachen Instanziierungen (Aufführungen, Druckwerken, Tonaufnahmen) sprachlich als einmalige Individuen gekennzeichnet, vgl. (18). Vergleichbares gilt auch für regelmäßig erscheinende Presseorgane oder auch Radio-/TV-Sendungen, wie in (19).  



B1 Wortklassen

(18)

(19)

481

a. Ich habe schon zwei Mal Rigoletto angeschaut / schon zwei Aufführungen von Rigoletto angeschaut. b. ??Ich habe schon zwei Rigolettos angeschaut. c. Er besitzt drei Ausgaben des „Faust“. d. *Er besitzt drei Fausts/Fauste. Er liest immer den Spiegel / die Zeit. / Heute kommt wieder die Lindenstraße.

Nach Künne (1983) sind somit künstlerische Werke als „Typen“ abstrakte Gegenstände; sie ähneln darin den sprachlichen Zeichen, vgl. (20a, b) versus (21a, b): (20)

a. das Drama „Die Räuber“ b. eine Aufführung des Dramas „Die Räuber“ c. eine Aufführung der „Räuber“

(21)

a. das Syntagma ,die Räuber‘ b. ein Vorkommen des Syntagmas ,die Räuber‘ c. ein Vorkommen von ,die Räuber‘

In beiden Fällen werden sprachliche Zeichen(verbindungen) semantisch verschoben gebraucht. Die semantische Verschiebung wird bei Werktiteln häufig durch Anführungszeichen gekennzeichnet. Anders als bei der metasprachlichen Verwendung von sprachlichen Zeichen als Namen für die Zeichen selbst, kann aber eine syntaktische Integration in den Kontext durch entsprechende Kasus- bzw. allgemeiner relationale Markierung stattfinden wie in (20c), (21c); hierzu vgl. Zifonun (2009).

B1.4.3.4.2 Personennamen Amtliche Personennamen sind aus den Notwendigkeiten der Identifizierungsfunktion heraus in den modernen Gesellschaften mehrgliedrig. In den Kulturen, in denen die Vergleichssprachen als Nationalsprachen gesprochen werden, bestehen sie jeweils aus mindestens einem Vornamen und dem Familiennamen. Jedes dieser Elemente, aber auch der Gesamtname, kann grammatisch als EN fungieren. Die „Teil“-Namen werden juxtaponiert, wobei die Reihenfolge kulturabhängig variiert. In allen Vergleichssprachen außer dem Ungarischen gilt ‚Vorname vor Familienname‘, im Ungarischen ist die Reihenfolge umgekehrt. (22) UNG

Balogh Gyula adja elő Márai Sándor versét Sándor Márai Gedicht.3SG .AKK Gyula Balogh trag.3SG . DEF vor ‚Gyula Balogh trägt das Gedicht von Sándor Márai vor.‘ (Magyar Hírlap, 13.05.2003)

482

B Wort und Wortklassen

Die Juxtaposition erfolgt im Deutschen und Ungarischen analog zu der Verbindung ‚Nomen invarians + Nomen varians‘, d. h., der links stehende Teilname bleibt als Erweiterungsnomen unflektiert, der rechts stehende Teilname wird als Kopf des Ausdrucks flektiert (vgl. zum Deutschen IDS-Grammatik 1997: 2043–2047). Man beachte, dass somit im Deutschen der Familienname in einem Gesamtnamen flektiert wird (23), während im Ungarischen der Vorname flektiert wird (24). Auch im Englischen erscheint der Genitivmarker rechtsperipher (25). Im Polnischen hingegen werden (nicht durchgängig, vgl. Swan 2002: 81–83) alle Teilnamen flektiert, so dass Kasuskongruenz vorliegt, vgl. (26).  

(23)

Eva Maiers Geburtstag

(24) UNG

Nagy Istvánt ismerem. kenn.1SG . DEF Nagy István.AKK ‚Ich kenne (den) István Nagy.‘

(25) ENG

Bill Clinton’s career ,Bill Clintons Karriere‘

(26) POL

mieszkanie Eugeniusza Lewickiego Wohnung Eugeniusz.GEN Lewicki.GEN ‚die/eine Wohnung von Eugeniusz Lewicki‘

Familiennamen sind – entgegen dem ersten Eindruck – sprachübergreifend nicht Namen für die Familie als Ganze, sondern für die Mitglieder einer Familie. Mit dem bloßen Familiennamen wird somit auf das jeweils salienteste Mitglied der entsprechenden (salienten) Familie Bezug genommen, wie in Maier ist heute wieder krank. Soll auf die Familie als Ganze referiert werden, wird der Plural (ggf. mit dem bestimmten Artikel) gebraucht. Im Ungarischen kommt hier bezeichnenderweise das spezielle Affix für den ‚assoziativen Plural‘ zum Zuge (→ B2.3.3.2), wie in (27). Dies zeigt, dass auch in den übrigen Vergleichssprachen semantisch ein assoziativer Plural vorliegt, wenngleich eine spezielle morphologische Auszeichnung fehlt (→ C4.4). Alternativ kann zum Bezug auf die Gruppe der Proprial-Deskriptor ‚Familie‘ (oder auch ,Ehepaar‘) hinzugesetzt werden, wie in (28). Im Deutschen (wie auch im Niederländischen) und im Französischen geschieht dies in der Form ‚Familie‘ + Familienname (als Erweiterungsnomen) (vgl. Muster 1.1 → B1.4.3.6), im Englischen präferiert, im Ungarischen ausschließlich in der Form Familienname (Prämodifikator) + ‚Familie‘ (vgl. Muster 2.1. → B1.4.3.6), im Polnischen erscheint ‚Familie‘ + Genitiv Plural des Familiennamens:  



B1 Wortklassen

(27) DEU ENG FRA POL UNG (28) DEU ENG FRA POL UNG NDL

483

(die) Maiers the Smiths les Dupont Tuskowie (a) Kovácsék

die Familie Maier the Smith family la famille Dupont rodzina Tusków a Kovács család de familie Jansen (Langendonck 2007: 121)

Man beachte auch, dass im Polnischen nicht alle Familiennamen pluralisierbar sind; es existiert eine Skala, die von den prototypischen einheimischen Namen bis zu den undeklinierbaren entlehnten Namen reicht (vgl. Swan 2002: 88, → C5.7 sowie Ewa Drewnowska-Vargáné, p.c.). Bei Namen von Adelsgeschlechtern bzw. Dynastien wird in der Regel anders vorgegangen als bei Familiennamen: Im Deutschen sind Ableitungen mit dem Adjektivsuffix -er üblich wie in DEU (die) Karolinger/Staufer/Salier/Habsburger, daneben auch z. B. (die) Ottonen/Welfen/Bourbonen. Im Ungarischen wird das übliche Pluralsuffix -(V)k gebraucht: UNG a Karolingok ,die Karolinger‘, a Habsburgok ,die Habsburger‘.  

B1.4.3.4.3 Die Hierarchie für die Setzung des Proprialartikels In der folgenden Serie von schematischen Darstellungen wird zunächst eine allgemeine Hierarchie für die zunehmende Tendenz zur Setzung eines Proprialartikels bei Typen von EN für die Vergleichssprachen formuliert. Sie ist in ihren Rändern als generell gültig anzusehen, in der Mitte gibt es einen Bereich sprachspezifischer Abstufung, hier durch einen Rahmen gekennzeichnet. Im Anschluss daran wird mithilfe von ,çç‘ als Partitionszeichen für die einzelnen Vergleichssprachen jeweils angegeben, wo der Schnitt zwischen Eigennamentypen mit und ohne Proprialartikel liegt. Die Sprachen sind so geordnet, dass Sprachen, die den Schnitt weiter links legen, also bei mehr Eigennamentypen Proprialartikel fordern, zuerst genannt werden. Generell ist für alle Sprachen festzuhalten, dass mit z. T. idiosynkratischen, z. T. auch durch grammatische Faktoren bedingten Ausnahmen zur typengerechten Zuordnung zu rechnen ist.  



Die Zusammenstellung nennt nur die wichtigsten Typen und arbeitet aus praktischen Gründen mit Vereinfachungen. So ist ‚Stadt‘ als Kurzform für alle Siedlungsformen zu lesen, mit ‚Land‘ sind in erster Linie Staatsgebilde gemeint, jedoch nicht unbedingt in ihren offiziellen Bezeichnungen, ‚Region‘ steht für die Verwaltungseinheiten unterhalb der Ebene des Staates (in Frankreich z. B. Departement, in Ungarn Komitat, in Deutschland Bundesland); bei den ‚anderen  

484

B Wort und Wortklassen

Örtlichkeiten‘ sind nur die wichtigsten erwähnt (daneben: Wälder, Täler, Parks, Fluren usw. sowie die verschiedenen sozialen Begegnungsstätten wie Theater, Stadien, Restaurants, Kirchen, Bahnhöfe usw.).

Im Folgenden werden nur besonders markante Abweichungen von der Hierarchie oder andere Auffälligkeiten gesondert kommentiert und dokumentiert. Das Französische legt den Schnitt tendenziell nach dem 3. Element des Mittelbereichs der allgemeinen Hierarchie, macht aber bei Inselnamen Feinunterscheidungen: Alle maskulinen Inselnamen, also diejenigen mit dem unmarkierten Genus, haben keinen Proprialartikel, von den Feminina u. a. diejenigen, die „kleine europäische Inseln“ (Grevisse/Goosse 2011: 796) bezeichnen.  

(29)

a. Maskuline Inselnamen (kein Proprialartikel): Madagascar, Bornéo, Ceylan b. Feminine Inselnamen (kein Proprialartikel, u. a. kleine europäische Inseln): Malte, Chypre, Madère, Majorque; Java, Cuba c. Feminine Inselnamen (mit Proprialartikel): la Corse, la Sardaigne, la Sicile, l’Irlande, l’Islande, la Martinique, la Réunion  

Beim Ungarischen ist auffällig, dass Firmennamen, die bei den übrigen Vergleichssprachen artikellos gebraucht werden, hier einen Proprialartikel führen wie az Opel, a VW, a Tungsram (ungarische Glühbirnenfabrik). (30) UNG

Az

első fecske: a Tungsram DEF erste Schwalbe DEF Tungsram ‚Die erste Schwalbe: Tungsram‘ (HVG, 10.04.1999)

Möglicherweise ist das in den Kontext der Tatsache zu stellen, dass in der ungarischen Umgangssprache die Artikelsetzung bei Personen-Eigennamen, zumal Vornamen, sehr üblich ist. Institutionen (einschließlich Firmen) werden semantisch oft Personen gleichgestellt, insofern als entsprechende Ausdrücke semantische Rollen belegen können wie AGENS , die aufgrund von Merkmalszuschreibungen wie Intentionalität üblicherweise Personenbezeichnungen vorbehalten sind (z. B. VW hat 300 Mitarbeiter entlassen).  

B1 Wortklassen

485

Im Deutschen liegt der Schnitt nach der Position Region (hier primär zu interpretieren als: Bundesland). Allerdings finden sich auch bei den Positionen weiter oben in der Hierarchie zum Teil Ausnahmen. Zu einzelnen Positionen: Kontinent: Wie in den Vergleichssprachen (außer Polnisch) haben Arktis und Antarktis einen Proprialartikel (Duden-Grammatik 2009: 160). Land: Es gibt – neben phrasalen Bezeichnungen wie die Vereinigten Staaten oder transparenten Komposita wie die Sowjetunion – eine ganze Reihe von Ländernamen mit Proprialartikel, z. B. die Schweiz, die Türkei, (der) Iran usw. Artikelsetzung korreliert mit dem Genus (→ B1.4.3.7). Region: Die Namen von Bundesländern und die auf Bewohnerbezeichnungen beruhenden Regionennamen haben keinen Artikel: Baden-Württemberg, Hessen, Franken. Landschaft: Landschaftsnamen sind häufig teilmotiviert, sie haben generell Artikel wie das Allgäu, der Kraichgau, die Eifel, die Pfalz. Andere Örtlichkeiten: Fluss-, See- und andere Gewässernamen haben grundsätzlich Proprialartikel, vgl. der Rhein, die Donau, der Bodensee. Daneben die Namen von Bergen, Straßen, Plätzen: der Feldberg, der Katzenbuckel, der Belchen; die Friedrichstraße, die Berliner Allee; der Alexanderplatz, der Tattersall. Wie NPs mit appellativischem Kern kommen Eigennamen mit Proprialartikel als pränominale Genitivattribute nur noch stark markiert vor, vgl. (31a) versus (31b).  





(31)

a. Deutschlands beste Sänger b. des Allgäus beste Jodler

In dieser Hinsicht verhalten sich also Eigennamen mit Proprialartikel wie gewöhnliche NPs; vgl. auch die zu Appellativa analoge Flexion. Zur Kategorie ‚Firma/Unternehmen‘ ist anzumerken, dass bei gewissen Sparten, z. B. Banken, Versicherungen, ein Proprialartikel gesetzt wird wie bei die HRE (Hypo-Real-Estate), die Debeka. Hier ist jeweils der Oberbegriff ‚Bank‘/‚Holding‘/‚Versicherung‘ hinzuzudenken oder gar Teil des (offiziellen) Namens. Das Englische spiegelt die Hierarchie der Setzung des Proprialartikels nur schwach wider, insofern er nur bei dem letzten Element der Hierarchie, Schiffsnamen, obligatorisch erscheint. Die vorletzte Position, ‚andere Örtlichkeit‘, bedarf weiterer Subdifferenzierungen: Namen von (individuellen) Bergen, von Seen, Straßen, Plätzen, Gebäuden, Parks haben in der Regel keinen Proprialartikel, wie in (32a), während Namen von Flüssen, Meeren, Ozeanen einen mit sich führen, vgl. (32b).  

(32) a. (Mount) Everest, Vesuvius; (Lake) Lagoda, Lake Michigan; Oxford Street, Park ENG Lane; Piccadilly Circus, Times Square; Windsor Castle, Buckingham Palace, Central Park, Kew Gardens b. the (River) Thames, the Potomac (River); the Mediterranean, the Atlantic

486

B Wort und Wortklassen

Bei Mediterranean, Atlantic (ähnlich auch bei Arctic, Antarctic) spielt sicher auch eine Rolle, dass es sich hier auch um Adjektive handeln kann, so dass eine phrasale Konstruktion mit Ellipse des Kopfsubstantivs (sea, ocean, continent) vorliegt.

Sprachübergreifend gilt, dass Proprialartikel in bestimmten Kontexten weglassbar sind: – –

in syntaktisch nicht eingebundener Verwendung, etwa auf Landkarten, in Titeln oder Überschriften. in Kontexten, in denen nominale Konstituenten „ohne phrasalen Abschluss“ in Form eines Determinativs (der Kategorie N bzw. NOM, nicht NP) gefordert oder möglich sind. Dies betrifft vor allem das Auftreten in einer „engen Apposition“ bzw. als „Erweiterungsnomen“ im Sinne der IDS-Grammatik (1997: 2043–2048), bzw. als „Nebenkern“ im Sinn der Duden-Grammatik (2009: 769): der Fluss Rhein, das Land Türkei. Im Englischen erscheinen außerdem in prämodifikativer Position zu einem nominalen Kopf auch Eigennamen, die einen Proprialartikel führen, artikellos.

(33) ENG



a Thames cruise, two United States warships ,eine Themse-Kreuzfahrt, zwei US-Kriegsschiffe‘ (Huddleston/Pullum 2002: 517)

In appellativischen Verwendungskontexten kann der Proprialartikel z. B. dem indefiniten Artikel oder einem Demonstrativum weichen:

(34) ENG

(35) FRA

(36) UNG



It was a very different Thames from the one I remembered from my youth. ,Es war eine ganz andere Themse als die, an die ich mich aus meiner Jugend erinnerte.‘ (Huddleston/Pullum 2002: 517) Un

Rhin vivant ferait de l’ Alsace un Rhein lebendig mach.KOND . 3SG von DEF Elsass INDEF grand Bioscope naturel groß Bioskop natürlich ‚Ein lebendiger Rhein würde aus dem Elsass ein großes natürliches Bioskop machen.‘ (Internet) INDEF

Szép ötletnek tartom hogy építsünk bau.IMP . 1PL schön Idee.DAT halt.1SG . DEF dass ahhoz de kellene egy tiszta Duna, dazu aber muss.KOND INDEF sauber Donau Dunapart is! Donauufer auch

vizimalmot, Wassermühle.AKK és tiszta und sauber

B1 Wortklassen

487

‚Eine Wassermühle zu bauen halte ich für eine gute Idee, aber dazu bräuchte man eine saubere Donau und auch ein sauberes Donauufer!‘ (Internet) –

Proprialartikel „weichen“ selbstverständlich auch dem syntaktisch determinierten Artikel bei attributiver Erweiterung, z. B. ENG the beautiful Thames, DEU die schöne blaue Donau. Anders gesagt: Proprialartikel verhalten sich syntaktisch hier wie „gewöhnliche“ Artikelwörter und werden daher einem pränominalen Adjektiv noch vorangestellt.  

Für das Deutsche gilt hinsichtlich der Weglassung des Proprialartikels im Einzelnen: Der Proprialartikel ist obligatorisch in Subjekt-, Objekt- und Attributfunktion sowie regiert von einer Präposition. Auch als Prädikativ wird bei der Kopula sein der Proprialartikel gesetzt, vgl. (37). Üblicherweise fehlt er aber in heißen-Prädikationen und – wie in den anderen Vergleichssprachen – in Verbindung mit einem vorangestellten Deskriptor, vgl. (38).  



(37)

Die Türkei ist Nato-Mitglied. / Wir besuchen die Türkei. / Der Staatspräsident der Türkei / *von Türkei. / Wir fahren in die Türkei. / Das ist die Türkei.

(38)

Dieses Land heißt Türkei. / der Staat Türkei

Der Proprialartikel ist somit für syntaktische Operationen zugänglich und kein Teil des EN-Lexems. In bestimmten Fällen ist der Proprialartikel aber als Eigennamenbestandteil verfestigt und auch unter den genannten Bedingungen nicht weglassbar, ersetzbar oder nach links verschiebbar. Hier ist insbesondere eine Reihe von französischen Ortschaftsnamen zu nennen wie z. B.: Le Havre (M ), La Haye (F ) ‚Den Haag‘, La Haute Chapelle (F ), La Haute Maison (F ), La Chapelle aux Moines (F ). Daneben tritt der Artikel als Eigennamenbestandteil auch in niederländischen Ortsnamen auf wie De Panne (U ), De Haan (U ) und, mit Dativmarker -n, Den Haag (U ). Der Genus-Index leitet sich hier aus dem als Eigennamenbestandteil verfestigten Artikel ab. Dieser Wert kann, wie gezeigt werden wird, von dem Genus der NP, die den Eigennamen als Kopf enthält, abweichen, wenn nach dem Default-Prinzip zugewiesenes Genus (→ B1.4.3.7) und Genus des verfestigten Artikels divergieren. Bei diesen Eigennamen wird ggf. noch ein Demonstrativum hinzugesetzt (statt den Proprialartikel zu ersetzen), vgl. das französische Beispiel (39), und bei attributivem Adjektiv tritt linksperipher ein syntaktisch determinierter Artikel hinzu, vgl. das niederländische Beispiel (40a) mit korrektem neutralem Artikel het gegenüber ungrammatischem (40b).  

488

(39) FRA

B Wort und Wortklassen

Et puis tous les autres, cet Angoulème DEF . PL andere DEM .M Angoulème.M und dann alle au centre commercial abandonné; ce La Einkaufszentrum verlassen DEM . M DEF . F zu.DEF Rochelle partiellement inondé; ce Toulon de teilweise überflutet.M DEM .M Toulon.M aus Rochelle.F pierre ocre […]. Stein ockerfarben ,Und dann all die anderen, dieses Angoulème mit dem verlassenen Einkaufszentrum, dieses teilweise überflutete La Rochelle, dieses Toulon aus ockerfarbenem Stein […]‘ (Internet)

(40) a. het mooie De Panne / De Haan / Den Haag DEF . N schön DEF . U Panne DEF . U Haan DEF . U Haag NDL b. *de(n) mooie Panne / Haan / Haag DEF . U schön Panne Haan Haag ‚das schöne De Panne / De Haan / Den Haag‘ (Langendonck 2007: 122 f.)  

Allerdings ist im Französischen der verfestigte Proprialartikel grammatisch nicht völlig inaktiv: So determiniert im Allgemeinen dieser Artikel das Genus des EN – zu Gegenbeispielen vgl. Grevisse/Goosse (2011: 623) und Beispiel (39). Das bedeutet, dass EN mit femininem verfestigtem Proprialartikel feminine Kongruenzformen auf mittlere und weitere Distanz verlangen (vgl. (41), (42)), während solche mit maskulinem Proprialartikel wie die Ortschaftsnamen ohne Proprialartikel maskuline Kongruenzformen fordern (vgl. (43)):  

(41) FRA

C’

est encore plus vrai de La Rochelle ist noch mehr wahr von DEF . F Rochelle.F qui est particulièrement attractive pour les actifs. RPRO ist besonders attraktiv.F für DEF . PL Aktiver.PL ‚Das gilt noch mehr für La Rochelle, das besonders attraktiv ist für die Aktiven.‘

(42) FRA

La

DEM

Haye, qui est bien connue pour ses Haag.F RPRO ist wohl bekannt.F für POSS . 3SG . PL lenteurs proverbiales. sprichwörtlich.PL Langsamkeit.PL ‚Den Haag, das wohlbekannt ist für seine sprichwörtliche Langsamkeit.‘ DEF . F

B1 Wortklassen

(43) FRA

489

Le

Havre, situé dans le département de la Havre.M gelegen.M in DEF . M Departement von DEF . F Seine-Maritime, au nord-ouest de la France. Seine-Maritime in.DEF Nordwest von DEF . F Frankreich ‚Le Havre, im Departement Seine-Maritime gelegen, im Nordwesten Frankreichs.‘ (alle: Internet) DEF . M

EN mit Proprialartikel verhalten sich in dieser Hinsicht wie artikellose EN, die auf der Konversion einer Nominalphrase mit Attribut(en) beruhen, vgl. den EN als Konversionsprodukt der phrasalen Verbindung ‚feminine Adjektivform + feminines Substantiv‘ in (44): Das feminine Genus der phrasalen Verbindung bestimmt auch das Genus des kongruierenden prädikativen Partizips. Bei dem EN in (45) dagegen, der als Kompositum ‚feminine Adjektivform + feminines Substantiv‘ zu analysieren ist, ist eine Vererbung des femininen Genus auf die syntaktische Ebene blockiert: Der definite Artikel (der hier in einem appellativischen Verwendungskontext erscheinen muss; → B1.4.3.8) ist maskulin und entspricht somit dem Default-Prinzip. (44) FRA

Sainte-Croix-de-Lobinière est située à pas plus de ist gelegen.F zu NEG mehr als Sainte-Croix-de-Lobinière.F 50 kilomètres de Québec. 50 Kilometer.PL von Quebec ‚Sainte-Croix-de-Lobinière ist nicht mehr als 50 km entfernt von Quebec gelegen.‘  

(45) FRA

construire le Hautepierre de demain DEF . M Hautepierre.F von morgen bau.INF ‚das Hautepierre von morgen bauen‘ (beide: Internet)

Bei den Ortschaftsnamen, denen Konversionen aus einer Verbindung von Adjektiv und Substantiv zugrunde liegen, ist – entsprechend den beiden Linearisierungsmustern in der französischen NP – sowohl Adjektivvoranstellung als auch Adjektivnachstellung möglich: FRA Neufchâtel versus Châteauneuf, Francheville versus Villefranche. Im Englischen wie im Deutschen und Ungarischen stehen hier die Adjektive voran: ENG Newcastle, DEU Neuburg, UNG Nagykanizsa zu nagy ‚groß‘, Kisvárda zu kis ‚klein‘. Toponyme mit Proprialartikel als Namensbestandteil lassen außerdem die Verschmelzung der Präposition de + Artikel le zu du zu: FRA le port Du Havre ,der Hafen von Le Havre‘, auch au Havre ,in Le Havre‘. Dies geschieht nicht bei Familiennamen wie FRA Le Nôtre, Le Corbusier; vgl. les jardins de Le Nôtre ,die Gärten von Le Nôtre’, la cité de Le Corbusier ,die Stadt von Le Corbusier’ (Wilmet 2003: 87). Auch im Polnischen existieren bei Toponymen als Konvertaten aus (flektierendem) Adjektiv + Substantiv beide Linearisierungsmuster: POL NowyADJ Dwór ‚Neuhof‘,  



490

B Wort und Wortklassen

ZielonaADJ Góra ‚Grünberg‘ versus Szewnia Dolna/GórnaADJ ‚Ober-/Unterszewnia‘, Morze CzarneADJ ‚das Schwarze Meer‘. Eine zum Französischen bzw. Niederländischen analoge Verfestigung von Proprialartikeln zum Eigennamenbestandteil ist für deutsche Ortschaftsnamen nicht gegeben (vgl. aber die übernommenen fremdsprachlichen Formen Den Haag, Le Havre). Auch Verbindungen mit vorangestelltem flektiertem Adjektiv, die phrasalen Status hätten und ggf. ein anderes Genus als das (für Ortschaftsnamen geforderte) Neutrum bei Kongruenzformen bewirkten, gibt es (anders als im Französischen, Polnischen) nicht, vgl. (46). (46)

*Schöner-Berg, der in der Nähe von Neustadt liegt

Adjektive werden als erste Kompositabestandteile von Ortschaftsnamen entweder unflektiert (wie in Schönberg) oder mit einer Fuge (-e, -en) angebunden: Schönefeld, Weißensee. Dagegen gibt es (aus dem Bedürfnis der Differenzierung heraus motiviert) zahlreiche Ortschaftsnamen, die als Konversionen von Phrasen mit nachgestelltem Präpositionalattribut zu verstehen sind, wie: DEU Weil am Rhein, Weiler in den Bergen, Kirchheim unter Teck. Die „Attribute“ sind aber im nicht-amtlichen Sprachgebrauch in der Regel weglassbar. Auch in den Kontrastsprachen gibt es Entsprechendes: ENG Stoke-on-Trent, Stratford-upon-Avon, Ashton-under-Lyne, FRA Aulnaysous-Bois, Neuilly-sur-Seine vs. Neuilly-sur-Marne, Aix-en-Provence, POL Rudnik nad Sanem. Ähnlich ist auch das vorangestellte Bad (Bad Kreuznach, Bad Krozingen) zu bewerten, man vergleiche dazu mit nachgestelltem „Attribut“ ENG Woodhall Spa, Tunbridge Wells, Matlock Bath, FRA les Bains ‚Bad‘ wie in Thonon-les-Bains, POL Zdrój ‚(Heil-)Quelle‘ wie in Polanica-Zdrój. Vereinzelt gibt es auch Possessivkonstruktionen wie ENG Bishop’s Stortford oder DEU Königs Wusterhausen. Anders als in Komposita mit Deskriptor-Nomen als zweitem Bestandteil wie DEU Königsberg, Bischofshofen, Ludwigsburg oder auch in ENG Kingswood, Knightsbridge, UNG Jánosháza, Fülöpháza (mit ház ‚Haus‘ und Possessorsuffix -a) tritt in diesen Beispielen der „Possessorausdruck“ zu einem Ortsnamen verdeutlichend hinzu. Im Ungarischen ist der Zusatz fürdő ‚Bad‘ strukturell nicht vom Kompositumbestandteil unterscheidbar, vgl. Balatonmáriafürdő ,Balaton-Marienbad‘/,Bad Balatonmarien‘.

B1.4.3.5 Wortklassenzugehörigkeit grammatischer Eigennamen; die Verteilung expletiver und syntaktisch determinierter Artikel Semantische Eigennamen wie die Vereinigten Staaten, das Institut für Deutsche Sprache haben syntaktisch die übliche Struktur von Nominalphrasen. Auch bei grammatischen Eigennamen mit Proprialartikel (die Schweiz, der Bodensee) ist die Basiskon-

491

B1 Wortklassen

figuration für singularische Nominalphrasen mit einem Individuativum als Kopf erhalten: [NP [D die] [N Schweiz]] Man könnte also – sprachübergreifend für die hier behandelten Artikelsprachen – die proprialen Bestandteile der grammatischen EN mit Proprialartikel als spezifische Menge der Proprialindividuativa einordnen:  



Proprialindividuativa Ì Individuativa mit Schweiz, Bodensee Î Proprialindividuativa Dagegen verhalten sich die grammatischen EN im engeren Sinne syntaktisch anders als Appellativa, aber auch als Pronomina: – –



Anders als singularische Individuativa werden sie in Argumentposition determinativlos gebraucht. Anders als bei Kontinuativa bedingt attributive Erweiterung in bestimmten Fällen Artikelsetzung (für Argumentpositionen): gutes Holz versus *(die) gute Renate. Anders als bei Pronomina ist die Kombination mit Determinativen unter bestimmten Bedingungen möglich: (*Die) ich habe das getan versus Die Gisela hat das getan.

Im vorliegenden Rahmen wurde aus diesem Verhalten der Schluss gezogen, grammatische Eigennamen i. e. S., die Propria, als eigene Subklasse der Substantive (im Folgenden N[PROP] bzw. NPROP) zu betrachten (neben den Appellativa und ggf. den Numerativsubstantiven). Sie lizensieren die folgende NP-Struktur:  



[NP [N[PROP] X]] , z. B. [NP [N[PROP] Hans]]  

Im Rahmen der DP-Analyse der „Nominalphrase“ stellt sich die Frage, wie mit der phonetisch leeren D0-Position umgegangen werden kann. Einflussreich ist hier der Vorschlag von Longobardi (1994, 2005), der vorschlägt, dass N[PROP] aus der N0-Position in die D0-Position angehoben werden (durch raising). Diese Bewegung geschieht vor „Spell-out“, ist also im Sinne des Minimalistischen Programms auch in der phonetischen Form sichtbar. Die Bewegung werde erzwungen, um eine existenzielle (Longobardi 1994) bzw. quantifizierende (Longobardi 2005) Interpretation der DP zu verhindern. Diese sei defaultmäßig gegeben, wenn DP mit leerem D0 in Argumentposition vorkommen: – –

indefinit-portionierend wie bei Kontinuativa: Er trinkt Wasser. indefinit-zählend wie bei Individuativa im Plural: Er kauft Blumen.

492

B Wort und Wortklassen

In Longobardi (2005) wird das Ganze stark semantisch unterfüttert: Im Anschluss an Carlson (1977) macht der Autor die Unterscheidung zwischen zwei Arten von Individuen: objects und kinds. Argumentpositionen sind auf Individuendenotation (im Gegensatz zu Prädikatdenotation) festgelegt. Individuen werden ihrerseits von D0 aus denotiert, und zwar entweder konstant oder variabel/quantifikativ. Longobardi assoziiert die Hebung von N[PROP] an die D0-Position (für Argumente) mit „a singular-definite specific-transparent-rigid reading of the nominal“ (Longobardi 2005: 12). Diese Lesart ist für N[PROP] die prototypische. Ihre Bedeutung ist die einer Individuen-Konstanten im Sinne der „object-reference“ (rigid designation). Alternativ dazu kann die Bedeutung eines nominalen Ausdrucks als Quantifikation über einer Menge von intensional (über die Bedeutung eines Appellativums) definierten Individuen bestimmt werden. Da Eigennamen fixe Referenz haben müssen, müssen sie eine quantifikative Interpretation vermeiden (somit auch eine leere D0-Position, die als Quantor interpretiert würde), daher die Anhebung. Dagegen werden „bare nouns“, also artikellose Kontinuativa und Plurale, nicht als Konstanten für kinds interpretiert, sondern quantifikativ. Es findet dementsprechend keine Anhebung statt, sondern D0 bleibt leer. Als syntaktische Evidenz für die Anhebung werden vor allem Daten zur Position des attributiven Adjektivs herangezogen wie in (47). (47) ITA

a. b. c. d.

il mio Gianni / l’antica Roma *mio Gianni / *antica Roma Gianni mio / Roma antica il Gianni MIO / la Roma ANTICA ‚mein Gianni / das alte Rom‘ (Longobardi 2005: 8–10)

Possessivadjektive und eine Reihe anderer Adjektive stehen im Italienischen – sofern nicht z. B. durch Kontrastierung fokussiert – pränominal. Bei artikellosen EN dagegen steht das Adjektiv unmarkiert nach, wie in (47c), ohne dass ein Fokussierungseffekt eintritt. Dagegen ist die artikellose Voranstellung nicht möglich, vgl. (47b). Dieser Effekt werde durch Anhebung des Eigennamens in die leere Artikelposition korrekt vorhergesagt, während eine Bewegung des Adjektivs in die Position nach dem Nomen notwendig zu einer Fokussierung führen würde, wie sie in (47d), aber nicht in (47c), um das es hier geht, vorliegt.  





Bei Personennamen – nicht aber bei anderen EN-Typen ohne Proprialartikel – ist in den Vergleichssprachen, die Artikelsprachen sind, die Hinzusetzung eines expletiven definiten Artikels möglich: Dabei gelten unterschiedliche Beschränkungen sowohl im Hinblick auf den Anwendungsbereich als auch im Hinblick auf Varietät, Stilhöhe bzw. Register. Das Ungarische scheint insgesamt das weiteste Gebrauchsspektrum aufzuweisen (vgl. Tompa 1968: 74 f.). Im Englischen ist der expletive Artikel bei Personennamen in allen Erscheinungsformen (Vorname, Familienname, komplexer Personenname) ausgeschlossen: Vgl. (*the) John, (*the) Mary, (*the) Smith, (*the) John Smith. Man beachte, dass die Artikelsetzung bei pluralischen Familiennamen nicht expletiv, sondern im Englischen wie auch im Französischen obligatorisch ist. Dies entspricht der Tatsache, dass Familiennamen jeweils einzelne saliente Familienmitglieder denotieren (→ B1.4.3.4.2) und somit bei Verweis auf die ganze Familie ein erweiterter Gebrauch vorliegt: ENG *(the) Smiths ‚die Personen die den Namen Smith tragen (und zu der salienten Familie gehören)‘, FRA *(les) Dupont. Im Ungarischen hingegen ist wie im Deut 







B1 Wortklassen

493

schen Artikelsetzung bei pluralischen Familiennamen nicht obligatorisch, wie in Kovácsék ‚Kovácss‘. Artikelsetzung bei Vornamen und singularischen Familiennamen ist alltagssprachlich sehr usuell und nicht pejorativ konnotiert (az Imre), nach der Sprachnorm ist zumal bei Familiennamen der Artikel verpönt (Dániel Czicza, p.c.), während bei Namen von bekannten Personen, z. B. von Schauspielern, der Artikel auch Hochschätzung ausdrücken kann (Krisztina Molnár, p.c.). Im Französischen wird ähnlich wie im Deutschen (sowie anderen romanischen Sprachen) vor allem umgangssprachlich zu Vornamen der Artikel hinzugesetzt; in der Allgemeinsprache hat expletiver Artikel bei Familiennamen – ebenfalls vergleichbar dem Deutschen – häufig eine negative Konnotation: la Marie, le Pierre; La Dubarry, le Luther (Grevisse/Goosse 2011: 797). Daneben ist Artikelsetzung vor allem bei den Nachnamen berühmter Frauen (Schauspielerinnen, Sängerinnen) üblich. Dies führen Grevisse/Goosse (2011: 798) auf italienischen Einfluss zurück: la Callas – die Callas. Für das Deutsche gilt: Ähnlich wie etwa im Französischen ist die Hinzusetzung eines expletiven Artikels zu Personen-Vornamen im kolloquialen Register gebräuchlich. Im Süden des deutschsprachigen Gebiets ist nach Nübling/Fahlbusch/Heuser (2012: 122) „der Artikelgebrauch in der Umgangssprache (und erst recht in den Dialekten) in jedem Kontext unmarkiert, ja obligatorisch“. Mit der Artikelsetzung kann auch in formelleren Kontexten Nähe und Vertrautheit zu der vom EN bezeichneten Person mit ausgedrückt werden, vgl. (48). Dagegen ist der Artikel beim Familiennamen (oder der Kombination von Vor- und Familiennamen bzw. Herr/Frau bzw. Titel + Familienname) als stark umgangssprachlich markiert und ggf. in bestimmten Redekonstellationen als unhöflich bzw. negativ wertend einzuschätzen – das gilt zumindest für die Nominativ- und Akkusativformen. Ein Beispiel dafür ist (49). Die Pluralform des Familiennamens zur Bezeichnung der Gesamtheit der Mitglieder einer Familie (oder auch nur des Ehepaares) kann, teilweise register- und gattungsabhängig, mit und ohne definiten Artikel gebraucht werden, vgl. (50).  









(48)

Joseph Vilsmaier: Die Anna hat auch großes Glück gehabt, daß sich ein Verleger fand, der ihre Geschichte gedruckt hat. (die tageszeitung, 19.01.1989)

(49)

„Der Maier ist für mich soviel wie Luft“, sagt dazu der Pfälzer, der sich diese Runde erstmals seit Jahren wieder in Aalen hat blicken lassen. (die tageszeitung, 20.01.1996)

(50)

Auf Initiative der Maiers und zweier weiterer Eltern hin gibt es an der Berthavon-Suttner-Schule in Mörfelden-Walldorf seit dem Schuljahr 1997/98 integrativen Unterricht […] Maiers haben mit dem integrativen Unterricht an der Suttner-Schule nur gute Erfahrungen gemacht. (Frankfurter Rundschau, 12.05.1999)

494

B Wort und Wortklassen

Ein Motiv für die Artikelsetzung kann auch die Kasusmarkierung sein, wie in (50) mit dem Genitiv der Maiers versus Nominativ Maiers. Auch bei komplexen Personennamen (Vorname + Familienname) wird im postnominalen Genitiv ggf. der definite Artikel gesetzt, als Alternative zur vonPhrase bzw. zur rechtsperipheren s-Markierung wie etwa in die Dissertation des Karl Mayer / der Elisabeth Müller versus die Dissertation von Karl Mayer / von Elisabeth Müller versus die Dissertation Karl Mayers / Elisabeth Müllers (vgl. dazu auch Ackermann 2014: 15). Nach Nübling/ Fahlbusch/Heuser (2012: 122–126) werde aber besonders im Dativ, der wie der Nominativ präferiert belebt belegt wird, der Artikel gesetzt, um Ambiguitäten auszuschließen (Der Eva hat Anna nie Recht gegeben).

Analog zu Personennamen können auch bei Namen von Haustieren (nähesprachlich) und bei Firmennamen (umgangssprachlich) Artikel gesetzt werden (beim Daimler / beim Benz arbeiten). Expletive Artikel bei Eigennamen für Entitäten anderer Sorten sind unüblich bzw. ungrammatisch, vgl. *das Frankfurt, *das England Vom fakultativen expletiven Artikel ist der syntaktisch determinierte Artikel zu unterscheiden, der bei bestimmten Formen attributiver Erweiterung, und zwar in erster Linie bei pränominalem Adjektivattribut, hinzutreten muss. Der syntaktisch determinierte Artikel erscheint sprachübergreifend nicht in (ggf. adjektivisch erweiterten) Anredeformen (Vokativ). Das Polnische ist hier ebenfalls genannt, der speziellen Vokativform des Eigennamens wegen, der hier in der familiär üblichen Koseform Ania, Vokativ: Aniu erscheint: (51) DEU ENG FRA POL UNG

(Liebe) Anna, komm bitte her. (Dear) Anne, please come here. (Chère) Anne, viens ici, s’il te plaît. (Kochana) Aniu, podejdź tu, proszę. (Kedves) Anna, légy szíves (és) gyere ide.

Beim syntaktisch determinierten Artikel geht es nur um appositive Erweiterungen, wie sie bei Eigennamen in ihrem zentralen Gebrauch ausschließlich möglich sind. Restriktive Attribute – wie etwa in der JUNGe Schmidt, nicht der ALte – beziehen sich auf appellativische Verwendungskontexte, → B1.4.3.8. Auch bezüglich der syntaktisch determinierten Artikelsetzung gibt es sprachspezifische Spielräume: Im Englischen ist die syntaktische Determination nur schwach ausgeprägt: Nur in formalen Registern wird vor ein pränominales Adjektiv der Artikel gesetzt.  

(52) ENG



the beautiful Princess Diana, the inimitable Henry Higgins ,die schöne Prinzessin Diana, der unnachahmliche Henry Higgins‘ (Quirk et al. 1985: 290; Huddleston/Pullum 2002: 520)

B1 Wortklassen

495

Üblicherweise werden aber appositive Adjektive ohne Artikel vorangestellt, wobei als prämodifikative Erweiterung nur „adjectives with emotive colouring“ (Quirk et al. 1985: 290) erlaubt sind, vgl. (53). (53) ENG

old Mrs Fletcher, dear little Eric, beautiful Spain, poor Charles ,die alte Mrs. Fletcher, der lieber kleine Eric, das schöne Spanien, der arme Charles‘

Im Französischen wie im Ungarischen hingegen steht das appositive Adjektiv grundsätzlich pränominal und fordert Artikelsetzung. (54) FRA

(55) UNG

la

petite Marie, le subtil Ulysse, la blonde Venise klein Marie DEF scharfsinnig Odysseus DEF blond Venedig ‚die kleine Maria, der scharfsinnige Odysseus, das blonde Venedig‘ (Grevisse/Goosse 2011: 797)

DEF

az

ügyes Anna, a 20 éves Anna‚ a szép Budapest geschickt Anna DEF 20-jährig Anna DEF schön Budapest ‚die geschickte Anna, die 20-jährige Anna, das schöne Budapest‘

DEF

Auch im Deutschen bedingen appositive attributive Adjektive Artikelsetzung. Formen wie Klein-Erna, Jung-Siegfried gehören in die Wortbildung und determinieren daher keine Artikelsetzung. (56)

der nette Klaus, das schöne Frankfurt, das sommerliche England

(57)

Peinlich ist es trotzdem, wenn sich ein Talk-Show-Gast als Schwindler outet. Wie soeben der 37jährige Meinolf Meyer, der in neun Monaten in sechs verschiedenen Shows auftrat:“. (Oberösterreichische Nachrichten, 05.05.1997)

Daneben werden im Englischen, Französischen wie auch im Deutschen nachgestellte durch den Artikel determinierte Adjektive den Namen von bekannten Persönlichkeiten (Herrschernamen) als „Beinamen“ („epithète de caractère“, Grevisse/ Goosse 2011: 424) hinzugefügt; im Englischen und Deutschen werden auch Ordinalzahlen in dieser Form zur Anzeige der Position in Herrscherdynastien gebraucht. Im Französischen stehen stattdessen die artikellosen Kardinalnumeralia, in älterer Sprache noch postponierte Kardinalia, mit und ohne definiten Artikel, vgl. Grevisse/ Goosse (2011: 807). Im Ungarischen stehen sowohl entsprechende Adjektive als auch Ordinalnumeralia pränominal, ohne Artikel; im Polnischen erscheinen sie postnominal.

496

(58) DEU ENG FRA POL UNG

B Wort und Wortklassen

Philippe der Schöne, Ivan der Schreckliche, Katharina die Große, Friedrich der Zweite Philip the Fair, Ivan the Terrible, Catherine the Great, Richard the Third Philippe le Bel, Ivan le Terrible, Catherine la Grande, Louis Quinze (aber: Charles Premier) Filip Piękny, Iwan Groźny, Katarzyna Wielka, Kazimierz IV (czwarty) Szép Fülöp ‚Philipp der Schöne‘, Rettegett Iván ‚Ivan der Schreckliche‘, XV. Lajos (tizenötödik Lajos) ‚Ludwig XV.‘, II. Nagy Katalin ‚Katharina die Zweite/die Große‘  

Im Französischen erhalten auch Ortsnamen Epitheta dieser Art: Brive-La-Gaillarde, Noisy-Le-Grand; auch literarisch in freier Verwendung: Alger la blanche, Grenade la Jolie (Grevisse/Goosse 1993: 497). Postnominale (appositive) Erweiterungen erfordern in der Regel keine Artikelsetzung. Üblich sind sie in Form von Präpositionalphrasen zur Angabe der Herkunft (Personen) oder der Lage (Orte) bzw. in Form von Relativsätzen. (59) ENG FRA DEU

Bob Smith from Brighton; Smith, who is quite famous as a painter Gérard Legrand de Paris; Legrand, qui est un peintre très connu Ludwig Müller aus Bammental; Müller, der sich als Hobbymaler einen Namen gemacht hat

(60)

Viele Briefe, Faxe und E-Mails erreichten uns in der vergangenen Woche. Herr Kleinmann aus Wilmersdorf schreibt: […] Ganz anderer Meinung ist Peter Müller aus Kreuzberg. (Berliner Morgenpost, 23.03.1999)

(61)

Frankfurt, das als erste deutsche Kommune einen Mädchenförderplan verabschiedete, hat gleich zwei Mädchenexpertinnen im Jugendhilfeausschuß sitzen. (die tageszeitung, 29.08.1995)

Possessorangaben außer in Form von Possessivpronomina sind bei Personennamen standardsprachlich eher unüblich. Steht der Possessorausdruck pränominal, kann kein Artikel stehen (62a), bei postnominalem Possessorausdruck muss aber ein Artikel gesetzt werden (62b): (62)

a. Peters/Herrn Schulzes Maria b. *(die) Maria von Herrn Schulze/der Familie Schulze

Die Artikelsetzung bzw. die Determination durch einen pränominalen Genitiv reflektiert die Tatsache, dass hier keine appositive, sondern eine restriktive Erweiterung

B1 Wortklassen

497

vorliegt. Restriktive Erweiterungen wiederum sind nur möglich, wenn der Eigenname appellativisch interpretiert wird (‚Personen/Objekte, die X heißen‘). Ein Syntagma wie Peters Maria oder umgangssprachlich dem Peter seine Maria ist dann zu interpretieren als ‚diejenige Person mit Namen Maria, die zu Peter gehört‘. In der Regel wird hier ein Hyperonym wie Tochter, Sohn usw. eingeschoben, so dass der Eigenname nur als Erweiterungsnomen fungiert. An diesen komplexen nominalen Kern wird dann das Possessorattribut angeschlossen. (63)

Mit von der Partie ist noch die junge Polizistin Ina, deren Darstellerin Theresa Scholze – klein ist die Welt – als Tochter Anna des schon erwähnten ZDFSerienhelden Dr. Kolmaar bekannt geworden ist. (Frankfurter Allgemeine, 06.03.2001)  



Bei anderen Eigennamenklassen, etwa Werktiteln oder Städtenamen, dagegen sind Possessorangaben durchaus üblich: Brechts Arturo Ui, Kafkas Prag. Hingegen werden Possessivpronomina häufiger auch zu Personennamen hinzugesetzt. Sie können – anders als expletive oder syntaktisch determinierte Artikel – auch in Anredeformen auftreten.  

(64)



a. Meine (kleine) Elsa, komm doch mal her. b. Mein Thüringen, wie lieb ich dich! Longobardi (1994, 2005) spricht in allen Fällen der Artikelsetzung bei EN, wo kein restriktives Attribut vorhanden ist, wo somit der Artikel „semantisch leer ist“, von expletivem Artikel. Dieser besetzt die D0-Position und verhindert die Anhebung des EN in eben diese Position. (Im Englischen erfolgt die Anhebung erst nach „Spell out“, ist also nicht sichtbar, im Deutschen und Französischen kann sie bei unerweitertem EN erfolgen, expletiver Artikel ist aber bei adjektivischem Attribut obligatorisch und blockiert raising.) Expletiver und substanzieller („substantive“) Artikel in Fällen, wo der EN kein starrer Designator ist, sind in diesem Ansatz verschiedene Dinge. Dies zeige sich z. B. daran, dass eine Koordination wie die in (65) völlig ungrammatisch, die in (66) jedoch zulässig ist.  

(65) ITA

*La Maria e (mia) segretaria è arrivata in ritardo. ‚*Die Maria und (meine) Sekretärin ist zu spät gekommen.‘ (Longobardi 2005: 30)

(66)

Die Freundin und Kollegin ist zu spät gekommen.

Nun ist aber auch bei substanziellem Artikel (z. B. im Plural) in Kombination mit EN eine solche Koordination ausgeschlossen, vgl. (67) vs. (68).  

(67)

*Die (beiden) Marien und Sekretärinnen sind zu spät gekommen.

(68)

Die (beiden) Freundinnen und Kolleginnen sind zu spät gekommen.

Des Weiteren verweist Longobardi (2005: 29 f.) auf das Katalanische: In bestimmten Varietäten seien hier expletiver und nicht-expletiver definiter Artikel auch formal verschieden  

expletiv: en (M ) / na (F ) bei personalen EN nicht-expletiv: el (M ) / la (F )

498

B Wort und Wortklassen

Gemäß Badia i Margarit (1995: 446) ist die Verteilung des so genannten „personalen Artikels“ im Katalanischen unterschiedlich nach Regionen. Auf den Balearen scheint die Verwendung obligatorisch zu sein: n’ für vokalisch anlautende personale Namen sonst: en (M ) / na (F ) In Katalonien ist die Setzung von en fakultativ, nähesprachliches na sei im Rückgang. Im Gebiet von Valencia wird kein Artikel bei personalen Namen gebraucht.

B1.4.3.6 Das Verhältnis von Proprialdeskriptor und Eigenname: In welchem Rahmen variiert die Setzung von Proprialdeskriptoren? Eigennamen werden oft durch Appellativa erweitert wie in DEU die Stadt Rom, ENG Lake Michigan, FRA la Place Vendôme. Damit wird die Zugehörigkeit des Namensträgers zu der vom Appellativum bezeichneten Gegenstandsklasse ausgedrückt. Der pragmatische Sinn solcher Kombinationen besteht darin, den im Wortschatz isolierten Eigennamen (→ B1.4.3.1.2) über das Appellativum in den Wortschatz und damit in die lexikalische und letztlich auch in eine konzeptuell-ontologische Taxonomie einzuordnen. Wir nennen die jeweils einschlägigen (oft stereotyp und fest zugeordneten) Appellativa hier ‚(Proprial-)Deskriptoren‘. Deskriptoren können entweder in syntaktischen Attribuierungsverhältnissen zum EN erscheinen, wie in den genannten Beispielen, oder aber auch als Bestandteile von Komposita wie in die Goethestraße, der Michigansee. Bei Komposita liegt (in der Regel) ein komplexer Eigenname vor. Die Ausdrucksform der syntaktischen Attribuierung kann entweder als freie Kombination genutzt werden (wie in die Stadt Rom, der Kontinent Afrika) oder aber sie geht mit dem proprialen Bestandteil eine feste Verbindung ein, die erst insgesamt den EN konstituiert (ENG Lake Michigan, Cambridge University, FRA la Place Vendôme, DEU die Villa Hügel, das Kloster Maulbronn). Harweg (1983) spricht (sowohl hinsichtlich der Form Goethestraße als auch der Form Villa Hügel) von „Gattungseigennamen“, wobei die (durch den deskriptoralen Anteil ausgedrückte) Gattungsnamenfunktion, der EN-Funktion untergeordnet sei; vgl. auch Nübling/Fahlbusch/Heuser (2012: 44 f.).  

Welche der beiden Alternativen ‚freie Kombination aus Deskriptor + EN‘ oder ‚komplexer Eigenname, bestehend aus proprialem Bestandteil und Deskriptor‘ jeweils vorliegt, hängt von zwei Faktoren ab: –

Wenn der enthaltene Eigenname (der propriale Bestandteil) nicht oder nicht eindeutig bereits alleine der mit dem Deskriptor genannten Gegenstandsklasse entspricht, so gehen Deskriptor und proprialer Bestandteil eine feste Verbindung ein, die tendenziell als Eigenname für ein Element der durch den Deskriptor bezeichneten Klasse betrachtet wird: Dies ist z. B. der Fall, wenn Personennamen  

499

B1 Wortklassen



Bestandteile von Namen für Örtlichkeiten sind (FRA Tour Eiffel) oder wenn ein geografischer Name in die Bezeichnung für eine Örtlichkeit einer anderen Klasse eingeht wie in ENG Lake Winnipeg, FRA Place Vendôme oder wenn eine Ortsbezeichnung Basis einer Institutionenbezeichnung ist wie in ENG Cambridge University. Verweisen dagegen proprialer Bestandteil und Deskriptor bereits auf dieselbe Gegenstandsklasse (die Stadt Rom, der Kontinent Afrika), so kann eine freie Verbindung vorliegen. Für bestimmte Individuensorten sind deskriptorhaltige Eigennamen usuell (z. B. Straßennamen) oder gar verbindlich. Bezeichnet die Verbindung ein Element einer solchen Sorte, so muss – zumindest für bestimmte Muster der Verbindung von Deskriptor und proprialem Bestandteil – die Lesart als komplexer EN möglich sein: ENG Oxford street (zwei Lesarten: EN und ‚(eine) Oxforder Straße‘).  





Sprachübergreifend gilt, dass insbesondere bei den ‚anderen Örtlichkeiten‘ der HierarchieProprialartikel (→ B1.4.3.4) deskriptorhaltige Eigennamen usuell oder gar obligatorisch sind, während bei den weiter oben in der Hierarchie rangierenden Sorten (mit nach links abnehmender Tendenz) Deskriptoren eher nicht als zum EN gehörig betrachtet werden. Straßennamen ohne Deskriptor kommen markiert vor; dann häufig auch mit lokaler Präposition als EN-Bestandteil: die Planken, Am Schlichter, An der Gehre, Am Schloss, Unter den Linden. Bei Personen sind Deskriptoren (dieser rein sortalen Allgemeinheitsstufe) absolut unüblich (vgl. der Mensch Fritz Maier), bei Haustieren können ggf. Deskriptoren zur Disambiguierung hinzutreten wie sein Hund Hektor, die Kuh Isolde. Bei anderen Sorten sind Deskriptoren vor allem im offiziellen Sprachgebrauch üblich, wenn es um eindeutige Klassifikation geht wie: die Länder X und Y.  

Für die Verbindung zwischen proprialem Nomen (PN) und Deskriptor-Nomen (DN) gibt es in den Vergleichssprachen folgende Möglichkeiten: 1. Deskriptor-Nomen geht proprialem Nomen voraus. 1.1. DN und PN sind ohne Dependensmarker juxtaponiert: DN+PN (z. B. DEU Stift Neuburg). 1.2. DN und PN sind durch einen Dependensmarker bzw. einen Relator (in Form eines Kasusaffixes oder einer Adposition) verbunden: DN Relator PN (z. B. POL ulica Galileusza ‚Galileistraße‘ mit PN im Genitiv, ENG Isle of Wight mit Präposition). 2. Propriales Nomen geht Deskriptor-Nomen voraus. 2.1 PN und DN sind ohne Dependensmarker juxtaponiert: PN+DN (z. B. ENG London University). 2.2 Kompositum: PN-DN (DEU Goethestraße, ENG Russell Square). 2.3 PN und DN sind durch einen Relator verbunden: PN Relator DN (z. B. ENG St. Paul’s Cathedral).  









500

B Wort und Wortklassen

3. Propriales Nomen wird adjektiviert. 3.1 DN geht adjektiviertem PN voraus: DN+PNADJ (z. B. Uniwersytet Warszawski ‚Universität Warschau‘, wo Warszawski das Adjektiv zu Warszawa ist). 3.2 Adjektiviertes PN geht DN voraus: PNADJ+DN (z. B. UNG Pécsi Tudományegyetem ‚Universität Pécs‘, DEU Oxforder Straße).  



Es zeigt sich somit, dass – neben dem Sonderfall der Adjektivierung von PN unter 3 – eine Teilmenge der allgemeinen Attribuierungsmuster für die Verbindung zweier Substantive hier einschlägig ist. Die Fälle unter 1 sind Muster der Rechtsattribuierung und damit auch der Rechtsverzweigung (vgl. das Kloster Stift Neuburg); hier ist der Kopf (DN) linksperipher. Die Fälle unter 2 sind Muster der Linksattribuierung und damit auch der Linksverzweigung (vgl. ENG California State University, Cambridge University Press); hier ist der Kopf (DN) rechtsperipher. Hier ist auch die im Englischen rechtsköpfige Komposition zugeordnet, und zwar, weil vor allem im Englischen syntaktische Linksattribuierung und Komposition nicht scharf geschieden sind. Bei den Mustern unter 3 greifen die Linearisierungsregeln für attributive Adjektive; auch hier haben wir ein rechtsattribuierendes und ein linksattribuierendes Muster. Die Wahl, die in den Vergleichssprachen aus diesem Musterinventar vorgenommen wird, bewegt sich im Rahmen der für die Sprache geltenden Markierungs- und Linearisierungsmuster für nominale Kopf-Dependens-Strukturen. Gemäß Universale 22 von Greenberg (1963: 70) gilt insbesondere eine Korrelation zwischen „nominal apposition, particularly those involving a common along with a proper noun“ und der Reihenfolge von Nomen und Genitiv (Possessorausdruck). Festzuhalten ist allerdings, dass hier nicht-referentielle Modifikation vorliegt und somit eher eine funktionale Analogie zu Adjektiven als zu Possessorphrasen. Für die Vergleichssprachen gilt im Einzelnen: Das Englische ist insofern auffällig, als es beide Grundmuster als syntaktische Attribuierungsmuster für die Verbindung von DN und PN zulässt (vgl. auch Greenberg 1963: 70). Beim Muster 1, der Rechtsattribuierung, sind außerdem sowohl die reine Juxtaposition (1.1) als auch Dependensmarkierung durch die Präposition of (1.2) möglich. Bei der Linksattribuierung überwiegt die Juxtaposition (2.1), seltener, wenn PN ein Personenname ist, erscheint PN im sächsischen Genitiv (St. Paul’s Cathedral). Letzteren, eher marginalen Fall betrachten wir im Folgenden nicht mehr.  





– – –

(nach Muster 1.1) DN+PN: River Thames, Lake Michigan (nach Muster 1.2) DN Relator PN: Isle of Sky, University of London (nach Muster 2.1) PN+DN: Canterbury Cathedral, Epping Forest, Kew Gardens, Kennedy Airport, London University, Windsor Castle, Oxford Street

Festzuhalten ist nochmals, dass nur bei Muster 1.2, der Verbindung mit of, ein Proprialartikel von der Konstruktion her gefordert ist: Vgl. (at) the University of London

501

B1 Wortklassen

versus at London University. Bei 1.1 und 2.1 erhalten nur die in der Hierarchie ganz unten befindlichen Örtlichkeiten (Flussnamen) einen Artikel: the River Thames – the Potomac River. Auch im Hinblick auf die anderen Vergleichssprachen halten wir fest: Muster 1.1 entspricht dem Muster, das im Deutschen als enge Apposition bzw. nach der IDS-Grammatik (1997: 2043) als ‚Kopfnomen (hier DN) + Erweiterungsnomen (hier: PN)‘ charakterisiert wird. In der Regel liegt hier semantisch folgende Beziehung vor:  

Kopfnomen: Bezeichnung für Klasse Erweiterungsnomen: Bezeichnung für Teilklasse/Element (69) DEU ENG FRA POL UNG

König Heinrich King Henry le roi Henri król Henryk Henrik király

Wie bereits angedeutet, kann aber bei komplexen Eigennamen anders als in der freien Verbindung eine sortale Verschiedenheit beider Bestandteile vorliegen, die eine Teilklassen- oder Elementbeziehung ausschließt: neben ENG River Thames, Lake Windermere (sortale Gleichheit beider Bestandteile: Elementbeziehung) auch ENG Lake Erie, Lake Huron, wo der propriale Bestandteil jeweils ein Stammesname ist. Das gegenläufige Muster 2.1 hingegen entspricht den für das Englische charakteristischen (Prä-)Modifikator(N)-Kopf(N)-Strukturen. Diese drücken in der Regel keine Relation zwischen Element und Klasse aus, sondern bei sortaler Verschiedenheit zwischen den beiden N-Denotaten eine begriffliche (klassifikatorische) Modifikation, die jeweils als Relation z. B. der Beschaffenheit, der Lokalisierung oder der Zugehörigkeit gedeutet werden kann. Diese syntaktische Modifikator(N)-Kopf(N)-Struktur steht im Englischen neben einer kompositionalen Modifikator(N)-Kopf(N)-Struktur, vgl. (70a) vs. (70b). Zur Differenzierung s. Huddleston/Pullum (2002: 449).  

(70) a. gold coin, parish church, London papers ENG ,Goldmünze, Pfarrkirche, Londoner Zeitungen‘ b. icecream, buttonhole ,Eiscreme, Knopfloch‘ Die Verbindungen aus PN+DN, um die es hier geht, etwa London/Oxford university, Oxford street sind nach diesen Kriterien zunächst als freie syntaktische Verbindungen wie (70a) einzuordnen. Denn es ist sowohl Koordination des proprialen Bestandteils möglich (71a) als auch Koordination von Deskriptoren (71b).

502

B Wort und Wortklassen

(71) a. Oxford and Cambridge streets ENG ,Oxforder und Londoner Straßen‘ b. Oxford streets and squares ,Oxforder Straßen und Plätze‘ In Beleg (72) ist der propriale Bestandteil adverbial modifiziert. Dies könnte als Hinweis auf einen adjektivischen Status des Prämodifikators (hier Oxford) gedeutet werden. (72) ENG

The first of these, along with Broad Street which runs parallel to it, are perhaps the two most typically ‚Oxford‘ streets in the City. ,Die ersten davon sind vielleicht, neben der Broad-Street, die parallel verläuft, die beiden Straßen in der Stadt, die am typischsten ‚Oxford‘ sind.‘ (Internet)

Solche Verbindungen können dann, erkennbar an der Großschreibung auch des Deskriptors, auch als EN verwendet werden. Da im Englischen bei Institutionennamen nach diesem Muster (Oxford University) und Straßennamen (Oxford Street) kein Proprialartikel gefordert ist, ist der Status als grammatischer Eigenname i. e. S. jeweils voll erfüllt, vgl. (73) versus (74) sowie (75). Beleg (76) enthält einen syntaktisch determinierten Artikel bei EN.  



(73) ENG

A LABORATORY will be built at Oxford University this summer to house a new research team studying gene therapy for the treatment of Aids. ,An der Universität Oxford wird diesen Sommer ein Labor zur Unterbringung eines neuen Forscherteams gebaut werden, das die Behandlung von AIDS mittels Gentherapie untersucht.‘ (BNC: AHV „Daily Telegraph“)

(74) ENG

An inquest has opened on a brilliant student found hanging in her room at an Oxford college. ,Eine gerichtliche Untersuchung wurde eröffnet betreffs einer Studentin, die erhängt in ihrem Zimmer an einem Oxforder College gefunden wurde.‘ (BNC: K23 „Television news scripts“)

(75) ENG

Normally, I get my flowers on Oxford Street just after 7.0 p.m. ,Normalerweise hole ich meine Blumen auf der Oxford-Street kurz nach 7 Uhr abends.‘ (BNC: HWL „Ripley, Angel Touch“)  

(76) ENG

See real London life, as it happens here on the famous Oxford Street, Europe’s largest high street. ,Schau dir echtes Londoner Leben an, wie es hier auf der berühmten Oxford-Street, Europas größter Einkaufsmeile, stattfindet.‘ (Internet)

B1 Wortklassen

503

Pluralisierung des Deskriptors kann sowohl bei der freien syntaktischen Verbindung (77) als auch bei elliptischer Koordination von Eigennamen auftreten (78) oder auf die Existenz mehrfacher Namensträger hinweisen (79). (77) ENG

Vandals armed with wooden pallets rampaged through three Oxford streets, damaging 22 cars in a few minutes. ,Vandalen, bewaffnet mit hölzernen Paletten, randalierten durch drei Oxforder Straßen und beschädigten 22 Autos in ein paar Minuten.‘ (Internet)

(78) ENG

There’s upscale shopping on Oxford and Regent Streets. ,Es gibt hochpreisiges Shopping auf der Oxford- und Regent-Street.‘ (Internet)

(79) ENG

There are lots of Oxford Streets and Squares around the world. ,Es gibt eine Menge Oxford-Streets und -Squares rund um die Welt.‘

Im Deutschen entspricht dieser Struktur: a.

die Verbindung aus detoponymischem Adjektiv + Kopfnomen: Oxforder Straße, Hanauer Forst, Ulmer Münster (freie syntaktische Verbindung und EN) b. die Komposition, vor allem bei Personennamen als Erstglied: Kennedy-Flughafen, Walter-Schreiber-Platz c. die Folge DN + PN: Universität München, Schloss Windsor ENG Oxford Street

vs. DEU Oxforder Straße, ??Oxfordstraße

ENG London University

vs. DEU Londoner Universität, Universität London, *LondonUniversität

ENG Cambridge University Press

vs. DEU Cambridger Universitätsverlag, Universitätsverlag Cambridge, ??Cambridge-Universität-Verlag

Das Französische ist hier ausschließlich rechtsattribuierend und kennt sowohl reine Juxtaposition als auch Dependensmarkierung mithilfe der Präposition de. – –

(nach Muster 1.1) D+N: Boulevard Michelet, Mont St. Michel, Rue Général de Gaulle, Tour Eiffel (nach Muster 1.2) D Relator N: Lac de Constance ‚Bodensee‘, Lac de Genève, Collège de France  

Auch das Polnische ist rechtsattribuierend und verfügt über das Muster der Juxtaposition wie in rzeka Odra ‚der Fluss Oder‘, sowie Dependensmarkierung mithilfe des Kasusaffixes (Genitiv) am dependenten proprialen Bestandteil (Muster 1.2) sowie Adjektivierung (Muster 3.1). Ist PN ein Personenname, wird in der Regel das genitivi-

504

B Wort und Wortklassen

sche Muster gewählt, bei Ortschaftsnamen Adjektivierung. Adjektivierung erfolgt auch bei nicht-proprialen Bezeichnungen, z. B. in Straßennamen wie ulica Ogrodowa ‚Gartenstraße‘. Insofern zeigt sich bei der genitivischen Realisierung im Fall von Personennamen ein Belebtheits- und Definitheitseffekt.  



(nach Muster 1.2) D Relator N: ulica Chopina ‚Chopinstraße‘, Uniwersytet Mikołaja Kopernika ‚Nikolaus-Kopernikus-Universität‘ (nach Muster 3.1) DN+PNADJ: Uniwersytet Wrocławski ‚Universität Breslau‘, ulica Chojnowska ‚Chojnoer/Hanauer Straße‘ (Dabei wird das Wort ulica oft weggelassen.)



Das Ungarische verfährt auch in diesem Fall entsprechend seiner eindeutigen Favorisierung für Linksattribuierung: –

(nach Muster 2.1 bzw. 2.2) PN+DN/PN-DN: Kálvin tér ‚Kalvinplatz‘, Török Bálint utca ‚Bálint-Török-Straße‘, Eötvös Loránd Tudományegyetem ‚Eötvös Loránd Universität‘ (sic!, vgl. RNZ, 04.09.2007; Spiegel, 03.09.2007)

Zu beachten ist, dass das rechts stehende Kopfnomen keinen Possessormarker trägt. Es handelt sich also um einfache Juxtaposition bzw. auch um Kompositumbildung. Ist PN ein Ortschaftsname und befindet sich die Institution, die vom gesamten EN bezeichnet wird, an eben diesem Ort, so wird der Ortschaftsname adjektiviert, also nach Muster 3.2 verfahren. Damit ist ein solcher Eigenname grammatisch nicht von der entsprechenden Klassenbezeichnung (Institutionen, z. B. Universitäten an diesem Ort) unterscheidbar.  



(nach Muster 3.2) PNADJ+DN: Pécsi Tudományegyetem ‚Universität Pécs‘/‚Pécser Universität‘

Hat der Ortschaftsname im Gesamtnamen dagegen rein klassifikatorische Funktion – d. h. wird keine Lokalisierung mit angezeigt – so wird, wie gezeigt, nicht adjektiviert: Moszkva tér ‚Moskauer Platz‘ (z. B. in Budapest). Im Deutschen sind alle drei Grundmuster für die Verbindung von proprialem Nomen (PN) und Deskriptor-Nomen (DN) zu einem neuen Eigennamen gegeben. Es gelten allerdings klare Beschränkungen: Rechtsattribuierung findet nach Muster 1.1, also durch Juxtaposition statt, das Muster 1.2 mit Relationsmarker (Präposition oder Genitiv) ist für diesen Zweck allenfalls marginal belegt:  







– –

(nach Muster 1.1) D+N: Stift Neuburg, Universität Mannheim, Schloss Salem (nach Muster 1.2) D Relator N: Universität zu Köln, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Humboldt-Universität zu Berlin

B1 Wortklassen

505

Beide Muster konstituieren Eigennamen für Entitäten, häufig Institutionen, die sortal verschieden sind von der Sorte des proprialen Bestandteils, wie z. B. den EN für ein Kloster auf der Basis eines Ortschaftsnamens. Linksattribuierung: Im Deutschen findet hier ausschließlich das Muster der Komposition, Muster 2.2, Anwendung: Es ist konstitutiv für die Verbindung von EN für sortal verschiedene Entitäten auf der Basis eines Personennamens. Dabei kann ein Fugen-s (ursprünglicher Genitivmarker) vorhanden sein, z. B. Institutionennamen wie Ruprecht-Karls-Universität, Straßennamen wie Richard-Wagner-Straße, Stalinallee oder sonstige Namen wie Westfalenhalle. Adjektivierung von PN: Adjektivierung tritt nahezu ausschließlich bei geografischem Namen als PN auf. Dabei handelt es sich entweder um die unflektierbaren -erAbleitungen, die überwiegend zu Ortschaftsnamen gebildet werden, oder um reguläre Adjektive auf -isch. Beide können eine Lokalisierung bzw. lokale Zugehörigkeit ausdrücken wie in Mannheimer/hessische Universität. Hier ist für den Gesamtausdruck keine Lesart als Eigenname gefordert (aber möglich wie in Thüringer Wald), in bestimmten Fällen (etwa bei Universitäten) aber unüblich. Beide Formen treten andererseits auch rein klassifikatorisch auf, wobei die Lesart des Gesamtausdrucks als EN obligatorisch ist: Brandenburger Tor, Frankfurter Allee, Potsdamer Platz, Schlesische Straße (alle in Berlin).  



Adjektive auf -sch zu Personen-Nachnamen, die in syntaktischer Verbindung gebraucht werden ((die) Grimm’sche(n) Märchen), kommen gelegentlich, jedoch nicht systematisch, auch als Bestandteile von Eigennamen vor wie der Halleysche Komet.

B1.4.3.7 Genusdetermination bei grammatischen Eigennamen Hier sind nur die grammatischen Eigennamen in Betracht zu ziehen, da semantische Eigennamen phrasaler Bauart (wie das Institut für Wissensmedien) ihr Genus vom appellativischen Kopfsubstantiv erben. Auch bei der Genusfestlegung spielt die HierarchieProprialartikel (→ B1.4.3.4) eine entscheidende Rolle. Die oberste Hierarchieposition, vorgesehen für Namen von Personen/Haustieren, richtet sich in den Genussprachen Deutsch, Französisch, Polnisch (wie auch im Englischen, was die anaphorische Bezugnahme angeht) nach dem Sexusprinzip: Namen für männliche Personen/Haustiere sind Maskulina, Namen für weibliche Personen/Haustiere sind Feminina; davon wird sprachabhängig ggf. nur bei Namensdiminutiva wie DEU (das) Ännchen, (das) Hänschen abgewichen. Bei den Namen für Nicht-Belebtes können zwei Prinzipien wirksam werden: Genusdetermination aufgrund von Formeigenschaften und Genusdetermination nach dem DefaultPrinzip. Im Polnischen wird auch bei Eigennamen für Nicht-Personales wie bei Appellativa das Genus primär von der phonologischen Form determiniert. Für den Bereich der Toponyme gilt: Alle Namen von Kontinenten und die Mehrzahl der Ländernamen sind

506

B Wort und Wortklassen

Feminina, erkennbar an der non-obliquen Grundform auf -a (Europa, Antarktyka; Anglia, Belgia, Francja, Polska usw.) Daneben gibt es aber maskuline Ländernamen (endungslose Grundform) wie Meksyk, Izrael, Irak, Iran, und Neutra auf -o/-u wie Peru, Maroko. Nicht wenige Ländernamen sind auch Pluraliatantum wie Niemcy ‚Deutschland‘, Węgry ‚Ungarn‘, Włochy ‚Italien‘ Auch bei Städtenamen und anderen geografischen Größen findet sich (oft erkennbar an der Grundform) eine Verteilung auf die Genera etwa mit KrakówM , WarszawaF , KatowiceN . Entsprechendes gilt für Firmennamen wie LanaF, UrsusM. Auch für die französischen Toponyme ist partiell die phonologische Form bestimmend. Namen von Ländern, Kontinenten, Regionen, die auf stummes -e enden, sind in der Regel Feminina (< LAT -a): l’Italie, l’Allemagne, l’Afrique, l’Alsace. Aber: Le Mexique, le Cambodge, le Mozambique. Die Wahl der lokativen Präposition ‚in‘ ist genus- und liaisonabhängig: Bei den Feminina und den vokalinitialen Maskulina steht en: en France, en Angola (F ), en Équateur (M ), en Azerbaïdjan (M ), en Iran (M ), sonst bei singularischen au: au Japon, bei pluralischen aux: aux États Unis.  

Bei den Städtenamen (ohne Proprialartikel) gibt es Genus-Unsicherheiten: Im Allgemeinen wird in gesprochener Sprache – außer wiederum bei Ortschaftsnamen auf stummes -e – das unmarkierte Maskulinum gesetzt. Literarisch gibt es zahlreiche Belege für femininen Gebrauch, wohl weil Städtenamen im früheren Sprachgebrauch immer Feminina waren (Grevisse/Goosse 1993: 718). Firmennamen wie etwa Renault sind maskulin. In beiden Sprachen wird bei Toponymen das Genus von Kongruenzformen (vor allem adjazenter Adjektive) teilweise von Formeigenschaften des EN bestimmt, es ist also davon auszugehen, dass die EN (formal) wie andere Substantive ein inhärentes Genus haben und nicht rein semantisch verfahren wird: Vgl. die relevanten Beispiele in → B1.4.3.4. Im Deutschen wird bei den grammatischen EN i. e. S., die Nicht-Belebtes bezeichnen, konsequent nach dem Default-Prinzip verfahren: Alle Eigennamen dieser Art sind Neutra. Dies betrifft Ortschaften/Städte, Inseln, Kontinente, Länder, Regionen (im Sinne von Bundesländern) sowie Firmen, also alle nicht-personalen bzw. nichtbelebten Größen der Hierarchie links des Partitionszeichens. Das Genus ist dabei, wenn man von syntaktisch determinierter Artikelsetzung absieht, in erster Linie am Relativpronomen erkennbar, wie etwa in folgendem Beleg zu dem Firmennamen Ford.  





(80)



Für Ford, das 24,9 Prozent Kapitalanteil an Mazda hält, ist dieser Partner „fast schon ein Sanierungsfall“. (Die Presse, 17.03.1995) Für das Deutsche könnte auch so argumentiert werden: Grammatische Eigennamen i. e. S. haben kein (abstraktes) Genus; bei Personennamen wird das Sexusprinzip gültig, nicht-personale grammatische EN werden mit neutralen Kongruenzformen versehen.  



B1 Wortklassen

507

Bis zum Mittelhochdeutschen konnten auch deutsche Städtenamen unterschiedliches Genus haben, später sei die Vereinheitlichung zunächst in Richtung Femininum verlaufen; vermutlich erst im 19. Jahrhundert habe sich neutrales Genus durchgesetzt, vgl. Nübling/Fahlbusch/Heuser (2012: 74).  

Spezifisch zum Genus bei Ländernamen: Bekanntlich gibt es unter den deutschen Ländernamen (Staaten/Bundesländer) auch solche mit Proprialartikel. Diese haben niemals neutrales Genus. Es gilt also: Ländernamen haben neutrale Kongruenzformen, es sei denn, sie führen einen Proprialartikel bei sich. Wie Thieroff (2000a) zeigt, sind artikelführende Ländernamen in der Regel ursprüngliche Gebiets- oder Flussnamen (wie der Iran, der Jemen, die Mongolei, die Slowakei), sie behalten auch als Staaten- und Ländername den Gebietsnamenartikel bei. Ausgehend von der Opposition zwischen artikellosen Ländernamen im Neutrum und artikelführenden im Maskulinum und Femininum konstatiert Thieroff nun, dass eine Art systemwidrige Klassenbildung vorliege: Neutra versus Nicht-Neutra (Maskulina È Feminina) Wie im vorliegenden Handbuch (→ C2.4) stehen nach Thieroff grundsätzlich im Flexionssystem Non-Feminina (Neutra È Maskulina) den Feminina gegenüber. Er sieht in dem abweichenden Zustand bei den Ländernamen ein „Übergangssystem“. Indizien für den übergänglichen Charakter findet er in der Tatsache, dass bei Ländernamen mit maskulinem Proprialartikel häufig eine Tendenz zum Wegfall des Artikels besteht wie bei (der) Iran/Irak/Jemen usw. Bei den Ländernamen mit femininem Proprialartikel tritt kein Artikelwegfall ein. Insofern werde die Kategorie der Non-Feminina durch die nur bei ihnen gegebene (Möglichkeit der) Artikellosigkeit auch hier gestärkt. Die Erklärung, die Thieroff dann gibt, ist nicht überzeugend. Er erklärt die grundsätzliche Artikelsetzung bei den femininen Ländernamen mit der „Genitivregel“: Da bei Feminina kein Genitivmarker am Substantiv auftrete, müsse der Artikel als Flexionsträger stehen. Wegfall des Artikels führt nun aber bei den Ländernamen, auch bei den Maskulina, obligatorisch zu „Neutrum“: der Iran, der… versus Iran, das… Derselbe Artikelwegfall würde auch bei den Feminina zu „Neutrum“ führen und eine feminine Kasusflexion wäre somit gegenstandslos. Es muss also eine andere Erklärung für die Beibehaltung des Proprialartikels bei femininen Ländernamen geben. Man beachte, dass die oben erwähnte Annahme der Genuslosigkeit der grammatischen EN i. e. S. die systemwidrige Klassenbildung der Non-Neutra vermeidet.  



Die Default-Regel betrifft auch Toponyme mit der Struktur eines Kompositums. Sie setzt also bei artikellosen Toponymen wie Freiburg, Stockstadt ggf. auch die Regel der Genusdetermination durch die Kopfkonstituente außer Kraft. Anders hingegen: der Bodensee, die Wartburg, der Steinsberg – die Wasserkuppe, die Zugspitze, das Matterhorn, die Goethestraße – der Fasanenweg. Hier wie bei anderen Namensklassen, die einen Proprialartikel fordern, bestimmt im Falle kompositionaler Struktur das Genus der Kopfkonstituente das Genus des EN. Damit korreliert, dass in diesem Fall die Kopfkonstituente in der Regel deskriptiv, nicht scheindeskriptiv ist.  



508

B Wort und Wortklassen

Bei Benennungen von Ortsteilen oder Stadtvierteln stehen sich gelegentlich die amtliche Form ohne Proprialartikel und eine umgangssprachliche Form mit Proprialartikel gegenüber: Rheinau und Schönau (Stadtteile von Mannheim) haben umgangssprachlich einen femininen Proprialartikel entsprechend dem Genus der Kopfkonstituente.

Es gilt somit folgende Regularität: EN mit der Struktur von Komposita, bei denen im Hinblick auf die formale Kopfkonstituente Scheindeskriptivität vorliegt, können ein Genus aufweisen, das von deren Genus abweicht, solche, bei denen die Kopfkonstituente deskriptiv ist, übernehmen deren Genus. Andere (simplizische) Eigennamen mit Proprialartikel haben im Prinzip ein arbiträres Genus. Allerdings gibt es etwa bei Flussnamen signifikante Tendenzen: Von den in Strecker (2015) untersuchten 810 Namen deutscher Flüsse sind nur 10 Maskulina (vgl. der Rhein, der Neckar), die übrigen sind Feminina. In vielen Fällen richtet sich das Genus nach dem zu ergänzenden Deskriptor (vgl. die (Wüste) Gobi/Sahara; das (Hotel) Ibis/Krone). Schiffs- und Flugzeugnamen sind immer Feminina (die Costa Concordia, die MS Claude Monet, die Landshut).

B1.4.3.8 Eigennamen in appellativischen Verwendungskontexten In Anlehnung an die Unterscheidungen bei Langendonck (2007) sprechen wir von (i) namenszeichenbezogenen appellativischen Verwendungen, wie in (81), und (ii) namensträgerbezogenen appellativischen Verwendungen von EN, wie in (83). Sprachübergreifend ist in beiden Kontexten der Gebrauch mit dem indefiniten Artikel (außer Polnisch) möglich. Pluralbildung (mit Hinzusetzung von Quantifikatoren) ist eher in Kontext (i) gegeben, vgl. (82). Im Polnischen ist die Entsprechung für den indefiniten Artikel der anderen Vergleichssprachen verwendungstyp- und kontextabhängig. Das Zahlwort jeden ‚eins‘ kommt nicht in Frage. Die Möglichkeiten reichen von Determinativlosigkeit über niejaki ‚ein gewisser‘, taki ‚solch ein‘ bis zur Notwendigkeit der Umschreibung durch Wendungen wie ‚eine Person/Stadt wie‘. Auch im Ungarischen ist die Setzung von egy ‚ein‘, wenn es nicht um das Zahlwort geht, alleine nicht hinreichend, stattdessen erscheint egy bizonyos ‚ein gewisser‘ oder valami ‚irgendeiner‘:  



(81) ENG a. b. FRA a. b. UNG a.

A (certain) John has called. In America, there is a Paris, too. Un (certain) Jean a téléphoné. En Amérique il y a aussi un Paris. Felhívott egy bizonyos János / valami INDEF gewiss János irgendein anruf.PRT . 3SG b. Amerikában is van egy Párizs. auch gibt-es INDEF Paris Amerika.INE

János. János

B1 Wortklassen

POL a. b. DEU a. b. (82) ENG a. b. FRA a. b. UNG a. b. POL a. b. DEU a. b. (83) ENG a. b. FRA a. b. UNG a. b. POL a. b. DEU a. b.

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Zadzwonił niejaki Jan. W Ameryce też jest Paryż. Ein (gewisser) Hans hat angerufen. Auch in Amerika gibt es ein Paris.

There are several Johns in our class. In America there are at least five Berlins. Il y a plusieurs Jean dans notre classe. En Amérique il y a au moins cinq Berlin. Az osztályunkban több János van. DEF Klasse.1PL .INE mehrere János gibt-es Amerikában legalább öt Berlin van. Amerika.INE mindestens fünf Berlin gibt-es W naszej klasie jest kilku Janów. W Ameryce jest co najmniej pięć Berlinów. Es gibt mehrere Hänse/Meyer in unserer Klasse. In Amerika gibt es mindestens fünf Berlins.

A Mary would never do such a thing. A Berlin must be a big city. Une Marie ne ferait jamais quelque chose comme ça. Un Berlin doit être une ville grande. *Egy Mari soha nem tenne ilyet. INDEF Mari niemals NEG mach.KOND . 3SG derartig.AKK *Egy Berlinnek nagy városnak kell lennie. INDEF Berlin.DAT groß Stadt.DAT muss sein.INF . 3SG Taka osoba jak Maria tego by nie zrobiła. Taki Berlin musi być dużym miastem. Eine Marie würde so etwas nie tun. Ein Berlin muss eine große Stadt sein.

Eine Anmerkung zu (83b) UNG: Es liegt hier eine Konstruktion mit dem Modalverb kell ,müssen‘ und der flektierten Infinitivform von lenni ,sein‘ vor. Diese Form verlangt ein dativisches Subjekt (Berlinnek), das Prädikativkomplement nagy városnak steht ebenfalls im Dativ.

Werfen wir einen Blick auf die Pluralisierung von Eigennamen in namenszeichenbezogener Verwendung: Auffällig ist, dass im Französischen (nach Kolde 1995: 402) im Gegensatz zum Englischen, Deutschen, Russischen (Polnischen) auch bei „Multireferentialität“ nie ein Plural markiert wird:

510

B Wort und Wortklassen

(84) FRA

Il y a neuf Martin/Dupont dans ma POSS . 1SG . F es gibt neun Martin/Dupont in ‚Es gibt neun Martins/Duponts in meiner Klasse.‘

classe. Klasse

Im Deutschen hingegen wird Mehrfachbezug durch Pluralbildung angezeigt. Im Normalfall geschieht dies durch nicht-silbisches -s: die Marias, die Peters, die Manns, die Berlins. Im Einzelnen gilt: Bei nicht auf Vollvokal (wie z. B. Otto) oder -er (wie z. B. Peter) endenden männlichen Vornamen ist auch die insgesamt für Maskulina unmarkierte Pluralbildung auf -e – bei s-Genitiv, also keine „Paradigmenuniformität“ – möglich: Heinriche, Friedriche, Kläuse. In D E R E K O gibt es jeweils einige wenige Plural-Belege für Heinrichs/Heinriche und Friedrichs/Friedriche. Man vergleiche auch die veralteten femininen Plurale bei Anna, Maria: (zwei) Annen, Marien.  







(85)

Zwei Friedriche aus der Schweiz wurden zu Vorbildern. Dürrenmatt hatte bereits in den fünfziger Jahren vorgemacht, wie Täter und Opfer die Rollen wechseln und […]. Glauser, der arme, kranke Versager, schuf in den dreißiger Jahren mit seinem Wachtmeister Studer das Vorbild des traurig-einsam einfühlenden Ermittlers. (Die Zeit (Online-Ausgabe), 06.05.2004)

(86)

Horst Schütze erinnerte an verschiedene Mathaisemarkt-Wetten zwischen dem „schwarzen Peter“ (Riehl) und dem „roten Peter“ (Denger), […]. Zur Melodie von „Heidi“ machten sich die Peters in Lederhosen an die Aufgabe, das Ziegenmelken. (Mannheimer Morgen, 12.03.2005) Bei männlichen Vornamen auf -er finden sich neben s-Pluralen auch analog zu den entsprechenden Appellativa endungslose Pluralformen: alle Peter (vgl. Beleg (99)) versus die Peters: Familiennamen erhalten zur Bezeichnung der Mitglieder einer Familie grundsätzlich ein Plural-s: (die) Schultzes; nach Sibilanten erscheint das Allomorph -ens wie in Fuß-ens (vgl. Fuß 2011: 23). Beispiele wie (die) Manns, (die) Bärs, (die) Bachs zeigen, dass das für Eigennamen konstitutive Prinzip einer leichten Wiedererkennbarkeit der Namen-Grundform optimal gewährleistet ist: Weder der Stamm noch die Silbenstruktur der Grundform werden verändert (gegenüber solchen Veränderungen bei den Pluralen der entsprechenden Appellativa: Männer, Bären, Bäche). Kein Plural-Marker wird bei Familiennamen gesetzt, wenn mehrere nicht-verwandte Namensträger gemeint sind: (87)

Die beiden Schulzes / Die beiden Schulze sind wieder da. (Kolde 1995: 402)

Verwendungen mit dem indefiniten Artikel wie in (88) setzen beim Sprecher nicht notwendig die Annahme der Existenz mehrerer Namensträger voraus. Vielmehr signalisiert der Sprecher hier, dass der Namensträger ihm nicht bekannt oder zumindest aktual für ihn nicht identifizierbar ist. Solche Verwendungen sind typisch in Reaktion auf Namensnennungen durch den Namensträger (am Telefon, an der Tür) oder durch Dritte. Im Folgekontext können Wiederaufnahmen durch Demonstrativum + EN erfol-

B1 Wortklassen

511

gen, vgl. (88). In Verwendungstyp (ii) dagegen erscheinen keine solchen Wiederaufnahmen, s. (89); es liegt nicht-spezifischer Gebrauch vor. (88)

Ein Hans hat angerufen. Dieser Hans hat dann gesagt, dass […].

(89)

Eine Maria würde so etwas nie tun. *Diese Maria würde sich ganz anders verhalten.

Daneben wird in den Artikelsprachen die Verbindung ‚indefiniter/definiter Artikel + Eigenname + obligatorisches (adjektivisches oder NP/PP-förmiges) Attribut‘ gebraucht, um auf den Namensträger in einer bestimmten Lebensphase/Erscheinungsform oder unter einer bestimmten Perspektive Bezug zu nehmen. Das Attribut leistet hier die Restriktion auf eben diese spezifische Individuation, wie in (90). Im Polnischen ist keine Determination notwendig (91). Pluralisierung ist hier ausgeschlossen, die Bezugnahme oder Wiederaufnahme durch ein Demonstrativum hingegen möglich (92). Der definite Artikel wird, wie üblich, gesetzt, wenn die Einzigkeitsbedingung erfüllt ist (93): (90) ENG

Charles belongs, moreover, to a cast of outcasts, monsters, hustlers and impostors which composes a literary London reminiscent of the early novels of Muriel Spark […]. ,Charles gehört darüber hinaus zu einer Kaste von Ausgestoßenen, Missgeburten, Gaunern und Betrügern, aus der ein literarisches London besteht, welches an die frühen Romane von Muriel Spark erinnert […].‘ (BNC: A05 525)

(91) POL

Ze von Ta

(92) ENG

To offset them, this new Henry V (PG) offers a well thought-out progression from peace to war, from council chamber to battlefield, from words to deeds. ,Um sie zu aufzuwiegen, bietet dieser neue Heinrich V (PG) eine gut durchdachte Steigerung von Frieden zu Krieg, vom Rathaussaal zum Schlachtfeld, vom Wort zur Tat.‘ (BNC: A2G 26)

(93) DEU FRA

schodów zeszła odmłodzona Maria. G EN . PL heruntergeh.PRT . 3SG . F verjüngt.F Maria Treppe.GEN Maria promieniała. DEM .F Maria strahl.PRT . 3SG . F ‚Eine verjüngte Maria kam die Treppe herunter. Diese Maria strahlte geradezu.‘

Das Berlin der 30-er Jahre wird nie mehr wiedererstehen. Le Berlin des années 30 ne renaîtra plus jamais.

512

POL UNG

B Wort und Wortklassen

Berlin lat trzydziestych nigdy więcej nie powstanie. A 1930-as évek Berlinje nem fog soha feltamádni.

Wird ein appellativisch gebrauchter EN mit dem definiten Artikel kombiniert (in Singular oder Plural), ist häufig ein kontrastiver Fokus gegeben. Dies wird durch Kontrastbetonung auf dem Artikel oder Demonstrativum bzw. auf einem restriktiven Attribut signalisiert; vgl. folgende Beispiele. (94)

a. DIE/DIEse Maria hat angerufen. b. Die JUNGe Maria – nicht die ALte – hat angerufen.  

(95)

(96) ENG



a. DIE Marias habe ich gemeint, nicht DIE. b. Die Berlins in AMErika habe ich gemeint, nicht die in EuROpa. It is almost as if we are confronted here by a replication of the poor Tom described in Ackroyd’s novel by anOTHer poor Tom of later times. ,Es ist fast so, als ob wir hier mit einer Nachbildung des armen Tom, wie er in Ackroyds Roman beschrieben ist, durch einen anderen armen Tom späterer Zeiten konfrontiert sind.‘ (BNC: A05 570)

Im Folgenden werden die Verwendungsweisen für das Deutsche an Belegen demonstriert. Namenszeichenbezogene appellativische Verwendung in der Spielart ‚Einführung eines dem Sprecher nicht bekannten Namensträgers‘ in der Form ‚ein(e) X‘ liegt in (97) vor, verdeutlichend kann hier bei Personennamen auch ‚ein(e) gewisse(r) X‘ gebraucht werden. Auf die Vielheit von Namensträgern wird in (98)–(100) abgehoben. (97)

„Während des Liebesaktes stahl mir eine gewisse Maria das Geld, während mich die anderen am Boden festhielten. Eine saß auf mir, die andere würgte mich“, hatte der Maurer vor Gericht angegeben. Die beiden dunkelhäutigen Tänzerinnen bestritten dies: Eine Maria gebe es überhaupt nicht. (Neue Kronen-Zeitung, 19.04.1997)

(98)

Weit gereist waren sie, die Schutztruppler, Eisenbahner, Geschäftemacher, Prospektoren, zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aber sie sind nie wirklich angekommen. Die Goerkes, Bödickers, Schmitz, Meyers, Mettkes, Kleins, Kapps, Steinbachs, Krauses und Manns – weder sie noch ihre Nachkommen haben die Nabelschnur je durchtrennt. (die tageszeitung, 14.09.1995)  

(99)

Das Modell „Peter“ hingegen würde mir vom Namen her mehr zusagen. Alle Peter, die ich kenne, sind reizend, und ich könnte mir sogar vorstellen, an einer Zimmerwand mehrere „Peter“ aneinander zu reihen. (Züricher Tagesanzeiger, 22.04.1998)

B1 Wortklassen

(100)

513

Kolumbien etwa. Dort gibt es besonders viele Berlins. Das muss nicht heißen, dass alle von alten Nazis gegründet wurden. Gerade über die Berlins in Kolumbien ist ziemlich wenig bekannt. (Berliner Zeitung, 09.11.2005)

Namensträgerbezogene appellativische Verwendungen betreffen meist prominente Namensträger. Dabei kann die Interpretation von ‚einer wie X‘ changieren zwischen ‚X selbst – in seiner Eigenschaft, einer zu sein, wie er es ist‘ (101) und ‚eine beliebige Person/Entität Y, die wie X ist‘ (102).  

(101)

Eine Vernetzung frauenkünstlerischer Aktivitäten? Eine Carla Bley oder eine Elisabeth Schwarzkopf haben dafür sicher keinen Bedarf. (die tageszeitung, 12.09.1986)

(102)

Schließlich spielt ein Michael Ballack auch nicht ein Leben lang für Leverkusen, sondern wechselt jetzt zu Bayern München. (Die Zeit (Online-Ausgabe), 04.07.2002)

Die Spielart ‚Namensträger in einer bestimmten Lebensphase/Erscheinungsform/ Ausprägung‘ kann sowohl Personennamen als auch geografische Namen betreffen, wie in (103). (103)

Vor ein paar Wochen wurde durch Zufall bekannt, daß ein Berlin unter Berlin existiert. Mitten in der Stadt sackte ein Stück Gehweg ab und riß eine ahnungslose Bürgerin hinab. Mit Grauen dachten wir sofort an das Paris der 70er Jahre, als dort mehrfach Straßenstücke um den Montmartre in sich zusammenfielen und der staunenden Stadt Stück um Stück eine längst vergessene Unterwelt offenbarten. (die tageszeitung, 19.10.1991)

B1.4.4 Zusammenfassung Alle Vergleichssprachen verfügen über die Wortart Substantiv, somit über lexikalische Einheiten, deren Formen als Köpfe von Nominalphrasen, also von Ausdrücken mit Referenzpotential ausgezeichnet sind. Es gibt jedoch kein gemeinsames morphologisches Merkmal für die Substantive der Vergleichssprachen. Nur in den Genussprachen Deutsch, Französisch und Polnisch sind Substantive gegenüber anderen nominalen Wortklassen durch Genuskonstanz ausgezeichnet. Der Parameter Individuiertheit lässt in allen Vergleichssprachen eine Klassifikation in Propria und Appellativa zu. Appellativa werden in Individuativa und Kontinuativa aufgeteilt. Sprachübergreifend sind ,grammatische Eigennamen‘ abzuheben gegenüber ‚semantischen Eigennamen‘. Letztere haben die syntaktische Struktur einer attributiv ausgebauten Nominalphrase. Als ,grammatische Eigennamen i. e. S.‘ sind die Propria  



514

B Wort und Wortklassen

einzuordnen, also diejenigen Eigennamen, die nur aus einem (substantivischen) Wort bestehen. In den Artikelsprachen kommen als zweite Form grammatischer Eigennamen Verbindungen aus dem definiten Artikel und einem proprialen Substantiv hinzu, wir bezeichnen sie als ,Eigennamen mit Proprialartikel‘ (wie DEU der Iran, die Türkei). Die Setzung des Proprialartikels folgt dabei einer Hierarchie für die ontologischen Klassen bzw. Individuensorten, die üblicherweise mit Eigennamen belegt werden, also Personennamen (sowie Namen für Haustiere) und Namen für Örtlichkeiten. Sie ist nach dem allgemeinen Prinzip der ,Nähe zu oder Relevanz für ego‘ strukturiert: Personennamen haben als Entitäten mit der größten Nähe zu ego in allen Vergleichssprachen im Normalfall keinen Proprialartikel, ebenso auch die Namen für die konkreten Siedlungsformen, also Dörfer und Städte. Bei anderen Toponymen (und auch Firmennamen) hingegen gibt es einen Varianzspielraum: Das Deutsche ist hier unter den Vergleichssprachen diejenige mit der zweitschwächsten Tendenz zur Setzung des Proprialartikels, untertroffen nur noch vom Englischen. Die Setzung eines ,syntaktisch determinierten Artikels‘ erfolgt im Deutschen, wie auch im Französischen und Ungarischen, immer, sofern ein (appositives) pränominales adjektivisches Attribut vorhanden ist. Was den Gebrauch von ,Proprialdeskriptoren‘ angeht, deren Einbindung in Benennungseinheiten einer ähnlichen Hierarchie folgt wie die Setzung des Proprialartikels, so sind im Deutschen auch hier die präferierten Verfahren für komplexe Begriffsbildung dominant: die Kompositumbildung (wie in Goethestraße) und die linksköpfige Juxtaposition (wie in Kloster Maulbronn), daneben Bildungen mit detoponymischen Adjektiven als Attribut (wie in Frankfurter Straße als Straßenname). Grammatische Eigennamen i. e. S folgen im Deutschen, sofern sie Personennamen sind, dem natürlichen Geschlecht des Benannten, alle anderen grammatischen Eigennamen i. e. S. sind Neutra – im Unterschied etwa zum Polnischen, wo auch für die Eigennamen wie für andere Substantive im Wesentlichen phonologische Eigenschaften das Genus bestimmen. Bei Eigennamen mit Proprialartikel kann im Deutschen das Genus für gewisse Denotatsklassen mehr oder weniger einheitlich festgelegt sein oder aber auch rein arbiträr erscheinen. Zwar können in allen Vergleichssprachen Individuativa von Kontinuativa grammatisch differenziert werden. Jedoch ist eine ganze Reihe von Kriterien heranzuziehen – etwa zu Numerus und Determinativsetzung –, die je für sich in Bezug auf gewisse Sprachen hinreichend zur Differenzierung sind. Ein übergreifender Satz hinreichender und notwendiger Merkmale ist nicht auszumachen. Im Deutschen ist die morphologische und syntaktische Unterscheidung zwischen beiden Nominalaspekten vergleichsweise deutlich ausgeprägt, insofern als die beiden Klassen der Appellativa im Wesentlichen disjunkte Inventare darstellen, der Übergang von einem in den anderen Nominalaspekt (etwa im Vergleich zum Ungarischen) nur lexem(klassen)spezifisch möglich ist und nur Individuativa Numeruskontrast aufweisen sowie mit einem Kardinalnumerale, einem individuierten Quantifikator und dem indefiniten Artikel verbunden werden können. Die schwächste Differenzierung liegt im Ungarischen vor. Zwischen den Vergleichssprachen – und wohl auch weit darüber hinaus –  

















B1 Wortklassen

515

herrscht große Übereinstimmung in der Korrelation zwischen ontologischen Kategorien und Nominalaspekt, zumindest was konkrete Gegenstände angeht. Dinge werden im Allgemeinen durch Individuativa bezeichnet, Stoffe durch Kontinuativa. Marginale Unterschiede betreffen die Kategorisierung von gewissen Pflanzen(teilen). Das Deutsche tendiert zu individuativer Bezeichnung, während das Polnische z. T. kontinuativ vorgeht. Was den Wortschatz der Kollektiva und der Abstrakta angeht, so sind auch hier die beiden Nominalaspekte vertreten. Allerdings gibt es vor allem bei den Kollektiva neben den ,reinen‘ Ausprägungen beider Nominalaspekte (Individuativa wie DEU Herde, Mannschaft, Besatzung, Kontinuativa wie Vieh, Obst, Gemüse, Gewebe) auch zahlreiche Zwischenformen wie etwa DEU Gebirge. Kontinuative Kollektiva mit menschlichem Denotat sind im Deutschen häufig negativ konnotiert (wie Pöbel, Gesindel). Kollektivaffixe des Deutschen sind nicht eindeutig auf einen Nominalaspekt festgelegt, nur die Affixoide -gut, -werk und -zeug bewirken kontinuativen Nominalaspekt. Bei den Abstrakta gibt es sprachübergreifend eine eindeutige Zuordnung, insofern als Kontinuativa Ereignisbegriffen ohne inhärente zeitliche Begrenztheit entsprechen, Individuativa Ereignisbegriffen mit inhärenter zeitlicher Begrenztheit. Das zentrale deutsche Affix zur Ableitung deverbaler Abstrakta, nämlich -ung, lizensiert wie die Entsprechungen in den Kontrastsprachen beide Nominalaspekte, allerdings in Abhängigkeit von der Aspektualität des zugrunde liegenden Verbs. Die deutschen Infinitivnominalisierungen, zu denen es keine direkte Parallele in den Kontrastsprachen gibt, sind kontinuativ, ebenso wie die nicht-personalen Nominalisierungen von Adjektiven (wie Gutes/das Gute). Das zentrale Affix zur Ableitung von Eigenschaftsbegriffen, nämlich -heit, scheint zunächst auf kontinuativen Nominalaspekt ausgelegt zu sein; vielfach kommt aber auch individuative Verwendung im Sinne von Erscheinungsformen oder Verkörperungen der entsprechenden Eigenschaft vor.  

B1.5

Pronomina

B1.5.1 Überblick  519 B1.5.1.1 Funktionale und typologische Charakterisierung  519 B1.5.1.2 Klassifikation  523 B1.5.1.3 Selbstständiges und adnominales Vorkommen  524 B1.5.1.4 Ist die adnominale Verwendung determinativisch?  526 B1.5.1.5 Abgrenzbarkeit von anderen Wortklassen (Numerale, Adjektiv)  527 B1.5.1.6 (Kasus-)Flexion und Kasusfunktionen  531 B1.5.1.7 Genus  535 B1.5.1.8 Numerus  540 B1.5.1.9 Pronominalphrasen  542 B1.5.2 Personalpronomina  552 B1.5.2.1 Funktionale und typologische Charakterisierung  552 B1.5.2.2 Pro-Drop und Topik-Drop  563 B1.5.2.3 Starke, schwache und klitische Formen  566 B1.5.2.4 Distanzform  572 B1.5.2.5 Generischer Bezug  575 B1.5.2.6 Referenz auf ‚abstrakte Objekte‘ und unspezifische Referenz  578 B1.5.2.7 Schwach referentielle Verwendung des neutralen Personalpronomens  583 B1.5.2.8 Art und Ort der Klitisierung  598 B1.5.2.9 Spezielle Stellungsregularitäten für schwache, nicht-klitische Pronomina  602 B1.5.2.10 Syntax der anaphorischen Bezugnahme  605 B1.5.3 Reflexivpronomina  616 B1.5.3.1 Funktionale und typologische Charakterisierung  616 B1.5.3.2 Person-, Genus- und Numerusdifferenzierung  624 B1.5.3.3 Intensifikator und Reflexivum  627 B1.5.3.4 Selbstständige und klitische, einfache und komplexe Formen, Kasusdifferenzierung  634 B1.5.3.5 Syntaktische Funktionen  638 B1.5.3.6 Antezedentien im einfachen Satz  645 B1.5.3.7 Antezedentien für NP-interne Reflexiva  653 B1.5.3.8 Bindungsdomänen im komplexen Satz  658 B1.5.3.9 Reziproker Bezug  664

B1.5.4 Possessivpronomina  672 B1.5.4.1 Funktionale und typologische Charakterisierung  672 B1.5.4.2 Semantische Rollen für Possessiva im Verhältnis zu possessiven Attributen mit substantivischem Kopf  679 B1.5.4.3 Lineare Position adnominaler Possessiva im Verhältnis zu possessiven Attributen mit substantivischem Kopf  692 B1.5.4.4 Flexionsform des Personalpronomens oder eigene Wortklasse  694 B1.5.4.5 Freie Form oder Affix: Dependensmarkierung versus Kopfmarkierung  698 B1.5.4.6 Selbstständige und adnominale Form, Wortklassenzugehörigkeit  699 B1.5.4.7 Person-, Numerus- und Genuskategorien  703 B1.5.4.8 Possessiva und Definitheit der NP, Konstruktions-Spaltungen  707 B1.5.4.9 Berücksichtigung von Reflexivität  715 B1.5.5 Indefinitpronomina  719 B1.5.5.1 Vorklärung zu ,Indefinita im weiteren Sinne‘ und ihrer Verwendungstypik  719 B1.5.5.2 Interrogativpronomina  721 B1.5.5.2.1 Funktionale und typologische Charakterisierung  721 B1.5.5.2.2 Semantische Spezifika der Interrogativa und ihre morphologischen Korrelate  723 B1.5.5.2.3 Selektive Interrogativa: selbstständige und adnominale Verwendungen  728 B1.5.5.2.4 Lineare Position der Interrogativa und der sie einbettenden Phrasen  734 B1.5.5.3 Indefinitpronomina im engeren Sinne  737 B1.5.5.3.1 Funktionale und typologische Charakterisierung  737 B1.5.5.3.2 Affixale und andere Indefinitheitsmarker  740 B1.5.5.3.3 Indefinitstamm: konzeptuelle Sortierung und morphologische Basis  743 B1.5.5.3.4 Implikationsstruktur für Indefinita: sprachabhängige Bündelung von Verwendungsweisen  748 B1.5.5.3.5 Negationspronomina: Kookkurrenz mit verbbezogener Negation und Negationskonkordanz  756 B1.5.5.3.6 Indefinite Verwendungen des Zahlwortes für ,eins‘  761 B1.5.5.4 Quantifikativpronomina  764 B1.5.5.4.1 Funktionale und typologische Charakterisierung  764 B1.5.5.4.2 Sortierung und morphologische Struktur, selbstständige und adnominale Verwendung  767 B1.5.5.4.3 Universale Quantifikativa: Semantische Typunterscheidungen  769

B1.5.5.4.4 Universale Quantifikativa und Definitheit  782 B1.5.5.4.4.1 Die Kombinatorik von universalen Quantifikativa und Artikeln  782 B1.5.5.4.4.2 Quantifikativa mit Definitheitsinduktion  787 B1.5.5.4.5 Universale Quantifikativa: das semantische System der Vergleichssprachen  790 B1.5.5.4.6 Quantifikativa des mittleren Skalenbereichs: Verhältnis zu semantischen Substantivklassen, Wortklassenzugehörigkeit und Morphologie  790 B1.5.5.4.7 Quantifikativa des mittleren Skalenbereichs und Referenz  796 B1.5.6 Zusammenfassung  796

Gisela Zifonun

B1.5 Pronomina B1.5.1 Überblick B1.5.1.1 Funktionale und typologische Charakterisierung Pronomina gehören zu der allgemeineren Klasse der Proformen. Proformen zeichnen sich dadurch aus, dass sie dieselbe syntaktische Funktion wie andere Ausdrucksklassen haben können, ohne die mit diesen verbundenen semantischen Funktionen in wesentlichen Stücken zu teilen. So haben Pronomina, die universal wichtigste Gruppe der Proformen, eine vergleichbare syntaktische Funktion wie Nomina oder Nominalphrasen und sie teilen mit Nominalphrasen auch die funktionale Domäne der Referenz auf Gegenstände eines Objektbereichs. Referenz durch Pronomina bzw. Pronominalphrasen beruht aber anders als die mit substantivischen Phrasen nicht auf einer begrifflichen Charakterisierung dieser Gegenstände durch Nomination (so bei Appellativa, also Individuativa und Kontinuativa) oder auch einer identifizierenden Benennung gemäß einer vorgängigen Vereinbarung (so bei Eigennamen). Pronomina sagen also nichts oder nur sehr Allgemeines (etwa: Person versus Sache, weiblich versus männlich usw.) über die Beschaffenheit und die Eigenschaften möglicher Referenten. Sie leisten somit allenfalls eine sortale Beschränkung allgemeiner Art. Andere Proformenklassen wie ‚Proadjektive‘ oder ‚Proverben‘ (vgl. DEU tun, ENG to do) spielen für die europäischen Sprachen kaum eine Rolle; zu den ‚Pro-Adverbien‘ vgl. Zifonun (2001a: 12) und weiter unten. Typologische Aussagen gehen hier und im Folgenden generell auf Sasse (1993b) zurück. Pronominale Referenz beruht auf deiktischen (ich, dieser) oder phorischen Beziehungen (er), oder aber sie impliziert Quantifikation (aller, einiger) bzw. Interrogation/ Selektion (wer, welcher). Dabei handelt es sich um Funktionen, die auch innerhalb der Nominalphrase realisiert werden, und zwar durch Ausdrücke (z. B. die Artikel), die auf der Basis von Deixis oder Phorik das Referenzpotential pragmatisch beschränken, oder durch Adjektive (vgl. z. B. viel, zahlreich), die eine Quantifikation ausdrücken. Diese funktionale Überschneidung zwischen Pronomina und adnominalen Ausdrücken korreliert mit einer distributionellen Überlappung. Ausdrücke wie DEU dieser, ENG that werden sowohl selbstständig gebraucht (wie in DEU Ich möchte dieses, ENG I would like that) als auch adnominal (DEU Ich möchte dieses Buch, ENG I would like that book). Wie hier gibt es in vielen Sprachen parallele Reihen für die selbstständigen und die (innerhalb der Nominalphrase) unselbstständigen Deiktika (Demonstrativa), Possessiva und Indefinita i. w .S. (als Oberklasse für Quantifikativa, Indefinita i. e. S. und Interrogativa). Wir behandeln diese Klasse der nominalen Funktionswörter mit Funktionsvariation zwischen selbstständigem und adnominalem Gebrauch hier als  











520

B Wort und Wortklassen

Teilklasse der Pronomina (und folgen damit der Tradition). Wir bezeichnen diese Teilklasse der Pronomina als ‚Adpronomina‘ (vgl. auch Thieroff 2000b: 151 f., 189– 227). Sie stehen den ‚reinen Pronomina‘ wie ich oder jemand, die nur selbstständig gebraucht werden, gegenüber, andererseits auch denjenigen Determinativen (vor allem den Artikeln), die nur adnominal gebraucht werden. Man kann die drei Klassen auch als ‚nur-selbstständige‘, ‚non-selbstständige‘ und ‚nicht-selbstständige‘ nominale Funktionswörter differenzieren (vgl. Zifonun 2007d: 11). Ein wichtiger Parameter der Varianz ist bei den Adpronomina, ob die selbstständige (eigentlich pronominale) und die unselbstständige (adnominale: determinativische oder adjektivische) Verwendung morphologisch differenziert werden (vgl. Parameter ‚Selbstständiges und adnominales Vorkommen‘). Nicht immer schließt ein adnominal verwendetes Pronomen den Gebrauch des Artikels aus, wie es im Deutschen weitgehend der Fall ist. Nur in diesem Fall ist die adnominale Verwendung des Pronomens eindeutig als determinativisch einzuordnen. In anderen Sprachen, wo Artikel und adnominales Pronomen kookkurrieren können (wie in SPA el libro ese ‚dieses/jenes Buch‘) oder wo Artikelwörter fehlen wie in slawischen Sprachen, ist an eine Zuordnung der adnominalen Verwendung des Pronomens zur Konstituentenkategorie Adjektiv zu denken (vgl. Parameter ‚Ist die adnominale Verwendung determinativisch?‘). Semantisch kennzeichnend für Pronomina ist, dass für die Differenzierung der Elemente der einzelnen Klassen jeweils nur wenige elementare Merkmale – etwa die Persondifferenzierung bei den Personalpronomina – oder aber nur eine einzige Merkmalsopposition – etwa ‚Nähe‘ versus ‚Ferne‘ bei den Demonstrativa, ‚Person‘ versus ‚Sache/unspezifischer Gegenstand‘ bei den Fragepronomina – verantwortlich sind. Quantifizierende Ausdrücke wie ENG some, several, many, DEU mancher, sämtlich hingegen beruhen auf weniger deutlichen semantischen Strukturprinzipien; sie sind somit in semantischer Hinsicht weniger typische Pronomina. Eine Zuordnung zur lexikalischen Klasse der Adjektive ist semantisch vertretbar. Aber auch unter den Adjektiven gehören sie zu einer peripheren Gruppe, insofern als sie Quantifikation und nicht Qualifikation oder Klassifikation (wie die semantisch zentralen Adjektive) ausdrücken. Mit dieser semantischen Uneindeutigkeit korreliert, dass auch das morphologische und syntaktische Verhalten gerade dieser Gruppe interlingual zwischen dem eines Determinativs und dem eines Adjektivs wechselt; am Beispiel des Deutschen sind sogar intralinguale Schwankungen zu beobachten (vgl. Parameter ,Abgrenzung von anderen Wortarten‘). Wie für andere nominale Wortklassen sind für die Pronomina die Kategorisierungen Kasus, Genus und Numerus potenziell einschlägig. Pronomina, zumal die Personalpronomina, zeigen aber gegenüber anderen nominalen Klassen hier charakteristische Unterschiede, und zwar in aller Regel einen höheren Differenzierungsgrad als z. B. Substantive. Die Personalpronomina nehmen somit in der ,Allgemeinen Nominalhierarchie‘ (→ B1.1.5) – hier mit (i) wieder aufgenommen – die obersten Hierarchieplätze ein:  















B1 Wortklassen

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(i) Personalpronomen 1. und 2. Person > Personalpronomen 3. Person > Eigenname > Appellativum menschlich > Appellativum nicht-menschlich, belebt > Appellativum unbelebt Allerdings sind Hierarchie (i) und ihre Teilhierarchien (die Personen-, die Referentialitäts- und die Belebtheitshierarchie i. e. S.) nur auf die Personalia ausgelegt, andere Pronomenklassen sind nicht explizit einbezogen. Es werden daher bei jeder Pronomenklasse mögliche Einflüsse der Hierarchie geprüft; in Zifonun (2007d) wird versuchsweise eine Gesamthierarchie unter Einbeziehung aller Subklassen vorgelegt. Auch die Definitheitshierarchie (→ B1.1.5) ist bei den Pronomina relevant, sobald man alle Pronomen-Teilklassen in den Blick nimmt. Die genannten (Teil-)Hierarchien sind, was die Pronomina angeht, in der Weise miteinander „aligniert“ (d. h. segmentweise aufeinander abgebildet), dass 1. und 2. Person der Personalia in allen Hierarchien dem jeweils ersten Segment entsprechen: Sie sind notwendigerweise pronominal, menschlich und definit. Die 3. Person hingegen ist unspezifisch und kann alle Positionen der Hierarchien unter (i) abdecken, während sie bezüglich der Definitheitshierarchie in jedem Fall an der Hierarchiespitze verbleibt. Im Folgenden wird für Kasus, Genus und Numerus ein Überblick relativ zur Gesamtklasse der Pronomina gegeben, bei der die Relevanz der Hierarchien deutlich wird. So gilt übergreifend für Vergleichssprachen mit nominaler Kasusdifferenzierung, dass vor allem bei den Indefinita neben flektierbaren auch unflektierbare Pronomina zu verzeichnen sind (vgl. Parameter ‚(Kasus-)Flexion‘). Das Genus der Pronomina zeichnet sich sprachübergreifend durch spezifische Abweichungen vom substantivischen Genus aus, etwa durch das Hervortreten ,konkreter‘ Genusdifferenzierungen wie ,Person‘ versus ,Sache/unspezifischer Gegenstand‘ (bzw. in Merkmalsnotation: [+/–belebt] oder [+/–personal]), ‚männlich‘ versus ‚weiblich‘ (vgl. Parameter ‚Genus‘). Bezüglich des Parameters ‚Numerus‘ zeigt sich wiederum, dass Indefinita (wie wer, jemand) keinen Numeruskontrast aufweisen können, somit als mutmaßlich hierarchieniedrigere Pronomina weniger Differenzierungen besitzen. Pronomina stehen in engem Verhältnis zu Einheiten, die man als ‚Pro-Adverbien‘ oder besser als ‚Pro-Adverbialia‘ bezeichnen könnte, wie DEU da oder so bzw. die ‚Pronominaladverbien‘, die im Deutschen (vgl. dabei, woran usw.), Niederländischen (daarbij, waaraan, er), Französischen (en, y), in anderer Weise auch im Ungarischen (tőlem ,von mir‘ (ABL . 1SG ) , vgl. Tompa 1972: 140, → C3.3.4), das System der Pronomina suppletiv ergänzen. Besonders zu berücksichtigen sind die in ihrer Grundbedeutung lokalen Pro-Adverbien wie FRA en, y oder NDL er, bei denen der für die lokale Deixis sonst konstitutive Parameter der Distanz neutralisiert ist. Diese haben im Bereich der (lokalen) Adverbien dann einen vergleichbaren Status wie die Personalpronomina der 3. Person in ihrem Verhältnis zu den Demonstrativa. Im Deutschen ist dieser Typ nicht  





522

B Wort und Wortklassen

vertreten. Im Bereich der Indefinita wird der enge Konnex zwischen Pronomen und Pro-Adverb auch durch die Einbindung entsprechender Adverbien in die so genannten „Indefinitserien“ (wie bei irgendjemand versus irgendwo, irgendwann) deutlich (vgl. dazu Haspelmath 1997: 21–31 und → B1.5.5.3.3). Pronomina decken hier den Bereich der konzeptuellen Kategorien ‚Person‘ und ‚Sache‘ ab (Haspelmath 1997: 21), Adverbien die Kategorien ‚Ort‘, ‚Zeit‘, ‚Art und Weise‘ zur Situierung eines Geschehens, nicht als Gegenstände des Geschehens. Zwischen der (allgemeinsten) deiktischen, phorischen und quantifizierenden bzw. interrogativen Bezugnahme auf Gegenstände und auf situative Parameter des Geschehens haben sich somit parallele funktionale und meist auch morphologische Zugriffsweisen herausgebildet, die es nahelegen, Pronomina und Pro-Adverbien gegebenenfalls zusammen zu behandeln. Die Funktion von Proformen wird wohl in allen Sprachen der Welt realisiert, die Existenz eigener Wortklassen für diese Funktionen ist nicht universal. Dies gilt auch für Pronomina. Wir definieren also Pronomina wie folgt: Pronomina sind frei vorkommende Wörter (free forms) oder Klitika, die annähernd die syntaktische Funktion von Nominalphrasen haben und die u. a. über deiktische, quantifizierende und interrogative Verfahren zur Referenz auf Gegenstände (Einzelgegenstände, Kollektive, Substanzen usw.) dienen, ohne eine begriffliche Beschränkung bezüglich der Gegenstände (abgesehen von sortalen Beschränkungen hoher Allgemeinheitsstufe) auszudrücken oder sie zu benennen. Ein gemeinsames morphologisches Merkmal ist nicht vorausgesetzt. Pronomina können daneben auch unselbstständig innerhalb von Nominalen gebraucht werden. Bei diesem adnominalen Gebrauch wird die deiktische, quantifizierende oder interrogative Funktion des Pronomens mit der Nominationsfunktion des Kopfsubstantivs verrechnet, um eine Bezugnahme auf Gegenstände zu ermöglichen. Zu dieser Definition sind noch folgende Anmerkungen zu machen: Pronomina unterscheiden sich, ungeachtet der Übereinstimmungen in der syntaktischen Funktion, häufig im Stellungsverhalten von Nominalphrasen (→ B1.5.2.9, → B1.5.5.2.4). In dieser Definition wird von einer ‚Umkategorisierung‘ der Pronomina zu adnominalen Ausdrücken (speziell Determinativen) ausgegangen. Denkbar ist auch die umgekehrte Sehweise, bei der die Pronomina mit determinativischen Parallelformen durch Abbindung der für das Nomen vorgesehenen Operanden-Stelle beim Determinativ erzeugt werden (vgl. dazu Ballweg 2003). Folgende Varianzparameter sind somit für den typologischen Vergleich festzuhalten:  

1.

Selbstständiges und adnominales Vorkommen: Gibt es (vollständige oder partielle) ausdrucksseitige Übereinstimmung zwischen beiden Distributionsklassen? Lassen sich Subklassen erkennen, bei denen Form-Übereinstimmung oder -Differenzierung jeweils motiviert wäre?

B1 Wortklassen

523

2.

Ist die adnominale Verwendung determinativisch? Dabei ist insbesondere das Verhältnis zu den Artikeln zu erklären. 3. Abgrenzbarkeit von anderen Wortklassen: Lassen sich insbesondere Ausdrücke wie einiger, mancher scharf von Adjektiven oder auch Numeralia abgrenzen? 4. (Kasus-)Flexion: Gibt es flexivische Charakteristika, etwa gegenüber den Substantiven? 5. Genus: Inwiefern unterscheiden sich die Genuskategorien beim Pronomen vom Genus des Substantivs? Gibt es hinsichtlich des Genus Subklassenbildung und Hierarchieeffekte? 6. Numerus: Entsprechen die Numeruskategorien, was ihre morphologische Profiliertheit angeht, dem Numerus beim Substantiv? Ergibt sich eine hierarchische Ordnung zwischen Pronomen-Teilklassen? Anzumerken ist, dass bezüglich der Parameter 4 bis 6 keine Detailinformationen gegeben werden; hierzu ist auf die Behandlung der Kategorisierungen Kasus, Genus und Numerus in Kapitel B2 sowie auf die Behandlung der Nominalflexion in Kapitel C zu verweisen. Neben diesen Parametern wird einleitend die Frage der Klassifikation der Pronomina angesprochen und als abschließender Abschnitt ein Überblick zur Syntax von phrasal ausgebauten Pronomina gegeben. Dabei wird nur auf Spezifika ‚pronominaler Nominalphrasen‘ gegenüber der allgemeinen NP-Syntax (→ D1) eingegangen.

B1.5.1.2 Klassifikation Die von der lateinischen Grammatik tradierte Einteilung der Pronomina ist semantisch motiviert und auf das Inventar der klassischen Sprachen zugeschnitten. Wir schließen uns mit bestimmten Modifikationen an die klassische Einteilung an, da sie am ehesten ein übereinzelsprachlich bekanntes und zugängliches Raster repräsentiert. Damit wird nicht vorausgesetzt, dass alle Vergleichssprachen in jedem Fall die einzelnen Klassen als distinkte Klassen vorrätig halten. Den Kern der Pronomengruppe bilden die Personalpronomina und die ebenfalls nach der Person differenzierbaren Reflexiv- und Possessivpronomina. Diese Kerngruppe weist in vielen Sprachen auch bei Kategorisierungen wie Person, Kasus, Genus und Numerus Gemeinsamkeiten auf und ist im Hinblick auf diese Kategorisierungen am stärksten differenziert. Personal- und Reflexivpronomina haben keine adjektivischen oder determinativischen Parallelformen; sie kommen also nur selbstständig vor – es sei denn, die entsprechenden Possessiva werden als ihre adnominalen Repräsentanten gewertet. Determinativische Parallelform z. B. zu ich wäre dann mein. Adnominale Verwendungen des Personalpronomens selbst behalten ihren selbstständigen Status bei.  



524

B Wort und Wortklassen

Sie treten wie in skandinavischen und slawischen Sprachen im Genitiv bzw. Possessivus auf (z. B. NOR hans hus ‚sein Haus‘) oder regiert von einer Präposition: ein Freund von ihm gegenüber sein Freund. Die Demonstrativpronomina decken funktional den Bereich der (definiten) Objektdeixis, also des Verweises auf Gegenstände im Verweisraum des Sprechers ab. Aufgrund ihrer engen systematischen und oft auch sprachgeschichtlichen Beziehungen zum definiten Artikel werden sie hier ausgelagert und zusammen mit den Artikeln behandelt (→ B1.2). Die Relativpronomina nehmen funktional einen Sonderstatus ein, da ihre primäre Funktion rein syntaktischer Natur ist, nämlich die, propositionale Information zu einem nominalen Kopf syntaktisch einzubetten. Auch morphologisch bilden sie häufig keine eigenständige Klasse, sondern stimmen mit den Elementen anderer Pronomen-Subklassen überein. Sie werden daher nicht als eigene Subklasse behandelt, sondern beim Relativsyntagma erörtert (→ D6.3). Die restlichen Pronomenklassen sind im Gegensatz zu der Kerngruppe um die Personalpronomina und die Demonstrativpronomina nicht auf bestimmte, eindeutig identifizierbare Gegenstände der Welt orientiert. Sie können daher als Indefinitpronomina i. w. S. zusammengefasst werden. Wir schließen uns hier teilweise Haspelmath (1997) und der IDS-Grammatik (1997: 41–44) an und unterscheiden dabei folgende Subklassen: Interrogativpronomina (wie wer, welcher), Indefinitpronomina i. e. S. (wie irgendjemand, irgendwelcher) und Quantifikativpronomina. Zu den Quantifikativa zählen einerseits Pronomina, die die Größe eines Quantums oder einer Vielheit im mittleren Bereich einer einschlägigen Skala positionieren (einiger wie in einiger Staub, mehrere wie in mehrere Leute), die so genannten ‚Quantifikatoren des mittleren Skalenbereichs‘, andererseits die ‚universalen Quantoren‘ wie jeder, aller. Zu einer Begründung für diese Klassifikation vgl. → B1.5.5.1.  









B1.5.1.3 Selbstständiges und adnominales Vorkommen Bei den Possessiva, Demonstrativa und den Indefinita i. w. S. können parallele Reihen für den selbstständigen und adnominalen Gebrauch existieren. Dabei sind die Möglichkeiten a) bis c) gegeben. Bei a) und b) gehen wir von dem Status der Einheiten als ‚Adpronomina‘ bzw. ‚Non-Selbstständigkeit‘ aus, also von Funktionsvariation bei jeweils nur einem einzigen Lexem:  



a) Die Formen sind in beiden Verwendungsweisen identisch: vgl. ENG this, that, DEU dieser, jener, jeder, aller usw. b) Die Formen unterscheiden sich bezüglich der Flexionsmorpheme an mindestens einer Paradigmenstelle: vgl. NDL deze, enige, enkele usw. mit Pluralformen auf -n nur bei selbstständiger Verwendung; DEU Lexem kein mit keiner (selbstständig NOM . M ) versus kein (adnominal NOM . NONF ) usw. Im Ungarischen haben die adnominalen Formen (außer den Demonstrativa ez/az) keine Kasus-

B1 Wortklassen

c)

525

und Numerusaffixe, während die stammidentischen selbstständigen Formen Kasus- und teilweise auch Numerusaffixe haben. Vergleichbares gilt etwa auch für das Türkische, wo adnominale Modifikatoren grundsätzlich unflektiert bleiben. Die adnominale und die selbstständige Verwendung unterscheiden sich im Wortstatus, d. h., das selbstständige Pronomen ist ein komplexes Wort auf der Basis des einfacheren Determinativs: vgl. ENG no/nobody,, some/something, FRA quelque/quelqu’un; im Falle der Possessiva kann die selbstständige Form als (irreguläre) Ableitung oder syntaktische Transposition aus der adnominalen begriffen werden: vgl. FRA mon/(le) mien.  

Die Vergleichssprachen sind in der Regel nicht auf nur eines der Verfahren festgelegt. Das Verfahren b) ist im Deutschen am ausgeprägtesten, während Verfahren c) bei den englischen Indefinita i. w. S. überwiegt. Im Deutschen liegt folgende Verteilung relativ zu a) bis c) vor:  



a) Identisch in allen Wortformen sind selbstständiges und adnominales Vorkommen u. a. bei den Demonstrativa dieser, jener, derselbe, derjenige, bei den Quantifikativa jeder, aller, einiger, etlicher, mancher, mehrere. b) Flexivisch unterschieden in der Weise, dass die selbstständige Variante starke Endungen -er/-es (im Nominativ) aufweist, während die adnominale an den entsprechenden Paradigmenstellen endungslos ist, sind selbstständiges versus adnominales Possessivum (meiner/meines – mein), selbstständiges Indefinitum gegenüber adnominalem Indefinitum (irgendeiner/-es – irgendein, keiner/-es – kein). Auch das Indefinitum einer und der indefinite Artikel ein unterscheiden sich in analoger Weise. Hier gehen wir allerdings von zwei verschiedenen Lexemen aus. Ebenso auch bei der. Das Demonstrativ-/Relativpronomen der unterscheidet sich von seinem adnominalen Analogon, dem definiten Artikel der, im Genitiv Singular und Plural (M / N dessen – des, F / PL deren – der) und im Dativ Plural (denen – den). c) Das einzige heute noch erkennbare Wortbildungsprodukt, das eine nur-selbstständige Form durch Komposition mit einem generischen Nomen darstellt, ist jedermann (vgl. ENG everybody usw.). Demgegenüber ist bei den nur-selbstständigen Formen jemand, niemand, nichts sowie bei etwas die Herkunft aus Zusammensetzungen verdunkelt.  











Wie in allen Vergleichssprachen ist insbesondere für die Interrogativpronomina kennzeichnend, dass es zwar selbstständige und adnominale Formen gibt, diese jedoch morphologisch nicht eng aufeinander bezogen sind (wer/was – welcher). Dem Pronomen welcher, das Selektion aus einer kontextuell zu erschließenden Grundmenge impliziert, weisen wir ‚adnominalen Grundcharakter‘ zu; es kann aber auch sekundär selbstständig verwendet werden.  

526

B Wort und Wortklassen

Für Adpronomina ist sprachübergreifend charakteristisch, dass sie ‚kontextbezogen‘, wie in (1), oder ‚speziell‘, wie in (2), interpretiert werden können (vgl. dazu auch Huddleston/Pullum 2002: 410–412). (1)

Hier liegen die Neuerscheinungen der Saison. a. Es fehlen aber noch einige. b. Es interessiert mich jede/keine. c. Es interessieren mich einige/alle (davon).

(2)

Heute veranstalten wir eine Party. a. Jeder ist eingeladen / Alle sind gekommen / Keiner ist gekommen. b. Alles ist vorbereitet / Einiges fehlt noch.

‚Kontextbezogene‘ Verwendung kann nicht-partitiv sein bezogen auf die Vorgängermenge – im Beispiel: die hier liegenden Neuerscheinungen der Saison – (1a), oder aber partitiv, wie in (1b), (1c). Bei der ‚speziellen‘ Verwendung greift die grundlegende konzeptuelle Sortierung in Personen und Nicht-Personales (vgl. dazu → B1.5.1.7): Entweder wird (wie bei jeder/alle/keiner) auf Personen ganz allgemein Bezug genommen oder (wie bei alles/einiges) auf Nicht-Personales ganz allgemein. Zu einer genaueren Behandlung dieser Verwendungsweisen der non-selbstständigen Pronomina vgl. Zifonun (2005c, 2007d: 10–12) sowie → B1.5.5.  



B1.5.1.4 Ist die adnominale Verwendung determinativisch? Dieser Parameter ist jeweils im Zusammenhang mit der syntaktischen und semantischen Struktur der NP insgesamt zu sehen. Eine Einordnung der adnominalen Verwendung von Pronomina wie in DEU mein Buch, dieses Buch, FRA mon livre, ce livre als determinativisch setzt voraus, dass die entsprechende Sprache überhaupt über die Determinativposition in der Struktur der NP verfügt. Dies wiederum heißt, dass in diesen Sprachen die semantisch-pragmatische Bestimmung einer NP zum definiten oder indefiniten referentiellen Gebrauch explizit in selbstständigen Synsemantika, eben Determinativen, insbesondere Artikeln, grammatikalisiert ist (→ B1.2). In den Vergleichssprachen Englisch und Französisch (sowie im Niederländischen oder den skandinavischen Sprachen) und im Deutschen ist die Setzung eines Artikels in der NP der unmarkierte Fall. Dabei schließen sich adnominale Pronomina – die hier grundsätzlich vor dem Kopfnomen stehen – und Artikel gegenseitig in der NP aus (ENG *the my man, NDL *de mijn man, FRA *le mon homme, DEU *der mein Mann). In diesem Fall können die Ausdrücke der syntaktischen Klasse, somit der ‚Konstituentenkategorie‘ Determinativ zugeordnet werden, die auch die Artikel enthält. Im Plural ist jedoch in vielen Fällen Determinativset 



B1 Wortklassen

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zung nicht obligatorisch, daher ist zumal bei Pluraliatantum wie FRA plusieurs, NDL enige usw. auch eine Zuordnung zur Konstituentenkategorie A (Adjektiv), und damit ggf. auch eine Einordnung in die Wortart Adjektiv möglich (vgl. den nächsten Parameter). Dagegen gibt es z. B. im Spanischen für die adnominalen Demonstrativa und Possessiva neben der soeben erläuterten determinativischen Gebrauchsweise auch eine Verwendung wie beim Adjektiv: Hier wird das Pronomen dem Kopfnomen nachgestellt und ein Artikel tritt hinzu: ese libro (determinativisch) – el libro ese (adjektivisch) ‚dieses/jenes Buch‘; mi libro – un libro mío ‚mein Buch, eines meiner Bücher‘. Im artikellosen Polnischen ist wie in anderen slawischen Sprachen auch im Singular bei individuativen Kopfsubstantiven nur optional ein Ausdruck mit identifizierender Funktion, etwa ein Demonstrativum, vorhanden. Definitheit bzw. Indefinitheit im Hinblick auf die referentielle Verwendung der NP ist also nicht eigens grammatikalisiert. Geht man davon aus, dass es die Determinativposition hier nicht gibt, müssen die adnominalen Verwendungen der Konstituentenkategorie A zugerechnet werden (→ D1.2.1.1). Im Ungarischen muss Definitheit in der NP grundsätzlich durch den definiten Artikel markiert werden, während Indefinitheit ohne Ausdruck bleiben kann. Der definite Artikel tritt auch neben adnominalen Demonstrativa oder Personalpronomina in Possessivfunktion auf. Adnominale Pronomina können damit nicht (generell) der Determinativposition zugerechnet werden. Der definite Artikel a/az ist zwar identisch mit dem Stamm des Demonstrativpronomens für den distanten Pol; das adnominale Demonstrativum und der definite Artikel verhalten sich aber sowohl morphologisch als auch distributionell unterschiedlich: Morphologisch ist der Artikel unflektierbar, das Demonstrativum flektiert dagegen in Kongruenz zum Kopfnomen; distributionell kookkurrieren Demonstrativum und Artikel im pränominalen Bereich der NP, wie in (3).  







(3) a. az UNG DEM .DIST .NOM .SG ‚jenes Haus‘ b. azok DEM .DIST .NOM .PL ‚jene Häuser‘

a DEF

a DEF

ház Haus.NOM . SG házak Haus.NOM . PL

B1.5.1.5 Abgrenzbarkeit von anderen Wortklassen (Numerale, Adjektiv) Bei den nur-selbstständigen Elementen, also in erster Linie den Personalia, den Interrogativa wer/was oder Indefinita wie jemand, etwas, ist die Zuweisung zu einer eigenen nominalen Lexemklasse, somit den Pronomina, unstrittig. Das Abgrenzungsproblem stellt sich eher bei den Adpronomina, etwa bei den indefiniten ENG certain,

528

B Wort und Wortklassen

FRA certain ,gewiss‘ (→ D1.2.1.1). Es dürfte daher insgesamt eine skalare Abstufung zwischen den eindeutigen, prototypischen Pronomina bis zu weniger typischen Elementen im Bereich der Indefinita i. w. S. vorliegen. Besonders deutlich tritt die Problematik bei den Quantifikatoren des mittleren Skalenbereichs hervor: Handelt es sich um eine Randgruppe der Wortart Adjektiv (quantifizierende Adjektive) oder um Angehörige der Wortklasse der Pronomina, die sich auf der syntaktischen Ebene wie Adjektive verhalten, also der Konstituentenkategorie A zugeordnet werden mögen, die aber doch typisch pronominale Merkmale aufweisen und daher lexikalisch außerhalb der Adjektive zu verorten sind? Oder sind sie gar insgesamt oder teilweise der Wortklasse der Numeralia zuzuschlagen? Wir gehen an dieser Stelle vor allem auf morphologische, paradigmatische und im weiteren Sinne distributionelle Merkmale ein, die eher für einen lexikalischen Status als Pronomen versus Numerale versus Adjektiv sprechen, zur syntaktischen Argumentation bezüglich der Konstituentenkategorie A ist auf die ausführliche Darstellung in Kapitel → D1 zu verweisen. Im Englischen kann die Abgrenzung gegenüber den Adjektiven – mangels morphologischer Unterscheidungen – über folgende distributionelle Kriterien erfolgen:  









1.

Adjektive müssen, wenn sie unter Ellipse des entsprechenden Kopfsubstantivs kontextuell auf ein individuatives Appellativum zu beziehen sind, in der Regel durch das „substitutive“ one ergänzt werden, wie in (4), Pronomina können oder müssen alleine stehen, wie in (5a) bzw. (5b).

(4) ENG

Do you like these flowers? – I like the yellow one. I like yellow ones. ‚Gefallen dir diese Blumen? – Mir gefällt die gelbe. Mir gefallen gelbe.‘  



(5) a. Do you like these flowers? – I like this/that/another (one). ENG ‚Magst du diese Blumen? – Ich mag diese/jene/eine andere.‘ b. Do you like these flowers? – I like a few/several/many/some *(ones). ,Magst du diese Blumen? – Ich mag etliche/ein paar/viele/einige.‘  







2.

An die quantifikativen wie an die indefiniten Adpronomina kann eine partitive ofPhrase angeschlossen werden, wie in (6), nicht jedoch an Adjektive.

(6) ENG

Do you like these flowers? – I like a few/several/many/some of them. ,Magst du diese Blumen? – Ich mag etliche/ein paar/viele/einige von ihnen.‘  



Auf Grund dieser beiden Kriterien werden in der englischen Grammatik von Quirk et al. (1985: 380) mehr Ausdrücke zu den Pronomina gerechnet als dies, siehe weiter unten, für das Deutsche vorzusehen ist; vgl. Tabelle 1:

B1 Wortklassen

529

Tab. 1: Zugehörigkeit zur Lexemklasse Pronomen im Deutschen und Englischen –Pronomen (Deutsch)

+Pronomen

Quantifikatoren des mittleren Skalenbereichs

Deutsch

Englisch

einiger, etlicher, etwelcher, mancher, mehrere, etwas

some, several, a few, much, many, little, few

viel, wenig

other, another half enough

ander halb genug

Reihenfolge/Distinktheit/Anteil

Andererseits verhalten sich auch die prototypischen Numeralia, die Kardinalnumeralia, im Englischen in diesen Hinsichten wie die präsumptiven Pronomina: Auch bei ihnen wird obligatorisch in Kontexten wie (5) kein substitutives one gesetzt und auch bei ihnen ist wie in (6) eine partitive of-Konstruktion möglich (vgl. Huddleston/ Pullum 2002: 1512). Das Französische verfügt zur Quantifikation im mittleren Skalenbereich über adverbiale Formen wie beaucoup ,viel‘, trop ,zu viel‘, peu (de) ,wenig‘; eindeutig pronominal ist in diesem Bereich nur plusieurs ‚mehrere‘. Im Polnischen gibt es bei den Quantifikatoren des mittleren Skalenbereichs Formen mit dem Verhalten der prototypischen Adjektive wie niektórzy/niektóre ‚einige‘; sie haben Kasus-, Genus- und Numeruskongruenz mit dem Kopfnomen. Die Quantifikatoren kilku/kilka ‚einige‘, wielu/wiele ‚viele‘, tylu/tyle ‚so viele‘, ilu/ile ‚wie viele‘, paru/parę ‚einige‘ hingegen regieren als Akkusativformen – als solche sind sie auch in Subjektfunktion zu betrachten – einen (partitiven) Genitiv des ggf. erweiterten Kopfnomens; bei Subjektfunktion steht das Finitum in der 3. Person Singular (im Präteritum im Genus Neutrum); in den übrigen Kasus kongruieren sie mit dem Kopfnomen (dazu → C5.6.2 sowie → D1.2.2.1). Im Ungarischen gibt es weder morphologische noch distributionelle Kriterien, die bei den Quantifikatoren des mittleren Skalenbereichs eindeutig die Zuordnung zu den Adjektiven oder den Quantifikativpronomina festlegen könnten. Im Deutschen kann zunächst ein morphologisches Kriterium zur Abgrenzung von Adpronomina und Adjektiven herangezogen werden: In adnominaler Verwendung regieren Adpronomina wie der definite Artikel die schwache Flexion des nachfolgenden attributiven Adjektivs, während ein vorausgehendes stark flektiertes Adjektiv (im Grundsatz) die Flexion eines nachfolgenden unbeeinflusst lässt (→ C6.6.2). Man vergleiche: mit diesem neuen Wein versus mit gutem neuem Wein. Die Elemente der definiten Adpronomenklassen, die Demonstrativa und die Possessiva sowie das Interrogativum welcher orientieren sich in ihrem Rektionsverhalten ganz klar am definiten Artikel. Bei den Quantifikatoren gibt es eine Abstufung von aller und jeder, die eindeutig schwache Flexion induzieren, über die anderen universalen Quantifika 



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B Wort und Wortklassen

toren beide und sämtlich bis zu den Quantifikatoren des mittleren Skalenbereichs einiger,, etlicher, mancher, mehrere, viel, wenig, die starke Adjektivflexion zulassen oder fordern. Starke Flexion beim nachfolgenden Adjektiv fordern auch die unflektierbaren Quantifikatoren genug und die Formen auf -lei (allerlei, derlei, vielerlei: allerlei netter Kram). Nach Wiese (2009: 182–189) kommt zu dieser lexikalischen Staffelung noch eine Staffelung nach Flexionsformen hinzu, so dass etwa die stärker pronominalen Lexeme wie sämtlich nur in bestimmten Paradigmenpositionen – denjenigen mit den schweren Endungen -s und -m – mit schwach flektierenden Adjektiven kombiniert werden (vgl. mit sämtlichem verfügbaren Mut), während die stärker adjektivischen Lexeme systematisch auch für andere Paradigmenpositionen schwache Flexion beim nachfolgenden Adjektiv zulassen. Solche Rektionsschwankungen bzw. Mischflexionen sind charakteristisch für quantifizierende Ausdrücke, die eine unbestimmte Anzahl im mittleren Skalenbereich denotieren (etlicher, einiger), oder Ausdrücke, die eine Reihenfolge, Gleichartigkeit oder Distinktheit ausdrücken (folgend, solch, ander). Diese sind weder prototypische Pronomina/Determinative noch prototypische Adjektive. Der skalaren Abstufung zwischen Pronomen und Adjektiv nach diesem lexikalischen und morphologischen Kriterium steht die binäre Opposition nach dem syntaktischen Kriterium der Unvereinbarkeit mit einem Determinativ gegenüber. Adnominal verwendete Pronomina sind (vgl. IDS-Grammatik 1997: 1929 f.) in der Regel nicht mit vorausgehenden Artikeln oder anderen Determinativen kombinierbar, sondern kommutieren mit ihnen: *die diese Bücher, *ein mein Buch, *meine einige Bücher, aber: meine beiden/sämtlichen Bücher. Wir nennen dieses Kriterium daher auch kurz ‚Ausschluss des Artikels‘. Auf diese Weise können von den Quantifikatoren mit Rektionsschwankungen diejenigen, die ein Determinativ ausschließen, als pronominal identifiziert werden gegenüber den nicht-pronominalen, die den Artikel nicht ausschließen. Pronominal sind somit: einiger, etlicher, etwelcher, mancher, mehrere (*die einige(n)/etliche(n)/etwelche(n)/manche(n)/mehrere(n) Kinder) sowie etwas (*die etwas Milch). Die übrigen genannten Quantifikatoren des mittleren Skalenbereichs mit Rektionsschwankungen rechnen wir zu den Numeralia. Sie ergänzen deren prototypische Vertreter, die Kardinalnumeralia, um den Ausdruck numerisch vager oder unbestimmter Quantifikation. Man beachte, dass sie sich durch nicht-flektierte Maskulinum- und Neutrumformen (NONF -Formen) in den direkten Kasus (so bei viel, wenig) bzw. obligatorische Verbindung mit einem Artikel bei Nicht-Flektierbarkeit auszeichnen (so bei (ein) paar, (ein) bisschen). Auf der syntaktischen Ebene handelt es sich wie auch bei den Kardinalnumeralia des Deutschen hier um Angehörige der Konstituentenkategorie A vgl. die vielen/wenigen/paar Kinder; das bisschen Geld wie die zwei/drei Kinder. Bei den universalen Quantifikatoren beide, sämtlich wollen wir nicht von Numeralia sprechen; hier gehen wir von einem ambivalenten Status als Pronomen oder Adjektiv aus (→ D1.2.2.1). Im Fall von sämtlich spricht die Möglichkeit einer  





B1 Wortklassen

531

adverbialen Verwendung (wie in dem D E R E K O -Beleg Die präsentierten Bilder haben sämtlich keinen Titel) für die Zugehörigkeit zur Wortart Adjektiv. Ausdrücke wie die -lei-Formen oder genug betrachten wir als lexikalische Einzelgänger. Der quantifikative Bedeutungsanteil ist hier mit qualitativen Merkmalen wie ,Verschiedenartigkeit‘, ,Zureichend-Sein‘ verknüpft, so dass eine Einordnung in die Numeralia semantisch weniger angemessen erscheint. Gegen die Subsumption unter die Pronomina spricht die Forderung nach starker Flexion des nachfolgenden Adjektivs. Gegen die Einordnung als Adjektiv spricht der Ausschluss der Artikelsetzung. Abschließend kann hier festgehalten werden: Die Abgrenzung der lexikalischen Klassen Pronomen und Numerale, ggf. auch Adjektiv ist für die Quantifikativa des mittleren Skalenbereichs schwierig, da, anders als bei der syntaktischen Klassifikation, kaum sprachübergreifende Kriterien geltend gemacht werden können. Für das Deutsche, so haben wir festgestellt, lassen sich die quantifikativen Pronomina und die Numeralia vergleichsweise gut voneinander unterscheiden. Die Pronomina sind durch folgendes Merkmalpaar spezifiziert: schwache oder schwankende Flexion eines nachfolgenden Adjektivs, Ausschluss von bzw. Kommutation mit Artikel/Determinativ. Numeralia sind die Kardinalnumeralia (und die ihnen zugeordneten Wörter für Ordinalzahlen, Bruchzahlen und Multiplikationen wie zweifach, dreifach) sowie die nicht-pronominalen Quantifikatoren des mittleren Skalenbereichs, also die quantitativ unbestimmten Ausdrücke wie viel (vgl. auch vielfach). Für den zwischensprachlichen Vergleich verfahren wir wie folgt: Ausdrücke, die den Numeralia des Deutschen semantisch entsprechen, bezeichnen wir auch in den Vergleichssprachen als Numeralia. Damit erfolgt für die Kontrastsprachen eine rein lexikalisch-semantische Differenzierung, die syntaktische nach Konstituentenkategorien kann sprachabhängig zu unterschiedlichen Kategorisierungen führen.

B1.5.1.6 (Kasus-)Flexion und Kasusfunktionen Pronomina bilden in ihrem Flexionsverhalten keine einheitliche Klasse. In allen KernVergleichssprachen außer dem Ungarischen gibt es neben flektierenden Einheiten auch unflektierbare. Für das Polnische gälte das nur, wenn auch die indeklinablen Numeralia wie mało , wenig‘ , dużo , viel‘ (siehe Swan 2002: 194 und → B1.5.5.4.6) bei den Pronomina einbezogen würden. Verglichen mit Substantiven, Adjektiven und Artikeln haben die Pronomina aber in der Regel, vor allem die zentralen Personalpronomina, bei den im nominalen Bereich schwach flektierenden Sprachen (Niederländisch, festlandskandinavische Sprachen, Englisch, Französisch, andere romanische Sprachen) das ausgeprägteste Kasus-Flexionssystem. Es gelten folgende Prinzipien, die im Zusammenhang mit der Allgemeinen Nominalhierarchie (i) und der Definitheitshierarchie (ii) stehen:

532

1. 2.

3.

B Wort und Wortklassen

Nach Kasus flektierende Pronomina weisen mindestens ebenso viele Kasusunterscheidungen auf wie die Substantive. In Sprachen mit Kasusflexion bei den Pronomina gehören nicht-flektierbare Pronomina Klassen an, die auf einer der beiden genannten Hierarchien vergleichsweise weiter unten rangieren. Adpronomina flektieren in Sprachen mit Kasuskongruenz in der NP nach dem auch die Substantive umgreifenden Kasussystem.

Zur Anzahl der Kasus (Prinzip 1): Es gibt unter den Vergleichssprachen zwei Gruppen: Sprachen, für deren nominale Wortklassen im Prinzip ein einheitliches n-gliedriges Kasussystem gilt, und Sprachen, die bei gewissen Pronomenklassen mehr Kasus unterscheiden als beim Substantiv. Zur ersten Gruppe gehören das Polnische, das Ungarische und das Deutsche. Im Polnischen fallen alle überhaupt flektierbaren Pronomina unter das für alle nominalen Wortklassen gültige System der 7 Kasus, allenfalls der Vokativ kann fehlen. Swan (2002: Kap. 7) nennt bei den nur-selbstständigen Pronomina außer den Personalia der 2. Person keine Vokativform. Bei den Näheformen fallen sie mit dem Nominativ zusammen; nur die Distanzform des Maskulinum Singular pan hat die distinkte Vokativform panie.  

Für das Ungarische mit seinem agglutinierenden System gilt: Alle nominalen Wortklassen haben im Prinzip das gleiche Flexionssystem; eine eigene pronominale Flexion wie im Deutschen gibt es nicht. Jedoch haben die Personalia ein abweichendes Flexionsmuster. Die Formenbildung der Personalpronomina und der Possessivpronomina schließt Possessorsuffixe ein, während andere pronominale Subklassen eine Possessormarkierung ausschließen. Systematisch ist ihr Vorkommen bei dem Intensifikator maga. Auch im Deutschen ist das Kasusinventar als solches dasselbe; aber bei den (maskulinen) Pronomina(formen) (bzw. bei pronominaler Flexion des Maskulinums) finden sich die wenigsten Kasussynkretismen und somit die deutlichsten Kasusdifferenzierungen (vgl. dazu Wiese 1999 und → C5.2.2). Hierzu muss angemerkt werden, dass es bei den Substantiven in keiner Flexionsklasse eine viergliedrige Kasusunterscheidung gibt, sondern maximal eine zweigliedrige – wenn man das obsolete Dativ-Singular-e außer Acht lässt. Es gibt aber Oppositionen in den substantivischen Paradigmen, die alle vier Kasus diskriminiert zeigen: Genitiv Singular (-(e)s-Endung), Dativ Plural (-(e)n-Endung), Nominativ versus Akkusativ (schwache Maskulina); vgl. dazu Thieroff (2000b) sowie → B2.4.2.1.1. Die pronominale Deklination zeichnet sich gegenüber der substantivischen – abgesehen von der Genusdifferenzierung – durch eine stärkere morphologische Kasusdifferenzierung im Singular und eine schwächere Markierung der Numerusdifferenz aus. Die Endung -em des Dativ Maskulinum kann als ihr formales Kennzeichen gelten. Nur in der pronominalen Flexion im maskulinen Genus (Singular) sind alle vier Kasus differenziert, während im Femininum und Neutrum Nominativ und Akku 





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B1 Wortklassen

sativ, die beiden direkten Kasus, zusammenfallen. Die pronominale Flexion selbst, nach der selbstständige und adnominale Pronomina sowie Adjektive in bestimmter syntaktischer Umgebung flektieren, ist außer im Deutschen noch im Isländischen in dieser ausgedehnten Form vorhanden. In anderen germanischen Sprachen, bei denen noch starke Flexion auftritt, also den festlandskandinavischen, ist diese überwiegend auf die Adjektive beschränkt und betrifft nicht mehr generell Pronomen und Determinativ. Anders als bei Adjektiven, die kontextuell bedingt systematisch zwischen starker und schwacher/gemischter Deklination wechseln, ist die starke Flexion bei den deutschen Pronomina die zentrale Flexionsform; zu Fällen schwacher Flexion bei Pronomina vgl. → C6.6.3. Die übrigen Kern-Kontrastsprachen und weitere europäische Sprachen gehören zur zweiten Gruppe – sie unterscheiden also bei gewissen Pronomenklassen mehr Kasus als beim Substantiv. Im Französischen wie auch in weiteren romanischen Sprachen außer dem Rumänischen haben die Substantive keine Kasusdifferenzierung, während die gebundenen Personalpronomina teilweise eine Nominativform für die Subjektfunktion und eine AKK / DAT -Form für die Funktion als direktes oder indirektes Objekt aufweisen; letztere kann man daher auch als allgemeine ,Objektivusform‘ betrachten. In der 3. Person Singular des gebundenen Personalpronomens ist im Französischen noch eine weitergehende Differenzierung zwischen NOM – AKK – DAT , gegeben, z. B. il – le – lui ,er – ihn – ihm‘. Bei dem komplexen Interrogativ-/Relativpronomina lequel/laquelle/lesquels/lesquelles – duquel/desquels/desquelles – auquel/ auxquels/auxquelles ,welche(r)/welchen – wessen/dessen/deren – welchem/welchen‘ liegt eine Differenzierung zwischen unspezifischen Formen (für Subjekt, direktes Objekt und Komplement einer Präposition), Formen für das possessive Attribut und solchen für das indirekte Objekt vor, die auf die Anbindung des definiten Artikels und seiner Verschmelzungsformen als ersten Bestandteil zurückgeht und damit den Unterscheidungen bei Phrasen mit substantivischem Kopf entspricht. Das Englische hat wie das Niederländische und die festlandskandinavischen Sprachen ein Zwei-Kasus-System mit Nominativ und Akkusativ. Von allen nominalen Paradigmen weisen nur die Personalpronomina (vgl. z. B. NDL ik – mij ‚ich – mich/ mir‘) sowie im Englischen die personalen Interrogativ-/Relativpronomina (vgl. z. B. I, who – me, whom) überhaupt diese Kasusdifferenzierung auf. Dies steht im Einklang mit der Nominalhierarchie. Neben Nominativ und Akkusativ kann als dritter Kasus der Genitiv genannt werden; er ist jedoch auf die adnominale und prädikative Funktion als Possessivus restringiert, steht somit für die Funktion als Genitivkomplement (zum Vollverb) nicht zur Verfügung: Niederländische Pronomina mit personalem Bezug haben in einigen Fällen eine morphologische Genitivform auf -(n)s: iemands ‚jemandes‘, wiens ‚wessen‘, diens ‚dessen‘, elkaars ‚voneinander‘. Die Form ENG whose ist synchron nicht als Genitivform zum Interrogativum/Relativum who einzuordnen, sondern als Possessivum. Bei den adnominalen englischen Possessiva his und its (3SG . M / N ) ist noch anhand der s-Markierung eine Herleitung als Genitivform zu den Personalia he bzw. it erkennbar, bei den selbstständigen Possessiva ist eine  

























534

B Wort und Wortklassen

s-Markierung außer bei mine durchgängig vorhanden. In → C3.4.1 wird näher auf diese „verstärkten“ Formen eingegangen. Die nur-selbstständigen personalen Indefinita und Quantifikativa (somebody, anybody, everybody bzw. someone usw.) schließen den Genitivmarker (bzw. das Possessivsuffix, → C3.4.3) in derselben Weise wie die Substantive an. Zu den nicht-flektierbaren Pronomina (Prinzip 2): Die Gültigkeit von Prinzip 2 ergibt sich aus dem bereits Gesagten. Man vergleiche etwa das nicht-flektierbare nicht-personale englische Interrogativum what gegenüber dem kasusdifferenzierten personalen Interrogativum who. Im Deutschen sind folgende Pronomina unflektierbar: etwas, nichts, man, sich, einander. Alle unflektierbaren sind hinsichtlich der syntaktischen Funktionen spezifisch eingeschränkt: etwas und nichts werden nur als Subjekt (7a), als direktes Objekt (7b) und regiert von einer Präposition (7c) verwendet (Gallmann 1990: 214). Als indirektes Objekt (7d) und Genitivkomplement (7e) oder -attribut (7f) kommen sie nicht vor. Ihr Nicht-Vorkommen an der Position einer Genitivphrase kann durch das ,Prinzip der Genitivmarkierung‘ (→ C6.7.2) erklärt werden, während die Unzulässigkeit als indirektes (Dativ-) Objekt wohl eher auf die Kombination von mangelndem flexivischem Ausdruck und für diese Funktion ungewöhnlicher Unbelebtheit zurückzuführen ist. (7)

a. b. c. d. e. f.

Etwas/Nichts ist geschehen. Wir haben etwas/nichts gesehen. Wir haben für/mit etwas/nichts gekämpft. *Wir haben uns etwas/nichts gewidmet. *Wir haben etwas/nichts bedurft. (für: ,Wir haben keiner Sache bedurft.‘) Hier handelt es sich immerhin um die Darstellung *etwas/von etwas, nicht um die Darstellung *nichts/von nichts.

Bei Erweiterung durch ein Adjektiv werden jedoch Anschlüsse im Dativ und als Genitivkomplement möglich, nicht jedoch als Attribut: (7)

d.’ Wir haben uns etwas Neuem / nichts Anderem gewidmet. e.’ Wir haben etwas Neuen / nichts Anderen bedurft. f.’ Hier handelt es sich immerhin um die Darstellung *etwas Neuen / von etwas Neuem.

man ist auf die Subjektfunktion beschränkt (→ B1.5.2.5). In Verbindung mit selbst kann man auch als Prädikativ erscheinen, wie in Beleg (8). sich und einander schließen Subjektfunktion und die des Genitivkomplements/-attributs aus, können aber als direktes Objekt, regiert von einer Präposition und – im Gegensatz zu etwas, nichts – auch als indirektes Objekt, wie in (9), verwendet werden:  

(8)

Man war man selbst bis zum Schluss, bis zum allerletzten Moment. (James Salter 2013: 211)

(9)

Sie haben sich/einander vertraut.



B1 Wortklassen

535

Bei etwas und nichts handelt es sich um nicht-personale Indefinita mit unspezifischem, in der Regel nicht-personalem Gegenstandsbezug; Nicht-Flektiertheit entspricht somit ihrem niedrigen Rang in der Belebtheits- und der Definitheitshierarchie. Bei man, sich und einander ist Unflektiertheit anders zu erklären: Es handelt sich bei man, dem reflexiven bzw. reziproken sich und einander um generische bzw. gebundene Formen der Personalia, denen auch semantisch und syntaktisch ein Sonderstatus zukommt (im Einzelnen → B1.5.3). Zur Flexion der Adpronomina (Prinzip 3): Sprachen mit Kasuskongruenz in der NP sind unter den Kern-Vergleichssprachen nur das Polnische und das Deutsche. Protototypisch für Adpronomina, die im Kasus mit dem substantivischen Kopf kongruieren, sind etwa die Demonstrativa mit DEU dieser, POL ten (z. B. Genitiv Singular Maskulin: dieses Mannes – tego mężczyzny). Die Adpronomina des Deutschen zeigen bei selbstständiger Verwendung Beschränkungen im Genitiv: M dieses, jenes, usw. und F dieser, jener usw. kommen als singularisches Genitivattribut (10a) und -komplement (11a) nicht vor, allenfalls unter partitiver Erweiterung durch eine von-Phrase, wie in (10b), vgl. → C6.5.3. Bei Plurallesart ist z. B. jener nicht ausgeschlossen, s. (12), üblicher sind selbstständige Gebräuche von genitivischen Pluralformen wie aller, mehrerer, einiger, wie in (11b).  





(10)

a. *die Illusionen dieses/jenes; *die Illusionen dieser/jener (F . SG ) b. die Illusionen jedes/jeder von ihnen

(11)

a. *Wir bedurften dieses/jenes überhaupt nicht bei diesem Unternehmen. b. Wir bedurften aller/mehrerer/einiger bei diesem Unternehmen.

(12)

Alle Illusionen jener sind zerstoben, die in den nächsten Monaten eine ökonomische Wende erwarteten. (Berliner Zeitung, 13.09.2008)

B1.5.1.7 Genus Zugrunde gelegt wird hier eine Differenzierung zwischen ‚abstraktem‘ und ‚konkretem‘ Genus (→ B2.2). Das nominale Genus ist konkret, wenn es relativ direkt kategoriale Unterscheidungen im Denotatbereich widerspiegelt. Für unsere Vergleichssprachen erfolgen diese nach Maßgabe der Belebtheitstaxonomie, in der die Unterscheidungen der Belebtheitshierarchie i. e. S. (i.3), erweitert um die Sexuskategorien als Klassifikatoren des Denotatbereichs, wiederkehren. In der ,erweiterten Belebtheitstaxonomie‘ ist die Differenzierung zwischen dem Belebten und dem Personalen gewährleistet (→ B2.2.3, Abb. 4). In der ,reduzierten Belebtheitstaxonomie‘ entfällt eine Hierarchiestufe zugunsten des Personalen.  







536

B Wort und Wortklassen

Abb. 1: Die reduzierte Belebtheitstaxonomie  

Während die Substantive der Vergleichssprachen – sofern überhaupt vorhanden – im Prinzip ein abstraktes Genussystem aufweisen, somit Unterscheidungen nach der Belebtheitstaxonomie nach bestimmten Prinzipien auf die abstrakten Genera abgebildet werden müssen, treten bei den Pronomina Unterscheidungen nach dem konkreten Genus deutlicher hervor, und zwar nach Maßgabe der reduzierten Belebtheitstaxonomie. Dies gilt in erster Linie für die nur-selbstständigen Pronomina und die Adpronomina in ihren selbstständigen Verwendungen. Dabei gelten im Einzelnen folgende Fallunterscheidungen:  



1.

Von allen nominalen Wortklassen weist am ehesten die hierarchiehöchste Pronomenklasse, die der Personalia, Differenzierungen auf der untersten Ebene der Belebtheitstaxonomie auf, also die Distinktionen [männlich], [weiblich], [–personal]. 2. Bei den nur-selbstständigen Elementen der hierarchisch niedrigeren Pronomenklassen, den Indefinita i. w. S., ist das Lexeminventar binär nach Oppositionen der Belebtheitstaxonomie strukturiert, und zwar in der Weise, dass Elemente der spezifischen Kategorie [+personal] gegenüber denjenigen ohne spezifische Kategorienfestlegung (dafür: [unspezifisch]) ausgezeichnet sind. Wir sprechen auch von ‚Personenbezug‘ versus – im Falle des Unspezifischen – ‚Gegenstandsbezug‘. Hat die Sprache ein abstraktes Genussystem, so erfolgt auch hier eine Abbildung auf das abstrakte System, in der Weise, dass [+personal] etwa dem Maskulinum entspricht und [unspezifisch] dem Neutrum (z. B. DEU wer vs. was). 3. Bei selbstständiger Verwendung werden auch die Adpronomina im Default-Fall gemäß der Opposition [+personal] versus [unspezifisch] interpretiert. 4. Die Adpronomina folgen bei Genuskongruenz in der NP dem Genussystem der Substantive. Anders gesagt: Sie zeigen wie die Artikel das Substantivgenus an.  









Zu den hierarchiehohen Pronomina (Fall 1): In Vergleichssprachen mit einer M - F (-N )-Differenzierung bei den Substantiven, also dem Polnischen, Französischen und Deutschen, folgen die Personalia (der 3. Person) im Allgemeinen entsprechend ihrem phorischen Charakter den Genusunterscheidungen der Substantive. Bei den genannten Sprachen sind somit auch die Personalia der 3. Person wie die Substantive grundsätzlich nach den abstrakten Genera differenziert. Allerdings werden die starken betonten Varianten der Persona 



537

B1 Wortklassen

lia, die im Französischen wie auch in weiteren romanischen Sprachen sich z. T. auch segmental von der unbetonten Reihe unterscheiden (vgl. FRA SG M il/lui, F elle/elle, PL M ils/eux,, F elles/elles), im Allgemeinen nur bei personaler Referenz verwendet und überschreiben somit die abstrakte Genuskorrelation zugunsten der Belebtheitskategorien. Außergewöhnlicherweise gibt es im Italienischen (nur in formellem schriftsprachlichem Register) auch schwache Personalia der 3. Person, die nach abstraktem und konkretem Genus doppelt kategorisiert sind (→ B1.5.2.3). Im Englischen und den festlandskandinavischen Sprachen, tendenziell auch im Niederländischen, bilden die Personalia der 3. Person mehr Unterscheidungen relativ zur Belebtheitstaxonomie ab als die Genuskategorien des Substantivs. Das Englische hat beim Substantiv selbst keine Genusunterscheidung, die Personalia aber zeigen eine im Prinzip die unterste Ebene der Belebtheitstaxonomie abbildende Formenunterscheidung (vgl. dazu zusammenfassend Hoberg 2004: 54–58 sowie → B2.2.6.1). Bei den festlandskandinavischen Sprachen ist das Substantivinventar in die abstrakten Genuskategorien Utrum (mit der Zuordnung [+personal] È [–personal]) und Neutrum (mit der Zuordnung [–personal]) gegliedert. Bei den Personalia dagegen ist der primäre Kontrast der zwischen den für personale Referenz reservierten h-Formen (SWE han/hon) und den d-Formen für nicht-personale Referenz, wobei erstere noch jeweils in eine Form für männlichen und weiblichen Bezug und letztere in eine Form für das (nicht-personale) Utrum (den) und das Neutrum (det) gegliedert sind. Die d-Formen sind keine genuinen Personalpronomina, sondern aus dem Inventar der Demonstrativa übernommen. Insbesondere bezüglich des Deutschen ist festzuhalten, dass es bei den Personalia auch auf der Text- bzw. Verwendungsebene noch zu gegenüber den referenzidentischen substantivischen Phrasen abweichenden Genuszuweisungen kommt: Wenn die „natürlichen“ Zuordnungen zwischen Sexus und Genus beim Substantiv nicht gewährleistet sind (wie bei Mädchen, Fräulein, Kind), kann bei der pronominalen Aufnahme diese natürliche Korrelation wiederhergestellt werden. Auch dadurch wird die stärkere Gültigkeit von Belebtheitskategorien im pronominalen Bereich bestätigt.  

Zu den hierarchieniedrigen Pronomina (Fall 2): In allen Kern-Kontrastsprachen sind die nur-selbstständigen Indefinita i. w. S. nach der Opposition [+personal] versus [unspezifisch] sortiert. Man vergleiche jeweils die Reihen in den Vergleichssprachen in Tabelle 2. Im Englischen kommt noch ein Paar für die universalen Quantoren hinzu: everybody/everything.  





538

B Wort und Wortklassen

Tab. 2: Reihen der hierarchieniedrigen Pronomina in den Vergleichssprachen DEU

ENG

FRA

POL

UNG

Interrogativa

wer/was

who/what

qui/que

kto/co

ki/mi

Indefinita i. e. S.

jemand/etwas

somebody/something, anybody/ anything

quelqu’un/ quelque chose

ktoś/coś

valaki/valami

Negativa

niemand/nichts nobody/nothing

personne/rien

nikt/nic

senki/semmi





Die asymmetrische Relation zwischen den Elementen dieser Paare führt im Gebrauch in Analogie zum Spezifizitätsprinzip in der Morphologie (→ C5.4.2) zu folgenden möglichen Deutungen: Wo das als [unspezifisch] gekennzeichnete Element nicht in Opposition steht zu dem entsprechenden als [+personal] gekennzeichneten Element, deckt es die gesamte Belebtheitstaxonomie ab, vgl. z. B. den Gebrauch von was in (13).  

(13)

Was siehst du auf diesem Bild? – Einen Mann, zwei Kinder, einen Hund, ein Haus.  

Wo das als [unspezifisch] gekennzeichnete Element in Opposition steht zu dem entsprechenden als [+personal] gekennzeichneten Element, deckt es den Komplementärbereich zu [+personal] ab, also [–personal], wie in (14). (14)

Sollte der Frieden aber verspielt werden und der Krieg weitergehen, werde es zu einer Katastrophe kommen. Viele der Kinder haben niemanden und nichts mehr. (Nürnberger Nachrichten, 20.07.1992)

Durch den Kontext, insbesondere die Selektionsbeschränkungen des verbalen Prädikats, können sich auch ohne direkte Opposition Beschränkungen für unspezifische Elemente, z. B. auf unbelebte Dinge oder abstrakte Entitäten ergeben (vgl. Was hast du getrunken? versus Ich habe nichts erlebt).  

Zur Interpretation von selbstständigen Adpronomina (Fall 3): Wenn Adpronomina ‚speziell‘, also ohne Vorgängerausdruck selbstständig verwendet werden wie in den folgenden englischen und deutschen Beispielen, dann werden sie gemäß der konzeptuellen Basisunterscheidung [+personal] (15a, 16a) versus [unspezifisch] (15b, 16b) interpretiert. Dabei bestehen unterschiedliche sprachspezifische Beschränkungen, vgl. Zifonun (2005c) sowie → B1.5.5.3.2. (15) a. [Few] would have expected it to turn out so well. ENG ‚Wenige hätten erwartet, dass es so gut ausgeht.‘

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B1 Wortklassen

b. [Not much / Little] has happened while you’ve been away. ‚Nicht viel / Wenig ist geschehen, während du weg warst.‘ (16)

a. [Einige/Alle/Jeder/Manche(r)] hatte(n) erwartet, dass es so gut ausgeht. b. [Einiges/Alles/Manches] ist geschehen, während du weg warst.

Zur Genuskongruenz (Fall 4): Genuskongruenz in der NP betrifft das Deutsche, das Französische und das Polnische; die adnominal gebrauchten Adpronomina stimmen daher in diesen Sprachen im (abstrakten) Genus mit dem Kopfsubstantiv überein. Ein sprachübergreifender Zug germanischer Sprachen außer dem Isländischen gegenüber etwa den romanischen und slawischen Sprachen ist die Neutralisierung der Genusunterscheidung im Plural der Determinative und Pronomina. Sie geht im Deutschen generell mit einer Formenüberschneidung zwischen Femininum und Plural einher, z. B. im Personalpronomen/ Demonstrativum der 3. Person: vgl. diese Frau – sie; diese Frauen/Männer/Kinder – sie. Hinzuweisen ist auch auf folgende Interaktion zwischen Kasus und Genus bei den Pronomina. Pronomen(formen) mit dem konkreten Genus [–personal] bzw. dem abstrakten Genus Neutrum sind grundsätzlich in der Belebtheitshierarchie den Pronomen(formen) mit den komplementären Genera nachgeordnet. Sie zeigen sprachübergreifend, wo möglich, weniger Kasusdifferenzierungen als jene. In den indoeuropäischen Sprachen ist dieser Effekt der Belebtheitshierarchie in der Weise grammatikalisiert, dass bei allen Neutra (Substantive, Adjektiv-, Determinativ- und Pronomenformen) die beiden direkten Kasus Nominativ und Akkusativ zusammenfallen. (Daneben mag es andere Synkretismen geben, wie etwa bei den deutschen Feminina oder den unbelebten Maskulina im Singular slawischer Sprachen.) Auch im Englischen, das keine abstrakten Kasus kennt, haben nur die [+personalen] Pronomen(formen) jeweils Nominativ- und Akkusativformen (z. B. mit I – me, he – him, who – whom), während die [–personalen] Formen nur den so genannten common case aufweisen (vgl. unveränderlich it, what). Abschließend zur Vergleichssprache Ungarisch: Ungarisch kennt (wie auch etwa das Türkische) grundsätzlich keine Genusdifferenzierung im Sinne des abstrakten Genus. Auch im Hinblick auf das konkrete Genus wird nur im Bereich der Indefinita im weiteren Sinne (Interrogativ-, Indefinit-, Quantifikativpronomina) und bei den Relativpronomina zwischen Personen- und Gegenstandsbezug unterschieden. Die weiter gehende Unterscheidung nach dem Sexus unterbleibt. D. h., auch bei den Personalpronomina der 3. Person, wo z. B. das Englische und die skandinavischen Sprachen nach dem Sexus differenzierte Formen neben der sachbezüglichen aufweisen, existiert nur eine Form. Der Varianzparameter Genusdifferenzierung hat also in dieser Sprache gegenüber allen Vergleichssprachen sowohl in der abstrakten als auch in der konkreten Auslegung die geringste Bedeutung.  





















540

B Wort und Wortklassen

B1.5.1.8 Numerus Die Kategorisierung Numerus war die erste, an der Effekte der Nominalhierarchie beobachtet wurden. Dabei spielt der Schnitt zwischen den Pronomina (im Sinne der Personalia) und den Substantiven eine prominente Rolle. So ist in Corbett (2000: 61– 66) eine Reihe von Sprachen unterschiedlicher Sprachfamilien genannt, in denen nur die Personalia über (obligatorische) Numerusdistinktionen verfügen. In unseren europäischen Vergleichssprachen ist auch für das Substantivinventar im Prinzip eine Numerusopposition zwischen Singular und Plural gegeben, so dass es keine derartig klare Zäsur gibt. Relevant bezüglich der Hierarchien sind jedoch die Fälle, in denen entweder die Numerusopposition im Formeninventar aufgehoben ist, also die Formen zusammenfallen, oder wo nur eine der Numerusformen lexikalisch festgelegt ist (Singularetantum oder Pluraletantum) (→ B2.3.3.3). Hierarchiekonform haben in den Vergleichssprachen mindestens die Personalpronomina distinkte Singular- und Pluralformen. Die einzige Ausnahme betrifft das moderne Englisch: Das Personalpronomen der 2. Person you hat keine Numerusdifferenzierung (→ B1.5.2.1). In den kongruierenden Formen des Reflexivpronomens kann jedoch die Numerusdistinktion erkennbar werden: you can do that yourself versus you can do that yourselves (Corbett 2000: 69). Demonstrativa, die in der Definitheitshierarchie weit oben rangieren, stechen wiederum in zwei Sprachen hervor: Im Englischen haben sie als einzige Pronomenklasse neben den Personalia (und den zugehörigen Reflexiva) numerusdifferenzierte Formen: this – these; that – those. Im Ungarischen werden die Demonstrativa, ebenfalls exzeptionell, ez/az auch adnominal in den Plural gesetzt (→ D1.2.1.2). Für die nur-selbstständigen Indefinita im weiteren Sinne ist sprachübergreifend das Vorkommen von Singulariatantum charakteristisch. Es betrifft die als Fall 2 in → B1.5.1.7 genannten Reihen von [+personenbezogenen] / [unspezifischen] Pronomina (wie z. B. DEU wer/was) – jeweils mit Ausnahme der ungarischen Formen, denn die ungarischen mi/ki-Pronomina können pluralisiert werden. Bei den Quantifikativa des mittleren Skalenbereichs treten aus semantischen Gründen Pluraliatantum auf. Diese sind z. B. im Deutschen oder Französischen auch als morphologische Pluralformen kenntlich (DEU mehrere, FRA plusieurs). Im Englischen wird dagegen Pluralität nicht morphologisch am Pronomen markiert (vgl. z. B. few, several, some). Verbformen zu diesen Ausdrücken in Subjektfunktion stehen jedoch durchgängig in einer mit Plural kompatiblen, nicht in der für die 3. Person Singular markierten Form, vgl. (17).  











(17) ENG

John Moore continued his ,assault on dependency‘ in 1989 by arguing that real poverty has already been abolished in modern Britain. Very few are really poor any more. ‚John Moore setzte seinen ‚Angriff auf Abhängigkeit‘ 1989 fort, indem er behauptete, dass echte Armut im modernen Großbritannien bereits abgeschafft worden ist. Sehr wenige sind nunmehr wirklich arm.‘ (BNC: AS6)

541

B1 Wortklassen

Nach Corbett (2000: 66–69) ist auch diese „Exponenz von Numerus durch Kongruenz“ eine Form von Numerusdistinktion und kann bezüglich der Belebtheitshierarchie in Rechnung gestellt werden. Sie spielt gerade für das Englische eine bedeutende Rolle. So kongruieren die universalen Quantifikativa und Indefinita mit dem Merkmal [+personenbezogen] (wenn sie sich auf eine Vielheit von Referenzobjekten beziehen oder beziehen könnten), nämlich everybody, nobody, anybody, somebody, wiederum in aller Regel mit dem Plural koreferentieller Pronomina, während das Prädikatsverb, das häufig auch linear am nächsten positioniert ist, in der Regel im Singular steht, wie in (18). Auch indefinite NPs im Singular verhalten sich in unspezifischer Verwendung entsprechend, vgl. (19) und (20). (18) ENG

Everybody’s doing what they think they’re supposed to do. ‚Jeder tut gerade, was er/sie denkt, er/sie soll machen‘ (Biber et al. 2006: 192)

(19) ENG

Does a person have a right to privacy after they have died? ‚Hat ein Mensch ein Recht auf Privatsphäre, nachdem er gestorben ist?‘ (Nicci Gerrard 2009: 338)

(20) ENG

If a person has left home of their own accord they won’t be accepted as missing. ‚Hat jemand sein Zuhause aus eigenem Willen verlassen, wird er nicht als vermisst angenommen.‘ (Cecilia Ahern 2006: 101)

Im Deutschen – ähnlich auch im Französischen und Polnischen – müssen in entsprechenden Fällen (etwa bei jemand, niemand, jedermann) Singularformen an kongruierenden Einheiten erscheinen. Bei den germanischen Sprachen ist im Plural in der Regel die Genusdifferenzierung aufgehoben (im Isländischen ist sie aber erhalten), während die romanischen auch im Plural M - und F -Formen unterscheiden; im Polnischen gilt die für den nominalen Plural insgesamt gültige Opposition von MPERS und NONMPERS . In den Sprachen ohne Genus-Neutralisierung im Plural tritt das Problem, keine sexusneutrale Form zur Personenreferenz zur Verfügung zu haben, auch im Plural auf (→ B2.2.6.2). Man kann insgesamt festhalten: In den germanischen Vergleichssprachen sind beim Pronomen die Numeruskategorien weniger stark ausgeprägt als beim Substantiv. Im Englischen bleibt beim Pronomen der Plural weitgehend unausgedrückt, im Niederländischen sind wie im Deutschen die Pluralformen identisch mit bestimmten Singularformen; im Deutschen jeweils mit Formen des Femininums wie in diese – jene (NOM / AKK F . SG / PL ), im Niederländischen mit Formen des Utrums wie in semantisch entsprechendem deze – die (U . SG / PL ). Für die anderen Sprachgruppen gilt dies nicht.  







542

B Wort und Wortklassen

B1.5.1.9 Pronominalphrasen Pronominalphrasen bestehen aus einem selbstständigen Pronomen bzw. einem Adpronomen in selbstständiger, und zwar ‚spezieller‘ Verwendung (→ B1.5.1.3), das durch Ausdrücke unterschiedlicher syntaktischer Kategorie zu einer Phrase erweitert ist. Die Erweiterungen können wie eindeutig in (21b, c) restriktive Attribute sein oder aber nicht-restriktive bzw. ,appositive‘ wie in (22). Der semantische Status von Erweiterungen wie in (21a) ist im Folgenden noch zu klären. (21)

a. Wir Europäer sind dafür. / Wir Armen sind zu bedauern. b. Jemand aus Frankfurt hat angerufen. / Einige von euch kommen aus Italien. Niemand von Verstand würde das akzeptieren. c. Ich lese alles, was du mir empfiehlst.

(22)

a. Ich, völlig erschöpft, setze mich an die Arbeit. b. Wir kennen ihn, einen Lehrer aus Frankfurt, ganz gut. c. Du, die du alles verstehst, bist meine Freundin. / Du, die alles versteht, bist meine Freundin.

Wir betrachten Pronominalphrasen (NPPRO bzw. NP[PRO]) als einen speziellen Typ von Nominalphrasen (→ D1). Dies ist in erster Linie der „externen“ Syntax von pronominalen NPs geschuldet: Sie haben ähnliche syntaktische Funktionen wie die prototypischen substantivischen Nominalphrasen, kommen also als Komplemente oder Supplemente im Satz vor, daneben auch als Attribute (wie z. B. in Freunde von uns Europäern). Was die interne Syntax pronominaler NPs angeht, gibt es jedoch eine Reihe von Unterschieden gegenüber substantivischen, die im Wesentlichen Ausdruck ihrer semantischen Sonderstellung sind und die im vorliegenden Abschnitt thematisiert werden. Im Unterschied zur prototypischen NP mit appellativischem Kopf enthalten pronominale NPs keinen klassenbezeichnenden Ausdruck, also keinen Ausdruck mit Nominationsfunktion, sondern deiktisch oder phorisch verweisende, indefinit bezüglich einer rein sortal beschränkten Grundmenge referierende oder quantifizierende Ausdrücke als Phrasenkopf. Auch von NPs in Form von Eigennamen unterscheiden sie sich semantisch, insofern als sie keine benennende Funktion haben (→ B1.4.3.1.1). Nur bei der kontextbezogenen Verwendung von Adpronomina im Sinne von → B1.5.1.3 wie in Hans bekommt diesen Apfel hier, Fritz jenen dort gehen wir von der internen Struktur der prototypischen NP aus. Und zwar handelt es sich dann um eine NP, in der der substantivische Kopf elliptisch weggelassen und aus dem Kontext ergänzt werden kann, nicht um eine Pronominalphrase im hier gemeinten Sinne. Man vergleiche also jeweils die Kategorisierungen für (die kontextbezogene Verwendung von) jenen dort und jemanden dort:  



B1 Wortklassen

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NP [D

jenen NOM [N [_] Adv dort]] NP[PRO] [N[PRO] jemanden Adv dort] Syntaktisch besteht der wesentliche Unterschied zur substantivischen NP darin, dass bei pronominalen NPs Determinative in allen Vergleichssprachen ausgeschlossen sind. Dabei ist vom Sonderfall der Verbindung von Artikel und Possessivum wie in FRA le mien, DEU der meine,, UNG az enyém abzusehen, der letztlich als Grammatikalisierung einer Ellipse des Kopfsubstantivs zu begreifen ist, ebenso auch von der lexikalischen Integration des Artikels in FRA lequel. Man kann Determinativlosigkeit sogar als eine notwendige, sprachübergreifend gültige Eigenschaft von NPPRO betrachten. Dies ist damit zu erklären, dass ein Teil der Pronomina, die nur-selbstständigen, inhärent auf definite (wie die Persondeiktika und das phorische Personalpronomen der 3. Person) oder indefinite Referenz (wie die Indefinita jemand, etwas) festgelegt sind, und die übrigen, also die Adpronomina, selbst determinativisch verwendet werden können. In determinativischer Verwendung können sie erwartungsgemäß nicht mit einer selbstständigen Instanz kookkurrieren: *mein jemand, *alle wir, *dieses nichts Wenn möglich, wird eine solche Kookkurrenz reanalysiert als Determinativ + substantiviertes Pronomen, also als NP: NP [D

mein N Jemand], NP [D mein N Ich], NP [D dieses N Nichts]

Die Adpronomina bzw. non-selbstständigen Pronomina wie etwa die Demonstrativa DEU dieser, jener oder die Indefinita irgendeiner haben eine adnominale Verwendung oder eine adnominale Variante, sie kommen also auch determinativisch vor. Während wir von Unterspezifikation ausgehen, wurde auch vorgeschlagen, die determinativische Ausprägung als grundlegend zu betrachten und die selbstständige daraus abzuleiten. In Ballweg (2003) geschieht dies im Rahmen einer lambdakategorialen Repräsentation durch Bindung der Variablen für das zu determinierende Substantiv. Häufig wird auch generell von der Ellipse des Kopfsubstantivs ausgegangen. Zu den Argumenten dagegen vgl. Zifonun (2005c).

Determinativlosigkeit von NPPRO korrespondiert mit der Tatsache, dass es sich im Unterschied zur substantivischen NP um einen endozentrischen Phrasentyp handelt. Phrasal ausgebaute Varianten haben dieselbe Distribution und dieselbe syntaktische wie semantische Funktion wie der pronominale Phrasenkopf. Bezüglich des Ausschlusses von Determinativen unterscheiden sich pronominale NPs auch von NPs mit einem Eigennamen als Kopf. Obwohl auch hier der referentielle Status, nämlich definite Referenz, eindeutig festliegt, können zu Eigennamen (→ B1.4.3.3.2) unter bestimmten Bedingungen Artikel hinzugesetzt werden. Wir unterscheiden den Proprialartikel wie in die Schweiz, den expletiven Artikel wie in der Hans und den syntaktisch determinierten Artikel wie in das moderne Berlin. Syntaktisch  

544

B Wort und Wortklassen

determinierte Artikel stehen in den Vergleichssprachen, wenn der Eigenname durch ein pränominales Adjektiv appositiv erweitert ist. Vorangestellte Adjektive sind in Pronominalphrasen aber, von markierten Fällen im Englischen abgesehen (vgl. unten), ausgeschlossen. Gewisse Pronomina(klassen) sind nicht oder kaum erweiterbar: Jeglicher Ausbau unterbleibt bei DEU es. Allenfalls eine Apposition, die das Gemeinte verdeutlicht und die ggf. auch als Parenthese einzuschätzen ist, erscheint möglich: (23)

Auch als Manager will er das Nachrichtengeschäft nicht verlernen. Hart ist es, dieses Geschäft. Nachrichtenagenturen stehen in einem schonungslosen Wettbewerb. (Die Rheinpfalz, 03.03.2013)

Auch die anderen Formen des phorischen Personalpronomens sind sprachübergreifend kaum ausbaubar. Nur appositive Erweiterungen (NPs, nachgestellte unflektierte Adjektive, Relativsätze), Fokuspartikeln sowie der Intensifikator ,selbst‘ treten hinzu. Das Pronomen trägt dabei einen Gewichtungsakzent, ist also stark und hat im Allgemeinen personale Referenz (→ B1.5.2.3). Vergleichbares gilt auch für die Reflexiva. Übergreifende Erweiterungsmöglichkeiten in NPPRO sind, wie bereits angedeutet, die Fokuspartikeln sowie appositive Erweiterungen. Besonders charakteristisch für die Personalia und Reflexiva ist der Intensifikator (ich selbst, sich selbst). Auf diese Erweiterungsmöglichkeiten wird nicht weiter eingegangen; zu appositiven Relativsätzen bei den Personalia → D6.3. Folgende spezifische Formen des phrasalen Ausbaus von NPPRO sind zu nennen: –

Erweiterung durch determinativlose Nominalsyntagmen (der Kategorie N/NOM)

Diese Erweiterung ist weitgehend beschränkt auf die Personalia der 1. und 2. Person (vgl. hierzu Vogel 1993). Ausdrücke der Kategorie N bzw. NOM – es handelt sich um Substantive (+ postnominales Attribut), um Adjektiv + Substantiv (+ weitere postnominale Attribute) oder ein nominalisiertes Adjektiv – folgen ggf. unter Kasuskongruenz auf das Pronomen. Im Französischen wird allerdings der (artikellosen) Konstruktion in vielen Fällen eine Konstruktion mit dem definiten Artikel (somit der Kategorie NP) vorgezogen, wie etwa bei der kontrastiven Verwendung in (24). Eine solche Konstruktion ist dann nur prosodisch oder orthographisch (durch Fehlen von Kommata) gegenüber einer appositiven Erweiterung abgegrenzt.  



(24) DEU ENG FRA

Wir Männer (gehen jetzt), ihr Frauen (bleibt noch hier.) We men (are going now), you women (stay here.) Nous les hommes (nous partons maintenant), vous les femmes (vous restez encore là.)

B1 Wortklassen

POL UNG (25) DEU ENG FRA POL UNG

(26) DEU ENG FRA POL UNG

545

My mȩżczyźni (idziemy teraz), wy kobiety (zostajecie tutaj.) Mi férfiak (megyünk most), ti nők (itt maradtak.)

(a) wir armen Kinder (DAT : uns armen Kindern), (b) ich armes Kind (DAT : mir armem Kind), (c) ihr Leute aus Berlin, (d) du Fürst der Finsternis (a) we poor children, (c) you people from Berlin (d) you prince of darkness (a) nous pauvres enfants, (b) moi pauvre enfant, (c) vous gens de Berlin, (d) toi prince des ténèbres (a) my biedne dzieci (DAT : nam biednym dzieciom), (b) ja biedne dziecko (DAT : mnie biednemu dziecku), (c) wy ludzie z Berlina, (d) ty książȩ ciemności (a) mi szegény gyerekek (DAT : nekünk szegény gyerekeknek), (b) én szegény gyerek (DAT : nekem szegény gyereknek), (c) ti berliniek, (d) te sötétség hercege  

(a) wir Armen, (b) ich Glückliche (a) we poor (a) nous pauvres/nous les pauvres, (b) moi l’heureuse (a) my biedni, (b) ja szczȩśliwa (a) mi szegények, (b) én szegény

Als rein adjektivische Erweiterung wie in (26) kommen nur Qualitätsadjektive, keine Relationsadjektive in Frage. Unmodifizierte Substantive ohne wertende Bedeutungskomponente sind als Erweiterung zu den Singularformen nicht usuell: ich Dummkopf (habe gelogen) versus gern)

??

ich Maurer (arbeite gern) versus wir Maurer (arbeiten

Man vergleiche für das Deutsche folgende Belege: (27)

Stellen Sie sich mein Entsetzen vor, als ich arme Witwe erfahren musste, dass auch der Gottfried neben mir noch eine Geliebte hatte, der ich nun, zu seiner Ehrenrettung, eine bedeutende Summe Geld zu zahlen habe. (Szrama, Bettina: Die Giftmischerin, [Roman]. – Meßkirch, 24.03.2011)  

(28)

Ein Stück gescheiter geworden, trennten sich diese Frauen mit einem Tschüss bis zum nächsten Mal, «wenn ich Arme überhaupt noch lebe!» (Die Südostschweiz, 01.07.2010)

Die Verbindung mit einem Adjektiv (+ Substantiv) ist häufig in Ausrufen und als solche eine Stilfigur der literarischen Rede:

546

(29)

B Wort und Wortklassen

„Ich arme Jungfer zart, ach, hätt ich genommen den König Drosselbart!” (König Drosselbart, (Erstv. 1819), In: Kinder- und Hausmärchen, gesammelt von Jacob und Wilhelm Grimm. – München, 1978 [S. 293])  

(30)

Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor; (Faust I, 4. Szene)  

Im Polnischen ist eine entsprechende Erweiterung auch bei den Personalia der 3. Person im Gebrauch. Präferiert ist dabei die Hinzusetzung nur eines Adjektivs (31); bei (Adjektiv) + Substantiv ist nur im Nominativ ein Begleiter verzichtbar (32a); in den anderen Kasus wird gewöhnlich ein Demonstrativum hinzugesetzt (32b). Bei (32b) ist eher an eine lockere Apposition zu denken; so würde auch in den anderen Vergleichssprachen konstruiert:  

(31) POL

on piȩkny, ona piȩkna, ono piȩkne – oni piȩkni / one piȩkne er schön.M , sie schön.F , es schön.N – sie.MPERS schön.MPERS / sie.NONMPERS  



(32) a. On (,) piękny mężczyzna ożenił się verheirat.PRT .3SG . M REFL POL 3SG . M schön.M . SG Mann.M . SG brzydką kobietą. Frau.F . SG . INS hässlich.F . SG . INS ,Er schöner Mann hat eine hässliche Frau geheiratet.‘ b. Co się z nią, tą piękną aus 3SG . F . INS DEM . SG . F . INS schön.F . SG . INS was REFL kobietą zrobiło? mach.PRT .3SG . N Frau.F . SG . INS ,Was ist aus ihr, dieser schönen Frau, geworden?‘

z mit

Im Englischen ist die Konstruktion mit Substantiv bzw. Adjektiv + Substantiv nach Huddleston/Pullum (2002: 419) nur bei we und you möglich: (33) ENG

We/You Irish will have his support. ,Wir/Ihr Iren werden/werdet seine Unterstützung haben.‘

(34) ENG

At least you lucky bastards are getting off this ship of rats. ,Wenigstens kommt ihr Glückspilze von diesem Rattenschiff herunter!‘ (BNC, Lucker and Tiffany peel out. Mildmay, Eroica. London: Serpent’s Tail, 1993)

Adjektivische Erweiterungen durch einige wenige (wertend-emotionale) Adjektive wie lucky, poor, silly sind pränuklear. Die Konstruktion kann desintegriert als Ausruf oder als Satzglied, nicht jedoch als Subjekt auftreten. Bei der 1. Person Singular ist somit  

B1 Wortklassen

547

von den genannten nominalen Erweiterungen nur das vorangestellte Adjektiv möglich, wobei die oblique Form me erscheinen muss (vgl. Huddleston/Pullum 2002: 430). (35) ENG

Lucky you. No one noticed you had gone home early. ,Du Glücklicher. Niemand hat bemerkt, dass du früh nach Hause gegangen warst.‘

(36) ENG

They decided it would have to be done by poor old me. ,Sie beschlossen, dass es durch mich armen Alten getan werden musste.‘

Im Deutschen sind Konstruktionen zum Personalpronomen der 3. Person wie in (37) selten, aber nicht ungrammatisch. Sie stellen in erster Linie ein Stilmittel der indirekten oder erlebten Rede dar (vgl. dazu Canisius 2006): (37)

Und Peter Schneider beteuert, was für ein vorbildlicher Demokrat aus ihm altem 68er doch noch geworden sei. (die tageszeitung, 14.08.2002)

Wir analysieren die Verbindungen des Typs ,Personalpronomen + N/NOM‘ als Erweiterung des Pronomens durch eine „enge Apposition“ bzw. ein „Erweiterungsnominale“ (im Sinne der IDS-Grammatik 1997: 2043–2047, vgl. auch Warscher 2007), d. h. eine nicht prosodisch oder orthographisch abgetrennte Erweiterung, wo sprachabhängig möglich, im gleichen Kasus. Das Pronomen ist Kopf der Konstruktion, wie die Person-Numerus-Kongruenz mit dem Finitum in (27)–(30) zeigt. Für das Englische nehmen Huddleston/Pullum (2002: 419) eine Analyse als Determinativ (we) + Nomen (Irish) an und folgen damit Postal (1969: 219).  

Postals Analyse ist Teil eines generellen Plädoyers für eine Kategorisierung so genannter Pronomina als Determinative im Rahmen eines frühen transformationsgrammatischen Ansatzes. Er argumentiert in diesem speziellen Fall auch mit der angeblich restriktiven Lesart des Erweiterungsnominals in Beispielen wie: (38) ENG

We troops will embark but the other troops will remain. ,Wir Truppen werden einschiffen, aber die anderen Truppen werden bleiben.‘

(39) ENG

Let us three men leave first. ,Lasst uns drei Männer zuerst gehen.‘

Dem ist entgegenzuhalten, dass die Extension von we, die immer eine kontextspezifisch festzulegende Gruppe unter Einschluss des Sprechers ist, durch das Erweiterungsnominal nicht beschränkt, sondern nur in ihrem Umfang verdeutlicht wird. Die Erweiterung ist also nichtrestriktiv. Entsprechendes gilt auch für Verbindungen mit einem Relativsatz wie in den von Postal angeführten Beispielen: (40) ENG

you men who wish to escape ,ihr Männer, die entkommen wollen‘

548

B Wort und Wortklassen

(41) ENG

we Americans who have been struggling here ,wir Amerikaner, die hier gekämpft haben‘

Postals Vorschlag wurde im Rahmen der DP-Analyse wieder aufgegriffen: Pronomina, auch die nur-selbstständigen wie die Personalia der 1. und 2. Person, werden der Kategorie D (determiner) zugeordnet. Bilden sie – gemäß diesem Ansatz – ohne NP-Komplement eine DP (wie bei den Personalia im Normalfall), so sind sie „intransitive determiners“ (Abney 1987: 284), kommen sie dagegen wie in (38)–(41) mit einem solchen Komplement vor, sind sie „transitive determiners“. Auch für das Deutsche wurde entsprechend eine Analyse als Determinative bzw. „Determinantien“ vorgeschlagen, vgl. Rauh (2003). Gegen diese Analyse spricht u. a., dass echte Determinative im Deutschen notwendig nicht nur im Kasus, sondern auch in Genus und Numerus mit dem Substantiv, für das wir Kopfstatus in der NP annehmen, kongruieren. Für pronominale NPs mit einem Personalpronomen der 1. und 2. Person besteht keine Genus-/Numeruskongruenz mit dem NOM-Ausdruck: du ängstliches Huhn/ängstliche Pute/ängstlicher Hinterbänkler. Genau so verhalten sich aber enge (und auch lockere) Appositionen: die Rasse westfälisches Hausschwein/ deutscher Schäferhund.  





In manchen Fällen ist die Konstruktion nur prosodisch bzw. durch die Interpunktion von einer entsprechenden lockeren Apposition zu unterscheiden: (24’)

Wir, Männer, gehen jetzt.

(34’) ENG

you, lucky bastards, …

Im Deutschen allerdings sind Adjektive, allein oder gefolgt von einem Substantiv, bei der engen Apposition häufig, aber nur unter bestimmten Bedingungen schwach flektiert, bei der lockeren hingegen immer stark (vgl. Kubczak 2008): wir Deutsche(n) – wir deutsche(n) Steuerzahler versus wir, Deutsche, – wir, deutsche Steuerzahler, uns Deutsche (AKK ) – uns deutsche Steuerzahler (AKK ) versus uns, Deutsche, (AKK ) – uns, deutsche Steuerzahler, (AKK )  









Erweiterung durch Adjektive

Nur adjektivisch, nicht durch Nominalsyntagmen, können Indefinita im weiteren Sinne (einschließlich Interrogativa und Quantifikativa) erweitert werden wie in: (42) DEU ENG POL UNG

etwas Schönes, nichts Neues, jemand anderer, alles Gute something nice, nothing new, (somebody else), everything good coś piȩknego, nic nowego, ktoś inny, wszystko dobre valami szép, semmi új, valaki más, minden jó

B1 Wortklassen

549

Im Deutschen bestehen bei der Flexion des Adjektivs bei den personenbezogenen jemand, niemand und wer Unsicherheiten (→ B1.5.5.2.2, → B1.5.5.3.2); die Konstruktion wird daher eher gemieden. In der Duden-Grammatik (2009: 998–1000) wird hier von substantivierten Adjektiven ausgegangen (daher auch die normativ vorgegebene Großschreibung). Die Beschränkung auf Adjektive, die sprachübergreifend gilt, also der Ausschluss von Substantiven bzw. Elementen der Kategorie NOM, spricht jedoch eher gegen Substantivierung: Warum sollten Adjektive in eine Kategorie, nämlich die des Substantivs, überführt werden, deren genuine Elemente gerade nicht an dieser Stelle erscheinen können? Bei den Adpronomina (wie alles, einiges) wird das Adjektiv schwach flektiert. Im Französischen wird das Adjektiv im Allgemeinen mit de angeschlossen, die frühere „direkte“ Konstruktion mit dem Adjektiv überlebt vor allem noch bei personne autre ,niemand anderes‘, rien autre ,nichts anderes‘ (Grevisse/Goosse 2011: 467): (43) FRA

quelque chose de beau ,etwas Schönes‘, rien de nouveau ,nichts Neues‘, quelqu’un d’autre ,jemand anderes‘, tout de bon ,alles Gute‘

Auch im Polnischen wird unter gewissen Bedingungen das Adjektiv „possessiv“ angeschlossen, und zwar wird bei den non-personalen co ,was‘, coś ,etwas‘ und nic ‚nichts‘ in den direkten Kasus (NOM , AKK ) das Adjektiv in den Genitiv gesetzt. In den indirekten Kasus kongruiert hingegen das Adjektiv mit dem Pronomen; bei den personalen kto ,wer‘, ktoś ,jemand‘ und nikt ,niemand‘ herrscht durchgehend Kongruenz (Swan 2002: 160, 163): (44) POL

coś piȩknego ,etwas Schönes‘ (NOM /AKK + GEN ), czym piȩknym (INS + INS ), ktoś piȩkny ,jemand Schönes‘ (NOM + NOM ), kim piȩknym (INS + INS )

Man vergleiche die Beispiele und Belege zum Deutschen und Englischen: (45)

Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Wer anderer könnte das getan haben? Gestern haben wir jemand(en) Netten getroffen.

(46) ENG

There is nothing new under the sun. ,Es gibt nichts Neues unter der Sonne.‘

(47) ENG

Sarah’s going out with someone nice […] ,Sarah geht mit jemandem Netten aus […].‘ (BNC, conversations)

(48) ENG

Everything good about this whole horrific mess, he’s given me. ,Alles Gute an diesem ganzen schrecklichen Durcheinander hat er mir gegeben.‘ (BNC)

550

B Wort und Wortklassen

Im Unterschied zur Erweiterung der Personalpronomina der 1. und 2. Person sind diese Erweiterungen der Indefinita restriktiv.  



Erweiterung durch Adverbien

Adverbien können in allen Vergleichssprachen dem Pronomen (einer beliebigen Subklasse) postponiert werden. Zentral sind dabei lokaldeiktische Adverbien wie in: (49) DEU ENG FRA POL UNG

wir hier, ihr dort, etwas da oben we here, you there, something up there nous ici, vous là, quelque chose là-haut my tutaj, wy tam, coś tam w górze / na górze / u góry (die unterschiedlichen Präpositionen drücken unterschiedliche Lokalverhältnisse aus) mi itt, ti ott, valami ott fent

Die Affinität zwischen (deiktischem) Pronomen und lokaldeiktischen Adverbien zeigt sich im Französischen in den festen Verbindungen mit den Demonstrativa FRA celui-ci, celui-là. Man vergleiche auch SWE den här ,der hier‘, den där ,der da‘, eine Verbindung, die auch determinativisch gebraucht werden kann, vgl. → B1.2. Die Indefinita werden häufig mit dem Adverb DEU sonst, ENG else verbunden: DEU jemand/nichts sonst, ENG someone/nothing else. Im Französischen erscheint hier das Adjektiv autre bzw. die Verbindung d’autre (vgl. oben), auch im Polnischen und Ungarischen wird das Adjektiv ,anderer‘ gebraucht (POL inny, UNG más). Die Kookkurrenz mit anderen Adverbklassen ist stark beschränkt; temporale Adverbien sind z. B. ausgeschlossen: *wir/*jemand/*etwas gestern.  





Erweiterung durch (nicht-possessive) Adpositionalphrasen (bzw. semantische Kasus im Ungarischen)

Auch bei der (immer postnuklearen) Erweiterung durch Adpositionalphrasen überwiegen lokale (inklusive ablativische) Bestimmungen; daneben sind komitative oder finale üblich: (50) DEU ENG FRA

wir in Europa, jemand von drüben, nichts auf dieser Erde; jemand mit einer großen Tasche, etwas für uns we in Europe, someone from over there, nothing on this earth; someone with a big bag, something for us nous en Europe, quelqu’un de là-bas, rien sur cette terre; quelqu’un avec un grand sac, quelque chose pour nous

551

B1 Wortklassen

POL UNG –

my w Europie, nic na tej ziemi, ktoś z dużą torbą mi Európában, semmi ezen a földön, valaki nagy táskával

Erweiterung durch possessive Attribute

Referentiell-verankernde possessive Attribute, also Possessorattribute, sind ausgeschlossen – ebenso selbstverständlich auch possessive Argumente sowie klassifikatorische possessive Phrasen. In der Funktion von qualitativen Modifikatoren können bei Indefinita und Quantifikativa possessive Phrasen erscheinen, im Polnischen ist das wie bei substantivischem Kopf nur eingeschränkt möglich (→ D3.11.2.1), die ungarischen Entsprechungen derartiger Phrasen sind mit Adjektivierung des Substantivs (bzw. der substantivischen NP) konstruiert.  

(51) DEU ENG FRA POL UNG

etwas dieser Art, nichts von Bedeutung, jemand von hohem Rang something of this kind, nothing of importance, someone of high rank quelque chose de cette sorte, rien d’ importance, quelqu’un de rang supérieur ktoś wysokiej rangi EN Rang.GEN jemand hoch.GGEN magas rangú valaki jemand hoch Rang.ADJ ‚jemand von hohem Rang‘

Ebenfalls bei Indefinita und Quantifikativa erscheinen partitive possessive Attribute. Im Polnischen ist wie in der NP ein definites Determinativ (z. B. ein Demonstrativum oder Possessivum) beim possessiven Attribut notwendig, wenn ein partitives (nicht pseudo-partitives) Verhältnis ausgedrückt werden soll:  

(52) DEU ENG FRA POL UNG

nichts davon, einige dieser Leute none of that, some of these people rien de cela, quelques uns de ces gens nic z tego, kilku spośród tych ludzi ebből semmi, ezek közül az emberek közül néhány/néhányon

Abschließend kann festgehalten werden, dass, wie bereits deutlich wurde, die Möglichkeit einer restriktiven Erweiterung vom Phrasenkopf abhängig ist: Die Personalia lassen keine restriktive Erweiterung zu; die übrigen Subklassen sehr wohl, z. B. in Form von restriktiven Relativsätzen (vgl. (21c)). Zur Erweiterung durch Relativsätze → D6.3.  



552

B Wort und Wortklassen

B1.5.2 Personalpronomina B1.5.2.1 Funktionale und typologische Charakterisierung In diesem Abschnitt wird die interne Struktur der Kategorie Personalpronomen thematisiert; außerdem werden die Parametrisierungen für ‚Person‘, ‚Numerus‘, ‚Genus‘ und ‚Kasus‘ umrissen. Diese Gesichtspunkte werden nicht als eigene Varianzparameter ausgegliedert. Dazu sei auf den Überblick (→ B1.5.1.3.4 bis B1.5.1.3.6) zurückverwiesen. Als eigene Varianzparameter werden für das Personalpronomen spezifische Aspekte herangezogen wie ‚Distanzform‘, ,Pro-Drop‘ usw. In der traditionellen Grammatik werden die Personalpronomina der 1., 2. und 3. Person unterschieden. Dabei wird die Kategorisierung ‚Person‘, die für die flektierten Verbformen gilt bzw. in historischen Sprachstufen jeweils Geltung hatte, auf die nominale Kategorie ‚Pronomen‘ übertragen. Dies geht auf die Kongruenz zwischen dem pronominalen Subjekt und dem verbalen Prädikat zurück: Vgl. ich komme – du kommst – er/sie/es kommt. Wie das finite Verb nach der Person flektiere, so flektiere auch das Personalpronomen nach Person (und Numerus). Diese traditionelle Sehweise steht nicht unbedingt im Einklang mit dem semantischen und funktionalen Befund (vgl. auch Wiese 1994: 172). Es ist eher davon auszugehen, dass die Pronomina der drei Personen jeweils eigene Wortbedeutungen haben und damit jeweils eigene Lexeme konstituieren. (Zum Status der Numerus- und Genusdistinktion vgl. weiter unten.) Funktional gehören ich/wir und du/ihr eng zusammen. Sie dienen der deiktischen Bezugnahme auf die beiden kommunikativen Rollen: den jeweils aktuellen Sprecher bzw. die den Sprecher einschließende Personengruppe und den jeweils aktuellen Hörer (den/die Rezipienten bzw. die Rezipientengruppe). Hier ist also von ‚Persondeixis‘ zu sprechen, die die beiden Paradigmen der Sprecher- und der Hörerdeixis enthält (IDS-Grammatik 1997: 39). Alternativ gebrauchen wir auch den Terminus ,Kommunikantenpronomen‘. Persondeiktische Ausdrücke nehmen den höchsten Hierarchieplatz in der ,Allgemeinen Nominalhierarchie‘ bzw. ‚Erweiterten Belebtheitshierarchie‘ (i) (→ B1.1.5) ein. Pronomina der 1. und 2. Person drücken deiktische Nähe, Bezug auf ein menschliches Denotat und Definitheit aus und genügen somit den Teilparametern der Nominalhierarchie ebenso wie der Definitheitshierarchie im höchstmöglichen Grad. In Hierarchie (i) werden Sprecher und Hörer-Pronomina nicht hierarchisch unterschieden. Es gibt jedoch schwache Evidenz aus dem Bereich der Numerusdistinktion für eine höhere Position des Sprecherpronomens (Corbett 2000: 64–66) – allerdings außerhalb der europäischen Vergleichssprachen. Demnach wäre die Personen-Teilhierarchie (i.1) so zu modifizieren:  







(i.1’) 1. Person > 2. Person > 3. Person (vgl. ebd.: 56)

553

B1 Wortklassen

er/sie/es ist weder deiktisch noch personal. Es handelt sich zwar um die allgemeinste Proform für die kommunikative Rolle des Besprochenen; auf das Besprochene wird deiktisch jedoch z. B. mit dieser – jener verwiesen, vgl. → B1.2.2.1. er/sie/es und seine Äquivalente gehen in den indoeuropäischen Sprachen zwar auf Demonstrativa (Objektdeixis) zurück, sind aber ihres deiktischen Gehaltes entkleidet und haben rein phorische Funktion: Sie dienen der Anzeige kontinuierlicher Orientierung an bereits eingeführten oder präsenten Gegenständen (IDS-Grammatik 1997: 37), sie greifen also Referenten auf, die bereits (in salienter Weise) kontextuell verfügbar sind (vgl. auch Wiese 1983).  



Auch die Formen des selbstständigen Demonstrativums der/die/das können vergleichbar gebraucht werden. Beide Pronomina-Typen scheinen demnach eine komplementäre Rolle als „NPAnaphern“ zu haben (vgl. Weinert 2007; Murelli 2008). Daraus soll aber in unserem Kontext nicht folgen, dass der/die/das (auch) ein Personalpronomen „ist“.

Phorische Orientierung bedeutet nicht in jedem Fall Referenzidentität in einem engeren Sinne. Neben der „strikten Anapher“ wie in (1) lassen Personalpronomina der 3. Person in der Regel auch die „Sinnanapher“ („identity of sense anaphora“, Lyons 1999: 28) wie in (2) zu:  

(1)

Eva hat an der Englischprüfung gestern teilgenommen. Fritz hat sie verpasst.

(2)

Eva hat dieses Jahr an der Englischprüfung teilgenommen. Fritz hat sie letztes Jahr schon abgelegt.

Außerdem ist zu beachten, dass auch Nominale, die einen Negator enthalten wie niemand, kein Mensch, keine Frau in Westeuropa, durch ein Personalpronomen wieder aufgegriffen werden können. Auch hier kann, zumindest prima facie, nicht von Referenzidentität gesprochen werden, da solche Ausdrücke ja gerade die Existenz einer Entität, auf die ein gegebener Sachverhalt zutreffen könnte, in Abrede stellen. Am ehesten ist phorische Orientierung in solchen Fällen über das Konzept der Variablenbindung in der Logik zu erklären. In der Umschreibung (3b) zu (3a) kommt die Variable x, die durch den Quantor $ ,es gibt‘ gebunden ist, zweimal vor; das zweite Vorkommen entspricht dem natürlichsprachlichen ,er‘: (3)

a. Niemand glaubt gern, dass er Fehler macht. b. Ø $ x (x glaubt gern, dass x Fehler macht). (3b) besagt, dass es (im gegebenen Objektbereich) kein Individuum ai, das als Wert der Variablen x gewählt wird, gibt, das gerne glaubt, dass ai Fehler macht. Wählen wir z. B. Hans als eines der Individuen dieses Objektbereichs aus, so wird – sollte (3a) eine wahre Aussage sein – auch Hans nicht gern glauben dürfen, dass er selbst Fehler macht. Erst auf dieser Ebene, wo es um den Bezug auf Einzelentitäten geht, kann dann die Rede von Referenzidentität wieder Sinn machen.  







Anaphorischer Bezug auf andere Quantifikatoren erfolgt in analoger Weise, man vergleiche etwa: (3)

a’. Jeder glaubt ungern, dass er Fehler macht.

554

B Wort und Wortklassen

Auch bei pluralischen Nominalphrasen ist phorische Orientierung komplexerer Natur als etwa bei Eigennamen oder singularischen Kennzeichnungen; so hat (4) mehrere Lesarten: (4)

Die Mitarbeiter wissen, dass sie erfolgreich sind. a. ‚Mitarbeiter a weiß, dass er selbst erfolgreich ist, usw. für alle Mitglieder der Gruppe.‘ b. ‚Mitarbeiter a weiß, dass er und die anderen Mitglieder der Gruppe (jeweils als Individuen) erfolgreich sind, usw. für alle Mitglieder der Gruppe.‘ c. ‚Die Mitarbeiter wissen, dass die Gruppe insgesamt erfolgreich ist.‘

Für die Interpretation von sie spielt hier somit eine wesentliche Rolle, dass bei distributiven und gemischten Prädikaten (vgl. IDS-Grammatik 1997: 2054) wie erfolgreich sein, vom Zutreffen des Prädikats auf die ganze Gruppe auf sein Zutreffen auf einzelne Mitglieder der Vielheit geschlossen werden kann, vgl. → A5.4. Durch die ObersatzUntersatz-Konstellation kommt außerdem der Variablen-Bindungseffekt hinzu, der den Unterschied zwischen (4a) und (4b) erklärt. In (4a) liegt im logischen Sinne einfache Allquantifikation über Individuen vor; (4b) kann als Referenzidentität zwischen der Vielheit erklärt werden, wobei in beiden Teilsätzen das Pluralprädikat distributiv interpretiert, also auf die Individuen „heruntergerechnet“ wird. (4c) repräsentiert den Fall, in dem das Prädikat des Untersatzes nicht auf die einzelnen Individuen „heruntergerechnet“ wird (vgl. auch Higginbotham 1983; Montalbetti 1986: 141). Zusammenfassend wollen wir aber auch in den genannten Fällen, wenn kein Differenzierungsbedarf besteht, von ‚Referenzidentität‘ (im weiteren Sinne) sprechen. In Sprachen mit einer Genusdifferenzierung für die Substantive (Deutsch, viele weitere europäische Sprachen), die sich unbeschadet einer möglichen Fundierung in der Sexusdifferenzierung auf alle Substantive, also Personenbezeichnungen, nichtpersonale Konkreta und Abstrakta, bezieht, sind auch die Äquivalente von er/sie/es nicht personal; die Bezeichnung ,Personalpronomen‘ ist hier anders als bei der Sprecher- und der Hörerdeixis nicht treffend. Die Äquivalente von er/sie/es stimmen im Genus mit dem Bezugswort überein. Eine funktional angemessene Bezeichnung ist daher ‚Anapher‘ (IDS-Grammatik 1997: 37), ein Terminus, der in generativem Rahmen für die durch Antezedentien gebundenen Pronomina, also Reflexiva, Reziproka, reflexive Possessiva verwendet wird. Es gibt jedoch auch gute Gründe, Persondeixis und Anapher in der tradierten Kategorie ‚Personalpronomen‘ zusammenzufassen: Nur Personalpronomina sind von dem Pro-Drop-Phänomen betroffen. Dabei handelt es sich um die in bestimmten Sprachen (bei europäischen Sprachen z. B. im Spanischen, Italienischen, Polnischen; in außereuropäischen Sprachen weit verbreitet) gegebene syntaktische Möglichkeit der „Einsparung“ des Subjekt-Personalpronomens – gelegentlich, siehe zum Ungarischen, auch des Objekt-Personalpronomens. Bei der Di 



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B1 Wortklassen

mension ‚Pro-Drop‘ handelt es sich um einen ganz zentralen Parameter der Varianz, dessen Belegung mit anderen Eigenschaften korreliert. Diese Erscheinung verweist auf eine funktionale Gemeinsamkeit zwischen den deiktischen und den (ana)phorischen Pronomina, die über die Belegung der hierarchisch geordneten Merkmale [+/–Kommunikant], [+/–Adressat] zu erfassen ist, s. Abbildung 1.

Abb. 1: Hierarchie der Personalpronomina  

Die Sprecherdeixis ist definiert durch [+Kommunikant], [–Adressat], die Hörerdeixis durch [+Kommunikant], [+Adressat]. Die Anapher ist funktional nur [–Kommunikant]. Da sie somit keine eigene deiktische Komponente hat, ist sie allein durch phorische (ko-textuelle) Bezüge interpretierbar. Dem Status als funktional rein negativ bestimmte Kategorie entspricht, dass Anaphern im Gegensatz zu dem fast universalen Vorkommen der Persondeixis in manchen Sprachengruppen (u. a. Sioux, Irokesisch) absent sind. Bybee (1985: 54) spricht sogar von einer Tendenz von Sprachen „not to have real pronominal forms for the 3s“. Auch unter morphologisch-syntaktischem Gesichtspunkt wird die 3. Person in der Regel als „minimal markierte“ betrachtet (Fries 1999: 67). Zu beachten ist auch das Verhältnis zwischen der Verbalmorphologie und den Personalpronomina: Die 3. Person des Verbs wird z. B. bei Kuryłowicz (1964: 148 f.) als „neutrale“ Form, die 1. als positives Glied der Opposition, die 2. als negatives betrachtet; vgl. auch Eisenberg (2013a: 179–182) und zu diesem Komplex Cysouw (2001). Andererseits existiert aber auch eine funktionale Opposition zwischen dem Sprecher und dem „Rest der Welt“. In dieser Perspektive gehört der Hörer zusammen mit dem Besprochenen zu der externen, dem Sprecher gegenüber stehenden Realität. Eine Aufhebung der Distinktion zwischen 2. und 3. Person in einer Kategorie ,Nicht-Sprecher‘ ist daher denkbar und in den Sprachen der Welt realisiert, nicht aber eine Aufhebung der Distinktion zwischen 1. und 2. Person in einer „nicht-natürlichen“ Kategorie ,Kommunikant‘. Ein möglicher Varianzparameter im Hinblick auf die Personunterscheidung ist also die Neutralisation der Distinktion zwischen 2. und 3. Person. Diese trifft auf die  









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B Wort und Wortklassen

europäischen Sprachen nicht zu. Interessant ist jedoch die Grammatikalisierung der 3. Person Plural (Sie) – früher auch der 3. Person Singular er/sie – als Distanzform der Hörerdeixis im Deutschen. Manche Sprachen verfügen über ein spezielles Pronomen zur generischen Bezugnahme auf Personen, ENG one, FRA on, DEU und DÄN/NOR/SWE man, NDL men. Diese werden neuerdings als „generisches Pronomen“ (Haspelmath 1997: 12) eingeordnet, nicht mehr wie traditionell als Indefinitpronomen. Damit wird herausgestellt, dass ihre primäre Funktion in der verallgemeinernden Bezugnahme auf „alle einschlägigen Personen“ besteht, oft auch unter Einschluss von Sprecher und Hörer, also unter Aufhebung der Persondifferenzierung im Denotatbereich. Wir folgen dieser Zuordnung und gehen im Rahmen des Parameters ‚generischer Bezug‘ auf die unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten für die generische pronominale Bezugnahme in den Vergleichssprachen ein. Der Plural der Sprecherdeixis ‚ich und andere‘ bezieht, außer im Grenzfall einer echten Gruppe von Sprechern (Fall ‚mono‘), notwendig den/die Adressaten oder den/ die besprochenen Personen (Fälle ‚duplex‘) ein. Schließlich kann mit ‚wir‘ auch eine Gruppe aus Sprecher, Hörer und besprochenen Personen gemeint sein (Fall ‚triplex‘). Es wurde debattiert, ob somit ‚wir‘ überhaupt als Plural zu ‚ich‘ betrachtet werden kann, oder auch ‚ihr‘ als Plural von ‚du‘ (mit ‚mono‘: Adressatengruppe und ‚duplex‘: Hörer + besprochene Personen). Der Vorschlag, hier von einem ‚assoziativen Plural‘ auszugehen – ähnlich wie etwa bei den ungarischen assoziativen Pluralen bei Eigennamen (UNG János-ék ‚János und seine Familie / seine Kumpels‘) und Verwandtschaftsbezeichnungen (→ B2.3.3.2) – ist nicht recht vereinbar mit der ‚mono‘-Deutung und führt, wie Corbett (2000: 102–105) zeigt, zu Problemen im Hinblick auf die Numerushierarchie. Fasst man jedoch die Wortbedeutung von ,ich‘ als ‚Menge der Objekte, die den Sprecher der Äußerung notwendig einschließt‘, so ergeben sich die korrekten Deutungen für ‚ich‘ und ‚wir‘ über die gewöhnliche Numerusopposition: Einzelindividuum versus Vielheit von Individuen (Wiese 1994: 171); Analoges gilt für du. Es ist ein gemeinsames Merkmal der europäischen Sprachen, dass die Wortbedeutung von ich und du so schwach beschränkt ist, somit keine Unterscheidung zwischen ‚inklusivem‘ ‚wir‘, also ‚ich + Adressat(en)‘, und ‚exklusivem‘ ‚wir‘, also ‚ich + besprochene Person(en)‘ gemacht wird. In afrikanischen, ozeanischen und amerikanischen Sprachen ist vor allem die ‚inklusiv‘-‚exklusiv‘-Unterscheidung geläufig. Auch für den Plural der Hörerdeixis ist eine ‚mono‘-‚duplex‘-Unterscheidung möglich, jedoch in den europäischen Sprachen nicht realisiert:  









557

B1 Wortklassen

Tab. 2: Inklusive und exklusive Plurale bei den Personalia 1. Person Plural ‚wir‘

mehrere Sprecher: Sprecher + Hörer: 1. Person 1. + 2. Person mono duplex-inklusiv

2. Person Plural ‚ihr‘

Sprecher + besprochene Person(en): 1. + 3. Person duplex-exklusiv

Mehrere Hörer: 2. Person mono

Sprecher + Hörer + besprochene Person(en): 1. + 2. + 3. Person triplex

Hörer + besprochene Person(en): 2. + 3. Person duplex

3. Person Plural ‚sie‘

mehrere besprochene Personen: 3. Person mono

Die Tabelle 2 zeigt, dass bei der Bezeichnung von Fusionen zwischen den Denotaten der drei Personen wieder die Hierarchie (i') gilt: 1. Person > 2. Person > 3. Person. Wo immer eine 1. Person mitgemeint ist, wird ‚wir‘ gebraucht, sonst, wo eine 2. Person mitgemeint ist, ‚ihr‘. Diese Hierarchie ist häufig (z. B. im Deutschen, Englischen) auch bei Koordinationen wirksam, vgl. (5).  



(5)

a. Ich und du, wir sind . . . b. Ich und er/Hans, wir sind . . . c. Du und er/Hans, ihr seid . . .  











Hinsichtlich der Numeruskategorie Dual (→ B2.3.1) gilt folgende Hierarchie der Personen: 3. Person > 2. Person > 1. Person. Lexikalisch findet die Beschränkung auf genau zwei Gegenstände Niederschlag in dem Quantifikativum DEU beide, das Parallelen in weiteren germanischen Sprachen hat. Eigene Pronomina für Dreier-, Vierergruppen usw. (Trial, Quadral) sind selten und in den europäischen Sprachen nicht bezeugt.  

Bereits in → B1.5.1.8 wurde auf ENG you hingewiesen, das eine numerusambivalente Form darstellt und damit in gewissem Widerspruch zur Belebtheitshierarchie steht. Es handelt sich hier um den Zusammenfall ursprünglich differenzierter Formen in der Sprachentwicklung. you ist im Alt- und Mittelenglischen die Akkusativform des Plurals, die zunächst ab ca. 1300 auch den Nominativ Plural (ye) und ab dem 14. Jahrhundert auch den Akkusativ (thee) sowie den Nominativ (thou) des Singular ersetzte. (Die Angaben beruhen auf dem OED, die Formen weisen verschiedene Allographen auf, die hier nicht berücksichtigt werden.) Das Motiv für diese Entwicklung ist der Gebrauch des Plurals als Höflichkeitsform (vgl. auch ihr in der höflichen Anrede einer Person im älteren Deutsch). Nach Corbett (2000: 69) gilt nun aber, dass „a new plural is gaining ground“ mit Formen wie you all/y’all, you guys, you’uns und yous und somit die Gültigkeit der Belebtheitshierarchie durch den Versuch ihrer Wiederherstellung eine gewisse Bestätigung erfährt. Nach Biber et al. (2006: 330) ist you all/y’all besonders verbreitet; yous wird als dialektal eingestuft.  

558

B Wort und Wortklassen

(6) ENG

We sat there drinking hot chocolate and watching the clouds scrape raggedly past. […] ‚Y’all should see this place in the fall‘, Ms Higgins apologised. ,Wir saßen da, tranken Schokolade und beobachteten, wie die Wolken ausgefranst vorbeizogen. […] „Ihr solltet diesen Ort im Herbst sehen“, sage Ms. Higgins entschuldigend.‘ (BNC: A3P)

(7) ENG

‚William‘, he said, ‚yous’ll have to get yer hands dirty today. You don’t mind a bit of muck and earth, I don’t s’pose?‘ ,„William“, sagte er, „ihr müsst heute eure Hände schmutzig machen. Ein bisschen Mist und Erde macht euch doch nichts aus; ich nehm‘s nicht an.“‘ (BNC: CAB)

Die Anapher (3. Person) weist universal gesehen häufig eine Genusdifferenzierung auf. Die Genuskategorien der 3. Person des Personalpronomens sind in allen Vergleichssprachen mindestens so stark gegliedert wie die der anderen Nominale, meist aber stärker (siehe Parameter: Genus in → B1.5.1.7; vgl. insbesondere zu den germanischen Sprachen). Die Persondeixis ist seltener genusdifferenziert, wobei insgesamt folgende Hierarchie anzusetzen ist: 3. Person > 2. Person > 1. Person. Aber auch der Numerus spielt eine Rolle. In den meisten germanischen Sprachen ist nur die 3. Person Singular genusdifferenziert, im Französischen die 3. Person Singular und Plural, im Spanischen die 3. Person Singular und – zumindest im europäischen Spanisch – der Nominativ Plural aller Personen (nosotros/as ‚wir‘, vosotros/as ‚ihr‘, ellos/ellas ‚sie‘). Das klassische Arabisch kennt Genusdifferenzierungen für die 2. und die 3. Person in beiden Numeri, während eine Genusunterscheidung auch für die 1. Person Singular nur bei einigen arabischen Dialekten bekannt ist. Wie in → B1.5.1.7 zu Fall 1 ausgeführt, haben in den Vergleichssprachen (bis auf das Ungarische) die konkreten Genera [männlich], [weiblich], [–personal] als Interpretationen der genusdifferenzierten Personalia Gültigkeit, wenn auch in unterschiedlichem Maß. Die (abstrakten) Genusdifferenzierungen der Anapher sind insbesondere syntaktisch bedeutsam, da sie die Genusdifferenzierungen des BezugsNomens widerspiegeln müssen oder können (vgl. Parameter ‚Syntax der anaphorischen Bezugnahme‘). Eine besondere Funktion kann die 3. Person im „neutralen“ Genus (oder einer entsprechenden Kategorie) haben, weil über sie phorische Referenz auf Sachverhalte oder Ereignisse und andere ‚abstrakte Objekte‘ geleistet wird (Die Sonne schien. Aber er bemerkte es nicht.) und weil über sie – ohne eigentliche Referenzfunktion oder mit nur unscharfer Referenz – „unpersönlich“ konstruiert werden kann (DEU es regnet, FRA il pleut). Das Spektrum unterschiedlicher Bedingungen und Ausdrucksmöglichkeiten in den einzelnen Sprachen ist hier groß und in charakteristischer Weise gebündelt. Es sind daher die beiden Varianzparameter ‚Referenz auf abstrakte Objekte‘ und ‚schwach referentielle Verwendungen des neutralen Personalpronomens‘ anzusetzen. Vor allem die Hörerdeixis kann unter dem Gesichtspunkt der sozialen Distanz (zwischen Sprecher und Hörer) subkategorisiert werden. In vielen europäischen Spra 











559

B1 Wortklassen

chen ist eine binäre Differenzierung in eine ‚Näheform‘ und eine ‚Distanzform‘ üblich. Ein Parameter der Varianz ist die Herkunft der Distanzform: Sie beruht häufig – nach Hagège (1995: 114 ff.) in über der Hälfte der natürlichen Sprachen – auf einer Variation im Bereich der Personalpronomina, z. B. auf der Gebrauchsausdehnung einer Näheform der 1. oder 2. Person (vgl. z. B. die französische Pluralform vous), oder auf einer Umfunktionalisierung der 3. Person (vgl. im Deutschen des 17.–19. Jahrhunderts er/ sie, ab dem 18. Jahrhundert die Pluralform Sie, im Italienischen mit Numerusunterscheidung die Formen Lei zum Femininum der 3. Person und – allerdings wenig gebräuchlich – Loro zum Plural der 3. Person). Seltener stellt die Distanzform wie beim SPA usted eine genuine Form oder wie beim POL pan/pani ‚Herr/Frau‘ eine umfunktionierte substantivische Form dar. Die unterschiedliche Herkunft hat in den Sprachen auch heute noch Auswirkungen in der Kongruenz mit syntaktischen Nachbarn, z. B. dem Finitum (DEU Sie kommen vs. FRA Vous venez); vgl. dazu den Parameter ‚Distanzform‘. Distanzformen für die Sprecherdeixis oder die Anapher sind in den europäischen Sprachen nicht üblich, nur im Rumänischen werden für Dritte, vor allem in deren Anwesenheit, die Verbindungen dumnealui/dumneaei (Singular M / F ), dumnealor (Plural) gebraucht (vgl. GALR I 2005: 213), wörtlich ,seine/ihre Herrschaft‘, vgl. die Anredeformen Ihre Majestät, your Excellency usw. Bemerkenswert ist auch, dass im Türkischen bei Bezugnahme auf eine Person von hohem sozialem Status Titel oder Berufsbezeichnungen nicht nur in der Anrede und in Kombination mit dem Namen gebraucht werden, sondern auch beim anaphorischen Bezug. Diesen insgesamt recht beschränkten Möglichkeiten der europäischen Sprachen stehen die differenzierten Systeme honorativer Adressaten- und Selbstbezeichnungen z. B. im Japanischen gegenüber. Für die Morphologie der Personalpronomina ist häufig eine Formenheterogenität (Suppletivformen) charakteristisch; sie geht in den indoeuropäischen Sprachen auf die Herkunft aus zwei verschiedenen Stämmen zurück: Für den Nominativ der 1. Person existierte z. B. eine als *egō/*eg(h)om rekonstruierte Form (LAT ego), für die obliquen Kasus war m- die Basis; der Genitiv ist häufig eine sekundäre Bildung zum Possessivum. Diese Unterscheidung zwischen Nominativ (Subjektivus) und Objektkasus (Objektivus) ist auch noch in einer Sprache wie dem Englischen erhalten, die bei den Nomina eine solche Kasusunterscheidung nicht kennt. (Häufig wird der Genitiv (Possessivus), vgl. ENG his/her/its, als weitere Kasusform zugeordnet.) Auch die Pluralformen der Kommunikantenpronomina beruhen in den indoeuropäischen Vergleichssprachen auf Suppletion (vgl. ich – wir, du – ihr). Zu diesem Themenkomplex auch → C3.2 und → C4.3.1. Beim anaphorischen Personalpronomen finden sich in den germanischen Sprachen neben den Formen, die auf einen i-Stamm zurückgehen (DEU er/es), Formen zu einem Stamm si-, wobei die Verteilung der beiden Stämme in den germanischen Sprachen unterschiedlich ist. Im Deutschen liegt der si-Stamm den NOM / AKK -Formen im F und PL zugrunde; vgl. Paul (1917: 178).  





























560

B Wort und Wortklassen

Universal sind die Personalpronomina unter allen Nominalen diejenigen Formen, die am zugänglichsten für eine Kasusdifferenzierung sind. D. h., wenn eine Sprache überhaupt Kasusunterscheidungen macht, dann sind mit Sicherheit nach Maßgabe der Allgemeinen Nominalhierarchie (i) die Personalpronomina betroffen. Für das Deutsche wurde in → B1.5.1.6 darauf hingewiesen, dass nur die pronominale Flexion – und zwar nur bei den maskulinen Singularformen – alle vier Kasus formal unterscheidet. Speziell bei den Personalia zeigen die hierarchiehöheren Kommunikantenpronomina im Singular keinen Kasussynkretismus (ich – mich – mir – meiner/ du – dich – dir – deiner), ebenso, wie sich aus der generellen Systematik ergibt, die maskulinen Formen der Anapher, während bei der neutralen Form es der Nominativ und Akkusativ wie generell bei den indoeuropäischen Neutra zusammenfallen (→ C2.6). Bemerkenswert ist hier aber, dass auch bei der femininen Form sie die beiden Kasus zusammenfallen und damit die Möglichkeit der ‚differentiellen Objektmarkierung‘ (→ B2.4.2.3.3), die mit Agentivität und somit Personalität in Verbindung zu bringen ist, sogar für die femininen Personalia im Singular entfällt – nicht nur für die Pluralformen – sowie Nominalphrasen mit einem femininen Substantiv als Kern (vgl. dazu Krifka 2009 und → C5.3.2.5). Allerdings zeigen die morphologisch differenzierten Kasus nicht immer ein den substantivischen Formen völlig entsprechendes Spektrum an Funktionen. Das betrifft insbesondere die mit dem Genitiv/Possessivus assoziierten Funktionen. Hier kann durch die Konkurrenz mit den Possessiva das Funktionsspektrum der Personalia gegenüber substantivischen Gruppen eingeschränkt sein. So werden die Genitivformen der deutschen Personalia im Allgemeinen nicht adnominal gebraucht. Das Possessivdeterminativ hat die entsprechende Funktion mit den verschiedenen assoziierten semantischen Rollen wie POSSESSOR , AGENS usw. inne, vgl. (8a) versus (8b).  

























(8)

a. mein Hund / seine Ankunft b. *Hund meiner / *Ankunft seiner

Nur in reflexiver Interpretation und mit obligatorischem Zusatz von selbst ist bei abgeleiteten Substantiven ein Genitivattribut in Objekt-Lesart möglich: Erkenntnis seiner selbst, Anklage meiner selbst (→ B1.5.3). Auch regiert von einer Präposition können keine regulären Genitivformen erscheinen. Es wird auf alternative Formen ausgewichen, und zwar bei Wechselpräpositionen (z. T. nur umgangssprachlich) auch auf den Dativ des Personalpronomens: Vgl. (9a) vs. (9b), (9c).  

(9)

a. *wegen meiner/euer, *dank seiner, *an Stelle ihrer b. wegen mir/euch (ugs.) / meinetwegen / euretwegen c. dank ihm, samt ihr, mitsamt euch

B1 Wortklassen

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Bei komplexen, aus Präpositionalphrasen grammatikalisierten Präpositionen wie anstatt, zugunsten wird die komplexe Verbindung in die Bestandteile einfache Präposition + Substantiv aufgelöst und das Possessivdeterminativ zum Substantiv gesetzt, wie in (10). (10)

a. *an Stelle meiner vs. an meiner Stelle b. *zu Gunsten ihrer vs. zu ihren Gunsten

Als Domäne des Personalpronomens im Genitiv verbleibt somit nur das Genitivkomplement zum Verb und zum Adjektiv wie in den folgenden Beispielen. Genitivkomplemente sind jedoch im heutigen Sprachsystem nur schwach verankert. (11)

Ich erinnere mich seiner.

(12)

Das ist meiner unwürdig.

Für die Syntax der Personalpronomina ist charakteristisch, dass diskursfunktionale Momente wie das Vorkommen in diskursprominenter Position (als Fokus oder Topik, etwa bei Neuthematisierung) häufig einen direkten formalen Niederschlag finden, der zur Unterscheidung von jeweils einer Reihe von starken gegenüber einer Reihe von schwachen Pronomina führen kann. Starke Pronomina können im Gegensatz zu schwachen einen Hauptakzent tragen, attributiv erweitert und koordiniert werden und in Isolation vorkommen; sie verhalten sich also syntaktisch ähnlich wie Nominalphrasen mit substantivischem Kopf. Was die schwachen Pronomina angeht, so sind dabei als Faktoren der Varianz zum einen der Grad der „Schwächung“ der Pronomina (also von Unbetontheit bis zur Klitisierung) zu werten, zum anderen bei Klitisierung der Ort der klitischen Bindung (Enklise, Proklise). Traditionell wird die Unterscheidung nur für die romanischen und slawischen Sprachen, wo die Unterscheidung auch morphologisch manifest ist, geltend gemacht, nicht für die germanischen oder andere europäische Sprachen. In der neueren Literatur (vgl. zusammenfassend die Beiträge in van Riemsdijk (Hg.) 1999) wurde jedoch beobachtet, dass auch in letzteren vergleichbare weitergehende syntaktische und semantische Unterschiede zwischen akzenttragenden und unbetonten Pronomina bestehen, so dass neuerdings auch mit Bezug z. B. auf das Deutsche von starken gegenüber schwachen Personalpronomina gesprochen wird. Ein wichtiges semantisches Charakteristikum starker Pronomina ist ihre – mehr oder weniger stark ausgeprägte – Einschränkung auf personale Referenz; vgl. Parameter ‚starke, schwache und klitische Formen‘. Wird das Personalpronomen klitisch realisiert, so lehnt es sich in Pro- oder Enklise an eine bestimmte Trägerkonstituente an, prominent sind hier die romanischen Sprachen zu nennen, in denen die Klitika nach festen Linearisierungsregularitäten vor dem Finitum (beziehungsweise nach infiniten Verbformen) geordnet sind; vgl. Parameter ‚Art und Ort der Klitisierung‘.  





562

B Wort und Wortklassen

Sprachübergreifend gilt auch für Sprachen ohne klitische Personalpronomina, dass schwache Pronomina sich in ihrer Stellung von entsprechenden Nominalphrasen (einschließlich der starken Pronomina) unterscheiden; dies wird mit dem Parameter ‚spezielle Stellungsregularitäten für schwache, nicht-klitische Pronomina‘ thematisiert. Im Hinblick auf die syntaktischen Auswirkungen der zentralen phorischen Funktion der Personalpronomina der 3. Person lassen sich weitgehende sprachübergreifende Übereinstimmungen feststellen: Die Anapher greift ein Antezedens auf, das in einem eigenen – meist vorausgehenden – Textsatz erscheint oder aber sie erscheint in einem eigenen Teilsatz: Der Mann kommt. Er trägt einen schwarzen Hut. versus Der Mann trägt einen schwarzen Hut, wenn er kommt. Die Kookkurrenz von Antezedens und referenzidentischem Personalpronomen innerhalb eines einzigen Teilsatzes hingegen ist nur beschränkt möglich. Hier ist das Reflexivum erste Option: Der Manni kauft sichi/*ihmi einen schwarzen Hut. Interlinguale Varianz ergibt sich insbesondere durch das Pro-Drop-Phänomen und die Genus- bzw. Numeruskongruenz zwischen Antezedens und Anapher; vgl. insgesamt Parameter ‚Syntax der anaphorischen Bezugnahme‘. Die genaue Abgrenzung zwischen reflexiver und anaphorischer Fortführung erfolgt in → B1.5.3. Wir halten folgende Varianzparameter fest:  





1.

Pro-Drop und Topik-Drop: Kann in einer Sprache das Subjekt-Personalpronomen – gegebenenfalls auch ein Objekt-Personalpronomen – entfallen? Unter welchen Bedingungen geschieht dies? 2. Starke, schwache und klitische Formen: Welche Charakteristika unterscheiden sprachübergreifend ‚starke‘ von ‚schwachen‘ Formen? Verfügt eine Sprache über segmental unterschiedene Formen oder besteht nur ein Akzentunterschied? Haben die schwachen Formen klitischen Status? 3. Distanzform: Unterscheidet eine Sprache zwischen Nähe- und Distanzform? Wie verhält sich die Distanzform in Bezug auf Kongruenz mit dem Finitum und anderen in Numerus und Person kongruierenden Formen? 4. Generischer Bezug: Kennt eine Sprache ein spezielles generisches Pronomen? Wie wird in Sprachen ohne generisches Pronomen der entsprechende Bezug ausgedrückt? Welche Varianten der generischen Bezugnahme sind sprachabhängig zu unterscheiden? 5. Referenz auf ‚abstrakte Objekte‘: Dient das neutrale Pronomen zum Verweisen auf ‚abstrakte Objekte‘ wie Sachverhalte, Ereignisse usw.? Welche anderen Möglichkeiten gibt es? 6. Nicht-referentielle (nicht-phorische) Verwendungen des neutralen Personalpronomens: Welche nicht-referentiellen Verwendungskontexte sind zu unterscheiden – wobei auch Abstufungen der Referentialität einzubeziehen sind? Wie ist die sprachspezifische Verteilung von Ausdrucksmitteln (neutrales Pronomen und andere Formen) relativ zu diesen Kontexten?  





B1 Wortklassen

563

7.

Art und Ort der Klitisierung: Erfolgt die Klitisierung des Personalpronomens prooder enklitisch? Welche Einheiten fungieren als Trägerkonstituenten? 8. Spezielle Stellungsregularitäten für schwache, nicht-klitische Pronomina: Folgen schwache Pronomina den Stellungsregularitäten für volle NP oder gibt es ihnen vorbehaltene Stellungsdomänen bzw. Linearisierungsprinzipien? 9. Syntax der anaphorischen Bezugnahme: Wie verhält sich das Vorkommen jeweils von Antezedens und anaphorischem Pronomen innerhalb und außerhalb der Satzgrenze zueinander? Welchen Einfluss hat der Pro-Drop-Parameter? Welche syntagmatischen Beziehungen bestehen in einer Sprache zwischen Antezedens und Anapher? Die Parameter sind so geordnet: Als erster wird der Pro-Drop-Parameter erörtert, der die Belegung anderer Parameter bestimmen kann, dann folgen die eher wortbezogenen Parameter 2 bis 6, zum Schluss die rein syntaxbezogenen Parameter.

B1.5.2.2 Pro-Drop und Topik-Drop In den romanischen Sprachen außer dem Französischen, in slawischen Sprachen, vor allem in den westslawischen Sprachen einschließlich des Polnischen sowie in den südslawischen Sprachen, können die Subjektpronomina, wenn sie nicht betont sind, weggelassen werden. (Dagegen ist es in ostslawischen Sprachen wie dem Russischen weniger üblich, unbetonte Subjektpronomina wegzulassen.) Man spricht hier von Pro-Drop-Sprachen. Die germanischen Sprachen kennen das Pro-Drop-Phänomen in der geschriebenen Standardsprache im Allgemeinen nicht. (Haspelmath 2001b: 1500) spricht von „strict-agreement languages“, bei denen die PersonNumerus-Affixe des Verbs reine Kongruenzaffixe sind und nicht selbst referentielle Kraft besitzen. Hierzu gehören unter den europäischen Sprachen Deutsch, Französisch, Isländisch und Walisisch, während die anderen „Non-Pro-Drop-Sprachen“, nämlich die festlandskandinavischen Sprachen und Niederländisch aufgrund des Verlusts entsprechender Verbalendungen gesondert zu betrachten sind; Englisch mit einem einzigen Person-/Numerus-Marker (für 3.. Person Singular Präsens) sei auf dem Wege, sich zu einer solchen Sprache ohne Pro-Drop und ohne Kongruenzmarker zu entwickeln. Nach Haspelmath sind „subject person affixes as strict agreement markers“ ein Merkmal des Standard Average European.  

Nur in speziellen Textsorten (etwa Tagebucheintragungen vgl. Haegeman/Guéron 1999: 614 f.) oder in gesprochener Sprache können im Englischen Subjektpronomina, im Deutschen auch Objektpronomina entfallen; diese Form des ‚Topik-Drop‘ wird für das Deutsche am Ende des Abschnittes behandelt. Es liegt nahe, eine Korrelation zwischen der Weglassbarkeit der Subjektpronomina und der Eindeutigkeit der Personmarkierung am Finitum (bei Sprachen mit Subjektkongruenz) anzunehmen. Zwar scheinen Sprachen wie das Italienische, Spanische oder Polnische eine solche Korrelation zu stützen: Hier gibt es – zumindest im  



564

B Wort und Wortklassen

Indikativ – keine oder kaum Synkretismen zwischen den Personalformen, so dass die Eindeutigkeit des Bezugs auch ohne Pronomensetzung gewährleistet ist. Aber auch ausgedehnter Synkretismus (z. B. zwischen 2. und 3. Person des Singularparadigmas wie im Wambon, einer Papua-Sprache Neuguineas) führt nicht notwendigerweise zur Obligatorik von Subjektpronomina (Cysouw 2001: 51). Pro-Drop wird in der Nachfolge von Chomsky (1981), Rizzi (1986) in generativem Rahmen intensiv diskutiert. In neueren Ansätzen wird u. a. ein Konzept des systematischen oder „systemweiten Synkretismus“ in der Verbalmorphologie entwickelt (Müller 2006), das wie im Deutschen mit dem systemweiten Synkretismus zwischen den Pluralformen der 1. und 3. Person Pro-Drop blockiere. Zu einer Diskussion anhand europäischer Vergleichssprachen vgl. Zifonun (2012b). Der Pro-Drop-Parameter korreliert mit der Stärke der Pronomina. Werden Subjektpronomina in einer Pro-Drop-Sprache gesetzt, so handelt es sich (tendenziell) um starke Pronomina (vgl. Parameter 2 und 9; siehe zum Französischen versus Spanischen, Italienischen). Im Ungarischen sind nicht nur die (freien Formen der) Subjektpronomina, sondern teilweise auch der Objektpronomina bei entsprechendem Denotatbezug nicht obligatorisch. ‚Pro-Drop‘ hat bezogen auf das Ungarische also eine weitere Extension als in den oben genannten Kontrastsprachen. Ein Bezug auf den Sprecher, den/ die Adressaten und auf Nicht-Kommunikanten ergibt sich durch die Personalaffixe der ‚allgemeinen‘ sowie der ‚definiten‘ Verbkonjugation. Dabei verweisen die Personalaffixe der allgemeinen Konjugation auf das Subjekt, die der definiten Konjugation (bei transitiven Verben) auf eine Subjekt-Objekt-Konstellation mit beliebigem personalpronominalem Subjekt und einem definiten Nicht-Kommunikanten-Ausdruck als Objekt. (Daneben existiert das Suffix -lek/-lak als Exponent der Kombination: 2. Person Singular als Objekt – 1. Person Singular als Subjekt, z. B. vár-lak ‚ich erwarte dich‘.) Eine Verbform der definiten Konjugation (im Präsens) muss daher im Sinne eines impliziten anaphorischen Personalpronomens (3. Person Singular) als Objekt gelesen werden, wenn keine Objekt-NP realisiert ist (vgl. (13)). Im Plural wird das Objektpronomen gesetzt, wie in (14).  















(13) UNG

a könyvetj, de Annai megvette Anna kauf.PRT . 3SG . DEF DEF Buch.AKK aber olvassa Æj. les.3SG . DEF ‚Anna kaufte das Buch, aber sie liest es nicht.‘

(14) UNG

Annai megvette Anna kauf.PRT . 3SG . DEF olvassa őketj. les.3SG . DEF 3PL . AKK

a DEF

könyveketj, Buch.PL . AKK

de aber

Æi

nem NEG

Æi

nem NEG

B1 Wortklassen

565

‚Anna kaufte die Bücher, aber sie liest sie nicht.‘ (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 120) Auf die syntaktischen Bedingungen, die in Pro-Drop-Sprachen den Gebrauch der Personalpronomina regeln, wird in → B1.5.2.10 näher eingegangen. Das Deutsche ist wie die anderen germanischen Sprachen keine Pro-DropSprache. Grundsätzlich müssen bei sprecher- bzw. hörerdeiktischem und phorischem Bezug – wie in (15) respektive (16) – die Personalpronomina bei entsprechenden Valenzvorgaben in allen syntaktischen Funktionen gesetzt werden.  



(15)

Ich komme morgen mit dem Frühzug. Du kannst mich zum Frühstück erwarten. Hast du mich verstanden?

(16)

Es geht um Tante Anna. Gestern ist ihr ein Unfall zugestoßen. Sie kam ins Krankenhaus. Ihr war aber nicht mehr zu helfen. Das hat zunächst niemand glauben wollen.

Insbesondere im informellen Diskurs können Sprecher- und Hörerpronomina in Subjektfunktion elliptisch entfallen, wie in (17). In der Regel bezieht sich die Ellipse auf die Vorfeldposition; die Ellipse im Mittelfeld (Hörerdeixis) ist vorwiegend in süddeutscher Umgangssprache üblich (vgl. (17c)). Die entsprechenden Pluralformen werden mündlich seltener elidiert; hier ist die Ellipse nur im ‚Telegrammstil‘ und ausschließlich vorfeldbezogen üblich (vgl. (18)). Man vergleiche dazu ausführlicher die IDS-Grammatik (1997: 413–417). (17)

a. [_] komme morgen mit dem Frühzug. b. [_] kannst mich zum Frühstück erwarten. c. Hast [_] mich verstanden?

(18)

a. [_] kommen morgen mit dem Frühzug. b. [_] könnt uns zum Frühstück erwarten. c. Habt *(ihr) uns verstanden?

Auch ein pronominaler Bezug auf Vorerwähntes bzw. Thematisches kann in informellen Texten und Diskursen unterbleiben. Dabei bleibt wiederum die Vorfeldposition unbesetzt. Man spricht daher auch von ‚Topik-Drop‘. Das Element unter Analepse (vgl. dazu ebd. 1997: 576 f.) muss dabei Subjekt-, seltener auch Akkusativkomplement-Funktion haben, während die Funktion des Antezedens nicht beschränkt ist. Es wäre jedoch irreführend, hier von einem Wegfall der Personalpronomina der dritten Person zu sprechen, da für diese Elemente außer in Subjektfunktion die Vorfeldstellung gerade nicht typisch und tendenziell an ‚starkes‘ Vorkommen gebunden ist.  

566

B Wort und Wortklassen

Bei es als Akkusativkomplement ist Vorfeldstellung sogar ausgeschlossen. Ein analeptisches Analogon zu (16) ist (19). (19)

Es geht um Tante Anna. Gestern ist *(ihr) ein Unfall zugestoßen. [_] kam ins Krankenhaus. *(Ihr) war aber nicht mehr zu helfen. [_] hat zunächst niemand glauben wollen.

B1.5.2.3 Starke, schwache und klitische Formen Die Unterscheidung zwischen starken und schwachen Personalpronomina beruht auf einer Reihe von syntaktisch-semantischen Kriterien. 1.

Für starke Pronomina gilt: a. Sie können einen Gewichtungsakzent tragen und somit in Fokuspositionen vorkommen. b. Sie können attributiv erweitert und koordiniert werden. c. Sie können in Isolation (z. B. als Antwort auf eine Ergänzungsfrage) vorkommen. d. Sie sind (tendenziell) auf personale Referenz festgelegt. Für schwache Pronomina gelten jeweils die Negationen von 1a–1d.  

2.

Unter 1a soll auch das Vorkommen in Herausstellungskonstruktionen (links- oder rechtsversetzt) zählen bzw. in rhematischer/thematisierender Position bei unpersönlichen Konstruktionen oder Spaltsätzen, wie in (20) bzw. (21) am Beispiel des Französischen: (20) a. Moi, je ne suis KL .1SG NEG bin FRA 1SG b. Je ne suis pas KL .1SG NEG bin NEG ‚ICH bin nicht glücklich.‘

pas

heureuse. NEG glücklich.F heureuse, moi. glücklich.F 1SG

(21) a. Qui a caché mes jouets? FRA wer hab.3SG versteckt POSS .1SG . PL Spielzeug.PL C’ était moi/ lui/ elle. 3SG . M 3SG . F das war 1SG ‚Wer hat mein Spielzeug versteckt? – Ich/Er/Sie war es.‘  

567

B1 Wortklassen

b. C’ est moi qui ai caché RPRO hab.1SG versteckt das war 1SG jouets. Spielzeug.PL ‚Ich war es, der dein Spielzeug versteckt hat.‘

tes POSS .2SG . PL

Die Opposition zwischen starken und schwachen Formen kann an der segmentalen Form erkennbar sein: Schwache Formen tendieren dazu, weniger phonetische Substanz aufzuweisen als starke Formen. Wenn dies nicht der Fall ist, starke und schwache Formen also segmental gleich sind, sollte korrekter nur von ‚starker Verwendung‘ gegenüber ‚schwacher Verwendung‘ der Pronomina gesprochen werden. In diesem Fall sind die Pronomina als types hinsichtlich ‚Stärke‘ nicht spezifiziert. Starke Verwendung liegt genau dann vor, wenn für das Vorkommen eines Pronomens mindestens eine der Bedingungen 1a bis 1d erfüllt ist, d. h. wenn dieses Vorkommen z. B. einen Akzent trägt oder koordiniert ist usw. Wir sprechen hier von einem ‚starken Kontext‘. Eine Kreuzklassifikation zwischen den Dimensionen ‚Stärke des Pronomens‘ und ‚Stärke des Kontextes‘ ergibt folgendes Bild:  



Tab. 3: Stärke von Pronomen und Kontext

starkes type

starker Kontext

schwacher Kontext

,starkes Vorkommen‘

,schwaches Vorkommen‘ ,schwaches Vorkommen‘

schwaches type nicht spezifiziertes type

,starkes Vorkommen‘

,schwaches Vorkommen‘

Die typischen Korrelationen sind in Tabelle 3 fett gesetzt. Es zeigt sich eine Asymmetrie: Das Vorkommen eines schwachen types in einem starken Kontext ist ausgeschlossen, starke types können jedoch markierter unter bestimmten Bedingungen in schwachen Kontexten erscheinen. Dies erklärt, warum die als types starken Subjektpronomina der Pro-Drop-Sprachen auch ohne Gewichtungsakzent, d. h. ohne Fokussierung vorkommen können (vgl. → B1.5.2.10). Schwache Pronomina können gebunden an eine Trägerkonstituente vorkommen, man spricht dann von ‚klitischem Vorkommen‘. Alle klitischen Pronomina sind schwach, aber nicht alle schwachen Pronomina sind klitisch; zum Klitik-Begriff vgl. auch → B1.2.3.5. Die Differenzierung zwischen starken und schwachen Pronomina(vorkommen) scheint für die germanischen, romanischen, slawischen und weitere europäische Sprachen insgesamt zuzutreffen. Bei den germanischen Sprachen wird die Differenzierung aber meist nicht systematisch an der segmentalen Form deutlich. Zwar mag es auch dort phonetisch reduzierte Formen der schwachen Pronomenverwendungen  



568

B Wort und Wortklassen

geben, aber diese sind nicht die einzigen Repräsentanten der schwachen Pronomina/ Pronominavorkommen. Die phonetisch reduzierten Formen können klitischen Status haben; Klitisierung ist jedoch nicht klar grammatikalisiert. In den romanischen und slawischen Sprachen sind die schwachen Pronomina – oder eine Teilmenge von ihnen – segmental differenziert gegenüber den starken. Die schwachen Pronomina der romanischen Sprachen sind in aller Regel klitisch (vgl. aber unten zum Italienischen). Um die unterschiedlichen Optionen bei den romanischen Sprachen zu verdeutlichen, werden neben dem Französischen auch Spanisch und Italienisch einbezogen. Im Französischen ist die Unterscheidung zwischen einer Reihe von schwachen/ verbundenen und einer Reihe von starken/unverbundenen Personalpronomina zentral. (In der Terminologie herrscht teilweise noch Unklarheit: Harris (1988) nennt sie ‚konjunktiv‘ und ‚disjunktiv‘.) Die schwachen Pronomina sind klitisch an eine Verbform gebunden und unbetonbar, die starken kommen verbunabhängig vor, insbesondere auch regiert von einer Präposition, und können einen Gewichtungsakzent tragen. Die starken Formen moi, toi usw. zeigen keine Kasusdifferenzierung. Die schwachen Formen der 1. und 2. Person Singular haben eine Nominativ-Objektivus-Unterscheidung: je – me, tu – te. In der 3. Person sind in beiden Numeri drei Kasus (NOM , AKK , DAT ) zu unterscheiden: Singular M / F il/elle – le/la – lui; Plural ils/elles – les – leur. Im Plural der 1. und 2. Person liegt Kasussynkretismus vor: nous, vous: Hier fallen auch die schwachen Formen – bis auf die Akzentunterscheidung – mit den starken zusammen. Die 3. Person spaltet sich (bei den schwachen und starken Formen) in die beiden Genera M und F auf, stark: il – elle / eux – elles. Bei den schwachen Formen sind die Genera im Singular in Nominativ und Akkusativ verschieden: NOM il – elle, AKK le – la, im Plural nur im Nominativ: ils – elles. In der Subjekt-Pro-Drop-Sprache Spanisch haben im Gegensatz zum Französischen die Subjektpronomina nur starke/unverbundene Formen. Neben dem Nominativ haben die starken Pronomina der 1. und 2. Person Singular noch einen distinkten Objektkasus (für die Verwendung nach Präposition): yo – mí; tú – ti; sonst fallen beide Kasus zusammen, z. B. él/ella starke Form 3. Person Singular M / F , nosotros/as starke Form 1. Person Plural M / F . Die schwachen Objektpronomina haben wie die französischen und italienischen Entsprechungen in der Regel proklitischen Charakter. Die 3. Person Singular der schwachen Pronomina ist recht instabil in der Markierung der Opposition zwischen den Genera M versus F (einschließlich der Subkategorisierung im konkreten Genus nach [+/–personal]) und der Opposition zwischen dem direkten und dem indirekten Objekt; vgl. dazu Green (1988: 107–111), auch Zifonun (2001a: 63). Im Italienischen gibt es neben den starken Subjektpronomina der 3. Person lui (M ), lei (F ), loro (PL ) folgende schwache (nicht betonbare, aber ggf. koordinierbare) Formen: egli (M [+personal]) / esso (M [–personal]), ella (F [+personal]) / essa (F [–personal]), essi (M PL ) / esse (F PL ). Diese sind nicht klitisch. Sie können in der Subjekt-Pro-Drop-Sprache Italienisch gesetzt werden, wenn weder die Bedingungen für den Wegfall des Pronomens noch die für seine Hervorhebung gegeben sind (vgl.  







































B1 Wortklassen

569

Renzi/Salvi/Cardinaletti 2001: 550 sowie → B1.5.2.10). Die schwachen Subjektpronomina des Italienischen sind jedoch (in unterschiedlichem Maße) auf formelle schriftsprachliche Register beschränkt. Auch im Polnischen sind die Subjektpronomina grundsätzlich stark. In den zentralen Objektkasus Akkusativ, Genitiv und Dativ gibt es im Singularparadigma phonetisch substanziellere, oft zweisilbige starke und einsilbige schwache Formen (AKK / GEN mnie – mię (veraltet) ‚mich, meiner‘; ciebie – cię ‚dich, deiner‘); während in den peripheren Objektkasus sowie im gesamten Pluralparadigma eine phonetische Differenzierung entfällt. In der dritten Person gibt es in den genannten Kasus eine weitere Form, die nur bei Rektion durch eine Präposition auftritt: Es handelt sich jeweils um eine um palatalisiertes n- im Anlaut erweiterte starke Form; daneben erscheint ń auch als Verschmelzungsform. Im Singular der 3. Person haben wir somit neben der Verschmelzungsform drei freie Formen, stark, präpositionsgebunden und G EN N jego, niego, go ‚ihn/seiner‘), im Plural zwei, stark und schwach (AKK / GEN M , GEN G EN , AKK . MPERS ich, nich ‚ihrer/sie‘). Die präpositionsgebundepräpositionsgebunden (GEN ne Form ist ebenfalls als stark einzuschätzen, wenn man etwa in Analogie zu den romanischen Sprachen (siehe Französisch, Spanisch) vorgeht. Die schwachen Formen werden häufig als klitisch eingestuft; sie erscheinen jedoch im Vergleich etwa zu den romanischen Klitika als stellungsvariabler; insbesondere können sie durch andere Stellungsglieder, etwa die positionsfeste Negationspartikel (unmittelbar vor dem Finitum) auch vom Finitum getrennt werden. Wir behandeln sie daher nicht als Klitika; in einigen Aspekten gehen sie mit den Klitika zusammen, wir sprechen auch mit Bezug auf das Polnische von ‚klitikoid‘. Im Ungarischen sind starke und schwache Pronomina nicht segmental differenziert; klitische Formen gibt es standardsprachlich nicht: Die agglutinierenden Personalsuffixe leisten Entsprechendes. Die Nominativformen sind grundsätzlich als ‚stark‘ zu bewerten, da ein pronominales Subjekt in der Pro-Drop-Sprache Ungarisch nur bei besonderer Hervorhebung gesetzt wird. Auch die Objektpronomina für DO im Singular werden nur gesetzt bei Hervorhebung oder (im Hinblick auf die 1. und 2. Person) zur Vermeidung von Missverständnissen. Auch ihr Vorkommen ist somit (tendenziell) stark. Dagegen sind die Objektpronomina für DO im Plural sowie die Formen mit weiteren Relationssuffixen obligatorisch. Bei ihnen sind nur die Vorkommen in der präverbalen Fokusposition als stark einzuschätzen. Eine Besonderheit im Rahmen der germanischen Sprachen ist die deutlich ausgeprägte Opposition zwischen ‚Vollformen‘ und ‚reduzierten‘ Formen im Niederländischen, z. B. Vollform 2. Person Singular Nominativ jij – Akkusativ jou; reduzierte Form ohne Kasusdifferenzierung: je. Anders als im Deutschen sind reduzierte Formen auch standardsprachlich im Gebrauch. In niederländischen Grammatiken besteht jedoch Uneinigkeit über die genaue Verteilung von vollen und reduzierten Formen; vgl. Geerts et al. (1984: 163–167) versus de Schutter (1994: 462) und Donaldson (2008: 66) sowie auch Zifonun (2001a: 61 f.). Man kann dies als Hinweis darauf deuten, dass auch im Niederländischen die  











570

B Wort und Wortklassen

Unterscheidung trotz deutlicherer Ausprägung ähnlich wie in den anderen germanischen Sprachen keine grammatikalisierte Opposition darstellt. Das Deutsche macht keine morphologisch manifeste Unterscheidung zwischen starken und schwachen Pronomina. Alle Personalpronomina außer es können neben ihrem Standardvorkommen als unbetonte Elemente außerhalb von Fokuspositionen auch isoliert, akzentuiert, phrasal erweitert und koordiniert erscheinen. Die M / F -Pronomina der 3. Person haben in Isolation (22), bei Betonung (23), phrasaler Erweiterung (24) und bei Koordinationen (25) ausschließlich personalen Bezug. So gilt (22) nur als Antwort z. B. auf die Frage „Wer ist gekommen?“, nicht etwa auf die Frage „Was ist dir das liebste Möbelstück?“ und mit Bezug z. B. auf einen alten Schrank. Ähnlich ist (25b) unzulässig, wenn er auf einen Schrank bezogen ist.  



(22) (23)

(24)

(25)

Er. / Er, auf ihn kann man sich verlassen. a. Er hat wohl IHN/SIE gesehen. b. IHN/SIE hat er wohl gesehen. Er, der allen hier bekannt sein dürfte, ist häufig in der Altstadt gesehen worden. a. Er und seine Schwester wohnen in Frankfurt. b. #Er und der Tisch daneben passen gerade in mein kleines Wohnzimmer.

Starke (1996: 414) und Cardinaletti (1999: 49–56) ziehen u. a. aus diesen Tatsachen den Schluss, auch für das Deutsche jeweils parallele Reihen von homonymen starken und schwachen Personalpronomina anzusetzen. Während hier eine binäre Opposition zwischen starken und schwachen Formen angenommen wird, setzt Müller (2001: 1) eine Hierarchie an, die nach abnehmender Stärke geordnet ist und von den betonten belebten Pronomina über die unbetonten belebten, die unbelebten und das reduzierte es bis zu klitischem ’s führt:  

,Personal Pronoun scale‘: > Pronunstressed > Pronstrong IHN[+STRESS] ihn[+anim]

Pronweak > Pronreduced (> Pronclitic) ihn[–anim] es ’s

Die starken Formen von er, so kann man schließen, werden als [männlich] interpretiert, die starken Singularformen von sie als [weiblich], die Pluralformen als [+personenbezogen]. Starke Verwendungen von er mit personalem Bezug ohne Sexusfestlegung sind möglich, etwa bei generischen Maskulina als Antezedens, s. (26). (26)

Der Lehrer trägt hohe Verantwortung. Er und die Schulleitung sollten gut kooperieren.

B1 Wortklassen

571

Die 3. Person Neutrum es ist nicht betonbar und nicht phrasal erweiterbar, somit grundsätzlich (als type) schwach. Das bedeutet, dass es auch mit Bezug auf Personenbezeichnungen mit neutralem Genus (das Kind, Mädchen, Weib, Team, Personal usw.) nicht stark gebraucht werden kann, vgl. (27c). Der Bezug auf Personenbezeichnungen im Neutrum wird bei Betonung oder Erweiterung entweder mit dem genuskongruenten Demonstrativum, wie in (27a), gesichert oder (markierter und nicht bei Bezug auf Kollektivbezeichnungen wie Team) mit dem sexusentsprechenden Personalpronomen, vgl. (27b).  

(27)

Die Kinder sind fast alle wieder da. Aber wo ist bloß das Kind von Eva? a. DAS spielt im Garten. DAS hab ich nicht gesehen. b. ER/SIE spielt im Garten. IHN/SIE hab ich nicht gesehen. Er und sein Hund spielen im Garten. c. *ES spielt im Garten. *ES hab ich nicht gesehen. *Es und sein Hund spielen im Garten.

Als Objekt kann es auch dann nicht im Vorfeld erscheinen, wenn es keinen Gewichtungsakzent trägt, also sein Status als schwaches Pronomen gewährleistet scheint, vgl. (28a). Dies deutet darauf hin, dass die Vorfeldposition für pronominale NichtSubjekte eine exponierte Stelle darstellt, der das grundsätzlich schwache, morphologisch wie phonetisch nur über geringe Substanz verfügende es hier nicht genügen kann. Demgegenüber können die übrigen personalpronominalen Nicht-Subjekte (wie ihn in (28b)) auch ohne Hervorhebung – wohl aber vorwiegend mit personalem Bezug – sehr wohl im Vorfeld erscheinen (IDS-Grammatik 1997: 1584 f.).  



(28)



a. Es spielt im Garten. *Es interessieren die Spiele im Haus nicht. b. Er spielt im Garten. Ihn interessieren die Spiele im Haus nicht.

Es wurde bereits darauf verwiesen, dass die als types starken Pronomina der ProDrop-Sprachen auch in schwachen Kontexten vorkommen können. Ein solcher Kontext ist die Fortführung eines vorerwähnten, jedoch nicht thematischen Antezedens (→ B1.5.2.10). Auch im Deutschen gibt es offensichtlich Kontexte, in denen, wie hier, Stärke (durch personalen Bezug und positionelle Prominenz) und Schwäche (durch Thematizität und von daher fehlende Fokussierung) zusammentreffen. Ein weiteres Indiz für den Status von es als schwaches Pronomen ist, dass es auch als Subjekt nicht durch ‚lange Extraktion‘ (→ D6.7) in das Vorfeld einer übergeordneten Struktur verschoben werden kann (vgl. (29b) versus (29a)): (29)

a. Hans spielt im Garten. Er, denke ich, war jetzt lange genug draußen. b. Das Kind spielt im Garten. *Es, denke ich, war jetzt lange genug draußen.

572

B Wort und Wortklassen

Die schwachen Pronomenformen können auch unter phonetischer Reduktion klitisch realisiert werden. Klitisierung der Personalpronomina ist im Deutschen in der Regel nur gesprochensprachlich üblich, in der Umgangssprache und den Dialekten aber sehr verbreitet und in gegenüber dem geschriebenen Standard eigenständiger Weise grammatisch produktiv (Nübling 1992).

B1.5.2.4 Distanzform Alle Kern-Vergleichssprachen (außer dem Englischen) sowie Niederländisch, Spanisch und Türkisch unterscheiden in der 2. Person zwischen einer ‚Näheform‘ für die Anrede von einem oder mehreren als gleichgestellt empfundenen Adressaten und einer ‚Distanzform‘ für die Anrede von Personen, denen gegenüber der Sprecher soziale Distanz im Sinne von Unvertrautheit, Rang- oder Altersunterschieden wahrnimmt und zum Ausdruck bringt. In den Vergleichssprachen mit Distanzform einschließlich des Deutschen kann das Spektrum der Varianz bezüglich Numerusdifferenzierung und Finitum-Rektion in Tabelle 4 zusammengefasst werden. Zu beachten ist, dass Numerusdifferenzierung der Distanzform stets mit einer entsprechenden Differenzierung des Finitums korreliert, während fehlende Numerusdifferenzierung sowohl mit Singular als auch mit Plural des Finitums vorkommt – dies hängt mit der Herkunft der Distanzform zusammen: Rektion der 2. Person korreliert mit einer Übereinstimmung mit bzw. Herleitung aus einem Personalpronomen der 2. Person (Plural), Rektion der 3. Person mit der Herkunft aus einem Personalpronomen der 3. Person bzw. einer nominalen Form. In letzterem Fall kann eine Genusdifferenzierung hinzukommen.  



Tab. 4: Numerus, Genus und Rektion der Distanzform Rektion 2. Person

–Genusdifferenzierung +Genusdifferenzierung

+Numerusdifferenzierung –Numerusdifferenzierung

Rektion 3. Person

Plural

Singular

SPA, UNG

POL

Singular

Plural

FRA, TÜR

DEU NDL

Im Niederländischen entspricht die Gebrauchsdifferenzierung zwischen der Näheform SG / PL jij/jullie und der Distanzform u grosso modo dem Deutschen, wobei regionale Differenzen und eine Ausdehnung des Gebrauchsspektrums der Näheform in jüngster Zeit zu beachten sind. Die numerusindifferente Form u regiert den Singular des Finitums, wobei die Person nicht eindeutig festgelegt ist: Im Fall einer morphologischen Differenz zwischen 2. und 3. Person Singular – die im Niederländischen nur  

573

B1 Wortklassen

bei Auxiliar- und Modalverben vorkommt – z. B. bei hebben ,haben‘ kann es heißen u hebt (2. Person) oder u heeft (3. Person). Im Englischen existiert keine eigene Distanzform. Die in vielen Parametern mit dem Englischen übereinstimmenden festlandskandinavischen Sprachen kennen Distanzformen; ihr Gebrauch ist jedoch stärker auf formelle Situationen im öffentlichinstitutionellen Bereich eingeschränkt als etwa im Deutschen oder Niederländischen. Im Französischen fungiert der Plural der Näheform der zweiten Person gleichzeitig als Distanzform. Wird die Distanzform mit Bezug auf einen einzelnen Adressaten oder eine einzelne Adressatin gebraucht, so steht zwar das Finitum im Plural, prädikative Adjektive oder andere kongruierende Formen werden jedoch in den Singular M / F gesetzt.  

(30) FRA



Vous êtes content, monsieur? 2PL seid zufrieden.M . SG Monsieur Vous êtes contente, madame? seid zufrieden.F . SG Madame 2PL ‚Sind Sie zufrieden, Monsieur? Sind Sie zufrieden, Madame?‘

Während bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts der Gebrauch der Distanzform selbst innerhalb der (bürgerlichen) Familie üblich war, hat nun auch in Frankreich die Näheform zusehends an Terrain gewonnen. Im Spanischen hat die Distanzform usted eine distinkte Pluralform ustedes (ohne Genusdifferenzierung). usted/ustedes ist eine starke Form; als entsprechendes schwaches Objektpronomen fungiert le/les, also 3. Person Maskulin. Im kastilischen Spanisch regiert die Distanzform die 3. Person Singular bzw. Plural des Finitums. Im lateinamerikanischen Spanisch ist im Plural weitgehend die Opposition zwischen Nähe- und Distanzform zugunsten von ustedes (mit Rektion der 3. Person) aufgehoben, während im Singular starke Variation vorherrscht. Im Polnischen werden die Substantive pan/pani/państwo ‚Herr, Frau, „Herrschaften“‘ als Distanzformen gebraucht. Es gibt also eine Numerus- und im Singular zusätzlich eine Genus-/Sexusdifferenzierung. Die singularische Gruppenbezeichnung państwo (neutrales Genus) ist sexusindifferent; sie wird für gemischtgeschlechtliche Referentengruppen verwendet; gemäß der grundlegenden androzentrischen SexusGenus-Konzeption werden jedoch kongruierende Verb-, Partizip- und Adjektivendungen ins Maskulinum gesetzt, und dabei ebenfalls aus semantischen Gründen – abweichend vom morphologischen Befund – in den Plural; es erscheinen somit MPERS Formen. Für sexushomogene Gruppen stehen außerdem die genusdifferenten Pluralformen panowie (M ) bzw. panie (F ) zur Verfügung. Entsprechend ihrem substantivischen Ursprung regieren die Formen pan, pani, panowie, panie die 3. Person Singular bzw. Plural des Finitums, das Genus kongruierender Formen (Finitum, Partizip, prädikatives Adjektiv) variiert entsprechend zwischen MANIM (bezogen auf pan), F (bezogen auf pani), MPERS (bezogen auf panowie), NON NONMPERS MPERS (bezogen auf panie).  











574

B Wort und Wortklassen

Im Ungarischen fungieren als Distanzformen Ausdrücke in der Bedeutung ‚selbst/ Selbst-‘, die auch als Erstglieder von Zusammensetzungen (ön-, maga-) bzw. Intensifikatoren (maga) gebraucht werden und die auch im Pronominalsystem noch weitere Funktionen beim Ausdruck von Possession und Reflexivierung haben. Als Distanzformen sind sie numerusdifferenziert (Plural önök, maguk) und regieren die dritte Person des Finitums. Der Gebrauch der Distanzformen ön (eher Amtssprache, offiziell) und maga ist weniger üblich und geringer grammatikalisiert als im Deutschen. Im Türkischen fungiert ähnlich wie im Französischen der Plural der Näheform der zweiten Person siz gleichzeitig als nicht-numerusdifferenzierte Distanzform. Statusdifferenzierungen können im Türkischen auch den anaphorischen Bezug betreffen. So wird zur Wiederaufnahme einer Referenz auf eine höher gestellte Person häufig – statt einfach nach dem Pro-Drop-Prinzip zu verfahren – die Titelphrase (z. B. Ahmet Bey ‚Herr Ahmet‘) wiederholt. Auch Pluralsetzung (3. Person Plural) kann als Ausdruck der Ehrerbietung fungieren. Im Deutschen ist die 3. Person Plural sie des Personalpronomens sekundär auch als Distanzform grammatikalisiert. Dies stellte eine neuere Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert dar, während zuvor beide Numeri der 3. Person (er/sie) und der Plural der 2. Person (ihr) mit dieser Funktion gebraucht wurden (vgl. Simon 1997). Der Gebrauch von ihr ist z. T. noch in Dialekten erhalten. Die Distanzform wird in der Schrift durch Großschreibung von der 3. Person Plural unterschieden. In ihrem grammatischen Verhalten besteht zwischen den Homonymen jedoch volle Übereinstimmung. Auch als Distanzform regiert Sie die 3. Person Plural des Finitums, das entsprechende Possessivum ist ebenfalls die Form der 3. Person Plural, vgl. (31).  













(31)

Sie sind herzlich eingeladen. Bringen Sie doch bitte auch Ihren Partner mit.

Wie in den Kontrastsprachen Französisch, Türkisch und Niederländisch hat die Distanzform also keine Numerusdifferenzierung; das Deutsche ist jedoch gegenüber diesen die einzige Sprache mit Rektion der 3. Person Plural. Die Pluralität der Distanzform ist vorteilhaft, insofern als Genus- und somit Sexuskontraste neutralisiert sind, die in den Kontrastsprachen zum Teil zum Tragen kommen und kommunikativ behandelt werden müssen, vgl. den Kontrast zwischen dem französischen Original und der deutschen Übersetzung im Beispiel (30) oben. Die sozialen Verwendungsregeln für die Distanzform gegenüber der Näheform sind von einer Reihe von Faktoren bestimmt: u. a. dem Altersverhältnis, der Verwandtschaft bzw. Vertrautheit und dem sozialen Rangverhältnis der Interaktionspartner. Im Vergleich zu anderen europäischen Sprachen ist insbesondere Verwandtschaft im deutschen Sprachraum ein Faktor, der den Gebrauch der Näheform erzwingt. Gegenüber den 1970er Jahren ist die Verwendung der Näheform (ohne explizite Vereinbarung) innerhalb bestimmter institutioneller Gruppen (etwa an der Universität) wieder deutlich zurückgegangen. Vgl. dazu insgesamt die IDS-Grammatik (1997: 925–930).  

B1 Wortklassen

575

B1.5.2.5 Generischer Bezug Beim Gebrauch generischer Pronomina wie DEU man sind zwei Verwendungsweisen zu unterscheiden: der im engeren Sinn ‚generische‘ Gebrauch in generischen Sätzen, in denen auf allgemein gültige Sachverhalte abgehoben wird, wie (32), und der ‚partikuläre‘ Gebrauch (Canisius 1994: 92), bei dem auf Einzelereignisse Bezug genommen wird und nur der Personenbezug allgemein bleibt, wie (33). Während der im engeren Sinne generische Gebrauch als abgeschwächte Allaussage (‚alle einschlägigen Personen‘) verstanden werden kann, entspricht der partikuläre Gebrauch einer indefiniten Referenz (‚irgendjemand‘, ‚irgendwelche Leute‘). (32)

Man lebt nur einmal.

(33)

Man hat letzte Woche bei uns eingebrochen.

Man beachte jedoch, dass auch in Beispielen wie (32), also wo wir von generischem Gebrauch sprechen, keine ,NP-Generizität‘ im Sinne von → B1.2.3.8 vorliegt, sondern ‚Satz-Generizität‘. Der Ausdruck DEU man kann anders als etwa der Mensch nicht als Bezeichnung für eine Art, die Spezies Mensch, gebraucht werden. Dies zeigt sich z. B. an der Ungrammatikalität von *Man wird eines Tages aussterben gegenüber Der Mensch wird eines Tages aussterben. Generische Pronomina haben in den Vergleichssprachen (einschließlich Niederländisch, Spanisch) folgende Herleitung: Sie gehen auf das Zahlwort ‚eins‘ zurück (vgl. ENG one, SPA uno/una) oder sie sind aus ‚Mann/Mensch‘ grammatikalisiert (vgl. DEU man, NDL men, FRA on). Nicht alle Kern-Kontrastsprachen lösen die generische Bezugnahme mithilfe eines speziellen Pronomens: So ist die ungarische Verbindung az ember (wörtlich ‚der Mensch‘) eine phrasale Entsprechung zum pronominalen ‚Mann/Mensch‘-Typ; auch im Polnischen wird człowiek ,Mensch‘ gelegentlich im Sinne von ,man‘ gebraucht. Auch andere slawische Sprachen verfahren entsprechend, vgl. Giacalone Ramat/Sansò (2007). Nur im Französischen wird ähnlich wie im Deutschen ein generisches Pronomen gleichgewichtig für den im engeren Sinne generischen und den partikulären Gebrauch eingesetzt. Im Englischen kommt den Personalpronomina (ähnlich wie auch im Niederländischen) komplementär zum generischen Pronomen besondere Bedeutung zu: Dabei wird die 2. Person (Singular) im engeren Sinne generisch, die 3. Person Plural partikulär gebraucht; sprecherinklusiver generischer Bezug kann auch durch die 1. Person Plural ausgedrückt werden. In Pro-Drop-Sprachen (Spanisch, Polnisch, Ungarisch, auch: Türkisch) kann generische Bezugnahme allein über die Verbformen (2. Person, 1./3. Person Plural, subjektlose Formen einschließlich Reflexivformen, Passiv) erfolgen. Wir gehen hier neben dem Deutschen nur auf das Englische, Französische und Polnische gesondert ein. Im Englischen fungiert als generisches Pronomen der Ausdruck one, der (anders als DEU man) auch als Objektform und mit der Possessivusform one’s gebraucht  

576

B Wort und Wortklassen

werden kann. one ist auf formellen Sprachgebrauch beschränkt; stärker als im Deutschen wird umgangssprachlich auf den generischen Gebrauch der Personalpronomina zurückgegriffen; und zwar der Pluralpronomina 1. und 2. Person – gegenüber DEU ich/wir, du, wie in (34). In partikulärer Verwendung ist one ausgeschlossen, stattdessen wird sprecher- und hörerexklusiv they gebraucht, wie in (35).  

(34) ENG

These days we/you have to be extremely careful. ‚Heutzutage muss man / muss ich / müssen wir / musst du außerordentlich vorsichtig sein.‘

(35) ENG

They are raising the bus fares again. ‚Man erhöht schon wieder die Buspreise.‘

Im Französischen ist das generische Pronomen on – wie DEU man, mit dem es als aus homme ‚Mensch, Mann‘ grammatikalisierte Form auch eine analoge Herkunft verbindet – unflektierbar und auf die Funktion als verbundenes Subjektpronomen beschränkt. Wie DEU man hat on generische und partikuläre Verwendung, vgl. (36a) respektive (36b). In generischer Verwendung wird als Objektform suppletiv te/vous gesetzt, wo das Deutsche einen/einem gebraucht – s. (37).  





(36) a. Dans cette région, on mange des escargots. FRA in DEM . F Gegend man ess.3SG PART . PL Schnecke.PL ‚In dieser Gegend isst man Schnecken.‘ b. Hier, on a volé mon vélo. geklaut POSS .1SG Fahrrad gestern man hab.3SG ‚Gestern hat man mein Fahrrad gestohlen.‘ (37) FRA

Quand on est heureux, rien ne peut NEG könn.3SG wenn man ist glücklich nichts te / vous inquiéter. KL .2SG . AKK 2PL . AKK erschütter.INF ‚Wenn man glücklich ist, kann einen nichts erschüttern.‘

Die für das Deutsche angegebenen Besonderheiten der anaphorischen Fortführung von generischem und partikulärem man gelten entsprechend für on. Daneben wird on aber in der Alltagssprache als Alternative für die Form der 1. Person Plural nous gebraucht. In der verbalen Domäne (präverbale Klitika und Finitum) übt on hier wie immer die Rektion der 3. Person aus, s. (38b): Reflexivum ist se, das Verb hat die 3. Person Singular, s. (38a). Die übrigen kongruierenden Formen (Possessiva; prädikatives Adjektiv) sind wie bei der Distanzform semantisch gesteuert, s. (38c). Im Gegensatz dazu verlangt generisches/partikuläres on bei kongruierenden Ausdrücken die Standardform Maskulinum Singular, s. (38d).  



B1 Wortklassen

577

(38) a. On se promène cet après-midi. Nachmittag FRA man KL . REFL spazieren_geh.3SG DEM . M ‚Wir gehen heute Nachmittag spazieren.‘ b. On va sortir avec nos amis. ausgeh.INF mit POSS . 1PL . PL Freund.PL man werd.3SG ‚Wir werden mit unseren Freunden ausgehen.‘ c. On est arrivé(e)s. man ist ankomm.PTZP . PRF . M ( F ). PL ‚Wir sind da.‘ (mit M /F -Unterscheidung) d. On est arrivé. man ist ankomm.PTZP . PRF . M . SG ‚Man ist angekommen.‘ Im Polnischen gibt es kein durchgängig zu verwendendes generisches Pronomen. Nach Swan (2002: 386) wird gelegentlich człowiek ‚Mensch‘ in dieser Funktion gebraucht; vgl. Człowiek lepiej pracuje z pełnym żołądkiem ‚Man arbeitet besser mit vollem Magen‘. Sprecherinklusiv wird die 1. Person Plural des Finitums (ohne Subjektpronomen), sprecherexklusiv in partikulärem Gebrauch die 3. Person Plural verwendet. Usuell sind subjektlose Konstruktionen mit dem Reflexivum się, z. B. kupi się ‚man kauft‘. Daneben kennt das Polnische zahlreiche subjektlose Modalverben (ausschließlich in der 3. Person Singular) wie etwa trzeba ‚man soll‘, można ‚man kann‘ sowie subjektlos gebrauchte neutrale Formen auf -no/-to (kupiono ‚man kaufte‘, wzięto ‚man hat genommen‘). Das Deutsche verfügt mit dem im Althochdeutschen/Mittelhochdeutschen aus dem Substantiv grammatikalisierten Ausdruck man über ein eigenes generisches Pronomen. man ist jedoch – auf Grund noch nicht abgeschlossener Grammatikalisierung oder auf Grund seiner semantischen Sonderstellung – einigen Restriktionen unterworfen, die für Personalpronomina oder Pronomina insgesamt untypisch sind:  









1.

2.

3.

(39)

man ist unflektierbar und auf die Subjektfunktion beschränkt. In den übrigen syntaktischen Funktionen werden suppletiv die Formen des Indefinitpronomens einer verwendet. man ist (unter Einschluss seines suppletiven Paradigmas) ein grundsätzlich schwaches Pronomen: Es erlaubt kein starkes Vorkommen, ist weder beton- noch koordinierbar noch phrasal erweiterbar. man kann Bezugsausdruck für Possessiva und reflexives sich sein; anaphorischer Bezug durch ein Personalpronomen ist ausgeschlossen, s. (39). Man lässt sich feiern und für seine Verdienste loben, wenn man/*er ein Jubiläum hat.

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B Wort und Wortklassen

Die mangelnde Anaphorisierbarkeit durch das Personalpronomen der 3. Person steht im Einklang damit, dass bei man die Persondifferenzierung neutralisiert ist. Semantisch deckt man sowohl den Gebrauch in generischen Sätzen (wie in (32)) als auch den partikulären Gebrauch in Aussagen über ein (40a) oder mehrere (40b) Einzelereignisse ab. Bei partikulärer Verwendung scheint man dem Indefinitum jemand zu entsprechen: (40) a. Man/Jemand hat gerade bei uns eingebrochen. b. Schon oft hat man/jemand bei uns eingebrochen. Anders als das Indefinitum jemand ist man jedoch bei Quantifikation über Ereignisse wie in (40) nicht skopussensitiv (vgl. dazu ausführlicher Zifonun 2001c). Generisch werden auch ich, wir (sprecherinklusiv) und du gebraucht; beim Gebrauch von du nimmt der Sprecher eine Perspektive der Distanzierung gegenüber eigenen Erfahrungen ein, schließt sich aber in der Regel doch als Gemeinten mit ein. (41)

So ist es schon immer gewesen: In schwierigen Zeiten muss ich / müssen wir / musst du die Zähne zusammenbeißen.

Dem partikulären Gebrauch von man in (33) und (40) entspricht die nicht-anaphorische Verwendung von sie (Plural), die vor allem umgangssprachlich vorkommt; Sprecher und Hörer sind hier nicht mitgemeint: (42)

a. Sie haben letzte Woche bei uns eingebrochen. b. Sie haben schon wieder die Buspreise erhöht.

B1.5.2.6 Referenz auf ‚abstrakte Objekte‘ und unspezifische Referenz Nicht nur auf Entitäten, die durch eine NP eingeführt wurden, kann phorisch Bezug genommen werden, sondern auch auf solche, die durch Sätze, Infinitivkonstruktionen oder Prädikatsausdrücke konstituiert wurden. Corbett (1991: 203–218) spricht hier von „non-prototypical controllers“, also nicht-pototypischen Antezedentien. Dabei sind, wie die sprachlichen Kontextbedingungen bezeugen, eine ganze Reihe unterschiedlicher Denotatstypen zu unterscheiden, etwa Sachverhalte, Ereignisse bzw. „Eventualitäten“ (mit weiterer Subklassifikation) und Tatsachen sowie Eigenschaften. Im Anschluss an Asher (1993: 15–62) sprechen wir zusammenfassend hier von ‚abstrakten Objekten‘. (43)

a. Ich glaube, dass Hans dich liebt. – Ich hoffe es auch. (Denotatstyp: Sachverhalt)  

B1 Wortklassen

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b. Gestern haben wir den Weihnachtsbaum geschmückt. Es hat drei Stunden gedauert. (Denotatstyp: Eventualität/Ereignis) c. Deutschland ist bei der WM ausgeschieden. Es wundert niemanden mehr. (Denotatstyp: Tatsache) d. Hans ist ein netter Kerl. Er war es schon immer. (Denotatstyp: Eigenschaft) Auf ,abstrakte Objekte‘ kann auch durch NPs Bezug genommen werden, etwa Nominalisierungen wie die Eroberung oder die Schönheit. Von diesem Fall ist hier abzusehen, da hier die generellen Prinzipien der Kongruenz zwischen NP und anaphorischem Pronomen gelten: die Eroberung . . . sie, und nicht etwa die grundsätzliche Setzung des neutralen Pronomens.  



Die Terminologie in diesem Bereich ist uneinheitlich: Bei den „gesättigten abstrakten Objekten“ unterscheidet Asher zwischen a) „eventualities“ (mit den Subklassen „events“ und „states“) und b) „purely abstract objects“ (mit den Subklassen „proposition-like objects“ und „fact-like objects“). Diesem Vorschlag schließen wir uns hier mit Vereinfachungen an. Mit Asher grenzen wir „ungesättigte abstrakte Objekte“ (Eigenschaften) gegenüber den „gesättigten abstrakten Objekten“ (allen anderen) ab. Der phorische Bezug auf ‚abstrakte Objekte‘ erfordert einen Ausdruck im ‚konzeptuellen Neutrum‘ (conceptual neuter), wie Jespersen (1924: 241–243) formuliert. Dieser kann in Sprachen mit einem neutralen Genus (Deutsch, Niederländisch, Polnisch usw.) oder mit dem konkreten Genus [–personal] (Englisch) im Prinzip durch das Personalpronomen der 3. Person im entsprechenden Genus vertreten werden. Offenbar wird aber in vielen Sprachen bei nicht-prototypischen Antezedentien das anaphorische Personalpronomen – unabhängig von der Verfügbarkeit eines neutralen oder nicht-personalen anaphorischen Pronomens – eher gemieden und das entsprechende Demonstrativum gesetzt. Diese Tendenz ist bei den Vergleichssprachen unterschiedlich stark ausgeprägt, zum Teil handelt es sich nur um Präferenz des Demonstrativums (wie im Englischen oder Deutschen) gegenüber dem neutralen Personalpronomen, zum Teil wird das Demonstrativum (wie im Französischen) nur in bestimmten syntaktischen Funktionen gesetzt, zum Teil – wie im Polnischen – grundsätzlich. In Sprachen, in denen Genusdifferenzierung vorliegt, jedoch das spezifische neutrale bzw. nicht-personale Genus fehlt, wie im Französischen und im Spanischen, wird auf ein anderes Genus zurückgegriffen oder aber auf Restformen einer früheren neutralen Genuskategorie. Auch bei ‚unspezifischer Referenz‘ auf etwas zuvor nicht Benanntes fehlt ein protototypisches Antezedens und die Pronomenwahl kann problematisch werden (vgl. unten zum Französischen). In Sprachen ohne jede Genusdifferenzierung wie Ungarisch oder Türkisch ist die Referenz auf abstrakte Objekte auf Grund des Pro-Drop-Parameters in der Regel unproblematisch an die 3. Person Singular des finiten Verbs geknüpft. Es wird hier im Einzelnen nur auf Englisch, Französisch, Spanisch, Polnisch sowie Deutsch eingegangen. Die genannten Kontrastsprachen weichen im Gebrauch entsprechender Proformen in charakteristischer Weise vom Deutschen ab.  









580

B Wort und Wortklassen

Im Englischen kann it wie DEU es mit Bezug auf gesättigte abstrakte Objekte (in Form von Sätzen, infiniten Konstruktionen) gebraucht werden; es konkurriert hier mit so. So haben wir in (44) einen Rückbezug auf eine ‚Tatsache‘, in (44a) in Form eines Satzes, in (44b) in Form einer Infinitivkonstruktion – hier gibt es neben der Lesart als ‚Tatsache‘ (,dass sie wirklich hier sind‘) auch die Lesart als ,Sachverhalt‘ (,wenn sie hier sind‘).  

(44) a. John doesn’t study for the examination. He will regret it. ENG ‚John lernt nicht für das Examen. Er wird es bereuen.‘ b. It’s great for some people to be here. But I don’t like it. ‚Es ist für einige Leute großartig, hier zu sein. Aber ich mag es nicht.‘ Die Verteilung der beiden englischen Proformen it und so gegenüber der einen entsprechenden Proform es im Deutschen ist: it steht vor allem bei faktiven Verben (regret, resent, know), ist also auf den Denotatstyp ,Tatsache‘ beschränkt, so steht bei Verben des Sagens, Wünschens und Denkens, umfasst also den Denotatstyp ,Sachverhalt‘. Beim Bezug auf ungesättigte abstrakte Objekte, also Eigenschaften, die durch Prädikative ausgedrückt werden, steht im Englischen nur so, wie in (45). (45) ENG

John was a good student. So was Eva. ‚John war ein guter Student. Eva war es auch.‘

Wird auf einen verbalen Prädikatsausdruck mit transitivem Handlungsverb Bezug genommen, so gebraucht man im Englischen die Proformenkombination do it bzw. do so (Quirk et al. 1985: 876): (45) ENG

Rover is scratching the door. He always does it / does so, when he wants attention. ‚Rover kratzt an der Tür. Er macht das immer, wenn er Aufmerksamkeit verlangt.‘

Bei intransitiven Prozessverben, bei Einstellungsverben usw. ist do it nicht akzeptabel, während es einen gewissen Spielraum im Gebrauch von do so und einfachem do gibt. (46) ENG

They think he is a nice person. – We do too / ?do / ?do so too. ‚Sie glauben, er ist ein netter Mensch. – Wir auch / ??Wir tun es auch.‘  



Von Informanten wird We do too in diesem Kontext einstimmig als gut eingeschätzt, We do wird nur teilweise für akzeptabel gehalten, ebenso auch We do so too.

B1 Wortklassen

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Im Französischen hat insbesondere die Akkusativform le zum Maskulinum il Funktionen, die im Deutschen (und anderen Sprachen) vom neutralen Personalpronomen wahrgenommen werden. Dies ist neben die Tatsache zu stellen, dass es nur zwei substantivische Genera (M , F ) gibt. Man kann hier annehmen, dass im Französischen das Maskulinum das unmarkierte Genus ist, in dem „neutrale“ Verweisfunktionen realisiert werden. le (AKK ) verweist in dieser Funktion auf ungesättigte und gesättigte abstrakte Objekte (in Form von Sätzen oder Infinitivkonstruktionen). (47) a. Ils étaient juges, ils ne le KL . 3PL . M waren Richter.PL KL . 3PL . M NEG KL .3SG . M . AKK FRA sont plus. sind mehr ‚Sie waren Richter, sie sind es nicht mehr.‘ b. Vous êtes heureux. Je ne le crois seid glücklich KL .1SG NEG KL .3SG . M . AKK glaub.1SG 2PL pas. NEG

‚Ihr seid glücklich / Sie sind glücklich. Ich glaube es nicht.‘ c. J’ entends les oiseaux chanter. – KL .1SG hör.1SG DEF . PL Vogel.PL sing.INF Je l’ entends aussi. KL . 1SG KL . 3SG . M . AKK hör.1SG auch ‚Ich höre die Vögel singen. – Ich höre es auch.‘  



Als Subjekt mit neutraler Verweisfunktion wird das Demonstrativum cela/ça gebraucht. (48) FRA

Vous êtes heureux. Cela m’ étonne. 2PL seid glücklich DEM . N KL . 1SG . AKK überrasch.3SG ‚Ihr seid glücklich / Sie sind glücklich. Es/Das erstaunt mich.‘

Bei Bezug auf Sachen, deren Benennung und damit deren grammatisches Geschlecht unbekannt sind, kann nur die Akkusativform le, nicht aber il gebraucht werden, wo DEU es Anwendung findet. Auch hier wird in Subjektfunktion cela/ça substituiert. (49) a. Je ne sais pas ce que c’ KL . 1SG NEG wiss.1SG NEG DEM . M . SG RPAR DEM . M . SG FRA est, mais je le mangerai. KL . 1SG KL . 3SG . M . AKK ess.FUT . 1SG ist aber ‚Ich weiß nicht, was das ist; aber ich werde es essen.‘

582

B Wort und Wortklassen

b. Je

sais pas ce que c’ wiss.1SG NEG DEM . M . SG RPAR DEM . M . SG mais *il / ça me plaît. KL . 3SG DEM . N . SG KL . 1SG . AKK gefall.3SG aber ‚Ich weiß nicht, was das ist; aber es gefällt mir.‘

KL . 1SG

ne

est, ist

NEG

Im Spanischen existiert noch – ausschließlich in der Funktion des konzeptuellen Neutrums – die starke neutrale Form ello neben él/ella (M / F ); sie ist jedoch wenig gebräuchlich. Stattdessen wird ein neutrales Demonstrativpronomen (esto/eso/aquello) gesetzt. Auch im Spanischen übernimmt das schwache Pronomen im Genus M die neutrale Referenzfunktion in Objektfunktion. Man beachte, dass im Spanischen für das direkte Objekt mit lo ein nicht-personales klitisches Pronomen im Maskulinum zur Verfügung steht.  

(50) SPA

a. Luis sabe quién rompió el cristal, wer zerbrech.PRT . 3SG DEF Scheibe Luis wiss.3SG lo dice. KL . 3SG . M . AKK sag.3SG ‚Luis weiß, wer die Scheibe zerbrochen hat, aber er sagt es nicht.‘ b. ¿Juán es médico? Sí, lo es. KL . 3SG . M . AKK ist Juán ist Arzt ja ‚Ist Juan Arzt? Ja (, er ist es).‘ (Reumuth/Winkelmann 1991: 104)



pero aber

no NEG

Im Polnischen wird das Paradigma des neutralen Personalpronomens ono nur phorisch für neutrale NP verwendet, wie in (51a), bei Verweis auf gesättigte abstrakte Objekte muss das neutrale Demonstrativum to gesetzt werden, s. (51b). Anaphorischer Prädikatsbezug ist nicht möglich; der Bezug auf ungesättigte abstrakte Gegenstände ergibt sich grundsätzlich nur kontextuell, vgl. (51c), wobei die verblose Variante gebräuchlicher ist. małe. (Ono) jeszcze nie ma (51) a. Dziecko jest noch NEG hab.3SG POL Kind ist klein 3SG . N lat. Jahr.GEN . PL ‚Das Kind ist klein. Es ist noch nicht einmal zwei Jahre alt.‘ b. Dziecko bawi się w ogrodzie. Kind spiel.3SG KL . REFL in Garten.LOK (Ono) zawsze to robi. DEM . N . SG mach.3SG 3SG . N immer ‚Das Kind spielt im Garten. Das tut es immer.‘ c. Hans jest szczęśliwy. Ja też (jestem). Hans ist glücklich 1SG auch bin ‚Hans ist glücklich. – Ich (bin es) auch.‘  

dwóch zwei.GEN G EN

B1 Wortklassen

583

Im Deutschen steht mit dem neutralen Personalpronomen es eine Form für den phorischen Bezug auf ‚abstrakte Objekte‘ in Form von Sätzen (52) oder Infinitivkonstruktionen (53) sowie auf Eigenschaften bzw. Prädikationen (54) unproblematisch zur Verfügung – in Vorfeldposition allerdings nur als Subjekt und weniger präferiert als das Demonstrativum das. Dabei ist kataphorische Verwendung (Beispiele b) über die Vollsatzgrenze hinweg gegenüber anaphorischer (Beispiele a) der markiertere Fall; sie ist meist mit intonatorischer Anbindung der Folgekonstruktion verbunden. Bei Infinitivkonstruktionen wie (53b) und Prädikationen wie (54b) ist kataphorische Verwendung nur in der Funktion von Korrektur oder Nachtrag üblich.  

(52)

a. Die Expo ist eröffnet worden. Das/Es fand nicht viel Beachtung. Aber keiner hat es beachtet. b. Keiner hat es beachtet: Die Expo ist eröffnet worden.

(53)

a. Wir planen, nächsten Montag zur Expo zu fahren. Wir planen es auch. b. Wir planen es schon mal. Zur Expo zu fahren, meine ich.

(54)

a. Du bist zufrieden. Dann bin ich es auch. b. Ich bin es auch. Zufrieden wie du.

Das neutrale Pronomen es kann – etwa im Gegensatz zu FRA il – auch zur Bezugnahme auf Gegenstände mit unbekannter Benennung und damit unbekanntem Genus gebraucht werden:  

(55)



Ich weiß nicht, was das ist, aber es gefällt mir / aber ich werde es essen.

B1.5.2.7 Schwach referentielle Verwendung des neutralen Personalpronomens Das neutrale Personalpronomen der dritten Person (bzw. seine genustypspezifische Entsprechung) hat in vielen Sprachen Funktionen, die nicht phorisch bzw. nicht referentiell sind oder die eine Referenzfunktion nur in einem allgemeineren bzw. weniger prototypischen Sinne erfüllen. Zusammenfassend sprechen wir hier von ‚schwach referentiellen Verwendungen‘. Ein besonderer Bedarf für Pronomina dieser Verwendungsweise besteht in Sprachen ohne Pro-Drop-Möglichkeit (vgl. auch → B1.5.2.2). Es wird daher zunächst nur auf europäische Vergleichssprachen, die nicht Pro-Drop-Sprachen sind, eingegangen. Erst am Ende des Abschnitts werden funktional vergleichbare Verfahren und Konstruktionstypen in den Subjekt-Pro-DropSprachen Polnisch und Ungarisch kurz angesprochen. Eine Referenzfunktion im prototypischen Sinne liegt dann vor, wenn das neutrale Pronomen auf einen nominal repräsentierten Gegenstand in der Welt (unter Genus-

584

B Wort und Wortklassen

kongruenz mit dem Antezedens) verweist; auch auf abstrakte Objekte (bei satzförmigem oder infinitem Antezedens) im eingeführten Sinne kann, wie gezeigt, mit neutralen Personalpronomina referiert werden. Eine radikale Abweichung davon liegt dann vor, wenn das Pronomen referentiell leer ist wie etwa bei den Witterungsverben (ENG it rains). Es gibt jedoch durchaus Abstufungen in der Referentialität. Zum einen kann der Verweis ‚unschärfer‘ ausfallen, insofern als nicht auf einen der vorgenannten Referententypen eindeutig orientiert wird, aber immerhin ein Verweis auf einen ‚Redegegenstand‘ (oder ein „Topik“, vgl. Fabricius-Hansen 1999) erfolgt. Dieser unscharfe Verweis ist daran erkennbar, dass die erläuterten Bedingungen für die Kongruenz mit einem Antezedens nicht erfüllt sind. Ein Beispiel liefert der Kontext in (56), wo ein maskulines Substantiv dem Verweispronomen vorausgeht. (56)

Wir haben einen FreundM getroffen. EsN war Klaus. (Fabricius-Hansen 1999: 202)

Zum anderen kann ein rein struktureller Verweis innerhalb des Satzes vorliegen wie etwa in (57a) gegenüber (57b). (57)

a. Ich habe es gewusst, dass Hans Eva betrogen hat. b. Hans hat Eva betrogen. Ich habe es gewusst.

Vom prototypischen Verweisen wird in (57a) insofern abgewichen, als hier ein und derselbe Referent, nämlich der Sachverhalt, dass Hans Eva betrogen hat, in nur einer einzigen Rolle innerhalb eines einzigen Sachverhaltsentwurfs auftritt, im Beispiel als Inhalt (Rolle THEMA ) der propositionalen Einstellung ,wissen‘ des Sprechers. Demgegenüber wird beim prototypischen Verweisen in (57b) zunächst der Sachverhalt, dass Hans Eva betrogen hat, unabhängig assertiert und damit gleichzeitig als abstraktes Objekt eingeführt. Sodann wird ein weiterer Sachverhaltsentwurf assertiert, nämlich, dass der Sprecher die propositionale Einstellung ‚wissen‘ zu diesem abstrakten Objekt hat. Im Falle, dass das neutrale Pronomen referentiell leer ist, aber auch wenn es nur unscharf referiert, sprechen wir von unpersönlichen Konstruktionen. Hier ist eine Argumentstelle, insbesondere die als Subjekt zu realisierende, nicht durch einen Ausdruck mit (klarer) Referenzfunktion zu besetzen; ein syntaktischer Repräsentant für die Stelle mit der Funktion eines Subjekts oder Objekts ist jedoch aus strukturellen Gründen gefordert. Man kann hier auch von „Quasi-Argumenten“ in Komplementfunktion sprechen. Der Begriff ‚unpersönliche Konstruktion‘ ist genauer zu klären und gegenüber der ‚subjektlosen Konstruktion‘ abzugrenzen. 1.

Unpersönliche Konstruktion i. w. S. für Konstruktionen, in denen durch einen Valenzträger gefordert wird, dass eine der Argumentstellen durch einen Ausdruck  



B1 Wortklassen

585

ohne Referenzfunktion besetzt wird. Z. B. ist dann auch es Leid haben, es mit jemandem zu tun haben in diesem Sinn eine unpersönliche Konstruktion. Wenn diese Argumentstelle das Subjekt ist, kann man von unpersönlicher Konstruktion i. e. S. sprechen, weil dann das Verb keine unterschiedlichen Personalformen hat, sondern in der Standardform 3. Person Singular steht (es regnet). Wenn keine nicht-referentielle Leerstelle vorhanden ist, aber das Verb, weil die Subjektstelle überhaupt nicht besetzt ist, ebenfalls in der 3. Person Singular steht wie beim Passiv deutscher intransitiver Verben, sprechen wir von ,subjektloser (Default-)Konstruktion‘, nicht von einer unpersönlichen Konstruktion. Zu beachten ist, dass bei Pro-Drop-Sprachen wie Polnisch und Ungarisch nur dann in diesem Sinn von subjektloser Konstruktion die Rede sein kann, wenn die Referenz auf ein „echtes“ Subjekt-Argument nicht mit der Verbform ausgedrückt wird wie etwa in POL (ono) robi ,es macht‘ versus (*ono) pada ,es regnet‘.  

2.



3.



Dieser Fallgruppe wird auch die ‚Identifizierungskonstruktion‘ zugeordnet: Ihr kommt die Aufgabe zu, bereits im Text oder Diskurs eingeführte Referenten näher zu identifizieren. Ein Standardkontext ist das Frage-Antwort-Paar, mit dem die Identität einer Person oder einer Sache erfragt werden soll: „Wer/Was ist es/X? – Es ist Y.“ In der Antwort erscheint die Angabe zur Identifizierung als ‚rhematisches Komplement‘. In anderen Fällen wird ein Diskursreferent durch eine indefinite Deskription eingeführt und im Folgesatz durch eine Identifizierungskonstruktion näher bestimmt, wie in (58).  

(58)

Ich habe mir einen neuen Computer gekauft. Es ist ein Macintosh.

Die syntaktische Funktion dieses Ausdrucks kann sprach-, aber auch konstruktionsabhängig entweder Subjekt oder Prädikativ sein. Von solchen Identifizierungskonstruktionen sind die so genannten ‚Spaltsätze‘ (Es war Hans, der da geklopft hat) syntaktisch abgeleitet. Auch die Verwendung des neutralen Pronomens bei Existenzverben (FRA il y a ‚es gibt‘) und in phraseologischen Verbindungen (NDL ik heb het koud ‚mir ist (es) kalt‘) gehört zur Fallgruppe ‚unpersönlicher Konstruktionen‘. Das Vorkommen des neutralen Pronomens (oder einer adverbialen Proform, vgl. unten) beim Passiv intransitiver Verben ordnen wir nur dann hierher, wenn die Proform obligatorisch und stellungsunabhängig gesetzt wird wie im Französischen (il en est parlé ‚davon wird gesprochen‘) oder in den festlandskandinavischen Sprachen. Die zweite Fallgruppe, der strukturelle Verweis innerhalb des Satzes, dient in erster Linie zur Positionierung des Bezugsausdrucks in einer Position im meist linear zum Satzende tendierenden Vordergrundbereich bzw. im rhematischen Bereich; es handelt sich also in der Regel um einen Vorverweis durch das neutrale Pronomen. Zu unterscheiden ist hier zwischen dem Vorverweis auf eine, in aller Regel indefinit referierende, nominale Einheit zum Zwecke der Rhematisierung („rhematisierende

586

B Wort und Wortklassen

Präsentierungskonstruktion“ im Sinne von Askedal 1999: 48) und dem Vorverweis auf einen Untersatz oder eine Infinitivkonstruktion; hier sprechen wir von Extrapositionskonstruktionen. Dieser Terminus ist allgemein zu verstehen: ‚Ausklammerung‘ ist der Spezialfall von Extraposition in Sprachen mit einer expliziten verbalen Klammerstruktur und wird zunächst nur für das entsprechende Phänomen im Deutschen gebraucht. Für die genannten Funktionen beider Fallgruppen ist das neutrale Pronomen der geeignete Kandidat. Allerdings lassen sich die europäischen Sprachen, die hier überhaupt „pronominal“ vorgehen – dies sind in erster Linie die germanischen Sprachen –, in zwei Gruppen einteilen: solche, die einheitlich das neutrale Pronomen verwenden (Deutsch, Französisch, Isländisch, Norwegisch, Schwedisch) und solche, die daneben in bestimmten Fällen ein Adverb (Pro-Adverb) verwenden (Niederländisch, Englisch, Dänisch). Diese, in der Grundbedeutung lokalen, Adverbien (NDL er, ENG there, DÄN der) fungieren hier ebenfalls als schwach referentielle Proformen, indem sie einen situativen Verweis herstellen (→ B1.5.1); sie fungieren als Situationsoder Ereignisargument. Das Adverb wird insbesondere angewendet bei Existenzverben (ENG there is a unicorn in the garden ‚es ist ein Einhorn im Garten‘), aber auch bei intransitiven Geschehensverben oder beim Passiv, wobei ein indefinites Subjekt im rhematischen Bereich präsentiert werden soll (ENG there came two nice boys ‚es kamen zwei nette Jungs‘, DÄN der blev spist et æble ‚es wurde ein Apfel gegessen‘). Durch die Verwendung des Adverbs wird der letzte Fall dem Fall des Existenzverbs angenähert. Das bedeutet: Beim Gebrauch des Adverbs wird ein Partizipant oder eine Gruppe von Partizipanten in einer Situation lokalisiert. Dagegen wird beim Gebrauch des neutralen Pronomens im engeren Sinne auf einen rhematisierten Partizipantenausdruck vorverwiesen. Ähnlich wie bei Existenzverben und rhematisierenden Präsentierungskonstruktionen gibt es auch beim Passiv intransitiver Verben eine Aufspaltung in Sprachen, die das neutrale Pronomen verwenden (Französisch, Isländisch, Norwegisch, Schwedisch), und solche, die das Adverb (Niederländisch, Dänisch) verwenden. Unabhängig von dieser Unterscheidung ordnen wir das Vorkommen der Proformen im Passiv intransitiver Verben der Fallgruppe ‚struktureller Verweis‘ zu, wenn die Proform nur stellungsabhängig und zum Zwecke der Rhematisierung gesetzt wird. Dies gilt für das Deutsche, das Niederländische und das Isländische. Zwar hat die Proform hier keine (auch nur strukturelle) Verweisfunktion, jedoch dient ihre Setzung auch hier der Rhematisierung einzelner Konstituenten oder der gesamten Prädikation (vgl. zum Deutschen weiter unten). Wir fassen die bisherigen Ergebnisse in Tabelle 5 zusammen. Darin bezeichnet ‚+‘ das Vorkommen des neutralen Pronomens, ‚Adv‘ die des Pro-Adverbs, ‚–‘ zeigt an, dass die Konstruktion in der entsprechenden Sprache nicht vorhanden ist. Das Passiv intransitiver Verben ist sprachabhängig als unpersönliche Konstruktion i. e. S. oder als Konstruktion mit strukturellem Verweis aufzufassen; dies wird durch den Pfeil, der jeweils in die Richtung der entsprechenden Konstruktion weist, angedeutet.  







587

B1 Wortklassen

Tab. 5: Neutrales Pronomen und Adverb in unpersönlichen Konstruktionen und beim strukturellen Verweis UNPERSÖNLICHE

K ONST ONSTRUKTIONEN RUKT IONEN

STRUKTURELLER STRUKTURELL ER

V ERWEIS

Witterungs- Identifiverben zierungskonstruktion

phraseologische Verbindungen

Existenzverben

Passiv Rhematiintransiti- sierende ver Verben Präsentierungskonstruktion

Extrapositionskonstruktion

ENG

+

+

+

Adv



Adv

+

DÄN

+

+

+

Adv

Adv

Adv

+

Adv

+

+

+

+

+

+

+

+

+

← NDL

+

+

+

Adv

Adv →

DEU

+

+

+

+

+ →

ISL

(+)

+

+

+

+ →

FRA

+

+

+

+

+ ←

NOR/ SWE

+

+

+

+

+ ←

Die nordwesteuropäischen Sprachen (germanische Sprachen + Französisch) gebrauchen somit schwach referentielle Proformen. Es zeigen sich dabei deutlich zwei einander überlappende Verteilungsmuster, die auf engere areale Zusammenhänge bzw. sprachstrukturelle Parametrisierungen verweisen: 1.

2.

In drei benachbarten Sprachen (aus dem nördlichen Westgermanischen und südlichen Nordgermanischen) wird neben dem neutralen Pronomen ein Adverb gebraucht. Im Niederländischen, Deutschen und Isländischen ist die Proform, wie sich insbesondere im Passiv intransitiver Verben zeigt, in erster Linie ein z. T. pragmatisch gesteuertes Verweismittel (ein ‚Platzhalter‘), während sie in den anderen Sprachen stärker zum expletiven Subjekt (oder anderem Satzglied) tendiert. Dies steht im Zusammenhang mit der größeren topologischen Flexibilität der drei erstgenannten Sprachen gegenüber der Konfigurationalität der anderen.  

588

B Wort und Wortklassen

Es besteht außerdem folgende Korrelation: Nur bei Sprachen, die das neutrale Pronomen verwenden, kann die rhematisierende Präsentierungskonstruktion auch im Aktiv transitiver Verben angewandt werden: Vgl. (59) gegenüber (60). (59) ISL

Það hefur einhver borðað jemand gegessen 3SG . N . NOM hab.3SG ‚Es hat jemand einen Apfel gegessen.‘

(60) ENG

*There has somebody eaten an apple. ‚Es hat jemand einen Apfel gegessen.‘

epli. Apfel

Allerdings werden transitive Verben im Aktiv nur im Deutschen und Isländischen einbezogen, während im Französischen und im Norwegischen die Konstruktion nur bei intransitiven Verben möglich ist. Die Funktion jeweils von neutralem Pronomen und rhematisierter NP ist ein weiterer Varianzfaktor: Ablesbar an der Finitumkongruenz ist entweder das neutrale Pronomen Subjekt und die rhematisierte Konstituente Objekt (Französisch, Norwegisch) oder das Pronomen hat keine Satzgliedfunktion, ist also Platzhalter, und die rhematisierte Konstituente ist Subjekt (Deutsch, Isländisch). (Hinreichende Daten zum Schwedischen waren dagegen nicht zugänglich.) Hier ergibt sich eine weitere Korrelation: Nur wenn die rhematisierte Konstituente Subjekt ist, sind transitive Verben im Aktiv zugelassen. Wir halten daher diese komplexe Korrelation, die die beiden Teilkorrelationen zusammenfasst, fest: [i] Korrelation für rhematisierende Präsentationskonstruktionen bei transitiven Verben: (neutrales Pronomen & Subjekt (rhematisierte Konstituente)) → transitive Verben (Aktiv) ‚Wenn das neutrale Pronomen (nicht ein Adverb) verwendet wird, und die rhematisierte Konstituente Subjektstatus hat, dann sind rhematisierende Präsentationskonstruktionen auch bei transitiven Verben im Aktiv möglich.‘

Unter rein syntaktischem bzw. topologischem Gesichtspunkt ist ein Effekt der hier erörterten Konstruktionstypen insgesamt – außer dem selteneren Fall des referentiell leeren Objekts –, dass die übliche topologische Subjektstelle nicht durch ein typisches Subjekt-Argument belegt ist (‚Subjektposition ohne Argumentstatus‘), und dass ggf. ein typischerweise als Subjekt kodiertes Argument nicht in der üblichen Subjektposition erscheint, sondern in einer rhematischen Position bzw. Fokusposition, eher am Satzende (‚Subjektversetzung‘). Mit ‚Subjektposition ohne Argumentstatus‘ wird nicht behauptet, dass das referentiell schwache Pronomen wirklich Subjekt ist. Wie ausgeführt, kann die syntaktische Funktion des Pronomens von Sprache zu Sprache, aber auch von Konstruktion  



589

B1 Wortklassen

zu Konstruktion unterschiedlich sein. Dabei ist nicht (allein) die Topologie (Besetzung der oder einer üblichen Subjektstelle) ausschlaggebend, sondern vor allem auch die Finitumkongruenz. Bezieht man so – ohne die funktionalen Fallunterscheidungen und die unterschiedlichen verwendeten Proformen zu berücksichtigen – alle Verbtypen bzw. alle Diathesentypen, die genannt wurden, ein, so lässt sich eine sprachübergreifende Hierarchie formulieren: [ii] Hierarchie der Verbtypen und Verbdiathesen bei schwach referentiellen Proformen (mit ,Subjektposition ohne Argumentstatus‘ bzw. ,Subjektversetzung‘):  



Witterungsverben, Existenzverben > intransitive Geschehensverben > Passiv transitiver Verben, Passiv intransitiver Verben > Aktiv transitiver Verben Die Hierarchie beruht auf folgenden Fakten: Deutsch und Isländisch, die auch beim Aktiv transitiver Verben eine schwach referentielle Proform mit Subjektversetzung zulassen, lassen Entsprechendes auch bei allen anderen genannten Verbtypen und Verbdiathesen (Witterungsverben, Existenzverben, intransitive Geschehensverben, subjekthaltiges und subjektloses Passiv transitiver und intransitiver Verben) zu. Niederländisch, die festlandskandinavischen Sprachen und Französisch erlauben die Konstruktion bei allen Verb- und Diathesentypen außer bei transitiven Verben im Aktiv. Das Englische kennt die Konstruktion uneingeschränkt nur bei Witterungsverben und Existenzverben. Bereits bei der zweiten Hierarchieposition ist die Konstruktion nur eingeschränkt möglich (bei Verben wie appear, occur). Möglicherweise gibt es außerdem Daten, die es erlauben, auch noch zwischen den beiden Paaren ‚Witterungsverben, Existenzverben‘ und ‚Passiv transitiver, Passiv intransitiver Verben‘ eine hierarchische Abstufung vorzunehmen. Als weitere Varianzfaktoren sind die Obligatorik bzw. Fakultativität der Setzung der Proform sowie ihre Stellungsvariabilität zu werten. Diese werden hier nicht im Einzelnen erörtert (vgl. den Abschnitt zum Deutschen). Wir halten nur folgende Tendenzregeln fest: Tendenz 1: Für unpersönliche Konstruktionen gibt es die Tendenz, dass die Proform verb(form)abhängig und dabei obligatorisch ist. So ist bei allen o. g. Sprachen außer dem Isländischen das neutrale Pronomen bei Witterungsverben obligatorisch. In der Übersichtstabelle wurde daher beim Isländischen das Pluszeichen in der entsprechenden Spalte in Klammern gesetzt. Im Isländischen hat das Pronomen auch bei Witterungsverben nur Platzhalterfunktion und kann bei anderer Besetzung der Stelle vor dem Finitum im Aussagesatz entfallen. Im Entscheidungsfragesatz und in Subjunktorsätzen wird það in diesen Fällen nicht gesetzt, vgl. (61).  

(61) ISL

Það rignir – 3SG . N . NOM regn.3SG ,Es regnet. –

Rignir? – regn.3SG Regnet es? –  



Þegar rignir… wenn regn.3SG ‚Wenn es regnet …‘

590

B Wort und Wortklassen

Tendenz 2: Beim strukturellen Verweis ist die Setzung der Proform grundsätzlich positionsabhängig, d. h. nicht vom Verb oder der Verbform (z. B. Passiv intransitiver Verben) selbst gefordert. Wenn die Proform Subjektstatus hat, muss sie an der jeweiligen Subjektposition erscheinen; diese kann – wie in den festlandskandinavischen Sprachen – von der Topik-Position verschieden sein. Wenn die Proform dagegen keinen Satzgliedstatus hat (Platzhalter ist), muss sie nur an bestimmten ausgezeichneten Positionen (z. B. Topikposition, Vorfeld) erscheinen; sie kann dabei jedoch anderen Stellungsgliedern weichen. Wir besprechen nun die Verwendungsweisen in den Kern-Vergleichssprachen Englisch, Französisch und Deutsch eingehender. Die nicht-referentiellen Verwendungen von ENG it sind wie folgt:  









1.

Unpersönliche Konstruktionen a. bei Witterungsverben, entsprechenden adjektivischen Konstruktionen und pauschalen Situationsbeschreibungen inklusive Zeit- und Distanzangaben, s. (62) b. bei Identifizierungskonstruktionen (to be + Prädikativ (subject complement)) bzw. den entsprechenden cleft-Sätzen, s. (63) und (64) c. in idioms in postverbaler Position (als Subjekt und Objekt), wie have a hard time of it ‚das Leben schwer finden‘, stick it out ‚durchhalten‘ oder How’s it going? ‚Wie steht’s?‘

(62) ENG

It’s raining. It’s getting dark. It’s very noisy here. It’s half past five. It’s a long way to Berlin. ‚Es regnet. Es wird dunkel. Es ist sehr laut hier. Es ist halb sechs. Es ist ein weiter Weg bis Berlin.‘

(63) ENG

Who is it/this gentleman? – It’s the mayor. ‚Wer ist es/dieser Herr? – Es ist der Bürgermeister.‘

(64) ENG

It was my brother who worked with us. ‚Es war mein BRUder, der mit uns gearbeitet hat. / Mein BRUder hat mit uns gearbeitet.‘

2.





Extrapositionskonstruktionen, bei denen it auf eine finite oder infinite Subjektoder Objektklausel bzw. eine -ing-Klausel als Objekt vorverweist (entspricht Typ 3 beim Deutschen). Vgl. folgende Beispiele:

(65) ENG

It is a pleasure to see you. ‚Es ist eine Freude, Sie zu sehen.‘

B1 Wortklassen

(66) ENG

I owe it to you that the jury acquitted me. ‚Ich verdanke es Ihnen, dass die Jury mich freigesprochen hat.‘

(67) ENG

I find it exciting working here. ‚Ich finde es aufregend, hier zu arbeiten.‘

591

Anders als im Deutschen wird in Existenzsätzen (Typ 1c im Deutschen) und bei einer fokussierten/rhematischen NP (Typ 2b im Deutschen) nicht it, sondern there (,existential there‘ bei to be und Präsentationsverben wie appear, occur, emerge, arise, come, arrive) gebraucht. Besonders hinzuweisen ist auf die gegenüber dem Deutschen höhere Üblichkeit und Frequenz von fokussierenden Konstruktionen mit it/there, also cleft-Sätzen, und Sätzen mit ‚existential there‘. Da es im Englischen kein subjektloses Passiv gibt, entfällt hier der Bedarf nach einem expletiven Pronomen. Französisch il wird in folgenden Fällen nicht-referentiell gebraucht: 1.

in unpersönlichen Konstruktionen als Subjekt a. bei Witterungsverben und entsprechenden adjektivischen Konstruktionen (il pleut, il neige, il fait beau, il fait clair ‚es regnet, es schneit, es ist schön, es ist hell‘) sowie Zeitangaben (il est deux heures ‚es ist zwei Uhr‘) b. bei Existenzverben, wie in (68) c. beim Passiv intransitiver Verben, wie in (69), wobei diese Form im Französischen markiert ist und nach Grevisse/Goosse (2011: 1031) vor allem in der Verwaltungssprache vorkommt d. bei phraseologischen Verbindungen, wie in (70)

(68) FRA

Il

y

des

KL . 3SG . M

KL . ADV

a là hab.3SG da ‚Es gibt da interessante Dinge.‘

PART . PL

choses Ding.PL

très sehr

intéressantes. interessant.PL

(69) FRA

Jeanne […] dont il a été et sera Jeanne REL KL . 3SG . M hab.3SG gewesen und sein.FUT . 3SG parlé ailleurs. gesprochen anderswo ‚Jeanne […] von der andernorts gesprochen wurde und gesprochen werden wird‘ (Grevisse/Goosse 2011: 1031)

(70) FRA

Il convient de (partir) / Il faut que (vous partirez). ,Es empfiehlt sich (zu gehen) / Es ist nötig, dass (Sie gehen).‘ (ebd.: 258)

2.

in rhematisierender Funktion zum Vorverweis auf eine nominale Konstituente am Satzende, wie in den beiden folgenden Beispielen

592

B Wort und Wortklassen

(71) FRA

(72) FRA

3.

Il

un

KL . 3SG . M

est arrivé ist gescheh.. PTZP ‚Es ist ein Unglück geschehen.‘

INDEF

Il

est arrivé trois ist ankomm.PTZP drei ‚Es sind drei Personen angekommen.‘ KL . 3SG . M

personnes. Leute

in Extrapositionskonstruktionen zum Vorverweis auf einen extraponierten Satz oder eine Infinitivkonstruktion in Subjektfunktion. Dabei sind die Konstruktionen mit Extraposition (Beispiele (73a) und (74a)) üblicher und den einfachen Konstruktionen (Beispiele (73b) und (74b)) stilistisch vorzuziehen.

(73) a. Il me plaît de KL . 3SG . M KL . 1SG . OBJ gefall.3SG von FRA b. Voyager en France me in Frankreich KL . 1SG . OBJ reis.INF ‚Es gefällt mir, in Frankreich zu reisen.‘ (74)

malheur. Unglück

a. Il

voyager en reis.INF in plaît. gefall.3SG

France Frankreich

ne

me convient pas que tu travailles tant. KL . 3SG . M NEG KL . 1SG . OBJ pass.3SG NEG KOMP KL . 2SG arbeit.2SG so viel ‚Es passt mir nicht, dass du so viel arbeitest.‘ b. Que tu travailles tant ne me convient pas. KOMP KL . 2SG arbeit.2SG so viel NEG KL . 1SG . OBJ pass.3SG NEG ‚Es passt mir nicht, dass du so viel arbeitest.‘

In allen Fällen ist il als formales Subjekt einzuschätzen. Damit ergeben sich Unterschiede zum Deutschen insbesondere bei Funktion 1c (Passiv intransitiver Verben), wo DEU es nur Vorfeld-Platzhalterfunktion hat, und bei Funktion 2: Anders als im Deutschen kongruiert das Verb hier nicht mit der rhematisierten Konstituente, sondern mit il. il ist also eindeutig das grammatische Subjekt. Extrapositionskonstruktionen (Funktion 3) werden sehr viel restriktiver gehandhabt als die entsprechenden Konstruktionen im Deutschen (keine Extraposition bei personalem direktem Objekt, kein Vorverweis auf Objektsätze und Objektinfinitive); andererseits aber sind die Extrapositionskonstruktionen, wo sie denn vorkommen, stärker grammatikalisiert als im Deutschen. Man beachte auch, dass Infinitive in Extraposition stets mit der Partikel de angeschlossen werden, während ein präverbaler Subjekt-Infinitiv üblicherweise partikellos ist. Bei Identifizierungskonstruktionen (être + Prädikativ) bzw. den entsprechenden Spaltsätzen wird im Französischen nicht il, sondern das Demonstrativum ce verwendet, vgl. (75); ebenso auch bei pauschalen Situationsbeschreibungen und Distanzangaben, wie in (76).  



B1 Wortklassen

593

(75) a. C’ est moi. DEM . M . SG ist 1SG FRA ‚Ich bin es.‘ b. C’ est moi qui ai caché tes jouets. DEM . M . SG ist 1SG RPRO hab.1SG versteckt POSS . 2SG . PL Spielzeug.PL ‚Ich bin es, der dein Spielzeug versteckt hat.‘ (76) a. C’ est calme ici. FRA DEM . M . SG ist ruhig hier ‚Es ist ruhig hier.‘ b. C’ est très loin jusqu’à DEM . M . SG ist sehr weit bis ,Es ist sehr weit bis Berlin.‘

Berlin. Berlin

Im Unterschied zum Deutschen wird zur Bezeichnung von Befindlichkeiten im modernen Französisch nicht unpersönlich konstruiert. Man kontrastiere FRA j’ai froid oder j’ai faim mit DEU mich friert (es) / mir ist (es) kalt und (veraltet) mich hungert (es). Im Deutschen ist der Gebrauch des neutralen Personalpronomens ohne (eindeutige) Referenzfunktion, also als referentiell leeres bzw. unscharfes Element oder bei rein strukturellem, satzinternem Verweis, vergleichsweise ausgedehnt. Für das Deutsche wird an die Klassifikation und Terminologie der IDS-Grammatik (1997: 1082) angeschlossen (fixes es, expletives es, usw.). Diese ist kontrastiv nicht generalisierbar (vgl. z. B. zum Englischen), andererseits hat das Deutsche doch auch Besonderheiten, die gerade durch diese Differenzierungsform zum Ausdruck kommen. Folgende Funktionen sind im Deutschen zu unterscheiden:  

1.

Unpersönliche Konstruktionen. Hier erscheint das so genannte fixe es obligatorisch (Punkte a. bis e.) oder fakultativ (Punkt f.) in unterschiedlichen Satzpositionen. Fixes es kann als formales Subjekt/Objekt oder auch (wie bei Punkt b.) als Prädikativkomplement aufgefasst werden, hat jedoch keinen Argumentstatus (Quasi-Argument). Es erscheint in folgenden Fällen: a. bei Witterungsverben (es regnet/hagelt/schneit) bzw. pauschalen Situationsbeschreibungen (Es blüht hier überall. Es ist wunderschön hier.) inklusive Zeitund Distanzangaben (Es ist 5 Uhr. Es ist nicht weit (bis Berlin).) b. bei Identifizierungskonstruktionen (sein + Nominalphrase im Nominativ), bzw. den entsprechenden Spaltsätzen (cleft-Sätzen), wie in (77) resp. (78); in (77) ist die Bestimmung der Satzgliedfunktion von es und der NP im Nominativ schwierig: es erscheint hier im Allgemeinen im Vorfeld und wäre damit nach Askedal (1999: 48) Subjekt, nicht Prädikativkomplement; bei Personalpronomina der 1. und 2. Person ist Vorfeld-es ausgeschlossen und es wechselt nach Askedal (ebd.) in Prädikativfunktion

594

B Wort und Wortklassen

bei Existenzverben als Subjekt, wie in (79) und (80) – letzteres im Süd- und Schweizerdeutschen; in strukturellen Grammatiken (z. B. Engel 1988) wird es in dieser Funktion nicht als Subjekt/Objekt eingeordnet, weil es nicht kommutierbar ist: Aufgrund anderer Subjekt-/Objektparameter kann hier jedoch auch für den entsprechenden Satzgliedstatus argumentiert werden; vgl. dazu Zifonun (1995: 42–46) d. in phraseologischen Verbindungen als Subjekt (z. B. in es handelt sich um …, es steht gut/schlecht um …, es geht um …, es geht zu wie …) und Akkusativkomplement (wie in es gut/satt/eilig haben, es auf jemanden abgesehen haben, es bei etwas belassen) e. in unpersönlichen Reflexivkonversen (Medium), wie in (81) f. bei Befindlichkeitsverben und in entsprechenden Kopulakonstruktionen wie jemanden ekelt/friert/graut/hungert (es), jemandem ist (es) heiß/kalt. Hier ist es nur in der Vorfeldposition obligatorisch, in anderen Positionen kann es fakultativ gesetzt werden: Vgl. es friert mich vs. mich friert (es). c.







(77)

(Jemand hat meine Pantoffeln versteckt.) Wer war es? – Es war Fritzchen.  

(78)

Es war Fritzchen, der deine Pantoffeln versteckt hat.

(79)

Es gibt selten etwas Neues unter der Sonne.

(80)

Es hat hier viele seltene Blumen.

(81)

2.

(82)

a. Es lebt sich gut hier. / Gut lebt es sich hier. b. Es lässt sich hier leben. / Gut lässt es sich hier leben. Rhematisierende Konstruktionen. Kennzeichnend ist hier das so genannte expletive es. Es ist nur in der Vorfeldposition möglich, hat als Platzhalter keine Satzgliedfunktion und entfällt, wenn das Vorfeld anderweitig besetzt ist. Es ist in folgenden Fällen üblich: a. im Passiv intransitiver Verben, wie in (82) bis (84) b. zur Präsentation eines rhematischen, meist indefiniten Subjekts am Mittelfeldende. Die Konstruktion ist möglich bei intransitiven sein-Verben (85), bei intransitiven haben-Verben (86), bei transitiven Verben im Aktiv (87) und Passiv (88). Definite Subjekte sind nicht ausgeschlossen (89) a. Es wird gelacht. b. Gelacht wird.

B1 Wortklassen

595

(83)

Es darf hier gelacht werden. / Hier darf gelacht werden. / Gelacht darf hier werden.

(84)

Es wird zum Essen gerufen. / Zum Essen wird gerufen.

(85)

Es kamen viele Gäste. / Viele Gäste kamen.

(86)

Es lachten alle. / Alle lachten.

(87)

Es aßen alle einen Apfel. / Alle aßen einen Apfel.

(88)

Es wurden viele Bücher verkauft. / Viele Bücher wurden verkauft.

(89)

Es spricht jetzt unser Direktor. / Jetzt spricht unser Direktor.

3.

Extrapositionskonstruktionen. Das so genannte Korrelat-es verweist auf einen Satz oder eine meist im Nachfeld befindliche (extraponierte) Infinitivkonstruktion in Subjekt- oder Objektfunktion vor; das Korrelat-es kann im Vor- und Mittelfeld erscheinen. Dabei ist es im Verbzweitsatz als Besetzung der Vorfeldstelle unverzichtbar (90). Im Mittelfeld ist es im Prinzip fakultativ (91). Bei schwacher Mittelfeldfüllung gibt es eine starke Tendenz, den Platzhalter zu setzen (92). Expletives es und Korrelat-es haben keinen Satzgliedstatus als Subjekt/Objekt, sondern Platzhalterfunktion.

(90)

Es ist schön, dass Sie kommen. / Dass Sie kommen, ist schön.

(91)

Wir genießen (es) sehr, an Ihrer Tagung teilnehmen zu können.

(92)

Ist es gut, dass er gekommen ist?/ ?Ist gut, dass er gekommen ist?

Eine Einordnung in das oben erörterte Spektrum von Vergleichsaspekten erbringt folgendes Ergebnis: Das Deutsche verwendet wie das Französische, das Isländische, Norwegische und Schwedische als schwach referentielle Verweisform ausschließlich das neutrale Pronomen, kein Pro-Adverb. Wie im Isländischen (und im Gegensatz zu allen anderen einschlägigen Sprachen) ist im Deutschen das neutrale Pronomen bei rhematisierenden Konstruktionen nur Platzhalter, nicht Subjekt. Daraus folgt nach der Korrelation [i], dass im Deutschen wie im Isländischen auch bei transitiven Verben im Aktiv die rhematisierende Präsentierungskonstruktion zugelassen ist. Aus der Hierarchie [ii] folgt damit auch, dass das Deutsche das gesamte Spektrum aller möglichen Verwendungen schwach referentieller Proformen – von den Witterungsverben bis zu den transitiven Verben im Aktiv – abdeckt.  







596

B Wort und Wortklassen

Von den Kern-Kontrastsprachen stimmt hier das Französische noch am deutlichsten mit dem Deutschen überein. Man beachte, dass das Passiv intransitiver Verben im Deutschen wie im Isländischen und im Niederländischen (mit dem Pro-Adverb er), jedoch nicht den unpersönlichen Konstruktionen zuzuordnen ist, sondern den Rhematisierungskonstruktionen. Dies ist damit begründet, dass die Verwendung hier im Deutschen niemals rein strukturell motiviert ist; denn es gibt immer eine alternative Vorfeldbesetzung, selbst wenn der Satz nur aus der Passivform besteht wie in (83b) mit besonderer Hervorhebung der Tatsächlichkeit der Prädikation (im Sinne des „Verum“-Fokus von Höhle 1992). Die Vorfeldsetzung von es erlaubt entweder die Rhematisierung des gesamten Satzrestes, also der Prädikation insgesamt, oder die einer Konstituente am Mittelfeldende. Wir kontrastieren abschließend das Deutsche mit den gemäß der Tabelle 5 in dieser Hinsicht am deutlichsten parallelen Sprachen, dem Isländischen, dem Französischen und dem Niederländischen, in der folgenden Tabelle 6. Phraseologische Verbindungen werden nicht einbezogen; die „Ausreißer“, also vom Deutschen stark abweichende Lösungen, sind fett gesetzt.  

Tab. 6: Schwach referentielle Proformen im Deutschen, kontrastiert mit den am deutlichsten parallelen Sprachen NDL

DEU

ISL

FRA

Witterungsverben

het, obl., Subjekt

es, obl., Subjekt

Það, nicht obl., Platzhalter

il, obl., Subjekt

Identifizierungskonstruktion

het, obl., Subjekt

es, obl., Subjekt

Það, obl., Subjekt

ce

Existenzverben

er, obl.

es, obl., Subjekt

Það, obl., Subjekt

il, obl., Subjekt

unpersönliches/ subjektloses Passiv

er, nicht obl., Platzhalter

es, nicht obl., Platzhalter

Það, nicht obl., Platzhalter

il, obl., Subjekt

rhematisierende Präsentierungskonstruktion

er, nicht obl., Platzhalter

es, nicht obl., Platzhalter

Það, nicht obl., Platzhalter

il, obl., Subjekt

Extrapositionskonstruktion

het, nicht obl., Platzhalter

es, nicht obl., Platzhalter

Það, nicht obl., Platzhalter

il, nicht obl., Subjekt

Offensichtlich gibt es zwei wesentliche Determinanten: Die Wahl der Proform und die grammatische Funktion der Proform. In ersterer geht Deutsch eher mit Isländisch und Französisch zusammen, in letzterer eher mit Niederländisch und Isländisch: Wie Isländisch und Französisch ist Deutsch keine Sprache mit Pro-Adverb als schwach referentieller Form. Wie Isländisch und Niederländisch ist Deutsch keine „konfigurationale“ Sprache, d. h., syntaktische Funktionen beruhen nicht wesentlich auf der  

B1 Wortklassen

597

strukturellen Position in einer „Basis“-Konstituentenstruktur. Schwach referentielle Proformen tendieren daher weniger zum Subjektstatus. In Subjekt-Pro-Drop-Sprachen stehen direkt analoge Möglichkeiten nicht zur Verfügung und werden nicht benötigt. Konstruktionen bei Witterungs- oder Existenzverben sowie bei pauschalen Situationsbeschreibungen können hier allein durch die 3. Person Singular des Finitums ausgedrückt werden wie in SPA llueve, POL pada, UNG esik ‚es regnet‘. Polnisch und Ungarisch verfahren hier auch semantisch ganz parallel. In beiden Sprachen bedeutet die Verbform wörtlich ,es fällt‘, es ist somit als implizites Subjekt POL deszcz, UNG az eső ,(der) Regen‘ mitgemeint, wie die Parallelkonstruktion POL pada śnieg, UNG esik a hó ,es fällt Schnee/es schneit‘ zeigt. (Im Ungarischen für ,es schneit‘ daneben auch das subjektlose havazik.) Im Türkischen wird für ,es regnet‘ nicht die einfache Verbform von yağmak ,regnen‘ gebraucht, sondern es wird als (quasi ,inneres‘) Subjekt yağmur ,Regen‘ hinzugesetzt (fakultativ ist dies auch im Polnischen und Ungarischen entsprechend der Fall), somit TÜR yağmur yağiyor ,es regnet‘. Rhematisierungs- und Postpositionseffekte werden in Pro-Drop-Sprachen gegebenenfalls mit anderen grammatischen Mitteln erreicht. Im Polnischen wird bei Rhematisierung und strukturellem Vorverweis nicht auf das neutrale Personalpronomen, sondern auf das Demonstrativum to zurückgegriffen. Dies betrifft die Identifizierungskonstruktion mit ‚rhematischem Prädikativ‘ (93) und die Extrapositionskonstruktion, die primär bei Subjektsätzen eingesetzt wird (94); Spaltsätze sind im Polnischen kein gängiges Mittel der Hervorhebung; die Endstellung des Subjekts ist ohne Einfügung eines strukturellen Verweiselements möglich, vgl. (95) und (96). (93) POL

Kto to jest? To jest DEM . N . SG ist wer DEM . N . SG ist? ‚Wer ist es? Es ist der Bürgermeister.‘

(94) POL

Cieszy mnie to, że dzisiaj freu.3SG 1SG . AKK DEM . N . SG KOMP heute ‚Es freut mich, dass du heute kommst.‘

(95) POL

Stało się nieszczęście. gescheh.PRT . 3SG . N KL . REFL Unglück.N ‚Es ist ein Unglück geschehen.‘

(96) POL

Przyszły komm.PRT .3PL . NONMPERS ‚Es kamen drei Personen.‘

trzy drei

burmistrz. Bürgermeister

osoby. Person.PL

przyjedziesz. komm.2SG

598

B Wort und Wortklassen

Im Ungarischen ist bei Rhematisierung und strukturellem Vorverweis ein Demonstrativum, und zwar der Ausdruck az, gebräuchlich. Beispiel für eine Identifizierungskonstruktion mit rhematischem Prädikativ ist (97); wobei zu beachten ist, dass im Ungarischen hier in der 3. Person keine Kopula gebraucht wird (z. B. Ki az? wörtl. ‚Wer das?‘). az wird auch expletiv bei Subjekt- und direkten Objektsätzen gebraucht, wie in (98), während in der Funktion des Postpositionskomplementes auch (nur in postverbaler Position) entsprechend affigierte Formen des Personalpronomens stehen (z. B. Demonstrativum ar-ról, Personalpronomen ról-a ,davon‘), vgl. (99). Hervorhebung geschieht durch die Positionierung einer Konstituente in der präverbalen Fokusposition oder durch eine Spaltsatzkonstruktion mit einem verweisenden az, wie in (100). (Zu Spaltsätzen → D6.3.)  



Ők 3PL

(97) UNG

Ki az? Én vagyok (az). / bin DEM . SG wer DEM 1SG ‚Wer ist das? Ich bin es. / Sie sind es.‘

(98) UNG

Anna tudta (azt), hogy Anna weiß.PRT . 3SG . DEF DEM . AKK KOMP ‚Anna wusste (es), dass Péter krank war.‘

(99) UNG

Mindenki tudott arról/róla, jeder weiß.PRT . 3SG DEM . DEL /DEL . 3SG ‚Jeder wusste davon, dass Péter krank war.‘

(100) UNG

Anna volt az, aki RPRO . NOM . SG Anna war DEM . SG ‚Es war Anna, die eingekauft hat.‘

azok. DEM . PL

Péter Péter

beteg. krank

hogy KOMP

Péter Péter

beteg. krank

bevásárolt. einkauf.PRT . 3SG

B1.5.2.8 Art und Ort der Klitisierung Klitisierung von Personalia ist in den germanischen Sprachen – sofern sie dort überhaupt vorkommt – weniger stark grammatikalisiert als in den romanischen (und slawischen). Dies zeigt sich zum einen darin, dass klitische Formen nicht an eine bestimmte Konstituente, das Verb, gebunden sind, sondern auch z. B. an Subjunktoren (vgl. DEU wenn’s, NDL dat’k ‚dass ich‘) oder Adverbien (vgl. ENG there’s/how’s) angefügt werden können. Zum anderen ist die Art der Bindung nicht zwingend festgelegt: Zwar überwiegt Enklise, doch ist auch Proklise nicht ausgeschlossen. Demgegenüber sind die Klitika der romanischen Sprachen an das Verb gebunden, pro- oder enklitische Bindung wird durch die Finitheitskategorie (finite Verbformen versus Infinitive oder Partizipien) und die Verbstellung grammatisch determiniert. Die romanischen Klitika sind also in Bindungsart und -ort eindeutig festgelegt.  





599

B1 Wortklassen

In den slawischen Sprachen sind Klitika, sofern die schwachen Pronomina zu Klitika grammatikalisiert sind, überwiegend an die zweite Satzposition gebunden. Für das Polnische gehen wir nicht von klitischem Status aus. Auf das Ungarische wird nicht eingegangen, weil standardsprachliche Klitika fehlen bzw. zu Personalaffixen grammatikalisiert sind. Im Englischen werden die Personalpronomina standardsprachlich nicht klitisiert. Während z. B. in romanischen Sprachen das Finitum als Trägerkonstituente für die klitischen Pronomina fungiert, ist im Englischen umgekehrt das Subjektpronomen oft die Konstituente, an die eine reduzierte Form des auxiliaren Finitums angelehnt wird: he’ll für he will, I’m für I am, she’s für she is/has (vgl. Biber et al. 2006: 1128). Nur die Objektform us kommt in der Verbindung let’s ‚lasst uns‘ standardsprachlich klitisiert vor. Im Französischen sind die schwachen Personalpronomina proklitisch an die finite Verbform gebunden (‚verbundene‘ Pronomina). Dabei sind für das Klitikacluster insgesamt 6 Positionen vorzusehen (vgl. z. B. Jones 1996: 252), wobei die Positionen 5 und 6 durch die Pronominaladverbien y und en besetzt sind. Zwischen Position 1 und 2 wird gegebenenfalls die Negationspartikel ne eingeschoben. Das feste Cluster im engeren Sinne bilden somit nur die Objektpronomina und die Pronominaladverbien.  



Tab. 7: Abfolge der französischen Klitika 1

2

3

4

Subjekt

Objekt 1./2. Person, Reflexivpronomen

AKK

je, tu, il ...

me, te, se ...

le, la ...

3. Person

DAT

3. Person

lui, leur

5

6

ADV

ADV

y

en

Für den Bereich der Personalklitika ergibt sich somit als einfachste Formulierung der Stellungsregularität, dass die Subjektformen den unspezifischen Objektformen (die im ,Objektivus‘ als DO und IO fungieren können) vorausgehen und diese wiederum den spezifischen Objektformen. Bei letzteren geht Akkusativ dem Dativ voraus. Das Reflexivum se nimmt wie die übrigen unspezifischen Objekt-Klitika die zweite Position ein, vgl. die Beispiele in (101). (101) a. Je le lui avais donné. KL . 1SG . SU KL . 3SG . M . AKK KL . 3SG . M . DAT hab.IPRF . 1SG gegeben FRA ‚Ich hatte es ihm gegeben.‘ b. Il nous les avait donnés. KL . 3SG . M . NOM 1PL . OBJ KL . 3PL . AKK hab.IPRF . 3SG gegeben.PL ‚Er hatte sie uns gegeben.‘

600

B Wort und Wortklassen

c. Elle se l’ KL . REFL KL . 3SG . M . AKK 3SG . F . NOM ‚Sie wird es sich anbieten/schenken.‘

offrira. anbiet.FUT . 3SG

Das Positionsschema vereinigt alle möglichen Positionen, ist jedoch in dieser Maximalität nicht realisierbar. Vielmehr werden bestimmte Kombinationen durch die folgende sprachübergreifend gültige PERSON /ROLLEN -Beschränkung ausgeschlossen: (iii) PERSON / ROLLEN ROLL EN -Beschränkung: Eine Kombination zweier klitischer Pronominalformen in Objektfunktion (DO , IO ) ist dann und nur dann zulässig, wenn als DO eine Form der Personalpronomina der 3. Person auftritt. Statt der Kombination zweier schwacher Pronomina wird andernfalls auf die Realisierung des indirekten Objekts durch ein nachgestelltes starkes Pronomen (+ Präposition) zurückgegriffen: Grammatisch sind nur die Varianten (102c) und (103b). (102) a. *André vous m’ avait recommandé. hab.IPRF . 3SG empfohlen FRA André 2PL . OBJ KL . 1SG . OBJ b. *André me vous avait recommandé. KL . 1SG . OBJ 2PL . OBJ hab.IPRF . 3SG empfohlen André c. André m’ avait recommandé à vous. KL . 1SG . OBJ hab.IPRF . 3SG empfohlen an 2PL . OBJ André ‚André hatte mich euch empfohlen.‘ (103) a. *Tu me lui présenteras. FRA KL . 2SG . SU KL . 1SG . OBJ KL . 3SG . DAT vorstell.FUT . 2SG b. Tu me présenteras à lui. KL . 2SG . SU KL . 1SG . OBJ vorstell.FUT . 2SG an 3SG . DAT ‚Du wirst mich ihm vorstellen.‘ Die Beschränkung entspricht in gewisser Weise einer „Normalverteilung“ der Personen auf die Rollen bei ditransitiven Verben wie ,geben‘: Als DO erscheint ein Ausdruck mit unbelebtem, als IO ein Ausdruck mit belebtem Denotat. Bei pronominaler Belegung ist somit ein Kommunikantenpronomen als IO zu erwarten, als DO die gegebenenfalls Unbelebtes bezeichnende Anapher. Dieser Normalfall wird durch rein klitische Realisierung abgedeckt. Eine Abweichung davon, die die belebten Kommunikanten in eine unbelebte Rolle, die des DO , bringt, muss durch eine aufwändigere Konstruktion markiert werden. Vgl. dazu die ausführliche Erörterung in → B2.4.3.2.4.

Auch bei infiniten Verbformen finden sich die Klitika in Proklise (z. B. pour me le donner ,um es mir zu geben‘, en me le donnant wörtl. ,beim es mir Geben‘, d. h. ‚indem du/er/ihr/sie es mir gib(s)t/gebt/geben‘); nur beim (nicht-verneinten) Imperativ, werden die Klitika nachgestellt, wobei statt me/te die starken Formen moi/toi erscheinen, es sei denn, es folgt noch ein Pronominaladverb nach. Siehe die Okkurrenzen in (104).  



601

B1 Wortklassen

(104) FRA

Regardezmoi. Prenezle. seh.IMP . 2PL 1SG . OBJ nehm.IMP . 2PL KL . 3SG . M . AKK Donnezlemoi. Donnez -m’ geb.IMP . 2PL KL . 3SG . M . AKK 1SG . OBJ geb.IMP . 2PL KL . 1SG . OBJ ‚Seht mich an. Nehmt es. Gebt es mir. Gebt mir davon.‘

en. KL . ADV

Für die klitischen Objektpronomina des Spanischen und Italienischen gilt ein mit dem Französischen in vieler Hinsicht vergleichbares System. Auch sie sind proklitisch an die finite Verbform gebunden. Im Spanischen ist eine auch im gesprochenen Französisch (und Italienisch) zu beobachtende Tendenz besonders stark ausgeprägt: Die klitischen Pronomina werden ‚pleonastisch‘ eingesetzt, d. h. – auch bei Belegung der entsprechenden Stelle durch eine NP – zusätzlich gesetzt. Davon sind in der ProDrop-Sprache Spanisch (und Italienisch) nur die Objektpronomina betroffen, während es im Französischen auch für die Subjektformen gilt:  





(105) SPA

Diga-le usted al señor Sie zu.DEF Herr sag.IMP . 3SG - KL . 3SG . DAT ,Sagen Sie Herrn García, dass . . .‘ (wörtl.: ,Sagen Sie ihm Herrn García, dass . . .‘)  

García García

que . . .  



KOMP







(106) a. Mon père, il m’ a POSS . 1SG Vater KL . 3SG . NOM KL . 1SG . OBJ hab.3SG FRA ‚Mein Vater hat mir gesagt, dass . . .‘ (wörtl.: ‚Mein Vater, er hat mir gesagt . . .‘) b. Mon père, je lui ai POSS . 1SG Vater KL . 1SG . SU KL . 3SG . DAT hab.1SG ‚Meinem Vater habe ich gesagt, dass . . .‘ (wörtl.: ‚Mein Vater, ich habe ihm gesagt, dass . . .‘)  

dit gesagt

que . . .  



KOMP









dit gesagt

que . . .  



KOMP







Anders als die Klitika der romanischen Sprachen sind klitische Formen der deutschen Personalpronomina nicht an eine bestimmte syntaktische Konstituente, das (finite) Verb, gebunden, sondern teilen im Prinzip die syntaktische Distribution der entsprechenden schwachen, also unbetonten Vollformen. Es handelt sich in aller Regel um Enklise, wobei gegenüber den Vollformen eine Reihe von phonetischen Reduktionen eintreten. In der schriftlichen Umsetzung gesprochener Standardsprache wird in der Regel nur die Klise von es repräsentiert, und zwar durch Apostroph: –

Vokalisch anlautende Pronomina werden auf den konsonantischen Auslaut reduziert: es → s [əs] → [s] (enklitisch: er hat’s gesagt, wenn er’s gesagt hat, wenn’s gesagt wurde; proklitisch: ’s regnet), ihm → m [i:m] → [m̩ ] (enklitisch: er hat’m geholfen, wenn er’m geholfen hat), ihn → n [iːn] → [n̩ ] (enklitisch: er hat’n gesehen, wenn er’n gesehen hat. ich wird (seltener) proklitisch zu ch [ɪç] → [ç] (’ch weiß). ihr

602



B Wort und Wortklassen

wird insgesamt zum rhotazierten Vokal abgeschwächt [iːɐ] → [ɐ] (er hatta geholfen). Bei konsonantisch anlautenden Pronomina wird der vokalische Silbenkern zu einem Reduktionsvokal abgeschwächt, der Konsonant gegebenenfalls assimiliert: du → de [duː]→[də]/[tə] (enklitisch: wennde kommst, haste gesehen), sie → se [ziː] → [zə] (enklitisch: wennse kommt, wenn erse sieht, vgl. Wandruszka 1992: 19), wir → wa, ma [viːɐ] → [vɐ]/[mɐ] (enklitisch: das hammwa nich, das hamma nich).

Grammatisch bedeutsam ist, dass gegenläufig zur syntaktischen Stellungsregularität ‚Akkusativ vor Dativ‘ die klitische Form von es (marginal auch von ihn) an dativische Pronomina angehängt werden kann: So haben wir z. B. Sie will mir’s/dir’s/ihm’s nicht sagen neben Sie will’s mir/dir/ihm nicht sagen, doch nur Sie will es mir/dir/ihm nicht sagen und nicht *Sie will mir/dir/ihm es nicht sagen; mit ihn ist sowohl Er hat ihr’n gegeben als auch Er hat’n ihr gegeben möglich – nicht klitisiert Er hat ihn ihr gegeben; die Stellung ?Er hat ihr ihn gegeben ist fraglich.  



B1.5.2.9 Spezielle Stellungsregularitäten für schwache, nicht-klitische Pronomina Für schwache Pronomina und ihre Kombinationen können sich besondere Stellungsregularitäten im Unterschied zu den Stellungsregularitäten für NP in den entsprechenden syntaktischen Funktionen ergeben. Diese sollen hier kurz zusammengefasst werden. Bei romanischen Sprachen geht es dabei um die Stellung der Klitika (→ B1.5.2.8). Bei den übrigen Sprachen ist aber zwischen den Stellungsregularitäten für die schwachen Pronomenvorkommen und ggf. besonderen Klitisierungsregeln zu unterscheiden. Für schwache Pronomina gilt ganz allgemein, dass sie in Fokuspositionen ausgeschlossen sind und dass sie als thematische Elemente in den topologischen Positionen erscheinen können, die dem Themabereich zuzuordnen sind. Wo genau dieser Themabereich anzusetzen ist, ist jeweils sprachabhängig. Sprachübergreifend ist dabei die Tendenz zu beobachten, dass das (ikonische) Prinzip ‚Hintergrundelemente (Thematisches) vor Vordergrundelementen (Rhematischem)‘ in der Stellung der schwachen Pronomina seinen Niederschlag findet. Diese Linkstendenz der schwachen Pronomina ist z. B. bei der slawischen Kontrastsprache Polnisch zu beobachten, ebenso wie in den germanischen Sprachen Niederländisch und Deutsch, wo die schwachen Pronomina unmittelbar auf das Finitum oder das Einleitungselement eines Untersatzes folgen. Schwächere Effekte hat die Tendenz im Festlandskandinavischen (mit einer „Objektverschiebung“ der schwachen Pronomina vor die Satzadverbien; vgl. genauer Zifonun 2001a: 96 f.) oder dem Englischen. Folgende Reflexe einer Linkstendenz in der Setzung der Pronomina sind im Englischen zu beobachten. Einerseits gilt die S - V - IO - DO - Ordnung nominaler Komplemen 



B1 Wortklassen

603

te (107a), auch wenn das indirekte Objekt pronominal realisiert ist (107b). Wenn nur das direkte Objekt pronominal realisiert ist, muss die to-Konstruktion gewählt werden, in der das Pronomen der PP vorausgeht (vgl. (107c) gegenüber ungrammatischem (107d)). Auch wenn beide Objekte pronominal realisiert sind, wird in der Regel mit to konstruiert (107e). (107) a. I gave my brother the new book. ENG ‚Ich gab meinem Bruder das neue Buch.‘ b. I gave him the new book. ‚Ich gab ihm das neue Buch.‘ c. I gave it to my brother. ‚Ich gab es meinem Bruder.‘ d. *I gave (to) my brother it. ,*Ich gab meinem Bruder es.‘ e. I gave it to him. ‚Ich gab es ihm.‘ Deutlicher noch ist die Linkstendenz bei Partikelverben zu beobachten: Während das nominale Objekt eines Partikelverbs auch im Anschluss an die Partikel gestellt werden kann, muss pronominales it/them zwischen Verb und Partikel eingefügt werden, wie in (108) kontrastierend dargestellt wird. (108) a. He turned the light on. / He turned on the light. ENG ‚Er schaltete das Licht ein.‘ b. He turned it on. / *He turned on it. ‚Er schaltete es ein.‘ Im Polnischen erscheinen die schwachen Formen präferiert in unmittelbarer Umgebung des Finitums bzw. des überwiegend zusammenhängend linearisierten Verbalkomplexes. Dieser Vor- und Nachbereich des Verbalkomplexes ist als der Themabereich/Hintergrundbereich einzustufen. Die schwachen Pronomina gehen also entweder dem Verbalkomplex voraus, wobei noch unmittelbar vor das Verb die Negationspartikel nie treten kann, oder sie folgen auf den Verbalkomplex. Sie gehen damit – gegebenenfalls gebündelt – den starken Pronomina bzw. Nominalphrasen in Komplementfunktion voraus. Die interne Reihenfolge bei Pronomenkombinationen – illustriert in (109) – unterscheidet sich nicht von der kombinatorischen Folge bei nominaler Besetzung. Sie lautet (unter Klammerung des in der Regel nicht als schwaches Pronomen realisierten Subjekts):  







(KSU) >> KDAT >> KAKK >> KGEN / KINS

604

(109) POL

B Wort und Wortklassen

Dlatego (oni) mi je wyjaśnili. deshalb 3PL . MPERS . NOM 1SG . DAT 3SG . N . AKK erklär.PRT . 3PL ‚Deshalb haben sie es mir erklärt.‘ (Engel et al. 1999: 508)

Im Ungarischen erscheinen die schwachen (nicht notwendig personenbezogenen) Formen in postverbaler Position, vgl. (110), während die starken (personenbezogenen) in der präverbalen Fokus- bzw. Topikposition erscheinen, vgl. (111). (110) UNG

de Anna nem látta őket seh.PRT . 3SG . DEF 3PL . AKK aber Anna NEG ,. . . aber Anna sah sie [+/–personal] nicht‘  

(111) UNG



de őket nem látta Anna aber 3PL . AKK NEG seh.. PRT . 3SG . DEF Anna ,. . . aber Anna sah sie [+personal] nicht‘ (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 121)  



Die schwachen Personalpronomina des Deutschen sind in aller Regel thematisch. In diesem Fall ist ihre grammatisch determinierte Position die am linken Mittelfeldrand. Dabei wird folgende feste Reihenfolge eingehalten: KSU >> KAKK >> KDAT/GEN Vor und zwischen die Personalpronomina werden keine Elemente eingeschoben. Die Pronomina bilden also ein Cluster. Das pronominale Cluster des Deutschen unterscheidet sich durch die strikt syntaktische Determination von der Stellungsfolge nominaler Komplemente, bei der die semantische Rolle der Komplemente den Einflussfaktor syntaktische Funktion dominiert. Möglicherweise ist diese syntaktische Determination phonetisch motiviert (vgl. Wegener 1985; Abraham 1996: 451; IDSGrammatik 1997: 1518 f.). Von den Klitikaclustern der romanischen Sprachen unterscheidet sich das Pronominalcluster des Deutschen vor allem dadurch, dass die Pronomina in der Grundreihenfolge Verbletztstellung denkbar weit vom Finitum entfernt sind, während die Klitika der romanischen Sprachen dem Finitum unmittelbar vorausgehen: Vgl. die kontrastierenden Beispiele in (112).  

(112) DEU FRA

dass wir es ihm gestern in Frankfurt gerne gegeben hätten que nous le lui aurions donné avec plaisir hier à Francfort

B1 Wortklassen

605

B1.5.2.10 Syntax der anaphorischen Bezugnahme Die Anapher (3. Person) hat im prototypischen Fall die Funktion der phorischen Aufnahme einer NP; semantisch wird hier Referenzidentität im weiteren Sinne angezeigt (unter Einschluss der ‚Sinnanapher‘ und der Fortführung von Ausdrücken wie niemand, kein Mensch, → B1.5.2.1). Die Reichweite des phorischen Bezugs zwischen einer NPi (volle NP oder Indefinit-/Quantifikativpronomen mit dem Denotat xi) und einer Anapheri wird in allen Vergleichssprachen durch folgende Prinzipien geregelt: 1.

2.

NPi und Anapheri können in unterschiedlichen Textsätzen erscheinen. In der Regel geht die volle NP der Anapher voraus. Die Distanz zwischen den beiden Vorkommen ist nicht grammatisch beschränkt. Pragmatische Beschränkungen ergeben sich vor allem auf Grund mehrfacher Bezugsmöglichkeiten. NPi und Anapheri können in einem Textsatz, jedoch innerhalb derselben Klausel nur unter eingeschränkten Bedingungen gemeinsam auftreten. Statt Anapheri wird in letztem Fall typischerweise das Reflexivum gesetzt (vgl. im Einzelnen → B1.5.3). Innerhalb eines Textsatzes erscheint in aller Regel zuerst das Vorkommen von NPi, dann das von Anapheri, wobei die übergeordnete Klausel NPi enthält (113), aber auch die Umkehrung der linearen Ordnung ist möglich (114). Komplementsätze als untergeordnete Klauseln schließen das Vorkommen des Antezedens (an Stelle von Anapheri), unabhängig von der linearen Ordnung aus, wie in (115) und (116). Dagegen können vorangestellte Supplementsätze auch das Antezedens enthalten (117). Die Nachstellung eines Supplementsatzes, der das Antezedens enthält, ist strikt ungrammatisch, wenn die Anapher im vorangestellten Obersatz Subjekt ist (118a), bei Objektfunktion erscheint der Satz markiert, aber nicht ungrammatisch (118b).

(113) a. Hansi fragte sichi ständig, was einmal aus ihmi werden sollte. b. Hansi war unglücklich, obwohl eri zuhause war. (114) a. Was einmal aus ihmi werden sollte, fragte Hansi sichi ständig. b. Obwohl eri zuhause war, war Hansi unglücklich. (115)

*Was einmal aus Hansi werden sollte, fragte eri sichi ständig.

(116)

*Eri fragte sichi ständig, was einmal aus Hansi werden sollte.

(117)

Obwohl Hansi zuhause war, war eri unglücklich.

(118) a. *Eri war unglücklich, obwohl Hansi zuhause war. b. Wir haben ihni eingeladen, obwohl Hansi uns auf die Nerven geht.

606

B Wort und Wortklassen

Der Gegensatz zwischen (114) und (115)–(116) wird im generativen Rahmen durch die Prinzipien der so genannten „Bindungstheorie“ erklärt. Sie besagt in groben Zügen, dass die im Strukturbaum des Gesamtsatzes hierarchisch untergeordnete Einheit das Pronomen sein muss, nicht das Antezedens. (Genauer: Wenn zwei Einheiten X und Y koreferentiell sind und X Y c-kommandiert, also wenn gilt, dass der Knoten Z, der X unmittelbar dominiert, auch Y (mittelbar) dominiert, dann bindet die Einheit X die Einheit Y, was bedeutet, dass Y als Personalpronomen 3. Person realisiert werden muss.) Die Zulässigkeit von (117), wo im Untersatz das Antezedens, im Obersatz die Anapher erscheint, wird dadurch erklärt, dass der Supplementsatz hier kein Teil der VP ist und daher (samt seinen Elementen) nicht vom Subjekt des übergeordneten Satzes c-kommandiert wird. In der Tat verhalten sich die beiden Teilsätze hier eher wie selbstständige Textsätze. Auch die Rekurrenz von Hans ist bei Referenzidentität immerhin möglich, wie in Obwohl Hansi zuhause war, war Hansi unglücklich. Die lineare Beschränkung ,Supplementsatz mit Antezedens muss vorausgehen‘, die in der Ungrammatikalität von (118a) zum Ausdruck kommt, wird damit erklärt, dass in (118a) der Supplementsatz Teil der Obersatz-VP ist. Daher kommandiert die Anapher in (118a) ihr Antezedens, was nicht der Fall sein darf. Auch im generativen Rahmen wird gesehen, dass Anaphorisierung nicht rein syntaktisch geregelt sein kann. Dagegen spricht u. a. der Grammatikalitätsunterschied zwischen (118a) und (118b). Haider (1994: 3) nennt folgendes Beispiel, bei dem der Grammatikalitätsunterschied nicht syntaktisch zu klären ist:  

(119)

Es hat ihri jemand prophezeit, dem Idai blind vertraut, dass siei/*Idai uralt werde.

Dass die bei Prinzip 1. angesprochenen Beschränkungen pragmatischer und nicht syntaktischer Natur sind, lässt sich beispielsweise durch folgende Beobachtungen stützen: Es ist grundsätzlich durchaus erlaubt, phorisch auf eine NP zuzugreifen, die Teil einer anderen NP oder PP ist, s. (120); die Bezugs-NP muss also nicht selbst Satzgliedstatus haben. (120)

Wir beklagen [das Leid [der Flüchtlinge]] und sind gerne bereit, sie bei uns aufzunehmen.

Auch wenn anders als in (120) Bezugsunklarheiten entstehen, „siegt“ nicht etwa die Gesamt-NP als Antezedens – wie bei einer Einflussnahme syntaktischer Faktoren anzunehmen wäre. In (121), wo die untergeordnete NP derselben Denotatklasse angehört wie die Gesamt-NP und es keinen Genusunterschied gibt, entsteht für die Anapher eine Bezugsambiguität, die intonatorisch oder kontextuell aufgelöst werden muss.  

(121)

Ich unterhielt mich mit [dem Freund [meines Sohnes]i]j, weil eri/j mich darum gebeten hat.

Die Anaphorisierung von Antezedentien wie niemand, kein Mensch ist, wie bereits angedeutet, prinzipiell möglich, aber starken Beschränkungen unterworfen. Möglich ist sie vor allem im komplexen Satz, zumal in untergeordneten Komplementsätzen wie (122). (122)

Niemand glaubt/gibt gerne zu, dass er einen Fehler gemacht hat.

B1 Wortklassen

607

Innerhalb von adverbialen Supplementsätzen kann nur dann ein solches Antezedens anaphorisch fortgeführt werden, wenn dadurch eine Restriktion des Geltungsbereichs der Allquantifikation erreicht wird, wie in (123) und (124) mit Lesart (124a), nicht jedoch mit Lesart (124b). (123) a. Niemand wird verhaftet, wenn er unschuldig ist. b. Niemand, der unschuldig ist, wird verhaftet. (124)

Niemand wurde verhaftet, weil er schuldig war. a. ‚Niemand, der schuldig war, wurde verhaftet; der Grund einer etwaigen Verhaftung war ein anderer.‘ b. #‚Niemand wurde verhaftet. Der Grund dafür war, dass niemand schuldig war.‘

Folgt die Anapher in einem solchen Fall dem Antezedens in einem neuen Textsatz nach, so muss ein Modalitätskontext (im Sinne der IDS-Grammatik 1997: 1743–1753) vorliegen wie etwa in (125). Ein Faktizitätskontext wie in (126) erscheint ausgeschlossen. (125)

Niemand hat das verstanden. Er hätte sich schon auf diese abwegige Argumentation einlassen müssen.

(126)

Niemand hat das verstanden. #Er hat diese abwegige Argumentation abgelehnt.

Die beiden Prinzipien 1. und 2. haben übereinzelsprachliche Geltung. Folgendes Beispiel aus dem Italienischen bestätigt etwa die Umstellbarkeit von Ober- und Untersatz nach dem Muster von (113b), (114b). (127) a. Avvisa mio fratelloi della telefonata, Bruder von.DEF Telefongespräch ITA unterricht.IMP . 2SG POSS . 1SG incontri. appena loi KL . 3SG . AKK treff.2SG sobald ‚Unterrichte meinen Bruder von dem Telefongespräch, sobald du ihn triffst.‘ incontri avvisa mio b. Quando loi KL . 3SG . AKK treff.2SG unterricht.IMP . 2SG POSS . 1SG wenn fratelloi della telefonata. Telefongespräch Bruder von.DEF ‚Wenn du ihn triffst, unterrichte meinen Bruder von dem Telefongespräch.‘ (Renzi/Salvi/Cardinaletti 2001: 561)

608

B Wort und Wortklassen

Eine Abweichung ergibt sich nur durch den Pro-Drop-Parameter. In Pro-Drop-Sprachen unterbleibt bei phorischem Bezug die Setzung des (Subjekt-)Personalpronomens, wo in den anderen Sprachen ein schwaches Pronomen zu setzen ist. Dabei ist nicht ganz klar und in der Forschung umstritten, ob Vorerwähntheit ausreicht, oder ob nicht ein thematisches Antezedens gegeben sein muss. Das Antezedens müsse also den Redegegenstand benennen, um den es in der Textpassage geht. ‚Thema‘ ist hier im Sinne des textbezogenen Themabegriffs der IDS-Grammatik (1997: 508–513) zu verstehen. Dieser entspricht weitgehend dem Topikbegiff, wie er z. B. in Grimshaw/Samek-Lodovici (1998) vorliegt. So argumentierten Grimshaw/Samek-Lodovici (ebd.: 196–200) an italienischen, griechischen, hebräischen und chinesischen Daten dafür, dass das Antezedens bei Pro-Drop thematisch sein müsse. Ein vorerwähntes Antezedens, das rhematische Information darstelle, wie etwa die Agens-Phrase im Passiv (das degradierte AktivSubjekt), müsse durch ein Subjektpronomen anaphorisiert werden. Wenn dies zutrifft, ist damit gleichzeitig klargestellt, dass nicht jedes Vorkommen eines Subjektpronomens in einer Pro-Drop-Sprache ein starkes Vorkommen darstellt. Wir können daher für die (Subjekt-)Pro-Drop-Sprachen Prinzip 1. durch Prinzip 1.pro, Prinzip 2 durch Prinzip 2.pro ersetzen:  



1.pro In Subjekt-Pro-Drop-Sprachen wird Anapheri als Subjekt mit Bezug auf NPi (in einem anderen, meist vorausgehenden Textsatz oder innerhalb einer anderen Klausel desselben Textsatzes) vor allem in folgenden Fällen eingesetzt: a. Pronomenvorkommen ist stark (also betont, durch Kontrastakzent hervorgehoben), s. (128). b. Das Pronomenvorkommen ist nicht stark. Es greift ein vorerwähntes, nicht-thematisches Antezedens auf, s. (129). Hierher gehört auch folgender Spezialfall: Anapher greift ein Antezedens wieder auf, das nicht unmittelbar vorausgeht, sondern von der Wiederaufnahme durch das Vorkommen einer anderen NP (NPj) getrennt ist (Fall einer Neuthematisierung); vgl. (130). c. Andernfalls, also insbesondere, wenn ein thematisches Antezedens kontinuierlich fortgeführt wird, wird kein Subjektpronomen gesetzt, vgl. (131) im Gegensatz zu (129). (128) POL

Piotr spóźnił się o Piotr verspät.. PRT . 3SG . M KL . REFL um ON jest często niepunktualny, ist oft unpünktlich 3SG . M . NOM żona jest zawsze punktualna. Frau ist immer pünktlich ‚Piotr hat sich eine halbe Stunde verspätet. seine Frau ist immer pünktlich.‘

pół halb ale aber

godziny. Stunde.GEN jego 3SG . M . GGEN EN

ER ist oft unpünktlich, aber

B1 Wortklassen

(129) ITA POL DEU

(130) POL

(131) ITA POL DEU

609

Questa mattina, la mostra è stata visitata da Pietro. Più tardi, egli/lui ha visitato l’università. Dzisiaj rano wystawa została zwiedzona przez Piotra. Później poszedł on na uniwersytet. Heute Morgen wurde die Ausstellung von Peter besucht. Später hat er die Universität aufgesucht. przyjechał do Berlina. [Kolega z Moskwy]i G EN Kollege aus Moskau.GEN komm.PRT . 3SG . M nach Berlin.GEN [Koordynator]j pytał, o czym oni Koordinator frag.PRT . 3SG . M über was.LOK 3SG . M . NOM chciałby referować. woll.KONJ . 3SG . M referier.INF ,[Ein Kollege aus Moskau]i ist nach Berlin gekommen. [Der Koordinator]j fragte, worüber eri referieren wolle.‘

Questa mattina, Pietro ha visitato la mostra. Più tardi, [ ] ha visitato l’università. Dzisiaj rano Piotr zwiedził wystawę. Później [ ] poszedł na uniwersytet. Heute Morgen hat Peter die Ausstellung besucht. Später hat er die Universität aufgesucht.

2.pro In den Teilklauseln eines komplexen Textsatzes, der das Antezedens NPi enthält, wird unter folgenden Bedingungen ein anaphorisches Subjektpronomen gesetzt: a. Das Pronomenvorkommen ist stark (also betont, durch Kontrastakzent hervorgehoben), wie in (132). b. Anaphorisch fortgeführt wird nicht das Subjekt, sondern eine NPi in einer anderen syntaktischen Funktion. Ausschlaggebend ist hier nicht die relative lineare Nähe von Antezedens und Anapher, sondern die syntaktische Funktion (oder auch in Analogie zu 1.pro b) die Thematizität) des Antezedens, vgl. (133) und (134). c. Andernfalls wird analog zu Prinzip 2 oben verfahren: Wo in Sprachen ohne Pro-Drop ein referenzidentisches schwaches Subjektpronomen gesetzt wird, wird in Pro-Drop-Sprachen das Subjekt nicht realisiert. Obligatorisch ist die Elision insbesondere in direkt untergeordneten Sätzen, während bei weiterer Unterordnung ein schwaches Pronomenvorkommen möglich ist – s. (135).  

610

B Wort und Wortklassen

(132) POL

Ojcieci pytał, co ONi może könn.3SG Vater frag.PRT . 3SG . M was 3SG . M . NOM zrobić w tej sprawie. in DEM . LOK Frage.LOK tun.INF . PFV ‚Der Vateri fragte, was ERi in dieser Angelegenheit tun solle.‘

(133) ITA

Se Mario non gioca con Elenai, wenn Mario NEG spiel.3SG mit Elena fa i capricci. Laune.PL mach.3SG DEF ‚Wenn Mario nicht mit Elena spielt, macht sie Theater.‘ (Renzi/Salvi/Cardinaletti 2001: 553)

(134) POL

Jeśli Piotr nie żartuje z Ewąi, wenn Piotr NEG scherz.3SG mit Ewa.. INS histeryzuje. Theater_mach.3SG ‚Wenn Piotr nicht mit Ewa scherzt, macht sie Theater.‘

(135) POL

Wiele osób mówi, że [_] myślą, viel Person.GEN G EN . PL sag.3SG KOMP denk.3PL (one) są inteligentne. sind intelligent.PL 3PL . NONMPERS . NOM ‚Viele sagen, dass sie denken, dass sie intelligent sind.‘

leii 3SG . F

to dann

onai 3SG . F . NOM

że KOMP

In Analogie zu den Beispielen (118a), (118b) oben ist in komplexen Sätzen mit der Konfiguration Obersatz mit anaphorischem Bezug >> Untersatz mit Antezedens in Pro-Drop-Sprachen die Weglassung des Subjektprononomens in der vorausgehenden Klausel ungrammatisch, während ein schwaches Objektpronomen erscheinen kann, s. (136). (136) a. *[ ]i mangiava la Sacher quando ITA ess.IPRF . 3SG DEF Sachertorte wenn ,*Eri aß die Sachertorte, wenn Giannii traurig war.‘ accompagnerò a casa in b. Loi KL . 3SG . AKK begleit.FUT . 1SG nach Hause in terminato il appena Carloi avrà beendet DEF sobald Carlo hab.FUT . 3SG   

Giannii Gianni

era war

macchina, Auto lavoro. Arbeit

triste. traurig

B1 Wortklassen

611

‚Ich werde ihni mit dem Auto nach Hause bringen, sobald Carloi die Arbeit beendet hat.‘ (Renzi/Salvi/Cardinaletti 2001: 562) Die Sprecher-/Hörerpronomina haben keine phorische Funktion; jedes Vorkommen ist deiktisch. Dennoch soll im Kontrast zu den Personalpronomina der 3. Person kurz auf ihr Verhalten in Pro-Drop-Sprachen eingegangen werden: Sprecher-/Hörerpronomina werden in Pro-Drop-Sprachen überwiegend nur in starken Kontexten gesetzt, also z. B. mit Kontrastakzent, bei phrasalem Ausbau, in Koordinationen oder isoliert. Personalpronomina der 3. Person zeigen ihre phorische Funktion in der Regel durch Kongruenz bzgl. Genus und Numerus mit dem Bezugswort bzw. dem Kopf der Bezugsphrase an. Varianz ist hier insbesondere hinsichtlich der Genuskongruenz zu beobachten. Im Ungarischen (wie auch im Türkischen) entfällt die Möglichkeit der Genuskongruenz vollständig, da weder Substantive noch Personalpronomina entsprechend differenzieren. In Sprachen, die bei den Substantiven eine abstrakte Genusunterscheidung haben, kommt z. T. bei der phorischen Bezugnahme ein kongruierendes abstraktes Genus nicht zum Einsatz. Hier schlägt vielmehr die konkrete Genusunterscheidung nach Person versus Sache bzw. nach dem Sexus durch. Dies gilt sprachübergreifend für die starken Pronomen(vorkommen), im Niederländischen, Italienischen aber auch über diesen Bereich hinaus. Ist bei Gegenstandsbezug ein starkes Pronomenvorkommen kontextuell gefordert, so wird sprachübergreifend das entsprechende Demonstrativum gesetzt. Was Numeruskongruenz angeht, so fordert der Plural als markierter Numerus genauere Betrachtung. Unproblematisch ist der Fall einer pluralischen AntezedensNP: Hier ist der Plural der Anapher gefordert. Bei Koordinationen mit additiven Konjunktoren wie DEU und muss grundsätzlich die Anapher im Plural stehen. Problematischer ist der Fall disjunktiver Konjunktoren wie DEU oder. Hier gibt es in der Numerusadaption der Anapher interlinguale Varianz. Unterschiedlich ist auch das Verhalten der Vergleichssprachen, wenn ein grammatisch singularisches Antezedens ein Kollektiv bezeichnet, also etwa Kollektiva wie DEU das Obst, die Polizei, ENG the fruit, the police. Hier kann entweder strikt ausdrucksseitig verfahren werden, also die Anapher im Singular erscheinen, oder aber, mit Blick auf die in dem Kollektiv zusammengefassten Einzelindividuen, ein semantisch motivierter Plural der Anapher erscheinen. In Sprachen mit Genusunterscheidung auch im Plural (wie Französisch, Spanisch, Italienisch, Polnisch) wird bei einem koordinierten Antezedens, das Genusmischung aufweist, die Anapher in den Maskulin Plural gesetzt, im Polnischen setzt sich maskulin-personales Subgenus durch. Im Niederländischen wird bei den Anaphern im Unterschied zum Deutschen die genusbasierte Kongruenz mit dem Bezugswort partiell von einem rein personenbezogenen und sexusbasierten Prinzip überlagert: Die Neutrumform het, die maskuline Vollform hij/hem, die reduzierten maskulinen Formen und die reduzierte Form ze  



612

B Wort und Wortklassen

(Femininum Plural) sind rein genusgesteuert, hij verweist also auf maskuline Substantive (Personen und Nicht-Personen), ze auf feminine und pluralische Substantive (Personen und Nicht-Personen), wie in (137). Dabei ist zusätzlich zu beachten, dass es große Unterschiede zwischen dem niederländischen und dem flämischen Sprachgebiet in der Zuweisung des femininen Genus gibt. Während das konservativere Flämisch und südlichere Holländisch noch eine ganze Reihe von nicht-personalen Substantivklassen als feminin kategorisiert, ist das nördliche Sprachgebiet auf dem Wege zum Utrum als Genus auch für die pronominale Bezugnahme schon weiter fortgeschritten. Hier kann bei Bezug auf nichtpersonale de-Substantive zunehmend generell mit hij anaphorisiert werden. Die übrigen Formen, nicht nur die Vollformen, sondern auch die reduzierten femininen Objektivusformen ’r/d’r ‚sie, ihr‘, wie in (138), verweisen nur auf Personen des jeweils entsprechenden Geschlechts. (137) a. Waar heb ik m’n auto ook weer 1SG . SU POSS . 1SG Auto auch wieder NDL wo hab.1SG geparkeerd? O ja hij staat helemaal achteraan. steh.3SG ganz hinten geparkt oh ja 3SG . M . SU ‚Wo habe ich mein Auto wieder geparkt? Oh ja, es steht ganz hinten.‘ b. Waar ligt de peer? Ze ligt of de DEF Birne 3SG . F . SU lieg.3SG auf DEF wo lieg.3SG tafel. Tisch ‚Wo liegt die Birne? Sie liegt auf dem Tisch.‘ (138) a. Waar is Lia? Heb je ze/ KL . 2SG . SU 3SG . F . OBJ NDL wo ist Lia hab.2SG ergens gezien? irgendwo gesehen ‚Wo ist Lia? Hast du sie irgendwo gesehen?‘ b. Waar is de pan? Heb je DEF Pfanne hab.2SG KL . 2SG . SU wo ist *d’r ergens gezien? KL . 3SG . F . OBJ irgendwo gesehen ‚Wo ist die Pfanne? Hast du sie irgendwo gesehen?‘ (Geerts et al. 1984: 168)

d’r KL . 3SG . F . OBJ

ze / 3SG . F . OBJ

Im Englischen ist – im Gegensatz zum Deutschen mit seiner anaphorischen Wiederaufnahme des abstrakten Genus – für den anaphorischen Bezug das konkrete Genus des Antezedens ausschlaggebend. Bei Bezug auf Sachen wird im Singular it gesetzt; bei personalem Antezedens richtet sich die Anapher in aller Regel nach dem Sexus des Denotats des Antezedens (detaillierter → B2.2.6). Sexusübergreifende oder generi 



B1 Wortklassen

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sche Personenbezeichnungen im Singular werden traditionell durch he anaphorisiert, neuerdings auch durch he or she, schriftlich (s)he. (139) ENG

The applicant is required to tell us what he/he or she/(s)he is going to do. ‚Der Bewerber wird gebeten, uns zu sagen, was er zu tun gedenkt.‘ (Quirk et al. 1985: 342)

Bei der phorischen Wiederaufnahme von Indefinit- und Quantifikativpronomina kann wie bei generischen Nomina verfahren werden; informell wird – anders als im Deutschen – häufig unter Verzicht auf die Numeruskongruenz das Pluralpronomen they verwendet.  



(140) ENG

Everybody thinks they have the right to be here. ‚Jeder denkt, er habe das Recht, hier zu sein.‘

(141) ENG

It wouldn’t be difficult for someone at night to come upon the monument unheard, then. He – or she or they – would merely have had to know, where Nine Sisters’ Henge was. ‚Es wäre also einfach gewesen für jemanden, nachts ungehört in das Denkmal einzudringen. Er – oder sie (SG / PL ) – hätte(n) nur wissen müssen, wo Nine Sisters’ Henge war.‘ (Elizabeth George 2000: 260)  







Auch bei singularischen Kollektivsubstantiven als Antezedens kann vor allem im britischen Englisch das Pronomen im Plural stehen; dabei wird aber (anders als beim Indefinitpronomen) schon das finite Verb als Prädikat zum Kollektivsubjekt in die unmarkierte Form gesetzt, die mit pluralischer Interpretation vereinbar ist. (142) ENG

The police think they have the right to be here. ‚Die Polizei denkt, sie hat das Recht hier zu sein.‘

Im Französischen richten sich die schwachen (klitischen) Pronomina nach dem abstrakten Genus des Antezedens, während die starken Formen der 3. Person (lui, elle, eux, elles) nur bei personalem Antezedens Verwendung finden. Ein Beispiel für die Dominanz des Maskulinums bei genusgemischten koordinierten Antezedentien ist (143).  

(143) FRA

un chat et une ai KL . 1SG hab.1SG INDEF . M Kater.M und INDEF . F Ils sont affectueux. anhänglich.PL . M 3PL . M sind ‚Ich habe einen Kater und eine Katze. Sie sind anhänglich.‘

J’

chatte. Katze.F

614

B Wort und Wortklassen

Im Spanischen gilt für die starken Pronomina wie im Französischen die ausschließliche Beziehbarkeit auf ein personales Antezedens. Was die schwachen Objektpronomina angeht, so geht die neuere Entwicklung (‚Leismus‘, ‚Laismus‘) dahin, beim direkten Objektivus bei Bezug auf ein maskulines Antezedens das abstrakte Genus Maskulinum nach dem konkreten Genusparameter [+/–belebt] aufzuspalten: le ist dann direkter Objektivus bei belebtem maskulinem Antezedens, lo bei unbelebtem, vgl. (144a) vs. (144b). Bei femininem Antezedens als direktes Objekt steht grundsätzlich la, wie in (144c). (144) SPA

Sí, le conozco. a. ¿Conoces a Carlos? – PRP Carlos ja KL . 3SG . M [+ kenn.1SG kenn.2SG [+bel]] .AKK ‚Kennst du Carlos? – Ja, ich kenne ihn.‘ Sí, lo conozco. b. ¿Conoces este diccionario? – DEM Wörterbuch ja KL . 3SG . M [–bel].AKK kenn.1SG kenn.2SG ‚Kennst du dieses Wörterbuch? – Ja, ich kenne es.‘ No, no la c. ¿Has visto a María? – gesehen PRP Maria nein NEG KL . 3.. SG . F . AKK hab.2SG he visto. hab.1SG gesehen ‚Hast du Maria gesehen? – Nein, ich habe sie nicht gesehen.‘ (Reumuth/Winkelmann 1991: 102 f.)  













Auch im Polnischen orientieren sich die schwachen Pronomina an dem abstrakten Genus des Antezedens (bzw. im Plural an dem konkret-abstrakten Mischgenus +/–Maskulin-Personal, MPERS ), vgl. (145), während die starken Formen der 3. Person (on, ona, ono usw.) überwiegend bei personalem Antezedens verwendet werden, Vorkommen wie in (146) sind daher fragwürdig. Ein Beispiel für die Dominanz des Genus MPERS bei genusgemischten koordinierten Antezedentien ist (147). (145) a. Stół stoi na środku. Widzisz go? Mitte.. LOK L OK seh.2SG 3SG . M . AKK POL Tisch.M steh.3SG in ‚Der Tisch steht in der Mitte. Siehst du ihn? stoi w kącie. Widzisz ją? b. Komoda Ecke.. LOK L OK seh.2SG 3SG . F . AKK Kommode.. F steh.3SG in ‚Die Kommode steht in der Ecke. Siehst du sie?‘ (146) POL

Stół stoi na środku. Komoda stoi w Tisch.. M steh.3SG in Mitte.. LOK L OK Kommode.. F steh.3SG in ?On jest czarny. kącie. L OK 3SG . M . NOM ist schwarz Ecke.. LOK ‚Der Tisch steht in der Mitte. Die Kommode steht in der Ecke. *ER ist schwarz.‘

B1 Wortklassen

(147) POL

Czy

widzisz te panie i seh.2SG DEM . AKK . PL . F Frau.AKK . PL . F und panów? (Oni) są mili. sind nett.PL Herr.AKK . PL . MPERS 3PL . MPERS ‚Siehst du diese Damen und Herren? Sie sind nett.‘ PTL

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tych DEM . AKK . PL . MPERS

Im Deutschen stimmen die Personalpronomina der dritten Person bei ana- und kataphorischem Bezug grundsätzlich in Genus und Numerus mit dem substantivischen Kopf der Bezugsphrase überein. Seltener und meist bei größerer Distanz zum Bezugsausdruck wird – entgegen der grammatischen Norm – bei Bezug auf Personen oder Tiere bei einem Substantiv im Neutrum (das Mädchen, das Weib, das Weibchen, das Männchen) vom Genusprinzip – wie in (148) und (149) – auf das Sexusprinzip – wie in (150) – umgestiegen. In (148) ist zu beachten, dass die Kombination Präposition + es standardsprachlich gemieden wird (Duden-Grammatik 2009: 268). Das Pronominaladverb darauf kann jedoch nicht bei personalem Bezug, wie er hier vorliegt, verwendet werden. Es entsteht also ein Regelkonflikt, der hier zugunsten der semantisch adäquaten, aber morphologisch dispräferierten Form gelöst wird.  











(148)

Das Mädchen aus der Koselstraße scheint seine Rolle so gut gespielt zu haben, dass bald andere Frankfurter Bühnen auf es aufmerksam wurden. (Frankfurter Allgemeine, 1993)

(149)

Das Weib will umgarnt und genommen sein, und sei es beruflich noch so erfolgreich [. . .] (die tageszeitung, 21.06.1991)  

(150)



Ein quirliges Männchen drängt sich nach vorne. „Jesus, Maria!“ ruft er wie im heiligen Zorn. (die tageszeitung, 24.02.1998)

Noch im 19. Jahrhundert war der Umstieg zum Sexusprinzip üblicher (vgl. Behaghel 1928: 38); er findet sich besonders, wenn mit Kind oder Mädchen auf eine(n) junge Erwachsene(n) referiert wird. Man vergleiche folgenden Beleg, in dem zunächst nach dem Genus-, dann nach dem Sexusprinzip verfahren wird.  

(151)

In seinem Dienste war das Kind unermüdet und früh mit der Sonne auf; es verlor sich dagegen abends zeitig, schlief in einer Kammer auf der nackten Erde und war durch nichts zu bewegen, ein Bette oder einen Strohsack anzunehmen. Er fand sie oft, daß sie sich wusch. (Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 110)  

Die Genusneutralisierung im Plural erleichtert die anaphorische Bezugnahme auf genusverschiedene koordinierte Antezedentien. Dies kann auch von Vorteil sein bei der Gestaltung von Texten, in denen sexusdifferenzierende Personenbezeichnungen gezielt eingesetzt werden, wie (153). (152)

Ich besitze eine Katze und einen Kater. Sie sind anschmiegsam.

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(153)

B Wort und Wortklassen

Nur wenige Wählerinnen und Wähler haben von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Sie zogen es vor, diesen Sommertag im Grünen zu verbringen.

B1.5.3 Reflexivpronomina B1.5.3.1 Funktionale und typologische Charakterisierung Reflexiva haben die zentrale Funktion, innerhalb eines Propositionsausdrucks Referenzidentität/Koreferentialität anzuzeigen. Sie werden also gebraucht, wenn innerhalb einer Proposition mehrfach auf dieselbe Entität (in unterschiedlichen Rollen) Bezug genommen wird. Dabei wird – zumindest bei Zugehörigkeit zu einer finiten Verbalphrase – eine Argument-/Komplementstelle durch ein nicht-reflexives Antezedens besetzt, weitere Vorkommen (als Argument/Komplement oder auch als Supplement) werden durch Reflexiva belegt. Wir sagen dann, dass das Reflexivum bzw. die Reflexiva vom Antezedens ‚referentiell abhängig‘ sind, bzw. durch das Antezedens ‚lokal gebunden‘. ‚Reflexivität‘ ist dann gleichzusetzen mit ‚lokaler Bindung‘ bzw. ‚referentieller Abhängigkeit‘. Ein Antezedens muss – zumindest in Propositionsausdrücken mit finitem Verb – in aller Regel gegeben sein. In Pro-Drop-Sprachen kann ein (personalpronominales) Antezedens auch implizit bleiben, hier liefert die verbale Flexionsendung Hinweise auf den Referenten. Referenzidentität wird wie bei den Personalpronomina (→ B1.5.2.1) in dem erläuterten weiteren Sinne verstanden, der das mehrfache Vorkommen einer identisch zu belegenden gebundenen Variablen mit einschließt. In Infinitivkonstruktionen (Sich regen bringt Segen) und im Imperativ (ENG Wash yourself ,Wasch dich‘) muss kein Antezedens realisiert sein. Zu einer klassischen Formulierung der Bindungstheorie vgl. Chomsky (1984: 183–230, 1986: 166). Wir schließen an die Grundgedanken an, ohne die Festlegungen im Einzelnen zu übernehmen. Reflexiva teilen somit mit den Personalpronomina der 3. Person die übergreifende funktionale Domäne der (ana)phorischen Bezugnahme bzw. des Wiederaufgreifens bereits kontextuell verfügbarer Referenten. Sie kodieren wie diese Referenzidentität (im weiteren Sinne) mit einem Antezedens. Da beide Pronominaarten keine weitergehenden semantischen Informationen tragen, können wir als gemeinsame funktionale Domäne bestimmen: grammatikalisierter Ausdruck der Referenzidentität mit einem Antezedens. Innerhalb dieser Domäne sind die Reflexiva jedoch spezialisiert auf eine engere, ‚lokale‘ Bindung (1) gegenüber der nicht-lokalen Bindung bei Personalpronomina der 3. Person (2).  







(1)

Hansi sieht sichi. Referenzidentität bei lokaler Bindung

B1 Wortklassen

(2)

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Peteri steht am Fenster. Hansj sieht ihni. Referenzidentität ohne lokale Bindung

Aufgabe der Reflexiva ist es also, die innerpropositionale Koreferentialität besonders auszuzeichnen und sie von der Koreferentialität mit einem extrapropositionalen Antezedens zu unterscheiden. Dabei unterscheiden sich Sprachen hinsichtlich der Reichweite lokaler Bindung. Der Propositionsausdruck als Bindungsbereich für Reflexiva kann sowohl über- als auch unterschritten werden. Die Festlegung auf die Proposition ist also nur als Richtgröße bzw. Näherungswert zu verstehen; vgl. im Einzelnen → B1.5.3.6 bis B1.5.3.8. Man kann somit Reflexiva als die syntaktisch eng gebundene Variante der Personalpronomina der dritten Person betrachten, von daher auch die Bezeichnung ‚Reflexivanapher‘. Andererseits werden Reflexiva (z. B. in den slawischen Sprachen, im Englischen, im Ungarischen) auch verwendet, wenn Referenzidentität mit einem deiktischen Ausdruck, den Personalpronomina der 1. und 2. Person, vorliegt. Hier zeigt sich, dass referentielle Abhängigkeit nicht an Phorizität – also kontextinduzierte Fortführung von Referenz – gekoppelt sein muss. Wir sprechen hier von ‚±phorischen Reflexiva‘. ±Phorische Reflexiva können nun außerdem noch den unterschiedlichen Personenbezug in ihrer Form anzeigen, wie im Englischen und Ungarischen, oder dieser Unterschied kommt in ihrer Form nicht zum Ausdruck wie im Polnischen. Wir gebrauchen hier die Merkmalsunterscheidung ‚±persondifferenziert‘. Die Verwendung eines Reflexivums bei deiktischem Antezedens (Personalpronomen 1. und 2. Person) ist nun aber unter rein referenzsemantischer Perspektive eher ein Luxus. Anders als bei phorischer Fortführung können keine Bezugsambiguitäten auftreten. Bei konstanter deiktischer Situierung/Origo bleiben auch Sprecher(gruppen) und Hörer(gruppen) konstant und sind eindeutig identifiziert. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass in bestimmten elliptischen Kontexten auch die Personalpronomina der 1. und 2. Person als gebundene Variable interpretiert werden müssen, um dem Phänomen der „sloppy identity“ gerecht zu werden. Es liegt vor, wenn z. B. in Du verteidigst dich besser als wir der elliptische Teil im Sinne von ‚als wir uns verteidigen‘ interpretiert wird. Zu diesem eher randständigen Phänomen vgl. Zifonun (2003b: 270–273). Es ist daher auch funktional, wenn wie in den meisten indoeuropäischen Sprachen für den Bezug auf die Kommunikanten keine speziellen Formen, die lokale Bindung/referentielle Abhängigkeit anzeigen, zur Verfügung stehen. In diesem Fall werden auch dort, wo bei der 3. Person ein Reflexivum erscheinen müsste, also in der syntaktischen Domäne der referentiellen Abhängigkeit, die Personalpronomina gesetzt. Dies gilt für Sprachen wie das Deutsche, das Niederländische, die skandinavischen und die romanischen Sprachen, in denen es somit nur eigene Reflexiva für die 3. Person gibt. Wir sprechen hier von ‚+phorischen Reflexiva‘. Man kontrastiere:  







618

B Wort und Wortklassen

(3) POL

Myję się. KL . REFL . AKK wasch.1SG ‚Ich wasche mich.‘

In der Übersetzung von (3) ist mich keine Reflexivpronomenform, sondern wie bei allen anderen Vorkommen, eine Form des Personalpronomens. mich erscheint hier jedoch in einer syntaktischen Funktion, in der bei der 3. Person das Reflexivum erschiene. Auch im Hinblick auf den Vergleich mit dem Polnischen erscheint eine spezielle Benennung dieser Vorkommensart des Personalpronomens sinnvoll: Übergreifend für Reflexivpronomina und Personalpronomina der 1. und 2. Person in der Bindungsdomäne der Reflexivpronomina gebrauchen wir die Bezeichnung ‚Reflexivierer‘. Nicht nur bei optional reflexiven Verben (wie jemanden sehen, jemanden waschen), sondern auch bei den lexikalisch reflexiven Verben wie sich schämen wird bei 1. und 2. Person das Personalpronomen als Reflexivierer gebraucht. Diese Auffassung steht im Gegensatz zur Bindungstheorie von Chomsky (1984), der zufolge Personalpronomina nicht lokal gebunden vorkommen. Man vergleiche Prinzip (B) der Bindungstheorie: „A pronominal is free in its governing category.“ (ebd.: 188). Anders wiederum verhält es sich bei Sprachen, die keine Reflexivpronomina kennen. Hier ist im europäischen Sprachraum z. B. das Friesische zu nennen, das auch bei lokaler Bindung der 3. Person das Personalpronomen gebraucht, wie in (4). Aber auch hier gibt es „lexikalisch reflexive“ Verben wie in (5), wo das Personalpronomen als Reflexivierer nicht durch einen anderen Ausdruck substituiert werden kann.  





(4) FRI

Omke skeart him. Onkel rasier.. 3SG 3SG . OBJ ‚Onkel rasiert sich.‘ (Hoekstra/Tiersma 1994: 516)

(5) FRI

Pier skammet him. Pier schäm.3SG 3SG . OBJ ‚Pier schämt sich.‘ (Reuland 1999: 15)

Die eingeführten Festlegungen und die sprachabhängige Funktionsaufteilung zwischen Personalpronomen und Reflexivpronomen zeigt die folgende Tabelle. Das syntaktische Merkmal [+lokal gebunden] ist als Merkmalsforderung an einen Ausdruck zu verstehen, der grammatikalisierte Referenzidentität mit einem Antezedens in einer engen, innerpropositionalen Domäne ausdrücken soll. Das Merkmal [–lokal gebunden] ist gefordert für Ausdrücke, die grammatikalisierte Referenzidentität in der Komplementmenge dieser Domäne ausdrücken. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass auch die Reichweite von ‚lokaler Bindung‘ sprachabhängig variieren kann (vgl. dazu → B1.5.3.6).

B1 Wortklassen

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Tab. 1: Personal- und Reflexivpronomen [–lokal gebunden]: „NichtReflexivierer“

[+lokal gebunden]: „Reflexivierer“

Typ 1

[Antezedens: –Kommunikant]

Personalpronomen

Reflexivpronomen (+phorisch)

[Antezedens: +Kommunikant]

Personalpronomen

Sprachen

DEU, NDL, skandinavische Sprachen, romanische Sprachen

Typ 2

Typ 3

[+persondifferenziert]

[–persondifferenziert]

Reflexivpronomen (±phorisch)

Reflexivpronomen (±phorisch)

ENG, UNG

POL, FRI andere slawische Sprachen

Personalpronomen

Tabelle 1 zeigt, dass bei den hier untersuchten Sprachen Reflexiva ausschließlich als Reflexivierer fungieren, Personalia aber sprachabhängig sowohl Nicht-Reflexivierer als auch Reflexivierer sein können. Nur bei Typ 2 sind die Personalia auf die Funktion des Nicht-Reflexivierers beschränkt. Bei Typ 3 decken sie beide Domänen voll ab, während bei Typ 1 bestimmte Personalia auch Reflexivierer sind, andere nicht. Reflexiva sind also gegenüber den Personalia im Allgemeinen die spezifischeren Formen, Personalia dagegen können unterspezifiziert sein hinsichtlich der Bindungsdomäne. Zu Unterspezifikation allgemein vgl. Müller (2002) mit weiterer Literatur; zur Anwendung auf Personalia und Reflexiva vgl. Gast/Hole (2003) und Zifonun (2003b). Bei den Reflexiva der Sprachen mit den ±phorischen Reflexiva ist, wie bereits vermerkt, eine weitere Unterscheidung bezüglich der Personmarkierung zu treffen: Bei den slawischen Sprachen unterbleibt die Persondifferenzierung, aber auch eine Unterscheidung aller drei Personen wie im Englischen, Ungarischen ist möglich. Mit der Persondifferenzierung kovariiert bei den Vergleichssprachen die Numerus- und gegebenenfalls die Genusdifferenzierung: DEU Er/Sie wäscht sich / Sie waschen sich gegenüber ENG He washes himself / She washes herself / They wash themselves. Wir setzen daher den Varianzparameter ‚Person-, Genus- und Numerusdifferenzierung‘ an. In vielen europäischen Sprachen sind die Reflexiva vollständig grammatikalisiert. Die historische Quelle von DEU sich, POL się usw. liegt nicht mehr offen. Typologisch

620

B Wort und Wortklassen

gesehen ist dies jedoch eher ein Ausnahmefall. In vielen Sprachgruppen, zumal in afrikanischen Sprachen, ist die Evolution der Reflexiva noch weitgehend transparent. Nach Schladt (1999: 105 f.) können auf der Basis eines Samples von 150 Sprachen insgesamt sieben Quellen für die Grammatikalisierung von Reflexivierern ausgemacht werden. Die bedeutendste Rolle spielen nominale Quellen, zum einen Bezeichnungen für den Körper oder Körperteile, insbesondere für den Kopf, zum anderen Substantive in der Bedeutung ,Person‘, ,Selbst‘, ,Besitzer‘. Ein europäisches Beispiel für den ersteren Grammatikalisierungsweg ist das baskische Reflexivum buru (‚Kopf‘). Der zweite Weg ist zwar im europäischen Raum ebenfalls zahlenmäßig nur schwach vertreten. Er spielt jedoch bei den Kontrastsprachen eine wichtige Rolle: Die Reflexiva finnougrischer Sprachen (mit der Kontrastsprache Ungarisch), von Turksprachen (mit dem Türkischen), des Albanischen, Griechischen wie des Englischen (und weiterer Sprachen: kaukasische Sprachen, indoarische Sprachen, Mandarin, Japanisch, Persisch) basieren auf ‚Selbst‘. Was die europäischen Kontrastsprachen angeht, so wurde der nominale Ausdruck für ‚Selbst‘ in einem ersten Grammatikalisierungsschritt zum so genannten ‚Intensifikator‘. Intensifikatoren sind Ausdrücke wie DEU selbst in der Präsident selbst, ENG X-self in the president himself, die in dieser adnominalen Funktion ,zentrierend‘ wirken, d. h. den Referenten der Nominalphrase (,der Präsident‘) als Zentrum gegenüber einer Peripherie alternativer Werte (z. B. ,die Umgebung/ die Berater des Präsidenten‘) hervorheben (vgl. König/Siemund 1999a: 45 sowie → B1.5.3.3). Der zweite Grammatikalisierungsschritt ist der Übergang vom Intensifikator zum Reflexivierer, der hier am Beispiel des Englischen kurz umrissen werden soll: Im Altenglischen fehlte noch die Reflexivanapher, stattdessen wurden – wie noch im heutigen Friesischen – die Personalpronomina verwendet. Koreferenz des Objektpronomens mit dem Subjekt konnte durch Hinzusetzung des Intensifikators seolf (‚selbst‘) besonders herausgestellt werden. Diese Adjazenz von Personalpronomen und Intensifikator ist die Basis der weiteren Grammatikalisierung zum Reflexivum X-self, wobei aber die komplexe Form nun auch die intensivierende (‚emphatische‘) Funktion noch mit von einfachem self übernimmt. Im Ungarischen (maga) und Türkischen (kendi) sind die Intensifikatoren nicht mit einem Personalpronomen zum Reflexivum zusammengewachsen, sondern haben selbst direkt die Reflexivfunktion neben der intensivierenden übernommen. Im Albanischen ist noch ganz deutlich der substantivische Charakter des Lexems mit der Bedeutung ‚Selbst‘ erhalten: vetja wird wie ein feminines Substantiv flektiert. Der Zusammenhang von Intensifikatoren und Reflexiva ist in jüngster Zeit intensiv untersucht worden, vgl. z. B. König/Siemund (1996a, 1996b, 1999a, 1999b), Siemund (1997). In den Vergleichssprachen ohne ‚Selbst‘ als Quelle des Reflexivums (Deutsch, Polnisch) koexistieren Intensifikator und Reflexivum, ohne homonym zu sein. Im Niederländischen und im Französischen, wo Reflexiva ohne Intensifikator als Quelle existieren, haben jedoch komplexe Formen mit Intensifikator als Bestandteil enge Berührung zum Reflexivierungssystem. Als Varianzparameter setzen wir an: ‚Intensifikator und Reflexivum‘.  













B1 Wortklassen

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Morphologische Varianzparameter sind zum einen analog zum Personalpronomen ‚selbstständiges (starkes oder schwaches) oder klitisches Vorkommen‘, vgl. z. B. selbstständig DEU sich versus klitisches FRA se mit starkem Gegenstück soi. Zum anderen aber sind einfache Formen wie die eben genannten insgesamt den komplexen, durch Grammatikalisierung entstandenen (X-self u. ä.) gegenüberzustellen. In Abhängigkeit von der Form des Reflexivierers werden auch Kasusunterschiede mehr oder weniger stark markiert. Der entsprechende Parameter lautet ‚selbstständige und klitische, einfache und komplexe Formen, Kasusdifferenzierung‘. Im Hinblick auf die syntaktische Verwendung ist eine wichtige Frage, welche syntaktischen Funktionen das Reflexivum übernehmen kann und ob es eine jeweils sprachspezifische Hierarchie im Hinblick auf diese gibt. Dabei scheint die Subjektfunktion für die europäischen Sprachen ausgeschlossen zu sein. Wir setzen hier den Parameter ‚syntaktische Funktionen‘ an. Neben den syntaktischen Funktionen auf Satzebene kommen auch adnominale Funktionen in Betracht (z. B. in DEU der Gedanke an sich selbst, ENG true to himself ‚sich selbst treu‘). Das zweite wichtige syntaktische Kriterium ist, in welcher syntaktischen Funktion die bindenden Ausdrücke, also die Antezedentien, vorkommen. Der zentrale Binder für reflexiv realisierte Satzglieder ist das Subjekt wie in FRA Il se lave ‚Er wäscht sich‘. Jedoch gibt es auch Bindung durch das Objekt wie in DEU Ich überlasse ihn sich selbst. Daher ist auch in Bezug auf die bindenden Ausdrücke eine Hierarchie anzusetzen. Der entsprechende Parameter lautet: ‚Antezedentien im einfachen Satz‘. Bei Reflexiva in adnominaler Funktion bildet in der Regel die Nominalphrase eine eigene Reflexivierungsdomäne; aber auch ein NP-externes Antezedens ist nicht ausgeschlossen (vgl. ‚Antezedentien für NP-interne Reflexiva‘). Außerdem variiert die Reichweite der reflexiven Bindung im komplexen Satz: Sie kann nur den Teilsatz umfassen oder den komplexen Satz selbst wie etwa in ENG They would talk of himself, he thought fondly gegenüber DEU Sie würden von ihm selbst sprechen, dachte er naiverweise (König/Siemund 1999a: 53). Allerdings legt hier der Kontrast etwa zum Deutschen nahe, zu überprüfen, ob es sich in solchen Fällen wirklich um reflexive Bindung handelt oder um ein Phänomen, das „logophorische“ Verwendung des Reflexivums (auch ‚Pseudo-Reflexiva‘) genannt wird. Bei dieser Verwendung werde die Situation aus der Perspektive des Antezedens dargestellt; es liege jedoch keine syntaktische Bindung vor. In Bezug auf den Parameter ‚Bindungsdomäne im komplexen Satz‘, den wir hier ansetzen, sind außerdem semi-sententiale Strukturen wie (klassische) Infinitivkonstruktionen, infinite Konstruktionen mit realisiertem Subjekt-Argument (AcI) oder ‚kleine Klauseln‘ (small clauses) von besonderem Interesse. Reflexivierer haben neben der zentralen Verwendung zum Ausdruck von Reflexivität, in dem sie selbst referentiell mit Koreferenz in Bezug auf ein Antezedens gebraucht werden, häufig auch andere nicht-referentielle Verwendungen. Der gemeinsame Nenner dieser nicht-referentiellen Verwendungen ist, dass sekundäre intransitive Verben oder Verbverwendungen zu einem primär transitiven Verb her 





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B Wort und Wortklassen

gestellt werden. Auch hier handelt es sich um Grammatikalisierungsprozesse. Die kognitive Basis ist dabei folgende: Referentielle Verwendungen des Reflexivums bei transitiven Verben zeigen an, dass eine normalerweise „fremd-gerichtete“ Handlung wie lieben, hassen usw. von dem Akteur an sich selbst vollzogen wird. Im referentiellen Gebrauch, wie er bei sich lieben oder sich hassen vorliegt, bleibt dabei aber die Unterscheidbarkeit von AGENS und PATIENS oder „Initiator“ und „Endpunkt“ der Handlung (Kemmer 1993) – bei referentieller Identität – erhalten. Demgegenüber wird bei nicht-referentiellen Verwendungen diese Unterscheidbarkeit der beiden Rollen oder auch nur Facetten des Partizipanten in unterschiedlich starkem Maße abgebaut. Das Spektrum sekundärer Intransitivität erstreckt sich von semantischen Verbklassen wie den Verben der Körperpflege (sich anziehen, sich kämmen), der Veränderung der Körperhaltung (sich bücken, sich strecken), der Emotion, Sprechhandlung und Kognition (sich freuen, sich äußern, sich interessieren für) bis zu Verben wie sich treffen, mit denen eine „symmetrische Reflexivität“ (vgl. Kunze 1995, 1997) bzw. „natürliche Reziprozität“ (vgl. Kemmer 1993) ausgedrückt wird; vgl. genauer → B1.5.3.9. Beispiele wie sich streiten, sich zanken zeigen, dass nicht immer ein transitives Verb gegeben sein muss. In diesem Fall wird sich nur in Analogie zum Standardfall der Intransitivierung eines transitiven Verbs gesetzt und ist zum Zeichen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Verbklasse, etwa ‚symmetrische Verben‘, erstarrt. Nicht an bestimmte Domänen gebunden und damit stärker grammatikalisiert ist die Bildung so genannter „Antikausativa“ (vgl. Haspelmath 1993), also intransitiver Inchoativa auf der Basis kausativer Verben, wie in DEU sich öffnen, FRA s’ouvrir, ITA aprirsi, UNG csavar-odik ,sich drehen‘, oder intransitiver Verben im so genannten „fazilitativen“ Medium wie in DEU sich (gut) verkaufen. Intransitivierung im Sinne der Blockierung des AGENS -Arguments ist auch die Basis der Verwendung von Reflexivierern mit passivischer Interpretation: Hier sind zunächst subjektlose Konstruktionen zu nennen wie in POL tu mówi się po polsku ‚man spricht hier Polnisch‘, SPA se vende terrenos ,man verkauft Grundstücke / Grundstücke zu verkaufen‘, ITA si vede le stelle ,man sieht die Sterne‘. Im Spanischen und Italienischen existieren daneben PAT IENS -Argument, erkennbar an der Konstruktionen, in denen das nachgestellte PATIENS Pluralform des Prädikatsverbs, in Subjektfunktion auftritt; vgl. z. B. SPA se venden terrenos ,man verkauft Grundstücke / Grundstücke zu verkaufen‘ (neben se vende terrenos), se desean informaciones más detelladas ,man wünscht nähere Informationen‘, ITA si vedono le stelle ,man sieht die Sterne‘ (neben si vede le stelle). Dabei hat folgende Implikation sprachübergreifende Geltung: Reflexiva auf der Basis von Intensifikatoren werden nicht als Markierer sekundärer Intransitivität eingesetzt. Man denke an das Beispiel des Englischen, wo Antikausativa und fazilitative Medialformen ohne Reflexivierer gebildet werden: The door opens ‚Die Tür öffnet sich‘; The book sells ‚Das Buch verkauft sich gut‘. Wohl aber lassen auch solche Sprachen die Verwendung von Reflexivierern bei den ‚lexikalisch‘ reflexiven Verben zu (vgl. DEU sich schämen, ENG to pride oneself on something ‚sich einer Sache rühmen‘). Vergleichbares gilt auch für das Niederländische.  





B1 Wortklassen

623

In typologischer Perspektive erscheint es angemessen, die funktionale Domäne, die durch nicht-referentielle Verwendungen von Reflexivierern abgedeckt ist, aus dem unmittelbaren Bezug auf das Reflexivum zu lösen. Im Anschluss an Kemmer (1993: 243) ist hier vom ,Situationstyp Medium‘ zu sprechen mit folgender Definition für das Medium (middle): „The middle is a semantic area comprising events in which (a) the Initiator is also an Endpoint, or affected entity and (b) the event is characterized by a low degree of elaboration.“ Der Gebrauch von Reflexivierern ist eine bevorzugte Strategie für den Ausdruck dieses Situationstyps, jedoch keineswegs die einzige. Daneben werden verbale Marker verwendet, deren Herkunft ungeklärt ist, wie im Griechischen, im Sanskrit und in australischen Sprachen, der Passivmarker wie im Lateinischen oder verbale Marker mit intensivierender Funktion wie UNG -kod-. In der vorliegenden Darstellung wird daher auf eine Erörterung der Reflexivierer als Ausdrucksmittel des Situationstyps Medium in Form eines eigenen Varianzparameters verzichtet, ebenso auf die Behandlung der Reflexivierer als Mittel der Diathesenbildung wie bei Antikausativa oder als Bestandteile von lexikalisch reflexiven Verben. Es ist auf Zifonun (2003a: 62–82, 108–114) zu verweisen. Die syntaktischen Eigenschaften nicht-referentieller Verwendungen der Reflexivierer werden in → B1.5.3.4 berücksichtigt. Im klassischen Katalog der Pronomina sind Reziprokpronomina nicht vorgesehen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass im Lateinischen – wie in den meisten Sprachen überhaupt – die reziproke Funktion von den Reflexiva mit übernommen wird. Auch in den heutigen europäischen Sprachen trifft dies häufig zu (Deutsch, romanische und slawische Sprachen). Sie lieben sich hat daher neben der reflexiven Lesart auch eine reziproke. Bei ihr werden die verschiedenen Elemente der Gruppe, die durch das Antezedens benannt wird, zueinander in Beziehung gesetzt, während bei der reflexiven Lesart identische Elemente der Gruppe in Beziehung treten. Reziproka sind daher in ihrem Bezug auf Gruppenbezeichnungen, also pluralische NPs (die Kinder), Koordinationen (Hans und Eva) oder singularische Sammelbezeichnungen (die Mannschaft, die Gruppe), beschränkt. In vielen Sprachen treten neben dem reziproken Gebrauch der Reflexiva auch alternativ eigene reziproke Formen wie die unflektierbare Form DEU einander auf. Differenzierung kann auch durch den Zusatz eines vereindeutigenden Ausdrucks zum Reflexivum (DEU gegenseitig versus selbst) erfolgen. Letztlich kann der reziproke Bezug vom reflexiven auch strikt getrennt sein. Dies trifft auf viele germanische Sprachen (außer dem Deutschen) zu, vgl. ENG one another, each other; sowie das Niederländische und die skandinavischen Sprachen, außerdem auf das Ungarische. Wir behandeln diese Aspekte mit dem Parameter ‚reziproker Bezug‘. Es sind insgesamt folgende Varianzparameter festzuhalten:  



1.

Person-, Genus- und Numerusdifferenzierung: Gibt es für alle drei Personen eigene Reflexiva? Wird auf Persondifferenzierung ganz verzichtet? Wie hängt die Numerus- und ggf. die Genusdifferenzierung mit der in der Person zusammen?

624

B Wort und Wortklassen

2.

Intensifikator und Reflexivum: Welche Auswirkungen hat ggf. die Grammatikalisierung eines (nominalen) Intensifikators auf das synchrone Verhältnis von Intensifikator und Reflexivum? 3. Selbstständige und klitische, einfache und komplexe Formen, Kasusdifferenzierung: Entspricht die Statusunterscheidung ‚selbstständig‘ versus ‚klitisch‘ der beim Personalpronomen? Bei welchen Formen ist Kasusdifferenzierung zu erwarten? 4. Syntaktische Funktionen: Welche syntaktischen Funktionen auf Satzebene und auf adnominaler Ebene kann das Reflexivum übernehmen? 5. Antezedentien im einfachen Satz: Welche syntaktischen Funktionen können die Antezedentien haben? Wie verhalten diese sich zu den Funktionen des durch das Antezedens gebundenen Reflexivums? 6. Antezedentien für NP-interne Reflexiva: Welche Prinzipien bestimmen – ggf. in Abweichung von der Domäne ‚Satz‘ – die Reflexivierung innerhalb der NP? 7. Bindungsdomänen im komplexen Satz: Wie sind (scheinbare) Bindungsphänomene über die Satzgrenze zum (finiten) Untersatz zu erklären? Wie ist Reflexivierung in nicht-finiten propositionalen Strukturen wie z. B. Infinitivkonstruktionen zu erklären? 8. Reziproker Bezug: Wie steht der reziproke Bezug zum reflexiven?  





B1.5.3.2 Person-, Genus- und Numerusdifferenzierung Im Niederländischen, im Deutschen, in den skandinavischen und den romanischen Sprachen gibt es eigene Reflexiva nur für die 3. Person. Bei der 1. und 2. Person übernimmt das Personalpronomen den reflexiven Bezug mit. Dies ist insgesamt in Übereinstimmung mit der universalen Hierarchie für die Personunterscheidung bei den Reflexiva. Sie lautet: 3>2>1 D. h., das Vorkommen von Reflexiva der 2. Person in einer Sprache setzt das Vorkommen von Reflexiva der 3. Person voraus, das von Reflexiva der 1. Person das Vorkommen von Reflexiva der 3. und der 2. Person. Diese Hierarchie erscheint wie ein Spiegelbild der Hierarchie für die Personalia (i.1’) in → B1.5.2.1. Es ist allerdings auf den unterschiedlichen Status der beiden Hierarchien zu verweisen. Während Hierarchie (i.1’) sich als Teil der Allgemeinen Nominalhierarchie auf übergreifende grammatische Asymmetrien bezieht, macht diese Hierarchie Aussagen über das lokale System der Reflexiva selbst. Sprachen, die Reflexiva der 3. und der 2. Person, nicht jedoch der 1. Person aufweisen, sind nur außerhalb des europäischen Raums vertreten. Englisch und Ungarisch, beides Sprachen mit intensifikator-basiertem Reflexivum, haben alle drei Personen: das Englische durch den ersten, pronominalen Be 





B1 Wortklassen

625

standteil, das Ungarische durch das Possessorsuffix. Die slawischen Sprachen haben keine Personenunterscheidung. Das Reflexivum, das Übereinstimmungen mit dem Reflexivum der 3. Person bei den anderen indoeuropäischen Sprachen zeigt, ist auf alle Personen generalisiert. In den Vergleichssprachen liegt folgende Korrelation zwischen Person- und Numerusdifferenzierung vor: Nur bei einer Differenzierung in alle drei Personen (Englisch, Ungarisch) werden auch die Numeri und ggf. bei der dritten Person das Genus unterschieden. Bei Reflexiva der 3. Person und bei generalisiertem Reflexivum gibt es keine Genus- und Numerusdifferenzierung. Im Einzelnen gilt für die Kern-Kontrastsprachen: Im Englischen gibt es für alle drei Personen eigene komplexe Reflexiva, die aus den determinativischen Possessiva (1. Person, 2. Person) bzw. der Objektform der Personalpronomina + self, Plural selves (3. Person) zusammengesetzt sind und die die Genus- und Numerusdifferenzierungen des Antezedens widerspiegeln, vgl. (6). Auch das generische Pronomen one hat ein entsprechendes Reflexivum: oneself. (6) ENG

I – myself; we – ourselves you – yourself/yourselves he, she, it – himself, herself, itself; they – themselves  







(7) ENG

They washed themselves. ‚Sie wuschen sich.‘

(8) ENG

Paul buys himself something to read. ‚Paul kauft sich etwas zu lesen.‘



Französisch hat wie die romanischen Sprachen insgesamt nur für den Rückbezug auf Nicht-Kommunikanten ein eigenes nicht genus- und numerusdifferenziertes Reflexivpronomen. Es hat – eingeschränkt auf den Objektivus – die klitische Form se und die starke Form soi; im Spanischen lautet die klitische Form se, die starke Form sí; im Italienischen si (klitisch), sé (stark). (Zur Unterscheidung zwischen klitischen und starken Formen vgl. → B1.5.3.4.) Die Reflexiva verhalten sich in Bezug auf Klitisierung und Stellung jeweils analog zu den Objektivusformen der Personalpronomina (→ B1.5.2.8). Die reflexivspezifischen Gebrauchsbedingungen dieser in den drei Sprachen morphologisch parallelen Formen unterscheiden sich jedoch partiell (Zifonun 2003a: 23, 30 f., 37 f.).  









626

(9) FRA

B Wort und Wortklassen

Ils

se

KL . 3PL . M

KL . REFL 3

lavaient. wasch.IPRF . 3PL

,Sie wuschen sich.‘ (10) FRA

Paul s’ achète quelque chose Paul KL . REFL 3 kauf.3SG etwas ‚Paul kauft sich etwas zu lesen.‘

à zu

lire. les.INF

Polnisch hat wie die anderen slawischen Sprachen Reflexiva ohne Person- und Genus-/Numerusdifferenzierung. Es sind aber vergleichbar den romanischen Sprachen (wie auch etwa im BKS) schwache und starke Formen zu unterscheiden. Im Polnischen lautet die schwache Form, die nur für Akkusativ und Genitiv zur Verfügung steht, się, die starke Form ist in drei Wortformen (mit fünf Kasusfunktionen) G EN : siebie; DAT / LOK : sobie, INS : sobą). ausdifferenziert (AKK / GEN (11) POL

Myli wasch.PRT . 3PL . MPERS ‚Sie wuschen sich.‘

się. KL . REFL . AKK

(12) POL

Paweł kupuje sobie coś Paweł kauf.3SG REFL . DAT etwas ‚Paweł kauft sich etwas zu lesen.‘

do zu

czytania. Lesen

Als Reflexivpronomen werden im Ungarischen nach Person (Possessoraffix), Numerus und Kasus differenzierte Formen des Intensifikators maga (auch: önmaga, saját maga) gebraucht. (13) UNG

Ne

gyötörd NEG quäl.IMP . 2SG . DEF ‚Quäle dich nicht.‘

magad. selbst.2SG . AKK

(14) UNG

Pál vesz magának Pál kauf.3SG selbst.3SG . DAT ‚Pál kauft sich etwas zu lesen.‘

valami etwas

olvasnivalót. zu.lesen.AKK

Im Deutschen gibt es nur für den Rückbezug auf Nicht-Kommunikanten (3. Person) ein eigenes Reflexivpronomen. Antezedentien können beliebige Nominalphrasen oder Pronominalphrasen mit der Rektion der dritten Person des Finitums sein. Für die 1. und 2. Person werden die Personalpronomina als Reflexivierer verwendet. Das Reflexivpronomen lautet unveränderlich sich; Numerus- und Genusdifferenzierung des Antezedens werden somit nicht widergespiegelt. Das Deutsche stimmt also unter den Vergleichssprachen in diesem Parameter überein mit den germa 

B1 Wortklassen

627

nischen Sprachen (außer dem Englischen), dem Polnischen (und anderen slawischen Sprachen) sowie dem Französischen (und weiteren romanischen Sprachen).

B1.5.3.3 Intensifikator und Reflexivum Was das Verhältnis zwischen Intensifikator und Reflexivum angeht, so gliedern wir die Vergleichssprachen in drei Gruppen: 1.

2.

3.

Sprachen, bei denen Intensifikator und Reflexivum in Form und Distribution strikt geschieden sind: Deutsch, Polnisch und weitere slawische Sprachen, Spanisch, Italienisch und weitere romanische Sprachen. Sprachen, bei denen Intensifikator und Reflexivum in der Form übereinstimmen, in der Distribution jedoch (weitgehend) distinkt sind: Englisch, Ungarisch, Türkisch. Besondere Beachtung verdienen hier die Kontexte, in denen die Distinktion neutralisiert zu sein scheint, in dem Sinne, dass sowohl eine pronominal-referentielle als auch eine intensivierende Funktion durch die eine Form realisiert wird, vgl. z.B: John said that there was a picture of himself in the post-office ,John sagte, es gebe ein Bild von ihm selbst im Postamt‘ (vgl. König/Siemund 1999a: 53). Sprachen, bei denen es eigene intensifikatorunabhängige Reflexiva gibt, daneben aber auch komplexe (Wort-)Formen mit pronominalem und intensivierendem Bestandteil, die z. T. in reflexiver Funktion verwendet werden: Niederländisch, Französisch, skandinavische Sprachen.  

Der Intensifikator ‚selbst‘ wird adverbial und adnominal, somit in „Adjunkt“-Positionen (vgl. z. B. König 2001a) gebraucht. Adverbialer Gebrauch liegt vor, wenn der Intensifikator in Distanz zu einem nominalen/pronominalen Bezugsausdruck erscheint wie in (15), das sowohl eine ,inklusive‘ Lesart (,der Präsident und andere / auch der Präsident‘) als auch eine ,exklusive ‘ Lesart erlaubt (,der Präsident, nicht andere / nur der Präsident‘, vgl. ausführlicher Zifonun 2003a: 24–26).  

(15) DEU ENG

Der Präsident ist SELBST gekommen. The president has come himSELF .

Bei adverbialer Verwendung kann auch in Sprachen von Typ 2 wie dem Englischen trotz der Homonymie der Formen keine konkurrierende Lesart als Reflexivum vorliegen. Adnominaler Gebrauch liegt vor, wenn der Intensifikator adjazent zu einem nominalen oder pronominalen Bezugsausdruck erscheint wie in (16) und (17); ENG him himSELF wird in (17b) zu himSELF kontrahiert.

628

(16)

B Wort und Wortklassen

a. Der Präsident SELBST ist gekommen. / Er SELBST ist gekommen b. Er hat den Präsidenten SELBST gesehen. / Er hat ihn SELBST gesehen.

(17) a. The president himSELF has come. / He himSELF has come. ENG b. He has seen the president himSELF . / He has seen himSELF . Im Deutschen kann der Bezug des Intensifikators ambig sein; vgl. (16b) mit adverbialer und adnominaler Lesart. Im Englischen stellt der pronominale Bestandteil des Intensifikators in vielen Fällen (etwa bei Sexusverschiedenheit) den Bezug klar, vgl. im Kontrast zu (17b): (17) c. She has seen the president herSELF / himSELF . ENG ,Sie hat den Präsidenten selbst gesehen.‘ Bezugsausdruck, zu dem der Intensifikator adjazent ist, kann auch ein Reflexivum sein, wie in (18), wo himSELF für das intensivierte Reflexivum (akzentuiert) steht. (18) DEU ENG

Er hat sich SELBST gesehen. He has seen himSELF .

Das Reflexivum erscheint als Satzglied, z. B. direktes Objekt wie in (19), es nimmt also, anders als der Intensifikator, eine Komplementstelle ein. Huddleston/Pullum (2002: 1483–1496) sprechen daher hier von „complement use“. Darunter zählen auch die Vorkommen, wo das Reflexivum Teil eines Präpositivkomplements ist wie in (20); vgl. dazu im Einzelnen → B1.5.3.5.  

(19) DEU ENG

Er hat sich im Spiegel gesehen. He has seen himself in the mirror.

(20) DEU ENG

Er glaubt an sich. He believes in himself.

Die distributionelle Domänenaufteilung zwischen Intensifikator, der nur in adnominaler oder adverbialer Adjunktposition auftritt, und Reflexivum, das Komplementstellen besetzt (vgl. König 2001a: 751), kann im Englischen jedoch an der Oberfläche außer Kraft gesetzt erscheinen. Der deutschen Verbindung Personalpronomen X in Objektfunktion + adnominaler Intensifikator entspricht nämlich im Englischen die Wortform X-self; statt zu erwartendem me mySELF , him himSELF usw. wird nur myself, himself gesetzt. In diesen Formen können also die pronominale und die intensivieren-

629

B1 Wortklassen

de Funktion in der Bedeutung ‚mich selbst, ihn selbst‘ verschmelzen. Alternativ kann man auch annehmen, es handle sich hier um Intensifikatoren mit leerem oder inkorporiertem pronominalem Kopf (vgl. König/Siemund 1999a: 54). Da aber die Objektformen (ohne Hauptakzent) myself, himself darüber hinaus auch im Sinne des Reflexivums verwendet werden (,mich‘, ,sich‘) und, akzentuiert, im Sinne des intensivierten Reflexivums (,mich selbst‘, ,sich selbst‘), entsteht sprachsystematisch gesehen gegenüber dem Deutschen eine dreifache Ambiguität, z. B. von He has seen himself (vgl. (17b), (18), (19)). Diese wird im Sprachgebrauch kontextuell aufgelöst (vgl. König/Siemund 1999a: 52).  

Zu den Vergleichssprachen unter Einschluss des Niederländischen im Einzelnen Das Niederländische gehört zur dritten der oben genannten Sprachgruppen. Neben der Reihe kurzer „neutraler“ Reflexivierer (me, je, zich usw.) existiert eine Reihe von zelf-Formen, die aus den jeweiligen neutralen Formen + zelf zusammengesetzt werden und die in der Regel eine graphische Wortform bilden. Die zelf-Formen sind das starke Pendant zu den schwachen neutralen Formen und dienen u. a. der Verstärkung bzw. Fokussierung. Sie werden daher bei optional reflexiven Verben verwendet, also im Bereich prototypischerweise fremdgerichteter Handlungen, zumal wenn der Reflexivierer in einer Fokusposition, insbesondere an der ersten Satzposition steht oder einen (lokalen) Gewichtungsakzent trägt:  

(21) NDL

verschafte hij de ZichZELF REFL 3.selbst bereit.PRT . 3SG 3SG . M DEF ‚Sich SELBST bereitete er die größte Freude.‘

grootste größte

vreugde. Freude

Man kann hier in gewisser Weise den Intensifikator als ein Mittel der „Umpolung“ von Fremdgerichtetheit auf Eigengerichtetheit verstehen. In den festlandskandinavischen Sprachen ist diese Funktion tendenziell schon in der Weise grammatikalisiert, dass bei einem Antezedens als KoArgument eines optional reflexiven Verbs der Intensifikator gesetzt werden muss. Nur bei einer erweiterten Domäne, etwa in AcI-Konstruktionen oder in kleinen Klauseln, steht das einfache Reflexivum (vgl. dazu auch Kiparsky 2002).

zelf kann wie DEU selbst in emphatischer Funktion ohne gleichzeitige Reflexivierung gebraucht werden. Es kann adjazent zum Bezugswort (22) oder als eigene Konstituente (23), dabei auch an der Satzspitze stehen (24). Bei Adjazenz zum Personalpronomen als Bezugswort (Subjekt- und Objektformen sind möglich) kann eine graphische Wortform entstehen; diese graphische Differenzierungsmöglichkeit kann Bezugsunterschiede verdeutlichen (25, 26). ZELF / HijZELF (22) a. Hij NDL 3SG . M selbst 3SG . M . selbst ‚Er selbst hat es getan.‘

heeft hab.3SG

het 3SG . N

gedaan. getan

630

B Wort und Wortklassen

b. Jan ZELF heeft Jan selbst hab.3SG ‚Jan selbst hat es getan.‘

het 3SG . N

gedaan. getan

ZELF

gedaan. getan

(23) NDL

Hij heeft het 3SG . M hab.3SG 3SG . N SEL BST getan.‘ ‚Er hat das SELBST

(24) NDL

Z ELF heeft hij het selbst hab.3SG 3SG . M 3SG . N ‚S S ELBST hat er es nicht getan.‘

(25) NDL

Ik heb hem ZELF gezien. 1SG hab.1SG 3SG . M . OBJ selbst gesehen ‚Ich habe ihn SELBST gesehen.‘ (subjektbezogen)

(26) NDL

Ik heb hemZELF gezien. gesehen 1SG hab.1SG 3SG . M . OBJ .selbst ‚Ich habe IHN SELBST (und keinen anderen) gesehen.‘ (objektbezogen)

selbst

niet

gedaan. getan

NEG

Kennzeichnend für das niederländische System ist somit, dass auch bei den komplexen Formen reflexiver Bezug (zichzelf) und anaphorischer Bezug (hemzelf) getrennt bleiben. Das Niederländische steht hier dem Deutschen noch näher als dem Englischen, insofern als die Grammatikalisierung einer komplexen intensivierenden Form zum Reflexivum zwar stattfindet, aber anders als im Englischen in ihr ein genuin reflexiver Bestandteil erhalten bleibt. Das Nebeneinander von einfachem und komplexem Reflexivum wird vor allem im Lexikon relevant, wo einerseits bestimmte Verben obligatorisch ein komplexes Reflexivum fordern, andererseits mediale Verben wie wassen ,waschen‘ ein komplexes Reflexivum verbieten. Als Fokuspartikel wird die suffigierte Form zelfs verwendet: zelfs de koning ‚selbst der König‘. Das englische System ist durch Homonymie zwischen Reflexivum und Intensifikator gekennzeichnet (Sprachgruppe 2). In der englischen Grammatikographie gilt die reflexive Verwendung als ‚Basisverwendung‘ (Quirk et al. 1985: 356–360; Huddleston/Pullum 2002: 1486–1494), die Verwendung als Intensifikator wird als ,emphatischer Gebrauch‘ bezeichnet (Quirk et al. 1985: 360 f.; Huddleston/Pullum 2002: 1496– 1499). Dies steht allerdings im Widerspruch zu den historischen Zusammenhängen (vgl. → B.1.5.3.1 zum Grammatikalisierungsweg). Kennzeichnend für das Englische ist die oben dargestellte Überlappung und Neutralisierung von intensivierender und reflexiver bzw. personalpronominaler Funktion. Wenn in einer Form wie myself, himself die personalpronominale und die intensivierende Form zusammenfallen, kann diese als funktionales Äquivalent des ‚starken‘ Personalpronomens in anderen Sprachen betrachtet werden. Hier sprechen  

B1 Wortklassen

631

englische Grammatiken von ‚semi-emphatischem‘ (Quirk et al. 1985: 359) Gebrauch, bzw. von „override reflexive“ (Huddleston/Pullum 2002: 1494–1496). König/Gast (2012: 179) sprechen von „untriggered self-forms“. Dieser Gebrauch liegt insbesondere vor (a) nach Partikeln der Ähnlichkeit oder Exzeption wie like, than, as, but, except (someone like me/myself), (b) in Koordinationen (Margaret and me/myself) und (c) in Herausstellungskonstruktionen (,left dislocation‘) (Myself, I didn’t trust him). Wir können die Verwendungen und die Terminologien in folgendem Schaubild zusammenfassen. Anzumerken ist, dass X-self nicht als Fokuspartikel verwendet wird.

Abb. 1: Verwendungen des englischen Pronomens X-self  

Das Französische gehört wie Niederländisch zu Sprachengruppe 3. Wie im Niederländischen können sowohl die Personalpronomina (hier im Französischen nur die nicht-klitischen) als auch Reflexiva mit dem Intensifikator zu einer Wortform (in der französischen Graphie in Bindestrichschreibung) verbunden werden: moi-même ‚ich selbst, mich selbst‘, lui-même ‚er selbst, ihn selbst‘, soi-même ‚sich selbst‘. Die Verbindungen von Intensifikator und starkem Personalpronomen unterscheiden sich in ihrem syntaktischen Bindungsverhalten nicht grundsätzlich von den starken Pronomina, sind also keinesfalls Reflexiva im engeren Sinne, sondern eher PseudoReflexiva. Dennoch ist ihr Status anders als bei den niederländischen erweiterten Formen, weil die reflexive Form im engeren Sinne, nämlich soi-même, nur sehr eingeschränkt, und zwar personenbezogen in generischen Sätzen, gebraucht wird (wie in Chacun pense à soi-même ,Jeder denkt an sich selbst‘; vgl. → B1.5.3.5). Daher kommen, wenn keine Generizität vorliegt und die klitische Form se syntaktisch ausgeschlossen ist, nur bezüglich der Bindungsdomäne unspezifische Formen (wie eben moi-même, lui-même) in Frage. Sowohl die starken Pronomina als auch die entsprechenden um

632

B Wort und Wortklassen

même erweiterten Formen setzen Vorerwähntheit im weiteren Kontext voraus. Die Hinzusetzung von même dient nach Zribi-Hertz (1995: 359) der Hervorhebung, wie in (27), einer ‚Subjektivierung‘ im Rahmen eines ‚logophorischen‘ Kontextes bzw. Indirektheitskontextes im Sinne der IDS-Grammatik (1997: 1753–1764), wie in (28), oder der Plausibilierung einer durch das Subjekt gebundenen, also reflexiven Interpretation, wie in (29), (30). (27) FRA

est consterné: Marie aime tout le monde Pierrei jedermann Pierre ist erstaunt Marie lieb.3SG sauf luii-même. außer 3SG . M . OBJ -selbst ‚Pierre ist erstaunt: Marie mag jedermann außer ihn selbst.‘

(28) FRA

Pierrei pense que Marie aime tout le monde Marie lieb.3SG jedermann Pierre denk.3SG KOMP sauf luii-même. außer 3SG . M . OBJ -selbst ‚Pierre denkt, dass Marie jedermann mag außer ihn selbst.‘

(29) FRA

Pierrei déteste tout le monde sauf außer Pierre veracht.3SG jedermann ‚Pierre verachtet jedermann außer sich selbst.‘

(30) FRA

Depuis la mort de son père, Pierrei DEF Tod von POSS . 3SG Vater Pierre seit toujours à luii-même. immer an 3SG . M . OBJ -selbst ‚Seit dem Tod seines Vaters denkt Pierre immer an sich.‘

luii-même. 3SG . M . OBJ -selbst

pense denk.3SG

Adnominal wird der (in der Schriftsprache numerusdifferenzierte) Intensifikator même, mêmes oder die Verbindung mit dem starken Pronomen dem nominalen Kopf nachgestellt (z. B. le roi même/lui-même ,der König selbst‘); ohne Bezugsnomen können lui-même usw. auch selbst als starke Pronomina fungieren (‚er selbst‘). Hier gleicht der Gebrauch der ‚semi-emphatischen‘ Verwendung der englischen Reflexiva. Adverbial sind die Verbindungen in der exklusiven, nicht jedoch in der inklusiven Lesart möglich:  

(31) FRA

Le

roi (lui-)même a participé König 3SG . M . SU -selbst hab.3SG teilgenommen meeting. Treffen ‚Der König selbst hat an dem Treffen teilgenommen.‘ DEF

au an.DEF

633

B1 Wortklassen

(32) FRA

Le

roi a participé au König hab.3SG teilgenommen an.DEF meeting (lui-)même. Treffen 3SG . M . SU -selbst ‚Der König hat selbst an dem Treffen teilgenommen.‘ DEF

Alleinstehend wird même als Fokuspartikel gebraucht: In der geschriebenen Sprache wird même vorangestellt: même le roi ‚selbst der König‘; in gesprochener Sprache kann même (betont) auch nachgestellt werden: le roi MÊME. Das Polnische gehört zur ersten Sprachgruppe. Das Reflexivum lautet się/siebie, als Intensifikator fungiert das genus- und numerusdifferenzierte sam/-a/-o. sam leitet die Intensifikatorfunktion aus seiner Grundbedeutung ‚allein‘, also aus exklusiver Verwendung ab. Adnominal wird sam voran-, adpronominal nachgestellt: (33) a. Sam prezydent wziął udział w POL selbst.M . SG . NOM Präsident nehm.PRT . 3SG . M Teilnahme in b. On sam wziął udział w 3.SG . M selbst.M . SG . NOM nehm.PRT . 3SG . M Teilnahme in ‚Der Präsident/Er selbst hat an dem Treffen teilgenommen.‘

spotkaniu. Treffen.LLOK OK spotkaniu. Treffen.LLOK OK

Adverbial, in der Regel in Distanz zum nominalen oder pronominalen Bezugsausdruck, ist nur die exklusive Lesart möglich. sam hat keine Verwendung als Fokuspartikel. Ungarisch gehört wie Englisch zur zweiten Sprachengruppe, bei der der Intensifikator maga (+ Possessorsuffix wie in magam, magad, auch: önmaga, saját maga) gleichzeitig als Reflexivum fungiert. Im Unterschied zum Englischen stehen aber für den emphatischen Gebrauch auch morphologische Nominativformen zur Verfügung. Adnominal steht der Intensifikator vor dem Nomen, wie in (34), in adverbialer Funktion, wie in (35), ist nur exklusive Interpretation möglich. maga wird nicht als Fokuspartikel verwendet. (34) UNG

(35) UNG

Maga az elnök vezette Präsident leit.PRT . 3SG . DEF selbst.3SG DEF ‚Der Präsident selbst hat die Sitzung geleitet.‘ elnök maga vezette Präsident selbst.3SG leit.PRT . 3SG . DEF ‚Der Präsident hat selbst die Sitzung geleitet.‘

az DEF

Az

az

DEF

DEF

ülést. Sitzung.AKK

ülést. Sitzung.AKK

Das Deutsche gehört zu Sprachgruppe 1. Als Intensifikator fungiert das unveränderliche selbst, mit der umgangssprachlichen Nebenform selber. selbst kommt adnominal vor, wie in (36), adverbial exklusiv, wie in (37), und adverbial inklusiv, wie in (38). Die

634

B Wort und Wortklassen

adverbial inklusive Verwendung teilt das Deutsche nur mit den germanischen Kontrastsprachen. Bezugskonstituente ist eine Nominal- oder eine Pronominalphrase. Allerdings ist der Intensifikator wohl aus semantischen Gründen von allen Pronominaklassen nur mit Personalpronomina in allen Funktionen frei kombinierbar. Mit dem Reflexivum verbindet sich der Intensifikator ausschließlich in direkter Adjazenz, somit als adnominale Erweiterung, vgl. (39), adverbialer Bezug ist ausgeschlossen, vgl. (40). (36)

Der Präsident SELBST ist gekommen. Wir haben den Präsidenten hen.

(37)

(Alle anderen waren erfolgreich.) Der Präsident hat heute SELBST versagt.

(38)

(Niemand weiß, was zu tun ist.) Der Präsident ist SELBST noch unentschlossen.

(39)

Er hat sich SELBST gesehen.

(40)

#Er

SELBST

gese-

hat sich heute SELBST bezichtigt.

Beispiel (40) ist nur mit er als Bezugskonstituente semantisch wohlgeformt. Der Intensifikator selbst ist im Deutschen distributionell von der homonymen Fokuspartikel geschieden. Die Fokuspartikel geht ihrer Bezugskonstituente voran (41a), der Intensifikator folgt ihr (in adnominaler Verwendungsweise) nach (41b). Ein weiterer Unterschied besteht in der Akzentsetzung: Während der Intensifikator den Gewichtungsakzent auf sich zieht, trägt beim Gebrauch der Fokuspartikel die Bezugskonstituente, bzw. deren fokussierter Teil, den Gewichtungsakzent. Das Deutsche stimmt hier mit den romanischen Sprachen Französisch und Spanisch überein. (41)

a. selbst der PräsiDENT b. der Präsident SELBST

B1.5.3.4 Selbstständige und klitische, einfache und komplexe Formen, Kasusdifferenzierung Es wurde bereits festgehalten, dass morphologisch komplexe Reflexiva in den Vergleichssprachen auf Grammatikalisierung zurückgehen. Ihre Komplexität beruht auf dem Zusammenwachsen mit einem Personalpronomen (Englisch, z. T. Niederländisch, Französisch) oder auch auf der Suffigierung durch grammatische Morpheme (Ungarisch, Türkisch). Für die Vergleichssprachen gelten nun weiterhin folgende Zusammenhänge:  

B1 Wortklassen

1. 2.

635

Nur einfache Reflexiva können klitisch sein. Das bedeutet, dass die komplexen Reflexiva des Englischen, Ungarischen und Türkischen nicht klitisch sind. Klitische Reflexiva sind nicht kasusdifferenziert. Dies gilt für FRA, SPA se, ITA si. POL się verhält sich in dieser Hinsicht analog. Kasusdifferenzierung ist in anderen romanischen bzw. slawischen Sprachen jedoch möglich, wie im Rumänischen mit DAT (î)şi, AKK se (a şi aminti ,sich erinnern‘ vs. a se pieptăna ,sich kämmen’) und Bulgarischen DAT si, AKK se (si kazva ‚er/sie sagt sich‘ vs. se streštnat ‚sie treffen sich‘); ähnlich verhält es sich auch im BKS.

Wie bei den Personalpronomina besteht auch hier eine funktionale Gemeinsamkeit zwischen klitischen oder klitikoiden Reflexiva (wie in den romanischen Sprachen, dem Polnischen usw.) und den schwachen, unbetonten, morphologisch einfachen Reflexiva, die sich in den germanischen Sprachen (außer dem Englischen) finden: NDL zich, DÄN/SWE sig, NOR seg. Diese können nicht phrasal ausgebaut werden und nicht in Fokuspositionen erscheinen. Dieser syntaktischmorphologischen ‚Schwäche‘ entspricht ihr funktional abgeschwächter Status. Sie eignen sich im Allgemeinen weniger zur Pointierung einer unerwarteten Reflexivität, also zum Verweis auf die eher außergewöhnliche Eigengerichtetheit einer normalerweise fremdgerichteten Handlung. Ihre eigentliche Domäne ist der Bereich des typischerweise Eigengerichteten (z. B. bei körperorientierten Aktivitäten) und von daher ausgeweitet der Bereich der ‚sekundären Intransitivität‘ bzw. des Mediums. Für ihr Kasusverhalten gilt: Die morphologisch einfachen Reflexiva der germanischen Sprachen sind schwach kasusdifferenziert. So sind das deutsche, das niederländische Reflexivum und das der festlandskandinavischen Sprachen nicht kasusdifferenziert, das Isländische differenziert zwischen allen drei Objektkasus.  

3.

Demgegenüber: 4. Die komplexen Reflexiva des Ungarischen und Türkischen haben ein volles Kasusparadigma: Nur die Objektkasus haben Reflexivfunktion, der Nominativ, sofern wie im Ungarischen vorhanden, ist dem Intensifikator vorbehalten. 5. Im komplexen Reflexivum des Englischen (3. Person) ist invariabel ein Possessivum bzw. die Objektform des Personalpronomens integriert. Alle Vergleichssprachen, die klitische oder schwache selbstständige morphologisch einfache Reflexiva haben, haben daneben starke Formen. Diese sind phrasal ausbaubar und erscheinen in Fokuspositionen. Funktional sind es genau diese, die unerwartete Reflexivität kodieren. Dabei gibt es im Verhältnis zwischen den schwachen und den starken Formen eine gewisse Varianzbreite: Die starken Pendants zu den romanischen Klitika tragen

636

B Wort und Wortklassen

grundsätzlich einen Akzent, sind aber mit Ausnahme des Rumänischen einsilbig und stimmen lautlich stark mit den klitischen Formen überein; auch bei ihnen gibt es wie bei den Klitika keine Kasusdifferenzierung. Die starken Formen des Rumänischen sind zweisilbig und, wie die klitischen Formen, kasusdifferenziert (DAT sieşi, AKK (pe) sine).

Die starken Reflexiva des Polnischen und anderer slawischer Sprachen sind zweisilbig und können Kasusdifferenzierung aufweisen: POL

GEN / AKK

siebie, DAT / LOK : sobie, INS sobą

Bei den germanischen Sprachen außer Englisch können im Prinzip dieselben einfachen Wortformen, die als schwache Reflexiva fungieren, akzentuiert die starke Funktion übernehmen. Die Hinzusetzung des Intensifikators ‚selbst‘ ist hier nur fakultativ. Im Niederländischen (wie in den skandinavischen Sprachen) ist allerdings bereits tendenziell die feste Verbindung Reflexivum + Intensifikator als starke Form grammatikalisiert. Tab. 2: Komplexe und einfache Reflexiva in den europäischen Sprachen komplexe Reflexiva

einfache Reflexiva

ENG, UNG, TÜR

klitische/klitikoide Form + selbstständige, starke Form

selbstständige Form (schwach + stark)

FRA, SPA, andere romanische Sprachen, POL, andere slawische Sprachen

germanische Sprachen außer ENG

Aus dem Befund ihres in Bezug auf die Reflexivfunktion abgeschwächten Status ist die Schlussfolgerung gezogen worden, die romanischen Klitika oder POL się seien gar keine Reflexiva, da sie nicht (in erster Linie) Koreferentialität kodierten (vgl. zu einer Auseinandersetzung Zifonun 2003a: 35 f.).  

Auch im generativen Rahmen wurde eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen den einfachen so genannten „SE-Anaphern“ (Reuland 1999: 14) und komplexen so genannten „SELF-Anaphern“ postuliert. Nur letztere folgten konsequent den für Anaphern im Sinne von Chomsky (1984), also lokal gebundenen Variablen zur Anzeige von Koreferenz, gültigen Bindungsprinzipien. Wir halten eine solche strikte Trennung unter sprachvergleichendem Gesichtspunkt nicht für angemessen: Insbesondere in den Sprachen mit einem selbstständigen, morphologisch einfachen Reflexivum (germanische Sprachen; siehe Tabelle 2) decken die Reflexiva mit einer einzigen Wortform das gesamte funktionale Spektrum von der Anzeige der Identität von Partizipanten in strikt geschiedenen Rollen bis zur sekundären Intransitivität ab. Hier künstlich zwischen SE-Anapher (schwache Form)  

B1 Wortklassen

637

und SELF-Anapher (starke Form) zu trennen erscheint ebenso abwegig wie davon auszugehen, in diesen Sprachen gebe es nur SE-Anaphern. Das Deutsche hat wie die meisten germanischen Sprachen ein morphologisch einfaches Reflexivum. sich kommt (wie die anderen Reflexivierer) unbetont als schwache Form vor, vgl. (42). Die Reflexivierer lexikalisch reflexiver Verben sind grundsätzlich schwach, vgl. (43). Diese obligatorisch schwachen Formen haben die bei den Personalia diskutierten Eigenschaften, nämlich fehlende Fokussierbarkeit/Betonbarkeit, fehlende Koordinierbarkeit und Attribuierbarkeit, kein Vorkommen in Isolation/ als Antwort auf eine Ergänzungsfrage. Wie bei den Personalpronomina sind die schwachen Formen nicht klitisch, sondern selbstständig. Daneben wird sich (wie die anderen Reflexivierer) betont auch als starke Form verwendet, wie in (44a). Ein Phrasenausbau mit dem Intensifikator führt zu einer Akzentverlagerung auf den Intensifikator, wie in (44b). Er hat sich im SPIE gel gesehen.

(42) (43)

a. b. c. d.

Er hat sich geschämt. *S S ICH hat er geschämt. *Er hat sich und seine Schwester geschämt. *Wen hat er geschämt. – *Sich.  

(44) a. Er hat nicht SICH , sondern MICH im Spiegel gesehen. b. Er hat nicht sich SELBST im Spiegel gesehen. Betrachtet man, wie dies in der Tradition der Grammatikschreibung indoeuropäischer Sprachen geschieht, die Reflexiva als eigenständige Wortparadigmen neben den nach Personen differenzierten Wortparadigmen der Personalpronomina, so ist sich als defektives, einelementiges Paradigma zu betrachten. Die einzige Wortform des Paradigmas ist eine Objektform, sie kann an Satzpositionen erscheinen, in denen Akkusativ oder Dativ gefordert ist. Das sich-Paradigma zeigt starke Analogien nicht etwa zum Paradigma der genusdifferenzierten 3. Person des Personalpronomens, sondern zur 1. und 2. Person; Dativ-Akkusativ-Synkretismen treten auch im Plural der 1. und 2. Person auf; der Anlaut m- (1. Person) versus d- (2. Person) und s- (3. Person) markiert eine minimale Differenzierung der im Übrigen übereinstimmenden Formen mich, dich, sich; ähnlich verhält es sich auch bei FRA moi, toi, soi (vgl. → C5.2.2.1, → C5.2.1). Das partiell komplementäre Verhältnis zwischen Personal- und Reflexivpronomen, das auch für viele andere europäische Sprachen (Niederländisch, romanische, skandinavische Sprachen) gilt, kann aber auch als Argument für eine Zusammenfassung der beiden Klassen und eine entsprechende Erweiterung der jeweiligen Paradigmen der Personalpronomina betrachtet werden. Eine solche Integration muss der Tatsache Rechnung tragen, dass die Pronomina der 1. und 2. Person mit lokaler und nicht-lokaler Bindung verträglich sind, während in der 3. Person eine Opposition  

638

B Wort und Wortklassen

zwischen der Form für lokale Bindung (sich) und den nicht-lokal gebundenen Formen (ihn, sie, es, ihm, ihr, ihnen) besteht. Vorschläge für eine solche Interpretation werden z. B. in Gast/Hole (2003) und Zifonun (2003b) gemacht.  

B1.5.3.5 Syntaktische Funktionen Sprachübergreifend wird in der Typologie folgende Hierarchie für die von Reflexiva zu übernehmenden syntaktischen Funktionen auf Satzebene angesetzt: Hierarchie der satzbezogenen syntaktischen Funktionen von Reflexiva: direktes Objekt > indirektes Objekt > andere Objekte > Prädikativ Häufig wird die 3. Stelle als ,obliques Objekt’ bezeichnet. Es handelt sich um Objekte, die sprachspezifisch in einem anderen Kasus als den Kasus für DO und IO oder durch eine Adpositionalphrase realisiert werden.

Die Subjektfunktion ist ausgeschlossen: Wenn eine entsprechende Form im Subjektsnominativ erscheint, so handelt es sich um die Verwendung als Intensifikator, ggf. mit inkorporiertem Personalpronomen. Hier ist insbesondere das Ungarische zu nennen: Vgl. dazu → B1.5.3.3 und Kenesei/Vago/Fenyvesi (1998: 136). Dort wird nicht zwischen Intensifikator und Reflexivum unterschieden, sondern irreführend auch in einem solchen Fall wie (45) von Reflexivierung ausgegangen. (45) UNG

Péternek tetszik önmaga / saját maga. selbst.NOM Péter.DAT gefall.3SG selbst.NOM ‚Dem Péter gefällt er selbst / Péter mag sich selbst.‘

Auch im Albanischen kann die Form vetja ‚selbst‘, die auch als Reflexivum fungiert, als Subjekt erscheinen, vgl. (46). (46) ALB

Vetja iu dhimbs Anës. selbst.NOM 3SG . DAT klag.PRT . 3SG Anna.DAT wörtl.: ‚Sie selbst tut Anna (DAT ) Leid / Anna tut sich selbst Leid.‘ (Faarlund 1998: 168)

In allen Vergleichssprachen werden Reflexiva in den drei ersten Funktionen der Hierarchie, also in Objektfunktion, gebraucht. Innerhalb dieser drei Funktionen gibt es insofern eine Abstufung, als klitische Formen nur die beiden ersten Positionen wahrnehmen können: direktes und indirektes Objekt. Man vergleiche etwa das französische Klitikon als indirektes Objekt:

639

B1 Wortklassen

(47) FRA

Jacques va se chercher Jacques geh.3SG KL . REFL . 3 hol.INF ‚Jacques holt sich etwas zu trinken.‘

quelque chose etwas

à zu

boire. trink.INF

In den romanischen Sprachen Französisch, Spanisch, Italienisch werden bei Rektion durch eine Präposition starke Formen verwendet. Das bedeutet für das Französische, dass die (gegebenenfalls mit même zusammengesetzten) Formen des starken Personalpronomens gebraucht werden, es sei denn, dass generischer Bezug in der 3. Person vorliegt; in diesem Fall steht soi bzw. soi-même:  

(48) FRA

Jacques pense toujours à lui / Jacques denk.3SG immer an 3SG . M . OBJ ‚Jacques denkt immer an sich (selbst).‘

(49) FRA

Chacun pense toujours à an jeder denk.3SG immer ‚Jeder denkt immer an sich (selbst).‘

lui-même. 3SG . M . OBJ -selbst

soi /

soi-même.

REFL . 3

REFL . 3-selbst

Die Opposition zwischen (48) und (49) spricht dafür, dass es sich bei lui/lui-même um die auch für lokale Bindung spezifischste Form handelt, da die Alternative soi/soimême ein zusätzliches Merkmal [+generisch] aufweist, die mit dem Kontext (48) nicht vereinbar ist. Im Spanischen – ähnlich auch im Italienischen – wird bei Rektion durch eine Präposition die starke Form des Reflexivums gesetzt:  

(50) SPA



Juán siempre piensa en Juán immer denk.3SG an ‚Juán denkt immer an sich (selbst).‘



(mismo). selbst

REFL . 3

Im Polnischen steht nur für Genitiv und Akkusativ die klitische Form się zur Verfügung, s. (51). Indirekte Objekte im Dativ wie in (52) sowie Komplemente im Instrumental werden ebenso wie die Präpositivkomplemente – vgl. etwa (53) – durch starke Reflexiva repräsentiert.  

(51) POL

Piotr myje Piotr wasch.3SG ,Piotr wäscht sich.‘

się.

(52) POL

Ewa kupuje sobie Ewa kauf. 3SG REFL . DAT ‚Ewa kauft sich Bücher.‘

KL . REFL . AKK

książki. Buch.AKK . PL



640

(53) POL

B Wort und Wortklassen

Piotr zawsze myśli o (samym) Piotr immer denk.3SG an selbst.LOK ‚Piotr denkt immer an sich (selbst).‘

sobie. REFL . L LOK OK

Im Deutschen gibt es eine spezifische reflexive Form nur als Objektform (i. e. eine Akkusativ- und Dativfunktion abdeckenden Form), nämlich sich. Nur die mit deren Hilfe realisierten syntaktischen Funktionen lassen die Opposition zwischen lokaler und nicht-lokaler Bindung zu; nur sie kommen als syntaktische Funktionen unter Reflexivierung in Frage. Somit ergibt sich, dass im Deutschen nur die drei ersten Positionen der übergreifenden Hierarchie einschlägig sind, also die des direkten, des indirekten und des präpositionalen Objekts (mit einem regierten AKK oder DAT ) oder, anders gesagt, die des Akkusativ-, des Dativ- und des Präpositivkomplements. Die hierarchieniedrigste syntaktische Funktion, die des Prädikativs, wird nur bei einem Teil der Vergleichssprachen durch das Reflexivum wahrgenommen: Im Englischen und Niederländischen steht das – komplexe – Reflexivpronomen. Im Polnischen steht das Reflexivum in dem als Prädikativkasus fungierenden Instrumental; → B2.4.3.4.6. Im Ungarischen erscheint önmaga ,er/sie/es selbst‘, also der Intensifikator, der sowohl das starke Personalpronomen als auch das Reflexivum vertreten kann, wie in (54).  



(54) ENG NDL POL UNG DEU



Ann was not herself/*her today. Anna was niet zichzelf/*zijzelf vandaag. Anna nie była dzisiaj sobą (samą). Anna ma nem önmaga volt. Anna war heute nicht sie selbst.

Im Polnischen ist beim Intensifikator noch die Grundbedeutung ‚allein‘ präsent. Dies kann einer Setzung im Wege stehen. Besonders bemerkenswert ist, dass im Englischen und Ungarischen ein Attribut als Teil des Subjekts Antezedens sein kann, während im Niederländischen in diesem Fall nicht das Reflexivum, sondern die Verbindung Personalpronomen + zelf steht. Auch hier ist wieder an die Sonderstellung der englischen und ungarischen Formen zu denken. (55) ENG NDL UNG

Ann’s greatest enemy was herself. Anna’s grootse vijand was zijzelf/*zichself. Anna legnagyobb ellensége önmaga volt. ‚Annas größter Feind war sie selbst.‘

B1 Wortklassen

641

Im Französischen und Deutschen fungieren die starken Formen der Personalpronomina – ggf. in Verbindung mit dem Intensifikator – als Prädikativ.  

(56) FRA DEU



Anna n’était pas elle-même aujourd’hui. Anna war heute nicht sie selbst.

Damit unterscheidet sich das Deutsche deutlich vom Englischen und Niederländischen, deren Reflexiva im Zuge eines weiteren Gebrauchsspektrums auch die Prädikativkomplementfunktion zulassen. Bei den Präpositionalphrasen sind neben den Komplement- die Supplementfunktionen bzw. Adverbialia auf Satzebene einzubeziehen: Im Englischen ist in Adverbialia nach lokalen und temporalen Präpositionen (unabhängig von der Funktion des Adverbiales als Komplement oder Supplement) die Setzung des Reflexivums nur optional und dient der Hervorhebung, wie in (57), oder aber es wird obligatorisch das Personalpronomen gesetzt, vgl. (58), (59): (57) ENG

She is building a wall of books about her(self). ‚Sie baut eine Mauer aus Büchern um sich auf.‘

(58) ENG

He pushed the cart in front of him. ‚Er stieß einen Wagen vor sich her.‘

(59) ENG

They had their whole life before them. ‚Sie hatten ihr ganzes Leben vor sich.‘

Im Niederländischen ist in Präpositionalphrasen ebenfalls das Reflexivum nicht obligatorisch (vgl. auch Zifonun 2003a: 40): (60) NDL

die jongen tegen zichzelf / We moeten DEF Junge.AKK gegen REFL 3.selbst 1PL muss.1PL hemzelf beschermen. beschütz.. INF 3SG . M . OBJ .selbst ‚Wir müssen den Jungen vor sich selbst schützen.‘

In den anderen Vergleichssprachen wird auch bei Adverbialia in Form von Adpositionalphrasen – zumindest sofern der prototypische Bezug auf das Subjekt vorliegt (vgl. dazu den nächsten Parameter) – das Reflexivum gesetzt. Dies sei hier nur am Beispiel des Deutschen illustriert, wo Adverbialia in Form von Präpositionalphrasen mit einer Präposition, die eine Objektform regiert, in die Domäne der Reflexivität fallen:  



642

B Wort und Wortklassen

(61)

Er hat das nur für sich getan.

(62)

Er ist aus sich selbst heraus für diese Sache eingetreten.

(63)

Wir müssen ihn vor sich selbst beschützen.

Im Deutschen gilt somit für folgende satzbezogenen Funktionen potentiell Reflexivität: Akkusativ-, Dativ-, Präpositivkomplement, adverbiale Komplemente und Supplemente Das Genitivkomplement zum Verb kann nach der oben angestellten Überlegung im Deutschen keine syntaktische Funktion unter potentieller Reflexivität sein. Denn es gibt als morphologische Realisierung ausschließlich Formen, die auch ohne lokale Bindung vorkommen, vgl. (64) vs. (65). (64)

Hansi gedachte seineri (selbst).

(65)

Evai gedachte seinerj.

Bei Reflexiva als (valenzgebundene und valenzfreie) Attribute zu Substantiven und Adjektiven resultiert eine Varianzdimension aus den übergreifenden Möglichkeiten adnominaler Attribution in den Sprachen: Im Ungarischen (vgl. (66)) können adnominale Reflexiva wie andere Attribute ein ganzes Spektrum von Kasussuffixen tragen (im Beispiel das Suffix für den Delativ), neben der Verbindbarkeit mit Postpositionen. Bei den übrigen Vergleichssprachen ist zu unterscheiden zwischen solchen, in denen ein attributiver Reflexivierer zum Substantiv im Genitiv möglich ist (Deutsch, Polnisch), und solchen, bei denen nur präpositionale Anschlüsse gegeben sind (übrige Vergleichssprachen); beispielhaft wird hier ein präpositionaler Anschluss am Englischen demonstriert (vgl. (69)). Man beachte, dass im Polnischen attributive genitivische Reflexiva die starke Form siebie haben (vgl. (67)). Die schwache Form się tritt nur bei Verbalsubstantiven (auf -nie) auf (vgl. (68)); hier bleibt die verbale Rektion der schwachen AKK -Form erhalten. Diese Konstruktion entspricht der deutschen Infinitivsubstantivierung, wo ebenfalls ein Reflexivum im Akkusativ gesetzt werden kann. (66) UNG

Péter megtalálta a saját magá-rol Péter find.PRT . 3SG . DEF DEF selbst.3SG -DEL ‚Péter fand den Artikel über sich selbst.‘

szóló sag.PTZP PT ZP . PRS

cikket. Artikel.AKK

B1 Wortklassen

(67) POL

poznanie samego Erkenntnis selbst.M . SG . GEN ,die Erkenntnis seiner selbst‘

(68) POL

zbliżanie się do Nähern REFL . AKK zu ‚das Sich-der-Pointe-Nähern‘

(69) ENG

The new story about himself amused him. ‚Die neue Geschichte über ihn selbst / *sich selbst amüsierte ihn.‘

643

siebie REFL . G GEN EN

puenty Pointe.. GEN

Das Vorkommen der Genitivformen seiner und ihrer als Attribute zum Substantiv ist im heutigen Deutsch nur noch bei lokaler Bindung (mit obligatorischem Zusatz selbst) möglich. Dabei handelt es sich stets um einen Genitivus obiectivus bei Nomina Actionis, Agentis und Qualitatis: (70)

die Erkenntnis seiner selbst, die Anklage ihrer selbst; der Propagandist seiner selbst; das Bewusstsein seiner selbst

Möglich ist also (71) gegenüber ausgeschlossenem (72), dessen korrekte Version wie (73) lautet. (71)

A war ein Propagandist seiner selbst.

(72)

B war eine faszinierende Persönlichkeit und A war ein Propagandist *seiner.

(73)

B war eine faszinierende Persönlichkeit und A war sein Propagandist.

Wir können daraus schließen, dass das Vorkommen der Genitivformen als Attribute zum Substantiv syntaktische Abhängigkeit anzeigt, und werden daher beim Substantiv die Genitivformen als Reflexivierer einbeziehen. (Zu einer etwas anderen Einschätzung der Genitivformen als Attribute vgl. Zifonun 2003b: 297 f.) Daneben finden sich im Deutschen Präpositionalphrasen als Attribute, die aus einer Präposition mit AKK / DAT -Rektion + sich (bzw. Personalpronomen als Reflexivierer) bestehen (Bekenntnis zu sich selbst / Sorge für sich und andere). Beim Adjektiv können im Polnischen und Ungarischen Reflexiva in Form verschiedener Kasusergänzungen erscheinen. Im Niederländischen und im Deutschen fungiert das Reflexivum beim Adjektiv wie die Personalia in erster Linie vergleichbar einem indirekten Objekt (vgl. jemandem treu/feind). Das Englische schließt an Adjektive Reflexiva wie andere pronominale Attribute nur mithilfe einer Präposition an. Adpositionaler Anschluss findet sich auch in den anderen Sprachen neben dem Anschluss per Kasusform.  

644

(74) POL a. b. UNG a. b. NDL a. b. ENG a. b. DEU a. b.

B Wort und Wortklassen

Pozostaje wierny samemu sobie. Jest dumny z samego siebie. Hű marad önmagához. Büszke (ön)magára. Hij blijft zichzelf trouw. Hij is trots op zich. He remains true to himself. He is proud of himself. Er bleibt sich (selbst) treu. Er ist stolz auf sich.

Auch das Komplement zu einem Adjektiv als Objektsprädikativ kann reflexiv sein: (75)

Das machte ihn sehr stolz auf sich.

Eine Genitivform wie seiner, ihrer als Komplement zum Adjektiv ist grundsätzlich wie das Vorkommen beim Verb einzuschätzen, also nicht als spezifisch für lokale Bindung, wie der Kontrast zwischen (76) und (77) zeigt. (76)

Die Tiere verfügen demnach über ein Selbstbewusstsein […] Auch Elefanten sind sich ihrer selbst bewusst. (Berliner Zeitung, 31.10.2006)

(77)

Die heutige Generation wolle sich nicht zu Richtern von Toten aufwerfen, dieses Urteil stehe lediglich Gott zu, betonte Ratzinger. Da sich aber die Verfehlungen der Vergangenheit bis heute auswirkten, sei es nötig, sich ihrer bewusst zu werden und um Vergebung zu bitten. (Berliner Zeitung, 08.03.2000)

Im Französischen (ebenso im Italienischen und Spanischen) kann anders als das reflexive indirekte Objekt beim Verb die entsprechende Funktion beim Adjektiv nicht klitisch repräsentiert werden, während dies beim Personalpronomen sehr wohl möglich ist, vgl. (78) gegenüber (79). (78) FRA

*Il

se

KL . 3SG . M

KL . REFL . 3

reste bleib.3SG

fidèle. treu

lui reste KL . 3SG . DAT bleib.3SG ‚Er bleibt ihm/ihr treu.‘

fidèle. treu

‚Er bleibt sich treu.‘ (79) FRA

Il

KL . 3SG . M

B1 Wortklassen

645

Vielmehr erfolgt ein präpositionaler Anschluss mit Setzung von starkem lui(-même) usw., analog zu anderen präpositionalen Anschlüssen. (80) a. Il reste fidèle KL . 3SG . M bleib.3SG treu FRA ‚Er bleibt sich selbst treu.‘ b. Il est fier de KL . 3SG . M ist stolz von ‚Er ist stolz auf sich selbst.‘

à lui-même. zu 3SG . M . OBJ -selbst lui-même. 3SG . M . OBJ -selbst

Der Ausschluss des klitischen Reflexivums wird damit erklärt, dass Adjektive in Kopula-Konstruktionen hier als ‚kleine Klauseln‘ aufgefasst werden mit einer eigenen, gegenüber dem Finitum abgegrenzten Reflexivierungsdomäne (vgl. genauer Jones 1996: 282; Zifonun 2003a: 43). In den übrigen Sprachen, bei denen ja in diesem Fall keine Klitisierung vorliegt, sind prädikative Adjektive keiner ‚kleine-Klausel‘-Analyse zu unterziehen. Wohl aber unterliegt die Reflexivierung innerhalb von attributiven Adjektivphrasen den ‚kleineKlausel‘-Bedingungen (vgl. dazu → B1.5.3.8).

B1.5.3.6 Antezedentien im einfachen Satz In diesem Abschnitt wird nur die ‚Bindung‘ zwischen Antezedens und Reflexivum in der Domäne einfacher Satz behandelt, dabei nur die Bindung auf Satz(glied)ebene. Festzuhalten ist zunächst, dass referentiell gebrauchte Reflexiva mit Satzgliedstatus in der Domäne einfacher Satz in aller Regel ein Antezedens innerhalb dieses Satzes benötigen. Die Verwendung ohne ein solches satzinternes Antezedens ist nicht möglich. Anders verhält es sich bei Reflexiva als Teil einer NP und bei Reflexiva in infiniten Konstruktionen (vgl. die folgenden Parameter). Nicht-referentiell gebrauchte Reflexiva bei lexikalisch reflexiven Verben können im Deutschen, sofern sie Proto-Agens-Eigenschaften aufweisen, antezedenslos im so genannten Reflexivpassiv verwendet werden (vgl. Ágel 1997): (81)

Hier wird sich nicht hingesetzt. / Da wurde in zitternder Angst sich verkrochen.

Auch dort, wo das Reflexivum nicht lexikalisch gefordert ist, kommen Reflexivpassive vor, sowohl subjektlos bei intransitiven Verben, vgl. (82), als auch sogar bei transitiven Verben mit vorhandenem Subjekt, vgl. (83) – das Reflexivum ist auch hier antezedenslos:  

(82)

Jetzt wird sich gewaschen! / Morgen wird sich mal richtig amüsiert.

646

(83)

B Wort und Wortklassen

Beim Aufbau der Fürther Kirchweihe auf dem Marktplatz, der gestern begann, durfte sich auch einmal eine Erholungspause gegönnt werden. (Bildunterschrift, Südhessische Post, 28.09.1990)

Daneben ist auch das subjektlose fazilitative Medium intransitiver Verben als Konstruktion mit antezedenslosem, freilich nicht-referentiellem Reflexivum zu erwähnen. (84)

Es lebt sich gut in Mannheim.

Festzuhalten ist außerdem, dass innerhalb der Domäne einfacher Satz zwischen Antezedens und Reflexivum als Satzglied „Reflexivierungspflicht“ besteht, d. h. sofern eine Satzgliedstelle referenzidentisch (im weiteren Sinne) mit einem möglichen Antezedens zu belegen ist, muss das Reflexivum, nicht etwa das Personalpronomen, gesetzt werden. Diese Reflexivierungspflicht wird im Rahmen der Bindungstheorie in der Tradition von Chomsky (1984) über die Relation des c-Kommandos erfasst (vgl. dazu Zifonun 2001a: 100, Anm. 131). Diese Reflexivierungspflicht besagt, dass z. B. in (85) ihn/him nicht referenzidentisch mit Hans/John interpretiert werden kann.  



(85) DEU ENG

Hans sieht ihn im Spiegel. John sees him in the mirror.

Bei Referenzidentität muss der Satz wie folgt heißen. (85') DEU ENG

Hans sieht sich im Spiegel. John sees himself in the mirror.

Allerdings wird die Reflexivierungspflicht durch die nun zu explizierende Hierarchie der Antezedentien gesteuert. Die Chance, Antezedens für ein Reflexivum auf Satzgliedebene zu werden, hat sprachübergreifend in erster Linie das Subjekt, sodann das Objekt (direkt vor indirekt), letztlich auch das „andere“ z. B. adpositionale Objekt: Hierarchie der Antezedentien für Reflexiva (satzbezogen):  

i. Subjekt > direktes Objekt > indirektes Objekt > anderes Objekt Wir stellen Hierarchie (i) die im vorigen Abschnitt angegebene Hierarchie für die syntaktischen Funktion oder Funktionen der Reflexiva selbst gegenüber: ii. direktes Objekt > indirektes Objekt > anderes Objekt > Prädikativ

B1 Wortklassen

647

Setzt man diese beiden Hierarchien in Beziehung zueinander, so gilt: Reflexiva sind ihrem Antezedens in der Hierarchie der Satzgliedfunktionen nach- oder zumindest gleichgeordnet und folgen ihnen in der Regel auch linear nach. Das bedeutet: Ein Reflexivum als direktes Objekt kann ein Subjekt als Antezedens haben, ein Reflexivum als indirektes Objekt hat ebenfalls das Subjekt, gegebenenfalls aber auch ein direktes Objekt als Antezedens, ein adpositionales Satzglied kann Subjekt, direktes und indirektes Objekt, aber auch ein anderes adpositionales Satzglied als Antezedens haben. Wir geben einige Beispiele aus Kontrastsprachen für einen Objektbezug der Reflexiva: (86) ENG

We protected them against themselves. ‚Wir haben sie vor sich selbst beschützt.‘

(87) NDL

We moeten die jongen tegen zichzelf muss.1PL DEF Junge.AKK gegen REFL 3.selbst 1PL (hemzelf) beschermen. beschütz.. INF 3SG . M . OBJ .selbst ‚Wir müssen den Jungen vor sich selbst beschützen.‘

Im Ungarischen ist die Bezugshierarchie auf das breite Spektrum suffixal ausgedrückter syntaktischer Funktionen auszudehnen: Sie gilt für syntaktische Funktionen, die durch Suffixe für syntaktische wie semantische Kasus (etwa für den Delativ) ausgedrückt werden, vgl. (88). (88) UNG

Annának sokat írtam viel.AKK schreib.PRT . 1SG Anna.DAT ‚Ich schrieb Anna viel über sich selbst.‘

önmagá-ról. selbst.3SG -DEL

Dabei ist jedoch sprachübergreifend zu beachten, dass Subjektbezug bei Bezugsambiguitäten präferiert wird und insgesamt stark dominiert (vgl. im Einzelnen zum Deutschen); außerdem auch, dass bei PPs die „Reflexivierungspflicht“ in einigen Sprachen (Englisch, Niederländisch, siehe oben) gelockert ist. Darüber hinaus gibt es sprachübergreifend die Tendenz, bei Objektbezug des Reflexivums den Intensifikator hinzuzusetzen; obligatorisch ist dies z. B. im Italienischen der Fall (vgl. (89) vs. (90)), siehe auch unten zum Deutschen:  

648

B Wort und Wortklassen

(89) ITA

Giannii ha ricondotto Maria Maria Gianni hab.3SG zurückgebracht ‚Gianni hat Maria zu sich zurückgebracht.‘

a zu

(90) ITA

Gianni ha ricondotto Mariaj a Maria zu Gianni hab.3SG zurückgebracht ‚Gianni hat Maria zu sich (selbst) zurückgebracht.‘

séi. REFL . 3

séj REFL . 3

stessa. selbst.F . SG

Besonders bedeutsam jedoch ist der Einfluss der Klitisierung auf die in einer Sprache möglichen Antezedentien. Es scheint zu gelten: Realisiert eine Sprache das indirekte Objekt als klitisches Reflexivum, so kann nur das Subjekt Antezedens sein. Hiervon sind das Französische, das Spanische, Italienische betroffen. Man vergleiche (91) vs. (92). (91) a. *Paul sei présentera les invitési. KL . REFL . 3 vorstell.FUT . 3SG DEF . PL Eingeladene.PL FRA Paul ‚Paul wird die Eingeladenen sich gegenseitig/einander vorstellen.‘ lai montre dans le miroir. b. *Je sei KL . 1SG KL . REFL . 3 KL . 3SG . F . AKK zeig.1SG in DEF Spiegel ‚Ich zeige sie sich (selbst) im Spiegel.‘ (92) a. Paul présentera les invitési à eux-mêmesi. FRA Paul vorstell.FUT . 3SG DEF . PL Eingeladene.PL zu 3PL . M . OBJ -selbst.PL ‚Paul wird die Eingeladenen sich gegenseitig/einander vorstellen.‘ b. Je la montre à elle-même KL . 1SG KL . 3SG . F . AKK zeig.1SG zu 3SG . F . OBJ -selbst dans le miroir. DEF Spiegel in ‚Ich zeige sie sich (selbst) im Spiegel.‘ Im generativen Ansatz von Jones (1996: 280) wird hier angenommen, das an das Finitum klitisierte Reflexivum c-kommandiere alle Teile der VP, somit auch das direkte Objekt. Da Reflexiva nicht ihre Antezedentien c-kommandieren dürfen, sind solche Strukturen ungrammatisch. Im Spanischen und Italienischen muss ebenfalls zur Realisierung durch eine Präpositionalphrase gegriffen werden; diese enthält jedoch im Gegensatz zum Französischen die eindeutig reflexiven starken Formen; vgl. zu (91b), (92b): (93) ITA

La

mostro a se zeig.1SG zu REFL . 3 ‚Ich zeige sie sich (selbst) im Spiegel.‘

KL . 3SG . F . OBJ

stessa selbst.F . SG

nello in.DEF

specchio. Spiegel

B1 Wortklassen

(94) SPA

La

muestro a sí zeig.1SG zu REFL . 3 ‚Ich zeige sie sich (selbst) im Spiegel.‘

KL . 3SG . F . OBJ

misma selbst.F . SG

en in

el DEF

649

espejo. Spiegel

Die deutschen Daten sprechen für eine von der allgemeinen Hierarchie (i) abweichende Ordnung, in der KAKK und KDAT (direktes und indirektes Objekt) sowie KPR P , A G E N S , das agentive Präpositivkomplement (des Passivs), gleichgeordnet sind und andere Präpositivkomplemente (KPR P ) nur einen marginalen Status haben. [a] Antezedenz: KSSU U > KAKK , KDAT , KP RP , A G E N S (> KP RP ) [b] Reflexivierer: ein gemäß Hierarchie [a] dem Antezedens nach- oder zumindest gleichgeordnetes Komplement oder präpositionales Supplement, das dem Antezedens in der Regel auch linear nachfolgt. Das Reflexivum kann dem Antezedens grundsätzlich nur bei Subjektbezug vorausgehen und zwar, indem es stark, also akzentuiert und ggf. phrasal ausgebaut im Vorfeld erscheint, wie in (95), oder indem es am linken Mittelfeldrand (in der „Wackernagelposition“) vor dem Antezedens erscheint, wie in (96). (95)

SICH/Sich SELBST kauft Hans kein Auto.

(96)

Eva sagt, dass sich Hans kein Auto kauft.

Zunächst zu den beiden „Rändern“ der Antezedens-Hierarchie: Zweifellos ist das Subjekt die präferierte Bezugskonstituente. Subjekte binden die ihnen in der Antezedenshierarchie nachgeordneten Komplemente sowie Supplemente. Überwiegend haben sie dabei die AGENS -Rolle (vgl. (97)), jedoch ist auch ein EXPERIENS - oder THEMA Subjekt als Antezedens möglich (vgl. (98)). Subjektbezug: (97)

Hans kämmt sichK.AKK . Hans kauft sichK.DAT ein Auto. Hans sorgt [für sich]K . PR P . Hans baut das neue Haus nur [für sich]SUPP.

(98)

Hans gefällt sich sehr. Hans fehlt sich selbst am meisten.

Präpositionalphrasen kommen vor allem dann zweifelsfrei als Antezedentien in Frage, wenn es sich um AGENS -Phrasen im Passiv handelt. Dabei kann die AGENS AG ENS -Phrase Antezedens für eine weitere Präpositionalphrase oder ein Dativkomplement sein (vgl. (99)). Auch andere Präpositionalphrasen (KP RP ) können gegebenenfalls konkurrierend mit dem Subjekt als Antezedens für ein Reflexivum fungieren (vgl. (100a) gegenüber (100b)); allerdings ist hier das Personalpronomen wohl präferiert (vgl. (100c)), bei einem präpositionalen Supplement als Antezedens ist das Personalpronomen wohl obligatorisch (vgl. (101a) vs. (101b)).

650

B Wort und Wortklassen

Der ausgezeichnete Status der AGENS -Phrase stützt ebenso wie die Dominanz agentiver Subjekte als Antezedens eine Theorie des Antezedens-Bezugs für das Deutsche, die nicht auf syntaktischen Funktionen, sondern auf einer Hierarchie semantischer Rollen basiert; man vergleiche dazu Gunkel (2003). Bezug auf KomplementP R P : (99)

a. die von der serbischen und der mazedonischen Seite für sich in Anspruch genommen werden. (Hörbeleg) b. Der Einbürgerungsantrag wurde von meiner Gattin für sich und ihre beiden Kinder gestellt. (Salzburger Nachrichten, 01.04.1995) c. Das Buch wurde von Karl sich selbst gewidmet.

(100) a. Die RZ sprach jetzt schon mal mit ihm über sich und seine neue Aufgabe. (Rhein-Zeitung, 13.09.2006) b. Einmal im Monat immer samstags stellen sich dabei Künstlerinnen und Künstler in der Freien Kunstakademie Kindern vor und sprechen mit ihnen über sich und ihre Arbeit. (Mannheimer Morgen, 23.05.2007) c. Mögen Sie das, wenn man mit Ihnen über Sie spricht? (die tageszeitung, 30.05.1990) Bezug auf ein SupplementP R P : (101) a. Wir lachen mit ihm über ihn, wenn er in unseren Reihen Unterschlupf sucht, […]. (Frankfurter Allgemeine, 10.09.2005) b. ??Wir lachen mit ihm über sich […]. Sowohl das Akkusativ- als auch das Dativkomplement kann Antezedens für eine Präpositionalphrase sein. Auch hier ist Konkurrenz mit Subjektbezug möglich, ohne dass bei Bezug auf KA K K oder KD A T auf das Personalpronomen ausgewichen würde, wie in (102) und (103). Bezug auf ein Dativkomplement ist vor allem in unpersönlichen Konstruktionen möglich, vgl. (104a), (104b). Bezug auf KA K K : (102)

Ich erinnere ihn an sich (selbst). Ich verweise ihn auf sich zurück.

Bezug auf Subjekt oder KA K K : (103) a. Hans bringt Fritz zu sich nach Hause. b. Hans bringt Fritz zu sich nach Hause. c. ??Hans bringt Fritzi zu ihmi nach Hause.

B1 Wortklassen

651

Bezug auf KD A T : (104) a. Dem Mörder graut vor sich. b. Dem Mann liegt viel an sich. c. Ich erzähle ihr viel über sich. Bezug auf Subjekt oder KD A T : (105) a. Sie erzählt ihr viel über sich. b. Sie erzählt ihr viel über sich. c. ??Sie erzählt ihri viel über siei. Problematisch sind die Reflexivierungsverhältnisse bei Kookkurrenz von (jeweils personalem) KA K K und KD A T . Die mit der sprachübergreifenden Hierarchie (i) gegebene Annahme einer hierarchischen Überordnung des direkten Objekts bestätigt sich hier nicht generell. Vielmehr scheint auch für die Reflexivierung die Einteilung der Verben mit Akkusativ- und Dativkomplement in zwei Klassen (vgl. IDS-Grammatik 1997: 1520) wirksam zu sein: Verben, die auf der Basis räumlicher Konzeptualisierung eine Korrespondenz- oder Ordnungsrelation ausdrücken wie gegenüberstellen, gleichstellen, zuordnen, vorstellen, vorziehen haben die unmarkierte lineare Ordnung KA K K >> KD A T . Verben, die als Verben des Gebens und Nehmens konzeptualisiert werden wie anbieten, anvertrauen, empfehlen, zeigen, entziehen, haben wie die prototypischen DAT - AKK Verben die unmarkierte lineare Ordnung KD A T >> KA K K . Wird das Antezedens durch eine volle NP repräsentiert, so scheint die Reflexivierung mit der linearen Ordnung gleichzulaufen, wie durch die entsprechenden Indizes angedeutet: KAKK, Antezedens >> KDAT, Reflexivum (106)

dass wir die LeuteAKK i sichDAT i selbst gegenüberstellen

(107)

*dass wir den LeutenDAT i sichAKK i selbst gegenüberstellen KDAT, Antezedens >> KAKK, Reflexivum

(108) a. dass wir den LeutenD A T i sichA K K i selbst im Spiegel zeigen b. dass wir den LeutenD A T i sichA K K i selbst als Kandidaten anbieten/empfehlen (109) a. ??dass wir die LeuteA K K i sichD A T i selbst im Spiegel zeigen b. *dass wir die LeuteA K K i sichD A T i selbst als Kandidaten anbieten/empfehlen

652

B Wort und Wortklassen

Diese beiden Reflexivierungsmuster motivieren die oben postulierte Gleichrangigkeit von KAKK und KDAT als Antezedentien. Allerdings ist der Wechsel im Antezedens nicht frei, sondern ergibt sich im Zusammenspiel zwischen den Reflexivierungsbedingungen und allgemeinen Linearisierungsregeln. Ist das Antezedens jedoch ein Personalpronomen, hat aufgrund der speziellen Linearisierungsbedingungen für Pronomina diese Musterverteilung keine durchgängige Gültigkeit; vielmehr ist hier eher mit folgender Generalisierung zu rechnen, wobei solche Konstruktionen wohl eher gemieden werden: KPERS.AKK, Antezedens >> KDAT, Reflexivum (110)

dass wir sieA K K i sichD A T i gegenüberstellen

(111)

dass wir sieA K K i sichD A T i im Spiegel zeigen

Die Frage, ob das Dativkomplement im Deutschen Antezedens für einen Reflexivierer im Akkusativ sein kann, ist in der Literatur besonders umstritten. Dafür argumentieren u. a. Fanselow (1987: 113), Frey (1993: 112–116), Eisenberg (2013b: 283), dagegen argumentieren u. a. Grewendorf (1991: 58), Vogel/Steinbach (1998: 73), Müller (1999: 781). Primus (1989: 56) gibt an, dass bei einer Befragung Sätze mit Dativ-Antezedens nicht als voll akzeptabel, sondern als „weniger akzeptabel“ – somit auf einer mittleren Akzeptabilitätsstufe – eingeordnet wurden. Bedauerlicherweise erbringen Korpusuntersuchungen keine verwertbaren Ergebnisse, weil es sich offenbar um ein wenig frequentes Phänomen handelt. Die in Featherston/Sternefeld (2003) dokumentierten Tests mit Informanten deuten auch auf die Möglichkeit der Objektkoreferenz mit einem dativischen Antezedens hin. Vgl. auch die ausführlichere Darstellung in Zifonun (2003a: 95–102).  







Teilkonstituenten von Komplementen, also z. B. Attribute innerhalb einer SubjektKonstituente, können nicht Antezedens für ein Reflexivum in Objektfunktion sein. Nicht voll akzeptabel erscheint daher die Reflexivierung in folgendem Beleg; hier ist das personale Attribut des Subjekts Antezedens:  

(112)

Und weil das mehr oder weniger alle tun, richtet sich der argwöhnische Blick der Medien auf sich selber, sie berichten übereinander, beziehen sich aufeinander und polemisieren gegeneinander. (Die Zeit (Online-Ausgabe), 07.06.2001)

Hinzu kommt in Beleg (112), dass das erste Vorkommen von sich beim Antikausativum/lexikalisch reflexiven Verb sich richten auf die gesamte Subjekt-NP als Antezedens hat. In subjektsprädikativen Konstruktionen mit prädikativem Adjektiv ist, wie zu erwarten, das Subjekt Antezedens, in objektsprädikativen Konstruktionen (z. B. bei machen) ist es das Akkusativkomplement:  

B1 Wortklassen

(113)

Er ist sich (selbst) treu.

(114)

Sie sind mit sich zufrieden.

(115)

Der Erfolg machte sie mit sich selbst zufriedener.

653

B1.5.3.7 Antezedentien für NP-interne Reflexiva Im Allgemeinen konstituiert eine NP eine eigene Bindungsdomäne für die in ihr als Attribute enthaltenen Reflexiva (interner Antezedens-Bezug). Jedoch erscheint der Bezug auf ein Antezedens im weiteren Satzkontext nicht in jedem Fall ausgeschlossen (externer Antezedens-Bezug). Außerdem ist der Antezedens-Bezug von Reflexiva innerhalb von NP sprachübergreifend nicht rein syntaktisch gesteuert; semantische Gesichtspunkte kommen hinzu. Die Diskussion der leitenden, sprachübergreifenden Gesichtspunkte erfolgt hier am Beispiel des Deutschen; Abweichungen, die insbesondere die Pseudo-Reflexiva des Englischen, Französischen und Ungarischen betreffen, werden ggf. vermerkt. Bei Antezedens-Bezug innerhalb der NP spielt die Argumentstruktur des Kopfnomens der NP eine Rolle. Bei einem Antezedens-Bezug außerhalb der NP sind die syntaktischen Funktionen des Antezedens zu berücksichtigen. Interner und externer Antezedens-Bezug können sich jedoch auch überschneiden bzw. in Konflikt geraten. Letztlich ist auch die Verwendung des Reflexivums ohne ein Antezedens im Satz möglich. NP-interner Antezedens-Bezug Primäre Kandidaten für die Setzung eines attributiven Reflexivums sind relationale, semantisch (mindestens) zweistellige Nomina. Die größte Rolle spielen dabei deverbale oder deadjektivische Substantivierungen wie die Nomina Actionis/Qualitatis Vertrauen in sich selbst, Liebe zu sich selbst, Umgang mit sich selbst; Bewusstsein seiner selbst sowie (marginaler) entsprechende Nomina Agentis: ein Ankläger/Bewunderer/Kritiker seiner selbst. Hier liegt jeweils ein zweistelliges verbales Prädikat λx λy P(x,y) ,x vertraut auf/in y‘/,x klagt y an‘ usw. zugrunde, wobei die x- und die y-Stelle referenzidentisch zu belegen sind. Syntaktisch kann die x-Stelle bei Nomina Actionis – nicht jedoch bei Nomina Agentis – NP-intern realisiert sein durch einen attributiven Genitivus subiectivus oder ein entsprechendes Possessivum. Dieser Ausdruck fungiert dann als ‚Subjekt-Argument von N‘ und ist Antezedens für das Reflexivum, das die y-Stelle besetzt, wie etwa in den folgenden Beispielen.  



654

B Wort und Wortklassen

(116)

Karlsi/seini Vertrauen in sichi selbst

(117)

*Karlsi/seinei Ankläger seineri selbst

Auch nicht-abgeleitetete Substantive können relational sein; typische Beispiele mit häufigerer Reflexivierung sind: Buch/Artikel über sich selbst, Bild/Porträt von sich selbst; Problem mit sich selbst. Eine personal zu belegende x-Stelle ist hier auch semantisch nur fakultativ – während die x-Stelle als Genitivus subiectivus bei abgeleiteten Nomina auf der semantischen Ebene obligatorisch ist. Die fakultative Stelle spielt auch für die Reflexivierung nicht dieselbe starke Rolle wie das Subjekt-Argument von Ableitungen. Ist die Stelle aber bei Buch usw. vorhanden und durch einen Genitiv, eine von-Phrase oder ein Possessivdeterminativ realisiert, so kann sie Antezedens für das Reflexivum sein, vgl. (118).  

(118)

das Buch von Hansi über sichi selbst / (seinei) Bücher über sichi selbst

Letztlich können auch an nicht-relationale Substantive mittels Präpositionen Supplemente angeschlossen werden, wobei die Präpositionen Komplementstellen eröffnen, die durch ein Reflexivum gefüllt werden können: das Mädchen neben sich; der Tisch vor sich. Auch hier ist eine personale x-Stelle gegebenenfalls im Sinne einer Zugehörigkeitsrelation hinzuinterpretierbar. Zu prüfen ist, ob diese in den bereits erläuterten syntaktischen Formen als Antezedens fungieren kann, wie in (119). (119)

seini Mädchen neben sichi

NP-externer Antezedens-Bezug Wenn NP-intern kein Antezedens artikuliert wird, ist das Subjekt vorrangiger Antezedens-Kandidat, wie in den folgenden Beispielen. (120)

Karli verlor nie das Vertrauen in sichi selbst.

(121)

Karli betätigt sich als Ankläger seineri selbst. (Konstruktionen wie diese werden gemieden; stattdessen: sein eigener Ankläger)

(122)

Karli liest nur Bücher über sichi selbst.

(123)

Günter Wallraff hat ein Buch über sich als Hans Eser bei Bild geschrieben. (Süddeutsche Zeitung, 31.12.1997)

(124)

Karli starrte auf den Tisch vor sichi. / Karli beobachtete das Mädchen neben sichi.

B1 Wortklassen

655

Setzung des Personalpronomens ist – bei Erhalt der intendierten Referenzidentität – allenfalls in Beispielen wie (124) möglich. Auch Nicht-Subjekte können als Antezedens für ein Reflexivum innerhalb einer NP fungieren; hier ist aber – wenn syntaktisch und semantisch möglich – mit konkurrierendem Subjektbezug zu rechnen.  







(125)

Hansi empfiehlt Karlj größeres Vertrauen in sichi/j.

(126)

Hansi verkauft Karlj ein Buch über sichi/j.

(127)

Hansi verweist Karlj an das Mädchen neben sichi/j.

Bezug auf ein Akkusativkomplement zeigt folgender Beleg. (128)

Ich begreife natürlich, dass ich mit einer Prosa der Ängstlichkeit und einer Prosa des Zweifels oder der Unsicherheit nicht willkommen war, weil ich dadurch natürlich auch andere bedroht habe in diesem Bild von sich selbst. (die tageszeitung, 05.09.1997)

Starken Restriktionen ist jedoch – außer bei Pseudo-Reflexiva – der satzinterne Antezedens-Bezug aus dem Subjekt heraus, also wenn das Reflexivum Teil des Satzsubjekts ist, unterworfen. Möglich erscheint Reflexivierung in Beispielen wie (129), fragwürdig in deutschen Beispielen wie (130) gegenüber akzeptablem englischen (130’), ungrammatisch in Beispielen wie (131).  



(129)

Das Vertrauen in sichi selbst / ??ihni selbst bestärkte Karli. Den Karli bestärkte das Vertrauen in sichi selbst / ??ihni selbst.

(130)

Die neue Geschichte über ??sichi/ihni bestärkte Karli. / Den Karli bestärkte die neue Geschichte über ??sichi/ihni.

(130’)

The new story about himself confirmed Charles.

(131)

Das neue Mädchen neben *sichi/ihmi bestärkte Karl. / Den Karli bestärkte das neue Mädchen neben *sichi/ihmi.

Überschneidung/Konflikt zwischen NP-internem und NP-externem Antezedens-Bezug Referentielle Ketten, bei denen ein NP-internes mögliches Antezedens für das attributive Reflexivum referentiell mit einem anderen Satzglied, vorzugsweise dem Subjekt übereinstimmt, sind unproblematisch, vgl. (132).

656

(132)

B Wort und Wortklassen

Karli verlor nie seini Vertrauen in sichi selbst.

Wenn mögliches NP-internes Antezedens und mögliches NP-externes Antezedens referenzverschieden sind, gilt: Ist das Reflexivum Argument von N, so ist ein vorhandenes Subjekt-Argument von N stark präferiertes Antezedens vor dem Subjekt der Matrix-VP bzw. des Satzes, vgl. (133a) vs. (133b); in letzterem Fall wird das Personalpronomen bevorzugt, vgl. (133c). Andere Begleiter von N (z. B. possessive Genitive) hingegen sind dem Subjekt der Matrix-VP gegenüber als Antezedens gleichgeordnet, vgl. (134a) mit Genitiv als Antezedens, (134b) mit dem Subjekt. Andere Antezedentien können vernachlässigt werden.  

(133) a. Elisabethi schätzte Karlsj Vertrauen in sichj (selbst). / Elisabethi erkannte Karlsj Liebe zu sichj (selbst). b. Elisabethi schätzte Karlsj Vertrauen in sichi. / Elisabethi erkannte Karlsj Liebe zu sichi. c. Elisabethi schätzte Karlsj Vertrauen in siei,k. / Elisabethi erkannte Karlsj Liebe zu ihri,k. (134) a. Elisabethi schätzte Karlsj Buch über sichj (selbst). b. Elisabethi schätzte Karlsj Buch über sichi. Die Präferenz für NP-internen Antezedens-Bezug gegenüber Subjektbezug ist im Englischen (ähnlich auch im Französischen und Ungarischen) aufgrund der erläuterten Besonderheiten bei den intensifikatorbasierten Reflexiva bzw. Pseudo-Reflexiva dieser Sprachen nicht gegeben. Man vergleiche folgende Beispiele. (133) d. Elizabeth recognized Charles’ love for herself. ENG (135) FRA

Si Dieu a donné à l’ homme surtout gegeben zu DEF Mensch vor.allem wenn Gott hab.3SG l’ amour de lui-même (!). DEF Liebe von 3SG . M . OBJ -selbst.SG ‚Wenn Gott dem Menschen vor allem die Liebe zu sich selbst gegeben hat.‘

In dem nach einem Internetbeleg adaptierten Beispiel (135) ist l’homme als Antezedens intendiert; grammatisch möglich ist aber auch Dieu. Auch im Polnischen ist in der Entsprechung von (133b) Subjektbezug möglich:

B1 Wortklassen

(136) POL

Elżbietai rozpoznała miłość Elżbieta erkenn.PRT . 3SG . F Liebe.. AKK ‚Elżbieta erkannte Karols Liebe zu ihr.‘

Karola Karol.GEN G EN

do zu

657

siebiei. REFL . 3.. G GEN EN

Ist das Reflexivum nicht Argument von N, sondern Modifikator von N, so ist das Subjekt der Matrix-VP präferiertes Antezedens für das Reflexivum vor anderen Komplementen der Matrix-VP: (137) a. Hansi starrte auf Omasj alten Tisch vor sichi/*j. / Hansi beobachtete Karlsj Mädchen neben sichi/*j. b. Hansi zeigt Karlj Omask alten Tisch vor sichi/j/*k. / Hansi verweist Karlj an Petersk Mädchen neben sichi/j/*k. Reflexivum ohne Antezedens-Bezug Wenn weder ein NP-internes Antezedens noch ein satzinternes in plausibler Weise zur Verfügung steht, kann der Referenzbezug offenbleiben. Typisch sind generische Sätze folgender Art: (138)

Vertrauen in sichi (selbst) kann aufmuntern.

(139)

Zehrender war der Kampf gegen sich selbst. (Die Zeit, 09.02.1998)

Gemeint ist ‚das Vertrauen/der Kampf eines beliebigen x in/gegen sich selbst‘. Nichtabgeleitete Substantive ohne obligatorische x-Stelle erscheinen hier fragwürdig und nicht-relationale Substantive ausgeschlossen: (140)

??Ein

(141)

*Ein Mädchen neben sichi (selbst) kann aufmuntern.

Buch über sich (selbst) kann aufmuntern.

Wir fassen die wichtigsten Ergebnisse zusammen: Abgeleitete relationale Substantive konstituieren eine eigene Reflexivierungsdomäne unter den Ko-Argumenten von N. Diese ist gegenüber der einbettenden VP sprachabhängig relativ stark abgeschottet. Auch wenn das Subjekt-Argument eines solchen Substantivs nicht realisiert ist, fungiert es grundsätzlich als implizites Antezedens für das Reflexivum. Dies erklärt, warum bei diesen Substantiven Reflexivierung auch dann möglich ist, wenn die NP Satzsubjekt ist (vgl. (129)), und wenn überhaupt kein Antezedens artikuliert wird (vgl. (138), (139)). Andere relationale Substantive lassen für reflexive Argument-Ausdrücke NP-externen Antezedens-Bezug – auch bei möglichem NP-internem Antezedens – eher zu als abgeleitete. Substantive konstituieren keine eigene Reflexivierungsdomäne für Reflexiva als Teile von nicht-valenzgebundenen Attributen zu N.  



658

B Wort und Wortklassen

Insgesamt nimmt somit die Reflexivierung innerhalb von NP eine Mittelstellung ein zwischen der Reflexivierung auf Satzgliedebene und der Reflexivierung in ganz eigenständigen Domänen innerhalb des komplexen Satzes. Sprachübergreifend gilt die Tendenz, bei internem Antezedens-Bezug ein durch einen Intensifikator verstärktes Reflexivum zu setzen (z. B. obligatorisch im Italienischen, überwiegend im Deutschen). Reflexivierung in der NP ist ein Bereich, bei dem erhebliche Unsicherheiten bei den Sprechern und Divergenzen in den Einschätzungen verschiedener Sprecher bestehen. In der Forschungsliteratur werden die Probleme eher kursorisch angesprochen, vgl. etwa Jackendoff (1972: 132–143), Chomsky (1984: 184 f., 210, 1986: 166), Kuno (1987: 73–79), Manzini/Wexler (1987: 437 f.), Sternefeld (1985: 424–427). Zu einer ausführlichen Darstellung der hier vorgelegten Konzeption vgl. Zifonun (2003b, 2004b).  





B1.5.3.8 Bindungsdomänen im komplexen Satz Zu unterscheiden ist zwischen der Unterordnung (i) einer Konstruktion mit Finitum, also Untersatzbildung, (ii) einer infiniten Konstruktion bei Kontrollverben, (iii) einer infiniten Konstruktion mit Subjekt-Argument (AcI) und (iv) einer ,kleinen Klausel‘, also in einer Konstruktion mit (depiktivem oder resultativem) Objektsprädikativ. Untersätze, also untergeordnete Strukturen mit Finitum, stellen in aller Regel eigene Bindungsdomänen dar. Innerhalb dieser werden rekursiv die für den einfachen Satz gültigen Prinzipien angewendet, ein Reflexivum sucht sich also sein Antezedens im Untersatz. Das Subjekt eines Untersatzes – das ggf. ein Antezedens im Obersatz aufgreift – kann ohnehin kein Reflexivum sein, weil sprachübergreifend (echte und eindeutige) Reflexiva im Nominativ nicht zur Verfügung stehen. Allerdings gibt es als Randphänomen unter den heutigen europäischen Sprachen im Isländischen Objektsreflexiva, die ein Subjekt des Obersatzes fortführen (‚Lange-DistanzReflexiva‘):  



(142) ISL

að ég elski sigi. Maríai heldur KOMP 1SG lieb.1SG REFL . AKK María glaub.3SG ‚María glaubt, dass ich sie liebe.‘ (Thráinsson 1994: 171)

Reflexiva mit Bindung auf lange Distanz sind vor allem in Inhaltssätzen (deklarativen Untersätzen) im Konjunktiv zugelassen. Indikativsetzung oder der Status als Adverbialsatz stehen im Allgemeinen der Bindung auf lange Distanz im Wege. Im Lateinischen ist Vergleichbares zu beobachten: Vor allem innerhalb der indirekten Rede kann in konjunktivischen Untersätzen das Reflexivum auf das Subjekt des (direkt) übergeordneten Satzes bezogen sein:

B1 Wortklassen

(143) LAT

659

(Caesari legatis suis) mandavit, ut, beauftrag.PRF .3SG KOM KOMP P Caesar Gesandter.DAT . PL POSS . REFL . DAT . PL quae diceret Ariovistus, ad sei referrent. RPRO . N . AKK . PL sag.KONJ . IPRF . 3SG Ariovist zu REFL . 3.AKK überbring.KONJ . IPRF . 3PL ‚Caesar beauftragte seine Gesandten, dass sie, was Ariovist sage, (zu) ihm überbrächten.‘ (Caes. BG 1, 47, 5)

Die lateinische Grammatikographie (Kühner/Stegmann 1988a: 607) spricht hier von „innerlich abhängigen Sätzen“, „Nebensätzen, welche nicht als Gedanke des Schriftstellers, sondern aus der Seele eines anderen, besonders des Subjekts des Hauptsatzes ausgesprochen werden“ (Hervorhebung im Text). Diese Bestimmung entspricht inhaltlich der moderneren Redeweise vom ‚logophorischen Kontext‘.

Im Deutschen (wie in den Kern-Kontrastsprachen) hat die Regularität, dass Untersätze eigene Bindungsdomänen darstellen, strikte Geltung, auch bei einem Indirektheit anzeigenden Konjunktiv. Beispiele wie die folgenden sind also (in der intendierten Lesart) abweichend. (144)

*Maria glaubt, dass ich sich liebe.

(145)

#Maria

behauptet von Hans, dass er sich liebe.

In infiniten Konstruktionen bei Kontrollverben (ohne realisiertes Subjekt-Argument) beziehen sich Reflexivierer auf das implizite Subjekt-Argument der Konstruktion. Im Polnischen steht in vielen Fällen statt des Verbalinfinitivs eine Form auf -anie/-enie/-cie, also eine stärker nominale Form, die nur noch mit der Rektion des Akkusativs verbale Eigenschaften hat. Im Ungarischen wird bei diesen Verben nicht infinit konstruiert, sondern mit durch hogy ‚dass‘ eingeleiteten Untersätzen; es ist daher hier nicht einschlägig. (146) DEU ENG FRA POL

Wir baten ihn, sich auf das Examen vorzubereiten. Proposition: ,dass eri sichi auf das Examen vorbereitet.‘ We asked him to prepare himself for the exam. Nous lui avons demandé de se préparer pour l’examen. Prosiliśmy go o przygotowanie się do egzaminu.

Im Polnischen kann darüber hinaus auch das Subjekt des übergeordneten Kontrollverbs Antezedens sein. Hier trifft sich das Polnische mit dem Russischen, wie im nächsten Beispiel deutlich wird (vgl. Rappaport 1986: 104). Im Deutschen ist Subjektbezug hier dagegen nicht möglich.

660

(147) POL RUS DEU

B Wort und Wortklassen

Oni nie pozwala mij przeprowadzać eksperymentów na sobiei/j. Oni ne razrešaet mnej proizvodit’ opyty nad soboji/j. Eri erlaubt mirj nicht, Experimente an *sichi/j/ihmi/mirj durchzuführen.

Auch in Partizipial- und Gerundialkonstruktionen ist das implizite Subjekt-Argument Antezedens, vgl. (148) am Beispiel des Englischen, Französischen und Deutschen. (148) ENG FRA DEU

Turning himself back to his wife, Paul asked some questions. En se tournant vers sa femme, Paul posait quelques questions. Sich zu seiner Frau umwendend, stellte Paul einige Fragen.

Beim Partizip II ist das Reflexivum Teil einer Präpositionalphrase: (149)

In sich versunken, wie er war, konnte ihn niemand ansprechen.

In infiniten Konstruktionen mit Subjekt-Argument (AcI-Konstruktionen, häufig bei Verben der sinnlichen Wahrnehmung und als Kausativkonstruktionen, z. B. in folgenden Sprachen: Englisch, Französisch, Deutsch sowie – beschränkt auf Wahrnehmungsverben – im Ungarischen, nicht vertreten im Polnischen) muss das als Objektform realisierte Subjekt-Argument des Infinitivs bei reflexiver Belegung das Subjekt des übergeordneten Satzes als Antezedens haben.  





(150) ENG FRA DEU UNG

Hei saw himselfi work(ing) for the poor. Ili sei voyait travailler pour les pauvres. Eri sah sich für die Armen arbeiten. Látta magát a szegényekért sich.AKK DEF Arm.PL . KAU seh.PRT . 3SG . DEF

dolgozni. arbeit.INF

In diesen Fällen wird der reine Infinitiv gesetzt. Im Englischen sind auch subjektargumenthaltige Konstruktionen mit to-Infinitiv möglich; auch hier ist das Subjekt des übergeordneten Satzes Antezedens. (151) ENG

That was why he genuinely believed himself to be a failure. ,Das war der Grund dafür, warum er sich selbst als Fehlschlag betrachtete.‘ (BNC: BN3)

(152) ENG

A poor man believed himself to be possessed by many devils. ,Ein armer Mann glaubte sich von vielen Teufeln besessen.‘ (BNC: CEJ)

661

B1 Wortklassen

Auch im Konstruktionstyp des ‚Kausativpassiv‘, den es beim deutschen lassen und beim französischen faire gibt, liegt Antezedens-Bezug auf das Subjekt des Satzes vor. (153) DEU FRA

Pauli hat sichi (von Maria) zum Fest einladen lassen. Pauli si’est fait inviter à la fête (par Marie).

Im Französischen, in dem der Konstruktionstyp stark vertreten ist, gilt außerdem (siehe (153)), dass Klitika, die das Subjekt-Argument des Infinitivs vertreten, proklitisch an das übergeordnete Verb gebunden sind. Auch bei englisch have und get finden sich Kausativ-Passiv-Strukturen, wobei bei have obligatorisch, bei get fakultativ statt to be + Partizip II nur Partizip II erscheint (Huddleston/Pullum 2002: 1236), vgl. (154).  

(154) ENG



He got himself invited to a large formal dinner party […]. ,Er ließ sich zu einer großen formellen Dinnerparty einladen.‘ […] (BNC: AR2)

Reflexiva, die nicht das Subjekt-Argument des Infinitivs repräsentieren, sind im Allgemeinen auf das Subjekt-Argument des Infinitivs bezogen, vgl. (155). (155) ENG FRA DEU

Paul let Maryi buy herselfi a new dress. Paul a laissé Mariei si’acheter une nouvelle robe. Paul hat Mariei sichi ein neues Kleid kaufen lassen.

In französischen Kausativkonstruktionen mit faire, die unter den AcI-Konstruktionen einen Sonderstatus haben (Infinitivhebung), gilt zwar dasselbe Antezedens-Prinzip, jedoch wird der Infinitiv samt klitisch angelehntem Reflexivum dem Subjekt-Argument des Infinitivs vorangestellt: (156) FRA

contredire Paul a fait sei gemacht KL . REFL . 3 widersprech.INF Paul hab.3SG ‚Paul hat Marie dazu gebracht, sich zu widersprechen.‘

Mariei. Marie

Allerdings gilt zumindest für das Deutsche, dass Bindung über Agentivität gesteuert wird: AcI-interner Antezedens-Bezug kann nur vorliegen, wenn das Subjekt-Argument des Infinitivs selbst (wie in (155)) eine AGENS - oder EXPERIENS -Rolle hat, andernfalls liegt AcI-externer Bezug vor. Antezedens wird der nächste mögliche Binder, dessen Denotat mindestens ebenso viele Proto-Agens-Eigenschaften hat wie das Denotat des gebundenen Elements. Dabei geht das Reflexivum dem Subjekt-ArguPAT IENS -Rolle, vgl. (157), (158)) linear voraus. ment des Infinitivs (in einer THEMA - oder PATIENS

662

B Wort und Wortklassen

Vgl. zu dieser Analyse Gunkel (2003: 203–206). ‚Proto-Agens-Eigenschaften‘ ist im Sinne von Dowty (1991) zu verstehen.

(157)

Hans ließ/fühlte sich die Sonne ins Gesicht scheinen / die Haare in die Stirn wachsen.

(158)

Hans ließ sich ein gekühltes Getränk kommen.

Bei PP sind die Verhältnisse unklar. In vielen Fällen ist bei AcI-externem AntezedensBezug sowohl Pronominalisierung als auch Reflexivierung möglich, wobei Präpositivkomplemente eher zu Pronominalisierung, Adverbialia eher zur Reflexivierung tendieren. (159)

Karl lässt uns nur ungern von ?sich/ihm erzählen / auf ??sich/ihn warten.

(160)

Karl lässt uns bei sich/?ihm übernachten.

(161)

Karl lässt uns im morgigen Match gegen sich/?ihn antreten.

Ein Reflexivum innerhalb einer PP ist daher häufig ambig zwischen AcI-internem und -externem Antezedens-Bezug, wie in den folgenden Beispielen. (162)

Hans lässt Fritz ein Buch für sich besorgen.

(163)

Hans lässt Fritz bei sich wohnen/arbeiten.

Für ,kleine Klauseln‘ gelten in den Sprachen Englisch, Französisch und Deutsch Regeln, die der Reflexivierung in AcI-Konstruktionen weitgehend analog sind: Reflexiva, die das Subjekt-Argument der kleinen Klausel repräsentieren, haben das Subjekt der übergeordneten Struktur als Antezedens; andere Reflexiva können das SubjektArgument der kleinen Klausel, aber, semantisch gesteuert, auch das Subjekt der übergeordneten Struktur als Antezedens haben. Dabei sind im Englischen zahlreiche Verben (der sinnlichen Wahrnehmung, Kognition wie believe, feel, consider, declare, like) sowohl für eine AcI-Konstruktion als auch für eine kleine Klausel subkategorisiert. Im Französischen und Deutschen hingegen konkurrieren mit den kleinen Klauseln meist nur Inhaltssätze. Man beachte, dass im Französischen das reflexive Subjekt-Argument in kleinen Klauseln wie bei AcI-Konstruktionen an das übergeordnete Finitum klitisiert wird, andere Reflexiva in der kleinen Klausel müssen als komplexe Formen realisiert werden, da die kleine Klausel kein Verb enthält, an die das Reflexivum sich anlehnen könnte, vgl. (164) vs. (165).

B1 Wortklassen

(164) ENG FRA DEU

Eve considers herself (to be) clever. Eve se considère prudente. Eva findet sich klug.

(165) ENG FRA DEU

Eve considers Charles (to be) too fond of himself. Eve considère Charles trop plein de lui-même. Eva hält Charles für zu sehr von sich eingenommen.

663

Mit ambigem Bezug auf das Subjekt-Argument der kleinen Klausel oder auf das Subjekt des übergeordneten Satzes: (166)

So schließt sich der Kreis, und Stephan, vermeintlich den bedrückenden Fünfziger-Jahren entronnen, findet sie in sich selbst eingekapselt wieder. (Berliner Zeitung, 21.10.2005)

Auch die Beziehung zwischen einem attributiven Adjektiv und dem zugehörigen substantivischen Kopf kann semantisch als ‚kleine Klausel‘ gelten, insofern als das Adjektiv (in der Regel) eine Prädikation über das durch das Substantiv identifizierte Argument ausdrückt. In der Tat bilden in den Vergleichssprachen solche Adjektivphrase-Kopfsubstantiv-Konstruktionen normalerweise eigene Bindungsdomänen nach Art einer kleinen Klausel: Reflexive Komplemente oder Supplemente zum Adjektiv haben im substantivischen Kopf (als Subjekt-Argument der Konstruktion) ein phraseninternes (bzw. kleine-klausel-internes) Antezedens. Wir führen hier anhand von Übersetzungsäquivalenten die Kontrastsprachen Englisch und Französisch an, bei denen erweiterte Adjektivphrasen nur beschränkt, und zwar in der Regel postnominal, zulässig sind, außerdem das Ungarische mit pränominaler Adjektivphrase. (167) ENG FRA UNG

He chooses the boy most content with himself. Il choisit le garçon le plus content de lui-même. Kiválasztja a magával legjobban elégedett fiút.

In allen drei Sprachen ist hier primär ein Antezedens-Bezug auf das Kopfsubstantiv gegeben. Allerdings sind die zu verwendenden komplexen Formen nicht eindeutige Reflexiva und in ihrem Verständnis als Intensifikatoren im Englischen und Französischen auch auf das Subjekt des Satzes beziehbar, während im Ungarischen in diesem Fall das Personalpronomen stünde. Im Spanischen und Italienischen liegt bei postnominaler Stellung wie im Deutschen mit pränominaler Stellung des erweiterten Adjektivattributs eindeutiger Antezedens-Bezug eines reflexiven Adjektivkomplements oder -supplements auf das Kopfsubstantiv vor. (Nach Präpositionen stehen jeweils die einfachen starken Reflexiva SPA sí, ITA sé. Mit der Präposition con geht SPA sí die Verbindung consigo ein, im Italienischen verliert sé bei der Verbindung mit stesso den graphischen Akzent.) (168) SPA ITA DEU

Elige al chico más satisfecho consigo mismo. Sceglie il ragazzo più contento di se stesso. Er wählt den am meisten mit sich zufriedenen Jungen.

664

B Wort und Wortklassen

Im Polnischen hingegen kann ein reflexives Adjektivkomplement oder -supplement zu einem attributiven Adjektiv – das pränominal gestellt wird – auch auf das Satzsubjekt bezogen sein:  

(169) POL



miły dla siebiei / nieji list. [_]i Czyta 3SG . F . GEN Brief.. AKK les.3SG angenehm für REFL . GEN ‚Sie liest einen für *sich/sie angenehmen Brief.‘ (Engel et al. 1999: 967)

Im folgenden Beispiel ist die Adjektivphrase appositiv dem Satzsubjekt als Bezugsausdruck nachgestellt. (Hier ist auch im Deutschen Reflexivierung möglich.) (170) POL

Pan, do siebie samego wrogo REFL . GEN selbst.M . SG . GEN feindlich Herr zu nieszczęśliwy. unglücklich ‚Der Herr, sich selbst feind, war unglücklich.‘

usposobiony, eingestellt

był war

Für das Polnische bestätigt sich somit die oben (vgl. → B1.5.3.7) beobachtete Tendenz einer stärkeren Durchlässigkeit subsentential abgegrenzter Domänen für den Antezedens-Bezug auf das Satzsubjekt.

Die verschiedenen Typen satzartiger oder -ähnlicher Konstruktion lassen sich sprachübergreifend in folgender Hierarchie anordnen. Sie ist nach abnehmender Ausbildung einer eigenständigen Bindungsdomäne geordnet: indikativische Untersätze > konjunktivische Untersätze > IK bei Kontrollverben > AcI, kleine Klausel

B1.5.3.9 Reziproker Bezug Zunächst ist eine dreifache Unterscheidung zu treffen zwischen (i) Sprachen mit speziellen Reziprokpronomina, deren Distribution disjunkt ist mit der der Reflexivierer (kurz: ‚disjunktes Reziprokpronomen‘), (ii) Sprachen, die für den reziproken Bezug Reflexivierer oder ein Reziprokpronomen verwenden (kurz: ‚reziproker Reflexivierer oder Reziprokpronomen‘), und (iii) Sprachen, die ausschließlich die Reflexivierer zur reziproken Bezugnahme einsetzen (kurz: ‚reziproker Reflexivierer‘). Wir geben eine tabellarische Übersicht: Tab. 3: Reflexivierer und Reziprokpronomen in den Vergleichssprachen disjunktes Reziprokpronomen ENG

+

NDL

+

skand. Sprachen

+

UNG

+

reziproker Reflexivierer oder Reziprokpronomen

reziproker Reflexivierer

B1 Wortklassen

disjunktes Reziprokpronomen

reziproker Reflexivierer oder Reziprokpronomen

reziproker Reflexivierer

FRA

+

SPA, ITA

+

POL

(+)

DEU

+

665

+

Die Tabelle zeigt, dass in den Kontrastsprachen die Möglichkeit (ii) ‚reziproker Reflexivierer oder Reziprokpronomen‘ anders als im Deutschen nicht (eindeutig) belegt ist. Im Einzelnen zu Englisch, Niederländisch, Ungarisch, Französisch, Spanisch, Polnisch und Deutsch: Im Englischen werden die Reflexivpronomina nicht reziprok verwendet. Es existieren eigene, obligatorisch bei reziprokem Bezug zu verwendende reziproke Formen, und zwar die zusammengesetzten – graphisch als zwei Wortformen zu betrachtenden – each other und one another mit den Genitivformen each other’s, one another’s. Die präskriptive Norm, each other sei bei Bezug auf zwei Individuen zu gebrauchen, sonst one another, findet im Sprachgebrauch nach Quirk et al. (1985: 364) wenig Beachtung; es handle sich primär um einen stilistischen Unterschied zwischen informellem (each other) und formellerem Register (one another):  



(171) ENG

They hate each other / one another. ‚Sie hassen sich/einander.‘

(172) ENG

They read each other’s / one another’s books. ‚Sie lesen gegenseitig ihre Bücher.‘

(173) ENG

We take each other’s hand and start walking. ‚Wir nehmen einander bei der Hand und gehen los.‘ (BNC: A74)

Adnominale Konstruktionen wie in (172) und (173) sind üblicher als im Deutschen. each other kann wie das Reflexivum in infiniten Konstruktionen (AcI-Konstruktionen ohne und mit to) auch als Subjekt-Argument erscheinen und folgt dem Reflexivum analogen Bindungsregeln, wie in den folgenden Beispielen. (174) ENG

They let each other sleep. ,Sie lassen einander schlafen.‘

(175) ENG

The twins hated each other to be present all the time. ‚Die Zwillinge mochten es nicht, dass der (jeweils) andere immer dabei war.‘

666

B Wort und Wortklassen

Im Ungarischen ist der Gebrauch reziproker Formen ebenso wie der reflexiver durch die Konkurrenz mit den Medialverben (vgl. Zifonun 2003a: 63) beschränkt. Im Gegensatz zum Deutschen wird aber bei analytischer Konstruktion strikt zwischen reflexivem (maga) und reziprokem Bezug (egymás) getrennt. Wie DEU einander zeigt UNG egymás weder Person noch Numerus an; allerdings sind die Kasusflexive zu setzen: (176) UNG

Szerették egymást. REZP . AKK lieb.PRT . 3PL . DEF ‚Sie liebten sich/einander.‘

Der Ausschluss einer reziproken Verwendung der Reflexiva im Ungarischen wie im Englischen ist wohl dadurch zu erklären, dass diese auf dem Konzept ,selbst‘ (dem Intensifikator) beruhen, Reziprozität aber eben gerade nicht Selbstbezüglichkeit im engeren Sinne ist. Französisch generalisiert die Reflexivierer auch für reziproken Bezug: Wie im Deutschen können Reflexivierer als direktes oder indirektes Objekt bei entsprechendem Antezedens auch reziprok interpretiert werden; ein eigenes Reziprokpronomen existiert nicht. (177) FRA

Ils

s’

KL . 3PL . M

KL . REFL . 3

aident helf.3PL ‚Sie helfen sich/einander sehr.‘

beaucoup. sehr

Anders als im Deutschen ist im Passiv die reflexive Konstruktion (178a) trotz Subjektbezug – ebenso wie die mit dem klitischen Personalpronomen (178b) – ausgeschlossen:  



(178) a. *Ils se seront présentés (par l’ hôtesse). KL . 3PL . M KL . REFL . 3 werd.FFUT UT . 3PL vorgestellt von DEF Gastgeberin FRA ‚Sie werden einander/sich (gegenseitig) (durch die Gastgeberin) vorgestellt werden.‘ b. *Ils leur seront présentés (par l’ hôtesse). KL . 3PL . M KL . 3PL . DAT werd.F FUT UT . 3PL vorgestellt von DEF Gastgeberin ‚Sie werden ihnen (durch die Gastgeberin) vorgestellt werden.‘ Die reziproke Interpretation kann bei Verwendung von se durch den zusätzlichen Gebrauch von l’un l’autre (‚einander‘, wörtl: ‚der eine der andere‘) betont werden. Die Numerusunterscheidung – neben einer Genus- bzw. Sexusunterscheidung – bei diesem Zusatz (F . SG : l’une l’autre; M . PL : les uns les autres; F . PL : les unes les autres) stellt klar, ob Einzelindividuen, wie in (179a), oder Gruppen, wie in (179b, c), in der reziproken Beziehung stehen; diese Möglichkeit ist im Deutschen nicht gegeben (s. die  



B1 Wortklassen

667

einheitliche Übersetzung des Beispiels), hat aber Parallelen in anderen romanischen Sprachen. (179) a. Ils s’ admirent KL . 3PL . M KL . REFL . 3 bewunder.3PL FRA b. Ils s’ admirent KL . 3PL . M KL . REFL . 3 bewunder.3PL c. Elles s’ admirent KL . 3PL . F KL . REFL . 3 bewunder.3PL ‚Sie bewundern einander.‘ (180) FRA

l’un l’autre. einander.M . SG les uns les autres. einander.M . PL les unes les autres. einander.F . PL

Nous nous écrivons des lettres 1PL 1PL . OBJ schreib.1PL PART . PL Brief.PL les uns les autres / les uns aux DEF . PL ein.M . PL zu.DEF . PL einander.M . PL ‚Wir schreiben einander Briefe.‘

autres. ander.PL

Die Markierung von Reziprozität kommt ohne Reflexivierung vor, wenn der reziproke Ausdruck Präpositivkomplement ist, wie (181) bis (183), und in Passivkonstruktionen, wie (184); vgl. (178a, b). (181) FRA

Les

(182) FRA

Tout nous irrite l’un contre l’autre. alles 1PL . OBJ aufbring.3SG gegeneinander.M . SG ‚Alles bringt uns gegeneinander auf.‘

(183) FRA

(184) FRA

voisins parlent souvent Nachbar.PL sprech.3PL oft ‚Die Nachbarn sprechen oft übereinander.‘ DEF . PL

les uns des autres. übereinander.M . PL

Ils

sont jaloux l’un de l’autre. sind eifersüchtig voneinander.M . SG ‚Sie sind aufeinander eifersüchtig.‘

KL . 3PL . M

Ils

seront présentés les uns aux autres werd.FFUT UT . 3PL vorgestellt zueinander.M . PL (par l’ hôtesse). Gastgeberin von DEF ,Sie werden einander vorgestellt werden (durch die Gastgeberin).‘ KL . 3PL . M

Trotz dieser Möglichkeit können die Formen zu l’un l’autre nicht als Reziprokpronomina aufgefasst werden; eher handelt es sich um Zusätze, wobei der erste Teil (l’un etc.) appositiv auf das Subjekt bezogen ist, der zweite Teil (l’autre etc.) auf ein Reflexivum

668

B Wort und Wortklassen

bezogen sein, aber auch selbstständig eine Satzgliedfunktion haben kann. Eine Zuordnung zu Sprachengruppe (ii) (‚reziproker Reflexivierer oder Reziprokpronomen‘) bietet sich nicht an, weil die Vorkommen von Reziprokausdruck und Reflexivum sich nicht wechselseitig ausschließen. Auch das Polnische gebraucht das Reflexivum reziprok. (185) POL

Ci

chłopcy się nienawidzą. DEM . MPERS . PL Junge.PL KL . REFL hass.3PL ‚Diese Jungen hassen sich/einander.‘

(186) POL

Rozmawiają ze sobą. sprech.3PL mit REFL . INS ‚Sie sprechen miteinander.‘

Verdeutlichung der reziproken Lesart geschieht durch unveränderliches nawzajem ‚gegenseitig‘, das zusätzlich zum Reflexivum gesetzt wird, wie in (187a). Statt des reziprok interpretierten Reflexivums kann auch die Verbindung jeden drugiego (AKK ), jeden drugiemu (DAT ) ‚einer den/dem anderen‘ (usw. für die anderen Kasus von drugi) stehen, vgl. (187b). (187) a. Ci chłopcy się nawzajem nienawidzą. DEM . MPERS . PL Junge.PL KL . REFL gegenseitig hass.3PL POL ‚Diese Jungen hassen sich gegenseitig.‘ b. Ci chłopcy jeden drugiego nienawidzą. DEM . MPERS . PL Junge.PL ein.M . SG . NOM ander.M . SG . AKK hass.3PL ‚Die Jungen hassen einander.‘ (wörtlich: ,einer den anderen‘) Anders als in den romanischen Sprachen schließt dieser Reziprokausdruck die Setzung des Reflexivums aus. Die Zuordnung zu Sprachgruppe (ii) kann daher erwogen werden (siehe Tabelle 3); allerdings ist das Syntagma nicht zum Pronomen grammatikalisiert. Im Deutschen können Reflexivierer (bei Gruppenbezeichnung als Antezedens) auch reziprok interpretiert werden. Verdeutlichend können die Adjektive gegenseitig/ wechselseitig in Adverbialfunktion hinzutreten, wie in den folgenden Beispielen. (188)

Sie hassen sich (gegenseitig).

(189)

Wir sind uns (wechselseitig) spinnefeind.

Daneben wird bei reziprokem Bezug auf alle Personen das unveränderliche einander gebraucht; regiert von einer Präposition (außer unter) muss reziprok einander erscheinen; Präposition und einander bilden eine graphische Wortform.

B1 Wortklassen

(190)

Sie hassen einander.

(191)

Wir sind füreinander da.

(192)

Sie machen das untereinander/unter sich aus.

669

einander stimmt in den möglichen syntaktischen Funktionen (KA K K , KD A T und Teil einer PP mit entsprechender Rektion) mit sich überein. Auch der Antezedens-Bezug ist weitgehend analog. Präferiertes Antezedens ist wie bei sich das Satzsubjekt (wie in (193)). Bei Kookkurrenz von sich und einander können die Ausdrücke verbbedeutungsabhängig jeweils als direktes oder indirektes Objekt fungieren – dabei beide referentiell abhängig vom Subjekt, vgl. (194). Anders als sich schließt jedoch einander ein Antezedens im Dativ aus, s. (195), (196) – es sei denn, es ist wie in (197) Teil einer PP.  



(193)

dass die Leutei sichA K K i/einanderA K K i im Spiegel sehen.

(194) a. dass die Leutei sichA K K i einanderD A T i vorstellen (vorstellen im Sinne von ‚bekannt machen‘) b. dass die Leutei sichD A T i einanderA K K i vorstellen (vorstellen im Sinne von ‚imaginieren‘) (195) a. dass wir den Leuteni sichA K K i/*einanderA K K i im Spiegel zeigen b. dass wir die Leutei ??sichD A T i/einanderD A T i im Spiegel zeigen (196) a. dass wir den LeutenD A T i *sichA K K i/*einanderA K K i gegenüberstellen b. dass wir die LeuteA K K i sichD A T i/einanderD A T i gegenüberstellen (197)

Wir haben den Geschäftspartnerni zueinanderi geraten/verholfen.

Der Ausschluss eines Dativs als Antezedens für einander als KA K K war wohl der Anlass für eine Generalisierung auch auf das Reflexivum, wie sie vielfach vorgenommen wird (vgl. → B1.5.3.6). Warum einander sich – wie hier angenommen wird – anders als das Reflexivum verhält, muss unerklärt bleiben. Die auf die Ungrammatikalität von Beispielen wie (195a) zurückgehende Erklärung in Frey (1993: 113), dass generell einander mit einer Dativ-NP nicht kookkurrieren könne, muss wegen Fällen wie (194b), (197) zurückgewiesen werden.  



Adnominal sind, da keine Genitivform existiert, nur präpositionale Fügungen möglich; sie müssen das Subjekt des Satzes oder einen adnominalen Genitiv bzw. ein Possessivum als Antezedens haben; auch antezedenslose Verwendungen kommen wie beim Reflexivum in generischem Sinne vor. (198)

Sie verloren das Interesse aneinander.

(199)

Das Interesse der beiden aneinander ließ nach.

670

B Wort und Wortklassen

(200)

Diese Briefe bezeugen ihr Interesse aneinander.

(201)

Diese Briefe bezeugen das Interesse aneinander.

Die adnominale Konstruktion mit voneinander als Ersatz für einen Genitiv wird im Deutschen vorzugsweise nur bei relationalen Substantiven wie in Abschied/Abhängigkeit/Distanzierung voneinander gebraucht, in Possessorfunktion wird sie (anders als im Englischen) eher gemieden, vgl. (202). (202)

??Sie

lasen die Bücher voneinander.

In den bisher genannten Beispielen wird das Reflexivum referentiell (‚referentiellreziprok‘) verwendet. Die hier einschlägige Form des reziproken Rückbezugs impliziert semantisch, dass mindestens zwei Argumentstellen durch dieselbe Vielheit zu belegen sind und dass jedes Element der Vielheit zu jedem anderen Element der Vielheit in der fraglichen Beziehung steht (vgl. auch IDS-Grammatik 1997: 1364–1367). Im einfachsten Fall einer Koordination wie Hans und Fritz als Bezeichnung für die Vielheit kann der reziproke Bezug, also die im Sinne der Logik symmetrische Relation, dann wie folgt aufgelöst werden: (203)

Hans und Fritz hassen sich. ,Hans hasst Fritz und Fritz hasst Hans.‘

Diese Paraphrase zeigt, dass das Reflexivum hier einen Referenzbezug „über Kreuz“ zwischen den Elementen der Antezedens-Vielheit anzeigt. Die Referentialität der reziproken Verwendung von sich lässt erwarten, dass auch reziprokes sich stark verwendet werden kann. Dies ist jedoch nur eingeschränkt der Fall. So sind zwar Koordinationen möglich, vgl. (204), (205), Fokussierung durch Negation wie in (206) oder Fokuspartikel ist ohne Zusatz von gegenseitig nur markiert möglich. Im Vorfeld erscheinen als reziprok zu interpretierende PPs, kaum einfaches sich, wie in (207). Dagegen ist einander ohne Einschränkungen stark verwendbar, vgl. (208). (204)

Dabei hatten die Kultusminister der Länder sich und anderen immer wieder anerkennend bestätigt, wie gut ihre Schulen seien. (Die Zeit (Online-Ausgabe), 18.03.1999)

(205)

Und weil die weiter freie Menschen sind, machen sie auch unter sich und mit der ganzen Welt Geschäfte. (Frankfurter Allgemeine, 15.12.1990)

(206)

[…] denn gleich zwei Lupo-Kicker treten heute vor den Traualtar, Giuseppe Giandolfo und Edward Frick heiraten nicht sich gegenseitig, sondern getrennt. (Braunschweiger Zeitung, 12.02.2008)

B1 Wortklassen

671

(207)

Die erste Emigrationswelle nach Frankreich ging vor allem von der Kabylei aus. Unter sich sprechen unsere Männer Französisch. (die tageszeitung, 17.08.1998)

(208)

Zwei Cowboys lieben diesmal nicht einander, sondern dieselbe Frau. (die tageszeitung, 25.04.2006)

Neben der reziprok-referentiellen Verwendung gibt es eine nicht-referentielle Verwendungsweise des Reflexivums, die der reziproken insoweit ähnelt, als eine symmetrische Relation angezeigt wird. (209)

Karl prügelte sich gestern (wieder einmal).

Mit (209) wird etwa ausgesagt: ‚Es gibt mindestens ein Individuum x, so dass gestern Karl x prügelte und x Karl prügelte.‘  

Die referentiell-reflexive Lesart, bei der Karl sich selbst prügelt, ist somit nicht gemeint. Bei dieser von Kunze (1995, 1997) so genannten „symmetrischen Reflexivität“ drückt das Reflexivum keinen Referenzbezug aus: Das oder die anderen Elemente der Vielheit, mit dem oder denen Karl in der symmetrischen Prügel-Relation steht, werden ja überhaupt nicht benannt. Ein reziproker Rückbezug ist somit ausgeschlossen; dies erklärt auch, warum einander hier nicht möglich ist. Das oder die anderen Elemente der Vielheit können durch eine mit-Phrase benannt werden: (210)

Karl prügelte sich gestern mit Fritz.

Deutliches Unterscheidungsmerkmal gegenüber der referentiell-reziproken Verwendungsweise ist, dass bei symmetrischer Reflexivität das Antezedens ein Individuum bezeichnen kann. Ist das Antezedens eine Bezeichnung für eine Vielheit, so liegt eher eine referentiell-reziproke Interpretation nahe (211) – es sei denn, eine mit-Phrase ist vorhanden. So ist (211) präferiert referentiell-reziprok im Sinne von: ‚Karl und Fritz prügelten einander‘, (212) nur symmetrisch reflexiv zu interpretieren.  

(211)

Karl und Fritz prügelten sich.

(212)

Karl und Fritz prügelten sich mit ihren Rivalen.

672

B Wort und Wortklassen

Die dieser Verwendungsweise zugrunde liegenden Verben sind – anders etwa als gleichen, ähneln – nicht inhärent symmetrisch. Zu nennen sind neben prügeln z. B. treffen, beraten, verstehen, duzen, siezen, ablösen (Kunze 1997: 114). Diese Verben fordern ihrer lexikalischen Grundausstattung zufolge ein Akkusativkomplement (jemanden prügeln/treffen usw.). Die Belegung der KAKK A KK -Stelle durch das Reflexivum als Marker einer Symmetrisierung der Relation verändert den Valenzrahmen durch ein fakultatives Präpositivkomplement mit der Präposition mit.  





Andere Verben wie sich mit jemandem vertragen/duellieren/überwerfen/streiten/zanken/einigen haben eine vergleichbare syntaktisch-semantische Struktur; jedoch gehen sie nicht auf eine bedeutungsverwandte transitive Basis zurück.

B1.5.4 Possessivpronomina B1.5.4.1 Funktionale und typologische Charakterisierung Als funktionale Domäne der Possessivpronomina scheint sich die semantische Relation des ‚Besitzes‘ oder der ‚Zugehörigkeit‘ anzubieten. Bereits bezogen auf eine einzelne Sprache, noch mehr im interlingualen Vergleich zeigt sich aber, dass die Possessiva ein sehr viel breiteres Gebrauchsspektrum haben, als bei dieser Festlegung zu erwarten ist, dass sie insbesondere auch dort verwendet werden, wo selbst bei großzügiger und wohlwollender Interpretation das Konzept ‚Zugehörigkeit‘ nicht mehr greift, etwa wenn im Deutschen von seine Demütigung, sein Erröten die Rede ist. Possessiva können also schwerlich durch eine eigene, ihnen inhärente referenzsemantisch interpretierte, relationale Bedeutung gefasst werden. In der Sprachtypologie wird daher in neueren Arbeiten (vgl. insbesondere Koptjevskaja-Tamm 2002, 2003b) auf eine Funktionsbestimmung (für Possessiva und die mit ihnen in paradigmatischer Relation stehenden phrasalen Ausdrücke) abgehoben, die a) die Funktion dieser Ausdrücke für die Eingrenzung des Denotats des (artikulierten oder zu erschließenden) Kopfsubstantivs herausstellt und b) auf die Vorgabe einer inhärenten relationalen Bedeutung zugunsten von aus dem sprachlichen Kontext oder aus dem Wissen induzierter Relationalität verzichtet. Die Funktion von Possessiva für die Gesamt-NP ist somit als ‚referentielle Verankerung‘ bei nicht-valenzgebundenen Stellen bzw. als ,referentielle Argumentsättigung‘ bei valenzgebundenen Stellen zu identifizieren. Sie teilen diese Funktion mit den possessiven NPs/PPs, mit denen sie in paradigmatischer Relation stehen, die sie also gemäß dem ‚Substitutionstest‘ im Sinne phorischer Wiederaufnahme ersetzen können (→ D3 und → B1.5.4.2), man vergleiche etwa die Beispiele Fahrrad meiner Enkelin – ihr Fahrrad, Vorbild des Schülers – sein Vorbild, Mutter von Hans – seine Mutter. Der Begriff des (ggf. modifikativ erweiterten) Kopfsubstantivs wird dabei in Relation gesetzt zu einer außersprachlichen Entität oder einer entsprechenden Gruppe von Referenzobjekten. Dabei wird diese Beziehung nicht ausbuchstabiert, sie muss sich von selbst ergeben. Durch die relational selbstverständliche Rückbindung an  





B1 Wortklassen

673

einen Referenten, der den Begriff absättigt, bzw. einen Referenten als ‚Anker‘ erhält der begriffliche Kern sozusagen einen „Sitz im (realen oder fiktiven) Leben“, man hat Anhaltspunkte dafür, wie ein Referent der Gesamt-NP gegebenenfalls zu identifizieren wäre. (Dies bedeutet aber nicht, dass die Gesamt-NP selbst referentiell gebraucht werden muss; man denke etwa an Verwendungen wie in Er wäre gerne das Vorbild des Schülers Karl / sein Vorbild, in denen referentielle Verankerung durch die possessive NP bzw. das Possessivum vorliegt, die Gesamt-NP aber nicht referentiell gebraucht ist.) Die kontextuelle Induktion einer Relation schließt im Falle eines nicht-valenzgebundenen Status, auf den wir uns zunächst konzentrieren, aus, dass bezüglich des Ankers eine spezifische, etwa lokale, finale, instrumentale usw. Relation artikuliert ist (wie etwa in Tisch neben mir, Geschenk für mich, Schnitt mit einem scharfen Messer). Vielmehr liegt bei den Possessiva ebenso wie bei den NP/PP, die sie substituieren können, non-spezifische modifikative Relationalität vor. Possessivpronomina wie DEU mein, ITA (il) mio unterscheiden sich von nominalen ‚Verankerern‘, insofern als sie bereits lexikalisch relational sind und eine Beziehung zu einem ‚Anker‘ (Individuum oder Vielheit) ausdrücken. Die Bezugnahme auf ein Individuum/eine Gruppe (in Entsprechung zum Denotat der Personalpronomina) ist in die relationale Bedeutung inkorporiert, womit die Relation bezüglich einer ihrer beiden Leerstellen bereits abgesättigt ist. Was aber dieses inkorporierte Argument, diesen im Possessivum festgeschriebenen Bezug angeht, sind die Possessiva besonders „gute“ Anker. Wie die Personalpronomina selbst definit sind – die Kommunikantenpronomina beziehen sich im Singular auf den jeweils nur durch ein Individuum verkörperten Sprecher/Adressaten und im Plural auf die im jeweiligen Kontext salienteste Gruppe unter Einschluss von Sprecher/Adressat, das anaphorische Pronomen kann als pronominale Entsprechung des definiten Artikels gelten (vgl. Lyons 1999: 26 f.) – sind auch die auf ihnen aufbauenden Possessiva in Bezug auf den mitbezeichneten Anker definit. Die spezifische Interpretation dieser lexikalisch inhärenten Relationalität wird aus Kontext oder Wissen abgeleitet, ist also Sache von Äußerungsbedeutungen. Allerdings basiert wie bei den entsprechenden NP/PP-Attributen die Interpretation auf der ‚semantischen Landkarte der Possession‘ unter Einschluss der ArgumentFunktionen (→ D3.2.1). In diesem Sinne entspricht der ‚referentielle Anker‘ dem ‚Possessor‘, das Verankerte dem ‚Possessum‘. Wo keine Missverständnisse möglich sind, sprechen wir daher auch weiterhin von ‚Possessor‘ und ‚Possessum‘, wenn wir die Relata meinen. Ebenso werden wir, wenn der Kontext dies nahe legt, auch von ‚Zugehörigkeit‘ anstelle von ‚referentieller Verankerung‘ sprechen. Auf dieser Basis soll nun die semantische Interpretation der Possessiva skizziert werden: Possessivpronomina drücken die referentielle Verankerung / referentielle Sättigung eines beliebigen durch das Kopfnomen N bzw. einen bereits modifizierten NOM-Ausdruck bezeichneten Begriffs N (des Possessum-Begriffs) durch den Sprecher, Hörer oder den besprochenen Gegenstand (den Possessor) bzw. die entsprechenden  





674

B Wort und Wortklassen

Gruppen aus. Kein notwendiger Bestandteil der Bedeutung von Possessiva ist die Anzeige der Definitheit des Possessums. Zwar sind Possessiva häufig mit einer solchen Definitheitsinduzierung auf die Gesamt-NP verbunden, aber z. B. für das Italienische und andere Sprachen gilt das nicht. Bei der allgemeinen Festlegung der funktionalen Domäne von Possessiva muss dieser Aspekt daher fakultativ bleiben; er kommt nur in bestimmten Sprachen zur Anwendung und konstituiert somit einen Parameter der Varianz. Was den (interlingual konstanten) relationalen Teil der Bedeutung von Possessiva angeht, so ist er fassbar als intersektive Verknüpfung zwischen der Extension von N und der Extension der Qualität ‚in verankernder/sättigender Relation zu einem personalpronominalen Possessor stehend/einem personalpronominalen Possessor zugehörig‘: z. B. ITA mia bicicletta ,Fahrrad, das in Relation zum Sprecher steht/dem Sprecher zugehörig ist‘. Es liegt also die semantische Struktur der ,qualitativen Modifikation‘ vor, wie sie bei Adjektiven im prototypischen Fall gegeben ist (→ A4.1.2). Wie jede Verbindung aus Adjektiv und individuativem Substantiv muss mia bicicletta durch ein Determinativ zur NP komplettiert werden, üblicherweise den definiten, markiert auch den indefiniten Artikel wie in (1):  



(1) ITA DEU

Abbiamo comprato (delle) nuove biciclette. La mia / Una mia è verde. Wir haben neue Fahrräder gekauft. Meines / Eines von meinen ist grün.

Bei der selbstständigen Verwendung wie in (1) ist bei der Interpretation eines Possessivums wie ITA mia bzw. DEU meines ein im Kontext genannter N- oder NOM-Ausdruck heranzuziehen. Das selbstständige Possessivum erfordert die Abbildung des von N/NOM ausgedrückten Begriffs N auf einen modifizierten Begriff N', so dass für alle x aus der Extension von N' gilt: x ist Element der Extension von N und x ist durch diejenige Person referentiell verankert/ gesättigt, die in dem gegebenen Kontext Sprecher ist (und x ist das einzige Element der Extension von N, das zu dem Sprecher in dieser Relation steht). [x ist dabei das ‚Verankerte/Possessum‘, der Sprecher der ‚referentielle Anker/Possessor‘]

Possessiva werden also im Prinzip in einem ersten Schritt als extensionale bzw. intersektive Modifikatoren (zur Intersektivität vgl. IDS-Grammatik 1997: 2000, → A4.1.2) interpretiert: mein Fahrrad ‚Menge der Individuen, auf die das Prädikat ‚Fahrrad‘ zutrifft und die dem Sprecher zugehörig sind‘. Die Interpretation im Sinne eines definiten Identifikators kommt nur durch den Ausdruck in der Klammer zustande. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass Possessiva nicht sprachübergreifend Definitheit induzieren müssen (vgl. → B1.5.4.8). Bei Possessiva, die sprachabhängig den Status als definites Determinativ haben, ist dann von einem semantischen Hybrid auszugehen, das die modifikative Bedeutung ‚Verankerung/Sättigung‘ und die identifikatorische Bedeutung ‚Definitheit‘ im Verbund realisiert.

B1 Wortklassen

675

Mit den entsprechenden Modifikationen gilt diese Interpretation für das Possessivpronomen der beiden anderen Personen und die Pluralparadigmen (zur genaueren Definition vgl. Zifonun 2005a: 10 f.). Die Bedeutung der Possessivpronomina umfasst also eine Relation der referentiellen Sättigung bzw. Verankerung, die in einem gegebenen Kontext inhaltlich spezifiziert werden kann, und eine deiktische oder phorische Komponente, die der der Personalpronomina entspricht. Selbstständige und adnominale Possessiva unterscheiden sich nicht, was die kodierte Relation und die phorisch-deiktische personalpronominale Komponente angeht, sondern im syntaktischen und semantischen Zugriff auf das Argument, das dem Possessum(-Begriff) entspricht. Das selbstständige Possessivum hat das Possessum als Extension; der nominale Begriff, der zu dessen Charakterisierung dient, z. B. ‚Fahrrad‘, muss kontextuell gewonnen werden. Bei adnominalem Possessivum hat die NP, deren Kopfsubstantiv das Possessivum zugeordnet ist, das Possessum als Extension; der entsprechende Begriff wird durch das (ggf. erweiterte) Kopfsubstantiv bezeichnet:  



Semantische Erörterungen (wie etwa in → B1.5.4.2), die sich auf die Herleitung der Relation zwischen Anker und Verankertem beziehen, können daher die Unterscheidung zwischen selbstständigen und adnominalen Possessiva außer Acht lassen. Kontextuelle Induktion einer Relation kann, wie bereits angedeutet, auch bedeuten, dass die Relationalität des Kopfsubstantivs selbst genutzt wird: In vielen Sprachen können auch reine Argumentrelationen durch Possessiva ausgedrückt werden; sie entsprechen dann z. B. einem Genitivus subiectivus oder obiectivus: mein Aufstieg – meine Beförderung. Den in den Vergleichssprachen usuellen Spielraum der einschlägigen Relationen behandeln wir mit dem Parameter ‚Semantische Rollen des Possessivums im Verhältnis zu possessiven Attributen mit substantivischem Kern‘. Auch die Beschreibung der linearen Position adnominaler Possessiva erfolgt im Vergleich mit den ausgebauten possessiven Attributen. Bei den Possessiva ist die Tendenz zu pränominaler Position in den Vergleichssprachen (noch) stärker ausgeprägt als bei den possessiven NP/PP-Attributen, man vergleiche etwa FRA le chien de mon ami – son chien, DEU der Hund meines Freundes – sein Hund. Hier ist im Rahmen des Parameters ‚Lineare Position adnominaler Possessiva im Verhältnis zu possessiven Attributen mit substantivischem Kern‘ der Einfluss der Definitheitshierarchie zu beobachten.  







676

B Wort und Wortklassen

Die deiktische bzw. phorische Komponente der Bedeutung lässt erwarten, dass die Possessiva die Grammatikalisierung der attributiven Form der Personalpronomina darstellen. In der Tat können Formen wie ENG his, DÄN hans als Genitiv- bzw. Possessivusformen dem Paradigma des Personalpronomens zugerechnet werden. Anders jedoch verhält es sich, wenn die Possessiva selbst Flexionsparadigmen ausbilden, die Kongruenz mit einem Bezugswort ermöglichen wie etwa im Deutschen, in romanischen oder slawischen Sprachen. Wir erfassen dies mit dem Parameter ‚Flexionsform des Personalpronomens oder eigene Wortklasse‘. Von Possessivpronomina bzw. -determinativen (als adnominalen Pendants) sprechen wir nur, wenn es sich um freie Wortformen handelt wie im Englischen, Deutschen usw. Die oben skizzierte Bedeutung (Zugehörigkeit zu einem in Korrespondenz zu den Personalpronomina differenzierten Träger) kann aber auch als Affix repräsentiert sein wie etwa im Ungarischen oder Türkischen. In einer Sprache wie dem Neupersischen koexistieren attributive Formen der Personalpronomina und Suffixe: pedar-e-man (‚Vater-von-1SG ‘) – pedar-am (‚Vater-POSS . 1SG ‘). Wir beziehen die affixale Ausdrucksmöglichkeit bei der Kontrastierung durch den Parameter ‚freie Form oder Affix‘ ein, sprechen dann aber nicht von ‚Pronomina‘, sondern von ‚Possessoraffixen‘. Dabei wird auch die übergreifende Unterscheidung zwischen Dependensmarkierung (dependent-marking) und Kopfmarkierung (head-marking) bei Possessor-Konstruktionen angesprochen. Handelt es sich um freie Morphem(komplex)e, so können, wie etwa im Polnischen, selbstständige und adnominale Form im Possessivpronomen zusammenfallen. Im Deutschen wie in anderen Sprachen unterscheiden sich die selbstständigen Possessiva, die eigentlichen Possessivpronomina, jedoch auch in der morphologischen Form von den adnominalen Ausprägungen: meiner versus mein Hut. Wir gehen dieser Frage mit dem Parameter ‚selbstständige und adnominale Form‘ nach. Wie aufgrund ihres Bezugs auf die Personalpronomina zu erwarten, verfügen die Possessiva über possessorbezogene Person- und Numeruskategorien (1. Person: mein (er)/unser(er); 2. Person dein(er)/euer, eurer usw.). Die Genuskategorie eines Possessorausdrucks wird nicht in allen Sprachen abgebildet: vgl. DEU Er/Sie trug einen Hut – Sein Hut/Ihr Hut war grün mit FRA Il/Elle portait un chapeau – Son chapeau était vert. Die Abstimmung auf die Genus- und Numeruskategorien des Possessumausdrucks ist ebenfalls sprachabhängig (sein Hut/seine Frau/seine Kinder – son chapeau/sa femme/ ses enfants). Der entsprechende Parameter lautet ‚Person-, Numerus- und Genuskategorien‘. Zwischen Possessiva und Definitheit der NP besteht, wie bereits angedeutet, ein enger Zusammenhang. Bezüglich des Possessors sind sie notwendigerweise definit (‚possessor-definit‘), nicht jedoch bezüglich des durch die Gesamt-NP bezeichneten Possessums. Im Deutschen wie unter anderem im Englischen und Französischen induziert die adnominale Verwendung allerdings Definitheit der NP (mein Buch/meine Bücher); auch in selbstständiger Verwendung sind Possessiva hier bezüglich des Possessums definit: meine ,die mir zugehörigen Dinge‘, nicht: ,irgendwelche mir  







B1 Wortklassen

677

zugehörigen Dinge‘; wir können hier von ,possessum-definiten‘ Pronomina sprechen. Dies ist jedoch nicht notwendigerweise der Fall. Vielmehr ist zu unterscheiden zwischen Sprachen mit ‚definitheitsinduzierenden‘ Possessiva und solchen mit ‚definitheitsunspezifischen‘ Possessiva. Zur letzteren Sprachgruppe gehören im europäischen Raum u. a. das Italienische und das Neugriechische. Insbesondere bei Sprachen mit definitheitsunspezifischen Possessiva treten auch im europäischen Rahmen „Possessionsspaltungen“ (possession splits, Stolz et al. 2008; Stolz 2012) auf. So wird etwa im Italienischen bei Verwandtschaftsbezeichnungen als Possessumausdruck zu einer artikellosen Konstruktion übergegangen. Wir sprechen von einer Konstruktions-Spaltung, hier in der Form der ‚Alienabilitäts-Spaltung‘. Der entsprechende Parameter lautet: ‚Possessiva und Definitheit der NP, Konstruktions-Spaltungen‘. Wichtigster syntaktischer Parameter ist die ‚Berücksichtigung von Reflexivität‘. Außer im Polnischen (und anderen slawischen Sprachen) gilt sprachübergreifend, dass, wenn überhaupt, nur bei den Possessiva der 3. Person zwischen ‚reflexiver‘ und ‚nicht-reflexiver‘ Zugehörigkeit unterschieden wird. Reflexive Zugehörigkeit meint Zugehörigkeit zum Denotat eines Ausdrucks, der als Antezedens innerhalb einer lokalen Domäne zum Possessivum fungiert. Außer in den slawischen Sprachen existiert diese Unterscheidung auch im Lateinischen, Albanischen und den skandinavischen Sprachen, während sie in anderen Sprachen (andere germanische Sprachen, romanische Sprachen, Ungarisch) neutralisiert ist. Adnominale Possessiva stellen eine Form der Konstruktionen mit „internem Possessor“ (König/Haspelmath 1998: 525) dar. Hier wird die Relation zwischen Possessum und Possessor innerhalb eines nominalen Syntagmas ausgedrückt. Neben adnominalen Possessiva drücken possessive Genitive oder attributive Präpositionalphrasen dabei den Possessor aus. Im Ungarischen wird der interne Possessor im Nominativ oder, seltener und unter bestimmten kontextuellen Bedingungen, im Dativ kodiert. Daneben gibt es in vielen europäischen Sprachen Konstruktionen mit „externem Possessor“ (König/Haspelmath 1998; König 2001a). Hier wird der Possessor durch ein eigenes Syntagma repräsentiert, das der Possessum-Konstituente nebengeordnet ist. Einem Possessivum als ‚interner‘ entspricht ein Personalpronomen als ‚externer Possessor‘. Man vergleiche Konstruktionen mit internem Possessor wie (2) und (3), mit Konstruktion mit externem Possessor wie (4) und (5).  

(2) DEU ENG FRA

Ich habe meine Bücher verbrannt. I burnt my books. J’ai brûlé mes livres.

(3) DEU ENG FRA

Ich habe meine Haare verbrannt. I burnt my hair. J’ai brûlé mes cheveux.

678

B Wort und Wortklassen

(4) DEU ENG FRA

*Ich habe mir die Bücher verbrannt. *I burnt me the books. *Je me suis brûlé les livres.

(5) DEU ENG FRA

Ich habe mir die Haare verbrannt. *I burnt me the hair. Je me suis brûlé les cheveux.

Wie die Beispiele zeigen, ist das Verwendungsspektrum der Konstruktionen mit externem Possessor gegenüber denen mit internem Possessor eingeschränkt: Es muss eine enge Zugehörigkeitsrelation vorliegen, meist handelt es sich dabei um die inalienable Relation zwischen Person und Körperteil (vgl. ungrammatisches (4) in allen Sprachen gegenüber grammatischem (5) im Deutschen und Französischen). Außerdem muss der Possessor von dem am Possessum vollzogenen Geschehen in besonderer Weise betroffen sein. In Frage kommen daher insbesondere physische Prozesse oder Handlungen als Verbdenotate. Die Konstruktion mit externem Possessor kann als kennzeichnend für den europäischen Sprachbund betrachtet werden (vgl. König 2001a). Sie ist jedoch in einigen Sprachen an den westlichen und östlichen Rändern des Sprachraums nicht oder nur rudimentär vertreten, in den keltischen Sprachen, im Englischen (vgl. ungrammatisches (5) im Englischen), Niederländischen und Türkischen. Hier wird entsprechend mit internem Possessor konstruiert. Allerdings kommen – entgegen dieser Generalisierung – auch im Englischen Konstruktionen mit externem Possessor vielfach vor, wie etwa in ENG She took a breath und looked me directly in the eye ,Sie holte Atem und schaute mir direkt in die Augen‘ (J. Franzen, Purity). Zur Frage externer Possessoren im Ungarischen vgl. auch → D3.5. Zu beachten ist, dass Konstruktionen mit externem Possessor die pleonastische Setzung des adnominalen Possessivums tendenziell ausschließen (vgl. (5ʼ)). Der Possessumausdruck wird in der Regel mit dem bestimmten Artikel kombiniert, wie in (5).  





(5ʼ)

??Ich

habe mir meine Haare verbrannt.

In den Sprachen, in denen Konstruktionen mit internem und externem Possessor konkurrieren, lassen die Konstruktionen mit internem Possessor die von der Konkurrenzkonstruktion abgedeckte spezifische Interpretation kaum zu. So wird Beispiel (3) im Deutschen und Französischen präferiert interpretiert als: ‚Ich habe mein Haar, das bereits abgeschnitten und somit kein Körperteil mehr war, verbrannt.‘

B1 Wortklassen

679

Es sind insgesamt folgende Varianzparameter festzuhalten: 1.

Semantische Rollen für Possessiva im Verhältnis zu possessiven Attributen mit substantivischem Kern, 2. Lineare Position adnominaler Possessiva im Verhältnis zu possessiven Attributen mit substantivischem Kern, 3. Flexionsform des Personalpronomens oder eigene Wortklasse, 4. freie Form oder Affix: dependent-marking versus head-marking, 5. selbstständige und adnominale Form: Wortklassenzugehörigkeit, 6. Person-, Numerus- und Genuskategorien, 7. Possessiva und Definitheit der NP, Konstruktions-Spaltungen, 8. Berücksichtigung von Reflexivität.

B1.5.4.2 Semantische Rollen für Possessiva im Verhältnis zu possessiven Attributen mit substantivischem Kopf Der Umfang der möglichen semantischen Rollen für Possessiva ist identisch mit dem Umfang der möglichen semantischen Rollen für referentielle possessive Attribute. Dies ergibt sich daraus, dass der so genannte ‚Substitutionstest‘, also die Frage nach der Substituierbarkeit eines possessiven Attributs durch ein adnominales Possessivum zusammen mit dem Pronominalisierungstest (→ D3.3) als eine der beiden Diagnostiken für ‚referentielle Verankerung/Sättigung‘ dient. Wir stellen die ermittelten semantischen Rollen hier kurz zusammen: 1. 2.

POSSESSION Prototyp alienabel (Eigentümer zu Possessum): das Auto meines Sohnes

POSSESSION Prototyp inalienabel (Possessor zu Körperteil/verwandtem Lebewesen (= Possessum)): Peters Kopf, Peters Mutter 3. POSSESSION Urheber (Urheber zu Produkt (= Possessum)): die Geschichte des Mädchens 4. POSSESSION temporär (temporärer Possessor zu temporärem Possessum): Peters Bar 5. POSSESSION Teil-Ganzes (Ganzes zu Teil): die Tür des Schranks 6. POSSESSION Urbild (Urbild zu Abbild): das Foto von Peter 7. POSSESSION lokal/temporal (lokaler/temporaler Anker zu Possessum): die Weine Frankreichs, die Ereignisse des Tages 8. POSSESSION Eigenschaft/Zustand (Eigenschaftsträger/Zustandsträger zu Eigenschaft/Zustand): Peters Mut, die Glätte des Eises 9. SUBJEKT - ARGUMENT AGENS / EXPERIENS (AGENS / EXPERIENS zu Handlung/Empfindung): die Ankunft der Gäste, Peters Liebe 10. OBJEKT - ARGUMENT THEMA , affiziert (affiziertes Thema zu Handlung): die Zerstörung der Stadt  



680

B Wort und Wortklassen

11.

OBJEKT - ARGUMENT THEMA , nicht-affiziert (nicht-affiziertes Thema zu Handlung): das Meiden des Cliffs STIMUL IMULUS US (Auslöser/Stimulus zu Empfindung): ENG the love of 12. OBJEKT - ARGUMENT ST Eve

In allen Vergleichssprachen umfasst die im jeweiligen Äußerungskontext für Possessiva induzierte semantische Relation sowohl die gemäß der semantischen Landkarte der Possession möglichen Ausprägungen der Possessorrelation als auch reine Argumentrelationen (vgl. (9)–(12)). Diese liegen insbesondere dann vor, wenn das (ggf. kontextuell zu erschließende) (Kopf-)Substantiv N ein deverbales oder deadjektivisches Abstraktum ist, das als Prädikatsausdruck entsprechende Argumentstellen eröffnet. Die mit Typ 8 identifizierte Rolle changiert zwischen Possessorrelation und Argumentstatus. Man vergleiche für unsere Vergleichssprachen die folgenden Beispiele – im adnominalen Gebrauch in (6), im selbstständigen Gebrauch in (7):  

(6) DEU ENG FRA POL UNG (7) DEU ENG FRA POL UNG

sein Sieg, ihre Befreiung, unsere Freundlichkeit his victory, her liberation, our friendliness sa victoire, sa libération, notre amabilité jego zwycięstwo, jej uwolnienie, nasza uprzejmość (ő / az ő) győzelme, (ő / az ő) kiszabadítása, (a) kedvességünk

Sein Sieg war großartig. Unserer im letzten Jahr war weniger überzeugend. His victory was great. Ours last year was less convincing. Sa victoire était formidable. La nôtre, l’année dernière, était moins convaincante. Jego zwycięstwo było wspaniałe. Nasze w zeszłym roku było mniej przekonywujące. Az ő győzelme nagyszerű volt. A miénk múlt évben kevésbé meggyőző volt.

Wir geben nun eine tabellarische Übersicht für diese 12 semantischen Rollen in allen Kern-Vergleichssprachen. Wir geben jeweils Belegungen durch ein possessives NP/ PP-Attribut und ein Possessivum an. Ebenfalls in die Tabelle aufgenommen sind die Typen in unseren Vergleichssprachen belegter possessiver Attribute, die zwar Modifikatoren sind, aber nicht referentiell (vgl. (1)–(3)), oder die in die funktionale Domäne der nominalen Quantifikation (vgl. (4)–(5)) fallen. Hier ist, dies zeigen die Übersichten, keine Substituierbarkeit durch das Possessivum gegeben. Es zeigt sich außerdem, dass nicht alle Vergleichssprachen hier von possessiven PPs/NPs überhaupt Gebrauch machen. Es handelt sich um die folgenden Typen, bei denen wir auch besonders saliente Subtypen nennen:

B1 Wortklassen

681

1.

QUAL ITATIVE MODIF QUALITATIVE MODIFIKATION IKAT ION (Eigenschaft zu Eigenschaftsträger): ein Mann von Ehre, ein Unglück großen Ausmaßes QUAL ITATIVE MODIFIKATION mensurativ (quantitativ bestimmte Eigenschaft zu Ei2. QUALITATIVE genschaftsträger): eine Abwesenheit von zwei Tagen MODIFIKAT IKATION ION (differenzierender Begriff zu Oberbegriff): DEU 3. KLASSIFIKATORISCHE MODIF das Laster der Trunksucht, der Monat Mai, ENG a woman’s college NOMINAL E QUANTIFIKATION partitiv (Substanz/Vielheit zu Quantitätsangabe): zwei 4. NOMINALE Glas von diesem Tee, ein Teil dieser Leute NOMINAL E QUANTIFIKATION pseudo-partitiv (Substanz-/Vielheit-Begriff zu Quanti5. NOMINALE tätsangabe): zwei Glas heißer Milch, eine Gruppe junger Leute, eine Ansammlung von Menschen

Bei der folgenden tabellarischen Übersicht ab Seite 682 wurde wie folgt verfahren: Aufgenommen wurden alle 17 Funktionen: Die Funktionen, die nicht unter referentielle Modifikation fallen, sind grau unterlegt. Nicht aufgenommen wurden zwei marginale Verwendungsweisen possessiver Attribute, die ebenfalls nicht referentiell sind und nicht durch ein Possessivum vertreten werden können: die ‚reversive Qualitativ-Relation‘ (wie in Er ist ein Schurke von einem Wirt / ein Baum von einem Mann) und die ‚superlativische Modifikation‘ (wie in Es war die Schlacht der Schlachten). Man vergleiche zu beiden → D3.11.2.2. Die Beispiele, Übersetzungsäquivalente in den Vergleichssprachen, enthalten in mindestens einer der Vergleichssprachen ein possessives Attribut (adnominaler Genitiv/Nominativ bzw. PP mit einer formalen Präposition) oder auch zwei alternative possessive Attribute. Ziel der Kontrastierung ist es zu zeigen, bei welchen Funktionen in welchen Sprachen Substitution durch ein Possessivum möglich ist. Als Seiteneffekt wird daneben deutlich, inwieweit die Vergleichssprachen in der Repräsentation der Funktionen differieren. Bei der Auswertung der Tabellen steht die Frage der Pronominalisierbarkeit durch das Possessivum im Vordergrund. Die Frage nach den Unterschieden in der Abdeckung von Funktionen durch possessive Attribute wird als sekundärer Gesichtspunkt einbezogen. Bei nicht-referentieller oder nicht-modifikativer Funktion sind possessive Attribute erwartungsgemäß im Allgemeinen nicht durch das Possessivum pronominalisierbar. Eine Ausnahme stellt die (pseudo-)partitive nominale Quantifikation dar. Hier plädieren die Informanten zum Polnischen und Englischen teilweise für Substituierbarkeit. Es ist jedoch zu vermuten, dass hier eine Interferenz mit einer POSSESSOR -Rolle vorliegt: Auch im Deutschen kann, wenn von einer Gruppe junger Leute die Rede ist, im Folgetext ihre Gruppe gesagt werden. Dann wird jedoch auf Gruppenzugehörigkeit abgehoben, nicht auf eine (pseudo-)partitive Beziehung. Die Übersicht zeigt darüber hinaus auch, dass bei nicht-referentieller/nicht-modifikativer Attribution die interlinguale Varianz groß ist (→ A4.1, → A4.2) und eine pos 

682

B Wort und Wortklassen

Tab. 1 a (1): Substitution von NP/PP durch das Possessivum Deutsch/Englisch/Französisch  

Deutsch possessive NP/PP

Englisch Possessivum possessive NP/PP

Französisch Possessivum possessive NP/PP

Possessivum

(1) POSSESSION Prototyp alienabel

Peters Auto sein Auto das Auto meines Sohnes

(2) POSSESSION Prototyp inalienabel

Peters Kopf sein Kopf Peter’s head his head Peters Mutter seine Mutter Peter’s mo- his mother ther

la tête de Pierre la mère de Pierre

sa tête sa mère

(3) POSSESSION Urheber

die Geseine Geschichte des schichte Mädchens

the girl’s story

her story

l’histoire de la jeune fille

son histoire

(4) POSSESSION temporär

Peters Bar

seine Bar

Peter’s bar

his bar

le bar de Pierre

son bar

(5) POSSESSION Teil-Ganzes

die Tür des Schranks

seine Tür

the door of its door the wardrobe

la porte de l’armoire

#

(6) POSSESSION Urbild

?#

Peters Fo- ?#sein Photo to / das Foto sein Standvon Peter bild das Standbild des Fürsten

?# the photohis photograph of graph Peter / his statue # Peter’s photograph the statue of the prince / #the prince’s statue

la photo de Pierre la statue du prince

sa photo sa statue

(7) POSSESSION lokal/ temporal

die Weine seine Weine, the wines Frankreichs, seine Ereig- of France / ? France’s die Ereignis- nisse wines, the se des Tages events of the day



(8) POSSES- Peters Mut, SION die Glätte Eigenschaft/ des Eises Zustand

sein Mut, seine Glätte

Peter’s car / his car *the car of Peter my son’s car / *the car of my son

Peter’s courage, the smoothness of the ice

la voiture de sa voiture Pierre la voiture de son fils

sa porte

its wines, its les vins de events France, les événements du jour

ses vins, ses événements

his courage, le courage its smooth- de Pierre, ness le caractère lisse de la glace

son courage, son caractère lisse

B1 Wortklassen

Tab. 1 a (2): Substitution von NP/PP durch das Possessivum Polnisch/Ungarisch  

Polnisch

Ungarisch

possessive NP/PP Possessivum

possessive NP/PP Possessivum

(1) POSSESSION samochód Piotra jego samochód Prototyp alienabel samochód mojego syna

Péter autója (a) fiam autója

(az) autója

(2) POSSESSION Prototyp inalienabel

głowa Piotra matka Piotra

Péter feje Péter anyja

(a) feje (az) anyja

(3) POSSESSION Urheber

historia dziewczyny jej historia

a lány története

(a) története

(4) POSSESSION temporär

bar Piotra

jego bar

Péter bárja

(a) bárja

(5) POSSESSION Teil-Ganzes

drzwi szafy

jej drzwi

a szekrény ajtaja

(az) ajtaja

(6) POSSESSION Urbild

zdjęcie Piotra posąg księcia

jego zdjęcie jego posąg

Péter fényképe a herceg szobra

(a) fényképe (a) szobra

(7) POSSESSION lokal/temporal

wina Francji

jej wina

Franciaország borai

(a) borai

(8) POSSESSION Eigenschaft/Zustand

odwaga Piotra gładkość lodu

jego odwaga jego gładkość

Péter bátorsága a jég simasága

(a) bátorsága (a) simasága

jego głowa jego matka

683

684

B Wort und Wortklassen

Tab. 1 b (1): Substitution von NP/PP durch das Possessivum Deutsch/Englisch/Französisch  

Deutsch possessive NP/PP (9) SUBJEKTARGUMENT Agens/ Experiens

Englisch Possessivum possessive NP/PP

die Ankunft ihre Ankunft der Gäste seine Liebe, Peters Liebe, ihre Furcht die Furcht der Gegner

the guestsʼ arrival Peterʼs love, the adversariesʼ fear

Französisch Possessivum possessive NP/PP their arrival his love, their fear

Possessivum

l’arrivée des leur arrivée invités son amour, l’amour de leur peur Pierre, la peur des ennemis

(10) OBJEKT- die ZerstöARGUMENT rung der Thema affi- Stadt ziert

ihre Zerstörung

the destructi- its destructi- la destructi- sa destrucon of the city on on de la ville tion / the city’s destruction

(11) OBJEKT- das Meiden ARGUMENT der Klippe Thema nichtaffiziert

sein Meiden

the avoidan- ?its avoidan- le contourne- son contourment de la nement ce of the cliff ce falaise / *the cliff’s avoidance

(12) OBJEKTARGUMENT Stimulus

(1) #die Liebe der Macht (,die Liebe zur Macht‘) (2) #die Liebe Evas (‚die Liebe zu Eva‘) (3) #die Furcht des Herrn (,die Furcht vor dem Herrn‘)

(1) #ihre Liebe (2) #ihre Liebe (3) #seine Furcht

(1) the love of (1) #its love (2) #her love power / *power’s love (3) #his fear (2) the love of Eve / #Eve’s love (3) the fear of God / #God’s fear

(13) QUALITATIVE MODIFIKATION

(1) ein Unglück großen Ausmaßes (2) ein Mann von Ehre

(1) #sein Unglück (2) #ihr Mann

(1) a misfortune of great size (2) a man of honour / *honour’s man

(1) #its misfortune (2) #its man

(1) l’amour du pouvoir (2) l’amour d’Eve (3) la crainte du Seigneur

(1) #son amour (2) #son amour (3) #sa crainte

(1) un malheur de grande envergure (2) un homme d’honneur

(1) #son malheur (2) #son homme

B1 Wortklassen

685

Tab. 1 b (2): Substitution von NP/PP durch das Possessivum Polnisch/Ungarisch  

Polnisch

Ungarisch

possessive NP/PP Possessivum

possessive NP/PP Possessivum

(9) SUBJEKTARGUMENT Agens/Experiens

przyjazd gości miłość Piotra obawa przeciwników

a vendégek érkezése Péter szerelme az ellenfél félelme

(az) érkezésük (a) szerelme (a) félelmük

(10) OBJEKTARGUMENT Thema affiziert

zniszczenie miasta jego zniszczenie

a város lerombolása

(a) lerombolása

(11) OBJEKTARGUMENT Thema nichtaffiziert

unikanie urwiska

jego unikanie

a meredek tengerpart elkerülése/ kikerülése

elkerülése/ kikerülése

(12) OBJEKTARGUMENT Stimulus

(1) umiłowanie władzy (2) #miłość Ewy (,miłość do Ewy‘) (3) bojaźń Pana (4) #obawa Pana (,obawa przed Panem‘)

(1) jej umiłowanie (2) #jej miłość (3) jego bojaźń (4) #jego obawa

(1) a hatalom imádata (2) #Éva szerelme (,Éva iránti szerelem‘) (3) az Úr félelme (arch.)

(1) (az) imádata (2) #(a) szerelme (3) (a) félelme

(13) QUALITATIVE MODIFIKATION

# nieszczęście ich nieszczęście olbrzymich rozmia- #jego człowiek rów człowiek honoru

ich przyjazd jego miłość ich obawa

*nagy méret *(a) szerencsétlenszerencsétlensége sége # (az) embere (,nagy méretű szerencsétlenség‘) a becsület embere (oder: becsületes ember)

686

B Wort und Wortklassen

Tab. 1 c (1): Substitution durch das Possessivum Deutsch/Englisch/Französisch  

Deutsch

Englisch

Französisch

possessive NP/PP

Possessivum possessive NP/PP

Possessivum possessive NP/PP

Possessivum

(1) eine Abwesenheit von zwei Tagen (2) ein Baum von zwei Metern (3) ein Anstieg von 2% (4) ein Mann von 30 Jahren

(1) #ihre Abwesenheit (2) #ihr Baum (3) #ihr Anstieg (4) #ihr Mann

(1) #their absence (2) #their tree (3) #their rise (4) #their man

(1) #son absence (2) #son arbre (3) #sa montée (4) #son homme

(15) KLASSIFIKATORISCHE MODIFIKATION

das Laster der Trunksucht *der Monat des Mai (,der Monat Mai‘) *ein Kolleg der Frau (,ein FrauenKolleg‘)

#

(16) NOMINALE QUANTIFIKATION partitiv

zwei Tassen von diesem Tee ein Teil dieser Leute

#

#

#

#

(17) NOMINALE QUANTIFIKATION pseudopartitiv

zwei Gläser heißer Milch eine Gruppe junger Leute

#

#

(14) QUALITATIVE MODIFIKATION mensurativ temporal andere Dimensionen

ihr Laster

(1) a two daysʼ absence / an absence of two days (2) a tree of two meters / *a two metersʼ tree (3) a rise of 2% / *2%’s rise (4) a man of 30 years / *thirty yearsʼ man



# the vice of its vice alcoholism / #its month # her college *alcoholismʼs vice the month of Mai / *Maiʼs month a womanʼs college / *a college of woman

ihre Tassen two cups of ihr Teil this tea / *this teaʼs two cups a part of these people ihre Gläser two glasses ihre Gruppe of hot milk a group of young people / *young people’s group

its cups their part

its glasses

#



(1) une absence de deux jours (2) un arbre de deux mètres (3) une montée de 2% (4) un homme de 30 ans

(#)their group

le vice de la #son vice # boisson son mois # le mois de leur collège mai un collège de jeunes filles

deux tasses #ses tasses # de ce thé leur partie une partie de ces gens

deux verres de lait chaud un groupe de jeunes gens

#

ses verres leur groupe

#

B1 Wortklassen

687

Tab. 1 c (2): Substitution von NP/PP durch das Possessivum Polnisch/Ungarisch  

Polnisch

Ungarisch

possessive NP/PP Possessivum (14) QUALITATIVE MODIFIKATION mensurativ temporal andere Dimensionen

(1) *nieobecność dwóch dni (,dwudniowa nieobecność‘) (2) *drzewo dwóch metrów (,drzewo dwumetrowe‘) (3) *wznos (terenu) dwóch procentów (,wznos terenu o dwa procenty‘, ,dwuprocentowy wznos terenu‘) (4) #mężczyzna trzydziestu lat (,mężczyzna trzydziestoletni‘)

#

possessive NP/PP Possessivum (1) #(a) távolléte (2) #a fája (3) #(a) növekedése (4) #a férfia

(1) ich nieobecność (2) #ich drzewo (3) #ich wznos terenu (4) #ich mężczyzna

(1) *két nap távolléte (,kétnapos távollét’) (2) *két méter fája (,kétméteres fa‘) (3) *két százalék növekedése (,kétszázalékos növekedés‘) (4) *harminc év férfia (,harmincéves férfi‘)

#

# az iszákosság a szenvedélye/ szenvedélye/bűne bűne *május hónapja *(a) hónapja nők kollégiuma kollégiumuk

(15) KLASSIFIKATO- grzech pijaństwa RISCHE MODIFIKA- *miesiąc maja TION kolegium kobiet (,kolegium kobiece/żeńskie‘)

jego grzech jego miesiąc ich kolegium

(16) NOMINALE QUANTIFIKATION partitiv

dwie szklanki gorącego mleka

jego dwie szklanki *forró tej két pohara (,két pohár forró tej‘)

*két pohara

(17) NOMINALE QUANTIFIKATION pseudo-partitiv

grupa młodych ludzi

(#)

(az ő) csoportjuk (a) csoportjuk

#

ich grupa

fiatalemberek egy csoportja

688

B Wort und Wortklassen

sessive Realisierungsform nicht in allen Vergleichssprachen gegeben ist, vgl. etwa die notwendigerweise adjektivische Realisierungsform für mensurative qualitative Modifikation im Ungarischen oder Polnischen oder die Wiedergabe bestimmter Formen der klassifikatorischen Modifikation durch appositive Strukturen im Deutschen. POSSES SION ION zugeordneten Rollen sind pronomiDie Attribute in den dem Bereich POSSESS nalisierbar. Possessiva bei Bild, Foto usw. und ihren Entsprechungen in anderen Sprachen werden allerdings nicht präferiert im Sinne der Urbild-Interpretation interpretiert, sondern im Sinne der prototypischen POSSESSOR -Rolle. Gegebenenfalls wird auf die Umschreibung mit Präposition + Personalpronomen ausgewichen: DEU ein Foto von ihm, ENG a photograph of him, FRA une photo de lui. Auch bei UrheberInterpretation ist diese Umschreibung u. U. präferiert vor dem Possessivum: FRA son livre ‚das Buch, das ihm gehört‘ – le livre de lui ‚das Buch, das er geschrieben hat‘ (Bartning 2001: 154). Bei Herkunftsbezeichnungen wird im Französischen von der Präposition de Gebrauch gemacht, die auch Zugehörigkeit kodiert. Eine PP ‚de + Ortsbezeichnung‘ ist jedoch nur in bestimmten Fällen durch ein Possessivum ersetzbar, insbesondere bei Herkunftsangaben von Produkten: les vins de France – ses vins, le fromage de Normandie – son fromage. In anderen Fällen wie etwa le train de Paris, Lettres de Mon Moulin (Erzählungen von A. Daudet) ist der Ersatz ausgeschlossen. Dies kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass bei ses vins, son fromage gar nicht Herkunft, sondern lokale Zugehörigkeit kodiert wird. Das Possessivum deckt somit im Gegensatz zur Präposition nur (auch lokale) Zugehörigkeit, nicht aber lokale Herkunft ab. Im Deutschen, Englischen und Polnischen werden die beiden Funktionen auch bei NP/PPRealisierung differenziert: DEU Weine Frankreichs versus Weine aus Frankreich; ENG France’s wines / wines of France versus wines from France; POL wina Francji versus wina z Francji. Auch im Italienischen wird bei Herkunftsangaben nicht die Präposition di, sondern da gesetzt. Durch das Possessivum pronominalisiert werden jeweils nur die Konstruktionen für lokale Zugehörigkeit. Bei temporaler Verankerung ist, so jedenfalls im Deutschen, vor allem bei einem Oberbegriff wie ‚Ereignis‘ und ggf. bei pluralischen Nominalisierungen Substitution durch das Possessivum möglich, wie folgende Belege zeigen. Die Befunde deuten auf eine gesuchte Ausdrucksweise und damit stilistische Markiertheit hin; genauere Korpusauswertung und Abgleich mit den Kontrastsprachen ist erforderlich.  







(8)

Es war die Nacht zum 9. Dezember 1981, als der schwarze Journalist und Taxifahrer Mumia Abu-Jamal sein Auto in der Innenstadt Philadelphias anhielt und einem Menschen zu Hilfe kam […] Es sind diese Nacht und ihre Ereignisse, um die es immer und immer wieder geht. (die tageszeitung, 16.05.2007)

(9)

„Sind diese zwölf Jahre und ihre Ereignisse denn von der Tafel zu wischen und kann man tun, als seien sie nicht gewesen?“ (Die Zeit, 20.02.1987, Zitat aus Th. Mann)



B1 Wortklassen

(10)

689

Berlin tat in diesen Jahrzehnten alles, selber die Schönheit der Stadt auszulöschen, bevor noch das neue Jahrhundert mit seinen kriegerischen Verwüstungen am Horizont heraufzog. (Berliner Zeitung, 21.02.1998)

Von den ARGUMENT -Rollen sind possessive Attribute als Subjekt-Argument grundsätzlich pronominalisierbar. Ein Objekt-Argument, das den Stimulus einer Emotion bezeichnet, ist (im Allgemeinen) nicht durch ein Possessivum pronominalisierbar. Pronominale Repräsentation erfolgt in den Vergleichssprachen Deutsch, Englisch, Französisch und Polnisch durch Präposition + Personalpronomen: DEU Furcht vor ihm, ENG fear of him, FRA crainte de lui, POL strach przed nim. Was NPs/PPs in dieser Funktion angeht, so gilt generell, dass zwar adpositionale Realisierung (etwa durch ENG of, FRA de) möglich ist, im Allgemeinen aber nicht Realisierung allein durch einen grammatischen Kasus; vgl. → D4.2.4. So wird im Polnischen (wie im Deutschen) diese Funktion üblicherweise nicht durch Attribute im Genitiv ausgedrückt: DEU Furcht vor, Liebe zu, Hoffnung auf; POL strach przed, miłość do, nadzieja na; im Englischen ist Kodierung durch den Genitiv ausgeschlossen, ebenso im Ungarischen Kodierung durch den Nominativ oder Dativ. Stattdessen wird im Ungarischen ein semantischer Kasus (oder eine Postposition) gesetzt wie der Ablativ kutyá-tól in félelem a kutyától ‚Furcht vor dem Hund‘. Kodiert das Attribut ein „nicht-affiziertes“ und unbelebtes THEMA -Argument z. B. bei ENG avoidance, DEU Meiden/Vermeidung oder bei Kognitions-, Emotions- und Kommunikationsausdrücken wie ENG impression, enjoyment, expression, DEU Eindruck, Genuss, Äußerung/Ausdruck, so erscheint die Substitution durch das Possessivum als markiert, ist jedoch belegt; man vergleiche folgende Korpusbeispiele (vgl. auch zum Englischen Bresnan 2005: 2).  

(11) ENG

Epidemiological risk factors are somehow linked with destabilising influences on breathing, and it is through their avoidance or modulation […] that risk of death can be reduced. ,Epidemiologische Risikofaktoren sind irgendwie verknüpft mit destabilisierenden Einflüssen auf die Atmung, und durch ihre Vermeidung oder Abschwächung kann das Todesrisiko vermindert werden.‘ (BNC: CNA 377)

(12) ENG

Something inherent in maleness necessitates its expression in systems of oppressive hierarchies. ,Etwas der Männlichkeit Innewohnendes erzwingt ihren Ausdruck in Systemen von unterdrückerischen Hierarchien.‘ (BNC: CF4)

(13)

Einst in England als Droge verpönt, soll der Kaffee und sein Genuss wieder vermehrt im Mittelpunkt stehen. (St. Galler Tagblatt, 13.10.2000)

690

B Wort und Wortklassen

(14)

Sein phänomenales Gedächtnis, erklärte ein berühmter Patient des russischen Psychologen Alexander Lurija, sei für ihn „keine Frage des Sehens oder Hörens, sondern eines allumfassenden Sinnes“. Verstanden habe er eine Sache erst dann, wenn ihr Eindruck durch alle seine Sinne gedrungen war. (Die Zeit, 11.04.1997)

(15)

Die Kritik des VfL fand in witzigen Zugbeiträgen ihre Äußerung. (Rheinzeitung, 25.05.1999)

Bezüglich des Englischen ist die Beschränkung ggf. auf pränominale PossessivusVorkommen insgesamt auszudehnen: Gegenüber the avoidance of the cliff usw. sei nicht nur its avoidance markiert, sondern auch the cliff’s avoidance (Taylor 1996: 153). Im Deutschen scheidet bei NP/PP pränominale Realisierung aus, so dass nur beispielsweise die Äußerung von Kritik und ihre Äußerung in Betracht zu ziehen sind. Wir erörtern dies und die entsprechenden Beschränkungen, den so genannten „affectedness constraint“ (ebd.: 154–156) und den „experiencer constraint“ (ebd.: 156–158) sowie deren jeweils sprachbezogene Gültigkeit in → D3.9. Für das Verhältnis von Pronominalisierung durch das Possessivum und durch eine PP mit Personalpronomen gilt in den einzelnen Sprachen Folgendes. (16) ENG

his car – ?the car of him – ?a car of him / a car of his gegenüber his book – the book of him – a book of him (≠ (a) book of his) ‚das/ein Buch, das er geschrieben hat‘ sa voiture – *la voiture de lui – *une voiture de lui (aber: une voiture à lui) gegenüber son livre – le livre de lui; sa photo – la photo de lui ‚das Buch, das er geschrieben hat‘; ‚das Bild, das ihn zeigt/das von ihm genommen wurde‘ (Bartning 2001: 154) jego samochód – keine präpositionale Entsprechung sein Auto – das Auto von ihm – ein Auto von ihm gegenüber sein Buch – das Buch von ihm; sein Bild – das Bild von ihm ,das Buch, das er geschrieben hat‘; ‚das Bild, das ihn zeigt‘  





FRA









POL DEU













Zu beachten ist, dass die deutschen Konstruktionen das Auto von ihm und ein Auto von ihm eher Substandardstatus haben. Zusammengefasst gilt: In keiner der Vergleichssprachen ersetzt das Possessivum eine Ausdrucksklasse, einen bestimmten morphosyntaktischen Typ. Für das Englische gilt: Alle Funktionen, die durch den Genitiv ausgedrückt werden können außer der temporal-mensurativen

B1 Wortklassen

691

qualitativen Modifikation, sind pronominalisierbar. Was die durch das Possessivum pronominalisierbaren semantischen Rollen angeht, gibt es eine große interlinguale Übereinstimmung. In allen Sprachen sind durch das Possessivum pronominalisierbar: POSSESSOR ,

Subjekt-- Argument,, Objekt-- Argument (THEMA , affiziert)

Die ARGUMENT - und POSSESSOR -Rollen von possessiven Attributen können auch in Kombination auftreten. Dabei kann nur eine der Stellen durch das Possessivum gefüllt sein. Die Stellen konkurrieren also um Pronominalisierbarkeit durch das Possessivum. Die nicht durch das Possessivum repräsentierbaren Stellen werden durch das Personalpronomen im entsprechenden Kasus bzw. eine PP mit Personalpronomen pronominalisiert. Dabei gilt übergreifend für die Vergleichssprachen (vgl. dazu die Darstellung anhand von Beispielen aus den Vergleichssprachen in Zifonun 2005a: 42–49), wie hier für das Deutsche gezeigt: Ist nur eine Stelle realisiert, kann das Possessivum jede der bei dem gegebenen Kopfsubstantiv möglichen Rollen, für die überhaupt Substituierbarkeit vorliegt, wahrnehmen. 1.

Kopfsubstantiv mit Argumentstellen für Subjekt- und Objekt-Argument: die Beschreibung [des Autors]SU/OBJ – seineSU/OBJ Beschreibung; Kopfsubstantiv mit (prototypischer) Possessor- und Urheber-Stelle: PetersPOSS/ URHEBER Buch – seinPOSS/URHEBER Buch; Kopfsubstantiv mit (prototypischer) Possessor-, Urheber- und Urbild-Stelle: PetersPOSS/URHEBER/URBILD Porträt – seinPOSS/URHEBER/URBILD Porträt.  

2.



3.



Sind zwei (oder mehr) Stellen realisiert, so folgt die Pronominalisierung der hierarchischen Ordnung der Rollen: 1.

2.

Kopfsubstantiv mit Argumentstellen für Subjekt- und Objekt-Argument in einer possessiv-possessiven Struktur, also mit zwei possessiven Attributen als Realisierung der Argumentstellen. Nur das Subjekt-Argument ist durch das Possessivum pronominalisierbar: PetersSU Beschreibung [des Autors]OBJ – seineSU/*OBJ Beschreibung [von ihm]OBJ; Kopfsubstantiv mit Argumentstellen für Subjekt- und Objekt-Argument in einer possessiv-ergativen Struktur, also mit possessivem Attribut (Objekt-Argument) und PP (Subjekt-Argument) als Realisierung der Argumentstellen. Nur das possessiv realisierte, also das Objekt-Argument, ist durch das Possessivum pronominalisierbar: die Beschreibung [des Autors]OBJ [durch Peter]SU – seine*SU/OBJ Beschreibung [durch ihn]SU; Kopfsubstantiv mit (prototypischer) Possessor- und Urheber-Stelle. Nur die Possessor-Stelle ist durch das Possessivum pronominalisierbar: PetersPOSS Buch [von  

3.

692

B Wort und Wortklassen

Moravia]URHEBER, PetersPOSS Porträt von PicassoURHEBER – seinPOSS/*URHEBER Buch [von ihm]*POSS/URHEBER, seinPOSS/*URHEBER Porträt [von ihm]*POSS/URHEBER; 4. Kopfsubstantiv mit (prototypischer) Possessor- und Urbild-Stelle. Nur die Possessor-Stelle ist durch das Possessivum pronominalisierbar: PetersPOSS Porträt [eines jungen Mannes]URBILD – seinPOSS/*URBILD Porträt [von ihm]*POSS/URBILD; 5. Kopfsubstantiv mit Urbild- und Urheber-Stelle. Beide Stellen sind alternativ durch das Possessivum pronominalisierbar, die Belegung mit der Urheber-Rolle ist jedoch präferiert: PicassosURHEBER Porträt [eines jungen Mannes]URBILD / das Porträt [eines jungen Mannes]URBILD [von Picasso]URHEBER – sein?URBILD/URHEBER Porträt [von ihm]URBILD/?URHEBER  





Sind in der Konstellation Kopfsubstantiv mit (prototypischer) Possessor-, Urheberund Urbild-Stelle alle drei Stellen belegt, so ist wiederum nur die Possessor-Stelle durch das Possessivum pronominalisierbar: PetersPOSS Porträt [eines jungen Mannes]URBILD [von Picasso]URHEBER – seinPOSS/*URBILD/*URHEBER Porträt [eines jungen Mannes/von ihm]*POSS/URBILD/*URHEBER [von Picasso/von ihm]*POSS/*URBILD/URHEBER. Für Strukturen, in denen alle Stellen durch ein possessives Attribut belegt sind, also bei zwei Argument-Belegungen in possessiv-possessiven Strukturen, gilt somit sprachübergreifend folgende Hierarchie, nach der die Pronominalisierung durch ein Possessivum erfolgt:  

POSSESSOR prototypisch > Subjekt-ArgumentA G E N S / E X P E R I E N S / URHEBER > URBILD D Objekt-ArgumentT H E M A / URBIL

Die Ordnung in rein possessiven Strukturen zeigt die semantische Nähe jeweils AG ENS ) und der Urheber-Rolle sowie zwischen den Rollen des Subjekt-Arguments (AGENS zwischen der Rolle des Objekt-Arguments und der Urbild-Rolle. Sie nehmen jeweils die gleiche Hierarchieposition ein. Bei possessiv-ergativen Strukturen ist dagegen das Objekt-Argument dem Subjekt-Argument übergeordnet.

B1.5.4.3 Lineare Position adnominaler Possessiva im Verhältnis zu possessiven Attributen mit substantivischem Kopf Tabelle 2 informiert über die Stellung der Possessiva und possessiver NP/PP-Attribute innerhalb einer Nominalphrase in unseren Vergleichssprachen und einer Reihe weiterer europäischer Sprachen. Zu beachten ist, dass im Deutschen und Isländischen der präponierte Genitiv als markiert gilt. Als markiert bzw. Substandard ist auch eine postponierte PP mit possessiver Funktion im Deutschen einzustufen. Im Rumänischen und Griechischen handelt es sich beim postponierten Genitiv eigentlich um einen Genitiv/Dativ (Kasuszusammenfall).

B1 Wortklassen

693

Tab. 2: Stellung der Possessiva im Vergleich mit possessiven NP/PP-Attributen possessives NP/PP-Attribut Genitiv prä

Genitiv post

PP post

Possessivum

Dativ prä, Nominativ prä

prä

ENG, NDL, DÄN, DEU, POL SWE, DEU

ENG, NDL, DÄN, UNG SWE, DEU, FRA

prä und post

NOR

ITA, POR, SPA

post

ISL

ISL, RUM, GRI, weitere Balkansprachen

Die Tabelle ist auf dem Hintergrund der Ergebnisse von Manzelli (1990) zu lesen. Er stellt auf der Basis eines großen Samples von europäischen Sprachen eine eindeutige Präferenz für pränominale Stellung der Possessiva fest: 75% der untersuchten Sprachen haben (nicht unbedingt ausschließlich) pränominale Possessiva. Manzelli betrachtet dieses Merkmal als einen der Kandidaten für die Auszeichnung des „Standard Average European“. Das Deutsche folgt bei seinen adnominalen Possessiva ausschließlich diesem Muster und zeigt sich somit auch hinsichtlich dieses Merkmals als dem europäischen Trend folgend. Die hier vorgelegte Tabelle, die den Zusammenhang zwischen den Stellungsmöglichkeiten des Possessivums und der possessiven NP/PP-Attribute fokussiert, zeigt, dass nur in einer der genannten Sprachen, dem Isländischen, das Possessivum postnominal gestellt werden muss, während possessive NPs pränominal erscheinen können; wobei der pränominale Genitiv nur im markierten Fall möglich ist. Das bedeutet auch, dass, wo immer unmarkiert die Möglichkeit der pränominalen Stellung eines possessiven Modifikators überhaupt gegeben ist, die Possessiva die vergleichsweise größte Chance haben, diese Position einzunehmen. Die graue Unterlegung zeigt die Konstellationen, bei denen NP/PP-Realisierung postnominal erfolgt, während pronominale Realisierung ausschließlich oder unter bestimmten Bedingungen pränominal geschieht. Diese Präferenz ist nach Aissen (2003a) auf die Prominenz der (Possessiv-)Pronomina in der ‚Definitheitshierarchie‘ zurückzuführen (vgl. Hierarchie ii in → B1.1.5). Danach korreliert die Definitheitshierarchie sprachübergreifend in der Weise mit den beiden Stellungsmöglichkeiten, dass Hochrangigkeit in der Hierarchie mit pränominaler Position verknüpft ist, niedriger Rang mit postnominaler. Da die Possessiva im Hinblick auf den Possessor grundsätzlich definit sind (vgl. → B1.5.4.1), sind sie in dieser Hinsicht den possessiven NP/PP-Attributen, die ja auch indefinit sein können, vorgeordnet. Pränominale possessive NP-Attribute etwa im Deutschen, Englischen oder Isländischen zeigen, dass als zweiter Faktor die ‚Allgemeine Nominalhierarchie‘ (vgl. Hierarchie i mit ihren Teilhierarchien in → B1.1.5) bei der Platzverteilung eine

694

B Wort und Wortklassen

Rolle spielt. Dazu ist insgesamt auf → D3 zu verweisen. An dieser Stelle soll festgehalten werden, dass sprachübergreifend nur die Possessiva der 1. und 2. Person sprachsystematisch auf menschliches Denotat festgelegt sind. Aber auch bei Possessiva der 3. Person ist menschliches Antezedens-Denotat besonders frequent. Durch das substandardsprachliche Konstruktionsmuster ‚NPDAT + Possessivum + Kopfsubstantiv‘, z. B. dem Vater sein Hut, wird im Deutschen eine weitere Möglichkeit für pränominale und in der Regel belebte possessive Attribute eröffnet. Hier ist das Possessivum wie in anderen germanischen Sprachen (Niederländisch, Dialekte des Norwegischen) zu einem linking pronoun grammatikalisiert (vgl. Koptjevskaja-Tamm 2002, 2003b; Zifonun 2003c, 2005b).  

B1.5.4.4 Flexionsform des Personalpronomens oder eigene Wortklasse Wie in → B1.5.4.1 ausgeführt, haben Possessiva funktional den Status von Personalia, die um eine relationale Komponente der referentiellen Verankerung bzw. Argumentsättigung angereichert sind. Diese Funktionsbündelung kann sprachabhängig auch durch den Genitiv bzw. Possessivus des Personalpronomens ausgedrückt werden. Die Einordnung als Possessivus (oder Genitiv) des Personalpronomens kommt bei den Vergleichssprachen nur dann in Frage, wenn die pronominalen Possessiva selbst nicht nach Kasus flektieren. Nach Kasus flektierende adnominale Possessiva kongruieren im Kasus mit dem Kopfsubstantiv (DEU mein Hund (NOM ) – meinem Hund (DAT ) / meiner (NOM ) – meinem (DAT )); flektierende selbstständige Possessiva werden im Kasus von außen regiert (du traust deinem Hund, ich traue meinem). Sie würden also bei Einordnung als Possessivus/Genitiv des Personalpronomens potentiell zwei konfligierende Kasusspezifikationen tragen, z. B. Genitiv + Nominativ oder Genitiv + Dativ. Für die deutschen Formen aller drei Personen usw. oder die polnischen Formen der 1. und 2. Person ist diese Einordnung daher ausgeschlossen. Vielmehr konstituieren die deutschen Possessiva (und die polnischen der 1. und 2. Person) eigene Paradigmen, die zwar korreliert sind mit den Paradigmen der Personalia, aber neben ihnen existieren. Wir gehen für das Deutsche (wie beim Personalpronomen) von drei lexikalischen Wörtern jeweils für die drei Personen und damit drei Paradigmen aus. Beispielhaft wird hier das adnominale und selbstständige Ausprägung zusammenfassende Paradigma der 1. Person vorgestellt:  





695

B1 Wortklassen

Tab. 3: Paradigma der deutschen Possessiva der 1. Person Stamm SG

Affix PL

M

NOM

mein

AKK

selbstst.

adnom.

er



en

unser

N

adnom.

F

selbstst. e



es

em

DAT

en er

es

GEN

PL

er

Sprachgeschichtlich allerdings gehen die deutschen Possessiva auf den Genitiv des Personalpronomens (1. und 2. Person: AHD mīn/unsēr, dīn/iuwēr) bzw. den Genitiv des Reflexivums (3. Person M / N : AHD sīn) zurück. Diese nahmen bereits im Althochdeutschen die starke Flexion an und konstituierten somit die neue Klasse der Possessiva. Die Genitive ira (3. Person F ) und iro (3. Person PL ) wurden erst im späten Mittelhochdeutsch zu Possessiva weiterentwickelt. Bis ins 14. Jahrhundert dient noch der Genitiv MHD ir < AHD ira, iro zur Anzeige des Possessivverhältnisses.  



Es stellt sich die Frage, ob es sich synchron (im Althochdeutschen/Mittelhochdeutschen) um einen Fall von doppelter Flexion („case stacking“) handeln könnte. Bei „case stacking“ oder „double case“ bzw. „Suffixaufnahme“ (Plank 1995) hat ein attributives Nominal zwei Kasusmarkierungen, eine (z. B. als Genitiv), die die Attributfunktion anzeigt, und eine, die in Kongruenz mit dem Kopfsubstantiv die Funktion der Gesamt-NP anzeigt. Koptjevskaja-Tamm (2000, 2002) zeigt, dass dies in bestimmten Dialekten des Romani und einer Reihe kaukasischer Sprachen bei possessiven Attributen systematisch der Fall ist.  

Anders als in diesen Sprachen ist das Phänomen im Althochdeutschen aber irregulär, und zwar beschränkt auf die Genitive der Personalpronomina; dies deutet eher auf eine Wortbildung hin, also die Konversion einer Genitivform in einen Adjektiv-/Pronominalstamm; vgl. Paul (1917: 181 f.), Demske (2001: 139–145) und mit Übertragung auf das Neuhochdeutsche Olsen (1989, 1996).  

Auch in Sprachen, bei denen die Possessivformen zwar keine Kasusflexion haben, aber eine sichtbare Genus-/Numerus-Flexion wie in der Mehrzahl der romanischen Sprachen (FRA mon – ma – mes) und rudimentär im Niederländischen (ons boek ‚unser Buch‘, Neutrum – onze friend/onze boeken ‚unser Freund/unsere Bücher‘ Utrum/Plural), spricht nichts für eine Einordnung als Possessivus/Genitiv des Personalpronomens. Die adnominalen Possessiva verhalten sich hier (in der Regel) wie typisch adnominale Klassen, also wie Determinative oder Adjektive: Sie kongruieren im flexivisch ausgedrückten Genus und Numerus mit dem Kopfsubstantiv. In den romanischen Sprachen wird die Possessivus-Funktion typischerweise mithilfe der Präposition de/di ausgedrückt. Auch bei den Personalpronomina gibt es diesen analytischen Ausdruck der Possessivus-Funktion: FRA de moi, de lui. Diese Formen konkurrieren teilweise mit den Possessivpronomina: son livre – le livre de lui (vgl. → B1.5.4.2).  







696

B Wort und Wortklassen

Als Fazit halten wir fest: Kasus-, Genus- oder Numeruskongruenz adnominaler Possessiva mit dem Kopfsubstantiv schließt eine Einordnung als Possessivus/Genitiv des Personalpronomens aus. Im Englischen liegt keine Kongruenz adnominaler Possessivausdrücke mit dem Kopfsubstantiv vor. Daher erscheint eine Einordnung als Genitiv bzw. Possessivus des Personalpronomens für alle drei Personen möglich. Die Standardgrammatiken des Englischen (Quirk et al. 1985: 336; Huddleston/Pullum 2002: 457 f.) ordnen jeweils die unselbstständige Reihe (my, your, his/her/its, our, their) und die selbstständige Reihe (mine, yours, his/hers/its, ours, theirs) als „genitive“ dem Personalpronomen zu. Dies beruht auf der weitgehenden distributionellen Äquivalenz mit dem s-Genitiv von Substantiven bzw. Phrasen mit substantivischem Kopf: Peter’s car – his car. Im Gegensatz zum nominalen Genitiv tritt der pronominale in zwei Varianten auf, die kontextuell bedingt seien. Die selbstständige Reihe erscheine dort, wo das Pronomen als eine eigene NP/DP fungiere, die unselbstständige, wo es einem Kopfsubstantiv präponiert sei. Allerdings wird etwa bei Quirk et al. (1985: 338) darauf hingewiesen, dass die englische Unterscheidung zwischen „common case“ und „genitive“ keine echte Kasusunterscheidung sei, sondern das Relikt eines früheren Kasussystems. In → C3.2 wird der Status der englischen Possessivausdrücke ausführlich diskutiert, sie werden synchron nicht als Genitiv des Personalpronomens eingeordnet, sondern als Possessivpronomina, die (wie die Adjektive) unflektiert bleiben. Durchgängige Funktionalisierung der Personalia als Possessiva gilt für das Neugriechische: Dort werden die Genitivformen (bzw. Genitiv-/Dativformen) der schwachen Personalpronomina als Possessiva gebraucht: o fílos mu ‚mein Freund‘. Das Polnische hat in der 1. und 2. Person sowie im reflexiven Possessivum (vgl. → B1.5.4.9) Formen, die in Kasus, Genus und Numerus mit dem Kopfsubstantiv kongruieren. Es handelt sich also hier um eigene vom Personalpronomen getrennte Paradigmen. Nur in der 3. Person (nicht-reflexiv) wird der Genitiv des Personalpronomens in der Possessivus-Funktion verwendet: Vgl. mój syn, moja córka, moje dziecko ‚mein Sohn, meine Tochter, mein Kind‘ vs. jego syn, jego córka, jego dziecko ‚sein Sohn, seine Tochter, sein Kind‘. Die polnischen Genitivformen des Personalpronomens 3. Person jego (M / N ) / jej (F ) / ich (PL ) erscheinen in possessiver Funktion allerdings weder in der Kurzform (vgl. jego versus go) noch in der durch n- erweiterten Form (vgl. niego/niej/nich), vgl. Aptacy (2005: 108). Ein vergleichbares Muster zeigen Tschechisch und Russisch, während die südslawischen Sprachen (Bulgarisch, BKS) auch in der 3. Person (nicht-reflexiv) kongruierende (adjektivische) Formen aufweisen. Im Bulgarischen wird neben den adjektivischen Formen auch der Genitiv/Dativ des schwachen Personalpronomens verwendet (Feuillet 1995: 43).  







B1 Wortklassen

697

Für die skandinavischen Sprachen ist Ähnliches wie für das Polnische zu verzeichnen (vgl. zum norwegisch-deutschen Vergleich Ramm/Fabricius-Hansen 2012). In der 1. und 2. Person wie im reflexiven Possessivum der 3. Person gibt es im Genus und Numerus kongruierende (als adjektivisch eingeordnete) Formen. Die 3. Person (nicht-reflexiv) ist durch einen s-Genitiv gekennzeichnet, s. Tabelle 4.  



Tab. 4: Possessiv-Kasus der 3. Person im norwegischen Bokmål M

F

U

N

PL

hans

hennes

dens

dets

deres

Im Rumänischen ist als einziger der romanischen Sprachen das System der Possessiva vergleichbar dem Muster des Lateinischen strukturiert: kongruierende Formen für die Kommunikanten, für die 3. Person Genitiv- (bzw. Dativ-)Formen des starken Personalpronomens (LAT eius, RUM lui/ei) und zusätzlich kongruierende Formen (LAT su-us/-a/-um, RUM său/sa). Während im Lateinischen diese Opposition zur Differenzierung zwischen nicht-reflexiver und reflexiver Zugehörigkeit genutzt wurde, ist im Rumänischen keine funktionale Opposition gegeben. Im Italienischen ist nur die unveränderliche 3. Person Plural loro aus dem Paradigma des lateinischen Demonstrativpronomens entnommen (loro < illorum ‚jen.GEN . NONF . PL ‘), während die übrigen Possessiva kongruieren.  

Die indoeuropäischen Vergleichssprachen zeigen somit drei Optionen: 1.

2. 3.

Possessiva als vom Personalpronomen unabhängige (adjektivische/determinativische oder pronominale) Paradigmen (Mehrzahl romanischer Sprachen, Niederländisch und Deutsch sowie auch Englisch in synchroner Perspektive) Possessiva als Flexionsformen (Genitiv/Possessivus) in den Paradigmen des Personalpronomens (Neugriechisch) Kombination aus 1 und 2 (Polnisch, andere ost- und westslawische Sprachen, skandinavische Sprachen, Rumänisch)

Auch die nur selbstständig gebrauchten Possessivpronomina des Ungarischen können vergleichbar Option 2 in das (erweiterte) Paradigma der Personalpronomina eingeordnet werden; sie stellen Possessivkonstruktionen auf Basis des jeweiligen Personalpronomens dar (→ C3.4.1, → C3.4.2): Deren Stamm ist (im Regelfall) um das Possessumsuffix -é sowie das der jeweiligen Person entsprechende Possessorsuffix (als Kongruenzsuffix) erweitert. Zur Bezeichnung einer Pluralität beim Possessum wird als weiteres Suffix (vor dem Possessorsuffix) -i eingefügt, wie in (17a). Kasussuffixe können sich an die Possessorsuffixe anschließen, vgl. (17b).  



(17) a. eny-é-m UNG ich-PUM - 1SG ‚meiner/e/es‘

eny-é-i-m ich-PUM - PL - 1SG ‚meine‘

698

B Wort und Wortklassen

b. eny-é-m-et ich-PUM - 1SG - AKK ‚meinen/e/es‘

eny-é-i-m-et ich-PUM - PL - 1SG - AKK ‚meine‘

Im Gegensatz zum Englischen ist das Possessorsuffix also, beim Possessivpronomen wie beim Substantiv, keine Kasuskategorie, sondern als ,Personalsuffix‘ (→ C3.3.1) ein spezieller, stammnäherer Typ von Flexionskategorie.

B1.5.4.5 Freie Form oder Affix: Dependensmarkierung versus Kopfmarkierung Wie bei den nominalen ist auch bei den pronominalen Formen der Attribution zwischen ‚Dependensmarkierung‘ (dependent-marking) und ‚Kopfmarkierung‘ (headmarking) zu unterscheiden (→ D3.5). Possessiva in Form von Personalia im Genitiv (wie etwa bei der 3. Person im Polnischen) sind ebenso wie die kongruierenden Possessiva (des Deutschen usw.) ebenfalls als eine Erscheinungsform von Dependensmarkierung einzuschätzen. Anders dagegen Possessoraffixe. Hier wird die Relation am Kopf der Konstruktion mittels eines Markers erkennbar; Possessoraffixe fallen somit unter Kopfmarkierung. Ein solcher rein affixaler Ausdruck der Funktion von Possessivpronomina ist nur bei adnominaler, nicht bei selbstständiger Verwendung möglich. Die ungarischen Possessorsuffixe bei nominalem Kopfsubstantiv verkörpern diese Ausdrucksform:  

(18) UNG

Stamm Numerus hajó -Æ SG Schiff ,mein Schiff‘ hajó -i PL Schiff ,meine Schiffe‘

Possessor -m 1SG -m 1SG

Kasus -at AKK

-at AKK

Bei den ungarischen Possessorsuffixen handelt es sich um Person-Numerus-Suffixe (,Personalsuffixe‘), die in ähnlicher Form auch in der Verbkonjugation Anwendung finden (→ C3.3.1). Für den nominalen Bereich wird hier jedoch spezifischer von ,Possessorsuffixen‘ gesprochen; üblich ist auch der Terminus ,Possessivsuffix‘.

Bei Fokussierung im Sinne von ‚MEIN Schiff‘ kann das Personalpronomen als Ausdruck für den Possessor explizit hinzugesetzt werden, und zwar in einer Struktur wie der in (19a). Dies entspricht der allgemeineren Form von Konstruktionen mit internem Possessor, auch bei substantivischem Possessorausdruck, wobei bei substantivischem Possessorausdruck als Default-Fall das Possessorsuffix der 3. Person auftritt, vgl. (19b).

B1 Wortklassen

699

(19) a. az én hajó-m DEF 1SG . NOM Schiff-1SG UNG ,MEIN Schiff‘ b. a nő hajó-ja DEF Frau.NOM . SG Schiff-3SG ,das Schiff der Frau‘ Dies zeigt, dass die Possessorsuffixe als Kongruenzaffixe hinsichtlich Person (und Numerus) zu bewerten sind (vgl. Dikken 1999; vgl. auch → B1.5.4.7). (Ein personalpronominaler Possessor-Ausdruck kann implizit bleiben.) In (19a) und (19b) trägt das Dependens keinen Marker; én und nő stehen im Nominativ, der im Ungarischen affixlos ist. Bei nominalem Possessor gibt es jedoch auch die Möglichkeit der Kombination von head-marking und dependent-marking: Der Possessor-Ausdruck kann auch im Dativ stehen. Dies ist bei pronominalem Possessor nicht möglich. Weitere Sprachen in Europa, die über Possessorsuffixe verfügen, sind: Bretonisch, sämtliche finnougrische Sprachen (unter Ausnahme des Estnischen) sowie sämtliche Turksprachen (vgl. TÜR baba-m ‚mein Vater‘). Bei den indoeuropäischen Vergleichssprachen gibt es keine eindeutig affixalen Formen. Die schwachen Possessiva etwa des Spanischen tendieren zum Pro-Klitikon, die Formen des Neugriechischen sind enklitisch (o patéras mu ‚mein Vater‘).

B1.5.4.6 Selbstständige und adnominale Form, Wortklassenzugehörigkeit Bezüglich des Verhältnisses von selbstständiger und adnominaler Form ist noch zwischen einem morphologischen und einem distributionellen Subparameter zu unterscheiden. In der Morphologie liegen als Optionen vor: 1. 2. 3.

Zusammenfall beider Formen morphologische Differenzierung bei (weitgehender) Stammidentität Differenzierung durch Artikelsetzung bei der selbstständigen Form (und Stammvariation), 4. Affigierung (adnominal) versus eigene Wortform (selbstständig). Bei 1. und 2. sprechen wir wie bei den Pronomina insgesamt (→ B1.5.1.3) von ‚Adpronomina‘. Das Polnische ist unter den fünf engeren Vergleichssprachen die einzige, die überhaupt nicht zwischen selbstständigen und adnominalen Formen unterscheidet (vgl. Option 1.). Eine einzige Formenreihe deckt die Distribution der beiden Formenreihen etwa des Deutschen oder des Französischen ab – diese Sprachen folgen Op 

700

B Wort und Wortklassen

tion 2. bzw. 3.; vgl. (20). Auch in den skandinavischen Sprachen fallen adnominale und selbstständige Form zusammen.  

(20) POL DEU FRA

To jest mój nauczyciel, to jest twój. Das ist mein Lehrer, das deiner C’est mon professeur, c’est le tien.

Im Englischen ist außer bei der 1. Person Singular (mine gegenüber my) die selbstständige Form durch das Possessivussuffix -s, also flexionsmorphologische Markierung, gekennzeichnet. Die adnominale Form der 3. Person Maskulinum und Neutrum endet bereits auf -s, so dass hier die Formen zusammenfallen. Bei den selbstständigen Formen yours, hers, ours, theirs hingegen ist von Option 2. auszugehen. In den romanischen Sprachen Französisch, Italienisch und Spanisch werden (vgl. Option 3.) als selbstständige Formen Kombinationen aus (definitem) Artikel + Possessivausdruck verwendet. Nur im Italienischen ist der Possessivausdruck selbst in beiden Reihen identisch: mia – la mia. Im Französischen und Spanischen ist der Possessivausdruck der selbstständigen Reihe eine phonetisch schwerere, starke Variante des adnominalen (FRA mon versus mien, SPA mi versus mío ‚mein – meiner‘); es liegt also eine Kombination aus 1. und 3. vor. Die starke Form des Spanischen kann auch adnominal, und zwar nach dem Kopfsubstantiv gebraucht werden (z. B. un amigo mío ‚ein Freund von mir‘). Die deutschen Possessiva weisen die Formunterschiede zwischen adnominalem und selbstständigem Gebrauch auf, die auch für die übrigen Adpronomina mit Formvariation (wie z. B. kein – keiner) typisch sind. Neben dieser Option 1. ist im Deutschen aber auch marginal die Option 3. gegeben. Im Niederländischen hingegen ist Artikelsetzung bei selbstständigem Gebrauch die einzige Möglichkeit. Man vergleiche in direktem Kontrast im Deutschen pränominal: mein, selbstständig meiner/der meine, im Niederländischen pränominal: mijn; selbstständig: de/het mijne, wie in (21).  









(21) NDL DEU



Dat is mijn boek, dat is het mijne. Das ist mein Buch, das ist meines/das meine.

Kombination mit dem Artikel bei selbstständigem Gebrauch (Option 3.) kann sprachübergreifend als ein Indiz für die Zugehörigkeit zur Wortart Adjektiv gerechnet werden: Es handelte sich dann etwa bei DEU der meine um eine NP, bestehend aus Artikel + Adjektiv, bei nicht-besetzter Stelle des substantivischen Kopfs, ähnlich wie der Alte (→ D2). Allerdings ist sowohl im Deutschen als auch etwa im Niederländischen oder Französischen Artikelsetzung in adnominaler Verwendung ausgeschlossen. Dies

B1 Wortklassen

701

spricht gegen den Status als Adjektiv: *das meine Buch – das alte Buch. Anders verhält es sich etwa im Italienischen oder Spanischen (vgl. dazu auch → B1.5.4.8). Für das Deutsche können weitere Argumente für und gegen adjektivischen Status angeführt werden; vgl. ausführlich Zifonun (2005a: 87–95). Wichtige Argumente für Adjektivstatus sind:  



das adjektivanaloge Vorkommen in drei Formtypen: unflektiert (mein), schwach flektiert (der meine) und stark (meiner) die relationale Bedeutungskomponente, die das Possessivum mit Relationsadjektiven wie väterlich in der väterliche Besitz teilt. Analog kann mein als ‚ich-lich‘ verstanden werden.



Gegen Adjektivstatus sprechen dagegen folgende Aspekte: –

pronominale, nicht adjektivisch-starke Flexion: meines Wassers versus heißen Wassers starke distributionelle Einschränkungen im Hinblick auf die syntaktischen Funktionen des Adjektivs: – adnominal nicht in Kombination mit Artikelwörtern; zur Kombination mit Demonstrativa vgl. Zifonun (2005a: 90–93) – keine adverbiale Verwendung – starke Markiertheit der prädikativen Verwendung der unflektierten Form: Du bist mein (archaisch)





adjektivuntypische referentielle Eigenschaften, insbesondere die Fähigkeit als Antezedens ein Reflexivum lokal zu binden: Seini neues Bild von sichi gefiel uns gut.

Possessiva weisen somit, wie bereits in → B1.5.4.1 skizziert, Eigenschaften auf, die sie als Grenzgänger zwischen zwei Wortklassen (Adjektiv, Pronomen) ausweisen. Im Deutschen sind die mit den Adjektiven geteilten Eigenschaften vergleichsweise schwächer ausgeprägt als die adpronominalen. Der grundlegende distributionelle Unterschied zwischen der adnominalen und der selbstständigen Erscheinungsform wird von allen Vergleichssprachen geteilt: Die selbstständigen Formen können eigene Satzgliedfunktionen im Satz ausüben, während die adnominalen an einen nominalen Kopf gebunden sind. Genauer betrachtet, zeigen sich eine Reihe von Unterschieden. Bei den adnominalen Formen ist der distributionelle Unterschied in erster Line gesteuert durch den Definitheitsparameter und das damit zusammenhängende Verhältnis zum definiten Artikel. Dazu ist auf → B1.5.4.8 zu verweisen. Die selbstständigen Formen werden in erster Linie kontrastiv verwendet. Dabei geht in der Regel eine andere Possessor-Konstruktion, die ein Kopfsubstantiv enthält, voraus – etwa in Vergleichskonstruktionen wie (22) oder bei VerbKomplementation wie in (23).  



702

B Wort und Wortklassen

(22) ENG FRA POL UNG DEU

Peter’s car is as good as mine. La voiture de Pierre est aussi bien que la mienne. Samochód Piotra jest równie dobry jak mój. Péter autója ugyanolyan jó, mint az enyém. Peters Auto ist so gut wie meines.

(23) ENG FRA POL UNG DEU

Peter prefers his mother’s cake, Anne prefers yours. Pierre préfère le gâteau de sa mère, Anne préfère le tien. Piotr woli ciasto swojej matki, Anna woli twoje. Péter az édesanyja süteményét kedveli jobban, Anna inkább a tiédet. Peter zieht den Kuchen seiner Mutter vor, Anna bevorzugt deinen.

In den Vergleichssprachen dient der Konstruktionstyp ‚Kopulaverb/verblose Prädikation + selbstständiges Possessivum‘ auch ohne Kontrastivität und ohne vorangehendes adnominales Possessivum als usueller Ausdruck der Besitzprädikation bei Spezifizität/Definitheit und Topikalität des Besitzobjekts, vgl. (24). (24) ENG FRA POL UNG DEU

These books are hers. Ces livres-ci sont les siens. Te książki są jej. Ezek a könyvek az övéi. Diese Bücher sind ihre/die ihren.

Im Deutschen ist dieser Konstruktionstyp – etwa im Gegensatz zum Englischen (Stassen 2009: 28) – kein präferierter Ausdruck für die funktionale Domäne ‚prädikative Possession‘ (vgl. dazu insgesamt auch Stassen 2009). Zwar ist die deutsche Variante von (24) durchaus möglich, präferiert würde jedoch, bei analoger Verteilung der Argumente auf die syntaktischen Funktionen und vergleichbarer Perspektivierung im Text- oder Diskurszusammenhang, die ,gehören‘-Konstruktion: Diese Bücher gehören ihr; im Französischen steht die PP-Konstruktion Ces livres-ci sont à elle zur Verfügung, die das Possessor-Genus disambiguiert. Der markierte Status der prädikativ verwendeten unflektierten Form kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass in der 3. Person die Formen praktisch ausgeschlossen sind, möglicherweise aufgrund ihrer hochgradigen Homonymie: Diese Bücher sind *ihr/*sein (Zifonun 2007b: 619). Nur im Englischen wird das selbstständige Possessivum (bzw. ein nominaler Genitiv) als Teil einer attributiven of-PP gebraucht (als „oblique genitive“ nach Huddleston/Pullum 2002: 468 f.). Die PP of + selbstständiges Possessivum wird dem Kopfsubstantiv nachgestellt: vgl. a friend of mine/of Peter’s ‚ein Freund  





B1 Wortklassen

703

von mir/von Peter‘, those friends of mine/of Peter’s ‚diese Freunde von mir/von Peter‘.

B1.5.4.7 Person-, Numerus- und Genuskategorien Eine funktional motivierte Besonderheit der Possessiva ist ihre potentielle Orientierung auf zwei Kategorienmengen: Possessor-Kategorien Possessor-Person Possessor-Numerus Possessor-Genus

Possessum-Kategorien Possessum-Kasus Possessum-Numerus Possessum-Genus

Dabei wurde die Kasus-Kategorie als in der Wortklassen-Frage entscheidend bereits abgehandelt (vgl. → B1.5.4.4). Was die Possessor-Kategorien angeht, so ist der Ausdruck von Person und Numerus unverzichtbar: Er gehört zum „Wesen“ der Possessiva als Pronomina oder Possessoraffixe. Die Person/Numerus-Kategorien der Personalpronomina werden im Allgemeinen eins-zu-eins abgebildet. So erstreckt sich der Numerussynkretismus in der 2. Person im Englischen auch auf die Possessiva. Im Spanischen jedoch tritt in der 3. Person der Possessiva Numerussynkretismus auf, während die Personalpronomina dies nicht aufweisen: Vgl. das Personale der 3. Person él, ella, ellos, ellas gegenüber dem Possessivum su (schwach) und suyo/a (stark). Das Possessor-Genus, das nur für die 3. Person in Betracht kommt, setzt eine Genusdifferenzierung beim Substantiv voraus. Im Ungarischen ist (wie auch im Türkischen) daher diese Kategorie grundsätzlich nicht möglich. Für andere Vergleichssprachen gibt es zwei unterschiedliche Möglichkeiten: Die Genusunterscheidungen des Personalpronomens der 3. Person können einerseits hier als Possessordifferenzierung wiederkehren. Dies betrifft unmittelbar die Sprachen, deren Possessiva (zumindest der 3. Person) durch einen Kasus des Personalpronomens (Possessivus, Genitiv) repräsentiert werden, somit germanische Sprachen wie Niederländisch, (ggf.) Englisch, die skandinavischen Sprachen, daneben Neugriechisch, das Polnische und andere slawische Sprachen bei den nichtreflexiven Formen der 3. Person sowie (partiell) das Rumänische: Man vergleiche hierzu das rumänische Beispiel in (25) mit Possessor-Genus-Differenzierung gegenüber dem in (26) ohne. Auch das Deutsche verfährt so, obwohl die Possessiva nicht (mehr) Genitive des Personalpronomens sind.  





704

(25) ENG POL RUM DEU

B Wort und Wortklassen

He/She wore a hat. – His/Her hat was green. (On/Ona) nosił/nosiła kapelusz. – Jego/Jej kapelusz był zielony. (El/Ea) purta o pălărie. – Pălăria lui/ei era verde. Er/Sie trug einen Hut. – Sein/Ihr Hut war grün.  







Romanische Sprachen mit ausschließlich Possessivadjektiv/-determinativ in der 3. Person haben andererseits in Fortführung der nicht nach dem Possessor-Genus differenzierten lateinischen Form suus kein Possessor-Genus, vgl. (26).  

(26) FRA RUM

Il/Elle portait un chapeau. – Son chapeau était vert. (El/Ea) purta o pălărie. – Pălăria sa era verde.  



Was die Possessum-Kategorien angeht, so schließt der Status als Kasusform des Personalpronomens – oder auch die Herkunft aus einer solchen Kasusform – deren Repräsentation aus: Die Formen etwa des Englischen oder Neugriechischen kongruieren nicht mit dem Numerus und Genus des Kopf- oder Bezugssubstantivs. Wir können also folgende Gesetzmäßigkeit festhalten:  



Possessiva, die Kasusformen des Personalpronomens sind, verfügen über Possessor-Numerus und -Genus, jedoch nicht über Possessum-Numerus und -Genus. Dagegen reflektiert das selbstständige Possessivpronomen des Ungarischen neben dem Possessor-Numerus auch den Numerus des Possessums (Pluralzeichen: -i): (27) UNG

eny-é-m ,meiner‘ mi-é-nk ,unserer‘

eny-é-im ,meine‘ mi-e-ink ,unsere‘

Die Possessoraffixe (als adnominale Variante) drücken ausschließlich possessorbezogene Kategorien (Person, Numerus) aus; possessumbezogene Kategorien erübrigen sich, da die Marker ja an den Possessumausdruck agglutiniert werden, der seinerseits das spezifische Possessum-Pluralzeichen -i (gegenüber allgemeinem Pluralzeichen -(V)k) tragen kann, vgl. (28). (28) UNG

hajó-m ,mein Schiff‘ hajó-d ,dein Schiff‘ hajó ,Schiff‘

hajó-i-m ,meine Schiffe‘ hajó-i-d ,deine Schiffe‘ hajó-k ,Schiffe‘

705

B1 Wortklassen

Die determinativischen/adjektivischen Possessiva der romanischen Sprachen und ihre selbstständigen Entsprechungen drücken im Allgemeinen Possessum-Genus und -Numerus flexivisch aus: Sie kongruieren mit dem Kopf- bzw. Bezugssubstantiv. (29) FRA

son bâteau ,sein/ihr Schiff‘ sa folie ,seine/ihre Verrücktheit‘

ses bâteaux ,seine/ihre Schiffe‘ ses folies ,seine/ihre Verrücktheiten‘

Das Deutsche zeigt von allen Vergleichssprachen das am stärksten und systematischsten entfaltete System, in dem der Ausdruck von Possessor- und PossessumKategorien gleichermaßen gewährleistet ist. Die Unterscheidung zwischen Possessorund Possessum-Kategorien wird im Deutschen als Unterscheidung zwischen mehreren Stämmen gegenüber mehreren Flexiven, also als Unterscheidung in unterschiedlichen ‚Wortabschnitten‘, realisiert. Wir können also speziell für das Deutsche von folgender „Gleichung“ ausgehen: Possessor-Kategorien sind Stamm-Kategorien des deutschen Possessivums. Possessum-Kategorien sind Flexions-Kategorien des deutschen Possessivums. Aus dem in Tabelle 3 von → B1.5.4.4 präsentierten Paradigma der 1. Person geht hervor, dass wir unter den Possessor-Kategorien die nach der Person als konstituierend jeweils für das lexikalische Wort (und damit jeweils ein Paradigma) betrachten, die nach Numerus und Genus jedoch als wort- bzw. paradigmenintern. Die Numerusund Genus-Kategorien beider Wortabschnitte sind unter systematischer und sprachvergleichender Perspektive ausführlicher zu betrachten. Dazu wird das gegenüber der 1. Person kategorial komplexere Paradigma der 3. Person herangezogen. Tab. 5: Paradigma der 3. Person des deutschen Possessivums Possessor-Kategorien

Possessum-Kategorien

M /N

M

F /PL

NOM

AKK

sein

ihr

N

selbstst.

adnom.

er



en

F

adnom.

selbstst. e



es en

em

DAT

er

es

GEN

PL

er

\____________________________________________/ Stamm

Flexionsendung

706

B Wort und Wortklassen

Es zeigt sich, dass die 3. Person, die mit ihrer Genusunterscheidung kategorial stärker entfaltet ist als die beiden anderen Personen, wie diese nur zwei verschiedene Stämme hat. Der somit vorliegende „Stamm-Synkretismus“ erweist sich als strukturgleich zu den Haupt-Synkretismusfeldern in der Flexion: Maskulinum und Neutrum sowie Femininum und Plural, die in der pronominalen Flexion jeweils starke Übereinstimmungen zeigen, fallen als Ausdruck von Stamm-Kategorien vollständig zusammen. Geht man hier von einem Ikonismus zwischen Form und Funktion aus, so ist, etwa in Übertragung der Hierarchien in Bybee (1985: 11–48), anzunehmen, dass die durch den Stamm getragenen Possessor-Kategorien enger mit der Wortbedeutung assoziiert sind als die flexivischen Possessum-Kategorien, und damit deutlicher voneinander verschiedene Wortformenbedeutungen erzeugen. In der Tat operieren die Bedeutungskomponenten ‚Possessor-Plural‘ bzw. ‚Possessor-Femininum‘ usw. unmittelbar auf dem in der Wortbedeutung inkorporierten internen Argument, das den Possessor (im unmarkierten Numerus und Genus) bezeichnet. Demgegenüber beziehen sich die Possessum-Kategorien auf das externe Argument, das nicht in der Wortbedeutung des Possessivums enthalten ist, sondern durch das Kopfsubstantiv oder kontextuell bereitgestellt wird. Die Wahl der Possessor-Kategorien wird nicht durch syntaktische Regeln (Kongruenzregeln) gesteuert, sondern erfolgt rein semantisch: Eine Bezugskonstituente muss gar nicht vorliegen; sie kann im selben Satz vorausgehen oder folgen oder auch im weiteren Diskurskontext vorzufinden sein. Die Wahl der Possessum-Kategorien ist bei selbstständiger Verwendung ebenfalls semantisch gesteuert, bei adnominalem Gebrauch aber als syntaktische Kongruenzbeziehung ausgelegt. Aufgrund dieser Doppelkategorisierung durch vergleichbar dimensionierte Stamm- und Flexionskategorien ist das Possessivum des Deutschen unter den Vergleichssprachen besonders ausgezeichnet. Insbesondere in der 3. Person sind die Vergleichssprachen weniger komplex ausgelegt als das Deutsche: Entweder differenzieren sie – zumindest adnominal – nicht nach Possessum-Kategorien (Englisch, Niederländisch, skandinavische Sprachen, Polnisch) oder sie tragen kein PossessorGenus wie die romanischen Sprachen (und Ungarisch, das aufgrund der Possessoraffixe ohnehin anders zu bewerten ist). Man kann daher von einer funktionalen Belastung der Possessiva sprechen, der Sprecher und Schreiber durch Aufgabe der Genus-Differenzierung der 3. Person zugunsten von sein- zu begegnen versuchen; vgl. Thurmair (2002) und beispielhaft (30).  







(30)

. . . dass diese Polizeii es sich erlaubt hat, für seinei Interessen zu demonstrieren. (Hörbeleg, 05.09.2002, SWR3 Baden-Württemberg aktuell)  



B1 Wortklassen

707

B1.5.4.8 Possessiva und Definitheit der NP, Konstruktions-Spaltungen In vielen Sprachen besteht Komplementarität zwischen dem Vorkommen des definiten Artikels und dem adnominalen Possessivum (vgl. Haspelmath 1999a). Unter den Kern-Vergleichssprachen gilt das für das Englische, das Französische und das Deutsche. (31) ENG FRA DEU

the book le livre das Buch

my book mon livre mein Buch

*my the book *mon le livre *mein das Buch

Weitere europäische Sprachen, die dieses Muster zeigen, sind das Niederländische und die festlandskandinavischen Sprachen außer dem norwegischen Bokmål. In diesen Sprachen werden die Possessiva ohne Artikelsetzung dem substantivischen Kopf vorangestellt und fordern die schwache bzw. definite Adjektivflexion (SWE min bok, min nya bok ‚mein Buch, mein neues Buch‘). Hervorzuheben ist dabei insbesondere, dass im Schwedischen (sowie im Dänischen, sofern kein Adjektiv vorhanden ist) der definite Artikel an das Kopfsubstantiv klitisiert wird (z. B. SWE bok-en ‚das Buch‘) und sich damit an einer dem Possessivum entgegengesetzten linearen Position befindet: Trotzdem ist eine Kombination wie *min bok-en ‚*mein das Buch‘ ausgeschlossen.  

Komplementarität von Artikel und Possessivum ist nicht sprachübergreifend mit dem Vorkommen in derselben linearen/strukturellen Position verknüpft. Die westeuropäischen Sprachen einschließlich des Deutschen legen zunächst nahe, die Komplementarität auf die Besetzung einer pränominalen Determinativ-Position zurückzuführen, die alternativ durch Artikel, Possessivum oder auch den pränominalen Genitiv zu füllen ist. Daten wie die zum Schwedischen (Possessivum vor, Artikel nach dem Kopfsubstantiv) stehen einer Generalisierung dieses Erklärungsmusters ebenso entgegen wie etwa der Fall des Bulgarischen, wo affixaler bzw. klitischer Artikel und freies Possessivum bei bestimmten Verwandtschaftsbezeichnungen komplementär verteilt vorkommen (vgl. dazu Haspelmath 1999a: 229 f.; siehe auch → B1.5.4.9). Der wechselseitige Ausschluss von Artikel und Possessivum sollte sich, so nimmt man zunächst an, auch auf die Demonstrativa erstrecken. In der Tat trifft dies etwa für das Englische und Französische absolut zu: ENG *those my friends, FRA *ces mes amis. Im Deutschen jedoch finden sich nicht wenige Belege, in denen Formen von dieser und Possessivum adnominal kookkurrieren:  

(32)

Es wäre ein nicht wiedergutzumachendes, bleibendes Versäumnis, wenn wir diese unsere historische Chance jetzt nicht ergreifen würden. (Frankfurter Rundschau, 06.02.1999)

Die Kombination ist auffällig und dient rhetorischen Zwecken. Auch grammatische Indizien sprechen eher für die akkumulierende Juxtaposition zweier Determinative als

708

B Wort und Wortklassen

für eine Kombination von Determinativ und Modifikator („adjektivischem“ Possessivum), vgl. dazu Zifonun (2005a: 90–93). Distributive Komplementarität zwischen Artikel und Possessivum ist in allen bisher genannten Sprachen mit semantischer Überlappung gekoppelt: In diesen Sprachen drücken die Possessiva nicht nur referentielle Verankerung durch ein personalpronominales Denotat aus, sondern bewirken auch die Definitheit der sie einbettenden NP. Wir sprechen hier von ‚definitheitsinduzierenden‘ Possessiva. Liegt keine Definitheitsinduktion vor, sprechen wir von ‚definitheitsunspezifischen‘ Possessiva. Definitheitsunspezifische Possessiva sind verträglich mit der Definitheit und der Indefinitheit der einbettenden NP. Prototypisch am Beispiel des Italienischen il mio libro ‚mein Buch‘ neben un mio libro ,eines meiner Bücher / ein Buch von mir‘. Während in Sprachen mit definitheitsspezifischen Possessiva bei Indefinitheit der Gesamt-NP zu einer anderen syntaktischen Konstruktion für den Ausdruck der Zugehörigkeit übergegangen werden muss (z. B. indefiniter Artikel + Kopfsubstantiv + Präposition + Personalpronomen wie in DEU ein Buch von mir, FRA un livre de lui / à lui), kann in Sprachen mit definitheitsunspezifischen Possessiva das Possessivum in definiten und indefiniten Gesamt-NP gleichermaßen erscheinen. Die Unterscheidung zwischen ‚definitheitsinduzierenden‘ und ‚definitheitsunspezifischen‘ Possessiva ist wie folgt zu präzisieren: Definitheitsinduzierende Possessiva bewirken die Definitheit der sie einbettenden NP (bei adnominalem Gebrauch) bzw. sind als definite Phrasen zu interpretieren (bei selbstständigem Gebrauch). Definitheit bezieht sich also auf das Possessum, bzw. die Possessa; es handelt sich um ‚Possessum-Definitheit‘. Dass auch bzgl. des Possessors Definitheit vorliegt, ist eine notwendige Konsequenz der personalpronominalen Possessoren:  

ein bestimmtes Possessum | |



ein bestimmter Possessor \ \

mein Fahrrad ,das bestimmte Fahrrad, das als einziges mir gehört / das das salienteste der mir gehörenden Fahrräder ist‘    

Dass es in der Tat strukturell um die Induktion von possessumbezogener Definitheit geht, zeigt sich daran, dass die possessiven Attribute, die z. B. im Deutschen und Englischen mit den Possessiva kommutieren, ebenfalls Definitheit der einbettenden NP bewirken, selbst aber keineswegs definit sein müssen, vgl. (33).  

(33) a. eines langen Tages Reise in die Nacht → ‚die Reise eines langen Tages in die ENG Nacht‘ b. a good girl’s best friend → ‚the best friend of a good girl‘ / ,der beste Freund eines guten Mädchens’

B1 Wortklassen

709

Komplementarität mit dem bestimmten Artikel ist zwar interlingual bei definitheitsinduzierenden Possessiva sehr häufig der Fall, aber nicht deren notwendige Voraussetzung. Im Norwegischen (Bokmål) etwa wird das Possessivum (ähnlich wie im Isländischen) in der Regel nachgestellt. Die Definitheit der NP wird eigens durch den enklitischen Artikel beim Kopfsubstantiv (-en für M , -a für F , -et für N ) markiert, bzw., wenn ein attributives Adjektiv hinzukommt, durch den ‚Adjektivartikel‘ den/det und Artikelenklise doppelt markiert. Dadurch entstehen recht komplexe Fügungen, wie boka mi ‚mein Buch‘, bilen min ‚mein Auto‘, den nye bilen min ,mein neues Auto‘. Trotz der Kookkurrenz mit dem definiten Artikel ist hier von einem definitheitsinduzierenden Possessivum auszugehen: Die Kombination mit dem unbestimmten Artikel oder einem anderen Indefinitum bzw. einem Zahlwort (in indefiniter Lesart) ist nämlich ausgeschlossen. In diesen Fällen ist eine Art ‚Definitheitskongruenz‘ in Erwägung zu ziehen, die mehrfachen Ausdruck von Definitheit in der NP zulassen würde. Zur multiplen Definitheitsexponenz auch → B1.2.3.6. Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht über definitheitsinduzierende Possessiva in den erörterten europäischen Sprachen und den Zusammenhang mit dem Gebrauch der Artikel. Tab. 6: Definitheitsinduzierende Possessiva

Possessivum pränominal Possessivum postnominal

definiter Artikel pränominal

definiter Artikel postnominal

indefiniter Artikel

komplementär: DEU, ENG, FRA, NDL

komplementär: DÄN, SWE

unverträglich

kookkurrent: NOR, ISL

Bei definitheitsunspezifischen Possessiva spielt ein weiterer Subparameter eine Rolle: Wird in der betreffenden Sprache ein Artikel (definit, indefinit) oder ein Definitheitsmarker gesetzt oder gibt es keine Definitheitsmarkierung? Ist letzteres der Fall, liegt also eine artikellose Sprache vor, so ändert das Vorhandensein eines Possessivums nichts an dem Definitheitsstatus der NP: Sie ist nach wie vor für Definitheit nicht spezifiziert. Dies trifft für das Polnische (und andere slawische Sprachen) zu, wo pies kontextabhängig ‚ein Hund, der Hund‘, jego pies kontextabhängig ‚sein Hund, einer seiner Hunde‘ bedeuten kann. Zu fragen ist an dieser Stelle, ob artikellose Sprachen grundsätzlich nur definitheitsunspezifische Possessiva zulassen. Artikellose Sprachen wie das Polnische erlauben und favorisieren zudem, wie Untersuchungen in Paralleltexten zeigen (vgl. Drewnowska-Vargáné/Zifonun 2011a: 291–293, 2011b: 217 f.) bei inalienabler Zugehörigkeit (Verwandtschaft, Körperteil) in vielen Fällen die Einsparung des Possessi 

710

B Wort und Wortklassen

vums. Da auch kein Artikel gefordert ist, erscheint in solchen Fällen der determinativlose Possessumausdruck. Im Deutschen als Artikelsprache muss ein Determinativ erscheinen; der Ausdruck der Possessorrelation kann aber, da aus dem Weltwissen erschließbar, bei inalienabler Zugehörigkeit unterbleiben. Es findet sich daher in diesem Fall häufig der definite Artikel statt des Possessivums; so könnte im deutschen Beleg (34) statt seinen auch den stehen, in der polnischen Übersetzung ist zu ramię ‚Arm‘ (AKK ) kein Determinativ gesetzt. (34) DEU

Und Johann Buddenbrook, der Ältere, bot auch schon Madame Köppen seinen Arm […] (Th. Mann, „Buddenbrooks“, S. 17) Ale oto Jan Buddenbrook starszy, podając [Ø] ramię pani Köppen (T. Mann, „Buddenbrookowie“, S. 12)  

POL





In beiden Sprachen liegt somit eine auf Alienabilität beruhende Konstruktions-Spaltung vor (Possessivum bei alienablen Possessa versus Artikel/Determinativlosigkeit bei inalienablen Possessa), die jedoch nicht obligatorisch eintreten muss und nicht grammatikalisiert ist (Stolz et al. 2008: 366–370). Sie wird daher in Tabelle 6 nicht berücksichtigt. Was nun Artikelsprachen angeht, so sind im Bulgarischen und Mazedonischen, den slawischen Sprachen mit klitischem definitem Artikel, im Rumänischen, Albanischen, Neugriechischen oder Ungarischen sowie in den romanischen Sprachen Italienisch, Spanisch und Portugiesisch die Possessiva mit dem definiten und dem indefiniten Artikel (bzw. entsprechenden (In-)Definitheitsmarkern oder dem Zahlwort für ,eins‘) kombinierbar; vgl. zu Beispielen Zifonun (2005a: 69–73). Die Possessiva dieser Sprachen sind als definitheitsunspezifisch einzuschätzen. Wir gehen hier nur zunächst auf die Vergleichssprache Ungarisch, sodann auf das Italienische ein: Substantive mit Possessoraffix sind im Ungarischen mit dem bestimmten und dem unbestimmten Artikel verträglich. Auch wenn (bei Hervorhebung) das Personalpronomen als expliziter Possessorausdruck vor das Kopfsubstantiv gesetzt wird, steht der Artikel: (35) UNG

a

az

DEF

könyv-em Buch-1SG ,mein Buch‘

DEF

én 1SG . NOM ,MEIN Buch’

könyv-em Buch-1SG

egy

könyv-em Buch-1SG ,ein Buch von mir‘

INDEF

Bei nominalen Possessorausdrücken allerdings wird in der Standardkonstruktion, in der der Possessor-Ausdruck pränominal und im Nominativ erscheint, kein definiter Artikel zum Kopfsubstantiv gesetzt, wohl aber der indefinite:

B1 Wortklassen

(36) UNG

[a

fiú] könyv-e Junge Buch-3SG ,das Buch des Jungen‘ DEF

711

[a

fiú] egy könyv-e Junge INDEF Buch-3SG ,ein Buch des Jungen‘ DEF

Das Italienische kann als prototypisches Beispiel für eine weitere funktional motivierte Spaltung der Konstruktionen mit adnomininalem Possessivum dienen, die mit der Artikelsetzung korreliert. Der Normalfall bei alienablen Possessa ist, wie bei definitheitsunspezifischen Possessiva zu erwarten, die Artikelsetzung bzw. die Setzung von Demonstrativa an der Determinativposition: Vgl. la mia casa / la casa mia ‚mein Haus‘, una mia casa ‚ein Haus von mir‘, questa mia casa ‚dieses Haus von mir‘. Numeralia erscheinen unter Beibehaltung der indefinit-pluralischen Lesart vor den Possessiva; ein Determinativ kann noch linksperipher hinzutreten. Man vergleiche den Kontrast zum Deutschen, wo das determinativische Possessivum vor dem Numerale erscheint und obligatorisch eine definite Lesart gegeben ist: tre mie case ‚drei Häuser von mir‘, le tre mie case / le mie tre case ‚meine drei Häuser‘. Bei Verwandtschaftsbezeichnungen allerdings wird auch im Italienischen in zahlreichen Fällen eine Konstruktion ohne Artikel gewählt, wie in mia madre ‚meine Mutter‘, mio fratello ‚mein Bruder‘. Weglassung des Artikels ist jedoch nicht strikt gefordert: Bei pluralischen Verwandtschaftsbezeichnungen sowie bei syntaktischer oder vor allem morphologischer Komplexität (wie etwa in il mio prozio Algie ,mein Großonkel Algie‘) wird der definite Artikel gesetzt. Dazu und zu weiteren Faktoren vgl. Renzi/Salvi/Cardinaletti (2001: 412–414), Stolz et al. (2008: 322). Insgesamt ist jedoch diese KonstruktionsSpaltung stärker grammatikalisiert als die oben anlässlich des Polnischen erwähnte. Vergleichbare Spaltungen der Konstruktionen mit Possessivum relativ zu Verwandtschaftsbeziehungen (Alienabilitäts-Spaltungen) betreffen auch das Portugiesische, sowie das Bulgarische, Rumänische und Albanische. In all diesen Sprachen ist die Konstruktion ohne overten Definitheitsmarker als markierte Konstruktion für ausgezeichnete Possessa (Verwandtschaft) reserviert. Wie Stolz et al. (2008) zeigen, spielen aber auch Possessor-Merkmale in das Szenario dieser Konstruktions-Spaltung hinein, z. B. der Possessor-Numerus. Allem Anschein nach hat die markierte Konstruktion ohne overten Definitheitsmarker den Status einer Konstruktion, bei der die Possessiva selbst Definitheit bewirken. Wir kommen darauf im Zusammenhang mit der Erörterung des Deutschen unten zurück. Auch im Spanischen gibt es zwei Konstruktionen: die (zumindest im Standardspanischen) definitheitsinduzierende Konstruktion mit pränominalem schwachem Possessivum und die definitheitsunspezifische Konstruktion mit postnominalem starkem Possessivum. Nur das postnominale Possessivum ist (im Allgemeinen) mit einem Determinativ oder einem Zahlwort kombinierbar. Definitheitsinduzierend ist nur mi casa ‚mein Haus‘, definitheitsunspezifisch dagegen die Possessivform in la casa mía ‚MEIN Haus‘, una casa mía ‚eines meiner Häuser‘, esta casa mía ‚dieses Haus von mir‘ und tres casas mías ‚drei Häuser von mir‘. Die beiden definiten Konstruktionen (mi casa versus la casa mía) sind jedoch nicht mit einer Alienabilitäts-Spaltung korreliert,  

712

B Wort und Wortklassen

sondern mit der Informationsstruktur, entsprechend der schwach-stark-Opposition und dem Stellungsunterschied. Diese Opposition ist auch bei ITA la mia casa versus la casa mia gegeben. Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht über definitheitsunspezifische Possessiva in den erörterten europäischen Sprachen und den Zusammenhang mit dem Gebrauch der Artikel; Sprachen mit Alienabilitäts-Spaltung bei Verwandtschaftsbezeichnungen sind kursiviert. Zu beachten ist, dass das postnominale Vorkommen eines Possessivums mit pränominalem Definitartikel im Italienischen und Portugiesischen eine markierte Konstruktion darstellt; im Bulgarischen ist die nominale Konstituente, an die der Artikel klitisiert, nicht immer das Kopfsubstantiv. Tab. 7: Definitheitsunspezifische Possessiva

Possessivum pränominal

kein definiter Artikel

definiter Artikel pränominal

POL, weitere slawische Sprachen außer BUL, MAZ

kookkurrent ITA, POR

definiter Artikel postnominal

Possessivum postnominal/ enklitisch

kookkurrent: kookkurrent: ALB, RUM, BUL ITA, POR, SPA (starkes Poss.), GRI

Possessoraffix

kookkurrent: UNG

indefiniter Artikel

kombinierbar

Auf diesem Hintergrund soll nun anhand des Deutschen auf Verwendungsweisen eingegangen werden, in denen trotz formaler Definitheitsspezifikation die Einzigkeitsbedingung/Inklusivität der Possessiva suspendiert zu sein scheint. In Kontexten wie (37) und (38) wird auch der definite Artikel ohne Einzigkeitsbedingung gebraucht: (37)

a. Das/Mein Bein tut mir weh. b. Peter und Anna arbeiten in Bonn. Sie sind zu Peters Schwester / seiner Schwester gezogen. c. Ich fahre nicht gerne alleine in Urlaub. Letztes Jahr war ich z. B. mit meiner Tante in Italien.  

(38)

a. Das/Dieser Schwachsinn ist Peters Idee / seine Idee. b. Das/Dieser Schwachsinn ist die Idee von Peter.

Bei (37) geht es um definite Verwendung mit Bezug auf unveräußerliche „Possessa“. Sprecher und Hörer sind vorverständigt, dass es jeweils eine fixe Zahl von Possessa

B1 Wortklassen

713

gibt, die überschaubar sein muss (zwischen zwei und etwa einem Dutzend); man vergleiche: (39)

??Mein

Zahn/Knochen tut weh.

In manchen Fällen ist klar, dass es genau n potentielle Possessa geben muss (2 Beine, 10 Finger usw.), in anderen Fällen ist die Zahl der Possessa im genannten Spielraum offen und muss nicht bekannt sein. Wenn der bestimmte Artikel gebraucht wird, wird damit signalisiert, dass es um genau ein Possessum aus dieser fixen Gruppe geht, es aber irrelevant oder jedenfalls aus Sprechersicht von nachgeordneter Bedeutung für den Hörer ist, um welches. Diese pragmatischen Gesichtspunkte – Vorverständigung über den Spielraum möglicher Possessa aus einer Gruppe unveräußerlicher Possessa und Irrelevanz der genauen Identifikation – können auch Erklärungsansätze für die artikellosen Konstruktionen bei Alienabilitäts-Spaltung bieten (vgl. oben zum Italienischen). Es kommt bei mia sorella ‚meine Schwester‘, mio zio ‚mein Onkel‘ in erster Linie auf die Verwandtschaftsrolle des Possessums bzgl. des Possessors an, nicht auf seine eindeutige Identifizierbarkeit. Bei (38) wird die NP als Prädikativ verwendet. Wie bei den Verwendungen unter (37) wird beim prädikativen Gebrauch auf die zugeschriebene Rolle abgehoben, nicht auf Identifikation, Huddleston/Pullum (2002: 266–272) sprechen hier von „ascriptive use“, der die Einzigkeitsbedingung außer Kraft setze. Im Hinblick auf (38) kann aber ggf. die Einzigkeitsbedingung/Inklusivitätsbedingung auch aufrecht erhalten bleiben, wenn man eine geeignete Spezifikation des P-sets (im Sinne von Hawkins 1991) vornimmt: Hawkins (ebd.: 414) führt den P-set über eine konventionelle Implikatur von the ein, vgl. → A2.6.1.1:  



The conventionally implicates that there is some subset of entities, (P), in the universe of discourse which is mutually manifest to S & H on-line and within which definite referents exist and are unique.

In Sätzen wie (36) gibt das Subjekt den P-set vor. Wenn, wie es hier der Fall ist, das Subjekt definit ist und die Inklusivitätsbedingung erfüllt, ist (per Identität) auch Einzigkeit für das Prädikativ gegeben. Neben Fällen, bei denen Possessivum und bestimmter Artikel sich analog verhalten, gibt es Verwendungsweisen, wo nur das Possessivum, nicht aber der definite Artikel vorkommen kann. So kann ohne Vorerwähntheit (40a) geäußert werden, nicht aber (40b): (40) a. Ich habe auch mein/ein geheimes Laster. b. *Ich habe auch das geheime Laster. (Heidolph/Flämig/Motsch 1981: 678)

714

(41)

B Wort und Wortklassen

a. Da bekommt er noch sein Fett / seine Probleme / seine Strafe. b. *Da bekommt er noch das Fett / die Probleme / die Strafe.

Bei (40), (41) liegt Inklusivität vor: Es geht um genau ein geheimes Laster des Sprechers usw. Dass der bestimmte Artikel ausgeschlossen ist, liegt daran, dass die Entität erst in den Diskurs / das gemeinsame Wissen eingebracht wird. Im P-set „existiert“ zum Äußerungszeitpunkt noch kein definiter Referent. Für das Possessivum gilt nun offenbar diese Bekanntheitsbedingung/Identifizierbarkeitsbedingung des bestimmten Artikels nicht, jedenfalls nicht durchgängig. Möglicherweise kommt man der Lösung des Problems über die Paraphrasierbarkeit nahe: (40) c. Ich habe auch das geheime Laster, das zu mir passt. (41)

c. Da bekommt er noch die Strafe, die er verdient.

Dabei scheint die vom Possessivum ausgedrückte Zugehörigkeitsrelation (als Mehrwert gegenüber dem bestimmten Artikel) die entscheidende Rolle zu spielen. Wie in den Paraphrasen (40c), (41c) gezeigt, ist diese Bedeutungskomponente durch einen Relativsatz explizierbar. Schon in Hawkins (1978) wiederum wurde gezeigt, dass restriktive Relativsätze Identifizierbarkeit garantieren können und damit die Setzung des bestimmten Artikels ermöglichen, auch wo weder Vorerwähntheit noch situative Identifizierbarkeit gegeben ist. Zusammengefasst ergibt sich für die Frage der Definitheit bei NP mit Possessiva: 1.

In den Vergleichssprachen Englisch, Französisch und Deutsch sind wie in vielen anderen Sprachen die Possessiva ‚definitheitsinduzierend‘. Im Polnischen und Ungarischen sowie weiteren europäischen Sprachen sind sie ‚definitheitsunspezifisch‘. 2. Definitheitsinduzierende Possessiva stehen häufig, aber nicht grundsätzlich in komplementärer Distribution mit dem bestimmten Artikel. Gegenbeispiele unter den europäischen Sprachen sind das Isländische oder das norwegische Bokmål. Wo sie in komplementärer Verteilung stehen, können sie dieselbe lineare/strukturelle Position besetzen (wie in den westeuropäischen Sprachen); aber dies muss nicht der Fall sein (Dänisch, Schwedisch). 3. Die Tendenz zur Artikelsetzung nimmt zu, wenn das Possessivum dem Kopfsubstantiv nachgestellt wird (vgl. Bokmål, Balkansprachen). Wo Vor- und Nachstellung des Possessivums relativ zum Kopfsubstantiv in einer Sprache möglich ist, ist Nachstellung ggf. bei der definitheitsunspezifischen Alternative angezeigt (z. B. Spanisch). 4. Stellt man in Rechnung, dass neben den Possessiva slawischer Sprachen die der meisten romanischen Sprachen sowie die der Sprachen Südosteuropas (Balkansprachen, Neugriechisch, Ungarisch) eindeutig definitheitsunspezifisch sind,  

B1 Wortklassen

715

die des norwegischen Bokmål und des Isländischen zumindest mit dem klitischen definiten Artikel kombiniert werden müssen, so zeigt sich, dass tendenziell nur die Possessiva der westeuropäischen Sprachen (Englisch, Niederländisch, Französisch, Deutsch sowie Dänisch und Schwedisch) „stark definitheitsinduzierend“ sind, d. h. nur mit definiter Interpretation der einbettenden NP verträglich sind und die Setzung des bestimmten Artikels ausschließen. Ist in der Standardkonstruktion mit Possessivum Artikelsetzung gefordert, kann (vgl. u. a. Italienisch und verschiedene Balkansprachen) bei Verwandtschaftsbezeichnungen als Possessa eine artikellose Konstruktion gefordert sein. Solche grammatikalisierten Alienabilitäts-Spaltungen betreffen das Deutsche und die Kern-Kontrastsprachen nicht.  

5.



B1.5.4.9 Berücksichtigung von Reflexivität Von den engeren Vergleichssprachen macht nur das Polnische eine Unterscheidung zwischen reflexiver und nicht-reflexiver Zugehörigkeit. Wie bei den Reflexiva ist zwischen lokaler Bindung auf der syntaktischen Ebene und dem semantischen Phänomen der Variablenbindung zu unterscheiden. Maßgebend für die sprachbezogene Parametrisierung ist, wie im Folgenden gezeigt, die syntaktische Dimension. Variablenbindung im logisch-semantischen Sinne liegt vor, wenn das Antezedens des Possessivums (wie des Reflexivums) ein quantifizierender Ausdruck wie ,jeder‘, ,keiner‘ usw. ist. Liegt Variablenbindung vor, so ist das Possessivum im engeren Sinne nicht referentiell verankernd. Man vergleiche folgendes Beispiel: (42)

Das ist wichtig, denn in Creech loggt sich zu Beginn seines Einsatzes jeder Drohnenpilot im Air und Space Operation Center (AOC) in Ramstein ein. (Spiegel 17/2015, S. 21)  

Das reflexive Possessivum des Polnischen ist das kongruierende swój M , swoja F , swoje Wie das Reflexivum siebie/się ist swój auf alle Personen und beide Numeri generalisiert. Allerdings ist das reflexive Possessivum nur in der 3. Person unter lokaler Bindung obligatorisch. swój und jego/jei/ich (3. Person nicht-reflexiv) haben also keinen distributionellen Überschneidungsbereich (vgl. (43a) versus (43b)). Dagegen können bei der 1. und 2. Person auch unter lokaler Bindung neben swój die Possessiva der 1. und 2. Person (mój, twój) stehen. Diese sind also im Hinblick auf Bindung unterspezifiziert/nicht spezifiziert (vgl. (44), (45)): N.



swojei / (43) a. Pawełi spalił POL Paweł verbrenn.PRT . 3SG . M POSS . REFL . AKK . PL ‚Paweł verbrannte seine (eigene) Bücher.‘

*jegoi książki. 3SG . M . GGEN EN Buch.AKK . PL

716

B Wort und Wortklassen

b. Pawełi spalił *swojej / jegoj książki. EN Buch.AKK . PL Paweł verbrenn.PRT . 3SG . M POSS . REFL . AKK . PL 3SG . M . GGEN ‚Paweł verbrannte seine (von jemand anderem) Bücher.‘ (44) POL

(Jai) spaliłem swojei / 1SG verbrenn.PRT . 1SG POSS . REFL . AKK . PL ‚Ich verbrannte meine Bücher.‘

(45) POL

Pawełi spalił mojej Paweł verbrenn.PRT . 3SG . M POSS . 1SG . AKK . PL ‚Paweł verbrannte meine Bücher.‘

mojei POSS . 1SG . AKK . PL

książki. Buch.AKK . PL

książki. Buch.AKK . PL

Was Binder und Bindungsdomänen angeht, so verhält sich swój analog zu dem Reflexivpronomen siebie/się:: Primärer Binder ist das Satzsubjekt. Gebunden wird hier – im Normalfall des adnominalen Possessivums – nicht ein Ko-Argument/KoKomplement bzw. ein Supplement auf Satzgliedebene, sondern ein Teilausdruck innerhalb einer NP. Innerhalb der Nominalphrase vertritt das Possessivum typischerweise ein Genitivattribut ersten Grades wie in (43). Aber auch bei tieferer Einbettung ist Subjektbezug der Normalfall, wie in (46). Bindung durch ein Argument innerhalb der NP ist wie in (47) bei abgeleiteten Substantiven neben der Bindung durch das Subjekt möglich. Ein Konjunkt innerhalb einer Koordination, die als Subjekt fungiert, kann ein Possessivum im anderen Konjunkt nicht lokal binden, vgl. (48).  



(46) POL

Piotraj książkę o Pawełi czyta Buch.AKK über Paweł les.3SG Piotr.GEN jegoj przodkach. EN Vorfahr.LOK . PL 3SG . M . GGEN ‚Pawełi liest Piotrsj Buch über seinei/j Vorfahren.‘

swoichi / POSS . REFL . LOK . PL

(47) POL

Pawełi podziwia Piotraj miłość do Paweł bewunder.3SG Piotr.GEN Liebe.. AKK zu przodków. Vorfahr.GEN . PL ‚Pawełi bewundert Piotrsj Liebe zu seineni/j Vorfahren.‘

(48) POL

Piotri i jegoi / *swóji EN POSS . REFL . NOM . SG Piotr und 3SG . M . GGEN w Warszawie. in Warschau.. LOK ‚Piotr und sein Bruder arbeiten in Warschau.‘

brat Bruder

swoichi/j POSS . REFL . GEN . PL

pracują arbeit.3PL

B1 Wortklassen

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Auch in subsentential abgegrenzten Domänen (Infinitivkonstruktionen, erweiterten Adjektivphrasen) erfolgt, zumindest fakultativ, reflexiver Bezug auf das Subjekt. (49) POL

mij sprawdzać moichj / Pawełi nie pozwala POSS . 1SG . G GEN EN . PL Paweł NEG erlaub.3SG 1SG . DAT überprüf.INF swoichi / jegoi eksperymentów. POSS . REFL . GEN . PL 3SG . M . GGEN EN Experiment.GEN . PL ‚Pawełi erlaubt mirj nicht, meinej/seinei Experimente zu überprüfen.‘

(50) POL

Pawełi nie pozwala muj sprawdzać swoichi/j / überprüf.INF POSS . REFL . GEN . PL Paweł NEG erlaub.3SG 3SG . M . DAT jegoi/j eksperymentów. EN Experiment.GEN . PL 3SG . M . GGEN ‚Pawełi erlaubt ihmj nicht, seinei/j Experimente zu überprüfen.‘

(51) POL

Pawełi obserwuje zadowolonych ze swoichi/j / zufrieden.AKK . PL von POSS . REFL . GEN . PL Paweł beobacht.3SG jegoi słów słuchaczyj. EN Wort.GEN . PL Zuhörer.AKK . PL 3SG . M . GGEN ‚Pawełi beobachtet die mit seineni Worten zufriedenen Zuhörer.‘

Die Bindungsprinzipien entsprechen, wie am Beispiel des Polnischen gezeigt, mit den durch den adnominalen Status des Possessivums bedingten Adaptionen denen für das Reflexivpronomen. In den skandinavischen Sprachen ist das reflexive Possessivum auf die 3. Person beschränkt. Es handelt sich um die kongruierenden (adjektivischen) sin/sitt-Formen; vgl. etwa zum Norwegischen Ramm/Fabricius-Hansen (2012). Als nicht-reflexive Formen fungieren s-Genitive zur 3. Person des Personalpronomens. Im Dänischen ist die Opposition im Plural zugunsten des Genitivs deres aufgehoben; außerdem werden die gebundenen Formen nur personenbezogen gebraucht. Wie die anderen Vergleichssprachen außer dem Polnischen (und den skandinavischen Sprachen) unterscheidet das Deutsche nicht zwischen der Zugehörigkeit unter lokaler und nicht-lokaler Bindung. Reflexivität wird nicht berücksichtigt. Dabei entstehen systematische Ambiguitäten wie in: (52)

Pauli bespricht mit Peterj seinei/j Fragen.

(53)

Pauli spricht mit Peterj. Seinei/j Frau ist krank.

Im Deutschen können jedoch auch die Genitivformen des Demonstrativums der, also dessen/deren, (fakultativ) in der funktionalen Domäne der Possessiva gebraucht

718

B Wort und Wortklassen

werden. Wird statt sein/ihr das deiktische dessen/deren verwendet, wird in diesem Fall ein Bezug auf das Präpositivkomplement klargestellt: (54)

Pauli bespricht mit Peterj dessenj Fragen.

(55)

Pauli spricht mit Peterj. Dessenj Frau ist krank.

Die Alternation zwischen den beiden Possessivausdrücken kann dabei als Sonderfall der allgemeineren Alternation von Demonstrativum und rein anaphorischem Pronomen (einschließlich der Possessiva) betrachtet werden. Gemäß neueren Ansätzen (vgl. u. a. Comrie 1997b, Bosch/Umbach 2007, Abraham 2007 für Demonstrativum versus Personalpronomen, Dalmas/Vinckel-Roisin 2012 für dessen/deren versus sein/ ihr) sind in erster Linie Faktoren der Informationsstruktur bzw. der Diskursorganisation für die Wahl des Demonstrativums anstelle der Anapher/des Possessivums ausschlaggebend, während die syntaktische Funktion (Das Antezedens ist nicht Subjekt) und die lineare Ordnung (Das Antezedens ist linear proximal), die in der Vergangenheit auch geltend gemacht wurden, eher als sekundäre Effekte der informationsstrukturellen Anforderungen zu betrachten sind. Die Genitivformen des Demonstrativums haben demnach gegenüber dem Possessivum ein informationsstrukturell herabgestuftes, (noch) wenig salientes Antezedens, sie meiden also thematische Information (Diskurstopiks) zugunsten rhematischer bzw. neu zu thematisierender Information; vgl. dazu Drewnowska-Vargáné/Zifonun (2011b: 220–226). Eine sprachübergreifende Parallele – auch in Sprachen ohne reflexives Possessivum – ist die Existenz von intensivierenden Ausdrücken, die vergleichbar den Intensifikatoren mit der Bedeutung ‚selbst‘ beim Reflexivum, den Bezug auf ein lokales Antezedens besonders hervorheben und ggf. vereindeutigen; vgl. auch König (2012: 15–18). Sie haben hier die Bedeutung ,eigen‘ und wie im Deutschen in der Regel adjektivischen Status.  





(56) ENG FRA POL UNG DEU

Anni prefers heri/j cake. Anni prefers heri own cake. Annei préfère soni/j gâteau. Annei préfère soni propre gâteau. Annai woli swojei ciasto. Annai woli swojei własne ciasto. Annai inkább (a) süteményéti/j szereti. Annai inkább (a) saját/tulajdon süteményét szereti. Annai zieht ihreni/j Kuchen vor. Annai zieht ihreni eigenen Kuchen vor.

B1 Wortklassen

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Für diese Adjektive gelten oftmals spezielle Restriktionen. So kann das englische own praktisch nur nach einem adnominalen Genitiv (einschließlich Possessivum) vorkommen: my own car, Peter’s own car versus *the/an own car, während im Deutschen Verbindung mit definitem und indefinitem Artikel ohne Weiteres möglich ist (vgl. (57), (58)). Das französische propre muss in Verbindung mit dem Possessivum pränominal gesetzt werden, während es in der Bedeutung ‚eigen‘ sonst auch postnominal gestellt wird: n’avoir pas d’opinion propre ‚keine eigene Meinung haben‘, nom propre ‚Eigenname‘ (nachgestellt wird auch das homonyme propre ‚sauber‘). Prädikativer Gebrauch ist sprachübergreifend ausgeschlossen oder wie im Deutschen (vgl. (59)) markiert und auf eine übertragene Lesart eingeschränkt – der Possessor wird dabei obligatorisch als Dativergänzung genannt.  

(57)

Doch die Geschichte von der um die eigene Identität ringenden Bäuerin wird von der Regisseurin auf der Ebene von transzendentem Hokus-Pokus und schwarzer Magie abgehandelt. (die tageszeitung, 16.03.1990)

(58)

„München hat auch eine eigene Identität, ohne daß es ein eigener Staat ist“, mit diesen Worten hat sich Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber zu dem Problem der Selbstständigkeit des Bundeslandes Bremen geäußert. (die tageszeitung, 11.01.1997)

(59)

Dieses Durchstehvermögen ist ihm eigen. Er stammt aus einer Arbeiterfamilie. (Frankfurter Rundschau, 03.05.1997)

B1.5.5 Indefinitpronomina B1.5.5.1 Vorklärung zu ,Indefinita im weiteren Sinne‘ und ihrer Verwendungstypik Entsprechend der Klassifikation für den Gesamtbereich der Pronomina (→ B1.5.1.2) fassen wir alle Pronomina, die nicht auf eindeutig identifizierbare Gegenstände der Welt orientiert sind, als Indefinita im weiteren Sinne (Indefinita i. w. S.) zusammen. Sie stehen den definiten Pronominaklassen, also Personalpronomen (mit Possessivund Reflexivpronomen) und Demonstrativpronomen, gegenüber; sie sind nicht für Definitheit spezifiziert. Als eine der Subklassen sind die Interrogativpronomina klar abgrenzbar. Dabei ist zu betonen, dass diese sprachübergreifend auch im engeren Sinne indefinit gebraucht werden (wie in: Er hat (irgend)was gesagt). Die weitere Subklassifikation der Indefinita i. w. S. liegt nicht so klar auf der Hand. Wir unterscheiden noch zwischen Indefinitpronomina im engeren Sinne (unter Einschluss der Negationspronomina) und Quantifikativpronomina. Mit Indefinitpronomina im engeren Sinne (i. e. S.) wie (irgend)jemand, (irgend)etwas ist prototypischerweise die Funktion der indefiniten Referenz verknüpft, ohne dass Beschränkungen im Hinblick auf  











720

B Wort und Wortklassen

die Größe der Extension des Nominals ausgedrückt würden. Quantifikativpronomina wie einerseits alle, jeder, andererseits einige, mehrere, etwas leisten genau solche Größen-Beschränkungen. Quantifikativpronomina bringen jedoch selbst keine Identifikationsleistung im Sinne definiter oder indefiniter Referenz ein. Wir betrachten Identifikation und Quantifikation als voneinander unabhängige funktionale Domänen. Diese an Haspelmath (1997) angelehnte Subklassifikation der Indefinita i. w. S. ist nur eine von mehreren denkbaren Unterteilungen. So können z. B. – in enger Bezogenheit auf die formale Logik – neben den Interrogativa drei weitere Subklassen unterschieden werden: (a) Indefinita, für die der Existenzquantor $ als Repräsentation zu wählen wäre ((irgend)jemand, (irgend)etwas; einige, mehrere), (b) Indefinita, für die die Negation des Existenzquantors Ø$ als Repräsentation zu wählen wäre (niemand, nichts), (c) Quantifikativa, für die der Allquantor " als Repräsentation zu wählen wäre (alle, jeder). In den folgenden Abschnitten werden an geeigneter Stelle weitere Argumente, die für die hier vorgeschlagene Subklassifikation sprechen, angeführt. Charakteristisch für die Indefinita i. w. S. ist, dass es bei allen Subklassen selbstständige Pronomina(verwendungen) gibt, die ‚partitiv‘ bezüglich einer kontextuell gegebenen Bezugsmenge interpretiert werden können. Ein Test für partitive Verwendbarkeit ist im Deutschen die Verbindung mit von + Bezeichnung für die Bezugsmenge bzw. einer entsprechenden Genitivphrase wie in: welcher von euch; irgendeiner/keiner davon; jeder von ihnen/dieser Männer; einige von diesen Leuten/dieser Leute. Neben dieser ‚explizit partitiven‘ Form sind auch ‚implizit partitive‘ Verwendungen möglich, bei denen die Bezugsmenge (meist) im Vortext genannt wird wie in:  











(1)



Es gibt acht Menüs zur Auswahl. Welches nimmst du? / Keines behagt mir. / Zu jedem gehört noch ein Dessert. / Einige standen schon letzte Woche auf der Speisekarte.

Bei den definiten Pronominaklassen sind partitive Gebräuche weitgehend ausgeschlossen. Nur die ‚determinativisch‘ gebrauchten Demonstrativa (vgl. → B1.2.1.7.2) lassen ggf. sehr eingeschränkt eine bestimmte Form des explizit partitiven Gebrauchs zu wie in DEU diejenigen von euch, die … bzw. ENG those of you, who … Wie die Beispiele zeigen, ist partitive Verwendung typisch für Pronomina, die adnominal und selbstständig bzw. primär adnominal gebraucht werden. Nur-selbstständige Pronomina haben nur in Ausnahmefällen partitiven Gebrauch wie DEU wer (von euch).

B1 Wortklassen

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B1.5.5.2 Interrogativpronomina B1.5.5.2.1 Funktionale und typologische Charakterisierung Interrogativpronomina kommen tendenziell universal vor. Sie haben die Funktion, ein spezifisches Wissensdefizit des Sprechers in Bezug auf Partizipanten, die in den zur Sprache gebrachten Sachverhalt involviert sind, zu kennzeichnen. Die unterschiedliche Rolle der Partizipanten wird morphosyntaktisch angezeigt (DEU wer, wen, wem versus ENG who, whom, to whom). Gegebenenfalls wird mit ihnen auch ein Wissensdefizit im Hinblick darauf, welche Sachverhalte überhaupt vorliegen (z. B. „Was ist geschehen?“), angezeigt. Fragepronomina sind im prototypischen Fall auf referentielle Festlegung ausgerichtet, können sie selbst aber nicht leisten. Vielmehr wird wie bei jeder Form von Interrogativität erst durch die Antwort des Adressaten die erwünschte Festlegung (auf (einen) Referenten, auf eine Prädikation, auf einen Wahrheitswert) herbeigeführt. Bei einer Frage wie (2a) wird in der Regel vorausgesetzt, dass es jemanden gibt, der (nicht) gelacht hat. Die Antwort (2b) (indefinit referentiell) ist daher ungenügend (stellt keine gelungene Antworthandlung dar), weil sie nur diese Vorannahme bestätigt. Die Antwort (2c) bedeutet eine Zurückweisung dieser Vorannahme und deutet ihrerseits darauf hin, dass die Fragehandlung unangemessen war, insofern als sie auf (in der jeweiligen Situation) unangemessenen Vorannahmen beruhte.  

(2)

a. Wer hat hier (nicht) gelacht? b. Jemand/Irgendjemand. c. Niemand. Hier im engeren Sinne von einer Existenzpräsupposition zu sprechen, ist allerdings zu stark. Wendet sich zum Beispiel im Zusammenhang mit einem Kriminalfall die Polizei an die Bevölkerung mit der Frage „Wer hat in der Nacht zum Dienstag ca. 12 Uhr nachts an der Haltestelle am alten Friedhof einen Mann stehen sehen?“, so hofft sie zwar, dass es jemanden gibt, der eine solche Beobachtung gemacht hat; sie präsupponiert es aber nicht.

Es zeigt sich somit, dass Sprecher bei der Verwendung von Fragepronomina im prototypischen Fall die Existenz von Personen oder Sachen, die als Partizipanten in Frage kommen und auf die sie selbst somit indefinit referieren könnten, voraussetzen. Die Fragepronomina selbst werden aber nicht indefinit-referierend gebraucht. Ihre funktionale Domäne fassen wir als ‚Markierung eines – im prototypischen Fall referentiellen – Wissensdefizits‘. Man beachte, dass auch nach ganzen Sachverhalten mithilfe des unspezifischen Fragepronomens gefragt wird (vgl. jeweils die zweite Antwortalternative):  



(3)

a. A: Was ist geschehen? B: Etwas Schlimmes. / Die Scheune ist abgebrannt. b. A: Was hast du getan? B: Alles Erforderliche. / Ich habe die Einkäufe erledigt.

722

B Wort und Wortklassen

In diesem Fall liegt kein ‚referentielles‘ Wissensdefizit vor. Es geht hier nicht darum, dass Gegenstände identifiziert werden, die dem Sprecher nicht bekannt waren, sondern Sachverhalte mitgeteilt werden. Das Fragepronomen was (mit dem Merkmal [unspezifisch] gegenüber [+personal] bei wer; vgl. → B1.5.1.7) ist hier der einzige mögliche Leerstellenfüller. Man kann annehmen, das Pronomen leiste eine Nominalisierung der Sachverhaltsbeschreibung; vgl. zu dieser Idee die Ausführungen zu etwas in → B1.5.5.3.1.

Ebenfalls universal scheint die Unterscheidung zwischen Pronomina zur Frage nach Personen (bzw. Belebtem) und nach Nicht-Personalem bzw. ‚Unspezifischem‘ zu sein – unabhängig von den ansonsten in einer Sprache üblichen nominalen Klassifikationen (Genera). Bei dem Unspezifischen handelt es sich um die Restklasse des (durch ein Nominal) Erfragbaren, wenn die besonders prominente Gegenstandssorte, die der Personen, ausgenommen ist. Üblicherweise ist bei nur-selbstständigen Interrogativa neben der Sexusunterscheidung bei der Frage nach Personen auch die Numerusunterscheidung neutralisiert. Beide Neutralisierungen ergeben sich aus der speziellen Fragesituation, bei der Vorannahmen über Geschlecht und Anzahl der erfragten Partizipanten im Allgemeinen weder möglich noch sinnvoll sind. Schließlich können sich auch Beschränkungen für die Kasus ergeben; hier ist insbesondere an das Deutsche zu denken, wo das unbelebte was nicht über einen Dativ zu verfügen scheint. Wir führen alle diese Einzelaspekte unter dem Parameter ‚semantische Spezifika der Interrogativa und ihre morphologischen Korrelate‘ zusammen. Zur Frage nach den Umständen, also der kontextuellen Situierung des Sachverhalts, werden Interrogativadverbien („Pro-Adverbien“) gebraucht, die folgende konzeptuelle Sortierung aufweisen können: Frage nach Ort, Zeit, Art und Weise, Grund, Zweck. Wie im Deutschen werden in allen Kontrastsprachen mindestens die ersten drei der genannten Dimensionen durch morphologisch einfache lexikalische Einheiten ausgedrückt (‚wo‘, ‚wann‘, ‚wie‘), während weitere morphologisch (wie die deutschen Pronominaladverbien wozu, weshalb) oder syntaktisch komplex (wie POL po co ‚wozu‘) sein können. Zum Verhältnis zwischen Interrogativpronomina und -adverbien vgl. Zifonun (2007a: 20 f.). Häufig in den Sprachen der Welt ist auch ein spezielles ‚Wahl‘-Element (‚selektives Interrogativum‘), mit dem aus einem vorabgesteckten Bereich von Gegenständen das einschlägige herausgegriffen werden soll; vgl. DEU welcher, ENG which, FRA (le)quel. Wahl-Elemente sind typischerweise adnominal, haben ‚adnominalen Grundcharakter‘ (→ B1.5.1.3); aber dies gilt nicht ausnahmslos. Durch das Nebeneinander von selektiven und anderen Interrogativa und weitere semantische Beschränkungen ergibt sich ein besonders diversifiziertes sprachspezifisches Gesamtfeld für die Interrogativpronomina. Der entsprechende Parameter lautet ‚selektive Interrogativa und das sprachspezifische Feld der Interrogativa‘. Universal ist auch die Tendenz von Interrogativpronomina zum Vorkommen in Fokuskonstruktionen und -positionen, insbesondere in der Satzspitzenposition. Dieser syntaktische Parameter wird erörtert unter: ‚Lineare Position der Interrogativa und der sie einbettenden Phrasen‘.  



B1 Wortklassen

723

Für Interrogativpronomina ist im Deutschen wie in anderen europäischen Sprachen ein besonders breites Spektrum von Funktionen kennzeichnend. Die meisten dieser Funktionen sind nicht interrogativ, so dass die Benennung eher eine Konzession an die Tradition, oder auch an die vermutlich historisch zugrunde liegende Funktion darstellt. In einer einzelsprachlichen Grammatik des Deutschen ist es daher angebracht, einfach von w-Pronomina zu sprechen (vgl. IDS-Grammatik 1997: 41 mit dem Terminus ,W-Objektdeixis‘ für wer/was). Diese w-Formen stehen als im weitesten Sinne nicht-deiktische/nicht-definite Formen häufig entsprechenden deiktischen/definiten d-Formen gegenüber. Sie werden u. a. als Indefinita gebraucht (Er hat gerade was gesagt) oder als Einleitungselement von freien Relativsätzen (Was du sagst, überzeugt mich); → D6.8.  

B1.5.5.2.2 Semantische Spezifika der Interrogativa und ihre morphologischen Korrelate Zentral innerhalb der Menge der Frageausdrücke sind die nur-selbstständigen Interrogativa wie DEU wer/was. Alle engeren Vergleichssprachen folgen der universalen Tendenz, nur-selbstständige Interrogativa für genau zwei ‚Sorten‘ von Denotaten bereitzustellen: für Personen (bzw. Belebtes) und für Nicht-Personales (bzw. Unspezifisches). Es liegt also eine Differenzierung auf der obersten Ebene des ‚konkreten Genus‘ (→ B1.5.1.7) vor. Dies gilt unabhängig davon, ob in der jeweiligen Sprache auch ein ‚abstraktes Genus‘ existiert und ob dieses auf die Interrogativa (und allgemeiner Indefinita im weiteren Sinne) anzuwenden ist. Wenn nicht-personale Interrogativa (‚was‘) im engeren Sinne auf Gegenstände gerichtet sind, so unterbleibt innerhalb dieses Bereichs sprachübergreifend die sonst anzutreffende Unterscheidung zwischen Kontinuativem und Individuiertem: (4)

a. Was hast du gegessen? b. Ich habe Brot und eine Scheibe Käse gegessen.

(5)

a. Was hast du gesehen? b. Ich habe Wasser und einen hohen Berg gesehen.

Im Englischen und Ungarischen stellt sich die Frage nach einem Abgleich zwischen konkretem und abstraktem Genus nicht, da beide Sprachen keine (abstrakten) Genera kennen. Das Französische unterscheidet zwischen Non-Feminina (üblicherweise als ‚Maskulina‘ bezeichnet) und Feminina, sowohl bei den Substantiven als auch bei den Personalpronomina der 3. Person und allen adnominalen Pronomina(vorkommen). Die nur-selbstständigen Pronomina mit einer Unterscheidung im konkreten Genus, also z. B. die Interrogativa qui und que/quoi, sind gleichermaßen als Non-Feminina  



724

B Wort und Wortklassen

einzuordnen. Die semantische Unterscheidung zwischen Person und Nicht-Personalem kann nicht als Unterscheidung im abstrakten Genus reflektiert werden. Nur markiert ist bei mit qui kongruierenden Formen auf mittlere oder weite Distanz sexusgesteuert feminines Genus möglich, vgl. (6) versus (7). (6) FRA

Qui n’ est pas content? Il zufrieden.M KL 3.. M . SG wer NEG ist NEG ‚Wer ist nicht zufrieden? Er kann protestieren.‘

peut réclamer. könn.3SG protestier.INF

(7) FRA

Qui fut bien empêchée? Ce fut Clitie. wer war denn verlegen.F DEM . M . SG war Clitie ‚Wer war denn in Verlegenheit? Es war Clitie.‘ (La Fontaine)

Anders die polnischen Interrogativa: Die personenbezogene (nicht-sexusdifferenzierende) Form kto und die gegenstandsbezogene Form co flektieren analog zur maskuliEN / AKK : kogo, DAT : komu, INS : kim; nen bzw. neutralen Adjektivflexion (NOM : kto, GGEN NOM / AKK : co, GEN : czego, DAT : czemu, INS : czym). Sie sind klar als Maskulinum bzw. Neutrum einzuordnen, was sich auch in allen Kongruenzen auf mittlere (i. e. satzinterne) Distanz widerspiegelt; vgl. etwa (8) und (9).  

(8) POL

Kto nie jest zadowolony? zufrieden.M . SG wer NEG ist ‚Wer ist nicht zufrieden?‘

(9) POL

Kto zapomniał swojego wer vergess.PRT . 3SG . M POSS . REFL . GEN . SG ‚Wer hat seinen Regenschirm vergessen?‘

parasola? Regenschirm.GEN

Interessant im Kontrast zum deutschen wessen, wie auch zum englischen whose, ist, dass die Genitivform kogo standardsprachlich als Possessorausdruck Beschränkungen unterliegt, ihre Hauptdomäne ist die Funktion als Genitiv- oder Akkusativkomplement. In Possessorfunktion wird präferiert die adjektivische Form czyj/czyja/czyje gebraucht (Swan 2002: 160). Insgesamt aber ähnlich wie bei den polnischen verhält es sich bei den deutschen Interrogativa. Bei nur-selbstständigem (nicht-sexusdifferenzierendem) wer und was, die wir als jeweils getrennte Paradigmen auffassen, zeigt die Morphologie klar, dass es sich jeweils um ein Maskulinum bzw. Neutrum handelt: wer flektiert analog zum Maskulinum des Demonstrativpronomens der, was analog zu dessen Neutrum (mit der Form das). Was Genuskongruenz angeht, so haben wer und was wie die anderen nur-selbstständigen Indefinitpronomina im weiteren Sinne kein nominales Antezedens, nach dem sich möglicherweise das Genus des Pronomens – sofern vorhanden – richten  



B1 Wortklassen

725

könnte. Als selbstständige Formen haben sie auch in der Regel keine Begleiter auf nahe Distanz, die mit ihnen kongruieren könnten: *wer alter/*wer alte. Bei den Indefinita jemand, niemand, die ähnlich wie wer zu beurteilen sind (vgl. → B1.5.5.3.2), sind postponierte Adjektive im Nominativ in der Regel Neutra: jemand Fremdes, jemand Altes. Dabei ist nicht klar, welches der beiden Elemente Kopf, welches Attribut ist. Mit der Großschreibung scheint präsupponiert, dass das Adjektiv Kopf der Konstruktion ist. In jedem Fall liegt keine Genuskongruenz vor. Bei den Adjektiven handelt es sich wohl ursprünglich um den Genitiv des nominalisierten Adjektivs; vgl. dazu → B1.5.5.3.2. Bei wer (als Interrogativum) sind aber solche Kombinationen nicht üblich. Immerhin ist die Verbindung mit ander-/anders belegt. Dabei überwiegen (bei einer am 25.10.2010 durchgeführten Recherche) in den Korpora geschriebener Sprache die Belege mit adverbialem, unveränderlichem anders, und zwar in Verbindung mit den Formen wer, wen und wem (ca. 500 Belege). Mit über 200 Belegen ist auch die Version wer anderes, also die Kombination mit der neutralen Form gut repräsentiert. Für die Kombination wer anderer gibt es 154 Belege; auch im Akkusativ kommt die maskuline Form vor: wen anderen (13 Belege); im Dativ findet sich die schwache Form wem anderen (10 Belege) und die starke wem anderem (1 Beleg) – beide sind Non-Femininum-Formen, also nicht differenzierend zwischen Maskulinum und Neutrum. Auffällig ist allerdings, dass die Kombinationen mit maskulinen Formen von anderer kaum in Fragefunktion vorkommen, sondern überwiegend als Indefinita. Man vergleiche:  



(10)

Der hat schon in Braunau unter anderem auf dem Liberoposten gute Figur gemacht. Wer anders als der Ex-Superlibero des Meisters, wäre geeigneter, um Aigner den nötigen Schliff als letzter Mann vor einer möglichen Karriere in Lehen zu verpassen? (Neue Kronen-Zeitung, 03.07.1994)

(11)

Vor den Augen des Fürsten wollen Sonntag beide „König“ werden. Wer anderer kommt statistisch nicht in Frage: In den letzten neun Jahren gewannen nur der Brasilianer und der Franzose den klassischen Grand Prix, der heuer die 51. Auflage erlebt. In der Saison 1993 steht es an Siegen 3:2 für Prost. (Salzburger Nachrichten, 19.05.1993)  

Die Interrogativa können selbst satzintern (auf mittlere Distanz) Antezedens für Reflexiva und Possessiva sein, sowie satzextern (auf weite Distanz) für Demonstrativa und anaphorische Personalpronomina. Dabei ist eine satzinterne Beziehung zum Possessivum und die zum Demonstrativum (als Korrelat) strikter geregelt als die satzexterne Beziehung zum Personalpronomen: Bei wer muss satzintern und beim Korrelat eine maskuline kongruierende Form stehen, wie in (12) und (13), satzextern kann sexusbezogen anaphorisiert werden, vgl. (14). Mit was kongruiert in jedem Fall eine Neutrumform, wie in (15), (16). (12)

Weri hat seinei/*ihrei Bescheinigung erhalten?

(13)

Wer seine/*ihre Bescheinigung erhalten will, der/*die soll sich im ersten Stock melden.

(14)

Wer will teilnehmen? Er oder sie soll sich im ersten Stock melden.

726

B Wort und Wortklassen

(15)

Was du gesagt hast, das gilt.

(16)

Was hast du gesagt? Es gilt.

Die satzintern notwendigerweise maskuline/neutrale Kongruenz zeigt ebenso wie die Flexion von wer und was, dass maskulines bzw. neutrales Genus vorliegen. Das Nebeneinander von sexusunabhängigem personalem Bezug und Genus Maskulinum lässt sich im vorliegenden Rahmen problemlos lösen: wer und weitere nurselbstständige Indefinita ohne Sexusunterscheidung wie jemand und niemand weisen zwei Genuskategorien auf: Das konkrete Genus [+personal] und das abstrakte Genus Maskulinum. Diese Indefinita i. w. S. haben also ähnlich wie Substantive ein fixes oder inhärentes abstraktes Genus. Demgegenüber ist bei allen definiten Pronomina (Personal-, Demonstrativpronomina) ein inhärentes Genus ausgeschlossen. Die Pronomina mit inhärentem Genus sind bei Personenbezug im Deutschen alle morphologische Maskulina. Insofern liegt hier eine androzentrische Grammatikalisierung des Personenbezugs vor. Diese ist, wenn man so will, insofern tief im Sprachsystem verankert, als das Maskulinum insgesamt als ,unmarkiertes‘ Genus zu gelten hat (→ C2.2). Maskulina wie wer oder jemand sind jedoch eher vergleichbar mit maskulinen Substantiven, die den Sexusgegensatz lexikalisch neutralisieren wie der Mensch, als mit movierbaren Maskulina, die ein sogenanntes „generisches Maskulinum“ erlauben wie der Bürger/der Chef gegenüber die Bürgerin/die Chefin. Pronomina ohne inhärentes Genus wie die Personalpronomina, die Demonstrativpronomina, aber auch Indefinita wie ( irgend)einer, Quantifikativa wie jeder verhalten sich dagegen eher wie generisch gebrauchte maskuline Substantive, wenn die maskuline Form für Personen beiderlei Geschlechts verwendet wird. Wenn wer, jemand und niemand dieser Argumentation zufolge lexikalisch sexusneutralisierte Maskulina sind, stellt die sexusabhängige Verwendung wie in (17), (18), die im Gefolge der Bestrebungen um eine sprachliche Gleichstellung von Frauen und Männern für grammatisch erklärt wurde, einen erheblichen Sprachwandel dar.  





(17)

Sie ist jemand, der genau weiß, was sie will, und nicht lange rumredet, sondern was tut. (Duden-Grammatik 2009: 1001, Internet)

(18)

Ich kenne jemand, die das günstig und in sehr guter Qualität anbietet. (ebd., Internet)

Auch was die Numerusunterscheidung angeht, bleiben die Vergleichssprachen überwiegend bei der weit verbreiteten ökonomischeren, auch funktional vertretbaren Option: Es wird kein Numeruskontrast ausgedrückt; die Formen sind Singulariatantum. Unter den engeren Kontrastsprachen lässt nur das Ungarische Pluralisierung zu.

B1 Wortklassen

727

Im selbstständigen Gebrauch kann jeweils an ki ‚wer‘ und mi ‚was‘ bei Bezug auf mehrere Personen bzw. Sachen das Pluralaffix -k angefügt werden: kik/mik (PL ) ,wer/ was‘. Allerdings gibt es durchaus im europäischen Rahmen auch weitere Sprachen, bei denen die Übersetzungsäquivalente deutscher selbstständiger Interrogativa Numerus- sowie Genuskontraste kennen. Hier sind z. B. das Isländische (hver mit M - F -Unterscheidung in beiden Numeri) und das Neugriechische (SG poios/poia/poio, PL poioi/ poies/poia) zu nennen. In beiden Sprachen sind selbstständige und adnominale Form, anders als in unseren Vergleichssprachen, nicht separiert; die Formen stehen also jeweils für ‚wer‘ und ‚welcher‘. Auf der anderen Seite ist unter den europäischen Sprachen auch die seltene Option des Zusammenfalls von Bezug auf Personen und Nicht-Personales vertreten, und zwar in den ostbaltischen Sprachen Litauisch und Lettisch. Die Form LET kas ‚wer, was‘ ist das Ergebnis eines Zusammenfalls der Maskulina und Neutra, die in den ostbaltischen Sprachen anders als in anderen indoeuropäischen Sprachen auch die Interrogativa betraf, vgl. dazu Holst (2001: 131). Was die Kasusunterscheidungen angeht, so ergibt sich folgendes Bild: Im agglutinierenden Ungarischen und im hochflektierenden Polnischen (ähnlich auch etwa im Isländischen und anderen stark flektierenden indoeuropäischen Sprachen) partizipieren die Interrogativa wie alle anderen nominalen Klassen im Prinzip an der ganzen Breite des Kasusspektrums. Bei den im nominalen Bereich nur noch schwach flektierenden Sprachen Englisch und Französisch haben die Interrogativa mindestens ebenso viele Kasusunterscheidungen wie die Substantive, aber höchstens so viele wie die Personalpronomina. Im Englischen hat nur das personenbezogene Interrogativum zwei Kasusformen who, whom jeweils für Nominativ und Akkusativ; das historisch als Genitivform zu wertende whose betrachten wir synchron als lexikalisch eigenständige Possessivbildung auf der Basis von who (→ C3.2). Die Akkusativform whom gilt als formell; in der Funktion des direkten und indirekten Objekts wird in der Regel who gewählt. Nach einer Präposition muss jedoch die Akkusativform stehen; zum ‚Präpositionsstranden‘ vgl. → B1.5.5.2.4. Die nicht-personenbezogene Form what (und das überwiegend adnominale which) ist nicht flektierbar. Das Französische verfügt über drei einfache nicht-flektierende Fragepronomina: qui (personenbezogen), que und quoi (nicht personenbezogen, jeweils zurückgehend auf die unbetonte und die betonte Form von LAT quid ‚was‘). qui kann in allen syntaktischen Funktionen, also als Subjekt, Prädikativ, direktes Objekt und verbunden mit einer Präposition erscheinen (insbesondere mit de zum Ausdruck des possessiven Attributs und mit à für das indirekte Objekt), vgl. (19). que und quoi haben (im Wesentlichen) komplementäre Distribution: que wird als Subjekt und direktes Objekt gebraucht, quoi nach einer Präposition; vgl. (20). Zu beachten ist, dass diese einfachen Formen zugunsten komplexer periphrastischer Interrogativa (wie etwa qui estce qui ‚wer‘) gemieden werden.  

728

B Wort und Wortklassen

(19) FRA

Qui vient? Qui estu? Qui cherchezvous? wen such.2PL 2PL wer komm.3SG wer bist 2SG De qui parlezvous? 2PL von wem sprech.2PL ‚Wer kommt? Wer bist du? Wen sucht ihr? Von wem sprecht ihr?‘

(20) FRA

Que cherchezvous? De quoi was such.2PL 2PL von was ‚Was sucht ihr? Wovon sprecht ihr?‘

parlezsprech.2PL

vous? 2PL

Auch das Deutsche passt in das Bild einer Abstufung des Kasusinventars nach konkretem/abstraktem Genus. Das Paradigma des personenbezogenen Maskulinum ist vollständig, das des gegenstandsbezogenen Neutrum ist defektiv, wem ist keine Dativform zu was. Die pronominale Frage nach Nicht-Personalem als indirektem Objekt ist im Deutschen ausgeschlossen, vgl. folgende Beispiele. (21)

Was wählen wir, Vorschlag A oder B?

(22)

*Wem folgen wir, Vorschlag A oder B?

Bei Dativrektion durch eine Präposition wird (archaisch und umgangssprachlich) auf was zurückgegriffen, sonst auf das entsprechende Pronominaladverb da/wo(r)+ Präposition. (23)

?An

was orientiert ihr euch? / Woran orientiert ihr euch?

B1.5.5.2.3 Selektive Interrogativa: selbstständige und adnominale Verwendungen Sprachübergreifend koexistieren häufig zwei Reihen von Interrogativa. Die eine nur-selbstständige Reihe (vgl. → B1.5.5.2.2) ist auf den Kontrast Person versus Nicht-Personales fokussiert. In ihr werden tendenziell die abstrakten Genus-/ Numerusunterscheidungen der betreffenden Sprache neutralisiert oder überlagert, in dem Sinne, dass sie semantisch mit konkreten Genusunterscheidungen assoziiert werden. Mit diesen Interrogativa wird nicht auf eine Grundmenge von potentiell einschlägigen Entitäten Bezug genommen; sie werden nicht ‚selektiv‘ verwendet. (24)

Wer ist dein Lieblingsschriftsteller? / Was ist dein Lieblingsgericht? Vorannahme: ‚Die Person hat einen Lieblingsschriftsteller / ein Lieblingsgericht.‘ keine Vorannahme: ‚Es gibt eine bestimmte Grundmenge von möglichen einschlägigen Lieblingsschriftstellern/Lieblingsgerichten (Teilmenge aller Schriftsteller/Gerichte).‘

B1 Wortklassen

729

Diese erste Reihe kann somit so charakterisiert werden: nur-selbstständig/nicht-selektiv/±Person. Die zweite Reihe von Interrogativa partizipiert – sofern möglich – an den abstrakten Genus-/Numerusunterscheidungen der Sprache. Diese Interrogativa sind nonselbstständig, ihr primärer Gebrauch ist adnominal. Hervorzuheben ist, dass insbesondere Pluralformen hier ganz selbstverständlich sind. Damit korreliert auch, dass bei ihrem Gebrauch eine Grundmenge von potentiell einschlägigen Elementen, die durch das Kopfsubstantiv zu charakterisieren sind, vorausgesetzt wird; sie werden ‚selektiv‘ verwendet, wie in (25). Bei selbstständiger Verwendung werden selektive Interrogativa immer partitiv interpretiert, wie in (26).  



(25)

Welcher englische Romancier ist dein Lieblingsschriftsteller? Vorannahme [1]: ‚Die Person hat einen Lieblingsschriftsteller.‘ Vorannahme [2]: ‚Die Grundmenge von möglichen einschlägigen Lieblingsschriftstellern besteht aus englischen Romanciers.‘

(26)

Hier sind drei Bücher. Welches (von den Büchern) willst du?

Zur Terminologie: Zwischen ‚Selektivität‘ und ‚Partitivität‘ unterscheiden wir wie folgt: Selektivität ist eine spezifische Eigenschaft der Interrogativa: Sie unterscheidet den ‚wer‘-Typ vom ‚welcher‘-Typ. Partitivität kann bei allen non-selbstständigen Indefinita vorliegen, jedoch nur wenn diese kontextbezogen selbstständig (→ B1.5.1.3) verwendet werden. Selektive Interrogativa wirken individuativ. Das heißt, sie werden in erster Linie mit Individuativa (im Singular oder Plural) verbunden; bei Kontinuativa induzieren sie eine Sortenlesart, z. B. in ‚welche Milch‘. Diese zweite Reihe kann somit so charakterisiert werden: non-selbstständig/ selektiv/ggf. abstraktes Genus. Selektive Interrogativa sind wie die nicht-selektiven primär auf die Ermittlung bestimmter Gegenstände (bestimmten Typs) ausgerichtet. Sie zielen also auf referentielle Phrasen als Antwort ab, mit denen Gegenstände eindeutig bestimmt werden (Namen, Kennzeichnungen), wie in (27) („tokendefinit“, vgl. Hole/Klumpp 2000). Phrasen, bei denen nur Eigenschaften oder ein Typ von Gegenständen benannt wird, die Träger dieser Eigenschaften aber unbestimmt bleiben („typedefinit“, vgl. ebd.), sind als Antwort nicht ausgeschlossen, vgl. (28).  

(27)

A: Welche englischen Schriftsteller schätzt du? B: Dickens und Hardy.

(28)

A: Welche englischen Schriftsteller schätzt du? B: Solche, die einen geschliffenen Stil schreiben.

730

B Wort und Wortklassen

Es gibt aber für die Frage nach Art und Beschaffenheit auch spezialisierte Frageformen. Nur im Polnischen (jaki) und im Ungarischen (milyen) gibt es dafür spezifische Wörter, in den anderen Vergleichssprachen (feste) syntaktische Verbindungen. Wir gehen hier nur auf DEU was für ein ein. Bei den englischen Interrogativa ist die Dichotomie ‚nur-selbstständig/nichtselektiv/±Person‘ versus ‚non-selbstständig/selektiv‘ durch einen weiteren Aspekt überlagert und teilweise in den Hintergrund gedrängt. Es handelt sich um den Aspekt ‚Bestimmtheit/Bekanntheit der möglichen Alternativen versus Unbestimmtheit/Offenheit der möglichen Alternativen‘ (kurz ±alternativendefinit). who (mit Objektivus whom und Possessivform whose) ist das einzige Pronomen, das eindeutig das Muster der nur-selbstständigen nicht-selektiven Pronomina befolgt: Es hat keine adnominale Verwendung, ist nicht alternativendefinit und wird nur personenbezogen verwendet. (29) ENG

Who is your favourite writer? ‚Wer ist dein Lieblingsautor?‘

what (unveränderlich) bezieht sich auf Nicht-Personales und entspricht damit DEU was, vgl. (30). Daneben hat what jedoch anders als was auch adnominale und somit selektive Verwendung und entspricht dann DEU welcher, vgl. (31a). Nicht-adnominal gebrauchtes what hat keine partitive Verwendung, vgl. (31b). Es ist daher nicht von einem non-selbstständigen what (als ein Lexem), sondern von einem Nebeneinander des nur-selbstständigen und des adnominalen what auszugehen (vgl. Huddleston/ Pullum 2002: 412). (30) ENG

What did you buy? ‚Was hast du gekauft?‘

(31) a. What newspapers did you buy? ENG ‚Welche Zeitungen hast du gekauft?‘ b. There were several newspapers on the counter. – #What did you buy? / *What of the newspapers did you buy? ,Es lagen verschiedene Zeitungen auf dem Ladentisch. – Welche hast du gekauft? / Welche von den Zeitungen hast du gekauft?‘  



which (unveränderlich) hat ebenfalls selbstständige und adnominale Verwendung. Anders als what ist which als non-selbstständig einzuschätzen, denn which wird im selbstständigen Gebrauch kontextbezogen (Untertyp partitiv) verwendet. Es dient nicht nur zum Bezug auf Nicht-Personales wie in (32), sondern auch auf Personen wie in (33). which ist im Gegensatz zu den alternativenindefiniten Ausdrücken what und who alternativendefinit. Das heißt, es setzt bereits implizit oder explizit bekannte Alternativen voraus, aus denen jeweils die Wahl vorzunehmen ist. Eine solche Unterscheidung wird im Deutschen nicht gemacht.

B1 Wortklassen

731

(32) ENG

Which newspaper / Which of the newspapers do you read? The Times or the Sun? ‚Welche Zeitung liest du? Die Times oder die Sun?‘

(33) ENG

Which is your favourite writer, Dickens or Hardy? ‚Wer/Welcher ist dein Lieblingsautor, Dickens oder Hardy?‘

Das Feld der englischen Interrogativa ist somit wie folgt strukturiert: Tab. 1: Das Feld der englischen Interrogativa +selektiv/adnominal bzw. non-selbstständig

–alternativendefinit +alternativendefinit

–selektiv/nur-selbstständig

+Person

–Person

+Person

–Person



what (31)

who (29)

what (30) –

which (32, 33)

Die Übersicht zeigt, dass nur innerhalb des selektiven Teilfeldes Alternativendefinitheit möglich ist. Das Französische verfügt über ein selektives non-selbstständiges Interrogativum, nämlich lequel mit den Formen (le)quel/(la)quelle – (les)quels/(les)quelles. Es tritt in zwei Varianten auf: der (kontextbezogen) selbstständigen lequel-Variante, wie in (34) und der adnominalen quel-Variante, wie in (35). Die quel-Variante kongruiert im abstrakten Genus mit dem Kopfsubstantiv. Die selbstständige Variante lequel/ laquelle – lesquels/lesquelles ist eine Verbindung aus dem definiten Artikel ( NONF / F ) und quel. (Der definite Artikel reflektiert die Bestimmtheit der erfragten Entität, nicht die Bestimmtheit von Alternativen, die hier nicht vorzuliegen braucht.) Es flektiert in beiden Teilen nach Genus und Numerus, im Artikelteil erscheinen die Kontraktionen mit den Präpositionen à und de: au/aux, du/des. lequel entspricht in seiner morphologischen Struktur also Fällen wie DEU derjenige/derselbe. Als Wahlelement ist auch das selbstständig gebrauchte lequel wie DEU welcher explizit oder implizit auf eine Grundmenge bezogen. Diese ist in der Regel im sprachlichen Kontext benannt und ihr Ausdruck dient als Antezedens für die Bestimmung von Genus und Numerus des selbstständigen lequel. Ein entsprechender Ausdruck kann auch mit partitivem de angeschlossen werden. lequel wird wie DEU welcher auch in abhängigen Fragesätzen gebraucht.  



(34) FRA

Il y a là es.gibt da Lequel welch.M . SG

quelques journaux. Lequel choisissez- vous? 2PL einige Zeitung.PL welch.M . SG wähl.2PL de ces journaux(-là) choisissezvous? von DEM . PL Zeitung.PL -da wähl.2PL 2PL

732

B Wort und Wortklassen

Ditesmoi, lequel vous choisissez. welch.M . SG 2PL wähl.2PL sag.IMP . 2PL 1SG . OBJ ‚Hier sind ein paar Zeitungen. Welche wählt ihr? Welche von diesen Zeitungen wählt ihr? Sagt mir, welche ihr wählt.‘ (35) FRA

Quel journal choisissezwähl.2PL welch.M . SG Zeitung ‚Welche Zeitung wählt ihr?‘

vous? 2PL

Das Feld der französischen Interrogativa ist somit wie folgt strukturiert: Tab. 2: Das Feld der französischen Interrogativa

+abstraktes Genus

–abstraktes Genus

+selektiv/non-selbstständig

–selektiv/nur-selbstständig

adnominale Variante

kontextbezogen selbstständige Variante



quel

lequel



+Person

–Person

qui

que/quoi

Das Französische zeigt hier bei einem non-selbstständigen Pronomen – in gewisser Weise vergleichbar mit dem Deutschen – eine Variantenbildung bei den beiden Gebrauchsweisen. Während das Deutsche bei einigen Indefinita, nicht jedoch bei welcher, die Varianten flexionsmorphologisch unterscheidet (einer versus ein, keiner versus kein), ist die selbstständige Variante lequel eine Zusammensetzung aus Artikel und adnominaler Variante. Die „Fusion von Determinativ und Kopf“ (vgl. Huddleston/Pullum 2002: 412) findet hier also einen formalen Ausdruck.  



Das polnische selektive Interrogativum lautet który mit den Genusformen który/ która/które. Es ist non-selbstständig (ohne Variantenbildung) und kongruiert wie ein adnominales Adjektiv in Genus und Numerus mit dem Kopf- bzw. Bezugssubstantiv. Bei selbstständiger Verwendung ist ein Antezedens im sprachlichen Kontext ausschlaggebend für Genus und Numerus (vgl. zum Französischen). Wie bereits gezeigt, sind die nicht-selektiven, selbstständigen Interrogativa kto und co semantisch auf die sortale Unterscheidung Person versus Nicht-Personales ausgelegt, formal sind sie jeweils Maskulinum bzw. Neutrum. Sie repräsentieren somit den spezifischen Fall stark flektierender indoeuropäischer Sprachen, bei denen die konkrete Genusunterscheidung auf die abstrakten Genera abgebildet werden muss. Das Feld der polnischen Interrogativa ist somit wie folgt strukturiert:

B1 Wortklassen

733

Tab. 3: Das Feld der polnischen Interrogativa +selektiv/non-selbstständig –selektiv/nur-selbstständig +abstraktes Genus

który

+Person

–Person

kto

co

Das selektive Interrogativum des Deutschen lautet welcher, das in drei Genera pronominal (wie dieser) flektiert. welcher ist non-selbstständig (ohne Variantenbildung) und kongruiert in Genus und Numerus mit dem Kopf- oder Bezugssubstantiv. Dabei wird welcher nur mit Individuativa kombiniert bzw. induziert eine individuative Interpretation. Bei selbstständiger Verwendung sind wie im Französischen und Polnischen Genus und Numerus durch ein kontextuelles Antezedens bestimmt. Vergleichbar dem Polnischen schlägt, wie oben gezeigt, die abstrakte Genusunterscheidung formal aber auch auf die nicht-selektiven Interrogativa durch. Auf der semantischen Ebene zeigt der Maskulinum-Neutrum-Kontrast dort die sortale Unterscheidung Person versus Nicht-Personales an. Das Feld der deutschen Interrogativa ist somit analog zum polnischen strukturiert. Tab. 4: Das Feld der deutschen Interrogativa +selektiv/non-selbstständig –selektiv/nur-selbstständig +abstraktes Genus

welcher

+Person

–Person

wer

was

Die Verbindung was für ein(er) tritt selbstständig und adnominal auf; es handelt sich um eine non-selbstständige Form mit Variantenbildung. Flektiert wird jeweils das Indefinitum ein(er); der Bestandteil für übt keine präpositionale Rektion aus. Die Verbindung kann so aufgespalten werden, dass nur der Fragebestandteil was im Vorfeld erscheint und die beiden anderen Bestandteile (+ Kopfsubstantiv) adjazent im Mittelfeld erscheinen. Der Indefinit-Bestandteil ein- wird im Plural durch welche- ersetzt (selbstständig) bzw. entfällt (adnominal). (36)

Was für einer ist das denn gewesen? / Was für welche sind das denn gewesen? / Was ist das denn für einer gewesen? / Was sind das denn für welche gewesen?

(37)

Was für einen Hut hast du denn gekauft? / Was für Hüte hast du denn gekauft? / Was hast du denn für einen Hut gekauft? / Was hast du denn für Hüte gekauft?

Mit was für ein(er) wird nach den Eigenschaften bzw. dem Typ des kontextuell erschlossenen Gegenstandes oder der Vielheit gefragt (bei selbstständigem Gebrauch) bzw. bei adnominalem Gebrauch nach den Eigenschaften bzw. dem Typ des von der NP bezeichneten Gegenstandes. Angemessen sind daher Antworten, mit denen die Eigenschaften oder der Typ spezifiziert wird, nicht einzelne Gegenstände:

734

B Wort und Wortklassen

(38)

Das war einer aus Mannheim/ein ganz Schlauer. / Das waren SOLche. / Das waren welche aus Mannheim. / #Das war der Hans aus Mannheim.

solche fungiert in (38) als deiktischer Verweis. Anders als was und in Übereinstimmung mit welcher ist was für ein(er) individuiert bzw. individuierend: was für eine Milch ‚welche Sorte/Art von Milch‘.

Im Ungarischen wird wie üblich beim Pronomen zwischen Personenbezug (ki ‚wer‘) und nicht-personalem Bezug (mi ‚was‘) unterschieden. Das selektive, non-selbstständige Interrogativum lautet mely (eher veraltet und stilistisch gehoben), melyik ‚welcher‘. Im Ungarischen ist somit – aufgrund des Fehlens eines (abstrakten) Genus und weil anders als im Englischen der Faktor ‚Alternativendefinitheit‘ nicht grammatikalisiert ist – das vergleichsweise einfachste System realisiert. Das Feld der ungarischen Interrogativa ist somit wie folgt strukturiert:  



Tab. 5: Das Feld der ungarischen Interrogativa +selektiv/non-selbstständig

–selektiv/nur-selbstständig

mely, melyik

+Person

–Person

ki

mi

B1.5.5.2.4 Lineare Position der Interrogativa und der sie einbettenden Phrasen Interrogativa einschließlich der Interrogativadverbien spielen im Hinblick auf das Potential sprachlicher Handlungen eine ausgezeichnete Rolle: Sie kennzeichnen eindeutig den Handlungstyp Ergänzungsfrage, für den üblicherweise ein spezifischer ‚Satzmodus‘, also eine spezielle Konfiguration von sprachlichen Mitteln wie Verbmodus, Satztopologie, Intonation ausgemacht werden kann (vgl. dazu IDS-Grammatik 1997: 640–643). Um der durch die Interrogativa markierten Informationslücke willen wird die Äußerung in der Regel überhaupt erst gemacht. Der entsprechende Ausdruck stellt daher (bei „normaler“ Betonung; d. h. bei Hauptakzent auf dem Interrogativum bzw. auf dem Exponenten der entsprechenden Phrase) den Schwerpunkt/Vordergrund der Äußerung dar. In der Antwortäußerung, die diese Informationslücke schließen wird, erbringt die dem Interrogativum entsprechende sprachliche Einheit das Neue/Rhematische/Fokussierte. Die Interrogativa erscheinen daher in Fokuspositionen. Diese befinden sich sprachübergreifend häufig an für die Sprachverarbeitung besonders prominenten Stellen der Äußerung: an deren Anfang oder an deren Ende. Bei den Vergleichssprachen ist von diesen die Option Satzspitzenstellung realisiert. Das Ungarische verfügt mit der Position unmittelbar vor dem Finitum über eine spezifische Fokusposition, die tendenziell, aber nicht immer mit der Satzspitzenposition zusammenfällt. Mit der Frontierung der Interrogativa, wie wir generalisierend sagen wollen, können Folgen für die Topologie des Satzes verbunden sein: Üblicherweise  

B1 Wortklassen

735

weicht diese dann von der Topologie des Aussagesatzes ab (zu Details sowie zum Vorkommen von Interrogativa in anderen nicht-interrogativen Satzmodi vgl. Zifonun 2007a: 27–31, 35 f.). Die Frontierung des Interrogativums betrifft in den Vergleichssprachen genauer nicht allein das Interrogativum, sondern die gesamte das Interrogativum enthaltende Phrase, oder noch genauer die gesamte Unmittelbare Satzkonstituente. Allerdings gibt es sprachspezifisch unterschiedliche Lizenzen. Diese betreffen z. B. (a) das für das Englische charakteristische ‚Präpositionsstranden‘ und (b) die Frontierung adnominaler interrogativer Possessorphrasen, die nur mittelbare Satzkonstituenten sind. Ad (a): Beim Präpositionsstranden wird nur das selbstständige Interrogativum oder die NP mit adnominalem Interrogativum an die Satzspitze versetzt, die regierende Präposition verbleibt in der postverbalen Position, vgl. (39b) versus (39a), (40b) versus (40a).  



(39) a. For whom is she waiting? ENG b. Who(m) is she waiting for _? ,Auf wen wartet sie?‘ (40) a. In which suitcase did you put my clothes? ENG b. Which suitcase did you put my clothes in _? ‚In welchen Koffer hast du meine Kleider gelegt?‘ Diese Erscheinung, die sich auch in Relativsätzen findet, ist auf das Englische sowie die skandinavischen Sprachen beschränkt. Im Deutschen ist das Stranden einer Präposition, die ein Nominal regiert, gänzlich ausgeschlossen, nur bei Pronominaladverbien kommen regional (in Norddeutschland) Fälle vor wie (41). (41)

Da halte ich nichts _ von. / Wo spricht er denn _ von?

Ad (b): Die Frontierung adnominaler interrogativer Possessorphrasen betrifft insbesondere das Französische, das Polnische und, unter anderen Vorbedingungen, das Ungarische. Im Französischen kann die interrogative Possessor-PP, die Teil einer NP ist, getrennt vom Kopfsubstantiv frontiert werden.  

(42) a. [La fille de qui] a-til DEF Tochter von wem hab.3SG KL . 3SG . M FRA qui a-til épousé b. De KL . 3SG . M geheiratet von wem hab.3SG ‚Wessen Tochter hat er geheiratet?‘

épousé? geheiratet la fille _? DEF Tochter

736

B Wort und Wortklassen

Ist die Gesamtphrase selbst eine PP, ist Frontierung ausgeschlossen: (43) a. [Avec la fille de qui] est- il marié? FRA mit DEF Tochter von wem ist KL . 3SG . M verheiratet b. *Avec de qui est- il marié _ la fille _? geheiratet DEF Tochter mit von wem ist KL . 3SG . M c. *De qui est- il marié avec la fille _? KL . 3SG . M geheiratet mit DEF Tochter von wem ist ‚Mit der Tochter von wem ist er verheiratet?‘ Auch im Polnischen kann das – adjektivische – Interrogativum für ,wessen‘ vom Substantiv getrennt frontiert werden, vgl. (44b) versus (44a) – sogar, wie in (45b) zusammen mit einer die Gesamtphrase regierenden Präposition. Das Interrogativum ist dabei der Fragefokus.  





(44) a. [Czyje książki] czytałaś? POL wessen.AKK . PL Buch.AKK . PL les.PRT . 2SG . F b. Czyje czytałaś _ książki? wessen.AKK . PL les.PRT . 2SG . F Buch.AKK . PL ‚Wessen Bücher hast du gelesen ?‘ (45) a. [Z czyją córką] ożenił się? POL mit wessen.INS . SG . F Tochter.INS . SG . F verheirat.PRT . 3SG . M KL . REFL b. Z czyją ożenił się _ córką? mit wessen.INS . SG . F verheirat.PRT . 3SG . M KL . REFL Tochter.INS . SG . F ‚Mit wessen Tochter verheiratete er sich?‘ Im Ungarischen ist bei dativischer Possessorphrase – nicht jedoch bei nominativischer – unabhängig vom Satzmodus Ergänzungsfrage eine nicht-adjazente Stellung von Kopf und Attribut möglich. Die Spitzenstellung des Possessorattributs in der Fokusposition wie in (46) ist also lizensiert durch generellere syntaktische Prinzipien.  



(46) a. [Kinek a könyvét] olvastad? DEF Buch.3SG . AKK les.PRT . 3SG . DEF UNG wer.DAT b. Kinek olvastad _ a könyvét? les.PRT . 3SG . DEF DEF Buch.3SG . AKK wer.DAT ‚Wessen Buch hast du gelesen?‘ Allerdings ist die Möglichkeit der Nicht-Adjazenz nicht bei allen syntaktischen Funktionen der Gesamtphrase gegeben, z. B. nicht, wenn diese in dem semantischen Kasus Instrumental steht, wie in folgendem Beispiel:  

B1 Wortklassen

737

(47) a. [Kinek a lányával] házasodott össze? Tochter.3SG . INS heirat.PRT . 3SG PV UNG wer.DAT DEF b. *Kinek házasodott össze _ a lányával? heirat.PRT . 3SG PV DEF Tochter.3SG . INS wer.DAT ‚Mit wessen Tochter ist er verheiratet?‘ Im Deutschen, wo das Interrogativum eine Genitivform ist, ist die Frontierung ohne Kopfnomen ausgeschlossen, ebenso auch im Englischen, vgl. folgende Beispiele: (48) a. [Wessen Tochter] hat er geheiratet? [Mit wessen Tochter] hat er sich verheiratet? b. *Wessen hat er _ Tochter geheiratet? *Mit wessen hat er sich verheiratet _ Tochter? (49) a. [Whose daughter] did he marry? ENG [With whose daughter] did he get married? b. *Whose did he marry _ daughter? *With whose did he get married _ daughter?

B1.5.5.3 Indefinitpronomina im engeren Sinne B1.5.5.3.1 Funktionale und typologische Charakterisierung Die funktionale Domäne der Indefinitpronomina im engeren Sinne, das Verfügen über ein Referenzpotential für selbstständige oder im Verbund mit einem nominalen Begriff realisierte indefinite Referenz, kann wie folgt abgegrenzt werden (zur indefiniten Referenz allgemein → A2.5.1.2). Indefinite Referenz Aus einem Gegenstandsbereich wird ein Einzelgegenstand oder eine Vielheit als Partizipant des thematisierten Sachverhalts ins Auge gefasst; offen bleibt welche(r). Folgende unterschiedliche Reaktionsmöglichkeit verdeutlicht den Unterschied zwischen definiter und indefiniter pronominaler Referenz: Bei indefiniter Referenz wie in (51) ist die Reaktionsform von B unangemessen. Definite pronominale Referenz: (50)

A: Ich habe ihn/dich/sie/diese/die zu dem Empfang mitgenommen. B: Warum nicht (einen) andere(n)?

738

B Wort und Wortklassen

Indefinite pronominale Referenz: (51)

A: Ich habe jemanden/niemanden, den du kennst, zu dem Empfang mitgenommen. B: #Warum nicht (einen) andere(n)?

Indefinite Referenz ist semantisch jedoch kein einheitliches Phänomen. Im Anschluss an Haspelmath (1997: 2 f.) können folgende 9 Verwendungsweisen, hier illustriert am Beispiel des Englischen, unterschieden werden. Bei spezifischer indefiniter Referenz setzt der Sprecher die Existenz und Identifizierbarkeit des Referenten voraus. In Verwendungsweise [1] ist die Identität des Referenten dem Sprecher auch bekannt. Bei Verwendungsweise [2] ist das als existent und identifizierbar vorausgesetzte Referenzobjekt dem Sprecher nicht bekannt.  



[1] spezifisch, Referent ist dem Sprecher bekannt Somebody called while you were away: guess who! [2] spezifisch, Referent ist dem Sprecher nicht bekannt I heard something, but I couldn’t tell what kind of sound it was. Bei nicht-spezifischen Verwendungsweisen wird die Existenz und Identifizierbarkeit eines Referenten nicht vorausgesetzt. Hierher gehören die Verwendungsweisen [3] bis [9]: [3] Irrealis/Potentialis-Kontext Please try somewhere else. He wants to marry someone nice. [4] Entscheidungsfrage Did anybody tell you anything about it? [5] Konditionalsatz (Antezedens) If you see anything, tell me immediately. [6] indirekte Negation I don’t think that anybody knows the answer. [7] direkte Negation Nobody knows the answer. [8] Vergleichsstandard In Freiburg the weather is nicer than anywhere else in Germany. [9] Zufallswahl Anybody can solve this simple problem. Die Verwendungsweisen können unter verschiedenen Gesichtspunkten gebündelt werden. Wie bereits festgestellt, gibt es eine Dichotomie zwischen spezifischer [1, 2] und nicht-spezifischer Referenz [3–9]. Die Verwendungsweisen [3] bis [6] decken den Bereich dessen ab, was in der Literatur als ‚intensionale‘ Kontexte bezeichnet wird.

B1 Wortklassen

739

Bei den Fällen [4] bis [8] handelt es sich um „negative Polaritätskontexte“ oder auch „nicht-assertive Kontexte“ (Quirk et al. 1985: 389 f.), also Satzzusammenhänge, in denen Ausdrücke vorkommen, die im Skopus einer Negation möglich, in affirmierten Sätzen aber ausgeschlossen sind. Paradebeispiele für solche negativen Polaritätsausdrücke (oder „scale reversal items“, Haspelmath 1997: 34) sind idiomatische Ausdrücke wie einen Finger rühren, eine Menschenseele antreffen. Diese sind nur in den genannten Kontexten möglich, nicht aber z. B. in einer affirmierten Assertion. Auch indefinite Pronomina bestimmter Art sind – sprachabhängig – auf das Vorkommen in negativen Polaritätskontexten eingeschränkt. Allerdings gibt es keine generelle Korrelation zwischen Pronomenwahl und der Gesamtheit aller negativen Polaritätskontexte. Vielmehr lassen häufig nur Teilmengen dieser Kontexte in bestimmten Sprachen bestimmte Indefinita zu. Es gibt jedoch universal gültige Beschränkungen für die Verteilung von Klassen von Indefinita auf die einzelnen semantischen Typen, die in Haspelmath (1997: 4, 58–86) durch eine Implikationsstruktur („implicational map“) erfasst werden. Näheres dazu findet sich zum Parameter ‚Implikationsstruktur für Indefinita: sprachabhängige Bündelung von Verwendungsweisen‘. Entsprechend dieser spezifischen Bündelung von Verwendungsweisen existieren in einer Sprache jeweils n (1≤n≤9; entsprechend den maximal 9 Verwendungsweisen) „Indefinitheitsmarker“ (bzw. entsprechende Variantenklassen) in Form von Affixen (wie etwa LAT ali- oder -dam) oder auch mehrteiligen Partikeln bzw. festen Fügungen (wie in FRA que ce soit). Dabei wird von isolierten Fällen abgesehen, die zusätzlich oder in Konkurrenz zu anderen Formen auftreten. Das Spektrum der Indefinitheitsmarker wird über den Parameter ‚Affixale und andere Indefinitheitsmarker‘ erfasst. Der Stamm, dem dieser Indefinitheitsmarker angefügt wird, ist ebenfalls semantisch differenziert, und zwar nach ‚konzeptuellen Sorten‘ wie Person, Nicht-Personales, Ort (des Geschehens), Zeit (des Geschehens), Art und Weise (des Geschehens), Grund (des Geschehens). Die ersten beiden Sorten werden in der Regel durch Pronomina bzw. deren Stämme abgedeckt, die übrigen durch „Pro-Adverbien“ (siehe Zifonun 2001a: 12). Aufgrund dieser Auffächerung des Stammes nach den genannten konzeptuellen Sorten kommt es relativ zu den mit dem Stamm kombinierten Indefinitheitsmarkern zur Ausbildung von so genannten „Serien“ wie der englischen someSerie (mit someone, something, somehow usw.) oder der deutschen irgend-Serie. Morphologisch sind die Stämme in aller Regel abgeleitete oder sekundär grammatikalisierte Formen bzw. sekundäre Verwendungen anderer Formen. Die beiden wichtigsten Quellen sind Interrogativpronomina und generische Substantive, die die o. g. konzeptuellen Sorten wie ‚Person‘, ‚Nicht-Personales‘, ‚Ort‘, ‚Zeit‘ usw. bezeichnen. Stammbezogene Kategorien werden mit dem Parameter ‚Indefinitstamm: konzeptuelle Sortierung und morphologische Basis‘ erfasst. Die Zugehörigkeit der Negationspronomina (Verwendungsweise [7]) und der Pronomina der Zufallswahl (Verwendungsweise [9]) zu den Indefinita kann in semantischer Hinsicht problematisch erscheinen. Die Einbindung in die Serienbildung spricht jedoch für deren Einbeziehung in den Bereich der Indefinita im engeren Sinne. Zur  









740

B Wort und Wortklassen

Frage nach einer semantischen Rechtfertigung und nach den spezifischen Erscheinungsformen in den einzelnen Sprachen siehe im Einzelnen Zifonun (2007a: 54–57). Wir erörtern hier mit dem Parameter ‚Negationspronomina: Kookkurrenz mit verbbezogener Negation und Negationskonkordanz‘ nur diejenigen Aspekte, bei denen unsere Kontrastsprachen deutlich Varianz zeigen. Das Zahlwort für ‚eins‘ ist in vielen Sprachen Ausgangspunkt für die Grammatikalisierung von Indefinita und ggf. noch weitergehend zum indefiniten Artikel. Wir gehen der selbstständigen indefiniten Verwendungsweise dieser Wörter in den Vergleichssprachen unter dem Parameter ‚Indefinite Verwendungen des Zahlwortes für ‚eins‘‘ nach. Der Artikelgebrauch wird nicht thematisiert (→ B1.2). Abschließend ist in dieser Übersicht festzuhalten, dass Indefinita auch Verwendungen haben, in denen sie keine (möglichen) Partizipanten für den thematisierten Sachverhalt bereitstellen. Solche Verwendungen liegen z. B. vor in:  

(52)

Elisabeth war/wurde etwas Wunderbares, nämlich weise. Sie war es übrigens schon immer.

(53)

Elisabeth war/wurde etwas, das ich auch gerne wäre, nämlich Rechtsanwältin.

etwas hat hier die syntaktische Funktion eines Prädikativs und steht dabei, wie die Weiterführungen (mit nämlich) zeigen, an der Stelle eines prädikativen Adjektivs oder einer prädikativen Nominalgruppe. Wie Beispiel (52) weiter zeigt, wird bei phorischer Fortführung hier es verwendet; zu einer Interpretation dieser Verwendung vgl. Moltmann (2004: 2) sowie Zifonun (2007a: 41).

B1.5.5.3.2 Affixale und andere Indefinitheitsmarker Das Spektrum an Indefinitheitsmarkern reicht von Affixen über wortförmige Einheiten bis zu mehrteiligen Fügungen. Beispiele für affixale Indefinitheitsmarker bietet das besonders reichhaltige Indefinitsystem des Lateinischen: das Präfix ali- (Verwendungsweisen [2–5]), die Suffixe -dam (Verwendungsweise [1]), -quam (Verwendungsweisen [4–6], [8]), -cumque, -vis und -libet (Verwendungsweise [9]). Dabei sind die beiden letztgenannten Grammatikalisierungen von Verbalformen: vis ‚du willst‘, libet ‚es gefällt‘. Für Einheiten mit Wortstatus mag DEU irgend stehen. Mehrteilige Fügungen gebraucht z. B. das Französische mit que ce soit und n’importe. Für die Vergleichssprachen gilt im Einzelnen: Im Englischen haben die Indefinitheitsmarker some und any ebenso wie der Negationsmarker no Wortstatus. Sie werden mit den entsprechenden Stämmen (z. B. body, one) nach dem zugrunde liegenden Muster eines nominalen Phrasems (Determinativ + N) zu Worteinheiten kombiniert. Mit dem englischen Muster vergleichbare Wortprägungen auf der Basis syntaktischer Fügung bildet der zentrale wortförmige Indefinitheitsmarker des Französi 



B1 Wortklassen

741

schen, nämlich quelque, aus: z. B. quelqu’un, quelque chose. Daneben verfügt das Französische über den suffixalen Marker -conque (in Fortsetzung von LAT -cumque) und die mehrteiligen Fügungen (Stamm +) que ce soit ‚(wer/was/wo…) es (auch) sei‘ und n’importe (+ Stamm), wörtl: ,(es ist) unwichtig‘. Diese Fügungen vertreten zwei sprachübergreifend typische Grammatikalisierungswege: que ce soit beruht auf einem ‚Irrelevanzkonditionale‘ (IDS-Grammatik 1997: 2319–2322), n’importe steht für den „no matter“-Typ (Haspelmath 1997: 140). Beide sind nur schwach grammatikalisiert, d. h. ihre Ursprünge als syntaktische Fügungen sind noch gut erkennbar. Die Negationsmarker wie personne, rien, pas, die mit der an das Finitum proklitisch angefügten Partikel ne kookkurrieren, gehen auf generische Substantive zurück, und zwar jeweils auf LAT persona ‚Person‘, rem ,Sache‘ (AKK ) und passus ,Schritt‘. Der zentrale Indefinitheitsmarker des Polnischen ist das Suffix -ś, das in anderen slawischen Sprachen (Tschechisch, Slowakisch, Ukrainisch, vgl. Haspelmath 1997: 136) Parallelen hat; daneben das Suffix -kolwiek. Als Negationsmarker fungiert das Präfix ni-. Im Ungarischen erfolgt Indefinitheitsmarkierung durch Präfigierung mit dem zentralen Indefinitheitsmarker vala-, dem Negationsmarker sem- und den beiden Markern für Zufallswahl akár- und bár-. Im Deutschen werden nur Indefinitpronomina, also selbstständige lexikalische Einheiten, nicht Affixe, zum Ausdruck von Indefinitheit gebraucht. Der herausragende Marker für Indefinitheit, der Ausdruck irgend, ist als solcher nur bedingt wortfähig. Zum einen wird irgend (umgangssprachlich) im Bedingungskontext adverbial gebraucht (im Sinne von ‚irgendwie‘, ‚auf irgendeine Weise‘), wie in (54). Zum anderen können Verbindungen von irgend mit ein(er), etwas oder jemand durch Einschub von so in Einzelteile „aufgebrochen“ werden, wie etwa in (55).  



(54)

Kommen Sie, wenn irgend möglich, nicht nach 5 Uhr.

(55)

Irgend so ein hergelaufener Kerl / Er hat irgend so etwas gesagt. / Es war der Gärtner oder irgend so jemand.

Bei den Indefinitpronomina/-adverbien selbst (irgendeiner, irgendjemand, irgendwo usw.) ist irgend wohl mittlerweile zu einer Indefinitpartikel grammatikalisiert, die nur gebunden als erster Bestandteil komplexer Pronomina/Adverbien verwendet wird, was sich in der Neuregelung der deutschen Rechtschreibung auch in der Zusammenschreibung widerspiegelt. Nur selbstständig sind: (irgend)etwas, nichts, (irgend)jemand, niemand. etwas und nichts sind unflektierbar (NOM / AKK -Formen); jemand und niemand flektieren nach der pronominalen Flexion des Maskulinums: jemand, jemanden, jemandem, jemandes. Akkusativ und Dativ bleiben jedoch umgangssprachlich oft unflektiert: Ich hab’ niemand gesehen. Er hat jemand die Hand gegeben.

742

B Wort und Wortklassen

Überwiegend unflektiert in Akkusativ und Dativ bleiben jemand und niemand bei Anschluss des Adverbs anders, vgl. (56), (57). Nur vereinzelt treten hier auch flektierte AKK - bzw. DAT -Formen auf, vgl. (58), (59). (56)

Bigelow ist ein wirkliches filmisches Talent, aber sie bräuchte einfach jemand anders an der Schreibmaschine. (die tageszeitung, 02.02.1990)

(57)

„Nehmt das Geld, es ist sowieso eures“, sagt dazu die Opposition. „Aber gebt eure Stimme jemand anders.“ (die tageszeitung, 15.12.1987)

(58)

Natürlich war’s nicht richtig, dass man dann zugeschlagen hat oder jemanden anders beleidigt hat, aber letztendlich blieb einem in der Situation keine andere Wahl. (die tageszeitung, 07.10.1994)

(59)

Niemandem anders wollte es je aufgefallen sein. (Die Zeit, 22.12.1995)

Beim Anschluss eines Adjektivs an die nur-selbstständigen personenbezogenen Indefinita jemand, niemand liegt eine Besonderheit vor: Das Adjektiv steht in der Regel im Nominativ im Neutrum Singular: jemand/niemand Fremdes, jemand/niemand anderes ebenso wie etwas/nichts Fremdes, etwas anderes. Aus der neutralen Form des Adjektivs ist aber nicht etwa auch neutrales Genus des Pronomens abzuleiten; es liegt (bei unklarem Kopfstatus) keine Genuskongruenz vor (→ B1.5.1.9). Bei allen Indefinita konnte im Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen ein partitiver Anschluss erfolgen. So sind (nach Grimm/Grimm 1854–1954; Grimm 1898: 538; Paul 1919: 304) Formen wie jemand anderes/anders ursprünglich als Genitiv Singular Non-Femininum des Adjektivs zu verstehen und Formen wie jemand Fremder/anderer als Genitiv Plural. Es erfolgte Umdeutung jeweils als Nominativ/Akkusativ Neutrum bzw. Nominativ Maskulinum. In den übrigen Kasus wird in der Regel auf die maskuline Form des Adjektivs umgestiegen, wobei entweder unflektiertes Pronomen + stark flektiertes Adjektiv erscheint (Er hat jemand anderem die Hand gegeben) oder flektiertes Pronomen + (meist) schwach flektiertes Adjektiv (Er hat jemandem anderen die Hand gegeben). Doppeltes Vorkommen stark flektierter Formen wird – dies in Übereinstimmung mit generellen Tendenzen – vermieden, ist jedoch vereinzelt belegt. Zu Korpusbefunden vgl. Zifonun (2007a: 64) sowie Strecker (2010). wer als Indefinitum + anders/anderes verhält sich ähnlich wie als Interrogativum, vgl. dazu auch → B1.5.5.2.2. Man beachte, dass wer anders als jemand und niemand im AKK und DAT notwendigerweise flektiert werden muss; Kombinationen von flektiertem wen/wem mit dem Adverb anders sind daher durchaus gebräuchlich. Neben den nur-selbstständigen Indefinita gibt es im Deutschen charakteristischerweise in den Serien auch non-selbstständige Indefinita, z. T. mit morphologischer Variantenbildung (irgendeiner – irgendein, irgendwelcher, keiner – kein). Die determinativische Entsprechung zu dem Indefinitpronomen einer ist der indefinite Artikel ein, der sich zu einer morphologisch wie das adnominale Pendant zur selbstständigen Variante bei Non-Selbstständigen verhält. Zum Sonderfall welcher vgl. → B1.5.5.3.3.  









B1 Wortklassen

743

Auffällig vor allem im Vergleich zum Englischen ist, dass die non-selbstständigen Indefinita ebenso wie die non-selbstständigen Quantifikativa (jeder, alle, einige, etliche, mancher, mehrere) und die adjektivischen Quantifikatoren (viel, wenig, genug, allerlei und weitere -lei-Formen) ein breites Verwendungsspektrum haben. Sie werden bei selbstständigem Gebrauch nicht nur kontextbezogen (,partitiv‘ bzw. ,nicht-partitiv‘, vgl. → B1.5.1.3) gebraucht, sondern haben auch ,spezielle‘ Verwendungen. Allgemein auf Personen werden folgende Formen bezogen: (irgend)einer, keiner, jeder, alle, einige, etliche, mancher/manche, allgemein auf Nicht-Personales folgende Formen: alles, einiges, manches, viel, wenig, genug, -lei-Formen. Nur das non-selbstständige beide wird – aufgrund seiner lexikalischen Semantik – nur kontextbezogen verwendet. Demgegenüber ist die ‚spezielle‘ Verwendung im Englischen stärker beschränkt. Huddleston/Pullum (2002: 414) sprechen von einem Muster, das „relatively uncommon“ sei. Von den non-selbstständigen Indefinita und Quantifikativa, nach Huddleston/Pullum all, any, both, certain, each, either, enough, (a) few, (a) little, many, much, neither, no/none, several, some, many, various, kommen nur many und few sowie some (nur pluralisch-quantifikativ ,einige‘, nicht singularisch-indefinit ‚irgendein(er)‘) uneingeschränkt in ,spezieller‘ Interpretation mit Personenbezug vor und nur much, little, enough ,speziell‘ bezogen auf Non-Personales. Dies steht wohl damit im Zusammenhang, dass im Englischen systematisch zu Serien ausgebildete nur-selbstständige Formen mit transparenter morphologischer Struktur existieren. Diese Formen, some/ any/every/no + -body/-thing „ersetzen“ quasi eine ‚spezielle‘ Verwendung der einfachen Formen. Im Deutschen dagegen koexistieren nur-selbstständige Formen und non-selbstständige Formen in ‚spezieller‘ Verwendung ganz unproblematisch: jemand und (irgend)einer, jedermann (selten) und jeder/alle, niemand und keiner. Allerdings gilt dies nicht für das Verhältnis von nichts und keines (keines nur kontextbezogen selbstständig), etwas und eines (nur betont als Zahlwort wie in Auf EInes ist hinzuweisen …); zu den Einzelheiten vgl. Zifonun (2005c).  



B1.5.5.3.3 Indefinitstamm: konzeptuelle Sortierung und morphologische Basis Als Basis, an den die Indefinitmarker angefügt werden, dienen häufig selbstständige Stämme, wobei Interrogativa und generische Substantive überwiegen. Beide Stammtypen variieren semantisch über einer Handvoll konzeptueller Sorten, nämlich pronominal: Person, Nicht-Personales; adverbial: Zeit, Ort, Art und Weise (ggf. Anzahl, Grund). Anzufügen ist noch die adnominale Ausprägung als Determinativ bzw. als non-selbstständiges Pronomen. Hier treten neben den nicht-sortalen Formen (wie DEU welcher) in manchen Sprachen auch Ausdrücke für die Sorte ,Eigenschaft‘ auf (wie POL jakiś, UNG valamilyen ,irgendwie beschaffen‘) sowie für die Sorte ,Anzahl‘ (wie POL ileś, UNG valahány, valamennyi ,irgend wie viele, einige‘). Nach Haspelmath (1997: 26) haben 63 Sprachen aus einem 100-Sprachen-Sample interrogativ-gestützte Indefinita; darunter auch aus dem Bereich der europäischen

744

B Wort und Wortklassen

Sprachen das Deutsche (mit der irgend-Serie: irgendwer, irgendwas, irgendwo, irgendwann), das Lateinische, das Niederländische, das Polnische, Russische, Ungarische usw. Nach Haspelmath et al. (Hg.) (2005: Karte 46) sind bei einem Sample von 326 Sprachen 194 interrogativbasiert, 85 haben generische Substantive als Basis. Das Deutsche wird hier einem gemischten Typ zugeordnet, weil es einerseits über interrogativbasierte Indefinita verfügt, andererseits die Elemente der zentralen jemand/etwas-Serie – synchron nicht mehr transparent – auf generische Substantive zurückgeführt werden können. Nahezu alle afrikanischen Sprachen haben generische Substantive als Basis der Indefinita, während in nordamerikanischen, australischen und eurasischen Sprachen interrogativbasierte Indefinita überwiegen. Die Verteilung ist somit nicht von sprachfamiliärer Zugehörigkeit, sondern areal bestimmt, und zwar „on a continental scale“.

Die typische Variation der Pronominal- bzw. Pro-Adverbialstämme über die genannten konzeptuellen Sorten zeigt die Gegenüberstellung der ali-Serie des Lateinischen, der irgend-Serie des Deutschen, der ś-Serie des Polnischen und der vala-Serie des Ungarischen (vgl. Tabelle 6). Alle drei Serien haben einen funktionalen Überschneidungsbereich hinsichtlich der nicht-spezifischen Referenz. Tab. 6: Indefinitserien im Lateinischen, Deutschen, Polnischen und Ungarischen Wortkonzep- Latein klasse / tuelle syntakti- Sorte sche Kategorie

Deutsch

Polnisch

Ungarisch

Interro- ali-Serie Interro- irgendgativum gativum Serie

Interro- ś-Serie gativum

Interro- valagativum Serie

nurselbstständiges Pronomen

Person

quis

ali-quis

wer

irgendwer

kto

kto-ś

ki

vala-ki

NichtPersonales

quid

ali-quid was

irgendwas

co

co-ś

mi

vala-mi

Adverb

Ort

ubi

ali-cubi

irgendwo

gdzie

gdzie-ś

hol

vala-hol

Zeit

quando

ali-quan- wann do

irgendwann

kiedy

kiedy-ś

mikor

valamikor

irgendwie

jak

jako-ś

hogy

valahogy

miért

valamiért

Art und Weise Grund

wo

wie cur

warum

745

B1 Wortklassen

Wortkonzep- Latein klasse / tuelle syntakti- Sorte sche Kategorie

nonselbstständiEigenges Proschaft nomen / Anzahl Determinativ

Deutsch

Polnisch

Ungarisch

Interro- ali-Serie Interro- irgendgativum gativum Serie

Interro- ś-Serie gativum

Interro- valagativum Serie

qui

który

który-ś

mely(ik) valamely(ik)

jaki

jaki-ś

milyen

valamilyen

ile

ile-ś

hány, mennyi

valahány, valamennyi

welcher

irgendwelcher

qualis quot

ali-quot

Alle vier Sprachen weisen bereits im Interrogativsystem lexikalische „Lücken“ auf: das Lateinische eine Lücke in der Sorte Art und Weise, das Deutsche in der Sorte Anzahl, das Polnische und das Ungarische in der Sorte Grund. Solche Lücken können im Interrogativsystem durch syntaktische Fügungen geschlossen werden wie LAT quo modo ‚auf welche Art, wie‘, DEU wie viel, wie viele, POL dlaczego ‚für was‘ (nur orthographisch eine Einheit). Eine Integration in eine Indefinitserie ist hier jedoch jeweils nicht möglich. Außerdem gibt es auch auf die Indefinita beschränkte Lücken, wo zu einem vorhandenen Fragepronomen kein Indefinitum existiert; vgl. DEU warum – *irgendwarum, ENG why – *somewhy. Diese Lücke scheint jedoch keine allgemeine konzeptuelle Basis zu haben, da etwa im Russischen ein indefinites Pendant zum kausalen Interrogativum existiert: počemu ‚warum‘ – počemu-to ‚aus irgendeinem Grund‘. Dagegen ist die Beschränkung auf nur etwa eine Handvoll konzeptueller Basissorten insgesamt wohl ein universales Phänomen, wie zu erwarten, mit einer Unschärfeeigenschaft hinsichtlich bestimmter Randkategorien (Anzahl, Grund). Das zweite Verfahren, die Akquisition generischer Substantive, kann unter anderem durch die zentralen Serien des Englischen und Französischen belegt werden: Beide Sprachen zeigen jeweils eine zu einem Wort grammatikalisierte Verbindung aus einem Indefinitheitsmarker und einem generischen Nomen. Dabei wird im Englischen zur Bezugnahme auf Personen auf die Entsprechung für ‚Körper‘ zurückgegriffen – dies ist eine z. B. im Zusammenhang mit Reflexivierung verbreitete „metonymische“ Basis für die Grammatikalisierung der personalen Referenz. Andere Basen für die Sorte ‚Person‘ sind die Entsprechungen von ‚Mensch‘, ‚Mann‘, vgl. z. B. DEU jemand (< ie + man) oder das Äquivalent des Zahlworts ‚ein‘. Im Französischen wird in der quelque-Serie mit quelqu’un nur auf das Zahlwort zugegriffen; im Englischen gibt es beide Möglichkeiten: some-body, any-body – some-one, any-one. Dabei ist im Englischen und Französischen die Integration von Indefinitheitsmarker und generischem  















746

B Wort und Wortklassen

Nomen zu einem Wort bereits abgeschlossen. Dies zeigen u.a die gegenüber der syntaktischen Verbindung veränderte Akzentstruktur sóme-body versus some bódy, die veränderte Attribuierung some-body nice – some nice body usw. Das englische System ist gemischt: Für die zentralen Sorten Person und Nicht-Personales sowie die der Zeit werden generische Substantive/Zahlwort (body/one, thing, time) herangezogen, bei den übrigen Sorten fungieren die Interrogativa als Basis, z. B. some-where (im amerikanischen Englisch auch someplace), some-how. Im Französischen ist – anders als im Englischen – mit quelque (zu dem Fragedeterminativ quel) der Indefinitheitsmarker selbst interrogativbasiert. Als sortendifferenzierende ‚Stämme‘ werden daher keine Interrogativa genutzt; vielmehr wird außer bei der Sorte Person auf entsprechende Substantive zugegriffen (vgl. quelque chose, quelque part). Wie bei anderen Sprachen gibt es im Deutschen mehrere Indefinitserien, auf die wir nun detaillierter eingehen. Das Deutsche verfügt im Indefinitbereich über [1] das Paar jemand (Person), etwas (Nicht-Personales) mit weiter Distribution, [2] eine auf die Umgangssprache eingeschränkte reine Interrogativserie, [3] die markante irgendSerie und [4] eine (bis auf kein(er)) auf /n/ anlautende negative Serie. Als Indefinitstämme sind auch für das Deutsche Interrogativa und generische Substantive auszumachen, wobei allerdings die Herkunft durch die historische Entwicklung häufig verdunkelt ist. etwas geht zurück auf MHD ete-waz, ist somit interrogativbasiert; jemand geht zurück auf MHD ie-man, eine Kombination aus der Indefinitpartikel ie > NHD je und dem Substantiv man. ie ist auch in MHD iergen > NHD irgend enthalten (zurückgehend auf die althochdeutsche Fügung io wergin (Otfried) mit lokaler Bedeutung ‚alicubi‘); dazu der ursprüngliche Genitiv irgends. Nur die irgend-Serie ist in den Sorten ‚Person‘, ‚Nicht-Personales‘, ‚Ort‘, ‚Zeit‘, ‚Art und Weise‘ vollständig belegt, die übrigen Serien sind in unterschiedlicher Weise defektiv:  







Tab. 7: Serienbildung bei den Indefinita des Deutschen Wortklasse / syntaktische Kategorie

konzeptuelle Sorte

jemand/ etwas-Serie

Interrogativserie

irgend-Serie

negative Serie

nur-selbstständiges Pronomen

Person

jemand

wer

irgend-wer, irgend-jemand

niemand

was

irgend-was, irgend-etwas

nichts

Adverb

Zeit

irgend-wann

nie

irgend-wo

nirgends, nirgend-wo

Nicht-Persona- etwas les

Ort

Art und Weise

je, jemals wo

irgend-wie

747

B1 Wortklassen

Wortklasse / syntaktische Kategorie

konzeptuelle Sorte

non-selbstständiges Pronomen/ Determinativ

jemand/ etwas-Serie

Interrogativserie

irgend-Serie

negative Serie

ein(er)

welcher

irgend-ein(er), kein(er) irgend-welcher

Die irgend-Serie ist kompositional aus irgend + Interrogativum bzw. etwas/jemand aufgebaut, die negative Serie ist aus der morphologischen Integration des alten Negators ni/ne mit den Indefinita (der alten ie ‚je‘-Serie) entstanden, wobei irgends, Basis von negativem nirgends, veraltet ist. je wird neben irgendwann noch in negativen Polaritätskontexten (Verwendungsweisen [4]–[8] von → B1.5.5.3.1) verwendet. Zur historischen Ausdifferenzierung der Indefinitserien vgl. Paul (1919: 147), auch Zifonun (2007a: 67), speziell zur Entwicklung der Negationsausdrücke im Deutschen vgl. auch Behaghel (1924: 69–92), Donhauser (1996). ein(er) und welcher sowie irgendein(er) und irgendwelcher sind weitgehend komplementär verteilt: Die ein(er)-Formen kommen nur im Singular vor und setzen Individuiertheit voraus, die welcher-Formen überwiegend im Plural, im Singular nur bei Kontinuativa. (60)

Hans aß eine Suppe/Brot. Eva aß auch eine/welches.

(61)

Hans aß Nudeln. Eva aß auch welche.

Es ergibt sich eine spezifische Funktion für welcher: Es ist diejenige Form, mit der man sich indefinit pronominal auf eine kontinuative NP im Singular bzw. eine NP im bloßen Plural, also auf ,summative‘ Konstrukte, zurückbezieht; vgl. im Detail Zifonun (2007a: 68 f.). welcher wird dabei wie die non-selbstständigen Formen, z. B. irgendwelcher, einiger, kontextbezogen interpretiert (im Sinne von → B1.5.1.3), ist jedoch selbst ‚nur-selbstständig‘. Man kann welcher als kontinuative bzw. pluralische (,summative‘) Suppletivform zu (selbstständig gebrauchtem) einer betrachten. Während einer das pronominale Pendant zum indefiniten Artikel ist – der ja nur bei singularischen Individuativa gebraucht wird –, stellt welcher ein pronominales Pendant zum fehlenden indefiniten Pluralartikel oder auch, wenn man so will: zum fehlenden indefiniten Kontinuativartikel, dar. Es ergibt sich somit relativ zu den selbstständig/adnominalen ein(er)/welcherIndefinita folgende Verteilung.  







748

B Wort und Wortklassen

Tab. 8: ein(er) und welcher

selbstständig

adnominal

Individuativa

Kontinuativa

Singular

einer

welcher

Plural

welche

Singular

ein

Plural





Aus dem suppletiven Verhältnis zu einer ergibt sich die Beschränkung von welcher auf Kontinuativa/Plural. Diese Vorkommensbeschränkung ist also trotz der analogen Distribution kein Indiz für die Zugehörigkeit zu den Quantifikativa des mittleren Skalenbereichs, vgl. → B1.5.5.4.6. Man vergleiche die Interpretationen von welches und von etwas, des typischen auf Kontinuativa anzuwendenden Quantifikativums des mittleren Skalenbereichs, in den folgenden Variationen von Beispiel (60): (60)

a. Hans aß Brot. Eva aß auch welches (und zwar ziemlich viel / ziemlich wenig). ,ein unbestimmtes Quantum (Brot) von ungenannter Größe‘ b. Hans aß Brot. Eva aß auch etwas Brot / etwas davon. ,ein unbestimmtes Quantum Brot von geringer Größe‘

Das suppletive Verhältnis erklärt auch, dass welcher anders als die übrigen Formen der Serie nicht nur in der gesprochenen Umgangssprache, sondern allgemein Anwendung findet. Das Vorkommen von indefinitem welcher im Vorfeld ist ebenso wie das der anderen indefiniten wFormen jedoch ausgeschlossen; positionsbedingt ist hier nur der Status als Interrogativum möglich (vgl. (62a) versus (62b)). (62)

Hans aß Brot. a. Welches war auf dem Tisch bereitgestellt? b. Es war welches auf dem Tisch bereitgestellt. / Irgendwelches war auf dem Tisch bereitgestellt.

B1.5.5.3.4 Implikationsstruktur für Indefinita: sprachabhängige Bündelung von Verwendungsweisen Die im Anschluss an Haspelmath (1997) unterschiedenen insgesamt neun möglichen Verwendungsweisen der Indefinita sind nach folgender Implikationsstruktur (vgl. ebd.: 64) geordnet:

B1 Wortklassen

749

Abb. 1: Implikationsstruktur für Indefinita  

Die Implikationsstruktur formuliert implikative Universalien über die Indefinitpronomina in Form einer geometrischen Figur: Sie besagt, dass ein Indefinitpronomen, das die Verwendungsweisen a und b, z. B. Verwendungsweise [1] und Verwendungsweise [4], hat, auch alle Verwendungsweisen, die in der Struktur zwischen a und b liegen, haben muss, also im Beispiel die Verwendungsweisen [2] und [3]. Indefinitpronomina einer bestimmten Serie decken demzufolge immer einen zusammenhängenden Bereich der Implikationsstruktur ab, nicht etwa inkohärente Bereiche. So deckt die morphologisch manifesteste deutsche Indefinitserie, die irgend-Serie, den kohärenten Bereich der Verwendungsweisen [2] bis [8] ab, die englische any-Serie den kohärenten Bereich der Verwendungsweisen [4] bis [9] usw. Diese nur teilweise Überlappung zwischen den Funktionsbereichen der einzelsprachlichen Indefinitserien stellt eine besondere Hürde im nicht-muttersprachlichen Spracherwerb dar. In den Verwendungsweisen [8] und [9] tragen die Indefinita notwendigerweise einen Gewichtungsakzent, in den Verwendungsweisen [1], [2] und [3] sind sie stets nicht-akzentuiert, die anderen Verwendungsweisen lassen akzentuierte und nichtakzentuierte Indefinita zu. Haspelmath (1997: 125) spricht hier von „emphatischen“ versus „nicht-emphatischen“ Indefinita. Sprachabhängig können bestimmte Indefinita beide Verwendungsweisen zulassen (wie etwa die deutsche irgend-Serie und die englische any-Serie) oder aber als emphatisch oder nicht-emphatisch eindeutig festgelegt sein. Wir gehen bei den Kontrastsprachen besonders auf Differenzen gegenüber dem Deutschen ein; zu einer detaillierteren Darstellung vgl. Zifonun (2007a: 47–54).  

750

B Wort und Wortklassen

Englisch Im Englischen umfasst die some-Serie die Verwendungsweisen [1] bis [5], also den spezifischen Gebrauch bei Bekanntheit und Nicht-Bekanntheit des Referenten, den unspezifischen Irrealis-Gebrauch, sowie den Gebrauch in Frage- und Konditionalsätzen. Allerdings ist some in den beiden letztgenannten Verwendungsweisen nur markiert möglich. Die any-Serie deckt die Verwendungsweisen [4] bis [8] ab, ist also eine Serie der ‚negativen Polaritätskontexte‘ par excellence; außerdem die Verwendungsweise [9] der Zufallswahl. any überschneidet sich im Kernbereich der negativen Polaritätskontexte mit der deutschen irgend-Serie, wird jedoch nicht spezifisch gebraucht – dafür aber in deutlichem Kontrast zum Deutschen – in der direkten Negation (Verwendungsweise [7]) und sehr viel weniger eingeschränkt als irgend bei der Zufallswahl (Verwendungsweise [9]).  



[7] direkte Negation (63) a. Nobody knows the answer. ENG ,Niemand weiß die Antwort.‘ b. I don’t know anybody here. ‚Ich kenne hier niemanden.‘ [9] Zufallswahl (64) a. Anybody can solve this simple problem. ENG ‚JEder/JEdermann kann dieses einfache Problem lösen.‘ b. You can do whatever you want. ‚Du kannst tun, was immer du willst.‘ Vergleichbar DEU je(mals) wird ever als Pro-Adverb der Zeit in negativen Polaritätskontexten gebraucht. ever wird auch als zweiter Wortbestandteil an Interrogativa angeschlossen. Solche Verbindungen (whoever, whatever, however usw.) leiten Nebensätze ein, mit denen eine Zufallswahl explizit umschrieben wird; vgl. ähnlich DEU w-Pronomen + auch immer. Französisch Die profilierteste französische Indefinitserie, die quelque-Serie hat die Verwendungsweisen [1] bis [5], entspricht somit weitgehend der Distribution der deutschen jemand/etwas-Serie, die ebenfalls als ‚nicht-emphatisch‘ zu kennzeichnen ist. Im Französischen unterbleibt wie in den anderen Kontrastsprachen bei spezifischer Referenz die Unterscheidung zwischen etwas/jemand und irgendetwas/irgendjemand, ‚dem Sprecher bekannt‘ gegenüber ‚nicht-bekannt‘. Keine Anwendung findet diese Serie, anders als DEU jemand/etwas, in Verwendungsweise [6], bei indirekter Negation. In negativen Polaritätskontexten und bei Zufallswahl (Verwendungsweisen [4]

751

B1 Wortklassen

bis [9]) findet die emphatische que-ce-soit-Serie Anwendung. Dabei kontrastieren in fakultativ emphatischen Kontexten wie etwa bei Verwendungsweise [5] die quelqueund die que-ce-soit-Serie deutlich miteinander. Die conque-Serie hat vergleichbare Distribution wie die que-ce-soit-Serie. [5] Konditionalsatz (Antezedens) (65) FRA

Si quelqu’un vient, diswenn jemand komm.3SG sag.IMP . 2SG ‚Wenn jemand kommt, sag es mir.‘

le-

(66) FRA

Si qui que ce soit / quiconque vient, wenn irgendjemand komm.3SG lemoi. KL . 3SG . M . AKK 1SG . OBJ ‚Sollte irgendjemand kommen, sag es mir.‘

KL . 3SG . M . AKK

moi. 1SG . OBJ

dissag.IMP . 2SG

que ce soit (und -conque) werden einhellig als negative Polaritätsausdrücke eingeschätzt: Sie kookkurrieren bei direkter Negation notwendigerweise mit dem Negationsträger pas wie in (67), sie kommen unbeschränkt auch bei indirekter Negation in eingebetteten Sätzen vor und haben dort indefinite Lesart (‚any, irgend‘), vgl. (72). Dagegen ist der Status der negativen Serie, also der personne/rien-Serie, umstritten: Handelt es sich um negative Polaritätselemente oder um echte Negationsträger (vgl. dazu Godard 2004)? Fest steht, dass die personne/rien-Serie heute überwiegend bei direkter Negation [7] gebraucht wird, einschließlich des Vorkommens in abhängigen Infinitivkonstruktionen wie (69) sowie – eingeschränkt – bei indirekter Negation, wenn die Negation lexikalisch inkorporiert ist, und zwar nach sans, vgl. (71). Dagegen wird diese Serie nur noch in gehobenem Register bei indirekter Negation in eingebetteten Sätzen wie (73), (74), sowie in anderen negativen Polaritätskontexten wie (70), (75) verwendet; dabei jeweils ohne präverbales ne. Die Beispiele, bzw. ihre einschlägigen Teile, sind durch den Index ,geh‘ (hochgestellt, für ,gehoben‘) gekennzeichnet; sie stammen überwiegend aus Grevisse/Goosse (1993: 1460, 2011: 1342). Godard hält diese Verwendungen für Überreste eines früheren Status als negative Polaritätsausdrücke.  



[7] direkte Negation: (67) FRA

Pierre n’ a pas vu NEG hab.3SG NEG gesehen Pierre ‚Pierre hat überhaupt nichts gesehen.‘

quoi que ce soit. irgendetwas

752

B Wort und Wortklassen

(68) FRA

Je

ne

KL . 1SG

NEG

vois personne / seh.1SG niemand ‚Ich sehe niemanden / nichts.‘

(69) FRA

Je

n’

KL . 1SG

NEG

rien. nichts

essaie de convaincre versuch.1SG zu überzeug.INF ‚Ich versuche niemanden zu überzeugen.‘

personne. niemand

[5] Konditionalsatz (70) Je vous rends responsable si quelque chose / KL . 1SG 2PL . OBJ mach.1SG verantwortlich wenn etwas FRA ébruite dans la presse. riengeh s’ DEF Presse nichts KL . REFL ausplauder.3SG in ‚Ich mache Sie verantwortlich, wenn etwas in der Presse verlautet.‘ [6] indirekte Negation [6a] lexikalische Inkorporation: (71) FRA

sans aucun regret ohne jeglich.M . SG Bedauern ,ohne jedes/irgendwelches Bedauern‘

[6b] Satzeinbettung (72) FRA

Personne n’ a dit que tu avais niemand NEG hab.3SG gesagt KOMP KL . 2SG hab.IPRF . 2SG acheté quoi que ce soit. gekauft irgendetwas ‚Niemand hat gesagt, dass du (irgend)etwas gekauft hast.‘

(73) FRA

Personne n’ a prétendu qu’ aucungeh niemand NEG hab.3SG verlangt KOMP (irgend)ein.M . SG de ses livres ait été compris. hab.KONJ . 3SG worden verstanden von POSS . 3SG . PL Buch.PL ‚Niemand hat behauptet, dass (irgend)eines seiner Bücher verstanden worden sei.‘

(74) FRA

doute que personnegeh KL . 1SG bezweifel.1SG KOMP niemand ‚Ich bezweifle, dass jemand kommt.‘ Je

vienne. komm.KONJ . 3SG

B1 Wortklassen

753

[8] Vergleichsstandard (75) FRA

Elle parle mieux que personnegeh / que quiconque / als wer.auch.immer 3SG . F sprech.3SG besser als niemand qu’ aucun orateurgeh / que quelqu’ als manch.M . SG als jeglich.M . SG Redner orateur que ce soit. Redner irgend‚Sie spricht besser als irgendwer sonst / als jeder andere / als jeder Redner / jeder beliebige Redner.‘

[9] Zufallswahl (76) FRA

Tu

peux faire quoi que ce soit / n’importe quoi. könn.2SG mach.INF irgendetwas was.auch.immer ‚Du kannst alles tun / tun, was auch immer du willst.‘ KL . 2SG

Polnisch Im Polnischen entspricht die zentrale ś-Serie mit der Abdeckung der Verwendungsweisen [1] bis [6] genau der deutschen jemand/etwas-Serie. Die besondere Auszeichnung der spezifischen Referenz mit Bekanntheit, die im Deutschen durch den Kontrast zur irgend-Serie gegeben ist, fehlt wie im Englischen und Französischen auch hier. In negativen Polaritätskontexten außer bei direkter Negation (Verwendungsweise [7]) sowie bei Zufallswahl wird die kolwiek-Serie verwendet; ihren Gebrauchsschwerpunkt hat diese emphatische Serie in Verwendungsweise [8] und [9], wobei -kolwiek zur Kennzeichnung von Zufallswahl insbesondere in die Irrelevanz der Wahl umschreibenden Nebensätzen (vgl. DEU wer/was auch immer) gebraucht wird (81). Vergleichbar dem Französischen kontrastieren in fakultativ emphatischen Kontexten, etwa bei Verwendungsweise [5], die beiden Serien miteinander. [5] Konditionalsatz (Antezedens) (77) POL

Jeśli coś zobaczysz, powiedz mi sag.IMP . 2SG KL . 1SG . DAT wenn etwas seh.2SG ‚Wenn du etwas SIEHST, sag es mir sofort.‘

natychmiast. sofort

(78) POL

Jeśli cokolwiek zobaczysz, powiedz mi natychmiast. sag.IMP . 2SG KL . 1SG . DAT sofort wenn irgendetwas seh.2SG ‚Wenn du IRgendetwas siehst, sag es mir sofort.‘

754

B Wort und Wortklassen

[8] Vergleichsstandard (79) POL

Ona argumentuje lepiej niż ktokolwiek 3SG . F argumentier.3SG besser als irgendjemand ‚Sie argumentiert besser als irgendjemand vorher.‘

przedtem. vorher

[9] Zufallswahl (80) POL

Ktokolwiek ci może wyjaśnić ten problem. wer.auch.immer KL . 2SG . DAT könn.3SG erklär.INF DEM . AKK Problem.AKK ‚Jeder (beliebige) kann dir dieses Problem erklären.‘

(81) POL

Cokolwiek by się stało, nie was.auch.immer KONJ KL . REFL gescheh.PRT . 3SG . N NEG oddam mu dziecka. KL . 3SG . M . DAT Kind.GEN geb.PFV . 1SG ‚Was auch immer geschehen wird, ich gebe ihm das Kind nicht.‘ (Mendoza 2004: 339)

Direkte Negation ist wie im Deutschen ausschließlich Domäne einer negativen Serie, hier der ni-Serie. Die Elemente dieser Serie kommen obligatorisch zusammen mit der präverbal gesetzten Negationspartikel nie vor. Kookkurrieren mehrere Indefinita, werden alle der negativen Serie entnommen; vgl. dazu den nächsten Abschnitt. [7] direkte Negation (82) POL

Nikogo / Nic nie nichts.GEN NEG niemand.GEN ‚Ich sehe niemanden/nichts.‘

widzę. seh.1SG

Ungarisch Im Ungarischen wird die vala-Serie in denselben Verwendungsweisen wie DEU etwas/jemand gebraucht, die sem-Serie wie die deutsche n-Serie nur bei direkter Negation. Die akár-/bár-Serien haben neben der Funktion der Zufallswahl [9] auch Vorkommen im Antezedens des Konditionalsatzes [5], in der indirekten Negation [6] und zum Ausdruck eines Vergleichsstandards [8]. Deutsch Im Deutschen werden etwas und jemand und die Interrogativserie in den Verwendungsweisen [1] bis [6] gebraucht. Die irgend-Serie umfasst die Verwendungsweisen [2] bis [6] und [8]; irgend-Indefinita kommen also typischerweise nicht-spezifisch, insbesondere in negativen Polaritätskontexten vor. Aber auch spezifische

B1 Wortklassen

755

Referenz ist möglich, sofern signalisiert werden soll, dass der Referent dem Sprecher nicht bekannt ist [2]. Nur spezifische Referenz bei Bekanntheit des Referenzobjektes [1] wird durch irgend nicht abgedeckt. Es zeigt sich insgesamt, dass etwa im Kontrast zum Englischen negative Polarität nicht deutlich profiliert ist. [1] spezifisch, Referent ist dem Sprecher bekannt (83)

Ich habe (*irgend)jemanden getroffen. Du wirst kaum erraten, wen.

[2] spezifisch, Referent ist dem Sprecher nicht bekannt (84)

Ich habe (irgend)jemanden gehört. Ich weiß nicht, wer es war.

Etwas allgemeiner gefasst gilt: Verwendet der Sprecher Elemente der irgend-Serie, so gibt er zu erkennen, dass er keine weiteren Informationen zur Identifikation des Referenzobjekts beisteuern wird, sei es aus Unkenntnis, sei es aus anderen Gründen. Dies erklärt die semantische Unangemessenheit von irgend- in folgenden Beispielen (bei nicht-intensionalem Kontext): (85)

Er besuchte auf seiner Reise jemanden/#irgendjemanden in Paris. Es handelte sich um einen hervorragenden Pianisten, den er in Rom kennengelernt hatte.

(86)

#Ich

habe das irgendwo gefunden. Es war dort in der Ecke.

Dieses semantische Spezifikum erklärt andererseits, dass irgend- in intensionalen Kontexten (unter Einschluss von Irrealis-Kontext, Fragesatz, Bedingungssatz) generell angebracht ist: Da es hier ohnehin nicht um existente und identifizierbare Referenzobjekte geht, sind keine sprecherseitigen Identifikationshinweise zu erwarten. Bei expressiver Hervorhebung der Unbekanntheit des indefiniten Referenten können umgangssprachlich die festen Verbindungen wer weiß + w-Pronomen/Adverb stehen, auch Gott weiß + w-Pronomen. Zu dieser schwach grammatikalisierten Konstruktion gibt es nach Haspelmath (1997: 130 f.) Parallelen in anderen europäischen Sprachen.  

(87)

Der kann wer weiß was behaupten! Das hat sich Gott weiß wo versteckt!

Zufallswahl (Verwendungsweise [9]) wird nicht durch die irgend-Serie abgedeckt. Hier werden im Deutschen die universalen Quantoren jeder (beliebige) / aller gewählt (vgl. (88)), bzw. emphatisches JEder. Häufig wird auch auf Umschreibungen mit einem durch w-Pronomen + auch immer eingeleiteten Nebensatz zurückgegriffen (vgl. (89)). Bei den Verwendungsweisen [6], indirekte Negation, und [8], Vergleichsstandard, konkurrieren die irgend-Formen mit jeder: Dabei ist bei der indirekten Negation

756

B Wort und Wortklassen

genauer zu differenzieren: Indirekte Negation durch lexikalische Inkorporation des Negators (z. B. bei leugnen, abstreiten; ohne) lässt irgend- und jeder zu (90). Dagegen ist bei Einbettung in einen negierten Obersatz nur irgend- in diesem Sinne möglich (91):  

[9] Zufallswahl (88)

Dieses Problem kann dir jeder (beliebige)/JEder/#irgendeiner erklären. Du kannst alles behaupten.

(89)

Du kannst behaupten, was auch immer du willst.

[6] indirekte Negation (90)

ohne jedes/irgendein Wort; er leugnete jede/irgendwelche Verstrickung

(91)

Ich glaube nicht, dass irgendjemand/#jeder dir dieses Problem erklären kann.

[8] Vergleichsstandard (92)

a. Sie argumentiert besser als jeder der Anwesenden. b. Sie argumentiert besser als irgendeiner je vorher.

B1.5.5.3.5 Negationspronomina: Kookkurrenz mit verbbezogener Negation und Negationskonkordanz Eine Eigentümlichkeit des Negationssystems vieler Sprachen ist die ‚Mehrfachnegation‘, also das Auftreten mehrerer Negationsträger bei semantischer ,Mononegativität‘. Sie tritt in zwei Varianten auf, als Kookkurrenz von Negationspronomina mit einer verbbezogenen Negation und als mehrfache Negationsmarkierung an Pronominavorkommen in einem Satz. Beide Phänomene sind nicht unabhängig voneinander (vgl. weiter unten); werden aber zunächst getrennt behandelt: Kookkurrenz mit verbbezogener Negation Bei den Pronomina der negativen Serien ist die mögliche oder obligatorische Kookkurrenz mit einer zusätzlichen verbbezogenen Negation (meist einer Negationspartikel) ein Parameter der Varianz. Man vergleiche zu den Kontrastsprachen: (93) DEU ENG

Ich sehe niemanden/nichts. I see nobody/nothing.

B1 Wortklassen

FRA POL UNG

757

Je ne vois personne/rien. Nikogo/Nic nie widzę. Nem látok senkit/semmit.

Im Englischen kookkurrieren wie im Deutschen standardsprachlich Negationspronomina nicht mit einer verbbezogenen Negation, Konstruktionen wie I don’t see nothing gehören also zum Substandard (Huddleston/Pullum 2002: 845–847). Zu beachten ist auch, dass die Negationspronomina (außer in Subjektfunktion) mit verbaler Negation + ‚any‘-Pronomen (negativ polares Pronomen) alternieren. Polnisch und Ungarisch dagegen weisen jeweils mit nie bzw. nem zusätzlich zu einem Negationspronomen eine verbbezogene Negationspartikel auf. Auch das Französische scheint sich mit dem Vorkommen von ne ähnlich zu verhalten. Die negative Serie des Französischen stellt jedoch – auch im Vergleich mit anderen romanischen Sprachen – morphologisch und syntaktisch einen Sonderfall dar. Die Basen – noch gebräuchliche generische Substantive wie personne bzw. Einheiten, die auf generische Substantive zurückgehen wie rien (< LAT rem ‚Sache‘ (AKK )) – stellen (gemäß neueren Analysen; vgl. Godard 2004) für sich selbst schon die Negationsträger dar. Sie müssen jedoch, wie der Satz-Negator pas (< LAT passus ‚Schritt‘), zumindest standardsprachlich, bei direkter Negation mit der an das Verb proklitisch gebundenen Partikel ne verbunden werden; umgangssprachlich entfällt ne häufig. In Subjektfunktion stehen personne/rien entsprechend der grundlegenden SVO-Ordnung präverbal, sonst postverbal (z. B. personne . . . ne + Verb versus ne + Verb . . . personne). Die Partikel ne fungiert nach dieser Sehweise nur noch als Skopusmarker, man vergleiche etwa: Paul accepte de ne recevoir personne ‚Paul willigt ein, niemanden zu empfangen‘ gegenüber Paul n’accepte de recevoir personne ‚Paul willigt nicht ein, jemanden zu empfangen‘. Besonderheit des französischen Negationssystems ist somit (im Unterschied zum Deutschen), dass Skopusunterschiede innerhalb einer Satzdomäne mit Finitum mithilfe des Skopusmarkers bei gleichbleibendem Negationsträger ausgedrückt werden können. Auch für das Deutsche ist die Mehrfachnegation eine Strukturoption (vgl. Donhauser 1996: 203–206): Vom späten Althochdeutschen an kookkurriert die präverbale Negationspartikel (AHD ni, MHD en/ne) – zumindest fakultativ – mit postverbalen Elementen, die ihrerseits die Negation ni- als ersten Bestandteil enthalten. Dabei handelt es sich zum einen, vergleichbar FRA pas, um den reinen Negationsverstärker niwiht bzw. niowiht, zum anderen um die negative Serie der Indefinita. Letzere gehen (vgl. → B1.5.5.3.3) auf die im Althochdeutschen erfolgte Zusammenfügung der Negationspartikel mit den Indefinita der Serie für negative Polaritätskontexte zurück. Bereits im Mittelhochdeutschen verlagert sich die Negationsmarkierung weg vom schwachtonigen ne hin zum ursprünglichen Negationsverstärker MHD niht/nicht bzw. den Negationspronomina. Somit resultiert für die Standardvarietät ab dem 16./ 17. Jahrhundert ein mononegatives System. Im Unterschied zum Französischen, bei dem die Entwicklung im Übrigen noch nicht abgeschlossen ist, sind die „neuen“  























758

B Wort und Wortklassen

Negationsausdrücke auch morphologisch im Hinblick auf den Ausdruck von Negation noch semi-transparent. So weist das Deutsche mit der Serie der Negationspronomina wie niemand (= NEG-jemand), nichts (= NEG-etwas), nie (= NEG-jemals) besonders deutliche morphologische Indizien für eine Zuordnung der Negationspronomina zu den Indefinita auf. Der Ausschluss einer verbbezogenen Negation ist bezogen auf die Sprachen der Welt eher selten; in Europa ist dieser Typ jedoch vergleichsweise stärker vertreten. Mit Haspelmath (2001b: 1498) kann an den reinen Typ von Negationsausschluss noch ein Mischtyp angeschlossen werden, bei dem eine verbbezogene Negationspartikel nur dann gesetzt wird, wenn das Negationspronomen dem Verb folgt. Dies trifft z. B. für das Italienische zu. Man vergleiche:  

(94) ITA

a. Nessuno viene. niemand komm.3SG ‚Niemand kommt.‘ b. Non ho visto nessuno. NEG hab.1SG gesehen niemand ‚Ich habe niemanden gesehen.‘

Es zeigt sich, dass dieser erweiterte Typ von Ausschluss verbaler Negation bei Negationspronomina (reiner Typ und Mischtyp) der Typ des „Standard Average European“ (SAE) ist; es handelt sich dabei um eines der insgesamt zwölf bei Haspelmath (2001b) genannten „major features“ des SAE: Die areale Distribution umfasst die germanischen Sprachen, Französisch, Okzitanisch sowie bei Mischtyp die ibero- und italoromanischen Sprachen und das Albanische. Alle osteuropäischen Sprachen (mit Ausnahme des Georgischen) und die keltischen Sprachen im Westen dagegen verlangen bei Negationspronomina zusätzlich verbbezogene Negation. Negationskonkordanz zwischen Indefinita Ein weiterer Varianzparameter ist die je spezifische Wahl aus den Indefinitserien, wenn mehrere von ihnen im Skopus der Negation vorkommen wie in dem exemplarischen Fall (95) ‚Es trifft nicht zu, dass jemand etwas sieht.‘. In den Kontrastsprachen Französisch, Polnisch und Ungarisch werden hier (wie in vielen anderen Sprachen) alle Indefinita den negativen Serien entnommen. (95) FRA POL UNG ITA

Personne ne voit rien. Nikt nic nie widzi. Senki sem/nem lát semmit. Nessuno vede niente.

B1 Wortklassen

759

Auch die Adverbien der negativen Indefinitserien werden in das Konkordanzsystem einbezogen, wie hier am Beispiel des Ungarischen. (96) UNG

Soha sehol senki nem lát semmit. nichts.AKK nie nirgends niemand nicht seh.3SG ‚Nie sieht jemand irgendwo etwas.‘ / ‚Niemand sieht jemals irgendwo etwas.‘

Im Anschluss an neuere Arbeiten zum negative concord (vgl. Huddleston/Pullum 2002: 844–846; Corblin et al. 2004) sprechen wir hier von ‚Negationskonkordanz‘: Mehrere Negationsträger stehen in Konkordanz im Hinblick auf den Ausdruck einer Satznegation. Wie die Beispiele zeigen, erscheint gegebenenfalls noch zusätzlich die verbbezogene Negation: Verbbezogene Negation zusätzlich zu einem pronominalen (oder adverbialen) Negationsträger und Negationskonkordanz zwischen Indefinita stehen offenbar in Korrelation. Sätze mit Negationskonkordanz haben häufig auch eine Lesart mit doppelter Negation, in der mehr als ein pronominaler Negationsträger semantisch verrechnet wird. Vgl. das folgende Beispiel eines französischen Satzes mit drei Negationspronomina. (97) FRA

Personne ne dit rien à personne. zu niemand niemand nicht sag.3SG nichts Negationskonkordanz: ‚Niemand sagt jemandem etwas.‘ doppelte Negation: ‚Niemand sagt niemandem etwas.‘

Lesartenpräferenz wird hauptsächlich von semantischen Faktoren gesteuert. Lesartendisambiguierung zugunsten einer doppelten Negation kann prosodisch (durch starke Betonung und intonatorische Abtrennung eines der Negationsträger) gestützt werden (Corblin et al. 2004: 422–427). Im (Standard-)Englischen liegt keine Negationskonkordanz vor, (95) oben wird durch Nobody sees anything wiedergegeben. Wie das Standardenglische entspricht auch das Standarddeutsche dem Muster des SAE: Die Negationspronomina kookkurrieren standardsprachlich nicht mit einer verbbezogenen Negationspartikel (*Das hat niemand nicht gesehen). Bei Vorkommen mehrerer Indefinita im Skopus der Negation wird nur eines durch ein Element der negativen Serie ausgedrückt. Sofern ein indefinites Subjektpronomen im Negationsskopus ist, wird dieses zum Negationsträger; vgl. (95’a) gegenüber in dieser Lesart nicht-standardsprachlichem (95’b): (95’) a. Niemand sieht etwas. b. #Niemand sieht nichts. ‚Es trifft nicht zu, dass jemand etwas sieht.‘

760

B Wort und Wortklassen

Ist das indefinite Subjektpronomen nicht im Negationsskopus, so wird ein indefinites Objektpronomen Negationsträger. Dabei scheint bei mehreren Indefinita die Belebtheitshierarchie eine Rolle zu spielen, in der Weise, dass ggf. dasjenige mit belebtem Denotat Negationsträger wird, vgl. (98b) gegenüber in dieser Lesart semantisch abweichenden (98c). Das belebte Pronomen geht dem Unbelebten (in der Regel) auch linear voraus, so dass wie in (98b) der weite Negationsskopus auch linear deutlich wird. (98)

a. Jemand hat nichts gesehen. ‚Es gilt für jemanden (bestimmten) nicht, dass er etwas gesehen hat.‘ b. Jemand hat (zu) niemandem etwas gesagt. ‚Es gilt für jemanden (bestimmten) nicht, dass er (zu) jemandem etwas gesagt hat.‘ c. #Jemand hat nichts zu jemandem gesagt.

Anders als die übrigen adnominalen Indefinita ist kein(er) in der Kombination mit einem Kopfsubstantiv bzw. in einem Bezug auf ein vorerwähntes Substantiv nicht beschränkt: Es lässt Individuativa in Singular und Plural zu (kein Kind, keine Kinder), ebenso Kontinuativa (keine Milch). Dies mag im Zusammenhang damit stehen, dass kein(er) immer dann gesetzt wird, wenn die Satznegation eine nicht-definite NP in ihrem Skopus hat. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Deutsche deutlich von den Kontrastsprachen. (99)

Ich habe keinen Kuchen / kein Fleisch / keine (fünf) Brote gegessen. ‚Es ist nicht der Fall, dass ich einen Kuchen / Fleisch / (fünf) Brote gegessen habe.‘

kein(er) erweist sich somit als Kombination von Satznegation und (in deren Skopus befindlichem) indefinitem Bezug. Liegen mehrere indefinite Bezüge vor, so gelten die oben geschilderten Prinzipien für die Wahl des Negationsträgers: (100) a. Keiner / Kein Mensch hat Geld / eine Chance. ‚Es ist nicht der Fall, dass einer / ein Mensch Geld / eine Chance hat.‘ b. Einer / Ein Mensch hat kein Geld / keine Chance. ‚Es gilt für einen (bestimmten) / einen (bestimmten) Menschen nicht, dass er Geld / eine Chance hat.‘  

Zur Einordnung von kein(er) vgl. Eroms (1993), auch Zifonun (2007a: 74 f.). Die Attraktion der Satznegation an den indefiniten Artikel bzw. die Setzung von kein- bei einer artikellosen NP im Skopus der Satznegation hat nur im Englischen eine Parallele: no child, no children, no milk. Allerdings konkurriert no mit der Kombination aus Satznegation + Indefinitum, also not + a/any oder not + one.  

B1 Wortklassen

761

Im Französischen etwa wird im Fall der Satznegation bei indefinitem Bezug in der Funktion des direkten Objekts in aller Regel pas . . . de, vgl. (101), gesetzt; das nonselbstständige aucun ‚(irgend)ein(er)‘ im Skopus der Satznegation erscheint in anderen Satzgliedfunktionen, z. B. als Subjekt wie in (102). Der Ausdruck der Satznegation bei indefinitem Bezug ist also stark kontextabhängig.  





(101) a. Il ne boit pas de vin. KL . 3SG . M NEG trink.3SG NEG PRP Wein FRA ‚Er trinkt keinen Wein.‘ b. Il n’ a pas d’ amis. KL . 3SG . M NEG hab.3SG NEG PRP Freund.PL ‚Er hat keine Freunde.‘ (Grevisse/Goosse 2011: 786) (102) FRA

Aucun homme n’ est irremplaçable. kein.M . SG Mensch NEG ist unersetzlich ‚Kein Mensch ist unersetzlich.‘ (ebd.: 848)

Durch den Verzicht auf die Profilierung von negativer Polarität (versus Englisch), auf zusätzliche verbbezogene Negation und Negationskonkordanz (versus Polnisch, Ungarisch, teilweise Französisch) und auf die Berücksichtigung der Satzgliedfunktion (versus Französisch) ist das pronominale Negationssystem des Deutschen deutlich von dem der Kontrastsprachen abgehoben und insgesamt als ,strikter lokal/weniger kontextgebunden‘ (pro semantischer Negation ein Negationsträger, keine Selektionswirkung der Negation auf andere Ausdrücke und umgekehrt) gekennzeichnet.

B1.5.5.3.6 Indefinite Verwendungen des Zahlwortes für ,eins‘ In allen Vergleichssprachen, im Polnischen jedoch nur mit Einschränkungen, kommt das Zahlwort für ‚eins‘ auch als Indefinitum vor. Englisch one hat nur selbstständig, (in aller Regel) nicht adnominal eine indefinite Lesart; dabei ist es in der Regel kontextbezogen, vgl. (103), speziell nur in generischem (personenbezogenem) Sinne ‚man‘, wie in (104). (103) ENG

I’ve got a bicycle. My friend has got one, too. ‚Ich habe ein Fahrrad. Mein Freund hat auch eins.‘

(104) ENG

One should not do such things. ‚Sowas sollte man nicht tun.‘

Adnominal ist one Zahlwort, indefinite Lesarten werden durch den Artikel a(n) realisiert, der sprachgeschichtlich als abgeschwächte Form von one zu betrachten ist. Huddleston/Pullum (2002: 386) verzeichnen allerdings Besonderheiten von one ge-

762

B Wort und Wortklassen

genüber den übrigen Kardinalnumeralia, wobei sie von „singulativem“ one sprechen. Hier gibt es vereinzelt auch indefinite (spezifische) Vorkommen wie in (105). (105) ENG

She arrived one rainy morning. ‚Sie kam an einem regnerischen Morgen.‘

Französisch un/une hat selbstständig und adnominal – hier als indefiniter Artikel – indefinite Lesarten. Selbstständig ist in gehobener Sprache nur kontextbezogener Gebrauch üblich, vgl. (106). Spezielle (nur personenbezogene) Verwendungen wie in (107) gelten nach Grevisse/Goosse (2011: 999), dem die Beispiele entnommen sind, als umgangssprachlich.  



(106) RA

royaume prétendil De quel von welch.M . SG Königreich vorgeb.3SG KL . 3SG . M D’ un qui n’ est pas de NEG ist NEG von von ein.M . SG RPRO ‚Von welchem Königreich gibt er vor der König zu nicht von dieser Welt ist.‘

être le roi? – sein.INF DEF König ce monde. DEM Welt sein? Von einem, das

(107) FRA

Ce

une ein.F . SG

n’

est pas la tête d’ DEM . M . SG NEG ist NEG DEF Kopf von qui se repent. RPRO KL . REFL bereu.3SG ‚Das ist nicht der Kopf von einer, die bereut.‘



Das polnische jeden ‚eins‘ wird im Allgemeinen weder adnominal noch selbstständig dort gesetzt, wo im Deutschen, Englischen oder Französischen das mit dem Zahlwort gleichlautende Indefinitum erscheint. Ein kontextbezogen selbstständiger Rückbezug bleibt wie in (108) nur implizit. (108) POL

rower. Mój przyjaciel też ma [_]. Mam Fahrrad.AKK POSS . 1SG Freund auch hab.3SG hab.1SG ‚Ich habe ein Fahrrad. Mein Freund hat auch eines.‘ (wörtl.: ‚Ich habe Fahrrad. Mein Freund hat auch.‘)

Es gibt jedoch adnominale indefinite Verwendungen von jeden. Diese sind immer spezifisch im Sinne von ‚ein bestimmter, ein gewisser‘ (vgl. gleichbedeutend pewien); häufig erscheint jeden, wenn ein neuer Gegenstand in den Diskurs eingeführt werden soll (Mendoza 2004: 314 ff.). Hierher gehört auch die Wendung jednego dnia ‚eines Tages‘. Ähnlich wie im Französischen sind spezielle personenbezogene Verwendungen auf die Umgangssprache beschränkt, vgl. (109); nicht-personales jedno (neutrales Genus) wird wie DEU eines nur betont als Zahlwort gebraucht, vgl. (110).  

763

B1 Wortklassen

(109) POL

„O – jeden mówi – nie, stary, to nein Alter DEM . N . SG O ein.M . SG sag.3SG ‚„O“, sagt einer, „nein, Alter, das ist unmöglich […]“‘

(110) POL

JEDno jest w nim bezsprzecznie intrygujące – głębokie OK zweifelsohne interessant tief ein.N . SG ist an 3SG . M . LLOK noszenie w sobie przeogromnej winy wobec OK übergroß.GEN Schuld.GEN gegenüber Tragen in REFL . LLOK narodu polskiego. Volk.GEN polnisch.GEN ‚EInes ist an ihm zweifelsohne interessant – ein tiefes, übergroßes Gefühl der Schuld gegenüber dem polnischen Volk.‘ (Mendoza 2004: 316)





niemożliwe […]“ unmöglich





Im Ungarischen kommt egy ‚eins‘ sowohl adnominal als auch selbstständig in indefiniter Lesart vor. Dabei klammern wir die Frage, ob das nicht obligatorische adnominale egy zum indefiniten Artikel grammatikalisiert ist, hier aus. Selbstständig ist egy auf kontextbezogene Verwendung beschränkt, wie in (111), dabei kann es wie in (112) Kasusaffixe tragen. Ähnlich wie im Polnischen kann der Rückbezug auch implizit bleiben. (Speziell personenbezogen wird es allenfalls zusätzlich zu valaki ‚jemand‘ gesetzt, vgl. (113).) (111) UNG

Nekem van (egy) biciklim. A barátomnak ist INDEF Fahrrad.1SG DEF Freund.1SG . DAT 1SG . DAT van (egy). ist ein ‚Ich habe ein Fahrrad. Mein Freund hat auch eines.‘

(112) UNG

Én is szeretnék auch mag.KOND . 1SG 1SG ‚Ich möchte auch eines.‘

(113) UNG

Mentem az utcán. geh.PRT . 1SG DEF Straße.SUP nézte a DEF betrach.PRT . 3SG . DEF ‚Ich ging die Straße entlang. klame.‘

is auch

egyet. ein.AKK

Ott állt (egy) valaki és dort steh.PRT . 3SG ein jemand und mozireklámot. Kinoreklame.AKK Da stand einer und betrachtete die Kinore-

Das Deutsche hat von allen Vergleichssprachen die am wenigsten beschränkte Verwendung des Zahlwortes für ‚eins‘ als Indefinitum. Dabei gehen wir nur auf die selbstständige Verwendung des doppelförmigen non-selbstständigen ein(er) ein, da die adnominale als indefiniter Artikel gesondert zu behandeln ist.

764

B Wort und Wortklassen

einer hat kontextbezogen einfache und partitive Gebräuche, vgl. (114) vs. (115). Eine Variante der kontextbezogen einfachen Verwendung ist auch die als Prädikativ wie in (116). (114)

Ich habe ein Fahrrad. Mein Freund hat/sucht auch eines.

(115)

Dort liegen eine Menge Bücher. Gib mir doch mal eines (davon)!

(116)

Elsa ist eine begeisterte Sportlerin. Und ich bin auch eine.

Der Gebrauch des selbstständigen Indefinitums als Prädikativ wie in (116) ist markiert (eher umgangssprachlich): Präferiert ist stattdessen die Setzung von es bzw. das (vgl. auch → B1.5.5.3.1 zu es in dieser Funktion). Bei pluralischer Bezugskonstituente wird entsprechend welche gesetzt. (117)

Die Mädchen sind begeisterte Sportlerinnen. Und wir sind auch welche.

Spezielle Verwendungen sind auf Personenbezug eingeschränkt. Wie (114) und (118) zeigen, sind sowohl kontextbezogen als auch speziell nicht-spezifische neben spezifischen Lesarten möglich. Außerdem wird einer suppletiv zu man, das nur als Subjekt möglich ist, generisch verwendet, wie in (119) (vgl. hierzu → B1.5.2.4 und Zifonun 2001a: 119–122). (118)

Ich kenne/suche einen, der mich bei meiner Arbeit unterstützt.

(119)

Das ärgert einen anständigen Menschen. Das ärgert einen.

B1.5.5.4 Quantifikativpronomina B1.5.5.4.1 Funktionale und typologische Charakterisierung Quantifikativpronomina stellen traditionell keine eigene Subklasse der Pronomina dar. Im Anschluss an Haspelmath (1997) (vgl. auch IDS-Grammatik 1997: 44) gehen wir jedoch von einer gegenüber den Indefinita abgegrenzten eigenständigen Gruppe aus, die wiederum in zwei semantische Subgruppen zu gliedern ist: die universalen Quantifikativa (,alle‘, ,jeder‘) und die Quantifikativa des mittleren Skalenbereichs (‚einige‘, ,mehrere‘). Beide rechnen wir der übergreifenden Domäne ‚nominale Quantifikation‘ zu (→ A5). ‚Quantifikativpronomen‘ wird analog zu ‚Indefinitpronomen‘ usw. verwendet, ‚Quantifikativum‘ analog zu ‚Indefinitum‘ usw., ‚Quantifikator‘ wird übergreifend für die Quantifikativa und die entsprechenden Adjektive (wie viel) bzw. komplexen Ausdrücke (wie x Prozent usw.) sowie die Kardinalnumeralia gebraucht. Quantifikativa des mittleren Skalenbereichs wie mehrere, einige geben ähnlich wie gewisse Numeralia/Zahladjektive (z. B. viele, die meisten) die Anzahl der Elemente  

765

B1 Wortklassen

einer Vielheit nur vage an oder sie spezifizieren, gegebenenfalls in anderer morphologischer Form, auch bei einem Kontinuativum ein Quantum, das ggf. durch Messung präzisierbar ist (viel/etwas Geld, wenig/etwas Geduld). Universale Quantifikativa drücken aus, dass auf alle Elemente einer Vielheit/alle Teile eines Quantums Bezug genommen wird, in der Weise, dass sie „in die vom verbalen Prädikatsausdruck bezeichnete Prädikation einbezogen sind“. Bezug nehmen ist hier im weiteren Sinne zu verstehen: Auch bei Alle Spieler kommen zusammen wird auf alle einzelnen Spieler Bezug genommen, ohne dass behauptet werden könnte, dass jeder von ihnen zusammenkommt. Bei der Verifikation einer Äußerung dieses Satzes in einem gegebenen Kontext muss für jedes Element der Spielergruppe geprüft werden, ob es „entsprechende Schritte dafür eingeleitet hat“, dass ein Zusammenkommen aller Spieler zustande kommt. Trotz der gemeinsamen funktionalen Domäne sind die beiden Subtypen der Quantifikativa semantisch deutlich geschieden. Dies betrifft vor allem das Verhältnis der Quantifikativa zu Definitheit/Indefinitheit und damit indirekt auch die Frage, ob eine Zuordnung zu den Indefinita im engeren Sinne (vgl. → B1.5.5.3) doch für die gesamte Gruppe oder für eine der Subgruppen vorzuziehen wäre. Die universalen Quantifikativa sind sprachübergreifend mit Definitheitsmarkern zumindest kompatibel und können in definit referentiellen Phrasen auftreten. Für diese ist somit eine Zuordnung zu den Indefinita auszuschließen. Anders die Quantifikativa des mittleren Skalenbereichs. mehrere Kinder in Mehrere Kinder spielten im Garten wird offensichtlich ebenso indefinit referentiell gebraucht wie irgendwelche Kinder in Irgendwelche Kinder spielten im Garten. So ist es durchaus vertretbar, die Pronomina des mittleren Skalenbereichs als ‚quantifikative Indefinita‘ einzustufen, während wir sie als ‚indefinite Quantifikativa‘ einstufen, bzw. genauer als ,nicht für Definitheit spezifizierte Quantifikativa‘. Wir betrachten ‚Quantifikation‘ hier vor allem aus folgenden Gründen als primär; zu weiteren Kriterien vgl. Zifonun (2007a: 79–81): Wie Numeralia und universale Quantifikativa – aber anders als Indefinita – antworten die Quantifikativa des mittleren Skalenbereichs auf die Frage ‚wie viel(e)?‘. b. Wie für Numeralia und das unmarkierte universale Quantifikativum (‚alle‘) – aber nicht für Indefinita – gelten für die Quantifikativa des mittleren Skalenbereichs spezifische Beschränkungen im Hinblick auf semantische Klasse und Numerus des Kopfsubstantivs, vgl. → B1.5.5.4.6. a.









Für die Einrichtung einer beide Subgruppen umfassenden Pronominaklasse und deren Abtrennung von den Indefinita spricht auch, dass das für die Indefinita typische Phänomen der Serienbildung bei den Quantifikativa nicht in dieser Weise ausgeprägt ist. Nur im Englischen und marginal im Ungarischen partizipieren die universalen Quantifikativa an diesem Strukturprinzip.

766

B Wort und Wortklassen

Wie die Quantifikativa ihrerseits sprachabhängig semantische Sortenunterscheidungen treffen und mit welchen morphologischen Mitteln sie dies – im selbstständigen und adnominalen Gebrauch – tun, ist Gegenstand des Parameters ‚Sortierung und morphologische Struktur, selbstständige und adnominale Verwendung‘. Die universalen Quantifikativa als einzelsprachliche Entsprechungen der im logischen Sinne universalen Quantoren bilden die eine Subgruppe der Klasse. Zwar wird universale Quantifikation sprachübergreifend nicht immer durch spezielle lexikalische Einheiten ausgedrückt, auch die Realisierung des Konzepts durch komplexe Umschreibungen kommt vor. Die Vergleichssprachen verfügen jedoch alle über entsprechende lexikalische Einheiten, die nach ihrem morphosyntaktischen Verhalten, insbesondere aufgrund ihres Vorkommens als selbstständiges Nominal und als adnominaler Ausdruck, am besten als Pronomina einzuordnen sind. Unter den universalen Quantifikativa unterscheiden natürliche Sprachen häufig zwischen Pronomina, die sich auf die einzelnen Elemente einer vollständig zu erfassenden Vielheit beziehen (‚jeder‘), und solchen, die sich auf die entsprechende Vielheit insgesamt beziehen, wobei die Beziehbarkeit auf die einzelnen Elemente offenbleibt (,alle‘). Weitere Differenzierungen sind im Rahmen des hier anzusetzenden Parameters ‚Universale Quantifikativa: Semantische Typunterscheidungen im Bereich Distributivität‘ vorzunehmen. Bei universalen Quantifikativa des ‚alle‘-Typs und des ‚jeder‘-Typs bleibt offen, ob auf eine bestimmte Vielheit (z. B. bekannter, bereits eingeführter) Entitäten Bezug genommen wird oder nicht. Demgegenüber wird etwa bei ENG each eine vorab determinierte Gruppe vorausgesetzt. Darüber hinaus gilt vergleichssprachenübergreifend für die universalen Quantifikativa des ‚alle‘-Typs, dass sie mit dem definiten Artikel kombinierbar sind. Sie erscheinen dann in ‚prädeterminativer‘ Position (DEU all(e) die Leute, ENG all the people, FRA tous les bourgeois gegenüber alle Leute, all people, tout bourgeois) oder aber wie im Ungarischen in ,postdeterminativer‘ Position. Die Sprachen unterscheiden sich jedoch darin, wie stark die Setzung des definiten Artikels bei ‚alle‘ generalisiert ist. Wir erörtern dies mit dem Parameter ‚Universale Quantifikativa und Definitheit‘. Kombiniert man die beiden semantischen Dimensionen ‚Distributivität‘ und ‚Definitheit‘ ergibt sich eine Matrix, die, im Anschluss an Gil (1991), das Spektrum semantischer Möglichkeiten bei den universalen Quantifikativa erschöpfen soll: Parameter ‚Universale Quantifikativa: das semantische System der Vergleichssprachen‘. Quantifizierend werden auch die Entsprechungen von DEU einige, etliche, manche, mehrere, ENG few, some, several, a few verwendet, mit denen eine Teilgruppe „kleiner bis mittlerer Größe“ aus einer Gesamtgruppe herausgegriffen wird. Allerdings sind diese ‚Quantifikativpronomina des mittleren Skalenbereichs‘ („mid-scalar quantifiers“, Haspelmath 1997: 11 f.) semantisch nur unscharf von Adjektiven mit entsprechend quantifizierender Bedeutung wie etwa DEU wenige, viele, gewisse, verschiedene abgegrenzt. Wie unsere Vergleichssprachen den Schnitt zwischen Quantifikativum und Adjektiv jeweils legen und morphologisch realisieren, wird unter dem  







B1 Wortklassen

767

Parameter ‚Quantifikativa des mittleren Skalenbereichs: Wortklassenzugehörigkeit und Morphologie‘ thematisiert. Eine weitere sprachübergreifende Gemeinsamkeit adnominal verwendeter bzw. auf ein Personalpronomen bezogener Quantifikativa (und der negativen Indefinita) ist eine gewisse Stellungsvariabilität, insbesondere in Form des sogenannten „quantifier floating“ wie in DEU Sie kriegen alle/jeder ein Geschenk. Zu der vergleichenden Darstellung dieses Phänomens ist auf Zifonun (2007a: 118–121, 133–137) zu verweisen.

B1.5.5.4.2 Sortierung und morphologische Struktur, selbstständige und adnominale Verwendung Nur im Englischen und Ungarischen begegnet bei den universalen Quantifikativa eine mit den Indefinita vergleichbare systematische Sortierung einer ‚Stamm‘-Komponente. Im Englischen betrifft dies die every-Serie mit – jeweils nur-selbstständigem – everybody/-one, everything sowie den adverbialen everywhere (amerikanisches Englisch auch everyplace, Jonathan Franzen 2003: 171), everytime, *everyhow (im BNC nicht belegt, im OED als ‚selten‘ gebucht), deren Elemente aus dem nur-adnominalen every + generischem Substantiv/Zahlwort oder Interrogativum zusammengesetzt sind. Die übrigen Quantifikativa stimmen im adnominalen und selbstständigen Gebrauch überein, sind also ‚non-selbstständig‘. In selbstständiger Verwendung werden sie häufig mit of verbunden (‚of-Pronomina‘). Im Ungarischen wird auch bei den universalen Quantifikativa die Serienbildung auf der Basis der Interrogativa partiell fortgesetzt. Als universal quantifizierendes Präfix fungiert minden-. Beispiele sind: minden-ki ‚jedermann‘ (nur-selbstständig), minden-hol ‚überall‘, minden-hová ‚überall hin‘, minden-hogy ‚auf jede Weise‘. Ausgeschlossen sind allerdings Basen, die selbst auf m- anlauten, etwa *minden-mi ‚alles‘, *minden-mikor ‚immer‘. Adnominal und selbstständig werden mind/minden ‚aller/alles; jeder/jede/jedes‘ (+ weitere suffigierte Formen) gebraucht. Im Französischen liegt nur bei Personenbezug die indefinittypische Sortierung vor: Das (nur-adnominale) chaque verbindet sich mit dem Zahlwort un(e) zu chacun(e), wie quelqu’un(e). Man beachte, dass wie im Englischen und Deutschen (vgl. jedermann) nur der individualisierende ‚jeder‘-Typ diese morphologische und semantische Struktur zulässt, nicht der ‚alle‘-Typ. Im selbstständigen Gebrauch wird singularisches tout [tu] mit Bezug auf NonPersonales verwendet (‚alles‘); im Plural liegt anders als im Deutschen Genusdifferenzierung vor. Bezogen auf Personen beiderlei Geschlechts wird hier Non-Femininum Plural tous [tus] (‚alle‘) gebraucht; für Gruppen von Frauen Femininum Plural toutes [tut]. Selbstständiges tous/toutes wird jedoch eher gemieden. Für die generische Bezugnahme auf Personen wird tout le monde (‚jedermann‘) bevorzugt. Adnominal  



768

B Wort und Wortklassen

sind graphematisch vier Formen differenziert; die jeweils zugeordneten phonematischen Entsprechungen zeigen, wie bei Adjektiven üblich, einen dominanten GenusKontrast, während der Numerus-Kontrast weitgehend neutralisiert ist:

SG PL

NONF

F

tout [tu] tous [tus], bei Liaison [tuz]

toute [tut] toutes [tut]

Die polnischen universalen Quantifikativa haben keine transparente morphologische Struktur, die Sortierung erkennen ließe. wszystek/wszystka/wszystko ‚aller‘ und każdy/każda/każde ‚jeder‘ werden adnominal und selbstständig gebraucht, sind also non-selbstständig. Für den allgemeinen Personenbezug wird wszyscy (PL , ‚alle‘) gebraucht, für den allgemeinen Bezug auf Non-Personales wszystko (Neutrum, ‚alles‘). cały/cała/całe ‚aller, ganz‘ ist nur-adnominal. Die universalen Quantifikativa des Deutschen, an erster Stelle jeder und alle (mit den jeweils zugehörigen Wortformen), haben keine durchsichtige morphologische Struktur (mehr). Historisch enthält jeder wie das Indefinitum jemand die Indefinitpartikel MHD ie > NHD je. Ursprünglich handelte es sich um ein duales Quantifikativum (MHD ie(de) weder ‚jeder von zweien‘), bei dem ie verallgemeinernd (möglicherweise im Sinne der Zufallswahl) gebraucht wurde. Mit der Zusammenziehung zu NHD jeder ging der Verlust der dualen Bedeutung einher, so dass jeder mit jeglicher zusammenfiel. Auch in der NHD Form jedweder, die den Dualausdruck weder noch sichtbar enthält, ist keine duale Bedeutung mehr erhalten. Beide werden selbstständig und adnominal verwendet, sind also non-selbstständig. Selbstständig nicht-personal wird die Neutrumform alles, nicht jedes gebraucht (vgl. aber die Formel: alles und jedes), selbstständig personenbezogen pluralisches alle und singularisches jede(r). In Kombination mit einem Adjektiv verhalten sich die universalen Quantifikativa wie Determinative, das Adjektiv wird somit als Kopf der Konstruktion wie nach dem definiten Artikel schwach flektiert: jeder Fremde, alles andere, im Kontrast etwa zu nichts anderes. Die morphologisch komplexen Formen jedweder und jeglicher sind auf den Bezug auf größere Vielheiten beschränkte, stilistisch gewähltere semantische Varianten zu jeder; bei jeglicher kommen neben der überwiegenden singularischen Verwendung auch Plurale vor, vgl. (120). jeder und jeglicher können (meist selbstständig personenbezogen) in gehobenem Sprachgebrauch die festen Verbindungen ein jeder/ein jeglicher eingehen; dies ist nicht als Verstoß gegen das Kriterium ‚Ausschluss des Artikels‘ (→ B1.5.1.5) zu werten; möglicherweise reflektiert der indefinite Artikel eine Verwendung im Sinne der Zufallswahl (,ein beliebiger‘). Diese Verbindungen erlauben im Gegensatz zu einfachem jeder selbstständige Genitivformen (eines jeden/ jeglichen); vgl. (122), (123).

B1 Wortklassen

769

(120)

Contador hat jegliche Doping-Vorwürfe abgestritten. (Aachener Zeitung, 31.07.2007)

(121)

[. . .] und was man halb zu Recht das „Handwerk des Schreibens“ nennt, das angeblich ein jeder lernen kann. (Ch. Wolf, „über Sinn und Unsinn von Naivität“ (Essay), Werke, Bd. 4)  







(122)

Hier nimmt sein Gemüt die erste traurige Richtung [. . .] er gibt sich für einen Diener eines jeden [. . .]. (Goethe, „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, Hamburger Ausgabe Bd. 7, S. 244)  











(123)

Der Band bringt Philosophie mit den Fragen eines jeden zusammen. (Die Zeit (Online-Ausgabe), 13.01.2005)

(124)

Es ist sehr leicht, einem Volke Verachtung für alle Gewohnheiten einzuflößen; das ist noch immer einem jeglichen geglückt, der es hat unternehmen wollen […]. (Frankfurter Allgemeine, 1993)

Man beachte, dass im Englischen, Französischen, Spanischen, Italienischen usw. die selbstständigen personenbezogenen Varianten als zweiten Bestandteil die Entsprechung von ‚eins/einer‘ enthalten: everyone, chacun usw., während im Deutschen umgekehrt ‚ein‘ vorangestellt wird.

Nur-selbstständig wird zur generischen Bezugnahme auf Personen (ganz allgemein oder bezogen auf einen bestimmten Diskursbereich) die komplexe Form jedermann verwendet. Hier liegt somit ein sortaler Bezug auf die prominenteste Denotatssorte vor (vgl. auch ENG everybody), für andere konzeptuelle Sorten gibt es keinen lexikalischen Ausdruck (etwa *jedesding usw.).

B1.5.5.4.3 Universale Quantifikativa: Semantische Typunterscheidungen Wie in → A5.4 ausgeführt, ist auf der Ebene der Satzbedeutung zwischen ‚distributiver Quantifikation‘ oder ,kollektiver Quantifikation‘ über das Denotat des Nominals zu unterscheiden. Diese Unterscheidungen ergeben sich erst durch das Zusammenspiel zwischen der Interpretation des Nominals und der Bedeutung des Prädikatsausdrucks. Dabei können die distributive und die kollektive Interpretation entweder unabhängig vom Kontext jeweils „erzwungen“ werden oder sich in Abhängigkeit vom Kontext fakultativ ergeben. Während Numeralia (wie drei in Drei Schüler lächelten/ kamen zusammen) oder Zählkonstruktionen (wie drei Dutzend Schüler in Drei Dutzend Schüler lächelten/kamen zusammen) in unseren Vergleichssprachen nicht spezifiziert sind für diese Unterscheidungen, bringen die universalen Quantifikativa Differenzierungen ein. Wir unterscheiden den distributiven ‚jeder‘-Typ und den non-distributiven ‚alle‘-Typ. Der Vergleich mit dem Ungarischen zeigt jedoch, dass trotz einer ebenfalls paarigen Differenzierung die Unterscheidung nur teilweise parallel läuft.

770

B Wort und Wortklassen

minden ist, wie gezeigt werden wird, zwar individuiert wie der ‚jeder‘-Typ, kann jedoch auch bei kollektiver Prädikation auf Vielheiten angewandt werden, ist also ‚non-singularisch‘. Für einen ersten Überblick werden in Tabelle 9 die Parallelen und Unterschiede zwischen minden (mit der Merkmalskombination: individuiert, nonsingularisch) und dem distributiven ‚jeder‘-Typ der indoeuropäischen Vergleichssprachen (mit der Merkmalskombination: individuiert, singularisch) aufgezeigt. Die kritische Belegung für minden, nämlich bezogen auf Vielheiten bei kollektiver Interpretation, ist durch Fettdruck hervorgehoben. Das andere Element des ungarischen Paares, az összes, teilt hingegen wie die Vertreter des ‚alle‘-Typs der anderen Vergleichssprachen die Merkmalskombination: non-individuiert, non-singularisch. Tab. 9: Quantifikatives Nominal und verbaler Prädikatsausdruck

,Individuiertheit‘ von Quantifikatoren liegt vor, wenn diese Individuativa als Kopfsubstantive fordern oder ihr Kopfsubstantiv auf eine individuative Lesart festlegen. ‚Non-Individuiertheit‘ liegt vor, wenn die Quantifikatoren mit Kopfsubstantiven beider Nominalaspekte kombinierbar sind (ohne eine Uminterpretation zu erzwingen). Die folgende Tabelle zeigt dies am Beispiel des Deutschen; dabei sind erzwungene individuative Lesarten von Kontinuativa grau unterlegt.

B1 Wortklassen

771

Tab. 10: Individuiertes jeder und non-individuiertes aller  

individuatives Kopfsubstantiv

kontinuatives Kopfsubstantiv

konkret

kollektiv

abstrakt

jeder individuiert

jeder Mensch

jede Milch ,jede Sorte Milch‘

jedes Obst ,jede Art Obst / jedes Stück Obst‘

jedes Glück ,jede Art von Glück‘

aller non-individuiert

alle Menschen

alle Milch

alles Obst

alles Glück

Die distributiven universalen Quantifikativa unserer Vergleichssprachen sind individuiert. Es gilt jedoch nicht notwendigerweise die umgekehrte Implikationsrichtung. Unter den Vergleichssprachen ist im Ungarischen das individuierte universale Quantifikativum minden non-distributiv. Diese Sonderstellung des Ungarischen mag darauf beruhen, dass hier die Unterscheidung individuiert versus non-individuiert nicht mit einem Numeruskontrast korreliert. Das non-individuierte Quantifikativum ist in allen Vergleichssprachen außer dem Ungarischen mit beiden Numeri verträglich, das individuierte nur mit dem Singular, es ist, wie wir sagen wollen, ,singularisch‘. Im Ungarischen hingegen steht in beiden Fällen nur der Singular (siehe dazu das Universale 2 von Gil (1991: 13), demzufolge in Sprachen, die bei Konstruktionen mit universalen Quantifikativa überhaupt zwischen den Numeri differenzieren, das distributive Quantifikativum mit Singularmorphologie assoziiert ist, das non-distributive mit Pluralmorphologie). Unterschiede zwischen den indoeuropäischen Vergleichssprachen ergeben sich darin, welche semantischen Subklassen im Singular mit dem non-individuierten universalen Quantifikativum vereinbar sind. Als dritte Möglichkeit neben dem ‚jeder‘- und dem ‚alle‘-Typ finden sich manchmal Quantifikatoren mit totalisierender Wirkung. Mit ihnen wird ausgedrückt, dass bei einem Objekt, das aus erkennbaren Teilen besteht, alle Teile unter eine Prädikation fallen und somit das Objekt insgesamt unter die Prädikation fällt. Über spezielle Totalitätspronomina (sav, čitav, cijel) verfügt das Serbokroatische, vgl. Kunzmann-Müller (1999: 161).  

Moltmann (2012: 11) beschreibt die Funktion totalisierender Quantifikatoren am Beispiel von ENG whole wie folgt: „Whole is an expression whose semantic function as an adjectival modifier is to map an integrated whole to the mere sum of its parts.“

In den Vergleichssprachen gibt es jeweils ein Adjektiv mit vergleichbarer Semantik (‚ganz‘). Adjektivische Totalitätsausdrücke überlappen bzw. konkurrieren semantisch mit dem ‚alle‘-Typ in Kombination mit singularischen Kopfsubstantiven; diese Konkurrenz wird im Folgenden einzelsprachspezifisch abgehandelt. Dabei kann ins-

772

B Wort und Wortklassen

besondere FRA tout (singularisch, mit Individuativa) als totalisierend eingeordnet werden. Zu den Vergleichssprachen im Einzelnen: Im Englischen ist all das non-distributive, every mit everyone/everybody das distributive universale Quantifikativum. all ist, wie sprachübergreifend üblich, mit pluralischen Individuativa jeglicher Subklassen kombinierbar, mit der Besonderheit, dass häufig Kombination mit dem definiten Artikel vorliegt (vgl. dazu den nächsten Abschnitt) oder die Konstruktion als of-Pronomen, vgl. (125). Im Singular ist all mit den Kontinuativa aller semantischen Subklassen vereinbar, vgl. jeweils ein Beispiel für Konkret-Kontinuativa (Stoffnamen), Abstrakt-Kontinuativa und Kollektiv-Kontinuativa in (126) bis (128). (125) ENG

all (the) languages of the world, all of the languages of the world ‚alle Sprachen der Welt‘

(126) ENG

But don’t drink all the milk if you please. ‚Aber trink bitte nicht alle Milch.‘ (BNC, KBM, gesprochene Sprache)

(127) ENG

The heart, or the inner life, is therefore a great teacher, pointing us back to the source of all happiness, – to God himself. ,Das Herz, oder das innere Leben, ist daher ein großer Lehrer, der uns zurückverweist auf die Quelle allen Glücks, – auf Gott selbst.‘ (BNC, ARG: Houston „In search of happiness“)  



(128) ENG

He likes all fruit except bananas. ‚Er mag alles Obst, außer Bananen.‘ (BNC, FAC: Cruse „Lexical semantics“)

Ähnlich wie in (128) sind andere Verbindungen mit Kollektiv-Kontinuativa usuell: all (the) furniture ,alles Möbel‘, all (the) luggage ,alles Gepäck‘. Im Englischen kann all aber auch (im Unterschied zum Deutschen) mit Kollektiv-Individuativa verbunden werden wie in den folgenden Beispielen. (129) ENG

Of course, all the Committee would want to read the book. ,Natürlich würde das ganze Komitee das Buch wollen.‘ (BNC, CDN: Forrester „The latchkey kid“)

(130) ENG

All the class was looking at them, all the boys grinning. ,Die ganze Klasse schaute sie an, alle Jungs grinsten.‘ (BNC, Thomas „It might have been Jerusalem“)

B1 Wortklassen

773

Selbst andere Individuativa können mit all verbunden werden, vorausgesetzt sie bezeichnen Entitäten, die aus vergleichsweise gleichartigen Teilen bestehen wie book, day, morning (Huddleston/Pullum 2002: 375). Zu beachten ist weiterhin, dass im Englischen bestimmte Kollektivsubstantive (cattle, poultry, police) als „quasi-count nouns“ (ebd.: 345) zu werten sind: Sie fordern als Subjekt in der Regel Plural beim verbalen Prädikat und können nur mit großen runden Zahlen verbunden werden: two hundred police versus *three police vgl. auch → B1.4.2.3, → B2.3.4.2. Auch diese können mit all vorkommen, vgl. (131). (131) ENG

Look at there, all the police. ‚Schau mal her, all die Polizei / die ganze Polizei.‘ (BNC: KDG (gesprochene Spr.))

Allerdings scheint die Verwendung von all über den Bereich der Kontinuativa hinaus nur in Verbindung mit dem definiten Artikel möglich zu sein. Die generisch interpretierte Konstruktion all + Substantiv scheint auf Kontinuativa aller drei Subklassen beschränkt zu sein (vgl. Beispiele (127), (128); zu all + Artikel vgl. den nächsten Abschnitt).

Das Adjektiv whole ‚ganz‘ konkurriert mit all in singularischen Nominalphrasen; dabei verlangt es ein Determinativ. Die beiden Möglichkeiten sind bei KollektivIndividuativa und Individuativa wie day, morning, book gleichberechtigt: the whole committee versus all the committee, the whole day versus all (the) day, Kombination mit Kontinuativa ist ausgeschlossen: *the whole milk, *your whole patience, *the whole furniture. Das distributive Quantifikativum (every) wird wie im Deutschen und sprachübergreifend üblich in der Regel mit singularischen Individuativa verknüpft. Wie ebenfalls sprachübergreifend möglich, ist das distributive Quantifikativum mit Kontinuativa verträglich, mit einer entsprechenden Verschiebung zur Denotation einer Sorte oder einer individualisierten Erscheinungsform – vgl. (132).  

(132) ENG

„I wish you every happiness in your new homeland, Alexai Ybreska“, he murmured […]. ,Ich wünsche dir jedes erdenkliche / ?jedes Glück in deinem neuen Heimatland, Alexai Ybreska, murmelte er.‘ (BNC, CDA: Cave „Foxbat“)

Eine Besonderheit im Rahmen der Vergleichssprachen ist die Verbindung mit Kardinalnumerale + Substantiv wie in every three years/metres ‚alle drei Jahre/Meter‘. Ähnlich wird auch iberoromanisch cada ‚jeder‘ gebraucht wie in SPA cada tres días ‚jeden dritten Tag‘. Hier ist wohl Distributivität der entscheidende Faktor für die Wahl von every/cada gegenüber DEU aller bzw. FRA tout (wie in tous les trois ans). Man beachte auch, dass im Ungarischen in dieser Funktion der Kasus ‚Distributiv‘ (Suffix -nként) eingesetzt wird, vgl. (133).

774

(133) UNG

B Wort und Wortklassen

három-év-enként drei-Jahr-DISTR wörtlich: ,pro drei Jahren‘, ,alle drei Jahre‘

Im Polnischen wird hier so konstruiert: co (‚was‘, interrogativ, relativ und indefinit) + Kardinalnumerale + zeitintervalldenotierendes Substantiv: co trzy lata ‚alle drei Jahre‘. Sowohl im Englischen als auch im Spanischen wird diese Konstruktion über den Bereich von Zeit- und Maßangaben hinaus allgemeiner auf gezählte Einheiten als Distributionsträger angewandt wie z. B. in for/in every three persons, por/de cada tres personas ,für/auf je(weils) drei Personen‘; man vergleiche folgenden Beleg.  

(134) ENG

Fewer than one child in every hundred is taken into care, yet, in London alone, at least one in every three young homeless people has a background in care. ‚Weniger als ein Kind von hundert wird in Heimerziehung untergebracht; aber allein in London hat mindestens einer von drei jungen Wohnsitzlosen einen Hintergrund im Heim.‘ (BNC, AA8: The Guardian, 20. 12. 1989)  



Im Französischen ist tout das non-distributive, chacun (adnominal chaque, jeweils mit zugehörigen Wortformen) das distributive universale Quantifikativum. tout ist wie üblich mit pluralischen Individuativa beliebiger Subklassen kombinierbar. Es verhält sich in vieler Hinsicht wie ENG all: Wie dieses wird es (im Singular und Plural) häufig mit dem definiten Artikel (oder anderen definiten Determinativen) kombiniert: (135) FRA

tous (les) langages, DEF . PL Sprache.PL all.M . PL ,alle Sprachen, alles Wasser‘

toute all.F . SG

l’ DEF . F . SG

eau Wasser

Auch im Singular ist es wie das englische Pendant nicht nur mit Kontinuativa aller Subklassen, sondern auch mit Kollektiv-Individuativa kombinierbar: Vgl. (136)–(137) gegenüber (138). (136) FRA

On avait bu toute l’ eau. man hab.IPRF . 3SG getrunken all.F . SG DEF . F . SG Wasser On avait bu tout le lait. man hab.IPRF . 3SG getrunken all.M . SG DEF . M . SG Milch ‚Man hatte alles Wasser getrunken. Man hatte alle Milch getrunken.‘ (ABU, Maupassant „Le Horla“)

B1 Wortklassen

775

(137) FRA

Tant mieux, mes chers enfants, et que le soviel besser POSS . 1SG . PL lieb.PL Kind.PL und KOMP DEF . M . SG bon Dieu vous envoie tout le bonheur imaginable. erdenklich gut Gott 2PL . OBJ send.KONJ . 3SG all.M . SG DEF . M . SG Glück ,Umso besser, meine lieben Kinder. Und dass der gute Gott euch alles erdenkliche Glück sende.‘ (ABU, Flaubert „Mme Bovary“)

(138) FRA

Il

se

KL . 3SG

KL . REFL

leva, sa casquette tomba. erheb.PRT . 3SG POSS .3SG Mütze fall.PRT . 3SG Toute la classe se mit à rire. zu lach.INF all.. F . SG DEF . F . SG Klasse KL . REFL begeb.PRT . 3SG ‚Er erhob sich; seine Mütze fiel herunter. Die ganze Klasse fing an zu lachen.‘ (ABU, Flaubert „Mme Bovary“)

Allerdings ist tout noch weniger beschränkt in der Kombination mit singularischen Individuativa als ENG all: Nicht nur singularische Individuativa mit interner Gleichförmigkeit, etwa bezogen auf Zeitintervalle: toute la journée ,der ganze Tag‘, toute la vie ,das ganze Leben‘ oder auch tout le livre ,das ganze Buch‘, sind kombinierbar, sondern tendenziell alle singularischen Individuativa mit nicht-personalem Denotat. In dieser ‚totalisierenden‘ Verwendung ist tout wie das totalisierende Adjektiv entier auch mit dem indefiniten Artikel kombinierbar: toute une journée ‚alle Teilintervalle eines Tages, ein ganzer Tag‘. Im Plural hingegen ist nur die über Individuen quantifizierende Bedeutung ‚alle‘ möglich, Totalisation wird hier nur durch entier ausgedrückt: des livres entiers ‚ganze Bücher‘. Daneben wird tout ohne nachfolgendes Determinativ gebraucht, hier konkurriert tout mit chaque, hat aber verallgemeinernde Bedeutung im Sinne der Zufallswahl (‚jeder beliebige‘) oder des hypothetisch Möglichen (,jeder nur Denkbare‘): en tout cas ‚auf jeden Fall‘, de toute manière ,(in) jeder Art‘, tout bourgeois ,jeder beliebige Bürger‘: (139) FRA

En tout cas, mon affolement touchait Fall POSS . 1SG Kopflosigkeit anfass.IPRF . 3SG in all.M . SG à la démence […]. Wahnsinn zu DEF ,Auf jeden Fall grenzte meine Kopflosigkeit an Wahnsinn […].‘ (ABU, Maupassant „Le Horla“)

(140) FRA

Merci de vous adresser à [email protected] wend.INF an [email protected] Danke von 2PL . OBJ pour tout problème ou suggestion. Problem oder Vorschlag für all.M . SG ‚Wenden Sie sich an [email protected] mit jedem Problem oder Vorschlag; danke.‘ (ABU, Startseite)

776

B Wort und Wortklassen

Zu Parallelen im Spanischen hinsichtlich der weiten Distribution von tout und zu deren Quelle in LAT totus vgl. auch Zifonun (2007a: 96). Das französische Totalitätsadjektiv entier (mit zugehörigen Wortformen) hat dieselbe Distribution wie das englische whole. Mit Kontinuativa ist es nicht verträglich: #le lait entier (nur im Sinne von ,Vollmilch‘) versus tout le lait ,die ganze Milch‘, *le bonheur entier versus tout le bonheur ,das ganze Glück‘, *la volaille entière versus toute la volaille ‚das ganze Geflügel‘. (Adverbialer Bezug ist möglich: Il a bu son lait tout entier ‚Er hat seine Milch ganz ausgetrunken‘) Im Polnischen fungiert wszystek als non-distributives, każdy (jeweils mit zugehörigen Wortformen) als distributives universales Quantifikativum. wszystek ist im Plural mit Individuativa aller Subklassen kombinierbar, im Singular mit KonkretKontinuativa sowie – mit verminderter Akzeptabilität – auch mit Kollektiv-Kontinuativa. Mit singularischem wszystek konkurriert das Adjektiv cały ‚ganz‘.  

(141) POL



Proszę nie wypij wszystkiego / NEG trink.IMP . 2SG all.N . SG . GEN bitte ‚Trink bitte nicht alle Milch / die ganze Milch!‘

całego ganz.N . SG . GEN

mleka. Milch.GEN

Beispiele für die Kombination mit Kollektiv-Kontinuativa: wszystek oder (bevorzugt) cały drób ‚alles/das ganze Geflügel‘, wszystko oder (bevorzugt) całe bydło ‚alles/das ganze Vieh‘. Die Kombination mit Abstrakt-Kontinuativa ist – im Unterschied zum Deutschen – fragwürdig, wenn nicht ungrammatisch (Engel et al. 1999: 840), stattdessen wird im Allgemeinen cały ‚ganz‘ gesetzt.  

??wszystko

(142) POL

/ całe napięcie Aufregung all.N . SG . NOM ganz.N . SG . NOM ,alle Aufregung, die ganze Aufregung‘

Kollektiv-Individuativa im Singular und Bezeichnungen für homogen Strukturiertes (Zeit u. Ä.) erlauben (wie im Deutschen) nicht die Kombination mit wszystek, sondern werden zur Bezeichnung der totalen Erfassung mit cały kombiniert; man vergleiche im Kontrast zum englischen Beleg (129):  

(143) POL

Oczywiście, cały komitet chciałby przeczytać natürlich ganz.M . SG Komitee woll.KONJ . 3SG les.INF tę książkę. DEM . AKK Buch.AKK ‚Natürlich würde das ganze Komitee das Buch lesen wollen.‘

Ähnlich auch: cała klasa ‚all the class, die ganze Klasse‘, cała policja ‚all the police, die ganze Polizei‘.

B1 Wortklassen

777

Auch im Polnischen ist die Verschiebung von Kontinuativa zu individuativen Sortenbezeichnungen problemlos möglich; erkennbar z. B. an der Kombination mit każdy versus wszystek in (144).  

(144) POL

wszystko mleko / każde mleko ,alle Milch / jede Milch‘

wszystek owies / każdy owies ,aller Hafer / jeder Hafer‘

wszystka woda / każda woda ,alles Wasser / jedes Wasser‘

Insgesamt ist festzuhalten, dass das Polnische im Gebrauch des non-distributiven Quantifikativums eher dem Deutschen ähnelt als etwa dem Englischen oder Französischen. Daneben verfügt das Polnische mit wszelki über ein Quantifikativum mit der speziellen Bedeutung ‚jedes/alles nur Denkbare‘: wszelkie możliwe szczęście ‚alles/ jedes nur denkbar mögliche Glück‘. Auch im Ungarischen existiert ein Paar von Ausdrücken zur universalen Quantifikation: minden und (az) összes. (145) UNG

minden játékos jed-/all Spieler.SG ,jeder Spieler, alle Spieler‘

(146) UNG

az

összes ganz ,alle Milch‘ DEF

tej Milch.SG

Gil (1991: 7) ordnet jeweils minden als ‚distributiv‘, az összes als ‚non-distributiv‘ ein. In Revision dazu werden hier minden, einschließlich der zugehörigen Wortbildungsprodukte wie mindenki, als ‚individuiert‘, ‚non-singularisch‘ und az összes als ‚nonindividuiert‘, ‚non-singularisch‘ eingeordnet. Beide sind somit non-distributiv. Die Einordnung von minden als ‚individuiert‘ gegenüber az összes als ‚nonindividuiert‘ stützt sich auf folgende Kontraste zwischen (147) und (148). (147) UNG

az összes tej ,alle Milch‘

az összes gyümölcs ,alles Obst‘

(148) UNG

minden tej ,jede (Sorte) Milch‘

minden gyümölcs ,jedes Obst‘

az összes szerencse ,alles Glück‘ minden szerencse ,jedes Glück‘

Bei minden muss das Denotat der NP als aus Einzelentitäten bestehend interpretiert werden, bei az összes bleibt unspezifiziert, ob Individuation vorliegt oder nicht. az összes ist daher das Quantifikativum der Wahl, wenn die NP zur Referenz auf Kon-

778

B Wort und Wortklassen

tinuatives gebraucht wird wie in az összes tej. Wird hier stattdessen minden gesetzt, so wird auf eine individuierende Interpretation (‚Sorten von Milch‘) umgestiegen. Das individuierte Quantifikativum erweist sich, vgl. oben, nicht als ‚distributiv‘. Dies zeigt sich in zweierlei Hinsicht. Zum einen können Subjekt-Nominale mit minden/mindenki wie die mit az összes mit kollektiven Prädikatsausdrücken verbunden werden, auch wenn das Kernsubstantiv keine Kollektion bezeichnet; sowohl mit gruppierenden Prädikaten wie in (149), (150), als auch mit reziproken Prädikaten wie in (151). (149) UNG

Minden játékos összegyűlt. zusammenkomm.PRT . 3SG all Spieler.SG ‚Alle Spieler kamen zusammen.‘

(150) UNG

Az

összes / minden gyerek (egy) közös ganz all Kind.SG INDEF gemeinsam fürdőszobát használt. Badezimmer.AKK benutz.PRT . 3SG ‚Alle Kinder / *Jedes Kind benutzte(n) ein gemeinsames Badezimmer.‘

(151) UNG

Minden ember egyenlő. all Mensch.SG gleich.SG ‚Alle Menschen sind gleich. / *Jeder Mensch ist gleich.‘

DEF

Zum anderen zeigt sich, dass Distributivität in Sätzen mit Numeralia im Objekt offensichtlich durch Kennzeichnung des Distributiv-Geteilten, nicht durch distributive Quantifikatoren (als „Träger“ des Distributiv-Geteilten) ausgedrückt wird wie in: (152)

Mindenki kap egy-egy almát. jedermann bekomm.3SG eins-eins Apfel.AKK . SG ‚Alle bekommen je einen Apfel.‘ (Forgács 2004: 177)

Reduplikation des Numerales egy ‚ein‘ dient hier zur Anzeige von Skopusdependenz/Distributiv-Geteiltem. Anders als im Georgischen (→ A5.4.2) ist dieses Verfahren bei den universalen Quantifikativa des Ungarischen nicht möglich. Anzeige von Skopus-Dependenz ist nun bezogen auf die jeweilige Aussage eine (wohl exklusive) Alternative zur Anzeige von weitem Skopus. D. h., indirekt ist aus der Setzung von egy-egy darauf zu schließen, dass mindenki non-distributiv ist – wie auch in den folgenden Beispielen:  



(153) UNG

Mindenki három bőröndöt vitt. trag.PRT . 3SG jedermann drei Koffer.AKK ‚Alle trugen drei Koffer.‘ (non-distributive Satzbedeutung)

B1 Wortklassen

(154) UNG

779

Mindenki három-három bőröndöt vitt. jedermann drei-drei Koffer.AKK trag.PRT . 3SG ‚Alle trugen je drei Koffer. / Jeder trug drei Koffer.‘ (distributive Satzbedeutung)

Für eine totalisierende Bezugnahme existiert wie in den übrigen Vergleichssprachen ein Adjektiv: egész ‚ganz‘. (155) UNG

Az

egész csapat összegyűlt. ganz Mannschaft zusammenkomm.PRT . 3SG ‚Die ganze Mannschaft kam zusammen.‘ DEF

mind kann mit den Zahlwörtern für ‚zwei‘ und ‚drei‘ zusammengesetzt werden; insbesondere entspricht mindkét dem dualen Quantor beide, alle zwei. Die erweiterte Form mindannyi kann auch mit den entsprechenden Possessorsuffixen versehen werden in der Bedeutung ‚wir alle‘, ‚ihr alle‘, ‚sie alle‘: mindannyi|unk/-tok/-uk; neben mindnyáj|unk/-atok/-uk. Das Deutsche verfügt mit jeder über ein distributives und mit aller über ein nondistributives universales Quantifikativum. Wie in den indoeuropäischen Vergleichssprachen ist jeder als individuiert und singularisch bestimmt; auf dieser Parameterwert-Kombination beruht seine Distributivität. Da jeder das einzige nur singularische Quantifikativum des Deutschen ist, ist es somit auch das einzige distributive Quantifikativum. Im Vorgriff auf die Quantifikativa des mittleren Skalenbereichs und unter Einbeziehung der Kardinalnumeralia und multaler und paukaler Adjektive gilt Folgendes: Tab. 11: Parameterwerte für Quantifikatoren im Bereich Distributivität im Deutschen ,Individuiertheit‘

,Singularität‘

jeder

+

+

Kardinalia, mehrere

+



mancher

+

etwas



+

aller, sämtlicher, multale, paukale Quantifikatoren/Quant. des mittleren Skalenbereichs (einiger, etlicher, allerlei; viel, wenig) In Tabelle 11 steht +/–Markierung für positive/negative Belegung der Parameter, fehlende Markierung zeigt offene Parameterbelegung, also ‚Non‘-Markierung an. Graue Unterlegung zeigt die Parameterbelegung für das Vorliegen von ‚Distributivität‘ auf der Ebene der Satzbedeutung.

780

B Wort und Wortklassen

Die in Tabelle 11 fett gesetzten Quantifikatoren zeigen die „Normalbelegungen“: Individuierte Quantifikatoren lassen den Numerus Plural erwarten, non-individuierte sollten mit beiden Numeri verträglich sein. Die übrigen Verteilungen sind idiosynkratisch. aller ist wie sprachübergreifend üblich mit pluralischen Individuativa jeder Art kombinierbar. Im Singular ist seine Distribution verglichen etwa mit dem englischen oder französischen Pendant eingeschränkter: Im Prinzip sind nur Kontinuativa der drei Subklassen möglich, vgl. (156).  

(156)

alle Milch, alles Glück, alles Obst

Insbesondere bei den Konkret- und Kollektiv-Kontinuativa ergibt sich hier ein klarer semantischer Kontrast zur Verbindung mit jeder: Vgl. (157), (158) gegenüber (159), (160). (157)

Das Kind hat schon wieder alle Milch / *jede Milch ausgeschüttet.

(158)

Alles frische Obst / ??Jedes frische Obst ist mir bei der Hitze verdorben.

(159)

Jede Milch, Ziegen-, Kuh und Stutenmilch, hat einen vergleichsweise niedrigen Fettgehalt.

(160)

Jedes Obst hat eigene Anforderungen an die Lagerbedingungen.

Bei Abstrakt-Kontinuativa ist in vielen Fällen der semantische Kontrast zwischen der Kombination mit aller und der mit jeder nicht stark ausgeprägt (vgl. dazu auch Pérennec 1988: 54–58; Lavric 2001: 586–595), s. (161). Wo möglich, wird die Kombination mit jeder als Quantifikation über Einzelereignisse interpretiert, etwa Spaßoder Unsinnsereignisse wie in (162). (161)

Er hat allen Mut / jeden Mut verloren.

(162)

Er hat jeden Spaß / jeden Unsinn mitgemacht.

Individuativa im Singular können im Allgemeinen nicht mit aller verbunden werden. Dies betrifft insbesondere auch Kollektiv-Individuativa wie Gruppe, Klasse und Ausdrücke mit homogen strukturiertem Denotat. Gerade hier zeigt sich der Kontrast zum Englischen, Französischen: *alle Klasse/Gruppe, *aller Tag, *aller Morgen. Nur bei Substantiven mit einer doppelten Seinsartzugehörigkeit etwa bei den Gruppen Fisch/Apfel, Tugend/Freiheit, Polizei ist die Kombination möglich; man vergleiche auch die phraseologische Verbindung in (165).

B1 Wortklassen

(163)

Er hat allen Fisch aufgegessen.

(164)

Alle Tugend/Freiheit/Polizei / Alle Zeit der Welt wird hier nichts nützen.

(165)

Er hat allen Grund, sich zu beschweren.

781

Semantisch analog zu aller verhält sich sämtlich, bei dem stärker noch die vollständige Erfassung einer kollektiven bzw. kontinuativen Entität hervorgehoben wird. Morphologisch ist sämtlich ein „Pronominaladjektiv“, vor allem im Plural ist neben schwacher auch starke Flexion eines nachfolgenden Adjektivs möglich, also Parallelflexion wie in sämtliche(r) nette(r) Leute neben sämtliche(r) netten Leute (vgl. dazu Duden-Grammatik 2009: 952, 956; Wiese 2009). Gegenüber den Kontrastsprachen ist festzuhalten, dass im Deutschen die Anwendung des non-distributiven universalen Quantifikativums im Singular am klarsten auf die Großklasse der Kontinuativa beschränkt ist; singularische Individuativa sind ausgeschlossen. Die vollständige Erfassung des Denotats eines Singular-Individuativums, also seiner Teile in ihrer Totalität, wird im Deutschen nur durch das Adjektiv ganz ausgedrückt. Die folgende Tabelle zeigt die jeweilige Verteilung des non-distributiven Quantifikativums (im Singular) und des Totalitätsadjektivs. Tab. 12: Non-distributives Quantifikativum und Totalitätsadjektiv Kontinuativa Konkret

Individuativa (SG ) Kollektiv

Abstrakt

Kollektiv

Tag, Buch, ... andere

Französisch

tout le lait; toute la *le lait entier volaille *la volaille entière

tout (le) bonheur *le bonheur entier

toute la classe; la classe entière

toute la journée; la journée entière

Englisch

all (the) milk; all (the) *the whole furniture milk *the whole furniture

all (the) happiness *the whole happiness

all (the) class; the whole class

all (the) day; *all the table; the whole the whole day table

Deutsch

alle Milch, die ganze Milch

alles Mobili- alles Glück; ar; das ganze das ganze Glück Mobliar

Polnisch

wszystko mleko; całe mleko

wszystek drób; cały drób

*wszystko szczęście; całe szczęście

*alle Klasse; *aller Tag; die ganze der ganze Klasse Tag *wszystka klasa; cała klasa

*wszystek dzień; cały dzień

toute la table; la table entière

*aller Tisch; der ganze Tisch *wszystek stół; cały stół

782

B Wort und Wortklassen

(Die Zellen mit dunklerer Unterlegung zeigen Vorkommen von ‚aller‘, die Zellen mit hellerer Unterlegung zeigen überlappend Vorkommen von ‚ganz‘.) Die Tabelle zeigt, dass grosso modo der Gebrauch des Totalitätsadjektivs und der des non-distributiven Quantifikativums umgekehrt proportional sind: Mit je mehr semantischen Subklassen ‚aller‘ verträglich ist, mit desto weniger ist ‚ganz‘ verträglich. Französisch hat die maximale Distribution für ‚aller‘ (alle Subklassen) und zusammen mit dem Englischen die minimale für ‚ganz‘ (nur Individuativa). Polnisch hat zusammen mit Deutsch die maximale Distribution für ,ganz‘ (alle Subklassen) und die minimale für ,aller‘ (nur Konkret- und ggf. Kollektiv-Kontinuativa). Die Akzeptabilität für ‚aller‘ sinkt (vom Französischen über das Englische zum Polnischen) von den „gewöhnlichen“ Individuativa ab bis zu den Konkret-Kontinuativa; die Akzeptabilität für ‚ganz‘ steigt (vom Französischen/Englischen zum Deutschen/Polnischen) von den Individuativa bis zu den Abstrakt-Kontinuativa.

B1.5.5.4.4 Universale Quantifikativa und Definitheit B1.5.5.4.4.1 Die Kombinatorik von universalen Quantifikativa und Artikeln Universale Quantifikativa bezeichnen die maximale Individuensumme, die über dem entsprechenden Pluralprädikat bildbar ist (→ A5.3.2), der definite Pluralartikel drückt ‚Inklusivität‘ von mithilfe des Pluralprädikats identifizierbaren Referenzobjekten aus (→ B1.2.3.2.1). In vielen Fällen wird daher bei beiden Ausdrucksformen auf dieselbe Gruppe von Referenten zugegriffen, obwohl die syntaktische Struktur divergiert und die semantische Interpretation unterschiedlich verläuft. Unterschiede ergeben sich z. B. aus dem Kontextbezug des definiten Artikels: Während beim definiten Pluralartikel wie seiner Singularentsprechung eine ganze Bandbreite einzelner kontextueller Spielarten bzw. Gebrauchsbedingungen (anaphorisch, situativ, wissensbedingt, assoziativ) von ‚Inklusivität‘ vorliegt, ist bei ‚alle‘ nur die grundsätzliche Bedingung der Maximalität der Individuensumme gegeben. Das heißt, ‚alle‘ ist als solches nicht spezifiziert für eine anaphorisch-definite oder situativ-definite oder wissensbedingtdefinite usw. Verwendung, sondern allenfalls verträglich mit diesen Gebrauchsbedingungen. Die Vergleichssprachen unterscheiden sich darin, wie der Ausdruck von universaler Quantifikation (des ‚alle‘-Typs) und Spezifizität/Definitheit geregelt ist. Es liegen folgende Optionen vor. (Das Polnische wird nicht thematisiert, weil keine Artikel vorhanden sind.) [Option 1] Definitheit wird präferiert eigens markiert. Dabei wird bei allen Spielarten von Definitheit (anaphorisch, situativ, wissensbedingt, assoziativ) zusätzlich zu dem universalen Quantifikativum der definite Artikel gesetzt. [Option 2] Definitheit wird nur optional eigens markiert. Dabei wird nur bei bestimmten Spielarten von Definitheit zusätzlich zu dem universalen Quantifikativum der definite Artikel gesetzt. Oder umgekehrt: Er ist bei bestimmten Spielarten, z. B. bei assoziativer Definitheit, ausgeschlossen.  



B1 Wortklassen

783

[Option 3] Artikelsetzung ist nicht semantisch-pragmatisch, sondern syntaktisch geregelt. Dabei sind die mit dem universalen Quantifikativum in der Regel verbundenen semantischen Eigenschaften (Existenzpräsupposition, Inklusivität) in Form der Artikelsetzung grammatikalisiert. Im Englischen liegt die erste der drei Optionen vor. Nur bei generischer Verwendung bzw. in gesetzesartigen Aussagen wird all in der NP ohne definiten Artikel gebraucht. (166) ENG

School rules required all girls to tie back their hair. ,Schulregeln verlangen, dass alle Mädchen ihr Haar zurückbinden.‘ (BNC, APU: Brayfield „The Prince“)

(167) ENG

All sea water is saline. ‚Alles Meerwasser ist salzhaltig.‘

Bei spezifischem Bezug steht all jedoch mit nachgestelltem Artikel, wobei alle Spielarten von Definitheit in Frage kommen, nicht nur Vorerwähntheit/anaphorische Wiederaufnahme. In dem folgenden Beleg handelt es sich um die aus dem Vorwissen bekannte Gruppe der Mädchen einer Schulklasse, vgl. (168). Insbesondere wird auch assoziative Definitheit in Kombination mit all durch Artikelsetzung markiert, wie in (169). (168) ENG

[…] When all the girls left the schoolroom at five o’clock, I climbed down from the chair and sat on the floor. ,[…] Als alle Mädchen das Klassenzimmer um 5 Uhr verließen, stieg ich vom Stuhl herunter und setzte mich auf den Boden.‘ (BNC, FR6: Brontë „Jane Eyre“)

(169) ENG

Some children were standing in front of the school building. All the girls wore red jackets, all the boys dark blue trousers. ‚Einige Kinder standen vor dem Schulgebäude. Alle Mädchen trugen rote Jacken, alle Jungen dunkelblaue Hosen.‘

Man beachte, dass das Adjektiv whole, das in singularischen Nominalphrasen häufig mit all konkurriert, keine spezielle Affinität zu Definitheit aufweist. Daher: (170) a. I spent all the day / the whole day cooking. ENG ‚Ich verbrachte den ganzen Tag mit Kochen.‘ b. I spent *all a day / a whole day cooking. ‚Ich verbrachte einen ganzen Tag mit Kochen.‘ (Huddleston/Pullum 2002: 375)

784

B Wort und Wortklassen

Auch in den festlandskandinavischen Sprachen wird in der Regel – außer bei generischem Bezug – die definite Form des Nominals gesetzt, vgl. SWE alla eleverna ,alle Schüler‘ mit der definiten Nomenendung. Im Französischen ist die Setzung des definiten Artikels bei pluralischen Individuativa in Kombination mit tous/toutes weitgehend grammatikalisiert; es liegt also die dritte Option vor. Auch bei generischen/gesetzesartigen All-Aussagen wird der Artikel gesetzt:  



(171) FRA

Alors Pharaon donna cet ordre à tout son dann Pharao geb.PRT . 3SG DEM Befehl zu all.M . SG POSS . 3SG peuple: Vous jetterez dans le fleuve tout garçon werf.FUT . 2PL in DEF Fluss all.M . SG Junge Volk 2PL qui naîtra, et vous laisserez vivre RPRO geboren_werd.FFUT UT . 3SG und 2PL lass.FUT . 2PL leb.INF toutes les filles. DEF . PL Mädchen.PL all.F . PL ‚Danach gab Pharao seinem ganzen Volk diesen Befehl: Ihr werdet jeden Jungen, der geboren werden wird, in den Fluss werfen und ihr werdet alle Mädchen leben lassen.‘ (ABU, „Bibel, Exode 2“)

(172) FRA

Or il est clair que si tous les garçons et nun es ist klar KOMP wenn all.M . PL DEF . PL Junge.PL und toutes les filles s’ encloîtraient le DEF . PL Mädchen.PL KL . REFL ins.Kloster.geh.IPRF . 3PL DEF all.F . PL monde périrait. Welt untergeh.KOND . PRS . 3SG ‚Nun ist denn klar, dass, wenn alle Jungen und alle Mädchen ins Kloster gingen, die Welt unterginge.‘ (ABU, Voltaire, „l’Homme aux 40 écus, Raisonnement sur les moines“)

Alternativ wird generischer Bezug durch tout + Individuativum (ohne Artikel) ausgedrückt; vgl. tout garçon in (171). Im Ungarischen ist bei összes Setzung des definiten Artikels obligatorisch; hier ist wiederum von der dritten Option auszugehen, vgl. (173). Bei minden wird in der einfachen NP kein Artikel gesetzt, wie in (174). Geht dem Kopfsubstantiv eine Possessorphrase (nominal oder pronominal) voraus, so erscheint initial der definite Artikel, vgl. (175). (173) UNG

az

összes bagoly all Eule ,alle Eulen‘ (Moravcsik 2003b: 442) DEF

B1 Wortklassen

(174) UNG

785

minden bagoly jed-/all Eule ,jede Eule / alle Eulen‘

(175) a. a fiú minden könyve DEF Junge jed-/all Buch.3SG UNG ,alle Bücher des Jungen‘ b. az én összes könyvem DEF 1SG all Buch.1SG ‚all meine Bücher‘ Bei (175) ist anzumerken, dass die Zugehörigkeit des initialen Artikels zum Kopfsubstantiv oder zur Possessorphrase umstritten ist, vgl. dazu Moravcsik (2003b: 430). Demnach gehört er bei nominalem Possessor zu diesem (vgl. auch: egy fiú minden könyve ‚alle Bücher eines Jungen‘), bei pronominalem Possessor gilt: „the preceding definite article is as incongruous with the possessor as with the possessum“.

Das Deutsche gehört zur zweiten Untergruppe von Sprachen: Definitheit wird nur optional eigens markiert. Schon im quantitativen Vergleich fällt auf, dass im Deutschen gegenüber etwa dem Englischen oder Französischen seltener all + definiter Artikel bzw. all + Demonstrativum gesetzt wird. Bezüglich Distribution und Morphologie gilt: jeder schließt die Kombination mit anderen Determinativen aus, sieht man von der festen Verbindung in ein jeder ab. Es unterscheidet sich damit von ENG every, das die Kombination mit vorangestelltem Possessivum (ebenso wie mit einer anderen Possessivus-Phrase) erlaubt: ENG her/ Eve’s every gesture, DEU *ihre/*Evas jede Geste versus jede Geste von ihr / von Eva. all(er) ist mit Demonstrativa, Possessiva und dem definiten Artikel kombinierbar. Dabei kommen Formen mit unflektiertem, immer prädeterminativischem all vor, neben Formen, in denen sowohl aller als auch die Elemente der anderen Pronomenklassen flektieren. Dabei gibt es adnominal folgende Präferenzen (Duden-Grammatik 1998: 344, 2009: 310 f.): Im Non-Femininum des Singular überwiegt unflektiertes all: all dieser Unsinn, all jenes Zureden; es bedurfte all seines Mutes; bei all seinem Mut. Im Nominativ und Akkusativ Femininum/Plural ist flektiertes und unflektiertes all(er) möglich: all die Mühe / alle die Mühe; all diese Männer / alle diese Männer, während im Genitiv und Dativ Femininum/Plural die unflektierte Form überwiegt: all der Mühe; all dieser Männer, all diesen Männern. Bei selbstständigem Gebrauch in Kombination mit den Demonstrativa das und dies(es) ist Voranstellung von flektiertem und unflektiertem all(er) sowie die Nachstellung von flektiertem aller möglich: alles das / all das / das alles; alles dies(es) / all dies(es) / dies(es) alles. In Kombination mit den Personalpronomina wird alle nachgestellt: sie alle, wir alle.  

786

B Wort und Wortklassen

Es gelten folgende Gebrauchsbedingungen: Die Kombination all(er) + Definitausdruck (definiter Artikel/adnominales oder selbstständiges Demonstrativum) ist – anders als im Französischen und in weiteren romanischen Sprachen, im Englischen, den skandinavischen Sprachen – bei definitem Bezug nicht obligatorisch und eher unüblich. Sie erscheint vor allem in emphatischen Kontexten, in denen auf die (meist bedauerliche) Umfassendheit/Totalität/Allgegenwärtigkeit eines Phänomens abgehoben wird. all(er) wirkt dabei eher als Artikelverstärker – im Gegensatz zum Englischen, Französischen, wo der Artikel umgekehrt der Allquantifikation den Definitheitsaspekt hinzufügt. Von daher ergibt sich, dass in Belegen wie den folgenden beiden bei einer Kombination aus all(er) + Definitausdruck immer all(er) weglassbar ist, nicht immer dagegen der Definitausdruck: in (176) ist all das durch das bedeutungserhaltend ersetzbar, aber nicht durch alles; in (177) ist all dieser durch dieser bedeutungserhaltend ersetzbar, aber nicht durch aller.  





(176)

Dabei steht fest, daß die „NRW-linge“ es so ähnlich sehen wie Liepelt, auch wenn Bodo Hombach pflichtgemäß kommentierte: Ich teile all das nicht. (die tageszeitung, 13.12.1986)

(177)

In seiner Hirka, dem weißen knöchellangen Rock [. . .] wirkt er inmitten all dieser Bauern [. . .] wie ein Wesen aus einer anderen Welt. (Berliner Zeitung, 14.08.1999, Beilage Magazin)  







Bei assoziativ bedingter Definitheit (Bezug auf eine Teilgruppe einer vorerwähnten Gruppe oder Bezug auf etwas, das als Teil oder funktional zu etwas Vorerwähntem zugehörig ist) ist die Setzung von all(er) zum definiten Artikel ausgeschlossen; vgl. (178). In (179) ist all die Mädchen unangemessen, wenn unter den Kindern auch Jungs sind. (178)

Schau mal die Autos hier auf der Straße. #All die Räder sind dermaßen verdreckt.

(179)

Vor dem Schulhaus standen ein paar Kinder. Alle/Die/#All die Mädchen trugen nabelfreie T-Shirts.

Bei der Kombination von all(er) mit dem Possessivum – das ebenfalls Definitheit anzeigt – greifen diese Beschränkungen nicht, da im Possessivum ja der Possessor mitausgedrückt ist und somit immer ein „direkter“, nicht-assoziativer, Bezug gegeben ist. Man vergleiche (180) gegenüber (175).  



(180)

Vor dem Schulhaus standen ein paar Kinder. All ihre Habseligkeiten waren um sie verstreut.

B1 Wortklassen

787

B1.5.5.4.4.2 Quantifikativa mit Definitheitsinduktion Hier ist vor allem an das Englische zu denken: Dort steht neben every als zweites distributives Quantifikativum each zur Verfügung, das sich von ersterem genau in dieser Dimension ‚Definitheitsinduktion‘ unterscheidet. Während every nicht spezifiziert ist hinsichtlich Definitheit, operiert each allquantifizierend auf einer (gemäß den unterschiedlichen Spielarten) definiten Gruppe von Entitäten, also einer bestimmten Vielheit. Dabei ist wiederum (vgl. auch all the) Definitheit nicht auf die Einzelelemente der Vielheit zu beziehen, sondern auf die Vielheit insgesamt. Vgl. hierzu Huddleston/Pullum (2002: 378): „Although an NP like each student is itself indefinite, we understand that there is some definite set of students to which the quantification applies.“ Man beachte, dass der Kontrast (hinsichtlich einer vorausgesetzten bestimmten Vielheit) zwischen every und each dem zwischen what und which bei den Interrogativa entspricht (vgl. → B1.5.5.2.3). Aufgrund der Tatsache, dass der ‚each‘-Typ eine bestimmte Vielheit voraussetzt, eignet er sich nicht zu generischer Verwendung. Nach Gil (1991: 30–57) ist Anaphorizität (im weiteren Sinne von ‚Definitheit/ Definitheitsinduktion‘) neben ‚Distributivität‘ als zweites, dazu orthogonales, Merkmal zu betrachten. Auch hier nimmt er eine dreifache Unterscheidung vor: „nonanaphoric“ (‚every‘), „determinate“ (determiniert, ‚each‘) und „free choice“ (Zufallswahl, ‚any‘). Da das Phänomen der Zufallswahl den Indefinita zugeordnet wurde (vgl. → B1.5.5.3.1), kommen für die vorliegende Darstellung nur die beiden ersten Unterscheidungen in Frage. Gil (1991) zeigt, dass ENG each eine Reihe von syntaktischen, semantischen und pragmatischen Unterschieden gegenüber every aufweist, die als sprachübergreifend verallgemeinerbar für den Kontrast zwischen non-anaphorischen und determinierten universalen Quantifikativa betrachtet werden können. Die wichtigsten sind: Die determinierten Quantifikativa kommen eher als die non-anaphorischen in partitiven Konstruktionen und selbstständig vor, ebenso in Konstruktionen mit distantem Quantifikativum (vgl. (181)). (181) a. Each (of them) / *Every (of them) was cut in two. ENG ‚Jedes (von ihnen) wurde in zwei Teile geschnitten.‘ b. They sold for two dollars each / *every. ,Sie verkauften sich für je zwei Dollar.‘ (vgl. Huddleston/Pullum 2002: 379) Determinierte Quantifikativa haben verglichen mit non-anaphorischen den weiteren Skopus, insbesondere quantifizieren sie bevorzugt über eine (implizite) Ereignisvariable: So werden in (182) mit each bevorzugt mehrere ungleichzeitige Erdbeben-(Teil-) Ereignisse, mit every bevorzugt ein einziges Ereignis wiedergegeben, das gleichzeitig überall geschehen ist.

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B Wort und Wortklassen

(182) ENG

Each/Every city in the region was destroyed by the earthquake. ‚Jede Stadt in der Region wurde durch das Erdbeben zerstört.‘ (Huddleston/Pullum 2002: 379)

Determinierte universale Quantifikativa ordnen somit – wann immer möglich – jedem Einzelelement des Quantifikationsbereichs eine eigene unterschiedliche Instanz des Distributiv-Geteilten zu; sie sind also in gewissem Sinn ‚strikt distributiv‘. Außer Englisch hat von den engeren Kontrastsprachen nur das Ungarische ein determiniertes universales Quantifikativum: das aus non-anaphorischem minden abgeleitete mindegyik ‚jeder Einzelne aus einer bekannten Menge‘.  

(183) UNG



Mindegyik könyvet olvastam már. schon jedBuch.AKK les.PRT . 1SG ‚Ich habe schon jedes der (genannten) Bücher gelesen.‘

Als weitere europäische Sprachen sind zu nennen: Niederländisch (mit ieder(een) (non-anaphorisch) versus elk(een) (determiniert)), Italienisch (mit ognuno/ogni versus ciascuno), Russisch (mit vsjakij versus každyj). Während in den genannten Sprachen beide Elemente jeweils distributiv sind, stellt Türkisch mit dem Paar bütün – hepsi eine der (nach Gil 1991) seltenen Sprachen mit einem non-distributiven Paar dar. Stellvertretend hier zum Italienischen:  

(184) ITA

Ogni soldato vuole fare mach.INF jedSoldat will.3SG ‚Jeder Soldat will seine Pflicht tun.‘

il

(185) ITA

Ciascun soldato ha fatto il proprio dovere. eigen Pflicht jedSoldat hab.3SG gemacht DEF ‚Jeder Soldat [aus einer gegebenen Menge] hat seine Pflicht getan.‘ (Renzi/Salvi/Cardinaletti 2001: 663)

DEF

proprio eigen

dovere. Pflicht

Zum Vergleich zwischen ITA ciascuno und FRA chaque/chacun sowie SPA/POR cada vgl. auch Zifonun (2007a: 108–110) sowie zu den deutschen, französischen und spanischen Formen Lavric (2001: 600–653).

Ebenfalls in den Kontext der universalen Quantifikativa mit Definitheitsinduktion stellen wir Ausdrücke wie ENG both, DEU beide, mit denen auf eine definite Menge bestimmter Mächtigkeit Bezug genommen wird. In germanischen Sprachen ist der Bezug auf eine Zweiermenge eigens lexikalisiert (vgl. neben Englisch und Deutsch auch Niederländisch mit beide, skandinavische Sprachen, z. B. Schwedisch mit båda), damit ist eine lexikalische Entsprechung zum flexionsmorphologischen Numerus Dual gegeben. Das Englische both kann ebenso wie all (sowie half) in Nominalphrasen einem Determinativ vorangestellt werden, es handelt sich dann um ‚Prädeterminative‘ (‚predeterminative‘): both the boys (versus both boys), both our friends, alternativ auch als of-Pronomen: both of the boys. Die Hinzufügung des definiten Artikels ändert nichts an den Gebrauchsbedingungen der Phrase, anders als bei all ist generische Verwen 

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dung ausgeschlossen. both wird im Allgemeinen distributiv verwendet, vgl. (186); kollektive Verwendung ist aber (z. B. bei Hinzufügung von together) nicht ganz ausgeschlossen, wie in (187); siehe auch Huddleston/Pullum (2002: 377).  

(186) ENG

Both students bought a present for the teacher. ‚Beide Studenten kauften ein Geschenk für den Lehrer.‘

(187) ENG

Both the students together had managed to lift the piano onto the stage. ‚Die beiden Studenten hatten es geschafft, das Klavier auf die Bühne zu heben.‘

both hat in der diskontinuierlichen Verbindung both . . . and daneben auch eine Verwendung als additiver Konnektor ‚sowohl als auch‘: both mother and son. Im Ungarischen ist nicht nur der Bezug auf eine Zweiermenge, sondern auch der auf eine Dreiermenge lexikalisiert und zwar jeweils als mindkét und mindhárom. Es handelt sich jeweils um Zusammensetzungen nach dem Muster ‚all‘ + Numerale. Im Deutschen fungiert als speziell „dualer“ (universaler) Quantor selbstständig und adnominal das pluralische beide, das zur (überwiegend) distributiven Bezugnahme auf jedes der Elemente aus einer – bekanntermaßen – zweielementigen Menge dient. Selbstständig nicht-personal wird die Singularform beides gebraucht. beide induziert adnominal ganz überwiegend die schwache Adjektivflexion (beide netten Leute) und wird daher als Pronomen, nicht als Adjektiv gewertet; man beachte jedoch, dass beide mit dem definiten Artikel oder einem Demonstrativum kombiniert werden kann und dann schwach flektiert: die/diese beiden netten Leute. Setzung eines definiten Determinativs ändert somit nicht den Definitheitsstatus ‚Bezug auf eine definite Menge mit bestimmter Mächtigkeit‘, sondern beeinflusst Distributivität.  







(188) a. Beide hervorragende(n) Professoren fanden eine Lösung für dieses mathematische Rätsel. [präferiert: distributiv] b. Die beiden hervorragenden Professoren fanden eine Lösung für dieses mathematische Rätsel. [präferiert: kollektiv] c. Die beiden / ??Beide Lösungen waren identisch/ähnlich. Auch bei Reziprozität wird entsprechend der Zugehörigkeit der reziproken zu den kollektiven Lesarten die beiden gesetzt, vgl. (188c). Im Englischen wird both reziprok gebraucht. Dies wird aber kritisch beurteilt (vgl. Huddleston/Pullum 2002: 377 f.). beide ist somit der einzige Quantifikator, der trotz des Parameterwertes nichtsingularisch (= pluralisch) distributiv interpretiert wird. Im Gegensatz zum singularischen jeder ist aber bei beide Distributivität nur stark präferiert, nicht absolut gültig. beide(s) wurde bis ins 18. Jahrhundert ähnlich wie heute noch ENG both als Konnektor beide(s) . . . und gebraucht: die freiheit beides zu reden und zu urtheilen  







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B Wort und Wortklassen

(Paul 1919: 153). Man beachte, dass die heutige Entsprechung sowohl . . . als auch wie beide distributiv ist und damit non-distributivem und gegenübersteht (Breindl 2004).  



B1.5.5.4.5 Universale Quantifikativa: das semantische System der Vergleichssprachen Nach den beiden zueinander orthogonalen Dimensionen ‚Individuiertheit/Distributivität‘ und ‚Determiniertheit‘ ergeben sich für die Vergleichssprachen folgende Zuordnungen (Gil 1991: 79 f.); dabei wurde Türkisch mit hinzugenommen.  

Tab. 13: Übersicht zur universalen Quantifikation Determiniertheit determiniert

non-anaphorisch

individuiert/distributiv

ENG each UNG mindegyik

ENG every(body) FRA chaque/chacun POL każdy UNG minden DEU jeder

non-individuiert/ non-distributiv

TÜR hepsi

ENG all FRA tout POL wszystek UNG az összes DEU alle TÜR bütün

Individuiertheit

B1.5.5.4.6 Quantifikativa des mittleren Skalenbereichs: Verhältnis zu semantischen Substantivklassen, Wortklassenzugehörigkeit und Morphologie Vergleichbar den non-distributiven universalen Quantifikativa (‚alle‘) sind die Quantifikativa des mittleren Skalenbereichs, die ebenfalls grundsätzlich non-distributiv sind, nur mit Kontinuativa im Singular und Individuativa im Plural kombinierbar. Die Kombination mit Individuativa im Singular (DEU *einiger Tisch, FRA *beaucoup de table) ist ausgeschlossen. Dies entspricht der Domäne Quantifikation, insofern als bei Kontinuativa die Größe einer „Portion“ gemessen werden und bei Individuativa im Plural die Anzahl der Elemente der entsprechenden Vielheit bestimmt werden kann. Quantifikativa des mittleren Skalenbereichs leisten beides nicht-numerisch, sondern relativ zu einer Skala. Historisch scheint sich die quantifikative Funktion der hierher gehörenden Ausdrücke häufig aus einer Funktion als Indefinitum entwickelt zu haben. Von daher sind Homonymien zu erklären, aber auch noch gewisse Übergänge im Gebrauch (etwa bei DEU mancher). Dabei sind manche der hier zugehö-

B1 Wortklassen

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rigen lexikalischen Einheiten sowohl zur Quantifikation über Kontinuativa als auch über pluralische Individuativa zu gebrauchen, andere nicht. Das Phänomen selbst ist sprachübergreifend; welche lexikalischen Einheiten sich jeweils wie verhalten, variiert. Das Kriterium ‚Singularvorkommen nur in Kombination oder mit Bezug auf Kontinuativa‘ führt sprachübergreifend bei einigen Ausdrücken zu Doppelzuordnungen: ENG some ist in Kombination mit Individuativa im Singular ein Indefinitum (‚irgendein‘), im Plural ambig zwischen ‚irgendwelche‘ und ‚einige‘, ähnlich auch FRA quelqu’un/quelque; DEU etwas ist im Sinne von ‚something‘ Indefinitpronomen, in Kombination mit Kontinuativa (etwas Milch) Quantifikativum. Zur Entstehung des quantifikativen Gebrauchs von Indefinita vgl. zum Deutschen Paul (1919: § 129–133); allgemeiner auch Haspelmath (1997: 12). Der mittlere Skalenbereich – jeweils relativ zu einer Skala für die Größe des einschlägigen Denotats – ist naturgemäß nur unscharf umrissen. Er erstreckt sich relativ zu einer anzunehmenden Mittellinie (‚die Hälfte‘ bzw. ‚der Durchschnitt‘/‚die Norm‘) nach oben in Richtung ‚alles/alle‘ in den ‚multalen‘ und nach unten in Richtung ‚keines/kein‘ in den ‚paukalen‘ Bereich (→ A5.5.1). Quantifikation im mittleren Skalenbereich ist, wie in → B1.5.1.5 gezeigt, (noch) viel weniger eng an die Realisierung durch eine bestimmte Wortklasse, eben die Pronomina bzw. ihre adnominalen Ausprägungen, gebunden als andere funktionale Domänen, die wir den Pronomina zuordnen. Vielmehr erstreckt sich die Bandbreite an Realisierungsmöglichkeiten hier von unflektierbaren Einheiten (Adverbien) über Adjektive bzw. Pronominaladjektive bis zu Pronomina/Determinativen. In → B1.5.1.5 sind wir für diesen Bereich von einer am Deutschen orientierten Unterscheidung zwischen Pronomina und (nicht-pronominalen) Numeralia als lexikalischen Klassen ausgegangen, die wir gegebenenfalls auch auf die Kontrastsprachen übertragen – unabhängig von den jeweiligen Kategorisierungen auf der syntaktischen Ebene der Konstituentenkategorien. Im Deutschen zählen wir als Quantifikativpronomina des mittleren Skalenbereichs (vgl. Zifonun 2001a: 35) folgende Ausdrücke: einiger, etlicher, etwelcher, mancher, mehrere sowie etwas. Nicht-pronominale Numeralia des mittleren Skalenbereichs sind in erster Linie die quantitativ unbestimmten Ausdrücke viel, wenig, (ein) paar, (ein) bisschen. einiger, etlicher und etwas sind ursprünglich Indefinita, MHD einec gehört zu Gruppe 2 bei Paul (1919: 147); die beiden anderen zu Gruppe 1. einiger ist zulasten von etlicher in Gruppe 1 übergewechselt und (wie auch etlicher) „auf Quantitätsverhältnisse“ (ebd.: 148) beschränkt worden. Auch etwas (vgl. Grimm/Grimm 1854–1954: s. v.) ist zunächst nur Indefinitum. Wohl über den Anschluss eines partitiven Genitivs wie in etwas werks, etwas trosts ‚irgendetwas an Trost‘ ist der heutige quantitative Gebrauch wie in etwas Trost zu erklären. einiger, etlicher und etwelcher haben als Non-Selbstständige determinativischen und selbstständigen Gebrauch und werden (selten) singularisch mit Kontinuativa  







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B Wort und Wortklassen

verbunden oder sind auf sie bezogen, pluralisch auf Individuativa: einiges Wasser, einiges Geschirr, einiger Lärm, einige Leute. Das unveränderliche etwas kann nur mit Kontinuativa verbunden oder auf sie bezogen werden: etwas Salz, etwas Geschirr, etwas Mut. Selbstständig kommt es meist in der partitiven Verbindung etwas davon vor. mehrere kommt nur pluralisch vor. Den Kontrast zwischen Quantifikativum (etliche) und Indefinitum (irgendwelche) zeigt folgender Beleg. (189)

Bei etlichen Naturvölkern haben die Frauen niemals im Leben einen klitoralen Orgasmus, weil irgendwelche Naturvölkertabus es sowohl den Männern als auch den Frauen selbst verbieten, die dazu notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. (Die Zeit (Online-Ausgabe), 24.06.2004)

Die englischen Quantifikativa des mittleren Skalenbereichs verteilen sich wie folgt im Hinblick auf die Kombination mit Substantivklassen. Ausdrücke, die nicht-pronominalen Numeralia des Deutschen entsprechen, sind unterstrichen: bei Kontinuativa: a little ,ein wenig‘, much ,viel‘, little ,wenig‘ beim Plural: several ‚mehrere‘, a few ‚einige wenige‘, many ,viele‘, few ‚wenige‘ bei Kontinuativa/Plural: some ‚etwas, einiger‘ Dabei orientieren wir uns an Quirk et al. (1985: 384). Huddleston/Pullum (2002) ordnen die hier genannten Einheiten als Determinative ein. Ihr selbstständiges Vorkommen gilt als „fusion of determiner and head“, nicht als pronominal.

Als französische Quantifikativpronomina des mittleren Skalenbereichs sind zu nennen: quelques-uns/quelques-unes ‚einige wenige‘ mit adnominalem quelques (PL ), plusieurs ‚mehrere‘. Nicht-pronominale Numeralia sind prominent durch Adverbien vertreten: assez ‚genug‘, beaucoup ,viel‘ (Komparativ: plus, Superlativ: le plus), combien ,wie viel‘, tant ,so viel‘, trop ,zu viel‘, peu ,wenig‘ (Komparativ: moins, Superlativ: le moins), jeweils verbunden mit (pseudo-)partitivem de. Wie im Deutschen und Englischen kann der paukale Quantifikator mit dem indefiniten Artikel verbunden werden: un peu ,ein wenig‘. Daneben sind die aus Qualitätsadjektiven grammatikalisierten Formen divers und différents ,verschiedene‘ zu nennen (→ D1.2.2.1). Es ergibt sich folgende Verteilung: bei Kontinuativa/Plural (Adverb + (pseudo-)partitives de): assez, beaucoup, combien, tant, trop, peu, un peu beim Plural: quelques-uns, plusieurs, divers, différents Auch das Polnische kennt, ähnlich wie das Französische, pseudo-partitive Konstruktionen für die Quantifikation im mittleren Skalenbereich. Der Ausdruck für das

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B1 Wortklassen

Quantifizierte steht hier im Genitiv. Ebenfalls ähnlich wie im Französischen gibt es einerseits unflektierbare Ausdrücke (Adverbien), andererseits flektierbare. Bei den Flektierbaren ist niektóry ‚einiger‘ (wie die deutsche Entsprechung überwiegend im Plural: niektórzy MPERS / niektóre NONMPERS ) ein echtes Pronominaladjektiv, d. h. ein Ausdruck mit pronominaler Funktion und einer nur geringfügig von der der Adjektive abweichenden Flexion (Swan 2002: 167). Die übrigen Flektierbaren schließen sich in der Flexion und syntaktisch an Kardinalnumeralia wie pięć ‚fünf‘ an, gehören also zu den flektierbaren Numeralia. Das kombinatorische Verhalten ist wie folgt:  

bei Kontinuativa/Plural: Pronomen/Pronominaladjektiv: niektóry ‚einiger‘ flektierbares Numerale: wiele ,viel(e)‘, tyle ,so viel(e)‘, parę ,einige, ein paar‘, ile ,wie viel(e)‘ Numeral-Adverb: dużo ‚viel(e)‘, mało ‚wenig(e)‘, sporo ,ziemlich viel(e)‘ bei Plural: kilka ‚einige‘ Bei FRA combien und POL ile sind in einer lexikalischen Einheit die Interrogativ- und die Quantifikativ-Funktion vereinigt. Man könnte also von einem Interrogativ-Quantifikativ-Adverb sprechen. Dies gilt auch allgemein für romanische und slawische Sprachen: ITA/POR quanto, SPA cuanto (beides ggf. flektierbar); RUS skol’ko, SLN koliko, CZE kolik (alle gefolgt von Substantiven im Genitiv wie im Polnischen), BUL kolko (unflektierbar). Nur in den germanischen Sprachen sind beide Funktionen lexikalisch auf zwei Trägerausdrücke verteilt.

Quantifikativa im mittleren Skalenbereich des Ungarischen sind: néhány ‚einige‘, pár/egypár ‚ein paar‘, számos ‚zahlreich‘, számtalan ‚zahllos‘, rengeteg ‚sehr viel‘, sok ‚viel‘, kevés ‚wenig‘. Sie werden wie alle Quantifikatoren mit dem Singular des Kopfsubstantivs kombiniert. Die Verteilung ist wie folgt. Ausdrücke, die nicht-pronominalen Numeralia des Deutschen entsprechen, sind unterstrichen: Kontinuativa/Individuativa: kevés ‚wenig‘, rengeteg ,sehr viel‘, sok ,viel‘ Individuativa: néhány ‚einige‘, pár/egypár ‚ein paar‘, számos ‚zahlreich‘, számtalan ,zahllos‘ Behrens (1995: 87) geht davon aus, dass nur die Fragewörter hány ,wie viele‘ und mennyi ,wie viel‘ jeweils eine count/mass-Unterscheidung induzierten, andere Quantifikatoren nicht. Dies muss weiter überprüft werden.

An dieser Stelle soll das mehrfach thematisierte Verhältnis von Indefinitum und Quantifikativum in einer tabellarischen Übersicht zu zentralen hier einschlägigen Ausdrücken des Deutschen und des Englischen zusammengefasst werden, und zwar zu: ein(er), einiger, etwas und welcher gegenüber some. Dabei werden die folgenden, bereits diskutierten Gesichtspunkte veranschaulicht:

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– –

B Wort und Wortklassen

das suppletive Verhältnis von ein(er) und welcher (→ B1.5.5.3.3) die stärker ausgeprägte Tendenz des Deutschen zur ,speziellen‘ Verwendung non-selbstständiger Ausdrücke, hier bei ein(er) versus singularischem some die Existenz von Ausdrücken, die sowohl als Indefinitum als auch als Quantifikativum gebraucht werden, hier some und etwas das besonders umfassende Gebrauchsspektrum von some

– –

Tab. 14: Zentrale Indefinita und Quantifikativa im Deutschen und Englischen  

mancher ist ein Einzelgänger in dieser Gruppe: Es hat keine Numerusbeschränkungen und ist individuativ: mancher Mensch, manche Milch, manche Menschen. Aufgrund dieser Verteilung wäre mancher den Indefinita zuzuordnen. Allerdings ist es in typischen Verwendungskontexten wie indefinit-spezifischen, vgl. (190), oder auch nicht-spezifischen, vgl. (191), nicht für ein Indefinitum substituierbar. Charakteristisch für mancher ist vielmehr, dass auf „einzelne, diskontinuierliche Einheiten“ innerhalb einer Menge (Vater 1979: 101) Bezug genommen wird, etwa im Sinne von ‚der eine oder der andere‘. Insofern liegt Quantifikation vor. Da es um „diskontinuierliche“ Quantifikation über Partizipanten geht, entsteht häufig, vor allem im Plural, der Effekt einer impliziten Quantifikation über Situationen wie in (192), (193). Besonders im Singular wird mancher auch in generischen Aussagen gebraucht, s. (194), (195). Tendenziell überwiegt nach Sichtung der Korpora pluralischer Gebrauch; aber zumindest in geschriebener Sprache ist auch singularische Verwendung gut belegt.

B1 Wortklassen

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Eine Zuordnung ‚Singular: generisch‘, ‚Plural: über Situationen quantifizierend‘ lässt sich nicht eindeutig bestätigen. Vater (1979: 101) ordnet mancher als distributiv ein und stellt es jeder zur Seite: jeder bezeichne distributive Gesamtheit, mancher bezeichne distributive Nicht-Gesamtheit. Nach der hier vorgelegten Bestimmung von Distributivität (‚Notwendiges Zutreffen einer Prädikation auf die Einzelelemente einer Vielheit‘) ist mancher jedoch nicht distributiv. Es ist mit kollektiven Prädikatsausdrücken kombinierbar (Manche trafen sich in der Halle, manche am Spielfeldrand) und weist nicht die für die indoeuropäischen Vergleichssprachen bei Distributivität erforderliche Kombination ‚individuiert‘ und ‚singularisch‘ auf.

(190)

Heute Morgen stehe ich im Bahnhof plötzlich vor einem/*manchem (Menschen), der mir irgendwie bekannt vorkam.

(191)

Ich suche einen/*manchen (Menschen), der mir helfen könnte.

(192)

Ich habe manche (Menschen) getroffen, die mit geholfen haben. ‚Ich habe in verschiedenen Situationen Menschen getroffen, . . .‘  



(193)

„In einer Woche verführe ich mehr Frauen als mancher Mann in seinem ganzen Leben.“ (Frankfurter Rundschau, 04.09.1999)

(194)

Man lobt im Tode manchen Mann, der Lob im Leben nie gewann. (die tageszeitung, 20.01.1994)

(195)

Dann sollen die Frauen eben dazulernen, wird sich mancher Mann denken. Warum sind die Frauen auch so weich, so wenig strategisch und machtbewusst? (die tageszeitung, 12.07.2002)

(196)

Manche mögen’s heiß. Übersetzungsäquivalent von „Some like it hot“ (Filmtitel)

Häufig tritt die Verbindung so mancher auf: (197)

So mancher Mann flaniert samstags mit seiner Familie vorbei und kommt klammheimlich am Montag wieder, um einzukaufen. (Mannheimer Morgen, 07.12.2002)

so ist hier nicht deiktisch und kann anders als so in so ein(er) (‚solch ein‘) keinen Akzent tragen; vgl. auch ähnlich in der Umgangssprache bei anderen Quantifikatoren, um deren numerische Unbestimmtheit zu markieren: Ich hab da so allerlei Probleme, so einigen Ärger, so drei, vier Fragen. Zu mancher gibt es die unflektierte Variante manch, die in der Verbindung manch ein(er) erscheint. Zu verweisen ist hier auf das parallele ENG many a.

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B Wort und Wortklassen

B1.5.5.4.7 Quantifikativa des mittleren Skalenbereichs und Referenz Phrasen, die Quantifikativa des mittleren Skalenbereichs enthalten, wie einige Kinder, mehrere Frauen werden zur indefiniten Referenz verwendet. Es wird eine Vielheit mittlerer Größe aus einem Bezugsbereich als Partizipant des thematisierten Sachverhalts ins Auge gefasst, offen bleibt welche (von in der Regel mehreren bildbaren solchen Vielheiten). Zu fragen ist, ob a) diese Funktion der Bereitstellung eines Potentials zur indefiniten Referenz an die Ausdrücke einige, mehrere usw. zu knüpfen ist, ob also neben ,Quantifikation‘ auch ,Identifikation‘ die zuzuordnende funktionale Domäne ist, oder ob b) diese Funktion der Gesamtphrase (durch referentiellen Abschluss) zukommt. Für Annahme a) spricht die Tatsache, dass eine Kombination mit definiten Determinativen in der Regel ausgeschlossen ist: *die einigen/mehreren Kinder. Allerdings gilt das nicht absolut: Vgl z. B. FRA quelque (ces quelques remarques ,diese paar Bemerkungen‘). Für a) spricht auch, dass in verschiedenen Sprachen einige der Quantifikatoren des mittleren Skalenbereichs Phraseme sind, die als Grammatikalisierungen indefiniter Nominalphrasen noch einen Indefinitheitsausdruck explizit enthalten (z. B. ENG a few, a little, DEU ein paar, ein bisschen). Für Annahme b) spricht, dass die Funktion ‚indefinite Referenz‘ (zumindest bei pluralischen Individuativa und bei Kontinuativa in Artikelsprachen) diejenige ist, die als default value bei referentiellem Abschluss zuzuweisen ist. Wir gehen daher von Annahme b) aus (→ A2.3).  



B1.5.6 Zusammenfassung Gemeinsame funktionale Eigenschaft der Pronomina ist ihr Referenzpotential, das weder auf klassifizierender Nomination wie bei Appellativa noch auf Benennung wie bei Eigennamen beruht, sondern im Wesentlichen die Ressourcen des sprachlichen und situativen Kontextes nutzt oder verfügbar macht oder auf allgemeinen kognitiven Verfahren wie Generalisierung oder Quantifizierung aufbaut. Charakteristisch ist dabei, dass die selbstständige Funktion als referentielle Ausdrücke im Prinzip bei allen Elementen durch eine adnominale Funktion (z. B. als Identifikator) ergänzt wird. Auch die nur-selbstständigen Ausdrücke wie ich, wer haben im weiteren Sinne adnominale Entsprechungen wie mein, welcher, während die ,Adpronomina‘ wie dieser oder kein(er) mit identischer oder morphologisch variierter Ausdrucksform in beiden Funktionen gebraucht werden. Pronomina setzen sich im Hinblick auf die Kategorisierungen Kasus und Genus von den Substantiven deutlich ab: Die nach Kasus flektierenden Pronomina zeigen mindestens ebenso viele Kasusunterscheidungen wie die Substantive. Im Deutschen ist dieses auch bei Kontrastsprachen beobachtbare Phänomen in Form der so genannten pronominalen (starken) Flexion grammatikalisiert, wo anders als bei substantivischen Deklinationsklassen im Maskulinum Singular alle vier Kasus formverschieden sind. Bezüglich des Genus ist ein Hervortreten von  

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B1 Wortklassen

,konkreten‘ Genera wie [+/–personal] oder [männlich], [weiblich] zu verzeichnen. Alle Vergleichssprachen außer Ungarisch haben bei den Personalia der 3. Person eine Sexusunterscheidung und ein (nur im Französischen nicht von der maskulinen Form verschiedenes) Pronomen für den nicht-personalen oder unspezifischen Bezug. Alle Vergleichssprachen unterscheiden bei Indefinita (wie etwa ENG who, somebody versus what, something) zwischen personalem und unspezifischem Bezug. Im Deutschen müssen wie in anderen Genussprachen (etwa dem Polnischen) diese konkreten Genera auf die abstrakten Genera M , N und F abgebildet werden, so dass für die personalen wer und jemand das Genus M , für die nicht-personalen/unspezifischen was und etwas das Genus N gegeben sind. Hier wie auch in anderen Bereichen verhalten sich die Pronomina im Einklang mit der Allgemeinen Nominalhierarchie. So finden sich im Deutschen, abgesehen vom Sonderfall des generischen Pronomens man unflektierbare Ausdrücke nur bei den hierarchieniedrigen nicht-personalen Indefinita (wie etwas, nichts). Die Wortklasse ist allerdings in sich heterogen. Bei der prototypischen Subklasse, den Personalpronomina, sind formale und funktionale Besonderheiten der Pronomina gegenüber anderen nominalen Klassen am deutlichsten ausgeprägt: Sie haben im Deutschen wie in den anderen indoeuropäischen Kontrastsprachen z. T. ein suppletives Paradigma, kommen als Köpfe eines spezifischen Typs pronominaler NP vor (wie ich armer Mensch) und verfügen über starke versus schwache Formen und ggf. klitische Formen. Im Deutschen sind wie in anderen germanischen Sprachen keine oder kaum segmentale Unterschiede zwischen schwachen und starken Formen gegeben; Klitisierung, die in der Kontrastsprache Französisch eine bedeutende Rolle spielt, ist in der deutschen Standardsprache marginal. Wie das Englische und das Französische ist das Deutsche im Gegensatz zum Polnischen und Ungarischen keine Pro-Drop-Sprache. Nur an der Satzspitze können unter bestimmten Bedingungen unbetonte Pronomina entfallen (Topik-Drop); ansonsten werden sie gesetzt und finden sich ggf. in einer speziellen Clusterbildung unmarkiert am linken Rand des Mittelfeldes. Das neutrale Pronomen der 3. Person, es, hat neben dem phorischen Bezug auf NPs im Neutrum besondere Aufgaben: den Verweis auf abstrakte Gegenstände, die durch Sätze oder Prädikatsausdrücke bezeichnet werden, und die Funktion als schwach referentielles Pronomen in einer ganzen Reihe von Konstruktionen, zu denen unpersönliche Konstruktionen (z. B. bei Witterungsverben), Rhematisierungskonstruktionen (wie in Es kamen drei unerwartete Briefe) und Extrapositionskonstruktionen (wie in Es ist schön, hier zu leben) gehören. Das Deutsche hat hier im Rahmen der Vergleichssprachen eine singuläre Stellung, insofern als das neutrale Pronomen alle diese Funktionen abdeckt, während die Pro-Drop-Sprachen in vielen Fällen hier ohne Pronomen auskommen und z. B. im Englischen teilweise das Pro-Adverb there erscheint, und insofern als es hier nicht notwendigerweise Subjekt (oder DO ) ist, sondern Platzhalter ohne Satzgliedstatus. Das unterscheidet das Deutsche vom Französischen, mit dem es in der Verteilung von es bzw. il am meisten Gemeinsamkeiten hat.  









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B Wort und Wortklassen

Reflexivpronomina und Possessivpronomina sind semantisch sekundär zu den Personalpronomina; sie stellen deren ,eng gebundene‘ bzw. adnominale Ausprägung dar. Reflexivierung im Deutschen spiegelt das auch formal wider, insofern als für die 1. und 2. Person die Personalia selbst in dieser Funktion gebraucht werden und nur für die dritte Person das Reflexivum sich existiert. sich ist hier am ehesten noch vergleichbar mit dem auf klitische Positionen beschränkten FRA se, während im Polnischen das Reflexivum się/siebie nicht personendifferenziert ist und im Englischen und Ungarischen für alle drei Personen differenzierte Formen vorliegen. Der letztere Fall beruht auf einer grammatikalisierten Nutzung des Intensifikators ,selbst‘ (wie in ENG himself, UNG maga). Die deutschen, französischen und polnischen Reflexivierer können – da nicht auf dem Konzept ,selbst‘ beruhend – auch reziprok gebraucht werden, im Deutschen konkurrieren sie hier mit der reziproken Spezialform einander. Die Possessivpronomina des Deutschen sind in allen drei Personen (zumindest synchron) formal unabhängig vom zugehörigen Personalpronomen, während z. B. in der 3. Person im Polnischen der Genitiv des Personalpronomens hier eintritt und auch im Englischen noch Spuren eines solchen zugrunde liegenden Verhältnisses erkennbar sind. Die deutschen Possessiva zeichnen sich durch eine klare Segmentierung in einen Stamm (mit der Anzeige der Person-/Numerus-/Genus-Kategorien des Possessors) und Flexionsendung mit Anzeige der Kategorien des Possessums aus. Wie bei den Kontrastsprachen außer dem Polnischen wird beim deutschen Possessivum nicht zwischen reflexivem und nicht-reflexivem Bezug unterschieden. Die Possessiva sind funktional als referentielle Modifikatoren zu interpretieren, – sie kommutieren mit referentiellen possessiven Attributen –; ,definitheitsinduzierende Possessiva‘, wie sie unter den Vergleichssprachen im Deutschen, Englischen und Französischen vorliegen, sind daneben auch Identifikatoren. Konstruktions-Spaltungen, etwa zwischen alienabler und inalienabler Zugehörigkeit, die in den Sprachen der Welt weit verbreitet sind, sind bei den europäischen Sprachen eher marginal, z. B. im Italienischen, vertreten. Das Deutsche kennt sie nicht. Die übrigen Pronominaklassen außer den Demonstrativa, die im Kontext der Artikel behandelt werden, werden hier als Indefinita im weiteren Sinne zusammengefasst. Die Interrogativpronomina leisten freilich keine indefinite Referenz; vielmehr dienen sie als Markierung für eine (in der Regel) referentielle Wissenslücke. Das Feld der deutschen Interrogativa ist, ähnlich dem polnischen, vergleichsweise einfach strukturiert, insofern als nur-selbstständige (wer, was) und non-selbstständige selektive (welcher) unterschieden werden. Die Indefinita im engeren Sinne werden in der Tat als indefinit referentielle Ausdrücke gebraucht. Es sind jedoch eine Vielzahl von Verwendungskontexten zu unterscheiden, die nach Maßgabe einer Implikationsstruktur, einer Art semantischer Landkarte, geordnet sind. Die verschiedenen Indefinita der Vergleichssprachen decken jeweils zusammenhängende Abschnitte dieser Struktur ab, wobei für jede Sprache aus der Verteilung aller Indefinita ein spezifisches Muster entsteht. Das Deutsche hat einen prominenten Indefinitheitsmarker, nämlich  











B1 Wortklassen

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irgend-, irgend-Indefinita decken ein vergleichsweise großes Segment der semantischen Landkarte ab. Indefinitpronomina und -adverbien bilden sprachübergreifend relativ zu konzeptuellen Sorten wie Person, Sache, Ort oder Zeit Serien aus wie z. B. mit irgendwer/-jemand, irgendwas/-etwas, irgendwo, irgendwann. Hinzu gehören auch, wie im Deutschen an den Wortformen erkennbar, die negativen Serien (niemand, nichts, nirgends/nirgendwo). Die Quantifikativpronomina sind die am wenigsten klar umrissene Subklasse der Indefinita im weiteren Sinne. Bei der universalen Teilklasse ist im Deutschen wie in den Kontrastsprachen der ,alle‘-Typ (non-individuiert) vom ,jeder‘-Typ (individuiert) zu unterscheiden; mit dieser Unterscheidung korreliert im Allgemeinen auch die (Non-)Distributivität der entsprechenden Satzbedeutungen. Bei den Quantifikatoren des ,mittleren Skalenbereichs‘ wie einiger, mancher, mehrere, viel, wenig ist im Deutschen aufgrund des Flexionsverhaltens und der Kombinierbarkeit mit einem Artikel relativ klar eine Differenzierung in Quantifikativpronomina und quantitativ unbestimmte Numeralia (wie viel, wenig) erkennbar; bei den Kontrastsprachen müssen z. T. andere Merkmale geltend gemacht werden, so dass hier kategoriale Zuordnungen erheblich divergieren können. Überblickt man die Wortklasse Pronomen insgesamt, so gibt es recht unterschiedliche „Allianzen“ zwischen den Vergleichssprachen. Was Reflexivierung, die Possessiva und den Gebrauch des neutralen Personalpronomens angeht, geht das Deutsche am ehesten mit dem Französischen zusammen – man mag das als Ausdruck der arealtypologischen Stellung der beiden Sprachen als Kernbereich des „Standard Average European“ (SAE) sehen. Zusammen mit Englisch und Französisch gehört Deutsch zu den Sprachen ohne Pro-Drop; fehlendes Pro-Drop gilt als Merkmal des SAE. Im Hinblick auf doppelte Negation und Negationskonkordanz, auch dies ein SAE-Merkmal, trifft sich das Deutsche dagegen nur mit dem Englischen. In der Abstimmung zwischen konkreter und abstrakter Genuszuweisung und in der Struktur der Interrogativa geht das Deutsche mit dem Polnischen zusammen.  





B2 Kategorisierungen B2.1 Überblick Thema dieses Kapitels sind die nominalen Kategorisierungen Genus, Numerus und Kasus. Genus ist (vgl. Eisenberg 2013b) zunächst als Substantivgenus eine Kategorisierung des lexikalischen Worts, also des gesamten Paradigmas mit seinen verschiedenen Wortformen. Bei den „Begleitern“ des Substantivs in der NP hingegen ist, sofern in den Vergleichssprachen ,Korrespondenz‘ (so der Terminus bei Eisenberg) bzw. ,Kongruenz‘ (wie wir im Allgemeinen sagen, vgl. → C2.1) bezüglich des Genus vorliegt, das jeweilige Genus eine ,Einheitenkategorie‘. Hier determiniert der Kopf der NP, also in der Regel das Kopfsubstantiv, das Genus der Wortformen der kongruierenden Begleiter, wie auch der anaphorischen Pronomina. Die selbstständigen Pronomina haben neben den Substantiven in den Genussprachen ein inhärentes Genus (als ‚Wortkategorie‘); man denke etwa an DEU wer, jemand und die entsprechenden POL kto, ktoś mit maskulinem Genus gegenüber DEU was, etwas, POL co, coś mit neutralem Genus. Im Kapitel → B2.2 werden in erster Linie das Substantivgenus und die Genuskongruenz in der NP behandelt; zum Genus bei den Pronomina vgl. → B1.5.1. Die Strukturen der Genussysteme in den indoeuropäischen Sprachen, darunter den Vergleichssprachen Deutsch, Französisch und Polnisch, sind bei teilweiser Reduzierung auf ein zweigliedriges System aus dem indoeuropäischen Dreigenussystem hervorgegangen und lassen eine hierarchische Stufung erkennen. Das Ungarische hat von alters her kein Substantivgenus, das Gegenwartsenglische hat keines mehr. Die behandelten Varianzparameter betreffen neben der jeweils geltenden Variante des Genussystems als solchem zum einen die Korrelation zwischen morphologischen und phonologischen Formeigenschaften des Substantivs und dem Genus, zum anderen die Frage nach dem Ob und Wie semantischer Genusdeterminationen. Numerus ist wie auch Kasus eine Einheitenkategorisierung. In allen Vergleichssprachen hat Numerus die Werte Singular und Plural. Numerus ist im Gegensatz zu Genus eindeutig eine Kategorisierung mit semantischer Funktion; wir verstehen ihn als eine Grundunterscheidung innerhalb der Domäne der nominalen Quantifikation. Dabei deutet Pluralmarkierung immer auf eine Vielheit von Gegenständen hin, während Singularmarkierung als Default-Numerus nicht notwendigerweise mit der ,Einzelheit‘ von Gegenständen assoziiert sein muss. Auch erfolgt die formale Auszeichnung des Numerus nicht notwendig am Kopf der NP; man kann von einem Merkmal der Gesamt-NP ausgehen, zu dessen Exponenz verschiedene Konstituenten beitragen können. Als Varianzparameter werden wieder zum einen formale Aspekte behandelt, und zwar die Form der Pluralmarkierung selbst (etwa durch kumulative GenusNumerus-Kasusmarker wie unter den Vergleichssprachen prototypischerweise im Polnischen oder durch Stammänderungen wie den Umlaut im Deutschen) sowie das jeweilige Inventar an numerusmarkierbaren Einheiten, die Reichweite der Numerus-

B2 Kategorisierungen

801

kongruenz innerhalb der NP und die Kongruenz mit dem Prädikatsverb. Zum anderen ist die Relation zwischen semantischen Substantivklassen (wie Individuativa versus Kontinuativa) und den Numeri zu behandeln, was auch zu einer Differenzierung weiterer Lesarten des Plurals neben dem unmarkierten ,Individuensummenplural‘ Anlass gibt. Schließlich sind auch Substantive zu behandeln, bei denen die Numerusopposition zugunsten von jeweils einer Numerusform aufgegeben ist: die Singulariaund die Pluraliatantum. Hier ergeben sich zwar teilweise Analogien zwischen den Vergleichssprachen, aber letztlich sind die Inventare sprachspezifisch. Die Kategorisierung Kasus ist in den Vergleichssprachen ein oder gar das zentrale Ausdrucksmittel für die Markierung syntaktischer Funktionen bzw. syntaktisch-semantischer Rollen nominaler Einheiten innerhalb größerer syntaktischer Einheiten – daneben wird diese Funktion durch Adpositionen oder auch durch lineare Beziehungen realisiert. Zu klären ist somit als Hauptthema des ersten Teils des Kapitels das Verhältnis zwischen Kasus als syntaktischen Formkategorien, syntaktischen Funktionen und semantischen Rollen. Insofern als der Satz die zentrale größere Einheit ist, in der NPs syntaktisch-semantische Funktionen und Rollen wahrnehmen – und zwar typischerweise in Abhängigkeit von Eigenschaften des Prädikatsverbs – nimmt die funktionale Beschreibung von Kasus notwendig Bezug auf Konzepte, die der Satzbzw. Verbgrammatik entstammen. Zentral sind hier die semantischen Rollen des AG ENS und PATIENS . Die Vergleichssprachen zeigen, was die Kodierung von Verbs wie AGENS semantischen Rollen durch Kasus angeht, insgesamt ein ,akkusativisches‘ Muster; sie weisen – ggf. neben weiteren Kasus – einen PATIENS -spezifischen Kasus (Akkusativ) und einen unspezifischen Kasus (Nominativ) auf. Allerdings unterscheiden sich die Vergleichssprachen erheblich in der Reichweite akkusativischer Markierung – so haben etwa im Englischen und Französischen nur gewisse Pronomina eine Akkusativform. Des Weiteren ist die Unterscheidung zwischen grammatischen und semantischen Kasus für die Vergleichssprachen in Rechnung zu stellen sowie die Polyfunktionalität der Kasus insgesamt. Der zweite Teil des Kapitels behandelt Umfang und Reichweite der Kasussysteme in den Vergleichssprachen. Hier ist der auffälligste Varianzparameter die Anzahl der Kasus, die von dem Fehlen einer Kasusunterscheidung beim französischen Substantiv über zwei Kasus beim englischen Substantiv, vier Kasus im Deutschen, sechs Kasus im Polnischen und acht Kasus im Ungarischen allein für den Bereich der Nicht-Lokalkasus reicht. Diese Unterschiede sind korreliert mit Differenzen in der Abdeckung syntaktischer Funktionen und semantischer Rollen durch die Kasus: So deckt etwa der englische Akkusativ (der flektierenden Pronomina) neben der PATIENS -Rolle auch die des REZIPIENTEN ab, während im Deutschen letztere Rolle durch den Dativ repräsentiert wird. Im Einzelnen werden die unterschiedlichen Systeme zum einen der Partizipantenkasus Nominativ, Akkusativ und Dativ sowie Genitiv (in seiner Funktion als Objektkasus) behandelt, zum anderen die im Deutschen nicht vertretenen Adverbialkasus. Spezifische Prädikativkasus weist nur das Ungarische auf, in den übrigen Vergleichssprachen werden aber – neben anderen Ausdrucksformen – andere Kasus eingesetzt, um die Prädikativfunktion zu

802

B Wort und Wortklassen

markieren. Wie deutlich geworden sein dürfte, ist die Kategorisierung Kasus die insgesamt grammatisch bedeutsamste der drei nominalen Kategorisierungen; ihre Behandlung nimmt daher auch im vorliegenden Kapitel den größten Raum ein. Hinzuweisen ist darauf, dass Kapitel B2 in erster Linie den syntaktischen und semantischen Aspekten der drei Kategorisierungen einschließlich wortsemantischen und wortstrukturellen Gesichtspunkten, etwa beim Genus, gewidmet ist. Die morphologische Form, in der Genus, Numerus und Kasus in den Vergleichssprachen auftreten, wird in Kapitel C behandelt.

B2.2 Genus B2.2.1 Funktionale und typologische Charakterisierung  804 B2.2.2 Reichweite und Genuskongruenz  807 B2.2.2.1 Genusmarkierung im Singular und Plural  807 B2.2.2.2 Genusmarkierte Einheiten  811 B2.2.3 Struktur des Genussystems  818 B2.2.4 Genuszuweisung und morphologische Struktur des Substantivs  826 B2.2.5 Genuszuweisung und phonologische Struktur des Substantivs  828 B2.2.6 Genuszuweisung und Semantik des Substantivs  830 B2.2.6.1 Belebtheit, Personalität, Sexus  830 B2.2.6.2 Sexusspezifikation und Sexusneutralität  836 B2.2.7 Zusammenfassung  843

Adriano Murelli / Ursula Hoberg

B2.2 Genus B2.2.1 Funktionale und typologische Charakterisierung Genus ist eine Klassifikation des nominalen Lexikons, die semantisch und/oder formal basiert sein kann. Jedes Substantiv gehört (im Prinzip) einer Genusklasse an. Die Klassenzugehörigkeit drückt sich notwendig an Bezugseinheiten des Substantivs aus; sie kann darüber hinaus am Substantiv selbst markiert sein. Im Unterschied zu Numerus und Kasus ist Genus ein inhärentes Merkmal, das unabhängig vom semantisch-syntaktischen Kontext in allen substantivischen Wortformen – zumindest innerhalb der einzelnen Numeri – konstant bleibt: Es ist eine Wortkategorisierung (im Sinne von Eisenberg 2013b: 20). Wir können darüber hinaus zwischen einer paradigmatischen und einer syntagmatischen Dimension von Genus unterscheiden. Paradigmatisch ist Genus ein Sortierungsverfahren: Es stellt eine bestimmte Anzahl von Klassen (wie im Deutschen ‚Maskulinum‘, ‚Femininum‘, ‚Neutrum‘) zur Verfügung, auf die alle Substantive – im Idealfall disjunkt – verteilt werden. Die Verteilung kann semantisch motiviert sein bzw. mit Formeigenschaften des Substantivs zusammenhängen; zum Teil muss sie – zumindest synchron gesehen – als arbiträr gelten. Eine syntagmatische Funktion erhält das Substantivgenus dadurch, dass es Kongruenz (agreement) mit anderen Einheiten herstellt. Das Genus des Nomens (controller gender, Corbett 1991: 151) legt das Genus von – NP-internen und -externen – Bezugseinheiten (target gender) fest (→ B2.2.2). NP-interne Kongruenz, durch die Einheiten markiert werden, welche das Nomen determinieren oder modifizieren, unterstützt die Konstituentenbildung; durch NP-externe, vor allem anaphorische Kongruenz werden Referenzbezüge im Satz und im Text/Diskurs klargestellt (Schwarze 2008: 76 f.; Duke 2009: 20–22).  

Bei Eisenberg liegt ein engerer Begriff von ,Kongruenz‘ vor. Mit Bezug auf die Abstimmung zwischen dem Genus eines Substantivs und dem seiner Bezugseinheiten liegt keine Kongruenzbeziehung in diesem engeren Sinne vor, sondern Rektion. Statt von Genuskongruenz spricht er daher (2013b: 33–37) von Genuskorrespondenz, wobei der Begriff der Korrespondenz als Oberbegriff für Kongruenz und Rektion (sowie Identität) fungiert. Wir schließen uns dem traditionellen weiteren Kongruenzbegriff an, vgl. → C2.1. Der syntagmatische Aspekt der Genusklassifikation wird einerseits vor allem in älteren Darstellungen weitgehend ignoriert, andererseits wird Genus häufig auf Kongruenzherstellung reduziert – so etwa in der klassischen Definition von Hockett (1958: 231): „Genders are classes of nouns reflected in the behaviour of associated words.“ Das Charakteristische der Genuskategorisierung besteht aber gerade in der Kopplung von klassifizierender Binnenfunktion und kongruenzstiftender Außenfunktion, die aus dem Doppelcharakter des Nomens als lexikalische und syntaktische Kategorie resultiert. Zu den Funktionen von Genus vgl. Duke (2009: 20–25), und, speziell zur Debatte über dessen Funktionen im Deutschen, Fischer (2005: 51–85).  

B2 Kategorisierungen

805

Ein Genussystem haben viele Sprachen der Welt, darunter die indoeuropäische Sprachfamilie – ausführlich beschrieben in Matasović (2004) – sowie mehrere kaukasische, afrikanische, afro-asiatische und australische Sprachen. Kein Genus gibt es dagegen in den indigenen Sprachen Amerikas (mit wenigen Ausnahmen), in den Sprachen Südostasiens und im Ural-Altaischen. Einen Kartenüberblick bietet Corbett (2005a). Von den Vergleichssprachen hat das Ungarische – als Mitglied der finnougrischen Sprachfamilie – kein Genus. Neben der Genuskategorisierung gibt es in den Sprachen der Welt andere Verfahren, den nominalen Wortschatz zu klassifizieren; das bekannteste ist die ,Numeralklassifikation‘ ost- und südostasiatischer Sprachen wie Chinesisch, Japanisch, Vietnamesisch, Thai. Die Numeralklassifikation beruht darauf, dass ein Nomen nicht unmittelbar mit einem quantifizierenden Ausdruck verbunden werden kann. Als Verbindungsglied tritt ein ,Klassifikator‘ (classifier) auf, der das Nomen einer bestimmten Denotatklasse zuordnet, etwa der der langen Objekte, wie in (1). (1) JAP

鉛筆 二 本 empitsu ni hon KLF [langes Objekt] Stift zwei ,zwei Stifte‘ (Craig 1994: 565)

Klassifikatorsysteme unterscheiden sich in mehrfacher Hinsicht von Genussystemen – einen Überblick hierzu bieten u. a. Aikhenvald (2000), Craig (1994), Dixon (1986) und Serzisko (1982). Nicht jedes Nomen ist obligatorisch mit einem – oder nur einem – Klassifikator verbunden. Klassifikatoren sind in der Regel selbstständige, separate Lexeme ohne syntaktische Reflexe bei anderen Einheiten; gewöhnlich gibt es um die hundert, in Einzelfällen mehrere Hunderte nicht hierarchisch geordnete klassifikatorische Elemente. Funktional dienen Klassifikatoren nicht der Generalisierung, sondern der Individualisierung: Sie machen aus hinsichtlich des Nominalaspekts nicht spezifizierten Nomina zählbare Individuativa (→ B1.4.2.1). Dagegen unterscheiden sich Genus- und so genannte „Nominalklassen“-Systeme (typisch vertreten vor allem in afrikanischen Sprachen) nicht prinzipiell, sondern nur graduell. Für beide ist Kongruenz des Substantivgenus mit dem anderer Einheiten konstitutiv, wobei die Reichweite in Klassensprachen tendenziell größer ist. Der Hauptunterschied zwischen Genus- und Nominalklassensystemen besteht in der Anzahl der Klassen. Ein deutlicher Schnitt liegt bei der Klassenzahl 4: Fünf bis zwanzig Nominalklassen haben z. B. die afrikanischen Bantusprachen; zwei oder drei, selten vier Klassen sind charakteristisch für Genussysteme im engeren Sinne. Vier Genera hat z. B. das Dyirbal (Aikhenvald 2000: 23). Die Verhältnisse zwischen Klassifikator-, Nominalklassen- und Genussystemen unter dem Gesichtspunkt der Grammatikalisierung (Entwicklung von einem Systemtyp in einen anderen) werden in Duke (2009: 41–63) und Jobin (2004: 18–26) kurz skizziert.  







Den europäischen Genussprachen liegt das indoeuropäische Dreiklassensystem mit den Kategorien ,Maskulinum‘, ,Femininum‘, ,Neutrum‘ zugrunde. Es ist in dieser Form in den slawischen Sprachen, im Isländischen und im Deutschen bewahrt; Reste finden sich noch in weiteren germanischen Sprachen. In den übrigen europäischen Sprachen ist die Zahl der Klassen auf zwei reduziert, wobei die Reduktion in unterschiedlicher Richtung verläuft: Zum einen ist in den romanischen und baltischen Sprachen das Neutrum im Maskulinum aufgegangen, zum anderen sind etwa im Niederländischen und den festlandskandinavischen Sprachen Maskulinum und Femininum in einem genus commune zusammengefallen, das dem Neutrum gegenüber-

806

B Wort und Wortklassen

steht (Matasović 2004: 46–71). Die verschiedenen Genuskonstellationen lassen sich auf der Grundlage eines gestuften Systems mit Haupt- und Subgenera darstellen (→ B2.2.3). Ein wesentlicher Varianzparameter sind die Prinzipien der Genuszuweisung (gender assignment). Die Forschung geht im Allgemeinen davon aus, dass die Genuskategorisierung zumindest im Kern semantisch basiert ist: „[G]ender always has a semantic core: there are no gender systems in which the genders are purely formal categories.“ (Corbett 1991: 307). In Art und Ausdehnung der semantischen Fundierung variieren die Systeme jedoch z. T. beträchtlich. Während Sprachen mit vielen Nominalklassen in der Regel eine durchgängige Einteilung nach Denotatbereichen (z. B. Menschen, Tiere, Pflanzen, usw.) haben, wobei die Distinktion [+/–belebt] grundlegend ist (Heine 1982: 191), wird im indoeuropäischen System die Grunddifferenzierung nach Belebtheit mehr oder weniger stark überlagert von der Subklassifikation nach dem Sexus (biologischen Geschlecht), wie es auch in der tradierten Terminologie (‚Maskulinum‘, ‚Femininum‘) zum Ausdruck kommt. Semantisch motiviert ist das Genus in den europäischen Sprachen somit nur bei Personen- (und peripher bei Tier-)Bezeichnungen (→ B2.2.6). Im nicht-personalen Referenzbereich kann es zwar auch einzelne kleine Denotatgruppen mit einem semantisch bestimmten Genus geben; weit überwiegend ist aber die Klassenzugehörigkeit − soweit sie nicht als arbiträr zu gelten hat – formal basiert. Relativ starke Korrelationen bestehen zwischen dem Genus und der morphologischen Struktur des Substantivs: Vielfach sind in den europäischen Sprachen Derivationsund Flexionssuffixe Genusmarker; eine semantische Fundierung der Korrelation ist allerdings synchron meist nicht mehr erkennbar. Morphologisch basierte Genuszuweisungen lassen sich teilweise auch phonologisch fassen. In den Vergleichssprachen ist es vor allem der Wortauslaut, der oft stark mit dem Genus korreliert – so z. B. der Auslaut -a in romanischen und slawischen Sprachen, der typischerweise mit dem Femininum verbunden ist (vgl. → B2.2.4 und B2.2.5). Somit kann eine wichtige Unterscheidung eingeführt werden zwischen dem ‚abstrakten‘ und dem ‚konkreten‘ Genus. Das abstrakte (auch: lexikalische, formale, inhärente) Genus definiert sich als linguistisch vorgegebene, kontextunabhängige Klassifikation, die auf der internen (morphologischen, phonologischen) Struktur der Substantive beruht; das konkrete (auch: referentielle, semantische, kontextuelle) Genus hängt dagegen mit der Bedeutung der Substantive, d. h. mit ihren semantischen Merkmalen, enger zusammen. Wie oben angedeutet, ergibt sich aus dem Zusammenspiel beider Genusarten die Genuszuweisung in unseren Vergleichssprachen: Je nach Denotatbereich tragen verschiedene Faktoren dazu bei. Wir können also folgende Varianzparameter festhalten:  









1.

Reichweite der Genuskongruenz: Wird das Genus des Substantivs an kongruierenden Einheiten im Singular und Plural markiert? Auf welche Einheiten erstreckt sich die Genuskongruenz?

B2 Kategorisierungen

807

2.

Struktur des Genussystems: Wie viele Genusklassen unterscheidet eine Sprache? In welchem Verhältnis stehen die Klassen zueinander? 3. Genus und morphologische Struktur: Welche Korrelationen bestehen zwischen dem Genus eines Substantivs und seiner morphologischen Struktur? 4. Genus und phonologische Struktur: Wie korreliert das Genus mit phonologischen Eigenschaften des Substantivs? 5. Genus und semantische Struktur: In welchem Maße ist das Genus semantisch motiviert? Welche Kategorien des konkreten Genus spielen dabei eine Rolle?

B2.2.2 Reichweite der Genuskongruenz Dieser Varianzparameter hat zwei Aspekte: ‚Reichweite‘ bezieht sich einerseits auf die Numeruskategorien Singular und Plural, andererseits generell auf die Anzahl und Art der Einheiten, die mit dem Substantiv im Genus kongruieren.

B2.2.2.1 Genusmarkierung im Singular und Plural Genus steht in einem besonderen Verhältnis zur Numeruskategorisierung: Es gilt das Universale, dass nicht-singularische Einheiten nicht mehr Genusdifferenzierungen aufweisen als singularische (Greenberg 1963: 75). Der Singular stellt somit den Ausgangspunkt dar, der mit dem Plural in Beziehung zu setzen ist. Es gibt grundsätzlich drei Möglichkeiten der Relation zwischen z. B. (maximal) zwei Genusdifferenzierungen, also z. B. unterschiedlichen Formklassen x und y, und den Numeri Singular und Plural (Heine 1982: 196 ff.; Corbett 1991: 155 ff.):  





1. 2. 3.



paralleles System (Abb. 1, links): Einer Formklasse im Singular entspricht eine im Plural und umgekehrt; konvergentes System (Abb. 1, Mitte): Mehreren Formklassen im Singular entspricht eine einzige Formklasse im Plural, aber nicht umgekehrt; gekreuztes System (Abb. 1, rechts): Einer Formklasse im Singular entsprechen mehrere Formklassen im Plural und einer Formklasse im Plural mehrere Formklassen im Singular.  





Abb. 1: Mögliche Relationen zwischen zwei Genera und den Numeri Singular und Plural  

808

B Wort und Wortklassen

Corbett (1991: 155 ff.) spricht nicht explizit von Genusdifferenzierung, sondern von Singular- bzw. Pluralgenus. Nach der hier vertretenen Auffassung kann es jedoch für genuskonstante Wörter, z. B. Substantive des Deutschen, keine nach den Numeri verschiedenen Genera geben. Auch bei den genusvariablen Lexemen, deren Wortformen mit dem substantivischen Kopf kongruieren, ist das Genus der Wortformen in der NP bzw. im externen Kontext eindeutig durch den Kopf bzw. das Antezedens festgelegt; nur die Art und Zahl der Differenzierungen zwischen den Formen für die Genera können numerusabhängig verschieden sein. Die Formulierung zu 1. bis 3. oben wurde daher angepasst. So können wir auch nicht von einem ,genuslosen Plural‘ sprechen, wenn in einer Genussprache im Plural keine Formendifferenzierung nach dem Genus vorliegt.  



In den Vergleichssprachen wird von allen drei Möglichkeiten der numerusbezogenen Genusdifferenzierung Gebrauch gemacht. Das Englische ist ein Beispiel für ein konvergentes System, es kennt bei den wenigen genusmarkierten Einheiten (Pronomina) nur eine Singulardifferenzierung (z. B. SG his/her/its – PL their, → B1.5.1.7). Ebenso verfahren die übrigen germanischen Sprachen, etwa das Deutsche (s. unten), das Niederländische und die festlandskandinavischen Sprachen; als Standardfall kann etwa der dänische definite Artikel mit den Singularformen denU/detN und der genuslosen Pluralform de gelten. In den romanischen Sprachen wird das Genus bei Bezugseinheiten im Prinzip parallel, d. h. nach den gleichen Kategorien im Singular und Plural, markiert. Abzusehen ist hier natürlich von solchen Einheiten, die – historisch bedingt – schon im Singular nicht genusdistinkt sind (z. B. ITA difficile ,schwierig‘, SPA tal ,derartig‘) und deshalb – nach dem Genus-Numerus-Universale – auch im Plural keine genusdifferenzierten Formen haben können. Im Vergleich mit der phonetisch deutlichen M /F -Opposition des Spanischen und Italienischen (vgl. SPA SG -o/-a, PL -os/-as) erscheint die Genus- und Numerusdifferenzierung im Französischen in abgeschwächter Form. Auch hier wird zwar weit überwiegend die M / F - Distinktion (das Femininum wird in der Regel durch -e markiert) in den Plural übernommen:  





FRA

SG M F

petit petit-e

PL

__________ __________

petit-s petit-es

Die Differenzierungen haben aber oft keinen phonetischen, sondern nur einen graphematischen Ausdruck: Im obigen Beispiel steht die (numerusindifferente) maskuline Form [p(ə)ti] einer (numerusindifferenten) femininen Form [p(ə)tit] gegenüber; manchmal können auch alle Genus- und Numerusformen phonetisch zusammenfallen, wie in SG bleu/bleue – PL bleus/bleues, allesamt [blø] ausgesprochen (s. dazu Schwarze 2008: 103–106, → C2.8.1). Außerdem gibt es einige Einheiten mit genusneutralisiertem Plural; dies sind vor allem phonetisch schwächere Einheiten wie der Artikel (SG le/la – PL les), das Possessivdeterminativ (z. B. SG mon/ma – PL mes) und das Demonstrativdeterminativ (SG ce/cette – PL ces) – letzteres etwa gegenüber dem Demonstrativpronomen (SG celui/celle – PL ceux/celles).  

B2 Kategorisierungen

809

Einen Sonderfall unter den romanischen Sprachen stellt das Rumänische dar. Für kongruierende Einheiten existieren im Singular und im Plural jeweils zwei voneinander verschiedene Formen; Kongruenz verläuft allerdings nur bei maskulinen und femininen Substantiven parallel, bei neutralen Substantiven dagegen „über Kreuz“, d. h. maskulin im Singular und feminin im Plural, wie in (2) zu sehen ist. Mit dem neutralen Substantiv lucru ‚Sache‘ kongruiert im Singular die maskuline Form des indefiniten Artikels un sowie des Adjektivs bun, im Plural dagegen die feminine Form des indefiniten Artikels unele und des Adjektivs bune.  

(2) a. un om bun – unii omi buni RUM ‚ein guter Mann – einige gute Männer‘ b. o fată bună – unele fete bune ‚ein gutes Mädchen – einige gute Mädchen‘ c. un lucru bun – unele lucruri bune ‚eine gute Sache – einige gute Sachen‘ Dies kann schematisch am Beispiel des Possessivpronomens der 1. Person Singular wie folgt dargestellt werden.

In den meisten slawischen Sprachen wie dem Russischen kongruieren Bezugseinheiten mit dem Substantiv bzw. dem Antezedens nach dem konvergenten System: Dem dreifach genussortierten Singular steht eine gemeinsame Pluralform gegenüber (vgl. z. B. das russische Demonstrativpronomen ėtot/ėta/ėto – ėti). Das Polnische hat dagegen – wie andere westslawische Sprachen – auch im Plural eine Genusdifferenzierung, der allerdings andere Kategorien als im Singular zugrunde liegen: Im (Nominativ) Singular wird nach dem abstrakten Genus differenziert, im (Nominativ) Plural nach einem Merkmal des konkreten Genus, das zwischen männlichen Personen und allem Übrigen unterscheidet (vgl. → B2.2.6); die Klassen werden als ,MPERS / NONMPERS ‘ bezeichnet.  

810

B Wort und Wortklassen

Es liegt also ein gekreuztes Kongruenzsystem folgender Art vor (illustriert an den für adjektivische Einheiten typischen Flexiven); vgl. Tabelle 1:

Im Deutschen weisen mit dem Substantiv kongruierende Einheiten nur im Singular genusdifferenzierte Formen auf; der Plural hat eine einheitliche Form. Dies wird am Beispiel der Nominativflexive für das Demonstrativpronomen dieser gezeigt.

Das Deutsche verhält sich somit wie das Englische und andere germanische Sprachen; es ist als Vertreter eines konvergenten Kongruenzsystems einzuordnen. Zusammengefasst zeigen die Vergleichssprachen folgende Genusregelung bei kongruierenden Einheiten im Hinblick auf Singular und Plural: Tab. 1: Genusmarkierung von Bezugseinheiten im Singular und Plural in den Vergleichssprachen paralleles System

konvergentes System

gekreuztes System

FRA (weit überwiegend), weitere romanische Sprachen

ENG, DEU, weitere germanische Sprachen, RUS

POL, RUM

In Sprachen mit einem parallelen oder gekreuzten System muss entschieden werden, welche genusspezifische Pluralform kongruierende Einheiten erhalten, wenn singularische Substantive mit unterschiedlichem Genus koordiniert werden. Zum Beispiel wird in solchen Fällen im Französischen, ebenso wie im Italienischen und Spanischen, für die pluralische Kongruenzform das Maskulinum gewählt, wie in (4). Im Polnischen dagegen gilt folgende Regel: Sobald nur ein Konjunkt das Subgenus Maskulin-Personal (vgl. → B2.2.3) hat, wird bei Bezugseinheiten die Pluralform MPERS gewählt, wie in (5) – vgl. ausführlich hierzu Corbett (2003: 304–309). (4) a. un père et une mère excellents FRA INDEF .M Vater.M und INDEF .F Mutter.F ausgezeichnet.M .PL ‚ein ausgezeichneter Vater und eine ausgezeichnete Mutter‘

B2 Kategorisierungen

811

b. un

caractère et une énergie particuliers Charakter.M und INDEF .F Energie.F besonder.M .PL ‚ein besonderer Charakter und eine besondere Energie‘ (Corbett 2003: 307 f.) INDEF .M



(5) POL

W samochodzie siedzieli kobieta, in Auto.LOK sitz.PRT .3PL .MPERS Frau.F i dziecko. und Kind.N ,In dem Auto saßen eine Frau, ein Mann und ein Kind.‘

mężczyzna Mann.MPERS

B2.2.2.2 Genusmarkierte Einheiten Als kongruierende Einheiten, die das Genus des Substantivs reflektieren, kommen in den Vergleichssprachen Elemente folgender Wortklassen in Frage: – –

– –

Artikel Pronomen – Personalpronomen 3. Person (Anapher) – Reflexivpronomen – Relativpronomen – Possessivpronomen, in selbstständiger und adnominaler Verwendung – sonstige Pronomina (Demonstrativa, Indefinita, Quantifikativa), in selbstständiger und adnominaler Verwendung Adjektiv/Partizip, in adnominaler und prädikativer Verwendung Verb

Die potentielle Genuskongruenz erstreckt sich also auf adnominale, pronominale und prädikative Einheiten. Die Hauptgrenzlinie ist zwischen NP-internem und NP-externem Vorkommen zu ziehen. Anders als in Schwarze (2008: 34 f.) grundsätzlich angenommen, ist jedoch eine Einteilung der Wortklassen nach NP-interner bzw. -externer Kongruenz nur bedingt möglich: Bestimmte Wortklassen (Artikel, Relativpronomen in attributiven Relativsätzen) kongruieren nur NP-intern, andere (Personalpronomen, Reflexivpronomen, Verb) nur NP-extern. Adjektive/Partizipien sowie Possessiv- und sonstige Pronomina kongruieren NP-intern, wenn sie adnominal gebraucht werden, in prädikativem bzw. selbstständigem Gebrauch dagegen NP-extern. Außerdem zeigt das Possessivpronomen in der 3. Person übereinzelsprachlich zwei Genusausprägungen, von denen die Vergleichssprachen unterschiedlichen Gebrauch machen: Es kann einerseits den Bezug auf den Possessor und andererseits den auf das Possessum markieren (Zifonun 2005a: 62– 65, → B1.5.4.7) – somit können hier ein oder zwei controllers im Spiel sein.  

812

B Wort und Wortklassen



Possessor-Genus (controller1): Das Possessivpronomen reflektiert das Genus des NP-externen Possessorausdrucks (z. B. DEU der VaterM – seinM Sohn / die MutterF – ihrF Sohn); dabei kann zwischen sogenanntem reflexivem Bezug (Referenzidentität von Possessor und Subjektdenotat) und nicht-reflexivem Bezug unterschieden werden (vgl. LAT suus/eius filius). Possessum-Genus (controller2): Das Possessivpronomen flektiert NP-intern entsprechend dem Genus des Possessumausdrucks (FRA sonM filsM / saF filleF ; DEU seinM SohnM / seineF TochterF ).  



NP-externe Einheiten stehen in einer weniger festen Kongruenzbeziehung zum regierenden Substantiv; das zeigt sich u. a. darin, dass hier – bei Personenbezeichnungen – grammatische Genuszuweisung mit semantischer konkurrieren kann (vgl. dazu Jobin 2004: 35; Schwarze 2008: 50–57). Corbett (1991: 226) stellt für diesen Wettbewerb folgende Hierarchie (mit nach rechts wachsender Wahrscheinlichkeit für semantische Kongruenz) auf:  



Agreement Hierarchy: attributive < predicative < relative pronoun < personal pronoun Im Folgenden werden die genuskongruierenden Einheiten der Vergleichssprachen im Einzelnen untersucht. Das Englische hat die vergleichsweise wenigsten genusmarkierten Elemente; sie gehören alle dem pronominalen Bereich an. Den Kern bildet das Personalpronomen 3. Person (he/she/it) zusammen mit dem auf ihm beruhenden Possessiv- (his/ her/its) und dem mit den Objektformen gebildeten Reflexivpronomen (himself/herself/itself). Das Genus des Possessivpronomens markiert den Possessor-Bezug. Eine reduzierte Genusdifferenzierung hat das Relativpronomen, für das das Englische nicht – wie beispielsweise das Deutsche oder die slawischen Sprachen – einen determinativischen oder adjektivischen Ausdruck verwendet, sondern die Form des selbstständigen Interrogativpronomens; entsprechend wird, wie bei diesem Pronomen üblich, nur nach der übergeordneten Genuskategorie [+/–personal] unterschieden (who/which). Typologisch relevant ist die Lage in den festlandskandinavischen Sprachen: Hier sind auch adnominale Einheiten genusmarkiert. Im Prinzip wird nach dem abstrakten Zwei-Klassen-System ,Neutrum/Non-Neutrum (Utrum)‘ differenziert; nur der Artikel weist in einzelnen Varietäten noch eigene Femininformen auf (vgl. WahrigBurfeind 1989: 265; Duke 2009: 142). Einen besonderen Status hat auch hier das Personalpronomen (und entsprechend das Possessivpronomen) der 3. Person Singular, das eine Mischung aus abstraktem und konkretem Genus zeigt. Die Hauptunterscheidung wird lexematisch zwischen Neutrum und nicht-belebtem Utrum einerseits und belebtem Utrum andererseits getroffen; die weitere Differenzierung (im belebten Bereich die nach Sexus) wird flexivisch – durch Suffix bzw. „innere“ Flexion – markiert (Duke 2009: 167 f.). Dies kann am Beispiel des Dänischen wie im folgenden Schema dargestellt werden.  

813

B2 Kategorisierungen

Abb. 2: Genusmarkierung beim dänischen Personal- und Possessivpronomen  

Das vierfach genussortierte Possessivpronomen (ursprüngliche Genitivformen des Personalpronomens) wird für den nicht-reflexiven Bezug verwendet; das reflexive Possessivum kongruiert mit dem Possessum-Substantiv ausschließlich nach dem abstrakten Genus Utrum/Neutrum (z. B. DÄN sin/sit). Auf Besonderheiten der Genuskongruenz im Bereich der Adjektive im Festlandskandinavischen wird in Duke (2009: 139–141, 144 f.) eingegangen. Zur Lage im Schwedischen siehe auch Jobin (2004: Kap. 9), die u. a. den gelegentlichen Gebrauch von den zur Referenz auf belebte Entitäten erörtert. Das niederländische System scheint sich von einem dem deutschen analogen (s. weiter unten) in Richtung des festlandskandinavischen zu entwickeln. Bei den Substantiven liegt eine abstrakte Genusunterscheidung zwischen M , F und N vor. Wie im Deutschen sind in den M - und F -Kategorien nicht nur Substantive mit der entsprechenden Kategorie des natürlichen Geschlechts vertreten, sondern auch nichtpersonale Substantive, vgl. auto, hemel ,Himmel‘ (M ), fabriek, muziek (F ) und die Kategorie N verzeichnet markiert auch Personenbezeichnungen wie (het) wijf ,Weib‘ oder Diminutiva wie (het) jongetje/(het) meisje ,Jüngelchen/Mädchen‘. Das DreiGenera-System ist jedoch im Abbau begriffen. Nur im südniederländischen und flämischen Sprachgebiet wird die M - F -Unterscheidung auch bei nicht-personalen Substantiven noch aufrechterhalten. Sprachsystematisch wird dieser Übergang zum System mit den zwei Genera U und N dadurch gestützt, dass die Artikelwörter nur Utrum- und Neutrumformen haben; man spricht daher von de-Substantiven (U ) und het-Substantiven (N ). Nur bei der anaphorischen Bezugnahme durch das Personalund Possessivpronomen (mit jeweils einer M - F - N -Differenzierung) kann die Untergliederung der U -Substantive überhaupt noch wirksam werden. Die restlichen Pronomenklassen (Demonstrativa, Relativa, indefinite und interrogative Adpronomina)  







814

B Wort und Wortklassen

machen wie die Artikelwörter nur eine Unterscheidung zwischen Neutrum und Utrum. Aber auch bei den anaphorischen Pronomina treten im Niederländischen insgesamt die Unterscheidungen der Belebtheitstaxonomie stärker hervor als im Deutschen; sie verdrängen tendenziell die abstrakte Genusunterscheidung (siehe insbesondere → B1.5.2.10). Im Französischen findet sich die Genusunterscheidung M / F bei allen adnominalen und pronominalen Bezugseinheiten (außer beim Reflexivpronomen und beim einfachen Relativpronomen qui). Ähnlich verhält es sich im Italienischen. Im Spanischen wird im Bereich der Personalpronomen nicht nur die 3. Person (SG /PL ), sondern auch die 1. und 2. Person Plural nach Genus markiert: nosotr-os/-as ‚wir‘ und vosotros/-as ‚ihr‘. Das Possessivdeterminativ 3. Person Singular hat im Französischen (sowie Spanischen und Italienischen) nur ein Possessum-Genus: Unabhängig vom Genus des Possessorausdrucks lautet es im Singular son/sa, im Plural ses. Der Possessorbezug ist dagegen für die Numeruskategorie relevant; das Possessivum variiert nach singularischem und pluralischem Possessorausdruck (controller1: la filleS G – sonS G père / les fillesP L – leurP L père). Beim Adjektiv wird auch in prädikativer Funktion nach dem Genus (des Subjektausdrucks) unterschieden, ebenso beim Partizip im Passiv- und Perfekt-Verbalkomplex, allerdings nur bei Bildungen mit dem Auxiliarverb être (il est arrivé / elle est arrivée ,er ist gekommen / sie ist gekommen‘, phonetisch ist der Unterschied jedoch nicht realisiert). Perfektbildungen mit avoir haben in der Regel keine Genusdifferenzierung beim Partizip (il/elle a chanté ,er/sie hat gesungen‘); es kann hier aber eine Anpassung an das Genus (und den Numerus) des direkten Objekts geben: Bei einem pronominalen vorangestellten DO wird das Genus am Partizip markiert, z. B. (le texteM ) il l’M a écrit ‚(den Text,) er hat ihn geschrieben‘ / (la plainteF ) il l’F a écrite ‚(die Anzeige,) er hat sie geschrieben‘. Wenn aber – wie oft der Fall – das maskuline Partizip (graphisch) auf Vokal endet, fallen die Formen beider Genera aufgrund des e muet (stummen E) im femininen Partizip und bei Apokopierung des Objektklitikums le/la phonetisch zusammen: Z. B. werden il l’M a aimé/choisi/vu ,er hat ihn geliebt/gewählt/gesehen‘ und il l’F a aimée/choisie/vue ,er hat sie geliebt/gewählt/ gesehen‘ phonetisch gleich realisiert (zu weiteren Besonderheiten des code phonique vgl. Schwarze 2008: 106–110). Schließlich gibt es im Französischen relativ viele maskuline Personenbezeichnungen, die für Personen beiderlei Geschlechts verwendet werden (wie etwa docteur, professeur). Beim Bezug auf eine weibliche Person kann das Genus kongruierender Einheiten dem Sexus angepasst werden: Vgl. dazu → B2.2.6. Das Polnische hat genusdifferenzierte Formen nahezu im gesamten adnominalen und pronominalen Bereich; lediglich beim Reflexivpronomen gibt es eine für alle drei Genera gleich lautende Form (się bzw. siebie). Wie in fast allen slawischen Sprachen entfällt die Kategorie ,Artikel‘ und damit die Möglichkeit, das Genus des Substantivs auf diese Weise zu kennzeichnen. Das Personalpronomen der 3. Person ist flexivisch genusmarkiert (SG on/on-a/on-o, PL on-i/on-e); im Possessivum wird mit unterschiedlichen Wortstämmen (wie im Lateinischen) reflexiver und nicht-reflexiver Possessorbezug differenziert: Bei Referenzidentität von Possessor und Subjekt steht  



815

B2 Kategorisierungen

das Possessivadjektiv swój, das nach dem Genus des Possessum-Substantivs flektiert und in allen Fällen von Referenzidentität zwischen Possessor und Subjekt verwendet wird (d. h. für die 1. und 2. Person auch anstelle von mój ,mein‘, twój ,dein‘). Ist der Possessor eine andere Person bzw. ein anderer Gegenstand, wird der Bezug mit der Genitivform des Personalpronomens der 3. Person ausgedrückt, die als solche keine Genus-Kasus-Numerus-Kongruenz mit dem Kopfnomen aufweist, da sie sich allein nach dem Possessor-Genus richtet (SG jegoM /N / jejF , PL ich): Siehe die kontrastierenden Sätze in (6). Außerdem stehen im Polnischen für die Zahlen von 1 bis 4 genusspezifische Formen zur Verfügung (→ B2.3.4.1).  

(6) a. Olga odwiedza swojego brata. POL Olga besuch.3SG POSS . REFL . AKK Bruder.AKK ,Olgai besucht ihreni Bruder.‘ b. Olga odwiedza jej brata. G EN Bruder.AKK Olga besuch.3SG 3SG . F . GEN ,Olgai besucht ihrenj Bruder.‘ Auch im prädikativen Bereich erfasst die Genuskongruenz im Polnischen mehr Einheiten als in den restlichen Kontrastsprachen: Außer dem prädikativen Adjektiv und dem Partizip im Passivverbalkomplex sind auch die rein verbalen synthetischen Präteritumformen genusmarkiert, z. B.: SG kupił / kupił-a / kupił-o ,er/sie/es kaufte‘, PL kupil-i / kupił-y ,sieM P E R S / N O N M P E R S kauften‘. Die Genusanpassung ist nicht nur dann notwendig, wenn der Subjektausdruck ein Substantiv oder ein Personalpronomen der 3. Person ist; auch bei der 1. und 2. Person muss das Genus – in diesem Fall entsprechend dem Sexus – des Sprechers bzw. Hörers an dem prädikativen Ausdruck gekennzeichnet werden. Das gilt für alle Sprachen, die genusmarkierte Formen im prädikativen Bereich haben, also z. B. auch für das Französische (und andere romanische Sprachen). Im Deutschen wird das Genus des Substantivs an allen adnominalen und den meisten pronominalen Bezugseinheiten (im Singular) markiert. Beim definiten Artikel ist die dreifache Sortierung M / N / F formal am deutlichsten ausgeprägt, so dass die Artikelformen der/die/das als die typischen Genusmarker im nominalen Bereich angesehen werden können. Von den Pronomina sind grundsätzlich alle diejenigen genusdifferenziert, die auch adnominal vorkommen, also z. B. Demonstrativ- und Possessivpronomina. Anders als in den Kontrastsprachen hat das Possessivpronomen der 3. Person Singular sowohl ein Possessor- als auch ein Possessum-Genus. Das Genus des Possessor-Ausdrucks wird im Singular durch unterschiedliche Wortstämme (seinM / N / ihrF ) markiert; an diesen Stämmen wird flexivisch das Genus des Possessum-Substantivs gekennzeichnet (z. B. die MutterF – ihrF -enM RockM , der VaterM – seinM -eF JackeF ). Von den nur pronominal verwendeten Bezugseinheiten sind die Relativpronomina der und welcher und das Personalpronomen der 3. Person Singular (die Anapher) genusmarkiert. Das Genus des anaphorischen Pronomens wird wie das des Possessivpronomens, dessen Formen von ihm hergeleitet sind,  















816

B Wort und Wortklassen

lexikalisch (durch unterschiedliche Wortstämme) ausgedrückt; anders als das Possessivpronomen differenziert das Personalpronomen formal noch deutlich zwischen den drei Genera M (er), F (sie), N (es). Dagegen ist das Reflexivpronomen (das z. B. im Englischen die Genusdifferenzierung des Personalpronomens übernimmt) im Deutschen nicht genusmarkiert; es lautet – nur für die 3. Person als vom Personalpronomen verschieden existent – einheitlich sich. Adjektive und Partizipien werden nur bei attributivem Gebrauch nach Genus flektiert: guter Rat, gute Laune, gutes Wetter. Dabei bestehen Unterschiede, die die für das Deutsche (und andere germanische Sprachen) charakteristische zweifache Adjektivflexion begründen: Die starke Flexion ist durch genusdistinkte Formen gekennzeichnet, während in der schwachen Flexion die Genusunterschiede (außer im Akkusativ) neutralisiert sind (der gute Rat, die gute Laune, das gute Wetter) (→ C6.6.1). In adverbialer und prädikativer Funktion erscheinen Adjektive dagegen immer unflektiert (Er/Sie/Es kam lächelnd herein. Der Rat / Die Laune / Das Wetter ist gut). Ebenso bleiben verbale Einheiten, also das Partizip als Teil des Verbalkomplexes (er/sie/es wurde gefragt) und Konjugationsformen des Verbs (er/sie/es fragte), grundsätzlich genusunmarkiert. Da Genusdifferenzierung auf den Singular beschränkt ist, sind adnominal verwendete Kardinalnumeralia nicht genusmarkiert – ausgenommen das Kardinalnumerale ‚1‘, dessen Formen, wie generell in Artikelsprachen, identisch mit denen des indefiniten Artikels sind (M / N : ein, F : eine). Die Möglichkeit, dass das grammatische Genus kongruierender Einheiten – in einschlägigen Fällen – semantisch „überschrieben“ wird, ist im Deutschen nur begrenzt gegeben. Bei Personenbezeichnungen, deren Genus nicht dem Sexus entspricht, müssen adnominale Bezugseinheiten (zu denen auch das Relativpronomen zählt) immer im abstrakten (grammatisch geforderten) Genus stehen. Nur beim anaphorischen Personal- und Possessivpronomen, also an der höchsten Position der ‚Agreement Hierarchy‘, findet sich neben formaler Kongruenz auch vielfach die dem Sexus entsprechende Form, wie in den kontrastierenden Beispielen (7a) und (7b) gezeigt (→ B1.5.2.10).  



(7)

a. *Siehst du die kleine Mädchen, die da drüben sitzt? b. Bereits am Sonntag abend war ein neunjähriges Mädchen mit ihrem Fahrrad auf einem Waldweg zwischen Danewitz und Tempelfelde (Barnim) unterwegs, als sie Peter Sch. (59) und seinem Dobermann begegnete. (Berliner Morgenpost, 25.06.1998)

Das Deutsche nimmt somit hinsichtlich der Reichweite der Genuskongruenz eine mittlere Position unter den Vergleichssprachen ein: Einerseits wird nicht nur – wie im Englischen – im pronominalen, sondern auch im adnominalen Bereich nach Genus differenziert, andererseits sind prädikative Ausdrücke – im Unterschied zu romanischen und slawischen Sprachen – von der Genusmarkierung ausgeschlossen. Wir fassen die Domänen der Genuskongruenz in den Vergleichssprachen in folgender

817

B2 Kategorisierungen

Übersicht zusammen; mit ,+‘ bzw. ,−‘ wird gekennzeichnet, welche Bezugseinheiten genusmarkierte Formen haben. Tab. 2: Genusmarkierte Einheiten in den Vergleichssprachen ENG

skand.

DEU

FRA

POL



+

+

+

+

+

+

+

+

+

Possessor-Genus

+

+ (hans)

+



+ (jego)

Possessum-Genus



+ (sin)

+

+

+ (swój)

Reflexivpronomen

+









Adjektiv attributiv



+

+

+

+

Adjektiv prädikativ







+

+

Partizip im Verbalkomplex







+

+

Verb (im Präteritum)









+

Artikel/Determinativ Personalpronomen 3. Person  

Possessivpronomen 3. Person  

Wie die Übersicht zeigt, weisen pronominal-anaphorische Einheiten am häufigsten Genuskongruenz auf, Einheiten in prädikativem Gebrauch dagegen am wenigsten. Adnominal gebrauchte Einheiten nehmen eine mittlere Stellung ein. Was die einzelnen Wort(sub)klassen betrifft, zeigt am ehesten das Personalpronomen der 3. Person genusdistinkte Formen; auch beim entsprechenden Possessivpronomen wird in allen Sprachen zumindest nach einer Genusart unterschieden. Am unteren Ende der Skala stehen das Reflexivpronomen und das Verb: Diese Einheiten sind nur in jeweils einer der Vergleichssprachen genusmarkiert. In beiden Fällen handelt es sich streng genommen nicht um originäre Formen: Das nur im Englischen differenzierte Reflexivpronomen ist eine – auf dem Personalpronomen beruhende – Intensifikator-Konstruktion (→ B1.5.3.3); die verbale Genusflexion des Polnischen – die auch für die anderen slawischen Sprachen gilt – erklärt sich daraus, dass die Präteritumform aus einem Partizip entstanden ist, also ursprünglich auch Teil eines Verbalkomplexes war (Panzer 1999: 169). Es ergibt sich also folgende Hierarchie der Zugänglichkeit für Genusmarkierung (nach rechts abnehmend geordnet): Personalpronomen 3. Person > Possessivpronomen 3. Person > adnominale Einheiten (Artikel, Adjektiv) > prädikatives Adjektiv > Partizip im Verbalkomplex > Reflexivpronomen / Verb  

818

B Wort und Wortklassen

B2.2.3 Struktur des Genussystems Wenn das Genus des Substantivs sich notwendig durch Markierung an kongruierenden Einheiten manifestiert, bietet es sich an, die Genera einer Sprache – ihre Anzahl und Relation zueinander – mithilfe von Kongruenzklassen (agreement classes) zu ermitteln. Substantive bilden eine Kongruenzklasse, wenn sie – unter gleichen Bedingungen – die gleichen Kongruenzformen zu sich nehmen (Corbett 1991: 147 ff., 2005a: 126–129). So gehören z. B. im Französischen garçon ,Junge‘ und jardin ,Garten‘, neben vielen anderen Substantiven, zur selben Kongruenzklasse, weil Einheiten wie un-, grand- in ihrer Umgebung endungslos auftreten, während sie bei Substantiven wie femme ,Frau‘, fleur ,Blume‘ eine Form auf -e annehmen (un grand garçon/jardin vs. une grande femme/fleur). Die französischen Substantive verteilen sich somit auf zwei Kongruenzklassen, die die beiden traditionell „Maskulinum“ und „Femininum“ genannten Genera konstituieren. Auf andere Sprachen angewandt führt die Gleichsetzung von Kongruenzklasse und Genus oft zu einem kontraintuitiven Ergebnis; sie erweist sich als eine Maximallösung, nach der z. B. im Englischen neun „gender classes“ (Quirk et al. 1985: 314) oder im Polnischen mindestens fünf Genuskategorien zu unterscheiden wären. Ein solcher inflationärer Gebrauch von „Genus“ kann vermieden werden, wenn das Kongruenzklassenkonzept in zwei Hinsichten eingeschränkt wird:  





1.

Status der Bezugseinheiten: Genusmarkierte Einheiten sind entweder NP-intern oder NP-extern auf das Substantiv bezogen. Durch außerhalb der NP stehende Einheiten, also vor allem Pronomina, wird dem Antezedens nicht immer eindeutig ein Genus zugewiesen; umgekehrt: ein Substantiv kann mit einem Pronomen in verschiedenen Genuskategorien wieder aufgenommen werden (vgl. z. B. DEU Mädchen – es/sie und besonders die Verhältnisse im Englischen). Es liegt im strengen Sinne keine Kongruenzrelation vor (Wiese 1983: 381 f.). Dagegen ist bei NP-internen Bezugseinheiten in aller Regel nur eine Genuskategorie möglich (ein kleines / *eine kleine Mädchen); mit ihr ist das Genus des Kopfnomens eindeutig gegeben. Das bedeutet für die Bestimmung der Genera über Kongruenzklassen, dass nicht von pronominalen Genusbeziehungen, sondern allein von NP-interner Genuskongruenz auszugehen ist. Formdifferenziertheit der Bezugseinheiten: Die Flexionsformen kongruierender Einheiten sind unterschiedlich stark differenziert; in vielen Fällen besteht ein weit reichender Formensynkretismus. Da stark ausdifferenzierte Systeme Generalisierungen innerhalb einer Sprache und Vergleiche mit anderen Sprachen erschweren, plädiert Corbett (1991: 161 ff.) dafür, nicht alle Kongruenzklassen als volle Genera gelten zu lassen. Substantivklassen, deren Kongruenzeinheiten sich in ihren Formen nur „minimal“ von denen einer anderen Substantivklasse unterscheiden, sind als Subgenera anzusehen. Ein Beispiel für Subgenera sind etwa die russischen „belebten“ und „unbelebten“ Maskulina, bei denen die Flexions 



2.



B2 Kategorisierungen

819

formen der kongruierenden Einheiten (und die der Substantive selbst) nur im Akkusativ differieren. Das Konzept von Ober- und Untergenera, also von unterschiedlich starken Genusausprägungen, lässt sich generell für die Relationierung der Genera nutzen. Es ist davon auszugehen, dass auch die drei Hauptkategorien des indoeuropäischen Genussystems – die abstrakten Genera M , F und N – nicht auf einer Stufe stehen: Zwischen dem Maskulinum und dem Neutrum besteht aufgrund größerer Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten der Flexionsformen eine engere Beziehung, so dass sie als Unterkategorien eines Genus gelten können, das auf einer höheren Stufe dem Femininum gegenübersteht (→ C2). Frühe Vertreter dieser Annahme eines gestuften Genussystems sind Paul (1917: 5) für das Deutsche und Jakobson (1960) für das Russische; näher ausgeführt und begründet wird die hierarchische Ordnung der Genera in neueren flexionsmorphologischen Arbeiten zum Deutschen wie vor allem Wiese (1996, 1999, 2000) und Thieroff (2000b). Somit lässt sich die allen europäischen Genussystemen zugrunde liegende Struktur wie in Abbildung 3 fassen.

Abb. 3: Allgemeine Struktur des abstrakten Genus  

Die einzelnen Sprachen variieren darin, ob sie beide Klassifikationsebenen oder jeweils nur eine realisieren. Bestimmte Sprachen gehen in ihrem Genussystem über die zweistufige Ordnung hinaus und unterscheiden weitere Unterkategorien mit formaler Manifestation; diese Klassifikation ist von einem konkreten Genus bestimmt, das nach den Kategorien ,Belebtheit‘, ,Personalität‘ und ,Sexus‘ wie in Abbildung 4 geordnet ist.

Abb. 4: Struktur des konkreten Genus  

820

B Wort und Wortklassen

Im Folgenden wird anhand der in der Abbildung 3 angenommenen Struktur das Genussystem des Deutschen und der Kontrastsprachen untersucht. Das heutige Englisch erfüllt die Bedingung NP-interner Kongruenz nicht (mehr); ihm ist somit ein Substantivgenus abzusprechen. Wenn das Englische – wie z. B. bei Quirk et al. (1985: 314 ff.), Corbett (1991: 12) – als Genussprache angesehen wird, beruht diese Einschätzung darauf, dass auch NP-externe pronominale Beziehungen zum Substantiv als Kongruenzrelation gelten; siehe dazu auch die kritische Auseinandersetzung in Schwarze (2008: 171–179). Andere (west- und nord-)germanische Sprachen haben ein – wenn auch meist reduziertes – abstraktes nominales Genus bewahrt. Während im Isländischen noch beide Stufen des indoeuropäischen Genussystems (mit den Endkategorien M , F , N ) erhalten sind, ist z. B. im Niederländischen und in den festlandskandinavischen Sprachen bei Substantiven die ‚obere‘ Klassifikation (Femininum/Non-Femininum) weitgehend verloren gegangen; es wird – nach Ausweis der Kongruenzformen – im Allgemeinen nur noch nach der zweiten Klassifikation zwischen Neutrum und NonNeutrum (‚Utrum‘), dem Pendant des Maskulinum in der zweistufigen Gliederung, unterschieden. Nur im pronominalen Bereich gibt es weitere Differenzierungen, und zwar nach dem konkreten Genus (vgl. → B2.2.2.1 und → B1.5.1.7).  





Abb. 5: Struktur des festlandskandinavischen Genussystems  

Im Französischen haben kongruierende Einheiten in aller Regel zwei unterschiedliche Formparadigmen; die so konstituierten Genera repräsentieren die oberste Klassifikationsstufe.

Abb. 6: Struktur des französischen Genussystems  

B2 Kategorisierungen

821

Das gleiche zweigliedrige System – in dem die Kategorie Maskulinum historisch die Vereinigung der beiden spezifischen lateinischen Genera Maskulinum und Neutrum darstellt – gilt für das Italienische und Iberoromanische. In diesen Sprachen sind vereinzelt Rudimente bzw. Restitutionen des ursprünglichen dritten Genus zu verzeichnen; vgl. etwa das neu entstehende Neutrum im Zentral-Italienischen (Haase 2000), das jedoch höchstens als Subgenus anzusehen ist: „Neutrale“ Substantive bilden eine Subklasse des non-femininen Genus, die sich rein semantisch aufgrund des Merkmals [zählbar] bestimmen lässt (lo paneN ‚das Brot‘, lu caneM ‚der Hund‘). In allen romanischen Sprachen existieren außerdem neutrale Artikel- (SPA lo) und Pronominalformen (FRA cela, ça …, ITA ciò, SPA esto, eso, aquello …), die in der Regel nicht in einem Kongruenzverhältnis zu einem Substantiv stehen (Cartagena/Gauger 1989: 191 f.) und höchstens als target gender angesehen werden können: Sie werden durch bestimmte nicht-substantivische Antezedentien (z. B. Infinitivkonstruktionen) hervorgerufen oder beziehen sich als „konzeptuelles Neutrum“ (→ B1.5.2.6) deiktisch auf Sachverhalte bzw. Situationen als Ganzes. Einen knappen Überblick hierüber (mit einschlägigen Literaturverweisen) bietet Schwarze (2008: 93 f.). Anders stellt sich dagegen die Frage nach der Anzahl und der Relation der Genera für das Rumänische. Auch hier haben adnominale Bezugseinheiten ein maskulines und ein feminines Formparadigma; sie kongruieren aber so mit Substantiven, dass drei Klassen entstehen, die jeweils in den Beispielen (2a), (2b) und (2c) dargestellt wurden. Die Verteilung der Formen zeigt eine systematische Interaktion der Genusmit der Numeruskategorisierung: Im Singular gilt die Opposition F / NONF (mit den Kongruenzformen o, bună vs. un, bun), im Plural steht M (unii, buni) gegen NONM (unele, bune). Aufgrund dieser gleichgewichtigen Verteilung über die Numeri lässt sich der Status der dritten Kongruenzklasse in (2c) – gewöhnlich „Neutrum“ genannt (z. B. in Jakobson 1962), treffender aber wohl „ambi-/heterogenerisch“ zu nennen (Corbett 1991: 151) – nicht mit dem Subgenus-Konzept fassen. Corbett (ebd.) trägt dem spezifischen Charakter des rumänischen Genussystems Rechnung, indem er zwischen target und controller genders (→ B2.2.1) unterscheidet: Targets sind hier die beiden Genus-Formklassen M und F der Kongruenzeinheiten; sie werden von den Genera der drei Substantivklassen kontrolliert. Die Substantivgenera sind definierbar mit – nach Singular und Plural – geordneten Paaren von Genus-Formklassen der Bezugseinheiten, so dass sich für das Rumänische folgende Genuskonstellation ergibt.  









Abb. 7: Struktur des rumänischen Genussystems  

Im Italienischen gibt es ca. 30 Substantive des Kernwortschatzes mit unregelmäßiger Pluralbildung auf -a, bei denen in den beiden Numeri unterschiedliche Genus-Formklassen vorliegen (SG M / PL F ) und bei Kongruenzeinheiten gefordert werden, z.B. il paio (M ) ‚das Paar‘ – le paia (F )

822

B Wort und Wortklassen

‚die Paare‘, l‘uovo ‚das Ei‘ – le uova ‚die Eier‘. Diese Substantive werden traditionell zu einer (nicht mehr produktiven) Flexionsklasse zusammengefasst (vgl. Salvi/Renzi 2010: 1390–1994; „Kollektivplural“ bei Schwarze 1995: 10f.). Diachron ist die Entstehung dieser Flexionsklasse auf eine in beiden Numeri unterschiedliche Genuszuweisung der zugrunde liegenden lateinischen Neutra zurückzuführen, ähnlich wie beim gekreuzten System des Rumänischen. Mit wenigen Ausnahmen bilden diese Substantive Doppelformen (nomi sovrabbondanti) mit regelmäßiger Pluralbildung auf -i. In den meisten Fällen unterscheiden sich maskuline und feminine Pluralform auch semantisch, vgl. ossa (F ) ‚Knochen (PL ) (als Teile des Skeletts), Knochengerüst‘ / ossi (M ) ‚Knochen (PL ) (einzelne)‘, s. Acquaviva (2008: 104, 123–161), Dardano/Trifone (1995: 184, 188– 189), Renzi/Salvi/Cardinaletti (2001: 331), → C4.2.6.  

Der – gesamtslawisch gültige – Kern des polnischen Genussystems ist das indoeuropäische abstrakte Genus mit den Kategorien Maskulinum, Femininum, Neutrum, wie es sich etwa in den Nominativ-Singular-Flexiven kongruierender Einheiten ausdrückt (im Schema unten exemplarisch durch das Possessivdeterminativ der 1. Person). Das System zeigt deutlich ein abgestuftes Verhältnis der Genera: Maskulinum und Neutrum teilen im Singular viele Formen miteinander (die Flexionsformen kongruierender Einheiten fallen in allen indirekten Kasus zusammen), sie stehen so gemeinsam dem Femininum gegenüber.

Abb. 8: Struktur des polnischen Genussystems  

Weitere Kongruenzklassen entstehen durch Formdifferenzierungen innerhalb des maskulinen Paradigmas; sie konstituieren ein Subgenussystem, das von Kategorien des konkreten Genus bestimmt ist, und zwar Belebtheit und Personalität. 1.

Belebtheit. Bezugseinheiten von Maskulina, die Lebewesen (Menschen, Tiere, auch „niedere“ wie Vögel, Fische, Insekten) denotieren, nehmen im Akkusativ Singular die Form des Genitivs an, bei unbelebten Denotaten fällt dagegen der Akkusativ mit dem Nominativ zusammen (sog. ‚differentielle Objektmarkierung‘, s. auch → B2.2.6, → B2.4.2.3.3, → C5.3.2.4). Im Prinzip gilt dies auch für die Substantive selbst; hier ist genauer zu formulieren, um auch den Maskulina auf

823

B2 Kategorisierungen

-a (kolega, poeta) Rechnung zu tragen, die im Akkusativ Singular eine eigene Form (nach dem femininen Flexionsmuster) haben: Es gilt AKK =GEN bei Belebtheit, wenn die Flexionsklasse keine vom Nominativ verschiedene Akkusativform enthält (Panzer 1999: 197 f.). Adnominale Einheiten bei diesen a-Maskulina erhalten aber in jedem Fall die Genitivform im Akkusativ, also z. B. AKK SG mojego kolegę ,meinen Kollegen‘. Durch die unterschiedliche Kasusform EN vs. AKK =NOM ) teilen sich die Maskulina in die beiden Subklassen M +bel (AKK =GGEN (bzw. als Bezeichnung für das entsprechende Subgenus: MANIM für ,Maskulina animata‘) und M –bel (bzw. MINAN für ,Maskulina inanimata‘) auf; vgl. die derselben Flexionsklasse angehörenden Substantive kot ,Katze‘ und krawat ,Krawatte‘ in Verbindung mit dem Possessivdeterminativ ,mein‘ weiter unten. Der funktionale Sinn der besonderen Kasusmarkierung für belebte Denotate erklärt sich aus der prototypischen Verteilung semantischer Rollen und ihrer Kodierung: Um zu verdeutlichen, dass ein belebter Gegenstand nicht in der für ihn typischen Rolle des Agens (kodiert als Subjekt im Nominativ), sondern in einer ObjektRolle steht, wird anstelle der Akkusativ-Nominativ-Form die Form des Genitivs (eines im Slawischen typischen Objektkasus) gewählt (Hentschel 1999: 267). Personalität. Bezugseinheiten von Maskulina, die Personen denotieren, und diese Substantive selbst erhalten im Plural ein eigenes Nominativflexiv und nehmen im Akkusativ die Genitivform an; die Kongruenzformen für nicht-personale Maskulina sind mit den im Plural genusundifferenzierten Formen aller übrigen Substantive identisch (vgl. → B2.2.1). Als Beispiel für die so konstituierten Subklassen der ‚Maskulina personalia‘ (M +pers) und der ,Maskulina impersonalia‘ (M –pers) werden hier die relevanten Formen der Maskulina syn ,Sohn‘, kot ,Katze‘, krawat ‚Krawatte‘ wiedergegeben.  



2.

POL

SG

M +bel

M –bel

NOM

mój kot

AKK GEN

PL

M +pers

M –pers

mój krawat

moi synowie

moje koty/krawaty

mojego kota

mój krawat

moich synów

moje koty/krawaty

mojego kota

mojego krawata

moich synów

moich kotów/krawatów

Die Kategorisierung nach Belebtheit und Personalität ergibt zusammengeführt folgendes System der maskulinen Subgenera:

824

B Wort und Wortklassen

Abb. 9: System der maskulinen Subgenera im Polnischen  

Diese Ordnung mit [+/−bel] als erster Klassifikation und der nachgeordneten Unterscheidung [+/−pers] entspricht der Struktur des konkreten Genus (vgl. oben, Abb. 4) und der historischen Entwicklung im Polnischen (Urbańczyk 1992: 287); es gibt jedoch keine eingeführten Termini für die terminalen Klassen. Die traditionelle Terminologie (vgl. z. B. Urbańczyk 1992: 285; Laskowski 1999b: 208; Engel et al. 1999: 708, 754) unterscheidet zwischen ,maskulin-personal‘ (POL męskoosobowy), ,maskulin-belebt‘ (POL męskożywotny) und ,maskulin-unbelebt‘ (POL męskonieżywotny) und legt damit eher eine umgekehrte Hierarchie der Kategorien des konkreten Genus nahe: Die [+/–personal]-Unterscheidung ist höher als die [+/–belebt]. Letztere zweigt sich wiederum von [–personal] ab. Diese Ordnung lässt sich damit rechtfertigen, dass die Unterscheidung nach Personalität formal stärker hervorgehoben ist: Personale Maskulina werden durch eine eigene Flexionsform gekennzeichnet, während bei Belebtheit nur auf eine bereits im Paradigma vorhandene andere Form zurückgegriffen wird. Eine hierarchisierte Gesamtschau des polnischen Genussystems, in der die Unterscheidung zwischen abstraktem und konkretem Genus und die nach Numerus „aufgehoben“ ist, bietet Przepiórkowski (2003: 114).  



Im Deutschen ist die Ermittlung der Anzahl der Genera anhand von Kongruenzklassen eher unproblematisch. Alle adnominalen Bezugseinheiten des Substantivs haben (im Singular) ein dreiteiliges Flexionsparadigma (wenn auch mit zahlreichen Synkretismen); als Beispiel das Paradigma des Demonstrativdeterminativs dies- mit den üblichen Kategorien:

DEU

M

N

F

NOM

dies-er

dies-es

dies-e

AKK

dies-en

dies-es

dies-e

GEN

dies-es

dies-es

dies-er

DAT

dies-em

dies-em

dies-er

Je nachdem, mit welchen Kolumnen-Formen ein Substantiv verbunden wird, ist es als Maskulinum, Neutrum oder Femininum klassifiziert.

825

B2 Kategorisierungen

Es gibt verschiedentlich Überlegungen, ein weiteres Genus für das Deutsche anzusetzen: Eisenberg (2000: 95 ff.) schlägt vor, die schwachen Maskulina (Held, Bote) als viertes Genus („Generikum“) zu etablieren, da sie andere Flexionsformen als die übrigen Maskulina („Restmaskulinum“) haben und eine eigene semantische Klasse bilden. Eine so bestimmte Substantivklasse erfüllt jedoch nicht die Hauptgenusbedingung, die Manifestation in eigenen Kongruenzformen: Bezugseinheiten schwacher Maskulina unterscheiden sich in nichts von denen anderer Maskulina. Nach älteren Vorschlägen kann der Plural als „neutralisiertes“ Genus den übrigen drei Genera an die Seite gestellt werden (z. B. Seiler 1967: 65). Dem ist die Forderung nach disjunkter Verteilung der Substantive entgegenzuhalten: Jedes Substantiv (außer Singularia- und Pluraliatantum, → B2.3.3.3) wäre bei dieser Annahme systematisch zweifach genusklassifiziert. Auch in der neueren Flexionsmorphologie wird der Plural als Repräsentant von Genuslosigkeit bzw. fehlender Genusdifferenzierung mit den Genuskategorien in Zusammenhang gebracht (vgl. z. B. B. Wiese 1996; Müller 2002), er bleibt dabei aber eine Numeruskategorie.  







Die Relation der Genera erschließt sich aus dem Flexionsparadigma der kongruierenden Einheiten und dem des Substantivs selbst. Die Kasusflexion von Bezugseinheiten ist durchgängig von dem Zusammenfall der Genitiv- und Dativformen im Maskulinum und Neutrum geprägt, bei bestimmten Determinativen (ein, kein, mein usw.) lautet darüber hinaus auch der Nominativ in diesen Genera gleich; das Femininum hat keine mit den beiden anderen Genera gemeinsame Form. Die engere Beziehung zwischen Maskulinum und Neutrum gegenüber dem Femininum wird durch die Substantivflexion gestützt; sie zeigt sich vor allem in der – für Feminina ausgeschlossenen – Möglichkeit, den Genitiv Singular mit -(e)s und den Plural mit -er zu bilden. Bei der Pluralbildung teilen sich auch Maskulina und Feminina bestimmte Formen (-e und -(e)n) mit umgekehrter Markiertheit (vgl. Wegener 1995: 25 ff.; Eisenberg 2013a: 159). Neutra und Feminina weisen dagegen kaum gemeinsame Pluralmarker auf (→ C4.2.5). Das Deutsche ist somit ein typischer Vertreter des indoeuropäischen Genussystems, das beide Klassifikationsstufen realisiert:  

Abb. 10: Struktur des deutschen Genussystems  

Zu fast 100% gehören die Substantive jeweils genau einem der drei Genera an: Ein Exkurs über deren Häufigkeitsverteilung ist in Hoberg (2004: 81–84) zu finden. Nur wenige Substantive – 0,9% der im Duden-Universalwörterbuch (1989) verzeichneten – werden mit zwei, in Ausnahme-

826

B Wort und Wortklassen

fällen drei Genera verwendet. Eine Liste solcher Substantive mit „schwankendem“ Genus enthält z. B. die Duden-Grammatik (2009: 223–248). Überwiegend variiert das Genus zwischen M und N , selten zwischen M und F , kaum aber zwischen F und N (Eisenberg 2013b: 133). Ein anderes Phänomen sind Substantive mit doppeltem Genus (der/die Kiefer), bei denen das Genus bedeutungsdifferenzierend wirken kann.  

In der folgenden Übersicht ist zusammengestellt, wie die Hauptparameter, nach denen sich die Struktur des nominalen Genussystems bestimmt, im Deutschen sowie den oben erwähnten europäischen Kontrastsprachen belegt sind. Tab. 3: Struktur des Genussystems in den Vergleichssprachen ENG

NDL, SWE, NOR, DÄN

FRA, ITA, SPA

RUM

DEU

realisierte Stufe(n) des abstrakten Genus

NonNeutrum / Neutrum

Non-Femininum / Femininum

Non-Femininum / Femininum, Non-Neutrum / Neutrum

Anzahl der Genera

2

2

3

3

Subgenera

RUS

POL

3

M +bel, M -bel M +pers

B2.2.4 Genuszuweisung und morphologische Struktur des Substantivs Korrelationen zwischen Genus und morphologischem Bau zeigen vor allem komplexe („wortgebildete“) Substantive. Wortbildung hat oft eine genusdeterminierende Wirkung; bei kombinatorischen Verfahren (Komposition, Derivation) gilt generell das Kopfprinzip, das heißt: Die Konstituente, die den Kopf der nominalen Konstruktion bildet, legt das Genus fest. Im Bereich der Komposition sind unter dem Genusaspekt in erster Linie Komposita aus zwei (oder mehr) Substantiven von Interesse, da es in der Regel nur hier fraglich sein kann, welcher Bestandteil das Determinatum ist und damit als Kopf das Genus des zusammengesetzten Substantivs festlegt. Die Position des Kopfes variiert in den einzelnen Sprachen, z. T. auch innerhalb einer Sprache: Er kann als (äußerste) linke oder (äußerste) rechte Konstituente stehen. Das Deutsche erweist sich in dieser Hinsicht als sehr konsequent. Trotz der komplexen Struktur, die Substantivkomposita aufweisen können, ist ihr Genus einfach ableitbar: Die letzte – äußerste rechte – Konstituente bildet, gleich wie die Teile im Einzelnen angebunden werden, den Kopf der Konstruktion und bestimmt damit das Genus des zusammengesetzten Substantivs. So ist z. B. das Kompositum HausN türF schlüsselM maskulin, weil die äußerste rechte Konstituente, Schlüssel, maskulin ist. Die  



827

B2 Kategorisierungen

Genuszuweisung nach dem Kopfprinzip gilt für appellativische Komposita absolut; teilweise findet sie sich sogar bei Eigennamen – die ihr Genus im Allgemeinen nicht nach formalen Prinzipien erhalten. So werden etwa zusammengesetzte Bergnamen noch kompositional verstanden und entsprechend mit dem Genus ihrer Kopfkonstituente verwendet (die Wasserkuppe, das Nebelhorn), für Ortsnamen (Ludwigshafen, Regensburg) gilt das nicht (→ B1.4.3.7). In den Kontrastsprachen Französisch und Polnisch ist Komposition weniger verbreitet als im Deutschen. Im Französischen sind Komposita meist linksköpfig, d. h., die äußerste linke Konstituente bestimmt das Genus des Kompositums, wie in ((cigaretteF )-filtreM )F ‚Filterzigarette‘ oder ((timbreM )-posteF )M ‚Briefmarke‘. Maskulin sind in der Regel Komposita aus einer verbalen mit einer substantivischen Konstituente wie ((lave)-vaisselleF )M ‚Spülmaschine‘. Im Polnischen sind Komposita wie im Deutschen generell rechtsköpfig, wie in beczkowózM ,Tankwagen‘, aus beczkaF ,Fass, Tonne‘ und wózM ,Wagen‘. Im Bereich der Derivation sind in den europäischen Sprachen fast ausschließlich Suffixe genusrelevant; Präfixe haben als Modifikatoren in der Regel keinen Einfluss auf das Genus. Das (letzte) Suffix bildet den Kopf der Ableitung, der die Kategorie des Wortes und damit – im Fall von Substantiven – in der Regel das Genus festlegt, vgl. (8). Zu einer detaillierten Darstellung der genusdeterminierenden Wirkung von Suffixen in den Vergleichssprachen s. Hoberg (2004: 35–41, 85–89).  

(8)

a. Eigen-schaftF – Eigen-tumN b. jardin-ageM ,Gartenarbeit‘ – jardin-ièreF ,Gärtnerin‘ c. pracow-nikM ,Arbeiter‘ – pracow-niaF ,Arbeitsraum‘

Auch bei der Konversion zeichnen sich übereinzelsprachlich gültige Tendenzen ab: So bestehen bei der substantivischen Verwendung von Elementen anderer Wortklassen Korrelationen zwischen dem Genus und der Basis der Konversion. Im Französischen ist Konversion meist mit dem Maskulinum verbunden; Schwankungen sind z. B. bei der Nominalisierung von Verbformen zu verzeichnen (bleu → le bleu, pourquoi ‚warum‘ → le pourquoi ,das Warum‘, accueillir ,empfangen‘ → l’accueilM ,der Empfang‘, aber: chasser ,jagen‘ → la chasse ,die Jagd‘). Ähnlich ist die Situation bei Verbstammkonversion im Polnischen: Sie führt weit überwiegend zu maskulinem, zu einem geringeren Teil zu femininem Genus (biegać ,laufen‘ → bieg ,der Lauf‘ gegenüber dostawać ‚bekommen‘ → dostawa ,die Lieferung‘); Elemente anderer Wortklassen werden in nominaler Verwendung meist als Neutra behandelt: to wieczne dlaczego ‚dieses ewige Warum‘, wielkie halo ,großes Hallo‘. Auch im Deutschen spielen Verben eine besondere Rolle: Sie können teilweise als Stamm (bei starken Verben häufig mit Vokalwechsel verbunden: werf- → Wurf) und immer in der Infinitivform nominalisiert werden – im ersteren Fall werden sie in der Regel zu Maskulina (lauf- → der Lauf), im letzteren zu Neutra (laufen → das Laufen). Elemente anderer Wortarten erhalten wie im Polnischen bei Konversion das Genus Neutrum: das Wenn und Aber, das Rot, das Ich, usw.  



828

B Wort und Wortklassen

Kurzformen weisen im Deutschen in aller Regel das Genus der Vollform bzw. im Fall von Nominalphrasen das Genus des Kopfes der NP auf. So ist z. B. LKW (aus Lastkraftwagen) maskulin, Kripo dagegen feminin (aus Kriminalpolizei). Dasselbe gilt für das Französische (Thiele 1993: 99), wie in la fac (aus la faculté) oder le TGV (aus trainM à grande vitesse) zu sehen ist. Im Polnischen können akronymische Kurzformen entweder das Genus des Kopfes der NP behalten oder zu Neutra werden (Swan 2002: 120). Als möglicher Kandidat für morphologische Genuszuweisung könnte auch die Flexionsklassenzugehörigkeit des Substantivs in Betracht gezogen werden; hier bestehen unterschiedliche Auffassungen über die Richtung der Beziehung Genus – Flexionsklasse: Vgl. hierzu die Ausführungen in Hoberg (2004: 42–45, 91–95) und Scheibl (2008: 59–63) und die dort enthaltenen Literaturhinweise sowie → C4.2.5.2. Zur Aussagekraft morphologischer Regeln der Genuszuweisung – insbesondere im Deutschen und Französischen – nimmt Schwarze (2008) eine kritische Stellung ein: Einerseits stellen wortgebildete Substantive nur einen (überschaubaren) Teil des Wortschatzes dar; andererseits „muss man z. B. […] das Genus des entsprechenden Kompositionsmitgliedes kennen, um das Genus des gesamten Kompositums richtig bestimmen zu können“ (ebd.: 124). Es scheint also naheliegend, andere Parameter heranzuziehen, um ggf. zu aussagekräftigeren Regularitäten bei der Genuszuweisung zu kommen: Dies wird in den nächsten beiden Abschnitten versucht.  



B2.2.5 Genuszuweisung und phonologische Struktur des Substantivs Korrelationen zwischen lautlichen Eigenschaften der Substantive und ihrem Genus können in verschiedener Hinsicht bestehen, z. B. hinsichtlich der Akzentposition (Corbett 1991: 51 f.), der Silbenzahl oder der Silbenstruktur. Im europäischen Rahmen ist vor allem der Zusammenhang zwischen Genus und Wortauslaut in den 1970er und 1980er Jahren statistisch untersucht worden. Man geht dabei von der Nennform (citation form) aus, die allerdings in den einzelnen Sprachen einen unterschiedlichen morphologischen Status haben kann: Ein Substantiv mit dem Endphonem /a/ kann z. B. den reinen Stamm repräsentieren (wie in FRA cas /ka/), es kann – wie im Spanischen (luna) – der um einen Themavokal erweiterte Stamm oder – wie im Polnischen (żon-a) – ein flektierter Stamm sein. Für das Französische zeigt Corbett (1991: 57 ff.), dass das Genus der großen Mehrheit der Substantive (rund 85%) anhand des Auslauts „vorhersagbar“ ist: Z. B. sind über 90% der auf /ʒ/ endenden Substantive Maskulina. Besonders starke Tendenzen zu einem der beiden Genera zeigen Substantive mit vokalischem Auslaut; in einigen Fällen kann die Validität der Regel beträchtlich erhöht werden, wenn außer dem letzten auch das vorletzte (und eventuell vorvorletzte) Phonem berücksichtigt wird. In anderen romanischen Sprachen wie etwa dem Spanischen ist ein großer Teil der Substantive durch die vokalischen Auslaute -o (banco, centro, libro ,Buch‘) und -a  









829

B2 Kategorisierungen

(guerra ,Krieg‘, luna ,Mond‘, mesa ,Tisch‘) als maskulin bzw. feminin bestimmt, sieht man von einigen (historisch bedingten) Ausnahmen (wie manoF ,Hand‘, díaM ,Tag‘) und vor allem von den auf -a auslautenden Personenbezeichnungen ab, die ein genus commune haben (M / F : colega, artista). Der Auslaut -e ist überwiegend mit dem Maskulinum (coche ,Wagen‘, nombre ,Name‘, puente ,Brücke‘) verbunden; konsonantische Auslaute korrelieren unterschiedlich stark mit beiden Genera. Vgl. hierzu Teschner/ Russell (1984) und, mit ergänzenden Literaturhinweisen, Schwarze (2008: 125 f.). Auch im Polnischen ist der Zusammenhang von phonologischer Struktur und Genus besonders evident bei vokalischem Auslaut. Substantive auf -a (chata ,Hütte‘, dusza ,Dusche‘, ziemia ,Erde‘) haben – mit Ausnahme von Personenbezeichnungen wie kolega, artysta – feminines Genus; die Auslautvarianten -o/-e (und selten: -ę; z. B. miasto ,Stadt‘, pole ,Feld‘, szczenię ,Welpe‘) sind – wiederum mit nur wenigen semantisch motivierten Ausnahmen wie książę ‚Fürst‘ – mit dem Neutrum verbunden. Konsonantisch auslautende Substantive verteilen sich auf Feminina und Maskulina. Von erheblicher Bedeutung ist dabei die im Polnischen zentrale Opposition von palatalen („weichen“) und nicht-palatalen („harten“) Konsonanten (Bartnicka et al. 2004: 62). Mit nicht-palatalem Endkonsonanten ist nahezu ausnahmslos maskulines Genus (dom ,Haus‘, kot ,Katze‘, las ,Wald‘) verbunden; nur einige wenige Substantive auf -w (brew ,Augenbraue‘, krew ,Blut‘) sind feminin. Die Genusverteilung bei Substantiven mit palatalen Endkonsonanten scheint dagegen mehr oder weniger arbiträr zu sein. Untersuchungen zum Zusammenhang von Genus und phonologischer Struktur im Deutschen konzentrieren sich auf monomorphematische – in der Regel einsilbige – Substantive; vgl. hierzu Altmann/Raettig (1973), Köpcke (1982), Köpcke/Zubin (1983, 1984, 1996). Nach Köpcke/Zubin (1984) tendiert Konsonantenhäufung im Silbeneinsatz (Spross, Strumpf) oder in der Koda (Scherz, Herbst) stark zu maskulinem Genus, ebenso die Anlaute/Silbeneinsätze /kn/ (Knall, Knick) und /ʃ/+Konsonant (Schlaf, Schmerz, Stab). Für Maskulina typische Silbenausgänge sind – auch in Verbindung mit einem anderen Konsonanten – /m/, /n/, /ŋ/ (Baum, Ton, Gang) und /ʃ/ (Busch, Mensch), während die Kombination /f/, /x/ + /t/ mehrheitlich mit dem Femininum verbunden ist (Luft, Nacht). Zusammen betrachtet müssen die Regeln zum Zusammenhang von phonologischer Struktur und Genus im Deutschen allerdings als relativ schwach gelten: Sie erfassen teilweise nur wenige Substantive, oder es sind zu viele Ausnahmen zu verzeichnen. Vor allem aber weisen mit einer Ausnahme alle formulierten Einzelregeln Maskulinum zu; sie führen damit nicht über die generelle Regel hinaus, dass einfache Substantive tendenziell (zu zwei Drittel) maskulines Genus haben (vgl. Wegener 1995; Hoberg 2004: 81–84). Die konsonantenreichen Einsilber repräsentieren den historischen Kernbestand des nominalen Wortschatzes, nicht wenige von ihnen sind das Produkt der Konversion von Verbstämmen (Gang, Knick, Schlaf; vgl. → B2.2.4); daraus erklärt sich der hohe Anteil von Maskulina unter ihnen. Die für die Kontrastsprachen aufgestellten Auslautregeln basieren nicht nur auf reinen – im Allgemeinen einsilbigen – Stämmen, sondern zu einem erheblichen Teil auch auf flexions- und derivationsmorphologisch bestimmten Substantivformen. Da 



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B Wort und Wortklassen

raus erklärt sich die hohe Validität vieler der phonologischen Regeln, z. B. der für -a/-o-Substantive im Spanischen und Polnischen. Auch das durch Derivationssuffixe zugewiesene Genus ist in den Auslautregeln fast vollständig (im Polnischen mehr als im Französischen) reflektiert. Die phonologischen Regularitäten können somit in diesen Sprachen als Generalisierungen von morphologischer Genuszuweisung gelten. Dies gilt auch für das Deutsche, wo sich diejenigen Korrelationen, die als relativ valide gelten können, letztlich als morphologisch begründet erweisen – wenn auch nicht so offensichtlich wie in bestimmten romanischen und slawischen Sprachen mit ihrer overteren Flexionsmorphologie.  

B2.2.6 Genuszuweisung und Semantik des Substantivs B2.2.6.1 Belebtheit, Personalität, Sexus Korrelationen zwischen Genus und Semantik des Substantivs werden ermittelt, indem das ‚abstrakte‘ (d. h. formale, lexikalische) Genus zu dem ‚konkreten‘ (d. h. semantischen, referentiellen) Genus in Beziehung gesetzt wird (zur Struktur des konkreten Genus s. Abbildung 4 oben). Originär manifestiert sich diese semantische Kategorisierung bei pronominaler Bezugnahme; Beispiele:  







Zwischen Belebtheit und Unbelebtheit des Referenten wird z. B. beim Personalund Possessivpronomen im Dänischen und Schwedischen unterschieden (h- vs. d-Formen, vgl. Abbildung 2 oben). Nach Personalität ist in fast allen europäischen Sprachen das Interrogativpronomen (DEU wer/was) sortiert. Der Sexus (das biologische Geschlecht) des Sprechers/Adressaten ist (in Sätzen mit deiktischem Personalpronomen in Subjektposition) entscheidend, wenn das Genus an prädikativen Ausdrücken markiert wird (vgl. FRA je suis heureux/ heureuse, POL (ja) jestem szczęśliwy/szczęśliwa ,ich bin glücklich‘).  



– –

Welche Entitäten jeweils unter die Kategorien fallen (und grammatisch entsprechend behandelt werden), ist nicht rein naturwissenschaftlich-biologisch bestimmt. Die Grenzen zwischen Belebtheit (animacy) und Personalität (humanness) sind fließend, und auch das Sexusprinzip („Prinzip des natürlichen Geschlechts“), nach dem [männlich] als M und [weiblich] als F kodiert wird, gilt bei weitem nicht durchgängig. Das Genus-Sexus-Verhältnis ist seit jeher – vgl. den historischen Überblick in Fischer (2005: 56–59) und Schwarze (2008: 133–139) – und in letzter Zeit vor allem infolge feministischer Sprachkritik intensiv diskutiert worden: Zu den unterschiedlichen Positionen siehe Schwarze (ebd.: 181–262) und die Beiträge in Sieburg (Hg.) (1997). Grammatisch relevant ist, welche Verfahren der Sexusspezifizierung und -neutralisierung in einer Sprache grundsätzlich zur Verfügung stehen; ihr tatsächlicher (der-

B2 Kategorisierungen

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zeitiger) Gebrauch, sprachpolitische Empfehlungen, staatliche Regelungen usw. bleiben hier weitgehend ausgeklammert (vgl. zu den einzelnen Vergleichssprachen die Beiträge in Hellinger/Bußmann (Hg.) 2001–2003). Der Bereich unbelebter Entitäten ist im System des konkreten Genus nicht weiter untergliedert; trotzdem gibt es für alle Vergleichssprachen Versuche, auch hier semantische Motive für die Genusverteilung zu finden. Vor allem in anwendungsbezogenen Darstellungen werden Denotatbereiche aufgelistet, die mit einem bestimmten Genus verbunden sind (z. B. ‚Automarken sind im Deutschen maskulin / im Französischen feminin‘). Welcher Art diese Denotatklassen sind und wie sie zu dem jeweiligen Genus kommen, bleibt jedoch meist unklar. Bei Eigennamen erweist sich Genus vielfach als primär formbestimmt; in anderen Fällen beruht es auf „concept association“ (Corbett 1991: 16), das heißt genauer: Die Genuszuweisung folgt dem „Leitwortprinzip“ (Wegener 1995) bzw. „BasicNoun principle“ (Fraurud 2000: 181), das besagt, dass das Namen-Substantiv das Genus des klassenbildenden Oberbegriffs übernimmt (deshalb DEU der Fiat < WagenM , FRA la Peugeot < voitureF ).  

Neuere Arbeiten, insbesondere zum Deutschen, sehen die semantische Funktion von Genus in einer quantitativen Perspektivierung nominaler Referenten. Den Genera werden „kategoriale Bedeutungen“ (Leiss 1997: 43) zugeschrieben, die, ausgehend von der Individuativ/KontinuativDichotomie, unterschiedlich gefasst werden: M ist in diesem Konzept das typische Genus für countability; F und N verteilen sich – mit unterschiedlichen Zuordnungen – auf Abstrakta, Kollektiva und Massennomina (Froschauer 2003; Leiss 2005: 12–17 und Literaturverweise darin). Die z. T. ziemlich spekulative Etablierung von Genusbedeutungen trägt wenig zu einer allgemein akzeptierbaren semantischen Nomenklassifikation bei (vgl. zu der diversifizierten Begrifflichkeit in diesem Bereich Thieroff 2000b: 38 ff.); auch die historische Herleitung der Perspektivierungsfunktion aus für das Indoeuropäische angenommener Genusvariabilität des Nomens – wie in Leiss (1997) und Leiss (2000) dargestellt – kann nicht überzeugen (zu möglichen Interpretationsfehlern bei der Datenauswertung vgl. auch Schwink 2004: 66–68). Fragwürdig erscheint aber vor allem der Grundansatz, dass Genus eine eigenständige, übereinzelsprachlich gültige Bedeutung bzw. Funktion hat, die der Substantivbedeutung hinzugefügt wird, wie es bei der Numerus- und Kasus-Kategorisierung der Fall ist. Zu ähnlichen Schlüssen kommt auch Schwarze (2008: 76–86), die die einschlägige Literatur kritisch auswertet: Die Frage nach den Funktionen von Genus lässt sich – zumindest übereinzelsprachlich – nicht endgültig beantworten, da „die Funktionalität der Genuskategorie [im syntaktischen] ebenso wie im lexikalischen Bereich je nach Einzelsprache unterschiedlich ausfällt“ (ebd.: 86). Bezeichnenderweise werden außerdem die Genusbedeutungen in erster Linie an derivierten Substantiven gewonnen; es scheint, dass hier die primäre Leistung des Derivationssuffixes auf das sekundär mit ihm gegebene Genus übertragen wird.  



Genus kann – in bestimmten Bereichen – Substantivbedeutungen bündeln; weder leistet es damit einen Beitrag zur Bedeutung des einzelnen Substantivs, noch lässt sich daraus eine allgemeine Bedeutung der Genera ableiten. Eine gewisse Rolle mag Genus bei der Auflösung von Homonymien spielen: Verschiedenes Genus signalisiert, dass jeweils verschiedene Gegenstandsklassen denotiert werden, z. B. DEU der/das Tau, FRA le voile ‚der Schleier‘ / la voile ,das Segel‘. Substantivbedeutungen werden allerdings nicht immer auf diese Weise differenziert (vgl. z. B. DEU Bank, Schloss). Das Phänomen wird hier nicht weiter verfolgt und für die einzelnen Sprachen dokumentiert; Listen von homonymen Substantiven mit unterschiedlichem Genus finden sich in allen Grammatiken.  



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B Wort und Wortklassen

Betrachtet man nun die Korrelationen zwischen Genus und Substantivbedeutung im Deutschen und in den Kontrastsprachen, ergibt sich folgendes Bild. Das Englische hat, wie bereits erwähnt, kein durch NP-interne Kongruenz ausgewiesenes grammatisches Substantivgenus, aber ein semantisch bestimmtes pronominales Genus, das am weitesten ausgebildet in dem Personalpronomen der 3. Person Singular he, she, it (und den darauf basierenden Possessiv- und Reflexivpronomen) vorliegt (→ B2.2.2). Da dieses Pronomen prototypisch anaphorisch verwendet wird, ist zu klären, welche Antezedentien es jeweils haben kann und welche Substantivklassen damit konstituiert werden. Am ausführlichsten wird auf diese Frage in Huddleston/ Pullum (2002: 484–495) eingegangen. Die Verwendung von he, she, it gemäß dem biologisch basierten konkreten Genus (he/she für männliche/weibliche Lebewesen, it für unbelebte Entitäten) kann in zwei Richtungen ausgedehnt werden: Einerseits wird it für den Bezug auf Belebtes gebraucht, und zwar für bestimmte menschliche (baby) und alle Arten von tierischen Lebewesen; die Wahl von it zeigt dann an, dass die Sexusspezifizierung dem Sprecher nicht möglich oder unwichtig ist, wie in (9). It wird in der Regel bei „niederen“ Tieren (wie z. B. ant ,Ameise‘, beetle ‚Käfer‘, frog ,Frosch‘) benutzt, die „personalen“ Pronomina sind eher gebräuchlich bei „höheren“ Tieren, insbesondere bei den „menschenrelevanten“ Haus- und Nutztieren.  



(9) ENG

The dog looked as if he/she/it needed a good brush. ,Der Hund sah aus, als müsste er gut abgebürstet werden.‘

Andererseits kann she mit Bezug auf unbelebte Entitäten stehen; dieser Gebrauch ist mehr oder weniger konventionalisiert bei Schiffen und anderen Fahrzeugen (z. B. Autos, Flugzeugen) und bei Ländern, verstanden als politische/kulturelle/ökonomische (nicht rein geographische) Einheiten (Huddleston/Pullum 2002: 488). Weiteres zum Gebrauch von he/she für unbelebte Denotate sowie einschlägige Literaturhinweise sind in Duke (2009: 226 f.) zu finden. Der Gebrauch von he, she, it bildet die Grundlage für eine semantische Klassifikation der Substantive: Je nachdem, mit welchem der (ana)phorischen Pronomina ein Substantiv ausschließlich oder alternativ kompatibel ist, gehört es einer unterschiedlichen Klasse an. Huddleston/Pullum (2002: 490 f.) unterscheiden bis zu sieben Klassen: Drei davon enthalten Substantive, auf die durch eine einzige pronominale Form Bezug genommen werden kann. Drei weitere Klassen enthalten Substantive, auf die durch zwei pronominale Formen Bezug genommen werden kann: Entweder durch he/ she, wie bei doctor, friend – also Personen beiderlei Geschlechts – oder durch he/it, wie bei bull, cock (d. h. lexikalische Bezeichnungen für männliche Tiere), oder durch she/ it, wie bei cow, car, country, ship – d. h. Bezeichnungen für weibliche Tiere sowie Substantive, die nicht-personale, aber konventionell „personifizierbare“ Entitäten bezeichnen. Die letzte Klasse bilden Substantive, auf die durch alle drei Formen Bezug genommen werden kann: Diese sind sexusneutrale Bezeichnungen für Tiere und junge Menschen wie baby, child, dog, elephant, goat, horse, infant. Dabei werden he bzw. she  









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B2 Kategorisierungen

dem impersonalen it vorgezogen, wenn der Sexus bekannt ist oder überhaupt eine „personale“ Beziehung signalisiert werden soll (wobei sich der Sprecher im Sexus durchaus irren kann). Bezug durch mehrere Pronomina erfolgt auch bei indefinitpronominalen Antezedentien wie everyone, nobody (durch s/he bzw. they) sowie Kollektivbezeichnungen wie company, family, committee (durch it bzw. they): Näheres dazu in → B1.5.2.10. Die auf dem Gebrauch der anaphorischen Pronomina beruhende semantische Substantivklassifikation im Englischen zeigt, dass Belebtheit und Sexus (natural gender) als Klassifikationskriterien überlagert werden von anderen Salienzparametern, vor allem soziokulturellen Wertungen (social gender) und subjektiv-affektiven Einstellungen (psychological/metaphorical gender). Zum Thema vgl. u. a. Wiese (1983), Baron (1986), Hellinger (1990), Morris (2000) sowie Schwarze (2008: 176 f.). In den skandinavischen Sprachen, die zwei Substantivgenera (Utrum/Neutrum) unterscheiden, macht die Kategorisierung nach Belebtheit den semantischen Kern des abstrakten Genus aus. Beide Genera enthalten Bezeichnungen für belebte und unbelebte Entitäten, jedoch mit einer charakteristischen Verteilung: Fast alle Substantive, die (männliche oder weibliche) Personen denotieren (z. B. SWE kvinna ,Frau‘, fader ‚Vater‘, lärare ,Lehrer‘), und die Mehrheit der Tierbezeichnungen haben das Genus Utrum. Nach Sexus wird im pronominalen, nicht aber im nominalen Bereich differenziert, so dass Personenbezeichnungen – von den lexikalisch sexus-spezifischen abgesehen – generell sexusneutral zu interpretieren sind (zu Ausnahmen vgl. Hornscheidt 2003: 348 f.). Bestrebungen, dies (z. B. mit Wortbildungsmitteln) sprachpolitisch zu ändern, waren besonders in den 1960–1970er Jahren zu spüren, lassen jedoch heutzutage wieder nach (Hornscheidt 2003: 354–361; Jobin 2004: Kap. 3). Im Bereich der pronominalen Referenz wird den im Schwedischen oft auch zum Zwecke der (genusneutralen) Wiederaufnahme von Personenbezeichnungen verwendet (Hornscheidt 2003: 351, 357). Umgekehrt kann im Schwedischen und im norwegischen Bokmål – wie im Englischen – gelegentlich auch auf unbelebte Gegenstände durch die belebten Pronomina han/hon referiert werden (Hornscheidt 2003: 352; Duke 2009: 14). Im Französischen steht bei Personenbezeichnungen die Kategorisierung nach Sexus im Vordergrund, obwohl es relativ viele sexusneutrale (also allgemein auf Personen referierende) Substantive gibt (vgl. → B2.2.6.2). Das Genus namenartiger Substantive ist dagegen größtenteils formbestimmt. Nach morphophonologischen Eigenschaften des Substantivs richtet sich das Genus von geografischen Namen, d. h. Namen für Länder, Regionen, Flüsse; sie sind, wenn sie auf -e auslauten, in der Regel feminin: Vgl. etwa la France gegenüber le Brésil (→ B1.4.3.7). Mit dem Leitwortprinzip lässt sich das Genus bei verschiedenen Gruppen von Denotatklassen erklären, wie etwa Monatsnamen (un janvier froid ,ein kalter Januar‘ < moisM ,Monat‘), Bezeichnungen für Automarken (une nouvelle Peugeot ,ein neuer Peugeot‘ < voitureF ,Auto‘) und Sortenbezeichnungen, z. B. für Käse, Wein (le Bourgogne < vinM ,Wein‘). Im Polnischen haben alle drei Kategorien des konkreten Genus – Belebtheit, Personalität und Sexus – Auswirkungen auf das abstrakte Substantivgenus. Die Klassifikation der Substantive nach Belebtheit stammt aus gemeinslawischer Zeit; sie  













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B Wort und Wortklassen

war auf Maskulina beschränkt und wurde nur im Singular markiert: Der Akkusativ fiel bei Belebtheit mit dem Genitiv, bei Unbelebtheit mit dem Nominativ zusammen. Das Polnische hat diesen alten Sprachstand bewahrt: Nur bei maskulin klassifizierten Substantiven wird nach Belebtheit bzw. Unbelebtheit des Referenten unterschieden; Feminina und Neutra fallen damit per se unter die semantische Kategorie [–bel], wie in (10a) vs. (10b) zu sehen ist. Nur bei dem belebten Maskulinum in (10a) wird bei Akkusativrektion die mit dem Genitiv identische Form von ten gesetzt; bei den anderen Substantive stehen (10b) jeweils die für den „unbelebten“ Bereich geltenden genusspezifischen Akkusativformen. (10) a. Widzisz tego chłopca / ptaka? DEM . MANIM . AKK Junge.MANIM .AKK Vogel.MANIM .AKK POL seh.2SG ,Siehst du diesen Jungen / diesen Vogel?‘ b. Widzisz ten dom / tę DEM .MINAN .AKK Haus.MINAN . AKK DEM .F .AKK seh.2SG kobietę / to dziecko? DEM . N . AKK Kind.N .AKK Frau.F .AKK ,Siehst du dieses Haus / diese Frau /dieses Kind?‘ Eine Sonderstellung nehmen hier die Maskulina auf -a (wie kolega ‚Kollege‘, mężczyzna ‚Mann‘) ein: Bei adnominalen Einheiten fällt die Akkusativ- mit der Genitivform zusammen, während das Substantiv selbst den Akkusativ Singular nach femininem Flexionsmuster mit der – von der Nominativ- und Genitivendung verschiedenen – Endung -ę bildet. Wohl ein Unikum stellt das Maskulinum książę ‚Prinz‘ (Plural książęta) dar, das nach neutralem Muster dekliniert wird, während die kongruierenden adnominalen Einheiten dem maskulinen Deklinationsmuster folgen (vgl. MałyM książę ‚Der kleine Prinz‘, Titel eines Werkes von Antoine de Saint-Exupéry). Anders als im Polnischen wird die Unterscheidung [+/–bel] z. B. im Tschechischen und im Russischen auch im Plural der Maskulina markiert; vor allem aber gilt sie im Russischen auch für Feminina und Neutra, d. h., alle Genera werden im Plural hinsichtlich Belebtheit gleich behandelt.  



Die grammatische Belebtheitskategorie des Polnischen, die anfangs, entsprechend dem semantischen Merkmal [+bel], das anfangs nur „höhere“ männliche Personen umfasste, hat sich im Laufe der Zeit vor allem in den westslawischen Sprachen immer weiter ausgedehnt. Heute fallen im Polnischen nicht nur alle Arten von Tieren unter das Subgenus der Maskulina animata (MANIM ); zunehmend werden auch – insbesondere in gesprochener Sprache – biologisch unbelebte Entitäten grammatisch wie belebte behandelt, so z. B. bestimmte Früchte, Pilze, Spiele (auch Spielkarten, Schachfiguren), Tänze, Geldeinheiten, Körperteile, Krankheiten, Sorten von Produkten wie Autos, Tabakwaren, Alkoholika (Swan 2002: 76–79). Diese Ausweitung von Belebtheit ist mit der „Personifizierung“ von Gegenständen im Englischen (she mit Referenz auf Unbelebtes) vergleichbar. ,Grammatische Belebtheit‘ scheint aber im Polnischen insgesamt weniger subjektiv bestimmt zu sein; annäherungsweise lässt sich sagen, dass Objekte dann wie Lebewesen behandelt werden, wenn sie eine gewisse organische Qualität haben oder im näheren menschlichen Umfeld unmittelbar in Aktivitäten involviert sind.  

B2 Kategorisierungen

835

Aus der Klasse der belebten Maskulina wird im Polnischen die Subklasse der personendenotierenden Maskulina (maskulin-personales Subgenus = MPERS , → B2.2.3) durch formale Kennzeichnung im Plural herausgehoben: Wie in (11) zu sehen ist, fallen Genitiv und Akkusativ nur bei Substantiven zusammen, die maskulin sind und die semantischen Merkmale [+bel, +pers] tragen. (11) a. Widzisz tych studentów / DEM . MPERS . PL . AKK Student.M +bel,+pers.PL .AKK POL seh.2SG mężczyzn / książąt? Prinz.M +bel,+pers.PL .AKK Mann.M +bel,+pers.PL .AKK ,Siehst du diese Studenten / Männer / Prinzen?‘ b. Widzisz te ptaki / DEM . NONMPERS . PL . AKK Vogel.M +bel,–pers.PL .AKK seh.2SG domy / kobiety / jagnięta? Frau.F +bel,+pers.PL .AKK Lamm.N +bel,–pers.PL .AKK Haus.M –bel,–pers.PL .AKK ,Siehst du diese Vögel / Häuser / Frauen / Lämmer?‘ Nach Personalität wird also nicht der gesamte belebte Bereich untergliedert: Es werden vielmehr männliche Personen – Bezeichnungen für weibliche Personen erhalten in der Regel nicht das Genus M – allen anderen Referenten gegenübergestellt. Diese androzentrische Genusdetermination teilt das Polnische mit dem Slowakischen und dem Obersorbischen; in den übrigen westslawischen und in den ost- und südslawischen Sprachen schlägt sich ,Virilität‘ nicht im abstrakten Genus nieder. Im Sachbereich gibt es kaum Korrelationen zwischen Substantivbedeutung und Genus. Es werden nicht, wie etwa im Französischen oder im Deutschen, Denotatklassen gebildet, deren Elemente das Genus des Hyperonyms erhalten; das Genus ist hier vielmehr rein morphophonologisch bestimmt. So sind beispielsweise Bezeichnungen für Automarken je nach Auslaut maskulin (Fiat) oder feminin (Łada); dasselbe gilt für geografische Namen (Wrocław ist maskulin, Warszawa feminin, Katowice neutral), vgl. → B1.4.3.7. Dagegen werden, wie oben angemerkt, Sachbezeichnungen verschiedenster Art unter der Subgenuskategorie [+bel] zusammengefasst. Nur bei (un)belebten Indeklinabilia ist das Genus leitwortbestimmt: Z. B. ponyM ( Eigenname/Verwandtschaftsbezeichnung > personales Appellativum > nicht-personales belebtes Appellativum > nicht-belebtes Appellativum > personales Indefinitum > nichtpersonales Indefinitum (Zifonun 2007d: 10)

Die Hierarchie sagt voraus, dass die Wahrscheinlichkeit einer Numerusunterscheidung desto kleiner wird, je mehr man sich auf der Hierarchie nach rechts bewegt (Corbett 2000: 70). Während der Schnittpunkt zwischen Klassen, die eine Numerusunterscheidung zeigen/zulassen, z. B. in diversen indigenen Sprachen Nordamerikas bei ‚Verwandtschaftsbezeichnung‘, d. h. relativ hoch liegt (ebd.: 57 f.), befindet sich in unseren Vergleichssprachen der Schnittpunkt ziemlich niedrig, und zwar etwa im Bereich der nicht-belebten Appellativa, wie Zifonun (2007d: 5–9) zeigt. Ab dieser Position sind nicht-numerusmarkierte Größen belegt: Diese sind in erster Linie Kontinuativa, daneben auch Indefinitpronomina. Hier deckt Ungarisch einen größeren Bereich der Hierarchie als alle anderen Sprachen ab, denn es zeigt im Grunde für alle Substantive (Behrens 1995: 89) und selbst bei personalen und nicht-personalen Indefinita eine Numerusopposition. Näher auf die Numerusopposition im Bereich der Substantive wird in → B2.3.3 eingegangen; für Pronomina vgl. → B1.5.1.8. Artikel, Adjektive sowie anaphorische und adjektivisch gebrauchte Pronomina werden in der Belebtheitshierarchie nicht berücksichtigt, weil ihr Numerus – wenn er überhaupt markiert wird – als Ausdruck der Kongruenz mit dem Kopfsubstantiv gilt.  







B2.3.2.3 Wie markerhaltig ist der Plural? Im Anschluss an Zifonun (2004a) und Scheibl (2007) kann nun die Frage erörtert werden, wie markerhaltig Pluralformen gegenüber Singularformen sind. Die Markiertheit des Plurals drückt sich darin aus, dass Pluralformen morphologisch „auffälliger“, markerhaltiger sind, d. h. ebenso viele Morpheme wie oder mehr Morpheme enthalten als Singularformen (Croft 2003: 91). Daran anknüpfend unterscheidet Zifonun (2004a: 403–405) drei Stufen der Markerhaltigkeit: Pluralformen können enthalten  

1. 2. 3.

nicht weniger Morpheme als die Singularform mit der geringsten Morphemzahl, mehr Morpheme als die Singularform mit der geringsten Morphemzahl, mehr Morpheme als alle Singularformen.

Dieser gestuften Skala entspricht nach Zifonun (2004a: 405) eine Zunahme im agglutinierenden Charakter der untersuchten Sprache – oder, folgt man Corbetts (2005b:

B2 Kategorisierungen

857

34) „canonical expectations“ an ein morphologisches Paradigma, eine Zunahme am idealisierten, ‚kanonischen‘ Charakter der Pluralflexion. Wenden wir die Skala auf unsere Vergleichssprachen an, so können wir feststellen, dass sie verschiedenen Stufen zuzuordnen sind. Ein Versuch, die Lage in unseren Sprachen darzustellen, wird in Tabelle 3 unternommen. Es werden nur die Wortklassen berücksichtigt, die nach Tabelle 2 eine Numerusopposition in der jeweiligen Sprache aufweisen. Die Sprachen sind von links nach rechts so geordnet, dass deren agglutinierender Charakter zunimmt. Tab. 3: Verteilung der Wortklassen auf der Markerhaltigkeitsskala in den Vergleichssprachen Stufe

POL

FRA

DEU

ENG

UNG

1

feminine a-stämmige SUBST (?) neutrale SUBST (?) ADJ PERS (1./2.) RPRO DEM

SUBST PERS RPRO INDEF ADJ (gesprochen) ART DEM

maskuline u. neutrale SUBST (nichtsegmental) ADJ ART PERS RPRO DEM INDEF

SUBST (unregelm.) PERS DEM

//

2

maskuline SUBST (fast alle) feminine i-stämmige SUBST PERS (3.)

ADJ RPRO INDEF (teils) (geschrieben)

maskuline // SUBST (schwach, stark/ segmental) neutrale SUBST (segmental)

//

SUBST PERS INDEF (teils) (geschrieben)

feminine SUBST

alle nominalen Wortklassen

3

SUBST (größtenteils)

Ungarisch und Englisch erweisen sich nach Tabelle 3 als stärker agglutinierend bzw. näher an einem ‚kanonischen‘ morphologischen Plural. Im Ungarischen gilt für alle numerusmarkierten nominalen Wortklassen, dass die Pluralform genau ein Morphem mehr (-k bzw. -i) enthält als die entsprechende Singularform (Stufe 3); Ähnliches gilt für englische Substantive, die das Morphem -s im Plural erhalten. Umgelautete sowie nullmarkierte Substantive gehören dagegen zur Stufe 1 zusammen mit Personal- und Demonstrativpronomina, die (teil-)suppletive Formen aufweisen. Es zeigt sich somit im Englischen eine Zweiteilung zwischen einem grundsätzlich agglutinierenden Numerussystem (bei Substantiven) und einem System, in dem nicht-segmentale Mittel zur Numerusmarkierung eingesetzt werden.

858

B Wort und Wortklassen

Am entgegengesetzten Pol steht das Polnische als stark fusionierende Sprache: Singular- und Pluralformen sind jeweils durch eine Flexionsendung gekennzeichnet, die die Information zum Numerus (sowie Kasus und Genus) enthält. Die numerusmarkierten Wortklassen verteilen sich also auf Stufe 1 und 2, je nachdem, ob in ihrem singularischen Flexionsparadigma eine Null-Endung vorkommt, die ein Morphem weniger als alle anderen Formen hat und als solche die Singularform mit der geringsten Morphemzahl ist. Eine partielle Ausnahme bildet die große Mehrheit der neutralen und der femininen Substantive der a-Flexion: Diese zeigen im Plural eine Form, die Genitivform, die endungslos ist und ein Morphem weniger als alle anderen Singular- und Pluralformen enthält (z. B. kobieta ,Frau‘ → kobiet, miasto ,Stadt‘ → miast), und gehören daher nicht einmal auf Stufe 1, sondern stellen eine Ausnahme zur Markiertheitsregel dar. Allerdings erfüllen die Paradigmen dieser Flexionsklassen insgesamt drei der vier corbettschen Kriterien für ‚kanonische‘ Paradigmen – und insbesondere das Distinktheitskriterium, nach dem unterschiedliche Wortformen unterschiedlich markiert werden: Die Null-Endung erscheint nur im Genitiv Plural und macht diese Form unverwechselbar, obwohl sie als Form ohne Pluralmarker (wie auch ohne Kasusmarker) den erwartbaren Markierungsprinzipien widerspricht (vgl. auch Wiese 2004: 353 zur ähnlichen Lage im Russischen).  



Was das Französische betrifft, so begegnet uns hier die Dichotomie zwischen geschriebener und gesprochener Sprache wieder. Gesprochen sind alle Wortklassen praktisch ausnahmslos der Stufe 1 zuzuordnen, denn Singular- und Pluralformen zeigen in Isolation genau dieselbe Morphemzahl. In der geschriebenen Sprache sind dagegen die Wortklassen auf alle drei Stufen verteilt: Artikel und Demonstrativa, die unregelmäßige Pluralbildung haben, haben im Singular und Plural dieselbe Morphemzahl; Adjektive, das Relativpronomen lequel und manche Indefinita haben im Plural mehr Morpheme als die maskuline Singularform, d. h. die mit der geringsten Morphemzahl; schließlich zeigen Substantive sowie Personal- und manche Indefinitpronomina im Plural genau ein Morphem mehr (-s) als die Singularformen. Insofern ist für das Französische keine klare Position zu ermitteln: Die Tendenz in der geschriebenen Sprache geht eher in Richtung agglutinierend, in der gesprochenen in Richtung isolierend, wobei die Liaison der Tendenz im gesprochenen entgegenwirkt (mehr dazu in → B2.3.4.1). Auch im Deutschen sind alle drei Stufen belegt – die entsprechende Spalte in Tabelle 3 wurde u. a. auf der Basis von Zifonun (2004a: 404 f.) und Scheibl (2007: 177 f.) ausgefüllt. Das Deutsche weist bei der Numerusmarkierung besonders in den nicht-substantivischen Wortarten noch klare fusionierende Züge auf. Die Substantive verteilen sich dagegen auf den drei Stufen, wobei die Feminina am meisten agglutinativen Charakter haben, da sie konstant mehr Morpheme als alle Singularformen haben (Frau – Frau-en, Hand – Händ-e). Nicht-segmentale Maskulina und Neutra (z. B. Hammer – Hämmer, Kloster – Klöster) sowie segmentale Fremdwörter (wie Pizz-a – Pizz-en, Alb-um – Alb-en) sind dagegen auf Stufe 1 einzuordnen, alle restlichen Substantive auf Stufe 2. Es scheint also, dass sich das Deutsche vom ursprünglichen fusionierenden Typ langsam entfernt, insbesondere im Bereich der Substantivflexion (Zifonun 2004a: 405).  









859

B2 Kategorisierungen

Es lässt sich zusammenfassend festhalten, dass im Englischen und Ungarischen die Markerhaltigkeit des Plurals gegenüber dem Singular den höchsten Grad erreicht, d. h., sie steht einem idealisierten, ‚kanonischen‘ Plural am nächsten. Fälle von Synkretismus und Suppletion, die das Distinktheits- und das Identifizierbarkeitskriterium verletzten (Corbett 2005b: 34; Scheibl 2007: 182), sind in diesen beiden Sprachen nicht oder selten belegt. Die restlichen Sprachen sind von einem idealisierten Plural etwas weiter entfernt: Im Deutschen bewegen sich allerdings gewisse substantivische Flexionsklassen in Richtung einer ‚kanonischen‘ Markierung.  

B2.3.3 Numerusopposition und Semantik der Substantive Als zweiter Schwerpunkt dieses Kapitels wird die Interaktion zwischen der (morphologisch gegebenen) Numerusopposition und der Semantik der nominalen Wortklassen erörtert. Die Analyse wird sich nur auf die Wortart Substantiv beschränken, da hier die meisten übereinzelsprachlich relevanten Erkenntnisse zu gewinnen sind; zur Interaktion zwischen Numerus und Semantik der Pronomina siehe → B1.5.2.8. Durch drei Parameter sollen verschiedene Aspekte dieser Interaktion kontrastiv beleuchtet werden: Die Pluralisierbarkeit von Substantiven, die den beiden Nominalaspekten angehören (,Numerusopposition bei Individuativa und Kontinuativa‘); spezielle Plural(les)arten; Fälle von Numerusbeschränkung (,Singularia- und Pluraliatantum‘).

B2.3.3.1 Numerusopposition bei Individuativa und Kontinuativa Wie in → B1.4.2.2.1 ausgeführt, sind Individuativa in der Regel pluralisierbar, d. h., sie lassen eine Numerusunterscheidung zu, s. (12a).  

(12)

a. Mann – Männer b. Milch – ?Milche(n)

Pluralformen eines Individuativums stehen zu den Singularformen derselben lexikalischen Einheit im Verhältnis des ‚Summenplurals‘. Im Anschluss an Kuhn, der statt ‚Summenplural‘ den Terminus ,Mengenplural‘ verwendet (1982: 86), kann präzisiert werden: [II] Ein Pluralprädikat (z. B. Tische) ist ein Summenplural(-Prädikat) zu einem Singularprädikat (z. B. Tisch), wenn es auf Vielheiten, deren Elemente unter das Singularprädikat fallen, mit Wahrheit angewendet wird. In diesem Sinne ist Tische ein Summenplural(-Prädikat) zu Tisch (Individuativum, ‚Gegenstand mit vier Füßen, der …‘).  



860

B Wort und Wortklassen

Bei Kontinuativa entfällt dagegen die Numerusunterscheidung, da ihr Denotat nicht als Menge unmittelbar zählbarer Einzelentitäten aufgefasst wird (vgl. (12b)). Kontinuativa sind im unteren Segment der Belebtheitshierarchie (Hierarchie [I] in → B2.3.2.2) besonders häufig anzutreffen, und zwar auf der Position ‚nicht-belebtes Appellativum‘ – vgl. auch Zifonun (2007d: 7): „Kontinuativa als Teilklasse der Appellativa ohne Numerusunterscheidung […] sind auf unbelebte Denotation beschränkt, es sei denn, es handelt sich um Kollektivbezeichnungen.“ In der Tat sind auf den Positionen ‚personales Appellativum‘ oder ‚nicht-personales belebtes Appellativum‘ KollektivKontinuativa zu finden, wie etwa DEU Pöbel, Vieh (Näheres dazu → B1.4.2.5.2). Welche Bereiche des lexikalischen Inventars jeweils als kontinuativ oder individuativ klassifiziert werden, d. h. einen Summenplural bilden können, ist jedoch einzelsprachlich zu ermitteln: Bezeichnungen für Stoffe (DEU Gold) sind z. B. in allen Vergleichssprachen Kontinuativa, bei Pflanzen(teilen) oder abstrakten Bezeichnungen sind dagegen Unterschiede zu verzeichnen, wie etwa die polnischen Entsprechungen der deutschen Individuativa Bohne/n und Erbse/n, fasola und groch – beide Kontinuativa oder zumindest Wörter mit einer überwiegend kontinuativen Gebrauchsweise – zeigen (vgl. Zifonun 2007d: 5 f. und → B1.4.2.5.1). Das Verhältnis zwischen der Semantik der Substantive und dem morphologischen Ausdruck der Numerusopposition kann also wie folgt aufgefasst werden: Bei Individuativa wird in der Regel der semantische Wert Singular (Einzahl) durch die morphologische Kategorie Singular, der semantische Wert Plural (Mehrzahl) durch die morphologische Kategorie Plural ausgedrückt; Kontinuativa, für die die Numeruskategorisierung semantisch nicht relevant ist – bzw. die nach Link (1991: 418) als Transnumeralia anzusehen sind –, stehen in der Regel im unmarkierten Numerus Singular. Ausnahmen zu dieser Korrelation werden weiter unten in diesem Abschnitt sowie in → B2.3.3.3 besprochen.  





Kurz zu erwähnen sind Fälle von Numerussynkretismus (s. → B2.3.2.1) wie ENG fish oder sheep, DEU Balken sowie generell (individuative) Substantive im gesprochenen Französischen: An diesen Substantiven ist die Numerusopposition morphologisch nicht direkt kodiert, obwohl sie keine Kontinuativa sind und einen Summenplural bilden könn(t)en. Die Opposition wird innerhalb bzw. außerhalb der NP durch Kongruenz zum Ausdruck gebracht (z. B. the sheep in the sheepSG/PL isSG/arePL over there bezeichnet jeweils ein bzw. mehrere Schafe; s. auch → B2.3.4.1). Auch die Bezeichnungen für manche Jagdtiere (z. B. elephant, Corbett 2000: 68) können im Englischen von Numerussynkretismus betroffen sein. Im Polnischen werden Individuativa nur in Einzelfällen morphologisch nicht pluralisiert: Es handelt sich meistens um entlehnte Substantive, die sowohl belebte als auch unbelebte Entitäten bezeichnen können, wie etwa burżuazja , Bourgeoisie‘, guru, emu, kakadu, lady einerseits, etui, bikini andererseits. Deren Unflektierbarkeit hat überwiegend morphophonologische Gründe: Wegen ihres Auslauts können viele dieser Substantive nicht zu einer der polnischen Flexionsklassen zugeordnet werden (Orzechowska 1999: 281, 300, 305, 312, 318).  



Unter bestimmten Bedingungen können selbst ursprünglich kontinuative Stoffnamen wie Wein eine Numerusopposition zeigen: In diesem Fall wird das kontinuative Lexem zum Individuativum umkategorisiert (Zifonun 2007d: 5). Durch Umkategorisierung wird das Denotat nicht mehr als Stoff, sondern als Sorte bzw. Portion aufgefasst (ein

B2 Kategorisierungen

861

Wein – mehrere Weine ‚eine Sorte/Portion – mehrere Sorten/Portionen Wein‘) – oder, im Fall von Abstrakta, als Instanz (eine Grausamkeit – viele Grausamkeiten ‚ein Fall – mehrere Fälle von Grausamkeit‘). Im Verhältnis zu einem Kontinuativum (Wein) wird der Plural (Weine) somit präziser als Sortenplural aufgefasst. (Analoges gilt auch für das Verhältnis zwischen dem Kontinuativum Wein und einem Portionsplural.) [III] Ein Pluralprädikat (z. B. Weine) ist ein Sortenplural(-Prädikat) zu einem Singularprädikat (z. B. Wein), wenn es auf Sorten/Arten von Entitäten, die unter das Singularprädikat fallen, mit Wahrheit angewendet wird. In diesem Sinne ist Weine sowohl ein Sortenplural(-Prädikat) zu Wein (Kontinuativum: ‚Wein als Stoff‘) als auch ein Summenplural zu Wein (Individuativum: ‚Weinsorte‘).  



Während also das Wortparadigma Tisch ausschließlich als Individuativum kategorisiert ist, kann das Wortparadigma Wein sowohl als Kontinuativum als auch als Individuativum kategorisiert sein. Dabei betrifft die durch Umkategorisierung entstehende Sorten-, Portions- bzw. Instanzlesart das ganze Lexem, nicht nur den Plural: Sowohl ein Wein als auch mehrere Weine bezieht sich semantisch auf eine bzw. mehrere Sorten/Portionen Wein. Anstatt für Umkategorisierung plädiert Laskowski (1999b: 206) bei ähnlichen Fällen im Polnischen dafür, zwei unterschiedliche Lexeme zu postulieren – ein kontinuatives Singularetantum mit beschränktem Flexionsparadigma (z. B. woda1 ‚Wasser1 (als Stoff)‘) und ein Individuativum mit vollem Flexionsparadigma (z. B. woda2 ‚Wasser2 (als Sorte/Portion)‘). Letzteres soll aus Ersterem durch Wortbildung entstanden sein, wobei das Wortbildungsmittel gerade im vollen Flexionsparadigma (gegenüber dem beschränkten Paradigma von woda1) bestehen würde. Dieser Vorschlag erscheint allerdings nicht wirklich plausibel: Morphologisch gibt es kein Wortbildungsverfahren, das durch ein (Teil-)Flexionsparadigma als Wortbildungsmittel realisiert wird; außerdem könnte man Basis und Wortbildungsprodukt zumindest im Singular nicht morphologisch unterscheiden – dies könnte ggf. nur durch den Kontext geschehen. Wir gehen hier weiterhin von einem Lexem aus, das doppelt kategorisiert werden kann und das infolgedessen morphologisch ein beschränktes oder volles Paradigma aufweist.  



Die Bildbarkeit von Sorten- und Portionspluralen variiert je nach Sprache und ist oft lexikalisch gesteuert: Wie in → B1.4.2.2.1 erläutert, scheint es im Ungarischen weniger Restriktionen zu geben als im Deutschen, wo Sortenplurale wie *Fleische, obwohl morphologisch bildbar, selten bzw. nur in Fachsprachen vorkommen. Außerdem haben wir im Deutschen unter bestimmten pragmatischen Voraussetzungen (Bestellungen im Restaurant/Laden) bei Portionslesarten keine Pluralmarkierung für Getränkebezeichnungen (z. B. Drei Bier, bitte). Auch bei der Instanzlesart sind gewisse Pluralformen (z. B. Unendlichkeiten, Glücke) eher auf Fachsprachen (z. B. der Mathematik) und belletristische Texte beschränkt (Duden-Grammatik 2009: 172; s. auch → B1.4.2.5.3); andere Substantive zeigen hingegen Suppletivformen: Rat – Ratschläge, Streit – Streitigkeiten (ebd.), wobei die entsprechenden Singularformen (Ratschlag, Streitigkeit) i.W. dieselbe Bedeutung haben wie die zum Individuativum umkategorisierte Kontinuativ-Singularform (Rat, Streit).  







862

B Wort und Wortklassen

Zu erwähnen sind noch einzelne Fälle, in denen bei der Pluralisierung von Kontinuativa keine Umkategorisierung erfolgt: Das geschieht bei dem so genannten Exzess- oder Abundanzplural (Duden-Grammatik 2009: 173). Diese Plurallesart bezeichnet große Mengen eines Denotats, das weiterhin als homogene Entität angesehen, d. h. weder sortiert noch portioniert wird. U. a. aus diesem Grund kommt diese Plurallesart in der Regel nicht mit Kardinalnumeralia vor. Der Abundanzplural wird oft aus Bezeichnungen für Naturerscheinungen gebildet (Feuer, Wasser, Luft). Ein Beispiel ist etwa DEU Fluten in der Bedeutung ‚größere Wassermasse‘, wie in (13a); drei Fluten in (13b) bezeichnet dagegen drei Instanzen von ansteigendem Wasserstand.  

(13)



a. Zerstörerisch nagen die Fluten vor allem an Alt-Nordstrand. (Internet) b. Während um 1900 noch zwei von drei Fluten die Nordseite des Felsen erreichten, ist es heute nur noch jede dritte. (Internet)

Der Abundanzplural kann auch eine verstärkende, emphatische Funktion haben, z. B. in Sprachen wie dem Türkischen und dem Litauischen.  

(14) TÜR

Kanlara boyandı. beschmier.PASS .PRT .3SG Blut.PL .DAT ‚Er war ganz mit Blut bedeckt.‘ (Götz 1980: 384)

(15) LIT

Grindys buvo kraujais papludusios. war Blut.INS .PL bedeckt.PL Boden.PL ‚Der Boden war mit Blut bedeckt.‘ (Ambrazas 1997: 104)

Eine Umkategorisierung in die umgekehrte Richtung, d. h. von Individuativum zu Kontinuativum, ist in den Vergleichssprachen ebenfalls belegt, obwohl sie viel seltener ist als die von Kontinuativum zu Individuativum. So wird in (16) das Individuativum Mensch als Kontinuativum in einer Numerativkonstruktion benutzt, in der wir ein Kontinuativum erwarten würden (→ B1.4.2.4, → D5); für weitere Beispiele siehe Duden-Grammatik (2009: 174) sowie Krifka (1989: 6).  

(16)

Kaspar Hauser ist ein Sprachloser, ein noch unbearbeitetes Stück Mensch, ein Rohling. (Duden-Grammatik 2009: 174)

Diese Art der Umkategorisierung ist generell markierter als die von Kontinuativum zu Individuativum und unterliegt sprachspezifischen lexikalischen bzw. kontextuellen Einschränkungen. So ist (17) im Englischen nach Corbett möglich; dessen polnische Entsprechung in (18) ist nach Willim (2006: 82) dagegen nicht akzeptabel, obwohl die Individuativum-zu-Kontinuativum-Umkategorisierung im Polnischen an sich nicht ausgeschlossen ist: Siehe (19), das wie (16) eine Numerativkonstruktion enthält. (17)

there was dog all over the road ‚*es gab Hund über die ganze Straße‘ (Corbett 2000: 81)

(18) POL

Po wypadku (rozjechany) *pies był wszędzie. OK .SG überfahren.NOM .M .SG Hund.NOM .SG war überall nach Unfall.LLOK ‚Nach dem Unfall war (überfahrener) Hund überall.‘ (Willim 2006: 82)

863

B2 Kategorisierungen

(19) POL

odrobina mężczyzny na co dzień Mann.GEN auf jeder Tag.AKK Stück.NOM .SG ‚ein Stückchen Mann für jeden Tag‘ (Willim 2006: 82)

Kontrastiv scheint diese Umkategorisierung etwas häufiger mit Individuativa, die Nahrungsmittel bezeichnen, zu erfolgen, wie etwa in (20) – dazu ausführlicher → B1.4.2.2.1. Dies ist im Einklang mit Corbetts (2000: 86) Beobachtung, dass Umkategorisierung präferiert bei Denotatsklassen erfolgt, die sich auf niedrigen Stufen der Belebtheitshierarchie befinden. (20) DEU ENG FRA POL UNG

Heute habe ich Fisch gegessen. Today I ate fish. Aujourd’hui j’ai mangé du poisson. Dzisiaj jadłem rybę. Ma halat ettem.

Obwohl sie den Rahmen der Flexionsmorphologie sprengen, sind hier die so genannten Singulativformen zu erwähnen. Sie bezeichnen Einzelexemplare aus der Extension von Kontinuativa bzw. gattungsbezeichnenden Substantiven. In unseren Vergleichssprachen werden Singulativformen gewöhnlich durch Komposita, wie DEU Weizenkorn, UNG búzaszem, oder phrasale Fügungen, wie FRA grain de blé, ENG grain of corn, POL kiełek pszenicy ausgedrückt (→ B1.4.2.5.1). Innerhalb des europäischen Sprachraums zeigt das Russische spezielle Suffixe (-ina, -ica) zur Bildung von Singulativlexemen aus Kontinuativa: Z. B. kartofel’ → kartoflina, wo das erste Substantiv kontinuativ, das zweite individuativ ist und eine einzelne Kartoffel bezeichnet (zum semantischen-ontologischen Aspekt siehe hierzu ausführlicher → B1.4.2.5.1). Dasselbe Suffix kann auch bei (kontinuativen und individuativen) Pluraliatantum benutzt werden, um einen Bestandteil des Denotats zu bezeichnen, wie in makaronina ‚Makkaroninudel‘ aus makarony ‚Makkaroni‘ oder vorotina ‚Torflügel‘ aus vorota ‚Tor‘ (Beispiel aus Degtjarev 1982: 73). Singulativa können ihrerseits pluralisiert werden und mit Kardinalnumeralia kombinieren (z. B. pjat’ kartofelin/makaronin ‚fünf Kartoffeln/Makkaroninudeln‘). Ähnlich, obgleich ausgeprägter und systematischer als im Russischen, ist die Bildung von Singulativformen im Arabischen. Hier sind mehr lexikalische Bereiche als im Russischen, etwa Stoffe, Tier- und Pflanzenarten, betroffen. Aus ursprünglich als kontinuativ zu deutenden Substantiven (manchmal auch als Kollektiva bezeichnet) lassen sich durch Genusveränderung (= Anfügung des Suffixes -ah) Singulativformen bilden. Beide Formen – die kontinuative und die singulativ-individuative – können einen Plural bilden. Der individuative Plural gilt als Summenplural, während der kontinuative Plural generell als Sorten- oder Abundanzplural gilt (s. Tabelle 4). Dabei ist anzumerken, dass die Nominalaspektunterscheidung im Plural nicht so strikt ist: Der kontinuative Plural kann auch als Summenplural benutzt werden; in diesen Fällen wird der individuative Plural zum Paukal – d. h. zum Numerus zur Bezeichnung weniger Exemplare eines Denotats (Ambros 1969: 155; Corbett 2000: 32). Zu vermerken ist noch, dass, wie im Russischen, nur die individuativen Formen mit Kardinalnumeralia kombinierbar sind: Dies zeigt eine Parallele zu unseren Vergleichssprachen, wo Kombinierbarkeit mit Kardinalnumeralia ein Kriterium für die individuative Lesart eines Substantivs darstellt (→ B1.4.2.3). Reste dieser (hoch-)arabischen viergliedrigen Struktur sind auch im aus arabischen Dialekten entstandenen Maltesisch erhalten (Mifsud 1996).  







864

B Wort und Wortklassen

Tab. 4: Nominalaspekt und Plural im Arabischen Kontinuativ

Singulativ-Individuativ

SG

samak ‚Fisch(e)‘ waraq ‚Papier‘

samakah ‚(ein) Fisch‘ waraqah ‚Stück/Blatt Papier‘

PL

’asmāk ‚Fisch(arten)‘ awrāq ‚Papiere, Papiersorten‘

samakāt ‚Fische‘ waraqāt ‚Stücke/Blätter Papier‘

B2.3.3.2 Weitere Plural(les)arten Neben dem Summenplural finden sich in den europäischen Sprachen andere Plural(les)arten. Hierbei handelt es sich – wie im Fall des im vorigen Abschnitt erwähnten Sortenplurals – generell um semantisch spezifischere bzw. auf bestimmte Denotatsgruppen beschränkte Abwandlungen des Summenplurals. Nur teilweise werden sie morphologisch durch spezielle Suffixe gekennzeichnet (s. Tabelle 5) – daher die Bezeichnung Plural(les)arten. Im Folgenden wird versucht, zu klären, in welchem Verhältnis sie zum Summenplural stehen. Vorauszuschicken ist, dass mehrere dieser Pluralarten in unseren Vergleichssprachen eher Randerscheinungen darstellen, aber in manch anderer europäischer Sprache stärker vertreten sind. Tab. 5: Plural(les)arten Unterklasse des Summenplurals

morphologisch identisch mit Summenplural

Semantische Substantivklassen, auf die Plural(les)art anwendbar ist

Assoziativer Plural –

+/–

Eigennamen, teils auch Verwandtschafts-, Berufsbezeichnungen

Evaluativer Plural

+

+/–

BUL/MAZ: einzelne Substantive quer zu den Positionen der Belebtheitshierarchie; POL: Personenbezeichnungen

Quantifizierender Plural

+



Individuativa

Sortenplural

+

+

Kontinuativa

Portionsplural

+

+

Kontinuativa (Getränke, Speisen)

Abundanzplural



+

Kontinuativa (Naturerscheinungen)

1. A SSOZIATIVER SSOZIAT IVER P LURAL . Durch diese Pluralart wird auf ein Individuum und eine dazu gehörende Gruppe (Familie, Mitarbeiter, Personenkreis i.w.S.) referiert, wobei das

B2 Kategorisierungen

865

Individuum als prominentes Mitglied der Gruppe gilt (Moravcsik 1994). Anders als beim Summenplural wird durch den assoziativen Plural auf heterogene Vielheiten referiert; deren Elemente fallen nicht unter das entsprechende Singularprädikat. Diese Pluralart ist in unseren Vergleichssprachen unterschiedlich belegt. Im Ungarischen wird der assoziative Plural durch das spezielle Suffix -ék aus Eigennamen sowie Verwandtschafts- und Berufsbezeichnungen und Eigennamen gebildet, wie (21) zeigt (Beispiel aus Corbett 2000: 102; Moravcsik 2003a: 155). (21) a. János-ék UNG János-ASS ‚János und seine Familie/Gruppe‘ b. a tanitó-ék DEF Lehrer-ASS ‚der Lehrer und seine Familie/Gruppe‘ c. az elnök úr-ék DEF Direktor Herr-ASS ‚der Herr Direktor und seine Familie/Gruppe‘ d. testvér-ei-m-ék Geschwister-PPL -1SG -ASS ‚meine Geschwister und ihre Familie/Gruppe‘ e. *a testvér-ek-ék DEF Geschwister-PL - ASS ‚die Geschwister und ihre Familie/Gruppe‘ In den anderen Vergleichssprachen könnte die Pluralbildung bei Familiennamen zur Bezeichnung des gleichnamigen Ehepaares bzw. der Familie (z. B. DEU die Müllers, ENG the Smiths, FRA les Dupont, POL Tuskowie) auch als ein Fall von assoziativem Plural angesehen werden (so etwa die Duden-Grammatik 2009: 171, → C4.4). Ob dabei von einem prominenten Mitglied (der Ehemann bzw. der Vater) ausgegangen wird, lässt sich nicht so leicht feststellen wie im Fall des Ungarischen – es sei an dieser Stelle auf die Argumentation in → B1.4.3.4.2 verwiesen. Formal benutzen zwei der Vergleichssprachen zur Bildung solcher Formen das Suffix -s, das im Englischen ‚regulär‘, im Deutschen markiert ist, da es nicht zu den Kern-Pluralsuffixen gehört. Im Französischen wird der Plural nur durch den Artikel markiert, wobei es dazu sowohl synchron als auch diachron Ausnahmen gibt (vgl. Grevisse/Goosse 2011: 718); im Polnischen wird für substantivisch flektierende Nachnamen das ‚honorifikative‘ Suffix -owie (→ C2.7.3) eingesetzt – adjektivisch flektierende Nachnamen erhalten dagegen das entsprechende Suffix für die maskulin-personale Pluralform (Wiśniewski → Wiśniewscy).  

Das Suffix -owie wird auch an Vornamen und einige Verwandtschaftsbezeichnungen zur Bezeichnung eines Ehepaares angefügt: Vgl. dziadkowie ‚Onkel und Tante‘ (aber auch: ‚Onkel.PL ‘), Andrzejowie ‚Andrzej und seine Frau‘ – nicht aber etwa synowie ‚Söhne‘, nicht ‚Sohn und seine

866

B Wort und Wortklassen

Frau‘ (Grzegorczykowa/Puzynina 1999: 443). Eine ähnliche Funktion hat das Wortbildungssuffix -ostwo zur Bezeichnung von Ehepaaren, z. B. wujostwo ‚Onkel und Tante‘, profesorostwo ‚Professor und Gattin‘. Es handelt sich hierbei um einen besonderen Gebrauch des Kollektivsuffixes -stwo, der sich von seinem „normalen“ Gebrauch insofern unterscheidet, als das Verb im Plural (maskulin-personale Form) steht – so wie beim Personalpronomen państwo (siehe hierzu → B2.3.4.2). Wie beim ungarischen assoziativen Plural wird -ostwo mit Eigennamen, Verwandtschafts- und Berufsbezeichnungen verwendet (Grzegorczykowa/Puzynina 1999: 443), ist jedoch weniger flexibel, da es nur an reine Stämme angehängt werden kann, während dies im Ungarischen auch mit durch (Plural- und) Possessivsuffixe suffigierten Stämmen geschehen kann, wie in (21d) oben. Pluralsuffixe können dabei aber nicht unmittelbar aufeinanderfolgen, vgl. (21e).  



Auch im Bulgarischen kann der assoziative Plural durch die adjektivierenden Possessivsuffixe -in/-ov und das Pluralsuffix -i gebildet werden – wie etwa in Mari-in-i (Maria-ADJ - PL ) ‚Maria und ihre Familie‘, čič-ov-i (Onkel-ADJ - PL ) ‚der Onkel und seine Familie‘. Danièl’ (2000: 17), aus dem das erste Beispiel stammt, merkt an, dass die bulgarische Form nicht als ‚kanonischer‘ assoziativer Plural angesehen werden kann, da die assoziative Bedeutung nicht durch ein Flexionssuffix, sondern in erster Linie durch das Suffix -in erreicht wird; dem könnte man entgegensetzen, dass eine mögliche (diachronische) Analyse des ungarischen assoziativen Pluralsuffixes es auch als zweigliedrig betrachtet (-é als nominalisierendes Possessumsuffix, z. B. Peter-é ‚(der/die/das) von Peter‘, und -k als reguläres Pluralsuffix, vgl. Moravcsik (2003a: 141 f.), dies also kein ausschlaggebendes Argument ist, um das Bulgarische aus der Liste der Sprachen mit einem assoziativen Plural zu entfernen. Es ist möglicherweise denkbar, dass die bulgarische assoziative Pluralform sich noch nicht vollständig grammatikalisiert hat.  



Zum Schluss soll noch erwähnt werden, dass Assoziativität auch syntaktisch durch NP-VerbKongruenz ausgedrückt werden kann, wie es etwa in russischen Dialekten (Goša prijechali Goša.SG komm.PRT .PL ‚Goša und die Seinen kamen‘) oder im Maltesischen (Brian ġew Brian.SG komm.PRT .PL ‚Brian und seine Familie/Freunde kamen‘) der Fall ist (Corbett 2000: 191), oder durch Wortverbindungen, wie im Baskischen Koldo eta (Koldo und) ‚Koldo und sein Trupp‘ (Iturrioz-Leza/Skopeteas 2004: 1056) und im Rumänischen alde Gavrilă (wie Gavrilă) ‚die (Leute/ Familie) von Gavrilă‘ (Beyrer/Bochmann/Bronsert 1987: 67). Zum assoziativen Plural aus typologischer Perspektive vgl. außerdem die Karte in Daniel/Moravcsik (2005) sowie ausführlich Corbett (2000: 101 f.) und Danièl’ (2000).  

2. E VALUATIVER P LLURAL URAL . Durch diese Plurallesart wird eine emotionale (typischerweise negative) Bewertung des Denotats zum Ausdruck gebracht. Der evaluative Plural stellt also eine spezifischere Lesart des Summenplurals dar: Neben Quantifikation drückt er eine zusätzliche Konnotation aus. Diese Plurallesart ist im Polnischen, Bulgarischen und Mazedonischen – fast ausschließlich bei männlichen Substantiven – vertreten. Während in den beiden letzteren Sprachen zusätzliche ‚bewertende‘ Pluralsuffixe vorhanden sind (wie in BUL gărč-i ‚Griechen (neutral)‘ vs. gărč-olja ‚Griechen (negativ konnotiert)‘), wird derselbe (pejorative) Effekt im Polnischen dadurch erreicht, dass maskulin-personale Pluralendungen durch nicht-maskulin-personale ersetzt werden: Es entstehen somit Paare wie profesorowie vs. profesory ‚Professoren‘, Amerykanie vs. Amerykany, in denen das zweite Glied negativ konnotiert ist (Stankiewicz 1962: 9 f.; Orzechowska 1999: 290 f., → C2.7.2). Somit werden männliche Substantive generell an die Pluralbildung von Substantiven mit variablem Genus (→ B2.2.6) auf -a angeglichen (z. B. oferma/ofermy ‚Trantüte (M /F )‘, Bartnicka et al. 2004: 237).  





867

B2 Kategorisierungen

Eine zusätzliche Konnotation (Intensifikation, Emphase) hat auch der EMPHATISCHE P LURAL im Türkischen, wie die folgenden Beispiele zeigen. Diese Plurallesart steht in enger Verbindung mit dem Abundanzplural in dieser Sprache, der auch eine intensivierende Konnotation hat. Zu den verschiedenen Plurallesarten im Türkischen siehe im Detail Götz (1980), Cruse (1994: 2851) und Göksel/Kerslake (2005: 167–169). (22) TÜR

a. kapı yık-ıl-ıyor-du Tür schlag-PASS - PROG - PRT .3SG ‚es wurde heftig an die Tür geklopft‘ b. kapı-lar yık-ıl-ıyor-du schlag-PASS - PROG - PRT .3SG Tür-PL ‚es wurde sehr heftig an die Tür geklopft‘ (Cruse 1994: 2851)

(23) TÜR

a. afiyet olsun Appetit sei ‚Guten Appetit!‘ b. afiyetler olsun Appetit.PL sei ‚Einen recht guten Appetit!‘ (Götz 1980: 384)

3. Q UANTIFIZIERENDER P LLURAL URAL . Auch in diesem Fall handelt es sich um eine spezielle Lesart des Summenplurals, für die eine bestimmte Anwendungsbedingung gilt – und zwar die Kombination mit Kardinalnumeralia (daher die in der Slawistik gängige Bezeichnung ‚Zählform‘). Diese Form ist im Bulgarischen und Mazedonischen belegt, wo männliche Substantive nach Kardinalnumeralia die Endung -a anstatt der regulären BUL -i/-ove bzw. MAZ -i/-ovi zeigen, wie in BUL pet učenika ‚fünf Schüler‘ gegenüber učenici ‚Schüler.PL ‘. Die Zählform ist im Bulgarischen präferiert mit [–personalen] Denotatsklassen anzutreffen, im Mazedonischen, wenn die NP die ‚einfache‘ Struktur ‚Numerale+Substantiv‘ hat (vgl. pet toma ‚fünf Bände‘ vs. pet debeli tomovi ‚fünf dicke Bände‘, Sussex/Cubberley 2006: 324). Im Bulgarischen und Mazedonischen sowie anderen slawischen Sprachen ist nach der Ansicht von Stankiewicz (1962: 7–9) auch ein KOLLEKTIVER P LURAL vertreten, der für die Referenz auf Gruppen von Entitäten benutzt wird und durch ein ursprünglich kollektives Wortbildungssuffix (-je/-ja, BUL nivi vs. nivja ‚Felder‘, MAZ listovi vs. lisje ‚Blätter‘) gebildet wird. Es stellt sich die Frage, inwiefern die durch dieses Suffix entstehenden Formen sich als Wortformen und nicht als separate Lexeme einstufen lassen: Für das Polnische gilt, dass diese Kollektivwortbildungen in der heutigen Sprache teils als Singulariatantum (kwiecie ‚Blüten‘ aus kwiat ‚Blume‘), teils als singularische Individuativa (nasienie ‚Samen‘) mit suppletiver Pluralform aus der ursprünglichen Singularform (nasiona ‚Samen.PL ‘ aus nasiono), teils als Pluralformen, mit oder ohne Singular, vertreten sind: Im ersteren Fall sind sie durch Rückbildung einer Singularform (z. B. cierń ‚Dorn‘ aus ciernie, urspr. Kollektivform aus tarn ‚Dorn‘) zu gewöhnlichen Individuativa geworden, im letzteren gelten sie als Pluraliatantum (konopie ‚Hanf‘) und konkurrieren mit der Pluralform des Individuativums, aus dem sie entstanden sind. Z. B. hat śmieć ‚Müll, Abfall‘ die Pluralformen śmieci – regulär – und śmiecie – ursprünglich ein Kollektivum (Friedelówna 1968: 47 f.).  





868

B Wort und Wortklassen

B2.3.3.3 Singularia- und Pluraliatantum Die in den Vergleichssprachen vertretene Grundopposition zwischen Singular und Plural gilt nicht durchgängig für alle Substantive: In vier der fünf Vergleichssprachen sind Singularia- und Pluraliatantum belegt. Diese sind Lexeme, die nur eine der beiden morphologischen Kategorien Singular und Plural aufweisen. Diese morphologische Beschränkung schließt jedoch nicht aus, dass diese Substantive beide semantischen Werte – Singular und Plural – annehmen bzw. morphosyntaktisch ausdrücken können. Auch im Fall von Singularia- und Pluraliatantum kann man nämlich zwischen Individuativa und Kontinuativa unterscheiden. Tabelle 6 zeigt, wie sich beide Dimensionen zueinander verhalten – mit Beispielen aus den Vergleichssprachen. Numerusbeschränkte Substantive sind in nahezu allen europäischen Sprachen vertreten. Besonders häufig kommen Pluraliatantum etwa in baltischen und slawischen Sprachen vor: Vgl. z. B. Ambrazas (1997: 103 f.) zum Litauischen, Friedelówna (1968) zum Polnischen, Sobolev (2005) zum Russischen. Obwohl das Auftreten numerusbeschränkter Substantive stark von Sprache zu Sprache variieren kann, scheint es möglich, eine Reihe von semantischen Bereichen zu ermitteln, in denen sie besonders oft vorkommen. Singulariatantum können z. B. Unikate (z. B. Weltall) oder Abstrakta (Friede) sein (Mösch 2007a), Pluraliatantum etwa Bezeichnungen für Feiertage, Körperteile, Krankheiten, Kleidungsstücke, Werkzeuge, Städte, Länder (Karlsson 2000: 648 f.). Im Ungarischen und Türkischen sind numerusbeschränkte Substantive nicht belegt: Im Prinzip sind alle Substantive in diesen Sprachen pluralfähig und es existiert kein Substantiv, das nur im Plural vorkommt. Selbst historisch als pluralisch erkennbare Formen wie UNG belek ‚Eingeweide‘ – das als bel ‚Innen‘ plus das Pluralsuffix -ek analysierbar ist – können pluralisiert werden. Die einzelnen Ausnahmen sind Lehnübersetzungen von Eigennamen wie UNG Alpok ‚Alpen‘, az Egyesült Államok ‚die Vereinigten Staaten‘ (Behrens 1995: 89), TÜR Amerika Birleşik Devletleri ‚Vereinigte Staaten Amerikas‘, die allerdings in der Regel Singular-Kongruenz beim Verb auslösen (vgl. → B2.3.4.2).  











Tab. 6: Verteilung von numerusbeschränkten Substantiven über beide Nominalaspekte Singulariatantum

Pluraliatantum

Kontinuativa

ENG water, gold, dust, rice, wheat FRA eau, or, poussière, riz, blé POL woda, złoto, kurz, ryż, pszenica DEU Wasser, Gold, Staub, Reis, Weizen

ENG annals, bowels FRA annales, entrailles POL annały, wnętrzności DEU Annalen, Eingeweide

Individuativa

ENG universe, mankind, nature, flora FRA univers, humanité, nature, flore POL wszechświat, ludzkość, natura, flora DEU Weltall, Menschheit, Natur, Flora

ENG scissors, glasses FRA ciseaux, lunettes POL nożyce, okulary

Wie aus Tabelle 6 zu ersehen ist, können beide Gruppen von numerusbeschränkten Substantiven sowohl kontinuativ als auch individuativ sein:

B2 Kategorisierungen

1.

Zu den kontinuativen Singulariatantum können Kontinuativa in ihrer Grund-, d. h. Stofflesart gerechnet werden. Dazu zählen nach Wierzbicka (1988: 555 f.) homogene Stoffe wie Wasser, Gold, Stoffe aus (mehr oder weniger) deutlich wahrnehmbaren Partikeln wie Reis sowie Kontinuativ-Kollektiva wie Vieh oder Obst. Kontinuative Pluraliatantum stellen in unseren Vergleichssprachen im Vergleich zu kontinuativen Singulariatantum eine Minderheit dar: z. B. ENG dregs ‚Bodensatz, Abschaum‘, oats ‚Hafer‘, POL fusy ‚Boden-, Kaffeesatz‘. Etwas zahlreicher sind sie in den baltischen Sprachen, wo z. B. Bezeichnungen für Mehl und Getreide Pluraliatantum sind: Mathiassen (1996: 51) erwähnt etwa LIT miltai ‚Mehl‘, avižos ‚Hafer‘, kviečai ‚Weizen‘; nach Ambrazas (1997: 103) kann aus Bezeichnungen für Getreide eine Singularform gebildet werden, die die Bedeutung ‚(Hafer-, Weizen-, …)Korn‘ hat. Zu Pluraliatantum in baltischen Sprachen siehe auch Degtjarev (1982: passim). Kontinuative Pluraliatantum bezeichnen oft Substanzen, die aus deutlich wahrnehmbaren Bestandteilen bestehen – nicht so vielen, dass man sie nicht zählen könnte, aber zu vielen, als dass man sich die Mühe geben würde, sie zu zählen (Wierzbicka 1988: 557). Ausnahmen hierzu wären etwa LIT dažai ‚Farbe, Lack‘, dujos ‚Gas‘, RUS duchi ‚Parfüm‘, černila ‚Tinte‘, slivki ‚Sahne‘: Es handelt sich hier um homogene Substanzen, deren Kleinstkomponenten mit bloßem Auge nicht auszumachen sind. Zu den individuativen Singulariatantum zählen Substantive, die zumindest in ihrer dominanten Lesart Unikate sind, d. h. Entitäten, von denen angenommen wird, dass nur ein Exemplar existiert. Neben astronomischen, biologischen und geografischen Termini wie ‚Sonne‘, ‚Mond‘, ‚Weltall‘, ‚Natur‘, ‚Menschheit‘, ‚Erde‘, ‚Welt‘ zählen hierzu auch Abstrakta für Empfindungen/Befindlichkeiten/ Gefühle wie ‚Kälte‘, ‚Ruhe‘, ‚Treue‘, ‚Nähe‘.  

2.

869







3.



Eine syntaktische Anmerkung: Im Englischen werden Bezeichnungen wie nature, life, time, science, art, flora, fauna – wenn verallgemeinernd und damit monoreferentiell gebraucht – häufig ohne Artikel verwendet, während sie im Deutschen ebenso wie im Französischen im Allgemeinen die Setzung des definiten Artikels (oder eines anderen definiten Determinativs) verlangen. Vgl. die folgenden Beispiele und deren Übersetzung ins Deutsche. (24) ENG

Life is a privilege. ‚Das Leben ist ein Privileg.‘ (BNC: A6T 1634)

(25) FRA

La

faune ne connaît pas de Fauna NEG kenn.3SG NEG PRP ‚Die Fauna kennt keine Grenzen.‘ (Internet)

DEF

frontières. Grenze.PL

4. Individuative Pluraliatantum bezeichnen Gegenstände, die als aus mehreren Teilen/Gliedern bestehend aufgefasst werden können. Manchmal wird die Mehrteiligkeit oder Gegliedertheit des Gegenstands als Grund für seinen Status als Pluraletantum vorgebracht (so z. B. Wierzbicka 1988: 515 f., kritisch dagegen Norman/Suprunčuk 2000: 58 f.); allerdings gibt es sowohl inter- als auch intralingual keine Evidenz dafür, dass mehrteilige bzw. mehrgliedrige Denotate zwangs 





870

B Wort und Wortklassen

läufig durch Pluraliatantum realisiert werden. Man vergleiche in kontrastiver Hinsicht etwa die Bezeichnungen für ‚Brille‘ und ‚Schere‘, die sich auf als mehrteilig konzeptualisierbare Gegenstände beziehen. Im Englischen (glasses, scissors), Französischen (lunettes, ciseaux) und Polnischen (okulary, nożyce) werden sie durch Pluraliatantum wiedergegeben, nicht aber im Deutschen und Ungarischen (szemüveg, olló), wo wie oben erwähnt Pluraliatantum ohnehin fehlen. Im Deutschen sind individuative Pluraliatantum sehr selten (z. B. Eltern, wobei das rückgebildete Form Elter auch belegt ist); oft stellen sie Entlehnungen dar (Jeans, Shorts, Spikes), wobei selbst bei diesen Lexemen Gebrauchsschwankungen zu verzeichnen sind (→ B1.4.2.3).  

Die Form Leute (sowie die Komposita auf -leute) ist vielleicht eher als suppletive Pluralform zu Mensch denn als Pluraletantum anzusehen; anders als individuative Pluraletantum wie ENG scissors, FRA ciseaux, POL nożyce kann sie mit „gewöhnlichen“ Kardinalnumeralia und Quantifikativa kombinieren (z. B. drei Leute, viele Leute), eine Eigenschaft, die für individuative Pluraliatantum eher untypisch ist: Im Polnischen werden z. B. spezielle Kollektivkardinalia benutzt (→ B2.3.4.1), im Finnischen stehen die Kardinalia mit kontinuativen Pluraliatantum selbst im Plural (z. B. kahdet sakset zwei.PL Schere.PL ‚zwei Scheren‘, Sulkala/Karjalainen 1992: 206).  







Für die slawischen Sprachen zeigen Norman/Suprunčuk (2000: 59), dass einzelsprachintern als synonymisch bzw. bedeutungsverwandt zu wertende Paare aus einem Pluraletantum und einem vollparadigmischen Individuativum belegt sind, wie CZE noviny – list ‚Zeitung‘, BKS kola – auto ‚Wagen‘, RUS časy ‚Uhr‘ – budil’nik ‚Wecker‘ – vgl. ähnlich im Polnischen wrota ‚Tor, Pforte‘ – brama ‚(Stadt-)Tor‘, usta ‚Mund, Lippen‘ – warga ‚Lippe‘. Außerdem sind in unseren Vergleichssprachen Fälle aus dem Konkretwortschatz zu verzeichnen, in denen für die Konzeptualisierung eines ähnlichen Denotats ein (kollektives) Singularetantum und ein Pluraletantum bzw. ein überwiegend pluralisch gebrauchtes Individuativum zur Verfügung stehen (vgl. Tabelle 7). Tab. 7: Beispiele für (quasi-)synonymische ‚Singularetantum-Pluraletantum‘ in unseren Vergleichssprachen

Deutsch

Englisch

Singularetantum

Pluraletantum (bzw. „überwiegend pluralisch“)

Kleidung

Kleider

Möbel, Zubehör

Güter

Habe

Habseligkeiten, Siebensachen

Schmuck

Juwelen, Pretiosen, Wertsachen

Proviant

Einkäufe, Waren, Reste

clothing

clothes

furniture, equipment

goods

jewellery

valuables

B2 Kategorisierungen

Französisch

Polnisch

871

Singularetantum

Pluraletantum (bzw. „überwiegend pluralisch“)

habillement

vêtements, habits

bijouterie

bijoux

odzież, ubranie

rzeczy (fam.!)

wyposażenie, sprzęt

ruchomości, dobra, towary

dobytek

manatki (fam.!)

biżuteria

klejnoty

prowiant

zakupy

Anzumerken ist noch, dass manche Pluraliatantum auf eine ursprünglich intendierte Mehrteiligkeit zurückgehen, was im heutigen Gebrauch jedoch nicht immer semantisch durchsichtig ist. Das ist z. B. der Fall mit Bezeichnungen für Feiern bzw. Feiertage, die aus mehreren Feierakten bzw. -tagen bestehen bzw. bestanden (Degtjarev 1982: 75): FRA fiançailles ‚Verlobung‘, funerailles ‚Bestattung‘, Pâques ‚Ostern‘, POL imieniny ‚Namenstag‘, urodziny ‚Geburtstag‘, DEU Weihnachten, Ostern. Da sie nicht mehr als gegliedert wahrgenommen werden, verlieren sie manchmal auch ihren nurpluralischen Charakter, was sich etwa in Kongruenzschwankungen niederschlägt: Vgl. hierzu → B2.3.4.2 sowie → B1.4.3.4.1.1. Pluraliatantum zeigen außerdem folgende Eigenschaften:  

1.

Manche Lexeme treten sowohl als Pluraletantum als auch als vollparadigmisches Individuativum auf, wobei erstere Verwendung generell mit einer unterschiedlichen Bedeutung einhergeht: So haben wir etwa ENG customs ‚Zoll‘ gegenüber custom(s) ‚Sitte, Brauch‘, arts ‚schöne Künste, Geisteswissenschaften‘ gegenüber art(s) ‚Kunst‘, FRA mémoires ‚Memoiren‘ gegenüber mémoire(s) ‚Diplomarbeit, Denkschrift‘, POL środki ‚materielle, Geld-Mittel’ gegen środek ‚Mitte(l)‘. Im Deutschen haben wir Gebräuche ‚Sitten‘ versus Gebrauch ‚Nutzung‘, Güter ‚Waren‘ versus Gut ‚Anwesen, Grundbesitz‘ und – mit weniger Differenz zwischen den Lesarten – Einkäufe ‚eingekaufte Waren‘ versus Einkauf als Nomen Actionis, Reste ‚vermischte Überbleibsel, z. B. vom Essen‘ versus Rest ‚verbleibender Teil‘. Umgekehrt haben wir bei Kraut eine Lesart als Singularetantum ‚grüner Pflanzenteil, (Rot-/Weiß-)Kohl‘ gegenüber einer als Individuativum ‚Heil-, Würzpflanze(nteil)‘. Bestimmte Pluraliatantum sind eher fest an Kookkurrenzpartner gebunden, wie in den folgenden idiomatischen Wendungen: DEU ohne alle Umschweife, allen Unbilden trotzen, ENG to be at loggerheads with ‚auf Kriegsfuß stehen‘, in the doldrums ‚deprimiert‘, FRA être aux aguets ‚auf der Lauer liegen‘, POL iść z kimś na udry ‚mit jemandem ernsthaft aneinandergeraten‘, igrzyska olimpijskie ‚Olympische Spiele‘, na klęczkach ‚auf Knien‘. Wie Friedelówna (1968: 92 f.) anmerkt, sind im Polnischen solche Wendungen besonders in den Dialekten belegt.  

2.



872

B Wort und Wortklassen

Obwohl wir Singularia- und Pluraliatantum als numerusbeschränkte Substantive definiert haben, können manche von ihnen gelegentlich eine Numerusopposition zeigen. Kontinuative Singulariatantum können auch im Plural vorkommen, vorausgesetzt, sie werden umkategorisiert und als Individuativa aufgefasst (vgl. → B2.3.3.1) – ausgenommen hier ist nur der Fall des Abundanzplurals. Bei individuativen Singulariatantum findet keine Umkategorisierung statt, da sie bereits individuativ sind; allerdings wird durch die Pluralisierung ihr Status als Unikate aufgehoben. In (26) und (27) wird angenommen, dass mehrere Universen bzw. mehrere Sonnen existieren.  



(26)

Wir werden unterrichtet, daß unser Universum das kleinste und innerste von sieben Weltallen ist. (Internet)

(27)

Dort begann am 16. Juli 1945 um 5.30 Uhr das Atomzeitalter mit einem Blitz, der noch in 400 km Entfernung den Himmel erleuchtete und der in Bodennähe heller als viele Sonnen war. (Internet)  

Andere individuative Singulariatantum bezeichnen „relative Unikate“, also Entitäten, die in einem Kontext (z. B. einer Gesellschaft oder Epoche) nur einmal vorkommen, aber relativ zu anderen Kontexten ebenfalls in Erscheinung treten: so z. B. Adel, Aristokratie, Bürgertum und ihre Entsprechungen in den Kontrastsprachen Englisch, Französisch und Polnisch. Sie werden unmarkiert nur im Singular gebraucht, kommen aber auch pluralisch vor, wie in den nächsten Beispielen zu sehen ist.  



(28) ENG

Nobility was at the heart of the Old Regime in every sense: socially, economically, politically, culturally. Its temporary demise in France was one of the earliest and most celebrated achievments of the French Revolutionaries. This collection of essays provides a uniquely comprehensive introduction to the world of Europe’s nobilities at the apex of their power and influence, the seventeenth and eighteenth centuries. ‚Der Adel war in jedem Sinne – sozial, wirtschaftlich, politisch, kulturell – das Herzstück des Alten Regimes. Sein zeitweiliger Untergang in Frankreich war eine der ersten und meist gefeierten Errungenschaften der französischen Revolutionäre. Diese Aufsatzsammlung bietet eine einzigartige Gesamteinführung in die Welt der europäischen Adelsgesellschaften auf dem Höhepunkt ihrer Macht und ihres Einflusses, zum 17. und 18. Jahrhundert.‘ (Internet)  

(29) FRA

La question de la jeunesse devient alors celle du passage à la vie adulte, et des modes d’organisation des calendriers et des seuils qui rythment ce processus de transition. Si l’on peut ainsi distinguer plusieurs jeunesses, correspondant à des manières différentes d’« entrer dans la vie », ces différences ne recoupent pas celles tenant aux appartenances héritées. ‚Die Frage der Jugend wird dann zur Frage des Übergangs zum Erwachsenenleben und der Methoden, wie die Abläufe und die Etappen, die den Rhythmus dieses Übergangsprozesses bestimmen, organisiert werden. Kann man auf diese Art und Weise mehrere Jugenden unterscheiden, die unterschiedlichen Arten des ‚Ins-LebenKommen‘ entsprechen, so stimmen diese Unterschiede nicht mit denen überein, die mit der ererbten Zugehörigkeit zusammenhängen.‘ (Internet)

B2 Kategorisierungen

(30)

873

Der analytische Vorteil der Kategorie ist nun in jedem Fall […] der, dass sie von vornherein mehrere Ebenen miteinander verklammert, bei der Beobachtung erwartbar macht, nämlich: verschiedene Strukturen und Mechanismen („bürgerliche Gesellschaft“ als Systembegriff), Akteure oder Akteursgruppen (eben das „Bürgertum“ oder „Bürgertümer“), und eine Haltung („Bürgerlichkeit“). (Internet)

Auch im Bereich der Pluraliatantum sind ähnliche Fälle zu verzeichnen. Bezogen auf bestimmte Lexeme ist Pluraletantum zu sein entweder eine absolute oder eine frequentiell abgestufte Eigenschaft. Es gibt Pluraliatantum ohne formal isolierbaren Singularstamm und ohne Pluralmarker wie ENG people, oder auch solche ohne (synchron noch existenten) Singularstamm, aber mit (formalem) Pluralmarker wie DEU Ferien, Faxen, Leute, Fisimatenten. Diese sind absolute Pluraliatantum. Andere Ausdrücke wie ENG groceries, earnings, leftovers oder DEU Allüren, Flitterwochen, Habseligkeiten, Immobilien, Moneten, Pretiosen, Spesen, Wertsachen weisen erkennbare Pluralmarker und (zumindest für bestimmte Sprecher isolierbare) Singularstämme auf; in diesen Fällen kann ggf. auch der Singular verwendet werden, so dass nur die überwiegende Frequenz im Plural die Zuordnung zu dieser Klasse rechtfertigt (s. dazu auch → B1.4.2.3). Im Deutschen fallen in diese Kategorie besonders auch Substantive auf -el, -er, -en (-chen), die im Plural endungslos sind wie die Lebensmittel – (seltener) das Lebensmittel, die Kinkerlitzchen – (seltener) das Kinkerlitzchen. Für Habseligkeit gibt es in DeReKo 15 Belege, für die Pluralform über 100 (Mösch 2007b). Von den 394 Vorkommen von Kinkerlitzchen in DeReKo sind 11 eindeutige Singularvorkommen, den 86 Vorkommen von Pretiose stehen über 1000 Pluralvorkommen gegenüber, bei Wertsache(n) ist das Verhältnis mit 19:3932 noch drastischer.

Gerade bei kontinuativen Pluraliatantum, die Aggregate von Entitäten oder aus kleineren Partikeln bestehende Substanzen bezeichnen, ist die frequentielle Abstufung ausgeprägt: Zwar überwiegen Pluralvorkommen und aus praktischen Gründen wird nicht gezählt, aber im Prinzip ist auch die Singularform verfügbar, sei es, dass markierter auf die einzelne Partikel Bezug genommen werden kann wie etwa bei POL krupa/krupy ‚Graupe(n)‘, sei es, dass bei Aggregaten auch der Singular für das ganze Aggregat stehen kann (wie etwa bei FRA l’entraille, DEU das Eingeweide), wie in (31). Etwas anders liegt der Fall, wenn die Singularform wie bei ENG oat(s) kontinuativ die Pflanze bezeichnet, der Plural die (zu Flocken verarbeiteten) Früchte, wie in (32). (31)

beim Wild das Eingeweide entfernen (Internet)

(32) a. Stir in oats, spice, figs and apricots, mixing well. ENG ‚Hafer, Gewürz, Feigen und Aprikosen unterrühren, gut mischen.‘ (Internet)

874

B Wort und Wortklassen

b. Take your pick from Optivita’s crispy wholegrain flakes of oat, wheat and rice with either raisins or with freeze dried strawberries, blueberries fruits and sweetened blackcurrants. ‚Wählen Sie das Beste aus Ihren Optivita-Vollkornhafer-, -weizen- und -reisflocken entweder mit Rosinen oder mit gefriergetrockneten Erdbeeren, Heidelbeeren und gesüßten schwarzen Johannisbeeren.‘ (Internet) In ihrer Liste von class meanings nennt Wierzbicka (1988: 559) diese Lexeme plural mostly, um sie von den „echten“ Pluraliatantum (plural only) zu unterscheiden; parallel dazu identifiziert sie auch eine Reihe von singular mostly-Substantiven, die den „echten“ Singulariatantum gegenüberstehen. Grevisse/Goosse (2011: 693–698) listen für das Französische neben den „echten“ Pluraliatantum – deren Gebrauch im Singular standardsprachlich sanktioniert wird – auch eine Reihe von Substantiven auf, die sowohl als vollparadigmische Individuativa als auch als individuative Pluraliatantum gebraucht werden: Es handelt sich um Bezeichnungen für paarige Geräte (tenaille(s) ‚Zange‘) bzw. Kleider (culotte(s) ‚Unterhose‘) sowie für Toiletten (latrine(s) ‚Latrine‘) und bestimmte Feiertage bzw. Zeiträume (Avent(s) ‚Advent‘). Ähnliche Schwankungen sind auch in slawischen Sprachen – diachronisch und/oder diatopisch – belegt, so etwa im Russischen ves, vila, vorot gegenüber standardsprachlich vesy ‚Waage‘, vily ‚Heugabel‘, vorota ‚Tor‘ (Sobolev 2005: 107–110): Vgl. dazu die (balto-)slawische Übersicht in Friedelówna (1968: 97–101) und Degtjarev (1982: 69–76). Wir können somit Folgendes festhalten: Außer dem Ungarischen zeigen alle Vergleichssprachen numerusbeschränkte Substantive. Diese Numerusbeschränkung gilt aber nicht in demselben Maße für alle betroffenen Lexeme. Manche sind „absolut“, manche sind „relativ“ numerusbeschränkt. Die Aufhebung der Numerusbeschränkung erklärt sich zumindest morphologisch durch das Prinzip der Analogie: Analog zu einer Reihe anderer (individuativer) Substantive, die eine Singular- und eine Pluralform zeigen, lässt sich theoretisch auch für Singularia- und Pluraliatantum die fehlende Form ableiten. Inwiefern von dieser Möglichkeit tatsächlich Gebrauch gemacht wird, hängt von diversen Faktoren ab – manchmal semantischer, manchmal pragmatischer Natur. An sich ist die Operation ‚Singularisierung‘ bzw. ‚Pluralisierung‘ immer denkbar.  

B2.3.4 Reichweite der Numeruskongruenz B2.3.4.1 Numeruskongruenz und Numerusmarkierung innerhalb der NP Es wird traditionell angenommen, dass das Substantiv Auslöser der Numeruskongruenz (sowie von Genus- und Kasuskongruenz für Genus- und Kasussprachen) innerhalb der NP ist. D. h., Numerus wird als grammatische Kategorisierung des Kopfsubstantivs verstanden, die an die Gesamt-NP – und ggf. außerhalb der NP ans  

B2 Kategorisierungen

875

Satzprädikat bzw. an anaphorische Pronomina – weitervererbt wird. Allerdings wird z. B. in Köpcke/Zubin (2005) die Ansicht vertreten, dass grammatische Kategorisierungen (im Fall von Köpcke/Zubin 2005 das Genus) erst auf NP-Ebene realisiert werden. Numerus wäre somit als Kategorisierung der Gesamtphrase aufzufassen. Als Zwischenlösung führt Scheibl (2007: 168) den Terminus ‚Kernnumerus‘ ein: Der Kernnumerus ist NP-intern identifizierbar, die Markierung erfolgt am Kopfsubstantiv und/ oder an anderen NP-Konstituenten, siehe z. B. (33) und (34).  



(33)

a. derSG alte VaterSG NP→SG b. diePL alten VäterPL NP→PL

(34)

a. thatSG black sheepSG/PL NP→SG b. thosePL black sheepSG/PL NP→PL Unter den anderen NP-Konstituenten hebt Scheibl (2012: 118) insbesondere die so genannten Numeruswörter hervor: Diese tragen – unabhängig von der Markierung am Kopfsubstantiv – Informationen über den Numerus der NP. Numeruswörter setzen sich aus Singularwörtern (Kardinalnumerale ein, Indefinit-, Definit-, Demonstrativ-, Possessiv- und Quantitativdeterminativ im Singular) und Pluralwörtern (Kardinalnumeralia ab zwei, Definit-, Demonstrativ-, Possessiv- und Quantitativdeterminativ im Plural) zusammen. Numeruswörter sind, was Numerusmarkierung betrifft, flexivischen Numerusmarkern funktional gleichgestellt: Die Anwesenheit eines Numerusmarkers und/oder eines Numeruswortes in einer NP würde reichen, damit diese als singularisch bzw. pluralisch gilt (Scheibl 2007: 169, 2012: 119). Wir übernehmen den Begriff Numeruswort allerdings nicht: Erstens kann im Prinzip jede NP-Konstituente, auch Adjektive – die Scheibl nicht erwähnt – den Numerus der NP markieren – man denke etwa an Beispiele wie DEU tolle Wagen oder FRA énormes erreurs (phonetisch als [enɔrmzɛrœr] realisiert), wo der Numerus Plural nur durch die Adjektivendung explizit kodiert wird. Zweitens können Numeruswörter von Sprache zu Sprache anders sein (z. B. zählen definite Artikel im Deutschen dazu, nicht aber im Ungarischen, Scheibl 2012: 118), so dass der Sprachvergleich in dieser Hinsicht erschwert wird. Drittens sind Numeruswörter semantisch unterschiedlich: Numeralia und Quantifikativa tragen Quantifikation in sich (drei ist semantisch Mehrzahl), bei anderen NP-Konstituenten wie Artikel oder Demonstrativa ist Numerus eine rein grammatische Kategorisierung. Diese Tatsache hat auch ein funktionales Pendant: Numeralia und Quantifikativa realisieren innerhalb der NP die funktionale Domäne der Quantifikation, Artikel oder Demonstrativa dagegen die funktionale Domäne der Identifikation. Aus allen diesen Gründen werden wir also weiterhin allgemein von ‚anderen NP-Konstituenten‘ sprechen und auf den Begriff ‚Numeruswort‘ verzichten.  

Anzumerken ist noch, dass die Polarität ‚Markierung am Kopfsubstantiv vs. Markierung auf der NP-Ebene‘ bereits in Becherts (1990) arealtypologischer Untersuchung der Substantivstruktur in den europäischen Sprachen umrissen wird. Bechert unterscheidet zwischen Substantivflexion und Wortgruppenflexion je nachdem, ob grammatische Kategorisierungen (Genus, Numerus, Kasus; auch: Determination) am Kopfsubstantiv selbst durch Affixe bzw. Stammänderung oder erst an der Wortgruppe durch andere Konstituenten (typischerweise: Artikel bzw. andere Determinative) ausgedrückt werden. Numerus erweist sich hier als eine der Kategorisierungen, die am häufigsten durch Substantivflexion kodiert wird („the least separable category of the noun“, Bechert 1990: 138).

876

B Wort und Wortklassen

Auf Bechert (1990) basierend werden wir auch zwischen der morphologischen Markierung von Numerus am Kopfsubstantiv und der syntaktischen Markierung an der NPEbene durch andere Konstituenten unterscheiden. Wir können somit einen Parameter ,Numerusmarkierung am Kopfsubstantiv/an der NP‘ ansetzen. Es handelt sich hierbei um Tendenzen: In keiner der Vergleichssprachen wird ausschließlich von der einen oder der anderen Möglichkeit Gebrauch gemacht. Die Vergleichssprachen werden im Folgenden einzeln in Betracht genommen. Im Englischen wird Numerus in der Regel morphologisch am Kopfsubstantiv markiert. Einzelne Ausnahmen (sheep, fish), wo dies nicht geschieht, wurden in → B2.3.3.1 besprochen. Wie in Tabelle 2 gezeigt, sind die meisten anderen NP-Konstituenten nicht numerusmarkiert: Zur syntaktischen Numerusmarkierung tragen also nur Demonstrativpronomina bei und können ggf. den Numerus der NP disambiguieren, wie in (34) oben. Ähnlich verfährt das Ungarische: Numerus wird durch Substantivflexion morphologisch markiert; zur syntaktischen Markierung tragen, wie im Englischen, nur Demonstrativpronomina bei; s. Bsp. (10) oben. Im Polnischen erfolgt Numerusmarkierung konsequent am Kopfsubstantiv und an allen NP-Konstituenten. Sporadisch vertretene homonyme Endungen bei Adjektiven und adjektivisch flektierenden Pronomina (z. B. małe, które ‚klein, welch- NOM / AKK .N .SG / NOM / AKK .PL ‘) beeinträchtigen daher die Numerusmarkierung nicht, s. Bsp. (11) oben. Ähnliches kann für das geschriebene Französisch gesagt werden; das gesprochene Französisch unterscheidet sich dagegen stark von seinem schriftlichen Pendant. Hier werden die morphologischen Pluralmarkierungen (-s-Morphem) an Substantiven und Adjektiven bzw. adjektivisch flektierenden Pronomina nicht realisiert, so dass Numerus primär durch Determinative (Definitartikel, Demonstrativum, Possessivum) realisiert wird, s. (35). Im Französischen können wir also deutlich von Gruppenflexion sprechen: Numerusmarkierung erfolgt auf der NP-Ebene. Nach Bechert (1990: 121) teilt das Französische diese Eigenschaft mit den keltischen Sprachen.  

(35)

a. b. c. d.

[la'vil] vs. [le'vil] (la ville vs. les villes) [lamuʀ'fu] vs. [lezamuʀ'fu] (l’amour fou vs. les amours fous) [s(ǝ)ka'si] vs. [seka'si (ce cas-ci vs. ces cas-ci) [mavjɛja'mi] vs. [mevjɛjza'mi] (ma vieille amie vs. mes vieilles amies)

Wenn kein Determinativ vorhanden ist, kann Numerus durch die Liaison disambiguiert werden (Weinrich 1982: 70; Bechert 1990: 121), wie in (35d), (36a). Allerdings stellt die Liaison kein verlässliches Mittel zur Numerusmarkierung dar: In der Wortfolge ‚Adjektiv+Substantiv‘ ist sie obligatorisch, in der umgekehrten dagegen fakultativ, wie in (36b), so dass die NP in diesem Fall nicht explizit numerusmarkiert ist. (36)

a. [enɔʀme'ʀœʀ] vs. [enɔʀmze'ʀœʀ] (énorme erreur vs. énormes erreurs) b. [eʀœʀe'nɔʀm] vs. [eʀœʀ(z)e'nɔʀm] (erreur énorme vs. erreurs énormes) (Weinrich 1982: 70)

877

B2 Kategorisierungen

Das Deutsche steht den Kontrastsprachen – außer dem gesprochenen Französisch – nahe: Die Numerusmarkierung erfolgt hauptsächlich morphologisch am Kopfsubstantiv durch Flexion, wobei auch alle anderen NP-Konstituenten grundsätzlich numerusmarkiert sind. So können diese in Fällen, in denen aus morphophonologischen Gründen die Numerusmarkierung am Kopf ausbleibt, dazu beitragen, Numerus auf der NP-Ebene zu markieren, vgl. (37). (37)

a. b. c. d.

seinSG tollerSG neuerSG WagenSG/PL NP→SG seinePL tollenPL neuenPL WagenSG/PL NP→PL diesesSG ungewöhnlicheSG KürzelSG/PL NP→SG diesePL ungewöhnlichenPL KürzelSG/PL NP→PL

Damit ist nicht gesagt, dass das Deutsche keine Gruppenflexion bzw. keine „flexivische Kooperation“ innerhalb der NP, vgl. → C6.4, zeigt: Kasusmarkierung erfolgt nicht am Kopfsubstantiv, sondern – vom Genitiv-s und Dativ-Plural-n abgesehen – erst an den anderen NP-Konstituenten, und zwar hauptsächlich an den Artikeln. In dieser Hinsicht ist das Deutsche typologisch fern vom Polnischen und Ungarischen, die eine ausgeprägte Kasusmarkierung am Kopf zeigen, und nähert sich dem Englischen und Französischen an, die zur syntaktisch-semantischen Rollenmarkierung auf Präpositionalphrasen zurückgreifen. Tab. 8: NP-Konstituenten, die zur Numerusmarkierung in der NP beitragen

Markierung am Kopf

↕ Markierung an der NP

POL

DEU

FRA

UNG

ENG

Kopfsubstantiv

+

+

+ (geschr.) – (gespr.)

+

+

Adjektiv

+

+

+ (geschr.) +/– (gespr.)





Artikel

//

+

+





Demonstrativpronomen

+

+

+

+

+

Kardinalnumeralia

+

+

+

+

+

Quantifikativa

+

+

+

+

+

In Tabelle 8 wird zusammenfassend dargestellt, welche NP-Konstituenten zur Numerusmarkierung der Gesamtphrase beitragen. Es zeichnet sich ab, dass die Markierung am Kopfsubstantiv außer im gesprochenen Französisch und von begrenzten Ausnahmen im Englischen und Deutschen abgesehen ein Merkmal unserer Vergleichssprachen ist. Von den anderen NP-Konstituenten tragen in allen Sprachen zumindest die Demonstrativpronomina zur Numerusmarkierung bei, bei Artikeln und Adjektiven unterscheiden sich dagegen die Vergleichssprachen stärker voneinander. Diese Konstituenten tragen, wie oben erwähnt, mittelbar zur Numerusmarkierung bei, da für sie Numerus eine rein grammatische Kategorisierung darstellt: Sie kon-

878

B Wort und Wortklassen

gruieren mit dem Kopfsubstantiv, das als Auslöser der Kongruenz gilt. Hingegen können Kardinalnumeralia (sowie Quantifikativa) – in deren Semantik der quantifikative Aspekt eingebaut ist – als Einheiten angesehen werden, die an das Kopfsubstantiv durch Rektion gebunden sind, denn sie bestimmen den Numerus des Kopfes. Hier stehen das Ungarische und das Polnische etwas abseits von den anderen Vergleichssprachen, in denen die Anwesenheit eines Kardinalnumerales ab zwei in der Regel die Pluralform bzw. die Pluralflexion des Substantivs verlangt: Im Ungarischen regieren Kardinalnumeralia und Quantifikativa immer die Singularform; im Polnischen unterscheiden sich die Formen je nach Kardinalnumerale und nach dem Genus des Kopfsubstantivs, wie in Tabelle 9 dargestellt. Die sog. ‚Kollektivnumeralia‘ in der letzten Spalte werden mit Pluraliatantum, gemischten (d. h. männlichen und weiblichen) personalen Referentengruppen und Tierjungen verwendet.  

Tab. 9: Die Form von Kardinalnumeralia enthaltenden NPs im Polnischen MPERS

NONMPERS

N

F

‚Kollektivnumeralia‘

jedno+NOM.SG

jedna+NOM.SG

jedne+NOM.PL

dwie+NOM.PL

dwoje+GEN.PL

1

jeden+NOM.SG

2

dwaj+NOM.PL dwa+NOM.PL dwu/dwóch+GEN.PL

3

trzej+NOM.PL trzech+GEN.PL

trzy+NOM.PL

troje+GEN.PL

4

czterej+NOM.PL czterech+GEN.PL

cztery+NOM.PL

czworo+GEN.PL

pięć+GEN.PL

pięcioro+GEN.PL

5+ pięciu+GEN.PL

Swan (2002: 196) und Bartnicka et al. (2004: 266) vertreten die Ansicht, dass im Fall von Kopfsubstantiven im Nominativ (SG oder PL) Zahlwörter adjektivisches Verhalten zeigen, denn sie kongruieren im Kasus und Genus mit dem Kopfsubstantiv (und die ganze NP kongruiert im Numerus und ggf. im Genus mit dem Verb). Im Fall von Kopfsubstantiven im Genitiv Plural zeigen Zahlwörter dagegen nominales Verhalten, da sie den Kasus und Numerus des Substantivs bestimmen (Rektion), obwohl sie weiterhin mit dem Substantiv im Genus kongruieren (z. B. pięć + NONMPERS , F, N; pięciu + MPERS , pięcioro + gemischte Gruppen). Laskowski (1999a: 63) geht dagegen von einem Wechseleinfluss zwischen Numerale und Substantiv aus: Das Numerale bestimmt Kasus und Numerus des Substantivs, das Substantiv bestimmt das Genus des Numerals. Da wir hier grundsätzlich für ein Rektionsverhältnis zwischen Kardinalnumerale und Kopfsubstantiv plädieren, schließen wir uns Laskowski an: Das Zahlwort regiert das Kopfsubstantiv, d. h. bestimmt seinen Numerus und Kasus; umgekehrt kongruiert das Zahlwort im Genus mit dem Substantiv. Anzumerken ist noch, dass in Tabelle 9 nur Zahlwörter enthaltende NPs in den direkten Kasus (NOM - AKK ) sowie VOK berücksichtigt werden; steht die NP in einem anderen Kasus, so zeigen sowohl das Zahlwort als auch das Substantiv denselben Kasus; das Substantiv erscheint (außer im Kombination mit jeden) im Plural. Dieses gespaltene Verhalten von direkten gegenüber den übrigen Kasus ist auch in anderen west- und ostslawischen Sprachen (z. B. Sorbisch, Russisch), nicht aber in südslawischen Sprachen (wie Serbisch) belegt (Franks 2009a).  





879

B2 Kategorisierungen

Trotz der komplex anmutenden Verhältnisse in der polnischen Numeralsyntax kann man beobachten, dass das Kopfsubstantiv wie im Englischen, Deutschen und Französischen auch in dieser Sprache prinzipiell im Plural steht, wenn ein Kardinalnumerale ab zwei in der NP vorkommt. Wir können somit festhalten, dass ein quantifikativer Ausdruck immer zur Numerusmarkierung der Gesamtphrase beiträgt: In diesem Fall erfolgt die Numerusmarkierung auf der NP-Ebene. Damit wird auch dem Spezialfall des Ungarischen Rechnung getragen: Obwohl das Kopfsubstantiv in Kombination mit (semantisch pluralischen) Numeralia und Quantifikativa im Singular vorkommt, erweist sich die NP als pluralisch.

B2.3.4.2 Numeruskongruenz außerhalb der NP Zum Schluss wird auf die Numeruskongruenz außerhalb der NP kurz eingegangen (zum parallelen Phänomen beim Genus siehe → B2.2.2.2). Im vorigen Abschnitt wurde beobachtet, dass in unseren Sprachen die Numerusmarkierung am Kopfsubstantiv oder auf der NP-Ebene erfolgt. In diesem Abschnitt werden wir sehen, ob sich der für die NP ermittelte Numerus (nach Scheibl: Kernnumerus) auch außerhalb der NP morphosyntaktisch niederschlägt. Es kann festgestellt werden, dass der NP-externe Numerus durch kongruierende entsprechende Numerusmorpheme an diversen Satzelementen realisiert wird. In Tabelle 10 wird ein Überblick darüber gegeben, welche Satzelemente, die mit der NP in semantisch-syntaktischer Beziehung stehen, mit dem Numerus der NP kongruieren. Sie werden dann einzeln betrachtet. Tab. 10: Numeruskongruenz außerhalb der NP POL

DEU

FRA

UNG

ENG

adjektivisches Prädikativ

+



+

+



substantivisches Prädikativ

+

+

+

+

+

Verbalprädikat

+/–

+

+

+/–

+

Anapher (PRO)

+

+

+

+

+

Im Fall des Prädikativs verhalten sich adjektivische und substantivische Prädikative in unseren Sprachen unterschiedlich: Kongruenz mit dem Numerus der NP zeigen nur Polnisch, Französisch (geschrieben) und Ungarisch, nicht aber Deutsch und Englisch; vgl. (38). (38) DEU ENG FRA

Peters Eltern sind klug. Peter’s parents are intelligent. Les parents de Pierre sont intelligents.

880

B Wort und Wortklassen

POL UNG

Rodzice Piotra są mądrzy/rozsądni. Péter szülei okosok.

Steht im Ungarischen ein Kardinalnumerale oder ein Quantifikativum in der NP, so zeigt das Prädikativ Singularkongruenz, wie in (39). (39) UNG

Négy tanár volt magas. vier Lehrer.SG sein.PRT .3SG groß ‚Vier Lehrer waren groß.‘ (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 328)

Bei substantivischen Prädikatsnomina kongruiert dagegen in allen Sprachen der Numerus mit dem der Subjekt-NP – zumindest bei distributiven Lesarten, wie in (40); bei kollektiven Lesarten muss dies nicht unbedingt der Fall sein, vgl. (41). (40) DEU ENG FRA POL UNG

Peters Eltern sind Ärzte. Peter’s parents are doctors. Les parents de Pierre sont médecins. Rodzice Piotra są lekarzami. Péter szülei orvosok.

(41) DEU ENG FRA POL UNG

Peters Eltern waren das größte Hindernis in seinem Leben. Peter’s parents were the biggest obstacle in his life. Les parents de Pierre étaient l’obstacle le plus grand dans sa vie. Rodzice Piotra byli największą przeszkodąS G w jego życiu. Péter szülei voltak a legnagyobb akadályS G az életében.

Was die Kongruenz mit dem Verbalprädikat betrifft, so verhalten sich unsere Sprachen einheitlich: Singularische Subjekt-NPs kongruieren in der Regel mit singularischen Verbformen, pluralische NPs mit pluralischen Verbformen. Dazu gibt es eine Reihe von Ausnahmen, die im Folgenden kurz behandelt werden. 1. Pluraliatantum. Wie in → B2.3.3 besprochen, gehen manche Pluraliatantum auf eine intendierte Mehrteiligkeit zurück, die synchron nicht mehr semantisch durchsichtig ist. Als Folge verlieren diese Lexeme manchmal ihren nur-pluralischen Charakter, was sich etwa in Kongruenzschwankungen niederschlägt: Der NP-externe Numerus stimmt in diesen Fällen mit dem Kernnumerus (Plural) nicht überein. Dies geschieht etwa mit Bezeichnungen für Feiertage im Deutschen und Französischen, wie in (42) und (43) (s. auch → B1.4.3.4.1.1), oder mit Ländernamen, wie im polnischen Beispiel (44). Hier wird die Kongruenzschwankung auch durch morphophonologische Verhältnisse begünstigt: Im Deutschen kommt der Auslaut -(e)n sowohl als schwache Pluralendung als auch als Teil des Stammes (Magen, Leben) vor; im Französischen wird das Plural-s phonetisch nicht realisiert, und – umgekehrt – kann ein Wort auch

B2 Kategorisierungen

881

im Singular auf -s auslauten (z. B. temps); im Polnischen kann die Nominativ-Endung -y mit der der adjektivischen Flexion identifiziert werden. Was das Ungarische betrifft, werden die wenigen (entlehnten) Pluraliatantum nicht als solche wahrgenommen, so dass das Verb im Singular kongruiert, vgl. (45).  

(42)

a. Ostern/Weihnachten war schön. b. Ostern/Weihnachten waren schön.

(43) a. La Pâques est passée. DEF .F .SG Ostern ist vergangen.F .SG FRA b. Les Pâques sont passées. DEF .PL Ostern sind vergangen.F .PL ‚Ostern ist vorbei.‘ (44) a. Czy Włochy ma dostęp do morza? POL PTL Italien.PL hab.3SG Zugang zu Meer.GEN G EN ‚Hat Italien Zugang zum Meer?‘ b. Włochy są krajem górzystym. sind Land.INS .SG bergig.INS .SG Italien.PL ‚Italien ist ein bergiges Land.‘ (Internet) (45) UNG

Amerikai nagykövet: az Egyesült Államok nem amerikanisch Konsul DEF vereinigt Staat.PL NEG gyakorol nyomást Magyarországra. Druck.AKK Ungarn.SUB üb.3SG ‚Der amerikanische Konsul: Die USA üben keinen Druck auf Ungarn aus.‘ (Internet)

2. Kollektiva. Bei Kollektiva (wie Herde, Team, vgl. auch → B1.4.2.5.2) und sog. „corporate nouns“ (wie Polizei) kongruieren im Deutschen, Französischen und Ungarischen NP-interner und NP-externer Numerus am Verb (z. B. das Komitee hat entschieden, dass …); im Englischen zeigen sie dagegen Kongruenz in beiden Numeri (the committee has/have decided, Corbett 2000: 189 f.). Ob der NP-externe Numerus hier Singular oder Plural ist, ist in der Regel eine Frage der diatopischen Variation; in anderen Fällen hingegen gehen mit verschiedener Kongruenz semantische Unterschiede einher, wie in (46a–b) und (46c–d) zu sehen ist.  



(46) a. The family is on holiday. (→ die ganze Familie zusammen) ENG b. The family are on holiday. (→ jedes Mitglied für sich anderswo) c. The police is waiting outside. (→ die ganze Institution) d. The police are waiting outside. (→ eine Gruppe von Polizisten)

882

B Wort und Wortklassen

Trudgill/Hannah (2002: 70) weisen darauf hin, dass die in den obigen Beispielen dargestellten semantischen Unterschiede prinzipiell im britischen Englisch vorkommen; im US-amerikanischen Englisch überwiegt die Singularkongruenz, d. h. die Tendenz, dass NP-interner und NPexterner Numerus kongruieren (ebd.).  

Im Polnischen kongruieren Kollektiva im Singular mit dem Verb, wie in (47a); ausgenommen sind Kollektiva mit assoziativer Bedeutung (auf -ostwo) sowie das Personalpronomen państwo (vgl. → B2.3.3.2), die die Pluralform des finiten Verbs fordern, wie in (47b). (47) a. Rycerstwo ruszyło do walki. zieh.PRT .3SG .N in Kampf.GEN POL Kavallerie.N .SG ‚Die Kavallerie zog in den Kampf.‘ b. Wujostwo przyszli. komm.PRT .3PL .MPERS Onkel und Tante.N .SG ,Onkel und Tante sind da.‘ (Bartnicka et al. 2004: 155). 3. NP mit Numeralia und Quantifikativa. Während mit NPs, die einen quantifikativen Ausdruck enthalten, im Deutschen, Französischen und Englischen NP-interner und NP-externer Numerus kongruieren, weichen das Polnische und das Ungarische ab. Im Polnischen stimmen NP-interner und -externer Numerus nur überein, wenn das Kopfsubstantiv in der NP im Nominativ steht: Mit Bezug auf Tabelle 9 oben betrifft dies NPs, die die Kardinalnumeralia 1 bis 4 enthalten, vgl. (48). Die Kollektivnumeralia ab 2, die Alternativformen von 2 bis 4 für maskulin-personale Referenten und alle Kardinalnumeralia ab 5 regieren den Genitiv: NPs, die diese Numeralia enthalten, zeigen bei anzunehmender Subjektfunktion des Nominals keine Kongruenz zwischen NP-internem und -externem Numerus; letzterer ist nämlich immer Singular, obwohl die NP Plural ist, wie in (49a). Steht das Verb in einer Präteritum- oder Konditionalform, weist er außerdem das Genus Neutrum auf, vgl. (49b–c). Alle Beispiele stammen aus Swan (2002: 196–202). Zu einer Erklärung für dieses Phänomen vgl. → D1.2.2.2.1, → C5.6.2.4. (48) a. Jedna krowa zdechła. sterb.PRT .3SG .F POL ein.NOM .F .SG Kuh.. NOM . SG ‚Eine Kuh starb.‘ b. Dwaj chłopcy śmiali zwei.NOM .MPERS Junge.NOM .PL lach.PRT .3PL .MPERS ‚Zwei Jungen lachten.‘

się. KL . REFL

(49) a. Moje pięć sióstr POL POSS .1 SG . NOM . PL . NONMPERS fünf.NOM Schwester.GEN .PL bez wyjątku chce być bogate. sein.INF reich.NOM .PL .NONMPERS ohne Ausnahme.GEN woll.3SG ,Meine fünf Schwestern wollen ohne Ausnahme reich sein.‘

B2 Kategorisierungen

883

b. Pięciu studentów zaśmiało się. auflach.PRT .3SG .N KL . REFL fünf Student.GEN .PL ‚Fünf Studenten lachten auf.‘ c. Troje dzieci bawiło się. Kind.GEN .PL spiel.PRT .3SG .N KL . REFL drei.NOM ‚Drei Kinder spielten.‘ Im Ungarischen steht das Verbalprädikat immer im Singular, wenn in der Subjekt-NP ein Kardinalnumerale oder ein Quantifikativum vorkommt, wie etwa in (50). (50) UNG

Körülbelül háromezer diák tanul etwa dreitausend Student.SG studier.3SG ezen az egyetemen. DEM . PROX . SUP DEF Universität.SUP ‚An dieser Universität studieren etwa 3000 Studierende.‘ (Rounds 2001: 242)

Somit stehen sich das Ungarische und die drei westeuropäischen Vergleichssprachen gegenüber: In den letzteren stehen regierte bzw. kongruierende Einheiten innerhalb und außerhalb der NP im Plural, wenn die NP einen quantifikativen Ausdruck enthält; im Ungarischen dagegen stehen alle Einheiten im Singular. Beide Phänomene können begründet werden: Im ersteren Fall erscheinen alle Einheiten im Plural, da die semantische Pluralität des quantifikativen Ausdrucks an sie weitervererbt wird, was sich morphosyntaktisch durch Pluralmarker realisiert; im letzteren Fall kann behauptet werden, dass Pluralität durch den quantifikativen Ausdruck bereits eindeutig markiert wird, so dass es nicht nötig ist, dass diese auch an anderen Einheiten realisiert wird (Corbett 2000: 211). Polnisch nimmt eine mittlere Stellung ein: Was die Kongruenz mit dem Verbalprädikat betrifft, verhält es sich bei Kardinalnumeralia bis 4 wie die westeuropäischen Vergleichssprachen, bei Kardinalnumeralia ab 5 dagegen wie das Ungarische. Weitere Daten über die slawischen Sprachen werden in Corbett (2000: 213–216) präsentiert. Der zwischensprachliche Vergleich zeigt, dass Singularkongruenz desto häufiger auftritt, je höher das in der NP enthaltene Numerale ist. Ein relevanter Faktor, der den NP-externen Numerus am Verb bestimmt, scheint die Wortfolge von Subjekt-NP und Verb zu sein: Ist die Wortfolge NP-V, so sind die Chancen größer, dass das Verb mit der NP kongruiert; bei V-NP kongruiert es dagegen häufiger nicht (so etwa im Russischen, ebd.: 213). Eine solche Tendenz ist manchmal auch in unseren Vergleichssprachen zu beobachten: Die Schwankungen können hier mit dem Verbalprädikat selbst (Existentialkonstruktionen, unakkusativische Verben), mit der jeweiligen topologischen Nähe des Prädikats zum Quantifikator (morphologisch Singular) bzw. zum Kopfsubstantiv (morphologisch Plural) zusammenhängen, oder mit der Kongruenzforderung des formalen Subjekts (DEU es lässt je nach Subjekt-NP-Numerus beide Numeri zu, FRA il verlangt dagegen immer den Singular, hierzu s. auch → B1.5.2.7), wie in den folgenden Beispielen zu sehen ist. Auf diese Fragestellung sollte anhand weiterer Daten detaillierter eingegangen werden; dies kann hier aus Platzgründen nicht erfolgen.

884

B Wort und Wortklassen

(51) FRA

(52) ENG

(53) ENG

a. Parfois, quelques camions venaient, komm.IPRF .3PL manchmal manche LKW.PL parfois, beaucoup de camions arrivaient. ankomm.IPRF .3PL manchmal viele LKW.PL ‚Manchmal kamen nur einige LKWs, manchmal kamen viele.‘ (Internet) b. Il arrivait beaucoup de camions, trois, quatre, viel LKW.PL drei vier es ankomm.IPRF .3SG ‚Es kamen viele LKWs, drei, vier, fünf.‘ (Internet)

cinq. fünf

a.

A lot of side effects come from depression. ‚Viele Nebenwirkungen entstehen durch eine Depression.‘ (Internet) b. With pregnancy, there comes a lot of side effects. ‚Mit einer Schwangerschaft, da entstehen viele Nebenwirkungen.‘ (Internet) There’s three other people in the room besides us and I don’t remember any of their names. ‚Es sind drei andere Leute außer uns im Zimmer und ich kann mich an keinen ihrer Namen erinnern.‘ (Internet)

4. Konjunkte. Nach Scheibl (2007: 168) zählt auch die Konjunktion und zu den numerusmarkierenden Mitteln innerhalb der NP – d. h., eine NP, in denen (mindestens) zwei Konjunkte durch und verknüpft werden, gilt semantisch als pluralisch. Unsere Sprachen variieren darin, ob sich diese Pluralität im NP-externen Numerus niederschlägt oder nicht. Aus dem zwischensprachlichen Vergleich zeichnet sich eine ähnliche Situation wie bei quantifikativen Ausdrücken ab: Die drei westeuropäischen Sprachen zeigen einheitlich Pluralkongruenz (z. B. Hänsel und Gretel gingen in den Wald), die anderen beiden Sprachen dagegen sowohl Singular- als auch Pluralkongruenz. Dies hängt im Ungarischen mit der Belebtheit des Referenten zusammen: Belebte Referenten erlauben beiderlei Kongruenz, unbelebte dagegen nur Singularkongruenz, s. (54). Im Polnischen spielt dagegen die Wortfolge eine primäre Rolle: Die NP-V-Wortfolge begünstigt die Pluralkongruenz, die V-NP-Wortfolge die Singularkongruenz, vgl. (55). Dies gilt auch, wenn das zweite Konjunkt nicht durch und verbunden ist, sondern eine komitative Konstruktion mit dem ersten bildet, wie in (56). Laskowski (1999b: 207) spezifiziert, dass es sich in beiden Fällen um Tendenzen handelt.  



(54) a. John és Jill megérkezett / megérkeztek. komm.PRT .3PL UNG John und Jill komm.PRT .3SG ‚John und Jill sind gekommen.‘ b. A könyv és a kommentár megérkezett / *megérkeztek DEF Buch und DEF Kommentar komm.PRT .3SG komm.PRT .3PL ,Das Buch und der Kommentar sind gekommen.‘ (Corbett 2000: 202) (55) a. Jacek i Marysia spotkali POL Jacek und Marysia treff.PRT .3PL ‚Jacek und Marysia trafen sich im Café.‘

się KL . REFL

w in

kawiarni. Café.LOK

B2 Kategorisierungen

885

b. Przyszedł Jacek i Ewa. Jacek und Ewa komm.PRT .3SG ‚Es kamen Jacek und Ewa.‘ (Laskowski 1999b: 207) (56) a. Ewa z siostrą pojechały POL Ewa mit Schwester.. INS fahr.PRT .3PL ‚Ewa und ihre Schwester gingen Skifahren.‘ b. Przyszedł Jacek z Ewą. Jacek mit Ewa.. INS komm.PRT .3SG ‚Es kamen Jacek und Ewa.‘ (ebd.)

na auf

narty. Ski.AKK . PL

Zuletzt gehen wir kurz auf die Kongruenz mit anaphorischen Pronomina (PRO) außerhalb der NP ein. Hier verhalten sich unsere Vergleichssprachen einheitlich, insofern als der NP-externe Numerus dem (semantisch gewonnenen) Kernnumerus entspricht. Dies gilt auch für Sprachen wie das Polnische, in denen andere Elemente außerhalb der NP – etwa das Verbalprädikat – mit dem Kernnumerus nicht kongruieren, wenn die Subjekt-NP bestimmte quantifikative Ausdrücke enthält (s. oben) – vgl. etwa (57). Selbst im Ungarischen, wo NPs, die pluralische Ausdrücke enthalten, keine pluralische Kongruenz auslösen, steht die Anapher im Plural, s. (58). (57) POL

W drużynie dziennikarskiej było pięć kobiet, Frau.GGEN EN .PL in Team.LOK journalistisch.LOK sein.PRT .3SG .N fünf a one, jak wiadomo, lepiej lepią pierogi. besser knet.3PL Pirogge.AKK . PL und 3PL . NONMPERS wie bekannt ‚Im Journalistenteam waren fünf Frauen, und die können, wie bekannt, besser Piroggen zubereiten.‘

(58) UNG

Kaszparov lépéseit négy szakértő elemzi s vier Experte.SG analysier.3SG .DEF und Kasparov Zug.PPL .AKK ők több javaslatot tesznek a válaszlépésre. mehrere Vorschlag.AKK mach.3PL DEF Gegenzug.SUB 3PL ‚Vier Experten analysieren Kasparovs Züge und sie machen mehrere Vorschläge für den Gegenzug.‘ (MNSz)

Das Ungarische erweist sich dabei als ein treffendes Beispiel für die Gültigkeit der agreement hierarchy (Corbett 2000: 190): Attribute und Prädikate stehen durchweg im Singular, wenn die (Subjekt-)NP einen quantifikativen Ausdruck (morphologische Kongruenz) enthält; anaphorische Personalpronomina stehen dagegen unter denselben Bedingungen im Plural (semantische Kongruenz). Den Schnittpunkt bilden Relativpronomina: Nach Kenesei/Vago/Fenyvesi (1998: 40) können Relativpronomina in restriktiven Relativsyntagmen sowohl im Singular als auch im Plural kongruieren.

886

B Wort und Wortklassen

B2.3.5 Zusammenfassung Das Deutsche zeigt wie die Mehrheit der europäischen Sprachen eine Basisunterscheidung zwischen den Numeri Singular und Plural. Morphologisch wird Numerus durch Flexionssuffixe, seltener durch Stammänderung, realisiert. Die Numerusopposition betrifft alle nominalen Einheiten in mindestens einer ihrer syntaktischen Funktionen außer einigen Interrogativ- und Indefinitpronomina. Syntaktisch wird Numerus im Deutschen innerhalb der NP hauptsächlich am Kopfsubstantiv markiert; Einheiten außerhalb der NP kongruieren in der Regel mit dem Kernnumerus (Numerus der NP) (Ausnahme: adjektivisches Prädikativ). Unter semantischem Gesichtspunkt zeigt sich im Deutschen wie generell in den europäischen Sprachen im Fall der Substantive, dass nur Individuativa eine Numerusopposition zeigen. Bei Kontinuativa setzt die Realisierung dieser Opposition eine Umkategorisierung voraus. Arealtypologisch zeigen die europäischen Sprachen neben dem „gewöhnlichen“ Summenplural eine Reihe anderer Plural(les)arten: Außer dem Sorten- und dem Portionsplural, die spezifische Spielarten des Summenplurals darstellen, sind diese im Deutschen jedoch sporadisch oder gar nicht belegt. Wie in den Kontrastsprachen (außer Ungarisch) kommen auch im Deutschen numerusbeschränkte Substantive (Singularia- und Pluraliatantum) vor: Wie der Sprachvergleich zeigt, sind sie auf bestimmte lexikalische Bereiche verteilt; außerdem kann je nach Verwendungskontext die Numerusbeschränkung aufgehoben werden.

B2.4 Kasus B2.4.1 Einleitung  889 B2.4.2 Kasus: Syntaktische Funktionen und semantische Rollen  892 B2.4.2.1 Kasus und syntaktische Funktionen  892 B2.4.2.1.1 Identifizierung von Kasus  892 B2.4.2.1.2 Syntaktische Funktionen: Markierungsmittel  895 B2.4.2.2 Kasus und semantische Rollen: Grundlagen  898 B2.4.2.2.1 Semantische Rollen: AGENS , PATIENS  898 B2.4.2.2.2 Kasusmarkierung von Kernkomplementen  902 B2.4.2.2.3 Dativ als NONAGENS - NONPATIENS -Kasus  903 B2.4.2.2.4 Kasusmarkierung von peripheren Komplementen  906 B2.4.2.2.5 Kasusmarkierung: Besondere Fälle  909 B2.4.2.2.6 Kasusmarkierung: Adjektivkomplemente  912 B2.4.2.3 Kasus und semantische Rollen: Variationen  914 B2.4.2.3.1 Vorbemerkung  914 B2.4.2.3.2 Akkusativische vs. ergativische Kasusmarkierung  914 B2.4.2.3.3 Nominativ vs. Akkusativ: Differentielle Objektmarkierung  917 B2.4.2.3.4 Akkusativ vs. Dativ: PATIENS und NONPATIENS  920 B2.4.2.3.5 Nominativ vs. Dativ: Mentale Verben  925 B2.4.2.4 Merkmale und Markiertheit  928 B2.4.2.4.1 Einleitung  928 B2.4.2.4.2 Merkmalsspezifikationen für Kasus  929 B2.4.2.4.3 Kasusmarkierung: Ökonomie vs. Explizitheit  931 B2.4.2.4.4 Hierarchie der Partizipantenkasus  933 B2.4.2.5 Semantische Kasus  935 B2.4.2.5.1 Grammatische und semantische Kasus  935 B2.4.2.5.2 Adverbiale Verwendung grammatischer Kasus  939 B2.4.2.5.2.1 Polyfunktionalität der Kasus im Deutschen  939 B2.4.2.5.2.2 Polyfunktionalität der Kasus in den Kontrastsprachen  941 B2.4.3 Kasussysteme: Umfang und Reichweite  943 B2.4.3.1 Überblick  943 B2.4.3.1.1 Vorbemerkung  943 B2.4.3.1.2 (Nicht-)Vorhandensein von Kasus  944 B2.4.3.1.3 (Nicht-)Vorhandensein von Lokalkasus  944 B2.4.3.1.4 Flexion vs. Derivation  945 B2.4.3.1.5 (Nicht-)Vorhandensein von NP-Kasus  946 B2.4.3.1.6 Umfang der Kasusinventare  947 B2.4.3.1.7 Geltungsbereich und Gliederung  949 B2.4.3.1.8 Kasushierarchie  952

B2.4.3.2 B2.4.3.2.1 B2.4.3.2.2 B2.4.3.2.2.1 B2.4.3.2.2.2 B2.4.3.2.2.3 B2.4.3.2.2.4 B2.4.3.2.2.5 B2.4.3.2.2.6 B2.4.3.2.2.7 B2.4.3.2.3 B2.4.3.2.4 B2.4.3.2.4.1 B2.4.3.2.4.2 B2.4.3.2.4.3 B2.4.3.2.4.4 B2.4.3.2.4.5 B2.4.3.2.4.6 B2.4.3.3 B2.4.3.3.1 B2.4.3.3.2 B2.4.3.3.3 B2.4.3.3.4 B2.4.3.4 B2.4.3.4.1 B2.4.3.4.2 B2.4.3.4.3 B2.4.3.4.4 B2.4.3.4.5 B2.4.3.4.6 B2.4.3.4.7 B2.4.3.5

Partizipantenkasus  954 Nominativ und Akkusativ  954 Dativ  956 Einleitung  956 Synthetische vs. analytische Rollenmarkierung  958 Geltungsbereich der IO -Kasus: Überblick  962 Benefizienten  965 Possessive und adnominale Dative  970 Dativus ethicus  972 Dativus Judicantis  976 Genitiv  979 Exkurs: Kombinatorik der Objektkasus  982 Einleitung  982 Pronomina-Kombinationen (Französisch, Griechisch, Italienisch)  983 Cluster: Erstarrte Verbindungen  986 Akzeptabilität von Klitikaclustern  988 Pronomina-Kombinationen (Polnisch, Englisch)  990 Pronomina-Kombinationen (Deutsch)  992 Adverbialkasus  994 Vorbemerkung  994 Instrumental und Kausal-Final  995 Lokalkasus (Ungarisch)  998 Kasusrektion der Lokalpräpositionen (Deutsch, Polnisch)  1006 Prädikativkasus  1008 Einleitung  1008 Kasusmarkierung von Prädikativen: Überblick  1011 Kasusunmarkierte und kongruierende Prädikative  1016 Prädikative im Genitiv (Englisch, Polnisch, Deutsch)  1021 Prädikative im Akkusativ und Dativ (Englisch, Französisch, Ungarisch)  1023 Prädikative im Instrumental (Polnisch)  1025 Prädikative im Essiv und Translativ (Ungarisch)  1028 Konkurrierende Rollenindikatoren  1031

B2.4.4 Zusammenfassung: Charakteristik des deutschen Kasussystems  1033

Bernd Wiese

B2.4 Kasus B2.4.1 Einleitung Gegenstand der Darstellung ist die vergleichende Betrachtung der Kasussysteme des Deutschen und der Kontrastsprachen. Als Orientierungspunkt kann die folgende Bestimmung des Kasusbegriffs dienen (vgl. Blake 2001: 1, 197; Blake 2004 sowie Hjelmslev 1935: 96). 1. Unter Kasus wird ein System flexivischer Markierungen an Nominalphrasen (NPs) verstanden, das der Kennzeichnung der syntaktisch-semantischen Rolle dient, die NPs innerhalb größerer syntaktischer Einheiten, etwa in Sätzen, spielen. 2. Als Kasus werden zudem Kategorien bezeichnet, die konstitutive Bestandteile eines solchen Systems sind, z. B. der Kasus Dativ (im Deutschen).  

Informell abkürzend werden Namen von Kasus traditionell auch zur Bezeichnung von Kasusformen verwendet wie in: (die Wortform) Häusern ist der Dativ Plural (genauer: die Dativ-PluralForm) von HAUS (einem Lexem), manchmal auch zur Bezeichnung von Kasusflexiven. Von NPs wie den Häusern mit einem substantivischen Kopf ‚im Dativ‘ (einer Dativform als Kopfsubstantiv) wird traditionell gesagt, dass sie ‚im Dativ stehen‘ oder ‚den Kasus Dativ tragen‘ (vgl. Dürscheid 1999 zu NPs als „Kasusträgern“). Kasusmarkierung manifestiert sich im Auftreten kasusspezifischer Flexionsformen, in den Vergleichssprachen insbesondere Flexionsformen der Pronomina sowie – einzelsprachabhängig – von Formen anderer nominaler Wortklassen (darunter Substantive, Adjektive und Artikel). Einen (umstrittenen) Grenzfall bilden Erscheinungen der ‚Phrasenmorphologie‘ (Anderson 1992: 221, „‚morphology‘ of phrases“), darunter der ‚possessive case‘ des Englischen; siehe dazu → C3.4.3. Im Unterschied zu der hier angenommenen, in Anlehnung an die traditionelle Grammatikschreibung vorgenommenen Bestimmung ist der Kasusbegriff vielfach in verschiedener Richtung ausgedehnt oder umgedeutet worden, so etwa durch Einschluss nicht-flexivischer Rollenmarkierungen, insbesondere durch Adpositionen (Prä- und Postpositionen) (vgl. Blake 2001: 9, „analytical case markers“) oder zur Bezeichnung syntaktisch-semantischer Rollen ungeachtet ihrer formalen Kennzeichnung (vgl. Fillmore 1968, „deep cases“) oder ‚abstrakter‘ syntaktischer Merkmale (Chomsky 1980, „abstract case“). Zur Geschichte der älteren Kasustheorien siehe Hjelmslev (1935); neuere Gesamtdarstellungen bieten Blake (2001) und Malchukov/Spencer (Hg.) (2009); zum Deutschen besonders Helbig (1973). Einen Literaturbericht mit besonderer Berücksichtigung des Deutschen gibt Dürscheid (1999). Unsere Darstellung schließt bezüglich des Deutschen an die IDS-Grammatik (1997: 1288–1374) an.

Als eines der Mittel zur Kennzeichnung syntaktischer und semantischer Funktionen oder Rollen fällt Kasus in die funktionale Domäne der syntaktisch-semantischen Rollenmarkierung und steht damit in einem in verschiedenen Sprachen sehr unterschiedlich ausgebildeten Verhältnis der Konkurrenz zu anderen Mitteln der Rollenmarkierung, darunter Wortstellung und analytische Markierung (insbesondere mittels

890

B Wort und Wortklassen

Adpositionen). Als Ganze genommen, steht diese funktionale Domäne an der Schnittstelle von Nominalgrammatik einerseits und Verb- bzw. Satzgrammatik andererseits. Im Rahmen einer vergleichenden Grammatik des Nominals sind die (unterschiedlichen) Kasusinventare, insbesondere ihr Umfang und ihr Aufbau, allgemeiner: die Variation in der Struktur der Kasussysteme der Vergleichssprachen, zu behandeln. Die Erfassung der in Sprachen mit ausgebauten Kasussystemen wie dem Polnischen und dem Ungarischen hochgradigen Vielfalt der Verwendungsweisen der einzelnen Kasus ist dagegen nicht Gegenstand der Darstellung; sie setzt eine detaillierte Betrachtung der syntaktischen Kontexte und der lexikalischen Eigenschaften der Einheiten, von denen kasusmarkierte Nominale abhängen, insbesondere der Verben voraus, und liegt damit außerhalb der Grammatik des Nominals. Die Verwendungsspielräume der einzelnen Kasus sind nur insoweit zu betrachten, wie es unter dem Gesichtspunkt der systematischen Positionierung der Kasus in den Einzelsprachen notwendig ist. Die zugrunde gelegte Konzeption von Kasus, die in → B2.4.2 ausführlich dargestellt wird, orientiert sich daran, die Voraussetzungen zu explizieren, unter denen eine vergleichende Betrachtung von Kasussystemen verschiedener Sprachen möglich wird. Der Zusammenhang zwischen Kasus als syntaktischen Formkategorien, syntaktischen Funktionen und semantischen Rollen steht im Vordergrund. Damit einhergehend wird im Anschluss an die typologische Literatur eine hierarchische Ordnung der Kasus dargestellt, die als Rahmen für die Betrachtung der Kasusinventare der Vergleichssprachen dient. Die Unterschiede zwischen den Vergleichssprachen, die Kasus betreffen, sind vielfältig. Ein Varianzparameter für Kasussysteme, der wegen seiner typologisch grundlegenden Rolle besonders zu beachten ist, stellt die Unterscheidung zwischen akkusativischer und ergativischer Kasusmarkierung dar (→ B2.4.2.3.2), wenngleich sowohl das Deutsche als auch die Kontrastsprachen sämtlich zum akkusativischen Typ gehören. Als übergreifenden Gesichtspunkt zur Erfassung der Varianz im Bereich der Vergleichssprachen, an dem sich die Darstellung im vorliegenden Kapitel insgesamt orientiert, betrachten wir den ‚Ausbaugrad der Kasussysteme‘ der Vergleichssprachen und bestimmen die unterschiedliche Ausdehnung und Entfaltung der Kasussysteme. Darunter fällt einerseits die Frage nach der Reichweite der Kasusmarkierung (Welcher funktionale Bereich wird durch Kasus in einer gegebenen Sprache insgesamt abgedeckt?), andererseits die Frage nach der internen Ausdifferenzierung (Welche Kasus sind vorhanden und welche Differenzierungen werden mittels Kasus zum Ausdruck gebracht?). (Einen Überblick gibt → B2.4.3.1.) Elementarster, aber nicht trivialer Parameter ist das ‚Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein von Kasus‘ im System einer Einzelsprache. Bei gegebenem Kasussystem unterscheiden sich die Vergleichssprachen bezüglich dessen kategorialer Reichweite; so können Kasussysteme auf Pronomina beschränkt sein oder sich auf Nominale verschiedener Kategorien, insbesondere auf NPs, erstrecken. Abkürzend formuliert, kann nach dem ‚Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein von NP-Kasus‘ gefragt werden.

B2 Kategorisierungen

891

Wir verfolgen in → B2.4.3 die Fragestellung nach der Ausdehnung und Entfaltung der Kasussysteme anhand eines Durchgangs durch den Bestand der Kasus und Kasusgruppen. Dabei orientieren wir uns an der hierarchischen Ordnung der Kasus. Wir gehen von der für die Strukturierung von Kasusinventaren grundlegenden Nutzung von Kasus zur Kennzeichnung der syntaktischen Relationen aus, die zwischen Verben (oder größeren Einheiten mit verbalem Kopf) und ihren Dependentien bestehen. Innerhalb der funktionalen Domäne der syntaktisch-semantischen Rollenmarkierung können anhand der Funktionen, die kasusmarkierte Nominale übernehmen, drei Haupttypen unterschieden werden: (i) Partizipantenkasus (Kasus, die typischerweise bei der Kennzeichnung oder Unterscheidung von Nominalen verwendet werden, mit denen auf Partizipanten von Sachverhalten (insbesondere solche in den Rollen AGENS und PATIENS bei Handlungen) Bezug genommen wird (→ B2.4.3.2)); (ii) Adverbialkasus – Kasus, die typischerweise bei der Kennzeichnung oder Unterscheidung von Nominalen verwendet werden, die dem Bezug auf Umstände eines Geschehens oder einer Handlung dienen (darunter Mittel/Zweck und Ort/Zeit) (→ B2.4.3.3); (iii) einen dritten Verwendungstyp bildet die Nutzung von Kasus zur Kennzeichnung von Nominalen in der Funktion von Prädikativen, die typischerweise zusätzliche Charakterisierungen für Partizipanten liefern, die bereits anderweitig gegeben sind (insbesondere durch Nominale in Partizipantenkasus) (→ B2.4.3.4). Die Einzelsprachen zeigen starke Unterschiede bezüglich des ,Umfangs der Kasusinventare‘, der einen globalen Varianzparameter liefert. Diese Unterschiede sind im Einzelnen unter Bezug auf die Varianzparameter ,Geltungsbereich‘ und ‚Gliederung‘ zu analysieren. Mit ,Geltungsbereich‘ ist die Frage bezeichnet, welcher Bereich der funktionalen Domäne der Rollenmarkierung in einer Einzelsprache durch das Kasussystem erfasst wird, anders gesagt, wieweit Kasusmarkierung über den Kernbereich der Markierung zentraler Partizipanten hinaus ausgreift. Mit ,Gliederung‘ ist die Aufteilung des Geltungsbereichs auf Einzelkasus bezeichnet, die ebenfalls zwischen den Vergleichssprachen variiert. Die Vergleichssprachen unterscheiden sich besonders stark bezüglich der Nutzung von Kasus zur Kennzeichnung von Adverbialia und von Prädikativen. Das ,(Nicht-)Vorhandensein von Lokalkasus‘ sowie das ‚(Nicht-)Vorhandensein von speziellen Prädikativkasus‘ stellen daher relevante untergeordnete Varianzparameter dar. Der übereinzelsprachliche Bestand von Kasus, der sich ergibt, wenn man von Lokalkasus und speziellen Prädikativkasus absieht, kann als der zentrale Bereich von Kasussystemen gelten. Auch bei Beschränkung auf dieses Hauptfeld zeigen sich signifikante Unterschiede der Ausdehnung der Kasussysteme, wie der Überblick in → B2.4.3.1.6 und die detaillierte Darstellung in → B2.4.3.2 zeigt. Zum Parameter ‚Gliederung‘ ist auch die Erörterung der Feindifferenzierung innerhalb bestimmter Subsysteme zu rechnen, soweit sie nach dem Obigen Gegenstand der Betrachtung sein kann. Besonders berücksichtigt werden die signifikanten Unterschiede im Geltungsbereich der Kasus, die zur Kennzeichnung von indirekten Objekten verwendet werden, in der Regel des Dativs (→ B2.4.3.2.2). Der Genitiv spielt für die Grammatik des Nominals eine herausragende Rolle; seine Verwendungstypen  

892

B Wort und Wortklassen

und -bedingungen werden in → D3 detailliert behandelt. Im vorliegenden Kapitel sind nur einige wenige zusätzliche Hinweise zu geben, insbesondere zur adverbialen und prädikativen Verwendung. Die angeführten Varianzparameter betreffen, dem Darstellungsziel entsprechend, globale Eigenschaften von Kasussystemen; sie bilden leitende Gesichtspunkte, aber nicht ein Raster für das vorliegende Kapitel und werden aufgegriffen, wo sie einschlägig sind; siehe aber besonders → B2.4.3.1. Auf alternative Rollenmarkierungen, besonders mittels Adpositionen (Varianzparameter: ,synthetische vs. analytische Rollenmarkierung‘), gehen wir ein, insoweit dies für die Betrachtung der Kasussysteme von unmittelbarem Belang ist (→ B2.4.3.2.2.2). Kasus im Sinne traditioneller Darstellungen können in formaler Hinsicht als Klassen von Wortformen aufgefasst werden (IDS-Grammatik 1997: 1290); mit Bezug auf eine Einzelsprache wie das Deutsche ist danach „Akkusativ“ der Name einer Klasse von Flexionsformen, der Akkusativformen, und ferner das Kasussystem eine bestimmte, zum Sprachsystem gehörige Klassifikation von Nominalformen, die gerade die Kasus als Klassen liefert.

B2.4.2 Kasus: Syntaktische Funktionen und semantische Rollen B2.4.2.1 Kasus und syntaktische Funktionen B2.4.2.1.1 Identifizierung von Kasus Betrachtet man eine Nominalphrase des Deutschen, etwa eine Verbindung aus dem definiten Artikel und einem gegebenen Substantiv und nimmt zudem den Numerus (Singular oder Plural) als gegeben an, so finden sich bis zu vier Formtypen, die sich einerseits bezüglich ihrer Verwendungsmöglichkeiten in größeren syntaktischen Einheiten und andererseits bezüglich der auftretenden Flexionsformen unterscheiden. Ein Beispiel für eine NP im Maskulinum Singular mit vier Varianten zeigt (1). (1)

M .SG

(a) der Mann; (b) den Mann; (c) dem Mann; (d) des Mannes

Die Formtypen in (1) unterscheiden sich durch das Auftreten verschiedener Flexionsformen des definiten Artikels DER , im Falle von (1d) zusätzlich durch das Auftreten einer besonderen, durch ein Suffix markierten Flexionsform des Substantivs MANN . Die Verwendungsmöglichkeiten der verschiedenen Formtypen korrelieren mit den Funktionen (oder ‚syntaktischen Rollen‘), die Nominalphrasen als Bestandteile größerer Einheiten, insbesondere innerhalb von Sätzen, innehaben können. In (2) fungiert der Portier als Subjekt (SU ), dem Mann als indirektes Objekt (IO ) und den Schlüssel als direktes Objekt (DO ). (2)

[Der Portier] SU

gibt

[dem Mann]

[den Schlüssel].

IO

DO

B2 Kategorisierungen

893

Von den vier Formtypen in (1) kann in der Rolle des Subjekts in (2) nur der Typ (1a) (d. h. die Form der mit einem Substantiv im M .SG ), in der Rolle des direkten Objekts nur der Typ (1b) (d. h. den, wiederum mit einem Substantiv im M .SG ) und in der Rolle des indirekten Objekts entsprechend nur der Typ (1c) auftreten. Der vierte der in (1) gegebenen Formtypen findet sich in Beispielen wie (3), wo die betreffende NP (des AT T ) zum Kopfnomen der größeren Nominalphrase fungiert, Mannes) als Attribut (ATT deren Bestandteil sie ist. Keine der anderen Formvarianten könnte hier auftreten.  



(3)

der Koffer

[des Mannes] ATT

Die Beispiele zeigen den Typ flexivischer Formendifferenzierung bei nominalen Lexemen (hier: Artikeln und Substantiven), der als Kasusflexion bezeichnet wird, und illustrieren die Verwendungsbeschränkungen für NPs, die an die Kasus geknüpft sind. In traditioneller Redeweise wird gesagt, die Nominalphrase der Portier ‚steht im Nominativ‘, und entsprechend die Nominalphrase dem Mann im Dativ, die Nominalphrase den Schlüssel im Akkusativ und die Nominalphrase des Mannes im Genitiv. Die Namen der einzelnen Kasus gehen auf die Terminologie der griechischen und lateinischen Grammatiken der Antike zurück. Als Nominativ wird dabei derjenige Kasus bezeichnet, der in Sätzen wie (2) das Subjekt kennzeichnet, als Akkusativ der Kasus des direkten Objekts und als Dativ der Kasus des indirekten Objekts. Als Genitiv wird der besondere Attributskasus bezeichnet, wie ihn (3) zeigt. Die Funktionen, die die NPs in (2) übernehmen, werden durch das Element bestimmt, von dem sie abhängig sind, hier das Verb GEBEN . Das Verb GEBEN (in der relevanten Variante) eröffnet drei syntaktische ‚Leerstellen‘ für Einheiten, die die Funktionen Subjekt (SU ), direktes Objekt (DO ) und indirektes Objekt (IO ) übernehmen. Werden die betreffenden Leerstellen durch Nominalphrasen besetzt, so müssen diese die angegebenen Kasusspezifikationen tragen. Die Identifizierung der verschiedenen syntaktisch relevanten Ausformungen einer NP (der ‚Formtypen‘), die Beispiel (2) zeigt, kann nicht-triviale Probleme aufwerfen. Auszuscheiden sind Variationen bei der Bildung der Flexionsformen, die für die Syntax ohne direkte Relevanz sind (wie etwa Manns/Mannes). Auszuschließen sind ferner Variationen, die nicht flexivisch bedingt sind, sondern derivationell: Die Formtypen sollen sich nicht in ihrem Lexembestand unterscheiden. Unter bestimmten Bedingungen kann klärungsbedürftig sein, welche Flexionsformen zum gleichen Lexem gehören, etwa bei Suppletion.

In Nominalphrasen des Maskulinum Singular werden im Deutschen vier Kasus formal unterschieden. Jedoch besitzen nicht alle NPs im Deutschen vier Formtypen. In (4) sind NPs mit vier, drei und zwei Formtypen nebeneinander gestellt. Ein Differenzierungsmuster mit drei Formtypen findet sich im Deutschen im Neutrum Singular und im Plural aller Genera, ein Muster mit zwei Formtypen im Femininum Singular.

894

B Wort und Wortklassen

(4)

M .SG NOM AKK DAT GEN

N .SG

der Mann den Mann dem Mann des Mannes

NOM / AKK

das Kind dem Kind des Kindes

DAT GEN

F .SG NOM / AKK DAT / G GEN EN

M .PL

die Frau der Frau

NOM / AKK

die Männer den Männern der Männer

DAT GEN

Würden alle Nominale im Deutschen dem Muster der Neutra in (4) folgen (mit drei Formtypen), so wären nur drei Kasus anzunehmen; entsprechend nur zwei Kasus, wenn Nominale insgesamt höchstens die Formtypunterscheidung aufweisen würden, die in (4) für das Femininum gezeigt wird. Wie viele Kasus höchstens anzunehmen sind, richtet sich nach den im gegebenen Sprachsystem insgesamt formal realisierten Differenzierungen. Dass aber auch an NPs im Femininum Singular vier Kasus unterschieden werden, ist funktional zu rechtfertigen. Das syntaktische Potential (der abgedeckte Spielraum von syntaktischen Funktionen) des Formtyps, für den das Beispiel die Frau steht, stellt gerade die Vereinigung des syntaktischen Potentials der Formtypen dar, für die die Beispiele der Mann und den Mann stehen. Man vergleiche (2) mit (5). (5)

[Die Kellnerin]

gibt

[der Frau]

[die Tasche].

NOM

DAT

AKK

SU

IO

DO

In (5) fungieren NPs, die ein singularisches Substantiv des Femininums mit der Artikelform die umfassen, als Subjekt und als direktes Objekt und übernehmen somit sowohl die Funktion, die beim Maskulinum vom Typ der + Substantiv (im Singular), als auch die Funktion, die beim Maskulinum vom Typ den + Substantiv (im Singular) getragen werden kann. In Verallgemeinerung der für (2) geltenden Analyse lässt sich dann mit Bezug auf (5) sagen, dass die NP die Kellnerin ‚im Nominativ steht‘, während die NP die Tasche ‚im Akkusativ steht‘. Wie anhand von (2) erläutert wurde, ist es für die Rolle der Kategorie Kasus im grammatischen System wesentlich, dass sich Feststellungen treffen lassen, wie: Das Verb GEBEN regiert ein direktes Objekt im Akkusativ. Die Gültigkeit dieser Feststellung setzt aber voraus, dass NPs wie die Tasche tatsächlich als Akkusativ kategorisiert werden. Als Konsequenz muss angenommen werden, dass NPs wie die Tasche sowohl Nominativ als auch Akkusativ ‚sind‘. Das Grundprinzip bei der Aufstellung von Kasussystemen in traditionellen Grammatiken indoeuropäischer Sprachen ist dementsprechend (vgl. Lyons 1968: 292), die kleinste Anzahl von Kasus anzuneh-

B2 Kategorisierungen

895

men, mit deren Hilfe sich die syntaktischen Regeln, die die Verteilung der Kasusformen bestimmen (die Regeln über Rektion und Kongruenz), „morphologiefrei“ formulieren lassen, d. h., ohne dass auf Unterschiede oder Besonderheiten der Flexion bei verschiedenen Numeri, Genera, Deklinationsklassen oder Wortarten Bezug genommen werden muss (siehe Zwicky 1992: 354–356, „Principle of Morphology-Free Syntax“; Corbett 2012: 42, 61–65). Die sich ergebenden Kasuskategorien gelten dann klassenübergreifend, also auch dort, wo sich keine entsprechenden formalen Differenzierungen finden.  

B2.4.2.1.2 Syntaktische Funktionen: Markierungsmittel Welches Nominal in einem Satz welche Funktionen trägt, ist wesentlich für die Konstitution der Satzbedeutung und damit für die Interpretation entsprechender Äußerungen. Für die Interpretation einer Äußerung von ENG John loves Mary ist es wesentlich, zu verstehen, ob gesagt sein soll, dass John Mary liebt oder dass Mary John liebt. Man darf annehmen, dass sich in allen Sprachen die Aufgabe stellt, entsprechende Rollenverteilungen mit den insgesamt zur Verfügung stehenden grammatischen Mitteln zu kennzeichnen. Im Falle des vorliegenden Beispiels ergibt sich die Rollenverteilung aus den syntaktischen Funktionen der Nominale (Subjekt vs. Objekt), die ihrerseits formal gekennzeichnet sind – hier durch die Konstituentenabfolge (oder ‚Wortstellung‘). Zu den Mitteln der Kennzeichnung syntaktischer Funktionen von Nominalen (wie SU , DO , IO , ATT AT T ) gehören neben der Wortstellung verschiedene Arten von formalen Markierungen, darunter grammatische Wörter wie Adpositionen (Präpositionen und Postpositionen), Partikeln oder Klitika sowie insbesondere flexivische Markierungen. Flexivische Markierung kann am übergeordneten Element (am Kopf – oder ‚Regens‘ – der Konstruktion), etwa am Verb, oder am abhängigen Element, hier: an Nominalen, auftreten. Entsprechend kann zwischen Kopfmarkierung und Dependensmarkierung unterschieden werden (Nichols 1986, „head-marking“, „dependent-marking“). Subjekt-Verb-Kongruenz stellt einen Fall von Kopfmarkierung dar: Die morphologischen Kongruenzmarkierungen an Verben zeigen Eigenschaften von Verbkomplementen an. Umgekehrt stellt die Kasusmarkierung von Verbkomplementen einen Fall von flexivischer Dependensmarkierung dar. Beide Mittel können (wie im Deutschen) kombiniert auftreten. Für die Kasusmarkierung kommen alle Mittel morphologischer Markierung in Betracht, wenngleich Affigierung vorherrscht. In den Untersuchungssprachen kommt aber auch Stammvariation (insbesondere Konsonantenwechsel und Vokalwechsel) zum Einsatz. Eine Ausdehnung des Begriffs des Kasus auf weitere Markierungsmittel (insbesondere auf adpositionale Markierungen), wie sie in verschiedenen theoretischen Ansätzen vorgenommen worden ist (vgl. etwa Hagège 2010), wäre für die Zwecke der vorliegenden Darstellung, die die signifikanten Unterschiede zwischen adpositionaler und flexivischer Markierung zu berücksichtigen hat, nicht hilfreich.

896

B Wort und Wortklassen

Ein besonderer Fall ergibt sich, wenn Verben eine Verbindung aus einer Präposition mit einem bestimmten Kasus regieren (vgl. IDS-Grammatik 1997: 1093–1099 zu Präpositivkomplementen). Wir zeigen im Folgenden Beispiele für die Verwendung verschiedener formaler Mittel zur Kennzeichnung syntaktischer Funktionen, vgl. (6). (6) ENG FRA POL UNG DEU SPA

a. b. c. d. e. f.

John loves Mary. Jean aime Marie. Jan kocha Marię. Szereti János Marit. Hans liebt Maria. Juan ama a María.

In (6a) lässt weder die Form noch die Bedeutung der Nominale je für sich oder zusammengenommen Rückschlüsse auf die Funktionenverteilung zu; dagegen weist die präverbale Stellung John als SU , die postverbale Stellung Mary als DO aus. Völlig analog zu (6a) liegen die Verhältnisse im französischen Gegenstück (6b). Dagegen erfolgt in den polnischen und ungarischen Gegenstücken (6c) und (6d) die Markierung der syntaktischen Funktionen mittels morphologischer Markierungen, nämlich -Funktion in (6c) ist durch eine besondere durch Kasusmarkierung. Das Nominal in DO -F Flexionsform ausgezeichnet. Hier steht die Akkusativform Marię zum Eigennamen MARIA , während das Nominal in SU -Funktion die morphologisch unmarkierte Grundform Jan, Nominativ (zu JAN ), zeigt. Ebenso erscheint in (6d) das Nominal in DO Funktion im Akkusativ (Marit, Akkusativ zu MARI ). Während im Englischen und Französischen die Wortstellung ein entscheidendes Mittel für die Kennzeichnung syntaktischer Funktionen ist, ist die Nutzung der Wortstellung in Sprachen, die ein System deutlicher Kasusmarkierungen besitzen, typischerweise frei für die Kennzeichnung von Funktionen anderer Art. Im Ungarischen liefern alle Permutationen von (6d) grammatische Sätze mit identischer SU - DO -Verteilung, vgl. (7). (7) UNG

ˈSzereti János Marit. ˈSzereti Marit János. [ˈJános]FOK szereti Marit. [ˈMarit]FOK szereti János. [János]TOP ˈszereti Marit. [Marit]TOP ˈszereti János. [János Marit]TOP ˈszereti. [Marit János]TOP ˈszereti. [János]TOP ˈ[Marit]FOK szereti. [Marit]TOP ˈ[János]FOK szereti.

897

B2 Kategorisierungen

Die verschiedenen Stellungstypen (oder Konstituentenkonfigurationen) fungieren nicht als Mittel der Markierung syntaktischer Funktionen wie SU und DO (wie im Englischen und Französischen), sondern dienen zusammen mit der Satzintonation T OPIK (TOP ) und FOKUS dem Ausdruck kommunikativ-semantischer Funktionen wie TOPIK (FOK ) (im Einzelnen siehe É. Kiss 1981). (Satzakzent ist in (7) durch einen vorangestellten senkrechten Strich markiert.) In der deutschen Variante (6e) sind die als SU und DO fungierenden Personennamen wie in den französischen und englischen Gegenstücken nicht durch Kasusmarkierung unterschieden. Jedoch ist hier auch die Wortstellung kein eindeutiger Indikator. In Ermangelung einer Kasusunterscheidung bietet sich zwar am ehesten die Lesart mit vorangestelltem Subjekt und nachgestelltem Objekt an. In geeignetem Kontext und bei passender Intonation (etwas als Antwort auf die Frage Wen liebt Maria?) ist jedoch auch eine Lesart mit umgekehrter syntaktischer Funktionenverteilung möglich. Eine Disambiguierung kann durch Artikelsetzung erfolgen (Den Hans liebt die Maria). Die spanische Variante zeigt die Verwendung einer Präposition (a), wo im polnischen Gegenstück der Akkusativ verwendet wird. Die Funktionenmarkierung bei Pronomina weist in den Vergleichssprachen verschiedene Besonderheiten auf (→ B1.5), vgl. (8).  

(8) ENG FRA POL UNG DEU SPA –

a. b. c. d. e. f.

I love you. Je t’aime. Kocham cię. Szeretlek. Ich liebe dich. Te amo.

Im Englischen und Französischen ist bei Pronomina Funktionenkennzeichnung durch Kasus möglich. In (8a, b) ist die Funktionenverteilung schon durch das Auftreten der NOM .SG - Formen (ENG: I, FRA: je) des Personalpronomens der 1. Person eindeutig. Im Polnischen kongruiert das Verb mit dem Subjekt in Person und Numerus und ggf. (im Präteritum) im Genus; das Subjektpronomen wird nur bei besonderer Betonung gesetzt und fehlt daher gewöhnlich wie in (8c). Das Verb KOCHAĆ ‚lieben‘ steht in der 1. Person Singular und zeigt so die kategoriale Spezifikation, die für die unbelegte Subjektstelle gilt. Entsprechendes gilt für das Spanische; vgl. (8f). Im Französischen ist (anders als in anderen romanischen Sprachen) die Setzung des (unbetonten) Subjektpronomens nicht optional; vgl. (8b).  



Diese auffällige Besonderheit wird diachron einerseits auf germanischen Einfluss, andererseits auf den Verfall der Verbendungen zurückgeführt; vgl. von Wartburg (1970).

898



B Wort und Wortklassen

Im Ungarischen wird die Verbflexion auch durch das Objekt mitbestimmt. Die Form szeretlek (zu UNG SZERET ‚lieben‘) ist durch das Suffix -lek als eine Form markiert, die ein Subjekt der 1. Person Singular und zugleich ein Objekt der 2. Person Singular nimmt. Beide Positionen können unbelegt bleiben wie in (8d). In der deutschen Variante (8e) ist das Subjekt doppelt gekennzeichnet: durch das Auftreten einer Nominativform (ich) und, vermittelt durch Subjekt-Verb-Kongruenz, durch die Verbform liebe, 1SG . Zudem ist auch das Objekt durch eine Akkusativform markiert (dich). Die Wortstellung ist nicht ausschlaggebend (vgl. Dich liebe ich). Die im Deutschen (und den übrigen lebenden germanischen Sprachen) in aller Regel geforderte redundante Setzung des Subjektpronomens (Harbert 2007: 221–223) stellt im Sprachvergleich den markierten Fall dar; die Nicht-Setzung des Pronomens stellt, wenn die relevanten kategorialen Spezifikationen ohnedies deutlich sind, den Normalfall dar (‚Pro-Drop‘) (→ B1.5.2.2; vgl. auch Dryer 2005a).  



B2.4.2.2 Kasus und semantische Rollen: Grundlagen A GENS , PATIENS B2.4.2.2.1 Semantische Rollen: AGENS Nach der vorausgesetzten Bestimmung des Kasusbegriffs dienen Kasusmarkierungen der Kennzeichnung der syntaktisch-semantischen Rolle, die Nominale innerhalb größerer syntaktischer Einheiten spielen. Wie dargelegt, korrelieren die Kasus der Verbkomplemente mit deren syntaktischen Funktionen, die ihrerseits in angebbaren Entsprechungsbeziehungen zu den semantischen Rollen der Argumente der Verben stehen, vgl. (9).

(9)

[Der Jäger]

hat

[den Löwen]

NOM

AKK

SU

DO

AG

PAT

getötet.

Entscheidend für die Interpretation eines Satzes wie (9) ist die ausgedrückte RollenT ÖTEN gibt zwei Rollen vor: die Rolle desjenigen, der tötet, und verteilung. Das Verb TÖTEN die Rolle desjenigen, der getötet wird. Abstrahiert man von den lexemspezifischen Anteilen der Rollen, so kann TÖTEN als ein Handlungsverb charakterisiert werden, das AG ENS (AG ) und PATIENS (PAT ) an die Geschehensbeteiligten (die ‚Partizipandie Rollen AGENS ten‘) vergibt. Die durch ein Verb vorgegebene Rollenverteilung konstituiert seine ÖT EN kann die ArguArgumentstruktur (Duden-Grammatik 2009: 390); für das Verb TTÖTEN mentstruktur, in Anlehnung an eine prädikatenlogische Notation, wie in (10) angegeben werden. (10)

TÖTEN (AG , PAT )

B2 Kategorisierungen

899

Unter PATIENS wird dabei die Rolle desjenigen verstanden, dessen Zustand (eingeschlossen, bei entsprechender Verbsemantik, seine räumliche Lokalisierung) durch das verbal bezeichnete Geschehen eine spezifische Veränderung erfährt, allgemeiner AG ENS die Rolle desjenigen, der das verbal den von der Handlung Betroffenen, unter AGENS bezeichnete Geschehen (und damit die das PATIENS betreffende Veränderung) herbeiführt, kontrolliert oder verursacht; zur Konzeption der Rollensemantik vgl. (mit anderer Terminologie) Fillmore (1968). Die Anzahl der Argumente bestimmt die Stelligkeit ÖTEN EN ist zweistellig, usw.). der Verben (TTÖT Die Argumentstrukturen stellen Abstraktionen aus Verbbedeutungen dar. Bei unterschiedlichem Abstraktionsgrad ergeben sich unterschiedliche Rollentypen. Als maximal abstrakte Rollenkonzepte sind PROTO -AGENS und PROTO -PATIENS vorgeschlagen worden; eine zusammenfassende Darstellung bietet Primus (2012).

Bei einem Handlungsverb im Aktiv (wie in (9)) repräsentiert die NP in Subjektfunktion AG ENS , die NP in Objektfunktion das PATIENS PAT IENS . Ferner gilt: Das SU steht im Nominadas AGENS tiv, das DO im Akkusativ. Im Ergebnis können in (9) – vermittelt über die syntaktischen Funktionen – an den Kasusmarkierungen die semantischen Rollen der durch die NPs bezeichneten Partizipanten abgelesen werden. Verschiedene Verbklassen können anhand der Argumentstrukturen der Verben unterschieden werden. Nimmt man das Vorhandensein (oder Fehlen) von Argumenten mit den Rollen AGENS und PATIENS als Einteilungskriterium, so erhält man die traditionelle Unterscheidung in Handlungs- bzw. Tätigkeitsverben, Vorgangsverben und Zustandsverben, auch: Klassifikation nach Aktionalität (Duden-Grammatik 2009: 411), wie (11) zeigt. (11)

ARBEIT EN , SPIEL SPIELEN EN , LACHEN ) besitzen ein AGENS -ArguTätigkeitsverben (wie ARBEITEN ment, aber kein PATIENS -Argument; STERBEN ERBEN , FALLEN , ERTRINKEN , WACHSEN ) besitzen ein (ii) Vorgangsverben (wie ST PAT IENS -Argument, aber kein AGENS -Argument; PATIENS BL ÜHEN , LEBEN , STEHEN ST EHEN ) besitzen weder ein AGENS (iii) Zustandsverben (wie BLÜHEN PAT IENS -Argument; noch ein PATIENS (iv) Handlungsverben (wie TÖTEN , SCHLAGEN , ESSEN ) besitzen ein AGENS - und ein PAT IENS - Argument. PATIENS

(i)

In verschiedenen Grammatiken des Deutschen werden die Klassen mit AGENS -Argument, die wir als Tätigkeitsverben und Handlungsverben unterscheiden, zu einer Klasse zusammengefasst und erst durch eine besondere Subklassifikation unterschieden (vgl. z. B. Helbig/Buscha 2001: 61, ‚semantisch-intransitive‘ vs. ‚semantisch-transitive Verben‘).  

Das einzige Argument eines einstelligen Zustandsverbs wie BLÜHEN BL ÜHEN bezeichnet einen Partizipanten in der Rolle des Zustandsträgers (Helbig/Buscha 2001: 60), also des Partizipanten, über dessen Zustand etwas mitgeteilt wird, z. B. einen bestimmten Baum in Der Baum blüht. Bei der Angabe der Argumentstruktur entsprechender  

900

B Wort und Wortklassen

Verben kann ein solcher Partizipant, der weder die AGENS - noch die PATIENS -Rolle trägt, auch einfach als NONAGENS - NONPAT IENS - Partizipant (kurz: NN -Partizipant) bezeichnet werden. Ob ein AGENS - oder PATIENS -Argument vorliegt, ergibt sich einerseits aus der Semantik der Verben. Andererseits kann das Vorhandensein oder Fehlen entsprechender Argumente an den syntaktischen Eigenschaften oder ‚Verhaltenseigenschaften‘ der Verben abgelesen werden. Verben mit AGENS -Argument erlauben die Bildung des werden-Passivs. Dies gilt für Handlungsverben wie TÖTEN ebenso wie für Tätigkeitsverben wie ARBEITEN (in unpersönlicher Konstruktion wie in Gestern Abend wurde hier noch gearbeitet). Andere Verben lassen Passiv nicht oder nur eingeschränkt zu (IDS-Grammatik 1997: 1805; Duden-Grammatik 2009: 547); vgl. auch Primus (2011b); zu einer Diskussion unterschiedlicher Beurteilungen der Passivierbarkeit einstelliger Verben siehe Sadziński (2006: 965–968). Verben mit PATIENS -Argument erlauben die attributive Verwendung des Partizip II wie in der gestern getötete Mann oder der gestern gestorbene Mann, andere in der Regel nicht. Zudem bilden Verben, die ein PATIENS -Argument, aber kein AGENS Argument besitzen, (‚unakkusative Verben‘, nach der Terminologie der generativen Grammatik) wie STERBEN das Perfekt im Regelfall mit SEIN (er ist gestorben), andere mit HABEN (Er hat gearbeitet/geblüht/getötet) (Duden-Grammatik 2009: 412). Verschiedene Verbtypen weisen Besonderheiten auf, die Gegenstand der Verb- bzw. Satzgrammatik sind und hier nicht erörtert werden können, darunter insbesondere Bewegungsverben (vgl. IDS-Grammatik 1997: 1873–1875; Abraham 2011); wenn Verben der (Selbst-)Fortbewegung wie LAUFEN , FAHREN (wie in Er ist nach Mannheim gefahren) eine Aktivität bezeichnen, die in einer Ortsveränderung des Partizipanten besteht, werden sie im Deutschen gewöhnlich grammatisch als Verben mit einem PATIENS Argument behandelt.

Die Tabelle in (12) zeigt die Zuordnung zwischen Kasus (NOM , AKK ), syntaktischen Funktionen (SU , DO ) und semantischen Rollen (AG , PAT ) für die vier Klassen (i) Tätigkeitsverb, (ii) Vorgangsverb, (ii) Zustandsverb und (iv) Handlungsverb anhand der oben angeführten Beispielverben (bei Verwendung finiter Formen im Aktiv). Zusätzlich sind die erläuterten syntaktischen Reflexe der Rollenspezifikationen (uneingeschränkte Möglichkeit zur Bildung des werden-Passivs; Möglichkeit zur attributiven Verwendung des Partizip II) angegeben. (12)

NOM

AKK

SU

DO

werdenPassiv

PT ZP II

attrib.

(i)

ARBEITEN ARBEIT EN

( AG )

AG

+



(ii)

STERBEN

( PAT )

PAT



+

(iii)

BLÜHEN

( NN )

NN





(iv)

TTÖTEN ÖT EN

( AG , PAT )

AG

+

+

PAT

Aus (12) können eine Reihe von nicht trivialen Feststellungen bezüglich der Korrelation von Kasus und semantischen Rollen im Deutschen abgelesen werden. Im Nominativ können grundsätzlich NPs stehen, die Argumente unterschiedlichster Rollen repräsentieren; der Nominativ ist der rollenunspezifische Kasus, d. h. der merkmallose Kasus im Sinne von Jakobson (1936: 33). Bei einem Verbkomplement im Nominativ  

B2 Kategorisierungen

901

liefert der Kasus keine positive Festlegung der zugehörigen semantischen Rolle. Der Akkusativ signalisiert demgegenüber, dass die betreffende NP einen Partizipanten mit der Rolle PATIENS repräsentiert. Die Kasusmarkierung erfolgt in den in (12) dargestellten Fällen ‚diskriminativ‘ (vgl. Comrie 1989: 124–127, „discriminatory function of cases“): Wenn es darum geht, die Zuordnung von Komplementen zu Argumentstellen sichtbar zu machen, so ist es hinreichend, bei zweistelligen Verben eines der Argumente mit einer Kasusmarkierung zu versehen, die seine semantische Rolle anzeigt. Entsprechendes gilt für dreistellige Verben, bei denen zwei Argumente besonders gekennzeichnet werden müssen, wenn es möglich sein soll, die Komplemente allein anhand der Kasus richtig den Rollen zuzuordnen. Die Rolle des verbleibenden unmarkierten Komplements steht jeweils fest, wenn das Verb gegeben ist, und muss nicht besonders angezeigt werden. Bei einstelligen Verben ist dementsprechend keine Rollenmarkierung erforderlich und das einzige Komplement kann im rollenunspezifischen Kasus erscheinen. PAT IENS - Verben Die diskriminative Kasusmarkierung bei den zweistelligen AGENS - PATIENS (Handlungsverben) erfolgt im Deutschen durch besondere Auszeichnung des PA TIENS -Komplements, das den patiensspezifischen Kasus bekommt, während das AGENS -Komplement im rollenunspezifischen Kasus steht. Das AGENS AG ENS -Komplement der AGENS - PATIENS - Verben steht daher im gleichen Kasus wie das einzige Argument eines einstelligen Verbs der Typen (i), (ii), (iii), also das Subjekt eines intransitiven Verbs. Wenn (wie im Deutschen) eine solche Konstellation der Kasusverteilung gegeben PAT IENS -Kasus einem unspezifischen Kasus gegenüberist (bei der ein spezifischer PATIENS steht), wird der spezifische PATIENS -Kasus als Akkusativ bezeichnet und der unspezifische Kasus als Nominativ. Kasussysteme mit dieser Konstellation werden als Akkusativ-Systeme (oder ‚akkusativische Systeme‘) bezeichnet. AG ENS - PATIENS PAT IENS - Verben die Unterscheidbarkeit der KompleAlternativ kann bei AGENS mente gewährleistet werden, indem das AGENS -Komplement mittels eines agensspezifischen Kasus besonders ausgezeichnet wird, während das PATIENS -Komplement im unspezifischen Kasus erscheint, in dem auch das einzige Komplement einstelliger Verben steht. Der spezifische AGENS -Kasus wird dann als Ergativ und der unspezifische Kasus meist als Absolutiv bezeichnet. Kasussysteme mit dieser Konstellation werden als Ergativ-Systeme (oder ‚ergativische Systeme‘) bezeichnet (→ B2.4.2.3.2). Hervorzuheben ist, dass sowohl bei Akkusativ-Systemen als auch bei ErgativSystemen eine ‚asymmetrische‘ Konstellation der Kasuszuweisung vorliegt: Einem unmarkierten (rollenunspezifischen) Kasus steht jeweils ein markierter (rollenspezifischer) Kasus gegenüber. Die Opposition der Kategorien Nominativ-A -Akkusativ (und ebenso Absolutiv-E -Ergativ) ist eine Markiertheitsopposition (eine ‚privative‘, keine ‚äquipollente‘ Opposition) gemäß der bekannten Bestimmung Jakobsons (Jakobson 1936: 30, „falls die Kategorie I. das Vorhandensein von α ankündigt, so kündigt die Kategorie II. das Vorhandensein von α nicht an, d. h. sie besagt nicht, ob α anwesend ist oder nicht“).  

902

B Wort und Wortklassen

B2.4.2.2.2 Kasusmarkierung von Kernkomplementen Wir haben im Anschluss an die traditionelle Grammatikschreibung vier Klassen von Verben nach dem Kriterium des Vorhandenseins bzw. Fehlens von semantischen AG ENS und PATIENS unterschieden. Die Argumente, die die Argumenten mit den Rollen AGENS Verben der einzelnen Klassen definitionsgemäß aufweisen, bezeichnen wir im FolPAT IENS genden als Kernargumente. Dies sind (vgl. (11)): AGENS für Tätigkeitsverben, PATIENS (auch: ‚VORGANGSTRÄGER VORGANGST RÄGER ‘) für Vorgangsverben und ZUSTANDSTRÄGER (ein Argument, PAT IENS noch AGENS AG ENS ist) für Zustandsverben; Handlungsverben haben zwei das weder PATIENS Kernargumente: AGENS und PATIENS . Für die Kernargumente gilt im Deutschen, wie dargelegt, im Regelfall diskriminative Kasusmarkierung des akkusativischen Typs, d. h., wenn zwei Kernargumente vorPAT IENS handen sind (bei AGENS - PATIENS - Verben), steht das Komplement, das das PATIENS realisiert, im markierten (patiensspezifischen) Kasus, dem Akkusativ, und fungiert als direktes Objekt (DO ); im Übrigen bleiben Komplemente, die Kernargumente realisieren, ohne Rollenmarkierung; sie erscheinen im rollenunspezifischen Kasus Nominativ und fungieren als Subjekt (SU ). Komplemente, die Kernargumente realisieren, bezeichnen wir der einfacheren Bezugnahme halber im Folgenden als ‚Kernkomplemente‘, andere Komplemente als ‚periphere Komplemente‘ (oder ‚Nicht-Kernkomplemente‘). (Die Kernkomplemente sind gerade die Komplemente, die als SU oder DO fungieren.) Wir können dann mit Bezug auf das Deutsche (eine Sprache mit Akkusativ-System) festhalten:  

(13)

Kasusmarkierung von Kernkomplementen (DEU). Sind zwei Kernkomplemente gegeben, so erscheint das PATIENS - Komplement im Akkusativ. Im Übrigen bleiben Kernkomplemente ohne Rollenmarkierung; sie stehen im Nominativ.

Neben den Kernargumenten können Verben aller vier Klassen weitere Argumente besitzen. Als prototypisch für dreistellige Verben werden Transfer-Verben wie GEBEN angesehen. GEBEN besitzt wie TÖTEN TÖT EN ein Argument in der AGENS -Rolle (die Rolle desjenigen, der gibt) und ein Argument in der PATIENS -Rolle (die Rolle dessen, was gegeben wird) und fällt daher in die Klasse der Handlungsverben. Die Annahme der Rolle PATIENS für das Transferendum bei Verben des Gebens folgt Givón (2001a: 52); ebenso (mit Bezug auf das Deutsche) Eisenberg (2013b: 76). Andere Darstellungen unterscheiden zwischen dem ‚Patiens‘ i. e. S. (als Rolle des direkten Objekts zweistelliger Handlungsverben) und dem ‚Thema‘ als Rolle des direkten Objekts dreistelliger Interaktionsverben. Auch dann können beide Rollen bei entsprechendem Abstraktionsgrad derselben ‚Makro-‘ oder ‚Protorolle‘ untergeordnet werden. Die Bezeichnungen variieren; vgl. IDS-Grammatik (1997: 1310) zu THEMA und PATIENS als Unterfällen von OBJ .  



Neben den für Handlungsverben definitorisch geforderten Kernargumenten AGENS und PATIENS PAT IENS besitzt GEBEN im Vergleich zu TÖTEN eine zusätzliche Argumentstelle für ein Argument, das die semantische Rolle REZIPIENT trägt (die Rolle desjenigen, dem

B2 Kategorisierungen

903

gegeben wird bzw. der das Gegebene empfängt/in dessen Besitz es gelangt) (IDSGrammatik 1997: 1310). Die Rollenverteilung kann an den Kasus abgelesen werden, vgl. (14). (14)

[Der Portier] gibt

[dem Mann]

[den Schlüssel].

NOM

DAT

AKK

SU

IO

DO

AG

REZ

PAT

Das ‚Extra-Argument‘ von Verben wie GEBEN , das (nach der gegebenen Bestimmung des Begriffs ‚Kernargument‘) nicht zu den Kernargumenten zählt, steht im Deutschen im Dativ und trägt die syntaktische Funktion ‚indirektes Objekt‘ (IO ). Die Abgrenzung von ‚Kernargumenten/Kernkomplementen‘ gegenüber ‚peripheren Argumenten/Komplementen‘ wird in der Literatur unterschiedlich gezogen. Foley/Van Valin (1984: 80) rechnen Dativ-NPs im Deutschen (nach ihren syntaktischen Eigenschaften) zu den peripheral arguments; anders Van Valin/LaPolla (1997: 352–361), die den Dativ als Kasus des „non-macrorole direct core argument“ (ebd.: 357) charakterisieren. Dixon/Aikhenvald (2011: 45) unterscheiden einzelsprachübergreifend zwischen Funktionen des ‚inneren Kerns‘ – mit den Termini von Sapir (1917: 85): intransitive subject, transitive subject und transitive object, abgekürzt: ‚S‘, ‚A‘ (wie ‚Agens‘), ‚O‘ – und des ‚äußeren Kerns‘, zu dem Dativkomplemente gezählt werden (mit der Funktion ‚E‘ für extension to core). Die oben (mit Bezug auf das Deutsche) gegebene Bestimmung von ‚Kernargument‘ deckt die Argumente des ‚inneren Kerns‘ ab. Wir folgen damit der (typologisch orientierten) Charakterisierung des Dativs bei Blake (2001: 143, „the main noncore case used to mark complements“). Nach der Terminologie von Dixon (2010b: 134) wäre die Konstruktion in (14) ein Beispiel für „an extended transitive syntactic frame“. Anders bestimmt sind der Terminus core complement bei Huddleston/Pullum (2002: 216) und die Termini ‚Komplemente im Kernbereich/im Randbereich‘ in der IDS-Grammatik (1997: 1059) und ‚Kernkomplement/Nicht-Kernkomplement‘ in ProGr@mm (Propädeutische Grammatik, IDS Mannheim, http://hypermedia.ids-mannheim.de/programm/).

B2.4.2.2.3 Dativ als NONAGENS NO NAGENS - NONPATIENS -Kasus Der Terminus ‚Dativ‘ (von Casus dativus oder ‚Kasus des Gebens‘) reflektiert die traditionelle Annahme, dass die Verwendung als Kasus des Rezipienten bei TransferVerben (Verben des Austauschs) wie GEBEN im Zentrum des Geltungsbereichs des Dativ steht. Zu den dreistelligen Verben mit Dativkomplement zählen auch Verben des angebotenen, abgeVERW EIGERN oder SCHULDEN , bei lehnten oder ausstehenden Transfers wie z. B. DEU ANBIETEN , VERWEIGERN denen ein potentieller Besitzer im Ergebnis nicht oder nicht notwendigerweise die Verfügung über das Transferendum erlangt oder aber, bei Verben des ‚negativen Transfers‘ wie STEHLEN (‚privative Verben‘), die Verfügungsgewalt verliert. Als charakteristisch für die betreffenden Verben kann danach die Herstellung eines kausalen Zusammenhangs zwischen dem verbal bezeichneten Geschehen und dem (Nicht-)Bestehen einer möglichen Possessions-Relation zwi 

904

B Wort und Wortklassen

schen IO - Referent und DO - Referent angesehen werden, die, wie im Falle der genitivischen Possessorattribute, als ‚haben‘-Relation im weiten Sinn verstanden werden muss (und nicht auf den engeren Begriff des Besitzes einer Sache eingeschränkt werden kann). (Vgl. McIntyre 2006 und die dort zitierte Literatur; zum Französischen Barnes 1980.) (Lesarten, die keine Transferrelation oder Possessorrelation im wörtlichen Sinne beinhalten, sind aber nicht ausgeschlossen wie in Er gab ihm einen Tritt.) Ferner gehören hierher insbesondere auch Verben des sprachlichen oder nicht-sprachlichen kommunikativen Austauschs wie DEU ERZÄHLEN und ZEIGEN oder andere Kommunikationsverben wie ERLAUBEN und VERBIETEN , bei denen der Dativreferent die Rolle ADRESSAT hat. Insoweit Kommunikation als Weitergabe oder Austausch von Kommunikationsinhalten verstanden werden kann, kann diese Gruppe von Verben als natürliche Erweiterung der engeren Klasse der Transfer-Verben verstanden werden (vgl. jemandem etwas befehlen mit jemandem einen Befehl geben). Eine vollständigere Charakterisierung der Gruppen von Verben, die im Deutschen (bzw. in den Kontrastsprachen) ein ‚drittes Argument‘ nehmen, ist hier nicht möglich, aber, wie gezeigt werden wird, für die Erfassung der Kasusverteilung auch entbehrlich.

Die semantischen Rollen, die für Komplemente im Dativ in Betracht kommen (darunter REZIPIENT , BENEFIZIENT , MALEFIZIENT , POSSESSOR ), weisen vielfach eine Familienähnlichkeit auf, wie die umfassende Bestandsaufnahme der Verwendungen des Dativs im Deutschen in Wegener (1985) belegt. Die verschiedenen Rollen können über Grammatikalisierungswege aufeinander bezogen werden und in Hinblick auf Grade semantischer Nähe oder Ferne geordnet werden, so dass ein Vergleich der in verschiedenen Sprachen differierenden Anwendungsspielräume möglich wird (Haspelmath 2003); vgl. → B2.4.3.2.2. Zugleich erscheint es aber nach den Befunden in der Literatur kaum möglich, eine positive Rollencharakteristik zu geben, die gerade die als Dativkomplemente realisierten Argumente, und nur diese, abdecken würde (und praktisch anwendbar wäre, ohne dass bereits die tatsächliche Kasusverteilung auf die Argumente stillschweigend als bekannt vorausgesetzt würde) (Heidolph/Flämig/Motsch 1981: 341). In neueren Ansätzen wird meist (explizit oder implizit) eine negative Charakterisierung des Dativs angenommen. Wir gehen hier wiederum vom Verhältnis zwischen PAT IENS aus; dann kann andem Kasus und den semantischen Rollen AGENS und PATIENS genommen werden, dass die Leistung des Dativs gerade darin besteht, zu signalisieren, dass das betreffende Komplement ein Argument realisiert, das weder die AGENS noch die PATIENS - Rolle trägt. Wie weit der Anwendungsspielraum des Dativs in einer Einzelsprache tatsächlich reicht, variiert und ist wesentlich dadurch bestimmt, welche konkurrierenden spezielleren Rollenmarkierungen für Verbdependentien zur Verfügung stehen und wann diese verwendet werden müssen oder können. Danach ist der Dativ ein NONAGENS - NONPATIENS - Kasus; vgl. Primus (1999b: 155, „[…] ausgeschlossen [ist], dass das Dativargument einen kontrolliert und aktiv Handelnden oder eine physisch kontrolliert manipulierte Entität bezeichnet“) und, mit Bezug auf das Lateinische, schon Diver (1964: 179), der „Non-Agent–Non-Patient“ als ‚syntaktische Bedeutung‘ des Dativs ansetzt. Damit geht einher, dass für Dativkomplemente insbesondere auch Rollen in Betracht kommen, die (wie REZIPIENT ) agentische und patientische Züge auf sich vereinen, ohne die Charakteristik der AGENS - oder

905

B2 Kategorisierungen

der PATIENS PAT IENS - Rolle zu erreichen, die also ‚hybride Rollenkumulation‘ im Sinne von Primus (2012: 58) aufweisen. Da gewöhnlich angenommen wird, dass die ‚Dativ-- Rollen‘ ein semantisch zusammenhängendes Feld abdecken und häufig ineinanderfließen, ist in verschiedenen Ansätzen eine abstraktere Rolle als ‚Bedeutung‘ für den Dativ postuliert worden, die diese spezielleren Rollen zusammenfassen würde; z. B. bei Wegener (1985) die Rolle ‚Betroffener‘. Hier droht jedoch ein Zirkel, wenn der fraglichen Rolle nicht unabhängig von den Beobachtungen zu den Anwendungsfällen des Dativs eine homogene Bestimmung gegeben werden kann. Die Rollen im Anwendungsbereich des Dativs sind primär diejenigen, die bei dreistelligen Verben dem dritten Komplement (neben einem AGENS - und einem PATIENS -Komplement) zukommen. Welche Rollen dies sind, ergibt sich aus der Semantik der Verben, die drei ‚reine Kasuskomplemente‘ (mit den drei höchstrangigen Kasus) zulassen, nicht aus einer etwaigen ‚Dativ-Semantik‘. (Entsprechendes gilt für die Kernkasus; → B2.4.2.4.2.) Die Semantik der Interaktionsverben und verwandter Verben bringt es ferner mit sich, dass NONAGENS - NONPATIENS -Partizipanten (als zweite Interaktionspartner) typischerweise belebt sind. Dieses Faktum ist selbstverständlich völlig unabhängig von Fragen der Rollenmarkierung durch Kasus oder andere Mittel; das starke Vorherrschen von belebten Partizipanten bei Dativkomplementen ist nicht einer ‚Dativ-Semantik‘ geschuldet. Beispiele für unbelebte Dativkomplemente aus dem Deutschen liefern u. a. ‚Verben des Hinzufügens‘ (wie HINZUFÜGEN in [der Suppe]D A T SalzA K K hinzufügen, Proost 2014: 59) sowie Verben des Typs AUSSETZEN , UNTERZIEHEN (IDS-Grammatik 1997: 1312 f.) mit personalem PATIENS (im Akkusativ) und einem meist unbelebten NONAGENS - NONPATIENS (im Dativ) wie in jemandenA K K [einer Gefahr]D A T aussetzen. (Die spezifische Belebtheitsverteilung macht sich in der Wortstellung geltend, die Rollen-Kasus-Korrelation ist die gewöhnliche.) Bei zweistelligen Dativverben ist die Korrelation zwischen Dativkomplementen und personalen Partizipanten ohnehin wesentlich schwächer ausgeprägt, vgl. Willems/Van Pottelberge (1998: 644) zum Deutschen oder Pinkster (1988: 240) zum Lateinischen.  





Welche Verben drei Kasuskomplemente nehmen können, hängt auch davon ab, in welchen Fällen Verbdependentien durch Adpositionalphrasen (oder semantische Kasus, in Sprachen die solche besitzen) belegt werden, wobei die Wahl der auftretenden Adpositionen (oder des semantischen Kasus) lexikalisch (durch lexemspezifische Festlegungen) und/oder semantisch (gemäß den Bedeutungen der Adpositionen) festgelegt sein kann. So kann bei TÖTEN ein Dependens in instrumentaler Rolle auftreten, das im Deutschen mit der ‚Instrumental-Präposition‘ mit gekennzeichnet wird und gewöhnlich als (optionales) drittes Komplement angesehen wird (Kubczak 2010: s. v.). Wegen der Verwendung der präpositionalen Markierung gehört die instrumentale Rolle (MITTEL ) im Gegenwartsdeutschen – anders als in älteren germanischen Sprachen oder im Altgriechischen (→ B2.4.3.3.2) – nicht zu den möglichen Dativ-Rollen. Umgekehrt gehört im Deutschen zu den Dativ-Rollen nicht nur die REZIPIENT - Rolle (bei GEBEN ), sondern auch die Rolle desjenigen, dem etwas genommen wird (bei NEHMEN oder STEHLEN ), während andere Sprachen, darunter das Ungarische, häufig eine besondere ablativische Markierung verlangen. Aus diachroner Sicht stellt sich der Dativ im Gegenwartsdeutschen als hochsynkretistischer Kasus dar, in dem spezifischere Kasus zusammengefallen sind, dessen Gesamtspielraum aber zugleich durch die vermehrte Verwendung analytischer Rollenmarkierungen (wie im Falle der instrumentalen Rolle) beschnitten worden ist; vgl. Delbrück (1907). In anderen germanischen Sprachen, darunter das Englische und die festlandskandinavischen Sprachen, ist diese durch fortschreitenden Kasuszusammenfall bei hochrangigen Komplementen einerseits und Ausbau analytischer Markierungen für relativ niederrangige Komplemente andererseits geprägte Entwicklung weiter fortgeschritten – durch das Aufgehen des Dativs im Akkusativ und die Zurückdrängung von IO - DO -Konstruktionen; zum Englischen siehe → B2.4.3.2.2.1, zu den festlandskandinavischen Sprachen vgl. u. a. Askedal (2001a) anhand des Norwegischen. Aus sprachvergleichender Perspektive müssen die diachrone  



906

B Wort und Wortklassen

intralinguale und die interlinguale Variation des Funktionsbereichs des Dativs gegenüber der Möglichkeit einer homogenen Semantik (auch für einen bestimmten Sprachzustand einer Einzelsprache, etwa das Gegenwartsdeutsche) skeptisch stimmen. Zu den lexemspezifischen Kasuskomplementen gehören im Gegenwartsdeutschen auch die Genitivobjekte.

B2.4.2.2.4 Kasusmarkierung von peripheren Komplementen Die Argumentstruktur von GEBEN (und vergleichbaren dreistelligen Handlungsverben) kann aufgrund der vorangehenden Erörterung für die Zwecke einer Darstellung der diskriminativen Leistungen der Kasus wie in (15) angegeben werden (mit ‚NN ‘ für ‚NONAGENS - NONPATIENS ‘); eine spezifischere Rollenangabe (wie REZIPIENT ) wird nicht benötigt. (15)

GEBEN (AG , PAT , NN )

Daher kann auch auf die Aufstellung eines abgeschlossenen Inventars semantischer Rollen (über dessen Umfang in der Literatur keine einheitliche Auffassung erzielt worden ist) verzichtet werden. Für die Kasuszuweisung gilt: (16)

Kasusmarkierung von peripheren Komplementen (DEU). Ein peripheres Komplement (Nicht-Kernkomplement), für das keine spezifischere oder idiosynkratische Rollenmarkierung gefordert ist, steht im Dativ.

Zu den Komplementen, für die durch die Verbvalenz spezifischere oder idiosynkratische Rollenmarkierungen gefordert sind, gehören Genitivkomplemente (‚Genitivobjekte‘) (vgl. Sie gedenken [der Toten]), Präpositivkomplemente (vgl. Sie wartet [auf ihren Freund]) und Adverbialkomplemente (vgl. Sie wohnt [in Hamburg]). Der Dativ stellt demgegenüber die unspezifische Rollenmarkierung für periphere Komplemente dar. Eine vergleichbare negative Charakterisierung des Dativs wird im Rahmen der Role-and-Reference Grammar (RRG) (mit Bezug auf das Deutsche) von Van Valin/LaPolla (1997: 359) angenommen: Dativ als default case für non-macrorole arguments. Eine ähnliche Charakterisierung gibt (im Rahmen der generativen Grammatik) den Besten (1981: 110): „dative is the unmarked Case for nonnominative nonaccusatives“; vgl. auch van Riemsdijk (1983: 237) zum Dativ als „unmarked oblique case in German“. Aus typologischer Sicht charakterisiert Onishi (2001a: 2) die typischerweise durch Dativkomplemente realisierte ‚E‘-Funktion als die eines „non-A, non-O argument“. Andere Kasusverteilungen bei dreistelligen Verben spielen im Deutschen eine untergeordnete Rolle. Bei Verben mit ‚doppeltem Akkusativ‘ kann, soweit keine Prädikativkonstruktion (mit Kongruenzkasus) vorliegt (→ B2.4.3.4), möglicherweise eine Argumentstruktur mit zwei PATIENS Argumenten angenommen werden, entsprechend der wenigstens marginal gegebenen doppelten Option zur Passivbildung, etwa bei LEHREN , vgl. Plank (1985a). Bei einigen Verben wie BESCHULDI-

907

B2 Kategorisierungen

kann das dritte Komplement im Genitiv stehen (vgl. Er beschuldigt ihn des Mordes mit einem sogenannten Genitivus Criminis). Diese Kasuszuweisung ist im heutigen Deutsch (wie generell im Fall von Genitivobjekten) lexemspezifisch (‚lexikalischer Kasus‘).

GEN

Komplemente im Dativ treten nicht nur bei Handlungsverben (AGENS AG ENS - PATIENS PAT IENS - Verben) wie GEBEN auf, sondern ebenso bei Tätigkeitsverben, bei Vorgangsverben und bei Zustandsverben, d. h. bei Verben, die nur genau ein Kernargument besitzen, das AG ENS trägt (wie bei HELFEN HELF EN in ErN O M hat mirD A T geholfen) oder (ii) die Rolle (i) die Rolle AGENS PAT IENS (wie GELINGEN in Der KuchenN O M ist dirD A T gut gelungen) oder (iii) die Rolle PATIENS ZUST ANDSTRÄGER (wie PASSEN in Die SchuheN O M passen mirD A T nicht). ZUSTANDSTRÄGER Die Tabelle in (17) zeigt (mit entsprechendem Aufbau wie in (12)) die Zuordnung zwischen Kasus (NOM , AKK , DAT ), syntaktischen Funktionen (SU , DO , IO ) und semantischen Rollen (AG , PAT , NN ) für solche Verben der vier Klassen (i) Tätigkeitsverb, (ii) Vorgangsverb, (iii) Zustandsverb und (iv) Handlungsverb (bei Verwendung finiter Formen im Aktiv), die neben den Kernargumenten ein peripheres Argument im Dativ nehmen.  





(17)

NOM

AKK

DAT

DO

IO

werdenPassiv

PTZP II

SU

attrib.

(i)

HELFEN

( AG , NN )

AG

NN

+



(ii)

GELINGEN

( PAT , NN )

PAT

NN



+

(iii)

PASSEN

( NN , NN )

NN

NN





(iv)

GEBEN

( AG , PAT , NN )

AG

NN

+

+

PAT

Die Klassifizierung der Verben in (17) ist die gleiche wie diejenige der Verben in (12); die Klassenzugehörigkeit ist durch die Festlegungen in (11) bestimmt. Die Argumentstrukturen der Verben in (17) unterscheiden sich daher von denjenigen der Verben in (12) nur durch das Auftreten eines zusätzlichen NONAGENS - NONPATIENS -Arguments. Die Klassenzugehörigkeit (gemäß den Rollen der Kernargumente) kann wiederum (in der gleichen Weise wie bei den in (12) aufgeführten Verben) anhand der syntaktischen Eigenschaften der Verben (‚Verhaltenseigenschaften‘) überprüft werden, wie (17) zeigt. und GEBEN sind Verben mit einem AGENS -Argument und lassen werden-Passiv zu (ihm wurde geholfen / etwas gegeben). GELINGEN und GEBEN sind Verben mit einem PATIENS -Argument und lassen attributiven Gebrauch des Partizip II zu (der gelungene Kuchen / das oben gegebene Beispiel). PASSEN (wie in Die Schuhe passen mir nicht) ist ein Verb ohne AGENS - und PATIENS Argument; weder attributiver Gebrauch des Partizip II noch Passiv ist möglich. Andere Beispiele sind STEHEN , SITZEN (wie in Der Pullover steht dir gut) oder GLEICHEN , ÄHNELN (wie in Du gleichst dem Geist, den …), vgl. IDS-Grammatik (1997: 1336). Verben mit PATIENS - , aber ohne AGENS Argument (sogenannte ‚unakkusative Verben‘) wie GELINGEN / GLÜCKEN / GERATEN und PASSIEREN sowie MISSLINGEN / MISSGLÜCKEN / MISSRATEN , auch Bewegungsverben wie ZULAUFEN oder ENTKOMMEN , ebenso ENTGEHEN u. a. bilden wieder (wie ihre einstelligen Gegenstücke, etwa STERBEN ) das Perfekt regelmäßig mit SEIN (Er ist ihm entkommen), andere mit HABEN (Er hat ihm geholfen/ gepasst/etwas gegeben). HELFEN

   

   



908

B Wort und Wortklassen

Die spezifischen semantischen Rollen der Argumente zweistelliger Verben, die als Dativkomplemente realisiert werden (17, i/ii/iii), zeigen weitgehende Übereinstimmungen mit denen der dritten Argumente dreistelliger Verben (17, iv); siehe dazu im BENEF AKTIV , Nutznießer/Geschädigter) Einzelnen IDS-Grammatik (1997: 1341–1343, zu BENEFAKTIV und vgl. McFadden (2006). Einen Überblick über die Rollenverteilung bei intransitiven Dativverben gibt Primus (1999b: 158–161). Die in (12) und (17) identifizierten Argumentstrukturen (und deren Zuordnung zu syntaktischen Funktionen und Kasus) entsprechen den in Eisenberg (2013b: 76) angegebenen „prototypische[n] Argumentstrukturen“ des Deutschen, hier mit ‚NN ‘ anstelle der (für eine allgemeine Verbklassifikation zu spezifischen) Rollenangabe ‚REZ ‘ bei Eisenberg und ergänzt um den Typ (17, iii). Bei Verben wie ÄHNELN hat das Primum Comparationis die NN - Rolle des Zustandsträgers (und damit des Kernarguments), während das Secundum Comparationis das periphere NN -Argument bildet. Eine allgemeine Analyse der Rollenverteilung bei Verben der Klasse (17, iii) wäre wünschenswert; sie müsste Gegenstand der Verbgrammatik sein. Die Kasusverteilung bei den Verben der Klassen (17, i/ii/iii), die genau ein Kernargument und ein peripheres Argument besitzen, weist keine Besonderheiten auf; es gelten die Feststellungen in (13) und (16). Kernargumente bleiben wiederum ohne rollenspezifische Markierung, soweit dies nicht für die Argumentunterscheidung erforderlich ist. Daher fehlt bei den mehrstelligen Verben mit genau einem Kernkomplement eine Signalisierung der semantischen Rolle dieses Arguments mittels Kasus gerade so wie bei den einstelligen Verben, vgl. (17, i/ii/iii) mit (12, i/ii/iii). Die Kasusmarkierung des peripheren Komplements bei den zweistelligen Verben erfolgt wie bei den dreistelligen Verben. Zu den Ansätzen, die eine negative Charakterisierung des Dativs zugrunde legen, gehören auch Darstellungen in neueren Grammatiken des Deutschen, die den Dativ als ‚Kasus des dritten Komplements‘ auffassen, vgl. Eisenberg (2013b: 74) und die Duden-Grammatik (2009: 390 f., 919). Danach wäre (im Anschluss an Dowty 1991) anzunehmen: Der Partizipant mit der höchsten Agentivität wird durch den Nominativ markiert, der Partizipant mit der niedrigsten Agentivität durch den Akkusativ. Ein dritter Partizipant (mit mittlerer Agentivität), falls vorhanden, bekommt den Dativ. Setzt man eine Agentivitätshierarchie voraus, bei der die Agentivität in der Reihenfolge AGENS > REZIPIENT > PATIENS abnimmt, so liefert die Regel die korrekte Kasusverteilung für Handlungsverben wie TÖTEN und GEBEN (Verben mit AGENS - und PATIENS -Komplement); dagegen müssten zweistellige Verben mit Dativkomplement (‚intransitive Dativverben‘) durchweg als Ausnahmen angesehen werden (Duden-Grammatik 2009: 298). Nach der obigen Analyse fügen sich die betreffenden Verbklassen dagegen ohne Besonderheiten in die Systematik der Kasuszuweisung ein.  

B2 Kategorisierungen

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B2.4.2.2.5 Kasusmarkierung: Besondere Fälle Die ermittelte Regularität für die Kasusmarkierung von peripheren Komplementen (vgl. (16)) gilt im Besonderen auch für Komplemente, die nicht durch die ‚Grundvalenz‘ des Verbs, sondern durch ‚Valenzerhöhung‘ gegeben sind, d. h. für sogenannte ‚freie Dative‘, vgl. Abraham (1983), Schmid (2006: 958), eingeschlossen sowohl freie Dative bei in der Grundvalenz zweistelligen Verben (wie in SieN O M putzt ihmD A T [die Wohnung]A K K ) als auch bei in der Grundvalenz einstelligen Verben (wie in IhmD A T ist [das Haus]N O M abgebrannt). Auch hier handelt es sich um Nicht-Kernkomplemente, die regelmäßig im Dativ erscheinen.  

Es kann angemerkt werden, dass die Tatsache, dass freie Dative unter die allgemeine Regel der Dativ-Zuweisung fallen, gegen Ansätze spricht, die den Dativ (bei intransitiven Verben oder schlechthin) als ‚lexikalischen‘ (lexemspezifischen) Kasus analysieren.

Die beschriebenen Regularitäten der Kasusmarkierung gelten weiterhin auch für das Passiv. Konstitutiv für das Passiv ist die Unterdrückung eines Kernarguments, das die AGENS -Rolle trägt (IDS-Grammatik 1997: 1837, „Argumentreduktion“). Optional kann das betreffende Argument durch ein peripheres Komplement realisiert werden, dessen Rolle im Deutschen durch eine präpositionale Markierung (in der Regel eine vonPhrase) angezeigt wird. Bezüglich der Kasusmarkierung ergeben sich keine Besonderheiten. Bei Handlungsverben (AGENS - PATIENS - Verben) verbleibt ein Kernargument in der Rolle PATIENS ; das betreffende (einzige) Kernkomplement erscheint wie in anderen Fällen gemäß (13) im Nominativ; vgl. [Der Baum]N O M wurde (von den Arbeitern) gefällt. Wenn ein peripheres Argument gegeben ist, das im Aktiv im Dativ erscheint, so gilt dies ebenso im Passiv wie in [Das Buch]N O M wurde ihmD A T (von einem Freund) geschenkt; auch hier greift (16). Entsprechendes gilt für Tätigkeitsverben (AGENS -Verben). Ist (neben dem unterdrückten einzigen Kernargument) noch ein peripheres Argument vorhanden, das im Aktiv im Dativ steht, so erscheint dies auch im Passiv nach (16) im Dativ wie in [Dem jungen Mann]D A T wurde dort geholfen. Passiv wird in Darstellungen zum Deutschen sehr häufig als eine Operation beschrieben, die einen ‚Kasuswechsel‘ einschließt, z. B. Wöllstein-Leisten et al. (1997: 96, „Argumentreduktion mit Kasuskonversion“). Für den Sprachvergleich ist eine solche Charakterisierung nicht geeignet, wenn Sprachen ohne Kasussystem einbezogen werden sollen. Passiv sollte daher unter Bezugnahme auf semantische Rollen bzw. syntaktische Funktionen (vgl. Dixon 1994: 146; Siewierska 2005) charakterisiert werden. Wie erläutert wurde, folgt die Kasusmarkierung der Komplemente im Passiv grundsätzlich den gleichen Regeln wie im Aktiv.  

Gegen die Analyse des Dativs als NONAGENS - NONPATIENS -Kasus könnte die als Dativus Auctoris oder Dativus Agentis (Mariani 2002) bezeichnete Verwendung in älteren indoeuropäischen Sprachen, insbesondere als ‚Passivagens‘ (im Perfekt) im Altgriechischen, angeführt werden. Traditionell wird diese Verwendung aber als Variante des ‚Dativs des Interesses‘ gewertet (Kühner 1898: 422); vgl. Smyth (1920: 343): „The notion of agency does not belong to the dative, but is a natural inference that the person interested is the agent.“ Ähnlich Wackernagel (1926: 147 f.). Vgl. auch Hettrich (1990). Eine detaillierte Analyse des dative of agent im Altgriechischen bietet George (2005). Luraghi (2016) plädiert für die Annahme, dass die involvierte Rolle bei den  

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B Wort und Wortklassen

traditionell angenommenen Fällen des dative of agent in indoeuropäischen Sprachen in der Regel die des experiencer sei. Zu außereuropäischen Sprachen vgl. Palancar (2002).

Verschiedene Verbklassen würden eine besondere Erörterung verdienen, die den Rahmen einer Grammatik des Nominals überschreiten würde. Hinzuweisen ist besonders auf Verben, die mentale Handlungen und Tätigkeiten, Vorgänge oder Zustände bezeichnen (‚mentale Verben‘, auch ‚psychische Verben‘ oder ‚Verben der Gemütsbewegung‘). Die Bestimmung der Argumentstrukturen würde eine Erörterung generalisierter semantischer Rollen – Proto-Agens, Proto-Patiens im Sinne von Dowty (1991) oder macroroles (actor, undergoer) im Sinne von Van Valin (2005) – erfordern, vgl. Eisenberg (2013b: 69–73). Die Rollenzuordnungen (und daher die Kasusmarkierungen) können nicht in jedem Fall ohne Weiteres aus den Verbbedeutungen abgeleitet werden (vgl. Das hat mirD A T imponiert / michA K K beeindruckt). Bemerkt werden kann aber, dass die mentalen Verben in ihrem syntaktischen Verhalten und der Verteilung der Kasusmarkierungen im Allgemeinen Mustern folgen, die auch für non-mentale Verben gelten. Ein ‚mentaler Partizipant‘ (ein Partizipant, der mental in einen verbal bezeichneten Sachverhalt, etwa als Träger einer Empfindung, involviert ist) kann AG ENS - Rolle trägt, wie morphosyntaktisch grundsätzlich wie ein Partizipant, der die AGENS PAT IENS - Rolle trägt, oder wie ein Partizipant in einer dritten ein Partizipant, der die PATIENS Rolle behandelt werden. Dies schließt die Kasusmarkierung ein; vgl. Haspelmath (2001a: 60, „agent-like experiencer“, „patient-like experiencer“, „dative experiencer“). Die häufig angenommene Rolle EXPERIENS kann nicht auf eine Ebene mit AGENS oder PATIENS gestellt werden, wie Untersuchungen zu anderen indoeuropäischen Sprachen bestätigen; vgl. Dahl (2014). Nach Haspelmath (2001a) werden in den sogenannten SAE-Sprachen (Whorf 1956: 138, „Standard Average European“) Konstruktionen mit agenshaftem EXPERIENS bevorzugt; siehe aber im Einzelnen Kutscher (2009) und → B2.4.2.3.5. (i) Ein ‚mentaler Partizipant‘ kann im Deutschen im Nominativ erscheinen, wenn er die einzige Argumentstelle eines einstelligen Verbs besetzt (vgl. Er spinnt; Sie ist ausgerastet); ebenso bei passivfähigen zweistelligen Verben (Verben, die ein PATIENS -Argument besitzen), insbesondere bei Verba Percipiendi oder Sentiendi (wie SEHEN , HÖREN , FÜHLEN ) mit Komplementen im Nominativ und Akkusativ (ErN O M hat sie gesehen). Ebenso wie Partizipanten, denen durch ein Verb eine Perzeption zugeschrieben wird, können Partizipanten behandelt werden, denen durch ein Verb eine Konzeption zugeschrieben wird, also eine mentale Haltung oder Stellung (Verba Concipiendi) wie HOFFEN ; dabei kann es sich insbesondere um eine emotionale Disposition handeln (wie bei LIEBEN ). Solche Verben gehen diachron nicht selten auf Wahrnehmungsverben zurück (wie ACHTEN ). Im Nominativ kann ein mentaler Partizipant ferner bei dreistelligen Verben wie VERZEIHEN stehen (mit zusätzlichem Dativkomplement) wie in SieN O M verzeiht ihm seine Schandtaten; und schließlich bei zweistelligen Verben wie TRAUEN (SieN O M misstraut ihrem Mann) (ohne PATIENS Argument, daher ohne die Möglichkeit attributiver Verwendung des Partizip II, *der misstraute Mann), die ein Nominativ- und ein Dativkomplement nehmen. (Zweistellige mentale Verben des Typs TRAUEN , MISSTRAUEN , GROLLEN , ZÜRNEN verhalten sich zu dreistelligen mentalen Verben (VERZEIHEN , VERÜBELN , GLAUBEN , WÜNSCHEN W ÜNSCHEN , ZUTRAUEN ) wie HELFEN (zweistellig) zu GEBEN (dreistellig).)

B2 Kategorisierungen

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(ii) Der mentale Partizipant kann die PATIENS -Rolle haben und im Akkusativ erscheinen (wie in Der Lärm stört ihn), wenn das Komplement im Nominativ einen Stimulus in der Rolle einer CAUSA bezeichnet (ebenso z. B. FREUEN , ÄRGERN , BEEINDRUCKEN , ENTSETZEN ), vergleichbar dem CAUSA Argument bei kausativen non-mentalen Verben (wie in Der Wind trocknet die Wäsche).  

(iii) Bei Verben wie GEFALLEN wird der mentale Partizipant durch ein peripheres NN -Komplement im Dativ repräsentiert. Lexeme dieses Typs belegen die insgesamt kleine Klasse der zweistelligen mentalen Verben ohne AGENS - und ohne PATIENS - Argument, bei denen sowohl Passivbildung als auch attributive Verwendung des Partizip II ausgeschlossen sind (vgl. (17, ii)). Weitere Beispiele IM PONIEREN , MISSFALLEN , PASSEN , SCHMECKEN , WIDERSTREBEN . Bei mentalen Vorsind EINLEUCHTEN , IMPONIEREN gangsverben wie AUFFALLEN und ENTGEHEN , die neben dem peripheren NN -Komplement ein PATIENS - Komplement aufweisen, ist dagegen die attributive Verwendung des Partizip II zulässig (vgl. die ihm aufgefallenen/entgangenen Fehler) und das Perfekt wird mit SEIN gebildet.

Zu den weiteren Klassen von Verben, deren Rollenstruktur besondere Beachtung verdienen würde, gehören Verben des Besitzes und des Besitzwechsels. Besonders hinzuweisen ist auf die Verben KRIEGEN , BEKOMMEN und ERHALTEN , bei denen, abweichend vom sonstigen Muster der Argumentrealisierung, ein NN - Argument (typischerPAT IENS -Kompleweise in der Rolle REZIPIENT ) im Nominativ erscheint, während ein PATIENS ment wie sonst im Akkusativ steht (vgl. er bekommt von seinen Eltern ein neues Auto), gegebenenfalls neben einer von-Phrase. Diese Besonderheit liefert die Grundlage für das sogenannte Rezipienten-Passiv, gebildet durch BEKOMM EN / KRIEGEN / ERHALTEN mit einem Partizip II. Das Rezipienten-Passiv ‚erbt‘ Verbindung von BEKOMMEN die Argument- und Kasusverteilung des auxiliarisierten Verbs. Auf diese Weise kann ein NN Komplement eines Vollverbs (das nicht die REZIPIENT -Rolle tragen muss) zum Subjekt gemacht werden, das im Nominativ erscheint (wie in [er]N O M bekommt von ihr [den Wagen]A K K geschenkt/ gewaschen), während ein PATIENS -Komplement, falls vorhanden, wieder im Akkusativ steht. Die von-Phrase realisiert (wie beim werden-Passiv) das AGENS -Argument, wenn dieses nicht unterdrückt wird; vgl. IDS-Grammatik (1997: 1824–1829, „bekommen-Passiv“). In die Klasse der zweistelligen Verben ohne AGENS - und ohne PATIENS - Argument, bei denen sowohl Passivbildung als auch attributive Verwendung des Partizip II ausgeschlossen sind, fallen auch GEHÖREN und FEHLEN . Im Übrigen steht bei Verben des Besitzes oder Besitzwechsels das Possessum gewöhnlich im PATIENS -Kasus (AKK ), der Possessor im unspezifischen Kasus (NOM ). Weitere Regularitäten der Kasusverteilung, wie sie sich etwa aus der Erörterung spezieller Verbklassen (insbesondere Bewegungsverben neben den angeführten ‚mentalen Verben‘ und den Verben des Besitzes und Besitzwechsels), von Argumentalternationen und von komplexen syntaktischen Konstruktionen (u. a. Konstruktionen mit Infinitiv- und Partizipialphrasen; Modalkonstruktionen, Kausativkonstruktion usw.) ergeben würden, sind Teil der Verb- bzw. Satzgrammatik und hier nicht zu behandeln.  

Die im vorliegenden Abschnitt gemachten Beobachtungen zu den Anwendungsbedingungen der Kasus im Deutschen können in einen weiteren, sprachvergleichend orientierten Rahmen eingefügt werden, indem die Verteilung der Kasus auf übereinzelsprachlich gültige Merkmalsspezifikationen und Prinzipien der Kasusmarkierung zurückgeführt werden, wie in → B2.4.2.4 dargelegt wird.

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B Wort und Wortklassen

B2.4.2.2.6 Kasusmarkierung: Adjektivkomplemente Die Verwendung der Kasus bei der Markierung der Komplemente von Adjektiven folgt der allgemeinen Charakteristik der Kasusfunktionen, wie sie sich bei den Verben zeigt; bezüglich der Adjektive beschränken wir uns auf wenige Hinweise. Attributive oder prädikative Adjektive qualifizieren oder charakterisieren typischerweise (als ‚Eigenschaftswörter‘) einen Eigenschaftsträger. Die verbtypische Verwendung von AG ENS - PATIENS PAT IENS - Differenzierung und damit die Verwendung des Akkusativs Kasus zur AGENS als Kasus (non-adverbialer) Komplemente (Objekte) kommt bei Adjektiven – anders als bei Partizipien – insofern nicht in Betracht (vgl. Eisenberg 2013b: 437). Die Argumentstrukturen der Adjektive lassen, wie Haider (2010: 244) hervorhebt, (in der Terminologie der generativen Grammatik gesprochen) ein zweites Argument (neben dem Bezugsnomen) mit „strukturellem Kasus“ nicht zu. Adjektive nehmen dementsprechend in der Regel keine Objekte im Akkusativ; dies gilt im Besonderen für die Kontrastsprachen. Vgl. zum Englischen Haider (2010: 243), zum Französischen Marengo (2009), zum Polnischen Engel et al. (1999: 903), zum Ungarischen Pilarský (2013: 274). Bei Partizipien (des Aktivs) von transitiven Verben – als infiniten Verbformen mit verbaler Valenz – können anders als bei Adjektiven regelmäßig Akkusativobjekte stehen wie in POL sprzedający swoje towaryA K K kupcy ‚die ihre Waren verkaufenden Kaufleute‘ (Engel et al. 1999: 905) oder UNG a vidéketA K K elárasztó víz ‚das die Region überflutende Wasser‘ (Forgács 2004: 306); ebenso im Deutschen, wie die Übersetzungen zeigen. Vgl. im Einzelnen → D7.3.1.  

Soweit Akkusativkomplemente zu Adjektiven auftreten, handelt es sich gewöhnlich um Adverbialia (wie in DEU einen MeterA K K lang); ebenso im Englischen bei kasusindifferenten Komplementen (ohne präpositionale Markierung) wie in two metres long ‚zwei Meter lang‘. Als Maßbestimmungen zu Adjektiven sind Akkusativkomplemente im Neuhochdeutschen an die Stelle älterer Genitivkomplemente getreten, nach Paul (1919: 343) „wohl unter dem Einfluß des Akk. der Erstreckung neben Verben“ (→ B2.4.2.5.2). Auch in non-adverbialer Verwendung ist der Akkusativ in einigen Fällen neben prädikativen Adjektiven an die Stelle des Genitivs getreten wie in esA K K satt sein, wesentlich bedingt durch den lautlichen Akkusativ-Genitiv-Zusammenfall bei Pronominalformen wie es, das in Verwendungen wie in Ich bin esA K K müde die ältere GEN .SG .N - Form fortsetzt (aus MHD ës) (Paul 2007: 213 f.); vgl. im Einzelnen Paul (ebd.: 329–344). Den Akkusativ (teilweise in gehobener Sprache in Konkurrenz zum Genitiv gebraucht) nehmen u. a. auch GEWOHNT , LOS und WERT . Statt akkusativregierende Adjektive anzunehmen, kann man erwägen, feste Wendungen (wie LEID SEIN ) anzusetzen (Eisenberg 1976: 166), ebenso wie in vielen Fällen erwogen werden kann, Dativkomplemente auf Adjektiv-Kopula-Verbindungen, statt unmittelbar auf Adjektive zu beziehen (Paul 1919: 409–411). Zu SCHULDIG (jdm etwas schuldig sein) mit Dativ und Akkusativ siehe Paul (ebd.: 338), und vgl. POL WINIEN ‚schuldig‘, DŁUŻNY ‚schuldig‘ (Bzdęga 1980: 24; Swan 2002: 355).  



Vgl. ferner ENG WORTH wie in worth every penny ‚jeden Pfennig wert‘, das in Huddleston/Pullum (2002: 527) als „transitives“ Adjektiv eingestuft wird; siehe aber auch Maling (1983) zu ENG

B2 Kategorisierungen

WORTH , LIKE

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und NEAR . Nach Platzack (1982: 276 f.) finden sich schon im Altschwedischen einige Adjektive mit Akkusativobjekten.  

Im Russischen kann in Verbindung mit Kurzformen einiger Adjektive wie VIDNO ‚sichtbar‘ oder ‚hörbar‘ in prädikativer Konstruktion der Akkusativ stehen wie in NamD A T byloN .S G slyšnoN . S G muzykuA K K (wörtl. ‚uns war hörbar Musik‘, d. h. ‚Wir konnten Musik hören‘) (Yadroff 1995: 302); zur Diskussion um den Status dieser Konstruktion vgl. Miller (1973: 350 f.). Möglicherweise schlägt bei solchen deverbalen Adjektiven in prädikativer Verwendung, d. h. in ‚verbaler Konstruktion‘, das verbale Valenzmuster durch. SLYŠNO







Non-adverbiale Komplemente zu Adjektiven stehen in den Vergleichssprachen (und darüber hinaus) daher im Dativ, soweit sie nicht in einem rangniederen Kasus (im Deutschen: im Genitiv, bei einer kleineren Gruppe von Adjektiven) oder (wie in der Mehrzahl der Fälle) als Adpositionalphrase erscheinen. Der Dativ ist der DefaultKasus für Kasusobjekte bei Adjektiven. Vgl. DEU BEKANNT mit seinen Gegenstücken POL ZNANY und UNG ISMERT oder DEU DANKBAR mit POL WDZIĘCZNY und UNG HÁLÁS , die sämtlich Komplemente im Dativ nehmen können, wie in POL wdzięczni losowiD A T ludzie ‚dem Schicksal dankbare Leute‘ (Engel et al. 1999: 906) und UNG Hálás vagyok a kollégámnakD A T ezért az ellenvetésért ‚Ich bin dem Kollegen dankbar für diesen Einwurf‘ (Pilarský 2013: 275). Besonders im Ungarischen fungieren vielfach Adpositionalphrasen als Übersetzungsäquivalente der Dativkomplemente bei Adjektiven im Deutschen, im Polnischen daneben auch Genitivkomplemente. Eine Auswahlliste von dativregierenden Adjektiven des Deutschen mit ungarischen Gegenstücken gibt Pilarský (2013: 1116 f.), entsprechende Listen für das Polnische Bzdęga (1980: 22–28). Die Verwendung eines Dativkomplements zum Adjektiv im Französischen zeigt Ce sacrifice leurD A T est agréable ‚Das Opfer ist ihnen angenehm‘, nämlich … aux dieux ‚den Göttern‘ (Grevisse/Goosse 2011: 472). Im Englischen, das keinen Dativ besitzt, fehlt die Möglichkeit, Adjektive mit bloßen Kasusobjekten zu verbinden, nahezu völlig.  

Bemerkenswert ist, dass die Verwendung kasusindifferenter NPs (bzw. des allgemeinen Objektkasus von Pronomina in germanischen Sprachen, in denen beim Pronomen wie im Englischen Akkusativ und Dativ zusammengefallen sind) als Komplement zum Adjektiv nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist; sie findet sich im Schwedischen (mutmaßlich beeinflusst durch das Deutsche, besonders bei Lehnwörtern aus dem Deutschen), in Konkurrenz zu Präpositionalkonstruktionen. Vgl. Hans bekymmer är mig likgiltiga / Hans bekymmer är likgiltiga för mig ‚Sein Kummer ist mir gleichgültig‘ mit der Objektform (Akkusativform) mig zum Personalpronomen (1SG ) oder försynen tacksam ‚der Vorsehung dankbar‘ mit einem (kasusindifferenten) Substantiv als Adjektivkomplement (Platzack 1982: 279).

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B Wort und Wortklassen

B2.4.2.3 Kasus und semantische Rollen: Variationen B2.4.2.3.1 Vorbemerkung Die Kasus der Verbkomplemente stellen formale Mittel dar, die der Kennzeichnung der syntaktischen Funktionen der Komplemente und damit der Anzeige der Korrelationen zwischen Komplementen und Argumenten der Verben dienen. In → B2.4.2.2 haben wir die Grundlagen des diskriminativen Markierungsverfahrens und die grundlegenden Regularitäten für die Verwendung der Komplementkasus im Deutschen dargestellt. Die vorherrschenden (wenn auch keineswegs alleinigen) Muster der Kasus-Rollen-Korrelation im Deutschen umfassen (i) einstellige Verben mit einem Komplement im Nominativ ohne Festlegung einer semantischen Rolle, (ii) zweistellige Verben mit Komplementen im Nominativ und Akkusativ in den AG ENS und PATIENS , (iii) dreistellige Verben mit Komplementen im NominaRollen AGENS tiv, Akkusativ und Dativ, die gegenüber dem zweistelligen Typ zusätzlich ein NONPAT IENS - KompleKomplement in einer dritten Rolle im Dativ (ein NONAGENS - NONPATIENS ment) aufweisen. Diese häufigsten Typen werden in der Literatur (nicht nur für das Deutsche) als die Normalfälle (Default-Zuordnungen) von Kasus-Rollen-Zuordnung betrachtet. Sie stellen für die dem Deutschen benachbarten Sprachen (oder die ‚SAE-Sprachen‘) die ‚kanonischen Muster‘ der Argumentmarkierung dar; vgl. Haspelmath (2001a), mit einem Überblick über ‚non-kanonische‘ Argumentmarkierungen in europäischen Sprachen. Im vorliegenden Abschnitt wird das diskriminative Markierungsverfahren anhand von Fällen der Kasusmarkierung in den Vergleichssprachen weiter verdeutlicht, die von den kanonischen Mustern abweichen. Grundlegend für das diskriminative Markierungsverfahren in den Vergleichssprachen ist die Zugehörigkeit zum akkusativischen Typ; eine Gegenüberstellung von akkusativischem und ergativischem Verfahren kann daher als Ausgangspunkt dienen.

B2.4.2.3.2 Akkusativische vs. ergativische Kasusmarkierung Die Kasussysteme des Deutschen und der Kontrastsprachen (ENG, FRA, POL, UNG) gehören zum akkusativischen Typ, d. h., die Unterscheidung der Kernkomplemente (→ B2.4.2.2.2) erfolgt, wo sie durch Kasus angezeigt wird, mittels eines patiensspezifischen Kasus (Akkusativ), der dem rollenunspezifischen Kasus Nominativ gegenübersteht. In Kasussystemen des ergativischen Typs wird die Unterscheidung der Kernkomplemente dagegen getroffen, indem nicht das PATIENS -Komplement, sondern AG ENS - Komplement besonders ausgezeichnet wird mittels eines agensspezidas AGENS fischen Kasus, der als Ergativ bezeichnet wird. Der rollenunspezifische Kasus, zu dem der Ergativ in privativer Opposition steht, wird als Absolutiv bezeichnet – nach Sapirs Formulierung „an intrinsically caseless form which takes on all functions not specifically covered by the transitive active case (subject of transitive or active verb)“ (Sapir 1917: 85).  

B2 Kategorisierungen

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Sprachtypologisch können weiterhin verschiedene andere Konstellationen der Kasusverteilung unterschieden werden, die zuerst bei Sapir (1917: 86) für amerikanische Sprachen unterschieden worden sind; vgl. Comrie (2005) oder Dixon (2010a: 122–125). Insbesondere können akkusativische und ergativische Teilsysteme in einer Sprache nebeneinander bestehen oder sich überlappen. Ferner können die einzigen Komplemente einstelliger Verben aus verschiedenen Klassen bezüglich der Kasusmarkierung unterschiedlich behandelt werden, wenn (anders als bei diskriminativer Kasusmarkierung) Kasuszuweisung auch bei einstelligen Verben in Abhängigkeit von der semantischen Rolle erfolgt (‚semantic alignment‘, Donohue/Wichmann (Hg.) 2008). Systeme, in denen zwei Kasus (abhängig von der relativen ‚Agenshaftigkeit‘ oder ‚Patienshaftigkeit‘) gleichermaßen für Komplemente ein- und mehrstelliger Verben verwendet werden, heißen ‚Aktivsysteme‘. Im Deutschen finden sich Verben, die kein Komplement im Nominativ nehmen, nur ganz relikthaft wie in mich friert oder mir graut vor dir, mit der Tendenz zu weiterem Abbau; vgl. Seefranz-Montag (1983), IDS-Grammatik (1997: 1079). Ein ‚neutrales System‘ der Kasusmarkierung liegt vor (nach Comrie 2005), wenn weder AGENS noch PATIENS besonders ausgezeichnet werden, so dass das einzige Komplement einstelliger Verben, das AGENS - Komplement zweistelliger Verben sowie das PATIENS - Komplement zweistelliger Verben bezüglich der Kasusmarkierung nicht unterschieden werden. Für die Betrachtung der Vergleichssprachen ist wesentlich, dass die Allgemeine Nominalhierarchie (→ B1.1.5) als Steuerungsfaktor für die Kasusdifferenzierung nicht nur für Sprachen relevant ist, die Akkusativ- und Ergativmarkierung kombinieren, sondern ebenso für solche, in denen Teilsysteme mit akkusativischer und neutraler Ausrichtung nebeneinander bestehen. Gegebenenfalls liegt ‚differentielle Objektmarkierung‘ vor (→ B2.4.2.3.3). Neutrale Teilsysteme existieren im Englischen und Französischen, wo Kasusdifferenzierung bei Pronomina gegeben ist, jedoch bei Substantivphrasen ganz fehlt. Zu unterscheiden von fehlender Kasusdifferenzierung ist, wenn auch funktional vergleichbar, fehlende Differenzierung von Kasusformen (bei gegebener Kasusdifferenzierung).

In Europa findet sich ergativische Kasusmarkierung der Verbkomplemente bei kaukasischen Sprachen (soweit die betreffenden Regionen zu Europa gerechnet werden), vgl. Klimov (1994). In Westeuropa existiert ergativische Kasusmarkierung im Baskischen. Sprachen mit einem Kasus Ergativ sind in Amerika, Asien, Australien und Austronesien verbreitet (vgl. Palancar 2009), kaum in Afrika (König 2008: 95–137). Die Unterscheidung verschiedener Typen der morphosyntaktischen Ausrichtung (‚morphosyntactic alignment‘) von Markierungen für syntaktische Funktionen konstituiert aus typologischer Sicht einen Varianzparameter, der für die Charakteristik von Kasussystemen als fundamental gelten kann. Die Zugehörigkeit zum akkusativischen Typ morphosyntaktischer Ausrichtung stellt eine grundlegende Übereinstimmung im grammatischen Bau des Deutschen und der Kontrastsprachen dar, die aus allgemeinsprachvergleichender Sicht nicht als Selbstverständlichkeit betrachtet werden kann – und bildet damit ein wesentliches Charakteristikum des Deutschen. Zur Illustration der Ergativ-/Akkusativunterscheidung ziehen wir hier das Baskische und das Ungarische, das unter den Vergleichssprachen das akkusativische Muster in stärkster Ausprägung zeigt, heran. Im Ungarischen und im Baskischen kann das einzige Komplement eines einstelligen Verbs im rollenunspezifischen Kasus (Nominativ bzw. Absolutiv) stehen; gegebenenfalls erscheint die bloße Grundform des betreffenden Lexems, wie (18) und (19) anhand der Eigennamen UNG PÉTER und

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B Wort und Wortklassen

BAS PERU zeigen (Aldai 2008: 201, „Eastern Basque“). (Das Adverbiale etxera ‚nach Hause‘ ist in (19a) durch den Allativ zum Substantiv ETXER ‚Haus‘ gekennzeichnet). (18) a. [Péter]N O M hazament. UNG ,Péter ist nach Hause gegangen.‘ b. [Péter]N O M esett. ,Péter ist gefallen.‘ (19) a. [Peru]A B S etxera joan da. BAS ,Peru ist nach Hause gegangen.‘ b. [Peru]A B S erori da. ,Peru ist gefallen.‘ Bei einem AGENS - PATIENS -Verb wie in (20) steht im Ungarischen die AGENS -NP im Nominativ und die PATIENS -NP im Akkusativ. Der Akkusativ wird im Ungarischen AL MA ‚Apfel‘, das vom durch das Suffix -(V)t markiert wie hier in almát, Akkusativ zu ALMA flexionslos bleibenden definiten Artikel (az) begleitet wird. (20) UNG

[Péter]N O M ette [az Péter ess.PRT .3SG .DEF DEF ‚Péter hat den Apfel gegessen.‘

almát]A K K . Apfel

Anders als im Ungarischen wird im Baskischen beim AGENS - PATIENS - Verb regelmäßig AG ENS -NP (mittels des Ergativs) besonders gekennnicht die PATIENS -NP, sondern die AGENS zeichnet; vgl. (21). (21) BAS

[Peruk]E R G [sagarra]A B S jan Peru Apfel gegessen ‚Peru hat den Apfel gegessen.‘

du. hat

Der Ergativ wird im Baskischen durch das Suffix -k markiert, wie hier in Peruk, Ergativ PAT IENS - Komplement – sagarra zu SAGAR ‚Apfel‘ – steht im rollenunspezizu PERU . Das PATIENS fischen Kasus, dem Absolutiv. (Die Form sagarra ist mit dem sogenannten definiten Artikel suffigiert, vgl. de Rijk 2008: 37; Hualde/Ortiz de Urbina (Hg.) 2003: 179.) Verschiedene Konstruktionen mit zweistelligen Verben, die vom AGENS - PATIENS - Prototyp abweichen, weisen Besonderheiten auf (vgl. Aldai 2008), darunter Varianten zu zweistelligen Verben, bei denen das PATIENS -Argument „fehlt“ (wie in Peter isst). Im Baskischen steht das (einzige) Komplement im Ergativ; vgl. MartinekE R G jan du ‚Martin isst / Martin isst etwas‘ (Comrie 1978: 356 f.). Vgl. auch Hualde/Ortiz de Urbina (Hg.) (2003: 180, 388–391), die das Baskische zum „extended ergative type“ (ebd.: 364) rechnen; Comrie (2005: 402): „active-inactive“.  

Die Kasussysteme des Ungarischen und des Baskischen stellen insofern Fälle idealer Nominativ- bzw. Ergativsysteme dar, als die funktional unmarkierten (rollenunspezi-

B2 Kategorisierungen

917

fischen) Kasus (Nominativ, Absolutiv) zugleich formal (bezüglich Kasus) gänzlich unmarkiert (kennzeichenlos) sind. In anderen Sprachen können auch der Nominativ bzw. (sehr selten) der Absolutiv formal gekennzeichnet sein, jedoch gilt in aller Regel, dass, soweit sich eine Abstufung im Grad der formalen Markiertheit zeigt, der Nominativ gegenüber dem Akkusativ und ebenso der Absolutiv gegenüber dem Ergativ der formal weniger markierte Kasus ist (Comrie 1989: 126); vgl. Dixon (1994: 63) und König (2008: 138–203, zu „marked-nominative languages“). (Zur Verbindung von ‚ergativischer Morphologie‘ mit ‚akkusativischer Syntax‘ im Baskischen siehe Trask (2002).)

B2.4.2.3.3 Nominativ vs. Akkusativ:: D Differentielle Objektmarkierung Akkusativische und ergativische Kasusmarkierung können in Sprachen, in denen sie vorliegen, in unterschiedlichem Grade ausgeprägt sein. Die Differenzierung von AGENS - und PATIENS PAT IENS - Komplement mittels Kasus erfolgt gewöhnlich nicht unbeschränkt, sondern nur in einem Teil der Fälle, die die entsprechende Rollenverteilung aufweisen. Gegebenenfalls liegt ‚differentielle Objektmarkierung‘ (Bossong 1985, 1998b; kurz: DOM), auch: ‚partielle Objektmarkierung‘ (vgl. Blake 2001: 136, „partial accusative marking“), vor. Bezüglich der Reichweite akkusativischer Markierung bestehen starke Unterschiede zwischen den Vergleichssprachen; in dieser Hinsicht ist die Typologie der Kasuskonstellationen (der ‚Ausrichtung‘) für den Vergleich des Deutschen mit den Kontrastsprachen unmittelbar relevant. Der Anwendungsbereich von akkusativischer bzw. ergativischer Kasusmarkierung umfasst in Sprachen, die von diesen Markierungstypen Gebrauch machen, gewöhnlich einen Teilbereich der Nominale, der unter Bezugnahme auf die Allgemeine Nominalhierarchie (Dixon 1994: 85, „nominal hierarchy“) (→ B1.1.5) abgegrenzt werden kann; eine vereinfachte und schematisierte Darstellung des Zusammenhangs gibt Abbildung 1.

Abb. 1: Kasusmarkierung und Allgemeine Nominalhierarchie  

Nach Silverstein (1976) stehen am oberen Ende der Hierarchie die Personalpronomina der ersten und zweiten Person (Kommunikantenpronomina), es folgen die der dritten Person, dann Eigennamen (EN ) (und Verwandtschaftsbezeichnungen). Danach kommen sonstige Nominale (NPs mit substantivischem Kopf), gemäß der Ordnung ‚Menschliches (HUM ) vor anderem Belebten (ANIM )‘ und ‚Belebtes (ANIM ) vor Unbelebtem (INAN )‘.

Akkusativische Markierung gilt, wenn vorhanden, nach Silverstein (1976) grundsätzlich für einen zusammenhängenden Abschnitt im oberen Teil der Hierarchie, begin-

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B Wort und Wortklassen

nend mit der ranghöchsten Kategorie, beispielsweise nur für Kommunikantenpronomina oder für alle Pronomina oder für alle Belebten. Die Reichweite der Verwendung des Akkusativs ist gewöhnlich sprachspezifisch fixiert, aber es finden sich auch Sprachen, bei denen die Anwendung (nach dem Gesichtspunkt der Vermeidung von Undeutlichkeit) optional ist. Die gleiche Regularität bestimmt – in umgekehrtem Sinne – gewöhnlich die Verwendung des Ergativs. In Abbildung 1 sind die möglichen Spielräume für Akkusativ- bzw. Ergativmarkierung durch Pfeile grafisch angedeutet. Als ausschlaggebend für die Auszeichnung oder Nicht-Auszeichnung von Nominalen im Satz durch markierte Kasus (Akkusativ oder Ergativ) erweist sich, ob ein Nominal einer gegebenen Kategorie die Rolle spielt, die nach seiner Kategorie im Normalfall eher die erwartete ist oder nicht. Umso weniger die tatsächliche Rolle dem Normalfall entspricht, umso eher besteht Bedarf für eine besondere Kennzeichnung, die die tatsächliche Rolle deutlich macht. Als AGENS - Komplemente treten bevorzugt Nominale der Kategorien vom oberen Ende der Hierarchie auf. Mit absteigender Position auf der Hierarchie sinkt die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der Rolle AGENS . Sofern in der Hierarchie hochgeordnete Nominale im Satz tatsächlich ein AGENS repräsentieren, spielen sie ihre erwartete Rolle und können ohne Kasuskennzeichnung bleiben. Sofern ranghohe Nominale im Satz dagegen die PATIENS -Rolle repräsentieren, besteht tendenziell ein Kennzeichnungsbedarf, der durch Markierung mit dem patiensspezifischen Kasus Akkusativ erfüllt werden kann. Verschiedene andere Deutungen der Nominalhierarchie in Hinblick auf ihre Rolle für die Kasusmarkierung erörtert Blake (2001: 140–142). Die Reichweite der Akkusativverwendung variiert von Sprache zu Sprache und der Abbruchpunkt, ab dem keine Akkusativmarkierung mehr erfolgt, kann grundsätzlich vor jeder Position der Hierarchie liegen.

Für die vergleichende Betrachtung von Kasussystemen ergeben sich daraus zwei Varianzparameter: ‚Reichweite akkusativischer Markierung‘ und ‚Reichweite ergativischer Markierung‘. Für die Vergleichssprachen (in denen von ergativischer Markierung kein Gebrauch gemacht wird) ist nur der erstere von Belang. In PATIENS -Funktion treten bevorzugt Nominale der Kategorien vom unteren Ende der Hierarchie auf. Sofern niedriggeordnete Nominale im Satz die AGENS -Funktion haben, besteht daher tendenziell ein Kennzeichnungsbedarf, der durch Markierung durch den AGENS - Kasus Ergativ (ERG ) erfüllt werden kann. Ergativische Markierungssysteme gelten entsprechend für einen zusammenhängenden Abschnitt im unteren Teil der Hierarchie, eingeschlossen die niedrigstgeordnete Kategorie (INAN ), beispielsweise für alle Substantive. In ‚gespaltenen‘ Systemen, die akkusativische und ergativische Kasusmarkierung kombinieren, folgen typischerweise Personalpronomina, insbesondere die Personalpronomina der 1. und 2. Person (Kommunikantenpronomina) dem akkusativischen Muster, während Substantive dem ergativischen Muster folgen, d. h., bei Pronomina werden Formen, die in PATIENS - Funktion verwendet werden, formal ausgezeichnet (z. B. durch Suffigierung), bei den Substantiven dagegen Formen, die in AGENS -Funktion verwendet werden, während in den verbleibenden Fällen kennzeichenlose Formen auftreten. (Solche Verteilungen sind typisch für australische Sprachen, die gewöhnlich gut ausgebaute Kasussysteme zeigen; vgl. Dixon 2002). Die Reichweiten der Akkusativmarkierung und der Ergativmarkierung können komplementär sein, z. B., wenn Pronomina dem Akkusativsystem folgen und alle übrigen Nominale dem Ergativsystem, Akkusativ- und Ergativmarkierung können sich überlagern, z. B., wenn Pronomina der 3. Person in AGENS -Funktion den Ergativ und in PATIENS - Funktion den Akkusativ zeigen, oder es kann ein mittlerer Bereich mit fehlender Rollendifferenzierung verbleiben (ein Bereich gemäß dem neutralen Muster). Bemerkenswerterweise wird in der neueren  







B2 Kategorisierungen

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Literatur auch für frühe indoeuropäische Sprachen (des anatolischen Zweiges) ein gespaltenes System angenommen, bei dem Neutra (in Übereinstimmung mit der Nominalhierarchie) Ergativmarkierung zeigen können (Garrett 1990; Melchert 2011).

Unter den Vergleichssprachen zeigen das Englische und das Französische eine besonders eingeschränkte Reichweite der Akkusativmarkierung; nur bei Pronomina, die speziell dem Personenbezug dienen oder die häufig für den Personenbezug verwendet werden – den Personalpronomina sowie (eingeschränkt) beim Interrogativum/Relativum –, werden Subjekt und direktes Objekt durch verschiedene Kasusformen unterschieden, vgl. z. B. die Formen ENG heN O M vs. himA K K oder FRA ilN O M vs. leA K K der Personalpronomina der 3. Person Singular. Für das Französische gilt zudem, dass sich Kasusdifferenzierung nur bei gebundenen Pronomina findet, während freie Pronomina kasusunspezifisch sind (→ B1.5.3.2). Hier liegen ‚gespaltene Kasussysteme‘ vor: Ein akkusativisches Teilsystem (für bestimmte Pronomina) verbindet sich mit einem neutralen Teilsystem (das insbesondere den Gesamtbestand der Substantive umfasst), nämlich einem Teilsystem, in dem keine Kasusdifferenzierung von AGENS - und PAT IENS -Rolle mittels Kasus besteht. Das Ungarische bildet unter den VergleichsspraPATIENS chen den Gegenpol. Das Kasussystem des Ungarischen kommt einem reinen Akkusativ-System äußerst nahe. Nahezu zu sämtlichen Nominalen (Pronomina, Substantiven, Adjektiven, Eigennamen) existieren besondere Akkusativformen, die mit dem Suffix -(V)t gebildet sind (Tompa 1968: 192); siehe dazu → C5.3.2.2. Mit dieser radikalen Durchsetzung akkusativischer Markierung steht das Ungarische nicht nur unter den Vergleichssprachen allein, sondern stellt aus allgemeinvergleichender Perspektive die Realisierung eines mutmaßlich eher seltenen Typs dar (Haspelmath 2014: 204). Asymmetrische (oder ‚gespaltene‘) Systeme stellen den Normalfall dar.  

Als Beispiel einer finnougrischen Sprache mit einem gespaltenen System, in dem akkusativische Markierung für den hohen Bereich der Nominalhierarchie (Personalpronomina) gilt, während im Übrigen die SU - DO - Differenzierung mittels Kasus reduziert ist oder fehlt, kann das Finnische genannt werden; eine Erörterung des Zusammenhangs von Nominalhierarchie und Kasusmarkierung gibt Helasvuo (2001: 42–45).

Das Polnische und das Deutsche liegen zwischen diesen Extremen. Polnisch und Deutsch zeigen eine formale NOM - AKK -Differenzierung nicht nur bei Pronomina, sondern auch bei anderen Nominalen, wenngleich mit erheblichen Beschränkungen. Wiederum ist die Differenzierung bei in der Nominalhierarchie hoch stehenden Elementen am konsequentesten durchgesetzt. Im Polnischen besteht bei den Personalpronomina unabhängig von Genus und Numerus eine formale NOM - AKK -Unterscheidung, nicht nur bei den Kommunikantenpronomina, sondern auch beim Personalpronomen der 3. Person; vgl. on/ona/ono (NOM .SG .M / F / N ) vs. go/ją/je (AKK .SG .M / F / N ). Im Deutschen gelten genus- und numerusabhängige Beschränkungen. Die wichtigste allgemeine Beschränkung der NOM - AKK -Differenzierung betrifft im Polnischen und Deutschen wie in anderen indoeuropäischen Sprachen die regelmäßig fehlende Differenzierung im Neutrum (vgl. das Haus, NOM / AKK .SG .N , mit der Mann, NOM .SG .M vs.

920

B Wort und Wortklassen

den Mann, AKK .SG .M ); diese Beschränkung korrespondiert mit der Position, die die Neutra – die in der Regel Bezeichnungen für Unbelebtes darstellen – in der Allgemeinen Nominalhierarchie einnehmen (→ C2.6). Bei den Maskulina ist im Polnischen (wie, mit unterschiedlicher Ausprägung, in anderen slawischen Sprachen) das Vorhandensein einer NOM - AKK -Differenzierung in der Regel unmittelbar an das Merkmal Belebtheit gebunden. Insgesamt ist die Reichweite akkusativischer Markierung im Deutschen sehr viel stärker beschränkt als im Polnischen. NOM - AKK -Differenzierung findet sich bei Kommunikantenpronomina; bei Substantiven ist im Deutschen, anders als im Polnischen, eine NOM - AKK -Differenzierung nur ausnahmsweise gegeben (bei den sogenannten ‚schwachen Maskulina‘); sie fehlt auch bei Eigennamen. Auch bei Substantivphrasen ist im Deutschen NOM - AKK - Differenzierung nur im Maskulinum Singular möglich und wird dann vorwiegend durch pronominal flektierte Formen (wie die Artikelformen in den vorangehenden Beispielen) geliefert. Das Deutsche steht insofern dem Französischen und Englischen sehr viel näher als das Polnische. Wir können danach den Grad der Nutzung akkusativischer Kasusmarkierung (kurz: ‚Akkusativität‘) als wichtigen Varianzparameter identifizieren. Die Akkusativität steigt vom Englischen und Französischen über das Deutsche zum Polnischen und schließlich zum Ungarischen stark an, wie in Abbildung 2 festgehalten ist. Charakteristisch für das Deutsche ist (hier wie sonst) die typologische Mittelposition.

Abb. 2: Akkusativität in den Vergleichssprachen  

B2.4.2.3.4 Akkusativ vs. Dativ: PATIENS und NONPATIENS Als kanonisches Muster der Kasusverteilung für zweistellige Verben im Deutschen wird die Korrelation von Nominativ und Subjekt sowie von Akkusativ und Objekt angesehen; vgl. Duden-Grammatik (2009: 391, „Wenn ein Verb ein einziges Kasusobjekt regiert, handelt es sich im Normalfall um ein Akkusativobjekt“). Obwohl im Deutschen Verben, die den Dativ regieren, gewöhnlich zugleich den Akkusativ regieren (wie GEBEN ), gibt es eine nennenswerte Zahl von Verben, die nur ein Dativobjekt nehmen (Er hilft ihmD A T ). Einige Verben regieren den Genitiv (Er enthält sich [der Stimme]G E N ) und viele Verben nehmen Präpositivkomplemente (Er wartet [auf ihn]auf+A K K ). Non-kanonische Muster der Kasusmarkierung variieren im Allgemeinen nicht beliebig, sondern zeigen übereinzelsprachliche Übereinstimmungen. Das angeführte HELF EN gehört zu einer Gruppe von ‚Interaktionsverben‘ (Blume 1998), Beispielverb HELFEN die typischerweise ein Komplement im Dativ, aber kein Komplement im Akkusativ nehmen. Die Rolle des zweiten personalen Partizipanten entspricht in diesen Fällen

B2 Kategorisierungen

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eher der des non-agentischen personalen Mitspielers bei dreistelligen Verben als der eines Patiens und wird auch hier durch eine NP im Dativ bezeichnet; die Dativkomplemente zeigen die „prototypische Dativfunktion der Bezeichnung eines nicht-aktiven, belebten und verhältnismäßig weniger stark involvierten Ereignisbeteiligten“ (IDS-Grammatik 1997: 1346, mit detaillierter Erörterung zu verschiedenen Verwendungen des Dativs). Im Unterschied zu direkt betroffenen Beteiligten eines Geschehens T ÖT EN ) handelt es sich um ‚indirekt betroffe(wie den DO - Partizipanten bei Verben wie TÖTEN ne‘ Beteiligte (vgl. Blake 2001: 134, „not directly affected“ vs. „directly affected“). Wie in → B2.4.2.2.4 gezeigt wurde, fügen sich die betreffenden Verben im Deutschen in die auf Argumentstrukturen basierende Systematik ohne Weiteres ein. Der semantischen Motivation für die Setzung des Dativs bei intransitiven Verben entspricht es, dass in Vergleichssprachen mit ausgebautem Kasussystem Verben mit ähnlicher lexikalischer Semantik häufig entsprechende Kasusmarkierungen zeigen (Haspelmath 2001a). HELF EN / POMADeutsch-polnische Beispielpaare für intransitive Dativverben sind HELFEN GAĆ , DANKEN / DZIĘKOWAĆ , DROHEN / ZAGRAŻAĆ oder DIENEN / SŁUŻYĆ ; vgl. (22) aus Swan (2002: 394). (22) POL

Krzysztof zawsze pomaga [swoim POSS .REFL .DAT .PL Krzysztof immer helf.3SG ,Krzysztof hilft seinen Kollegen immer.‘

kolegom]D A T . Kollege.DAT .PL

Swan (2002: 347 f.) nennt POMAGAĆ ‚helfen‘ als Beispiel für „verbs expressing bother, help, threat, DZIĘKOWAĆ AĆ ‚danken‘ als Beispiel für „verbs referring to belief, trust, harm, or hindrance“ und DZIĘKOW subordination, gratitude, concern, relation, sympathy“.  

Auch im Ungarischen regiert das Leitverb dieser Gruppe (SEGÍT ‚helfen‘) den Dativ wie in Segítek JánosnakD A T ‚Ich helfe János‘ (Rákosi 2006: 129). Weitere Beispiele für entsprechende Verben mit Dativrektion aus dem Deutschen, Polnischen und Ungarischen gibt Blume (1998: 273 f.), vgl. (23), und verweist auf vergleichbare Verhältnisse in außereuropäischen Sprachen (Tongaisch, Samoanisch). Siehe auch de Rijk (2008: 358 f.) zum Baskischen, u. a. zum Dativ bei LAGUNDU ‚helfen‘ (vgl. auch Trask 1999: 71).  





(23) a b. c. d. e.

DEU

POL

UNG

ANTWORTEN

ODPOWIADAĆ

FELEL

WINKEN

MACHAĆ

INTEGET

GRATUL IEREN

GRATUL OWAĆ

GRATUL ÁL

KÜNDIGEN

WYMAWIAĆ

FELMOND

VORLESEN

PRZECZYTA PRZECZYTAĆ Ć

FELOLVAS

Es gilt jedoch nicht, dass Verben, deren Argumente eine vergleichbare Semantik zeigen, notwendigerweise das NOM - DAT - Muster aufweisen; entsprechende Verben

922

B Wort und Wortklassen

können auch dem ‚kanonischen‘ Typ der Komplementmarkierung für zweistellige Verben (mit dem NOM - AKK -Muster) folgen, wie im Falle von FRA AIDER ‚helfen‘ (Robert 2001: s. v.). Ob entsprechende Verben dem ‚kanonischen‘ Typ, mit der für die Mehrheit der Verben geltenden Normalmarkierung (Objekt im Akkusativ) folgen oder dem ‚non-kanonischen‘ Typ (mit der für diese Verben typischen Auszeichnung des nonpatientischen Objekts durch den Dativ), ist verbspezifisch (d. h. durch lexemspezifische Valenzmuster) geregelt. Ein Standardbeispiel bietet DEU (jdn) TREFFEN (mit AKK ) vs. (jdm) BEGEGNEN (mit DAT ). Das geläufige polnische Übersetzungsäquivalent für beide Verben SPOTKAĆ (Piprek et al. 1979: s. v.) zeigt Akkusativrektion. Vgl. auch POMAGAĆ / HELFEN (POL und DEU mit DAT ) mit WSPIERAĆ /UNTERSTÜT UNTERST ÜTZEN ZEN (POL und DEU mit AKK ). Wie die Beispiele zeigen, variiert die Zuordnung zur Klasse der Dativverben bei Verben mit vergleichbarer Semantik sowohl innerhalb der Einzelsprachen als auch zwischen den Vergleichssprachen. Dativrektion im Polnischen gegenüber Akkusativrektion im Deutschen findet sich häufig; vgl. Dziecko przeszkadza [mi]D A T ‚Das Kind stört mich‘ (Engel et al. 1999: 235). Einige weitere Verbpaare dieses Typs sind beispielhaft in (24) aufgeführt (vgl. Damerau 1967: 118; Swan 2002: 347–349) (mit komuś, DAT , und kogoś, AKK , zu KTOŚ ‚jemand‘).  





(24)

POL (Dativrektion)

DEU (Akkusativrektion)

AKOMPANIOWAĆ KOMUŚ NA CZYMŚ

JDN AUF ETW BEGLEITEN BEGLEIT EN

DOKUCZAĆ KOMUŚ

JDN ÄRGERN

aber: DRAŻNIĆ KOGOŚ

dass.

KŁANIAĆ SIĘ KOMUŚ OD KOGOŚ

JDN VON JDM GRÜSSEN

PRZERYWAĆ KOMUŚ

JDN UNTERBRECHEN

TOWARZYSZYĆ KOMUŚ

JDN BEGLEIT BEGLEITEN EN

UBLIŻAĆ UBL IŻAĆ KOMUŚ CZYMŚ

BEL EIDIGEN / KRÄNKEN JDN DURCH / MIT ETWAS BELEIDIGEN

WYMY WYMYŚL ŚLAĆ AĆ KOMUŚ

JDN BESCHIMPFEN

Beispiele für Dativrektion im Ungarischen gegenüber Akkusativrektion im Deutschen bieten (25a) mit TELEFONÁL ‚anrufen‘ (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 198 f.) und (25b) mit KÖSZÖN ‚grüßen‘, auch: ‚danken‘ (Rákosi 2006: 129).  

(25) a. Telefonáltál [Jánosnak]D A T ? UNG ‚Hast du János angerufen?‘ b. Köszöntem [Jánosnak]D A T . ‚Ich habe János gegrüßt.‘ Vgl. auch weitere Dativverben im Ungarischen wie ALKALMATLANKODIK ‚jdn belästigen / jdm zur Last fallen‘, HAZUDIK ‚jdn be-/anlügen‘, KEDVEZ ‚jdn/etw begünstigen‘, UDVAROL ‚jdn hofieren‘ u. a.; ferner Verben mit dem Präfix neki- (wie NEKITÁMAD NEKIT ÁMAD ‚jdn angreifen‘) (Pilarský 2013: 165).  



B2 Kategorisierungen

923

Umgekehrt findet sich im Französischen bei einer ganzen Anzahl von Verben, deren Gegenstücke im Deutschen (und in verschiedenen anderen Sprachen) Dativrektion zeigen, bei personalem Objekt der Akkusativ, etwa bei CONTREDIRE QN (vgl. DEU JDM WIDERSPRECHEN und POL SPRZECIWIA SPRZECIWIAĆ Ć SIĘ KOMUŚ , beide mit Dativ) und, wie angeführt, sogar bei AIDER / HELFEN ; vgl. (26) (Robert 2001: s. v.).  

(26) FRA

Son père l’A K K a aidé dans ses affaires. ‚Sein Vater hat ihm bei seinen Angelegenheiten geholfen.‘

Die Verwendung mit dem Dativ gilt als veraltet oder regional (ebd.). Einige weitere Verbpaare dieses Typs sind beispielhaft in (27) aufgeführt. (27)

DEU (Dativrektion)

FRA (Akkusativrektion)

JDM GLAUBEN GL AUBEN

CROIRE QN

JDM ZUHÖREN

ÉCOUTER QN

JDM GRATULIEREN

FÉLICITER QN

JDM SCHMEICHELN

FL FLATTER ATTER QN

JDM DANKEN

REMERCIER QN

JDM DIENEN

SERVIR QN

JDM FOLGEN

SUIVRE QN

Umgekehrte Fälle wie JDN BELÜGEN / MENTIR MENT IR À QN sind anscheinend selten. Wie Troberg (2011) im Einzelnen darstellt, ist im Französischen schon im 15. Jahrhundert bei einer Gruppe von zweistelligen Verben, die Troberg informell als „verbs of helping and hindering“ charakterisiert, ein systematischer Übergang von der Dativrektion zur Akkusativrektion eingetreten, ohne dass, wie Troberg betont, mit diesem Wechsel eine Bedeutungsveränderung einhergegangen sei. Auch im Deutschen (vgl. Paul 1919: 380–390) hat sich auf dem Wege zur Gegenwartssprache (nach vielfachen Schwankungen zwischen Akkusativ und Dativ) bei einigen Verben, bei denen in älteren Sprachstufen der Dativ vorherrscht oder Konkurrenz von Dativ und Akkusativ bestand, der Akkusativ durchgesetzt. Meistzitiertes Beispiel ist RUFEN ; mit Dativ noch in Wer ruft mir? (Goethe, Faust I). Auch das Umgekehrte kommt vor; so verlangt HELFEN jetzt durchwegs den Dativ. Im Ergebnis lässt sich aber feststellen, „daß der adverbale Dativ im älteren Deutsch viel häufiger war als heute“ (Willems/Van Pottelberge 1998: 647). Vermehrte Akkusativrektion im Deutschen wird auch durch den Einsatz von Präfixverben (insbesondere mit dem Präfix be-) befördert, die bei Zweistelligkeit obligatorisch ein Akkusativkomplement fordern. Hier zeichnet sich ab, dass in indoeuropäischen Sprachen, in denen das Kasussystem insgesamt besser erhalten ist (Polnisch gegenüber Deutsch, Deutsch gegenüber Französisch), auch insbesondere der Objektsdativ bei intransitiven Verben besser bewahrt ist. Die Nutzung des Dativs als Objektkasus ist im Polnischen stärker als im Deutschen ausgeprägt, im Deutschen stärker als im Französischen. Die sichtbar  





924

B Wort und Wortklassen

werdende Abstufung in der Nutzung des Dativs steht in Übereinstimmung mit den Feststellungen von Hentschel (2001), der ein Ost-West-Kontinuum abnehmender „dative friendliness“ (vom Slawischen zum Germanischen und Romanischen) beobachtet. Im Rahmen der Vergleichssprachen bildet das Englische den Extremfall am Minuspol dieser Skala: Es besitzt keinen Dativ mehr. Im Ungarischen wird dagegen vom Dativ in besonders ausgedehnten Maße Gebrauch gemacht: Der Dativ nimmt hier neben ‚dativtypischen‘ Funktionen wie der der Markierung indirekter Objekte die Rolle eines Kennzeichens für NP-förmige Attribute wahr, vergleichbar den Genitivattributen indoeuropäischer Sprachen. Hinzuweisen ist auf die Sonderstellung der inselskandinavischen Sprachen innerhalb der modernen germanischen Sprachen. Das Isländische weist im Vergleich zum Deutschen eine weitaus umfangreichere Klasse von Dativverben auf (vgl. Einarsson 1949: 107 f., und besonders Maling 2002), darunter – neben typischen Dativverben wie HJÁLPA ‚helfen‘– z. B. EYÐA ‚ausgeben/verschwenden/vernichten‘, HEILSA ‚grüßen‘, KASTA ‚werfen‘; zum Färöischen siehe Jónsson (2009).  



Ein weiteres Beispiel für eine Sprache mit ausgedehnter Verwendung des Dativs bietet das Litauische (vgl. Senn 1966: Kap. 53). Dativverben, die deutschen Verben mit Akkusativrektion ́ TI / JDN BENEIDEN (Mathiassen 1996: 193). PAVYDĖTI entsprechen, sind z. B. GRASÌNTI / JDN ERSCHRECKEN , PAVYDĖ Im gegenwärtigen Litauischen beobachtet Schmalstieg (2010: 118) eine Tendenz zur Ersetzung des Dativs durch den Akkusativ, die er als einen Fall des Übergangs von einem mehr oder weniger semantischen Kasus („a more or less semantic case“) zu einem mehr oder weniger automatischen syntaktischen Kasus („a more or less automatic syntactic case“) auffasst, wie er sich wiederholt in den indoeuropäischen (aber auch in semitischen) Sprachen finde; Schmalstieg verweist besonders auf das Altrussische und das Altindische.  

Die Variation zwischen Akkusativ- und Dativrektion bei Verben mit vergleichbarer Bedeutung – sowohl innerhalb der Einzelsprachen (synchron und diachron), vor allem aber auch zwischen den Vergleichssprachen – macht die lexikalische Fixierung der Rektion deutlich, wie häufig betont worden ist; vgl. z. B. Paul (1919: 217) mit F OLG EN (mit Dativ) und LAT SEQUI ‚folgen‘ (mit Akkusativ). In der Verweis auf DEU FOLGEN neueren Literatur wird im Allgemeinen angenommen, dass bei zweistelligen Verben, die Dativkomplemente nehmen, die Kasuswahl durch eine entsprechende lexikalische Festlegung bestimmt ist; vgl. z. B. Haider (2010: 252). Wie der Sprachvergleich (sowohl in synchroner als auch in diachroner Perspektive) jedoch ebenfalls deutlich macht, ist die Verteilung von Akkusativ und Dativ bei zweistelligen Verben nicht einfach arbiträr, auch wo sie im Einzelnen nicht „prädiktaNONPAT IENS bel“ ist. Der Akkusativ kann – als unmarkierter Objektkasus – auch auf NONPATIENS Argumente ausgedehnt werden, umgekehrt kommt der Dativ – als markierter Objektkasus – für PATIENS -Argumente nicht in Frage. Wie Primus (1999b: 155) herausstellt, AG ENS - PATIENS würde ein hypothetisches Der Junge putzt dem Schuh (mit PUTZEN als AGENS Verb) nicht unter die „mögliche[n] Rektionsmuster des Gegenwartsdeutschen“ fallen. Die Kasusverteilung ist durch die inhärente Asymmetrie zwischen den Objektkasus systematisch beschränkt. Aufgrund der wesentlich diskriminativen Leistung der Kasusmarkierungen kann es nicht überraschen, dass am ehesten bei zweistelligen Verben, die ein AGENS  



B2 Kategorisierungen

925

Argument und ein NONAGENS - Argument verlangen (wie bei den Verben des Helfens im Französischen), auf die besondere Auszeichnung des NONAGENS - Arguments (durch den Dativ) zugunsten einer unspezifischen Objektmarkierung (durch den Akkusativ) verzichtet werden kann, und sich entsprechende Verben an das kanonische Muster der Kasusverteilung anschließen. Im Extremfall führt die Verallgemeinerung des Akkusativs als Objektkasus zur Beseitigung der Akkusativ-Dativ-Differenzierung (wie im Englischen und verschiedenen anderen germanischen Sprachen). Mit Bezug auf das Deutsche ist zu beachten, dass mit der Festlegung des Objektkasus (Akkusativ vs. Dativ) bei zweistelligen Verben auch die syntaktischen Eigenschaften der betreffenden Verben korrelieren, d. h. die ‚Verhaltenseigenschaften‘, in denen sich die Argumentstrukturen spiegeln (→ B2.4.2.2.1 und B2.4.2.2.4). Verben mit UNTERSTÜT ZEN und WIDERLEGEN verhalten sich wie TÖTEN ; vgl. (12, Akkusativobjekt wie UNTERSTÜTZEN iv). Sie lassen Passivbildung und attributive Verwendung des Partizip II zu. Die HELF EN und letztere Option besteht dagegen nicht für Verben mit Dativobjekt wie HELFEN WIDERSPRECHEN ; sie gehören zum Typ (17, i). TREF T REFFEN FEN (mit Akkusativobjekt) bildet ein haben-Perfekt, BEGEGNEN (mit Dativobjekt) dagegen ein sein-Perfekt. Dies spricht für die Annahme, dass sich solche Verben trotz starker Bedeutungsähnlichkeit in ihren Argumentstrukturen unterscheiden. Die unterschiedliche Kasusmarkierung der Objekte wäre dann wie in anderen Fällen den Unterschieden in den Argumentstrukturen geschuldet.  

B2.4.2.3.5 Nominativ vs. Dativ:: Mentale Verben Die Vergleichssprachen unterscheiden sich danach, in welchem Umfang das Konstruktionsmuster der Verben, die als Partizipanten des bezeichneten Sachverhalts ein AGENS und ein PATIENS verlangen (AGENS AG ENS - PATIENS PAT IENS -Verben, ‚Handlungsverben‘), auf Konstruktionen mit anderen Partizipantenverteilungen ausgedehnt wird. Die Empfindungsverben – speziell Emotionsverben (Levin 1993: 188) – können als Beispiel dienen (im Anschluss an Bossong 1992, 1998a); eine weitergehende Erörterung gehört in die Verb- bzw. Satzgrammatik. Für (zweistellige) Empfindungsverben ist charakteristisch, dass der Träger der EXPERIENS -Rolle, der Empfindende (oder Wahrnehmende), notwendigerweise belebt (und gewöhnlich menschlich) ist, während für die Quelle der Empfindung (oder Wahrnehmung) Belebtheit weder gefordert noch ausgeschlossen und häufig nicht gegeben ist. Die Gegenüberstellung eines belebten Partizipanten und eines bezüglich Belebtheit nicht festgelegten Partizipanten entspricht dem Verhältnis von AGENS und PATIENS bei den typischen Handlungsverben. Während aber bei den letzteren der belebte Partizipant den Punkt darstellt, von dem das verbale Geschehen seinen Ausgang nimmt, stellt er bei Empfindungsverben den Punkt dar, an dem das verbale Geschehen seinen Niederschlag findet. Wegen des Zusammenhangs von Belebtheit und Subjektstatus wäre daher nach Bossong die NP in EXPERIENS -Rolle nach ihren inhärenten Eigenschaften für die Subjektrolle prädestiniert, während die im Vergleich zu Handlungsverben bei den Empfindungsverben umgekehrte ‚Ursache-Wirkungs-Richtung‘ eher eine Behandlung als Objekt favorisieren würde. Die übereinzelsprachlich weit verbreitete Dativ-Markierung für EXPERIENS - NPs (vgl. Lura-

926

B Wort und Wortklassen

ghi 2014: 111) reflektiert nach Bossong den zweiten Gesichtspunkt. Schlägt in der grammatischen Behandlung dagegen der erste Gesichtspunkt durch, so schließen sich die Empfindungsverben dem Muster der Handlungsverben an; es kommt zu einer ‚Generalisierung‘ „des herrschenden Prototyps der Handlungsverben“ (Bossong 1992: 110).

Unter den Vergleichssprachen ist nach Bossong (1992) die Generalisierung der an den Handlungsverben orientierten NOM -Markierung für die EXPERIENS -Rolle der Empfindungsverben im Englischen weitgehend durchgedrungen, das insofern den Extremfall repräsentiere; beispielhaft können diachrone Verschiebungen wie die von (nicht mehr möglichem) me likes ‚mir gefällt‘ zu in der Gegenwartssprache allein gültigem I like ‚ich mag‘ genannt werden (Jespersen 1927: 208 f.); die ältere Konstruktion zeigt The musician likes me not ‚Der Musikant gefällt mir nicht‘ (Shakespeare, Two Gentlemen of Verona, übers. Tieck); Genaueres dazu bei Fischer (1992: 235–239). Weitere L OV E , MISS Beispiele für transitive Verben mit einem EXPERIENS - Subjekt sind ADMIRE , LOVE (positiver Typ) und DETEST , FEAR , HATE (negativer Typ). Zu den ‚psych-Verben‘ rechnet Levin (1993: 188) auch die umfangreiche Klasse von Verben, bei denen im Objekt der Träger einer Emotion erscheint, die durch den Subjektreferenten bewirkt wird, wie AMUSE oder PLEASE ; vgl. The clown amused the children. Vergleichsweise gering ist im Englischen die Zahl der Verben mit einem EXPERIENS - Subjekt, bei denen die Quelle der Emotion durch eine Präpositionalphrase bezeichnet wird wie MARVEL AT ‚sich wundern über‘, und nur ganz wenige intransitive Verben wie APPEAL TO ‚reizen / attraktiv sein‘ nehmen ein EXPERIENS in Form einer Präpositionalphrase. (Vgl. die Verblisten bei Levin 1993: 188–193.) Das Französische kommt nach Bossong dem Englischen bezüglich der DurchAG ENS -PATIENS -Musters nahe; Konstruktionen wie führung der Generalisierung des AGENS J’aime ce vin ‚Ich mag diesen Wein‘ würden gegenüber Ce vin me plaît ‚Dieser Wein gefällt mir‘ in der heutigen gesprochenen Sprache bevorzugt. In slawischen Sprachen können, wie die Grammatiken herausstellen, NPs in der EXPERIENS -Rolle häufig in Objektkasus auftreten, deren Gegenstücke im Englischen gewöhnlich in Subjektfunktion stehen würden (vgl. z. B. Sadowska 2012: 45, 58 zum Polnischen). Dativ-- Markierung der EXPERIENS -Rolle im Polnischen zeigt (28a) mit dem reflexiven Verb PODOBAĆ SIĘ ‚jdm gefallen‘ gegenüber ENG LIKE ; vgl. auch (28b) gegenüber ENG I’m sad. In (28c) steht die EXPERIENS -NP im Akkusativ (bei BOLEĆ ‚wehtun/schmerzen‘).  









(28) a. Ten obraz [mi]D A T się podoba. POL ‚Das Bild gefällt mir.‘ / ‚Ich mag das Bild.‘ b. Jest [mi]D A T smutno. ‚Ich bin traurig.‘ / ‚Mir ist traurig zumute.‘ c. Boli [mnie]A K K głowa. ‚Ich habe Kopfschmerzen.‘ / ‚Der Kopf tut mir weh.‘ Die Tendenz zur Verwendung von Konstruktionen, bei denen die besondere Semantik der Empfindungsverben verglichen mit typischen Handlungsverben einen besonde-

B2 Kategorisierungen

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ren formalen Niederschlag findet (‚spezifische Konstruktionen‘), ist nach Bossong (1998a: 275) im Polnischen deutlich ausgeprägt; vgl. (Damerau 1967: 118) Chce miDAT się pić (woll.3SG ich.DAT REFL trinken) ‚Ich bin durstig‘ mit dem EXPERIENS im Dativ (in ‚unpersönlicher Konstruktion‘) – neben dem (weniger bevorzugten) Mam pragnienie ‚Ich habe Durst‘ nach dem NOM - AKK - Muster mit dem EXPERIENS als (nicht-overt realisiertem) Subjekt zu mam ‚ich habe‘. Zur Konkurrenz von Dativ und Nominativ bei der Kennzeichnung des EXPERIENS im Polnischen siehe im Einzelnen Dąbrowska (1994a). Das Ungarische weist nach Bossong vorwiegend generalisierte Konstruktionen auf; vgl. fázom ‚ich habe Hunger‘ mit (nicht-overt realisiertem) Subjekt-EXPERIENS . Auch im Ungarischen vorhanden sind aber „verbs of ‚passive‘ mental processes“ TET SZIK ‚gefallen‘, (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 137) mit dem EXPERIENS im Dativ wie TETSZIK wie in Ez tetszik [Péternek]D A T ‚Das gefällt (dem) Péter‘ oder Kati tetszik [Péternek]D A T ‚(Die) Kati gefällt (dem) Péter‘; vgl. im Einzelnen Rákosi (2006: 75 et passim), der weitere DAT - EXPERIENS - Verben aufführt, darunter SIKERÜL ‚gelingen/geraten‘ und AKARÓDZIK ‚mögen‘, im Deutschen mit NOM - EXPERIENS , so wie UNG SZERET ‚gern haben‘; auch MEGJELENIK ‚erscheinen‘ wie in ÁlmombanI N E megjelent nekemD A T egy kép ‚Im Traum erschien mir ein Bild‘ und andere Verben des mentalen Eindrucks (‚verbs of mental appearance‘, ebd.: 77); ferner HIÁNYZIK ‚fehlen‘ und FÁJ ‚schmerzen / weh tun‘ mit Dativ-- EXPERIENS gegenüber HIÁNYOL ‚vermissen‘ und FÁJLAL ‚Schmerzen empfinden / über Schmerzen klagen‘ mit Nominativ-- EXPERIENS (ebd.: 70) u. a. Das Deutsche zeigt nach Bossong einen mittleren Grad der Generalisierung der NOM - AKK -Konstruktion auf Verba Sentiendi, sowohl im gesamteuropäischen Vergleich, als auch innerhalb der germanischen Sprachen, unter denen das Englische und das Isländische die extremen Ausprägungen darstellen; eine genauere Betrachtung des durch diese Pole gegebenen Sprachenspektrums (vom Isländischen über das Deutsche zum Niederländischen, dann den festlandskandinavischen Sprachen und schließlich dem Englischen) zeigt, wie Bossong (1998a: 270) darlegt, dass der Grad, in dem nicht-generalisierte (spezifische) Konstruktionen bewahrt sind, ziemlich genau („assez précisément“) der unterschiedlichen Komplexität der morphologischen Systeme dieser Sprachen entspricht. Mit Bezug auf die Sprachen des europäischen Festlandes sieht Bossong insgesamt ein areal beschreibbares Gefälle, das von Sprachen mit stark vertretenen spezifischen Konstruktionen im Osten/Süden Europas bis zu solchen mit zunehmender Durchsetzung generalisierter Konstruktionen im Westen/ Norden Europas führt. (Zu den Sprachen, die sich in dieses Gesamtbild nicht einfügen, gehört nach Bossong (ebd.: 288) das Ungarische.) Im Deutschen finden sich, wie die Übersetzungen zu den vorangegangenen Beispielen zeigen, generalisierte wie spezifische Konstruktionen; wo beide konkurrieren, erscheinen, soweit sich eine Differenzierung zeigt, eher die spezifischen Konstruktionen als vergleichsweise veraltet, gehoben oder schriftsprachlich und damit insgesamt auch einzelsprachlich – in Übereinstimmung mit dem von Bossong beobachteten übereinzelsprachlichen Trend – eher auf dem Rückzug. Der ‚Grad der Generalisierung‘ AG ENS - PATIENS PAT IENS -Musters stellt danach einen für die Charakteristik der verschiededes AGENS  



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B Wort und Wortklassen

nen Kasussysteme relevanten Variationsparameter dar, auch wenn quantitative Vergleiche (wie bei Bossong angestrebt) wegen der von Verb zu Verb wechselnden Verhältnisse problematisch bleiben; die Einstufung des Deutschen als einer Sprache mit einer gemäßigt starken (aber abnehmenden) Neigung zur Verwendung von Objektmarkierung für EXPERIENS - NPs („sous-type spécificatif modéré“, ebd.: 289) wird durch Kutscher (2009: 236) im Grundsatz bestätigt.

B2.4.2.4 Merkmale und Markiertheit B2.4.2.4.1 Einleitung Traditionell wird der Nominativ als Casus rectus den übrigen Kasus (den ‚obliquen‘ Kasus) gegenübergestellt. Nominativformen fungieren, wie der Terminus besagt, als ‚Nennformen‘ der betreffenden Lexeme (wie in ‚das Substantiv HAUS ‘). In moderner Terminologie stellt der Nominativ den ‚unmarkierten‘ Kasus dar. Nominativformen treten auf, wo keine anderen Kasusformen durch besondere Regelungen gefordert sind. Im Deutschen lassen nahezu alle Verben Komplemente im Nominativ (in Subjektfunktion) zu und ebenso treten Nominale im Nominativ in sehr verschiedenen syntaktischen Konstruktionen (oder Satzmustern) auf. Der Nominativ unterliegt insofern im Vergleich zu anderen Kasus den geringsten Verwendungsrestriktionen und weist daher die höchste Verwendungshäufigkeit auf. Der Status des Nominativs als ‚funktionale Normalform‘ für Nominale (als Default-Form) findet in vielen Sprachen eine ausdrucksseitige Entsprechung im Fehlen besonderer Kennzeichen für Nominativformen: Wenn die unmodifizierte Grundform nominaler Lexeme als Kasusform Verwendung findet, dann in aller Regel gerade als Nominativform (Greenberg 1963: 75, Universal 38). Der Nominativ kann, wie in → B2.4.2.2 für das Deutsche im Besonderen gerechtfertigt wurde, als merkmalloser Kasus charakterisiert werden. In Sprachen mit sogenannten ergativischen Systemen ist die Unterscheidung zwischen unmarkiertem Kasus und markierten Kasus gewöhnlich sogar noch deutlicher ausgeprägt. Während traditionell für Kasussysteme eine zweigliedrige Unterscheidung von Casus rectus einerseits und den die ‚gebeugten‘ Formen umfassenden obliquen Kasus gemacht wurde, ist in der neueren Literatur, ausgehend von Greenberg (1966: 37 f.), eine weiter entfaltete Markiertheitsordnung angenommen worden, die auch im Bereich der obliquen Kasus mit einer differenzierten Ordnung rechnet. Wesentlich ist dabei die schon von Trubetzkoy (1934) mit Bezug auf das Russische getroffene (und insbesondere in der slawistischen Literatur allgemein angenommene) Unterscheidung, nach der die Kasus, die der Kennzeichnung der zentralen grammatischen Funktionen („the core or nuclear grammatical relations“, Blake 2001: 116) dienen, als Gruppe den übrigen Kasus gegenüberzustellen sind. Besonders herausgegriffen werden damit die Kasus, die der Markierung von Kernkomplementen dienen (entsprechend der in → B2.4.2.2.3 für das Deutsche gegebenen  

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B2 Kategorisierungen

Bestimmung) – in Akkusativ-Systemen Nominativ und Akkusativ, in Ergativ-Systemen Absolutiv und Ergativ (→ B2.4.2.3.2). Für das Deutsche haben wir im Vorhergehenden die Relevanz der Unterscheidung von Kernkomplementen und peripheren Komplementen für die Kasusverteilung gezeigt, die ihrerseits auf der Unterscheidung von Kernargumenten und peripheren Argumenten beruht. Diese Kasus bezeichnen wir als ‚direkte Kasus‘ (Greenberg 1966: 38, „direct cases“), die übrigen Kasus im Anschluss an Blake (2004: 1080) als ‚indirekte Kasus‘. (Insbesondere in der slawistischen Literatur werden die so bestimmten indirekten Kasus auch als „oblique Kasus“ bezeichnet. Wir halten dagegen an der Verwendung des Terminus ‚oblique‘ in seiner traditionellen Bedeutung fest.) Da die direkten Kasus gerade die Kasus der Kernkomplemente sind, werden sie auch als ‚Kernkasus‘ bezeichnet (Baerman/Brown/Corbett 2005: 40 f. „core cases“, „cases representing the core grammatical functions of subject and object“). Die doppelte Unterscheidung von (i) Casus rectus (Nominativ) vs. Casus obliquus (andere) und (ii) direkten Kasus (Nominativ, Akkusativ) vs. indirekten Kasus (andere) bringt die drei Komplementkasus Nominativ, Akkusativ und Dativ (in dieser Reihenfolge) in eine Ordnung im Sinne zunehmender Markiertheit. Die Merkmalsspezifikationen der Kasus müssen dem Rechnung tragen. Kasusmarkierung verbdependenter NPs ermöglicht es, mit morphologischen Mitteln die Verteilung semantischer Rollen auf die Verbkomplemente anzuzeigen. Für die Zuweisung von Kasus zu Komplementen sind zwei Gesichtspunkte wesentlich. Die Kasuszuweisung wird zum einen durch die spezifischen Anwendungsbedingungen der Kasus, die das Kasusinventar der jeweiligen Sprache umfasst (→ B2.4.2.4.2), bestimmt, zum anderen durch allgemeine Gesichtspunkte der Ökonomie und Explizitheit, die die Verwendung der Kasus regeln (→ B2.4.2.4.3). Grundlegend für die Kasuszuweisung sind die Argumentstrukturen, die durch die semantischen Klassen der Verben bestimmt sind (→ B2.4.2.2, oben). Die Klassenzugehörigkeit legt die Kernargumente und ihre Rollen fest, deren Identifikation für die (im Deutschen und den Vergleichssprachen geltende) diskriminative Markierungsstrategie ausschlaggebend ist. Aus der Verbvalenz ergibt sich gegebenenfalls ebenso das Vorhandensein weiterer (peripherer) Argumente.  

B2.4.2.4.2 Merkmalsspezifikationen für Kasus Die Anwendungsbedingungen der Kasus bei der Kennzeichnung von Verbkomplementen können unter Bezug auf die semantischen Rollen der NPs bestimmt werden, die entsprechende Kasusmarkierungen zulassen (→ B2.4.2.2). Eine rollensemantische Erfassung der Gegenüberstellung von Nominativ einerseits und Akkusativ und Dativ andererseits kann, ausgehend vom Deutschen, an den Tabellen in (12) und (17) abgelesen werden, die die Korrelation von Argumentstrukturen und Kasus zeigen. Wir gehen von der Verteilung von Argumenten mit der Rolle AGENS aus. Komplemente, die ein Argument mit der Rolle AGENS realisieren, stehen immer im Nominativ, Komplemente die im Akkusativ oder Dativ stehen, repräsentieren nie Argumente mit der Rolle

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B Wort und Wortklassen

AGENS .

Die Kasus Akkusativ und Dativ können daher als NONAGENS - Kasus charakterisiert werden, die dem merkmallosen Kasus Nominativ gegenüberstehen. Unter den Objektkasus Akkusativ und Dativ stellt der Dativ (der Kasus des indirekten Objekts) den höhermarkierten Kasus dar. Er kennzeichnet Objekte, die nicht die für Objekte PAT IENS ) tragen, nämlich periphere Komplemente, die ein gewöhnlichste Rolle (also PATIENS AG ENS - noch die PATIENS PAT IENS -Rolle hat (→ B2.4.2.2.3). Argument realisieren, das weder die AGENS Danach können für die drei Komplementkasus Nominativ, Akkusativ und Dativ die in (29) angegebenen Merkmalsspezifikationen angenommen werden. (29)

Merkmalsspezifikationen für Kasus NOM [ ] AKK [ NONAGENS ] DAT [ NONAGENS NONPATIENS ] Die Kasusspezifikationen in (29) tragen der implikativen Beziehung zwischen AGENS und Nominativ Rechnung. Das AGENS erscheint (im Akkusativ-System bei unmarkierter Diathese) immer im Nominativ; das Umgekehrte gilt nicht (vgl. Primus 2012: 20, „Agens-Subjekt-Prinzip“). Die Kasusspezifikationen stehen in der Reihenfolge NOM > AKK > DAT in einem Verhältnis zunehmender Spezifizität. Für die Anwendung der Kasus gilt (wie in anderen Fällen morphologischer Markierung) das Spezifizitätsprinzip (vgl. Kiparsky 1973, „Elsewhere Condition“; Kiparsky 1997). Wo verschiedene konkurrierende Markierungen nach ihren Spezifikationen gleichermaßen anwendbar wären, kommt ceteris paribus die Markierung mit der höchsten Spezifizität zum Zuge. Beispiel: Bei einem dreistelligen Verb wie GEBEN (AG , PAT , NN ) erscheint das NN -Komplement im Dativ, dem höchstspezifischen der nach ihren Spezifikationen anwendbaren Kasus (NOM , AKK , DAT ), das PATIENS -Komplement im Akkusativ, dem höchstspezifischen der hier anwendbaren Kasus (NOM , AKK ), das AGENS -Komplement im Nominativ (dem einzigen nach seiner Spezifikation anwendbaren Kasus). Die Merkmalsspezifikationen in (29) legen notwendige Bedingungen für die Verwendung der Kasus (als Kennzeichen für Verbkomplemente) fest. Wie in → B2.4.2.3 gezeigt wurde, muss aber (einzelsprachlich in unterschiedlichem Umfang) mit partiellen Reduktionen im System der Kasusdifferenzierung gerechnet werden. Die Nominativ-Akkusativ-Unterscheidung kommt nicht in allen Fällen zum Zuge, wo eine entsprechende Rollenverteilung vorliegt; bei ‚differentieller Objektmarkierung‘ kann der Nominativ an die Stelle des Akkusativs treten (→ B2.4.2.3.3); ebenso besteht Variation bezüglich der Nutzung des Dativs bei Komplementen, die ihrer Semantik nach für eine Dativmarkierung in Frage kommen (→ B2.4.2.3.4 bis B2.4.2.3.5). Die gegebenen Merkmalsspezifikationen tragen der Möglichkeit derartiger Neutralisierungen Rechnung, indem das Verhältnis von Nominativ zu Akkusativ und ebenso das Verhältnis von Akkusativ zu Dativ als privative Opposition konzipiert ist.

Die in (29) nicht genannte vierte mögliche Merkmalsspezifikation ([NONPATIENS ]) charakterisiert den Ergativ. Die leere Merkmalsspezifikation gilt für den Absolutiv im Ergativ-System ebenso wie für den Nominativ im Akkusativ-System. Da die Kasussysteme der Verbkomplemente in den Vergleichssprachen sämtlich Akkusativ-Systeme sind, bleiben die Besonderheiten von Ergativ-Systemen im Folgenden außer Betracht. In den Kontrastsprachen liegen, mit Ausnahme des Englischen, wie im

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Deutschen akkusativisch basierte Systeme mit den Kasus Nominativ, Akkusativ und Dativ vor. Im Englischen werden nur zwei Kasus zur Differenzierung der Verbkomplemente genutzt (Nominativ und Akkusativ). Die negative Spezifikation für den Akkusativ ([NONAGENS ] ) trägt – im Unterschied zu PAT IENS ] ) – der beobachteten einer alternativ zu erwägenden positiven Spezifikation ([PATIENS Asymmetrie der Objektkasus Rechnung, nach der der Akkusativ als allgemeiner Objektkasus bei zweistelligen AGENS - Verben auch (in den Vergleichssprachen in unterschiedNONPAT IENS -Argumente ausgedehnt werden kann (→ B2.4.2.3.4). lichem Umfang) auf NONPATIENS Die gegebenen Kasusspezifikationen behalten ihre Gültigkeit grundsätzlich auch im Falle des Englischen, wo der Akkusativ als alleiniger (undifferenzierter) Objektkasus fungiert. Wie für die Zwecke des Sprachvergleichs gefordert werden muss, ist damit gesichert, dass die gegebenen Charakterisierungen der Kasus der Verbalkomplemente einzelsprachübergreifend (für die Vergleichssprachen) anwendbar sind.  

Wegweisend für die Merkmalsanalyse von Kasussystemen sind die Arbeiten von Jakobson (1936, 1958) gewesen. Jakobson (1936: 65) stellt heraus, dass im Kasussystem des Russischen „das Gekennzeichnete eigentlich stets negativer Art ist“ und vertritt die These, dass die Struktur des Kasussystems durch die Verteilung elementarer semantischer Merkmale bestimmt ist. Die von Jakobson verwendeten Kasusmerkmale – directional für den Akkusativ, directional und marginal für den Dativ, Jakobson (1958: 179) – sind vielfach kritisiert worden, weil ihr (Nicht-)Zutreffen schwer auf die empirische Vielfalt der Kasusverwendungen zu beziehen sei (Franks 1995: 44) oder sogar wegen der eher unscharfen Charakterisierungen kaum empirisch überprüft werden könne. Die hier stattdessen im Anschluss an die neuere Literatur (Dowty 1991; Primus 1999a) vorgenommene Bezugnahme auf die semantischen (Proto-)Rollen AGENS und PATIENS behebt diesen Mangel, doch halten wir an Jakobsons Einsicht des unmarkierten Status des Nominativs und der ‚Negativität‘ der Spezifikationen fest; vgl. auch Kiparsky (1997: 20, „Morphosyntactic case feature values are normally negative […].“) und Eisenberg (2013b: 301), der für das Deutsche „Nonagentivität“ als einzige mit dem Akkusativ verbundene ‚semantische Restriktion‘ angibt, sowie zum Dativ Primus (2012: 61, „Handlungskontrolle […] ausgeschlossen“). Das hier angesetzte System von Funktionsspezifikationen ist isomorph mit den von Kiparsky (1997: Sec. 5) und Wunderlich (2006: 142) u. ö. verwendeten Merkmalssystemen. Man beachte aber, dass aufgrund der inhaltlich anders bestimmten Merkmale bei Wunderlich intransitive Dativverben, die wir in die Verbsystematik eingeordnet haben (→ B2.4.2.2.4), als Anomalien erscheinen. Ein syntaktisch interpretiertes Merkmalssystem schlägt Bierwisch (1967: 246 mit Nominativ [ ], Akkusativ [ +governed]] , Dativ [+governed, +oblique]) vor.  

B2.4.2.4.3 Kasusmarkierung: Ökonomie vs. Explizitheit Die Verwendung der Komplementkasus steht wie die Verwendung anderer sprachlicher Mittel im Spannungsfeld von Ökonomie und Explizitheit (Wurzel 2001). Mit Bezug auf die Rollenmarkierung von Verbdependentien kann insgesamt angenommen werden, dass im Allgemeinen eine explizite Rollenmarkierung umso eher benötigt wird, umso weniger die Rolle des betreffenden Dependens kontextuell erschließbar ist. Im Besonderen kann mit Bezug auf die Rollenmarkierung von Verbkomplementen in den Vergleichssprachen angenommen werden:

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(30)

B Wort und Wortklassen

Rollenmarkierung der Verbkomplemente (Ökonomieprinzip). Kernkomplemente bleiben bevorzugt unmarkiert, periphere Komplemente werden bevorzugt markiert.

Der möglichen Unterlassung von Rollenmarkierung steht die Forderung nach einer für die Rollenidentifikation hinreichenden Unterscheidung von Komplementen entgegen. Dieser Forderung kann mit unterschiedlichen Mitteln entsprochen werden (→ B2.4.2.1.2). Der Umfang, in dem zu diesem Zweck von Kasus Gebrauch gemacht wird, variiert unter den Vergleichssprachen. Im Deutschen gilt für die ‚Kasuskomplemente‘ im engeren Sinn (non-adverbiale Komplemente, die nicht durch Präpositionen markiert sind):  

(31)

Rollenmarkierung der Verbkomplemente (Diskriminierungsgebot) (DEU). Kasuskomplemente, die Argumente mit verschiedenen Rollen repräsentieren, stehen in verschiedenen Kasus.

Ökonomieprinzip und Diskriminierungsgebot sind übereinzelsprachlich geltende, funktional motivierte Prinzipien, die einzelsprachlich unterschiedlich ausgeprägt sein können. Auf der Grundlage von (30) und der für das Deutsche anzunehmenden Version des Diskriminierungsgebots (31) kann die in den Tabellen in (12) und (17) gezeigte Verteilung der im Deutschen gegebenen Kasus Nominativ, Akkusativ und Dativ auf die Verbkomplemente hergeleitet werden, wenn die Merkmalsspezifikationen der Kasus wie in (29) gegeben sind. Zusammenfassend kann die Herleitung der Kasusmarkierungen im Deutschen wie folgt angegeben werden. Kernkomplemente werden nach (30) nicht markiert, soweit dies nicht durch (31) erzwungen wird. Ist nur ein Kernkomplement (AGENS , PAT IENS , NN ) gegeben, so steht dieses im rollenunspezifischen Kasus (Nominativ). Sind PATIENS PAT IENS ), so müssen diese nach (31) zwei Kernkomplemente gegeben (AGENS und PATIENS durch ihre Kasusmarkierungen unterschieden werden. Bei dem gegebenen Kasusinventar (einem Akkusativ-- System) folgt, dass das PATIENS - Komplement im NONAGENS Kasus (Akkusativ) und das AGENS -Komplement im rollenunspezifischen Kasus (Nominativ) steht. Periphere NN -Komplemente werden nach (30) markiert und erhalten gemäß ihrer Rollenspezifikation den NN -Kasus (Dativ). Die Grundlagen des Systems der produktiven Kasusmarkierung von Verbkomplementen im Deutschen, soweit nicht Adverbialkomplemente vorliegen, sind daher durch (29), (30) und (31) vollständig erfasst. Ausgehend von den Prinzipien in (30) und (31), in Verbindung mit den Kasusspezifikationen in (29), können darüber hinaus eine Reihe von spezielleren Generalisierungen als Korollare abgeleitet werden, die in der Literatur als gesonderte Postulate eingeführt worden sind, darunter das bereits angeführte Agens-Subjekt-Prinzip und das Patiens-Objekt-Prinzip (Primus 2012: 34).

B2 Kategorisierungen

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B2.4.2.4.4 Hierarchie der Partizipantenkasus Die traditionelle Rectus/obliquus-Unterscheidung und die im Vorhergehenden gerechtfertigte Direkt/indirekt-Unterscheidung liefern zusammen genommen die in Abbildung 3 dargestellte Markiertheitsordnung der Kasus (mit in der Abbildung von links nach rechts steigender Markiertheit) für Akkusativ-- Systeme wie das des Deutschen.

Abb. 3: Kasussysteme. Grundunterscheidungen  

Die Ordnung der Kasus, die Abbildung 3 zeigt, wird wesentlich durch zwei Faktoren bestimmt: (i) die Direkt/indirekt-Unterscheidung reflektiert die Unterscheidung von Kernargumenten und peripheren Argumenten, die durch die Semantik der Verben vorgegeben ist; (ii) die Rectus/obliquus-Unterscheidung reflektiert die diskriminative Strategie der Rollenmarkierung, durch die für jedes Verb ein Komplement festgelegt wird, dessen Rolle ohne spezifische Auszeichnung bleibt. Hieraus ergibt sich die relative Ordnung der direkten Kasus (NOM > AKK im Akkusativ-System, ABS > ERG im Ergativ-System). Die Rangordnung der Kasus ist ableitbar und muss nicht axiomatisch gesetzt werden (anders Primus 2006: 80). Häufig werden Kategoriensysteme als sogenannte Kategorienhierarchien (Rangordnungen) beschrieben, die gewöhnlich wie in (32) unter Verwendung des Zeichens „>“ (für ‚steht in der Hierarchie höher als‘) notiert werden. (Zur Konzeption grammatischer Hierarchien siehe Croft 2003: Kap. 5.) (32)

NOM

> AKK > DAT > andere

Die in (32) gezeigte Hierarchie wird so u. a. in Hawkins (2004: 64) und in Shibatani (2009: 332) mit Blick auf die Rolle der Kasus bei der Kennzeichnung von Verbkomplementen (Subjekt, Objekte) aufgestellt, mit Bezug auf das Deutsche in der IDSGrammatik (1997: 1328), Eisenberg (2013b: 63) und Fischer (2013: 122). (‚Andere Kasus‘ im Sinne von (32) werden manchmal auch – mit einer weiteren Verwendung dieses Terminus – als ‚oblique Kasus‘ bezeichnet; vgl. Comrie 1975.) Die angegebene Rangordnung kann durch weitere Ausdifferenzierung der ‚anderen Kasus‘ erweitert werden (→ B2.4.2.5). Die Rangordnung der Kasus korreliert mit der in (33) angegebenen Hierarchie der syntaktischen Funktionen, zu deren Kennzeichnung die Kasus beitragen, die ebenfalls weitere Entfaltung zulässt; vgl. Keenan/Comrie (1977: 66).  

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(33)

B Wort und Wortklassen

SU

> DO > IO > andere

Beide Hierarchien korrelieren in vielfacher Weise mit unterschiedlichen grammatischen Erscheinungen. –



Die ausgezeichnete Position des Casus rectus geht damit einher, dass der Nominativ zugleich die einfachsten Formen und die häufigsten Formen bereitstellt und die erste Wahl als Komplementkasus ist. Beim ranghöchsten Kasus besteht eine Tendenz zur Bevorzugung morphologisch unmarkierter Formen; in der Hierarchie niedriger stehende Kasus zeigen tendenziell zunehmende formale Markiertheit, d. h. markantere Kennzeichen. Die Korrelation zwischen Kategorienhierarchie und formaler Markiertheit kann funktional als ‚Ikonizität‘ interpretiert werden (Jakobson 1965; Mayerthaler 1981). Umgekehrt kann abnehmende formale Markiertheit bei höher geordneten Kategorien als Ausdruck eines erhöhten Grammatikalisierungsgrads betrachtet werden (Lehmann 2002). Neutralisierungen bzw. Synkretismen korrelieren mit der Nachbarschaft der Kasus in der Kasushierarchie; vgl. → B2.4.2.3 zum partiellen Fehlen der NOM - AKK Unterscheidung bzw. der AKK - DAT -Unterscheidung. Mit abnehmendem Rang geht das Ansteigen der inhaltlichen Spezifik einher (Markiertheit im Sinne von Jakobson 1932) (vgl. die in → B2.4.2.4.2 gegebenen Merkmalsspezifikationen). Der Ausbau der Komplementstrukturmuster folgt im Deutschen der Ordnung: NOM , NOM - AKK , NOM - AKK - DAT und damit der Kasushierarchie und zugleich der Funktionenhierarchie (Primus 2011a u. ö.). Der Nominativ ist der ‚1. Kasus‘: Verben mit einem Kasuskomplement nehmen fast immer (mit seltenen Ausnahmen) den Nominativ. Der Akkusativ ist der ‚2. Kasus‘: Verben mit zwei Kasuskomplementen nehmen zu über 90% den Akkusativ als Objektkasus. Der Dativ ist der ‚3. Kasus‘: Verben mit drei Kasuskomplementen nehmen fast immer (mit seltenen Ausnahmen) den Dativ als weiteren Kasus. Die Kasushierarchie entspricht im Deutschen abnehmender Häufigkeit der Verwendung. Dies kann als Konsequenz aus der angegebenen Verteilung auf die Komplementstrukturmuster angesehen werden. Die ausgezeichnete Rolle des Subjekts erweist sich vielfach bei der Anwendung syntaktischer Operationen, für die das Subjekt regelmäßig der erste Kandidat ist, und allgemeiner gilt, dass Nominale mit höherrangiger Funktion eher Gegenstand syntaktischer Regularitäten sind als niederrangige. Entsprechend zeigen in einer Einzelsprache wie dem Deutschen höherrangige Funktionen eine ‚reichere Syntax‘ als niederrangige (Eisenberg 2013b: 64). Im Sprachvergleich zeigen sich entsprechende Unterschiede in der Reichweite syntaktischer Regeln zwischen den Vergleichssprachen (vgl. → D6.5 zur Zugänglichkeitshierarchie für syntaktische Funktionen). Zur Relevanz der Kasushierarchie für die Wortstellung im Deutschen (und in anderen Sprachen) siehe u. a. Primus (1996).  













B2 Kategorisierungen







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Kasushierarchie und Funktionenhierarchie werden bei unabgeleiteten und ebenso bei abgeleiteten Satzmustern sichtbar: Beim Passiv wird das zweite Argument eines Verbs zum ranghöchsten Argument und dieses Argument bekommt den ranghöchsten Kasus. Für Kausativierungskonstruktionen gibt Comrie (1976) eine Analyse, nach der ein zusätzliches Argument, das den ‚Verursacher‘ bezeichnet, die ranghöchste Argumentposition einnimmt und den ranghöchsten Kasus bekommt, während das ursprünglich ranghöchste Argument den rangnächsten, nicht bereits anderweitig belegten Kasus erhält. Kasushierarchie und Funktionenhierarchie korrelieren mit dem Anwendungsspielraum für verbale Kongruenzmarkierungen. Typischerweise kann ein finites Verb mit dem höchstrangigen Komplement (SU ) kongruieren (wie im Deutschen mit dem Nominativkomplement), evtl. zusätzlich mit dem nach der Rangordnung zweiten Komplement (DO ), so (unter den Kontrastsprachen) im Ungarischen; in anderen Sprachen zusätzlich mit dem nach der Rangordnung dritten Komplement (IO ) wie im Baskischen (Hualde/Ortiz de Urbina (Hg.) 2003: 205). Beobachtungen zur menschlichen Sprachverarbeitung (human sentence processing mechanism) stützen die angenommene Kasusordnung für das Deutsche; so schlägt sich geringere Markiertheit (gemäß der Rangordnung NOM > AKK > DAT ) u. a. im Falle von lokal mehrdeutigen Konstruktionen als interpretative Präferenz beim ‚Parsing‘ nieder (Bader/Bayer 2006: 114, „Case Assignment Generalization“).  

B2.4.2.5 Semantische Kasus B2.4.2.5.1 Grammatische und semantische Kasus Nominale Konstituenten im Satz können in verschiedenen syntaktischen Funktionen auftreten, insbesondere als Dependentien zu Verben (oder komplexen verbalen Ausdrücken) oder als Dependentien zu Präpositionen, die ihrerseits von einem verbalen Element abhängen (wie in [Der Jäger]N O M hat [einen Löwen]A K K [im Nationalpark]P P getötet). Verbdependente Präpositionalphrasen fungieren im Deutschen bevorzugt als Supplemente (‚Angaben‘) verschiedener semantischer Typen, Nominale, die ohne eine dazwischengeschaltete Präposition zum Verb treten, als Komplemente (‚Ergänzungen‘) (Subjekt, Objekt) zum Verb. Die semantischen Rollen direkt vom Verb abhängiger nominaler Konstituenten, noch mehr aber die der aus Nominalen in Verbindung mit Präpositionen gebildeten Verbdependentien sind sehr vielfältig. Adverbialia als Supplemente können der räumlichen oder zeitlichen Lokalisierung des verbalen Geschehens (einer Handlung, eines Ereignisses o.ä.) dienen oder verbale Denotate in anderer Weise näher spezifizieren, etwa durch Nennung des Zwecks, des Grundes (auch eines entgegenstehenden Grundes) oder der Ursache eines Geschehens, oder durch die Angabe eines bei einer Handlung verwendeten Instrumentes, Mittels oder eines sonst vorliegenden Begleitumstands das Geschehen näher charakterisieren.

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B Wort und Wortklassen

Für das Deutsche (und sein Kasussystem) ist charakteristisch, dass kasusmarkierte Nominale, die unmittelbare Dependentien eines Verbs sind, weitgehend auf die Funktion von Komplementen beschränkt sind, während Nominale, die indirekt durch Präpositionen an Verben angebunden sind, bevorzugt als Supplemente fungieren, auch wenn ein breiter Überlappungsbereich besteht. Insbesondere in Sprachen, in denen Postpositionen als funktionale Gegenstücke zu den deutschen Präpositionen fungieren, macht sich häufig die Tendenz zur Verschmelzung von Adpositionen und nominalen Formen, denen sie nachgestellt sind, bemerkbar. In unterschiedlich weiten Bereichen können dann im Ergebnis Suffixe Funktionen übernehmen, die im Deutschen von Präpositionen getragen werden. Unter den Vergleichssprachen ist diese Situation im Ungarischen gegeben. Aus dem weiten Bereich lokaler und temporaler, modaler und instrumentaler sowie finaler, kausaler, konzessiver und konditionaler Funktionen ist die Markierung lokaler Relationen am stärksten betroffen. Funktional sind Nominalphrasen, die in einem Lokalkasus stehen, deutschen Präpositionalphrasen mit lokalen Präpositionen vergleichbar, z. B. UNG a kertben ‚im Garten‘, mit Inessivsuffix -ben ‚in‘. Der Übergang von Adpositionen zu Suffixen zeigt sich syntagmatisch in formalen Reflexen des (Wortformen-)Status der entstandenen Verbindungen (im Ungarischen durch Vokalharmonie (→ C3.3.5)) und paradigmatisch im Zusammentreten der verschiedenen so entstandenen Formen zu einem fest strukturierten Paradigma. Während die Präpositionen als Elemente mit Wortstatus (trotz stark systematisierter Teilbereiche) ein grundsätzlich offenes System von Relationskennzeichen darstellen, das durch komplexe Einheiten (etwa mithilfe von neben mit) immer wieder erweitert und ausdifferenziert werden kann, stellt die affigierende Bildung von Lokalkasusformen im Ungarischen ein Raster dar, dem alle Substantive folgen, gerade so wie im Deutschen für die flexivische Formenbildung jedes Substantiv ein Raster mit acht Positionen (bei vier Kasus und zwei Numeri) vorgegeben ist (auch wenn die Zahl der im Ausdruck unterschiedenen Formen regelmäßig kleiner oder sehr viel kleiner ist). Im Grundsatz besitzt jedes ungarische Substantiv genau zehn Lokalkasusformen (→ B2.4.3.3.3). Auf der Grundlage der Kasusformenbildung des Deutschen wird traditionell gewöhnlich angenommen, dass verschiedene Kasusformen desselben Lexems sich nicht bezüglich ihrer Bedeutungen, sondern nur bezüglich ihres syntaktischen Potentials unterscheiden. Dagegen unterscheiden sich die Lokalkasusformen des Ungarischen von den (nicht-affigierten) Grundformen semantisch, vergleichbar mit dem semantischen Verhältnis von Verbindungen aus lokalen (oder ‚spatialen‘) Adpositionen und Nominalen zu einfachen Nominalen (Einheiten ohne Präposition) im Deutschen. Mit Präpositionalphrasen wie in diesem Haus kann sich der Sprecher auf ein bestimmtes Raumgebiet beziehen, während ein Nominal wie dieses Haus zur Referenz auf einen Gegenstand (oder ein ‚Individuum‘) aus einer bestimmten Klasse dient. Die Verbindung mit einer Präposition ändert in einem solchen Fall den semantischen Typ des Ausdrucks grundlegend. Entsprechendes gilt für die Lokalkasusbildung im Unga 



937

B2 Kategorisierungen

rischen. Im Ungarischen werden so mit Mitteln der Flexionsmorphologie (d. h. durch wortinterne Konstruktion) semantische Leistungen erzielt, für die im Deutschen syntaktische Mittel genutzt werden müssen. Der semantische Effekt der Lokalkasus geht damit deutlich über den Rahmen hinaus, der für flexivische Bildungen ganz allgemein zu erwarten wäre, wenn man sich an den traditionell für indoeuropäische Sprachen entwickelten Konzeptionen orientiert, die für verschiedene Flexionsformen eines Lexems eine im Kern konstante – allenfalls wie bei der Pluralbildung ‚grammatisch modifizierte‘ – Bedeutung annehmen. Wenn man die lokalsemantische Suffigierung des Ungarischen und vergleichbarer Sprachen zur Kasusbildung rechnet, ergeben sich für Kasus insgesamt zwei deutlich unterschiedene Funktionsbereiche der syntaktischen bzw. semantischen Rollenmarkierung. Unterscheidet man zwischen ‚grammatischen‘ und ‚konkreten‘ (oder ‚lokalen‘) Kasusfunktionen (Lyons 1968: 295), so können die verschiedenen Kasus danach charakterisiert werden, ob grammatische oder konkrete Funktionen überwiegen (oder als ‚primär‘ gelten können); vgl. Kuryłowicz (1949). Überwiegen der grammatischen Funktion kann zweifellos für die Gruppe der direkten Kasus (oder ‚Kernkasus‘) angenommen werden. Zu den grammatischen Kasus, die durch ihre Bindung an spezifische grammatische Relationen charakterisiert sind, zählen ferner der Dativ (als Kasus des indirekten Objekts) und der Genitiv (als Kasus des adnominalen Attributs). (‚Genitiv‘ heißt ein grammatischer Kasus, der die primäre Funktion Attribut hat, wenn es einen besonderen Kasus dieser Art gibt; zur Verwendung anderer Kasus als Attributskasus siehe → D4.1). Ein Überwiegen der konkreten Funktion ist offensichtlich bei Kasus, die vorrangig in adverbialer Funktion gebraucht werden, wie den Lokalkasus des Ungarischen; sie treten nur in zweiter Linie als regierte Kasus auf, entsprechend deutschen PräpositivGONDOL KODIK ‚nachdenken‘ mit Superessiv wie DEU NACHkomplementen; vgl. z. B. GONDOLKODIK DENKEN ÜBER in [Ezen]S U P még gondolkozom ‚Darüber denke ich noch nach‘ (Tompa 1968: 285) mit dem Superessiv ezen ‚darüber‘ zum Demonstrativum EZ ‚dieser/-e/-es‘. Blake (2001: 33) bezeichnet die primär adverbial gebrauchten Kasus als ‚semantische Kasus‘ (Kasus, denen eine eng-spezifizierbare semantische Funktion zugeschrieben werden kann) und stellt sie insgesamt den ‚grammatischen Kasus‘ gegenüber. Zu den semantischen Kasus gehören ferner non-lokale Kasus mit ebenfalls primär adverbialer Funktion, für die Blake beispielhaft Instrumental (Kasus des Mittels oder Instruments) und Komitativ (Kasus des Begleiters oder Begleitumstands) nennt. Funktional sind im Deutschen in erster Linie Präpositionalphrasen mit der Präposition mit vergleichbar. Unter den Vergleichssprachen besitzen das Polnische und das Ungarische einen Instrumental bzw. Instrumental-Komitativ, das Ungarische zudem einen weiteren non-lokalen Adverbialkasus, den Kausal-Final (Kasus des Zwecks/der Ursache/des Grundes), dem im Deutschen in funktionaler Hinsicht Präpositionalphrasen mit den Präpositionen für, um oder wegen entsprechen. Gegenüber den Lokalkasus sind die non-lokalen semantischen Kasus durch ihre abstraktere Semantik den grammatischen Kasus näher gerückt.  



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B Wort und Wortklassen

Bezieht man die semantischen Kasus ein, so kann das in Abbildung 3 vorgestellte Schema für Kasussysteme wie in Abbildung 4 dargestellt erweitert werden. Abbildung 4 gibt die in der typologischen Literatur für die Gliederung von Kasussystemen als grundlegend ausgewiesenen Unterscheidungen im Anschluss an die zusammenfassende Darstellung bei Blake (2001: 33) wieder.  

Abb. 4: Kasussysteme. Grammatische und semantische Kasus  

Vgl. auch Baerman/Brown/Corbett (2005: 52). Häufig wird statt von ‚grammatischen‘ Kasus von ‚strukturellen‘ oder ‚syntaktischen‘ Kasus gesprochen (ebd.).

Die dargestellte Systematik bildet ein Spektrum ab, das von hochgrammatikalisierten Kasus bis zu Kasus mit spezifischer semantischer Funktion reicht. Kasus mit hierarchisch niederer Position (‚weiter rechts‘ platzierte Kasus) – semantische Kasus – haben vorrangig charakterisierende Funktion, Kasus mit höherer Position (‚weiter links‘ platzierte Kasus) – grammatische Kasus – haben vorrangig diskriminative Funktion. Beispielhaft sind Kasus genannt, die im Deutschen oder den Kontrastsprachen vorkommen. Die Systematik liefert zugleich eine Grundlage für die vergleichende Betrachtung von Kasussystemen, insbesondere in Hinblick auf den unterschiedlichen Entfaltungsgrad der Kasussysteme der Vergleichssprachen. Vgl. dazu aus allgemein sprachvergleichender Perspektive Blake (2001: 155–160). Tendenziell gilt: Sehr einfache Systeme (oder Teilsysteme) können auf die direkten Kasus, nämlich auf eine Opposition zwischen einem unspezifischen Kasus und einem spezifischen Kasus (mit unterschiedlich weitem Spielraum), beschränkt sein (Arkadiev 2009); stärker entfaltete Systeme umfassen zusätzlich indirekte grammatische Kasus, noch weiter entfaltete Systeme besitzen darüber hinaus zusätzlich semantische Kasus, darunter typischerweise einen Instrumental (wie das Polnische). Das Inventar semantischer Kasus kann auf lokale Kasus, also die prototypischen semantischen Kasus, beschränkt sein wie z. B. im Türkischen, das neben vier grammatischen OK , ABL ) besitzt. Eine besondere Gruppe Kasus (NOM , AKK , DAT , GEN ) zwei lokale Kasus (LLOK bilden spezielle Prädikativkasus (siehe dazu → B2.4.3.4). Ausgehend von der Kasushierarchie in (32) ist die Kategorienfolge durch Auffächerung des Bereichs der ‚anderen‘ Kasus zu erweitern, um dem komplexeren Bau der Kasussysteme der Vergleichssprachen Rechnung zu tragen (→ B2.4.3.1.8).  

B2 Kategorisierungen

939

B2.4.2.5.2 Adverbiale Verwendung grammatischer Kasus B2.4.2.5.2.1 Polyfunktionalität der Kasus im Deutschen Die Kasus des Deutschen können jeweils verschiedene Funktionen von NPs kennzeichnen: Kasus (im Deutschen) sind polyfunktional, wie am Beispiel des Akkusativs gezeigt werden soll, ohne dass hier eine vollständige Aufzählung erfolgt. (Vgl. im Einzelnen IDS-Grammatik 1997: 1074, 1083–1088, 1293 f.). Neben seiner Funktion als Kasus des direkten Objekts steht der Akkusativ als regierter Kasus (als Akkusativkomplement) auch bei Präpositionen wie in gegen [den Baum]A K K ; zum Akkusativ bei Adjektiven siehe → B2.4.2.2.6. Darüber hinaus können NPs, deren Kasus in Abhängigkeit von anderen NPs bestimmt ist (insbesondere in verschiedenen Prädikativkonstruktionen, IDS-Grammatik 1997: 1296), im Akkusativ stehen, wenn die NP, auf die sie sich beziehen, im Akkusativ steht (‚Kasusidentität‘), z. B. in als-Phrasen (Adjunktorphrasen, ebd.: 79 f.) wie in ihnA K K als StudentenA K K . Neben Verben kann der Akkusativ nicht nur als Objektkasus wie in (34a), sondern auch zur Kennzeichnung von Adverbialia verwendet werden, entweder als Supplement (‚freie Angabe‘) wie in (34b) oder als Komplement (IDS-Grammatik 1997: 1204, „Dilativkomplement“) wie in (34c).  





(34)

a. b. c. d.

Er hat den ganzen Roman gelesen. Er hat den ganzen Tag gelesen. Es hat den ganzen Tag gedauert. Er isst [jeden Tag]A K K [einen Apfel]A K K .

Adverbialer Akkusativ und Objektsakkusativ können zugleich auftreten wie (34d) zeigt. Beide Typen können semantisch, aber auch durch syntaktische Tests (Substituierbarkeit durch Adverbien bzw. Pronomina, Verhalten bei Umsetzung ins Passiv) gewöhnlich leicht unterschieden werden. (Zur Abgrenzungsproblematik siehe aber Dürscheid 1999: 31–33.) Der Akkusativ der Erstreckung steht auch als Komplement bei Adjektiven wie in [einen Meter]A K K lang. Zum ‚Akkusativ der Erstreckung‘ wird traditionell auch die Verwendung in Verbindung mit perlativen (streckenbezogenen) Präpositionen gerechnet wie in durch [den Wald]A K K . Schließlich ist hier auch die Verwendung neben den sogenannten Wechselpräpositionen zu nennen, wo der Akkusativ die betreffenden Präpositionen auf eine allative (im Unterschied zu einer lokativen) Interpretation festlegt wie in in [den Wald]A K K . Wir besprechen diese semantisch relevante Verwendung grammatischer Kasus bei den Komplementen der Wechselpräpositionen im Anschluss an die Erörterung der Lokalkasus des Ungarischen in → B2.4.3.3.4. Der Spielraum von syntaktischen Funktionen, die ein Kasus abdeckt – sein ‚syntaktisches Potential‘ – lässt in den typischen Fällen eine einheitliche funktionale Charakterisierung nicht zu. Eine Gleichsetzung von Kasus und syntaktischer Funktion ist damit ausgeschlossen. Kasus können aber unter Bezugnahme auf ihre primären Funktionen gekennzeichnet werden (Kuryłowicz 1949). So kann der Akkusativ als

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B Wort und Wortklassen

Kasus des direkten Objekts charakterisiert werden, auch wenn die betreffende Verwendung nur eine neben anderen ist. Die primäre Verwendung ist durch das Fehlen besonderer Anwendungsbedingungen ausgezeichnet: Die Verwendung des Akkusativs als Objektkasus stellt bei allen transitiven Verben den Regelfall dar, während sekundäre Verwendungen an spezielle Bedingungen gebunden sind, die die Semantik der beteiligten Lexeme betreffen. In (34b) und (34c) liegt nach traditioneller Terminologie ein Akkusativ der (zeitlichen) Erstreckung vor. Die Bedeutung des betreffenden Substantivs und des Verbs müssen damit in Einklang stehen. Der Akkusativ der Erstreckung ist demgemäß auf einen vergleichsweise eng bemessenen Bereich semantisch zu charakterisierender Kontexte beschränkt. Die Auszeichnung einer primären Funktion erlaubt es, bei der Identifizierung eines Kasus von der tatsächlichen Spielbreite seiner Verwendungen abzusehen. Nur insoweit dies möglich ist, ist auch eine synchron-vergleichende Betrachtung von Kasussystemen verschiedener Sprachen möglich. Im Anschluss an die Grammatiken der Vergleichssprachen kann hier der Begriff der syntaktischen Relation oder Funktion und insbesondere der Begriff des direkten Objekts (DO ) vorausgesetzt werden und daher der Akkusativ (mit Kuryłowicz 1949) als Kasus des direkten Objekts identifiziert werden. Auf dieser Grundlage lässt sich feststellen, dass das Deutsche und alle Kontrastsprachen – trotz großer Unterschiede der Kasussysteme und der Kasusverwendungen – einen Akkusativ besitzen. Kasus können nicht mit bestimmten syntaktischen Funktionen identifiziert werden. Über welche Kasus eine gegebene Sprache verfügt, kann daher auch nicht auf der Grundlage eines unabhängig bestimmten Inventars von Funktionen von Nominalen bestimmt werden, sondern nur unter Bezugnahme auf die tatsächlich zu findenden formalen Unterscheidungen. Auch wenn man das System der syntaktischen Funktionen sprachübergreifend oder für eine bestimmte Sprache als gegeben annehmen würde, wäre nicht herleitbar, welche Funktionen überhaupt durch Kasus markiert werden, und im Allgemeinen auch nicht, welche Funktionen durch verschiedene Kasus bzw. welche Funktionen durch ein und denselben Kasus markiert würden. Insgesamt zeigt sich: Kasus sind weder auf Formen noch auf Funktionen in einfacher Weise bezogen. Zum einen können einzelne Kasus formal an Formen verschiedener nominaler Klassen (bei verschiedenen Wortarten, in verschiedenen Deklinationen, Genera oder Numeri) unterschiedlich realisiert werden. Zwischen Kasus und Kasusformen besteht eine ein-mehrdeutige Beziehung (1-zu-n-Beziehung): Kasus sind im Allgemeinen polyform. Dabei kann die Zuordnung verschieden gebildeter Kasusformen (oder verschiedener Kasusflexive) zu ein und demselben Kasus nur unter Bezugnahme auf Kasusfunktionen gerechtfertigt werden. Ebenso können einzelne Kasus in verschiedenen syntaktischen Konstruktionen unterschiedliche Funktionen realisieren. Zwischen Kasus und Kasusfunktionen besteht ebenfalls eine einmehrdeutige Beziehung (1-zu-n-Beziehung): Kasus sind polyfunktional. Dabei kann die Zuordnung verschiedener Kasusfunktionen zu ein und demselben Kasus nur unter Bezugnahme auf Kasusformen gerechtfertigt werden. Bei Kasus handelt es sich um

B2 Kategorisierungen

941

eine Klassifikation von Formen auf der Basis funktionaler Unterscheidungen, die an die formalen Unterschiede zwischen den Formen geknüpft sind. Die Klassifikation ist syntaktisch-funktional begründet, aber zugleich – als Klassifikation von Formen – formal bestimmt.

B2.4.2.5.2.2 Polyfunktionalität der Kasus in den Kontrastsprachen Die adverbiale Verwendung des Akkusativs, die wir als ein Beispiel für den Gesamtbereich adverbialer Verwendungen von grammatischen Kasus heranziehen, ist keine Besonderheit des Deutschen, sondern findet sich auch in den Kontrastsprachen. Einen Überblick über die adverbialen Kasusverwendungen im Deutschen unter Einschluss des Genitivs gibt Egorova (2006). Der sogenannte Akkusativ der Erstreckung der indoeuropäischen Sprachen wird (nach traditioneller Terminologie) auf einen ‚Akkusativ des Inhalts‘ zurückgeführt (Kühner/Stegmann 1988a: 282, zum Lateinischen). Daneben finden sich weitere (vom synchronen Standpunkt aus) ‚sekundäre‘ oder ‚periphere‘ Verwendungen des Akkusativs, so im Lateinischen der ‚Akkusativ des Ziels‘ (oder der Richtung) (wie in RomamA K K ire, ‚nach Rom gehen/fahren‘), der auf einen indoeuropäischen Lokalkasus als Quelle des Akkusativs verweist (Meier-Brügger 2010: 400, 402 f.); vgl. auch die Verwendung des Akkusativs neben Präpositionen. Als charakteristisch für die sekundären Verwendungen erweisen sich wiederum die engen Anwendungsbeschränkungen: Die Konstruktion findet sich neben Bewegungsverben und typischerweise bei Städte- oder Inselnamen. Hierzu kann auch auf Beschränkungen in der Verbindung mit dem Verbalaspekt verwiesen werden; vgl. POL (35).  

(35) a. Pisał [dwa tygodnie]A K K . POL ‚Er hat zwei Wochen (lang) geschrieben.‘ b. Napisał [książkę]A K K . ‚Er hat ein Buch geschrieben.‘ In (35a) – mit adverbialem Akkusativ dwa tygodnie ‚zwei Wochen‘ – erscheint ein imperfektives Verb, hier: pisał (PRT . 3SG . M zu PISAĆ ,schreiben‘), in (35b), wo książkę (AKK .SG zu KSIĄŻKA ‚Buch‘) als direktes Objekt fungiert, erscheint dessen perfektives Gegenstück (napisał). Der adverbiale Akkusativ muss mit der Semantik der übrigen Satzbestandteile „zusammenpassen“ (Kuryłowicz 1949: 27). In einem Teil der Fälle des adverbialen Gebrauchs von NPs stehen Varianten mit einer Präposition neben dem gleichen Kasus zur Verfügung, wie etwa im Fall des angeführten Akkusativ der Erstreckung im Polnischen; vgl. (36), Engel et al. (1999: 344): (36) POL

Nie spałem (przez) [całą noc]A K K . ‚Ich habe die ganze Nacht (durch) nicht geschlafen.‘

942

B Wort und Wortklassen

Die Setzung der Präposition przez ‚durch‘ ist hier optional. In der deutschen Übersetzung zu (36) wäre die präpositionale Variante eher unidiomatisch. In anderen Fällen stehen keine präpositionalen Varianten im gleichen Kasus zur Verfügung wie für [jeden Tag]A K K in (34d), gegenüber an [jedem Tag]D A T . Derartige Konstruktionen können daher nicht etwa generell als elliptisch (mit Ausfall einer Präposition oder eines Adjektivs) betrachtet werden. Adverbiale Verwendungen des Akkusativs finden sich auch im Ungarischen; vgl. den Akkusativ der Erstreckung in (37) (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 232) (mit kilométert, AKK .SG zu KILOMÉTER ). (37) UNG

[Két kilométert]A K K futottam. ‚Ich bin zwei Kilometer gelaufen.‘

Keresztes (1999: 113) unterscheidet vier Arten des adverbialen Akkusativs im Ungarischen (Ort, Zeit, Art und Weise, Menge und Maß). Ähnliche adverbiale Verwendungen von Objektkasus finden sich in verschiedenen weder verwandten, noch areal benachbarten Sprachen. Lazard (1994: 96–98) nennt noch Arabisch und Quechua und verweist zudem darauf, dass auch in Sprachen wie dem Französischen, das keine Kasusmarkierung an Substantivphrasen kennt, Adverbiale wie direkte Objekte als reine NPs (im Unterschied zu adverbialen PPs) auftreten können, mit Interpretationen, wie sie in anderen Sprachen für adverbiale Akkusative typisch sind. Beispiele für (non-präpositionale) Adverbialkomplemente der Erstreckung (Dauer), des Preises und des Maßes gibt (38) (Grevisse/Goosse 2011: 410). (38) a. Leur amitié a duré [trente ans]. FRA ‚Ihre Freundschaft hat [30 Jahre] gedauert.‘ b. Ce vase coûte [cinquante euros]. ‚Diese Vase kostet [50 Euro].‘ c. Ce meuble pèse [vingt kilos]. ‚Dieses Möbelstück wiegt [20 Kilo].‘ Aus dem Englischen können ebenso NPs ohne Präposition in der Verwendung als Adverbialkomplement verglichen werden (wie in He stayed one week ‚Er blieb eine Woche‘). Auch die Verwendung des Akkusativs als Kasus des traditionell so genannten „inneren Objekts“ (‚Figura etymologica‘) in Konstruktionen wie einen tiefen Schlaf schlafen wird (in einem Teil der Literatur) zu den adverbialen Funktionen des Akkusativs gerechnet, wenngleich die Grenze zwischen Objekten und Adverbialia bei den betreffenden Konstruktionen schwer zu ziehen ist; zum Deutschen siehe Winkler (2009), mit Literaturverweisen. Die Markierung innerer Objekte kann in verschiedenen Sprachen auf unterschiedliche Weise (mittels unterschiedlicher Kasus oder Adpositionalkonstruktionen) erfolgen, doch findet sich, wie Maling (2009: 75 f.) betont,  

B2 Kategorisierungen

943

in vielen (nicht-verwandten) Sprachen gerade akkusativische Markierung oder allgemeiner eine formale Behandlung nach dem Muster von Verbkomplementen, wie es der traditionelle Terminus zum Ausdruck bringt. Wie das Beispiel des Akkusativs zeigt, können einzelne Kasus verschiedene „Funktionsbündel“ abdecken, deren Zusammensetzung übereinzelsprachlich (offenbar nicht-zufällige) Ähnlichkeiten aufweist, im Falle des Akkusativs, wenn Maßbestimmungen, Temporaladverbialia und „innere Objekte“ wie eigentliche Objekte markiert werden (vgl. auch Lazard 1994: 96–98). Wo solche Parallelen nicht ererbt sind, sind mutmaßlich sich wiederholende Muster der diachronen Entwicklung von Kasus wie die angenommene Entwicklung des Akkusativs aus einem Lokalkasus im Indoeuropäischen verantwortlich. Vom synchronen Standpunkt aus kann eine einheitliche, übergreifende Charakteristik aber häufig nicht gegeben werden. (Vgl. Henkelmann 2006 zum Altgriechischen, Hocharabischen, Koreanischen und Quechua.) Dies gilt auch für den Akkusativ im Gegenwartsdeutschen. Für die vergleichende Betrachtung der Kasussysteme ist die Bezugnahme auf die primären Funktionen der Kasus wesentlich: Für den Akkusativ ist die Verwendung als normaler Kasus des direkten Objekts konstitutiv. Andere Funktionen wechseln, wenngleich nicht beliebig, von Sprache zu Sprache in unterschiedlichem Ausmaß. Die adverbiale Verwendung von Nominalphrasen (im Unterschied zu Präpositionalphrasen) ist im Deutschen vergleichsweise beschränkt. Ältere indoeuropäische Sprachen machen in viel weiter gehendem Umfang Gebrauch von primär grammatischen Kasus zur Kennzeichnung von Adverbialia. Als Beispiel kann die Verwendung von Akkusativ, Dativ und Genitiv zur Kennzeichnung von Temporaladverbialia im Altgriechischen dienen (George 2014).

B2.4.3 Kasussysteme: Umfang und Reichweite B2.4.3.1 Überblick B2.4.3.1.1 Vorbemerkung Die Kasussysteme der Vergleichssprachen unterscheiden sich (i) bezüglich des Bereichs syntaktisch-semantischer Rollen, der durch Kasus abgedeckt wird, (ii) bezüglich des Umfangs des Kasusinventars, (iii) bezüglich der Gliederung des Systems und (iv) bezüglich der Anwendungsbereiche der einzelnen Kasus. Diese Gesichtspunkte konstituieren zusammengenommen den hier als grundlegend betrachteten übergreifenden Varianzparameter für Kasussysteme, der kurz als ‚Entfaltung von Kasussystemen‘ bezeichnet werden kann. Der Parameter bildet im vorliegenden Kapitel den leitenden Gesichtspunkt; verschiedene Subparameter werden im Folgenden angegeben.

944

B Wort und Wortklassen

B2.4.3.1.2 (Nicht-)Vorhandensein von Kasus Als vorgeordneter die Entfaltung von Kasussystemen betreffender Varianzparameter kann das ‚Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein von Kasus‘ angesehen werden. Völliges Fehlen von Kasusflexion findet sich in Sprachen des isolierenden Typus, insbesondere in vielen Sprachen Südostasiens, etwa dem Thai (Goddard 2005: 4). Demgegenüber besitzen alle Vergleichssprachen Kasussysteme, wenn auch das Englische aufgrund eines weitgehenden Verlusts der Flexion im Allgemeinen und der Kasusflexion im Besonderen häufig als Beispiel für eine Sprache angeführt wird, die dem isolierenden Typus nahekommt. In der Literatur wird auch die These vertreten, das heutige Englisch sei ‚eine Sprache ohne Kasus‘ (Blevins 2006: 516, „[…] case is no longer a distinctive category in modern English, even within the pronominal system.“). Wie im Englischen fehlt auch im Französischen eine produktive Kasusformenbildung. Kasusdifferenzierung betrifft nur die Pronomina (→ B2.4.3.1.5). Das Ungarische besitzt ein Kasussystem im Sinne der hier zugrunde gelegten Begriffsbestimmung, wenn auch die Anwendbarkeit des traditionellen Kasusbegriffs auf das Ungarische in der neueren Literatur in Frage gestellt worden ist (Spencer 2008). Unsicherheiten in der Beurteilung ergeben sich vor allem deshalb, weil in agglutinierenden Systemen wie dem der ungarischen Nominalflexion die Unterscheidung zwischen Kasussuffixen und Adpositionen nicht immer ohne Weiteres klar ist. Unzweifelhaft ist die Existenz eines Kasussystems im Polnischen und im Deutschen.

B2.4.3.1.3 (Nicht-)Vorhandensein von Lokalkasus Kasussysteme können sich in ihrem Umfang stark unterscheiden. Zu den Sprachen mit den umfangreichsten Kasussystemen werden traditionell die im nordöstlichen Kaukasus gesprochenen daghestanischen Sprachen gerechnet, die sich durch eine außerordentlich stark entwickelte Nominalmorphologie auszeichnen (Kibrik 2003); vgl. Hjelmslev (1937: 138), der nach der von ihm entworfenen Systematik für Kasussysteme mit bis zu 52 Kasus rechnete und annahm, dass ein System dieses Umfangs im Tabassaranischen vorläge. Unter den Vergleichssprachen stellt das Ungarische ein gut bekanntes Beispiel für eine Sprache mit einem außerordentlich umfangreichen Kasussystem dar; traditionell werden bis zu 27 Kasus (Tompa 1968) angenommen. Die im Sprachvergleich sichtbare außerordentliche Varianz im Umfang von Kasussystemen ist vorrangig dem ‚Vorhandensein oder Fehlen eines Teilsystems von Lokalkasus‘, denen im Deutschen funktional Lokalpräpositionen wie in, an oder auf entsprechen, und gegebenenfalls dessen unterschiedlichem Ausbaugrad geschuldet. Unter den Vergleichssprachen umfasst nur das Kasussystem des Ungarischen ein besonderes Subsystem von Lokalkasus (siehe im Einzelnen → B2.4.3.3.3). Die Formen AUT O ‚Auto‘; die der zehn Lokalkasus des Ungarischen zeigt (39) für das Lexem AUTO primären semantischen Funktionen sind aus den Übersetzungen ersichtlich.

B2 Kategorisierungen

(39)

ADESSIV

ALLATIV ALLAT IV

ABLATIV

autónál ‚beim Auto‘

autóhoz ‚zum Auto‘

autótól ‚vom Auto (weg)‘

INESSIV

ILLAT ILLATIV IV

ELAT ELATIV IV

autóban ‚im Auto‘

autóba ‚ins Auto‘

autóból ‚aus dem Auto‘

SUPERESSIV

SUBLATIV SUBL ATIV

DEL DELATIV ATIV

autón ‚auf dem Auto‘

autóra ‚auf das Auto‘

autóról ‚vom Auto (herab)‘

945

TERMINATIV

autóig ‚bis zum Auto‘ Systeme mit einer extrem hohen Zahl von Kasus, wie sie für daghestanische Sprachen beschrieben werden, leiten sich aus der Kombinatorik von Markierungen für verschiedene lokale Dimensionen ab (Hjelmslev 1937), insbesondere der Kombinatorik der Dimension des Wo?/Wohin?/Woher? mit den Dimensionen des Innen/Außen und des Oben/Unten/Vorn/Hinten; vgl. Comrie/Polinsky (1998). Auch die finnougrischen Sprachen bieten ein breites Spektrum unterschiedlich ausdifferenzierter Lokalkasussysteme (Stolz 1992).

B2.4.3.1.4 Flexion vs. Derivation Im Ungarischen ist auch die Zahl der non-lokalen Kasus ungewöhnlich hoch, wenn man traditionellen Darstellungen folgt. Die Annahmen zur Zahl der non-lokalen Kasus variieren aber je nach Analyse stark; angesetzt werden zwischen sechs (Garvin 1945) und 18 non-lokale Kasus (Tompa 1968). Die traditionell hoch angesetzte Zahl ist jedoch in Teilen ein Effekt der in der ungarischen Grammatikschreibung verwendeten Terminologie. Sie reduziert sich, wenn man den hier angenommenen Kasusbegriff zugrunde legt. Danach ist für die Bestimmung der Kasus der flexivische Status der in Betracht kommenden Kennzeichen Voraussetzung. Nach der in Tompa (1968; 1972) dargestellten traditionellen Auffassung werden dagegen alle Suffixe, die an nominale Stämme treten und den Status von „Endsuffixen“ haben (also Suffixe, auf die keine weiteren Suffixe folgen können), als Kasussuffixe angesehen. Darunter fallen ausdrücklich auch Suffixe, die der Ableitung von Adverbien aus Adjektiven dienen, wie das -en des sogenannten Modal-Essivs (vergleichbar mit ENG -ly) in Formen wie szépen, ADV ‚schön‘ zur Basis szép, ADJ ‚schön‘ (Tompa 1968: 59, 70). In Übereinstimmung mit der in der jüngeren Literatur zunehmend akzeptierten Auffassung betrachten wir solche Bildungen als Fälle von Derivation; sie fallen (nach der hier zugrunde

946

B Wort und Wortklassen

gelegten Auffassung) nicht in den Bereich des Kasussystems. Nach Szent-Iványi (1995: 31, 45–48) erhält man für das Ungarische nach Ausscheidung der Adverbbildungssuffixe ein Kasussystem mit acht non-lokalen und zehn lokalen Kasus, das wir im Folgenden zugrunde legen. Die genaue Abgrenzung des Kasusbestands bleibt jedoch umstritten, da der flexivische Status der in Betracht kommenden Suffixe (und damit der Status als Kasusflexive) im Einzelnen unterschiedlich beurteilt wird.

B2.4.3.1.5 (Nicht-)Vorhandensein von NP-Kasus Eine für die Morphosyntax der Vergleichssprachen stark prägende Unterscheidung wird durch den Varianzparameter ‚(Nicht-)Vorhandensein von Kasusmarkierung an Nominalphrasen (NP-Kasus)‘ erfasst: Kasusdifferenzierung kann sich grundsätzlich auf Nominale aller Typen, eingeschlossen NPs verschiedener Komplexität (z. B. Artikel-Substantiv-Phrasen), erstrecken oder aber auf eine Teilklasse von Nominalen beschränkt sein. Im Ganzen ist die Verteilung durch die Allgemeine Nominalhierarchie (→ B1.1.5) bestimmt. Im Einzelnen sind im Sprachvergleich verschiedene Grenzziehungen zwischen kasusdifferenzierenden und nicht-kasusdifferenzierenden Nominalen zu beobachten. Im Falle der Vergleichssprachen Englisch und Französisch ist eine Beschränkung der Kasusdifferenzierung auf bestimmte Pronomina, also gemäß der Nominalhierarchie ranghohe oder -höchste Elemente, zu beobachten, die sich zudem auf die Gegenüberstellung lexikalisch fixierter Formen beschränkt (vgl. die Formen des Personalpronomens der 3. Person ENG he/him, NOM / AKK , und FRA il/le/ lui, NOM / AKK / DAT ).  



Das Englische besitzt ein produktives Bildungsmuster für Possessorphrasen, den traditionell so genannten ‚sächsischen Genitiv‘ wie in John’s house ‚Johns Haus‘. Der Status des Elements ’s ist in der Literatur umstritten; es bildet wenigstens im Falle von group genitives wie the man she was speaking to’s reaction ‚die Reaktion des Mannes, mit dem sie sprach‘ (Huddleston/Pullum 2002: 479) mit der Wortform, an die es antritt (hier der Präposition to), keine Flexionsform, mithin keine Kasusform. Auch in Grammatiken, die dem Usus folgend hier von einem ‚Genitiv‘ sprechen, wird daher gewöhnlich deutlich herausgestellt, dass es sich tatsächlich nicht um einen Kasus im traditionellen Sinn handelt; so z. B. Quirk et al. (1985: 328): „The -s ending is not a case ending in the sense which applies to languages such as Latin, Russian, and German.“ Anders Huddleston/ Pullum (2002: 1595). Im Einzelnen siehe → C3.4.3.  

Das Vorhandensein einer differenzierten Kasusflexion an Substantivphrasen unterscheidet das Deutsche von den westlichen Vergleichssprachen Französisch und Englisch. Das Polnische und das Ungarische besitzen im Vergleich zum Deutschen eine weitergehende produktive Kasusdifferenzierung, die grundsätzlich alle nominalen Wortklassen umfasst (vgl. den Überblick über die Kasusinventare in → B2.4.3.1.6). Das im Französischen und Englischen gegebene Nicht-Vorhandensein von NPKasus gilt allgemein für die romanischen Sprachen mit Ausnahme des Rumänischen und ebenso für die Mehrheit der lebenden germanischen Sprachen (Harbert 2007), doch bieten die inselskandinavischen Sprachen Isländisch (Kress 1982) und Färöisch (Lock-

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B2 Kategorisierungen

wood 1955) einerseits sowie das Jiddische andererseits (N. G. Jacobs 2005) einen den Verhältnissen im Deutschen vergleichbaren Ausbau der Kasusdifferenzierung an NPs. Die slawischen Sprachen besitzen im Allgemeinen entwickelte NP-Kasussysteme; eine Ausnahme bilden die südslawischen, durch den Balkansprachbund geprägten Sprachen Bulgarisch und Mazedonisch, in denen die Kasusflexion stark reduziert worden ist und ein mit dem Englischen und Französischen vergleichbarer Übergang zu analytischen Rollenmarkierungen (mittels Präpositionen) stattgefunden hat. Wie das Ungarische haben uralische Sprachen generell gut ausgebaute, aber im Umfang stark variierende Kasussysteme (Collinder 1969).  



B2.4.3.1.6 Umfang der Kasusinventare Der ‚Umfang der Kasusinventare‘ stellt einen Varianzparameter dar, der sehr starke Differenzen zwischen den Vergleichssprachen liefert. Während der Ausbau der Kasussysteme im Französischen und Englischen stark beschränkt ist, besitzen das Polnische und das Ungarische geradeso wie das Deutsche NP-Kasus, deren charakteristische Rolle in der Kennzeichnung der syntaktischen Funktionen SU , DO und IO besteht, also einen Nominativ, einen Akkusativ und einen Dativ. Wie im Deutschen steht im Polnischen ein besonderer grammatischer Kasus für die Kennzeichnung von NP-förmigen Attributen, ein Genitiv, zur Verfügung. (Zur Verwendung anderer Kasus zur Kennzeichnung NP-förmiger Attribute siehe im Einzelnen → D4.1.) Der Genitiv fungiert aber auch regelmäßig als Objektkasus (unter Negation), während die Verwendung des Genitivs als Objektkasus im Deutschen untergeordnete Bedeutung hat. Im Ungarischen fehlt ein besonderer Genitiv. An seiner Stelle findet der Dativ Verwendung oder aber das Attribut bleibt ohne spezifische Kasusmarkierung und steht im Nominativ, d. h. in der Grundform (→ D3). Über diesen Grundbestand von Kasus hinaus besitzt das Polnische drei weitere Kasus: (i) einen Vokativ als Kasus der direkten Anrede, von dem allerdings nur beschränkt Gebrauch gemacht wird (an seine Stelle tritt häufig der Nominativ). Im Deutschen entspricht dem Vokativ funktional ein artikelloser Gebrauch des Nominativs (wie in Lieber Karl! oder Chef!); (ii) einen traditionell als Lokativ bezeichneten Kasus, der nur in Verbindung mit Präpositionen vorkommt und daher auch als Präpositiv bezeichnet wird; und (iii) einen Instrumental mit sehr vielfältigen Funktionen, darunter die namensgebende der Angabe des Instruments (Mittels), mit dem etwas getan wird, wie in pisać długopisemI N S ‚mit dem Kugelschreiber schreiben‘ zu PISAĆ ‚schreiben‘ und DŁUGOPIS ‚Kugelschreiber‘ (Damerau 1967: 119). Das Ungarische besitzt zusätzlich zu den drei genannten grammatischen Kasus Nominativ, Akkusativ und Dativ wie das Polnische einen Instrumental (zur Bezeichnung des Mittels oder des Beteiligten) und einen weiteren non-lokalen semantischen Kasus, den Kausal-Final (zur Bezeichnung des Zwecks, des Ziels oder Grundes). Dazu kommen im Ungarischen Kasus, denen im Deutschen funktional Partikeln (Adjunktoren) oder Präpositionen zur Markierung von Prädikativen entsprechen (vgl. IDSGrammatik 1997: 1105–1114), so der Essiv (ESS ) – auch ‚Essiv-Formal‘ – (vgl. tit 



948

B Wort und Wortklassen

kárnőként, ESS , ‚als Sekretärin‘, zu TITKÁRNŐ TIT KÁRNŐ ‚Sekretärin‘) mit einer Variante, dem T RA ) (vgl. elnökké, TRA T RA , ‚zum Vorsitzenden‘ zu Essiv-Modal (ESS - M ), und der Translativ (TRA ELNÖK ‚Vorsitzende(r)‘ in Elnökké választották ‚Er/Sie wurde zum/zur Vorsitzenden gewählt‘, Tompa 1968: 201). Diese Kasus bilden ein besonderes Subsystem innerhalb des ungarischen Kasussystems. Zum Vergleich sind in (40) die Singularformen von DEU MANN , POL MĘŻCZYZNA ‚Mann‘ und UNG EMBER ‚Mensch/Mann‘ (ausgenommen die Formen der Lokalkasus) nebeneinander gestellt. (Im Englischen und Französischen zeigen Substantive keine Kasusflexion.) (40) NOM AKK DAT GEN

DEU der Mann den Mann dem Mann des Mannes

NOM VOK AKK DAT / L LOK OK GEN INS

POL mężczyzna mężczyzno mężczyznę mężczyźnie mężczyzny mężczyzną

NOM AKK DAT INS KAU ESS ESS - M TRA

UNG ember embert embernek emberrel emberért emberként emberül emberré

Im Falle des Deutschen werden die Kasusdifferenzierungen vorrangig von den kongruierenden Substantivdependentien getragen; in (40) sind daher beispielhaft die Formen des definiten Artikels hinzugesetzt. Das Maskulinum POL MĘŻCZYZNA ‚Mann‘ bietet ein (wenngleich für die Flexion der Maskulina nicht ganz typisches) Beispiel für ein Lexem mit guter Formendifferenzierung. Jedoch werden bei keinem Lexem im Polnischen innerhalb des gleichen Numerus alle sieben Kasus formal geschieden. Zu Instrumental (INS ) und Kausal-Final (KAU ) siehe → B2.4.3.3.2, zu den besonderen Prädikativkasus des Ungarischen, Essiv (ESS ), Essiv-Modal (ESS - M ) und Translativ (TRA ), siehe → B2.4.3.4.7. In (41) sind die Formen des Personalpronomens der 3. Person Singular (in den Sprachen mit Genus: des Maskulinums) gegenübergestellt. Zu den vollständigen Paradigmen siehe → C5.2. (41)

ENG NOM AKK

FRA he him

NOM AKK DAT

DEU il le lui

NOM AKK DAT GEN

POL er ihn ihm seiner

NOM AKK / GEN DAT INS / L LOK OK

UNG on jego jemu nim

NOM AKK DAT INS KAU

ő őt neki vele érte

Bei den Pronomina zeigen auch das Englische und das Französische Kasusdifferenzierung. Anders als in der Flexion der Substantive existieren im Polnischen beim

B2 Kategorisierungen

949

Personalpronomen keine besonderen Vokativformen; zudem fällt (im Maskulinum Singular) der Akkusativ mit dem Genitiv sowie der Lokativ mit dem Instrumental zusammen. Die Personalpronomina des Ungarischen besitzen anders als die Substantive keine Prädikativkasusformen.

B2.4.3.1.7 Geltungsbereich und Gliederung Die Kasussysteme der Vergleichssprachen decken, was die Zahl der Kasus angeht, aus sprachtypologischer Sicht eine große Bandbreite ab. Wie die Gegenüberstellung der Kasusinventare deutlich macht, bleiben auch dann beträchtliche Unterschiede bezüglich des Entfaltungsgrads bestehen, wenn man von besonderen Teilsystemen wie den Lokalkasus und den Prädikativkasus absieht und zudem besonders die Verhältnisse bei den Pronomina ins Auge fasst, die – nach Ausweis des Englischen und Französischen – den vorrangigen Anwendungsbereich für Kasusdifferenzierung darstellen. Die Unterschiede im Kasusbestand innerhalb des in (41) erfassten Bereichs – des Hauptfeldes der betrachteten Kasussysteme – stellen notwendigerweise den zentralen Gegenstand der vergleichenden Betrachtung der Kasussysteme des Deutschen und der Kontrastsprachen dar. Auch für diesen Bereich gilt, dass die zu beobachtende Varianz nicht arbiträr ist, sondern durch allgemeine Muster bestimmt ist, die die Struktur von Kasussystemen bestimmen. Aufgrund des zuvor umrissenen Gesamtumfangs der Kasusinventare im Deutschen und den Kontrastsprachen können Geltungsbereich und Gliederung für die Kasussysteme der betrachteten Sprachen bestimmt und verglichen werden. ‚Geltungsbereich‘ und ‚Gliederung‘ stellen die wichtigsten Varianzparameter dar, nach denen die Kasussysteme der Vergleichssprachen systematisch geordnet werden können. Mit ‚Geltungsbereich‘ bezeichnen wir den Teilbereich aus dem in → B2.4.2 in den Grundzügen dargestellten übereinzelsprachlichen Feld von Paarungen aus Kasus und syntaktisch-semantischen Rollen, der in einer Einzelsprache tatsächlich formal durch Kasus, also flexivische Markierung an Nominalen, abgedeckt wird (im Unterschied zu dem funktionalen Bereich, in dem andere Markierungsmittel, etwa Adpositionen, zum Zuge kommen); vgl. Arkadiev (2009: 688, „case zone“). Mit ‚Gliederung‘ bezeichnen wir die je einzelsprachspezifische Aufteilung des Geltungsbereichs auf einzelne Kasus. In Hinblick auf den Geltungsbereich hebt sich zunächst das Kasussystem des Ungarischen von dem der übrigen betrachteten Sprachen durch die Existenz von Lokalkasus und Prädikativkasus grundsätzlich ab. Ein Grund für diese Besonderheit kann im agglutinierenden Formenbau des Ungarischen gesehen werden. Gegenüber dieser Hauptunterscheidung nach dem Geltungsbereich zeigt sich im Bereich der verbleibenden Kasus eine Feinabstufung, die für jede betrachtete Einzelsprache eine andere Ausprägung bezüglich der kombinierten Parameter Geltungsbereich und Gliederung liefert. Einen Überblick über Geltungsbereiche und Gliederungen der Kasussysteme in den Vergleichssprachen – ohne Lokalkasus und Prädikativkasus – gibt Abbildung 5.

950

B Wort und Wortklassen

Abb. 5: Kasussysteme. Geltungsbereiche und Gliederungen  

Am linken Rand sind die verglichenen Sprachen genannt. Der neben jeder Sprachsigle gezeichnete Balken zeigt den Geltungsbereich des Kasussystems für die betreffende Sprache. Die durch senkrechte Striche markierten Abschnitte zeigen die jeweilige, sprachspezifische Gliederung des Geltungsbereichs. Die über die Balken gesetzten Kasussiglen verweisen auf die Kasusnamen, die im Allgemeinen auch in Einzelgrammatiken der Vergleichssprachen verwendet werden. Zusätzlich zu den Vergleichssprachen (ENG, FRA, DEU, POL, UNG) sind das Rumänische und das Griechische berücksichtigt, die die Nichtdifferenzierung von Dativ und Genitiv, die auch im Ungarischen vorliegt, in kleineren Kasussystemen illustrieren. Das Rumänische stellt unter den romanischen Sprachen einen auffälligen Sonderfall dar, insofern es Kasusmarkierung von NPs und insbesondere einen Kasus bewahrt, der den Funktionsbereich des Genitivs (zusammen mit dem des Dativs) einschließt. Einen entsprechenden Kasus weist auch das Griechische auf; in Grammatiken des Griechischen wird dieser Kasus als Genitiv bezeichnet (vgl. dazu → B2.4.3.2.2.5).  

Bei der vergleichenden Betrachtung des nach Ausscheidung der Lokalkasus und der Prädikativkasus verbleibenden Hauptfeldes der Kasusinventare stützen wir uns auf die in Abbildung 4 dargestellte Kasusordnung und auf den Zusammenhang zwischen Kasus und semantischen Rollen, der für die grammatischen Kasus Nominativ, Akkusativ und Dativ in → B2.4.2.2 anhand der als grundlegend angesehenen Verwendung zur Kennzeichnung von Verbkomplementen umrissen worden ist. Für den Genitiv ist die Verwendung als adnominaler Attributskasus (ATT ) definitorisch; aus semantischer Sicht stellt die Verwendung zur Bezeichnung des Possessors die prototypische Funktion dar. Bei den semantischen Kasus ist die semantische Rolle unmittelbarer Teil der Kasuscharakteristik und bedarf hier keiner weiteren Erörterung (vgl. dazu → B2.4.3.3).

951

B2 Kategorisierungen

Auf dieser Grundlage können die prototypischen Zuordnungen zwischen semantischen Rollen, syntaktischen Funktionen und Kasus für die Vergleichssprachen schematisch wie im Kopf von Abbildung 5 angegeben werden. (Wohlgemerkt handelt es sich hier um prototypische Zuordnungen von semantischen Rollen und syntaktischen Funktionen zu Kasus, nicht deren einzige Rollen bzw. Funktionen.) Zu den Zuordnungen im Deutschen siehe → B2.4.2.2. Die Anordnung in der Grafik folgt der Ordnung der Kasus im Sinne abnehmender ‚Grammatizität‘, ausgehend vom Pol der maximal grammatischen (‚abstrakten‘) Kernkasus (Nominativ und Akkusativ) über die indirekten grammatischen Kasus, Dativ (DAT ) und Genitiv (GEN ), bis zu den (non-lokalen) semantischen Kasus, Instrumental (INS ) und Kausal-Final (KAU ). Den Gegenpol bilden die (hier nicht aufgeführten) maximal semantischen (‚konkreten‘) Lokalkasus. Berücksichtigt sind Argument- und Attributskasus; alle in Abbildung 5 genannten Kasus fungieren in den jeweiligen Einzelsprachen als Mittel zur Markierung von Verbkomplementen. Nicht eingeschlossen sind in Abbildung 5 (neben den Lokal- und Prädikativkasus) die im Polnischen zusätzlich vorhandenen nicht zur Markierung von Verbkomplementen verwendeten Kasus Vokativ (‚Kasus der Anrede‘) und Lokativ (oder ‚Präpositiv‘, Bartnicka et al. 2004: 216) (ein nur in Verbindung mit Präpositionen gebrauchter Kasus); zu ihrer systematischen Einordnung siehe → B2.4.3.1.8. Im Englischen besitzt der auch als Objektivus (Quirk et al. 1985: 337, „objective case“) bezeichnete Kasus einen Geltungsbereich, der semantische Rollen bzw. syntaktische Funktionen abdeckt, die übereinzelsprachlich für Akkusativ und Dativ charakteristisch sind. Nach dem Verfahren, dem wir hier folgen, orientiert sich die Benennung des Kasus in derartigen Fällen gewöhnlich an der höchsten abgedeckten hierarchischen Position, die zugleich als bestimmend für die primäre Funktion des Kasus gelten kann. Der betreffende Kasus im Englischen wird daher hier (wie u. a. bei Huddleston/Pullum 2002) als Akkusativ bezeichnet. Der Zusammenfall von Akkusativ und Dativ, d. h. das Fehlen einer Differenzierung von Objektkasus, findet sich ebenso in anderen germanischen Sprachen. Die Bewahrung der Unterscheidung zeichnet innerhalb der Germania dagegen die besonders ‚konservativen‘ inselskandinavischen Sprachen (Isländisch und Färöisch) sowie das Jiddische und das Deutsche aus (vgl. Harbert 2007: 105). Die bekannten ‚Kasusverwechslungen‘ (mir vs. mich, dir vs. dich) in der Berliner Umgangssprache spiegeln den Akkusativ-Dativ-Zusammenfall bei den Formen mī, dī im Niederdeutschen; vgl. Curme (1922: 503) und Schlobinski (1988). Eine vergleichbare Konstellation liegt im Ungarischen vor, wo in einem Teil der Grammatiken zwischen Dativ und (formal identischem) Genitiv unterschieden wird (z. B. Tompa 1968: 199 f., 203); dasselbe gilt für das Rumänische (z. B. Gönczöl-Davies 2008). Nach der formbezogenen Kasuskonzeption ist nur ein Kasus anzunehmen, der hier als Dativ ausgewiesen wird (wie u. a. mit Bezug auf das Ungarische schon bei Szinnyei 1912: 34; vgl. auch Kiefer 2005). Alternativ werden in der Literatur zusammengesetzte Benennungen verwendet wie etwa „genitive/dative“ bei Mallinson (1986) mit Bezug auf das Rumänische. Der Dativ-Genitiv-- Zusammenfall wird traditio 











952

B Wort und Wortklassen

nell als ein Hauptcharakteristikum der Sprachen des Balkansprachbundes angesehen und findet sich u. a. auch im Griechischen und Albanischen (vgl. Sandfeld 1968; Tomić 2006). In das aus Abbildung 5 abzulesende Muster der unterschiedlichen Entfaltung von Kasussystemen ordnen sich auch die slawischen Sprachen mit stark abgebauten Kasussystemen ein. Im Bulgarischen und im Mazedonischen ist (wie im Französischen) die maximale Kasusdifferenzierung auf die Unterscheidung von Nominativ, Akkusativ und Dativ reduziert und zugleich auf Pronomina beschränkt; siehe → C5.3.2.3. Ähnliche Verteilungen wie die in Abbildung 5 gezeigten finden sich auch außerhalb des Bereichs der Vergleichssprachen. Die daghestanischen Sprachen zeigen, wenn man von den stark ausgebauten Teilsystemen von Lokalkasus absieht, Inventare, die denen der hier beschriebenen Sprachen in Umfang und Gliederung ähneln (Kibrik 2003). Die Kernkasus folgen dem Ergativsystem (Ergativ vs. Absolutiv); hinzu kommt ein Dativ, meist auch ein Genitiv. Bei weiterer Entfaltung können Instrumental oder Komitativ hinzutreten oder auch ein Kausal (‚wegen‘). Einzelne Sprachen (wie etwa das Artschinische) zeigen darüber hinaus weitere speziellere Kasus (Hewitt 2004).  



B2.4.3.1.8 Kasushierarchie Aufgrund der Betrachtung des unterschiedlichen Entfaltungsgrads der Kasussysteme der Vergleichssprachen kann die Kasushierarchie in (32), angewandt auf den Bereich der Vergleichssprachen, wie in (42) weiter ausdifferenziert werden. (42)

NOM

> AKK > DAT > GEN > INS > KAU

Die Hierarchie in (42) besagt: Wenn eine Vergleichssprache einen Kasus bestimmter Rangstufe besitzt, so besitzt sie auch Kasus, die die prototypischen Funktionen aller ranghöheren Elemente der Hierarchie abdecken. Unterschiedliche Geltungsbereiche und unterschiedliche Gliederungen der Kasussysteme der Einzelsprachen fügen sich gleichermaßen dieser Hierarchie. Einzelne Positionen der Hierarchie können einzelsprachlich formal zusammenfallen (AKK - DAT , DAT - GEN ) (→ B2.4.3.1.7). Ebenso können umgekehrt einzelne Positionen weiter subdifferenziert werden; dies betrifft unter den Vergleichssprachen nur das Polnische. Der Nominativ als (maximal) unmarkierter Kasus deckt in den Vergleichssprachen wie gewöhnlich neben der Subjektfunktion auch die Rolle eines Kasus der Anrede ab; nur im Polnischen existiert ein besonderer Kasus Vokativ (VOK ), wenngleich in Anrede-Funktion in aller Regel ebenso der Nominativ verwendet werden kann, während die Verwendung des Vokativs fakultativ und seine Setzung oder Nicht-Setzung da, wo er verwendet werden kann, pragmatisch geregelt ist (Anstatt 2005). Der Bereich der formalen NOM - VOK - Unterscheidung ist, wie auch in den ande 

B2 Kategorisierungen

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ren indoeuropäischen Sprachen, die sie besitzen, stark beschränkt und schließt im Polnischen nur den Singular des Maskulinums und des Femininums der Substantive (insbesondere die Eigennamen) ein; im Übrigen treten Nominativformen an die Stelle der Formen des Vokativs. Nicht-Substantive, die durchwegs keine besonderen Vokativformen besitzen, erscheinen, wo Kongruenz gefordert ist, immer in der Form des Nominativs wie in Dobrze, mójV O K = N O M TadeuszuV O K ‚Gut, mein Tadeusz‘ (Anstatt 2005). Im Polnischen gibt es somit gegenüber der Hierarchie in (42) eine (partielle) formale Subdifferenzierung der obersten Position der Kasushierarchie. Die Einordnung des Vokativs als ‚Variante‘ zum Nominativ trägt der Beobachtung Rechnung, dass einerseits Vokativ und Nominativ oft zusammenfallen oder gar keine Unterscheidung gemacht wird, andererseits, dass in extrem reduzierten Systemen, etwa bei den Substantiven des Bulgarischen gerade die Nominativ-Vokativ-Unterscheidung bei weitgehendem Abbau des Kasussystems erhalten bleiben kann. Dem Vokativ wird vielfach (auch wo er formal fest in ein Kasussystem integriert ist wie im Polnischen) der Status eines Kasus abgesprochen (vgl. Hjelmslev 1935 als Locus classicus dieser Position). Der Vokativ erfülle nicht die Definition des Kasusbegriffs, die auf die Kennzeichnung einer Beziehung zu einer übergeordneten Einheit abstellt, da der Vokativ gerade der Kennzeichnung von Phrasen diene, die keinen Argumentstatus haben und aus dem Satzkontext, soweit vorhanden, (als Parenthese) ausgegliedert seien (vgl. die Begriffsbestimmung bei Levinson 1983: 71). Dem kann entgegen gehalten werden, dass in einem System von Relationsmarkierungen das Auftreten eines Elements geradezu erwartet werden kann, zu dessen Funktion es gehört, die Anzeige des Nicht-Bestehens einer entsprechenden Relation anzuzeigen; ein solches Element realisiert einen natürlichen, systematisch unauffälligen Grenzfall. Wo kein spezielles Element dieses Typs – ein Vokativ – vorhanden ist, übernimmt in aller Regel der Nominativ (als unspezifischer Kasus) dessen Funktion. Würde man den Vokativ von den Kasus ausschließen, wäre zu fragen, ob auch der Nominativ in vokativischer Funktion (wie im Falle des ‚Anredenominativs‘ des Deutschen) nicht als Kasusform gewertet werden sollte. Man beachte auch, dass in Kasussystemen mit einem Vokativ sogar Kasuskongruenz bezüglich des Vokativs gefordert sein kann wie in LAT o sol laudande ‚Oh du zu preisende Sonne‘, mit der den Vokativ formal sichtbar machenden Form laudande (auf -e/VOK ) neben der (flexivisch unausgezeichneten) Vokativ-/Nominativform des substantivischen Kopfs sol ‚Sonne‘ (Blake 2001: 21); hier ist der Vokativ unzweifelhaft formal in das Kasussystem integriert. (Zum Status des Vokativs siehe Daniel/Spencer 2009.)

Eine zweite Erweiterung der Hierarchie in (42) durch eine zusätzliche Subdifferenzierung betrifft den Bereich der indirekten grammatischen Kasus im Polnischen. Das Polnische besitzt neben den drei indirekten Kasus Dativ, Genitiv und Instrumental, die (in unterschiedlicher Auswahl) auch in den übrigen Vergleichssprachen auftreten, einen weiteren indirekten Kasus, den Lokativ. Die Bezeichnung ‚Lokativ‘ ist nur historisch berechtigt. Der Lokativ kann im heutigen Polnisch nicht selbstständig als Kasus mit lokaler Bedeutung fungieren, sondern steht nur in Verbindung mit (lokalen) Präpositionen. Der Lokativ ist jedoch nicht nur funktional, sondern auch formal wenig profiliert. Der Lokativ kann mit jedem der übrigen indirekten Kasus zusammenfallen (in verschiedenen Teilparadig-

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B Wort und Wortklassen

men unterschiedlicher nominaler Lexeme); wo Synkretismen im Bereich der indirekten Kasus vorliegen, handelt es sich immer um eine Nichtdifferenzierung zwischen dem Lokativ einerseits und einem (teilweise auch zwei oder drei) der übrigen indirekten Kasus andererseits (→ C5.3.4). Die Unterscheidung von Lokativ und Dativ ist besonders schwach ausgebildet. sie fehlt im Singular der Substantive bei allen Feminina und einem Teil der Neutra (→ C5.4.3, → C5.4.5). Lokativ und Dativ sind durch sich tendenziell ausschließende Anwendungsbereiche charakterisiert: (i) während der Dativ vorzugsweise bei belebten Nominalen Verwendung findet, kommt der Lokativ für Personenbezug praktisch kaum in Frage; und (ii), während Präpositionen, die den Dativ regieren, im Polnischen selten sind, tritt der Lokativ nur als Komplement bei Präpositionen auf, nämlich bei den fünf Präpositionen przy ‚bei‘, w ‚in‘, na ‚auf‘, o ‚über‘ und po ‚nach‘ (Swan 2002: 368). Im Vergleich zum Deutschen entspricht der Anwendungsbereich des polnischen Lokativs damit annäherungsweise einem Ausschnitt aus dem Verwendungsbereich des deutschen Dativs in der Funktion als Komplementkasus bei Präpositionen; → B2.4.3.3.4.

Unter Berücksichtigung der angegebenen Nichtdifferenzierungen („Neutralisierungen“ oder „Polysemien“) und der partiellen zusätzlichen Subdifferenzierungen (mit der Auszeichnung eines Vokativs im Bereich der direkten Kasus und eines Lokativs im Bereich der indirekten Kasus im Polnischen) lässt sich feststellen, dass der Geltungsbereich der Kasussysteme der Vergleichssprachen jeweils einem zusammenhängenden oberen Abschnitt der Hierarchie in (42) entspricht. Nur im Ungarischen kommen besondere Subsysteme von Lokalkasus und Prädikativkasus hinzu.

B2.4.3.2 Partizipantenkasus B2.4.3.2.1 Nominativ und Akkusativ Alle Vergleichssprachen weisen eine NOM - AKK -Unterscheidung auf und stellen damit die Möglichkeit bereit, die Argumente typischer zweistelliger Verben durch Kasus zu kennzeichnen bzw. zu unterscheiden. Die betrachteten Sprachen stimmen darin überein, dass es eine NOM - AKK - Unterscheidung gibt, aber sie unterscheiden sich sehr stark in der kategorial bestimmten Reichweite, die diese Unterscheidung innerhalb des nominalen Systems besitzt; vgl. (43) (mit kasusmarkierten NPs) und (44) (mit kasusmarkierten Pronomina). (43) DEU a. [Der Jäger]S U hat [den Fuchs]D O getötet. POL b. [Myśliwy]S U zabił [lisa]D O . UNG c. [A vadász]S U megölte [a rókát]D O . (44) FRA a. [Il]S U [l’]D O a tué. ENG b. [He]S U killed [him]D O .

B2 Kategorisierungen

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Zudem variieren die angewandten formalen Mittel: Nominativ- vs. Akkusativformen des Artikels (DEU : der, NOM .SG .M vs. den, AKK .SG .M ); unmarkierte Formen vs. mit Akkusativsuffix gekennzeichnete Substantivformen (POL: lis-a, AKK zu LIS , M ‚Fuchs‘; UNG: róká-t, AKK zu RÓKA ‚Fuchs‘ vs. myśliwy (Grundform zu MYŚLIWY ‚Jäger‘) und vadász (Grundform zu VADÁSZ ‚Jäger‘)); Gegenüberstellung lexikalisierter Pronominalformen (FRA, ENG). Der Nominativ stellt in einer Sprache mit akkusativischer Kasusmarkierung den unmarkierten Kasus dar (→ B2.4.2.3.2). (Das Fehlen formaler Kennzeichen ist keine notwendige Eigenschaft, wenn es auch in diesem Kasus am ehesten zu erwarten ist.) Formen im Nominativ sind von Formen ohne Kasusspezifikation (kasusindifferente Formen) wie den Substantivformen des Französischen und Englischen zu unterscheiden. Kasusindifferenz liegt im Französischen nicht nur bei Adjektiven und Substantiven und vielen Pronomina vor, sondern auch bei den sogenannten disjunkten Formen der Personalpronomina wie moi ‚ich‘, toi ‚du‘ usw.; → B1.5.3.2. Mit Bezug auf das Englische wird das Verhältnis von Nominativ und Akkusativ unterschiedlich beurteilt. Die Verwendungsbedingungen sind teilweise unscharf und Gegenstand normativer Debatte; vgl. geläufiges It is meA K K ‚Ich bin’s‘ vs. It is IN O M gemäß traditioneller Normierung. Empirische Befunde liefert Quinn (2005). Ganz unzweifelhaft ist die Geltung des Nominativs nur, wo ein alleinstehendes Pronomen als Subjekt adjazent zu einem finiten Verb steht (Huddleston/Pullum 2002: 463; Biber et al. 2006: 340) wie in (44b). Der vergleichsweise breite Anwendungsspielraum der Akkusativformen, der neben Verwendungen als direktes und indirektes Objekt und als Komplement zu Präpositionen auch solche bei Prädikativen, in peripheren und syntaktisch nicht integrierten Nominalen wie in Who’s there? – MeA K K ‚Wer ist da? – Ich‘, nach as und than und, wenigstens umgangssprachlich, bei komplexen Subjekten einschließt (wie in MeA K K and my wife went to the concert ‚Ich und meine Frau sind ins Konzert gegangen‘), wird häufig zugunsten der Annahme angeführt, dass der Akkusativ als ‚elsewhere‘-Kasus (oder als ‚unmarkierter‘ Kasus) anzusehen sei. Strang (1962: 101 f.) unterscheidet bei Personalpronomina „subjective forms“ (Nominativ), „unmarked forms“ (Akkusativ) und „genitive forms“ (Genitiv); ähnlich Dixon (2005: 20). Nach Blevins (2006) handelt es sich bei der Unterscheidung I/me (und ebenso in den übrigen entsprechenden Fällen) nicht um eine Kasusunterscheidung. Die Unterscheidung sei vielmehr mit der im Französischen gegebenen Unterscheidung von Subjektklitika und disjunkten Pronomina zu vergleichen; siehe dazu auch schon von Wartburg (1970), der die Entwicklungen im Englischen und Französischen in Parallele setzt. Wir können jedoch beobachten, dass eine Form wie ENG me einen Anwendungsbereich abdeckt, der (in groben Zügen) dem von FRA moi und me zusammengenommen entspricht. Für die Bestimmung der relativen Markiertheit ist die geringere oder größere Vielfalt der Anwendungskontexte nur ein möglicher Gesichtspunkt. Für die vorliegende vergleichende Betrachtung ist wesentlich, (i) dass die NOM - AKK - Differenzierung im Englischen dem vorausgesetzten Kasusbegriff entspricht, so dass (entgegen Hockett  

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B Wort und Wortklassen

1947: 343) tatsächlich von einem Kasussystem gesprochen werden kann; und (ii) dass das Verhältnis von Nominativ und Akkusativ im Englischen der für akkusativische Systeme konstitutiven Konstellation entspricht (→ B2.4.2.3.2). Es ist nicht zweifelhaft, dass die Verteilung von Formen wie he (als Subjektform in intransitiver und transitiver Konstruktion) gegenüber him (als Objektform) das Muster akkusativischer Kasusmarkierung erfüllt. Als unmarkierter Kasus ist der Kasus des einzigen Komplements einstelliger Verben zu betrachten. Dass darüber hinaus ein niederrangiger Kasus einen weitreichenden Anwendungsspielraum hat, ist für derartige ‚kleine Kasussysteme‘ wie das des Englischen typisch (vgl. Arkadiev 2009); vgl. auch allgemein Blake (2001: 157) zu niederrangigen Kasus als ‚elsewhere‘-Kasus.

B2.4.3.2.2 Dativ B2.4.3.2.2.1 Einleitung Wie in allen betrachteten Sprachen eine NOM - AKK -Unterscheidung vorhanden ist, sind auch in allen betrachteten Sprachen Kasusformen vorhanden, die im Funktionsbereich des Dativs zur Anwendung kommen. Dagegen ist nicht in allen Vergleichssprachen ein besonderer Kasus Dativ vorhanden. Der Dativ kann einerseits mit dem Akkusativ zusammenfallen, andererseits mit dem Genitiv. Hier erweist sich die Unterscheidung der Varianzparameter ,Geltungsbereich‘ und ,Gliederung‘ als wesentlich. DEU (45a) zeigt die Auszeichnung des Personalpronomens (im Maskulinum Singular) in der Funktion als indirektes Objekt durch eine Dativform (ihm). Die polnischen, ungarischen und französischen Gegenstücke (45b, c, d) zeigen in entsprechender Funktion ebenfalls Dativformen des Personalpronomens der 3. Person (POL: mu; UNG: neki; FRA: lui), also Kasusformen für das indirekte Objekt, die sich von den Nominativ- und Akkusativformen unterscheiden (vgl. POL: on, NOM .SG .M bzw. go, AKK .SG .M ; UNG: ő, NOM .SG bzw. őt, AKK .SG ; FRA: il, NOM .SG .M bzw. le, AKK .SG .M ). (45) DEU POL UNG FRA ENG

a. b. c. d. e.

[Sie]S U hat [ihm]I O [eine Uhr]D O gegeben. Dała [mu]I O [zegarek]D O . [Egy órát]D O adott [neki]I O . [Elle]S U [lui]I O a donné [une montre]D O . [She]S U gave [him]I O [a watch]D O .

Im Englischen unterscheidet sich dagegen die Form des maskulinen Personalpronomens, die in (45e) in der Funktion als IO / REZIPIENT erscheint (him), nicht von der Form, die in (44b) als DO / PATIENS fungiert. Welche von zwei NPs in Objektfunktion bei Verben mit der Semantik von GEBEN die Rolle des Rezipienten verkörpert, kann im Allgemeinen, auch wo eine formale Unterscheidung zweier Objektkasus fehlt, kaum zweifelhaft sein, da es sich in aller Regel beim Rezipienten um eine Person, bei der anderen Objekts-NP um die Bezeich-

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B2 Kategorisierungen

nung einer Sache handeln wird (wie in den gegebenen Beispielen). Andererseits kommen Personenbezeichnungen (oder Bezeichnungen für Belebtes) ebenso als Nominale in SU -Funktion und in DO - Funktion in Betracht. Eine diskriminative Funktion kommt der IO - Markierung daher vor allem gegenüber dem Subjekt zu, und tatsächlich werden in allen betrachteten Sprachen SU - Kasusformen (Nominativformen) und IO -Kasusformen formal unterschieden, sei es, dass es sich um einen Akkusativ (wie im Englischen), einen Dativ wie im Deutschen oder einen Genitiv (wie, nach traditioneller Terminologie, im Griechischen) handelt. Wegen der Beschränkung von Objektmarkierung auf Pronomina verbunden mit dem durchgehenden Fehlen einer Differenzierung von direktem und indirektem Objekt durch Kasus kommt dem Mittel der Kasusauszeichnung für die Identifizierung der syntaktischen Funktionen der Verbkomplemente im Englischen insgesamt nur eine vergleichsweise geringe Leistung zu. Dementsprechend spielen alternative Mittel zur Komplementmarkierung eine wichtige Rolle. Im Englischen greift auch bei der Auszeichnung des indirekten Objekts (wie im Falle der SU - DO - Unterscheidung) die relative Positionierung (‚Wortstellung‘) von Verb und Komplementen. Das indirekte Objekt steht wie das direkte Objekt in aller Regel postverbal, unmittelbar vor dem direkten Objekt (Jespersen 1927: 287); vgl. unten (48a). Im Deutschen kann im indirekten Objekt auch ein Partizipant erscheinen, der nicht in den Besitz des DO -Referenten gelangt, sondern dem dieser entzogen wird (jemandem etwas nehmen). Die relevante semantische Rolle ist dann die ‚Konverse‘ zu der des Rezipienten, und die betreffende Verwendung kann insofern als eine Erweiterung des REZIPIENTEN -Dativs angesehen werden. Diachron ist in verschiedenen indoeuropäischen Sprachen, so im Germanischen und Slawischen, „die Konstruktion der Verba des Gebens […] auf die des Nehmens [übertragen worden]“ (Delbrück 1893: 281). Im Gotischen ist der Dativ bei Verben wie NIMAN , ROUBÔN , STILAN noch nicht belegt (Mensing 1898: 251).

Entsprechende IO -Konstruktionen finden sich auch im Französischen und Polnischen; vgl. (46). (46) DEU a. [Sie]S U hat [ihm]I O [die Uhr]D O gestohlen. POL b. Ukradła [mu]I O [zegarek]D O . FRA c. [Elle]S U [lui]I O a volé [sa montre]D O . Dagegen erscheint im Ungarischen die „Herkunftsbestimmung“ (Tompa 1972: 64) bei Verben wie den Entsprechungen zu DEU RAUBEN , ENTNEHMEN , ENTST ENT STAMMEN AMMEN nicht als Komplement im Dativ, sondern steht gewöhnlich im Ablativ; vgl. z. B. (EL )LOP ‚stehlen‘ (László/Szanyi 1991: s. v.) wie in Pénzt lopott tőlem ‚Er/Sie hat mir Geld gestohlen‘ mit tőlem, 1SG .ABL ‚von mir‘. Vgl. auch Paraszti családból származom ‚Ich stamme aus einer bäuerlichen Familie‘ mit dem Elativ (-ból) (Tompa 1968: 266).  



958

B Wort und Wortklassen

Ebenso ist eine Konstruktion mit einer possessiven Substantivform möglich wie in A férfi ellopta kézitáskámat ‚Der Mann hat meine Handtasche gestohlen‘ mit kézitáskámat, 1SG .AKK ‚meine Handtasche‘ zu KÉZITÁSKA ‚Handtasche‘ oder mit dem possessiven Dativ (vgl. → B2.4.3.2.2.5 (70)). Ähnlich wird im Englischen der ‚Vorbesitzer‘ bei Verben wie STEAL (Levin 1993: 128, „verbs of possessional deprivation“) gewöhnlich durch eine from-Präpositionalphrase bezeichnet wie in She stole a lot of money from him. In den slawischen Sprachen findet sich in entsprechenden Fällen teils der Dativ, teils präpositionale Markierung. Janda (1993: 114) weist auf den im Vergleich zum Tschechischen engeren Anwendungsbereich der IO -Konstruktion im Russischen hin. Die betrachteten Sprachen stimmen darin überein, dass für die Funktion des indirekten Objekts kasusmarkierte Formen zur Verfügung stehen, aber sie unterscheiden sich wiederum stark hinsichtlich der kategorial bestimmten Reichweite, die diese Unterscheidung innerhalb des nominalen Systems besitzt.

B2.4.3.2.2.2 Synthetische vs. analytische Rollenmarkierung Die Konkurrenz zwischen Kasus und Adpositionen konstituiert den Varianzparameter ‚Synthetische vs. analytische Rollenmarkierung‘, dem bei der Kennzeichnung von REZIPIENT -Nominalen besondere Relevanz zukommt. Bei der Kennzeichnung von REZIPIENT -Nominalen treten im Französischen und Englischen Präpositionen mit lokativisch-allativischen Grundbedeutungen auf, die traditionell oft als ‚analytische Kasusbildungen‘ angesehen werden. Als Mittel der REZIPIENT -Markierung findet sich im Französischen beim Verb DONNER ‚geben‘ einerseits Dativmarkierung, andererseits präpositionale Markierung mittels à ‚zu‘; vgl. (47a) mit einem Pronomen im Dativ (lui) und (47b) mit präpositionaler Konstruktion (à Marie) (Rotaetxe 1998: 417) wie in à Paris ‚in/nach Paris‘ (mit FRA à < LAT ad ‚zu‘). (Die relevanten Einheiten sind in den Beispielen in eckige Klammern gesetzt.) (47) a. Jean [lui] a donné le livre. FRA ‚Jean hat ihr/ihm das Buch gegeben.‘ b. Jean a donné le livre [à Marie]. ‚Jean hat Marie das Buch gegeben.‘ Im Englischen stehen beim Verb GIVE Konstruktionen mit und ohne präpositionale Markierung in Konkurrenz, vgl. (48). (48) a. I gave [the boy] an apple. ENG b. I gave an apple [to the boy]. c. I gave [him] an apple. d. I gave an apple [to him].

959

B2 Kategorisierungen

Konstruktionen wie in (48a, c) bezeichnen wir abkürzend als solche wie in (48b, d) als Präpositionalkonstruktionen.

IO -Konstruktionen,

Nach traditioneller Auffassung fallen unter den Begriff des indirekten Objekts im Englischen NPs wie the boy in (48a), nicht aber Präpositionalphrasen wie to the boy in (48b) (Jespersen 1927: 291); ebenso Quirk et al. (1985: 727). Eine Ausweitung des Begriffs des indirekten Objekts auf derartige Präpositionalphrasen, wie sie sich in verschiedenen Grammatiken des Englischen findet (z. B. in Zandvoort/van Ek 1969: 204 f.), scheint unangebracht, da sich die betreffenden Präpositionalphrasen syntaktisch nicht wie Kasusphrasen, sondern weitgehend wie adverbiale to-Phrasen verhalten (Miller 2002: 95–99). Biber et al. (2006: 130) verwenden den Terminus „prepositional object“ und weisen auf Abgrenzungsprobleme gegenüber „recipient adverbials“ hin; zur Ablehnung ‚analytischer Kasus‘ im Englischen siehe weiter Huddleston/Pullum (2002: 245, 457).  



Wie im Französischen tritt im Englischen eine Präposition auf, die auch mit allativischer Bedeutung (‚zu/nach‘) verwendet wird wie in He went to London ‚Er ging nach London‘. Die Präpositionen FRA à und ENG to belegen ein allgemeines Muster der Entwicklung dativischer Funktionen bei Elementen mit zunächst allativischer Funktion (vgl. Heine/Kuteva 2002: 37 f.), das weltweit (bei nicht-verwandten und nicht benachbarten Sprachen) zu beobachten ist (Aristar 1996; Newman 1996). Andere Beispiele für allativische Präpositionen aus germanischen Sprachen, die als REZIPIENT Marker an die Stelle des Dativs treten, sind aan (Niederländisch, Donaldson 2008: 73; vgl. auch Friesisch oan, Tiersma 1999: 94) und till (Schwedisch, Holmes/Hinchliffe 2008: 164; vgl. auch Dänisch til, Lundskær-Nielsen/Holmes 2011: 161). Auch das Dativsuffix des Ungarischen (-nek/-nak) geht auf ein allatives Element zurück. Als „historisch primäre Funktion“ gibt Tompa (1968: 19) „Lokalbestimmung auf die Frage In welche Richtung?“ an, wenngleich in der Gegenwartssprache nur noch „vereinzelt“ vorkommend (Tompa 1972: 118); vgl. toronynak, DAT zu TORONY ‚Turm‘ in A toronynak indultunk ‚Wir schlugen den Weg zum Turm ein‘ (ebd.); zudem bei Verben mit dem NEKIMEG Y ‚stoßen an/gegen‘ (László/Szanyi 1991: s. v.). Präfix neki- ‚hin/an‘ wie NEKIMEGY Ein Beispiel für eine Verwendung des gleichen Kasus zur Kennzeichnung des Rezipienten bei ‚geben‘-Verben und des örtlichen Ziels bietet der Dativ im Türkischen, wie (49) (Göksel/Kerslake 2005: 157) zeigt.  



(49) a. [Aysel’e]D A T anahtar verdim. TÜR ‚Ich habe Aysel Schlüssel / einen Schlüssel gegeben.‘ b. Beni [Paris’e]D A T göndediler. ‚Sie haben mich nach Paris geschickt.‘ Das Verhältnis zwischen den Dativformen Aysel’e (REZIPIENT ) und Paris’e ‚nach Paris‘ kann mit dem Verhältnis von à Marie (REZIPIENT ) zu à Paris ‚in/nach Paris‘ verglichen werden. Auch für den Dativ der indoeuropäischen Sprachen kann eine Entstehung aus einem Lokalkasus angenommen werden. Nach Kuryłowicz (1964: 190) stellt der indoeuropäische Dativ eine Abspaltung aus dem Lokativ in der Verwendung mit Personenbezeichnungen dar („an offshoot of the loc. used with personal nouns“). Der

960

B Wort und Wortklassen

Zusammenhang zwischen allativischer und dativischer Lesart liegt bei Verben des BRING EN auf der Hand; vgl. (50a). Transfers wie SENDEN oder BRINGEN (50)

a. Peter hat das Paket zur Post / zu Maria gebracht. b. Peter hat Maria / *der Post das Paket gebracht. c. Peter hat Maria das Paket gegeben.

Wenn bei einer von einem Agens bewirkten Bewegung einer Sache das Ziel der Bewegung durch Bezugnahme auf eine Person bestimmt wird, so bietet sich die Annahme an, dass die Person – als intentionsbegabtes Wesen – nicht bloß zum Zweck der Ortsangabe benannt wird, sondern als vom Geschehen betroffen, insbesondere als Rezipient des Transfers, zu betrachten ist. Die Abspaltung des Dativs vom LokativAllativ besteht dann gerade in der Fixierung der übertragenen, nicht mehr primär lokalen Lesart und der damit gewöhnlich einhergehenden Beschränkung auf personalen Bezug, die (50) zeigt. (Akzeptabel wäre Peter hat der Post das Paket gebracht allenfalls, wenn die Post als Institution – oder juristische Person – verstanden wird, die als Empfänger fungieren kann.) Im Falle von GEBEN ist (anders als bei Partikelverben wie z. B. ÜBERGEBEN AN ) keine geläufige Option für eine präpositionale Konstruktion gegeben.  

Die Verwendung der IO -Konstruktion ist im Englischen dadurch stark beschränkt, dass bei vielen in Betracht kommenden Verben, insbesondere solchen mit romanischen Wurzeln, fast immer die to-Markierung verwendet wird oder gefordert ist, wie bei EXPLAIN oder ATTRIBUTE (Jespersen 1927: 295); aber auch SAY lässt (wie auch andere ‚Verben des Sagens‘, Levin 1993: 47) nur die toKonstruktion zu (vgl. he said something to me ‚er hat etwas zu mir gesagt‘). In anderen Fällen kommt dagegen die präpositionale Markierung nicht in Betracht wie in They wished him good luck ‚Sie wünschten ihm viel Glück‘ (Quirk et al. 1985: 1209). Zu den Verben, die beide Markierungsoptionen bieten (Verben mit ‚Dativ-Alternation‘ wie GIVE / GIVE TO ‚geben‘), siehe im Einzelnen Jespersen (ebd.: 281–284) und die Verblisten bei Levin (1993: 138 et passim).

Die Konstruktionen in (48a) und (48b) werden meist als semantisch äquivalent angesehen (Biber et al. 2006: 927, „semantically equivalent patterns“; Jespersen 1927: 291, „practically equivalent“); zur Diskussion vgl. u. a. Rappaport-Hovav/Levin (2008) und die dort zitierte Literatur. Die Wahl zwischen analytischer und synthetischer REZIPIENT Markierung kann danach, wo sie besteht, durch anderweitige Gesichtspunkte, darunter solche der Informationsstruktur, bestimmt werden. Die IO -Konstruktion wird vor allem verwendet, wenn das REZIPIENT -Nominal kurz ist (Jespersen 1927: 293; Biber et al. 2006: 928), nämlich aus einem einzelnen Wort, insbesondere einem Pronomen, besteht wie in (45e). Wie in anderen germanischen Sprachen ohne AKK - DAT - Differenzierung erfolgt im Englischen Wechsel zur Präpositionalkonstruktion, wenn eine REZIPIENTEN -NP dem direkten Objekt nachgestellt wird (Huddleston/Pullum 2002: 250), während im Deutschen auch dann ein Nominal im Dativ stehen kann. Nicht möglich oder kaum akzeptabel ist die IO - Konstruktion bei Initialstellung der REZIPIENTEN -NP (vielmehr: To whom …) (Jespersen 1927: 292; Huddleston/Pullum 2002: 248 f.).  



B2 Kategorisierungen

961

Während im Englischen (bei entsprechenden Verben) eine Wahlmöglichkeit zwischen Konstruktionen mit bzw. ohne präpositionale Markierung besteht, wie in (48a) vs. (48b) bzw. (48c) vs. (48d), ist die Verteilung der beiden Markierungstypen für das dritte Argument bei Verben wie DONNER im Französischen grammatisch fixiert, wie (47) zeigt. Ein nicht-pronominales REZIPIENT -Nominal verlangt präpositionale Markierung; eine ENG (48a) entsprechende Konstruktion ist ausgeschlossen. Umgekehrt erscheinen pronominale Argumente im Französischen regelmäßig in Form klitischer Pronomina wie in (47a); die Verwendung einer Präpositionalkonstruktion würde eine kontrastive Lesart bedingen (siehe Jones 1996 250 f. zu „emphatic stress“; Perlmutter 1970: 222). Vgl. (51) (Rezac 2011: 93) (mit Großbuchstaben in der Übersetzung zur Kennzeichnung des fokussierten Elements):  

(51) a. Lucille laA K K leurD A T présentera. FRA ‚Lucille wird sie ihnen vorstellen.‘ b. Lucille laD A T présentera à elles. ‚Lucille wird sie IHNen vorstellen.‘ Nicht möglich ist jedoch die Verwendung eines klitischen Pronomens im Dativ in Verbindung mit einem klitischen Kommunikantenpronomen (Personalpronomen der 1. oder 2. Person) oder einem Reflexivpronomen im Akkusativ. In einer entsprechenden Konstellation muss eine Präpositionalkonstruktion verwendet werden (→ B2.4.3.2.4); vgl. (52) (Rezac 2011: 93):  

(52) a. *Lucille teA K K leurD A T présentera. FRA b. Lucille teA K K présentera à elles. ‚Lucille wird dich ihnen/IHNen vorstellen.‘ Zu beachten ist, dass einige Verben (wie PENSER À ) Präpositivkomplemente mit der Präposition à verlangen (vergleichbar mit DEU DENKEN AN ) wie in Je pense à lui ‚Ich denke an ihn‘; die Verwendung von Pronomina im Dativ kommt hier nicht in Betracht. Bei Sachbezug steht wie gewöhnlich das Pronominaladverb y wie in Il y pense ‚Er denkt daran‘. Da im Französischen IO - Konstruktion und Präpositionalkonstruktion in den betrachteten Fällen in ‚automatischem‘ Wechsel stehen, wird vielfach angenommen, dass die beiden Konstruktionen als unterschiedliche ‚Ausbuchstabierungen‘ der gleichen syntaktischen Grundkonstellation anzusehen seien, nämlich gleichermaßen als Realisierungen des ‚Dativs‘ (vgl. z. B. Jones 1996: 35). Aus dieser Sicht wäre die Annahme von ‚analytischen Kasus‘ zu rechtfertigen. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass die Alternation zwischen à-Präpositionalmarkierung und Dativ-- Markierung im Wesentlichen auf den Bereich der REZIPIENT - Nominale beschränkt ist: Der Verwendungsspielraum der à-Markierung umfasst verschiedene Bereiche (eingeschlossen die lokale Verwendung), für die der Dativ nicht verwen 

962

B Wort und Wortklassen

det werden kann, und umgekehrt reicht der Anwendungsbereich des Dativs (etwa als ‚freier Dativ‘) deutlich über den der à-Markierung hinaus (vgl. Haspelmath 2003, mit einer ‚semantischen Landkarte‘ zur Darstellung der unterschiedlichen Anwendungsspielräume). Im Englischen besteht keine mit der festen Regelung des Französischen vergleichbare grammatische Fixierung des Wechsels zwischen präpositionaler und non-präpositionaler Konstruktion. Wegen der (traditionell angenommenen) weitgehenden semantischen Gleichwertigkeit beider Konstruktionen sind jedoch auch hier, wenngleich mit weniger Recht, Analysen vorgeschlagen worden, die (im Rahmen der generativen Grammatik) eine bloß ‚oberflächliche‘ syntaktische Variation (‚DativAlternation‘) annehmen (vgl. Guéron 2006 mit Literaturhinweisen). Das Englische und das Französische – die Kontrastsprachen mit stark reduzierten Kasussystemen – unterscheiden sich vom Deutschen (sowie dem Polnischen und Ungarischen) danach durch die (unterschiedlich weit) vorangeschrittene Grammatikalisierung der mit Kasusmarkierungen konkurrierenden Präpositionalmarkierungen.

B2.4.3.2.2.3 Geltungsbereich der IO -Kasus: Überblick Die Vergleichssprachen besitzen, mit Ausnahme des Englischen, einen Dativ, der als IO - Kasus fungiert; im Englischen übernimmt diese Funktion der Akkusativ. Der Geltungsbereich des IO -Kasus unterscheidet sich in syntaktischer und semantischer Hinsicht von Sprache zu Sprache, aber nicht beliebig. Traditionell werden verschiedene Typen des Dativs nach der ‚Enge‘ der Verbindung mit dem Verb (oder Adjektiv) unterschieden, als dessen Dependens das Nominal im Dativ fungiert. Blatz (1896: 418) unterscheidet zwischen (i) dem „wesentlichen (notwendigen) Objektsdativ, der enge mit bestimmten Gattungen von Verben sich verbindet und zum vollständigen Gedankenausdruck unentbehrlich ist“ und dem „unwesentlichen oder freier angefügten Objektsdativ, der minder fest an den Verbalbegriff anschließt und von Verben beliebiger Bedeutung abhängen kann“. Der ‚wesentliche Objektsdativ‘ kann nur fehlen, „wenn die dativische Bestimmung aus dem Zusammenhang oder aus der Situation sich von selbst ergiebt“ (ebd.). Die Annahme, dass freie Dative zu ‚Verben beliebiger Bedeutung‘ treten könnten, kann so verstanden werden, dass ‚freie Dative‘ keine durch die Verbsemantik vorgegebene Argumentstelle besetzen. Sie besagt nicht, dass (im Deutschen) freie Dative jeden Typs zu jedem Verb treten könnten. Nach Curme (1922: 493) kann der Zusammenhang zwischen dem Nominal im Dativ und dem relevanten Verb (oder Adjektiv) alle Engegrade („every degree of closeness“) zeigen, angefangen vom notwendigen Komplement bis zu nahezu oder völlig unabhängigen Elementen wie im Falle des sogenannten Dativus ethicus (→ B2.4.3.2.2.6) und des Dativus Judicantis (→ B2.4.3.2.2.7). Damit ist eine Ordnung unter den verschiedenen Typen des sogenannten ‚freien‘ Dativs vorgegeben, die bei der sprachvergleichenden Betrachtung herangezogen werden kann.  

B2 Kategorisierungen

963

Die Beispiele in (53) zeigen freie Dative (hier: ihm, DAT .SG .M zum Personalpronomen der 3. Person) als indirekte Objekte bei transitiven Verben. (53)

a. b. c. d. e.

Sie hat ihm eine Uhr gekauft. Sie hat ihm einen Kuchen gebacken. Sie hat ihm die Tür geöffnet. Sie hat ihm den Koffer getragen. Sie hat ihm die Haare gekämmt.

Die Nominale im Dativ in (53) bezeichnen jeweils eine Person, die vom verbal bezeichneten Geschehen insofern betroffen ist, als das Geschehen oder sein Ergebnis das „Wohl und Wehe“ der Person in einer für diese Person relevanten Weise zu berühren geeignet ist. Dies ist insbesondere der Fall, wenn es sich um einen Vorgang handelt, der zum Nutzen (oder Schaden) der betroffenen Person initiiert wird, und daher wird die semantische Rolle des betreffenden Partizipanten gewöhnlich abkürzend als die eines Benefizienten bezeichnet (oder eines Malefizienten, wo der Prozess dem Betroffenen zum Schaden gereicht). Handelt es sich beim ‚relevanten Objekt‘ nicht um eine Person oder wenigstens um ein Lebewesen, so wird im Allgemeinen eine Präpositionalkonstruktion erforderlich (vgl. dem Sohn / für den Sohn ein Haus bauen vs. ?den Schafen / für die Schafe einen Stall bauen vs. *dem Wagen / für den Wagen eine Garage bauen, Wilmanns 1909: 663). Wir unterscheiden anhand von (53) drei Untertypen der Benefizientenrolle. (i) REZ - BEN . Bei einer naheliegenden Lesart für (53a) bezeichnet das Nominal im Dativ denjenigen, in dessen Verfügungsgewalt der DO -Referent übergehen soll (den ‚intendierten Rezipienten‘). Die entsprechende semantische Rolle bezeichnen wir hier, der neueren Literatur folgend, als die des Rezipienten-Benefizienten (REZ - BEN ) (Kittilä 2005: 271, „recipient-beneficiary“); vgl. die Beiträge in Zúñiga/Kittilä (Hg.) (2010). (ii) POR - BEN . In (53e) bezeichnet das Nominal im Dativ denjenigen, dem der DO Referent „gehört“ (den ‚Possessor‘). Die entsprechende semantische Rolle wird im Folgenden als die des Possessor-Benefizienten (POR - BEN ) bezeichnet. Traditionell wird diese Verwendung des Dativs als possessiver Dativ (Dativus possessivus) oder als Pertinenzdativ (Duden-Grammatik 2009: 818) bezeichnet. (iii) BEN . Die Rolle des reinen Benefizienten (BEN ) ist gegeben, wenn der Benefizient weder Rezipient noch Possessor ist wie in (53c); Kittilä (2005: 271, „(pure) beneficiary“). Traditionell deckt der Terminus ‚Dativus (In-)Commodi‘ Verwendungen zur Bezeichnung der BEN - und der REZ - BEN -Rolle ab. Die verschiedenen Rollen sind nicht immer sicher zu trennen; von einer strikten Scheidbarkeit kann nicht ausgegangen werden (IDS-Grammatik 1997: 1337). Für Fälle im Schwankungs- bzw. Übergangsbereich zwischen REZ - BEN -Lesart und BEN -Lesart vgl. (53b), für Fälle zwischen BEN -Lesart und POR - BEN -Lesart vgl. (53d). Die Unschärfe der Lesartentrennung entspricht der in der Literatur zu findenden Vielfalt der Gliederungsvorschläge und Terminologien.

964

B Wort und Wortklassen

Auf dieser Grundlage kann die Darstellung der Geltungsbereiche und Gliederungen der Kasussysteme, die in Abbildung 5 gegeben wurde, für den Bereich der IO Kasus transitiver Verben wie in Abbildung 6 weiter ausdifferenziert werden.

Abb. 6: Kasussysteme. Geltungsbereiche von IO - Kasus  

In Abbildung 6 sind im Kopf der Tabelle wiederum Kombinationen aus semantischen Rollen und syntaktischen Funktionen angegeben. Im Vergleich zu Abbildung 5 ist der IO - Bereich unter Bezugnahme auf die drei angegebenen BENEFIZIENTEN - Typen aufgeschlüsselt. Die Kombination IO / REZIPIENT steht für den ‚notwendigen Dativ‘, wobei REZIPIENT die typische (aber nicht die einzige in Frage kommende) semantische Rolle bezeichnet. Die Balken im Hauptteil der Tabelle zeigen die unterschiedlichen Anwendungsbereiche derjenigen Kasus an, die in den betreffenden Sprachen die Kombination IO / REZIPIENT abdecken. Im Englischen fungiert der Akkusativ, wie dargelegt, als Kasus des direkten und des indirekten Objekts; im Bereich der freien Dative deckt er zudem Verwendungen als Rezipient-Benefizient (REZ - BEN ) ab. Im Deutschen und den übrigen Vergleichssprachen erstreckt sich der Dativ, anders als im Englischen, auch auf die weiteren BENEFIZIENTEN - Typen. Im Ungarischen fungiert der Dativ darüber AT T ) oder ‚Possessor-Kasus‘. Auch im Deuthinaus als adnominaler Attributskasus (ATT schen ist die Verwendung des Dativs als adnominaler Attributskasus (vgl. dem Vater sein Hut) weit verbreitet, gilt aber nicht als standardsprachlich (in der Grafik ist dies durch Strichelung angedeutet (Zifonun 2003c)).

B2 Kategorisierungen

965

B2.4.3.2.2.4 Benefizienten Die Erweiterung des Valenzrahmens (IDS-Grammatik 1997: 723, „Stellenaufstockung“) eines transitiven Verbs um ein nicht-gefordertes Dativobjekt ist, wie man erwarten kann, am leichtesten da möglich, wo die Verbsemantik es zulässt, für die Konstruktion als Ganze eine Lesart zu gewinnen, die derjenigen bei prototypischen dreistelligen Verben mit Dativobjekt nahekommt. Dem entspricht, dass in allen betrachteten Sprachen freie Dative die Rezipienten-Benefizienten-Rolle kodieren können. Wenn der Spielraum des freien Dativs in einer gegebenen Sprache weiterreicht, können andere Rollen hinzutreten. Als prototypisch für transitive Dativverben gelten Transfer-Verben wie insbesondere GEBEN , das ein obligatorisches Dativkomplement nimmt. Unter den Verben, die einen freien Dativ zulassen, stehen ihnen am nächsten Verben wie KAUFEN , deren Valenzrahmen kein Dativkomplement umfasst (Helbig/Schenkel 1969: s. v.; Kubczak 2010: s. v.), die aber wie die dreistelligen Transfer-Verben mit einem Nominal im Dativ verbunden werden können, das den ‚Nach-Possessor‘ des DO - Referenten bezeichnet (den Rezipienten-Benefizienten). Die Möglichkeit einer IO - Konstruktion besteht bei Verben aus dieser Gruppe in allen Vergleichssprachen; vgl. (54).  



(54) DEU POL UNG FRA ENG

a. b. c. d. e.

[Sie]S U hat [ihm]I O [eine Uhr]D O gekauft. Kupiła [mu]I O [zegarek]D O . [Egy órát]D O vett [neki]I O . [Elle]S U [lui]I O a acheté [une montre]D O . [She]S U bought [him]I O [a watch]D O .

In der Möglichkeit, den jeweiligen IO -Kasus nicht nur zur Kennzeichnung von Rezipienten (REZ ), sondern auch für Rezipienten-Benefizienten (REZ - BEN ) zu verwenden, stimmen alle Vergleichssprachen überein. Die Konstruktionen in (54) entsprechen genau denjenigen in (45). Im Englischen steht das indirekte Objekt wiederum im Akkusativ, sonst im Dativ. Von der Rezipientenkonstruktion im engeren Sinne, wie sie bei Verben wie GEBEN vorliegt, lässt sich die (Rezipienten-)Benefizientenkonstruktion gewöhnlich anhand der alternativ auftretenden Präpositionen unterscheiden; z. B. im Englischen for + NP gegenüber to + NP. In Konstruktionen mit einem Dativ des Rezipienten-Benefizienten können auch Verben des Herstellens einer Sache stehen (wie in jemandem ein Haus bauen). Als Beispiel können ferner Verben des Zubereitens von Speisen dienen wie BACKEN und seine Gegenstücke in (55). Wiederum konkurrieren Konstruktionen mit Adpositionen, z. B. UNG számára oder részére (beide: ‚für‘) (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 193, 208; Tompa 1972: 52).  



966

(55) DEU POL UNG FRA ENG

B Wort und Wortklassen

a. b. c. d. e.

[Sie]S U hat [ihm]I O [einen Kuchen]D O gebacken. Zrobiła [mu]I O [ciasto]D O . [Tortát]D O sütött [neki]I O . [Elle]S U [lui]I O a fait [un gâteau]D O . [She]S U baked [him]I O [a cake]D O .

Mit Bezug auf das Englische ist in der Literatur vielfach herausgestellt worden, dass bei standardsprachlichem Gebrauch die in (54e) und (55e) gezeigte Konstruktion – bei BUIL D ‚bauen‘ ein der ein transitives Verb wie etwa BUY ‚kaufen‘, BAKE ‚backen‘ oder BUILD nicht im Valenzrahmen verankertes indirektes Objekt zu sich nimmt – in der Regel nur verwendet wird, wenn die Rolle des betreffenden Partizipanten die eines RezipientenBenefizienten (REZ - BEN ) ist; vgl. auch (56a, b). Andere Verwendungen freier Dative im Deutschen und den Kontrastsprachen haben danach im Englischen gewöhnlich keine Entsprechungen in IO -Konstruktionen, sondern zeigen präpositionale Markierungen des Benefizienten (oder gänzlich andere Konstruktionen). Siehe im Einzelnen Colleman (2010: 222) zum Vergleich Englisch vs. Deutsch, Französisch und Niederländisch und die dort angeführte Literatur, aus der Colleman die als ungrammatisch eingestuften Belege (56c, d) anführt; die Gegenstücke mit for-Phrasen sind grammatisch. (56) a. The man bought the boy an apple. ENG ‚Der Mann hat dem Jungen einen Apfel gekauft.‘ b. My wife knitted me a nice sweater. ‚Meine Frau hat mir einen schönen Pullover gestrickt.‘ c. *John opened Mary the door. ‚John hat Mary die Tür aufgemacht.‘ d. *Uncle Jim cleaned Margaret the windows. ‚Onkel Jim hat Margaret die Fenster geputzt.‘ Wie die deutschen Übersetzungen zeigen, ist die Verwendung des Dativs im Deutschen nicht in gleicher Weise beschränkt. Regional oder dialektal findet sich aber auch im Englischen ausgedehnterer Gebrauch von ‚datives‘ (Horn 2007). Zu semantisch vergleichbaren Verben, die ‚Dativ-Alternation‘ ausschließen wie z. B. ACQUIRE ‚erwerben‘ oder CONSTRUCT CONST RUCT ‚errichten‘, siehe Levin (1993: 48 f.). Eine scharfe Grenze zwischen Fällen, in denen IO -Benefizienten zugelassen sind und solchen, wo dies nicht der Fall ist, kann aber kaum angenommen werden. Wie Allerton (1978: 30) feststellt, zeigt sich bei Betrachtung der IO -Konstruktion im Englischen eine Hierarchie der Objekthaftigkeit („a scale or cline of ‘indirect-objectiness’“), die wesentlich durch die relative Nähe zum (durch Besitzwechsel gekennzeichneten) ‚geben‘-Prototyp bestimmt ist (vgl. auch Shibatani 1996). Ihm nahe stehen Fälle, bei denen neu erstellte Objekte in den Besitz des Benefizienten übergehen. Schon weiter am Rande stehen Fälle, bei denen (durch den Initiator des Pro 



B2 Kategorisierungen

967

zesses ausgewählte) Gegenstände, wenngleich schon im Besitz des Benefizienten befindlich, diesem in verbesserter Form wiedergegeben werden (und damit in neuer Form zur Verfügung gestellt werden). In anderen Fällen käme eine IO -Konstruktion im Englischen kaum oder überhaupt nicht in Frage. Dies gelte insbesondere, wenn der Nutzen für den Benefizienten sich nicht aus einem Verfügungsgewinn ergibt, sondern vielmehr aus der Tatsache, dass eine andernfalls vom Benefizienten auszuführende Handlung durch einen anderen an seiner Statt vollzogen wird, wie Allerton (1978: 30) mit (56d) belegt. Eine solche ‚substitutive‘ Benefizienten-Lesart (Nicht-RezipientenLesart) zeigt auch die deutsche IO -Konstruktion in (57a), worauf der Zusatz „BEN “ hinweist. Im englischen Gegenstück (57b) erscheint keine IO -Konstruktion, sondern eine for-Konstruktion; vgl. (57b, c). (57) DEU a. Peter trägt der Mutter den Koffer. (BEN ) ENG b. Peter carries the trunk for his mother. (BEN ) ENG c. *Peter carries his mother the trunk. (BEN ) Anhand der Verben TRAGEN und KAUFEN kann der unterschiedliche Verwendungsspielraum des IO -Kasus im Deutschen (DAT ) und im Englischen (AKK ) illustriert werden; vgl. (57) und (58) (Zimmermann 1985: 34). (58) DEU a. Peter hat der Mutter einen Koffer gekauft. (REZ - BEN oder BEN ) ENG b. Peter has bought a trunk for his mother. (REZ - BEN oder BEN ) ENG c. Peter has bought his mother a trunk. (REZ - BEN ) Für (58a) liegt eine Lesart nahe, nach der der IO -R -Referent den intendierten Empfänger des DO - Referenten (REZ - BEN ) bezeichnet. In diesem Fall ist im Englischen sowohl eine IO -Konstruktion als auch eine for-Konstruktion möglich; vgl. (58b, c). (58a) kann jedoch als ambig angesehen werden; möglich ist nach Zimmermann (1985) auch eine ‚substitutive‘ Lesart (wie bei (57a)), nach der der Nominativreferent dem Dativreferenten eine Gefälligkeit erweist; über den intendierten Besitzer wäre in diesem Fall nichts gesagt. Der Zusatz „REZ - BEN oder BEN “ verweist auf diese Ambiguität. Eine entsprechende Ambiguität kann sich nach Allerton (1978: 28) auch bei englischen for-Phrasen ergeben. Uncle Jim cooked a meal for Margaret ‚Onkel Jim hat für Margaret ein Essen gekocht‘ kann besagen, dass das Essen für Margaret bestimmt ist oder dass Margaret die Aufgabe abgenommen wurde, das Essen zu kochen. Entsprechend ergeben sich auch für (58b) zwei Lesarten. Im Falle der englischen IO -Konstruktion (58c) steht dagegen nur die REZ - BEN - Lesart zur Verfügung; die BEN - Lesart ist wiederum ausgeschlossen (wie in (57c)). Die Annahme, dass (58a) und ebenso (58b) als ambig zu betrachten sind, sieht Zimmermann durch den Vergleich mit dem Dänischen bestätigt; danach ist DÄN (59c)

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B Wort und Wortklassen

wie sein englisches Gegenstück (58c) auf die REZ - BEN - Lesart beschränkt. Bei präpositionaler Konstruktion können die BEN - und die REZ - BEN -Lesarten durch verschiedene Präpositionen unterschieden werden; vgl. (59a, b). (59) a. Peter har købt en kuffert til moderen. (BEN ) DÄN b. Peter har købt en kuffert for moderen. (REZ - BEN ) c. Peter har købt moderen en kuffert. (REZ - BEN ) Wie das Deutsche lassen das Französische, das Polnische und das Ungarische freie Dative in der Funktion reiner Benefizienten (Non-Rezipienten-Benefizienten) zu. Die für das Englische geltenden Beschränkungen für indirekte Objekte gelten für das Französische nicht; vgl. (60) (Roberge/Troberg 2007: 3 f.). (Die englischen Gegenstücke würden präpositionale Konstruktionen erfordern.)  

(60) a. Jean [lui]I O a ouvert la porte. FRA ‚Jean hat ihm/ihr die Tür geöffnet.‘ b. Jean [lui]I O a tenu le sac. ‚Jean hat ihm/ihr die Tasche gehalten.‘ Die Reichweite des freien Dativs kann auch im Französischen anhand der relativen Nähe zum ‚geben‘-Prototyp beschrieben werden. Die in einem Teil der Literatur zum Französischen verwendete Bezeichnung des freien Dativs als ‚datif étendu‘ (gegenüber dem ‚datif lexical‘, bei dem das Dativkomplement im Valenzrahmen des Verbs verankert ist) charakterisiert jenen schon terminologisch deutlich als sekundär; vgl. etwa Leclère (1978) oder Riegel/Pellat/Rioul (2014: 407). Barnes (1985: 173) stellt eine Staffelung anhand der Akzeptabilitätsbewertungen bei verschiedenen Sprechern fest. Danach werden Verwendungen, bei denen das Pronomen im Dativ den RezipientenBenefizienten bezeichnet wie in (61a), allgemein akzeptiert. (61) a. Ma sœur m’a fait ces robes. FRA ‚Meine Schwester hat mir diese Kleider gemacht.‘ b. ?Je dois lui ranger ma chambre. ‚Ich muss ihm (für ihn) mein Zimmer aufräumen.‘ c. ?Il lui a goûté le vin. ‚Er hat ihm (für ihn) den Wein probiert.‘ d. ?Paul lui a enfin écouté cette symphonie. ‚Paul hat ihm (ihm zuliebe) schließlich diese Symphonie angehört.‘ Nur ein Teil der Sprecher akzeptiere ‚substitutive‘ Lesarten wie in (61b, c), eher am Rande stünden Verwendungen, bei denen die in Frage stehende Handlung dem Benefizienten in anderer Weise ‚gefällig‘ wäre. Auch die in (61b, c, d) gegebenen deutschen Entsprechungen sind (mit Dativ) bestenfalls höchst fragwürdig.

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B2 Kategorisierungen

Eine Abstufung zeigt sich auch bei Präpositionalkonstruktionen des Typs à + NP. Durchgehend unzweifelhaft als akzeptabel werden nur Verwendungen angesehen, bei denen à + NP mit einem ‚datif lexical‘ alterniert; vgl. (62) (Jones 1996: 292 f.).  

(62) a. Je lui ai donné une tranche de pain. FRA ‚Ich habe ihm eine Scheibe Brot gegeben.‘ b. J’ai donné une tranche de pain à Pierre. ‚Ich habe Pierre eine Scheibe Brot gegeben.‘ c. Je lui ai coupé une tranche de pain. ‚Ich habe ihm eine Scheibe Brot abgeschnitten.‘ d. ?J’ai coupé une tranche de pain à Pierre. ‚Ich habe Pierre eine Scheibe Brot abgeschnitten.‘ Im Falle des dreistelligen Verbs DONNER ist eine Besetzung des dritten Arguments mit einer à-Phrase wie in (62b) unauffällig, während die Urteile über die Akzeptabilität von (62d) uneinheitlich ausfallen (ebd.). Freie Dative können im Allgemeinen nicht durchgehend durch à+NP-Konstruktionen ersetzt werden; vgl. auch (63) (Barnes 1985: 180). (63) a. On lui a construit une maison. FRA ‚Man hat ihm ein Haus gebaut.‘ b. On a construit une maison pour Jean . c. ?On a construit une maison à Jean. Soweit Verwendungen wie (63c) akzeptiert werden, gelten sie nach Barnes (ebd.) als ‚familier‘ oder ‚très familier‘. Zudem ist nach Barnes die Verwendung von à + NP in Alternation mit einem Dativ-Pronomen wie in (63c) nur in einer Struktur des Typs V + NP 1 + à NP2 möglich, also nur neben einem direkten Objekt, somit gerade dann, wenn die Konstruktion dem Vorbild folgt, wie es bei dreistelligen Verben vorliegt (wie in (62a)); siehe aber auch Boneh/Nash (2013). Beispiel (64a) wird von Roberge/Troberg (2007) als ungrammatisch ausgewiesen. Eine korrekte Variante zu (64a) ergibt sich, wenn pour + NP statt à + NP verwendet wird. (64) a. *Il a lavé la voiture à Lisa. FRA b. Il a lavé la voiture pour Lisa. ‚Er hat das Auto für Lisa gewaschen.‘ Im Ungarischen können Konstruktionen mit freien Dativen auf der Basis semantisch geeigneter transitiver Verben wie im Deutschen produktiv gebildet werden. (65a, b) (Wunderlich 2002) können mit (45c), einer Konstruktion mit ‚geben‘-Verb, verglichen werden.

970

B Wort und Wortklassen

(65) a. Megtaláltam [neki] a helyesírási hibákat. 3SG .DAT DEF Rechtschreibfehler.PL .AKK UNG auffinden.PRT .1SG ‚Ich habe ihm die Rechtschreibfehler rausgesucht.‘ b. Megjavította [nekem] a feleségem szemüvegét. Ehefrau.1SG Brille.3SG .AKK reparieren.PRT .3SG .DEF 1SG .DAT DEF ‚Er hat mir die Brille meiner Frau repariert.‘ Beispiele für freie Dative aus dem Polnischen bietet (66) (Wierzbicka 2009: 160). (66) a. Piotr umył [mu]I O filiżankę. POL ‚Peter hat ihm eine Tasse abgewaschen.‘ b. Piotr otworzył [mu]I O drzwi. ‚Peter hat ihm die Tür geöffnet.‘ Zum Dativ im Polnischen siehe auch Dąbrowska (1997) sowie Dąbrowska (1994b) zum Vergleich mit dem Englischen. Im Polnischen konkurrieren Dativkonstruktionen mit Präpositionalkonstruktionen mit der Präposition dla + Genitiv; vgl. (67) (Swan 2009: 16). (67) a. Pozmywałem [ci]D A T naczynia. POL ‚Ich habe dir das Geschirr abgewaschen.‘ b. Zrób to [dla mnie]P P . ‚Tu das für mich.‘

B2.4.3.2.2.5 Possessive und adnominale Dative Ein Benefizient, der kein Rezipient ist, kann typischerweise der Besitzer des DO Referenten sein, vgl. die polnischen Beispiele (68) und (69) (Rudzka-Ostyn 1996: 340, mit den dort gegebenen englischen Übersetzungen). (68) POL

mieszkanie. Osoba ta sprząta [nam]I O DEM putz.3SG 1PL .DAT Wohnung Person ‚Diese Person putzt uns die Wohnung.‘ ‚This person cleans our apartment (for us).‘

(69) POL

Jan naprawi [Ewie]I O radio. ‚Jan wird Ewa das Radio reparieren.‘ ‚John will repair Ewa’s radio (for her).‘

Nach der IDS-Grammatik (1997: 1338) ist die hier gegebene Pertinenzrelation als „ein zusätzlicher interpretatorischer Effekt“ anzusehen. Ebenso argumentieren für das Polnische anhand von reichem Belegmaterial Frajzyngier/Shay (2003). Der Possessor-

971

B2 Kategorisierungen

Dativ ergibt sich danach aus dem Zusammenspiel des Dativs (in der Verwendung zur Bezeichnung des ‚indirekt Betroffenen‘) und der lexikalischen Semantik der Bezeichnung des Patiens. In Sprachen wie dem Ungarischen, wo keine formale Dativ-Genitiv-Differenzierung gegeben ist, zeigt sich ein Übergang zwischen adverbalem possessivem Dativ und adnominalem Dativ, also dem Dativ als Attributskasus. Im Ungarischen, das keinen besonderen Genitiv besitzt, können possessive Attribute bezüglich Kasus unmarkiert bleiben (und daher im Nominativ erscheinen) oder im Dativ stehen (→ D3.5). Bei der Übersetzung der Konstruktion mit dativischem Possessor ins Deutsche kommt die Verwendung einer Konstruktion mit attributivem Genitiv in Betracht, aber auch die Verwendung einer Konstruktion mit Benefizienten- (oder Malefizienten-)Dativ (im Einzelnen → D1.2.3.3); vgl. (70) (É. Kiss 2002: 172).  

(70) UNG

A

fiú-k-nak ellopták a Junge-PL - DAT stehl.PRT .3PL .DEF DEF ‚Der Ball [der Jungen]G E N .P L wurde gestohlen.‘ (‚[Den Jungen]D A T .P L wurde der Ball gestohlen.‘) DEF

labdájukat. Ball.3PL .AKK

Unter Bezug auf Beispiel (71) wertet Tompa das Nominal mit dem Dativsuffix -nAk ausdrücklich als „ein Satzglied von Übergangscharakter zwischen dem Possessivattribut und dem Dativ des Besitzers“ (Tompa 1968: 248). (71) UNG

A

brigádnak [a] vetélytársa volt a ti Brigade.DAT DEF Konkurrent.3SG war DEF 2PL ‚Eure Arbeitsgruppe war Konkurrentin der Brigade.‘ DEF

munkacsoportotok. Arbeitsgruppe.2PL

Die Verwendung des Dativs zur Markierung des Possessivattributs im Ungarischen wird meist als Ergebnis einer Reanalyse betrachtet, bei der ein adverbaler Benefizienten-Dativ zu einem adnominalen Attribut umgedeutet worden ist (Károly 1972: 125; auch Bárczi 2001). Entsprechendes gilt für die umgangssprachliche Konstruktion mit adnominalem possessivem Dativ im Deutschen (wie in dem Vater sein Hut) (Paul 1919: 326, „Gliederungsverschiebung“). Zum Ungarischen vgl. auch Wunderlich (2002). Ein Beispiel für eine Sprache, in der umgekehrt der primär attributive Genitiv auf die adverbale possessive Verwendung ausgedehnt worden ist (so dass sich im Ergebnis wiederum ein Dativ-Genitiv findet), bietet das Griechische. Im Griechischen fungiert der in den Grammatiken (mit Rücksicht auf die Diachronie) Genitiv genannte Kasus zum einen als adnominaler Kasus (possessives Attribut) wie in το σπίτι [της Λουκίασ]G E N ‚das Haus der Lucy‘, d. h. ‚Lucys Haus‘ (Holton/Mackridge/PhilippakiWarburton 2012: 339), zum anderen als adverbaler Kasus mit dativischen Funktionen, darunter die Verwendung als Kasus des indirekten Objekts bei ΔΊΝΩ ‚geben‘ wie in (72a). Der Genitiv kennzeichnet ebenso den Benefizienten/Malefizienten wie in (72b,  

972

B Wort und Wortklassen

c) und übernimmt weitere ‚dativische‘ Funktionen (etwa als Ethicus); vgl. Holton/ Mackridge/Philippaki-Warburton (ebd.: 337 f., 251).  

(72) GRI

a. Το έδωσε [της Κατερίνας]G E N . ‚(Er/Sie/Es) gab es der Katerina.‘ b. [Μου]G E N κλέψανε το αυτοκινητο. ‚Mir haben sie das Auto gestohlen.‘ c. [Του]G E N κόψανε το χέρι. ‚Ihm haben sie die Hand/den Arm abgeschnitten.‘ d. Χθες πήραν [της Ελένης]G E N το πορτοφόλι. ‚Gestern haben sie Helenas Portemonnaie (weg)genommen.‘ ‚Gestern haben sie Helena das Portemonnaie (weg)genommen.‘

Es konkurrieren präpositionale Konstruktionen, etwa mit σε ‚zu/an/in‘, ggf. mit dem Artikel verschmolzen, για ‚für‘ oder από ‚von‘. In (72a) könnte der Genitiv durch στην (< σε + την) Κατερίνα ‚an/zu Katerina‘ ersetzt werden; vgl. (mit lokaler Lesart) στην Αθήνα ‚in/nach Athen‘. Ambige Konstruktionen, in denen der Genitiv entweder adnominal oder adverbal gelesen werden kann, sind möglich; vgl. (72d) (ebd.: 191). Im vorliegenden Fall könnte die verbbezogene Lesart durch eine präpositionale Konstruktion eindeutig gekennzeichnet werden (από την Ελένη ‚von der Helena‘, mit από ‚von‘ + AKK ); vgl. auch König/Haspelmath (1998: 554 f.). Der Geltungsbereich des Dativs kann sich, ausgehend von der Rezipienten-Markierung entlang bekannter Grammatikalisierungspfade (Rezipient-Adressat-BenefizientPossessor), verschieden weit erstrecken. Die deutsche dem-Vater-sein-Hut-Konstruktion steht am Ende dieses Pfades, wo der adverbale Dativ zum adnominalen Possessorattribut wird. Für das Ungarische wird, wie angegeben, angenommen, dass hier der Übergang zur Ausweitung des Dativs auf die Genitivfunktion liegt. Das Griechische ist im Vergleich instruktiv, weil hier der umgekehrte Übergang stattgefunden hat (Horrocks 2010: 284). Der ursprüngliche adnominale Genitiv hat sich über die gleiche Brücke zum Dativ entwickelt (mit starker Konkurrenz präpositionaler Markierung).  

B2.4.3.2.2.6 Dativus ethicus Hinzuweisen ist hier noch auf besondere Verwendungen des Dativs, bei denen (nichtattributive) NPs im Dativ nicht als Verbkomplemente (nicht als Objekte) fungieren. Darunter fallen nach traditioneller Einteilung der sogenannte Dativus ethicus und der Dativus Judicantis (→ B2.4.3.2.2.7). Der sogenannte Dativus ethicus stellt eine besondere Verwendung der Kommunikantenpronomina im Dativ dar, vgl. (73) (DudenGrammatik 2009: 264, 820). (73)

a. Das war mir vielleicht ein komischer Traum! b. Du bist mir ein Schlingel!

973

B2 Kategorisierungen

c. Das war dir vielleicht ein Blödsinn! d. Komm mir ja nicht zu spät! e. Mach uns keine Dummheiten! Die Bezeichnung ist aus den Grammatiken der klassischen Sprachen (Altgriechisch, Latein) entnommen. Nach traditioneller Charakterisierung (vgl. z. B. Blatz 1896: 423) bringt der Dativus ethicus eine (nicht weiter bestimmte) emotionale Anteilnahme zum Ausdruck, die der Sprecher dem bezeichneten Geschehen entgegenbringt oder die er beim Adressaten erwartet oder hervorrufen möchte (Grevisse/Goosse 2011: 556). Ähnlich charakterisiert Rákosi (2008: 414) den Dativus ethicus für das Ungarische. Entsprechende Konstruktionen finden sich in verschiedenen romanischen und slawischen Sprachen (zum Slawischen vgl. Börger 2008). Der Terminus wird auch in der Grammatik des Hebräischen verwendet (z. B. Meyer 1972: 81; vgl. Berman 1982 zum Modernen Hebräisch). Präzise Feststellungen zu unterschiedlichen Verwendungen in verschiedenen Sprachen sind aufgrund der zugänglichen Beschreibungen kaum zu treffen. Wir beschränken uns auf die Wiedergabe einiger relevanter Hinweise. Vgl. aber zum Dativus ethicus im Deutschen Wegener (1985: 50 f. et passim). Wegener (ebd.: 51) unterscheidet für das Deutsche zwei Verwendungstypen des Dativus ethicus, zum einen in Ausrufesätzen (mit dem Dativ der 1. oder 2. Person) wie in (73a, b, c), zum anderen in Aufforderungssätzen (nur mit dem Dativ der 1. Person) wie in (73d, e). Die durch die Kennzeichnung der emotionalen Anteilnahme ausgedrückte Nuancierung der Äußerung kann in verschiedenen Kontexten (und in verschiedenen Sprachen) unterschiedlich ausfallen, doch liegen dazu kaum präzise Beschreibungen vor.  







Aufforderungen können zu Bitten abgemildert werden (vgl. Morwood (2001) zum Dativus ethicus als Höflichkeitsdativ oder „polite dative“ im Altgriechischen) oder erhöhten Nachdruck erhalten, so Gutzmann (2007 mit weiterer Literatur) zum Gegenwartsdeutschen und ebenso Tompa (1968: 285) zum Ungarischen: Das Verlangen, der betreffenden Aufforderung tatsächlich nachzukommen, wird unterstrichen. Feststellungen, insbesondere als Ausrufe, können durch die Kennzeichnung ihrer emotionalen Relevanz für die Kommunikanten als Ausdruck persönlicher Reaktionen oder Bewertungen charakterisiert werden, etwa als Ausdruck von Überraschung (Smyth 1920: 343, zum Altgriechischen); vgl. Riegel/Pellat/Rioul (2014: 407) zum Dativus ethicus im Französischen (unter „les phrases exclamatives et les constructions appréciatives“). Börger (2008) schreibt dem Dativus ethicus darüber hinaus die Funktion zu, den Status der Kommunikanten anzuzeigen.

Mit Bezug auf das Deutsche und Polnische stellen Engel et al. (1999: 239, 363) heraus, dass Mitteilungen durch den Dativus ethicus zugleich als „Wunsch, Warnung, Ausdruck der Besorgnis u. a.“ charakterisiert werden; die Hauptverwendung sei aber die in Aufforderungen wie in (74).  

(74) a. Nie wychodźcie miD A T NEG hinausgeh.IMP .2PL 1SG .DAT POL ‚Geht mir nur nicht aus dem Haus!‘

tylko z nur aus

domu! Haus.GEN

974

B Wort und Wortklassen

b. Żebyś miD A T się tylko nie 1SG .DAT REFL nur NEG dass.2SG ‚Dass du mir nicht zu spät kommst!‘

spóźnił! verspät.PRT .M

Zum Polnischen vgl. auch Kuraszkiewicz (1981: 108), der auf die freie Verwendung des Reflexivpronomens sobie in ‚expressiver‘ Funktion verweist (Rudzka-Ostyn 1996: 374–382), die in polnischen Grammatiken manchmal als Dativus ethicus bezeichnet wird, z. B. in Małecki (1863: 207); vgl. dazu auch Swan (2002: 353). Traditionell als Dativus ethicus klassifizierte Verwendungen von Reflexiva finden sich auch in anderen slawischen Sprachen (wie Bulgarisch und Russisch), vgl. Börger (2008). Engel et al. (1999: 1185) führen Verwendungen von polnischen 2SG .DAT Formen (ci) in Verbindung mit a to ‚aber das‘ („vorzugsweise in ironischen Äußerungen“) wie in A to ciD A T przyjaciel! ‚Das ist (dir) aber mal ein Freund!‘ als Fälle des Dativus ethicus an. Skibicki (2006: 253) betrachtet ci hier als „verstärkende Partikel ohne eine eindeutige Bedeutung“; formelhafte Verfestigung von a to ci belegt auch A to ci dopiero! ‚Na so was!‘. Eine ‚expressive‘ Verwendung des Dativs der 2SG -Form in ironischer Wendung, die Kuraszkiewicz (1981: 108) in diesen Zusammenhang stellt, zeigt Ja ciD A T tam pójdę! ‚Da gehst du mir nicht hin!‘.  

Da der Sprecher mit dem Dativus ethicus insbesondere sein persönliches Interesse an der Realisierung einer von ihm selbst ausgesprochenen Aufforderung ausdrücken kann, wird der Dativus ethicus manchmal als eine Form des Commodi angesehen (Smyth 1920: 343, zum Altgriechischen). Naturgemäß ist die Verwendung wegen der emotionalen Komponente weitgehend auf die gesprochene Sprache beschränkt; daraus ergibt sich häufig eine Einstufung als ‚umgangssprachlich‘: vgl. zum Französischen Grevisse/Goosse (2011: 909, „langue familière“), Rowlett (2007: 122, Fn. 38, „characteristic of low registers and prevalent in some regional varieties“). Die zugänglichen Darstellungen zum Dativus ethicus in verschiedenen Sprachen stellen unterschiedliche kommunikative Effekte in den Vordergrund, liefern aber meistenteils keine hinreichenden Informationen, um sprachspezifische Unterschiede in Gebrauch oder Bedeutung zu präzisieren. Ein deutlicher Kontrast in der Verwendung des Dativus ethicus zeigt sich aber im Vergleich des Deutschen mit dem Französischen. Die Verwendung von Personalpronomina der 2. Person in der Funktion des Dativus ethicus dürfte im Deutschen weitgehend obsolet sein; sie stellt dagegen im Französischen den gewöhnlichen Fall dar, wobei insbesondere die Singularform te verwendet wird wie in (75) (Leclère 1976: 93). Vgl. auch Riegel/Pellat/Rioul (2014: 407).  

(75) FRA

Il te lui a donné une de 3SG .M 2SG 3SG .M hab.3SG gegeben ein von ‚Er hat ihm einen derartigen Schlag verpasst.‘

ces DEM .PL

gifles! Schlag.PL

Die Verwendung des Dativus ethicus in der 2. Person kann als Appell an die angesprochene Person verstanden werden, in die Reaktion oder das Urteil des Sprechers einzustimmen (Riegel/Pellat/Rioul 2014: 407, „une invitation directe au destinataire (littéralement pris à témoin) à s’investir affectivement dans l’action decrite“), ebenso Jones (1996: 300). Leclère (1976) erörtert im Einzelnen den Zusammenhang mit der

B2 Kategorisierungen

975

(nicht an den Dativ gebundenen) generischen Verwendung des Personalpronomens der 2. Person (annähernd im Sinne von ‚man‘), die im heutigen gesprochenen Französischen besonders häufig ist, da das indefinite on ‚man‘ weitgehend zum informellen -Form (nous) geworden ist (→ B1.5.2.5). Ersatz für die 1PL -F In Grammatiken des Französischen wird der Terminus datif éthique manchmal überhaupt auf die Verwendung von Pronomina der 2. Person beschränkt (Riegel/ Pellat/Rioul 2014: 407). Nach Jones (1996: 300) kommt die Verwendung von me als Dativus ethicus gelegentlich vor, doch sei die Abgrenzung vom Dativus (In-)Commodi häufig schwierig. Vgl. aber (76a) (Grevisse/Goosse 2011: 909) oder (76b) (Leclère 1976: 92), wo die Ethicus-Lesart kaum zweifelhaft ist. (76) a. Regardez-moi cette misère! Elend FRA betracht.2PL -1SG DEM ‚Seht/Sehen Sie nur dieses Elend.‘ b. Goutez-moi ce petit vin! DEM klein Wein probier.2PL - 1SG ,Probiert/Probieren Sie mir dieses Weinchen.‘ Wie (75) zeigt, ist der Dativus ethicus auch im Französischen mit anderen Dativverwendungen (hier: lui als Komplement zu DONNER ‚geben‘) kombinierbar. Der ethische Dativ unterliegt nicht den kombinatorischen Beschränkungen für Klitikacluster (→ B2.4.3.2.4) im Französischen (Jones 1996: 301). Die Syntax des Dativus ethicus ist im Übrigen im Französischen (und ebenso im Deutschen) stark beschränkt; vgl. im Einzelnen Jouitteau/Rezac (2007) zum Französischen und Gutzmann (2007) zum Deutschen. Bemerkenswert ist, dass im Französischen auch Kombinationen mehrerer Pronominalformen in Ethicus-Funktion vorkommen (siehe Grevisse/Goosse 2011: 909).  

Erstarrung des Dativus ethicus zu einer Partikel findet sich, sofern die traditionelle Etymologie zutrifft, im Falle des altgriechischen τοι ‚ja/doch/fürwahr‘, Frisk (1970: s. v. τοι), aus τοι ‚dir‘ (vgl. Brugmann 1909: 557, zu mē, nō im Awestischen) und ist auch für das Gegenwartsdeutsche angenommen worden, aber kaum zu Recht (zur Diskussion entsprechender Vorschläge siehe Gutzmann 2007). Im Deutschen ist die Verwendung verschiedener Dativformen der Kommunikantenpronomina, wenn auch vorrangig der Form mir, neben seltenerem dir, in Ethicus-Funktion möglich (IDS-Grammatik 1997: 1245); auch uns tritt auf (wie in (73e)). Der Dativus ethicus ist auch wiederholt (seit Schuchardt 1893) als eine mögliche Quelle für die sogenannten allokutiven Verbformen des Baskischen (de Rijk 2008: Kap. 29) in Erwägung gezogen worden, die durch zusätzliche Marker der 2. Person ausgezeichnet sind und gegenüber familiär adressierten Personen verwendet werden; vgl. die bei Trask (2010: 235) genannte Literatur, aber auch Alberdi (1995).  

Im gegenwärtigen Englischen ist der Anwendungsspielraum des Akkusativs mit ‚dativischer‘ Funktion vergleichsweise eng gezogen (→ B2.4.3.2.2.3); eine Verwendung als Ethicus ist nicht gegeben. Vgl. aber zum Frühneuenglischen Rissanen (1999: 227, 257). Ein häufig zitiertes Beispiel aus Shakespeare (Love’s Labour’s Lost, I.i.80) ist Study me how to please the eye indeed ‚Studiert vielmehr, was Euer Aug’ entzücke‘, Übers.: von

976

B Wort und Wortklassen

Baudissin. Gelegentlich wird die malefaktive Präpositionalkonstruktion mit ENG on (wie in on me) als ‚ethical dative‘ bezeichnet (Menn 1972). Die Verwendung des Dativs als Ethicus ist nicht auf die indoeuropäischen Sprachen beschränkt; vgl. Camilleri/Sadler (2012) zum Maltesischen. Beispiele aus dem Ungarischen geben Tompa (1968: 284) und Forgács (2004: 153, „Dativus respektus (Dativ der Rücksichtnahme)“); vgl. (77). (77) a. Megcsináld nekem azt a leckét! 1SG .DAT DEM .AKK DEF Aufgabe.AKK UNG mach.IMP .2SG .DEF ‚Dass du mir die Aufgabe auch machst!‘ b. Ide nekem ne gyere! NEG komm.IMP .2SG hierher 1SG .DAT ‚Komm mir ja nicht her!‘ c. El ne törd nekem azt a szép vázát! PV NEG zerbrech.IMP .2SG .DEF 1SG .DAT DEM .AKK DEF schön Vase.AKK ‚Dass du mir nicht die schöne Vase zerbrichst!‘

B2.4.3.2.2.7 Dativus Judicantis Mit Bezug auf das Deutsche wird von einem Dativus Judicantis in Fällen wie (78a) gesprochen. (78)

a. Das Haus ist [ihrem Mann]D A T (für ein Ferienhaus um einiges) zu groß. b. Der Anzug ist [ihrem Mann]D A T zu groß.

Die NP im Dativ wird von einer Verbindung aus einem Adjektiv (oder einem Adverb oder einer Adkopula) und einer Intensitätspartikel (Gradpartikel), insbesondere genug oder zu, regiert (IDS-Grammatik 1997: 1344); dabei bezeichnet die NP im Dativus Judicantis, wie der Terminus besagt, diejenige Person (‚ihr Mann‘), nach deren Urteil die im Prädikat genannte Eigenschaft (‚groß‘) dem in Frage stehenden Objekt (‚das Haus‘) in einem Grade zukommt, der um einen angebbaren Wert (‚um einiges‘) höher ist als für den intendierten Zweck (‚für ein Ferienhaus‘) angemessen wäre. Die betreffende Konstruktion lässt daneben auch eine Lesart als Benefizienten/MalefizientenDativ (Dativus Commodi/Incommodi) zu (ebd.), die bei anderer lexikalischer Belegung deutlicher hervortritt. In (78b) liegt eine Interpretation nahe, bei der der Sachverhalt vom Sprecher präsentiert wird, ohne dass Bezug auf ein etwaiges Urteil der Person genommen wird, die durch die NP im Dativ bezeichnet wird – diese könnte durchaus anderer Meinung sein. In Helbig/Buscha (2001: 265) werden beide Lesarten zum ‚Dativ des Maßstabs‘ zusammengefasst. Der Zusammenhang zwischen den Lesarten liegt auf der Hand. Bei der Frage nach der Angemessenheit des Grades der fraglichen Eigenschaft wird in vielen Fällen, wenn überhaupt eine subjektive Beurteilung heranzuziehen ist, als maßstab-

977

B2 Kategorisierungen

gebende oder urteilende Instanz vorrangig der Betroffene selbst in Betracht kommen. Der Dativus Judicantis wird daher traditionell als Fall einer Gebrauchserweiterung des Dativus (In-)Commodi angesehen (Ernout/Thomas 1964: 72, „extension d’emploi“, zum Lateinischen). Erscheint als NP im Dativ ein Personalpronomen der 1. Person, berühren sich beide Interpretationen unmittelbar; vgl. (79a) (IDS-Grammatik 1997: 1344 f.).  



(79)

a. Sie fährt mir schnell genug / mir zu schnell. b. Sie war schnell genug für mich / zu schnell für mich.

Wie in anderen Fällen von Kasus-Konstruktionen konkurrieren Konstruktionen mit Präpositionalphrasen wie in (79b), die im Deutschen ebenfalls Judicantis- und (In-) Commodi-Lesarten zulassen, aber doch die letztere eher nahelegen. (Wo ein Bezug auf eine urteilende Person nicht in Betracht kommt, steht die Präpositionalkonstruktion (ebd.)). Judicantis und für-Phrase können auch kookkurrieren wie in Mir ist der Rhein für Deutschland zu groß. Entsprechende Konstruktionen sind in vielen Sprachen zu finden und treten auch in den Kontrastsprachen (Polnisch, Ungarisch) auf. Wie Haspelmath (1999: 128 f.) angibt, kann aber der Dativ im Französischen nicht in Judicantis-Funktion verwendet werden. An die Stelle des Dativs des Maßstabs können pour-Phrasen treten; der Bezug auf einen Urteilenden kann in anderer Weise eingeführt werden, etwa durch je trouve que ‚ich finde, dass‘ wie in (80) und (81) (Gerdes 2002: 28); vgl. die französischen Übersetzungen (81b, c) zu DEU (81a), die die beiden Lesarten von (81a) sichtbar machen (ebd.: 27).  

(80) DEU a. Das ist mir zu blöd. FRA b. Je trouve ça trop bête. ,Ich finde das zu blöd.‘ (81) DEU a. Peter singt mir die Kantate zu schnell. FRA b. Pierre chante la cantate trop vite pour moi. FRA c. Je trouve que Pierre chante trop vite la cantate. Im Englischen ist, wie angeführt, die Spielbreite des Dativs insgesamt enger gezogen als im Französischen oder Deutschen; auch hier kommen Präpositionalphrasen zum Zuge, nämlich for-Phrasen, wo im Deutschen der Dativ verwendet werden kann. Vgl. (82a, b) (Haspelmath 2003: 213) und (82c, d) (Durrell 2011: 55). (82) DEU a. Das ist mir zu warm. ENG b. That’s too warm for me.

978

B Wort und Wortklassen

DEU c. Fährt sie dir schnell genug? ENG d. Is she going fast enough for you? Auch in den slawischen Sprachen findet sich der Dativus Judicantis; vgl. RUS (83) (Haspelmath 1999: 127). Ėto mneD A T sliškom zu das 1SG .DAT ‚Das ist mir zu schwierig.‘

(83) RUS

trudno. schwierig

Wiederum konkurrieren Präpositionalkonstruktionen (Hentschel 2001). Im Polnischen werden nach Engel et al. (1999: 909) in Konstruktionen mit Intensitätspartikel + Adjektiv regelmäßig Präpositionalphrasen mit der Präposition dla ‚für‘ verwendet, während der Dativ „selten“ sei. Als Übersetzung für DEU (84a) geben Engel et al. (ebd.) POL (84b) an.  

(84) DEU a. Dieser Hut ist mir nicht elegant genug. POL b. Dla mnie ten kapelusz nie DEM Hut NEG für 1SG .GEN

jest ist

dość genug

elegancki. elegant

Beispiele wie (85a, b) mit Judicantis-Lesart werden von Informanten (wenn auch nicht völlig einhellig) als ungrammatisch bewertet. (85) a. *To jest miD A T za trudne. POL ‚Das ist mir zu schwierig.‘ b. *Ta kawa jest miD A T za gorąca. ‚Der Kaffee ist mir zu heiß.‘ Unproblematisch erscheint die Dativ-Verwendung, wenn die betreffende Konstruktion deutlich eine (In-)Commodi-Lesart trägt, wie in (86). (86) POL

Nie

lubię, gdy jest mi mög.1SG wenn ist 1SG .DAT ‚Ich mag nicht, wenn mir zu heiß ist.‘

NEG

za zu

gorąco. heiß

Einen Dativus Judicantis im Ungarischen zeigt (87a) (Brandt 2006: 134) mit dem Dativ des Personalpronomen 1SG (nekem) neben túl ‚zu‘; (87b) (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 335) zeigt die gleiche Konstruktion an einem Beispiel, das eine Commodi-Lesart nahelegt; vgl. auch Pilarský (2013: 287).

B2 Kategorisierungen

979

(87) a. János nekem túl intelligens. zu intelligent UNG János 1SG .DAT ‚János ist mir zu intelligent.‘ b. Ez a kabát túl hosszú nekem. DEM DEF Mantel zu lang 1SG .DAT ‚Dieser Mantel ist mir zu lang.‘ Zu erwähnen ist, dass in verschiedenen Sprachen die Intensitätspartikel in der Konstruktion mit dem Dativ des Maßstabs unter eingeschränkten Bedingungen fehlen kann, während im Deutschen die Weglassung der Partikel im Allgemeinen nicht möglich ist (*Das Haus ist Maria groß.). Einen Dativus Judicantis, der unmittelbar vom Adjektiv abhängig ist, zeigt das Ungarische; vgl. (88) (Pilarský 2013: 275) und siehe auch Szent-Iványi (1995: 72). (88) UNG

A

gyerekeknek sötét volt a Kind.PL .DAT dunkel war DEF ‚Den Kindern war das Zimmer zu dunkel.‘ DEF

szoba. Zimmer

B2.4.3.2.3 Genitiv Die vorrangige Funktion des Genitivs besteht in der Markierung von NPs, Pronomina und Eigennamen in Attributfunktion. Die Erörterung der attributiven Verwendung des Genitivs erfolgt in diesem Handbuch im Rahmen der Untersuchung der possessiven Attribute (→ D3); vgl. ferner → A4.2.3.1, → A4.3.2.1.1, → A4.3.3.1. Das Englische besitzt keinen Flexionskasus Genitiv. Im Falle des sogenannten ‚possessive case‘ (traditionell auch: ‚genitive‘) ist die possessive Funktion völlig vorherrschend; in Konkurrenz stehen Präpositionalphrasen mit der Präposition of. Das Französische besitzt ebenfalls keinen Genitiv; funktional vergleichbar ist auch in den romanischen Sprachen die Verwendung von Präpositionen mit ursprünglich ablativischer Bedeutung (im Französischen mit der Präposition de). Vgl. auch DEU von. Auch das Ungarische besitzt keinen Genitiv; possessive Attribute können ohne Kasusmarkierung bleiben oder im Dativ stehen. Im letzteren Fall wird, wie erwähnt, in den Grammatiken verschiedentlich in Erwägung gezogen, eine (durch die Formenbildung nicht gerechtfertigte) Unterscheidung zweier Kasus, Genitiv und Dativ, anzusetzen (vgl. Tompa 1968). Gelegentlich wird auch das Possessumsuffix des Ungarischen (-é) als Genitivkennzeichen angesehen (→ C3.4.2). Ferner werden manchmal besondere Genitivformen für Personalpronomina postuliert – der Form nach Verbindungen aus Artikel und Personalpronomen (Keresztes 1999: 88; Chisarik/Payne 2003); vgl. dazu aber → D1.2.3.3. Zu Prädikativen im Genitiv siehe → B2.4.3.4.4. Die Verwendung des Genitivs als Adverbialkasus findet sich im Polnischen und anderen slawischen Sprachen; vgl. następnego dnia ‚am nächsten Tag‘ (Swan 2002: 344, „genitive of time“); vgl. auch Franks/Dziwirek (1993). Im Deutschen ist diese Verwendung noch relikthaft in weitgehend erstarrten Wendungen (wie des Nachts oder eines Tages) greifbar, im Englischen (bei Adverbien wie always, besides u. a.) nur noch etymologisch nachzuweisen.  

980

B Wort und Wortklassen

Während die Kasus Nominativ, Akkusativ und Dativ (als Partizipantenkasus) funktional durch ihre Verwendung zur Unterscheidung verschiedener Partizipanten charakterisiert sind – sie stehen als SU - , DO - und IO -Kasus in syntagmatischem Kontrast –, zeichnet sich der Genitiv als Partizipantenkasus durch die Möglichkeit aus, zu anderen grammatischen Kasus in paradigmatische Opposition zu treten (Abraham/Leiss 2012). So alternieren im Polnischen Akkusativ und Genitiv als Kasus des direkten Objekts. Unter Negation steht das direkte Objekt nicht wie gewöhnlich im Akkusativ, sondern im Genitiv; vgl. (89) (Swan 2002: 333) mit dem direkten Objekt im Genitiv bei Negation (mit nie) in (89b, d). (89) a. Lubię bananyA K K .P L . POL ‚Ich mag Bananen.‘ b. Nie lubię bananówG E N .P L . ‚Ich mag keine Bananen.‘ c. Mam pieniądzeA K K .P L . ‚Ich habe Geld.‘ d. Nie mam pieniędzyG E N .P L . ‚Ich habe kein Geld.‘ Die Verwendung dieses sogenannten Genitivs der Negation ist im Polnischen rein formal geregelt; Negation erzwingt den Genitiv für direkte Objekte, die andernfalls im Akkusativ erscheinen würden. Komplemente in anderen Kasus und andere NPS im Akkusativ unterliegen dem Wechsel nicht, ausgenommen nur NPs in negierten Existenzsätzen (Swan 2002: 334; vgl. dazu Błaszczak 2010). Das Polnische unterscheidet sich in dieser Hinsicht von anderen slawischen Sprachen, die den Genitiv der Negation besitzen, wie dem Russischen, wo die AKK - GEN -Alternation an ein komplexes Gefüge von Anwendungsbedingungen gebunden und semantisch relevant ist; an erster Stelle genannt werden kann dabei die Bevorzugung des Akkusativs unter Negation, wenn Referenz auf einen bestimmten Gegenstand vorliegt (Wade 2011: 113, „when a specific object or objects are involved“). In affirmativer Konstruktion kann der Genitiv im Polnischen als Objektkasus (wiederum abhängig von einem komplexen Gefüge von lexikalischen, stilistischen und anderen Anwendungsbedingungen) insbesondere zur Markierung einer partitiven Lesart dienen wie in kupić cukruG E N .S G ‚Zucker kaufen‘ oder kupić gwoździG E N .P L ‚Nägel kaufen‘ (Laskowski 1972: 55). Auch hier stehen Akkusativ und Genitiv als Objektkasus in paradigmatischer Opposition; vgl. (90) (Olszewska 1974: 337). (90) a. Daj mi chlebA K K . POL ‚Gib mir das Brot.‘ b. Daj mi chlebaG E N . ‚Gib mir etwas Brot.‘

B2 Kategorisierungen

981

Die referentielle Bedeutung des Nominals und der Aspekt des Verbs sind gleichermaßen für die Kasuswahl relevant (Moravcsik 1978: 265). Darüber hinaus regieren Verben verschiedener Gruppen den Genitiv als Objektkasus, darunter Verben mit verneinenWY MAG AĆ der Bedeutung wie ZAKAZYWAĆ ‚untersagen‘ oder Verben des Forderns wie WYMAGAĆ ‚fordern‘; vgl. Znam jąA K K .S G .F ‚Ich kenne sie‘ vs. Nienawidzę jejG E N .S G .F ‚Ich hasse sie‘ (Olszewska 1974: 337). Die in den slawischen Sprachen geläufige Verwendung des Genitivs als Objektkasus kann als Ausgangspunkt für die Herausbildung des sogenannten Genitiv-Akkusativs (der Verwendung von Genitivformen als Akkusativformen) angesehen werden, die für die slawische Nominalflexion charakteristisch ist (Kuryłowicz 1962); → C5.3.2.4.

Funktional vergleichbar ist der Wechsel zwischen Akkusativ (als gewöhnlichem Objektkasus) und Elativ (in partitiver Funktion) (mit dem Flexiv -ból/-ből ‚aus‘) im Ungarischen; vgl. (91) (Moravcsik 1978: 262). (91) a. Ette a süteménytA K K . UNG ‚Er aß den Kuchen.‘ b. Evett a süteménybőlE L A . ‚Er aß (etwas) von dem Kuchen.‘ c. Olvasta a könyvetA K K . ‚Er las das Buch.‘ d. Olvasott a könyvbőlE L A . ‚Er las das Buch zu einem Teil (wörtl.: aus dem Buch).‘ In anderen finnougrischen Sprachen finden sich vergleichbare Kasusalternationen, so im Finnischen der Wechsel zwischen Akkusativ und Partitiv, der insbesondere bei Negation erscheint, zudem aber auch zwischen Nominativ und Partitiv (Karlsson 1999: 76–90). Man beachte auch die partitive Verwendung der von-Phrase im Deutschen in der Übersetzung zu (91b), wo das Pronomen etwas ausfallen kann. Einen typologischen Überblick zum Partitiv mit Berücksichtigung europäischer Sprachen bieten die Beiträge in Luraghi/Huumo (Hg.) (2014). Moravcsik (1978) gibt eine vergleichende Behandlung alternativer Objektmarkierungen unter Berücksichtigung verschiedener europäischer Sprachen, darunter (neben dem Ungarischen) Polnisch, Russisch, Litauisch, Finnisch, Estnisch und Baskisch.

Auch für ältere Sprachstufen des Deutschen wird eine semantisch signifikante Konkurrenz von AKK - und GEN -Markierung angenommen, nach der die Verwendung der Kasus mit Verbalaspekt und referentieller Bedeutung von NPs (Definitheit/Indefinitheit) korreliert (Donhauser 1990; Schrodt 1992). Curme (1922: 507 f.) nimmt für ältere Sprachstufen des Deutschen neun semantische Rollen („ideas“) für Genitivobjekte an („sphere, a part, goal, specification, cause, means, deprivation, removal, separation“). Im Gegenwartsdeutschen sei eine besondere Semantik des Genitivobjekts nicht mehr deutlich; in der Folge sei das Genitivobjekt weitgehend durch Akkusativobjekt und  

982

B Wort und Wortklassen

Präpositivkomplemente abgelöst worden. Vgl. aber Haspelmath/Michaelis (2008) mit einem Vorschlag zu einer weitgehend einheitlichen Semantik für Genitivobjekte („background theme“) in europäischen Gegenwartssprachen (siehe auch → D3.9).

Im Gegenwartsdeutschen (vgl. IDS-Grammatik 1997: 1090–1093; Konopka 2015) ist die Zahl der Verben mit Genitivrektion klein, und fast ganz auf stilistisch markierte Verben (‚gehoben‘) beschränkt. Erhalten ist die Genitivrektion vor allem bei Verben ANKL AGEN , BEZICHTIGEN u. a.) und bei aus dem Rechtswesen (‚Genitivus Criminis‘) (ANKLAGEN Verben, die Erwerb oder Verlust von Besitz bezeichnen (SICH BEMÄCHTIGEN , BERAUBEN , darunter insbesondere Reflexiva (Kolvenbach 1973)); zu vergleichen sind auch GeniBEDÜRF tivkomplemente bei Adjektiven mit entsprechender Semantik (wie SCHULDIG , BEDÜRFTIG , HABHAFT , VERLUSTIG u. a.). Aus synchroner Sicht werden Verben mit Genitivobjekten gewöhnlich als „Sonderfälle“ (Duden-Grammatik 2009: 132) betrachtet, die sich nicht mehr in das produktive System der Kasuszuordnung einordnen. Die partitive Objektkonstruktion, wie sie das Polnische und ältere Stufen des Deutschen zeigen, ist praktisch ganz verschwunden (Curme 1922: 509).  



B2.4.3.2.4 Exkurs: Kombinatorik der Objektkasus B2.4.3.2.4.1 Einleitung In Sprachen wie dem Deutschen, die über zwei Objektkasus mit der primären Funktion der DO - bzw. der IO -Markierung verfügen, können neben dreistelligen Verben zwei kasusmarkierte Phrasen oder Pronomina in Objektfunktion (im Akkusativ und im Dativ) auftreten. Im Französischen, wo nur Pronomina der Kasusmarkierung unterliegen, können entsprechend zwei pronominale Objekte im Akkusativ und Dativ nebeneinander treten. Jedoch unterliegt die Kombinatorik der Objektpronomina im Französischen und anderen romanischen Sprachen (und darüber hinaus) starken Beschränkungen. Vielfach sind bestimmte Kombinationen von Pronomina in DO - und IO -Funktion wenig akzeptabel oder ausgeschlossen; vgl. zum Französischen Grevisse/ Goosse (2011: 926, „groupements interdits“). Beschränkungen gelten insbesondere für Kombinationen, die Kommunikantenpronomina und Reflexiva einschließen. Entsprechende Beschränkungen stellen keine Idiosynkrasien bestimmter Einzelsprachen dar, sondern finden sich in ähnlicher Form in einer Vielzahl (auch nicht verwandter oder areal benachbarter) Sprachen. In einigen neueren Arbeiten wird die Annahme vertreten, dass entsprechende Beschränkungen auch im Deutschen wirksam seien. Ähnlich wie Wortstellungsregeln (und in Verbindung mit diesen) können Beschränkungen der Kombinierbarkeit von Pronomina (gemäß ihrer Kategorisierung nach PERSON ) dazu beitragen, die syntaktische Funktion der Formen (unabhängig vom Vorliegen oder Nicht-Vorliegen entsprechender Kasusmarkierungen) kenntlich zu machen. Im Französischen folgt in einer Verbindung zweier Objektpronomina der dritten Person die IO -Form auf die DO -Form (wie in les3P L lui3S G .M ); hier ist die Abfolge – in Verbindung mit der Kategorisierung nach PERSON – für die Bestimmung der syntaktischen Funktionen (auch ohne Berücksichtigung der Kasusmorphologie) hinrei-

B2 Kategorisierungen

983

chend (lesD O luiI O ). Ebenso sind im Französischen Kommunikantenpronomina, wenn sie in einer Verbindung zweier Objektpronomina auftreten (wie in me1S G le3S G ), auf die Verwendung in IO -Funktion beschränkt und schon damit bezüglich ihrer Funktion – trotz Kasusambiguität (meA K K / D A T ) – eindeutig bestimmt. Charakteristischerweise geht die Geltung von Kombinationsbeschränkungen für Kommunikantenpronomina häufig mit Nichtdifferenzierung der Objektkasus bei diesen Pronomina einher. Kasusmarkierung, Wortstellung und Kombinationsbeschränkungen stellen gleichermaßen Mittel dar, die (in enger Verflechtung) zur Sicherung der Rollenidentifikation bei Pronomina genutzt werden können.

B2.4.3.2.4.2 Pronomina-Kombinationen (Französisch, Griechisch, Italienisch) Die Möglichkeit, zwei Pronomina in den Funktionen des direkten und indirekten Objekts zu kombinieren, ist in vielen Sprachen (in ähnlicher Weise) beschränkt. Im Französischen erscheint ein pronominales direktes Objekt immer als gebundenes Pronomen im Akkusativ. Handelt es sich bei dem DO -Pronomen um ein Personalpronomen der 3. Person, so kann daneben ein pronominales indirektes Objekt im Dativ auftreten wie in (92a) und (93b) (Price 2008: 146–148). (92) a. IlS U meI O lesD O donne. FRA ‚Er gibt sie mir.‘ b. JeS U leD O luiI O ai donné. ‚Ich habe es ihm gegeben.‘ c. IlS U vousD O présentera à moiI O . ‚Er wird Sie mir vorstellen.‘ d. Voulez-vousS U meD O présenter à ellesI O ? ‚Würden Sie mich ihnen vorstellen?‘ Die Verbindung eines DO -Pronomens (im Akkusativ) mit einem IO -Pronomen (im Dativ) ist dagegen unzulässig, wenn als direktes Objekt ein Kommunikantenpronomen oder das Reflexivpronomen fungiert. Anstelle des Dativkomplements wird in diesem Fall eine Präpositionalphrase (mit der Präposition à) verwendet wie in (92c) und (93d). Die im Französischen geltende Beschränkung (93) wird als ‚person case constraint (PCC)‘ (Bonet i Alsina 1991) oder Person/Rollen-Beschränkung (Haspelmath 2004, „ditransitive person-role constraint“) bezeichnet: (93)

Person/Rollen-Beschränkung. Eine Kombination zweier klitischer Personalpronomina in Objektfunktion (DO , IO ) ist dann und nur dann zulässig, wenn als DO eine Form der 3. Person auftritt.

Die Reihenfolge der betreffenden Klitika ist im Französischen in jedem Fall festgelegt, und es können keine anderen Einheiten dazwischen treten. Hier handelt es sich um

984

B Wort und Wortklassen

feste Klitikakombinationen (‚clitic clusters‘). In traditionellen Darstellungen des Französischen erfolgt die Beschreibung der möglichen Kombinationen gewöhnlich unter Verwendung einer Matrix oder Schablone (in englischer Terminologie: template), deren Positionen zugleich die Abfolge der Pronomina festlegen (→ B1.5.2.8); soweit eine Erklärung für Kombinationsbeschränkung gesucht wird, wird meist auf einzelsprachspezifische Fakten Bezug genommen (vgl. Benveniste 1965). Der Sprachvergleich zeigt jedoch, dass gleiche oder ähnliche Beschränkungen für die Kombinierbarkeit von Klitika nicht nur für das Französische, sondern ebenso für viele andere Sprachen gelten. Beispiele aus einem Spektrum von Sprachen, das nicht-verwandte und nicht areal benachbarte Sprachen einschließt, die die angeführte oder ähnliche Beschränkungen für feste Kombinationen von Personalmarkern (Klitika oder Affixe) zeigen, geben u. a. Bonet i Alsina (1991) und Haspelmath (2004). Aus dem Bereich der europäischen Sprachen kann beispielhaft das Griechische genannt werden. Die in (93) angegebene Beschränkung gilt, wie die Grammatiken angeben, auch für das Griechische; siehe u. a. Mackridge (1985: 222) und Joseph/ Philippaki-Warburton (1987: 187 f.) und vgl. Warburton (1977) und Anagnostopoulou (2008). Dass im Griechischen eine Übernahme romanischer Muster vorläge, schließt Horrocks (2010: 348) für diesen Fall nach sprachhistorischen Befunden aus. Im Griechischen steht das direkte Objekt im Akkusativ, das indirekte Objekt im Genitiv. Zulässige Verbindungen klitischer Formen der Personalpronomina weisen in DO -Funktion ein Personalpronomen der 3. Person auf; vgl. (94a, b) (Joseph/Philippaki-Warburton 1987: 187 f.) mit den 3SG .AKK - Formen toN und tonM .  







(94) GRI

a. MuG E N tonA K K sístise. 3SG .M .AKK vorstell.PRT .3SG 1SG .GEN ‚Er hat ihn mir vorgestellt.‘ toA K K éδosa. b. TuG E N 3SG .N .AKK geb.PRT .1SG 3SG .NONF .GEN ‚Ich habe es ihm gegeben.‘

In IO -Funktion sind sowohl Kommunikantenpronomina wie mu, 1SG .GEN , in (94a) als auch Personalpronomina der 3. Person wie tu, 3SG .GEN .NONF , in (94b) möglich. Dagegen sind Kommunikantenpronomina in DO -Funktion in Klitikaclustern in aller Regel nicht zulässig, wie (95a) (ebd.) (mit me, 1SG .AKK ) zeigt; vgl. aber auch Mavrogiorgos (2010: 262). (95) GRI

a. *TuG E N meA K K sístise. 1SG .AKK vorstell.PRT .3SG 3SG .NONF .GEN ‚Er/Sie hat mich ihm vorgestellt.‘ b. MeA K K sístise s aftón. c. TuG E N sístise eménaA K K . d. Sístise eménaA K K s aftón.

B2 Kategorisierungen

985

Eine entsprechende personale Konstellation kann repräsentiert werden, indem eines oder beide Pronomina in non-klitischer Form realisiert werden. In (95b) steht das Pronomen der 3. Person (wie im Französischen) in non-klitischer Form innerhalb einer Präpositionalphrase (s afton), in (95c) erscheint das Kommunikantenpronomen in starker (non-klitischer) Form (eména1S G .A K K / G E N ); (95d) kombiniert beide Optionen. Der Ausschluss von IO -DO -Clustern mit Kommunikantenpronomina in DO -Funktion gilt wiederum auch für potentielle Verbindungen zweier Kommunikantenpronomina (vgl. *Mu1S G .G E N se2S G .A K K sístise). Die Regelungen für Klitikakombinationen in verschiedenen romanischen Sprachen sind teilweise komplex und die Beurteilungen variieren; vgl. etwa zum Spanischen García (2009), zum Italienischen Russi (2008). Für das Italienische wird im Allgemeinen als gesichert angenommen, dass strikt unzulässige Kombinationen vorliegen, wenn Kommunikantenpronomina in DO - Funktion mit Personalpronomina der 3. Person in IO - Funktion verbunden werden; vgl. (96) (Russi 2008: 211). (96) ITA

a. *Carlo gliI O miD O ha presentato. ‚Carlo hat mich ihm vorgestellt.‘ b. ?MiD O / I O tiI O / D O ha raccomandato. ‚Er hat mich dir / dich mir empfohlen.‘

Klitikacluster, in denen wie in (96a) in IO - Funktion die 3SG - Form gli und in DO - Funktion eine Form der 1./2. Person Singular oder Plural (mi/ti/ci/vi) auftritt, werden (wie ihre Gegenstücke im Französischen) in den Grammatiken ausgeschlossen oder als ‚äußerst marginal‘ bewertet (Renzi/Salvi/Cardinaletti 2001: 602, „molto marginale“); stattdessen kann wiederum eine Konstruktion mit Präpositivkomplement verwendet werden (Carlo mi ha presentato a lui). Dagegen werden (anders als im Französischen) Klitikakombinationen mit zwei Kommunikantenpronomina unterschiedlich bewertet und jedenfalls nicht durchwegs als ungrammatisch betrachtet; vgl. (96b) (Russi 2008: 212) (mit zwei Lesarten). Anagnostopoulou (2008: 17) gibt MiD O tiI O presentano ‚Sie haben mich dir vorgestellt‘ als korrekt an. Zu den Sprachen, in denen Kombinationen zweier klitischer Kommunikantenpronomina nicht (oder nicht in allen Fällen) ausgeschlossen sind, werden u. a. Spanisch, Katalanisch und Rumänisch gerechnet (Bonet i Alsina 1991). Für das Französische kann nach den Darstellungen der Grammatiken angenommen werden, dass Klitikakombinationen, die unter die in (93) formulierte Person/ Rollen-Beschränkung fallen, tatsächlich ungrammatisch sind – und nicht nur ungewöhnlich oder in aller Regel vermieden werden (so aber Heger 1966: 28).  

986

B Wort und Wortklassen

B2.4.3.2.4.3 Cluster: Erstarrte Verbindungen Der durch Person/Rollen-Beschränkungen beschriebene Ausschluss bestimmter Pronominaverbindungen geht vielfach mit einer Erstarrung der zulässigen Verbindungen einher, die sich in Abfolgefixierungen und morphologischen Besonderheiten der Clusterbestandteile zeigt. Verbindungen klitischer Pronomina werden daher häufig als morphologische Einheiten eigenen Rangs (‚Klitikacluster‘) betrachtet. Praktische Grammatiken der romanischen Sprachen geben häufig eine Paradigmentafel für die Kombinationen von IO - und DO -Pronomina wie (97) (Proudfoot/Cardo 2005: 71) für das Italienische; vgl. auch Dardano/Trifone (1995: 269) oder Esposito (2000: 98). (97) ITA

lo

la

li

le

ne

mi

me lo

me la

me li

me le

me ne

ti

te lo

te la

te li

te le

te ne

gli, le

glielo

gliela

glieli

gliele

gliene

si

se lo

se la

se li

se le

se ne

ci

ce lo

ce la

ce li

ce le

ce ne

vi

ve lo

ve la

ve li

ve le

ve ne

gli, loro

glielo

gliela

glieli

gliele

gliene

In den Spaltenköpfen stehen hier Akkusativformen sowie das Pronominaladverb ne, in den Zeilenköpfen Dativformen der Personalpronomina, wie sie alleinstehend auftreten würden, und das Reflexivum si; im Hauptfeld der Tabelle stehen die Verbindungen. In den Verbindungen stehen Dativformen vor Akkusativformen. Wie ci (1PL .DAT ) bekommt auch das gleichlautende Pronominaladverb ci in entsprechender Position die Form ce.

Die Dativformen in den Verbindungen unterscheiden sich im Vokalbestand von den alleinstehenden Formen (me statt mi usw.); die Alternation ist Teil der Morphologie der Pronomina (Pescarini 2014: 166). Zudem fehlt die bei alleinstehendem Gebrauch gegebene Genusdifferenzierung in der 3. Person des Dativ Singular (alleinstehend: gli, M .SG vs. le, F .SG ; in der Verbindung nur glie); Dativ Singular und Dativ Plural fallen zusammen (glie). Charakteristisch für die Clusterbildung ist, dass die Verbindungen zum einen die eingeflossenen Bestandteile in aller Regel noch deutlich erkennen lassen (und daher nicht als unanalysierbar zu betrachten sind), zum anderen aber wenigstens nicht in allen Fällen eine Ableitung durch bloße Nebeneinanderstellung möglich ist. Lautliche Abweichungen bei Verbindungsbestandteilen gegenüber selbstständigen Formen finden sich ebenso in anderen romanischen Sprachen. Einen detaillierten Überblick liefert Gerlach (2002); vgl. auch Miller/Monachesi (2003). Beispiele für formale Besonderheiten bei der Clusterbildung könnten aus einer Vielzahl romanischer Sprachen gegeben werden. Eine besonders auffällige Abweichung zeigt das Spanische, wo in DAT - AKK - Clustern anstelle der gewöhnlichen Dativformen der 3. Person (leS G , lesP L ) die (lautlich

B2 Kategorisierungen

987

mit dem Reflexivum zusammenfallende) Form se erscheint (vgl. Real Academia Española (Hg.) 2010: 312, zu „conglomeradas“), mittelspanisch aus älterem ge lo ([ʒe lo]) durch Vermischung mit se lo (mit se als Reflexivum) entstanden (Pharies 2006: 117). In Grammatiken des Portugiesischen werden Verbindungen aus Pronomina im Akkusativ und im Dativ als ‚Verschmelzungen‘ (Hundertmark-Santos Martins 2014: 88 f.) oder ‚Kontraktionen‘ gewertet. Paradigmentafeln geben u. a. Cunha/Lindley Cintra (1985: 221). Die Dativformen me1S G , te2S G , lhe3S G , lhes3P L werden in der Verbindung mit den Akkusativformen o3S G .M , a3S G .F , os3P L .M , as3P L .F auf den initialen Konsonanten reduziert: mo, ma, mos, mas usw. (Die Unterscheidung lhe3S G vs. lhes3P L wird dabei aufgehoben: lho, lha, lhos, lhes.) Nach den Dativformen nos1P L , vos2P L erscheinen die Akkusativformen (wie in der Position nach auf r, s oder z ausgehenden Verben) mit initialem l, während das voranstehende Element den Endkonsonanten verliert. Die Cluster erscheinen als no-lo, no-la, no-los, no-las; vo-lo usw. Vergleichbare Verschmelzungen zeigt auch das Rumänische; z. B. mil für îmi1S G (IO ) + îl3S G .M (DO ). Paradigmentafeln geben Gerlach (2002: 156), Gönczöl-Davies (2008: 63) und Dobrovie-Sorin/Giurgea (Hg.) (2013: 259); nach Dobrovie-Sorin/Giurgea (Hg.) (ebd.) sind im Rumänischen Verbindungen aus te2S G .A K K mit Dativformen der Pronomina der 1. oder 3. Person „fully grammatical“. Für das Katalanische stellen Wheeler/Yates/Dols (1999: 204 f.) eine Paradigmentafel aller zweistelligen Klitikacluster auf, die (bei Berücksichtigung aller Stellungs-, Schreibungs- und Aussprachevarianten) mehr als 300 Positionen umfasst.  







Die Kombinatorik der Klitika des Französischen zeichnet sich durch eine weitgehende formale Transparenz der Verbindungen aus; vgl. (98). (Siehe aber Bonami/Boyé 2007 zu Verschmelzungen, die die Nominativform je einschließen.) (98) FRA

le

la

les

me

me le

me la

me les

te

te le

te la

te les

lui

le lui

la lui

les lui

nous

nous le

nous la

nous les

vous

vous le

vous la

vous les

leur

le leur

la leur

les leur

Wie in anderen romanischen Sprachen ist die Abfolge der Bestandteile weitgehend fixiert, aber, was die Objektabfolge angeht, nicht einheitlich geregelt; vgl. me le (IO – DO ) vs. le lui (DO – IO ). Bei den präverbalen Klitika steht Subjekt (je, tu, il, …) vor Objekt; Pronominaladverbien stehen in letzter Position (y, dann en). Bei Verbindungen, die zwei Pronominalformen in Objektfunktion einschließen, stehen Formen der Kommunikantenpronomina und des Reflexivums vor Formen der Personalpronomina der 3. Person (und damit Dativ- vor Akkusativformen). Für Cluster aus zwei Formen der Personalpronomina der 3. Person gilt die Abfolge AKK – DAT (leA K K luiD A T , laA K K luiD A T , lesA K K luiD A T ), auch bei postverbaler Stellung (im nicht-negierten Imperativ). Dagegen werden bei postverbaler Stellung die Formen der Kommunikantenpronomina in der Regel nicht vorangestellt, sondern ebenfalls gemäß dem Muster AKK – DAT platziert, wenn auch die Voranstellung der Dativform bei Kommunikantenpronomina daneben ebenfalls möglich ist; vgl. Donne-leA K K -moiD A T ! ‚Gib es mir!‘, auch: Donne-moiD A T -leA K K ! (dass.) (siehe Grevisse/Goosse 2011: 927, mit Belegen).

988

B Wort und Wortklassen

Betrachtet man nur die präverbale Platzierung, so lässt sich feststellen, dass Formen ohne AKK DAT - Differenzierung (me, te, se, nous, vous) vor Akkusativformen (le, la, les) stehen, im Übrigen aber (eindeutige) Akkusativformen (le, la, les) vor Dativformen (lui, leur) (→ B1.5.2.8). Wenn man annimmt, dass Formen, die sowohl als Akkusativ-- als auch als Dativformen fungieren können, ihre natürliche Rangposition zwischen denen des unspezifischen Kasus Nominativ und spezifischen Objektkasusformen (die auf den Akkusativ bzw. den Dativ festgelegt sind) finden, so ergibt sich, dass die Abfolge der klitischen Pronomina hier der Kasushierarchie entspricht.

Stellungsvarianten bei postverbaler Stellung und die unterschiedlichen Regelungen in eng verwandten Sprachen (vgl. (97) mit (98)) lassen es kaum möglich erscheinen, eine vollständige und widerspruchsfreie Rückführung der Reihenfolge der Bestandteile von Objektclustern auf unabhängig gerechtfertigte Prinzipien durchzuführen. Betrachtet man die möglichen Verbindungen daher als ein Inventar von als solchen gegebenen Clustern, so stellen sich ‚verbotene‘ Kombinationen einfach als im Inventar fehlende Einheiten (‚paradigmatische Lücken‘) dar.

B2.4.3.2.4.4 Akzeptabilität von Klitikaclustern Bei Verben, die zugleich ein direktes und ein indirektes Objekt nehmen, handelt es sich typischerweise um Interaktionsverben wie GEBEN . Im gewöhnlichen Fall fungiert als direktes Objekt eine Sachbezeichnung (‚Was wird gegeben?‘) und als indirektes Objekt eine Personenbezeichnung (‚Wem wird gegeben?‘). Soweit dies zutrifft, kommen Kommunikantenpronomina (als Personenbezeichnungen) nur für die Rolle des indirekten Objekts in Betracht, während Pronominalformen der 3. Person (die als Sach- oder Personenbezeichnungen auftreten) sowohl für die DO - als auch für die IO -Rolle in Betracht kommen. Von den in Abbildung 7 unterschiedenen Verteilungen von Pronominalformen nach (grammatischer) Person (hier: 1/2 vs. 3) auf syntaktische Funktionen (hier: DO vs. IO ) können daher die Typen A und B als die (häufigen und geläufigen) ‚Normalfälle‘ angesehen werden; darunter fallen die in (92a, b) und (94a, b) aus dem Französischen und Griechischen gegebenen Beispiele.  

Abb. 7: Akzeptabilität von Klitikaclustern  

Die Anordnung der DO - und IO - Spalten in der Abbildung ist unbeachtlich und stellt nicht die Abfolge der Pronominalformen dar. Die Großbuchstaben in den Zeilenköpfen dienen der leichteren Bezugnahme.

B2 Kategorisierungen

989

Geht man davon aus, dass bei einem ditransitiven Verb im ‚Normalfall‘ erwartet werden kann, dass in der Funktion des direkten Objekts die Bezeichnung einer Sache (nicht einer Person) auftritt, so handelt es sich bei den Typen C und D um „unerwartete“ Fälle; dem entspricht, dass in einer Reihe von Sprachen entsprechende Klitikacluster fehlen. Die Bedingungen, unter denen Klitikakombinationen zulässig oder ausgeschlossen sind, können in verschiedenen Sprachen unterschiedlich restriktiv sein. Die Erwartung, dass als indirektes Objekt eine Personenbezeichnung auftritt, wird, wie man annehmen kann, in idealer Weise erfüllt, wenn es sich um Kommunikantenpronomina (Pronomina der 1./2. Person) handelt; es finden sich dementsprechend Sprachen, in denen Kombinationen von Objektklitika nur zugelassen sind, wenn (i) das Pronomen in DO - Funktion ein Pronomen der 3. Person ist und zudem (ii) das Pronomen in IO -Funktion ein Pronomen der 1./2. Person ist, also bei Kombinationen des Typs A (Haspelmath 2004: 22, 49). Wohl häufiger finden sich umgekehrt Sprachen, in denen Kombinationen von Objektklitika nur ausgeschlossen sind, wenn (i) das Pronomen in DO - Funktion kein Pronomen der 3. Person ist und zudem (ii) das Pronomen in IO -Funktion kein Pronomen der 1./2. Person ist, also bei einer Kombination des Typs D. Beispiele liefern verschiedene romanische Sprachen. Insgesamt scheint gesichert, dass in der Reihenfolge der Typen A > B > C > D die ‚Natürlichkeit‘ der Klitikakombinationen abnimmt, während die Wahrscheinlichkeit, dass bestimmte Kombinationen ausgeschlossen sind, zunimmt. Ein Varianzparameter ‚Akzeptabilität von Klitikakombinationen‘ kann danach unter Bezugnahme auf die in Abbildung 7 gegebene Skala identifiziert werden. Unter Einbeziehung einer Vielzahl von Sprachen kommt Bonet i Alsina (1991) zu der Annahme, dass Klitikakombinationen, die das Muster C zeigen, häufig, dagegen Klitikakombinationen, die das Muster D zeigen, universell ausgeschlossen seien. Die in (93) gegebene Beschränkung, die die Typen C und D ausschließt, stellt danach nur eine Variante unterschiedlich stark ausgeprägter Natürlichkeitsforderungen an Klitikakombinationen dar, die in einzelnen Sprachen in unterschiedlichem Maße grammatisch fixiert sein können. Vergleichsweise seltene und insofern unerwartete Rollen-Personen-Konstellationen, bei denen die sichere Identifikation der syntaktischen Funktionen – bei formal reduzierten und teilweise ambigen Formen – potentiell gefährdet ist, können (bei einzelsprachlich unterschiedlicher Abgrenzung) ausgeschlossen werden, wenn die Zulässigkeit von Klitikakombinationen grammatisch fixiert ist.  





Vgl. dazu García (2009: 289), die die Beschränkungen für Klitikacluster auf die Notwendigkeiten effektiver Sprachverarbeitung bezieht: „since the extreme temporal compression of clitic clusters precludes time-consuming computation, they will be acceptable only inasfar as their interpretation is both inherently congruent and immediately apparent.“

Die funktionale Interpretation der Beschränkungen für Klitikacluster berührt sich mit älteren Erklärungsvorschlägen. Im Französischen fungieren die Formen me, te, se, nous, vous sowohl als Dativ- als auch als Akkusativformen. Diese Formen sind aber

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B Wort und Wortklassen

gerade diejenigen, die in Klitikaclustern nicht als DO -Formen zulässig sind. Traditionelle Darstellungen rechnen daher damit, dass die Ambiguität der betreffenden Formen ein Faktor ist, der für den Ausschluss der unzulässigen Cluster wesentlich ist; mit Interpretationsschwierigkeiten sei zu rechnen (vgl. u. a. Meyer-Lübke 1899: 401). Angesichts der Geltung der Person/Rollen-Beschränkung bei Clustern nicht-kasusambiger Klitika im Griechischen (vgl. (95), oben) ist diese Erklärung zwar in Frage gestellt worden (Warburton 1977: 275; Adger/Harbour 2007). Im Griechischen sind, anders als im Französischen, bei den klitischen Kommunikantenpronomina im Singular DO - und IO - Formen (Akkusativ- und Genitivformen) formal geschieden (1SG , AKK : G EN : mu; 2SG , AKK : se, GEN : su); im Plural fehlt die Unterscheidung aber wiederum me, GEN (mas1P L .A K K / G E N , sas2P L .A K K / G E N ). Doch wird beobachtet, dass die Geltung der Person/ Rollen-Beschränkung übereinzelsprachlich (nicht nur in den romanischen Sprachen) vielfach mit dem Vorliegen entsprechender Synkretismen korreliert (vgl. Adger/Harbour 2007 zum Kiowa und weiteren amerikanischen Sprachen). Auch wenn die Geltung der Person/Rollen-Beschränkung nicht in jeder einzelnen Konstruktion an eine Ambiguität der Pronomina gebunden ist, liegt auf der Hand, dass umgekehrt eine DO - IO - Kasusunterscheidung bei Kommunikantenpronomina in einer Sprache gerade dann eher entbehrlich sein dürfte, wenn da, wo zwei Objektpronomina zu einem Verb treten, die syntaktische Rolle der Kommunikantenpronomina auch ohne Kasusmarkierung feststeht.  

B2.4.3.2.4.5 Pronomina-Kombinationen (Polnisch, Englisch) Im Polnischen werden bei verschiedenen Pronomina Vollformen und (klitische) Kurzformen (‚Klitika‘) unterschieden (Sadowska 2012: 272). Der Status der klitischen Formen der Personalpronomina des Polnischen unterscheidet sich aber von dem der Personalklitika des Französischen. Klitika bilden im Polnischen ‚kurze Varianten‘ der Pronomina, nicht (wie im Französischen) ein eigenes Subsystem (→ C5.2.2.1). Die polnischen Personalklitika (Spencer 1991: 367–369; Kupść 2000) zeichnen sich durch vergleichsweise freie Stellungsmöglichkeiten aus. Sie erscheinen präverbal in verschiedenen Positionen und sind nur postverbal auf verbadjazente Platzierung festgelegt; die relative Reihenfolge der Klitika ist (anders als im Französischen) nicht fest und mehrere Klitika müssen im Satz nicht notwendig unmittelbar aufeinander folgen. Die polnischen Personalklitika verhalten sich insgesamt nahezu wie ‚echte Wörter‘ (Spencer 1991: 369, „real words“). Die Verwendung einer klitischen Pronominalform im Dativ (mi, 1SG ) in einer pronominalen AKK - DAT -Kombination (in Verbindung mit der AKK .SG .F - Form ją) bei einer Rollenverteilung gemäß Typ A (Abbildung 7) zeigt Beispiel (99) (Siewierska/van Lier 2013: 181): (99) POL

Jej brat przedstawił miI O jąD O . ‚Ihr Bruder hat sie mir vorgestellt.‘

B2 Kategorisierungen

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Da die Klitika im Polnischen nicht zu festen Verbindungen zusammentreten, kann man erwarten, dass auch Beschränkungen für die Kombinatorik von Klitika, wie sie im Französischen vorliegen, weniger ausgeprägt sind oder fehlen. Im Polnischen ist die Kombination zweier klitischer Kommunikantenpronomina in Objektfunktion (Typ C, Abbildung 7) zulässig. Vgl. (100) (Informantenbeleg); hier steht mi (1SG .DAT ) in Verbindung mit der klitischen 2SG .AKK -Form cię. (Die entsprechenden vollen Formen lauten mnie bzw. ciebie.)  

(100) POL

Ona miI O cięD O przedstawiła. ‚Sie hat dich mir vorgestellt.‘

Zu bemerken ist, dass die Kombination von mi mit cię die einzige unzweifelhaft zu belegende Kombination zweier klitischer Kommunikantenpronomina im Dativ und Akkusativ liefert, da im Plural der Kommunikantenpronomina keine formale Differenzierung von klitischen und vollen Formen vorhanden ist und zudem die klitische 1SG .AKK -Form (mię) in der modernen Schriftsprache nicht verwendet wird.

Auch die Kombination einer klitischen Pronominalform der 3. Person im Dativ mit einer klitischen Form eines Kommunikantenpronomens im Akkusativ (Typ D, Abbildung 7) ist nach Cetnarowska (2003: 17) nicht ausgeschlossen; vgl. (101a), wo cię wiederum die klitische 2SG .AKK -Form ist und mu die klitische 3SG .DAT .NONF -Form. (Die volle Form lautet jemu.) Vgl. auch (101b) aus Franks (2009b: 731) (mit Hinweisen zur Wortstellung).  

(101) a. Dałbym muI O cięD O za żonę bez wahania. POL ‚Ich würde dich ihm ohne zu zögern zur Frau geben.‘ b. Pokazali cięD O muI O wczoraj. ‚Sie zeigten dich ihm gestern.‘ Das Polnische wird daher zu den Sprachen gezählt, die eine Unterscheidung von klitischen und nicht-klitischen Pronomina aufweisen, aber keine Person/Rollen-Beschränkung für ditransitive Konstruktionen, wie sie die romanischen Sprachen zeigen (Haspelmath 2004; Bondaruk 2012). Vgl. aber auch Siewierska/Hollman (2007: 94, Fn. 9), Cetnarowska (2003). Auch für das Englische ist eine Person/Rollen-Beschränkung angenommen worden (Bonet i Alsina 1991). Im Englischen wird, wenn die DO -Position durch ein Pronomen belegt ist, für das verbleibende Nicht-Subjekt-Komplement die Verwendung einer Präpositionalkonstruktion stark bevorzugt wie in Give [it]D O [to me]P O ‚Gib es mir!‘. Viel seltener ist die IO - Konstruktion wie in Give [me]I O [it]D O ; je nach Sprachausprägung noch seltener (und dann praktisch auf Fälle mit it als DO beschränkt) oder aber ausgeschlossen ist die IO - Konstruktion mit umgekehrter Stellung wie in Give [it]D O [me]I O (vgl. Biber et al. 2006: 929 zum britischen Englisch). Die Ungrammatikalität von *They showed her me (im Vergleich zu akzeptablem They showed me it und  

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B Wort und Wortklassen

fragwürdigem ?They showed her it oder … her him) erweist nach Haspelmath (2004: 42) die Wirksamkeit der Person/Rollen-Beschränkung im Englischen; damit sei auch gezeigt, dass derartige Beschränkungen nicht auf klitische Pronomina beschränkt seien.

B2.4.3.2.4.6 Pronomina-Kombinationen (Deutsch) Person/Rollen-Beschränkungen sind übereinzelsprachlich gut belegt bei festen Kombinationen klitischer Pronomina (‚Clustern‘). Hier sind regelmäßig Kombinationen aus Pronomina in den Funktionen des direkten und indirekten Objekts ausgeschlossen, wenn das direkte Objekt durch ein Kommunikantenpronomen und das indirekte Objekt durch ein Pronomen der 3. Person realisiert wird. Keine Einigkeit besteht in der Literatur darüber, ob auch nicht-klitische Pronomina, insbesondere schwache Pronomina (→ B1.5.2.9), entsprechenden Beschränkungen unterliegen können. Im Deutschen sind die kritischen Pronominakombinationen in ditransitiver Konstruktion (mit einem Kommunikantenpronomen im Akkusativ) grundsätzlich zulässig; vgl. (102) (Th. Mann, Joseph und seine Brüder): (102)

So rede mit Juda, deinem Löwen, daß erN O M michA K K ihmD A T zum Weibe gebe!

Das Deutsche wird daher gewöhnlich als eine Sprache ohne Person/Rollen-Beschränkung angesehen. Anagnostopoulou (2008) kommt nach Informantenbefragungen jedoch zu der Annahme, dass unter näher zu bestimmenden Bedingungen auch im Deutschen Kombinationen aus einem Kommunikantenpronomen im Akkusativ und einem Personalpronomen der 3. Person im Dativ (Typ D, Abbildung 7) für viele Sprecher kaum akzeptabel oder möglicherweise ungrammatisch seien; Anagnostopoulou (ebd.: 26) gibt die hier in (103) mit den bewertenden Markierungen wiedergegebenen Beispiele. (103) a. *weil dich ihm irgendwer vorgestellt hat b. ??weil mich ihr irgendwer vorgestellt hat Wirksam werde die Beschränkung, wenn beide Pronomina in ‚Wackernagel-Position‘ (links-peripher nach Komplementierer-Position bzw. mittelfeldinitial) stünden, ohne vorangehendes oder zwischengestelltes Subjekt. Steht das Subjekt voran, verschwinde der Effekt; die betreffenden Kombinationen sind dann unanstößig. Vgl. (104) (ebd.: 26): (104) a. weil sie dich ihm vorgestellt hat b. weil die Maria mich ihr vorgestellt hat

B2 Kategorisierungen

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Genau für die in (103) gezeigte Platzierung gelte aber auch eine strikte Fixierung der Wortstellung, wie im Anschluss an Anagnostopoulou auch Fischer herausstellt; vgl. (105) (Fischer 2011: 121): (105) a. b. c. d.

*weil dich ihm Peter vorgestellt hat *weil ihm dich Peter vorgestellt hat *weil dir ihn Peter vorgestellt hat weil ihn dir Peter vorgestellt hat

(105d) zeige die in diesem Fall zwingende AKK - DAT - Abfolge in Verbindung mit einer unkritischen Rollenverteilung (AKK .3 + DAT .2). (105a, b, c) seien durch die abweichende Wortstellung und/oder die die Person/Rollen-Beschränkung verletzende Rollenverteilung ausgeschlossen. Die Konstellation, in der die Beschränkung greife, sei gerade die, in der auch eine strikte Abfolgeregelung gelte; vgl. dagegen (106) (ebd.): (106) a. b. c. d.

An Weihnachten hat der Peter ihn dir vorgestellt. An Weihnachten hat der Peter dir ihn vorgestellt. An Weihnachten hat der Peter ihm dich vorgestellt. An Weihnachten hat der Peter dich ihm vorgestellt.

Bei vorangestelltem Subjekt sei die Reihenfolge nicht fixiert (vgl. (a) mit (b)) und die Beschränkung werde nicht wirksam (vgl. (c) und (d)). Wir halten aber fest, dass auch in dieser Konstellation die Beispiele mit AKK - DAT -Abfolge deutlich „besser“ erscheinen. Auch wenn die Pronomina nicht adjazent zueinander stehen (bei Zwischenstellung des Subjekts), verschwindet offenbar wiederum der Beschränkungseffekt; vgl. (107) und (108). (107) a. Gestern hat ihnA K K .3 der Direktor unsD A T .1 vorgestellt. (−) b. Gestern hat ihnA K K .3 unsD A T .1 der Direktor vorgestellt. (+) (108) c. Gestern hat unsA K K .1 der Direktor ihm D A T .3 vorgestellt. (+) d. Gestern hat uns A K K .1 ihm D A T .3 der Direktor vorgestellt. (−) In (107) treten ein Pronomen der 3. Person im Akkusativ und ein Pronomen der 1. Person im Dativ auf. Nimmt man einen Kontext an wie ‚Der neue Projektleiter ist da‘ und vergleicht man die Varianten, so dürfte Variante (107b), bei der beide Pronomina in mittelfeldinitialer Position (vor dem Subjekt) stehen, eine höhere Akzeptabilität aufweisen als (107a), wo das IO -Pronomen rechts vom Subjekt steht. (Diese Bewertungen sind durch Plus- und Minuszeichen angezeigt.) In (108) treten umgekehrt ein Pronomen der 3. Person im Dativ und ein Pronomen der 1. Person im Akkusativ auf. Vergleicht man wiederum die Varianten (a) und (b), so kann man Variante (108b), bei der beide Pronomina in mittelfeldinitiale Position (in ‚schwache Position‘) gebracht  

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B Wort und Wortklassen

sind, eine niedrigere Akzeptabilität als Variante (108a) zuschreiben. (In allen Fällen werden Äußerungen mit ‚Normalintonationen‘ vorausgesetzt.) Es scheint, dass die Nebeneinanderstellung zweier Pronomina in schwacher Position (mittelfeldinitial, links vom Subjekt) im Falle der Beispiele präferiert ist, wenn die unmarkierte Zuordnung zwischen Kasus und grammatischer Person gegeben ist (wie in (107)), während im umgekehrten Fall (wie in (108)) bei Nebeneinanderstellung die Akzeptabilität sinkt. Bezeichnenderweise scheint die Differenz in der Akzeptabilität aber zu verschwinden, wenn als Dativform eine Langform (wie in der Kombination unsA K K .1 + ihnenD A T .3) auftritt. Für die relative Stellung der Pronomina (im gewöhnlichsten Fall: DO vor IO ) sind nach Behaghel (1932: 73–75) die Ausdrucksgestalten der Pronominalformen wesentlich. Weniger gewichtige Formen stehen bevorzugt voraus. (Siehe aber im Einzelnen ebd.) Dem schließen sich Wegener (1985: 253, „Die Abfolge der Pronomen“) und (unter Bezug auf Wegener) die IDS-Grammatik (1997: 1519 f.) an. Dort wird angenommen, dass die weitgehende Fixierung der Wortstellung einen Ausgleich für die formale „Schwäche“ der Formen biete; sie diene der sicheren Identifikation der syntaktischen Funktionen. Die Wortstellung übernehme teilweise die Funktion der Kasusmarkierung. Gerade eine solche interpretationssichernde Funktion kann aber auch der Vermeidung unerwarteter Rollenverteilungen (durch Beachtung von Person/Rollen-Beschränkungen) zugeschrieben werden. Beide Auffassungen fügen sich zwanglos zusammen. Mit der weitgehenden Fixierung der Wortstellung bei Pronominaabfolgen im Deutschen (verglichen mit den Stellungsmöglichkeiten voller NPs) in Verbindung mit der weitgehenden Beschränkung auf (untereinander) adjazente Stellung und der Geltung besonderer Regeln für die Platzierung schwacher Pronomina weisen die betreffenden Verbindungen gerade Eigenschaften auf, die in stärkerer Ausprägung für Klitikacluster (wie in den romanischen Sprachen) charakteristisch sind. Bei linksperipher gestellten Verbindungen einsilbiger Objektpronomina ist diese Tendenz am deutlichsten und daher am ehesten mit der Wirksamkeit einer Person/Rollen-Beschränkung zu rechnen, wenngleich mit Bezug auf das Deutsche kategorische (Un-) Grammatikalitätsurteile (anders als für das Französische) kaum zu rechtfertigen sein dürften. Die Sprecherurteile sind offenbar eher unsicher. Die referierten Befunde zum Deutschen bedürfen genauerer Überprüfung.  

B2.4.3.3 Adverbialkasus B2.4.3.3.1 Vorbemerkung Adverbialia sind Satzglieder (Verbdependentien), deren Form (anders als im Fall von Subjekten, Objekten und Präpositivkomplementen) nicht durch das Regens, von dem sie abhängen (dem Verb), bestimmt wird. Im Deutschen werden komplexe Adverbialia, die eine NP einschließen, gewöhnlich als Präpositionalphrasen realisiert.

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B2 Kategorisierungen

Umgekehrt können Präpositionalphrasen als (i) Komplemente mit festgelegten (regierten) Formeigenschaften auftreten (Präpositivkomplemente), (ii) als semantisch charakterisierte Komplemente ohne festgelegte Formeigenschaften (z. B. als Lokalergänzungen) oder (iii) als freie Angaben (nicht valenzgebundene Adverbialia). In Sprachen mit stark ausgebautem Kasussystem können diese drei Funktionen sämtlich von NPs (ohne Adposition) übernommen werden. Kasus, deren primäre Funktion in der (semantischen) Rollenmarkierung nicht formregierter NPs (Adverbialia) besteht, bezeichnen wir im Folgenden als Adverbialkasus.  

B2.4.3.3.2 Instrumental und Kausal-Final Aus dem stark ausdifferenzierten Bereich der non-lokalen semantischen Funktionen (vgl. die Aufstellung bei Comrie/Smith 1972: 30 f.) sind in Hinblick auf die Rollenmarkierung durch besondere Kasus in den Vergleichssprachen die Markierung von Modaladverbialia und Kausaladverbialia betroffen. Bei beiden Typen wird traditionell eine Reihe von besonderen Funktionen unterschieden (vgl. z. B. Blatz 1896: 24 f. zum Deutschen oder Tompa 1968: 271–284 zum Ungarischen). Zu den vorrangigen Funktionen der Modaladverbialia gehören insbesondere die Kennzeichnung der Qualität (Wie?), des Grades (Wie sehr?), des Instruments (Womit?) und der Begleitung (Mit wem?), zu den Funktionen der Kausaladverbialia insbesondere die Kennzeichnung der Ursache oder des Grundes, des Zwecks oder Ziels und des Beweggrunds oder Motivs (Warum? Wozu? Weshalb? Wieso?). Vorherrschendes Mittel der Rollenmarkierung für diesen Bereich sind Adpositionen (wie DEU mit, für und wegen und ihre ‚negativen‘ Gegenstücke ohne, gegen und trotz). Soweit Sprachen besondere Kasus für diese Funktionen besitzen, stellt (nach Blakes Darstellung unterschiedlich entfalteter Kasussysteme, Blake 2001: 157 f.) die Ausbildung eines Instrumentals (eines Kasus des Instruments oder Mittels) die erste Option dar. Unter den Vergleichssprachen belegt das Polnische diesen Fall. Der Instrumental (INS ) findet sich allgemein in den indoeuropäischen Sprachen, soweit sie ein stark entfaltetes Kasussystem bewahren, so auch in anderen slawischen Sprachen wie dem Tschechischen oder dem Serbokroatischen, sowie weltweit in diversen Sprachfamilien (Narrog 2009). Im Polnischen steht der Instrumental an der Grenze zwischen grammatischen und semantischen Kasus und fungiert auch (bei einer allerdings ziemlich beschränkten Klasse von Verben) als regierter Kasus, u. a. bei Verben, die das Bewegen eines Körperteils oder eines Gegenstands bezeichnen (vgl. trząść głowąI N S , ‚schütteln mit dem Kopf‘, d. h. ‚den Kopf schütteln‘) oder ein Regieren/Leiten/Herrschen ausdrücken wie RZĄDZIĆ ,regieren‘, vgl. Czasownik ten rządzi narzędnikiemI N S ‚Dieses Verb regiert den Instrumental‘ (vgl. Swan 2002: 362, 365 f.). In den germanischen Sprachen ist der Instrumental als rangniederster Kasus schon früh weitgehend geschwunden. Im Verlauf des Althochdeutschen wird der zunächst noch selbstständig gebrauchte Instrumental mit der Präposition mit verbunden (Braune 2004: 182, „durch Präp. (mit) gestützt“) und geht dann im Dativ auf.  













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B Wort und Wortklassen

Zum Instrumental im Altenglischen siehe Hogg/Fulk (2011: 17, 140 et passim). Die Verwendung des Dativs (ohne Präposition) in instrumentaler Lesart, wie sie sich im Altsächsischen und Althochdeutschen sowie in älteren skandinavischen Sprachvarietäten findet (van der Wal/Quak 1994: 103 und Faarlund 1994: 58, 69), ist im Isländischen (insbesondere, aber nicht nur) in festen Wendungen erhalten (Einarsson 1949: 108; Thráinsson 2007: 175 f., 179); vgl. ISL þeir tóku henni opnum örmumD A T .P L ‚Sie empfingen sie mit offenen Armen‘ (Maling 2002: 78). Der (präpositionslose) instrumentale Dativ findet sich auch im Altgriechischen (und unterliegt auch dort der Ersetzung durch Präpositionalkonstruktionen); vgl. Luraghi (2003: 68–72). Instrumentale können eine besonders ausgeprägte Polyfunktionalität aufweisen; vgl. die umfangreiche Aufstellung verschiedene Verwendungen des Instrumentals im Polnischen bei Swan (2002: 360–368, „probably the semantically most variegated of the cases“). Zu den weiteren grammatischen Funktionen, die der Instrumental in slawischen Sprachen typischerweise übernehmen kann (Sussex/Cubberley 2006: 393 f.), gehört die Kennzeichnung des Prädikativs im Kopulasatz (→ B2.4.3.4.6 zum AG ENS (Sussex/Cubberley 2006: 339 f.), z. B. im Russischen Polnischen) und des Passiv-AGENS (Wade 2011: 122), während in den übrigen Vergleichssprachen gegebenenfalls Präpositionalkonstruktionen verwendet werden wie POL przez ‚durch‘ + AKK oder DEU von + DAT (in Konkurrenz mit durch + AKK , je nach semantischer Rolle). Im Ungarischen fungiert der Instrumental auch als Kasus des AGENS in kausativen Konstruktionen (Rounds 2001: 62 f.). Kennzeichen für die instrumentale Funktion decken häufig, aber keineswegs immer, zugleich die komitative Funktion ab (wie DEU mit oder das an der Grenze zwischen Postposition und Kasussuffix stehende -ile/-ila im Türkischen); vgl. ein Medikament mit Ekel / mit Wasser / mit dem Löffel nehmen. In einem umfangreichen Sprachvergleich (unter Berücksichtigung von 323 Sprachen) fand Stolz (1997) in einem Drittel der herangezogenen Sprachen synkretistische Instrumental-Komitativ-Kennzeichen. Der Zusammenfall ist in europäischen Sprachen stark belegt und insbesondere für germanische Sprachen charakteristisch. In den Vergleichssprachen können verschiedene Schattierungen der Instrumental-Komitativ-Unterscheidung durch Verwendung spezieller Adpositionen explizit gemacht werden wie im Falle von DEU mittels gegenüber dem unspezifischeren mit, das neben anderen Funktionen die instrumentale und die komitative auf sich vereinigt. Im Polnischen werden instrumentale und komitative Funktion getrennt. Die komitative Funktion wird durch die Präposition z(e) mit Instrumental angezeigt wie in ojciec z [matką]I N S ‚der Vater mit der Mutter‘, während zur Angabe des Mittels (Instruments) der Instrumental ohne Präposition verwendet wird wie in rąbać drzewo [siekierą]I N S ‚mit der Axt Holz hacken‘ (Laskowski 1972: 74 f.); Entsprechendes gilt für das Russische (Wade 2011: 121, 481). Eine Differenzierung von instrumentaler und komitativer Funktion kann auf verschiedene Weise vorgenommen werden. Im Ungarischen steht neben dem Instrumental ein Soziativsuffix (‚samt/nebst/mit‘) zur Verfügung, das in einem Teil der Grammatiken zu den Kasussuffixen gerechnet wird und bei der Kennzeichnung der  











B2 Kategorisierungen

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komitativen Funktion in Konkurrenz zum Instrumental steht, der diese Funktion gewöhnlich abdeckt (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 212 f., „comitative case suffix“); vgl. családostul ‚mit Familie‘ zu CSALÁD ‚Familie‘ mit dem Soziativsuffix, hier in der vokalharmonischen Variante -ostul in (109) (Rounds 2001: 118).  

(109) UNG

Mindig családostul utazik. immer Familie.SOZ reis.3SG ‚Er reist immer mit Familie.‘

Adpositionen ermöglichen die genauere Festlegung auf eine komitative oder instrumentale Interpretation (vgl. z. B. együtt ‚samt/nebst‘ oder útján ‚mittels/vermittels‘).  

Zu den europäischen Sprachen mit einem besonderen Komitativ, wenn auch mit eher beschränkter Verwendung (tendenziell verdrängt durch eine Präpositionalkonstruktion), gehört das Finnische, das mit dem Abessiv auch ein ‚negatives‘ Gegenstück (einen ‚ohne‘-Kasus) besitzt (Karlsson 1999: 127 f.). Einen umfassenden sprachvergleichenden Überblick zu Komitativen in europäischen Sprachen bieten Stolz/Stroh/Urdze (2006).  

Weiter entfaltete Kasussysteme können zusätzlich einen Final-Kasus („purposive case“) umfassen, wie Blake (2001: 157 f.) mit Beispielen dravidischer Sprachen belegt (vgl. auch Krishnamurti 2003: 231, 241). Zu „purposive case“ und „causal case“ in australischen Sprachen siehe Dixon (2002: 134–136, 166–168). Auch das Ungarische besitzt mit dem Kausal-Final (KAU ) einen Kasus, der Nominale in der Funktion von Kausaladverbialia (im Sinne der traditionellen Terminologie) abdeckt. Als deutsche Entsprechungen kommen insbesondere die Präpositionen für und wegen in Betracht. Der Kausal-Final (Suffix: -ért) kann u. a. als Kasus der Ursache, des Zwecks oder des Grundes (vgl. UNG MIÉRT ‚warum/weshalb‘) oder des Begünstigten (‚um … willen‘/ ‚für‘) dienen (soweit nicht der Benefizienten-Dativ verwendet wird) und erscheint auch bei Kennzeichnungen von Austauschverhältnissen; vgl. (110) (Kenesei/Vago/ Fenyvesi 1998: 208, 225).  



(110) a. Miklós elment a könyvtárba [egy könyvért]K A U . UNG ‚Miklós ist wegen eines Buchs in die Bibliothek gegangen.‘ b. Márta mindezt [Jánosért]K A U tette. ‚Márta hat all das für János getan.‘ c. Hány forintot kapok [egy dollárért]K A U ? ‚Wie viel Forint bekomme ich für einen Dollar?‘ Der Kausal-Final steht in vielfältiger Konkurrenz mit anderen Kasus zur Kennzeichnung von Ursache oder Grund wie dem Ablativ und dem Elativ, auch dem Delativ (Tompa 1968: 275), sowie mit Adpositionalkonstruktionen (etwa mit der Postposition végett ‚zwecks/wegen‘). (Zu Kausal-Final und Instrumental als Objektkasus im Ungarischen siehe Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 200.)

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B Wort und Wortklassen

Besondere Rollenmarkierungen zur Kennzeichnung des Zwecks sind nach Næss (2009: 577) nichts Außergewöhnliches. Der Kausal-Final des Ungarischen gehört dennoch im Sprachvergleich zu den ‚Kasus mit ungewöhnlichen Funktionen‘, wie sie sich in Sprachen mit umfangreichen Kasussystemen finden. Die Herausbildung einer stark grammatikalisierten Form ist bei solchen vergleichsweise speziellen Funktionen mutmaßlich weniger wahrscheinlich, so dass eher mit der Nutzung von Adpositionen als von Kasus gerechnet werden kann (Malchukov 2009: 640). Hier fügt sich das Ungarische als eine Sprache ein, die überwiegend Kasussuffixe besitzt, die in ihrem Status Adpositionen nahe kommen. Eine europäische Sprache, die ebenfalls einen Kausal-Final besitzt, der als „Kausalis“ (Čaušević 2002), „purposive“ (Krueger 1961: 110) oder „causal/purposive“ bezeichnet wird, ist das Tschuwaschische, eine stark finnougrisch beeinflusste, im europäischen Teil Russlands gesprochene Turksprache (einziger lebender Vertreter des oghurischen Zweigs der Turksprachen) (Brown (Hg.) 2006, s. v. „Chuvash“). Ein Kausal findet sich auch in daghestanischen Sprachen wie dem Beschtinischen (Kibrik 2003: 40). Eine darüber hinausgehende Differenzierung im Bereich der non-lokalen semantischen Kasus findet sich im Bereich der europäischen Sprachen im Baskischen, wo für den final-kausalen Bereich verschiedene Suffixe bzw. Kasus zur Verfügung stehen; siehe Saltarelli et al. (1988: 165) zum Destinativ (-rako) (Kasus des Zwecks) und zum Motivativ (-gatik) (Kasus des Grundes).  

B2.4.3.3.3 Lokalkasus (Ungarisch) Das Kasussystem des Ungarischen schließt ein Subsystem von Lokalkasus (Creissels 2009: 609, „spatial cases“) ein, die aus funktionaler Sicht Gegenstücke zu Präpositionalphrasen mit spatialen (oder „lokalen“) Präpositionen im Deutschen und anderen Vergleichssprachen bilden; vgl. az orvostól ‚vom Arzt‘, Ablativ zu ORVOS ‚Arzt‘ mit dem Ablativsuffix -tól (in vokalharmonisch angepasster Form) wie in A diákok az orvostól jönnek ‚Die Studenten kommen vom Arzt‘. Die Verwendungsspielräume der Lokalkasus sind ähnlich weit wie bei Präpositionalphrasen im Deutschen. Als Beispiel kann der Ablativ dienen (mit den Flexivvarianten -tól/-től); vgl. dazu DEU von. Der Ablativ kann u. a. zur Kennzeichnung eines Ortes oder einer Person als Ausgangspunkt einer Bewegung verwendet werden wie in as asztaltól ‚vom Tisch [aufstehen]‘, zur Kennzeichnung von Herkunft oder Ursprung (wie in Bartóktól ‚[Werke] von Bartók‘) oder einer Ursache (a hidegtől ‚vor Kälte [zittern]‘) oder temporal bei Bezugnahme auf den Beginn eines Zeitraums (hétfőtől [péntekig] ‚von Montag [bis Freitag]‘). Wie Präpositionalphrasen im Deutschen als Präpositivkomplemente zu Verben fungieren können, können Lokalkasus im Ungarischen von Verben regiert werden, so der F ÜGG G ‚abhängen von‘ und FÉL F ÉL ‚sich fürchten vor‘ (Kenesei/ Ablativ von Verben wie FÜG Vago/Fenyvesi 1998: 199). Lokalkasus können zudem auch von Postpositionen regiert werden. Die Lokalkasus entsprechen nach ihrer Semantik im Ganzen betrachtet in etwa dem Kernbereich der deutschen primären Lokal- oder („Spatial-“)Präpositionen, der von den ortsbezogenen Präpositionen wie bei, in, an, auf, zu, nach, von und aus  

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B2 Kategorisierungen

gebildet wird (→ B2.4.3.3.4). Weitere Lokalrelationen, darunter dimensionale Relationen (vgl. DEU vor, hinter, über, unter), werden auch im Ungarischen durch Adpositionen (nämlich Postpositionen) zum Ausdruck gebracht. In Hinblick auf die Charakterisierung der Lokalkasus ist der Vergleich der Kasusmarkierungen mit den Adpositionen der älteren Schicht des ungarischen Adpositioneninventars aufschlussreich, die den Kennzeichen der Lokalkasus funktional und formal am nächsten stehen. Wir bezeichnen sie (in Ermangelung einer allgemein akzeptierten Benennung) in Anlehnung an eine ältere Terminologie der deutschen Grammatikschreibung als ‚Nominaladpositionen‘, die von ‚Adverbialadpositionen‘ zu unterscheiden sind. Im Deutschen können (diachron wie synchron) verschiedene Schichten des Adpositionensystems unterschieden werden; gewöhnlich wird zwischen primären und sekundären Präpositionen unterschieden (Helbig/Buscha 2001: 353). Sekundäre Präpositionen entstehen vielfach aus Wendungen mit substantivischen Köpfen. Der substantivische Ursprung kann mehr oder weniger deutlich oder verdunkelt sein; vgl. anhand (zu HAND ) oder aufgrund (zu GRUND ). Der substantivische Ursprung zeigt sich gegebenenfalls auch noch in der Form der Anbindung des Komplements (als Genitiv- oder von-Phrase), die formal derjenigen von NP-förmigen Attributen an substantivische Köpfe entspricht. Insoweit bewahren die sekundären Präpositionen auch bei fortgeschrittenem „Präpositionalisierungsprozeß“ (ebd.) noch nominale Eigenschaften. Primäre Präpositionen sind dagegen diachron überwiegend durch „Gliederungsverschiebungen“ (Paul 1920c: 292 f.) aus Adverbien entwickelt. Die Benennung der beiden Klassen von Präpositionen als Adverbialpräpositionen und Nominalpräpositionen findet sich bei Heyse (1908: 380) (vgl. auch Admoni 1982: 137).  

Den Kernbestand der Nominaladpositionen des Ungarischen zeigt Abbildung 8.

Abb. 8: Nominaladpositionen des Ungarischen  

Das Lokalisierungssystems des Ungarischen (wie das anderer finnougrischer Sprachen) zeichnet sich, wie aus Abbildung 8 abgelesen werden kann, durch eine markante Realisierung der für Lokalsysteme grundlegenden Trias des Wo?/Wohin?/Woher? aus.

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B Wort und Wortklassen

Bühler (1934) sieht die Wo?/Wohin?/Woher?-Unterscheidung als grundlegende Unterscheidung im Bereich der Lokalität schlechthin an. Hjelmslev (1935) identifiziert hierin die erste ‚Dimension‘ von Kasus- und Präpositionensystemen. Lyons (1968: 300) wertet die Unterscheidung von lokativer Funktion (Wo?) und direktionaler Funktion (Wohin?/Woher?) als eine Ausprägung einer weit über Kasus- und Präpositionensysteme hinausgreifenden grundsätzlichen Unterscheidung, die mit dem Begriffspaar ‚statisch – dynamisch‘ gefasst wird. Ihre grundlegende Bedeutung für die Gliederung von Lokalisierungssystemen bestätigt sich in der vergleichenden Untersuchung unterschiedlich entfalteter Lokalkasussysteme, wie sie die finnougrischen Sprachen in großer Vielfalt bieten (Stolz 1992: 86).

Die zweite Dimension des zweidimensionalen Systems, das Abbildung 8 zeigt, wird durch die je spezifischen Verhältnisse geliefert, die zwischen zu lokalisierenden Objekten und dem Bezugspunkt (oder ‚Anker‘) bestehen, an den die Lokalisierung anknüpft. Ungefähre deutsche Äquivalente für die statischen Glieder der Adpositionentripel sind in der ersten Spalte angegeben. Die Vielfalt der Verwendungen der Adpositionen, eingeschlossen solche mit non-spatialen Lesarten, kann hier außer Betracht bleiben. Von Interesse ist die Struktur des Systems, in das sich auch die Lokalkasus eingliedern. Die Postpositionen der drei Gruppen zeigen je charakteristische Ausgänge, die auf ältere Lokalkasusendungen zurückgehen, und innerhalb jedes Tripels von Postpositionen ein gemeinsames Element, das auf den Stamm eines Substantivs zurückgeht. Die betreffenden Substantive sind – mit Ausnahme von MELL ‚Brust‘ – untergegangen; ihre Bedeutungen gibt Biermann (1985: 74) mit ‚Vorder-/Ober-/Unter-/ Hinterteil‘ und ‚Zwischenstück‘ an. Die Postpositionen dieses Typs gehen auf Possessivkonstruktionen mit einem relationalen Substantiv als Kopf zurück, in denen das jetzt als Komplement der Postposition fungierende Element als Attribut (zur Bezeichnung des Possessors) fungierte. Wie im Falle der Nominalpräpositionen des Deutschen erfolgt die Anbindung des Komplements nach nominalem Muster. Aus dem Deutschen zu vergleichen sind sekundäre Präposition und präpositionale Wendungen, darunter solche, in denen das relationale Substantiv – ursprünglich eine Körperteilbezeichnung – noch erkennbar ist wie in Im Rücken des Feindes (Filmtitel) oder am Kopf des Tisches. Die diachrone Quelle der Adpositionen (aus Possessivkonstruktionen) ist für die synchrone Analyse der Adpositionalkonstruktionen (und darüber hinaus der Konstruktionen mit Lokalkasus) beachtlich, insofern diese Konstruktionen auch synchron noch in ihrer Form durch das Muster der Possessivkonstruktionen geprägt sind. Dies wird vor allem bei Betrachtung von Adpositionalkonstruktionen mit personalpronominalen Komplementen deutlich. Personalpronomina werden in Possessivkonstruktion im Deutschen typischerweise durch Possessivpronomina ersetzt (sein Haus vs. das Haus von ihm). Im Ungarischen, das keine Possessivpronomina besitzt, kann in vergleichbarer Funktion an den Kopf einer Possessivkonstruktion ein Personalsuffix treten, das die Person-/NumerusSpezifikationen des Possessors anzeigt, wie in az autó-ja3S G ‚sein Auto‘ mit einer

B2 Kategorisierungen

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Variante des Personalsuffixes der 3. Person Singular und dem definiten Artikel (in der Variante az); vgl. im Einzelnen → C3.3. Eine ausdrückliche Nennung des Possessors kann als Phrase im Nominativ vorangestellt werden wie in Pál autó-ja ‚Páls Auto‘. Bei Kommunikantenbezug, angezeigt durch ein Personalsuffix der 1. oder 2. Person wie in az autó-m1S G , wäre die Voranstellung des Personalpronomens (hier: én ‚ich‘) zur Bezeichnung des Possessors redundant und unterbleibt regelmäßig (wie auch in Fällen von Pro-Drop in der ungarischen Konjugation), sofern nicht Kontrast oder Emphase intendiert ist. MELL ETT ‚neben‘) treten (als „PostpositioDie angeführten Adpositionen (wie z. B. MELLETT nen“) hinter ihre Komplemente wie in a ház mellett ‚neben dem Haus‘, hier: ház, Nominativ Singular zu HÁZ ‚Haus‘ mit vorangestelltem definiten Artikel (in der Variante a). Die Konstruktion der betreffenden Adpositionalphrasen folgt (mit Abweichungen im Einzelnen) dem Muster der possessiven Konstruktion; vgl. → C3.3.3. Komplemente in der Form von NPs wie im Falle von a ház stehen regelmäßig im Nominativ der Adposition voran.  

Possessorphrasen in eigentlichen Possessivkonstruktionen können im Nominativ oder Dativ stehen; der Dativ ist obligatorisch, wenn die Possessorphrase im Satz (etwa mit Rücksicht auf die Topik-Fokus-Verteilung) von der Bezeichnung des Possessums getrennt wird. Eine „Spaltung“ ist (in eingeschränktem Rahmen) nach der Analyse in Biermann (1985: 75–81) auch bei Postpositionalphrasen möglich; bei „Extraposition“ (und nur dann) stehe das Komplement einer Postposition im Dativ (É. Kiss 2002: 191). Zu dieser Konstruktion siehe im Einzelnen Biermann (1985), É. Kiss (2002), Asbury (2008: 67), aber vgl. auch Kenesei/Vago/Fenyvesi (1998: 91).

Bei einem personalpronominalen Komplement werden die Person-/Numerus-Spezifikationen durch ein Personalsuffix angezeigt, wie in mellett-em1S G ‚neben mir‘. Das Personalpronomen erscheint in der Komplementposition (vor der Postposition) wie in én-mellett-em1S G (ich-neben-1SG , ‚neben mir‘) wiederum nur bei Kontrast oder Emphase. Auf diese Weise werden Adpositionen des hier in Betracht kommenden Typs im Ungarischen regelmäßig mit Personalsuffixen verbunden, wenn die Interpretation der Adpositionalphrase ein personalpronominales Komplement voraussetzt wie in mellett-e3S G ‚neben ihm‘ oder mellett-ünk1P L ‚neben uns‘. Verglichen werden kann hier aus dem Deutschen eine Konstruktion mit einem Possessivpronomen wie in der Feind in seinem Rücken. Die beschriebenen Muster wiederholen sich mutatis mutandis bei den Lokalkasus. Das System der Lokalkasus des Ungarischen umfasst neun Kasus, die wie die Adpositionen Tripel gemäß der Grundunterscheidung (Wo?/Wohin?/Woher?) bilden. Zugleich wird im Bereich der Ortsrelationen zwischen drei Typen unterschieden, die in Abbildung 9 mit den in den Zeilenköpfen vorangestellten deutschen Präpositionen angedeutet sind (BEI , IN , AUF ). Abbildung 9 führt die traditionellen Namen der Lokalkasus ein und zeigt zugleich die Bildung der Kasusformen am Beispiel des Substantivs HÁZ ‚Haus‘.

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B Wort und Wortklassen

Abb. 9: Lokalkasus des Ungarischen. Formen von HÁZ ‚Haus‘  

Tompa (1972: 114–116) unterscheidet zwischen Kasus der „äußeren Lokalrelationen“ (BEI - Gruppe), Kasus der „inneren Lokalrelationen“ (IN -Gruppe) und den Kasus „für die Ortsverhältnisse der Oberfläche“ (AUF -Gruppe) und gibt einen sehr knappen Abriss der Semantik der drei Kasusgruppen und ihrer Verwendung; siehe im Einzelnen Kenesei/Vago/Fenyvesi (1998: 235–247). Wir belassen es bei den die Kasusbedeutungen andeutenden Übersetzungen in Abbildung 9; vgl. Tompa (ebd.: 123). Lokalkasusformen unterscheiden sich von Verbindungen aus Adpositionen und ihren Komplementen durch die Integration des Relationskennzeichens in die markierten Wortformen; während in a ház mellett ‚neben dem Haus‘ die Adposition mellett ‚neben‘ eine selbstständige syntaktische Einheit bildet, erscheint das Kasuskennzeichen des Inessivs -ben/-ban in a házban ‚in dem Haus‘ als Suffix und stellt einen Bestandteil der Wortform házban (der Inessivform von HÁZ ) dar. Der Status als Suffix ist ersichtlich (i) aus der vokalharmonischen Anpassung der Kasuskennzeichen und (ii) aus der Nichtabtrennbarkeit der Kasuskennzeichen von ihren Trägerformen. (i) Die Wahl zwischen den Suffixvarianten (hier: -ben auf vorderen Vokal und -ban auf hinteren Vokal) wird durch die harmonische Anpassung an die Vokalqualität des Stamms bestimmt (→ C3.3.5); daher steht -ban in Verbindung mit dem auf hinteren Vokal lautenden Substantivstamm ház. Vokalharmonische Anpassung erfolgt nur wortintern und kann daher zur Unterscheidung von Flexiven (Wortformenbestandteilen) und Adpositionen (selbstständigen Wortformen) herangezogen werden. (ii) Adpositionen wie mellett stehen adjazent hinter ihren nominativischen Komplementen, geradeso wie Kasusflexive unmittelbar an nominale Stämme treten; in derartigen Fällen kann die Unterscheidung zwischen Kasusflexiven und Adpositionen fraglich sein. Im Ungarischen können jedoch (anders als Kasusflexive) Postpositionen (als selbstständige syntaktische Einheiten) (wie Präpositionen im Deutschen) koordiniert werden wie in (i) ebéd előtt és után (wörtl. ‚Mittagessen vor und nach‘, d. h. ‚vor  

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B2 Kategorisierungen

und nach dem Mittagessen‘) und umgekehrt koordinierte Komplemente zu sich nehmen wie in (ii) Mária és Péter mögött (wörtl. ‚Mária und Péter hinter‘, d. h. ‚hinter Mária und Péter‘). Beides ist im Falle der ungarischen Kasusflexive ausgeschlossen (Marácz 1989: 361). Die Unterscheidung ist somit gut greifbar.  

In a ház előtt és (a ház) mögött ‚vor und hinter dem Haus‘ kann die NP im zweiten Konjunkt der Koordination ausfallen. In einer Koordination zweier Kasusformen wie a háztólA B L és a házbólE L A ‚vom Haus und aus dem Haus‘ ist eine entsprechende Reduktion nicht möglich: *a háztólA B L és bólE L A . Das Kasusflexiv (hier: -bólE L A ) kann nicht selbstständig stehen (É. Kiss 2002: 184). In a ház (előtt) és a garázs előtt ‚vor dem Haus und vor der Garage‘ kann die Postposition im ersten Konjunkt ausfallen (wie im Deutschen die Präposition im zweiten Konjunkt; vgl. vor dem Haus und der Garage). In einer Koordination zweier Kasusformen wie a ház-nálA D E és a garásználA D E ‚am Haus und an der Garage‘ ist eine entsprechende Reduktion wiederum nicht möglich: *a ház és a garász-nál. Das Kasusflexiv (als Bestandteil einer Wortform, hier: der Adessivform háználA D E von HÁZ ) kann nicht erspart werden (ebd.).

Während sich Kasuskennzeichen und Nominaladpositionen in ihrem Status (als morphologisch gebundene Elemente bzw. selbstständige Wortformen) unterscheiden, ist Adpositionalphrasen und Lokalkasusphrasen die formale Prägung durch das Muster der Possessivphrasen gemeinsam, auf die sie diachron gleichermaßen zurückgehen. Dies schließt insbesondere die Verbindung mit Personalsuffixen ein. Lokalkasusformen zu Personalpronomina werden ebenso gebildet wie Postpositionalphrasen mit personalpronominalen Komplementen. Die Person-/Numerusspezifikationen werden durch ein Personalsuffix angezeigt, während das Personalpronomen selbst, außer bei Kontrast oder Emphase, nicht gesetzt wird. So lautet die Inessivform zum Personalpronomen der 1. Person Singular in der emphatischen Variante énbennem1S G mit dem Personalpronomen (én) gefolgt vom Kennzeichen des Inessivs (hier in der Variante benn-) und dem 1SG - Personalsuffix (-Vm), bzw. in der gewöhnlich, non-emphatischen Variante (mit Pro-Drop) bennem. Die entsprechend gebildeten sechs (non-emphatischen) Lokalkasusformen des Personalpronomens der 1. Person Singular zeigt Abbildung 10.

Abb. 10: Lokalkasusformen von UNG ÉN ‚ich‘  

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B Wort und Wortklassen

Andere Personalpronomina besitzen entsprechende Sätze von Lokalkasusformen. In der Verbindung mit einem Personalsuffix, wo das Personalpronomen in der Regel nicht vorangestellt wird, findet, in Ermangelung einer festen Verbindung mit einem vorausgehenden Stamm, keine vokalharmonische Anpassung der Kasuskennzeichen statt. Die Kasuskennzeichen der Lokalkasusformen der Personalpronomina setzen ältere Varianten der zu Kasusflexiven erstarrten Adpositionen fort, die die Anpassungen und Kürzungen nicht mitgemacht haben, die die an Substantiven auftretenden Varianten betroffen haben. Diese sind im Ungarischen (anders als Adpositionen) nie mehrsilbig. Im Falle des Superessivs liegt beim Personalpronomen eine suppletive Variante des Kasuskennzeichens vor (rajt-). Insgesamt sind daher bei den Lokalkasusflexiven jeweils zwei Hauptformen zu unterscheiden: (i) eine invariable Form, die in den Lokalkasusformen der Personalpronomina erscheint, und (ii) eine variable Form (mit vokalharmonischen Varianten), die sonst (insbesondere an Substantiven) erscheint; im Fall des Inessivs wären dies (i) benn- und (ii) -bAn (mit den Varianten -ben und -ban). Gemeinsam ist Adpositionalphrasen (mit Nominaladpositionen) und Lokalkasusphrasen auch die zweimalige Setzung an den Bestandteilen quasi-appositiver NPs, die aus einem Demonstrativum und einer NP bestehen; vgl. en-nél a ház-nál ‚bei diesem Haus‘ mit zweimaliger Setzung des Adessivflexivs -nél/-nál und e mellett a ház mellett ‚neben diesem Haus‘ mit zweimaliger Setzung der Adposition (É. Kiss 2002: 186); zu dieser Konstruktion → D1.2.1.2.

Neben den neun genannten Lokalkasus existiert im Ungarischen Kasussystem ein weiterer Kasus, der lokale und temporale Verwendungen hat, entsprechend DEU bis, und als Terminativ bezeichnet wird (Suffix -ig); Personalpronomina besitzen keine Terminativformen. Die Kasusformenbildung der Personalpronomina bei non-lokalen indirekten Kasus erfolgt wie im Falle der Lokalkasus unter Verwendung von Personalsuffixen (bei regelmäßiger Nicht-Setzung des Personalpronomens). Das Dativflexiv besitzt die vokalharmonischen Varianten -nek und -nak. Die Dativformen der Personalpronomina werden mit der Variante auf vorderen Vokal gebildet; daher nek-em1S G (Dativ zu én ‚ich‘) usw. Entsprechendes gilt für den Instrumental mit den Varianten -vel und -val (mit variablem Initialkonsonant); daher vel-em1S G (Instrumental zu én ‚ich‘) usw. Das Flexiv des Kausal-Final ist invariabel (-ért); daher ért-em1S G (Kausal-Final zu én ‚ich‘) usw. Prädikativkasusformen werden zu Personalpronomina nicht gebildet (→ B2.4.3.4.7). Neben den Nominaladpositionen, die ihre Komplemente nach nominalem Muster an sich binden, existiert im Ungarischen eine zweite Hauptgruppe von Adpositionen, die sich mit Komplementen in obliquen Kasus verbinden, wie együtt ‚zusammen‘, das ein Komplement im Instrumental nimmt wie in JánossalI N S együtt (mit der Instrumentalform Jánossal zum Eigennamen JÁNOS ). Sie werden in É. Kiss (2002: 183) als Adverbien, die Argumente nehmen, charakterisiert. Insofern die Adpositionen dieser Gruppe für ihre Komplemente einen bestimmten Kasus fordern, scheint allerdings die  

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B2 Kategorisierungen

traditionelle Klassifizierung als Adpositionen angemessen. Weitere Beispiele sind alul ‚unterhalb‘, felül ‚oberhalb‘, kívül ‚außerhalb‘, belül ‚innerhalb‘, die den Superessiv regieren; szemben ‚gegenüber‘ wie együtt ‚zusammen mit‘ mit dem Instrumental; und képest ‚im Vergleich zu‘ mit dem Allativ; vgl. die Liste der Postposition in Kenesei/ Vago/Fenyvesi (1998: 337–339). Das Vorliegen eines kasusregierten Komplements, das nicht die Form eines NP-Attributs hat, entspricht der Situation bei den primären Präpositionen im Deutschen. Die Verwendung des Terminus ‚Adverbialadposition‘ – der an die Charakterisierung dieser Gruppe von Adpositionen durch É. Kiss anschließt – stellt eine bequeme Möglichkeit dar, diese Übereinstimmung zum Ausdruck zu bringen.  



Kenesei/Vago/Fenyvesi (1998: 87) bezeichnen die Adverbialadpositionen als „real postpositions“, dagegen die Nominaladpositionen (wegen der erörterten Übereinstimmungen mit Kasusflexiven) als „case-like postpositions“. Umgekehrt lässt É. Kiss (2002) gerade nur die Nominaladpositionen als Postpositionen zu und betrachtet die Adverbialadpositionen als Adverbien. Andere Arbeiten unterscheiden in Hinblick auf die (Nicht-)Verbindbarkeit mit Personalsuffixen zwischen ‚nackten‘ und ‚bekleideten Adpositionen‘ (Marácz 1989: 375, „naked P“, „dressed P“) oder zwischen unflektierten und flektierten Adpositionen (Asbury 2008). Die terminologische Unterscheidung von Nominaladpositionen und Adverbialadpositionen hat demgegenüber den Vorteil, keine der beiden Klassen als ‚uneigentlich‘ ausscheiden zu müssen und zudem den einzelsprachunabhängigen Kern der Unterscheidung herauszustellen, die von den sprachspezifischen Einzelheiten der Konstruktionen (wie dem Auftreten oder Nicht-Auftreten von Personalsuffixen) unabhängig ist.

Die ungarischen Adverbialadpositionen teilen mit den Nominaladpositionen die Eigenschaften, die die Adpositionen insgesamt von den Kasuskennzeichen (als gebundenen, gegebenenfalls vokalharmonisch angepassten Flexiven) trennen. Hierzu ist auch zu zählen, dass Kasusflexive im Ungarischen „Endsuffixe“ sind, die in der Regel das Antreten weiterer Suffixe nicht zulassen. Adpositionen können ihrerseits in beschränktem Umfang Kasussuffixe (des Delativs oder Sublativs) annehmen; ebenso kann an Adpositionen (aber nicht an Kasusformen) das Suffix -i treten, das die Adjektivierung von Adpositionalphrasen ermöglicht (Marácz 1989: 356–361); → D4.7. Dagegen unterscheiden sich die Adverbialadpositionen von den Nominaladpositionen im Ungarischen gerade durch das Fehlen der Merkmale, die Kasusflexiven und Nominaladpositionen aufgrund der gemeinsamen Prägung durch das Muster der Possessivkonstruktionen (mit nominalem Kopf) gleichermaßen zukommen; vgl. Asbury (2008: 67, zur „nominal nature of Hungarian postpositions and cases“). Dies bedeutet: Adverbialadpositionen nehmen keine Personalsuffixe an, sie fordern kasusmarkierte Komplemente und sind generell weder durchgängig auf postpositionale Stellung noch auf strikte Adjazenz zu ihren Komplementen festgelegt (Gradadverbien können dazwischen treten); vgl. im einzelnen Marácz (1989), É. Kiss (2002: 181–198), Asbury (2008). Typischerweise fungieren zudem mit Adverbialadpositionen gebildete Adpositionalphrasen nicht als (Verb-)Komplemente (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 92).

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B Wort und Wortklassen

Zusammenfassend lässt sich feststellen: Im Ungarischen sind die Relationskennzeichen des engsten Kernbereichs des Lokalisierungssystems, der im Deutschen durch ortsbezogene primäre Präpositionen (wie in, an, auf) abgedeckt wird, morphologisch an die Stämme ihrer vormaligen Komplemente gebunden worden und so zu Kasusflexiven geworden, die ein zweidimensionales System von neun Kasus liefern. Der Bau der Adpositionalphrasen, auf die die Kasusphrasen zurückgehen, entspricht der Struktur von Possessivphrasen und schließt eine Anbindung der Komplemente nach dem Muster von Possessorphrasen ein (ähnlich wie sekundäre Präpositionen im Deutschen Komplemente im Genitiv nehmen können). Diese Charakteristik der mit Nominaladpositionen gebildeten Adpositionalphrasen gilt im Grundsatz auch für Lokalkasusphrasen und bedingt die Verwendung von Personalsuffixen bei der Bildung der Lokalkasusformen der Personalpronomina. Wie die Formen der Personalpronomina in Adpositionalphrasen regelmäßig durch Pro-Drop ausfallen, sind sie auch nicht Bestandteil der gewöhnlichen (nicht-emphatischen) Lokalkasusformen, die zu Personalpronomina gebildet werden. Infolgedessen fehlen in Lokalkasusformen der Personalpronomina die für andere Lokalkasusformen typische vokalharmonische Variation und die flexivtypische formale Reduktion des Kasuskennzeichens. Im Ergebnis umfassen die Lokalkasusformen eine abgeschlossene Gruppe von synchron unregelmäßigen Formen der Personalpronomina neben den produktiv gebildeten Formen der als Köpfe von NPs fungierenden Lexeme; vgl. Abbildung 9 mit Abbildung 10.

B2.4.3.3.4 Kasusrektion der Lokalpräpositionen (Deutsch, Polnisch) Mit Ausnahme des Ungarischen existieren in den Vergleichssprachen keine besonderen Lokalkasus. Jedoch spielt im Deutschen und im Polnischen Kasusmarkierung für die Interpretation von Präpositionalphrasen, die funktional mit lokalkasusmarkierten NPs des Ungarischen vergleichbar sind, eine wichtige Rolle. Der Kasus der Komplemente der Präpositionen ist im Allgemeinen für die verschiedenen Präpositionen lexikalisch festgelegt und kann insofern hier außer Betracht bleiben. Bei einer Reihe von primären Lokalpräpositionen (‚Wechselpräpositionen‘) wechselt dagegen im Deutschen der Kasus des Komplements in Abhängigkeit von der Interpretation der Präpositionalphrase; vgl. in [dem Wald]D A T (Wo?) gegenüber in [den Wald]A K K (Wohin?). Der Kasus des Komplements trägt zur Signalisierung der Statisch-dynamisch-Unterscheidung bei, die im Ungarischen mittels unterschiedlicher Lokalkasus hergestellt wird (→ B2.4.3.3.3). Im Englischen stehen kasusvariable Lexeme (Pronomina) als Komplemente zu Präpositionen immer im Akkusativ (Quirk et al. 1985: 659), im Französischen immer in der kasusindifferenten ‚disjunkten‘ Form (Grevisse/Goosse 2011: 889); → C5.2.1.

Im Deutschen bilden die primären Lokalpräpositionen (oder „Raumpräpositionen“) ein System, das in vergleichbarer Weise wie das der ungarischen Lokalkasus struktu-

B2 Kategorisierungen

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riert ist. Abbildung 11 zeigt das Kernsystem der Lokalpräpositionen; bei den Wechselpräpositionen ist der regierte Kasus angegeben.

Abb. 11: Kernsystem der Lokalpräpositionen des Deutschen  

Das Deutsche zeigt in der vertikalen Dimension der Tabelle eine viergliedrige Differenzierung, gegenüber der dreigliedrigen BEI - IN - AUF - Differenzierung im ungarischen Lokalkasussystem (vgl. Abbildung 9), wo eine Differenzierung entsprechend der anauf-Unterscheidung im Deutschen nicht gemacht wird. Mit einbezogen sind in Abbildung 11 die sogenannten perlativen Präpositionen, die eine streckenbezogene Lokalisierung liefern. Zum Gesamtinventar der primären Lokalpräpositionen gehören daneben die dimensionalen Präpositionen (vor, über, unter, hinter) sowie zwischen und neben, also die Präpositionen, die dem in Abbildung 8 gezeigten Ausschnitt aus dem ungarischen Adpositioneninventar entsprechen.  

Die Präposition über wird sowohl als perlative Präposition (als perlatives Gegenstück zu auf) wie in Der Ball rollt über den Tisch (Wo entlang?) als auch als dimensionale Präposition genutzt wie in Die Lampe hängt über dem Tisch (Wo?) und Wir hängen die Lampe über den Tisch (Wohin?). Auf eine weitere Erörterung des Baus des deutschen Präpositionensystems muss hier verzichtet werden. Wir beschränken uns auf Hinweise zur Kasusverteilung.

Im Ungarischen ist die Unterscheidung nach der Grundtrias (Wo?/Wohin?/Woher?) im Lokalkasussystem durchgehend durchgeführt. Dies gilt auch für Ortsadverbien wie itt/ide/innen ‚hier/hierher/von hier‘ und ott/oda/onnan ‚dort/dorthin/von dort‘ (Tompa 1972: 140 f.). In anderen Vergleichssprachen kann dagegen die Wo?/Wohin?-Unterscheidung bei einschlägigen Lexemen fehlen, etwa bei Interrogativadverbien. Während im Ungarischen und Deutschen eine dreigliedrige Unterscheidung vorliegt (hol ‚wo‘, hová ‚wohin‘, honnan ‚woher‘), kann in anderen Sprachen vielfach auf eine Auszeichnung der allativen Option durch besondere Formen verzichtet werden; vgl. ENG where ‚wo/wohin‘ und ebenso FRA où (neben vers où), ITA dove, GRI πού (neben για πού). Im Deutschen gilt diese Unterdifferenzierung für die Mehrheit der primären  

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B Wort und Wortklassen

Lokalpräpositionen. Die Wo?/Wohin?-Unterscheidung wird überwiegend nicht durch unterschiedliche Präpositionen, sondern durch den Kasus des Komplements hergestellt (durch die Opposition von Dativ und Akkusativ). Vgl. Paul (1920a: 5): „Der Akk. steht, wo ausgedrückt werden soll, dass das räumliche Verhältnis zu einem Gegenstande erst hergestellt wird, der Dat. als Ersatz des alten Lokativs, wo dies Verhältnis als schon bestehend gedacht wird.“ Ausschlaggebend ist danach nicht etwa die Unterscheidung zwischen ‚Ruhe‘ und ‚Bewegung‘ (Admoni 1982: 137), sondern die zwischen einem konstanten und einem variablen Verhältnis; so Paul (1992: s. v. vor) zum Dativ in er geht vor mir her: „Dat. trotz der Bewegung, weil keine Veränderung in dem Verhältnis der Gegenstände zueinander eintritt.“ Vgl. auch Wunderlich (1985: 342 f.), IDS-Grammatik (1997: 2105). Den Versuch einer einheitlichen semantischen Deutung der Kasusrektion der Präpositionen macht Leys (1989). Der Dativ (‚als Lokativ‘) stellt im Deutschen den gewöhnlichen Präpositionalkasus dar; er tritt auch auf, wo die Wo?/Wohin?-Unterscheidung nicht zum Tragen gebracht wird wie häufig bei präfigierten Verben; siehe IDS-Grammatik (1997: 2108) zu sogenannten transformativen Präfixverben.  



Insgesamt gilt für die primären Lokalpräpositionen im Deutschen: der Akkusativ steht (i) bei den perlativen Präpositionen (um, durch, gegen, über) (nach traditioneller Terminologie als ‚Akkusativ der Erstreckung‘) und (ii) bei denjenigen Präpositionen, die lokative Lesarten (Wo?) und allative Lesarten (Wohin?) zulassen, bei allativer Lesart (in, an, auf; vor, über, unter, hinter; zwischen, neben) (als ‚Richtungsakkusativ‘). Im Übrigen (und daher auch bei bei, zu, nach, von, aus) wird der Dativ (als der gewöhnliche Präpositionalkasus) verwendet. Auch das Polnische zeigt (wie weitere slawische und andere indoeuropäische Sprachen) einen vergleichbaren Kasuswechsel nach Präpositionen zur Differenzierung von lokativer und allativer Lesart und insbesondere die Verwendung des Akkusativs als Kennzeichen der allativen Lesart (Wohin?); die lokative Lesart (Wo?) wird bei Wechselpräpositionen im Polnischen durch den Lokativ oder den Instrumental angezeigt. Wechsel zwischen Lokativ und Akkusativ zeigen u. a. die ortsbezogenen Präpositionen w ‚in‘ und na ‚auf‘; vgl. w górachL O K .P L ‚in den Bergen‘ mit w góryA K K .P L ‚in die Berge‘. Wechsel zwischen Instrumental (bei lokativer Lesart) und Akkusativ (bei allativer Lesart) zeigen u. a. die dimensionalen Präpositionen przed ‚vor‘, nad ‚über‘, pod ‚unter‘, za ‚hinter‘; vgl. pod stołemI N S .S G ‚unter dem Tisch‘ mit pod stółA K K .S G ‚unter den Tisch‘. Im Einzelnen siehe die Grammatiken des Polnischen, Z .B. Laskowski (1972: 63–77) oder Sadowska (2012: 536–546). Zu weiteren slawischen Sprachen siehe Sussex/Cubberley (2006: 339–342).  



B2.4.3.4 Prädikativkasus B2.4.3.4.1 Einleitung Innerhalb der funktionalen Domäne des Kasus, der Markierung syntaktisch-semantischer Rollen, bildet die Markierung von Prädikativen (neben der Markierung von

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Phrasen mit Partizipantenbezug und von Adverbialia) den dritten Haupttyp; vgl. die Unterscheidung von drei Arten von Verbkomplementen (Terme, Adverbialia und Prädikative) in der IDS-Grammatik (1997: 978). Im Folgenden betrachten wir die wichtigsten Optionen zur Kasusmarkierung bei Prädikativen in den Vergleichssprachen. Prädikative fungieren im prototypischen Fall als Dependentien von Verben (bzw. Verbphrasen oder Sätzen, in beschränkterem Maße von anderen Regentien) und dienen der zusätzlichen Charakterisierung eines Referenten, der durch ein Komplement des Regens (vorzugsweise SU oder DO ) vorgegeben ist. Beispiele für Prädikative bilden die Adjektive in Die Suppe ist heiß, Er macht die Suppe heiß, Er isst die Suppe heiß. Das Komplement, auf das sich das Prädikativ bezieht, (hier: die Suppe) wird als ‚Bezugsphrase‘ des Prädikativs bezeichnet (Plank 1985a: 165); das Prädikativ ist nicht Teil der Bezugsphrase. Als zentraler Typ werden die Prädikativkomplemente zu Kopulaverben wie SEIN , WERDEN , BLEIBEN und ihren Äquivalenten angesehen; Bezugsphrase (Huddleston/Pullum 2002: 217, „predicand“), ist das Subjekt des Kopulaverbs, die Prädikative sind ‚Subjektsprädikative‘. Vgl. (111) mit Beispielen aus dem Englischen. (111) ENG

He was/remained/became [ill] / [president] / [a danger]. ‚Er war/blieb/wurde krank / Präsident / eine Gefahr.‘  

   



   

   

In diesen und den folgenden Beispielen sind Prädikative durch eckige Klammern, ihre Bezugsphrasen durch Unterstreichung gekennzeichnet. Typischerweise treten als Prädikative wie in (111) Adjektive oder nicht-referentielle NPs auf, in sogenannten identifizierenden (oder spezifizierenden) Kopulasätzen (im Unterschied zu deskriptiven oder askriptiven Kopulasätzen) auch referentielle NPs wie in ENG The chief culprit was [Kim] ‚Der Hauptschuldige war Kim‘ (ebd.: 266, „ascriptive and specifying uses of be“). Die Realisierungsformen für Prädikative sind jedoch vielfältig. Im Deutschen fallen hierunter Nominale verschiedener Art (Substantive und Adjektive bzw. Nominal- und Adjektivphrasen, auch Pronomina), Präpositionalphrasen, als- und wiePhrasen und Sätze verschiedenen Typs (vgl. IDS-Grammatik 1997: 1076 f., 1105–1117). (Eine overte Bezugsphrase kann fehlen, wenn die betreffende Komplementstelle nicht lexikalisch besetzt ist, etwa bei sogenanntem Pro-Drop oder vergleichbaren Fällen.) Außer als Subjektsprädikative im Kopulasatz erscheinen Prädikative als regierte (valenzgebundene) Komplemente bei verschiedenen Klassen von Verben sowie als ‚freie‘ (nicht-valenzgebundene) Prädikative, typischerweise als Subjekts- oder Objektsprädikative. Einen Ausschnitt aus dem Spektrum unterschiedlicher Prädikativkonstruktionen zeigen die Beispiele in (112) aus dem Englischen (vgl. Huddleston/ Pullum 2002: 251–271).  

(112) a. He seemed [nice] / [a nice guy]. ENG ‚Er schien nett / ein netter Kerl (zu sein).‘

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B Wort und Wortklassen

b. I consider this [a good idea] / [fair]. ‚Ich halte das für eine gute Idee / für fair.‘ c. They called him [stupid] / [an idiot]. ‚Sie nannten ihn dumm / einen Idioten.‘ d. They made him [happy] / [treasurer]. ‘Sie machten ihn glücklich / zum Kassenwart.‘ e. He painted his house [green]. ‚Er strich das Haus grün.‘ f. They departed [content]. ‚Sie reisten zufrieden ab.‘ g. She ate the steak [almost raw]. ‚Sie aß das Steak fast roh.‘ Subjektsprädikative finden sich insbesondere bei evidentiellen Verben (112a), Objektsprädikative bei existimatorischen Verben (112b), bei Verben des (Be-)Nennens (112c) und bei Verben des Bewirkens (112d). Wir nehmen in Anschluss an Huddleston/Pullum (2002), die Duden-Grammatik (2009) und andere an, dass bei Prädikativen (wie bei Adverbialia) zwischen Komplementen und Supplementen zu unterscheiden ist, wenngleich freie Prädikative sich in ihren formalen und semantischen Charakteristika häufig Adverbialia nähern und dementsprechend auch als Adverbialia mit Komplementbezug beschrieben werden (vgl. IDS-Grammatik 1997: 1189–1191). Die Grenzziehung ist nicht immer unproblematisch und kann nicht innerhalb einer Grammatik des Nominals erfolgen. In traditionellen Grammatiken des Ungarischen werden Prädikative, ausgenommen ‚Prädikatsnomina‘, in den meisten Fällen zu den Adverbialia, nämlich den ‚Zustandsbestimmungen‘ oder ‚Resultatsbestimmungen‘ gerechnet; vgl. Tompa (1968: 278–284). Prädikative können weglassbar oder nicht weglassbar sein. Im ersteren Fall ist der Status als Komplement oder als freies Prädikativ (Supplement) nicht immer unzweifelhaft; vgl. (112e). In (112f, g) fungieren freie Prädikative als Subjekts- bzw. Objektsprädikative. Bei nominalem Regens können Attribute als Bezugsphrase fungieren wie in seine Erfolge [als Trainer]. Prädikative können der Angabe einer Eigenschaft dienen, die den Referenten der Bezugsphrase zum Zeitpunkt des verbalen Geschehens auszeichnet (112f, g) (‚depiktive Prädikative‘) oder die ihm als Ergebnis des verbalen Geschehens zukommt (112e) (‚resultative Prädikative‘). Zu resultativen Transitivierungskonstruktionen wie Sie haben den Weinkeller leer getrunken siehe IDS-Grammatik (1997: 1114–1117) und, zu deren unterschiedlicher Zulässigkeit im Deutschen und anderen europäischen Sprachen, Kaufmann/Wunderlich (1998). Einen breiten typologisch orientierten Überblick bieten Himmelmann/Schultze-Berndt (2005); vgl. ferner die Beiträge in Himmelmann/ Schultze-Berndt (Hg.) (2005) und in Schroeder/Hentschel/Boeder (Hg.) (2008).

Die doppelte Beziehung von Prädikativen auf ihre Bezugsphrase und ihr Regens schlägt sich in Unterschieden der formalen Markierung nieder, die eher der bei Attributen oder aber der bei Objekten bzw. Adverbialia entsprechen kann. Der erste Fall liegt vor, wenn Prädikative mit ihren Bezugsphrasen bezüglich nominaler Kategorien, insbesondere im Kasus, kongruieren, der letztere Fall, wenn Prädikative in einem Kasus erscheinen, dessen primäre Funktion in der Kennzeichnung von Objekten (wie dem Akkusativ im Englischen) oder Adverbialia (wie dem Instrumental im Polnischen) liegt. Für den Vergleich der Kasusinventare ist von besonderem Interesse, dass in uralischen Sprachen, darunter das Ungarische, häufig besondere Kasus

B2 Kategorisierungen

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existieren (im Ungarischen: Essiv und Translativ), deren primäre Funktion gerade die der Kennzeichnung (bestimmter Typen) von Prädikativen darstellt. In Abschnitt → B2.4.3.4.2 betrachten wir in Grundzügen die Unterschiede in der Nutzung von Kasusmarkierungen für die Kennzeichnung von Prädikativen in den Vergleichssprachen (Varianzparameter: ‚Kasusmarkierung von Prädikativen‘). In den Abschnitten → B2.4.3.4.3 bis B2.4.3.4.7 werden die verschiedenen Markierungstypen im Einzelnen vorgestellt. Zu Adjektiven in prädikativer, depiktiver und resultativer Funktion siehe besonders → B1.3.4.  



B2.4.3.4.2 Kasusmarkierung von Prädikativen: Überblick Als einzelsprachübergreifender Normalfall wird bei Prädikativen meist das Bestehen von Kongruenz mit der Bezugsphrase bezüglich der nominalen Kategorien (ggf. Genus, Numerus und Kasus) angesehen, soweit diese frei wählbar sind und das Prädikativ für die entsprechenden Kategorien flektierbar ist. Die formale Kennzeichnung entspricht insoweit im Grundsatz der von Attributen. Tatsächlich werden adjektivische Prädikative – außer in Kopulasätzen – vielfach als ein besonderer Typ von Attributen angesehen; vgl. Engel et al. (1999: 516, „Adjunkte“ als Attribute) zum Polnischen oder Paul (1919: 49, „prädikatives Attribut“) zum Deutschen. Das Bestehen von Kongruenz gibt der Bindung des Prädikativs an seine Bezugsphrase einen formalen Ausdruck. Das unterschiedliche Ausmaß, in dem nicht-kongruenzbedingte Kasusmarkierung zur Kennzeichnung von Prädikativen in den Vergleichssprachen verwendet wird, entspricht dem jeweils im Ganzen zu beobachtenden Entfaltungsgrad der Kasussysteme; eine vereinfachte schematische Zusammenfassung der Nutzung von Kasusmarkierungen als Mittel zur Kennzeichnung von Prädikativen gibt Abbildung 12. Im Ungarischen kommt als zusätzliche Option über die in der Abbildung gezeigten Möglichkeiten die Verwendung von Lokalkasus, insbesondere des Sublativs, hinzu. (Zu Prädikativen im Genitiv siehe → B2.4.3.4.4.)

Abb. 12: Prädikativmarkierung durch Kasus in den Vergleichssprachen  

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B Wort und Wortklassen

In Konkurrenz zur Kennzeichnung durch Kasus findet sich im Deutschen und in den Kontrastsprachen analytische Markierung von Prädikativen, so im Deutschen durch Präpositionen (für und zu, vgl. (112b, d)). Einen doppelten formalen Niederschlag findet die doppelte Beziehung auf Bezugsphrase und Regens, wenn zur Kennzeichnung von Prädikativen Partikeln wie DEU als oder POL jako ‚als‘ (Adjunktoren, die in der Literatur auch als Konjunktionen oder Präpositionen klassifiziert werden) verwendet werden und zugleich Kongruenz mit der Bezugsphrase besteht wie in Er betrachtet ihnA K K [als guten KundenA K K ]. Bei ihren Gegenstücken im Französischen (comme) und Englischen (as) kommt Kongruenz nicht in Betracht; vgl. They chose him [as secretary] ‚Sie wählten ihn als Sekretär aus‘, bei Huddleston/Pullum (2002: 255) als „marked predicative complement“ bezeichnet. Im Ungarischen, einer Sprache, in der Adpositionen regelmäßig postponiert werden, wird die Partikel mint ‚als‘ der zugehörigen NP vorangestellt; sie wird gewöhnlich als Konjunktion angesehen (Rounds 2001: 175; Tompa 1968: 80), auch: „complementizer“ (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 99). Die Verwendung unterschiedlicher analytischer Prädikativmarkierungen korreliert mit semantischen Differenzierungen, die durch die Wahl des regierenden Verbs ausgedrückt werden können. Die durch die prädikative Konstruktion zum Ausdruck BL EIBEN ), als erst gebrachte ‚Ist‘-Beziehung kann als der Sache nach gegeben (SEIN , BLEIBEN zustande kommend (WERDEN , MACHEN ) oder nach der Einschätzung eines Subjektreferenten bestehend (HALTEN FÜR , ERKLÄREN FÜR ) qualifiziert werden (Brinkmann 1971: 147). Im letzteren Fall findet sich die Präposition für; vgl. aber auch mit bloßem Adjektiv: Sie findet ihn [intelligent]. Bei resultativer Semantik ist die Verwendung einer allativen (‚ziel-orientierten‘) Markierung wie DEU zu eine zu erwartende Option. Als Gegenstücke zu deutschen Präpositionalkonstruktionen finden sich im Ungarischen auch in diesem Fall NPs in entsprechenden Lokalkasus, etwa im Sublativ (Suffix: -rA) (→ B2.4.3.4.7) in Konkurrenz zum Translativ. Prädikative mit als und seinen Gegenstücken werden in Haspelmath/Buchholz (1998: 321–324) als Rollenphrasen („role phrases“) und die auftretenden Partikeln als Rollenkennzeichen („role markers“) charakterisiert. Nach dieser Untersuchung kann als ein charakteristisches Merkmal europäischer Sprachen (genauer: ‚SAE-Sprachen‘) herausgestellt werden, dass Rollenkennzeichen in der Mehrzahl der Fälle mit Similativ- bzw. Äquivativkennzeichen (‚wie‘) ganz oder nahezu zusammenfallen (vgl. ENG as in as big as ‚so groß wie‘ bzw. POL jako ‚als‘ mit jak ‚wie‘). Im Deutschen hat wie als Similativkennzeichen als verdrängt, während sich für als die Verwendung als Rollenkennzeichen herausgebildet hat (Paul 1920a: 231 f.). Auch im Ungarischen kann die Partikel mint ‚als‘ zugleich als Similativkennzeichen (‚wie‘) fungieren (Kenesei/Vago/ Fenyvesi 1998: 99), doch gehört das Ungarische zu den Sprachen, in denen ein besonderer Kasus zur Kennzeichnung von Rollenmarkierungen verwendet werden kann, der Essiv (mit dem Suffix -ként); Haspelmath/Buchholz (1998: 324) nennen als weitere europäische Sprachen mit einem derartigen „‚functive‘ case“ u. a. Baskisch, Finnisch und Estnisch.  



B2 Kategorisierungen

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Wir unterscheiden zwischen (i) Prädikativen, die durch bestimmte Kasus (in primärer oder sekundärer Funktion) oder durch analytische Markierungen besonders ausgezeichnet sind, und (ii) Prädikativen, die ohne solche besonderen Markierungen erscheinen (aber gegebenenfalls durch Kongruenz an ihre Bezugsphrasen gebunden sind). Der Anwendungsspielraum für Prädikative der beiden Typen unterscheidet sich von Sprache zu Sprache, doch lassen sich bestimmte einzelsprachübergreifende, funktional begründete Präferenzen beobachten (nach Holvoet 2004, 2008), die nicht nur für die Vergleichssprachen gelten: (i) Unter im Übrigen vergleichbaren Umständen bleiben Prädikative als Kopulakomplemente tendenziell ohne besondere Auszeichnung, andere Prädikative erhalten eher besondere Auszeichnungen. (ii) Unter im Übrigen vergleichbaren Umständen bleiben adjektivische Prädikative tendenziell eher ohne besondere Auszeichnung, andere (substantivische oder NPförmige) Prädikative erhalten eher besondere Auszeichnungen. (iii) Unter im Übrigen vergleichbaren Umständen werden Objektsprädikative eher besonders ausgezeichnet als andere Prädikative. Den Prototyp für unausgezeichnete Prädikative bilden nach (i) und (ii) Adjektive als Kopulakomplemente. Die Grundlage für (i) kann darin gesehen werden, dass Kopulaverben bereits als solche ein Mittel zur Bildung von Prädikativkonstruktionen darstellen. Verantwortlich für (ii) dürfte einerseits sein, dass Adjektive als ‚Eigenschaftswörter‘ im Vergleich zu NPs eher schon ‚ohne Weiteres‘ für die Funktion als Prädikative geeignet sind, während NPs als primär referentielle Ausdrücke für die Verwendung als Prädikative nicht prädestiniert sind und, bei Verwendung in eher ‚unerwarteter‘ Funktion, eher nach entsprechender Kennzeichnung verlangen; und andererseits dass die diskriminierende Funktion der besonderen Prädikativmarkierung, also die deutliche Unterscheidung von Nominalen in anderen Funktionen (wie SU und DO ), bei Adjektiven praktisch irrelevant ist. Umgekehrt dürfte in transitiver Konstruktion (im Vergleich zu intransitiven Konstruktionen) der diskriminierenden Funktion der besonderen Prädikativmarkierung, insbesondere der Abgrenzung vom Objekt, erhöhte Relevanz zukommen; dies begründet (iii). Im besonderen Maße gilt dies für resultative Konstruktionen, bei denen Klarheit über die Funktionsverteilung (Prädikativ oder Objekt) unabdingbar ist (vgl. [Zum Anführer] machen sie den Bürgermeister vs. Den Anführer machen sie [zum Bürgermeister]). (Vgl. aber auch Er wurde Bürgermeister mit bloßem Substantiv, wo das Prädikativ Komplement zur Kopula ist.) Dem steht nicht entgegen, dass die lexikalische Kategorisierung oder die Semantik der betreffenden Nominale für die Rollenbestimmung sehr häufig schon hinreichend sein wird (wie in Sie machen ihn [zum Bürgermeister]); dies gilt ebenso in den zentralen Fällen der Markierung syntaktischer Funktionen (SU , DO , IO ) durch Kasus. Die Varianz bei der Prädikativmarkierung zwischen den Vergleichssprachen kann unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, inwieweit die angegebenen Präferenzen in den Einzelsprachen verwirklicht sind. Der Instrumental als Prädikativkasus stellt ein besonderes und auffälliges Charakteristikum slawischer und baltischer Sprachen

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B Wort und Wortklassen

dar. Zum Litauischen siehe Senn (1966: 430) und Holvoet (2004, 2008). Traditionelle diachron orientierte Darstellungen sehen den Kernbereich der Verwendung bei der Markierung resultativer Prädikative bei Verben des ‚Machens zu‘ oder des ‚Verwandelns in oder zu‘, also bei (nach (iii)) besonders ‚markierungsbedürftigen‘ Prädikativen; siehe Delbrück (1893: 262–268) zum Slawischen, auch schon Miklosich (1868– 1874: 727 f.) und, zum Litauischen, Schleicher (1856: 270 f.). Auf die diskriminative Leistung der INS - Markierung weist Delbrück (1893: 268) hin: „Der Entstehungsgrund des Typus selbst [i. e. des prädikativen Instrumentals] liegt offenbar in der Undeutlichkeit, die sich bei Anwendung des prädikativen Nominativs oder Akkusativs leicht ergiebt.“ Bei resultativer Lesart bezeichnet das prädikative Nominal typischerweise eine gesellschaftliche Rolle oder Funktion, die dem Referenten erst zugewiesen wird und daher eher eine akzidentielle, nur für einen bestimmten Zeitraum gegebene Eigenschaft, während die Angabe einer substantiellen oder anderweitig unverlierbaren Eigenschaft gegebenenfalls eher durch die Bezugsphrase des Prädikativs geliefert wird. Damit ist die Grundlage für die Ausdehnung des Instrumentals auf andere Fälle der Bezeichnung sozialer Rollen gegeben und somit auch die Ausweitung auf rollenbezeichnende Prädikative im Kopulasatz möglich wie in RUS mój otéc býl [póvarom]I N S ‚Mein Vater war Koch‘ (Sussex/Cubberley 2006: 334). Dem entspricht die vielfach gemachte (und in einer umfangreichen Literatur kontrovers diskutierte) Beobachtung, dass, soweit in slawischen Sprachen beim Prädikativ eine Wahlmöglichkeit zwischen Nominativ und Instrumental besteht, der Instrumental eher in Betracht kommt, wo es sich um in Raum und Zeit lokalisierte Eigenschaftszuschreibungen oder genereller um Eigenschaften handelt, deren Zuschreibung in irgendeiner Weise beschränkt ist, wie Timberlake (2004: 285–288) für das Russische im Einzelnen belegt. Der Nominativ kommt danach eher bei atemporalem oder metaphorischen Lesarten zum Zuge wie in RUS mój otéc býl [angličánin]N O M ‚Mein Vater war Engländer‘ (Sussex/ Cubberley 2006: 334); bei einer Kopula im Präsens ist im Russischen der Nominativ obligatorisch. Für einen größeren Kreis von Sprachen beschreibt Stassen (2001) die Unterscheidung nach relativer zeitlicher Stabilität oder Instabilität und die verwandte Statisch-dynamisch-Unterscheidung als steuernde Faktoren für die Auswahl konkurrierender Prädikativmarkierungen. Im Polnischen ist die Verwendung des Instrumentals als Kasus des prädikativen Kopulakomplements auf alle NP-förmigen Nominale ausgedehnt worden und zugleich auf diese beschränkt worden; die semantisch bestimmten Anwendungsbedingungen sind damit aufgehoben und durch eine kategorial basierte Regelung ersetzt worden (siehe im Einzelnen → B2.4.3.4.6). Im Ergebnis weicht unter den Vergleichssprachen das Polnische von Präferenz (i) durch die Verwendung des Instrumentals zur Markierung substantivischer prädikativer Kopulakomplemente ab wie in On jest [Polakiem]I N S ‚Er ist Pole‘ (Swan 2002: 365), doch entspricht diese Verwendung zugleich der unter (ii) genannten Präferenz für die besondere Kennzeichnung von NPPrädikativen.  





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Adjektive als Kopulakomplemente folgen gewöhnlich Präferenz (ii) und zeigen dann häufig Kasuskongruenz; im Übrigen bestehen starke Unterschiede zwischen den Vergleichssprachen. Insbesondere Kopulaverben, die eine Veränderung anzeigen (wie WERDEN bzw. seine Äquivalente), können besondere Kasusmarkierungen fordern, wie sie auch sonst in Konstruktionen mit resultativer Semantik verwendet werden (im Ungarischen den Translativ, → B2.4.3.4.7). Bei von Nicht-Kopulaverben regierten Prädikativen können oder müssen, falls allgemein gefordert, auch Adjektive mit den entsprechenden Markierungen verbunden werden (z. B. präpositionale Markierung in Er hält ihn [für dumm]). Als freie Prädikative werden bloße Adjektive im Polnischen in resultativer Lesart nicht verwendet. Im Ungarischen treten generell an die Stelle von Adjektiven in prädikativer Funktion deadjektivische Adverbien; vgl. → B2.4.3.4.3. Eine besondere Möglichkeit zur Auszeichnung substantivischer Prädikative, die nicht wie gewöhnlich durch Kasus, Präpositionen oder Adjunktoren erfolgt, besteht im Deutschen, wo individuative Substantive gewöhnlich als Köpfe von NPs auftreten, in der Verwendung bloßer (unbegleiteter) Formen, wie bei Nationalitätsbezeichnungen (vgl. die Übersetzungen zu den vorangehenden Beispielen aus dem Polnischen und Russischen) und generell wiederum gerade bei Bezeichnungen für gesellschaftlich in besonderer Weise relevante oder saliente Rollen, Funktionen und Gruppenzugehörigkeiten wie in Er ist Arzt. Diese Möglichkeit besteht auch im Französischen und Englischen, mit weiterer Ausdehnung als im Deutschen, vgl. ENG (112d) mit einer „bare role NP“ (Huddleston/Pullum 2002: 253) in resultativer Konstruktion; auch die lexikalische Abgrenzung der für die Verwendung als ‚Rollen-Nomina‘ in Betracht kommenden Substantive variiert in den verschiedenen Sprachen. Zu den unterschiedlichen Verwendungsbedingungen für Konstruktionen wie FRA Raymond est un acteur / Raymond est acteur ‚Raymond ist (ein) Schauspieler‘ siehe Roy (2013: 35–61). Im Vergleich zu ausgebauten NPs fehlen bloßen Substantiven gerade die für die Konstitution von NPs als referentiellen Ausdrücken in Sprachen wie dem Deutschen charakteristischen Begleiter, insbesondere die Artikel (→ B1.2.3.7.2). Sie sind damit dem Typ bloßer adjektivischer Prädikative nahe gebracht, die als ‚reine‘ Eigenschaftsbezeichnungen fungieren (und für die nach (ii) das Fehlen besonderer Prädikativmarkierungen der Regelfall ist). Diachron zeigt sich die Nähe in der „Adjektivierung von Substantiven [in prädikativer Funktion]“, Paul (2007: 362); vgl. auch Paul (1919: 111). Siehe auch Tompa (1968: 248) zu „fast schon adjektivisch fungierenden [Substantiven]“ im Ungarischen. (Auch in ‚Nicht-Artikel-Sprachen‘ können analoge Unterscheidungen gemacht werden; vgl. die Bemerkungen im Anschluss an (125), unten, zu substantivischen Prädikativen im Nominativ im Polnischen.) Soweit bei Objektbezug nicht bloße Substantive auftreten, finden sich auch in nicht-resultativer Konstruktion bevorzugt besonders markierte Prädikative, etwa im Ungarischen Prädikative im Dativ. Nicht besonders gekennzeichnete, kongruierende Objektsprädikative finden sich offenbar am ehesten bei Verben des Nennens oder Benennens wie in Sie nannte ihnA K K [einen Betrüger]A K K . (Dass der Akkusativ des Prädikativs hier tatsächlich der Kongruenz mit der Bezugsphrase geschuldet ist, zeigt  





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B Wort und Wortklassen

sich besonders deutlich bei der Umsetzung ins Passiv, wo Bezugsphrase und Prädikativ beide im Nominativ erscheinen; vgl. ErN O M wurde (von ihr) [ein Betrüger]N O M genannt.) Bei expliziter Anführung wird der Nominativ verwendet; vgl. Er nennt ihn seinen Sohn. vs. Er nennt ihn ‚mein Sohn‘.

B2.4.3.4.3 Kasusunmarkierte und kongruierende Prädikative Adjektive bleiben im Englischen generell und im Deutschen, soweit sie nicht innerhalb einer NP stehen, unflektiert und daher insbesondere auch als Prädikative ohne Kasusmarkierung; vgl. die Beispiele und Übersetzungen in (112). Im Polnischen (und anderen slawischen Sprachen mit erhaltener Flexion) zeigen prädikative Adjektive dagegen regelmäßig Kongruenz mit der Bezugsphrase, wie in (113) (Laskowski 1972: 180). (113) a. ChłopiecN O M .S G .M był [grzeczny]N O M .S G .M . POL ‚Der Junge war artig.‘ b. DzieckoN O M .S G .N było [grzeczne]N O M .S G .N . ‚Das Kind war artig.‘ c. ChłopcyN O M .P L .M byli [grzeczni]N O M .P L .M . ‚Die Jungen waren artig.‘ d. DzieciN O M .P L .N były [grzeczne]N O M .P L .N . ‚Die Kinder waren artig.‘ Besondere prädikative Kurzformen von Adjektiven, wie sie sich im Russischen finden (Wade 2011: 182–193), sind im Polnischen auf den Nominativ Singular Maskulinum einiger weniger W ESOŁY ‚lustig‘; Swan 2002: 137). Die Verwendung des InstruLexeme beschränkt (vgl. wesół zu WESOŁY mentals bei prädikativen Adjektiven ist stark beschränkt und gilt weitgehend als veraltet (Chachulska 2008: 46; Swan 2002: 127, vgl. aber auch 364 f.).  

Im Ungarischen besteht in Konstruktionen mit der Kopula VAN ‚sein‘ regelmäßig Numeruskongruenz zwischen prädikativem Adjektiv und Bezugsphrase; siehe aber zu Kollektiva als Prädikativen Kenesei/Vago/Fenyvesi (1998: 59). Das Prädikativ steht dabei im Nominativ. Vgl. (114), hier mit Ersparung der Kopula in der 3. Person im Indikativ Präsens (Rounds 2001: 164). (114) a. A fiúN O M .S G [magas]N O M .S G . UNG ‚Der Junge ist groß.‘ b. A fiúkN O M .P L [magasak]N O M .P L . ‚Die Jungen sind groß.‘ Die morphologische Markierung bezüglich Numerus entspricht dem Verfahren, das auch sonst für Adjektive gilt, die nicht bei einem Substantiv stehen, wie in elliptischen NPs, während attributive Adjektive im gewöhnlichen Fall (in NPs mit substantivi-

B2 Kategorisierungen

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schem Kopf) unflektiert bleiben. Ebenso werden substantivische Prädikative behandelt (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 59, 201). Die Übereinstimmung im Nominativ kann als Kasuskongruenz oder als Fehlen von Kasusmarkierung aufgefasst werden. Auch im Französischen (und anderen romanischen Sprachen) kongruiert das prädikative Adjektiv mit seiner Bezugsphrase im Genus und Numerus (vgl. im Einzelnen Grevisse/ Goosse 2011: 286–290). Kasuskongruenz kommt wegen der Beschränkung der Kasusdifferenzierung auf Pronomina nicht in Betracht. Hervorzuheben ist, dass das Fehlen von Kongruenz beim prädikativen Adjektiv in einer Sprache, in der Adjektive grundsätzlich der Flexion unterliegen, eine auffällige Besonderheit darstellt. Sie findet sich außer im Deutschen noch unter seinen nächsten (west-)germanischen Nachbarn, darunter das Niederländische (Donaldson 2008: 107) und das Friesische (Tiersma 1999: 44), während andere germanische Sprachen sowie die sonstigen Kontrastsprachen flektierte prädikative Adjektive zeigen (vgl. Harbert 2007: 219–221). Diachron handelt es sich bei den unflektierten Adjektivformen des Deutschen um endungslose NOM .SG -Formen (entsprechend den endungslosen NOM .SG -Formen bei Substantiven), die prädikativ schon im Mittelhochdeutschen auf den Plural (sowie auf die Verwendung als Objektsprädikativ) verallgemeinert worden sind, während attributiv im Nominativ im Neuhochdeutschen pronominal flektierte Formen durchgedrungen sind (Braune 2004: 219; Paul 2007: 201, 322, 360).

Wenn im Deutschen flektierte Adjektivformen als Prädikative fungieren, handelt es sich um Substantivierungen oder Bestandteile elliptischer NPs wie Das sind große / Das sind keine großen. Darunter fallen auch adjektivisch flektierte Numeralia, gegebenenfalls mit Auflösung einer etwaigen Bezugsambiguität durch Kongruenz wie in Sie hat ihn als Erste / als Ersten gesehen. (Numeralia als Prädikative bleiben hier im Übrigen außer Betracht; siehe aber besonders de Groot (2008) zum Ungarischen.) Adjektive als Prädikative können, soweit sie flektierbar sind, nicht nur als Komplemente zu Kopulaverben, sondern auch als regierte Prädikative bei Nicht-Kopulaverben wie in FRA Je trouve Pierre [intelligent]M .S G ‚Ich finde Pierre intelligent‘ (Jones 1996: 73) oder als freie Prädikative in den Kontrastsprachen, nicht aber im Deutschen Kongruenz mit der Bezugsphrase zeigen; vgl. zum Polnischen Engel et al. (1999: 1281). In Fällen wie POL (115a, b) (Renz/Hentschel 2011: 70) lassen sich daher, anders als im Deutschen, adjektivische Subjekts- und Objektsprädikative anhand des Kasus (NOM vs. AKK ) unterscheiden. (115) a. AnnaN O M .S G .F znalazła PiotraA K K .S G .M [pijana]N O M .S G .F . POL ‚Anna fand Piotr betrunken auf (A. war betrunken, als A. P. fand).‘ b. AnnaN O M .S G .F znalazła PiotraA K K .S G .M [pijanego]A K K .S G .M . ‚Anna fand Piotr betrunken auf (P. war betrunken, als A. P. fand).‘ Der weite Anwendungsspielraum der unmarkierten Adjektivform lässt im Deutschen (wenigstens bei Außerachtlassung der Intonation) die Bildung von Sätzen zu, in

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B Wort und Wortklassen

denen Adjektive, passende Kontexte vorausgesetzt, grundsätzlich (i) als Subjektsprädikativ, (ii) als Objektsprädikativ oder (iii) als resultatives Prädikativ interpretierbar sind, wie in Er hat sie betrunken geküsst (Krifka 1984: 17). In den nicht-germanischen Kontrastsprachen werden die entsprechenden Lesarten oft aufgelöst, teils durch Kongruenz wie in (115a, b), teils durch Verwendung unterschiedlicher Konstruktionen. An die Stelle resultativer Prädikatsadjektive im Deutschen treten im Polnischen analytische Bildungen, z. B. pomalować drzwi [na czerwono] ‚die Tür rot anstreichen‘ mit der Präposition na in Verbindung mit Adverbien auf -o (Skibicki 2006: 229; Swan 2002: 148). Dazu gehören auch mehr oder minder erstarrte Präpositionalkonstruktionen, die manchmal als (komplexe) Adverbien aufgefasst werden, z. B. rozbierać się [do naga] ‚sich nackt ausziehen‘ (Skibicki 2006: 152, 162); vgl. auch Berdychowska (2013). Auch im Französischen sind bloße Adjektive als resultative Objektsprädikative, nicht aber als depiktive Objekts- oder Subjektsprädikative wie in (116a, b), nahezu ausgeschlossen; stattdessen finden sich in aller Regel analytische Konstruktionen wie in (116c) (Legendre 1997: 45–47).  



(116) a. Pierre mange la viande [crue]. FRA ‚Peter ist das Fleisch roh.‘ b. Il est mort [jeune]. ‚Er ist jung gestorben.‘ c. Pierre a peint les murs [en blanc]. ‚Peter hat die Wände weiß gestrichen.‘ (Zur Zulässigkeit der adjektivischen Konstruktionen bei ‚Verben des Färbens‘ siehe aber Burnett/ Troberg 2014: 41, Fn. 1.)  

Ähnlich starke Beschränkungen für Resultativkonstruktionen gelten in anderen romanischen Sprachen; vgl. etwa Folli (2002) zum Italienischen (im Vergleich mit dem Englischen), Baciu (2014) zum Rumänischen und König (2014) zum Vergleich Deutsch/Englisch/Rumänisch. Im Ungarischen fungieren Adjektive gewöhnlich nicht als freie Prädikative; stattdessen finden sich von Adjektiven abgeleitete Adverbien. Formen mit dem Bildungssuffix (-Vn) (traditionell: dem 1. Modal-Essiv-Suffix, Tompa 1968: 51, 278) fungieren als Modaladverbialia wie szépenA D V zu SZÉP , ADJ ‚schön‘ in (117a) und ebenso als NY ERS , ADJ ‚roh‘ in (117b) (de Groot 2008: 72). Prädikative wie nyersenA D V zu NYERS (117) a. Tamás szépenA D V énekel. sing.3SG UNG Tamás schön.ADV ‚Tamás singt schön.‘ ette b. Mari [nyersen]A D V ess.PRT .3SG .DEF Mari roh.ADV ‚Mari aß den Fisch roh.‘

meg

a

PV

DEF

halatA K K . Fisch.AKK

B2 Kategorisierungen

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Im Ungarischen werden in diesem Fall Modaladverbialia und freie Prädikative wie im Deutschen formal nicht geschieden, doch aus umgekehrter Ursache: Während im Deutschen Modaladverbialia wie in (117a) die unmarkierte Adjektivform zeigen, nehmen im Ungarischen auch freie Prädikative wie in (117b) die Adverbialmarkierung an; in den übrigen Kontrastsprachen werden die beiden Verwendungen für Adjektive/ Adverbien regelmäßig formal unterschieden. Vgl. ENG Tom sings beautifullyA D V vs. Mary ate the fish rawA D J ; zu Adverbien als Modaladverbialia, die zugleich resultative Bedeutung tragen, wie in She fixed it perfectly ‚Sie hat es perfekt in Ordnung gebracht‘ siehe Quirk et al. (1985: 560). Auch im Polnischen kommen deadjektivische Adverbien als Prädikative vor, jedoch nur in eher beschränktem Rahmen, wie in Umarł młodoA D V ‚Er ist jung gestorben‘ zu MŁODY , ADJ ‚jung‘ (Chachulska 2008: 52); teilweise ist der Status als Prädikativ fraglich (vgl. kąpać się nagoA D V , ‚nackt baden‘); siehe dazu Renz/Hentschel (2011). In unpersönlicher Konstruktion stehen Adverbien bei der Kopula; vgl. Jest zimnoA D V ‚Es ist kalt‘ (Bzdęga 1980: 8). Eine vereinfachte schematische Zusammenfassung der beschriebenen Nutzung (+) oder Nicht-Nutzung (−) von Adverbialmarkierung in den Vergleichssprachen gibt Abbildung 13; zu einer genaueren Aufgliederung vgl. de Groot (2008).

Abb. 13: Nutzung von Adverbialmarkierungen  

Die gezeigte Variation verdeutlicht den mittleren Status von freien Prädikativen zwischen Attributen und Adverbialia; zur Stellung der freien Prädikative im weiteren Feld zwischen Prädikatsnominalen i. e. S. (Kopulakomplementen), regierten Prädikativen und Attributen siehe van der Auwera/Malchukov (2005). Wenn Subjektsprädikative im Nominativ erscheinen, so kann dies im Allgemeinen darauf zurückgeführt werden, (i) dass Kasuskongruenz zwischen Prädikativ und nominativischer Bezugsphrase (hier: dem Subjekt) besteht oder (ii) dass der Nominativ als ‚unmarkierter Kasus‘ zum Zuge kommt (Comrie 1997a). Diese häufig nicht eindeutig zu entscheidende Alternative lässt sich im Polnischen zugunsten der Annahme von Kasuskongruenz auflösen. Fungiert als Bezugsphrase eine Numeralphrase, so kann das Prädikativ (unter angebbaren Bedingungen) im Genitiv erscheinen; vgl. (118) (Swan 2002: 127).  



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(118) POL

B Wort und Wortklassen

Moich pięć sióstr POSS .1SG .GEN .PL fünf Schwester.GEN .PL ‚Meine fünf Schwestern sind zufrieden.‘

jest ist

[zadowolonych]G E N .P L . zufrieden.GEN .PL

Wenn Numeralphrasen mit Numeralia des Typs PIĘĆ ‚fünf‘ wie pięćA K K kobietG E N ‚fünf Frauen‘ als Subjekt (oder, bei einer anderen Analyse, als ‚logisches Subjekt‘) fungieren, so steht das Numerale im Akkusativ (und ist, außer im Personalmaskulinum, formgleich mit dem Nominativ), während das von diesem abhängige substantivische Attribut im Genitiv steht; → C5.6.2. (Das Verb steht in diesem Fall in der bezüglich Person und Numerus unmarkierten Form (3SG ) und, falls genusspezifisch, im Neutrum.) Tritt ein kongruierendes Dependens hinzu (wie TEN ‚dieser‘), so richtet sich der Kasus der betreffenden Form entweder nach dem Numerale wie in teA K K pięćA K K kobietG E N ‚diese fünf Frauen‘ oder nach dem Substantiv wie in tychG E N pięćA K K kobietG E N (dass.). Die gleiche doppelte Kongruenzmöglichkeit findet sich auch in Kopulasätzen wie (119), in denen das Prädikativ auf eine Numeralphrase des angegebenen Typs bezogen wird (Przepiórkowski/Patejuk 2012: 491, mit Korpusbelegen). (119) POL

Ostatnie dziesięć lat było letzt.AKK .PL zehn.AKK Jahr.GEN .PL sein.PRT .3SG .N ‚Die letzten zehn Jahre waren schlimm.‘

[fatalne] / [fatalnych]. schlimm.AKK / GEN .PL    

In (119) kann das Prädikativ im Akkusativ Plural (fatalne, NOM /AKK . PL . NONMPERS zu ‚schlimm‘) oder im Genitiv Plural (fatalnych) stehen. Auch hier liegt somit ein Fall vor, bei dem das prädikative Adjektiv bezüglich der kategorialen Spezifikationen wie ein attributives Adjektiv behandelt wird. Die Konstruktion ist aufschlussreich, insofern klar ist, dass der Kasus des Prädikativs hier nicht ein inhärent prädikativmarkierender Kasus ist oder durch die Kopula bestimmt wird; vielmehr besteht Kongruenz zwischen Bezugsphrase und Prädikativ (vgl. auch Bondaruk 2013: 174, 201).

FATAL NY FATALNY

Wenn keine overte direkte Bezugsphrase für ein Prädikativ vorhanden ist, insbesondere wenn das Regens des Prädikativs eine infinite Verbform ist, können sich Besonderheiten bei der Kasusmarkierung ergeben (etwa Wechsel zwischen kongruierender und nicht-kongruierender Markierung), die hier nicht im Einzelnen zu erörtern sind (siehe Comrie 1997a: 46–48); Beispiele bieten adjektivische Prädikative im Instrumental (statt im Kongruenzkasus) beim Infinitiv oder Partizip im Polnischen wie in kazał muD A T być [posłusznym]I N S ‚er befahl ihm, gehorsam zu sein‘ (Laskowski 1972: 63) (mit muD A T ‚ihm‘ als indirekter Bezugsphrase) oder Prädikative im Dativ (statt im Nominativ) in Infinitivphrasen (bestimmten Typs) im Ungarischen (siehe Kenesei/Vago/ Fenyvesi 1998: 60). Zu Schwankungen zwischen Nominativ und (kongruierendem) Akkusativ in Konstruktionen mit lassen siehe die Duden-Grammatik (2009: 974).

B2 Kategorisierungen

1021

B2.4.3.4.4 Prädikative im Genitiv (Englisch, Polnisch, Deutsch) Prädikative können im Genitiv stehen, doch fungiert der Genitiv nicht in der Weise als Kennzeichen der prädikativen Funktion, wie dies bei anderen Kasus, etwa dem Instrumental im Polnischen, der Fall ist. Als Prädikative können verschiedene Typen von possessiven Phrasen auftreten, die Possessorausdrücke in unterschiedlicher Form, insbesondere aber in der Form von Genitivattributen, enthalten können; vgl. DEU Karl ist [mein Freund] / [Marias Freund]. Ist die Kopfposition der Possessivphrase nicht belegt, so kann die Phrase als Ganze formal mit einer enthaltenen Possessorphrase zusammenfallen. Im Englischen kann es sich um eine mit dem Possessivsuffix markierte Phrase („sächsischer Genitiv“) handeln, wie in ENG This is [John’s] ‚Das ist das von John‘. Bei der angegebenen elliptischen Interpretation ist klar, dass die „Genitiv“Markierung die Possessorphrase markiert, nicht das Prädikativ. Die Verhältnisse entsprechen grundsätzlich denjenigen in einer non-elliptischen Variante wie This is [John’s car]), wo die prädikative ‚ist‘-Relation zwischen der Prädikativphrase als Ganzer und dem Subjekt als Bezugsphrase besteht, nicht zwischen der markierten Possessorphrase und dem Subjekt: Worauf mit this referiert wird, ist das Auto von John. Zwischen Possessorphrase und Subjekt besteht dagegen (vermittelt über das Possessum) eine ‚haben‘-Relation: Worauf mit this referiert wird, „gehört“ John. Der „sächsische Genitiv“ (s-Phrasenmarkierung) ist in allen Fällen Kennzeichen der possessiven Phrase, nicht Kennzeichen der prädikativen Funktion. (Kopflose Phrasen mit enthaltenen Possessornominalen wie John’s können in anderen Kontexten ebenso gut als Subjekt oder Objekt Verwendung finden.) Bei nicht-elliptischer Interpretation von Kopulasätzen des Typs This is [John’s], nämlich: ‚Das gehört John‘, wo eine ‚haben‘Relation zwischen dem zweiten Kopulakomplement und dem Subjekt ausgedrückt wird, ohne dass ein Possessum zu ergänzen wäre, realisiert das die s-Markierung tragende Nominal nach Huddleston/Pullum (2002: 469, „predicative genitive“) das Kopulakomplement ‚unmittelbar‘. Wiederum ist es aber offensichtlich die Kennzeichnung der possessiven Phrase (und die damit einhergehende Signalisierung der ‚haben‘-Relation zwischen Subjekt und zweitem Kopulakomplement), die die Verwendung der s-Markierung bedingt. Die Parallele zwischen attributiver und prädikativer Verwendung ist nicht auf Fälle von Possessivkonstruktionen i. e. S. beschränkt. Für das Altgriechische hält Kahn (2003: 167 f.) fest, dass der „prädikative Genitiv“ bei εἰμί ‚sein‘ die gleiche syntaktisch-semantische Vielfalt aufweist, die für den attributiven Genitiv nach traditioneller Darstellung charakteristisch ist (eingeschlossen Verwendungen als possessiver und partitiver Genitiv, als Genitiv der Herkunft und des Materials, als Genitiv der Beschaffenheit (Qualitatis) u. a.). Verschiedene Lesarten von Nominalen im Genitiv in prädikativer Funktion im Polnischen zeigt (120).  







(120) a. Ten wyraz jest [obcego pochodzenia]G E N . POL ‚Dieses Wort ist fremder Herkunft.‘

1022

B Wort und Wortklassen

b. Europejczycy są zazwyczaj [słusznego wzrostu]G E N . ‚Europäer sind gewöhnlich von großer Statur.‘ c. „Lokator“ jest [Romana Polańskiego]G E N . ‚(Der Film) „Der Mieter“ ist von Roman Polanski.‘ d. Mieszkanie na parterze jest [moich rodziców]G E N . ‚Die Wohnung im Parterre ist die meiner Eltern / die von meinen Eltern / gehört meinen Eltern.‘ Der Verwendungsspielraum des prädikativen Genitivs ist im Deutschen stärker beschränkt als im Polnischen. Eine Nachbildung von POL (120a) mit dem Genitiv (wie in der Übersetzung) ist möglich, aber stilistisch markiert (‚gehoben‘); im Fall von (120b) würde eine Konstruktion mit dem Genitiv (sind großer Statur) deutlich literatursprachlich wirken. Im Falle von (120c) und (120d) stehen im Deutschen keine entsprechenden Konstruktionen mit Genitivkomplement zur Verfügung. Für das Deutsche älterer Sprachstufen belegt Wilmanns (1909: 566–568) possessive, qualitative und partitive Verwendungen für den prädikativen Genitiv (zum Mittelhochdeutschen siehe Paul 2007: 342). In der Gegenwartssprache werden stattdessen analytische Konstruktionen verwendet oder der Genitiv (bzw. eine entsprechende analytische Konstruktion) wird im Kopulasatz attributiv an ein Pronomen angeschlossen; oder es werden alternative Non-Kopula-Konstruktionen, etwa mit GEHÖREN oder GEHÖREN ZU , verwendet, wie die Übersetzungen in (120b, c, d) zeigen (vgl. auch Wilmanns 1909: 567). Der prädikative Genitiv ist dagegen weitgehend auf mehr oder weniger „formelhafte Verbindungen“ (ebd.) in qualitativer Lesart beschränkt, z. B. [anderer Meinung]G E N sein, wie sie sich im Polnischen auch finden: POL być [innego zdania]G E N (dass.). Vgl. aber Pittner (2010) mit umfangreichem Belegmaterial, auch für Konstruktionen wie Er verließ [gesenkten Hauptes]G E N den Raum, die im Gegenwartsdeutschen mit mit-Phrasen konkurrieren.  

Paul (1919: 319–324) zieht eine Parallele zwischen Adjektiven und Genitiven: Wie Adjektive attributiv und prädikativ verwendet werden können, so gelte dies auch für NPs im Genitiv, die im heutigen Deutsch als Prädikative vor allem zur Kennzeichnung eines ‚inneren Zustands‘ (Er ist [guter Dinge]G E N ) verwendet werden, während die Verwendung in possessiver Lesart nur noch ganz erstarrt vorkommt (Er ist [des Teufels]G E N ) und insgesamt als veraltet betrachtet werden muss. Dass der primär als Attributskasus zu charakterisierende Genitiv in prädikativer Verwendung an die Stelle eines Adjektivs treten kann, kann nach Paul auch für die (insgesamt allerdings eher weniger geläufige) Verwendung als Objektsprädikativ bei Verben des Machens oder Bewirkens (MichA K K habt ihr [froh und guter Dinge] gemacht) geltend gemacht werden.

Wie im Fall des Possessivus steht die Verwendung des qualitativen Genitivs beim Kopulakomplement in Parallele zu einem beim attributiven Gebrauch geläufigen Muster (→ D3.11.2.1.2). Auch wo im Kopulasatz eine nicht-elliptische NP im Genitiv vorliegt (wie z. B. in DEU Ich bin [anderer Meinung]), die sich nicht oder nicht ohne Weiteres in idiomatischer Form um einen etwaigen fehlenden Kopf ergänzen ließe, folgt die Setzung des Genitivs bei NPs in prädikativer Funktion im Grundsatz Mustern für die Verwendung possessiver Phrasen, die ebenso bei attributiver Funktion vor 

B2 Kategorisierungen

1023

zufinden sind. Entsprechend erscheint der Genitiv nicht in der Aufstellung der Kasus, die in den Vergleichssprachen als Kennzeichen für die Funktion des Prädikativs verwendet werden (Abbildung 12). Die Notwendigkeit, zwischen dem ‚internen‘ Kasus, der eine Possessorphrase markiert, und dem ‚externen‘ für die Gesamtphrase geforderten Kasus auch dann zu unterscheiden, wenn Possessorphrase und Gesamtphrase zusammenfallen, wird besonders deutlich, wenn eine prädikative NP im Genitiv in einer Position erscheint, für die durch Rektion ein anderer Kasus verlangt ist wie der Akkusativ nach für in der stilistisch markierten, aber grammatisch einwandfreien Konstruktion Sie hielten ihn [für russischen Ursprungs] (annähernd paraphrasierbar als: ‚für jemanden russischen Ursprungs‘) (vgl. Blatz 1896: 388 und Pittner 2010).

B2.4.3.4.5 Prädikative im Akkusativ und Dativ (Englisch, Französisch, Ungarisch) In den Kontrastsprachen mit stark reduziertem Kasussystem (ENG, FRA) wird Kasuskongruenz als Markierungsmittel nicht (oder nur relikthaft) verwendet. Im Englischen ist die Kasusdifferenzierung auf Pronomina beschränkt. Zudem kommen Personalpronomina als prototypische referentielle Nominale nur beschränkt für die Verwendung als Prädikative in Betracht. Entsprechend ist die Bedeutung der Kasusmarkierung zur Kennzeichnung von Prädikativen äußerst marginal (Huddleston/Pullum 2002: 450). Im heutigen Englisch entspricht die Kasusverteilung im Kopulasatz weitgehend derjenigen in Konstruktionen mit transitiven Verben. Im einfachen Aussagesatz erscheint ein alleinstehendes präverbales Pronomen im Nominativ, ein alleinstehendes postverbales Pronomen im Akkusativ (wie in IN O M saw himA K K ). Diesem Modell folgen nach dem vorherrschenden Sprachgebrauch im heutigen Englisch auch entsprechende Kopulasätze (Jespersen 1949: 250). Das Prädikativkomplement steht wie andere kasusmarkierte Nicht-Subjekt-Komplemente im Akkusativ wie in It is meA K K ‚Ich bin’s‘ und in It is him/her/us/them. Diese Konstruktion ist die gewöhnliche, wenn auch eine ältere und häufig normativ favorisierte, aber im gewöhnlichen Gebrauch weitgehend aufgegebene Alternative konkurriert, bei der das Prädikativ im Nominativ steht (wie in It is I). Als Objektsprädikative treten Personalpronomina im Englischen nicht auf (Huddleston/Pullum 2002: 450). Am ehesten finden sich Prädikative im Nominativ in Spaltsätzen wie It is I who love you ‚Ich bin der, der dich liebt‘, wo das Relativpronomen Subjekt des Relativsatzes ist. Hier handelt es sich, nach traditioneller Terminologie, um einen Fall von Kasusattraktion (Jespersen 1949: 253, „relative attraction“); vgl. It is me she loves ‚Ich bin der, den sie liebt‘, wo das Prädikativ dem Objekt des Relativsatzes entspricht (und im Akkusativ erscheint). (Beispiele nach Huddleston/Pullum 2002: 459; vgl. die Erhebungen durch Quinn 2005.) Im Falle von who/whom geht die Tendenz zur Aufgabe der Akkusativform; auch als Prädikativ erscheint who wie im Buchtitel Who’s Who, ‚Wer ist wer?‘.

Wie im Englischen ist im Französischen wegen der auf Pronomina beschränkten Kasusdifferenzierung das Auftreten kasusmarkierter Prädikative eine äußerst marginale Erscheinung. Zwei Typen von Kopulasätzen mit pronominalem Prädikativ (‚at-

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B Wort und Wortklassen

tribut du sujet‘) können unterschieden werden. Beim ersten Typ kann mit der Pronominalform le ein adjektivisches oder indefinites nominales Antezedens wieder aufgenommen werden, vgl. (121) (Grevisse/Goosse 1981: 194). (121) a. Indulgente, je [le] suis. FRA ‚Nachsichtig, das bin ich.‘ b. Est-ce une avocate? Non, mais elle [le] sera bientôt. ‚Ist sie Anwältin? Nein, aber sie wird es bald sein.‘ Das Prädikativ steht nach traditioneller Analyse (Gougenheim 1969: 158) in (121a) im Akkusativ; vgl. → B1.5.2.6. Die Kasusmarkierung folgt danach wie im Englischen dem transitiven Muster; vgl. Je le vois ‚Ich sehe es/ihn‘. Alternativ kann le (formal die AKK .SG .M -Form des Personalpronomens der 3. Person) hier als invariable Form (als ‚pronom neutre‘) betrachtet werden: Kongruenz bezüglich Genus mit dem Antezedens tritt in der gesprochenen Gegenwartssprache nicht ein; vgl. (121b), wo das mögliche Antezedens (une avocate) im Femininum erscheint. Entsprechendes gilt für den Numerus. Als invariable Form wäre le hier auch bezüglich Kasus unspezifiziert. Beim zweiten Typ stehen prädikative Personalpronomina im Kopulasatz nicht präverbal (wie in (121)), sondern postverbal wie in Tu n’est pas moi ‚Du bist nicht ich‘ (von Wartburg/Zumthor 1958: 341). Es erscheinen die disjunkten Formen der Personalpronomina (hier: moi), die für Kasus unspezifiziert sind; ebenso erscheinen disjunkte Formen in formelhafter Verbindung mit c’est wie in L’état, c’est moi ‚Der Staat bin ich‘. (Zu qui/que als Prädikative siehe Grevisse/Goosse 2011: 960, 962.) Insgesamt gibt es anscheinend keine unzweifelhaften Fälle von kasusmarkierten Prädikativen im Französischen. Im Ungarischen kann der Dativ als Prädikativkasus fungieren (Pilarský 2013: 176 f., „Dativus praedicativus“); vgl. (122) (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 201–203).  

(122) a. A lány [szomorúnak]D A T látszik. DEF Mädchen traurig.DAT schein.3SG UNG ‚Das Mädchen sieht traurig aus.‘ mindenki [butának]D A T tartja. b. Mariát jeder dumm.DAT halt.3SG .DEF Maria.AKK ‚Jeder hält Maria für dumm.‘ fiunkat [Miklósnak]D A T kereszteljük. c. A DEF Sohn.1PL .AKK Miklós.DAT tauf.1PL .DEF ‚Wir taufen unseren Sohn (auf den Namen) Miklós.‘ tegnap felszentelték [papnak]D A T / [pappá]T R A . d. Csabát gestern weih.PRT .3PL .DEF Priester.DAT / Priester.TRA Csaba.AKK ‚Gestern wurde Csaba zum Priester geweiht.‘

B2 Kategorisierungen

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Während in Kopulasätzen wie (114) das Prädikativ im Nominativ steht, treten bei den LÁT SZIK ‚aussehen‘ die Prädikativkompleevidentiellen Verben TŰNIK ‚scheinen‘ und LÁTSZIK mente in den Dativ (122a). Objektsprädikative stehen nach Kenesei/Vago/Fenyvesi (1998: 201–203) zumeist im Dativ oder Translativ. Der Dativ findet sich bei existimatorischen Verben wie TART ‚halten für‘ (122b) und bei Verben des Benennens (122c); ESZ ‚machen‘, ebenso bei Verben des Bewirkens (des ‚Machens-zu‘) wie (MEG - )TTESZ (KI - )NEVEZ ‚ernennen‘ oder (FEL - )SZENTEL ‚weihen‘. Im letzteren Fall konkurriert der Translativ (122d), falls die betreffenden Verben in ihren präfigierten Varianten auftreten, während bei unpräfigierten Varianten der Translativ den Regelfall darstellt; vgl. → B2.4.3.4.7. Bei Prädikativen im Dativ, auch adjektivischen, besteht keine Kongruenz im Numerus mit der Bezugsphrase (Pilarský 2013: 913 f.).  



B2.4.3.4.6 Prädikative im Instrumental (Polnisch) Im Polnischen ist die Verwendung des Instrumentals als Prädikativkasus auf NPs beschränkt, während adjektivische Prädikative in kongruierender Konstruktion stehen (vgl. (113)); nur neben infiniten Verbformen stehen prädikative Adjektive regelmäßig im Instrumental. In Hinblick auf die Kasusmarkierung von NPs in Kopulasätzen im Polnischen sind zwei Haupttypen zu unterscheiden, die mit der semantischen Unterscheidung zwischen identifizierenden und deskriptiven Kopulasätzen korrelieren, wenn auch nicht zusammenfallen (Bogusławski 2001). Beim ersten Typ (TO BYĆ Kopulasätze), der vorrangig in einführenden, identifizierenden oder definierenden Zusammenhängen verwendet wird, wird das Kopulaverb BYĆ ‚sein‘ mit der Form to (formal der NOM .SG .N -Form des Demonstrativpronomens) verbunden. Vgl. (123) (Bondaruk 2013: 126). (123) a. To jestS G EwaN O M .S G . POL ‚Das ist Ewa.‘ b. To jestS G studentN O M .S G . ‚Das ist ein Student.‘ c. To sąP L studenciN O M .P L . ‚Das sind Studenten.‘ Der Status von to in dieser Verwendung ist in der Literatur nicht unumstritten. Teils wird to als ‚invariables Pronomen‘ (Sadowska 2012: 46, „unchanging pronoun“) angesehen, teils als ‚Prädikativpartikel‘ (Laskowski 1972: 54) oder ‚Kopulativpartikel‘ (Schatte 2006: 1216) gekennzeichnet oder selbst als Kopula besonderen Typs betrachtet (Bartnicka et al. 2004: 301; vgl. Bondaruk 2013: 127); entsprechend ergeben sich sehr unterschiedliche Analysen der vorliegenden Konstruktion. (Eine ausführliche Erörterung der verschiedenen in der Literatur vorgeschlagenen Analysen für polnische Kopulasätze gibt Bondaruk 2013.) Das lexikalisch belegte Komplement steht in solchen TO - BYĆ -Kopulasätzen im Nominativ. Bei angenommener pronominaler Funktion kann to ‚das‘ als Subjekt des Kopulasatzes betrachtet werden; da jedoch das Kopulaverb mit der ihm in (123) folgenden Phrase im Numerus kongruiert (geradeso wie in der in der Übersetzung gezeigten, vergleichbaren Konstruktion im Deutschen), wird auch die Annahme vertreten, dass

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B Wort und Wortklassen

diese Phrase das Subjekt darstellt (u. a. Swan 1993: 156); vgl. Bondaruk (2013: 126). Vgl. auch → B1.5.2.7.  



Vgl. dazu auch die analogen Konstruktionen im Englischen (it is …) und Französischen (c’est …). Vorangestellt (bei unmarkierter Wortstellung) kann ein weiteres Nominal im Nominativ erscheinen, das als Antezedens für to aufgefasst werden kann (vorausgesetzt, to wird hier als Pronominalform anerkannt). Vgl. (124a) (Bondaruk 2013: 221). Typischerweise entfällt, soweit möglich, (ähnlich wie im Ungarischen) im Präsens das Kopulaverb, das daher in (124a) in Klammern gesetzt ist. Vgl. auch, mit Ersparung des Kopulaverbs, (124b) (Bartnicka et al. 2004: 485). to (jest) (124) a. Ten panN O M .S G DEM Mann das ist POL ‚Dieser Mann ist mein Bruder.‘ b. Pan Nowak to lekarz. Herr Nowak das Arzt ‚Herr Nowak ist Arzt.‘

mój POSS .1SG

bratN O M .S G . Bruder

Ungeachtet der gewählten Analyse gilt, dass alle in Betracht kommenden Nominale in derartigen TTOO - BYĆ -Kopulasätzen im Nominativ erscheinen. Bezüglich der identifizierenden Funktion vergleichbar sind Kopulasätze mit Eigennamen als Prädikativ, die ebenfalls im Nominativ stehen, wie in Jestem Marek ‚Ich bin Marek‘ (Swan 2002: 329); vgl. auch Ja jestem ja ‚Ich bin ich‘ (Engel et al. 1999: 252). Beim zweiten (unmarkierten) Typ – BYĆ -Kopulasätze – steht das Prädikativ (soweit es sich nicht um Adjektive oder Eigennamen handelt) regelmäßig im Instrumental. Für Kopulasätze mit NPs stehen daher zwei alternative Konstruktionsmöglichkeiten zur Verfügung – mit oder ohne to und mit entsprechend unterschiedlicher Kasusverteilung; vgl. (125) (Bondaruk 2013: 279). In (125a) ist die gewöhnliche Ersparung der Kopula wiederum durch Einklammerung angezeigt. (125) a. Marek to (jest) mój przyjacielN O M . POL Marek das ist mein Freund ‚Marek ist mein Freund.‘ przyjacielemI N S . b. Marek jest moimI N S ‚Marek ist mein Freund.‘ Die Verwendung substantivischer Prädikative im Nominativ (im to-losen Kopulasatz) stellt demgegenüber im Polnischen einen Sonderfall dar, der sich bei Personenbezug findet wie in On jest po prostu geniuszN O M ‚Er ist einfach (ein) Genius [i. e., genial]‘ oder Jesteś kompletnyN O M idiotaN O M ! ‚Du bist ein völliger Idiot!‘ (Swan 2002: 363 f.). Das substantivische Prädikativ nimmt in diesem Fall einen quasi-adjektivischen, eher eigenschaftsbeschreibenden als klassifizierenden Charakter an (ebd.: 364, 379, „virtually adjectival force“). Die Verwendung des Instrumentals (Jesteś kompletnymI N S idiotąI N S !) würde eine weniger ‚ausdrucksstarke‘ Formulierung liefern (ebd.); vgl. auch  



B2 Kategorisierungen

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Swan (1993). Zu den Anwendungsbedingungen für diese Konstruktion siehe im Einzelnen Bogusławski (2001). Wo umgekehrt Instrumentalformen von Adjektiven als Prädikative auftreten, kann Substantivierung angenommen werden (Sadowska 2012: 240 f.) oder nach Swan (1993: 158) doch wenigstens eine Annäherung an die referentielle Semantik von NPs: vgl. Piotr jest choryN O M ‚Peter ist krank‘ mit Piotr jest chorymI N S ‚Peter ist der Kranke‘. Vgl. aber auch (127).  

NP-förmige Prädikativkomplemente bei Nicht-Kopulaverben (bei Verbklassen wie den zu (112) genannten) werden in Grammatiken des Polnischen häufig als (zweite) Objekte ausgewiesen (vgl. Adamko 1974: 252); auch hier steht regelmäßig der Instrumental (alternativ zu Präpositionalphrasen). Korpusbefunde gibt Chachulska (2008). Vgl. (126) (Swan 2002: 364, 393): pułkownika [generałem] (126) a. Mianowali POL ernenn.PRT .3PL Oberst.AKK General.INS ‚Sie ernannten den Oberst zum General.‘ Wałęsę [prezydentem] b. Wybrali wähl.PRT .3PL Wałęsa.AKK Präsident.INS ‚Sie wählten Wałęsa zum Präsidenten.‘

/ [na / PRP

generała]. General.AKK

/ [na / PRP

prezydenta]. Präsident.AKK

Daneben fungieren Präpositionalphrasen mit ZA (+ + AKK ) ‚für/als‘ als Prädikative bei Verben wie UCHODZIĆ (ZA ) ‚gelten als‘ wie in Uchodzi [za fachowca] ‚Er gilt als Fachmann‘ (Engel et al. 1999: 253). Adjektive werden als objektbezogene Prädikativkomplemente bei einigen entsprechenden Verben wie ROBIĆ / ZROBIĆ ‚machen‘ und NAZYWAĆ / NAZWAĆ ‚nennen‘ durch den Instrumental als Prädikative deutlich gekennzeichnet wie in (127a) (Chachulska 2008: 64); dagegen konkurriert bei Intransitiva die Konstruktion mit Prädikativ im Kongruenzkasus (Nominativ) wie in (127b) (Swan 2002: 383). mnieA K K [głupimI N S ]. (127) a. Nazwał POL ‚Er hat mich dumm genannt.‘ wydaje się [jakoś b. OnaN O M .S G .F schein.3SG REFL irgendwie 3SG .F ‚Sie scheint irgendwie beunruhigt.‘

zaniepokojonaN O M .S G .F ]. beunruhigt

Als Kasus für freie Prädikative kommt der Instrumental im Polnischen bei Adjektiven, anders als im Russischen, nach Renz/Hentschel (2011: 70) nicht in Betracht und gilt bei Substantiven bzw. NPs als veraltet. Nach den Feststellungen von Chachulska (2008: 45) wird der Instrumental in dieser Funktion im gegenwärtigen Polnisch gewöhnlich nicht mehr verwendet. Anstelle von NPs im Instrumental erscheinen Adjunktorphrasen mit jako ‚als‘ + Kongruenzkasus; vgl. Znam goA K K [jako dobrego fachowcaA K K ] ‚Ich kenne ihn als guten Fachmann‘ (Engel et al. 1999: 253).

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B Wort und Wortklassen

B2.4.3.4.7 Prädikative im Essiv und Translativ (Ungarisch) In finnougrischen Sprachen existieren häufig besondere Prädikativkasus (Kracht 2006: 103, „predicative cases“; Kiparsky 2012: 31, „predicational cases“); vgl. Collinder (1969) u. a. zum Estnischen, Finnischen, Lappischen, Ungarischen und Wogulischen. Kasus, deren primäre Funktion die Markierung von Prädikativen in Konstruktionen mit statischer Semantik darstellt, werden (für die Zwecke des Sprachvergleichs) als Essiv (ESS ) bezeichnet, bei dynamischer (resultativer) Semantik (bei RA ) (Anderson 1999: 63; Haspelmath Verben des Zustandswechsels) als Translativ (TTRA 2009). Im Ungarischen wird der Essiv (traditionell: ‚Essiv-Formal‘, Tompa 1968: 208, ‚Formativ‘, Kiefer 1987: 95, oder ‚Formal‘, Szent-Iványi 1995: 47), Suffix: -ként, vorrangig als Kasus für Rollenphrasen (→ B2.4.3.4.2) verwendet; in Übersetzungen ins Deutsche können dementsprechend als-Prädikative erscheinen. Vgl. (128) (Kenesei/ Vago/Fenyvesi 1998: 227) mit tolmácsként, Essiv zu TOLMÁCS ‚Dolmetscher‘ (mit impliziter Bezugsphrase):  

(128) UNG

Azelőtt [tolmácsként] dolgoztam az ENSZ-ben. arbeit.PRT .1SG DEF UN.INE davor Dolmetscher.ESS ‚Davor habe ich bei der UN als Dolmetscher gearbeitet.‘

Vgl. ferner Péter szólalt fel [utolsóként]E S S ‚Péter ergriff als Letzter das Wort‘ (Keszler/ Lengyel 2008: 190). Der Essiv erscheint auch in modaladverbialer Funktion als Similativkennzeichen (vgl. oroszlánkéntE S S harcolni, ‚wie ein Löwe kämpfen‘) (Tompa 1972: 119). Als „Hauptbedeutung“ des Essivs gibt Tompa (1968: 201) an: „in der besagten Qualität, in der genannten Rolle“. Mit dem Essiv (-ként) konkurrieren verschiedene Konstruktionen, darunter Phrasen mit dem Adjunktor mint und der Postposition gyanánt. Der Verwendungsspielraum des Essivs ist im Ungarischen vergleichsweise eng gezogen. Er dient typischerweise der Markierung von Subjektsprädikativen in Non-Kopulasätzen wie in (128), teils auch der Markierung von DO - bezogenen Prädikativen (de Groot 2008). Der Essiv als Kasus für Rollenphrasen in finnougrischen Sprachen kann mit dem Instrumental in baltischen und slawischen Sprachen, insbesondere im Russischen, verglichen werden, soweit dessen Verwendung nicht grammatisch in der Weise wie im Polnischen fixiert ist. In Sprachen, wie dem Finnischen, in denen der Essiv im Vergleich zum Ungarischen einen weiteren Anwendungsspielraum hat, bietet die Verwendung als Kasus temporär beschränkter Eigenschaftszuschreibungen die Grundlage für die Anwendung auch im Kopulasatz (wo der Nominativ den Regelfall darstellt), wenn eine entsprechende Interpretation intendiert ist; vgl. FIN Pentti oli kolme viikkoa [sairaana]E S S ‚Pentti war drei Wochen krank‘ (Karlsson 1999: 123).

Als einen zweiten ‚Zustandskasus‘ im Ungarischen wertet Kiefer (1987, 2005) die traditionell meist als Essiv-Modal (ESS - M ) bezeichnete Bildung mit dem Suffix -Ul (auch einfach ‚Essiv‘, Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998), die in der Literatur nicht immer als Kasus anerkannt wird; im Allgemeinen sei -ként mit -Ul äquivalent oder eine ‚Variante‘ zu diesem. In deutschen Übersetzungen können wiederum als-Phrasen

B2 Kategorisierungen

1029

auftreten; vgl. utódjáulE S S - M ajánl ‚als Nachfolger vorschlagen‘ (Keszler/Lengyel 2008: 190). Vgl. aber auch FeleségülE S S - M veszi Annát ‚Er nahm Anna zur Frau‘ (Tompa 1968: 283). Ein Unterschied zwischen statischer und resultativer Interpretation scheint im Falle des EssivModal nicht immer ohne Weiteres gegeben. Vgl. dazu den Translativ des Wogulischen, der zugleich als Essiv fungiert (Riese 2001: 26); ebenso im Ostjakischen (Honti 1988: 181). Die Nähe von essiver und translativer Konstruktion zeigt sich auch im Deutschen (wie in Ich nehme das als Vorwand / zum Vorwand).

Prädikative im Translativ treten im Ungarischen bei Verben auf, die eine Veränderung oder Verwandlung anzeigen, darunter insbesondere Verben des Bewirkens wie TESZ ‚machen (zu)‘, vgl. (122d) mit substantivischen Prädikativ und (129a) (Kenesei/Vago/ Fenyvesi 1998: 202) mit adjektivischen Prädikativ; (129b, c) zeigen das Prädikativ im Translativ bei VÁLIK ‚werden (zu)‘ (Pilarský 2013: 177; Tompa 1968: 283); vgl. aber (129d) mit nominativischem Prädikativ beim Kopulaverb LESZ ‚werden‘ (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 201). (129) a. Engem [boldoggá] tettek. RA mach.PRT .3PL UNG 1SG .AKK glücklich.TTRA ‚Ich wurde glücklich gemacht.‘ pulzus ismét [normálissá] válik. b. Húsz perc után a wieder normal.TRA werd.3SG zwanzig Minute nach DEF Puls ‚Nach zwanzig Minuten wird der Puls wieder normal.‘ [még egyhangúbbá] vált. c. Életük Leben.3PL noch eintönig.KOMPR . TRA werd.PRT .3SG ‚Ihr Leben wurde noch eintöniger.‘ [orvos] lett. d. Attila werd.PRT .3SG Attila Arzt.NOM ‚Attila wurde Arzt.‘ Nach Gouesse/Kiefer (2010: 59) tritt der Translativ im Ungarischen nur als Verbkomplement auf. Mit dem Translativ konkurrieren der Dativ, vgl. (122d), und Lokalkasus mit allativer Semantik, vor allem der Sublativ, wie in János [zöldre]S U B festette a kaput ‚János malte das Tor grün an‘ (É. Kiss 2002: 70); vgl. auch → B1.3.4.3. In Darstellungen des Finnischen werden die Prädikativkasus in das dreigliedrige, nach Ort, Endpunkt und Ursprung differenzierte System eingeordnet, das für die Gliederung der Inventare der Lokalkasus in den finnougrischen Sprachen charakteristisch ist (→ B2.4.3.3.3); vgl. (130) aus Kiparsky (2012: 31, Termini i. Orig. englisch).  

1030

B Wort und Wortklassen

(130)

Ort/Zustand

Endpunkt

Ursprung

Externe Lokalisierung

Adessiv

Allativ

Ablativ

Interne Lokalisierung

Inessiv

Illativ

Elativ

Prädikation

Essiv

Translativ



Die abstrakten Konzepte des Sich-in-einem-Zustand-Befindens oder des Innehabens einer Rolle (ESS ) bzw. des In-einen-Zustand-Geratens oder des In-eine-Rolle-Wechselns (TRA ) können ausgedrückt werden, indem Mittel räumlicher Lokalisierung in einen abstrakten Bereich übertragen werden, wie es auch im Deutschen mit der Präposition zu bei Verben des Machens oder Bewirkens erfolgt. Die in (130) vorgenommene systematische Positionierung der Prädikativkasus expliziert diesen Zusammenhang. Ein besonderer ursprungsmarkierender Prädikativkasus (EXESSIV ) existiert im Finnischen dialektal, doch bleibt diese hochmarkierte Systemposition typischerweise leer. In die Lücke treten eigentliche Lokalkasus wie der ELATIV im Ungarischen bei VÁLIK ‚werden‘ (László/Szanyi 1991: s. v. V VÁLIK ÁL IK ); ganz entsprechend kommen in Sprachen mit weniger entfalteten Kasussystemen Präpositionen mit ablativer Bedeutung zum Zuge wie im Deutschen die Präposition aus (in Was wird aus ihm?). Nach dem Vorbild des Finnischen kann für das Ungarische auf vergleichbarer sachlicher Basis die Identifizierung eines Teilsystems von speziellen Prädikativkasus (Kasus mit primär prädikativer Funktion) innerhalb des Kasusinventars vorgenommen werden. Ein hier zu nennendes wichtiges Merkmal dieser Kasusgruppe im Ungarischen ist das Fehlen entsprechender Formen bei Personalpronomina. Die semantische Grundlage dieser Erscheinung liegt auf der Hand: Personalpronomina als referentielle Ausdrücke par excellence kommen für den Gebrauch als Rollenphrasen oder resultative Prädikative praktisch nicht in Frage.  

Ein Grund dafür, dass in Grammatiken des Ungarischen die speziellen Prädikativkasus (ESS , nicht als Gruppe ausgezeichnet werden, könnte im vergleichsweise engen Verwendungsrahmen dieser Kasus liegen; tatsächlich ist der Status von Essiv(-Formal) und Essiv-Modal als Kasus nicht unumstritten. Kiefer (1987: 100) rechnet sogar mit einem Aussterben der essiven Kasus (an deren Stelle der Dativ treten würde) und setzt sie daher in seiner Systematik des ungarischen Kasussystems in eine isolierte Randposition (an die letzte Stelle hinter die Lokalkasus); vgl. die Tabelle in Kiefer (2005: 361, Positionen 17 und 18 des Kasusinventars).

ESS - M , TRA )

Der Varianzparameter ‚(Nicht-)Vorhandensein spezieller Prädikativkasus‘ hebt das Ungarische von den übrigen Vergleichssprachen ab. Kasus mit primär prädikativmarkierender Funktion finden sich unter den Vergleichssprachen nur im Ungarischen. Sie können als eine weitere ‚Ausbaustufe‘ des Systems der non-lokalen Kasus aufgefasst werden, dessen Randbereich sie bilden. Im Vergleich zu den Lokalkasus, mit denen sie sich berühren, sind sie durch ihre abstrakte Semantik dem grammatischen Pol des Kasussystems näher gerückt und nehmen damit insgesamt eine Systemposition zwischen den übrigen non-lokalen Kasus und den lokalen Kasus ein. Im Deutschen, wo Präpositionalphrasen in vergleichbarer Funktion auftreten, gilt Entsprechendes: Die

B2 Kategorisierungen

1031

betreffenden Präpositionalphrasen zeigen Präpositionen, die primär lokale Funktion haben (zu, aus), aber sie stehen funktional kasusmarkierten Phrasen nahe.

B2.4.3.5 Konkurrierende Rollenindikatoren Verschiedene Typen von Rollenindikatoren (Kasusmarkierung der Nominale, Kongruenzmarkierung an Verben, Adpositionen) sind nicht gleichmäßig auf den Funktionsbereich verteilt, wie er in Abbildung 5 (→ B2.4.3.1.7) abgesteckt ist. Die Abdeckung des Funktionsbereichs durch Kasus ist unter dem Varianzparameter ‚Geltungsbereich‘ für das Deutsche und die Kontrastsprachen besprochen worden. Im Überblick lässt sich feststellen, dass Kasusmarkierung vorrangig bei der Differenzierung der Kernkomplemente (Subjekt, direktes Objekt) zum Einsatz kommt. Häufig bleibt dabei aber das Subjekt ohne formale Kasuskennzeichen (wie insbesondere im Ungarischen). Darüber hinaus kommt Kasus bei der Markierung indirekter Objekte und adnominaler Attribute zum Zuge, in geringerem Maße bei der Markierung von Adverbialia. (Wir sehen hier von durch Adpositionen regierten Kasus ab.) Neben Kasus fungiert flexivische Markierung am Verb (Verbkongruenz) als Mittel zur Anzeige von Eigenschaften von Komplementen und kann damit zur Signalisierung der Rollen beitragen, die NPs im Satz übernehmen. In allen betrachteten Sprachen gibt es Kongruenzmarkierungen für Subjekte am Verb. Im Ungarischen wird zwischen subjektiver und objektiver Konjugation unterschieden. Die Formenwahl in der objektiven Konjugation wird durch Eigenschaften direkter Objekte mitbestimmt und zeigt daher ihrerseits (in beschränktem Maße) deren Eigenschaften an. Weiterreichende Kongruenzmarkierung findet sich in den Vergleichssprachen nicht, in europäischen Sprachen aber im Baskischen (de Rijk 2008: 343–346, „dative agreement“); Beispiele für komplexe Kongruenzsysteme (bei ergativischer Kasusmarkierung) finden sich auch unter den Sprachen des Kaukasus (Hewitt 2004). Keine Verbkongruenz zeigen dagegen die festlandskandinavischen Sprachen (Harbert 2007: 214–217). Für die Verteilung von Kongruenzmarkierung am Verb kann für Sprachen des akkusativischen Typs eine hierarchische Abstufung angenommen werden, nach der Kongruenz vorrangig Subjekte, danach direkte Objekte und erst dann andere Komplemente betrifft; → B2.4.2.4.4. Da umgekehrt Subjekte, wie bemerkt, typischerweise ohne Kasuskennzeichen bleiben können und ferner die Nominativ-Akkusativ-Differenzierung häufig nur für einen Teil der Nominale gilt (→ B2.4.2.3.3), ergibt sich tendenziell eine Komplementarität zwischen Kasus- und Kongruenzmarkierung; zur funktionalen Basis (aus allgemeinsprachvergleichender Perspektive) siehe Siewierska (1997). Zusammen mit Englisch, Französisch und Polnisch belegt das Deutsche (als eine Sprache mit Subjektkongruenz) zwischen Sprachen ohne verbale Kongruenz und Sprachen mit mehrfacher Kongruenz (Kongruenzmarkierungen für mehrere Komplemente) eine mittlere Position.

1032

B Wort und Wortklassen

Der unterschiedliche Ausbaugrad der Verbkongruenz in den Vergleichssprachen entspricht dem Grad der Entfaltung der Flexion im Ganzen und folgt damit der in → B2.4.4 (131) gegebenen Komplexitätsordnung der Flexionssysteme der Vergleichssprachen.

Adpositionen kommen insbesondere bei der Markierung von Adverbialia zum Zuge und in geringerem Maße im Funktionsbereich, der auch von indirekten grammatischen Kasus abgedeckt wird. In letzterem Bereich besteht häufig direkte Konkurrenz beider Indikatortypen, deren relative Verteilung einzelsprachlich unterschiedlich durch syntaktische, semantische oder pragmatische Faktoren geregelt ist; vgl. → B2.4.3.2.2.2. Adpositionale Markierung des direkten Objekts tritt in den Vergleichssprachen nicht auf. Sie findet sich in Europa (in unterschiedlicher Ausprägung) insbesondere bei einer Reihe von romanischen Sprachen, etwa im Spanischen und (unabhängig entwickelt) auch im Rumänischen (vgl. Bossong 1998b), aber nicht im Französischen (sowie einigen ihm areal nahestehenden romanischen Sprachen). Unter Verwendung der im Vorhergehenden zugrunde gelegten Ordnung semantischer Rollen kann die relative Verteilung der angeführten Rollenindikatoren (Verbkongruenz, Kasus und Adpositionen) vereinfacht wie in Abbildung 14 schematisch dargestellt werden.  

Abb. 14: Verteilung konkurrierender Rollenindikatoren  

Bei lokalen und temporalen Adverbialia dominieren in den Vergleichssprachen Adpositionen, ausgenommen im stark agglutinierenden Ungarischen. (Zur Markierung von Prädikativen siehe → B2.4.3.4.; zur Konkurrenz von Kasus und Adpositionen bei der Markierung von Attributen siehe → D4.) Nach Lyons (1968: 304) ist allgemein zu beobachten, dass in Sprachen, in denen sowohl Kasus als auch Adpositionen als Rollenindikatoren verwendet werden, Kasusmarkierung eher für ‚abstrakte‘ Funktionen, Adpositionen eher für ‚konkrete‘ Funktionen genutzt werden; stärker grammatikalisierte Kennzeichnungsmittel kämen eher bei der Kennzeichnung abstrakterer Funktionen in Betracht, weniger grammatikalisierte eher bei der Kennzeichnung konkreterer Funktionen. Wortstellung als Mittel der Rollenmarkierung hat wie Kongruenz ihren Platz am abstrakten Pol dieser Abstufung.

B2 Kategorisierungen

1033

B2.4.4 Zusammenfassung: Charakteristik des deutschen Kasussystems Unter Zugrundelegung der im vorliegenden Kapitel dargestellten Befunde aus dem Sprachvergleich kann die Spezifik des deutschen Kasussystems genauer bestimmt werden. Nach dem Gesichtspunkt der Relevanz von Kasus für die grammatischen Systeme können die Vergleichssprachen in die in (131) angegebene hierarchische Ordnung gebracht werden. (131)

ENG < FRA < DEU < POL < UNG

Die Ordnung folgt dem unterschiedlichen Ausbaugrad der Kasussysteme der Vergleichssprachen (sowie der Flexionssysteme im Ganzen) in aufsteigender Richtung. Die relativen Positionen der Sprachen spiegeln zugleich annähernd die arealen Zusammenhänge.

Die Vergleichssprachen decken hinsichtlich der Kasusdifferenzierung ein breites Spektrum ab, das von Sprachen reicht, bei denen das Kasussystem nahezu beseitigt ist (und die Kasusdifferenzierung unproduktiv und auf wenige Pronomina beschränkt ist wie im Englischen), bis zum Ungarischen mit seinem stark aufgefächerten Kasussystem. Das Deutsche steht dabei im europäischen Rahmen (wie häufig aus typologischer Sicht) in der Mitte. Die unterschiedliche Weite des Geltungsbereichs von Kasussystemen in den Vergleichssprachen bestimmt sich wesentlich danach, wo innerhalb des abgedeckten Funktionsbereichs die Grenze zwischen den für Nominalphrasen (Phrasen mit ‚synthetischen‘ Rollenindikatoren) und Adpositionalphrasen (Phrasen mit ‚analytischen‘ Rollenindikatoren) typischen Verwendungsbereichen liegt. Allgemein kommen Adpositionalphrasen umso eher zum Zuge, umso ‚konkreter‘ die Funktion der fraglichen Phrasen ist, während Kasusmarkierung ihren zentralen Anwendungsbereich hat, wo es sich um die Kennzeichnung ‚abstrakter‘ (oder stärker ‚grammatikalisierter‘) Funktionen handelt (→ B2.4.3.5). Nominalphrasen (NPs) und Präpositionalphrasen (PPs) stellen im Deutschen klar geschiedene Phrasentypen dar, die sich auch hinsichtlich ihrer charakteristischen Verwendungsmöglichkeiten und Funktionen deutlich unterscheiden. Aus der Sicht der deutschen Grammatik gibt es zum einen eine charakteristische Verknüpfung der Kategorie Nominalphrase mit dem Status als Term (im Sinne der IDS-Grammatik 1997: 97) und der Funktion als Komplement, zum anderen zwischen der Kategorie Präpositionalphrase, dem Status als Adverbiale und der Funktion als Supplement. Unter Bezugnahme auf die IDS-Grammatik (1997) können wir die relevanten Zusammenhänge für das Deutsche knapp wie folgt charakterisieren. NPs stellen den wichtigsten Typ von Termen dar (ebd.: 976). Terme stellen ihrerseits die wichtigste Kategorie für Komplemente dar: Komplemente sind meist Terme (ebd.: 1065). Präpositionen fungieren prototypischerweise als Köpfe von Adverbialia (ebd.: 2077) und somit Präpositionalphrasen im unmarkierten Fall als Adverbialia (ebd.: 2097). Adverbialia sind zumeist Supplemente (Adjunkte); dagegen bilden Adverbialkomplemente unter den Komplementen einen markierten Fall (ebd.: 1099). Für PPs im Besonderen ist die Verwendung als Supplement grundlegend (ebd.: 2097). Wo PPs andererseits als Termkomplemente fungieren (ebd.: 1093, „Präpositivkomplemente“), verlieren die Präpositionen ganz oder

1034

B Wort und Wortklassen

weitgehend ihre bestimmenden Charakteristika (ebd.: 2097). Entsprechend hat das Auftreten von Nominalphrasen als Adverbialia (z. B. als Situativkomplemente, ebd.: 1101, oder als Satzadverbialia, ebd.: 1124) praktisch Ausnahmestatus, und die Abgrenzung von präpositionalen Termund Adverbialkomplementen (ebd.: 1368–1370) stellt eher ein Randproblem dar.  

Die Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit der Zuordnungen Nominalphrase-Argument-Komplement und Präpositionalphrase-Adverbiale-Supplement werden durch die sprachvergleichende Betrachtung nicht aufgehoben, aber relativiert. Einerseits treten in den Vergleichssprachen Englisch und Französisch (wie auch in anderen romanischen Sprachen) Präpositionalphrasen regelmäßig als Verbkomplemente auf (IDSGrammatik 1997: 2155, Präpositionen als „Objektmarkierungen“), während im Deutschen typischerweise Nominalphrasen entsprechende Funktionen übernehmen und die Kennzeichnung der Funktion primär über die Kasusmarkierung erfolgt. Ähnliche Verhältnisse zeigt der Vergleich von substantivischen Attributen mit präpositionaler Markierung (im Englischen und Französischen) gegenüber solchen mit Kasusmarkierung (Genitiv) im Deutschen, nur findet sich in diesem Fall auch im Deutschen die präpositionale Markierung (‚von-Umschreibung‘) als gut etablierte Konkurrenzform. Dazu ist auch die Rolle von vonPhrasen als Passivagens zu vergleichen.

Zum anderen treten in den Vergleichssprachen Polnisch und Ungarisch (und generell in slawischen und finnougrischen Sprachen) NPs mit charakteristischen Kasusmarkierungen in der Funktion von Adverbialia auf, wo die deutschen Entsprechungen typischerweise PPs aufweisen würden. Dies gilt zum einen für den slawischen Instrumental, der (ohne Präposition gebraucht) vor allem auf die Frage Womit? Wodurch? antwortet, und – in sehr viel stärkerem Maße – für die semantischen Kasus des Ungarischen, das (wie verwandte Sprachen) ein ausgebautes System von Lokalkasus (→ B2.4.3.3.3) und zudem besondere Prädikativkasus besitzt (→ B2.4.3.4). Aus vergleichender Sicht stellen sich die für das Deutsche geltenden prototypischen FormFunktions-Korrelationen als Kennzeichen von Sprachen mit Kasussystemen mittleren Entfaltungsgrades dar. Mit Bezug auf die typologisch begründete allgemeine Ordnung der Kasus, die in → B2.4.2 dargestellt wurde (vgl. Abbildung 4), sowie im Besonderen auf die Kasushierarchie, die bei der Betrachtung der Vergleichssprachen sichtbar wird (→ B2.4.3.1.8 (42)), lässt sich als charakteristischer Grundzug des deutschen Kasussystems herausstellen, dass das Deutsche (i) nur grammatische Kasus (im Unterschied zum Ungarischen oder Polnischen) besitzt und zudem (ii) einen sozusagen ‚vollständigen‘ Satz prototypischer grammatischer Kasus, nämlich die beiden Kernkasus Nominativ und Akkusativ (direkte Kasus) und die beiden typischen grammatischen Nicht-Kernkasus Dativ und Genitiv (indirekte Kasus), also insgesamt drei besondere Kasus zur Auszeichnung der typischen Verbkomplemente und einen Kasus zur Auszeichnung NPförmiger Attribute. Dieser Satz von Kasus entspricht dem typischen Muster für Systeme mit vier Kasus (Blake 2001: 157). Andere Rollen, die potentiell von NPs übernommen werden können,

B2 Kategorisierungen

1035

verlangen in der Regel spezifische Kennzeichnungen, die eben insbesondere durch Adpositionen vorgenommen werden können. Die Einzelsprachen unterscheiden sich danach, welcher Abschnitt der im Sprachvergleich sichtbar werdenden Hierarchie der Kasusfunktionen für welche Wortkategorien tatsächlich durch Kasus belegt wird. Den im Deutschen realisierten Abschnitt der Kasushierarchie zeigt (132). (132)

NOM

> AKK > DAT > GEN

Der hohe Grammatizitätsgrad des deutschen Kasussystems zeigt sich einerseits in der generellen Beschränkung auf grammatische Kasus (NOM , AKK , DAT , GEN ), andererseits in einer vergleichsweise engen gegenseitigen Bindung zwischen Kasus und primären grammatischen Funktionen (SU , DO , IO , ATT ). Der Genitiv ist fast vollständig auf seine primäre Funktion als Attributskasus festgelegt; insbesondere ist die Verwendung als Objektkasus (wie sie sich in den slawischen Sprachen findet), wenn sie auch nicht ganz fehlt, unproduktiv und auf wenige Verben beschränkt. Beim Dativ ist (neben der Verwendung bei Komplementen zu Präpositionen) die primäre Verwendung als Kasus des indirekten Objekts stark vorherrschend, bei der ein Nominal im Dativ einem Nominal im Akkusativ gegenübersteht. Der Anwendungsspielraum des IO +DO -Musters ist, etwa im Vergleich zum Englischen, weit ausgedehnt (→ B2.4.3.2.2). Dagegen ist die Verwendung des Dativs als Kasus des zweiten Komplements bei zweistelligen intransitiven Verben (‚non-kanonische Kasusmarkierung‘), wenn sie auch durchaus nicht fehlt, weniger ausgeprägt als im zum Vergleich herangezogenen Polnischen (mit stärker entfaltetem Kasussystem), doch stärker ausgeprägt als im Französischen (mit weitgehend abgebautem Kasussystem); → B2.4.2.3.4. Adverbiale Verwendungen der grammatischen Kasus wie der ‚Akkusativ der Erstreckung‘ sind vorhanden, spielen aber eine weitgehend periphere Rolle (→ B2.4.2.5.2).

C Nominalflexion

C1

Einleitung

C1.1

Zielsetzung  1040

C1.2

Vorgehen  1042

C1 Einleitung C1.1 Zielsetzung Gegenstand der Darstellung ist die Bildung der Flexionsformen der Lexeme der nominalen Wortklassen des Deutschen und der Kontrastsprachen. Als Ausgangspunkt können die folgenden informellen Begriffsbestimmungen dienen. Das Vorgehen ist im Ganzen genommen traditionell orientiert und verwendet keinen theoriespezifischen Apparat. In allen Vergleichssprachen existieren lexikalische Wörter (Lexeme), die, abhängig von den verschiedenen syntaktischen Verwendungskontexten, in denen sie auftreten können, unterschiedliche Formen annehmen. Diese Art der Formvariation wird als Flexion bezeichnet; die verschiedenen in unterschiedlichen Kontexten zulässigen oder geforderten Formen eines Lexems sind seine Flexionsformen. Unterschiedliche Flexionsformen unterscheiden sich in ihren grammatischen Eigenschaften, die durch Flexionskategorien erfasst werden. Verschiedene Wortklassen von Lexemen, die der Flexion unterliegen, (und insbesondere verschiedene Wortarten) weisen in der Regel unterschiedliche klassentypische Muster der flexivischen Variation auf, die sich aus der Kombinatorik unterschiedlicher Flexionskategorien ergeben. Die für die Nominalflexion übereinzelsprachlich charakteristischen Flexionskategorien sind die Numeri und die Kasus; alle Vergleichssprachen weisen Numerus- und Kasusflexion auf. Die Zielsetzung des Kapitels kann am Beispiel der Substantive des Polnischen umrissen werden. Das Numerussystem des Polnischen umfasst zwei Numeri, das Kasussystem sieben Kasus. Substantive flektieren bezüglich Numerus und Kasus und besitzen daher vierzehn kategorial unterschiedlich spezifizierte Flexionsformen. Die Flexionsformen des Substantivs ORZEŁ ‚Adler‘ zeigt (1) (Swan 2002: 90). (1)

Paradigma von POL ORZEŁ ‚Adler‘ SG

PL

NOM

orzeł

orły

VOK

orle

orły

AKK

orła

orły

LLOK OK

orle

orłach

DAT

orłowi

orłom

GEN

orła

orłów

INS

orłem

orłami

C1 Einleitung

1041

Die Menge der kategorisierten Formen eines Lexems (seine Flexionsformen) wird als Paradigma bezeichnet und gewöhnlich tabellarisch dargestellt. Wir notieren den Namen des Lexems in Großbuchstaben; die Flexionsformen erscheinen in orthographischer Notation. Formen mit unterschiedlicher kategorialer Spezifikation (unterschiedlichen flexivischen ‚Merkmalen‘) müssen in ihrer Lautform (Ausdrucksform) nicht notwendig verschieden sein; bspw. fallen die Lokativ- und Vokativformen im Falle des Lexems ORZEŁ im Singular ausdrucksseitig zusammen. Als wesentliche Aufgabe der Flexionslehre im Rahmen einer Grammatik kann man die Identifizierung der Ausdrucksformen ansehen, die flektierende Lexeme bei gegebenen kategorialen Spezifikationen annehmen. In Angriff genommen werden kann diese Aufgabe durch die Aufstellung von Paradigmen für die flektierenden Lexeme einer Sprache. Ist ein syntaktischer Verwendungszusammenhang für ein Lexem gegeben, der bestimmte kategoriale Spezifikationen (hier: bezüglich Numerus und Kasus) fordert, so kann aus dem Paradigma entnommen werden, welche Form des Lexems in der betreffenden Konstruktion erscheinen muss. Darüber hinaus ist es Gegenstand der Flexionslehre, den Bau der Formen zu analysieren, die die Paradigmen füllen. Die nominalen Flexionsformen der Vergleichssprachen werden traditionell in Stamm und Endung zerlegt. Unterschiedliche Endungen und, in beschränkterem Maße, unterschiedliche Stammvarianten ermöglichen es, an syntaktischen Einheiten, nämlich an den Vorkommen der Lexeme in syntaktischen Konstruktionen, die kategorialen Spezifikationen, die für die betreffenden Vorkommen gelten sollen, zum Ausdruck zu bringen. So ist eine Form wie orły durch die auftretende Endung -y als Träger der Numeruskategorie Plural ausgewiesen und zugleich, wenn auch nicht eindeutig, hinsichtlich Kasus bestimmt (Nominativ, Vokativ oder Akkusativ). Fungiert die Form orły als Kopf einer Nominalphrase, stehen insoweit auch deren kategoriale Spezifikationen (oder ‚Merkmale‘) fest, die wiederum für die Bestimmung von Funktion und Bedeutung der Nominalphrase wesentlich sind. Morphologische Markierungen an Wortformen (wie das Auftreten eines Suffixes) liefern einen Beitrag dazu, Funktion und Bedeutung von syntaktischen Einheiten (hier: von Nominalen) zu signalisieren. Die so hergestellte Beziehung zwischen der Formseite sprachlicher Ausdrücke und ihrer Funktion bzw. Bedeutung ist jedoch typischerweise keine direkte. Was flexivische Markierungen anzeigen, ist die Zugehörigkeit zu flexionsmorphologischen Kategorien, nicht schon bestimmte Bedeutungen oder syntaktische Funktionen. In der Form orłowi des Lexems ORZEŁ kennzeichnet -owi die Form als Dativ-Singular-- Form. Die flexivische Markierung hat eine Formseite (hier gebildet von einem Suffix) und eine Inhaltsseite (hier gebildet von einer Numerus- und einer Kasuskategorie). Die Verbindung von Form- und Inhaltsseite konstituiert ein Flexiv: -owi/DAT . SG ist eines der Flexive, aus denen sich das Flexivinventar der polnischen Nominalflexion zusammensetzt. Flexive unterliegen spezifischen Anwendungsbedingungen (-owi/DAT . SG tritt nur bei maskulinen Substantiven auf). Sind die Flexive mit ihren Anwendungsbedingungen bestimmt, so lassen sich im Allgemeinen die Paradigmen ableiten, die

1042

C Nominalflexion

die Wortformen zur Verfügung stellen, auf deren Kombinatorik die Syntax wesentlich aufbaut. Von der Relation zwischen Form- und Inhaltsseite der Flexive zu trennen ist der etwaige funktionale oder semantische Wert der kategorialen Spezifikationen, die durch flexivische Markierungen sichtbar gemacht werden. Zu trennen ist daher ebenso zwischen der Untersuchung von Funktion und Semantik von Flexionskategorien (wie Nominativ und Akkusativ oder Singular und Plural) einerseits und der Untersuchung der flexivischen Mittel, mit denen die Kategorienzugehörigkeit sprachlicher Einheiten angezeigt wird, andererseits. Die Kategorisierungen (nach Numerus, Kasus und Genus), die die nominalen Flexionskategorien liefern, sind daher in diesem Handbuch Gegenstand besonderer Kapitel, während der Bau der Flexionsparadigmen und die Bestimmung der Flexive (und ihrer Anwendungsbedingungen) Gegenstand des vorliegenden Großkapitels ist.

C1.2 Vorgehen Die nominalen Kategorisierungen in den Vergleichssprachen, deren flexivische Seite im Folgenden darzustellen ist, umfassen Genus, Person, Numerus und Kasus. Das Deutsche gehört zu den Sprachen, deren nominales Flexionssystem neben den Kategorisierungen nach Numerus und Kasus eine Kategorisierung nach Genus einschließt, das Ungarische zu den Sprachen, in denen eine Kategorisierung nach Person nominale Flexionskategorien liefert. Die Darstellung in den Abschnitten 2 bis 5 folgt der hier gegebenen Reihenfolge der Kategorisierungen. Abschnitt C2 (Genus) zeigt die sehr unterschiedliche flexivische Ausgestaltung von Genusdifferenzierungen in den Vergleichssprachen auf. In Abschnitt C3 (Person und Possession) werden die Grundzüge des Baus der Paradigmen der Personal- und Possessivpronomina umrissen; im Mittelpunkt stehen jedoch die Personalsuffixe, die der Ungarischen Nominalflexion ihr spezifisches Gepräge geben. Ebenso untersucht wird in diesem Abschnitt das nur im Englischen vorhandene, auf Phrasen operierende Possessivsuffix (traditionell: das Suffix des ‚sächsischen Genitivs‘). Abschnitt C4 (Numerus) stellt die Mittel der Pluralbildung, von denen in den Vergleichssprachen Gebrauch gemacht wird, dar, mit einem ersten Schwerpunkt auf der Pluralbildung der Substantive und einem zweiten Schwerpunkt auf der Vielfalt der Pluralformen im pronominalen Bereich. Abschnitt C5 (Kasus) bildet das Zentrum des vorliegenden Großkapitels. Nach einem Überblick über die bei Pronomina in allen Vergleichssprachen vorhandenen Kasusformen, wird ein detaillierter Vergleich der nominalen flexivischen Systeme des Polnischen und des Deutschen durchgeführt – der beiden Vergleichssprachen mit einer produktiven, sich über den vergleichsweise engen Bereich der Pronomina hinaus erstreckenden fusionierenden Kasus-NumerusFlexion. Die Komplexität der polnischen Nominalflexion wird herausgearbeitet, ebenso wie die Grundlagen der Vielfalt der Substantivparadigmen des Deutschen. Die

C1 Einleitung

1043

Kasusflexion des agglutinierenden Ungarischen stellt für die Flexionslehre keine vergleichbare Herausforderung dar; eine Ausnahme bilden hier die Kasusformen der Personalpronomina, deren Struktur unter Rückgriff auf die Untersuchung der Personalsuffixe geklärt wird. Abschnitt C6 (Flexive in Phrasen) ist ganz dem Deutschen gewidmet. Gerechtfertigt erscheint dies, da das für das Deutsche charakteristische komplexe Zusammenspiel morphologischer Markierungen an verschiedenen Bestandteilen von Nominalphrasen (Determinativen, Adjektiven, Substantiven) die deutsche Nominalflexion von der der Vergleichssprachen deutlich abhebt und in seiner Besonderheit eine gesonderte Behandlung erfordert. Die Zusammenfassung (→ C7) kann auch als typologisch orientierte Einleitung in das vorliegende Großkapitel gelesen werden; sie stellt wesentliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Flexionssystemen der Kontrastsprachen unter Bezug auf die Parameter Synthese und Fusion heraus und lokalisiert das System der Nominalflexion des Deutschen in dem damit abgesteckten Vergleichsfeld. Bedingt durch die vergleichende Fragestellung des vorliegenden Handbuchs weichen wir von dem in den Grammatiken der Einzelsprachen üblichen Vorgehen ab, die Flexionslehre nach den Wortarten zu gliedern. Wo Sprachen zum Vergleich stehen, in denen Flexive, die für die kategorialen Spezifikationen von Nominalformen und Nominalphrasen „zuständig“ sind, unterschiedliche Verteilungen auf die Wortarten aufweisen, wäre ein solches Vorgehen oft nicht aufschlussreich. So ist im Französischen in Artikel-Substantiv-Phrasen gewöhnlich der Artikel der Hauptträger der Numerusmarkierung; im Ungarischen erscheint die Numerusmarkierung dagegen immer am Kopf der Phrase. Aus funktionaler Sicht handelt es sich um verschiedene Techniken zur morphologischen Realisierung vergleichbarer kategorialer Spezifikationen von Nominalphrasen. Flexivische Besonderheiten einzelner Wortklassen, insbesondere der Pronomina, oder bestimmter Konstruktionen, z. B. der Numerativkonstruktionen, werden darüber hinaus immer wieder in den einschlägigen Abschnitten dieses Handbuchs erörtert; die dort gegebenen spezifischeren Darstellungen ergänzen die Ausführungen des vorliegenden Großkapitels. Die im Folgenden vorausgesetzten funktionalen (syntaktischen und semantischen) Charakterisierungen der Genus-, Numerus- und Kasus-- Systeme der Vergleichssprachen liefern die vergleichenden Darstellungen zu den einzelnen Kategorisierungen (→ B2). Die funktionale Charakterisierung von Personalmarkierung ist Gegenstand von → B1.5.2 und → B1.5.4. Naturgemäß enthalten alle diese Kapitel Ausführungen zur Flexionsmorphologie, soweit dies für die Analyse der funktionalen Seite der betreffenden Systeme erforderlich ist. In den entsprechenden Fällen werden Gegenstände aus dem Bereich der Flexionsmorphologie, die auch im Folgenden erörtert werden, dort aus anderer Perspektive betrachtet. Das vorliegende Kapitel ist vor dem Hintergrund dieser Darstellungen zu lesen. Zur Komparation der Adjektive siehe → B1.3.3. Die Komparation der Adjektive stellt einen Gegenstand dar, dessen Zuordnung zur Flexion in der Literatur umstrit 



1044

C Nominalflexion

ten ist; dessen ungeachtet ist nicht zweifelhaft, dass zur Realisierung von Komparation in den Vergleichssprachen Techniken verschiedener Art beitragen, die über den Bereich der Flexion hinausgehen, aber aus funktionaler Perspektive zusammen gehören.

C2

Genus

C2.1

Einleitung  1046

C2.2

Abstraktes und konkretes Genus  1047

C2.3

Genus und Flexionsklasse  1051

C2.4

Genussysteme: Überblick  1054

C2.5

Non-Femininum vs. Femininum  1058

C2.6

Maskulinum vs. Neutrum  1064

C2.7 Subgenera (Polnisch)  1067 C2.7.1 (In-)Animata und (Im-)Personalia  1067 C2.7.2 (Non-)Virilia  1071 C2.7.3 (Non-)Honorifikativa  1076 C2.8 Genusformen (Französisch)  1078 C2.8.1 Adjektive  1078 C2.8.2 Artikel und Pronomina  1086

Bernd Wiese

C2 Genus C2.1 Einleitung In den Vergleichssprachen ist die Kategorie des Genus sehr unterschiedlich ausgebildet. Sie fehlt im Ungarischen ganz. Im Englischen findet sich eine semantische Differenzierung bei den Personal-, Possessiv- und Reflexivpronomina der 3. Person, die ein Relikt eines älteren ausgebauten Genussystems darstellt. Im Deutschen und Polnischen kann die flexivische Genusdifferenzierung nicht von der Numerus- und Kasusflexion getrennt werden. Wir stellen den Zusammenhang von Genus und Pluralbildung im Deutschen in → C4.2.5.2 dar; zur Genusdifferenzierung in der kumulativen Kasus-Numerus-Flexion des Deutschen und Polnischen siehe → C5.2.2. Im Deutschen ist das Genus für das Zusammenspiel der flexivischen Markierungen innerhalb von Nominalphrasen grundlegend, wie in → C6 gezeigt wird. Genusdifferenzierung, die nicht in ein System der Kasusmarkierung eingebunden ist, findet sich unter den Vergleichssprachen nur im Französischen, wo das Kasussystem weitgehend abgebaut worden ist. Die Genusflexion des Französischen bildet einen Hauptgegenstand des vorliegenden Abschnitts (→ C2.8).  

Welche Wortklassen der Genusflexion unterliegen, variiert zwischen den Vergleichssprachen; zur unterschiedlichen Reichweite der Genusflexion siehe → B2.2.2.2. Im vorliegenden Kapitel greifen wir zunächst einleitend kurz die Unterscheidung von abstraktem und konkretem Genus (siehe dazu ausführlich → B2.2) und das Verhältnis von Genus und Flexionsklassen auf. Im Folgenden werden die in den Vergleichssprachen gemachten Genusunterscheidungen besprochen. Besondere Beachtung erfordert das Polnische, das sich durch eine über die aus dem Deutschen geläufige M - N - F -Unterscheidung hinausgehende Differenzierung auszeichnet, nämlich durch das Vorhandensein besonderer Subgenera des Maskulinums (siehe dazu → C2.7).

In Nominalphrasen (NPs) wie der Mann, die Frau und das Kind in (2) variiert die Form des Artikels (DER /DIE /DAS ) bei im Übrigen gleicher kategorialer Spezifikation der Nominalphrase (hier: Nominativ Singular) und gleichem Verwendungskontext in Abhängigkeit von den auftretenden Substantiven. (2)

Der Mann / Die Frau / Das Kind schläft. Als Lexemnamen für genusvariable Lexeme verwenden wir die NOM . SG -Formen in traditioneller Aufzählreihenfolge (z. B. DER / DIE / DAS ) oder alternativ die NOM . SG . M -Form (z. B. DIESER ).  



Eine solche Formenvariation bei Nicht-Substantiven, die durch eine Klasseneinteilung bei Substantiven – eine Klassifikation von Substantivlexemen – gesteuert wird, konstituiert ein Genussystem. Als Genera werden zum einen die zur Erfassung der Formenverteilung anzunehmenden Substantivklassen bezeichnet, zum anderen die Klassen von Wortformen von Nicht-Substantiven, die durch ein gegebenes Substantivgenus gefordert werden. Im Deutschen sind drei Genera von Substantiven zu unterscheiden, die als Maskulinum (M ), Femininum (F ) und Neutrum (N ) bezeichnet

C2 Genus

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werden, wie die angeführten Beispiele illustrieren (MANN , M ; FRAU , F ; KIND , N ). Die Formendifferenzierung nach Genus kann Lexeme verschiedener nominaler Wortklassen betreffen, deren Formen als Dependentien zu substantivischen Köpfen auftreten, neben Artikeln u. a. Pronomina (wie DEU dieserM /dieseF /diesesN ) und Adjektive (wie DEU alterM /alteF /altesN ); zudem selbstständig gebrauchte Pronomina, insbesondere Personalpronomina der 3. Person (wie DEU erM /sieF /esN ). Innerhalb von Nominalphrasen richtet sich die Wahl zwischen den Formen der betreffenden Lexeme nach dem Genus des substantivischen Kopfs – sie stehen bezüglich des Genus in ‚Korrespondenz‘ mit dem Kopf (oder ‚kongruieren‘ mit dem Kopf). Die Genera stellen ‚Korrespondenzklassen‘ oder ‚Kongruenzklassen‘ (Corbett 1991: 147–149, „agreement classes“) dar; siehe dazu → B2.2.3.  



Bei anaphorischem Gebrauch kann die Wahl der Genusformen genusvariabler Lexeme durch die Kategorisierung des substantivischen Kopfes einer durch das Pronomen wieder aufgenommenen NP (das Antezedens) bestimmt sein (etwa bei Relativpronomina wie in der HundM /die KatzeF /das SchafN , denM /dieF /dasN wir gesehen haben), bei deiktischer Verwendung durch eine vorausgesetzte, aus dem Kontext zu interpolierende substantivische Bezeichnung wie in DieF sieht mal komisch aus! (nämlich: die KatzeF ). Wenn prädikative Adjektive (wie im Französischen und Polnischen) der Genusvariation unterliegen, wird das Genus durch das Bezugsnomen bestimmt; ähnlich kann bei Nominalformen von Verben, z. B. Partizipien, als Bestandteilen finiter Verbformen, wenn sie der Genusvariation unterliegen, der substantivische Kopf eines Verbkomplements (insbesondere des Subjekts) das Genus vorgeben; im Einzelnen siehe → B2.2.2.2.  

Da Genera durch nominale Kongruenz konstituiert werden, können Sprachen, die keine nominale Kongruenz aufweisen, keine Genera besitzen. Unter den Vergleichssprachen fehlt die Kategorie Genus nur im Ungarischen, wo (anders als in den übrigen Vergleichssprachen) Determinative und Attribute in NPs ganz allgemein keine Kongruenz mit dem substantivischen Kopf zeigen; siehe aber → C4.3.3. Bei Lexemen, die als kongruierende Dependentien zu Substantiven verwendet werden, stellt das Genus, soweit es einzelsprachlich ausgebildet ist, eine Formenkategorisierung, also einen Teil des Flexionssystems, dar. Bei Substantiven kann das Genus ein steuernder Faktor in der Kasus- oder Numerusflexion sein. Insoweit ist das Genus Gegenstand der Flexionslehre. Zu den Substantivgenera als lexikalischen Kategorien siehe → B2.2.3.

C2.2 Abstraktes und konkretes Genus Die Genuseinteilung gemäß den Kongruenzverhältnissen („abstrakte Genera“) steht im Deutschen und den Kontrastsprachen, die ein Genussystem besitzen, wie in anderen verwandten Sprachen in (nicht eineindeutiger) Korrelation mit semantischen Differenzierungen („konkrete Genera“, „natürliche Genera“), die durch die Unterscheidung (i) von Personen und Sachen („Gegenständen“) und (ii) bei Personen (und anderen Lebewesen) durch die Unterscheidung nach dem Sexus geliefert werden. Die

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C Nominalflexion

Korrelation zwischen (abstrakten) Genera und (konkreten) semantischen Kategorien (insbesondere Sexus) motiviert die traditionellen Benennungen als Maskulinum, Femininum und Neutrum (‚keins von beiden‘). Soweit nichts anderes angegeben wird, verwenden wir, der Tradition folgend, den Terminus ‚Genus‘ im Folgenden immer in Bezug auf die kongruenzsteuernden Klassen der Substantive (abstrakte Genera) und die entsprechenden Formenkategorien genusvariabler Lexeme. Die Korrelation zwischen Genera und semantischen Klassen („natürlichen Genera“) wird von Jakobson (1960) mit Bezug auf das Russische beschrieben, angewandt auf das Polnische in Schenker (1964: 14–16); vgl. auch Hjelmslev (1956). Zum Deutschen siehe (mit im Grundsatz gleichem Befund) Steche (1927: 87). Die Hauptunterscheidung bildet danach die Gegenüberstellung von Non-Femininum ( NONF ) und Femininum (F ). Für das Femininum ist nach Jakobson charakteristisch, dass Substantive dieses Genus einen Bezug auf männliche Personen, außer in expressiver Verwendung, insbesondere als Pejorativa, nicht zulassen. Die unmarkierte Kategorie NonFemininum zerfällt in zwei Subkategorien, Maskulinum (M ) und Neutrum ( N ). Das Neutrum signalisiert nach Jakobson die Abwesenheit eines Sexusbezugs (Jakobson 1960: 184, „a lack of sex reference“); bei Substantiven des Neutrums („asexual nouns“) handele es sich um Bezeichnungen für Unbelebtes (kurz: ‚unbelebte Substantive‘ oder Inanimata) oder, soweit Bezeichnungen für Belebtes im Neutrum vorkommen, um taxonomisch hochrangige Allgemeinbegriffe wie RUS живóтное (ŽIVÓTNOE ) ‚Tier‘ oder насекóмое (NASEKÓMOE ) ‚Insekt‘. Das Maskulinum stellt nach Jakobson im Russischen das in doppelter Weise unmarkierte Genus dar: Es ist im Unterschied zum Neutrum nicht auf „asexuelle Substantive“ beschränkt und im Unterschied zum Femininum nicht bezüglich des Sexus festgelegt. Personenbezeichnungen des Maskulinums wie товáрищ (TOVÁRI ŠČ ) ‚Genosse‘ oder врач (VRÁČ ) ‚Arzt‘ lassen daher Bezug auf männliche wie weibliche Personen zu. Diese Charakterisierungen der Genera gelten in ähnlicher Weise auch für andere indoeuropäische Sprachen. Im Deutschen gehören sexusspezifische Bezeichnungen für weibliche Personen MUT TER , TOCHTER ) in der Regel zum Genus Femininum, insbesondere (wie FRAU , DAME , MUTTER abgeleitete Substantive wie LEHRERIN (mit Movierungssuffix), und sexusspezifische Bezeichnungen für männliche Personen (MANN , HERR , VATER , SOHN ) zum Genus Maskulinum. Insoweit movierte Feminina (zur Bezeichnung für weibliche Personen oder Tiere) zur Verfügung stehen, können die zugrunde liegenden Maskulina auf eine sexusspezifische Lesart (zur Bezeichnung männlicher Personen oder Tiere) festgelegt werden. Ein maskulines Substantiv wie SCHÜLER kann sexusindifferent gebraucht werden; wo entsprechende Maskulina in Opposition zu abgeleiteten Feminina treten, etwa in einer koordinativen Konstruktion wie Schüler und Schülerinnen, wird das Maskulinum kontextuell auf die spezifische Lesart festgelegt. Das Verhältnis ist das eines unmarkierten zu einem markierten Term einer privativen Opposition: Der unmarkierte Term kann als Oberbegriff (‚generisch‘) oder als Komplementärbegriff zum markierten Term fungieren. Inwieweit von der unspezifischen Lesart bei maskulinen Personenbezeichnungen Gebrauch gemacht wird, kann unterschiedlich geregelt

C2 Genus

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sein. Für das Deutsche stellt Wilmanns (1909: 732) fest: „Je geläufiger das Femininum ist, und je näher es die Bedeutung des Wortes oder der Zusammenhang legt, an das natürliche Geschlecht zu denken, um so weniger wird man freilich geneigt sein, das unbestimmte Stammwort [bei Referenz auf weibliche Personen] anzuwenden.“ Für das gegenwärtige Deutsche wird häufig (in sprachpflegerischer Absicht) gefordert, die Verwendung von maskulinen Personenbezeichnungen in generischer (sexusindifferenter) Lesart zu vermeiden. Die Asymmetrie von Maskulinum und Femininum, die bei Personenbezug eine Gegenüberstellung von sexusindifferenten und weiblich-sexusspezifischen Bezeichnungen zur Verfügung stellt, ist allerdings ein vielfach sichtbar werdender Grundzug des Genussystems des Deutschen und verwandter Sprachen.

Nur unter besonderen Bedingungen weisen sexusspezifische Bezeichnungen das Genus Neutrum auf, etwa Diminutiva, die im Deutschen ungeachtet des Genus der MÄNNL EIN , FRÄULEIN FRÄUL EIN , auch MÄDCHEN , als Derivativum nicht mehr Basis Neutra sind (wie MÄNNLEIN transparent, aber mit erkennbarem Diminutivsuffix -chen). Sexusindifferente Personenbezeichnungen treten im Deutschen in beschränktem Umfang auch im Neutrum und im Femininum auf (vgl. KIND N , PERSON F ); im Einzelnen siehe Steche (1927: 76). Im Ergebnis ähnlich wie Jakobson betrachtet schon Steche das Neutrum als das „sächliche“ Genus und das Maskulinum als das sexusunspezifische personale Genus. Den Befund der doppelten Unmarkiertheit des Maskulinums drückt Steche ante litteram mit der Feststellung aus: „Das ‚ungeschlechtige‘ oder ‚geschlechtslose‘ Sprachgeschlecht ist im Deutschen nicht das sächliche, sondern das männliche!“ (ebd.: 85).

Die Korrelation zwischen Genera und semantischen Kategorien ist für die Wahl der Genusformen bei genusvariablen Lexemen dann ausschlaggebend, wenn das Genus nicht durch einen direkten oder indirekten Bezug auf Substantivgenera bestimmt wird. Eine solche semantische Steuerung der Genuswahl kommt insbesondere bei Personalpronomina der dritten Person in Betracht, wenn Personenbezug vorliegt. In Sprachen, in denen ein älteres Genussystem weitgehend geschwunden ist, bildet die semantisch gesteuerte Verwendung der Personalpronomina der 3. Person gewöhnlich das letzte Residuum der Genusflexion (Lehmann 1982); unter den Vergleichssprachen ist diese Situation im Englischen gegeben. Ganz allgemein wird mit Formen wie ENG heM auf männliche Personen, mit sheF auf weibliche Personen, mit itN auf NichtPersonen referiert. Ein System abstrakter Substantivgenera besitzt das Englische nicht mehr. Auch in anderen Fällen, in denen kein Bezug auf ein lexikalisch fixiertes Substantivgenus gegeben ist, tritt, wo Genusvariation herrscht, die Semantik des Genus hervor. Darunter fallen u. a. Konstruktionen mit Kommunikantenbezug, insbesondere bei Verwendung von genusindifferenten Kommunikantenpronomina (Personalpronomina der 1. und 2. Person) wie in FRA Je suis contentM /contenteF ‚Ich bin zufrieden‘ mit sexusgesteuertem Genus beim genusvariablen Prädikativ; vgl. Grevisse/ Goosse (2011: 568–574), auch zu weiteren Fällen im Französischen, wo Indefinitpro 





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C Nominalflexion

nomina, Interrogativpronomina, Eigennamen oder Völkernamen als Bezugsformen fungieren. Die Korrelation zwischen der semantischen Unterscheidung von Personen und Sachen und der Genusunterscheidung Maskulinum-Neutrum zeigt sich im Deutschen (und ebenso im Polnischen) auch bei Paaren von Indefinitpronomina wie JEMAND M / ETWAS N oder NIEMAND M /NICHTS N und ähnlich bei Interrogativa/Relativa (→ B1.5.1.7); bei Personenbezug wird das Maskulinum verwendet, bei Sachbezug das Neutrum. Wo, wie hier, kein Femininum gegenübersteht, wird die Sexusunterscheidung nicht relevant und das Maskulinum fungiert als sexusindifferentes Genus. Kein Bezug auf ein lexikalisch fixiertes Substantivgenus liegt auch bei nominalisierten Adjektiven vor, und auch hier zeigt sich, wenn Genusvariation gegeben ist, die Korrelation zwischen Genera und semantischen Kategorien; typischerweise werden nominalisierte Adjektive im Maskulinum und Femininum zur Bezeichnung von Personen verwendet, im Neutrum zur Bezeichnung von Nicht-Personen (vgl. DEU der Alte, die Alte, das Alte). Liegt Personenbezug vor, ist das Femininum auf den weiblichen Sexus festgelegt (vgl. eine Blinde), während das Maskulinum generische (sexusindifferente) oder männlich sexusspezifische Lesart zulässt (ein Blinder).

Obwohl die Genuseinteilung der Substantive, in Sprachen, in denen sie gegeben ist, sich übereinzelsprachlich (wenigstens diachron) als Reflex semantischer Unterscheidungen (vorwiegend nach Belebtheit und Sexus) darstellt (Corbett 1991: 8), ist die Genuszugehörigkeit der einzelnen Substantive im Deutschen und verwandten Sprachen (eingeschlossen Französisch und Polnisch) im Allgemeinen nicht aufgrund ihrer Semantik herleitbar, wie die unterschiedliche Genuszugehörigkeit von Übersetzungsäquivalenten in den Vergleichssprachen deutlich macht; vgl. z. B. DEU SONNE F mit FRA SOLEIL M ‚Sonne‘ und POL SŁOŃCE N ‚Sonne‘. Die „Arbitrarität“ der Zuordnung der Substantive zu den Genera hat Anlass gegeben, Genus als eine ‚unlogische‘ Kategorie auszuweisen (Meillet 1921: 202, „l’une des catégories grammaticales les moins logiques et les plus inattendues“). Substantive, die keine sexusspezifischen Personenbezeichnungen sind, verteilen sich im Deutschen auf alle drei Genera (vgl. LÖFFEL M , GABEL F , MESSER N ).  

Aus diachroner Sicht sind grammatische Kategorien, darunter Genus, als „Erstarrungen“ psychologischer Kategorien charakterisiert worden (Paul 1920c: 265). Genusmarkierungen können dementsprechend in vielen Sprachen als Produkt der Grammatikalisierung von Einheiten mit vollerer, durchsichtiger Semantik analysiert werden (vgl. Greenberg 1978). Die diachronen Quellen der Genusflexion können jedoch sehr unterschiedlicher Natur sein, und entsprechend können die flexivischen Mittel der Genusdifferenzierung in einem gegebenen synchronen System durchaus unterschiedliche Charakteristika aufweisen. Dies gilt insbesondere für die unterschiedliche Realisierung der formalen Reflexe der Belebtheitsunterscheidung und der Sexusunterscheidung in den indoeuropäischen Sprachen. Die M - F -Unterscheidung ist von anderer Art als die M - N - Unterscheidung (→ C2.6).

C2 Genus

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C2.3 Genus und Flexionsklasse Die (nach Genus differenzierten) flexivischen Markierungen (für Numerus und Kasus) an genusvariablen Lexemen wie Pronomina und Adjektiven in den indoeuropäischen Sprachen stehen in (unterschiedlich enger) Entsprechung zu den auch an Substantiven flexivisch zu markierenden kategorialen Unterscheidungen. Im Grenzfall, bei einem stark ausgeprägten Entsprechungsverhältnis, können genusvariable Lexeme und genusfeste Lexeme identische Formenbildungen zeigen, die ein gemeinsames Inventar von Flexiven nutzen (vgl. → C2.5 zum Lateinischen). Genus und Flexionsklasse stehen gewöhnlich in Zusammenhang, ohne deckungsgleich zu sein. Unter einer Flexionsklasse verstehen wir eine Klasse von Lexemen, deren Flexionsformen mit den gleichen flexivischen Mitteln gebildet werden. Je nachdem wie strikt im Einzelfall Gleichheit der Mittel bestimmt wird, erhält man größere oder kleinere Flexionsklassen.

Im Polnischen sind die Grundformen der Substantive, d. h. die im Nominativ Singular auftretenden Formen, gewöhnlich endungslos, oder sie weisen charakteristische vokalische Flexionsendungen auf (-o, -e, -a, -i). Für die überwiegende Zahl der Fälle gilt ein einfacher Zusammenhang zwischen Grundformtyp und Genus:  

(3)

Grundformausgang und Genus (Polnisch) endungslos – Maskulinum, z. B. STUDENT ‚Student‘ Grundform auf -o oder -e – Neutrum, z. B. PIWO ‚Bier‘, POLE ‚ Feld‘ Grundform auf -a oder -i – Femininum, z. B. LAMPA ‚ Lampe‘, PANI ‚Frau‘  





Bei den Nominalstämmen werden im Polnischen zusätzlich Stammklassen nach der Lautform des Stamms wie in (4) unterschieden: (4)

Stammklassen des Polnischen. Harte Stämme sind Stämme, die auf einfachen (nicht-palatalisierten, nicht affrizierten) Labial, Dental oder Velar oder auf /r/ oder /w/ ausgehen (orthographisch auf: 〈p b f w m〉, 〈t d s z n〉, 〈k g ch〉, 〈r〉 oder 〈ł〉). Andere Stämme sind weiche Stämme. Vgl. aber zur Orthographie die unten folgenden Erläuterungen. Spitze Klammern (wie in ‚〈…〉‘) kennzeichnen orthographische Repräsentationen, wo diese ausdrücklich als solche auszuweisen sind.

Die Flexion der Substantive variiert (in beschränktem Umfang) in Abhängigkeit von der Stammklasse, wie gegebenenfalls angegeben wird. Bei den harten Stämmen bilden zudem diejenigen, die auf Velar ausgehen, wie BIOLOG ‚Biologe‘ oder BANK ‚Bank‘, unter flexivischem Gesichtspunkt eine besondere Klasse. Zur Phonologie des Polnischen siehe Gussmann (2007), zur Orthographie (ebd.: 1–20).

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C Nominalflexion

Endkonsonanten harter Stämme heißen ‚funktional hart‘, Endkonsonanten weicher Stämme heißen ‚funktional weich‘. Funktional harte Konsonanten wie /s/ und /z/ sind zugleich ‚phonetisch hart‘. ‚Phonetisch weiche‘ Konsonanten (palatalisierte und palatale Konsonanten) wie /ɕ/ und /ʑ/ sind zugleich funktional weich; dazu gehören in orthographischer Notation: 〈pi bi fi wi mi〉, 〈ś/si ź/zi ń/ni ć/ci dź/dzi〉, 〈ki gi chi〉 und 〈j〉. Phonetische und funktionale Klassen decken sich jedoch nicht, da es auch phonetisch harte Konsonanten gibt, die funktional weich sind wie /ʃ/ und /ʒ/. Dazu gehören in orthographischer Notation: 〈c dz cz dż sz rz/ż〉. Auch 〈l〉 gehört zu den funktional weichen Konsonanten. Für die Stammklassenunterscheidung ist die funktionale Unterscheidung ausschlaggebend. ͡ die orthographisch als 〈ś/si ź/zi ń/ni ć/ci dź/dzi〉 Im Falle der palatalen Konsonanten /ɕ ʑ ɲ tɕ ͡ dʑ/, repräsentiert werden, erscheinen vor Vokal die Varianten 〈si zi ni ci dzi〉, sonst 〈ś ź ń ć dź〉; die palatalisierten Konsonanten /pʲ bʲ fʲ vʲ mʲ/ und /kʲ ɡʲ xʲ/, die nur vor Vokalen erscheinen, werden orthographisch als 〈pi bi fi wi mi〉 bzw. 〈ki gi chi〉 repräsentiert. Für beide Gruppen gilt aber, dass, wo doppeltes 〈ii〉 auftreten würde, die Schreibung zu 〈i〉 vereinfacht wird. Man vergleiche dazu die Formen des weichstämmigen Adjektivs GŁUPI ‚dumm‘. (Zur Adjektivflexion siehe → C5.2.2.2.) Die Flexionssuffixe (wie -emu, DAT . SG . NONF ; -ego, GEN . SG . NONF ) weisen Initialvokale auf, vor denen der stammfinale palatalisierte Konsonant (/pʲ/) orthographisch als 〈pi〉 erscheint wie in głupiemu und głupiego; bei i-initialen Suffixen (wie -i, NOM . SG . M , und -im, LOK / INS . SG . NONF ) ergeben sich (aufgrund der Vereinfachung von 〈ii〉 zu 〈i〉) Schreibformen wie głupi und głupim, in denen 〈i〉 zugleich den Initialvokal des Suffixes und die Palatalisierung des stammfinalen Konsonanten anzeigt.  

Die Unterscheidung phonetisch harter und phonetisch weicher Konsonanten schlägt sich in der Orthographie nieder. Das Suffix -i erscheint orthographisch in zwei Varianten, 〈i〉 oder 〈y〉, die einen Wechsel von Allophonen widerspiegeln; 〈y〉 repräsentiert [ɨ], das nach phonetisch harten Konsonanten wie /ts/͡ (〈c〉) erscheint, während 〈i〉 für [i] steht, das sonst erscheint; vgl. die GenitivSingular-Formen mit dem Suffix -i zu NOC , F ‚Nacht‘ und NIĆ , F ‚Faden‘, die nocy bzw. nici lauten. Zu beachten ist, dass /k/ und /ɡ/ vor -i „automatischer“ Erweichung unterliegen (Swan 2002: 15) und daher [i] fordern (orthographisch 〈i〉) wie in córki, GEN . SG zu CÓRKA , F ‚ Tochter‘. Entsprechendes gilt für /l/. Für die morphologische Analyse ist die Unterscheidung nicht relevant; die auf /i/ lautenden Flexive werden im Folgenden (wenn sie nicht als Teile von Wortformen zitiert werden) immer als -i repräsentiert. Die doppelte Entsprechung in der Orthographie bleibt aber zu beachten, wenn Wortformen in orthographischer Repräsentation wiedergegeben werden. Die beschriebene Regelung gilt ebenso für konsonantische Flexive mit dem Initialvokal /i/, wie sie bei Adjektiven auftreten; -im, -imi, -ich erscheinen orthographisch (abhängig vom Stammausgang) als 〈im/ym〉, 〈imi/ymi〉 bzw. 〈ich/ych〉. Wechsel zwischen harten und weichen Konsonanten fungieren im Polnischen häufig als Teil morphologischer Markierungen; zu den in der Nominalflexion auftretenden Wechseln siehe → C5.4.3 (97).

Soweit der in (3) angegebene Zusammenhang reicht, steht bei gegebener Grundform zugleich das Genus fest. Abgesehen von Besonderheiten, die der Stammklassenzugehörigkeit (hart/weich) geschuldet sind, steht die Flexion eines Substantivs im Wesentlichen zugleich fest, wenn Grundform und Genus gegeben sind. (Vgl. Stankiewicz 1955: 557: „In order to predict the declension of a substantive, it is necessary to know its basic form, which is that of the nom. sg., and its grammatical gender.“) Eine Abweichung vom gewöhnlichen Zusammenhang zwischen Grundformtyp, Genus und Flexionsklasse ergibt sich bei maskulinen Substantiven des Typus KOLEGA ‚Kollege‘

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mit Grundformen auf -a, bei denen es sich um männliche Personenbezeichnungen (genauer: Bezeichnungen für männliche Personen oder männliche Personen einschließende Personengruppen) handelt, aufgrund der vorrangigen Regel, nach der das Genus bei Personenbezeichnungen semantisch bestimmt ist. Eine entsprechende Gruppe von Abweichlern findet sich auch in anderen verwandten Sprachen wie dem Lateinischen, wo ähnlich wie im Polnischen eine Gruppe von Bezeichnungen für männliche Personen wie POETA ‚Dichter‘ der vorwiegend Feminina aufnehmenden ā-Deklination folgen, aber zum Genus Maskulinum gehören, d. h. maskuline Kongruenzformen fordern (wie in poētaM clārusM ‚der berühmte Dichter‘).  

Die betreffenden Substantive folgen im Singular dem Flexionsmuster der übrigen Substantive mit Grundform auf -a, also dem der typischen Feminina. Im stark vereinheitlichten Plural ist diese Besonderheit im Polnischen beseitigt: Dort werden die Substantive dieses Typs wie gewöhnliche Maskulina behandelt. Da die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe feststeht, wenn Grundform und Genus (das hier semantisch determiniert ist) gegeben sind, so ist zu ihrer Erfassung eine besondere Flexionsklassenangabe nicht erforderlich. In Hinblick auf die Behandlung der Substantivflexion müssen wir nur die Regel festhalten, dass Maskulina mit Grundform auf -a im Singular wie Feminina flektiert werden. Dem femininen Flexionsmuster folgt weitgehend auch eine weitere Gruppe von (weichstämmigen) Feminina, die, abweichend von der obigen Normalzuordnung, endungslose Grundformen aufweisen, wie z. B. NOC ‚Nacht‘. Wegen der Existenz dieser Gruppe ist bei weichstämmiger endungsloser Grundform das Genus im Allgemeinen nicht vorhersagbar.  

Wie das Beispiel der Maskulina auf -a zeigt, legt die Zugehörigkeit zu einer Flexionsklasse das Genus im Allgemeinen nicht strikt fest, auch wenn eine weitgehende Korrelation besteht. Umgekehrt können Substantive des gleichen Genus in verschiedene Flexionsklassen fallen. Wie angeführt, existieren im Polnischen neben der Hauptgruppe der Feminina mit Grundform auf -a auch Feminina mit Grundform auf -i, zudem solche mit endungsloser Grundform, deren Flexion von der der Feminina auf -a in unterschiedlichem Maße abweicht (→ C5.4.6). Die Korrelation zwischen Genera und Flexionsklassen kann in verschiedenen Sprachen verschieden eng sein. Für die modernen slawischen Sprachen ist (im Vergleich zu älteren indoeuropäischen Sprachen wie dem Lateinischen) eine zunehmend enge Bindung der Flexion der Substantive an das Genus zu beobachten (Jakobson 1955: 18, „a tendency to identify paradigms with genders“). Im Polnischen bilden die Genera den natürlichen Orientierungsrahmen, innerhalb dessen die verschiedenen Ausprägungen der Numerus- und Kasusflexion der Substantive ihren Platz finden. Im Deutschen ist Kasusflexion bei Substantiven nur relikthaft gegeben. Die Unterscheidung von „Deklinationen“, wie sie für ältere indoeuropäische Sprachen wie das Lateinische prägend ist, findet eine Fortsetzung in den verschiedenen

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C Nominalflexion

Mustern der Pluralbildung, die ihrerseits in lockerer Korrelation mit den Genera stehen; die minimalen verbliebenen Verschiedenheiten in der Kasusflexion der Substantive korrelieren mit der Genus-Unterscheidung Maskulinum/Neutrum vs. Femininum. Nur im unmarkierten Genus Maskulinum verbleibt eine nicht genusgesteuerte Unterscheidung zweier Flexionsklassen; neben den Substantiven der „Normaldeklination“ bilden die verbliebenen „schwachen“ Maskulina eine Sondergruppe (→ C6.6.1). Bei den kongruierenden Lexemen ist im Polnischen und Deutschen die Flexion weitgehend vereinheitlicht. Insbesondere bilden die Adjektive in beiden Sprachen je eine einheitliche Flexionsklasse. Flexivische Verschiedenheiten bei im Übrigen kategorial gleich bestimmten Formen werden durch das Genus gesteuert. Flexionsklassenunterscheidungen (entsprechend den Deklinationen des Lateinischen) sind im Falle der Adjektive vollständig beseitigt. Das Genus ist insgesamt zum vorrangigen Steuerungsfaktor der Nominalflexion geworden.  

Zur Unterscheidung von starker und schwacher Flexion bei den Adjektiven im Deutschen siehe → C5.2.2.2.  

C2.4 Genussysteme: Überblick Das Ungarische besitzt kein Genussystem, das Englische nur ein Residuum eines Genussystems, das sich auf eine semantisch bestimmte Unterscheidung bei den Pronomina beschränkt. Unter den Vergleichssprachen besitzen nur das Polnische, das Deutsche und das Französische ein Genussystem im engeren Sinne, d. h., ein System flexivischer Formendifferenzierung bei Nicht-Substantiven, deren Verwendung durch eine Lexemklassifikation bei Substantiven gesteuert wird. Im Deutschen ist das dreigliedrige System der älteren indoeuropäischen Sprachen – Maskulinum (M ) vs. Neutrum (N ) vs. Femininum (F ) – bewahrt, im Französischen ist das Neutrum geschwunden und das Genussystem auf eine zweigliedrige Unterscheidung – Non-Femininum (NONF ) vs. Femininum (F ) – reduziert, im Polnischen ist im Maskulinum eine zusätzliche Subdifferenzierung eingetreten. Komplexe Genussysteme können sich durch Überlagerung verschiedener Schichten der Genusdifferenzierung ergeben. In den slawischen Sprachen wird das aus dem Indoeuropäischen ererbte dreigliedrige Genussystem durch eine neue Genusdifferenzierung (Sussex/Cubberley 2006: 238, „secondary gender“) überlagert, die die Belebtheitsunterscheidung bzw. die Unterscheidung von Personen und Sachen reflektiert. Für die vergleichende Betrachtung der Genusflexion sind die in den slawischen Sprachen neu geschaffenen Genusdifferenzierungen von besonderem Interesse. Aufgrund ihres geringeren Alters sind die für die Analyse der Genusflexion wesentlichen Beziehungen zwischen Genera, semantischen Kategorien und Flexionsklassen hier transparenter als im Falle der ererbten M - N - F -Unterscheidung.  

C2 Genus

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In synchroner Perspektive können komplexe Genussysteme wie dasjenige des Polnischen und ebenso (bei geringerer Komplexität) dasjenige des Deutschen als gestufte Klassifikationssysteme (Systeme von Klassifikationen und Subklassifikationen) analysiert werden. Abbildung 1 zeigt die Klassifikation der Substantive nach Genus im Französischen,, im Deutschen und im Polnischen.  

Abb. 1: Genusklassifikation der Substantive (Französisch, Deutsch, Polnisch)  

Die Genussysteme des Deutschen und des Französischen können im Vergleich zum Polnischen als Systeme mit geringerer Subklassifikationstiefe charakterisiert werden. Die höchstgeordnete Unterscheidung stellt die Gegenüberstellung von Non-Femininum und Femininum dar. Im Französischen ist dies zugleich die einzige Genusdifferenzierung. Im Deutschen und Polnischen zerfällt das Non-Femininum in zwei Subkategorien, Maskulinum und Neutrum. Traditionell wird das Non-Femininum im Französischen als Maskulinum bezeichnet. Da keine Subdifferenzierung des NonFemininums gegeben ist, können mit Bezug auf das Französische die Bezeichnungen ‚Maskulinum‘ und ‚Non-Femininum‘ gleichwertig und austauschbar nebeneinander benutzt werden, wie es auch im Folgenden geschieht. Im Genussystem des Polnischen werden bei den Maskulina zwei Subklassen unterschieden: unbelebte Maskulina oder Maskulina inanimata (MINAN ) und belebte Maskulina oder Maskulina animata (MANIM ); im Bereich der belebten Maskulina bilden die Personenbezeichnungen (Personalmaskulina oder Maskulina personalia, MPERS ) – Bezeichnungen für männliche Personen – eine besondere Unterklasse, der die Maskulina impersonalia gegenüberstehen. Die entsprechenden Genusklassen werden traditionell auch als Subgenera bezeichnet (Meillet 1897: 25, „sous-genre“). (In den Siglen der Genera kann der differenzierende Teil des Akronyms der besseren Lesbarkeit halber auch als Subskript geschrieben werden wie in M A N I M oder M I N A N .) Für die Bezeichnung der Subgenera des Polnischen stehen keine in der Literatur allgemein anerkannten Siglen zur Verfügung. Gut eingeführt sind m1 für Maskulina personalia, m2 für Maskulina impersonalia und m3 für Maskulina inanimata (Przepiórkowski 2004c; Saloni et al. 2012). Wir verwenden im Folgenden der leichteren Identifizierbarkeit halber Akronyme wie MPERS , MANIM und MINAN . Die Komplementklasse zur Klasse der Personalmaskulina (MPERS ), also die Vereinigung aller übrigen Genera (Maskulinum impersonale, Maskulinum inanimatum, Neutrum und Femini-

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C Nominalflexion

num) bezeichnen wir als Non-Personalmaskulina (NONMPERS ); die Klasse der Non-Personalmaskulina darf nicht mit der Klasse der Maskulina impersonalia (eine der beiden Subklassen der Maskulina animata) verwechselt werden. Gelegentlich ist es praktisch, die Notation M +bel vs. M –bel (alternativ zu MANIM vs. MINAN ) zu verwenden; ebenso M +pers und M –pers .  

Die dargestellten Klassifikationen identifizieren die Klassen von Substantiven, die zur Erfassung der Steuerung der Genusflexion bei den genusvariablen Lexemen (NichtSubstantiven) in der jeweiligen Einzelsprache angenommen werden müssen. Die Annahme einer Hauptunterscheidung NONF vs. F folgt Paul (1917: 5) (mit Bezug auf das Deutsche); zum Polnischen vgl. Schenker (1964: 15). Die für das Polnische anzunehmende Anzahl von Genera ist in der Literatur umstritten (Swan 2015). Die fünf terminalen Kategorien des in Abbildung 1 dargestellten Klassifikationssystems entsprechen der Unterscheidung von fünf Genera in Mańczak (1956). Zur Subklassifikation der Personalmaskulina siehe → C2.7.2. Ein entsprechendes hierarchisches Klassifikationssystem für die Substantive des Polnischen wird auch in Bartnicka et al. (2004: 184, 208) angenommen, mit umgekehrter hierarchischer Ordnung der Subklassifikationen des Maskulinums. Die Umkehrung der Subunterscheidungen nach ‚Personalität‘ und ‚Belebtheit‘ reißt aber die Klasse der Maskulina animata auseinander, die für die Steuerung der Genusflexion im Singular wesentlich ist. Zur relativen Ordnung der betreffenden Subklassifikationen siehe → B2.2.3. Vgl. auch das hierarchische Genussystem in Czuba/Przepiórkowski (1995) (mit einer Unterscheidung von SG - Genera und PL -Genera).

Die Genusflexion der genusvariablen Lexeme bildet die damit vorgegebenen Differenzierungen nicht durchgängig vollständig ab; die flexivische Genusdifferenzierung in verschiedenen Teilbereichen der Flexionssysteme unterscheidet sich typischerweise bezüglich des Grades ihrer Durchführung und der Markanz ihrer formalen Ausprägung. Unterschiedliche Durchführung der Genusdifferenzierung kann für genusvariable Lexeme verschiedener Wortklassen und ferner für verschiedene nach Kasus oder Numerus bestimmte Subparadigmen gelten, insbesondere: Singular vs. Plural; direkte vs. indirekte Kasus (→ B2.4.2.4.1). Bezüglich des Numerus kann als Ergebnis allgemeintypologischer Untersuchungen die Beobachtung als gut belegt gelten, dass formale Genusdifferenzierung eher im Plural (im markierten Numerus) als im Singular (im unmarkierten Numerus) fehlen kann. Dem fügen sich auch die Vergleichssprachen. Im heutigen Deutsch wird im Plural keine flexivische Differenzierung nach Genus durchgeführt, d. h., genusvariable Lexeme weisen im Plural keine nach Genus unterschiedenen Flexionsformen auf.  

Vgl. Greenberg (1963: 75): „Universal 37. A language never has more gender categories in nonsingular numbers than in the singular.“ Man beachte aber, dass bei Substantiven die Genuszugehörigkeit in den Vergleichssprachen eine Eigenschaft von Lexemen ist; sie kann daher nicht bei bestimmten Formen (etwa PL -Formen) als fehlend angenommen werden. Zudem legt das lexemweise gegebene Genus eines Substantivs, auch wo dieses im Plural erscheint, gegebenenfalls das Genus eines auf das Substantiv bezogenen Nicht-Substantivs, insbesondere eines Pronomens, fest, wenn das Pronomen im Singular erscheint; vgl. die HundeM , von denen einerM bellte

C2 Genus

1057

vs. die KatzenF , von denen eineF miaute. Greenbergs zitiertes Theorem muss auf „target genders“ (im Sinne von Corbett 1991) bezogen werden; siehe → B2.2.1.

Auch im Polnischen ist die ältere, aus dem Indoeuropäischen ererbte Genusdifferenzierung (M - N - F ) im Plural weitgehend geschwunden. Nur beim Numerale DWA ‚2‘ werden Non-Femininum und Femininum im Plural unterschieden (→ C5.6.2). Jedoch greift die im Slawischen neu entwickelte Differenzierung von Subgenera auch im Plural. Hier wird in der Flexion der Nicht-Substantive danach unterschieden, ob diese auf Personalmaskulina oder auf beliebige andere Substantive (d. h., auf andere Maskulina, auf Neutra oder auf Feminina) bezogen werden. Etwas ungenau werden Formen von Nicht-Substantiven, wie sie in Verbindung mit Personalmaskulina auftreten, in den Grammatiken des Polnischen auch als „Personalformen“, andere Formen als „Sachformen“ bezeichnet (ungeachtet der Tatsache, dass diese Formen auch in Verbindung mit femininen Personenbezeichnungen auftreten).  

Mit Bezug auf das Polnische wird die unterschiedliche flexivische Differenzierung der Genera im Singular und im Plural in einem Teil der Literatur, auch in verschiedenen Grammatiken, so gewertet, dass für Singular und Plural unterschiedliche Genussysteme anzunehmen seien (Schenker 1964: 15; Laskowski 1972: 25; Brooks 1975: 43; Wertz 1977); vgl. dagegen Corbett (1983). Wir folgen der Auffassung, nach der Substantivgenera als Lexemklassen (Wortkategorien) zu betrachten sind. Der unterschiedlich ausgebauten Genusdifferenzierung in verschiedenen Teilsystemen ist bei der Analyse des Systems der Formenbildung der genusvariablen Lexeme (NichtSubstantive) Rechnung zu tragen.

Im Französischen tritt auch im Plural Genusdifferenzierung auf, jedoch beschränkt auf eine Teilklasse der Adjektive; Artikel und andere genusvariable Lexeme weisen auch im Französischen im Plural keine Genusdifferenzierung auf. Bezüglich der Korrelation zwischen Genus und Kasus gilt im Polnischen und Deutschen (ähnlich wie in anderen indoeuropäischen Sprachen), dass rangniedere Kasus, insbesondere indirekte Kasus, im Vergleich zu ranghöheren im Sinne der Kasushierarchie (→ B2.4.3.1.8) tendenziell eine geringer ausgebaute Genusformendifferenzierung zeigen. Die NONF - F - Unterscheidung kann in allen Kasus formal sichtbar werden. Die M - N - Unterscheidung ist auf die direkten Kasus (Nominativ, Akkusativ, gegebenenfalls Vokativ) beschränkt, wo sich M - und N - spezifische Formen gegenüberstehen können. Die Subgenus-Unterscheidungen im Maskulinum (im Polnischen) sind primär durch das Vorhandensein oder Fehlen einer besonderen Auszeichnung des Akkusativs bestimmt; die entsprechenden Genusdifferenzierungen werden zudem vorrangig durch unterschiedliche Formenverwendung bedingt und nicht durch spezifische Ausdrucksformen realisiert. Nur die Personalmaskulina zeichnen sich durch besondere Markierungen aus, die auf den Nominativ beschränkt sind. Insgesamt nehmen die Unterschiede in der Bildung der Flexionsformen von übergeordneten zu untergeordneten Klassifikationen (gemäß Abbildung 1) ab. Dies gilt für die genusvariablen Nicht-Substantive und ebenso für die Flexion der Substantive selbst. Die oberste Genusklassifikation (NONF vs. F ) zeigt die deutlichste

1058

C Nominalflexion

flexivische Realisierung, beschränkter ist die flexivische Differenzierung von Maskulinum und Neutrum, vergleichsweise minimal flexivisch differenziert sind die Subgenera des Maskulinums.

C2.5 Non-Femininum vs. Femininum Wir erörtern die NONF - F - Unterscheidung anhand der Gegenüberstellung von Maskulinum und Femininum. Das Neutrum stellt eine vom Maskulinum flexivisch nicht durchgehend geschiedene spezielle Subklasse des Non-Femininums dar. Zur M - N -Unterscheidung siehe → C2.6.

Personenbezeichnungen im Femininum werden in den Vergleichssprachen und darüber hinaus häufig mittels Derivationssuffixen von Maskulina abgeleitet wie im Falle NAUCZYCIELKA CIELKA , F ‚Lehrerin‘ oder ihren deutschen von POL NAUCZYCIEL , M ‚Lehrer‘ – NAUCZY Gegenstücken. Auch die flexivische NONF - F -Unterscheidung in den indoeuropäischen Sprachen geht mutmaßlich auf eine derivative Unterscheidung zurück (Kuryłowicz 1964: 207, „derivational origin of the feminine“). Synchron zeigt sowohl die Flexion der Substantive – der genusinvariablen Lexeme – als auch die Flexion der genusvariablen Einheiten (insbesondere Artikel, Pronomina, Adjektive) vielfach formale Reflexe der Asymmetrie, die die Opposition NONF - F prägt. Als Ausgangspunkt für die Entwicklung des Femininums im Indoeuropäischen wird ein Derivationssuffix (oder eine Gruppe von Suffixen) angenommen, das zunächst mutmaßlich der Bildung von Abstrakta (oder Kollektiva) diente. Eine Korrelation mit dem weiblichen Sexus hätte danach ursprünglich nicht bestanden; ihr Zustandekommen ist ungeklärt bzw. umstritten. Als Beispiele der anhaltenden Diskussion um die Diachronie des Femininums siehe die Beiträge in Neri/ Schuhmann (Hg.) (2014), aus typologischer Sicht Luraghi (2011).

Wo sich flexivisch unmarkierte Formen und flexivisch markierte Formen des Maskulinums und des Femininums (bei im Übrigen übereinstimmenden flexivischen Spezifikationen) gegenüberstehen, fungiert die formal unmarkierte Form typischerweise als maskuline Form, die markierte (suffigierte) Form als feminine Form wie im Falle von DEU meinN O M . S G . M vs. meineN O M . S G . F oder POL mójN O M . S G . M ‚mein‘ vs. mojaN O M . S G . F ‚meine‘. Ebenso kann sich das Femininum (als markierte Kategorie) gegenüber dem Maskulinum (als unmarkierter Kategorie) durch eine weniger ausgebaute Formendifferenzierung auszeichnen, so im Deutschen durch das fast völlige Fehlen der Dativ-GenitivDifferenzierung. Für das Französische geben die Grammatiken (mit Bezug auf die Schriftformen) an, dass, wo formale Genusdifferenzierung erfolgt, feminine Formen regelmäßig durch die Endung -e gekennzeichnet werden; vgl. (5a).

C2 Genus

(5) FRA

M SG

F SG

M /F SG

a.

l’aïeul ‚Vorfahr/ Großvater‘

l’aïeul-e ‚Vorfahrin/ Großmutter‘

petit/petit-e ‚klein‘

b.

le père ‚Vater‘

la mère ‚Mutter‘

jeune ‚jung‘

1059

Dies betrifft im Französischen genusvariable Adjektive wie PETIT , aber auch Substantive, wenn sich Maskulina und movierte Feminina gegenüberstehen, wie im Falle von AÏEUL , AÏEULE in (5a); vgl. auch PATRON ‚Chef‘, PATRONNE PAT RONNE ‚Chefin‘; BOULANGER ‚Bäcker‘, BOULANGÈRE ‚Bäckerin‘; oder CHIEN ‚Hund‘, CHIENNE ‚Hündin‘; ferner Paare von Maskulinum und Femininum, die durch zusätzliche Derivationssuffixe differenziert sind, MAÎT RE ‚Meister‘, MAÎTRESSE ‚Meiswie DIRECTEUR ‚Direktor‘, DIRECTRICE ‚Direktorin‘ oder MAÎTRE terin‘. Hier zeigt sich eine formale Übereinstimmung zwischen der M - F -Differenzierung auf lexikalischer Ebene (bei den Substantiven) und auf flexivischer Ebene (bei Adjektiven). In anderen Fällen können Substantive wie Adjektive ohne genusbezogene formale Kennzeichen bleiben (vgl. (5b)), etwa wenn Paare von maskuliner und femininer Personenbezeichnung unterschiedliche Stämme aufweisen wie PÈRE , MÈRE und Adjektive ohne Genusdifferenzierung bleiben wie JEUNE . Die Annahme einer Endung -e als Kennzeichen des Femininums im Französischen ist am Schriftbild orientiert und trifft nicht die Verhältnisse in der gesprochenen Sprache (→ C2.8). Dagegen ist die im Französischen im Schriftbild noch greifbare formale Übereinstimmung zwischen der Formenbildung der Substantive und der Adjektive in anderen romanischen Sprachen wie dem Spanischen auch in der Lautform deutlich; vgl. (6). (6) SPA

M SG

F SG

M /F SG

a.

el abuelo ‚Großvater‘

la abuela ‚Großmutter‘

pequeño/pequeña ‚klein‘

b.

el padre ‚Vater‘

la madre ‚Mutter‘

joven ‚jung‘

Die genustypischen Ausgangsvokale, o/M und a/F , erscheinen im Spanischen sowohl als charakteristische Ausgänge maskuliner und femininer Substantive wie ABUELO und ABUELA ABUEL A als auch als genusspezifizierende Flexionssuffixe genusvariabler Adjektive wie PEQUEÑO in (6a). Ihnen stehen genusinvariable Adjektive gegenüber wie JOVEN und Substantive ohne charakteristischen Ausgang wie PADRE , MADRE in (6b). Was dieses Modell der Genusmorphologie auszeichnet, ist, dass die Genusdifferenzierung bei den Adjektiven (wie PEQUEÑO ) unmittelbar die Gegebenheiten bei den Substantiven reflektiert. Dieser Charakterzug der romanischen Genussysteme ist

1060

C Nominalflexion

aus dem Lateinischen ererbt, das wir hier zur Verdeutlichung kurz heranziehen (Rubenbauer/Hofmann 1995: 30–34); vgl. (7). (7) LAT

SE RVUS , M SERVUS

ANCIL LA , F

‚Sklave‘

‚Magd‘

M SG

F SG

M SG

F SG

NOM

serv-us

ancill-a

bon-us

bon-a

AKK

serv-um

ancill-am

bon-um

bon-am

ABL

serv-ō

ancill-ā

bon-ō

bon-ā

DAT

serv-ō

ancill-ae

bon-ō

bon-ae

GEN

serv-ī

ancill-ae

bon-ī

bon-ae

BONUS

‚gut‘

(7) zeigt ausschnittsweise Paradigmen der Typen, auf die die genustypischen Ausgangsvokale des Spanischen zurückgehen. Aufgeführt sind nur die Singularformen, beim Adjektiv nur M - und F - Formen (nicht die N - Formen); für das Maskulinum existieren auch besondere Vokativformen (auf -e). Substantive der Typen SERVUS , M , und ANCILLA , F , besitzen ähnliche, aber nicht identische, besonders deutlich im Vokalismus unterschiedene Sätze von Kasusflexiven. Die Unterscheidung der Flexivsätze konstituiert eine Flexionsklassenunterscheidung (traditionell: o-Deklination vs. ā-Deklination). Sie liefert zugleich die Genusdifferenzierung bei den Adjektiven des Typs BONUS ‚gut‘. BONUS besitzt zwei nach Genus unterschiedene Teilparadigmen für das Maskulinum und das Femininum. Deren Formenbildung folgt exakt den Mustern der M typischen ō-Deklination bzw. der F - typischen ā-Deklination, wie (7) ebenfalls zeigt. Der Zusammenhang zwischen der Genusflexion bei den genusvariablen Adjektiven und den Flexivsätzen, die die Flexionsklassen der Substantive konstituieren, ist in diesem Fall trivial. Die Genusformendifferenzierung bei Adjektiven des Typs BONUS spiegelt die Differenzierung der Flexionsklassen durch eine Verdoppelung der KasusNumerus-Formen. Auch im Plural stimmen die Flexivsätze der Adjektive des Typs BONUS mit denen der Substantive der o- und ā-Deklination exakt überein (M : -īN O M . P L , -ōsA K K . P L , -ōrumG E N . P L , F : -aeN O M . P L , -āsA K K . P L , -ārumG E N . P L ; M / F : --īsA B L / D A T . P L ). Die gleichen Flexivsätze finden, mit kleineren Modifikationen, auch bei Pronomina wie ILLE ‚jener‘ und Numeralia wie DUO ‚zwei‘ Verwendung. Adjektive fallen im Lateinischen in verschiedene Flexionsklassen („Deklinationen“). In den modernen romanischen Sprachen entspricht dem relikthaft die Unterscheidung von genusvariablen und genusinvariablen Adjektiven. Die genusinvariablen Adjektive FRA JEUNE und SPA JOVEN gehen auf JUVENIS zurück, das der sogenannten 3. Deklination folgt und schon im Lateinischen keine M - F - Differenzierung aufweist. Auch maskuline und feminine Substantive der 3. Deklination, wie Z . B. LABOR , M ‚Arbeit‘ und ARBOR , F ‚Baum‘,, können in der Deklination im Lateinischen völlig übereinstimmen; die M - F -Unterscheidung macht sich gegebenenfalls erst bemerkbar, wenn  

C2 Genus

1061

ein genusvariables Dependens hinzutritt, wie in hiems aspera ‚rauher Winter‘ (Rubenbauer/ Hofmann 1995: 41), wo das feminine Substantiv HIEMS ‚Winter‘ die nach der a-Deklination gebildete feminine Adjektivform zu sich nimmt. Entsprechendes gilt für die in (5b) und (6b) beispielhaft genannten Substantive im Französischen und Spanischen.

Für die Charakteristik der M - F -Unterscheidung (auch im Polnischen und Deutschen) ist wesentlich, dass, wie (7) zeigt, die flexivische Unterscheidung (aufgrund ihres derivationellen Ursprungs) grundsätzlich in allen Kasus besteht; nur im Plural (im Lateinischen nur im Ablativ/Dativ-Plural) fallen die Endungen für Maskulinum und Femininum zusammen. Die wortartübergreifende Verwendung der Flexive im Lateinischen bringt es mit sich, dass in Nominalphrasen kongruierende Dependentien und Substantive die gleichen genusspezifischen Flexive tragen können; vgl. (8) (Lehmann 1982: 208) mit den Substantiven VIR , M ‚Mann‘ und FĒMINA , F ‚Frau‘. (8) a. [illōrum duōrum bonōrum virōrum]G E N . P L . M LAT ‚jener beiden guten Männer‘ b. [illārum duārum bonārum fēminārum]G E N . P L . F ‚jener beiden guten Frauen‘ Hier liegt nach der Terminologie von Corbett (2006: 16) ‚offen ausgedrückte Kongruenz‘ vor („overt expression of agreement“). Wiederholung gleicher Flexive an verschiedenen NP-Bestandteilen kann als ‚reimende‘ Kongruenz bezeichnet werden (Corbett 2006: 16, „alliterative agreement“). Das (Nicht-)Vorhandensein von offen ausgedrückter Kongruenz konstituiert einen Varianzparameter, der auch für den Vergleich der polnischen und deutschen Genusflexion herangezogen werden kann. Im Vergleich zum Lateinischen zeichnet sich das Polnische durch die nur partielle Übereinstimmung der Flexivsätze für Substantive und kongruierende Nicht-Substantive sowie durch das weitgehende Fehlen der Genusformendifferenzierung im Plural aus. Die M - F - Differenzierung im Singular zeigen die (Teil-)Paradigmen in (9). (9) POL

LEKARZ , M

‚Arzt‘

Ż ONA , F ŻONA ‚Ehefrau‘

M P E R S SG

F SG

M P E R S SG

F SG

NOM

lekarz

żon-a

dobr-y

dobr-a

AKK

lekarz-a

żon-ę

dobr-ego

dobr-ą

LLOK OK

lekarz-u

żoni-e

dobr-ym

dobr-ej

DAT

lekarz-owi

żoni-e

dobr-emu

dobr-ej

GEN

lekarz-a

żon-y

dobr-ego

dobr-ej

INS

lekarz-em

żon-ą

dobr-ym

dobr-ą

DOBRY

‚gut‘

1062

C Nominalflexion

‚Arzt‘ aus der Subklasse der Personalmaskulina (M P E R S ) und ŻONA , F ‚Ehefrau‘ zeigen jeweils einen für Substantive des Maskulinums und des Femininums typischen Formenbestand. (Zusätzlich existieren Vokativformen: lekarzu bzw. żono.) Danebengestellt sind wieder die entsprechenden Kongruenzformen eines Adjektivs (DOBRY ‚gut‘). Wie im Falle der in (7) gezeigten lateinischen Paradigmen unterscheiden sich die Kasusflexive des maskulinen Flexionsmusters und die des femininen Flexionsmusters der Substantive und ebenso die Adjektivformen der beiden Genera in allen Kasus, doch besteht im Polnischen keine durchgängige Übereinstimmung von Substantiv- und Adjektivflexiven, wie sie im Lateinischen sichtbar ist. Insbesondere im Maskulinum ist die Formenbildung von Substantiv und Adjektiv deutlich verschieden; Ähnlichkeit zeigen besonders die (auf -Vm ausgehenden) Flexive des Instrumentals. Im Femininum gibt es Übereinstimmungen (im Nominativ und im Instrumental) sowie offensichtliche Ähnlichkeiten in den übrigen Kasus, etwa das Auftreten von Nasalvokalen in den Akkusativformen (orthographisch 〈ę〉, 〈ą〉; zur Aussprache siehe Swan 2002: 7 f.). Die nähere Analyse zeigt insgesamt stärkere Übereinstimmungen, als zunächst augenfällig sind; siehe im Einzelnen → C5.4.10. Hervorzuheben ist, dass trotz des Fehlens einer durchgängigen Übereinstimmung der Flexive an Substantiv und Adjektiv die Struktur der maskulinen und femininen Subparadigmen der Nicht-Substantive, was die Ausdifferenzierung der Kasus angeht, weitgehend mit der der maskulinen bzw. femininen Substantive übereinstimmt. LEKARZ , M



Im Maskulinum stimmen (bei Animata wie LEKARZ ) Akkusativ und Genitiv sowohl beim Substantiv als auch bei den auf sie bezogenen Dependentien überein; bei Inanimata fallen jeweils Nominativ und Akkusativ zusammen (→ C2.7.1). Für das Femininum ist die reduzierte Formendifferenzierung im Bereich der indirekten Kasus charakteristisch (→ C5.3.3). Die LOK - DAT -Unterscheidung fehlt durchwegs. Bei den weichstämmigen femininen Substantiven und bei den Adjektiven wird in den indirekten Kasus nur der Instrumental besonders ausgezeichnet; ansonsten gilt für die indirekten Kasus des Singulars eine Einheitsform. Nur der Zusammenfall von Lokativ und Instrumental im Maskulinum Singular der Adjektive findet bei Substantiven keine Parallele.

Auch im Polnischen besteht insoweit ein Entsprechungsverhältnis zwischen der Bildung maskuliner und femininer Formen der Adjektive einerseits und der Formenbildung maskuliner und femininer Substantive andererseits. Kongruenz wird offen ausgedrückt wie in On jest [mił-ym pan-em]I N S . S G . M ‚Er ist ein netter Herr‘, aber nur teilweise reimend (mit übereinstimmenden Suffixen) wie in Ona jest [mił-ą kobiet-ą]I N S . S G . F ‚Sie ist eine nette Frau‘. Die Unterlassung der Genusdifferenzierung im Plural geht im Polnischen weiter als im Lateinischen. Bei Adjektiven und anderen genusvariablen Lexemen fehlt sie in den indirekten Kasus des Plurals ganz, in den direkten Kasus ist sie wenig ausgebaut (→ C5.4.8). Im Deutschen ist die flexivische M - F - Differenzierung bei den Substantiven, einhergehend mit dem weitgehenden Verlust der Kasusflexion der Substantive, nahezu aufgegeben; vgl. (10).

C2 Genus

(10) DEU

MANN , M

MAUS , F

1063

DIESER

M SG

F SG

M SG

F SG

NOM

Mann

Maus

dies-er

dies-e

AKK

Mann

Maus

dies-en

dies-e

DAT

Mann

Maus

dies-em

dies-er

GEN

Mann-es

Maus

dies-es

dies-er

Eine M - F - Unterscheidung in der Flexion der Substantive liegt nur noch im Genitiv Singular vor, der im Non-Femininum (M und N ) mittels des Suffixes -(e)s ausgezeichnet wird. Bei genusvariablen Lexemen, darunter Pronomina wie DIESER , die im Deutschen die eigentlichen Träger der Kasusdifferenzierung darstellen, besteht dagegen im Singular eine durchgängige M - F -Unterscheidung; zur Rolle von Homonymien wie EN . SG . F ) siehe → C6.4.1. bei dieser (NOM . SG . M oder DAT / GGEN Die Unterlassung der Genusdifferenzierung bei Pronomina und anderen flektierenden Dependentien im Plural ist im Deutschen vollständig durchgeführt; vgl. (11). (11) DEU

MANN , M

MAUS , F

DIE DIESER SER

M PL

F PL

PL

NOM

Männer

Mäuse

dies-e

AKK

Männer

Mäuse

dies-e

DAT

Männer-n

Mäuse-n

dies-en

GEN

Männer

Mäuse

dies-er

Soweit die Substantive noch eine produktive Kasusflexion aufweisen, also im Genitiv Singular Non-Femininum und im Dativ Plural,, stimmen die Kasusflexive (-(e)s bzw. -(e)n) an Substantiven und kongruierenden Begleitern überein. In Phrasen wie [dieses Mann-es]G E N . S G . M oder [dies-en Männer-n]D A T . P L liegt im Deutschen offene und zugleich reimende Kongruenz vor. Ansonsten erscheint die flexivische Kasus-NumerusMarkierung nur am Nicht-Substantiv. (Nur relikthaft ist eine Auszeichnung der nonfemininen DAT .SG -Formen mit dem Suffix -e gegeben, das in dieser Funktion bei genusvariablen Lexemen nicht auftritt.) Umgekehrt nehmen Substantive im Plural (beschränkt genusspezifische) Numerusflexive an (wie in Männer, Umlaut + -er; Mäuse, Umlaut + -e), die nie an kongruierenden Begleitern erscheinen. Diese Aufspaltung der flexivischen Markierung in NPs (Kasusmarkierung am Dependens, Numerusmarkierung am Kopf) macht ein wesentliches Spezifikum der deutschen Nominalflexion aus (→ C6). Besonders markante formale Genusdifferenzierung, die über die gewöhnlichen flexivischen Markierungen hinausgeht – mittels irregulärer oder suppletiver Formen –,

1064

C Nominalflexion

kann man am ehesten bei selbstständig verwendeten Pronomina erwarten, wo das Genus (in Hinblick auf die Identifizierung der Referenten) unmittelbar funktional relevant und, soweit kein Bezug auf abstrakte Substantivgenera gegeben ist, semantisch signifikant werden kann; zu den betreffenden Formen siehe im Einzelnen → C3.2 und, soweit sie zugleich bezüglich Kasus spezifiziert sind, → C5.2.1 und → C5.2.2.1. Wir fassen hier die wichtigsten Besonderheiten unter dem Gesichtspunkt der Genusmarkierung zusammen. Im Englischen ist die Genusdifferenzierung auf Pronomina beschränkt. Die betreffenden Formen des Personalpronomens der 3. Person Singular sind lexikalisiert und morphologisch nicht mehr zerlegbar (heN O M . S G . M , himA K K . S G . M vs. sheN O M . S G . F , herA K K . S G . F ); die Genusunterscheidung überträgt sich auf die Reflexiva (himself, herself). Auffällig ist die besondere Auszeichnung der NOM . SG . F - Form durch Anlautwechsel, dessen Ursprung umstritten ist (siehe Lass 1992: 118, „one of the great unsolved puzzles of the history of English“). Im Französischen erstreckt sich beim Personalpronomen der dritten Person die Genusdifferenzierung auch auf den Plural; vgl. ilN O M . S G . N O N F , ilsN O M . P L . N O N F vs. elleN O M . S G . F , ellesN O M . P L . F , doch ist auch hier die Tendenz zur Nichtdifferenzierung im markierten Numerus Plural ebenso wie in den höher markierten Kasus sichtbar; die NONF - F -Differenzierung fehlt im Singular und Plural im Dativ (luiD A T . S G , leurD A T . P L ), im Plural auch im Akkusativ (lesA K K . P L ). Auch im Deutschen weist das Personalpronomen der 3. Person Formen auf, die Stammwechsel und andere formale Besonderheiten zeigen; Maskulinum und Femininum sind in den im Nominativ Singular erscheinenden Formen (erN O M . S G . M vs. sieN O M /A K K . S G . F ) besonders deutlich geschieden; dem Muster der Formdifferenzierung bei ER /SIE /ES folgt (bei Unterschieden im Einzelnen) auch DER /DIE /DAS (→ C6.5.1). Charakteristisch für das Deutsche ist der weitgehende Zusammenfall von F . SG - Formen und genusindifferenten PL -Formen (wie bei sie, NOM /AKK . SG . F = NOM /AKK . PL ) in der gesamten pronominalen Flexion (→ C5.4.7). Im Polnischen entspricht die Flexion des Personalpronomens der 3. Person, was die Genusdifferenzierung angeht, dem allgemeinen Muster der Flexion der Pronomina und Adjektive (→ C5.2.2.1). Keine Genusunterscheidung weisen in den Vergleichssprachen die Kommunikantenpronomina (Personalpronomina der 1. und 2. Person) auf; → B1.5.2.1.  







Zum Genus als Stammkategorie bei Possessiva siehe → B1.5.4.7 und → B2.2.2.2.

C2.6 Maskulinum vs. Neutrum Während sich die Unterscheidung von Non-Femininum und Femininum bei den genusvariablen Lexemen (wie Pronomina und Adjektiven) im Deutschen (und verwandten Sprachen, darunter das Polnische) an Formen aller Kasus zeigt (im Deut-

C2 Genus

1065

schen eingeschränkt auf den Singular), betrifft die Maskulinum-Neutrum-Unterscheidung nur die direkten Kasus. Die Formenbildung im Neutrum unterscheidet sich von der des Maskulinums grundsätzlich durch das Fehlen der Nominativ-Akkusativ-Unterscheidung wie in DEU [dieses Haus]N O M /A K K . S G . N im Vergleich zu [dieser Mann]N O M . S G . M , [diesen Mann]A K K . S G . M . In anderen Kasus findet keine flexivische M - N -Differenzierung statt; vgl. DEU mit [diesem Haus]D A T . S G . N und mit [diesem Mann]D A T . S G . M . Im Französischen ist die (im Lateinischen gegebene) Maskulinum-Neutrum-Unterscheidung aufgegeben. Die Substantive des Neutrums sind im Zuge einer langanhaltenden, schon seit frühen Stadien des Lateinischen zu beobachtenden Entwicklung ins Maskulinum, in beschränktem Umfang auch ins Femininum, übergegangen (Ernout 1953: 2 f.; Väänänen 1981: 101–105). Im Englischen ist bei den Pronomina die dreigliedrige Genusunterscheidung erhalten, und auch hier zeichnet sich das Neutrum durch das Fehlen der NOM - AKK Unterscheidung aus, wie die Formen des Personalpronomens der 3. Person zeigen; vgl. itN O M /A K K . S G . N mit heN O M . S G . M , himA K K . S G . M und sheN O M . S G . F , herA K K . S G . F . Im Plural wird keine Genusunterscheidung gemacht (theyN O M . P L , themA K K . P L ). Im Deutschen zeigt sich die M - N -Unterscheidung durchgängig bei den Singularformen der Artikel, Pronomina und Adjektive (in den direkten Kasus). Die NOM / AKK . SG . N -Form weist in dem für diese Lexeme allgemein geltenden Flexionsmuster (der ‚pronominalen Flexion‘) regelmäßig das Suffix -(e)s auf (wie in dieses, jenes, auch bei Adjektiven: altes), mit – im Vergleich zu ENG it und Neutrumformen in anderen verwandten Sprachen – durch Lautverschiebung geändertem charakteristischem Konsonanten. Auch wo das Suffix fehlt (wie in [mein Haus]N O M /A K K . S G . N ), hebt sich das Neutrum vom Maskulinum durch die Nicht-Unterscheidung von Nominativ und Akkusativ ab (vgl. [mein Lehrer]N O M . S G . M , [meinen Lehrer]A K K . S G . M ). Auch in der schwachen Flexion der Adjektive werden im Maskulinum, aber nicht im Neutrum, Nominativ und Akkusativ unterschieden; vgl. die Verwendung der Formen alte und alten in [dieses alte Haus]N O M /A K K . S G . N und [dieser alte Mann]N O M . S G . M , [diesen alten Mann]A K K . S G . M . Die gleiche Regularität ist in der schwachen Flexion der Substantive erkennbar, doch existiert im Gegenwartsdeutschen nur noch ein einziges schwaches Substantiv des Neutrums (HERZ ); vgl. HerzN O M /A K K . S G . N mit MenschN O M . S G . M , MenschenA K K . S G . M . Im Übrigen unterscheidet sich die Flexion der Substantive des Maskulinums und des Neutrums (abgesehen von etwas unterschiedlichen Präferenzen bei der Pluralbildung) nicht. Wegen der dargestellten beschränkten Reichweite und Ausprägung der M - N Unterscheidung können, wie im Vorhergehenden angenommen wurde, die Genera Maskulinum und Neutrum nach ihren flexivischen Charakteristika zusammengenommen als Non-Femininum dem Femininum gegenübergestellt werden, das seiner Flexion nach beiden gegenüber durch eine spezifische Formenbildung abgehoben ist. Im Polnischen zeigt sich eine entsprechende Konstellation, wenn man Personalmaskulina und Neutra gegenüberstellt. (In anderen Subgenera des Maskulinums kann, wie im Folgenden erörtert wird, die Nominativ-Akkusativ-Unterscheidung im Plural oder in beiden Numeri fehlen.) Die typische Konstellation der M - N -Unterschei 



1066

C Nominalflexion

dung, wie sie sich im Polnischen bei Vergleich der NOM /AKK - Formen des Personalmaskulinums (M P E R S ) und des Neutrums zeigt, ist in (12) dargestellt. (12) POL

ST UDE NT , M P E R S STUDENT

‚Student‘

M P E R S SG

M P E R S PL

NOM

student

studenci

AKK

studenta

studentów

BIURO , N

TEN NOM

ten

ci

AKK

tego

tych

‚Büro‘

N SG

N PL

biuro

biura

to

te

‚dieser‘

Bei Personalmaskulina wie POL STUDENT werden Nominativ und Akkusativ im Singular und im Plural unterschieden; dasselbe gilt für die bei Personalmaskulina geforderten Kongruenzformen, für die in (12) exemplarisch die Formen des Demonstrativums TEN aufgeführt sind. Im Neutrum fallen Nominativ und Akkusativ durchwegs zusammen (sowohl bei den Substantiven des Neutrums wie BIURO im Singular und Plural als auch bei den kongruierenden Lexemen wie dem Demonstrativum in beiden Numeri). Die Nicht-Unterscheidung von Nominativ und Akkusativ im Plural ist jedoch im Polnischen nicht auf das Neutrum beschränkt – sie gilt für alle Genera, ausgenommen das Personalmaskulinum. Wie ältere indoeuropäische Sprachen, eingeschlossen das Lateinische, besitzt das Polnische ein neutrumspezifisches Flexiv für die direkten Kasus des Plurals (-a), wie es die Form biuraN O M /A K K . P L zeigt; im Polnischen ist dieses spezifische NOM /AKK . N . PL Suffix auf die Substantive beschränkt. In diesem Punkt geht die M - N -Differenzierung im Polnischen über das Deutsche hinaus. Bemerkenswerterweise werden beim Personalpronomen der 3. Person im Neutrum die Formen des Nominativ Singular (ono) und des Akkusativ Singular (je) unterschieden, wenngleich nicht mit eigentlich flexivischen Mitteln, sondern durch Stammsuppletion (→ C5.2.2.1). In der Flexion der Substantive des Non-Femininums greift die M - N - Unterscheidung sogar in die indirekten Kasus über; das Dativflexiv -owi ist auf das Maskulinum beschränkt, im Neutrum gilt -u (→ C5.4.4). Insgesamt zeigt sich, dass die unterschiedliche Ausprägung der M - N - Unterscheidung mit dem Gesamtausbaugrad der Nominalflexion in den Vergleichssprachen korreliert. Die für das Neutrum definitorische flexivische Nicht-Unterscheidung von Nominativ und Akkusativ kann, wenigstens aus diachroner Perspektive, als Ausdruck der semantischen Charakteristik des Neutrums als ‚nicht-personales Genus‘ betrachtet werden. Mit dem Fehlen einer Nominativ-Akkusativ-Unterscheidung kann bei Klassen von Substantiven gerechnet werden, die eine niedrige Position in der Allgemeinen Nominalhierarchie (→ B1.1.5) einnehmen. Dies trifft auf das Neutrum zu, insofern  



C2 Genus

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angenommen werden kann, dass Personenbezeichnungen im Regelfall nicht in dieses Genus fallen. Die (Nicht-)Unterscheidung von Nominativ und Akkusativ im Neutrum im Vergleich zum Maskulinum stellt danach eine (erstarrte) Form differentieller Objektmarkierung dar (→ B2.4.2.3.3). Der Schwund des Neutrums (in den romanischen Sprachen) sowie der Übergang vieler Neutra ins Maskulinum in slawischen und germanischen Sprachen (Steinmetz 1986, 2006) fügt sich hier ein; er belegt die Tendenz, die Nominativ-Akkusativ-Differenzierung entlang der Nominalhierarchie auf niedrigere Positionen auszudehnen, die sich im Slawischen bei der Entwicklung der Subgenera erneut geltend macht (→ C5.3.2.4). Schon Meillet (1921: 203) und Kuryłowicz (1964: 207) stellen deutlich heraus, dass die M - F Unterscheidung und die M - N -Unterscheidung diachron von wesentlich verschiedener Art sind und in der Folge synchron in unterschiedlicher Weise ausgeprägt sind. Die M - F - Unterscheidung geht aus einer stammbezogenen Differenzierung hervor, die mit dem Ausdruck der SexusUnterscheidung gekoppelt worden ist, und betrifft daher potentiell alle Kasus; die M - N - Unterscheidung stellt einen Reflex unterschiedlich ausgeprägter Kasusdifferenzierung in den direkten Kasus dar und bleibt in aller Regel auf diese beschränkt.

C2.7 Subgenera (Polnisch) C2.7.1 (In-)Animata und (Im-)Personalia Die slawischen Sprachen weisen über die für die indoeuropäischen Sprachen typische dreifache Genusdistinktion hinaus im Bereich des Maskulinums eine zusätzliche Subdifferenzierung von Kongruenzklassen auf, die wir als Subgenera bezeichnen. Im Polnischen ist die Aufgliederung des Maskulinums in Subgenera besonders ausgeprägt. Die Hauptunterscheidung im Bereich des Maskulinums ist die zwischen Maskulina animata und Maskulina inanimata (→ C2.4, Abbildung 1). Die Klasse der Maskulina animata zerfällt in die zwei Teilklassen der Maskulina personalia (Personenbezeichnungen) und der Maskulina impersonalia (Tierbezeichnungen). Die Unterscheidung der drei Subgenera der Maskulina personalia, impersonalia und inanimata korreliert mit der unterschiedlichen Ausprägung der Kasusdifferenzierung bei verschiedenen Substantivklassen. Entscheidend ist das Vorliegen oder Fehlen einer formalen Unterscheidung der direkten Kasus Nominativ und Akkusativ im Singular und im Plural. Wie im Falle der Maskulinum-Neutrum-Unterscheidung ist die Verteilung der betreffenden Klassen relativ zur Allgemeinen Nominalhierarchie zu berücksichtigen. Danach ist mit dem Vorliegen von Nominativ-Akkusativ-- Differenzierung ceteris paribus eher bei Bezeichnungen für Lebewesen und dabei vorrangig bei Bezeichnungen für Personen zu rechnen, mit dem Fehlen der Unterscheidung eher bei Sachbezeichnungen (siehe → B2.4.2.3.3 und → C5.3.2.4 zur ‚differentiellen Objektmarkierung‘). Maskulina personalia (maskuline Personenbezeichnungen wie MNICH ‚Mönch‘) weisen NOM - AKK - Differenzierung im Singular und Plural auf, Maskulina impersonalia

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C Nominalflexion

(maskuline Tierbezeichnungen wie KOŃ ‚Pferd‘) weisen NOM - AKK - Differenzierung nur im Singular auf, und Maskulina inanimata (maskuline Sachbezeichnungen wie STÓŁ ‚Tisch‘) weisen keine NOM - AKK - Differenzierung auf; vgl. (13). (13)

NOM - AKK - Differenzierung

im Maskulinum (Polnisch) a. Maskulina personalia (NOM ≠ AKK ) MNICH ‚Mönch‘: mnichN O M . S G , mnichaA K K . S G , mnisiN O M . P L , mnichówA K K . P L b. Maskulina impersonalia (NOM . SG ≠ AKK . SG , NOM . PL = AKK . PL ) KOŃ ‚Pferd‘: końN O M . S G , koniaA K K . S G , konieN O M =A K K . P L c. Maskulina inanimata (NOM = AKK ) STÓŁ ‚Tisch‘: stółN O M =A K K . S G , stołyN O M =A K K . P L

Die unterschiedliche Kasusdifferenzierung kann als natürlicher Reflex des Verfahrens der differentiellen Kasusmarkierung (gesteuert durch die Nominalhierarchie) in Verbindung mit den Markiertheitsverhältnissen bei den Numeri betrachtet werden: Der Grad der NOM - AKK -Differenzierung sinkt mit absteigender Position in der Allgemeinen Nominalhierarchie. D abei reicht im unmarkierten Numerus Singular die Differenzierung weiter als im markierten Numerus Plural;; im Singular gilt sie für alle Maskulina animata, im Plural nur für die Unterklasse der Maskulina personalia. (Man vergleiche dazu auch die NOM - AKK - Differenzierung bei den Feminina, die im Polnischen ebenfalls auf den Singular beschränkt ist.) Besondere Flexive zur Auszeichnung von Akkusativformen existieren in der maskulinen Flexion des Polnischen nicht. Die NOM - AKK - Differenzierung wird, soweit sie reicht, im gewöhnlichen Fall hergestellt, indem die entsprechenden Genitivformen auch in der Funktion von Akkusativformen verwendet werden. Eine Ausnahme bilden nur Maskulina, die im Singular dem im Übrigen für Feminina typischen Flexionsmuster folgen (mit NOM . SG -Ausgang auf -a) wie KOLEGA ‚Kollege‘ und besondere Akkusativformen (kolegęA K K . S G ) besitzen. Mit Ausnahme des Typs KOLEGA , wo die NOM - AKK -Differenzierung im Singular durch unterschiedliche Flexive gewährleistet ist, gilt im Polnischen allgemein, dass bei Maskulina animata im Singular und bei der Unterklasse der Maskulina personalia auch im Plural die fehlenden Akkusativformen durch die Genitivformen ersetzt werden. Zur weiteren Bezugnahme formulieren wir die Akkusativ-Genitiv-- Regel in (14). (14)

Akkusativ-Genitiv-Regel (Polnisch) a. Bei Maskulina animata und ihren kongruierenden Dependentien fällt im Singular die Form des Akkusativs mit der Form des Genitivs zusammen. Ausgenommen sind Substantive des Typs KOLEGA (mit Ausgang auf -a), aber nicht ihre Dependentien. b. Bei Maskulina personalia (Personalmaskulina) und ihren kongruierenden Dependentien fällt im Plural die Form des Akkusativs mit der Form des Genitivs zusammen.

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C2 Genus

Man beachte, dass das Maskulinum personale eine Subklasse des Maskulinum animatum darstellt. Für Maskulina personalia gilt daher im Singular und Plural, dass Genitivformen die Funktion von Akkusativformen übernehmen, für andere Maskulina animata nur im Singular. Auch bei den (genusindifferenten) Kommunikantenpronomina (Personalpronomina der 1. und 2. Person) fungieren die Genitivformen zugleich als Akkusativformen (→ C5.2.2.1).  

Die drei angeführten Klassen der Maskulina unterscheiden sich bezüglich des Aufbaus ihrer Flexionsparadigmen. Zugleich handelt es sich um Genuskategorien, die die Formenwahl bei genusvariablen Nicht-Substantiven steuern. Die Akkusativ-Genitiv-Regel gilt nicht nur für Substantive, sondern im Grundsatz für alle nominalen Wortklassen, zudem unabhängig von der (für verschiedene Lexeme unterschiedlichen) Genitivformenbildung. Darunter fallen sowohl selbstständige Pronomina als auch Lexeme, die als kongruierende Substantivdependentien verwendet werden wie Adjektive und Adpronomina. So stimmt die AKK . SG -Form eines Adjektivs wie NOWY ‚neu‘, die in Verbindung mit einem belebten maskulinen Substantiv im Singular verwendet wird, wie die Substantivform selbst mit der GEN . SG - Form (nowego) überein; vgl. z. B. nowego sąsiada (AKK . SG = GEN . SG ) (zu SĄSIAD , M ‚Nachbar‘) in Wczoraj spotkałam [nowego sąsiada]A K K . S G ‚Gestern traf ich den neuen Nachbarn‘ (Lewicki 2002: 85). In Verbindung mit einem unbelebten Maskulinum wie SAMOCHÓD ‚Auto‘ stimmt die AKK . SG - Form (wie beim Substantiv) mit der NOM . SG -Form (samochód) überein; daher nowy samochód (NOM . SG = AKK . SG ). Vgl. Wczoraj kupiłem [nowy samochód]A K K . S G ‚Gestern habe ich ein neues Auto gekauft‘ (vgl. Swan 2002: 276). Die SG -Paradigmen der Adjektive weisen daher gerade in der AKK -Position zwei verschiedene Formen auf (hier: nowy, M I N A N vs. nowego, M A N I M ), deren Wahl durch das Subgenus des Substantivs bestimmt wird. Entsprechendes gilt für Pronomina. Differentielle Objektmarkierung, die durch die Akkusativ-Genitiv-Regel realisiert wird, bedingt im Polnischen einerseits bei maskulinen Substantiven eine (semantisch fundierte) formbezogene Lexemklassenunterscheidung (eine Differenzierung von Lexemklassen mit unterschiedlicher Akkusativformenbildung) und andererseits bei Nicht-Substantiven eine Formenunterscheidung im maskulinen Subparadigma (eine Differenzierung verschiedener Akkusativformen, deren Verwendung durch die Subklassen der Substantivlexeme bestimmt wird). Die Wahl der Flexionsformen bei den kongruierenden Dependentien richtet sich nach der Klassenzugehörigkeit der Substantive, auf die sie sich beziehen; damit liegt Genuskongruenz vor, und die identifizierten Substantivklassen bilden im Polnischen kongruenzsteuernde Klassen, also (Sub-)Genera. Charakteristisch für das System der maskulinen Subgenera des Polnischen ist die enge Korrelation zwischen semantischen Klassen, Flexionsklassen und Genera (Kongruenzklassen). Jedoch liegt keine Deckungsgleichheit der verschiedenen Klassifikationen vor. Die drei Arten der Klassifikation sind logisch unabhängig voneinander und treten auch faktisch auseinander. Hierfür sind zwei Umstände wesentlich.  





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C Nominalflexion

Zum einen umfasst das Subgenus der Maskulina animata (d. h. die Klasse der Substantive, die bei Dependentien im Singular die Anwendung der Akkusativ-GenitivRegel fordern) eine Reihe von Gruppen von Substantiven (und verschiedene Einzelfälle), bei denen es sich nicht um Bezeichnungen für Belebtes handelt. Darunter fallen verschiedene Bezeichnungen für Währungseinheiten, für Lebensmittel, Getränke und Tabakwaren, für Fahrzeuge und technische Geräte sowie für Tänze (Swan 2002: 71–74; Sadowska 2012: 128). In Zapłaciłam [jednego dolara]A K K . S G ‚Ich habe einen Dollar bezahlt‘ zeigt die NP im AKK . SG die Anwendung der Akkusativ-Genitiv-Regel, mit den AKK = G GEN EN . SG -Formen jednego von JEDEN ‚ein‘ und dolara von DOLAR ‚Dollar‘ bei einer Sachbezeichnung; beliebige andere Beispiele sind kupić fiata ‚einen Fiat kaufen‘ (Rothstein 1993: 697) oder zapalić papierosa ‚(sich) eine Zigarette anzünden‘ (Wertz 1977: 53). Bei diesen Lexemen decken sich semantische Klasse und Genus nicht. Die Unterscheidung von Nominativ und Akkusativ durch Verwendung der Genitivformen als Akkusativformen greift hier über den Bereich des Belebten hinaus, wo am ehesten mit einem funktionalen Druck zur differentiellen Objektmarkierung gerechnet werden kann. Die diachron zu beobachtende langsame Erweiterung der differentiellen Objektmarkierung bei Maskulina auf vergleichsweise rangniedere Lexeme (im Sinne der Nominalhierarchie) endet nicht an der Grenze zwischen Belebtem und Unbelebtem; die Gruppe der unbelebten Maskulina, die zum Genus der Maskulina animata gehören, bilden eine sich erweiternde Klasse (Swan 1988: 1; Rothstein 1993: 697, „a growing category; any masculine count noun with genitive singular in a is a potential member“). Die in der diachronen Betrachtung zu ermittelnden Gründe oder Motive für die Übernahme von Genitivformen in den Akkusativ können von Lexemgruppe zu Lexemgruppe oder von Lexem zu Lexem verschieden sein; vgl. dazu ausführlich (mit detaillierter Fallunterscheidung) Grappin (1951, 1956: 32–41) und ferner Swan (1988). Im Ergebnis lässt sich eine einheitliche semantische Charakteristik für diese Gruppe und daher auch für die Gesamtklasse der Maskulina animata im Gegenwartspolnischen nicht geben. Die Klasse der Maskulina animata stellt daher im Polnischen – trotz weitreichender Korrelation mit der semantischen Klassifikation – ein Genus im engeren Sinne (ein abstraktes Genus) dar. Wie angeführt, weist die Teilklasse der Personalmaskulina mit Grundformausgang auf -a ein von der gewöhnlichen Flexion der Maskulina grundsätzlich abweichendes Flexionsmuster auf; die Kongruenzforderungen an die Dependentien sind jedoch die gleichen wie bei anderen Personalmaskulina, d. h., kongruierende Dependentien zeigen durchgehend NOM - AKK -Differenzierung, die mittels der Akkusativ-Genitiv-Regel hergestellt wird. Vgl. Znam [tego psychiatrę]A K K . S G ‚Ich kenne diesen Psychiater‘ mit der Form tegoA K K = G E N . S G des Demonstrativums TEN (Rothstein 1993: 697);; ebenso [starego kolegę]A K K . S G ‚den/einen alten Kollegen‘ mit der Form staregoA K K = G E N . S G des Adjektivs STARY ‚alt‘. Die Anwendung der Akkusativ-Genitiv-Regel auf Nicht-Substantive ist somit nicht auf Fälle beschränkt, bei denen auch das relevante Kopfsubstantiv selbst der Regel unterliegt. Genus und substantivische Flexionsklasse decken sich nicht.  



C2 Genus

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Diese Fälle sind von besonderer Bedeutung für die Analyse der Kasusformen. In [tego psychiatrę]A K K . S G ist psychiatrę durch das Suffix -ę eindeutig als Akkusativform gekennzeichnet. Da damit klar ist, dass auch die NP als Ganze im Akkusativ steht, muss auch tegoA K K = G E N . S G hier als Akkusativform fungieren. Solche Fälle liefern eindeutige Belege für die Anwendung der Akkusativ-Genitiv-Regel. Ohne sie müsste wenigstens erwogen werden, dass es sich bei Verwendung von NPs wie [nowego sąsiada]A K K = G E N . S G in der Funktion des direkten Objekts tatsächlich um direkte Objekte im Genitiv handeln könnte.

C2.7.2 (Non-)Virilia Das Stehen oder Fehlen von NOM - AKK -Differenzierung im Singular und/oder Plural erzeugt, wie dargelegt, im Polnischen eine Unterscheidung von drei Subgenera des Maskulinums. Die nach der Allgemeinen Nominalhierarchie ranghöchste Klasse der Maskulina personalia, die durch NOM - AKK -Differenzierung im Singular und Plural charakterisiert ist, zerfällt ihrerseits in Subklassen, deren Verteilung eine spezielle weitergehende Ausdifferenzierung von Positionen innerhalb der übergreifenden Allgemeinen Nominalhierarchie widerspiegelt. Die Subklassifikation der Personalmaskulina ist semantisch durch Unterscheidungen nach dem höheren oder niederen „Status“ der bezeichneten Personen geprägt, der sprachlich durch die Signalisierung des ihnen entgegengebrachten oder entgegenzubringenden Respekts (mittels ‚honorifikativer Formen‘) oder umgekehrt durch die Signalisierung des Fehlens von Respekt bis zum Ausdruck expliziter Abwertung (mittels ‚depretiativer Formen‘) bestimmt wird. Während die höheren Subgenusunterscheidungen (die mit den semantischen Faktoren Belebtheit und Personalität korrelieren) durch Unterscheidungen im Ausbau der Kasusdifferenzierung konstituiert werden, ergibt sich die Subklassenunterscheidung innerhalb der Personalmaskulina formal aus den Eigenschaften der Pluralbildung bei Substantiven und Dependentien. Die formale Differenzierung ist dabei auf den ranghöchsten Kasus (Nominativ) beschränkt. Drei konkurrierende Optionen zur Bildung von NOM . PL -Formen der Substantive zeigen (i) profesorowie, NOM . PL zu PROFESOR ‚Professor‘ mit dem (auf Maskulina personalia beschränkten) NOM . PL -Flexiv ST UDENT ‚Student‘, mit der (ebenso auf Maskulina -owie; (ii) studenci, NOM . PL zu STUDENT personalia beschränkten) NOM . PL -Bildung mit Stammwechsel (Wechsel des stamm͡ und Suffix -i; und (iii) brudasy, NOM . PL zu BRUDAS finalen Konsonanten, hier /t/→ /tɕ/) ‚Schmutzfink‘, mit der allgemeinen, nicht klassenspezifischen Pluralbildung der direkten Kasus (ohne Wechsel des stammfinalen Konsonanten), die bei den Maskulina impersonalia auch für den Akkusativ gilt, also nicht nominativspezifisch ist; nur in Folge der im Plural für Maskulina personalia geltenden Akkusativ-Genitiv-Regel ist sie bei diesen auf den Nominativ beschränkt. Diachron sind die beiden nominativspezifischen Bildungen (i) und (ii) in ihren Anwendungsbereichen so eingeschränkt worden, dass eine (ungenaue) Korrelation mit semantischen Klassen

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C Nominalflexion

hergestellt worden ist (vgl. Menzel 2000: 307, „Funktionalisierung ererbter Markervariation unter dem Gesichtspunkt der Remotivation semiotischer Markiertheit“). Nach dem allgemeinen Muster erhalten PL -Formen in den direkten Kasus (NOM und AKK ) in Abhängigkeit von der Stammklasse das Suffix -i (harte Stämme) oder das Suffix -e (weiche Stämme); Neutra zeigen, wie dargelegt, eine besondere Bildung (auf -a). Die Suffixe -i (orthographisch 〈i〉 oder 〈y〉) und -e gelten für alle Maskulina außerhalb der Klasse der Personalmaskulina und für alle Feminina. Personalmaskulina können demgegenüber, wie die gegebenen Beispiele zeigen, klassenspezifische NOM . PL -Bildungen zeigen. Charakteristisch für hartstämmige Personalmaskulina ist das Auftreten von Stammwechsel bei der Bildung der NOM . PL -Formen. Hartstämmige Maskulina mit NOM . PL -Formen auf -i zeigen regelmäßig Erweichung des stammfinalen Konsonanten. Bei weichstämmigen Substantiven fehlt ein entsprechender KonsonantenOŁNIERZ ‚Soldat‘. Bei Maskulina anderer Subgenera bleibt der wechsel; vgl. żołnierzeN O M . P L zu ŻŻOŁNIERZ Stamm immer unverändert wie in kotyN O M . P L (zu KOT , M I M P E R ‚Katze‘). Zu den betreffenden Konsonantenwechseln siehe → C5.4.3 (97) und → C5.4.8.

Die bei den NOM . PL - Formen der Substantive gegebene Unterscheidung zwischen Bildungen mit (auf Personalmaskulina beschränkten) spezifischen Nominativflexiven einerseits (Typ (i) und (ii)) und Bildungen mit klassenunspezifischen NOM /AKK -Flexiven (Typ (iii)) andererseits findet sich ebenso bei den je kongruierenden Dependentien (und allgemein bei genusvariablen Lexemen). Das Demonstrativum TEN besitzt neben der allgemeinen NOM . PL -Form te, wie sie in [te koty]N O M . P L . M ‚diese Katzen‘ erscheint, eine besondere NOM . PL -Form ci (mit Konsonantenwechsel), die in Verbindung mit Personalmaskulina verwendet wird, wie in [ci studenci]N O M . P L . M ‚diese Studenten‘. Ebenso wird bei Adjektiven im NOM . PL eine entsprechende Formenunterscheidung gemacht. Zu MĄDRY ‚klug‘ lautet die allgemeine NOM . PL - Form mądre, dagegen die besonders markierte, nur in Verbindung mit Personalmaskulina verwendete NOM . PL - Form mądrzy (mit Konsonantenwechsel /r/ → /ʒ/); zu DUŻY ‚groß‘ lautet die allgemeine NOM . PL - Form duże, dagegen die besonders markierte, nur in Verbindung mit Personalmaskulina verwendete NOM . PL - Form duzi – mit (isoliertem) Konsonantenwechsel /ʒ/ → /ʑ/. Die besonders ausgezeichneten Kongruenzformen treten im Nominativ Plural auch dann auf, wenn genusvariable Lexeme auf weichstämmige Personalmaskulina bezogen werden, bei denen die NOM . SG -Form keinen Stammwechsel zeigt, wie in [ci żołnierze]N O M . P L ‚diese Soldaten‘ zu ŻOŁNIERZ . Ausschlaggebend für die Wahl der Kongruenzform ist die Genuskategorie des Substantivs, nicht seine flexivische Ausdrucksform. Die betreffenden Formen der genusvariablen Lexeme werden häufig als „Personalformen“ oder „virile Formen“ bezeichnet (Wierzbicka 1988: 456, „human-masculine (‚virile‘) agreement“). Die betreffende Substantivklasse bezeichnen wir als Maskulina virilia. Nicht alle Personalmaskulina folgen dem Muster der Maskulina virilia. Insbesondere bei Substantiven, die ihrer Bedeutung nach als abwertende Benennungen zu verstehen sind oder so gebraucht werden können (‚Pejorativa‘), kann im NOM . PL die für Maskulina personalia charakteristische Markierung durch Stammwechsel fehlen. AJDAK ‚Schuft/Halunke‘ mit der NOM . PL - Form łajdaki (ohne Dazu gehören u. a. ŁŁAJDAK  

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Stammwechsel) neben seltenerem łajdacy (mit Erweichung des stammauslautenden Konsonanten), KARZEŁ ‚Zwerg‘ (karłyN O M . P L , NOM . PL ohne Wechsel des stammfinalen Konsonanten), OSZUST ‚Betrüger‘, SNOB ‚Snob/Angeber‘ und andere (Swan 2002: 84 f.). Bei welchen dieser Substantive neben der NOM . PL - Bildung ohne Konsonantenwechsel auch die virile Bildung möglich ist, ist nur mit Bezug auf die einzelnen Lexeme zu entscheiden (Swan 2002: 84). Vielfach scheint sie praktisch so gut wie ausgeschlossen (Wierzbicka 1988: 456); Beispiele bieten auch abwertende Nationalitätenbezeichnungen wie RUSEK ‚Russe, pejorativ‘, NOM . PL : ruski, oder SZWAB ‚Deutscher, pejorativ‘, NOM . PL : szwaby; vgl. dagegen Szwabi, NOM . PL zu SZWAB ‚Schwabe‘ nach dem virilen Muster. Wo bei Personalmaskulina die besondere Auszeichnung von NOM . PL -Formen fehlt, gilt dies gegebenenfalls auch für kongruierende Dependentien; vgl. [te głupie łajdaki]N O M . S G ‚diese dummen Schufte‘, mit den sonst bei Maskulina impersonalia auftretenden Formen von Demonstrativpronomen und Adjektiv (ohne Erweichung) neben [ci głupi łajdacy]N O M . S G nach dem Muster gewöhnlicher Personalmaskulina (mit Erweichung). Wie andere Personalmaskulina zeigen diese Lexeme im Regelfall von den Nominativformen unterschiedene Akkusativformen (gleichlautend mit den Genitivformen). Das gleiche gilt für die kongruierenden Dependentien; daher Widzę [tego głupiego łajdaka]A K K . S G . M ‚Ich sehe diesen dummen Schuft‘ und Widzę [tych głupich łajdaków]A K K . P L . M ‚Ich sehe diese dummen Schufte‘ (Brown 1998). Das flexivische Muster, dem die Kongruenzformen (wie die Substantive selbst) folgen, unterscheidet sich in diesem Fall sowohl von dem der gewöhnlichen Personalmaskulina als auch von dem der Maskulina impersonalia. Wie Wertz (1977) deutlich herausstellt, ist daher eine weitere Genusdifferenzierung gegeben und eine entsprechende Subklassifikation der Personalmaskulina anzusetzen (Corbett 1983); die beiden Subklassen der Personalmaskulina, die sich durch das Vorliegen oder Fehlen der „virilen“ NOM . PL Bildung unterscheiden, bezeichnen wir als Maskulina virilia und Maskulina nonvirilia;; in den genannten Arbeiten und in Brown (1998) werden die Maskulina nonvirilia als „devirilized nouns“ bezeichnet. Insgesamt ergeben sich damit bei den Maskulina vier Subklassen von Substantiven (Subgenera), die sich in der Nutzung flexivischer Mittel zur Auszeichnung direkter Kasus (NOM , AKK ) unterscheiden, und zugleich vier Flexionsmuster bei NichtSubstantiven, deren Verteilung durch die Subgenuszugehörigkeit der Substantive bestimmt wird, auf die sie bezogen werden, wie Abbildung 2 zeigt; in der Abbildung sind sie der leichteren Bezugnahme halber nummeriert (I–IV). Aufgeführt sind die Nominativ- und Akkusativformen für je ein Substantiv der vier Klassen in Verbindung mit den Formen des Adjektivs DUŻY ‚groß‘ (nach Wertz 1977 und Corbett 1983).  

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C Nominalflexion

Abb. 2: Subgenera des Maskulinums (Polnisch). ). Flexionsformen der direkten Kasus  

Im unteren Teil der Abbildung ist das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen der klassenunterscheidenden Flexionseigenschaften angegeben. Plus-Zeichen in den Zeilen (i) und (ii) kennzeichnen das Vorliegen besonderer, von den Nominativformen unterschiedener Akkusativformen (im Singular bzw. im Plural), in Zeile (iii) das Vorliegen der besonderen NOM . PL - Markierung durch Stammwechsel. Beachtung verdient die Tatsache, dass die Verteilung der angegebenen flexivischen Charakteristika, wie die Abbildung zeigt, gleichermaßen für Substantive und kongruierende Lexeme gilt, obwohl die auftretenden Flexive bei Substantiven und Nicht-Substantiven nur teilweise übereinstimmen; vgl. die markierten Akkusativformen der Adjektive (mit den Suffixen -ego und -ych) und die markierten Akkusativformen der Substantive (mit den Suffixen -a und -ów). Parallele Flexionsmuster setzen Identität der Flexive nicht voraus. In den Grammatiken des Polnischen wird die Subgenusunterscheidung im Bereich der Maskulina personalia meist nicht berücksichtigt und ein besonderes Subgenus für Substantive des Typs II nicht angesetzt; danach würden die Klassen der Maskulina personalia und der Maskulina virilia zusammenfallen, und die Termini werden dementsprechend meist synonym verwendet. In einem Teil der Literatur, insbesondere in Saloni et al. (2012), wird die Auffassung vertreten, dass die Unterscheidung der Flexionsmuster I und II nicht als Genusunterscheidung zu analysieren sei, sondern über eine Formenunterscheidung innerhalb der Paradigmen der Personalmaskulina zu erfassen sei. Im Grundsatz würden alle Personalmaskulina zwei NOM . PL -Formen besitzen, die als ‚depretiativ‘ (ohne Konsonantenwechsel) und ‚non-depretiativ‘ (mit Konsonantenwechsel, soweit anwendbar) zu unterscheiden wären. (Bei weichstämmigen Substantiven wären die beiden Formen nicht unterscheidbar.) Für das Polnische wäre danach eine zusätzliche nominale Flexionskategorie zu postulieren (Depretiativität), die in den anderen Vergleichssprachen kein Gegenstück besitzt. Vgl. dazu auch Jurasz (2009) und die dort genannte Literatur.

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Dem ist entgegenzuhalten, dass die Unterscheidung der substantivischen Flexionsmuster I und II durch die Kongruenzbeziehung zwischen Nicht-Substantiven und Substantiven als Manifestation einer Genusunterscheidung ausgewiesen ist. Zu beachten ist auch, dass die in Saloni et al. (2012) postulierten besonderen (markierten) depretiativen NOM . PL -Formen der Substantive gerade dem allgemeinen (unmarkierten) Muster der NOM . PL - Bildung der Maskulina (und Feminina) folgen und keine flexivischen Kennzeichen tragen, die Depretiativität signalisieren könnten. Zu Recht ist auch häufiger darauf hingewiesen worden, dass die durchgängige Ansetzung von zwei NOM . PL - Formen für Personalmaskulina (wie in Saloni et al. 2012) keine ausreichende empirische Stützung findet (vgl. u. a. Bogusławski 2009: 49; Swan 2015: 94 und die dort genannte Literatur): Bei vielen Lexemen scheint eine Wahl, wie dargestellt wurde, nicht wirklich gegeben; anders aber schon Makowska/Saloni (2007).  

Die Zuordnung einzelner Substantive zu den Subklassen der Maskulina animata kann schwanken oder für stilistische Zwecke variiert werden. Pejorativität wird als typischer Effekt angesehen, der entsteht, wenn Bezeichnungen für männliche Personen eines der flexivischen Charakteristika entzogen wird, die gerade die Maskulina virilia (innerhalb der Klasse der Maskulina personalia) auszeichnen, also die besondere NOM . PL -Bildung und gegebenenfalls zudem die AKK . PL -Kennzeichnung, oder anders gesagt, wenn Personenbezeichnungen von einem „ranghöheren“ in ein „rangniederes“ Genus (bei einer angenommenen Rangordnung Virilia > Non-Virilia > Impersonalia) wechseln. Nicht nur die Verschiebung eines Substantivs aus der Klasse der Maskulina virilia in die Klasse der Maskulina non-virilia kann zur Signalisierung von Pejorativität dienen; als Mittel zur besonders prononcierten Signalisierung von Pejorativität kann die Verschiebung von Bezeichnungen für männliche Personen in die Klasse der Maskulina impersonalia dienen. Welche Substantive eine solche Herabstufung auf der Nominalhierarchie erlauben oder von vornherein erzwingen, d. h., als lexikalisches Merkmal mitbringen, wird für einzelne Lexeme in der grammatischen Literatur (und von den Sprechern des Polnischen) unterschiedlich beurteilt.  

Swan (2002: 85) bietet die folgenden Beispiele. Das Substantiv SNOB ‚Snob‘ kann als Maskulinum virile behandelt werden (vgl. NOM . PL : ci snobi ‚diese Snobs‘, AKK . PL : tych snobów) oder zur Erzielung einer prononciert pejorativen Lesart als Maskulinum impersonale behandelt werden (ohne virile NOM . PL - Bildung und zudem ohne NOM - AKK -Differenzierung im Plural) mit NOM = AKK . PL : te snoby. Das Substantiv KARZEŁ ‚Zwerg‘ folgt im Regelfall dem Muster der Maskulina non-virilia; vgl. NOM . PL : te karły (ohne Stammwechsel), AKK . PL : tych karłów (mit NOM - AKK -Differenzierung). Verschiebung zum Maskulinum impersonale (Aufgabe der NOM - AKK - Differenzierung im Plural) liefert wiederum eine prononciert pejorative Lesart (NOM = AKK . PL : te karły).

Gewöhnlich sind Genera und semantische Kategorien nicht deckungsgleich. Dies gilt auch für das Subgenus der Maskulina personalia non-virilia. Zwar besteht, wie dargelegt, nach herrschender Lehre eine Korrelation mit dem semantischen Merkmal der Pejorativität (oder „Depretiativität“), aber eine entsprechende lexikalische Semantik stellt weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung für die Klassenzugehörigkeit dar, wie u. a. in Wertz (1977) und Dunaj (1993) belegt wird. Nach Wertz  

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C Nominalflexion

kann die Klassenzugehörigkeit zu den Maskulina non-virilia semantisch, morphologisch oder arbiträr bestimmt sein. Dunaj (1993: 111–113) erörtert die verschiedenen Gruppen von Personalmaskulina, bei denen der Nominativ Plural ohne die charakteristische Auszeichnung bleibt, und verweist darauf, dass keineswegs alle „negativ“ charakterisierten Substantive in diese Klasse fielen, darunter Substantive auf -ant wie BUMEL ANT ‚Bummelant‘ mit viriler NOM . PL - Bildung (bumelanci). Umgekehrt finden sich BUMELANT in der Klasse der Maskulina non-virilia Lexeme ohne pejorative Färbung wie CHŁ CHŁOPCZYK OPCZYK ‚kleiner Junge‘, NASTOLATEK NASTOLAT EK ‚Teenager/Jugendlicher‘ oder KUCHCIK ‚Küchenjunge‘ mit den NOM . PL -Formen chłopczyki, nastolatki, kuchciki (ohne Konsonantenwechsel) (Swan 2002: 86). In die Klasse der Maskulina non-virilia passen diese Lexeme, insofern sie als Bezeichnungen für juvenile Personen dienen, denen als solchen Virilität im engeren Sinne nicht zugeschrieben werden kann. Für Maskulina non-virilia scheint am ehesten die Nicht-Verwirklichung viriler Prototypik oder ihre expressive (ernstliche oder scherzhafte) Infragestellung (mit Bezug auf gegebene Referenten) charakteristisch zu sein, deren Signalisierung (abhängig von der Bedeutung der verwendeten Lexeme und dem Ko- und Kontext) als Ausdruck einer pejorativen Intention verstanden werden kann, aber nicht notwendigerweise so verstanden werden muss. Nach Bogusławski (2009: 54) ist die vorherrschende Verwendung der non-virilen NOM . PL -Form bei Personenbezeichnungen nicht die pejorative. Solche Formen würden vielmehr vorrangig in Situationen verwendet, „where speakers are amused by some events and are talking about them in a good-natured tone of voice, in a jocular, playful, sometimes ironic mood, perhaps with some flippancy which only can oscillate on the border-line between non-seriousness and malice“, etwa wenn eine Mutter ihre Kinder scherzhaft als moje kochane prymusy ‚meine lieben Primusse‘ oder als nasze wojaki ‚unsere Krieger‘ bezeichnen würde. Die entsprechende Formenbildung habe „pragmatischen Charakter“. Als typisches Beispiel für den Kontrast viriler und non-viriler („depretiativer“) Formen stellen Makowska/Saloni (2007) positiv bewertendes dobrzy kierowcy ‚gute Fahrer‘ und dobre kierowce (dass., ironisch) gegenüber.

C2.7.3 (Non-)Honorifikativa Die Maskulina virilia sind durch die durchgängige NOM - AKK - Differenzierung sowie durch die besondere Auszeichnung von NOM . PL -Formen gekennzeichnet. Innerhalb dieser Klasse können nach der Art der NOM . PL -Auszeichnung zwei Subklassen unterschieden werden. Wie Stammwechsel im Nominativ Plural ist auch die Bildung von NOM . PL -Formen mit dem Suffix -owie wie generałowie zu G GENERAŁ ENERAŁ ‚General‘ ein Kennzeichen für Maskulina virilia. Zur Subklasse der Maskulina virilia, die das NOM . PL -Suffix -owie nehmen, gehören Verwandtschaftsbezeichnungen wie OJCIEC ‚Vater‘, SYN ‚Sohn‘, WUJEK ‚Onkel‘ u. a. und Personennamen (Vornamen und Familiennamen), soweit sie der substantivischen Flexion folgen (vgl. → C5.7). Bei anderen Substantiven dieser Klasse handelt es sich vorwiegend um Bezeichnungen für Gottheiten und Majestäten wie BÓG ‚Gott‘ und KRÓL ‚König‘; Rangbezeichnungen und Titel wie AMBASADOR ‚Botschafter‘, MINISTER ‚Minis 

C2 Genus

1077

ter‘ oder PROFESOR ‚Professor‘; ebenso Berufsbezeichnungen wie ASTRONOM AST RONOM ‚Astronom‘ oder BIOLOG ‚Biologe‘; eine Reihe von Völkernamen (ARAB ‚Araber‘, BELG ‚Belgier‘ u. a.) sowie verschiedene Einzelfälle wie PASAŻER ‚Passagier‘ oder WIDZ ‚Zeuge/Zuschauer‘. Das markante, klassenspezifische Suffix (-owie) wird traditionell auch als końcówka godnościowa (Wierzbicka 1988: 459, „‚honorific‘ ending“) bezeichnet; vgl. auch Janda (1999: 209, „honorific connotation“) und Jurasz (2012: 88, „honorifikative [Pluralformen]“). In Anlehnung an diesen Sprachgebrauch bezeichnen wir die betreffende Subklasse der Maskulina als Maskulina honorifikativa (MHON ). Sie stellen eine ausgezeichnete Subklasse innerhalb der Maskulina virilia dar, die der Klasse der ‚gewöhnlichen‘ Maskulina virilia,, also der Klasse der Maskulina non-honorifikativa gegenübersteht.  

Nicht alle von ihrer Semantik her in Frage kommenden Substantive nehmen das NOM . PL - Suffix -owie. Bevorzugt wird die Endung nach Wierzbicka (1988: 457) bei Substantiven mit Stammausgängen fremden Ursprungs, die typischerweise Bezeichnungen von ranghohen Personen charakterisieren (wie ał, or, er, nom, log in den angeführten Beispielen); bei Substantiven mit dem Suffix -ek (wie MAJTEK ‚Matrose‘ oder NUREK ‚Taucher‘) sei eine besondere semantische Auszeichnung nicht gegeben.

Den Kern der Klasse der Maskulina honorifikativa bilden (mit den Personennamen und Verwandtschaftsbezeichnungen, die regelmäßig in diese Klasse fallen) Lexeme, die ihren Platz am oberen Ende der Allgemeinen Nominalhierarchie haben. Möglicherweise besteht eine Tendenz das Suffix -owie auf diese Anwendungsfälle zu beschränken; vgl. Menzel (2000: 311). Im Übrigen ist wie im Falle der Maskulina virilia und nonvirilia die Klassenzugehörigkeit der Substantive nicht immer fest und kann zu stilistischen Zwecken variiert werden wie bei PROFESOR ‚Professor‘, NOM . PL : profesorowie oder profesorzy. Die Form profesorowieN O M . P L charakterisiert Menzel (2000: 310) als „explizit hochachtungsvoll“, profesorzyN O M . P L dagegen als stilistisch „neutral“. Auch Wierzbicka (1988: 456) kennzeichnet profesorowie als Ausdruck einer respektvollen Haltung, zudem aber als die praktisch einzig mögliche Form („virtually the only possible nominative plural“), die „neutrale“ Form profesorzy sei zwar nicht ausgeschlossen, aber ganz ungebräuchlich („highly unusual“). Beide Formen haben auch AMBASADOR ‚BotBIOL OG ‚Biologe‘ u. a.; aber GENERAŁ GENERA Ł ‚General‘, NOM . PL nur generałowie, ebenso schafter‘, BIOLOG MINISTER ‚Minister‘ (Sadowska 2012: 181). Konkurrenz aller drei Varianten der NOM . PL Bildung sei möglich. Ein inhärent statusneutrales Substantiv wie ŻY D ‚Jude‘, NOM . PL : Żydzi, könne in verächtlicher Absicht heruntergestuft werden (NOM . PL : Żydy) oder zur Erzielung einer auffälligen Markierung von Hochachtung (entgegen dem gewöhnlichen Sprachgebrauch) heraufgestuft werden (NOM . PL : Żydowie) (Wierzbicka 1988: 456). Anders als im Fall der Unterscheidung von Maskulina virilia und non-virilia wird die Unterscheidung von Maskulina honorifikativa und non-honorifikativa in der Formenbildung der Nicht-Substantive nicht aufgenommen. Die Kongruenzforderungen sind für die Maskulina virilia einheitlich. Damit ergibt sich insgesamt die in Abbildung 3 gezeigte Subklassifikation für die Maskulina personalia.  

1078

C Nominalflexion

Abb. 3: Subklassifikation der Maskulina personalia (Polnisch)  

Beide Subklassifikationen korrelieren mit dem aus der Sicht des Sprechers gekennzeichneten „Status“ der bezeichneten Personen (Referenten) und finden ihren formalen Reflex in der Bildung der NOM . PL -Formen. Die übergeordnete Subklassifikation (Maskulina virilia vs. non-virilia) ist zugleich eine Genusklassifikation und eine Flexionsklassenunterscheidung. Die untergeordnete Subklassifikation ist eine bloße Flexionsklassenunterscheidung für die Substantive; die Subklassifikation der Virilia in Honorifikativa und Non-Honorifikativa konstituiert keine Genusdistinktion.

C2.8 Genusformen (Französisch) C2.8.1 Adjektive Im Französischen fallen Laut- und Schriftform der Wortformen häufig stark auseinander. Dies hat zur Folge, dass eine Beschreibung der Genusdifferenzierung bei Formen wie petit, M , vs. petite, F , zum Adjektiv PETIT ‚klein‘, die sich am Schriftbild orientiert (mit der Annahme eines das Femininum markierenden Suffixes -e), die Verhältnisse in der gesprochenen Sprache nicht trifft und die lautliche Formendifferenzierung nur indirekt spiegelt. Im vorliegenden Abschnitt wird die Genusdifferenzierung im Französischen mit Blick auf die Lautformen erörtert.

Adjektive können im Französischen Formendifferenzierung bezüglich Genus aufweisen und unterliegen bei attributiver Verwendung wie in (15) der Kongruenz im Genus (und Numerus) mit dem zugehörigen substantivischen Kopf. (15)

a. unM hommeM intelligentM ‚ein intelligenter Mann‘ b. uneF femmeF intelligenteF ‚eine intelligente Frau‘

Ebenso richten sich prädikative Adjektive im Genus nach dem Bezugssubstantiv. Anstelle der Bezeichnung ‚Non-Femininum‘ verwenden wir im vorliegenden Abschnitt im Anschluss an die Grammatiken des Französischen der Einfachheit halber die traditionelle Bezeichnung ‚Maskulinum‘. Dies ist möglich, weil im Französischen keine Subdifferenzierung des NonFemininums (in Maskulinum und Neutrum) gegeben ist (→ C2.4).

C2 Genus

1079

Traditionell wird diese Formendifferenzierung nach dem Genus in Grammatiken des Französischen beschrieben, indem Regeln für die Ableitung der femininen Formen von den maskulinen Formen gegeben werden. Die Formulierung der Regeln orientiert sich vorrangig am Schriftbild. Als Grundregel gilt: Die feminine (Schrift-)Form (intelligente) wird durch Anfügung von -e an die maskuline Schriftform (intelligent) gebildet, soweit nicht diese bereits auf -e ausgeht wie etwa im Falle von jeune ‚jung‘ (Grevisse/ Goosse 2011: 673). Verschiedene Anpassungen im Schriftbild müssen zusätzlich erläutert werden, etwa Verdoppelung des der Endung vorangehenden Konsonantengraphems in cruelM – cruelleF ‚grausam‘ oder die Setzung des Akzents in cherM – chèreF ‚lieb‘. Darüber hinaus müssen eine ganze Reihe von Fällen besonders behandelt werden, bei denen massivere Abweichungen vorliegen, u. a. solche, bei denen im Femininum ein Konsonantengraphem auftritt, das nicht mit dem des Maskulinums übereinstimmt, wie etwa bref – brève ‚kurz‘. Eine umfassende Erörterung der Adjektivflexion im Französischen (mit einer Vielzahl von Paradigmentafeln) bietet Zemb (1978: 344–362). Wie die betreffenden Formen lauten, wird gewöhnlich in ergänzenden Erläuterungen erklärt, die vor allem angeben sollen, welche Bestandteile der Schriftform ‚stumm‘ bleiben. Stumm bleibt insbesondere gerade die Endung -e, die die Feminina nach der Grundregel kennzeichnet (daher: ‚e muet‘). Dies gilt für die Standardsprache der Region Paris (Grevisse/Goosse 2011: 673). Wir sehen von anderen regionalen Varianten ab, die hier die Realisierung des e muet zulassen oder verlangen, und ebenso von Realisierungen im Vers oder im Lied. Zur (Non-)Realisierung des e muet siehe im Einzelnen Walker (2001: 76–99) oder Price (2005: 76–87). Die schriftlich gemachten Unterscheidungen können für die Lautformen ohne Belang sein wie bei amerM – amèreF ‚bitter‘, beide: /amɛʀ/, oder netM – netteF ‚rein‘, beide: /nɛt/. Wo sich die Lautformen unterscheiden, weist die feminine Form typischerweise einen auslautenden Konsonanten auf, der im Maskulinum fehlt (bzw. ‚stumm‘ bleibt), wie bei muetM /mɥɛ/ – muetteF /mɥɛt/ ‚stumm‘ oder dernierM /dɛrnje/ – dernièreF /dɛrnjɛr/ ‚letzter‘. Das Verhältnis zwischen maskuliner und femininer Form ist daher in der geschriebenen und in der gesprochenen Sprache unterschiedlich. Der Unterschied ergibt sich vorrangig aus dem stark historisierenden Charakter der Schreibung des Französischen, die nach den historischen Grammatiken im Großen und Ganzen die Lautformen des 13. Jahrhunderts widerspiegelt. Die traditionellen Darstellungen, die die heutigen Wortformen auf dem Umweg über die Schrift zu erfassen suchen, können daher kein realistisches Bild des morphologischen Systems der Gegenwartssprache liefern und sind daher insbesondere als Basis für den Sprachvergleich unzureichend. Für diesen Zweck müssen morphologische Analysen zugrunde gelegt werden, die sich an den Lautformen der Wortformen orientieren. Im Folgenden werden daher unter Wortformen Lautformen verstanden. Natürlich kann aber orthographische Notation zur Bezeichnung morphologischer Formen verwendet werden. Bei etwa zwei Dritteln der Adjektive findet keine Unterscheidung nach dem Genus statt (Séguin 1973: 54, auf der Basis des sechsbändigen Wörterbuchs Robert 2001).  



1080

C Nominalflexion

Reguläre Adjektive besitzen im Französischen nur eine Einheitsform. Die Schreibung kann einheitlich sein (wie bei jeune ‚jung‘) oder variieren (wie bei amer/amère). Eine größere Gruppe von Adjektiven (vier Fünftel der genusvariablen Adjektive) zeigt einen Wechsel zwischen Kurzform im Maskulinum und Langform im Femininum (wie bei intelligentM /ε͂ teliʒã/ – intelligenteF /ε͂ teliʒãt/. Die Genusdifferenzierung bleibt gegebenenfalls auch im Plural erhalten (→ C4.2.4). Abbildung 4 zeigt eine repräsentative Auswahl der Varianten der Genusdifferenzierung bei Adjektiven im Singular; phonologische Notation nach Robert (2001). M

F

M

F

M /F

Glosse

(i)

/…/

/…t/

/pəti/

/pətit/

petit/petite

‚klein‘

(ii)

/…/

/…d/

/ɡʀɑ̃ /

/ɡʀɑ̃ d/

grand/grande

‚groß‘

(iii)

/…/

/…s/

/ɡʀo/

/ɡʀos/

gros/grosse

‚dick‘

(iv)

/…/

/…z/

/ɡʀi/

/ɡʀiz/

gris/grise

‚grau‘

(v)

/…/

/…k/

/fʀɑ̃ /

/fʀɑ̃ k/

franc/franque

‚fränkisch‘

(vi)

/…/

/…ɡ/

/lɔ̃ /

/lɔ̃ ɡ/

long/longue

‚lang‘

(vii)

/…/

/…ʃ/

/blɑ̃ /

/blɑ̃ ʃ/

blanc/blanche

‚weiß‘

(viii)

/…/

/…l/

/su/

/sul/

soûl/soûle

‚betrunken‘

(ix)

/…/

/…j/

/ʒɑ̃ ti/

/ʒɑ̃ tij/

gentil/gentille

‚nett‘

(x)

/…/

/…t/

/vɛʀ/

/vɛʀt/

vert/verte

‚grün‘

(xi)

/…/

/…d/

/luʀ/

/luʀd/

lourd/lourde

‚schwer‘

(xii)

/…/

/…s/

/divɛʀ/

/divɛʀs/

divers/diverse

‚verschieden‘

(xiii)

/…o/

/…ɔt/

/so/

/sɔt/

sot/sotte

‚dumm‘

(xiv)

/…e/

/…ɛʀ/

/leʒe/

/leʒɛʀ/

léger/légère

‚leicht‘

(xv)

/…ɛ̃ /

/…ɛn/

/plɛ̃ /

/plɛn/

plein/pleine

‚voll‘

(xvi)

/…ɔ̃ /

/…ɔn/

/bɔ̃ /

/bɔn/

bon/bonne

‚gut‘

(xvii)

/…ɑ̃ /

/…an/

/plɑ̃ /

/plan/

plan/plane

‚eben‘

(xviii)

/…œ̃ /

/…yn/

/bʀœ̃ /

/bʀyn/

brun/brune

‚braun‘

(xix)

/…ɛ̃ /

/…in/

/feminɛ̃ /

/feminin/

féminin/féminine

‚weiblich‘

(xx)

/…ɛ̃ /

/…iɲ/

/malɛ̃ /

/maliɲ/

malin/maligne

‚bösartig‘

(xxi)

/…o/

/…ɛl/

/bo/

/bɛl/

beau, bel/belle

‚schön‘

(xxii)

/…u/

/…ɔl/

/mu/

/mɔl/

mou, mol/molle

‚weich‘

(xxiii)

/…ø/

/…ɛj/

/vjø/

/vjɛj/

vieux, vieil/vieille

‚alt‘

Abb. 4: Französische Adjektive mit Kurz- und Langformen

C2 Genus

1081

In der Tafel in Abbildung 4 sind für jedes Beispieladjektiv (von links nach rechts) die relevanten Ausgänge der Formen im Maskulinum und Femininum angegeben, dann die Lautformen im Ganzen, gefolgt von den Schriftformen und einer Glosse. Betrachtet man die Langformen, die im Femininum erscheinen (z. B. /pətit/), als gegeben, so lassen sich die Kurzformen (hier: /pəti/) im Allgemeinen ableiten – das Umgekehrte gilt nicht. Als Regel lässt sich angeben: Die Kurzformen sind durch das Fehlen des finalen Konsonanten der Langform charakterisiert, ggf. mit systematischer Anpassung des auslautenden Vokals. Nur bei einigen wenigen Adjektiven (vgl. (xxi) bis (xxiii)) weicht die kurze Form stärker ab.  

Bei den Typen (x) bis (xii) geht auch die kurze Form auf Konsonant, bei den übrigen Typen auf Vokal aus. Im letzteren Fall kann die Vokalqualität wechseln. Die betreffenden Wechsel folgen allgemeinen Mustern des Französischen (vgl. Fouché 1956; Walker 2001) und sind nicht für die Formenbildung des Adjektivs spezifisch. Die Beispiele (xiii) und (xiv) zeigen den Wechsel zwischen offenen und geschlossenen mittleren Vokalen. Offenes o (/ɔ/ wie in sotte /sɔt/) erscheint im Französischen nicht in wortfinaler Position und wird in der kurzen Form durch geschlossenes o (/o/) ersetzt; umgekehrt erscheint geschlossenes e (/e/) nicht in geschlossener Silbe; daher steht in der Langform offenes e (/ɛ/ wie in légère /leʒɛʀ/). In der Kurzform (in offener Silbe) erscheint an seiner Stelle geschlossenes e (/e/). Geht die lange Form auf Nasal aus (vgl. (xv) bis (xx)), so geht die kurze Form auf Nasalvokal aus. Dabei werden Oralvokale durch Nasalvokale ersetzt – unter Wahrung der sonstigen Vokalmerkmale, soweit dies möglich ist. Da das Französische weniger Nasalvokale als Oralvokale besitzt, kann die Vokalqualität wechseln. In der Standardaussprache werden vier Nasalvokale unterschieden. In den Adjektivformen wechselt der offene Nasalvokal /ã/ mit dem offenen Oralvokal /a/ (vgl. (xvii)) und der hintere Nasalvokal /ɔ̃ / mit dem hinteren Oralvokal /ɔ/ (vgl. (xvi)). Vordere ungerundete Oralvokale wie in /plɛn/ (xv), /feminin/ (xix) und /maliɲ/ (xx) werden durch den vorderen ungerundeten Nasalvokal /ε͂ / ersetzt, der vordere gerundete Oralvokal /y/ (wie in /bʀyn/ (xviii)) durch den vorderen gerundeten Nasalvokal /œ̃ / (oder, in Sprachausprägungen ohne Rundungsunterscheidung bei den vorderen Nasalvokalen, ebenfalls durch den ungerundeten Nasalvokal /ε͂ /). Einen synchron undurchsichtigen Wechsel zeigen die Typen (xxi) bis (xxiii). Bei einigen Adjektiven, die in der im Femininum erscheinenden Langform auf /kt/ ausgehen (wie distincteF , /distε͂ kt/), kann im Maskulinum die Obstruentenverbindung abfallen, oder die Form bleibt unverändert (distinctM , /distε͂ / oder /distε͂ kt/) (vgl. TLFi 2003: s. v.).  

Die Beziehung zwischen maskulinen und femininen Formen der Adjektive ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Die oben angeführte, an der Schrift ausgerichtete traditionelle Behandlung legt die maskuline Form zugrunde und postuliert ein Suffix (-e), das die femininen Formen auszeichnet. Ein solches Verhältnis zwischen maskulinen und femininen Formen entspricht dem bei morphologischen Markierungen weithin vorherrschenden additiven Markierungstyp. Die Ausgangsform bildet dabei erwartungsgemäß die Form des unmarkierten Genus Maskulinum (Non-Femininum). Auf die Markiertheitsverhältnisse verweisen ausdrücklich Grevisse/Goosse (2011: 672). Legt man die maskulinen Kurzformen der Ableitung der femininen Formen zugrunde, so scheint man jedoch zu einer Fall-für-Fall-Beschreibung der in Abbildung 4 gezeigten Formbeziehungen gezwungen, während der einfache Zusammenhang, der sichtbar wird, wenn umgekehrt die Langformen zugrunde gelegt werden, verdeckt wird.

1082

C Nominalflexion

Alternativ ist daher erwogen worden, dass die Genusdifferenzierung bei den französischen Adjektiven einen der seltenen Fälle von subtraktiver morphologischer Markierung darstellt (Bloomfield 1933: 217, „minus-feature“). Da der Wechsel im heutigen Französisch unproduktiv ist, kann weiterhin eine Interpretation als Suppletion, also als ein Nebeneinander unabhängig gegebener lexikalischer Formen, erwogen werden (vgl. Dressler 2000: 582). Keine dieser Lösungen erscheint voll befriedigend. Ebenso haben sich frühe Ansätze der generativen Grammatik, die (im Rahmen ‚abstrakter Phonologien‘) zugrunde liegende Strukturen postulieren, mit denen – ähnlich wie in der Orthographie – die historischen Prozesse, die das heutige Muster geliefert haben, sozusagen zurückgedreht werden, in empirischer wie theoretischer Hinsicht als problematisch erwiesen (vgl. z. B. Schane 1968). Ein anderes Bild der Adjektivmorphologie ergibt sich, wenn man die Formen des Maskulinums einbezieht, die in der Liaison auftreten. In der Liaison treten Langformen der Adjektive auch im Maskulinum auf, so dass die Unterscheidung von Maskulinum und Femininum am Adjektiv gegebenenfalls ‚neutralisiert‘ ist (Rigault 1971), wie (16) zeigt.  

(16)

a. petitM livreM /pətilivʀ/ ‚kleines Buch‘ b. petitM oiseauM /pətitwazo/ ‚kleiner Vogel‘ c. petiteF oieF /pətitwa/ ‚kleine Gans‘ Unter Liaison wird die Realisierung eines ‚latenten‘ oder ‚instabilen‘ Endkonsonanten in der Position vor einem folgenden Vokal verstanden, der in der Position vor Konsonant ‚stumm‘ bliebe; vgl. les enfants /lezãfã/, PL ‚die Kinder‘ vs. les parents /lepaʀã/, PL ‚die Eltern‘ (mit der Realisierung der PL -Form des definiten Artikels (les) als /lez/ bzw. /le/.

In (16b, c) fallen maskuline und feminine Form des Adjektivs lautlich zusammen. Maskuline und feminine Formen von Adjektiven des Typs PETIT unterscheiden sich daher nicht einfach durch einen Wechsel zwischen maskuliner Kurzform und femininer Langform. Vielmehr weist die maskuline Form (schriftlich: petit) zwei Varianten auf, nämlich die Kurzform /pəti/ wie in (16a) und die Langform /pətit/ wie in (16b), während die feminine Form (schriftlich: petite) nur eine Variante besitzt, nämlich die Langform /pətit/ wie in (16c); vgl. Companys (1971: 48, ‚zwei Allomorphe‘ im Maskulinum, nur eines im Femininum). Die Verhältnisse im Maskulinum sind also einfach diejenigen, die sich generell bei Wortformen mit instabilem Endkonsonanten finden, während im Femininum der Endkonsonant stabil ist und keine Formenvariation stattfindet. Verwendet man die gängige Klammernotation zur Kennzeichnung instabiler Segmente, so kann man die maskulinen und femininen Formen von PETIT wie in (17) gegenüberstellen (Herslund 1986); vgl. auch Grevisse/Goosse (2011: 672).

C2 Genus

(17)

M

F

petit

petite

/pəti(t)/

/pətit/

1083

Die Gegenüberstellung von Schreibung und Lautung ist in doppelter Hinsicht instruktiv. Zum einen kann an der Schreibung unmittelbar die diachrone Grundlage der heutigen Unterscheidung abgelesen werden. Vor dem Verstummen der femininen Endung -e stand der Stamm des Adjektivs im Femininum immer vor Vokal, nämlich vor dem Vokal des Flexivs. Entsprechend hat sich hier durchgehend die konsonantisch auslautende Formvariante erhalten. Im Maskulinum stand der Stamm des Adjektivs je nach Kontext vor Vokal oder Konsonant, und hier hat sich bei den betreffenden Adjektiven der Wechsel zwischen konsonantisch auslautender Form (Liaison-Form) und vokalisch auslautender Form (Non-Liaison-Form) erhalten. Die feminine Endung, die vormals die Genusdifferenzierung herstellte, ist geschwunden, aber sie hat ihre Spuren im Wechsel zwischen Formen mit instabilem Endkonsonanten im Maskulinum und stabilem Endkonsonanten im Femininum hinterlassen. Für die gewöhnlichen Verwendungskontexte (die Non-Liaison-Kontexte) ist so eine Genusdifferenzierung bewahrt, die aber nicht mehr durch Suffigierung, sondern durch eine Stammalternation getragen wird: variabler Stamm im Maskulinum, invariabler Stamm im Femininum. Mit der Umwandlung der suffixalen Unterscheidung in eine Stammalternation, die durch den Untergang des Suffixes bewirkt wurde, ist, wie man erwarten kann, zugleich die Produktivität der Unterscheidung verloren gegangen. Die produktive flexivische Genusunterscheidung beim Adjektiv ist in eine unproduktive lexikalische Unterscheidung umgewandelt worden. Die Herkunft der lexikalischen Stammalternation aus einer additiv-flexivischen Unterscheidung erklärt zugleich den weiterhin weitgehend systematischen Charakter der Verteilung der Formenvarianten. Der Vergleich von Schriftform und Lautform ist in einer weiteren Hinsicht aufschlussreich. In vielen Grammatiken wird angemerkt, dass sich die Beziehungen zwischen maskulinen und femininen Adjektivformen in der geschriebenen Sprache nicht mit denen in der gesprochenen Sprache decken. Grevisse (1975: 311) vertritt sogar, dass die geschriebene Sprache eine falsche Vorstellung („une idée fausse“) von den Beziehungen zwischen maskulinen und femininen Formen gibt. Tatsächlich erscheint die Entsprechung von Lautform und Schriftform, die sich in (17) zeigt, nur dann unsystematisch, wenn man die Schreibung als Wiedergabe der Lautformen betrachtet: Einerseits steht petit für /pəti/ oder /pətit/, andererseits wird /pətit/ durch petit oder petite wiedergegeben. Betrachtet man die Schreibung dagegen unter dem Gesichtspunkt der Repräsentation der morphologischen Formen, so zeigt sich ein anderes Verhältnis. Die Schriftform petite steht für eine invariable Wortform, die feminine Form; das finale ‚e muet‘ kann als Kennzeichen dafür gelesen werden, dass der vorangehende Konsonant ein stabiler Konsonant ist. Die Schriftform petit, die kein finales Vokalgraphem aufweist, kann – in Opposition zu petite – als Re-

1084

C Nominalflexion

präsentation einer Wortform mit instabilem Endkonsonanten gelesen werden, der variablen maskulinen Form. Es besteht eine Eins-zu-eins-Beziehung zwischen morphologischen Wortformen und Schriftformen. Die Formendifferenzierung steht in Einklang mit den Markiertheitsverhältnissen: Eine Subunterscheidung (zwischen Liaison-Form und Non-Liaison-Form), die im unmarkierten Genus Maskulinum gemacht wird, fehlt im markierten Genus. Zugleich steht da, wo sich die Genera unterscheiden (im Non-Liaison-Kontext), im markierten Genus die markantere (längere) Form, im unmarkierten Genus die weniger markante (kürzere). Bei den Adjektiven des Typs PETIT fallen die Liaison-Variante des Maskulinums und die Form des Femininums, wie Beispiel (16b)/(16c) zeigt, der Lautform nach zusammen. Dass dennoch morphologisch grundsätzlich zwischen der langen maskulinen Formvariante des Adjektivs und der femininen Form zu unterscheiden ist, wird deutlich anhand von Adjektiven wie gros/grosse ‚dick‘ oder doux/douce ‚süß‘, die im Femininum auf /s/ ausgehen, gegenüber /z/ in der maskulinen Liaison-Form, sowie bei grand/grande mit /t/ in der maskulinen Liaison-Form gegenüber /d/ in der femininen Form (vgl. Bonami/Boyé 2005: 79). (18) a. grosM oiseauM /gʀozwazo/ FRA b. grosseF oieF /gʀoswa/ (19) a. grandM amiM /gʀãtami/ FRA b. grandeF amieF /gʀãdami/ Diese Wechsel entsprechen den traditionell postulierten Liaison-Regeln (Fouché 1956: 436), denen zufolge als Liaison-Konsonant /z/, aber nicht /s/ stehen kann, und ebenso /t/, aber nicht /d/. Diachron stellt die Form grande eine Analogiebildung dar, die die ursprünglich fehlende feminine Form geliefert hat. Das Lexem setzt LAT GRANDIS fort, das als Adjektiv der 3. Deklination keine besonderen Formen für das Femininum besaß (TLFi 2003: s. v.).  

Bei Lexemen wie GRAND und GROS liegt im Unterschied zum gewöhnlicheren Typ PETIT keine ‚Neutralisierung‘ von Maskulinum und Femininum in der Liaison-Position vor, weil lange maskuline Varianten existieren, deren Ausgangskonsonanten nicht mit denen der femininen Formen übereinstimmen. Für GROS sind daher die Formen /gʀo(z)/, M , und /gʀos/, F , anzusetzen. Umgekehrt kann die partielle Übereinstimmung von Maskulinum und Femininum auch aufgehoben sein, wenn die maskuline Form keine lange Variante hat (oder deren Gebrauch unüblich ist). Bei Adjektiven wie VERT (vgl. (x) bis (xii) in Abbildung 4) geht die im Femininum erscheinende Langform auf /…ʀC/ aus (mit ‚C‘ für einen beliebigen Konsonanten). Aber auch die Kurzform (/…ʀ/), die im Maskulinum erscheint, geht auf Konsonant aus. Der liaisonbedingten Verwendung der langen Variante im Maskulinum ist damit die Grundlage entzogen: Eine Variation zwischen

C2 Genus

1085

konsonantischer und vokalischer Variante kommt nicht in Betracht. Die betreffenden Adjektive besitzen daher keine besondere (lange) Liaison-Variante, sondern zeigen im Maskulinum durchgehend die kurze Variante; vgl. un lourd objetM /œ̃ luʀ ɔbʒɛ/; un court intervalleM /œ̃ kuʀ ε̃ tεʀval/ (Price 2005: 136). Bei einer Reihe von Adjektiven ist die Liaison-Form des Maskulinums ungebräuchlich; vgl. z. B. die Angaben zu CHAUD in TLFi (2003: s. v.). Die Urteile sind aber schwankend. Bonami/Boyé (2005: 93) nennen noch beispielhaft BLANC , BLOND , BRUN , FRANC , FROID und SOT ; die Verwendung in Kontexten, die Liaison fordern, wird vermieden. Betroffen sind vermutlich besonders Adjektive wie BLANC , bei denen die nicht mehr übliche Liaison-Form einen ‚unerwarteten‘ Konsonantenwechsel gegenüber der femininen Form aufwies (blanc /blãk/, vgl. blanc-étoc /blãketɔk/ ‚Kahlschlag‘, Robert 2001: s. v.), also nicht den liaisontypischen /s/-/z/- oder /d/-/t/-Wechsel wie in den zuvor angeführten Beispielen; vgl. auch FRAIS (fraisM /fʀɛ/, fraîcheF /fʀɛʃ/). Bei SEC ‚trocken‘, ebenfalls mit irregulärem Konsonantenwechsel, fehlt umgekehrt die kurze Variante (secM /sɛk/, sècheF /sɛʃ/).  





In der Schreibung werden nur bei Adjektiven wie BEAU (vgl. (xxi) bis (xxiii) in Abbildung 4) drei Formen unterschieden beauM /bo/, belM /bɛl/, belleF /bɛl/. Die Grammatiken setzen daher in diesem Fall zwei maskuline Formen an. Tatsächlich ist PET IT (auch wenn der aber die Formenverteilung genau die gleiche wie beim Typ PETIT formale Zusammenhang zwischen den Varianten, wie erläutert wurde, hier synchron undurchsichtig ist): Im Maskulinum besteht der gewöhnliche Wechsel zwischen konsonantisch auslautender Variante (/bɛl/, in der Liaison, un bel enfantM ) und vokalisch auslautender Variante (/bo/, sonst, un beau livreM ); die feminine Form stimmt wie gewöhnlich mit der langen maskulinen Variante überein und geht wie immer auf Konsonant aus (/bɛl/, une belle maisonF ). Die gelegentlich vertretene Annahme, in Fällen wie un bel enfantM erschiene eine ‚feminine‘ Form – gegen die Kongruenz – im Maskulinum ist unbegründet. Die Genusunterscheidung überträgt sich bei den Adjektiven, die sie besitzen, auch in den Plural (→ C4.2.4). Zusammenfassend lässt sich feststellen: Das Verhältnis zwischen den verschiedenen Flexionsformen der Adjektive ist bei verschiedenen Lexemen unterschiedlich transparent. Die konsonantisch auslautende Variante des Maskulinums fällt gewöhnlich, aber nicht immer, mit der femininen Form zusammen. Die vokalisch auslautende Variante unterscheidet sich von der konsonantisch auslautenden Langform gewöhnlich nur durch das Fehlen des Endkonsonanten, kann aber zusätzliche Abweichungen zeigen, die im einen Extrem automatisch, im anderen Extrem idiosynkratisch sein können. Im Maskulinum kann zudem eine der beiden Varianten fehlen. Das Spektrum der Formenvariation, das von weitgehender Transparenz bis zu weitgehender Opakheit reicht, entspricht den Verhältnissen, die in einem System lexikalisierter Formalternationen zu erwarten ist.

1086

C Nominalflexion

C2.8.2 Artikel und Pronomina Die Genusdifferenzierung und die Pluralbildung bei den Artikeln, dem Demonstrativum und den Possessiva folgen grundsätzlich dem gleichen Muster wie bei den Adjektiven. Die Flexion des indefiniten Artikels und des Demonstrativums steht der ON ‚dein‘, Adjektivflexion besonders nahe. Die Flexion der Possessiva MON ‚mein‘, TTON SON ‚sein/ihr‘ zeigt weitergehende Besonderheiten und insbesondere im Vergleich zum sonstigen System eine ‚Überdifferenzierung‘ der Formen. Dies gilt in noch vermehrtem Maße für den definiten Artikel. Vgl. Abbildung 5. SG M

M

/F

PL F

UN

un /œ̃ /

un une /œ̃ n/ /yn/





CE

ce /sə/

cet(te) /sɛt/



ces /se(z)/

MON

mon /mɔ̃ /

mon /mɔ̃ n/

ma /ma/

mes /me(z)/



notre /nɔtʀ/



nos /no(z)/

le /lə/

l’ /l/

la /la/

les /le(z)/

du /dy/

de l’ /dəl/

de la /dəla/

des /de(z)/

au /o/

à l’ /al/

à la /ala/

aux /o(z)/

NOTRE

LLE E /LA

DE

À

+ LE /LLAA

+ LLEE /LA

Abb. 5: Genusdifferenzierung bei Pronomina und Artikeln (Französisch)

Wie die variablen Adjektive besitzt der indefinite Artikel UN ‚ein‘ im Maskulinum eine Non-Liaison-Variante (/œ̃ /) eine Liaison-Variante (/œ̃ n/) und im Femininum eine Einheitsform (/yn/). Anders als bei Adjektiven erscheint der Nasalvokal auch in der Langvariante des Maskulinums (vgl. dagegen BRUN ‚braun‘, (xviii) in Abbildung 4), die daher hier nicht mit der femininen Form zusammenfällt. Ebenso werden QUELQU ’ UN (/kɛlkœ̃ /, /kɛlkyn/), CHACUN (/ʃakœ̃ /, /ʃakyn/) und AUCUN (/okœ̃ /, /okyn/) behandelt (z. B. aucun homme /okœ̃ nɔm/ ‚kein Mann/niemand‘) und ferner auch das Adjektiv COMMUN (/kɔmœ̃ /, /kɔmyn/) (Fouché 1956: 436). Das Artikellexem UN besitzt im heutigen Französisch keine Pluralformen (vgl. aber → B1.5.3.9 zu les uns / les unes und → B1.5.5.4.6 zu quelques-uns/quelques-unes). Das Demonstrativum CE ‚der/dieser‘ flektiert wie ein Adjektiv (mit bloß orthographischer Unterscheidung der Langvarianten im Femininum und Maskulinum), nur  

C2 Genus

1087

erscheint in der vokalisch auslautenden Variante der Vokal Schwa (/ə/), der hier zudem wie sonst kontextabhängig ausfallen kann. Im Unterschied zu den Adjektiven besitzt das demonstrative Determinativ eine besondere auf e ausgehende Pluralstammform ce- /se/. Wie gewöhnlich tritt dann im Plural noch das Pluralflexiv ‑s mit der Lautform /(z)/ an den Stamm, so dass sich die Pluralform /se(z)/ ergibt; zum Pluralflexiv siehe → C4.2.4. Die besonderen Pluralstämme der Determinative sind immer genusunspezifisch; generell gibt es bei den Determinativen, anders als bei den Adjektiven, im Plural keine Genusdifferenzierung. Das Possessivum MON unterscheidet wie ein genusvariables Adjektiv im Maskulinum Kurz- und Langvariante (/mɔ̃ / und /mɔ̃ n/); nur die Langvariante erscheint auch im Femininum. Anders als bei Adjektiven tritt hier durchgehend ein Nasalvokal auf. Dies gilt jedenfalls nach der normativ bevorzugten Aussprache. Gegenüber der ebenfalls vorkommenden Variante mit Oralvokal gilt diejenige mit Nasalvokal als die ‚bessere‘ (Fouché 1956: 436, „la meilleure“). Die genusindifferente Pluralform (mes) zeigt wie beim Demonstrativum den Vokal e und das ‑s-Suffix. Wie MON ‚mein‘ gehen auch TON ‚dein‘ und SON ‚sein/ihrS G ‘. Die eigentliche Besonderheit der Possessiva MON , TON und SON besteht im Vorhandensein zusätzlicher femininer Formen mit Ausgang auf a. Die Formen ma, ta, sa erscheinen wegen des vokalischen Ausgangs nicht in der Liaison, während umgekehrt der Anwendungsbereich der (wie gewöhnlich mit den maskulinen Langformen zusammenfallenden) konsonantischen Formen mon, ton, son des Femininums auf die Verwendung in der Liaison beschränkt ist. Im Übrigen verteilen sich die Formvarianten wie beim Adjektiv. Die Verteilung von mon/ton/son und ma/ta/sa im Femininum wird manchmal in Grammatiken der Gegenwartssprache so beschrieben, dass bei den Possessiva im Femininum in der Liaison – gegen die Kongruenz – auf eine maskuline Form ausgewichen werde (Wagner/Pinchon 1962: 81), um einen Hiatus zu vermeiden. Diachron handelt es sich jedoch um die Ersetzung elidierter Varianten (m’/t’/s’) (wie l’ für la) durch die ‚expressiveren‘ langen Formvarianten (Brunot/ Bruneau 1949: 237). Synchron betrachtet, sind die langen, konsonantisch auslautenden Formen mon, ton, son ebenso gewöhnliche Femininumformen wie die langen Formen der Adjektive, von denen sie sich nur durch das Auftreten des Nasalvokals unterscheiden (vgl. BON ‚gut‘, (xvi) in Abbildung 4).

Die Possessiva NOTRE NOT RE ‚unser‘ und VOTRE ‚euer‘ besitzen im Singular (wie die regulären Adjektive) eine invariable Einheitsform. Auch hier unterscheiden sich aber die Formen im Singular (notre, votre) und Plural (nos, vos) durch Stammwechsel; an L EUR ‚ihrP L ‘ (mit den Formen die Pluralstammform tritt wieder das Pluralsuffix. LEUR leurS G /lœr/ und leursP L /lœʀ(z)/) nimmt das Pluralsuffix, zeigt aber keine Stammvariation. Die Formendifferenzierung des definiten Artikels LE / LLAA zeigt die höchste Komplexität. Er vereinigt in sich Besonderheiten, die sonst einzeln oder in geringerer Kombinatorik auftreten: eine Maskulin-Singular-Form auf Schwa, eine besondere Femininumform auf /a/ und eine besondere Pluralstammform auf /e/. Hinzu kommt

1088

C Nominalflexion

die Existenz besonderer Verschmelzungsformen aus Präposition und Artikel. Im Übrigen gibt es eine Variantenunterscheidung, die derjenigen bei den Adjektiven (und den betrachteten Pronomina) entspricht. Sie wird jedoch hier formal in anderer Weise hergestellt. Bei den Adjektiven unterscheidet sich die vokalisch auslautende Form (die Kurzform) von der konsonantisch auslautenden Form (der Langform) durch das Fehlen des Endkonsonanten. Beim definiten Artikel unterscheidet sich umgekehrt die konsonantisch auslautende Form (l’) von der vokalisch auslautenden Form durch das Fehlen des Endvokals. Die Verteilung der Varianten entspricht den Verhältnissen bei den Possessiva MON , T TON ON und SON . Im Femininum erscheint – soweit nicht die Extraform la zum Zuge kommt – die konsonantisch auslautende Variante (l’), im Maskulinum zeigt sich der gewöhnliche Wechsel zwischen konsonantischer Variante (l’) (in der Liaison) und vokalischer Variante (le) (sonst). Die Verbindungen der Präpositionen de und à mit dem definiten Artikel werden in den Fällen, in denen die Artikelformen /ə/ oder /e/ zeigen, durch Verschmelzungen ersetzt: /dy/ steht für /də/+/lə/, /de(z)/ steht für /də/+ /le(z)/; /o/ steht für /a/ + /lə/, und /o(z)/ steht für /a/+ /le(z)/.

C3

Person und Possession

C3.1

Einleitung  1090

C3.2

Personal- und Possessivpronomina  1091

C3.3 Person-Numerus-Flexive  1098 C3.3.1 Überblick  1098 C3.3.2 Kopf- vs. Dependensmarkierung  1100 C3.3.3 Person-Numerus-Flexive in Possessivkonstruktionen  1101 C3.3.4 Person-Numerus-Flexive in Postpositionalkonstruktionen und Kasusformen  1103 C3.3.5 Ausdrucksformen der Flexive (Ungarisch)  1106 C3.4 (Un-)Selbstständige Possessiva  1110 C3.4.1 Differenzierung adnominaler und selbstständiger Possessiva  1110 C3.4.2 Zum Possessumsuffix des Ungarischen  1113 C3.4.3 Zum Possessivsuffix des Englischen  1120

Bernd Wiese

C3 Person und Possession C3.1 Einleitung Das Deutsche verfügt ebenso wie die Vergleichssprachen über besondere Pronomina, die es ermöglichen, auf Beteiligte an sprachlichen Kommunikationsvorgängen (die ‚Kommunikanten‘) zu referieren, indem auf deren jeweilige Rollen als Sprecher oder Adressaten Bezug genommen wird. Das Pronomen ICH dient der Referenz auf den Sprecher, das Pronomen DU der Referenz auf den Adressaten von Äußerungen, in denen sie gebraucht werden. Derartige Pronomina bezeichnen wir ihrer Funktion nach als Kommunikantenpronomina. Sie werden als Pronomina der ersten Person (Sprecherbezug) und der zweiten Person (Adressatenbezug) bezeichnet. Traditionell werden solche Pronomina als Personalpronomina bezeichnet – also als ‚Rollenpronomina‘ unter Anschluss an LAT persona ‚Maske (eines Schauspielers)‘ (und daher ‚Rolle‘). Die Kommunikantenpronomina stehen durch den inhärenten Bezug auf die grundlegenden kommunikativen Rollen allen übrigen referentiellen Ausdrücken gegenüber, denen ein solcher Bezug fehlt und die pauschal als Ausdrücke der dritten Person charakterisiert werden.

Die Nicht-Kommunikantenpronomina (die Pronomina der dritten Person) können nach syntaktischen und semantischen Kriterien klassifiziert werden. Dabei wird traditionell ein Typ von vorrangig anaphorisch gebrauchten Pronomina wie DEU ER /SIE /ES besonders herausgegriffen, der sich durch die Abwesenheit spezifischer semantischer oder syntaktischer Merkmale auszeichnet, wie sie zur Charakterisierung anderer Unterarten von Pronomina (Interrogativa, Demonstrativa, Relativa usw.) herangezogen werden. In den synchron orientierten Grammatiken der Vergleichssprachen werden sie mit den Kommunikantenpronomina zur Gruppe der Personalpronomina zusammengefasst. In Hinblick auf ihre flexivischen Eigenschaften fügen sich die Personalpronomina der dritten Person im Deutschen und in den Vergleichssprachen, eingeschlossen das Ungarische, weitgehend in die jeweils für andere Pronomina bzw. Nomina insgesamt geltenden Muster ein. Dagegen bildet die Flexion der Kommunikantenpronomina jeweils ein eigenes Subsystem mit abweichenden Eigenschaften. Insofern die Kategorisierung bezüglich Person eine Unterscheidung verschiedener Klassen von Pronomina bzw. verschiedener Pronomina (wie ICH , 1. Person,, oder DU , 2. Person) liefert, handelt es sich um eine Klassifikation von Stämmen oder Lexemen und nicht um eine flexivische Kategorisierung. Im Deutschen und in anderen indoeuropäischen Sprachen existieren zu den selbstständigen Personalpronomina Gegenstücke im Bereich der Pronomina mit primär adnominaler Verwendung – Possessivpronomina –, die wie die Personalpronomina lexikalisch bezüglich Person klassifiziert werden (MEIN , DEIN , SEIN ). Im Englischen erstreckt sich die Kategorisierung MY SELF , YOURSELF , HIMSELF usw.). bezüglich Person auch auf die Reflexiva (MYSELF  



1091

C3 Person und Possession

Eine flexivische Kategorisierung im engeren Sinne, also eine Klassifikation von Wortformen, bezüglich Person findet sich im Deutschen innerhalb der Verbflexion, nicht aber in der Nominalflexion. Dies gilt ebenso für das Englische, Französische und Polnische. Im Ungarischen existieren dagegen Personalsuffixe nicht nur im verbalen, sondern auch im nominalen Bereich, die (in einer ihrer Verwendungen) als funktionale Entsprechungen zu den Possessivpronomina der indoeuropäischen Sprachen dienen können. Das Vorhandensein von Person-Numerus-Suffigierung im nominalen Bereich stellt eines der Charakteristika dar, die das ungarische Flexionssystem am deutlichsten von denen der anderen Vergleichssprachen abheben. Zudem ist die PersonNumerus-Suffigierung im Ungarischen systemweit von herausragender Bedeutung. Sie bildet nicht nur die Grundlage für die Bildung der Possessivkonstruktionen und der Formen der selbstständigen Possessivpronomina, sondern bestimmt auch den Bau der Adpositionalphrasen und der Kasusformen der Personalpronomina. Die Morphologie der Person-Numerus-Suffigierung wirft zudem erhebliche analytische Probleme auf und hat entsprechend zu einer Vielfalt von unterschiedlichen Beschreibungsvorschlägen geführt. Die Person-Numerus-Suffigierung im Ungarischen bildet daher den Schwerpunkt des vorliegenden Abschnitts, der damit wesentliche Grundzüge der ungarischen Nominalflexion abdeckt. Im folgenden Unterabschnitt geben wir eine Zusammenfassung der wesentlichsten morphologisch relevanten Besonderheiten der Personal- und Possessivpronomina in den Vergleichssprachen. Die Genus-, Numerus- und Kasusflexion der betreffenden Lexeme wird weiter in den entsprechenden Abschnitten des vorliegenden Großkapitels besprochen.

C3.2 Personal- und Possessivpronomina Einen Überblick über die Formen der Personalpronomina der Vergleichssprachen (anhand der Formen des Nominativs) bietet (20); eingeschlossen ist das Reflexivum, für das im Falle des Französischen, Deutschen und Polnischen die Akkusativformen gegeben werden; siehe im Einzelnen → B.1.5.2/3. (20)

1SG

1PL

2SG

2PL

3REFL

FRA

je

nous

tu

vous

se

ENG

I

we

DEU

ich

wir

du

POL

ja

my

UNG

én

mi

you

3SG ilN O N F

3PL elleF

ilsN O N F

ellesF

(-self)

heM

itN

sheF

they

ihr

sich

erM

esN

sieF

sie

ty

wy

siebie

onM

onoN

onaF

oniM P E R S oneN O N M P E R S

te

ti

(maga)

ő

ők

1092

C Nominalflexion

Die Unterscheidung nach Person (1, 2, 3) wird in allen Vergleichssprachen lexikalisch (durch Verwendung unterschiedlicher Stämme), nicht flexivisch hergestellt. Ebenso wird bei den Kommunikantenpronomina (Pronomina der 1. und 2. Person) Stammwechsel (Suppletion) für die Numerusmarkierung verwendet, wenigstens teilweise auch für die Unterscheidung zwischen Nominativformen und obliquen Kasusformen (→ C5.2.2.1). Charakteristisch für die Kommunikantenpronomina ist das Fehlen von Genusdifferenzierung auch in Sprachen, die ein Genussystem besitzen. Die Personalpronomina der 3. Person weisen dagegen die in der jeweiligen Einzelsprache regelmäßig getroffenen Genusunterscheidungen auf; sie sind in (20) durch Subskripte angezeigt.  



In den indoeuropäischen Sprachen weisen die Formen der Kommunikantenpronomina in vielen Fällen charakteristische Anlautkonsonanten auf; so lauten im Deutschen die Formen der obliquen Kasus des 1SG -Pronomens auf m an (mir, mich, meiner), die Formen des 2SG -Pronomens auf d (du, dich, dir, deiner); vgl. Nichols/Peterson (2005). Der s-Anlaut ist charakteristisch für Reflexiva. Auffällig ist das Auftreten ähnlicher charakteristischer Konsonanten in Formen ungarischer Personalpronomina, so des labialen Nasals in Formen der ersten Person (mi, 1PL ) und eines Alveolars in Formen der zweiten Person (te, 2SG ). Solche Ähnlichkeiten sind in der Literatur als Hinweise auf eine diachron weit zurückreichende Sprachverwandtschaft gewertet worden, die jedoch allgemein nicht als gesichert anerkannt worden ist; zur Diskussion vgl. z. B. die Beiträge in Salmons/Joseph (Hg.) (1998).  

Im Deutschen werden die PL -Formen des Personalpronomens der 3. Person auch als Distanzformen oder „Höflichkeitspronomina“ (Helmbrecht 2006) verwendet; für die Bildung der Flexionsformen ergeben sich aus der Übernahme dieser sekundären Funktion keine Besonderheiten. Entsprechendes gilt im Grundsatz für Distanzformen in den Vergleichssprachen (→ B1.5.2.4).  

Die Reflexivpronomina (→ B1.5.3) folgen in den indoeuropäischen Sprachen in ihren flexivischen Eigenschaften und ihrem Formenbau gewöhnlich dem Muster der Kommunikantenpronomina (genauer dem SG - Paradigma der 2. Person) (Szemerényi 1990: 224). Vgl. z. B. aus dem Lateinischen die Kasusformen der 2. Person Singular und des Reflexivpronomens: tē/sē (AKK , ABL ), tibi/sibi (DAT ), tuī/suī (GEN ) (Leumann 1977: 461– G EN ), tobie/sobie (LOK L OK , DAT ), tobą/sobą 464); ebenso im Polnischen:: ciebie/siebie (AKK , GEN (INS ). Wie bei den Kommunikantenpronomina wird beim Reflexivum im Polnischen keine Genusunterscheidung getroffen, und zudem fehlt die Numerusunterscheidung; darüber hinaus wird das Reflexivum auch auf Antezedentien der 1. und 2. Person bezogen (→ B1.5.3.2.).  







Im Englischen fungieren Verbindungen aus Formen der Personalpronomina und dem Intensifikator self als Reflexiva (→ B1.5.3.3). Die Differenzierung der Personal-Numerus-- Kategorien durch Suppletivformen überträgt sich so auf die Reflexivpronomina. Die Reflexivpronomina der 1. und 2. Person werden durch Verbindung der unselbstständigen Formen der Possessiva mit der SG - oder PL - Form von SELF (selfS G , selvesP L ) gebildet: myself, ourselves; yourself, yourselves. Beim Reflexivpronomen der 3. Person werden die Akkusativformen des Personalpronomens der 3. Person mit den Formen von SELF (ggf. im Plural) verbunden: himself, herself, itself, themselves.  





C3 Person und Possession

1093

Im Ungarischen fungieren Possessivformen (Formen mit Person-Numerus-Suffix) des Substantivstamms mag- (wie maga, 3SG ) (vgl. MAG ‚Kern/Samen‘) als Reflexiva; die Formenbildung folgt grundsätzlich dem substantivischen Muster. Differenzierung bezüglich Person und Numerus erfolgt mithilfe von Personalflexiven (→ C3.3).

In allen Vergleichssprachen existieren Possessivpronomina (Possessiva im engeren Sinne) oder funktionale Äquivalente, nämlich Elemente zur Kennzeichnung von Possessivrelationen innerhalb von NPs, die zusammenfassend als Possessiva im weiteren Sinne bezeichnet werden können. Mithilfe von Possessiva kann (wie mit sein in sein Buch) auf den Possessor des Gegenstands Bezug genommen werden, auf den mit der NP als Ganzer referiert wird (das Possessum). Daraus ergibt sich das wesentliche Charakteristikum der Morphologie der Possessiva: Sie verbinden die durch die Personalpronomina vorgegebene Differenzierung nach Person und Numerus und gegebenenfalls Genus (als possessorbezogene Kategorisierungen) mit den Eigenschaften, die in der jeweiligen Einzelsprache Dependentien des Kopfsubstantivs auszeichnen (darunter Determinative, Adjektivattribute und Genitivattribute); siehe im Einzelnen → B1.5.4. Bei den Possessiva der Vergleichssprachen handelt es sich (mit Ausnahme des Ungarischen) um Possessivpronomina oder Genitivformen von Personalpronomina; im Ungarischen werden Possessivkonstruktionen (Tompa 1972: 121, „Possessivsyntagmen“) mithilfe von Personalpronomina und Personalflexiven (Suffixen) realisiert. Gemäß dem unterschiedlichen Status der Possessiva variieren ihre flexivischen Eigenschaften. In DEU sein Buch folgt die Flexion des Possessivpronomens dem Muster des indefiniten Artikels (vgl. ein Buch), in das seine dem Muster der adjektivischen Flexion (vgl. das blaue). In POL jego książka ‚sein Buch‘ wird das Possessivum als Genitivattribut realisiert (hier: als GEN . SG -Form des Personalpronomens der 3. Person ON ). Possessivpronomina stellen (im Unterschied zu Genitivformen der Personalpronomina) besondere Lexeme mit einem eigenen Satz von Formen dar, die (abhängig von der betreffenden Einzelsprache) gemäß den Genus-, Numerus- bzw. Kasusspezifikationen unterschieden werden, die für kongruierende Dependentien gelten (→ B1.5.4.4). In diesem Fall realisieren die Possessiva (neben den possessorbezogenen kategorialen Spezifikationen) die auf das Possessum bezogenen kategorialen Spezifikationen. Formen flektierender Possessiva können daher zwei Sätze von kategorialen Spezifikationen (oder ‚Merkmalen‘) aufweisen. Im Deutschen liefern die Stämme der Possessiva possessorbezogene Spezifikationen (mein1S G , dein2S G , sein3S G . N O N F usw.), während die Flexionssuffixe die possessumbezogenen Spezifikationen realisieren (meinN O M . S G . M , meinenA K K . S G . M usw.). Für ein Possessivpronomen wie SEIN gilt daher eine doppelte Kategorisierung bezüglich Numerus und Genus; allgemein sind im Deutschen bei den Possessiva Stammnumerus und Flexionsnumerus und (in der 3. Person) Stammgenus und Flexionsgenus zu unterscheiden (Kunze 1975: 146, „Stammgenus“ und „Endungsgenus“). Stammgenus und Stammnumerus sind mit den Stämmen lexikalisch gegeben. Flexionsgenus und Flexionsnumerus werden im Deutschen zusammen mit der Markierung der Kasus  



1094

C Nominalflexion

realisiert. Die Bildung der Flexionsformen der Possessivpronomina zeigt im Deutschen nur geringe Besonderheiten (→ C6.5.2); sie folgt im Grundsatz dem allgemeinen Muster der pronominalen bzw. der adjektivischen Flexion. Doppelte Kategorisierung nach possessorbezogenen und possessumbezogenen Merkmalen bezüglich Numerus gilt auch für die Possessiva im Französischen, teilweise im Polnischen, aber nicht im Englischen. Unter den Vergleichssprachen zeigt dagegen nur das Deutsche doppelte Kategorisierung bezüglich Genus; vgl. [seine Frau]N O M / A K K . S G . F , wo die Wahl der Form seine gleichzeitig durch das Stammgenus des Possessivpronomens (sein-, NONF ) (bzw. das Genus eines anzunehmenden Antezedens) und das Genus des Substantivs (FRAU , F ) bestimmt wird. Im Französischen, Polnischen und Deutschen ergibt sich Doppelkategorisierung bei Possessiva aus dem Zusammentreffen von kategorial differenzierten Pronominalstämmen mit der flexivischen Differenzierung der Pronominalformen gemäß den Merkmalen der NPs, in denen sie auftreten. Diese Doppelkategorisierung betrifft auch Fälle selbstständiger Verwendung, bei denen das Possessum ungenannt bleibt und ko- oder kontextuell erschlossen werden muss; vgl. [mein1S G -e]N O M . P L sind grün (mit doppelter Numerusspezifikation). Auch in Sprachen mit agglutinierender Morphologie wie dem Ungarischen, wo die Numerus- und Kasusspezifikationen von Substantivphrasen allein durch Suffixe am substantivischen Kopf angezeigt werden, kann, wo ein solcher Kopf fehlt, eine einzelne Wortform possessorbezogene und possessumbezogene Merkmalsspezifikationen auf sich vereinigen; vgl. enyéim ‚meine‘ (mit singularischem Possessorbezug und zugleich pluralischem Possessumbezug). Anders als in den übrigen Vergleichssprachen ist diese Möglichkeit nicht auf Formen mit pronominal bezeichnetem Possessor (Possessivpronomina) beschränkt; der Possessor kann ebenso durch ein Substantiv benannt werden wie in barátokéi ‚dieP L der Freunde‘, d. h. ‚die x, die den Freunden gehören‘ (zu BARÁT ‚Freund‘), wiederum mit doppelter Pluralmarkierung in einer Wortform (für Possessum und Possessor) (→ C3.4.2). Einen Überblick über die Person-Numerus-Differenzierung bei den Possessivpronomina des Deutschen und ihren Entsprechungen in den Kontrastsprachen bietet (21). (Zur hier verwendeten Notation für die ungarischen Suffixe siehe → C3.3.5.)  

(21)

1SG

1PL

2SG

2PL

3SG

3PL

FRA

mon

notre

ton

votre

son

leur

ENG

my

our

DEU

mein

unser

dein

euer

POL

mój

nasz

twój

wasz

UNG

-(V)m

-(U)nk

-(V)d

-(V)tOk

your

itsN

herF

their

seinN O N F

ihrF

ihr

jegoN O N F

jejF

ich

hisM

-(A)

-(U)k

1095

C3 Person und Possession

Im Kopf der Tabelle sind die Possessor-Spezifikationen für Person und Numerus angegeben; die possessorbezogenen Genusspezifikationen werden gegebenenfalls durch Subskripte angezeigt. Soweit die betreffenden Elemente der Flexion nach Numerus, Kasus oder Genus bezüglich der Spezifikationen des Possessums unterliegen, sind die Nominativ-Singular-Formen (ggf. des Maskulinums) angegeben. Die Tabelle umfasst die unselbstständig gebrauchten Possessiva. Die Vergleichssprachen unterscheiden sich danach, inwieweit die Unterscheidung von adnominaler und selbstständiger Verwendung einen formalen Ausdruck findet. Eine solche Unterscheidung ist besonders im Französischen und Englischen deutlich ausgeprägt;; vgl. FRA ton ‚dein‘, adnominal, vs. le tien ‚deiner‘, selbstständig, und ENG your ‚dein‘, adnominal, vs. yours ‚deiner‘, selbstständig (→ C3.4.1). Flektierende Possessivpronomina, die den Kommunikantenpronomina entsprechen, also Possessivpronomina mit den Possessor-Spezifikationen 1SG ‚mein‘, 2PL ‚dein‘, 1PL ‚unser‘ bzw. 2PL ‚euer‘ existieren im Französischen, Deutschen und Polnischen. Im Französischen flektieren die Possessivpronomina (Grevisse/Goosse 2011: 821, „déterminants possessifs“) nach Numerus sowie im Singular nach Genus; vgl. die Formen mon, ma, mes von MON wie in [mon veston]M . S G ‚mein Jackett‘, [ma cravate]F . S G ‚meine Krawatte‘, [mes erreurs]P L ‚meine Fehler‘. Im Deutschen flektieren die Possessivpronomina zudem nach Kasus ([mein Mann]N O M . S G , [meinen Mann]A K K . S G usw.); ebenso im Polnischen. Possessivpronomina, die den Personalpronomina der 3. Person entsprechen, existieren im Französischen und Deutschen, nicht aber im Polnischen. Die betreffenden Possessivpronomina (FRA SON , LEUR , DEU SEIN , IHR ) werden wiederum nach Numerus, teilweise nach Genus, im Deutschen auch nach Kasus flektiert. Im Polnischen werden dagegen die (regelmäßig nach dem allgemeinen Muster der pronominalen Flexion des Polnischen gebildeten) Genitivformen der Personalpronomina der 3. Person als possessive Attribute verwendet. Als Genitivformen variieren die Formen nicht mit den flexivischen Spezifikationen der NPs, in denen sie enthalten sind; vgl. [jego/jej/ich książka]N O M . S G leży na stole ‚Sein/IhrS G /IhrP L Buch liegt auf dem Tisch‘ vs. Wziąłem [jego/jej/ich książkę]A K K . S G ‚Ich nahm sein/ihrS G /ihrP L Buch‘ (Laskowski 1972: 96); vgl. dazu den Gebrauch von Genitivformen wie dessen (zu DER / DIE / DAS ) oder wessen (zu WER ) im Deutschen in NPs wie dessen Buch / wessen Buch. Im Falle des Polnischen werden die in (21) angegebenen Possessivformen der 3. Person häufig als (indeklinable) Possessivpronomina ausgewiesen (vgl. z. B. Laskowski 1972: 96), die aber formal mit Genitivformen der Personalpronomina zusammen fielen. Die Morphologie der Formen liefert für diese Verdoppelung keine Grundlage. Die betreffenden Formen sind durch ihre Verwendung in Objektfunktion (in Fällen, in denen der Genitiv gefordert ist) eindeutig als Genitivformen ausgewiesen; die Bezeichnung als ‚Possessivpronomina‘ zielt auf die attributive Verwendung.  







Zu bemerken ist, dass die Nutzung von Genitivformen der Personalpronomina der 3. Person als Possessiva keine Besonderheit des Polnischen darstellt, sondern sich ebenso in anderen slawi 

1096

C Nominalflexion

schen Sprachen wie z. B. dem Russischen findet (Wade 2011: 118 f.) und das normale Muster der älteren indoeuropäischen Sprachen bewahrt; vgl. etwa das Lateinische (mit den adjektivisch flektierenden Possessivpronomina MEUS , 1SG ; TUUS , 2SG ; NOSTER , 1PL ; VESTER , 2PL ), wo als Possessiva der 3. Person die Genitivformen des Anaphorikums/Demonstrativums IS / EA / ID (nämlich eius, eōrum, eārum) verwendet werden (das als Personalpronomen der 3. Person fungiert) (Rubenbauer/Hofmann 1995: 54). Die Ausbildung besonderer Possessivpronomina als spezialisierter (adnominal verwendbarer) Gegenstücke zu Personalpronomina ist – entsprechend der Allgemeinen Nominalhierarchie – bevorzugt im Bereich des Kommunikantenbezugs gegeben und betrifft in den indoeuropäischen Sprachen zunächst die genusindifferenten Personalpronomina, eingeschlossen das Reflexivum; vgl. LAT SUUS (reflexives Possessivpronomen) zum reflexiven Personalpronomen (mit der AKK . SG -Form sē).  







Unter den Vergleichssprachen besitzt nur das Polnische ein reflexives Possessivpronomen (SWÓJ ). Es steht (wie im Lateinischen) formal im gleichen Verhältnis zum reflexiven Personalpronomen (mit dem charakteristischen s-Anlaut) wie die Possessivpronomina der 1. und 2. Person zu den entsprechenden Personalpronomina; flektiert wird das reflexive Possessivpronomen der 3. Person wie die Possessivpronomina der 1. und 2. Person Singular. Im Deutschen ist das s-stämmige Possessivum SEIN nicht auf die reflexive Verwendung festgelegt, jedoch auf den Singular des Non-Femininums beschränkt. (Es konkurriert der Genitiv des Demonstrativums, der seinerseits eine reflexive Lesart ausschließt; vgl. seine Frau / dessen Frau.) Zum Personalpronomen der 3. Person existieren auch im Althochdeutschen außer im Non-Femininum Singular noch keine entsprechenden Possessivpronomina; doch ist auf der Basis der Genitivformen (AHD ira, iro), die hier wie gewöhnlich die Rolle der Possessiva hatten, durch Antritt der regulären Flexionsendungen das Possessivpronomen IHR entwickelt worden, das den von SEIN nicht besetzten Restbereich (den Singular des Femininums und den gesamten Plural) abdeckt (Braune 2004: 245).  







Verglichen werden kann die Herausbildung eines femininen Possessivpronomens im Tschechischen, JEJÍ ‚ihr (F )‘, das der adjektivischen Flexion folgt (Naughton 2005: 89).

Eine ähnliche Verteilung findet sich im Französischen, wo das s-stämmige Possessivum der 3. Person (SON ) auf den Singular des Possessors beschränkt ist, während das PL -Possessor-Pronomen (LEUR ) auf den Genitiv Plural (illōrum) des Pronomens LAT ILLE ‚jener‘ zurückgeht. Im Unterschied zum Deutschen ist aber die Verteilung der Possessiva nicht an das Possessor-Genus gebunden. Das Englische unterscheidet sich vom Deutschen darin, dass keine flektierenden Possessivpronomina der 3. Person ausgebildet worden sind; die jetzigen Formen his (M . SG ) und her (F . SG ) setzen die regulär gebildeten Genitivformen der altenglischen Personalpronomina fort (AE his, hire). Die Form its (N . SG ) ist eine Neubildung; die Form their (PL ) ist (ebenso wie they, them) eine Übernahme aus dem Nordischen (Lass 1992: 120 f.). Auch bei den Possessiva der 1. und 2. Person, die im Altenglischen der adjektivischen Flexion folgen, ist aufgrund des allgemeinen Abbaus der Flexion im Englischen keine Differenzierung nach Kongruenzkategorien (Kategorien des Posses 







C3 Person und Possession

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sums) mehr gegeben. In den Referenzgrammatiken des Englischen wie Quirk et al. (1985: 336) und Huddleston/Pullum (2002: 470 f., „genitive pronouns“) werden die betreffenden Formen als Genitivformen charakterisiert, die aber bei Quirk et al. zugleich auch als ‚Possessivpronomina‘ bezeichnet werden: „The genitive forms of the personal pronouns are, in accordance with grammatical tradition, called POSSESSIVE PRONOUNS .“ (Quirk et al. 1985: 336). Da die betreffenden Formen nur attributiv (und nicht in Objektfunktion) auftreten, können sie synchron als Possessivpronomina betrachtet werden, die nach allgemeinem Muster im Englischen unflektiert bleiben, wenn auch aufgrund der fehlenden Differenzierung nach Kongruenzkategorien eine Einstufung als Genitivformen nicht ausgeschlossen wäre. Gegen die Einstufung als Genitivformen sprechen aus morphologischer Sicht Neubildungen unter Verwendung des allgemeinen Possessivsuffixes des Englischen (-s), das seinerseits kaum als Genitivflexiv angesehen werden kann (→ C3.4.3). Insbesondere liegt bei der Form der 3. Person Singular Neutrum (its, gegenüber älterem his) eine durchsichtige Ableitung von der entsprechenden Form des Personalpronomens (it) vor. Zu vergleichen sind auch die Varianten, die bei selbstständigem Gebrauch verwendet werden (mine, ours, yours, his, hers, theirs). Mit Ausnahme der Form der 1. Person Singular (mine) sind diese Formen durch Antritt des Possessivsuffixes (-s) an die attributiv gebrauchten Formen gebildet, soweit nicht bereits ein sibilantischer Ausgang gegeben war (bei his). Vorhandene Formen, deren Ausdrucksform durch ihren genitivischen Ursprung bestimmt war, wurden durch das Possessivsuffix verstärkt, wo für eine deutliche Kennzeichnung besonderer Bedarf bestand und zugleich eine Anlehnung an die Possessivmarkierung bei Substantiven nahelag, nämlich bei selbstständiger Verwendung; vgl. This is Mary’s / This is hers ‚Das gehört Mary/ihr‘. Die ‚verstärkten‘ Formen sind damit mehrheitlich morphologisch deutlich als Possessivformen (gebildet mit dem allgemeinen Possessivsuffix) ausgewiesen.  





Aus traditioneller Sicht handelt es sich um Fälle von ‚Pleonasmus von Bildungselementen‘ (im Sinne von Paul 1920c: 162), wie Jespersen (1936: 404) formuliert: „The s here is the genitive mark added superfluously.“ Vergleichbare Fälle sind vielfach gegeben, so im Deutschen bei den ‚Langformen‘ der Genitive von DER / DIE / DAS (dessen, deren, derer). Jespersen (ebd.) verweist auf vergleichbare Formen im Dänischen (DÄN deres, entsprechend ENG their(s)). Einen Überblick über Erscheinungen des Affixpleonasmus gibt Gardani (2015). Zur Funktionalität der Formenverstärkung siehe → C6.5.1.

Ein interrogatives Possessivpronomen (mit einem vollständigen Paradigma) besitzt unter den Vergleichssprachen nur das Polnische; POL CZYJ (czyjN O M . S G . M , czyjaN O M . S G . F usw.). Im Deutschen werden Genitivformen des Interrogativums verwendet; DEU wessen (zu WER ), im Ungarischen Dativformen (z. B., kinek ‚wessen‘, DAT von KI ‚wer‘); ENG whose (/huːz/) kann synchron als reguläre Bildung mit dem Possessivsuffix auf der Basis von who (/huː/) betrachtet werden (zur Entwicklung der Lautform siehe  

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C Nominalflexion

Jespersen 1942: 254 f.). Das Französische verwendet Präpositionalkonstruktionen (de qui oder à qui). Wie aus (21) abzulesen ist, erfolgt eine possessorbezogene Genusunterscheidung im Englischen, Deutschen und Polnischen, jeweils beschränkt auf die 3. Person Singular. Im Englischen und Polnischen sind die betreffenden Formen, wie dargelegt, bezüglich der possessumbezogenen Spezifikationen invariabel; im Deutschen handelt es sich um Formen flektierender Possessivpronomina. Hieraus ergibt sich die angesprochene Besonderheit des Deutschen, das Vorliegen doppelter Genuskategorisierung (nach Stammgenus und Flexionsgenus) bei den Possessiva der 3. Person.  





C3.3 Person-Numerus-Flexive C3.3.1 Überblick Die kombinierte Kennzeichnung von Person und Numerus ist typisch für Personalpronomina, aber nicht auf diese beschränkt. Person-Numerus-Kennzeichen erscheinen vielfach auch als Flexive, die sich mit Lexemen verschiedener Wortklassen verbinden. Im Deutschen ist die Nutzung dieser Option auf die Verbflexion beschränkt; dies gilt ebenso für die Kontrastsprachen mit Ausnahme des Ungarischen. Im Ungarischen können Person-Numerus-Flexive (im Folgenden kurz als PN - Suffixe oder vereinfachend als Personalsuffixe bezeichnet) an Formen von Lexemen verschiedener Wortklassen treten. Die Verwendung von PN -Suffixen in der Nominalflexion gehört zu den hervorstechendsten Besonderheiten des Ungarischen im Vergleich zum Deutschen und den übrigen Kontrastsprachen. Zwei Bereiche der PN -Suffigierung, die im Rahmen der Betrachtung der Nominalflexion von besonderem Interesse sind, werden im Folgenden besprochen. Zum einen besitzen ungarische Nomina besondere (PN -suffigierte) Possessivformen; zum anderen werden die Formen der indirekten Kasus der Personalpronomina mithilfe von PN Suffixen gebildet. Die wichtigsten Verwendungstypen der PN -Suffixe zeigt (22) anhand des Suffixes der 1. Person Singular, das hier in den Varianten -om, -am, -em und -m, glossiert als ‚1SG ‘, erscheint. (Zur Variantenbildung der Suffixe im Ungarischen siehe → C3.3.5.)  

(22) a. (Én) lát-om a ház-at. UNG ich seh-1SG DEF Haus-AKK ‚Ich sehe das Haus.‘ b. az (én) ház-am DEF ich Haus-1SG ‚mein Haus‘

C3 Person und Possession

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c. (én-) mellett-em ich neben-- 1SG ‚neben mir‘ d. (én-) benn-em INE - 1SG ich ‚in mir‘ e. eny-é-m ich-- PUM - 1SG ‚meiner/meine/meines‘ PN - Suffixe

treten im Ungarischen (wie im Deutschen und den anderen Kontrastsprachen) an Verben (wie in (22a)), aber auch an Substantive (wie in (22b)) und an Postpositionen (wie in (22c)); sie fungieren zudem als Bestandteile von Kasusformen der Personalpronomina (wie in (22d), hier: der Inessivform des Personalpronomens der 1. Person Singular). In (22e) fungiert ein PN - Suffix als Bestandteil eines Possessivpronomens (→ C3.4.2). Die Beispiele werden im Folgenden weiter erläutert. In NPs -Suffixe treten ohne substantivischen Kopf können PN -Suffixe an Adjektive treten. PN -S ferner auch an Numeralia und Pronomina (Tompa 1968: 52); auch zu Infinitiven werden PN -suffigierte Formen gebildet (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 318). Die transkategoriale, d. h. nicht wortartgebundene Verwendung von Suffixen ist keine Besonderheit des Ungarischen; sie wird als typisches Charakteristikum agglutinierender Sprachen angesehen (Plungian 2001: 674, „transcategorial uses of agglutinative affixes“). Wie Siewierska (1998: 17) in einer breit angelegten vergleichenden Studie feststellt, zeigen zudem in der großen Mehrzahl der Sprachen, die sowohl PN Kennzeichen an Verben als auch an nominalen Lexemen haben, die betreffenden Kennzeichen beider Bereiche mehr oder weniger deutliche Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten, während völlig distinkte Sätze von Flexiven sehr selten sind; solche Übereinstimmungen könnten aus funktionaler Sicht nicht als arbiträr angesehen werden. Im Ungarischen bilden die an Substantiven und anderen non-verbalen Lexemen auftretenden PN - Suffixe eine Teilmenge der an Verben auftretenden PN Flexive.  



Unter den europäischen Sprachen ist besonders das Maltesische zu erwähnen, das Suffixe zur Person-Numerus-Markierung besitzt, die in der Literatur als Kongruenzmarker (Fabri 1993: 173) oder als enklitische Pronomina charakterisiert werden (Borg/Azzopardi-Alexander 1997: 274); sie treten im verbalen und nominalen Bereich und darüber hinaus an Präpositionen auf. Eine vergleichbare Verwendung von Personalsuffixen wie das Ungarische zeigt das Türkische (Göksel/Kerslake 2005: 66 f., „possessive suffixes“; 81–84, „person markers“); entsprechende Suffixe besitzen auch andere Turksprachen (Johanson/Csató (Hg.) 1998).  

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C Nominalflexion

C3.3.2 Kopf- vs. Dependensmarkierung PN - Suffixe

stellen ein Mittel der Kopfmarkierung dar. Sie treten an den Kopf einer Konstruktion und zeigen morphosyntaktische Merkmale eines Dependens dieses Kopfes an. Im Deutschen betrifft dies Verben, an denen die PN -Merkmale eines Komplements (SUBJEKT ) angezeigt werden. Nach der traditionellen Terminologie liegt Kongruenz vor: Der Kopf kongruiert mit dem Dependens bezüglich der PN -Merkmale. PN - Suffixe unterscheiden sich damit im Status grundsätzlich von dependensmarkierenden Flexiven wie den Kasusflexiven der Nominale, die die semantisch-syntaktische Beziehung eines Dependens zum regierenden Kopf anzeigen können (etwa der Nominativ das Vorliegen der Funktion Subjekt). Handelt es sich bei dem Dependens, dessen PN -Merkmale am Kopf angezeigt werden, um ein Personalpronomen, so kann die Setzung des Pronomens redundant und daher entbehrlich sein, wenn die angezeigten PN -Merkmale bereits den semantisch-kategorialen Gehalt des Pronomens vollständig repräsentieren. Dies gilt insbesondere für Personalpronomina in Subjektfunktion. Werden die PN - Merkmale des Subjekts am Verb markiert, so wird ein Personalpronomen in vielen Sprachen nur gesetzt, wenn Kontrast oder Emphase intendiert ist (insbesondere, wenn das Personalpronomen als Akzentträger fungiert). Gegebenenfalls bleibt das Subjekt ohne overte Realisierung (‚pro-drop‘); siehe dazu → B1.5.2.2. Auch im Ungarischen wird das Personalpronomen im Allgemeinen nicht gesetzt, wenn die PN -Merkmale durch ein Kongruenzsuffix am Kopf der Konstruktion angezeigt werden, gleichgültig, ob es sich um ein Verb, ein Substantiv oder ein Lexem anderer Wortart, etwa eine Adposition handelt; in den Beispielen in (22) sind die betreffenden Vorkommen des Personalpronomens ÉN ‚ich‘ daher in Klammern gesetzt. Umgekehrt kann das PN -Suffix erspart werden, wenn ein nicht-pronominales Dependens vorliegt (→ C3.3.4). Je nach dem Typ des Kopfes kennzeichnet das PN -Suffix Merkmale entsprechend unterschiedlicher Dependentien: Subjekt oder Objekt beim Verb, possessives Attribut beim Substantiv oder Komplement einer Adposition. In (22a) bildet das 1SG - Suffix (hier: -om) mit dem Verbstamm lát- ‚sehen‘ eine finite Verbform, die bezüglich Person und Numerus mit dem Subjektpronomen kongruiert. Das Personalsuffix wird in diesem Fall traditionell als Konjugationsendung (verbale Personalendung) charakterisiert (Rounds 2001: 26, „personal ending“). In (22b) tritt das PN - Flexiv an einen Nominalstamm (ház- von HÁZ ‚Haus‘). Das Suffix wird in diesem Fall traditionell als Possessivendung betrachtet (Rounds 2001: 140, „personal possessive ending“) und funktional mit adjektivischen Possessivpronomina etwa im Deutschen verglichen. Die Suffigierung liefert eine besondere Flexionsform des Substantivs (ház-am), eine Possessivform der 1. Person Singular. Der Stamm, an den das Suffix tritt, liefert die lexikalische Charakterisierung des Possessums, das Suffix die PN -Merkmale des Possessors. Wie Tompa (1972: 104) ausdrücklich betont, ist aber „die possessive Personalsuffigierung nur eine – allerdings die charakteristischste – Art der allgemeinen nominalen Personalsuffigierung“.  

C3 Person und Possession

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In (22c) tritt das PN -Suffix an eine Postposition (MELLETT MELL ETT ‚neben‘). Das Muster der Konstruktion entspricht formal grundsätzlich dem von Possessivkonstruktionen wie (22b), doch liegt semantisch keine Possessivbeziehung vor. In vielen Grammatiken werden die PN - Suffixe jedoch, soweit sie nicht an Verben treten, generell als Possessivendungen bezeichnet (Rounds 2001: 156: „Postpositions with possessive suffixes“), eingeschlossen PN -Suffixe als Bestandteile von Kasusformen der Personalpronomina (wie in (22d)) (vgl. ebd.: 124). Diese Terminologie ist allenfalls aus diachroner Perspektive zu rechtfertigen; sie trägt den synchron gegebenen Funktionen der PN -Suffixe nicht angemessen Rechnung.

C3.3.3 Person-Numerus-Flexive in Possessivkonstruktionen Possessivkonstruktionen (→ D3) werden im Ungarischen allgemein unter Verwendung von PN -Flexiven gebildet; das Ungarische besitzt keinen Genitiv und keine attributiven Possessivpronomina. (Zu selbstständigen Possessivpronomina siehe → C3.4.2.) Der Possessorausdruck steht entweder im Nominativ wie in (22b) oder im Dativ wie in (23a). (23) a. a fiú-nak a könyv-e DEF Junge-DAT DEF Buch-3SG UNG ‚dem Jungen sein Buch‘ / ‚das Buch des Jungen‘ b. a fiú könyv-e3S G (dass.) c. az ő3S G könyv-e3S G ‚sein Buch‘ d. a könyv-e3S G (dass.) e. az én1S G könyv-em1S G ‚mein Buch‘ f. a könyv-em1S G (dass.) Die Konstruktion in (23a) kann mit der in der Übersetzung verwendeten (non-standardsprachlichen) Konstruktion des Deutschen mit einem possessiven Dativattribut verglichen werden (Honti 2006). Im Deutschen werden die Possessor-Merkmale durch ein Possessivpronomen wieder aufgenommen, das als kongruierendes Attribut zum Kopfnomen tritt und dessen Stamm die Personal-, Numerus- und Genusmerkmale des Possessors zeigt (hier: 3SG . NONF ). Im ungarischen Gegenstück (23a) erfolgt die Wiederaufnahme wie in (22b) durch ein PN - Suffix am Kopfsubstantiv (hier: -e), das die Person- und Numerusmerkmale des Possessors (hier: 3SG ) anzeigt. Steht die Possessor-NP unmittelbar vor dem (eventuell durch ein Adjektivattribut erweiterten) Kopfsubstantiv, so kann die Kasusmarkierung am Possessorausdruck unterbleiben und die Possessor-NP im Nominativ erscheinen wie in (23b); vgl. im Einzelnen → D1.2.3.3.4. Ebenso werden pronominale Possessorausdrücke behandelt. Wie in (23b) geht in (23c) dem Kopfsubstantiv der Possessorausdruck, hier das Personalpronomen der 3. Person im Nominativ Singular (ő3S G ‚er/sie/es‘), voran und wird durch das 3SG - Suffix wieder aufgenommen; vgl. das deutsche Gegenstück ihm sein  

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C Nominalflexion

Buch (für: ‚sein Buch‘). Das Personalpronomen wird im Ungarischen auch in dieser Konstruktion im Allgemeinen nur gesetzt, wenn Kontrast oder Emphase vorliegt (unter Akzentuierung des Pronomens), und entfällt daher gewöhnlich wie in (23b); entsprechend in (22b). Anders als im Deutschen können im Ungarischen auch Personalpronomina der 1. und 2. Person als vorangestellte possessive Attribute auftreten wie die NOM . SG -Form én ‚ich‘ in (22b) und ebenso in (23e); wiederum entfällt gewöhnlich das Pronomen wie in (23f). Die Verbindung mit PN -Suffixen liefert für die Substantive des Ungarischen jeweils zwölf Possessivformen, die nach Person und Numerus des Possessors (1SG , 2SG , 3SG , 1PL , 2PL , 3PL ) sowie nach dem Numerus des Possessums (SG , PL ) differenziert sind. Die Existenz besonderer Possessivformen der nominalen Lexeme unterscheidet das Ungarische von den übrigen Vergleichssprachen. Alle entsprechenden Formen können als Basis für die Kasusformenbildung dienen, d. h. mit Kasussuffixen verbunden werden. Das Teilparadigma der Possessivformen von KÖNYV ‚Buch‘ mit Possessor und Possessum im Singular zeigt (24); der Artikel und das optionale selbstständige Personalpronomen sind zur Verdeutlichung hinzugesetzt.  



(24) UNG

POSSESSOR

SG P O S S E S S U M

1SG

2SG

3SG

az én könyv-em

a te könyv-ed

az ő könyv-e

‚mein Buch‘

‚dein Buch‘

‚sein/ihr Buch‘

Die PN - Suffixe stellen aus diachroner Sicht ‚agglutinierte‘ Varianten der Personalpronomina dar (Tompa 1968: 178); eine Formähnlichkeit ist auch synchron sichtbar. Das 1SG -Suffix (hier: -em) weist wie das 1SG -Pronomen einen Nasal, das 2SG -Suffix (hier: -ed) weist wie das 2SG -Pronomen einen alveolaren Verschlusslaut auf; das 3SG -Suffix (-e) lautet wie das 3SG -Pronomen auf Vokal (ohne einen charakteristischen Konsonan-Possessorformen werden mit besonderen PL - Personalsuffixen gebildet; ten). Die PL -P vgl. könyv-ünk1P L ‚unser Buch‘, könyv-etek2P L ‚euer Buch‘, könyv-ük3P L ‚ihrP L Buch‘. -Possessumformen) werden mittels PN Formen mit Bezug auf Mehrfachbesitz (PL -P Suffigierung auf der Basis besonderer PL -Stämme hergeleitet, die mit dem PossessumPlural-Suffix (glossiert als PPL ) gebildet werden; vgl. könyv-eiP P L -m1S G ‚meine Bücher‘, könyv-eiP P L -d2S G ‚deine Bücher‘ usw. (Zu den PL - Possessorformen und PL - Possessumformen siehe im Einzelnen → C4.3.5 und → C4.3.6.) Typischerweise erscheinen die PN -Suffixe in Possessivkonstruktionen an Substantiven, doch sind auch andere Träger möglich, wenn die betreffende NP keinen substantivischen Kopf besitzt, etwa ein Adjektiv wie in drágá-m (in der Anrede: ‚Liebling‘, wörtlich: ‚mein Teurer‘ zu DRÁGA ‚teuer‘). Als Possessorausdrücke im Dativ können auch Nicht-Substantive auftreten; vgl. annak a háza ‚dem sein Haus / dessen Haus‘ mit dem Dativ des Demonstrativums AZ (Drewnowska-Vargáné/ Zifonun 2011b: 215).

C3 Person und Possession

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C3.3.4 Person-Numerus-Flexive in Postpositionalkonstruktionen und Kasusformen Das selbstständige Personalpronomen (én ‚ich‘) bildet in (22c) das Komplement der Postposition. Wie in der Possessivkonstruktion werden die PN -Merkmale des Pronomens durch das Suffix aufgenommen: Es besteht Kongruenz bezüglich Person und Numerus zwischen dem Kopf der Konstruktion, der das Suffix trägt, und dem Komplement (dem Personalpronomen). Das Pronomen wird wiederum, sofern nicht Kontrast oder Emphase intendiert ist, wie gewöhnlich im Ungarischen nicht gesetzt; in diesem Fall werden die PN -Merkmale des Komplements allein durch das Suffix (also durch die Kongruenzmarkierung am Kopf der Konstruktion) signalisiert; daher mellett-em1S G ‚neben mir‘ usw. Wird das Personalpronomen hinzugesetzt, so wird die Verbindung aus Pronomen und Adposition orthographisch als Wortform behandelt, d. h. zusammengeschrieben; daher énmellettem1S G ‚neben mir‘ usw. Es erfolgt jedoch keine vokalharmonische ALAT T ‚unter‘. Wenn Anpassung der Postposition; vgl. (ő3S G -)alatt-a3S G ‚unter ihm‘ zu ALATT das Komplement der Postposition ein Substantiv bzw. eine Substantivphrase ist (wie etwa in a ház mellett ‚neben dem Haus‘) erscheint das PN - Suffix nicht. Insgesamt MELL ETT daher sieben Formen, sechs PN - markierte Formen, besitzt eine Adposition wie MELLETT die verwendet werden, wenn das Komplement ein (im Allgemeinen nicht gesetztes) Personalpronomen ist und eine unmarkierte Form, die verwendet wird, wenn ein nonpronominales Komplement vorliegt; vgl. (25).  

‚neben mir‘ ‚neben dir‘ ‚neben ihm‘ ‚neben uns‘ ‚neben euch‘ ‚neben ihnen‘ ‚neben dem Haus‘

(25) a. (én-) mellett-em1S G UNG b. (te-) mellett-ed2S G c. (ő-) mellett-e3S G d. (mi-) mellett-ünk1P L e. (ti-) mellett-etek2P L f. (ő-) mellett-ük3P L g. a ház mellett

Zur fehlenden Pluralmarkierung am Personalpronomen (ő) in der 3PL -Konstruktion wie in (25f) siehe → C4.3.7.

Die PN -Suffixe an der Postposition zeigen die Merkmale des Komplements, wie die PN Suffixe in der Possessivkonstruktion die Merkmale des Attributs zeigen. Ein wichtiger Unterschied zwischen den beiden Konstruktionen liegt aber darin, dass in der Possessivkonstruktion auch beim Vorhandensein eines nicht-pronominalen possessiven Attributs ein PN -Suffix (der 3. Person) steht wie in (23a, b), während bei Adpositionen kein PN - Suffix verwendet wird, wenn ein nicht-pronominales Komplement vorhanden ist wie in (25g). Der Grund für das unterschiedliche Verfahren liegt auf der Hand: In einer Possessivkonstruktion dient das PN - Suffix nicht nur zur Kennzeichnung der Merkmale des  

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C Nominalflexion

Possessors, sondern weist das Kopfsubstantiv überhaupt erst als Possessivform aus und macht die Possessivkonstruktion als solche deutlich erkennbar, indem am Kopf der Konstruktion das Vorhandensein eines possessiven Attributs angezeigt wird. Der Kopf der Adpositionalphrase ist dagegen lexikalisch durch die Wortartzugehörigkeit als Adposition ausgewiesen; das bloße Vorhandensein eines Komplements ist nicht anzeigebedürftig, weil die Adposition als solche ein Komplement fordert (während Substantive possessive Attribute nehmen können, aber nicht fordern). Das Fehlen einer PN -Markierung am Substantiv weist die Substantivform als Non-Possessivform aus; das Fehlen einer PN -Markierung an der Postposition lässt deren Status dagegen unberührt. Dem entspricht, dass das PN -Suffix bei NP-Komplementen, wo es immer funktionslos wäre, im heutigen Ungarisch tatsächlich fehlt. Bedarf für die PN -Markierung könnte aber gegeben sein, wenn das nominale Komplement einer Adposition aus der Position unmittelbar vor der Adposition weggerückt wäre. Nach É. Kiss (2002) würde das Suffix in diesem Fall gesetzt. PN -Suffixe

können ferner als Bestandteile von Kasusformen auftreten wie in (22d). Die Kasusformen der Personalpronomina haben in den indirekten Kasus im Ungarischen die Form von Adpositionalphrasen (vgl. É. Kiss 2002). Wir zeigen dies anhand der Aufstellung von Formen des Kasus Inessiv in (26), einem Lokalkasus, der semantisch als Gegenstück zur deutschen Präposition IN angesehen werden kann.

(26) a. (én-) benn-em1S G UNG b. (te-) benn-ed2S G c. (ő-) benn-e3S G d. (mi-) benn-ünk1P L e. (ti-) benn-etek2P L f. (ő-) benn-ük3P L g. a ház-ban

‚in mir‘ ‚in dir‘ ‚in ihm‘ ‚in uns‘ ‚in euch‘ ‚in ihnen‘ ‚in dem Haus‘

Wie die Gegenüberstellung von (25) und (26) veranschaulicht, stimmt der Bau der Formen der indirekten Kasus der Personalpronomina (hier der Inessivformen) mit dem der PN - suffigierten Adpositionen mit optionalem pronominalen Komplement völlig überein; vgl. (25a–f) mit (26a–f). So wird die Inessivform des Personalpronomens der 1. Person Singular (bennem ‚in mir‘) mit dem Inessivkennzeichen benn durch Anfügung des 1SG -Suffixes gebildet (wie mellettem ‚neben mir‘); das 1SG - Personalpronomen kann wiederum vorangestellt werden (énbennem wie énmellettem). Der Bau der Formen der indirekten Kasus der Substantive folgt dem Muster der Adpositionalphrasen mit einem substantivischen Komplement; vgl. (25g) mit (26g). Wie bei den Adpositionalphrasen tritt in diesem Fall kein PN -Suffix auf. Das „Rollenkennzeichen“ (Postposition bzw. Kasussuffix) folgt unmittelbar auf den Kopf der NP, deren Rolle markiert wird. Im Vergleich zur Adpositionalkonstruktion ist bei den Kasusformen wie könyvben, Inessiv zu KÖNYV ‚Buch‘, der Grad der Fusion der Bestand 

C3 Person und Possession

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teile erhöht. In der Adpositionalkonstruktion hat das Rollenkennzeichen den Status einer Wortform, in der Kasusformenbildung den Status eines Suffixes. Der unterschiedliche Status macht sich auf verschiedene Weise bemerkbar. Insbesondere unterliegen die Kasusflexive als Suffixe im Ungarischen in der Regel der Vokalharmonie; vgl. ház-ban (mit Suffixvariante auf hinteren Vokal) mit könyv-ben, INESSIV von KÖNYV ‚Buch‘, mit Suffixvariante auf vorderen Vokal. Die Varianten benn und -ban unterscheiden sich zudem im Konsonantismus, wie die Orthographie anzeigt. (Zu den Lokalkasusformen des Ungarischen und zur Unterscheidung von Kasusflexiven und Adpositionen siehe → B2.4.3.3.3.) Postpositionen verlangen (anders als Substantive) immer einen offenen Initialvokal (es sind ‚Öffner-Stämme‘), wo vokalharmonisch ein im Übrigen nicht weiter spezifizierter hinterer Vokal gefordert ist (siehe → C3.3.5). Vgl. alól-am1S G ‚von unter mir‘; dagegen város-om1S G ‚meine Stadt‘ (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 237).

Bezüglich der relativen Stellung von Postpositionen und PN -Suffixen ist zu beachten, dass es sich beim Komplement einer Postposition um eine Possessivkonstruktion handeln kann (wie a könyv-e3S G ‚sein Buch‘ oder a fiú könyv-e3S G ‚das Buch des Jungen‘), die ihrerseits ein PN -Suffix aufweisen wird. In diesem Fall geht in der Postpositionalkonstruktion der Postposition ein PN - Suffix voran. Dieses Suffix zeigt nicht die Merkmale des Komplements der Postposition, sondern die Merkmale des eingebetteten Possessors an; vgl. (27a). (27) a. a fiú könyv-e3S G mellett UNG b. a fiú könyv-é3S G -ben

‚neben dem Buch des Jungen‘ ‚in dem Buch des Jungen‘

Die Postposition nimmt dabei kein PN -Suffix an, da das Komplement kein Pronomen, sondern eine volle Nominalphrase ist. Entsprechendes gilt für die Kasusformenbildung. Wie Postpositionen Possessivkonstruktionen als Komplemente nehmen können, treten Kasusflexive an Possessivformen von Substantiven, deren PN - Suffix die Merkmale des Possessors anzeigt; vgl. (27b) oder a könyv-é-ben ‚in seinem Buch‘, ohne overte Possessorphrase. Einem Kasuskennzeichen kann daher innerhalb einer Wortform ein PN - Suffix vorangehen (wie in (27b)) oder folgen (wie in (26a–f)). In jedem Fall verweist das PN -Suffix auf die Merkmale eines (gegebenenfalls unausgedrückten) Dependens des Kopfes, an den es tritt. Nach genereller Regel bewirkt das Antreten eines Suffixes, hier des Kasussuffixes, Dehnung des vorausgehenden auslautenden Vokals e, daher -é3S G in (27b) mit Kennzeichnung der Vokallänge durch den Akzent (→ C3.3.5). Auch das Eintreten von Dehnung belegt für diesen Fall den Suffixstatus des Kasuskennzeichens.

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C Nominalflexion

C3.3.5 Ausdrucksformen der Flexive (Ungarisch) Flexionssuffixe erscheinen im Ungarischen in verschiedenen Varianten, deren Wahl durch die Stämme, an die sie treten, bestimmt wird, also insbesondere durch die Substantivstämme. Wir stellen die wichtigsten Faktoren, die die Variantenbildung bestimmen, anhand der Person-Numerus-Flexive dar; vgl. auch → C4.2.2 zur Variantenbildung beim Pluralflexiv. Das Ungarische gehört (wie viele uralische Sprachen und andere Sprachen Eurasiens) zu den Sprachen, deren Flexionssystem durch Vokalharmonie geprägt ist, eine Angleichung der Suffixvokale an den Vokalismus der Stämme; zur Phonologie des Ungarischen siehe Siptár/Törkenczy (2000). Die Vokalharmonie erstreckt sich auf Einzelstämme und ihre Suffixe (ebd.: 63–66, 157–170), nicht auf Komposita, und überschreitet nicht die Wortgrenze. Es werden hintere (velare) Vokale (orthographisch: 〈u〉, 〈ú〉, 〈o〉, 〈ó〉, 〈a〉, 〈á〉, mit Akzent zur Bezeichnung von Vokallänge) und vordere (palatale) Vokale unterschieden, die entweder ungerundet (〈i〉, 〈í〉, 〈e〉, 〈é〉) oder gerundet (〈ü〉, 〈ű〉, 〈ö〉, 〈ő〉) sind. In den Formen nadrág-om ‚meine Hose‘, szék-em ‚mein Stuhl‘ und ismerős-öm ‚mein Bekannter‘ (Rounds 2001: 145) erscheint das Suffix der 1. Person Singular in drei Varianten, die einen hinteren Vokal (-om), einen vorderen ungerundeten Vokal (-em) und einen vorderen gerundeten Vokal (-öm) aufweisen. Die Vokale der Suffixe ‚harmonieren‘ mit denjenigen der Stämme, d. h., sie stimmen bezüglich der Merkmale vorn/hinten und gerundet/ungerundet mit dem Stammvokal überein; die Wahl der Suffixvariante richtet sich nach dem Vokalismus des Stamms. Nicht alle Suffixe, die der Vokalharmonie unterliegen, zeigen Anpassung bezüglich Rundung. In den Formen nadrág-unk ‚unsere Hose‘, szék-ünk ‚unser Stuhl‘ und ismerős-ünk ‚unser Bekannter‘ erscheint das Suffix der 1. Person Plural in zwei Varianten, -unk auf hinteren Vokal bei Stämmen auf hinteren Vokal und ‑ünk bei Stämmen auf vorderen (ungerundeten oder gerundeten) Vokal. Ferner unterliegen nicht alle Suffixe der Vokalharmonie; Beispiele für Suffixe ohne vokalharmonische Varianten liefert die Kasusformenbildung mit dem Terminativsuffix ‑ig ‚bis‘ und dem Suffix des Essivs ‑ként ‚als‘. Außer dem dreigliedrigen Vokalwechsel o ~ ö ~ e und dem zweigliedrigen Wechsel u ~ ü finden sich weitere zweigliedrige Wechsel zwischen hinteren und vorderen Vokalen, nämlich a ~ e sowie ú ~ ű, ó ~ ő und á ~ é. Eine Notation für Suffixe, die von den vokalharmonischen Wechseln abstrahiert, kann gegeben werden, indem jeweils der an einem Wechsel beteiligte hintere Vokal genannt und zur Kennzeichnung der Variabilität in Großbuchstaben gesetzt wird; vgl. Stiebels/Wunderlich (1999: 259). Danach kann das Suffix der 1. Person Plural als ‚‑Unk‘ notiert werden; die Notation zeigt an, dass das Suffix Varianten besitzt, die den Wechsel u ~ ü realisieren. Die Suffixwahl wird durch die Regularität der Vokalharmonie wie folgt bestimmt (Törkenczy 2002: 13): Stämme, die nur hintere Vokale enthalten, verlangen Suffixvarianten auf hinteren Vokal; Stämme, die nur vordere Vokale enthalten, verlangen Suffix 







C3 Person und Possession

1107

varianten auf vorderen Vokal. Eine Ausnahmegruppe bilden Stämme auf í oder i, seltener é, die gegen die Regel Suffixvarianten auf hinteren Vokal nehmen (wie im Fall von SÍR ‚Grab‘). Auch Stämme, die sowohl hintere als auch vordere Vokal enthalten (‚gemischte Stämme‘) verlangen in der Regel Suffixvarianten auf hinteren Vokal (wie im Fall von PAPÍR ‚Papier‘ oder VILÁG ‚Welt‘), doch existieren auch gemischte Stämme mit e in letzter Silbe, die vordere Suffixvarianten nehmen. Suffixe mit dem Wechsel o ~ ö ~ e zeigen die Variante auf ö, wenn der Stamm in letzter Silbe einen gerundeten vorderen Vokal enthält. Zu den für gemischte Stämme geltenden komplexen Regeln der Suffixvariantenwahl siehe im Einzelnen Siptár/Törkenczy (2000: 69–73 et passim). Die Variantenbildung bei den Suffixen ist nicht auf die vokalharmonische Anpassung beschränkt. Das Suffix der 1. Person Singular zeigt in der Regel den Wechsel o ~ ö ~ e (wie in den gegebenen Beispielen), jedoch bei einer besonderen Gruppe von Stämmen von Substantiven, bei mit Flexionssuffixen abgeleiteten Stämmen und meist bei Adjektiven den Wechsel a ~ e. Nach dem für den Wechsel charakteristischen offenen hinteren Vokal (a) werden Stämme, die den Wechsel a ~ e bei Suffixen verlangen, die im Übrigen den Wechsel o ~ ö ~ e zeigen, als ‚Öffner-Stämme‘ (Forgács 2004: 53) (auch „lowering stems“, Siptár/Törkenczy 2000: 41) bezeichnet; die Variante -am des Suffixes der 1. Person Singular bei einem Öffner-Stamm zeigt ház-am ‚mein Haus‘. Wo ein Suffix sowohl Varianten auf o ~ ö ~ e als auch Varianten auf a ~ e zulässt, notieren wir den betreffenden Vokal als ‚V‘; das Suffix der 1. Person Singular kann danach als ‚‑Vm‘ notiert werden. Die Unterscheidung zwischen Stämmen, die auf Vokal ausgehen, und Stämmen, die auf Konsonanten ausgehen, liefert die Grundlage für eine weitere Variantenbildung: Suffixe wie ‑Vm verlieren in aller Regel ihren Initialvokal, wenn sie an vokalisch auslautende Stämme treten, wie in autó-m ‚mein Auto‘ (mit der Suffixvariante ‑m). (Auch hier existieren Ausnahmen, also vokalisch auslautende Stämme, bei denen der Initialvokal des Suffixes nicht ausfällt.) Wir erfassen diese Variantenbildung, indem wir bei der Notation von Suffixen, die einen solchen Wechsel zwischen vokalischen und non-vokalischen Varianten zeigen, den instabilen Initialvokal des Suffixes in Klammern setzen. Das Suffix der 1. Person Singular kann unter Berücksichtigung aller Varianten danach als ‚‑(V)m‘ notiert werden.  







Im Fall von vokalisch auslautenden Stämmen auf a oder e, wird der finale Vokale bei Antritt eines Flexionssuffixes gedehnt; vgl. kutyá-m ‚mein Hund‘ zu KUTYA ‚Hund‘.

Auch beim 2SG - Suffix -(V)d und beim 2PL -Suffix -(V)tOk ist der Initialvokal zugleich instabil und variabel; in ‚-(V)tOk‘ zeigt ‚O‘, gemäß der getroffenen Festlegung, den Wechsel o ~ ö ~ e an. Damit ist erfasst, dass das Suffix -(V)tOk gerade die Varianten -etek/-ötök/-otok sowie -atok und ferner -tek/-tök/-tok aufweist. Das 3SG - Suffix wird nach konsonantfinalem Stamm im einfachsten Fall allein von einem variablen Vokal (mit dem Wechsel a ~ e) gebildet (wie in könyv-e3S G ‚sein Buch‘), so dass das Suffix als ‚-(A)‘ angesetzt werden kann. Nach der allgemeinen Regel über den Ausfall instabiler suffixinitialer Vokale bei Antritt an vokalfinale

1108

C Nominalflexion

Stämme würde dieses Suffix nach vokalfinalen Stämmen wie hajó (zu HAJÓ ‚Schiff‘) ohne overte Realisierung bleiben. Daher würde im Falle von Substantiven wie HAJÓ die sich ergebende 3SG - Possessivform von einer entsprechenden nicht possessivmarkierten Form (hajó, NOM . SG , non-possessiv) nicht zu unterscheiden sein. Dem Ausfall des Suffixvokals steht hier die funktionale Notwendigkeit der deutlichen Kennzeichnung von Possessivformen entgegen. Tatsächlich wird der Suffixvokal bewahrt; zugleich wird der sich ergebende Hiatus durch einen ‚Hiatustilger‘ beseitigt. In der Position nach der Stammgrenze bzw. vor der Endung erscheint als hiatusfüllendes Element (Szent-Iványi 1995: 37) ein epenthetischer Konsonant, hier: j; die 3SG Form von HAJÓ (bei singularischem Possessum) lautet daher hajó-ja3S G ‚sein Schiff‘. Die Konsonantenepenthese „rettet“ den instabilen Vokal und damit das Suffix und sichert, dass die betreffenden suffigierten Formen als possessivmarkierte Formen kenntlich sind (Olsson 1992: 110). Die vergleichbare Konstellation im Türkischen beschreibt Jansky (1973: 20) wie folgt: „Wenn das Wort, an das das Suffix antreten soll, auf einen Vokal auslautet, kann hier nicht der Anlautvokal des Suffixes weggelassen werden, da das Suffix der 3. Person sing. ja nur aus diesem einzigen Vokal besteht, sondern es muss vielmehr ein Hiatustilger eingeschoben werden.“  

Der Terminus ‚j-Epenthese‘ (Olsson 1992: 119–113, „j-insertion“) wird hier informell zur Beschreibung der Verteilung j-haltiger Varianten der Personalsuffixe verwendet. Keresztes (1999: 72) verwendet die Bezeichnung „präjotierte Variante“. Zu phonologischen Prozessen der Hiatusvermeidung im Ungarischen siehe Siptár/Törkenczy (2000) und (aus typologisch-vergleichender Perspektive) Siptár (2007).

Entsprechendes gilt für 3PL -Possessivformen. Das 3PL -Suffix kann als ‚-(U)k‘ repräsentiert werden. Im Falle von KÖNYV (mit konsonantfinalem Stamm) ergibt sich die Variante -ük (könyv-ük3P L ). Bei Ausfall des Initialvokals des Suffixes nach vokalfinalem Stamm würde bei einem Substantiv wie HAJÓ die 3PL -Possessivform mit der nicht possessivmarkierten Pluralform (hajók, NOM . PL , non-possessiv) zusammenfallen. Wiederum bleibt der Suffixvokal erhalten und zugleich tritt Konsonantenepenthese ein; die 3PL -Possessivform (bei singularischem Possessum) lautet daher hajó-juk ‚ihrP L Schiff‘. Die PN -Suffixe und ihre Varianten können insgesamt wie in (28) angegeben werden (vgl. Károly 1972: 127; Törkenczy 2002: 21–23). (28) UNG

1SG

1PL

-(V)m -(U)nk -m -om -em -öm -am

-nk -unk -ünk

2SG -(V)d -d -od -ed -öd -ad

2PL

3SG

-( U)k

– -a -e -ja -je

-k -uk -ük -juk -jük

-(V)tOk -( A) -tok -tek -tök -etek -ötök -otok -atok

3PL

(j)

(j)

C3 Person und Possession

1109

In der 3SG -Spalte steht ‚-‘ für Fälle des Leerlaufens der Suffigierung; in der angeführten Literatur wird die Notation ‚Ø‘ verwendet. Ein Null-Suffix muss jedoch nicht angenommen werden; vgl. dazu die Erörterung zu den ‚endungslosen Pluralformen‘ des Deutschen (→ C4.2.5.1). Leerlaufen der Suffigierung ergibt sich bei vokalischem Stammausgang, wenn keine j-Epenthese eintritt. Dies ist der Fall bei der Verwendung von PN - Suffixen in der Position nach dem Possessum-PluralSuffix (PPL ) (→ C4.3.6); vgl. hajói ‚seine Schiffe‘ (< hajó-iP P L + -(A)/3SG ). Der instabile Initialvokal des 3SG - Suffixes entfällt hier in der Position nach Vokal; eine overte Person-Kennzeichnung fehlt daher. Wegen des Auftretens des PPL -Suffixes bleibt aber auch eine Form wie hajói (trotz des Fehlens des PN -Suffixes) als Possessivform kenntlich.

Typischerweise kann j-Epenthese bei PN - Suffixen fehlen, wenn ein gegebenenfalls eintretender Verlust des Suffixes aus funktionaler Sicht „unschädlich“ ist. Dies gilt insbesondere für Postpositionen. Bei auf Vokal auslautenden Postpositionen (Postposition des Wohin? auf é oder á) (→ B2.4.3.3.3), die bei leerem oder pronominalem Komplement mit PN - Suffixen verbunden werden, kann das 3SG -Suffix (das Suffix der unmarkierten Person-Numerus-Spezifikation) stehen oder fehlen (Tompa 1968: 185; Rounds 2001: 158). Zu ELÉ ‚vor+AKK ‘ lautet die 3SG -Form elé-je ‚vor ihn‘ (in voller Variante mit j-Epenthese) oder elé (dass.) (< elé + -(A)/3SG , mit Ausfall des Initialvokals und daher Verlust des Suffixes bei fehlender j-Epenthese); ebenso gehen FELÉ ‚in + AKK ‘, MELLÉ ‚neben Richtung auf‘, FÖLÉ ‚über+AKK ‘, ALÁ ‚unter+AKK ‘, MÖGÉ ‚hinter+ +AKK ‘, KÖZÉ ‚zwischen+AKK ‘, KÖRÉ ‚um herum‘. Die 3PL -Formen zeigen dagegen immer j-Epenthese: elé-jük ‚vor sie (PL )‘ usw. Bei konsonantischem Ausgang der Postposition kann das Suffix (bei einem pronominalen oder leeren Komplement) nicht fehlen (vgl. (25c) zu mellett-e); das Leerlaufen der Suffigierung nach stammfinalem Vokal muss daher von der Nicht-Verwendung des PN - Suffixes (wie in (25g)) unterschieden werden. Auch bei Kasusformen des Personalpronomens der dritten Person Singular besteht Variation zwischen Formen mit Ausfall des PN - Suffixes und vollen Formen mit j-Epenthese nach vorangehendem Vokal, etwa bei den Allativformen; vgl. hozzá neben (stilistisch markiertem) hozzája.

Die Anwendung der mit j erweiterten Suffixvarianten ist im Ungarischen schrittweise in einem bis heute anhaltenden Prozess auch auf konsonantfinale Stämme ausgedehnt worden (Simonyi 1907: 223); betroffen sind besonders Substantive mit auf Plosiv auslautendem Stamm wie z. B. ZSÁK ‚Sack‘ mit den Possessivformen zsák-ja3S G und zsák-juk3P L . In der Folge haben sich vielfältige Schwankungsfälle und im Einzelnen nicht durch einfache Regeln zu erfassende Verteilungen ergeben. Eine detaillierte Erörterung verschiedener konkurrierender (teilweise gegenläufiger) Faktoren, die die Verteilung von j-haltigen und j-losen Varianten steuern, geben Kiefer (1985), Ritter (2002) und Rácz/Rebrus (2012). Aus sprachvergleichender Sicht sind zwei an der ungarischen PN -Suffigierung zu machende Beobachtungen von besonderem Interesse. Zum einen ist festzustellen, dass die j-haltigen Suffixvarianten, die zu einer besseren Transparenz des Wortformenbaus beitragen, vor allem bei Stämmen bevorzugt verwendet werden, die aus  

1110

C Nominalflexion

dem einen oder anderen Grunde eher der Peripherie der ungarischen Nominalflexion zuzurechnen sind, insbesondere bei jüngeren (oder phonotaktisch auffälligen) FUT BALL ‚Fußball‘, futball-ja, MODELL ‚MoFremdwörtern wie RADAR ‚Radar‘, radar-ja, FUTBALL dell‘, modell-je, KOSZTÜM ‚Kostüm‘,, kosztüm-je usw., ungewöhnlichen Eigennamen und bei flektierten Nicht-Substantiven. Die letztere Gruppe umfasst Adjektive, z. B. KÉK ‚blau‘, kék-je, KÖVÉR ‚dick‘, kövér-je, und einige Pronomina und Numeralia. (Siehe im Einzelnen Kiefer (1985: 106, „If a nonnoun is used as a noun, it receives the suffix -ja/-je.“); vgl. auch Tompa (1968: 182) und Forgács (2004: 184 f.).) Die Kriterien, die diese Gruppe abgrenzen, ähneln somit denen, die den Anwendungsbereich des s-Plurals im Deutschen bestimmen, für dessen Anwendung ebenfalls eine Bevorzugung morphotaktisch transparenter Bildungen im peripheren Wortschatz geltend gemacht werden kann (→ C4.2.5.2). Zum anderen belegt die PN -Suffigierung der 3. Person die übereinzelsprachlich gegebene Option, von allgemeinen Mustern abweichende oder ceteris paribus dispräferierte Gestaltungen von Flexiven zuzulassen, wo andernfalls Verlust oder Undeutlichwerden der Markierungsleistung droht. Die Bewahrung andernfalls ausfallender initialer Suffixvokale bei drohendem Schwinden des Suffixes findet sich außer im Ungarischen in den Vergleichssprachen u. a. in der Pluralbildung des Englischen und in der Kasusflexion des Deutschen (Genitivmarkierung), jeweils beim Antritt eines sibilantischen Flexivs an sibilantisch auslautende Stämme. Beispiele für umgekehrte Konstellationen mit (im Allgemeinen unschädlichem) Verlust der Markierung bieten dagegen die Pluralbildung des Französischen und die Pluralbildung des Deutschen (bei fehlender lautlicher Realisierung des Pluralsuffixes). Verglichen werden kann insbesondere die Möglichkeit des Leerlaufens der Suffigierung bei Suffixen, die nur aus einem instabilen Initialvokal bestehen, wie dem 3SG -PN -Suffix des Ungarischen und dem non-konsonantischen Pluralsuffix -(e) des Deutschen.  







C3.4 (Un-)Selbstständige Possessiva C3.4.1 Differenzierung adnominaler und selbstständiger Possessiva Die formale, insbesondere flexivische Unterscheidung zwischen unselbstständig und selbstständig gebrauchten Possessiva (vgl. Das ist mein Hut vs. Das ist meiner) ist in den Vergleichssprachen unterschiedlich ausgeprägt (siehe dazu im Überblick → B1.5.4.6). Die Unterschiede korrelieren mit dem unterschiedlichen Bau der Flexionssysteme der Einzelsprachen. In den Vergleichssprachen mit ausgebauter fusionierender Flexionsmorphologie (Polnisch, Deutsch) existiert keine oder nur eine minimale formale Differenzierung zwischen adnominaler und selbstständiger Verwendung. In den Vergleichssprachen mit geringer ausgebauter Flexionsmorphologie (Englisch,  

C3 Person und Possession

1111

Französisch) ist bei den Possessiva eine Spaltung in adnominale und selbstständig gebrauchte Formen eingetreten. Im Ungarischen fungieren als selbstständige Possessivpronomina lexikalisierte Formen, die die Struktur von Possessivkonstruktionen haben. Einen Überblick über die besonderen selbstständigen Possessiva der Vergleichssprachen gibt (29). (29)

1 SG

1 PL

2 SG

3 PL

3SG

3PL

FRA

MIEN

NÔTRE NÔT RE

TIEN

VÔTRE

SIEN

LEUR

ENG

MINE

OURS

UNG

ENYÉM

MIENK

YOURS T IED IE D

HIS M T IE TE TEK K

ITS N ÖVÉ

HERS F

T HE IRS THEIRS ÖVÉK

Im Polnischen findet keine flexivische Differenzierung der beiden Verwendungsarten statt; vgl. To jest mój zeszyt ‚Das ist mein (Schreib-)Heft‘ mit On jest mój ‚Es/Das ist meins‘ (Swan 2002: 169 f.). In der 3. Person des Possessors, wo in (nicht-reflexiver) Verwendung die Genitivformen der Personalpronomina (jego, 3SG . NONF ; jej, 3SG . F ; ich, 3PL ) in possessiver Funktion auftreten wie in To jest jegoG E N zeszyt ‚Das ist sein Heft‘, wird aber alleinstehender prädikativer Gebrauch der Genitivformen im Allgemeinen vermieden (ebd.); statt: Ten zeszyt jest jego ‚Das Heft ist seins‘ eher: Ten zeszyt należy do niego ‚Das Heft gehört ihm‘. Im Deutschen werden die Possessivpronomina in determinativer Verwendung wie der indefinite Artikel flektiert (EIN ) (→ C6.5.2). Das schließt ein, dass bei unselbstständigem Gebrauch die Differenzierung von Maskulinum und Neutrum im Nominativ Singular fehlt. Im Nominativ Singular des Maskulinums und des Neutrums und im Akkusativ Singular Neutrum treten abweichend vom allgemeinen Muster der pronominalen Flexion endungslose Formen auf. Diese reduzierte Formendifferenzierung gilt jedoch (wie auch im Falle des indefiniten Artikels) dann nicht, wenn die Possessiva alleinstehend gebraucht werden und somit weder ein Kopfsubstantiv gegeben ist, das die Genusunterscheidung liefern würde, noch ein anderes Dependens, das Kongruenzflexion zeigen würde. In diesem Fall folgen die Possessiva (und ebenso EIN und KEIN ) dem regelmäßigen Muster der pronominalen Flexion, die die Genusdifferenzierung im Nominativ gewährleistet; vgl. (30a) mit (30b).  

(30)



a. Das ist [mein Hut]N O M . S G . M / [mein Heft]N O M . S G . N . b. Das ist [meiner]N O M . S G . M / [meines]N O M . S G . N .

In Verbindung mit einem Determinativ werden die Possessiva wie Adjektive flektiert (der meine); ebenso in abgeleiteter Variante: der meinige. Im Französischen stehen den gewöhnlichen adnominalen Possessiva (mon, ton, son usw.) besondere, in aller Regel nicht adnominal gebrauchte und dann immer mit dem definiten Artikel verbundene Formen gegenüber (le mien, la mienne, le sien usw.);

1112

C Nominalflexion

die Formendifferenzierung geht auf die Unterscheidung von unbetonten und betonten Formen zurück. Vgl. (31) (Riegel/Pellat/Rioul 2014: 374). (31)

Ma voiture est plus vieille que la tienne. ‚Mein Auto ist älter als deines/das deine.‘ Derartige feste Verbindungen aus definitem Artikel und adjektivischem Possessivum werden in der Grammatikschreibung des Französischen traditionell als Possessivpronomina („pronoms possessifs“) (Grevisse/Goosse 2011: 925) bezeichnet – im Unterschied zu den adnominal verwendeten „adjectifs possessifs“ bzw. „déterminants possessifs“ (ebd.: 821).

Die Differenzierung nach Possessor-Merkmalen (Person und Numerus) entspricht derjenigen bei den attributiven Possessiva. Die weitere Formendifferenzierung (nach den Genus- und Numerusspezifikationen für das Possessum) ergibt sich aus der Kombinatorik von Artikel- und Adjektivflexion; das vollständige Paradigma zeigt (66) in → C4.3.5. Die Unterscheidung einfacher adnominaler Possessiva und selbstständiger Possessiva fügt sich in das für die französischen Pronomina charakteristische Muster ein, bei dem einfachen adnominalen Pronomina komplexe (oder aus komplexen Verbindungen verschmolzene) Gegenstücke gegenüberstehen wie bei CE / CELUI oder CHAQUE / CHACUN . Solche bei selbstständigem Gebrauch verwendeten komplexen Formen gewährleisten die overte Markierung der Flexionsmerkmale der NP auch in den Fällen, in denen entsprechende Unterscheidungen beim adnominalen Pronomen fehlen wie etwa die Genusdifferenzierung bei chaque gegenüber chacun/chacune (NONF / F ).

Auch im Englischen werden bei selbstständigem Gebrauch der Possessiva besondere verstärkte Formen (mine, ours, …) verwendet (Quirk et al. 1985: 361, ‚strong vs. weak forms‘). Die Differenzierung nach Possessormerkmalen (Person und Numerus) entspricht derjenigen bei den unselbstständigen Possessiva. Bei den 1SG - Formen ist eine frühere Unterscheidung von prävokalisch gebrauchter Variante und sonst gebrauchter Variante, wie sie im Gegenwartsenglischen beim indefiniten und beim definiten Artikel besteht (vor V: an /ən/ bzw. the /ði/; sonst a /ə/ bzw. the /ðə/), als Unterscheidung von selbstständiger Variante (mine /maɪn/) und unselbstständiger Variante (my /maɪ/) fortgeführt worden (Jespersen 1936: 399–403). Zu den einfachen Formen auf -r (our, your, her, their) existieren mit dem Possessivsuffix -s verstärkte Varianten. Wo schon die einfache Form auf s ausgeht (his, its), fehlt die Differenzierung. Im Ungarischen werden als selbstständige Possessiva komplexe lexikalisierte Formen verwendet, die die Struktur von Possessivkonstruktionen haben; sie werden in den Grammatiken als (nicht attributiv verwendbare) Possessivpronomina bezeichnet (Tompa 1968: 63). Wie im Französischen wird den betreffenden Formen immer der definite Artikel vorangestellt (Rounds 2001: 129); vgl. a tied ‚der/die/das deine‘ in Ez a tied? ‚Dieses [ist] das deine?‘/‚Ist das deins?‘. Die Grundformen (NOM . SG -Formen) wie z. B. enyém ‚meiner‘ stellen Verbindungen aus Formen (oder Formvarianten) der Personalpronomina (hier: én ‚ich‘), dem sogenannten Besitzzeichen (Possessum 

C3 Person und Possession

1113

suffix) -é und Personalsuffixen (hier: -(V)m/1SG ) dar (Honti 1997: 88 f.). Auf eine morphologische Analyse wird häufig verzichtet oder es wird angenommen, dass diese Formen „nicht segmentiert werden [können]“ (Keszler/Lengyel 2008: 62). Ein Vergleich mit den sonstigen Possessivkonstruktionen macht aber deutlich, dass sich die Formen der Possessivpronomina aus bekannten Bestandteilen zusammensetzen und dass die Struktur der Formen dem regulären Muster für den Bau von Possessivkonstruktionen ohne substantivischen Kopf entspricht. Die betreffenden Possessiva besitzen ausgebaute Numerus-/Kasus-Paradigmen. In Pluralformen wie enyéim ‚meineP L ‘ tritt vor das PN -Suffix das Possessum-PluralSuffix (hier: -i). Kasusformen werden wie bei Substantiven durch Suffigierung gebildet (vgl. enyém-nek, DAT ; enyém-ben, INE ; usw.). Im Folgenden besprechen wir die Formen im Einzelnen zusammen mit dem Possessumsuffix.  

C3.4.2 Zum Possessumsuffix des Ungarischen In den Vergleichssprachen bestehen verschiedene Möglichkeiten zur Bildung von Possessivphrasen ohne substantivischen Kopf (bei anaphorischer oder prädikativer Verwendung). Eine Possessivphrase kann allein aus der enthaltenen Possessorphrase bestehen, während das Possessum ungenannt bleibt. Von dieser Möglichkeit wird im Englischen in besonderem Umfang Gebrauch gemacht (Quirk et al. 1985: 329, „independent genitive“); vgl. (32a), die Klammern kennzeichnen die Possessivphrasen. (32) a. My car is faster than [Peter’s]/[his]. ENG b. The population of New York is greater than [Chicago’s]/[that of Chicago]. Dabei bleiben im Englischen die Merkmale des Possessums, insbesondere der Numerus, ohne overte Markierung, während die nicht-pronominale Possessorphrase, meist auch das pronominale Possessum (wie hers usw.), selbst durch das Possessivsuffix (-s) gut markiert ist und daher die Phrase als Ganze als Possessivphrase kenntlich ist. Bei einem zweiten Typ enthalten Possessivphrasen ohne substantivischen Kopf wie in (32b) neben einer durch eine Präposition markierten Possessorphrase (of Chicago) weitere Bestandteile, etwa ein Demonstrativum (that of Chicago). Die betreffenden Formen können gegebenenfalls die Merkmale der NP anzeigen. Dies trifft im Englischen auf die Demonstrativa THIS und THAT zu, die nach Numerus unterschiedene Formen aufweisen (thisS G /theseP L ; thatS G /thoseP L ). Diese Möglichkeit besteht auch im Französischen und im Deutschen; vgl. le livre d’Alfred et celuiM . S G de Bernard ‚das Buch von Alfred und dasN . S G von Bernard‘. Im Deutschen kann die Possessorphrase dabei auch im Genitiv stehen (dasN . S G des Jungen). In flexivischer Hinsicht ergeben sich in den angeführten Fällen keine Besonderheiten. Eine vergleichende Analyse gibt Tesnière (1959: 479). (Siehe auch → B1.2.2.7.2.)

1114

C Nominalflexion

Ein dritter Typ von Possessivkonstruktionen ohne substantivischen Kopf findet sich im Ungarischen. Im Ungarischen steht eine Possessorphrase, die in eine Possessivphrase eingebettet ist, im gewöhnlichen Fall im Nominativ, während die Possessivrelation durch ein Person-Numerus-Suffix am Kopf der NP angezeigt wird (→ C3.3.3); ist kein Kopfsubstantiv gegeben, so tritt an seine Stelle das ‚Besitzzeichen‘ (UNG ‚birtokjel‘) -é, das an den Kopf der Possessorphrase suffigiert wird. Wir bezeichnen es als Possessumsuffix (glossiert als PUM ); vgl. (33). (33) a. a barát ház-a3S G UNG DEF Freund Haus-3SG ‚das Haus des Freundes‘ b. a barát-é DEF Freund-PUM ‚das des Freundes‘ Verschiedene Benennungen konkurrieren. Im Ungarischen Nationalkorpus wird -é als anaphorischer Possessivmarker bezeichnet (glossiert als POS ). In der deutschen Übersetzung in (33b), und ebenso im Folgenden, steht die Neutrumform (das) abkürzend für die drei Varianten der/die/das, die im Ungarischen, das kein Genus besitzt, keine Gegenstücke haben.

Ebenso ergibt sich Péter-é ‚das von Peter‘ unter Verwendung des Possessumsuffixes an einem Eigennamen als Gegenstück zu Péter autó-ja3S G ‚Peters Auto‘; vgl. az autó Péter-é (wörtl. ‚das Auto Peters‘, d. h. ‚Das Auto gehört Peter‘). Der Possessorausdruck kann im Plural stehen wie in a barát-okP L -éP U M ‚das der Freunde‘, markiert mit dem allgemeinen Pluralsuffix -(V)k; ebenso kann das Possessum pluralisch gekennzeichnet sein wie in a barát-éP U M -iP P L ‚die des Freundes‘; in diesem Fall tritt an das Possessumsuffix (-é) das Possessum-Plural-Suffix (PPL ), das hier (in der Position nach Vokal) in der Variante -i erscheint. Beide Optionen der Pluralmarkierung lassen sich vereinigen wie in a barát-okP L -éP U M -iP P L ‚die der Freunde‘. Die Possessorphrase, an die das Possessumsuffix tritt, kann ihrerseits eine Possessivphrase darstellen; vgl. (34a, b).  

(34) a. a barát-om1S G ‚mein Freund‘ UNG b. a barát-om1S G -éP U M ‚das meines Freundes‘ c. a barát-aiP P L -m1S G -éP U M ‚das meiner Freunde‘ d. a barát-aiP P L -m1S G -éP U M -iP P L ‚dieP L meiner Freunde‘ e. a barát-aiP P L -m1S G -éP U M -iP P L -tA K K ‚dieP L meiner Freunde (AKK )‘ Gegebenenfalls geht dem Possessumsuffix ein PN -Suffix voran wie in (34b). Wiederum kann die Phrase, an die das Possessumsuffix antritt, im Plural stehen wie in (34c), markiert mit dem Possessum-Plural-- Suffix am Kopf der eingebetteten Possessivphrase; und wie immer kann auch hier an das Possessumsuffix das Possessum-Plural-Suffix antreten wie in (34d) (Forgács 2004: 139), wenn auch Formen, die zwei Plural-

C3 Person und Possession

1115

suffixe (mit unterschiedlichem Bezug) einschließen, mutmaßlich eher selten verwendet werden. Suffixe, die in einer Possessivkonstruktion am Possessorausdruck erscheinen würden, wenn dieser lexikalisch gefüllt ist, gehen dem Possessumsuffix voraus; Suffixe, die am Kopf der Possessivkonstruktion erscheinen würden, folgen dem Possessumsuffix. Dies schließt grundsätzlich auch die entsprechenden PN -Suffixe ein, wie im Folgenden gezeigt wird; im Falle des 3SG - Suffixes -(A) läuft die Suffigierung aber (in der Position nach Vokal, hier: nach -é) bei Ausfall des Initialvokals leer; vgl. (33b) (a barát-é < barát + -é + -(A)). Bei einem pluralischen Possessorausdruck wie in a barát-ok ház-a ‚das Haus der Freunde‘ erscheint das PN - Suffix ohne Pluralkennzeichen (nach der in → C4.3.7 erörterten Ökonomieregel). In der entsprechenden Form mit dem PUM -Suffix muss die PN - Suffigierung wiederum leerlaufen (a barátok-é < barát + -(V)k + -é + -(A)). Bei nicht-pronominalem Possessorausdruck erscheint daher in den PUM -markierten Formen nie ein PN -Suffix. Hier könnte daher statt von Leerlaufen der Suffigierung von Nicht-Setzung der PN - Suffixe ausgegangen werden (wie bei Adpositionen mit nicht-pronominalen Komplementen; vgl. → C3.3.4). Die beiden Analysen liefern im Fall der PUM markierten Formen identische Ergebnisse.

Alle mit dem Possessumsuffix gebildeten Formen sind Grundformen (Nominativformen); zu einem gegebenen Substantivstamm (wie barát) erhält man 28 é-suffigierte Formen, nämlich 14 Formen mit singularischem Possessum, davon zwei ohne PN Suffixe (barát-éP U M , barát-okP L -éP U M ) sowie zwölf mit PN - Suffixen (mit den Spezifikationen 1/2/3 × SG / PL ) vor -é,, davon sechs mit und sechs ohne vorangehendes PPL - Suffix; und ebenso 14 Formen mit pluralischem Possessum, gebildet wie die vorigen mit zusätzlichem finalen PPL -Suffix (barát-éP U M -iP P L , barát-okP L -éP U M -iP P L usw.). An diese Grundformen können je nach Verwendungszusammenhang Kasussuffixe treten, etwa das Akkusativsuffix zur Markierung der Objektfunktion wie in (34e) oder Kasussuffixe mit semantischer Funktion. Die Wahl der Suffixvarianten folgt den allgemeinen Regeln (→ C3.3.5), eingeschlossen die vokalharmonische Anpassung der Kasussuffixe wie in a barát-om1S G -éP U M -valI N S ‚mit dem meines Freundes‘ mit dem Kasuskennzeichen des Instrumentals (-vAl). Das Possessumsuffix selbst ist invariabel und stabil: Es unterliegt nicht der Vokalharmonie und besitzt keinen instabilen Initialvokal, der ausfallen könnte. Die Gesamtzahl der auf der Basis eines gegebenen Substantivstamms zu bildenden Formen mit Possessumsuffix ergibt sich aus der Kombinatorik der 28 Grundformen mit den verschiedenen Kasussuffixen; zur Illustration geben wir eine Auswahl von Formen zur Basis BARÁT ‚Freund‘, die im Ungarischen Nationalkorpus belegt sind; vgl. (35). (35) UNG a. barát-éP U M barát-éP U M -tA K K barát-éP U M -hozA L L

barát-okP L -éP U M barát-okP L -éP U M -nS U P barát-okP L -éP U M -nakD A T

1116

C Nominalflexion

b. barát-om1S G -éP U M barát-od2S G -éP U M barát-om1S G -éP U M -raS U B barát-od2S G -éP U M -tA K K barát-om1S G -éP U M -nakD A T barát-od2S G -éP U M -nS U P c. barát-aiP P L -éP U M -valI N S barát-aiP P L -m1S G -éP U M barát-aiP P L -éP U M -tólA B L barát-aiP P L -m1S G -éP U M -raS U B

barát-já3S G -éP U M barát-já3S G -éP U M -valI N S barát-já3S G -éP U M -banI N E barát-aiP P L -d2S G -éP U M barát-aiP P L -d2S G -éP U M -raS U B

(35a) zeigt Formen mit dem Possessumsuffix an nicht possessivmarkierten Formen im Singular oder Plural (mit oder ohne folgendes Kasussuffix); (35b) an possessivmarkierten Formen im Singular (mit oder ohne folgendes Kasussuffix); (35c) an possessivmarkierten Formen im Plural (mit oder ohne folgendes Kasussuffix). Kopflose Possessivphrasen können in den Vergleichssprachen auch mehrfach ineinander eingebettet sein wie in die von dem von der BA direkt (Internetbeleg, in anaphorischem Anschluss an die Nummer des Direktors der Deutschen BA). Wie Lotz (1968: 627) angibt, kann in entsprechender Weise auch das Possessumsuffix im Ungarischen doppelt gesetzt werden; vgl. Péter-é-é ‚das von dem von Peter‘. Darüber hinausgehende Mehrfachsetzung ist ausgeschlossen *Peter-é-é-é. (Ebenso dürften die denkbaren deutschen Entsprechungen an die Grenze der Verständlichkeit stoßen.) Auch zu Possessivphrasen mit pronominalem Possessorausdruck existieren Gegenstücke mit Possessumsuffix; vgl. (36). (36) a. a (mi) csészé-nk DEF wir Tasse-1PL UNG ‚unsere Tasse‘ b. a mi-é-nk DEF wir-PUM - 1PL ‚unserer/unsere/unseres‘ Die Bildung von Possessivphrasen, die ein Personalpronomen als Possessorausdruck aufweisen, entspricht dem allgemeinen Muster; vgl. (36a) mit (33a). Die Setzung des Personalpronomens (hier: mi ‚wir‘) ist optional; es erscheint bei Einbettung in die Possessivphrase im Nominativ. Die PN -Merkmale, die das Personalpronomen vorgibt, werden durch ein PN -Suffix am Kopf der Possessivphrase wieder aufgenommen. (Zu den PN - Suffixen siehe im Einzelnen → C3.3.5.) Ist kein Kopfsubstantiv gegeben, so tritt an seine Stelle wiederum das Possessumsuffix (-é), das an das Personalpronomen suffigiert wird, wie in (36b). Als Träger des Possessumsuffixes kann das Personalpronomen in diesem Fall nicht fehlen. Die so gebildeten Formen (wie miénk) werden, wie angeführt, in Grammatiken des Ungarischen als Possessivpronomina bezeichnet. Wie bei den mit dem Possessumsuffix suffigierten Substantivformen folgen auf das Possessumsuffix diejenigen Suffixe, die bei expliziter Konstruktion (wie in (36a)) am Kopf der Konstruktion erscheinen würden, eingeschlossen die PN -Suffixe (in (36b): -nk). Pluralformen werden mit dem PPL -Suffix (-i) gebildet; vgl. mi1P L -éP U M -iP P L -nk1P L .

1117

C3 Person und Possession

Wie gewöhnlich treten Kasussuffixe in letzter Position an die betreffenden Formen; vgl. miénk-benI N E ‚in unserem/unserer‘. Lotz (1968: 627) weist darauf hin, dass an Possessivpronomina wiederum das Possessumsuffix antreten kann; az enyém-éP U M ‚das von meinem‘; nach Lotz auch: enyém-éP U M -éP U M ‚das von dem von meinem‘. Die nach dem Muster von (36b) möglichen Bildungen (traditionell: Possessivpronomina) stellen eine geschlossene Klasse von zwölf Grundformen (Nominativformen) dar, entsprechend den für Personalpronomina geltenden Unterscheidungen (Possessormerkmale: 1/2/3, SG / PL , Possessummerkmale: SG / PL ), die (37) zeigt. (Verglichen werden können die entsprechenden Possessivformen der Substantive; siehe → C4.3.5 (67) bis (71).) (37) UNG

POSSESSOR

1SG

2SG

3SG

1PL

2PL

3PL

SG P U M

eny-é-m

ti-e-d

öv-é

mi-e-nk

ti-e-tek

öv-é-k

PL P U M

ény-é-i-m

ti-e-i-d

öv-é-i

mi-e-i-nk ti-e-i-tek

öv-é-i-k

Wie bei Elementen einer geschlossenen Klasse nicht überraschen kann, zeigen die betreffenden Formen im Einzelnen kleinere Besonderheiten oder weisen Varianten auf, die sie als lexikalisiert ausweisen; so zeigt die 1PL -Possessorform (des Singulars des Possessums) neben der in (36b) angeführten Variante miénk eine in den Grammatiken als Normalform ausgewiesene Variante mienk. Die Personalpronomina weisen als gebundene Bestandteile der Possessivpronomina teilweise abweichende Formvarianten auf; 1SG : eny- (statt én), mit Palatalisierung vor e (Benkő (Hg.) (1993–1997: s. v. enyém)) und gekürztem Vokal; 2SG : ti (statt te); 3SG / 3PL : öv- (statt ő), einer hier erhaltenen alten Stammvariante (ebd.: s. v. ővé)). Der Vokal des PUM -Suffixes ist in der Position nach Vokal häufig kurz (-e statt -é), doch existieren alternative Formen mit regelmäßiger langvokalischer Variante. Die kurzvokalische Variante steht obligatorisch in der Position zwischen Vokalen (wie in tieid, mieink, tieitek), sonst fakultativ in der Position nach Vokal (wie in mienk, tied und tietek) mit den alternativen Form miénk, tiéd und tiétek. Im Übrigen erscheint -é (wie in övék). Nach Kenesei/Vago/Fenyvesi (1998: 273) werden die Alternativformen mit Langvokal (miénk, tiéd, tiétek) und ebenso die unten besprochene Pluralform enyémek hauptsächlich in der gesprochenen Sprache verwendet und sind dort sehr verbreitet.  



Wie angeführt, läuft die Suffigierung des 3SG - PN - Suffixes -(A) unter Ausfall des Initialvokals beim Possessivpronomen leer (bei fehlender j-Epenthese), daher: övé ‚seiner‘. Das Fehlen des Suffixes ist wegen der Markierung durch das PUM -Suffix funktional folgenlos, während es am Substantiv nicht entbehrlich ist (daher: hajó-ja ‚sein Schiff‘; vgl. → C4.3.6 (70)). Entsprechend erscheint das PN - Suffix der 3. Person Plural des Possessors, -(U)k, unter Ausfall des Initialvokals beim Possessivpronomen als -k (övék); der Antritt von -k zeigt, dass die PN - Suffigierung in den Formen der 3. Person bei den Possessivpronomina nicht etwa ganz fehlt.  



1118

C Nominalflexion

In der 3. Person Plural des Possessors erscheint das Personalpronomen nach allgemeiner Ökonomieregel in der Possessivform (gerade so wie in der expliziten Possessivphrase) ohne Pluralkennzeichen (→ C4.3.7). Im Ergebnis unterscheiden sich die 3SG und die 3PL -Formen nur durch die suffixale PN -Markierung, nicht durch die enthaltene Formvariante des Personalpronomens; dies gilt auch für die 2SG - und die 2PL -Formen.  

Neben den in (37) aufgeführten Formen der Possessivpronomina existieren in einigen Fällen alternative Formen. Generell führen die Grammatiken als Variante zu enyéim die Form enyémek auf (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 273; Tompa 1968: 128). Tőrkenczy (2002: 47) gibt als Variante zu övéi die Form övék an (homonym mit der Form der 3PL -Form des Singulars). Szent-Iványi (1995: 63) erwähnt noch miénkek. Während die Standardformen die für Possessivkonstruktionen gewöhnliche Pluralbildung (mit PPL -Suffix) zeigen, sind die alternativen Pluralformen auf der Basis der „fertigen“ SG -Formen der Possessivpronomina in (37) mittels des allgemeinen Pluralsuffixes -(V)k gebildet. Dass die SG -Formen der Possessivpronomina als Ganze der weiteren Suffigierung unterliegen können, zeigt wiederum, dass es sich um erstarrte Bildungen handelt (‚lexikalisierte Deklinationsformen‘ nach Benkő (Hg.) (1993–1997)).

Der Status des Possessumsuffixes ist in der Literatur unterschiedlich beurteilt worden. Unter den vertretenen Vorschlägen finden sich Einstufung als Kasussuffix (‚Genitiv‘), als Stammbildungssuffix und als Pronomen. Die Argumente für eine bestimmte Einstufung sind stark theorieabhängig; wir müssen es hier bei einigen Hinweisen belassen. Wesentlich für die Charakteristik des Possessumsuffixes ist die Beschränkung der mit diesem Suffix gebildeten Formen auf die Rolle non-attributiver Possessiva; diese Beschränkung unterscheidet sie von prima facie vergleichbaren Bildungen des Englischen mit dem Possessivsuffix -s; vgl. (38). (38) UNG a. Péter-é ‚das von Peter‘ ENG b. Peter’s ‚das von Peter‘ Während Bildungen mit dem Possessivsuffix wie ENG Peter’s sowohl selbstständig (wie in (32a)) als auch adnominal (wie in Peter’s car ‚Peters Wagen‘) verwendet werden können, sind die mit dem Possessumsuffix des Ungarischen gebildeten Formen auf die selbstständige Verwendung spezialisiert; bei adnominaler Verwendung einer Possessorphrase erscheint das Suffix nicht (vgl. a Péter kocsi-ja ‚Peters Wagen‘), bei selbstständiger Verwendung ist es gefordert. Diese Beschränkung kann so verstanden werden, dass das Possessumsuffix an die Stelle tritt, die in einer expliziten Possessivkonstruktion der substantivische Kopf einnehmen würde. Der Gebrauch des ungarischen Possessumsuffixes wird in der Literatur daher häufig als ein Fall von ‚Substitution‘ oder ‚Pronominalisierung‘ beschrieben; vgl. u. a. Károly (1972: 164, „substitute for a repeated possession word“) oder Creissels (2006: 58, „pronominalisation de la tête“).  

C3 Person und Possession

1119

Eine entsprechende Ersetzungsregel ist zuerst in Lotz (1968) ausgearbeitet worden, der annimmt, dass die Bedeutung des Possessumsuffixes die eines Demonstrativpronomens sei; von einem Pronomen unterscheide es sich durch die fehlende Selbstständigkeit („not posited independently, autosemantically, but attached to some explicit reference synsemantically“); vgl. auch Laczkó (2007: 341, „pro-like morpheme“). Auch in einer vergleichbaren Bildung des Türkischen mit dem Suffix -ki, das in einer Verwendung zur Bildung kopfloser Possessivphrasen auf der Basis von Possessorphrasen im Genitiv dient, ist das Suffix in einem Teil der Literatur als pronominal gewertet worden (Göksel/Kerslake 2005), in anderen Analysen jedoch als derivativ. Die verschiedenen Optionen werden in Schroeder (2000) diskutiert.

Ein Vergleich mit ENG one als Substitut für ein fehlendes Kopfsubstantiv (→ B1.2.2, → D2.3.1.1) erscheint ebenfalls möglich, doch weisen die Bildungen mit -é-Suffix eine weitere charakteristische Beschränkung auf, die, wie Dékány (2015) argumentiert, bei einer Deutung von -é als pronominalem Element nicht ohne Weiteres zu erwarten sei: Das Possessumsuffix ‚ersetzt‘, wie Lotz (1968: 631) formuliert, den Stamm des Possessorausdruck zusammen mit allen gegebenenfalls vorangehenden Attributen; anders gesagt, in die mit dem -é-Suffix gebildeten Formen können außer dem possessiven Attribut keine weiteren Attribute, die bei Vorhandensein eines substantivischen Kopfes stehen könnten, integriert werden. In traditionellen Grammatiken findet sich sowohl die Einstufung von -é als Flexionssuffix als auch als Derivationssuffix. Tompa (1968: 174) stellt es im Rahmen der Behandlung der Nominalflexion in eine Gruppe, die u. a. auch das Pluralsuffix und die PN -Suffixe, aber nicht die Kasussuffixe enthält. Szinnyei (1912: 28) wertet -é als Stammbildungssuffix, nämlich als Suffix zur Bildung des ‚Besitzstamms‘. Für die Auffassung als Stammbildungssuffix kann geltend gemacht werden, dass an die mit -é gebildeten Einheiten, wie dargelegt, Numerus- und Kasussuffixe (und im Rahmen der Bildung der Possessivpronomina auch PN - Suffixe) treten können, also gerade die Suffixe, die bei einer Possessivkonstruktion mit substantivischen Kopf an einen Substantivstamm treten können. Insofern liefert die -é-Suffigierung Einheiten, die, was die Flexion anbetrifft, wie sonst Substantivstämme behandelt werden.  



Von gewöhnlichen Fällen von Derivation unterscheidet sich die -é-Suffigierung durch die Art der Derivationsbasis. Erstens dienen als Basis nicht Stämme oder Wortformen, sondern Phrasen, hier: Possessorphrasen. Vergleichbar sind aber Adjektivbildungen mit possessiver Bedeutung auf Phrasenbasis. Mit Bezug auf das Possessivadjektive bildende Suffix -(j)Ú stellt Forgács (2004: 284) fest, es trete „nicht an einfache Grundwörter, sondern an Syntagmen“. Ähnlich könnten andere Suffixe wie -(V)s operieren; vgl. piros kalap-os ‚der mit dem roten Hut‘ aus piros kalap ‚rot Hut (i. e. roter Hut)‘. Ebenso -i; vgl. asztal alatt-i ‚der unter dem Tisch‘ aus asztal alatt ‚Tisch unter (i. e. unter dem Tisch)‘ (→ A4.3.3.5.1.3.2). Honti (1997: 89) vermutet den diachronen Vorgänger des ungarischen Possessumsuffixes in einem Element mit „possessivadjektivischer Funktion“ und verweist auf einen mutmaßlichen Zusammenhang mit dem „Adjektivsuffix i“.  



1120

C Nominalflexion

Verglichen werden können aus dem Deutschen die von Paul (1920b: 131) so genannten „Ableitungen aus syntaktischen Verbindungen“ wie Bekanntmachung oder Bittsteller sowie insbesondere possessive Adjektive wie kurzarmig oder rotbäckig.

In der neueren Literatur ist verstärkt für eine Anerkennung der Existenz einer ‚Morphologie der Phrase‘ oder der Möglichkeit ‚syntaktischer Wortbildung‘ plädiert worden; vgl. u. a. Anderson (1992). Danach könnte das Possessumsuffix als ‚phrasenbezogenes Derivationssuffix‘ angesehen werden; zum Konzept derivationeller Phrasenaffixe siehe Anderson (1992: 218, „derivational phrasal affixes“).  

Die -é-Suffigierung unterscheidet sich von gewöhnlich Fällen von Derivation auch dadurch, dass das Suffix an flektierte Formen treten kann, die Numerus- und PN - Suffixe tragen können. Bei einer Einstufung als phrasenbezogenes Derivationssuffix wäre diese Tatsache allerdings nicht überraschend, sondern ohne Weiteres zu erwarten. Zu vergleichen wären hier auch Fälle von Suffixhäufung bei kopflosen Possessivphrasen in agglutinierenden Sprachen wie dem Baskischen, wo possessumbezogene Suffixe unmittelbar an flektierte (genitivisch markierte) Possessorphrasen antreten können, so dass sich doppelte Suffigierung (mit unterschiedlichem Bezug) ergeben kann; vgl. BAS Mikel-en-arentzat ‚for Michael’s one‘ mit Mikel-en seme-arentzat ‚for Michael’s son‘ (Saltarelli et al. 1988: 197, mit deren Glossen). (Ausführliche typologisch orientierte Erörterungen von Doppelmarkierung, insbesondere doppelter Kasusmarkierung, und ihrer Analysemöglichkeiten bieten Plank (1995) und Moravcsik (1995).)

C3.4.3 Zum Possessivsuffix des Englischen Wie das Possessumsuffix des Ungarischen ist das Possessivsuffix des Englischen als Beispiel für ‚Phrasenmorphologie‘ analysiert worden (Anderson 1992: 197–223; Anderson 2005: 90–94). Im Englischen können adnominale Attribute (POSS -Phrasen) – insbesondere bei Referenz auf Personen – dem Kopfsubstantiv, als dessen Dependens sie fungieren, vorangestellt werden, wie (39) und (40) zeigen (Huddleston/Pullum 2002). (Vgl. auch → D3.9.) (39) a. [Edward’s]P O S S daughter ENG b. [everyone’s]P O S S responsibility c. [somebody’s]P O S S initiative d. [the doctor’s]P O S S house (40) a. [the King of England’s]P O S S daughter ENG b. [everyone else’s]P O S S responsibility c. [somebody local’s]P O S S initiative d. [a guy I know’s]P O S S house e. [the director of personnel’s]P O S S office

C3 Person und Possession

1121

Ähnlich besteht im Deutschen die Möglichkeit, Genitivattribute ihren Kopfnomina voranzustellen, insbesondere im Falle von Eigennamen (wie in EdwardsG E N Tochter). Im Vergleich zum Deutschen sind die Verwendungsbedingungen für diese Konstruktion (traditionell als ‚sächsischer Genitiv‘ bezeichnet) im Englischen weniger restriktiv. Dies betrifft insbesondere die Typen von Phrasen, die in Attributfunktion auftreten können; damit einhergehend unterscheidet sich auch der Typ morphologischer Markierung der POSS - Phrasen. Vorangestellte POSS - Phrasen werden im Englischen mithilfe eines Suffixes markiert, das an die letzte Wortform der POSS -Phrase tritt (‚rechtsbündige Platzierung‘); wir bezeichnen das Suffix bei orthographischer Notation als -s/POSS . Das POSS - Suffix erscheint in drei Lautformen (/ɪz/, /s/, /z/) und fällt damit formal mit dem Pluralsuffix des Englischen (-s/PL ) zusammen; die Verteilung der Varianten ist wie beim Pluralsuffix geregelt (siehe → C4.2.3.1). Im Deutschen dient das Suffix -(e)s/GEN der Bildung von kasusspezifizierten Flexionsformen. Im Englischen kommt eine Analyse des diachron und funktional verwandten POSS -Suffixes als Mittel zur Bildung von Flexionsformen dagegen allenfalls für einen Teil der Verwendungen in Betracht, wie sie (39) zeigt. In (39) tritt das Suffix an einen Eigennamen, ein Pronomen oder ein Substantiv, das als Kopf der POSS - Phrase fungiert, und die Verbindungen aus Träger und Suffix werden traditionell in Grammatiken des Englischen häufig als Genitivformen ausgewiesen. In anderen Verwendungen bildet das Suffix mit seinem Träger keine Flexionsform; vgl. (40). So ist der Träger des POSS - Suffixes in (40d) eine Verbform (know); offensichtlich handelt es sich bei der Verbindung know’s nicht um eine Flexionsform des Verbs KNOW . Als Träger des POSS -Suffixes können grundsätzlich alle Wortformen fungieren, die in NPs in rechter Randstellung auftreten können, und daher insbesondere auch Formen non-nominaler Wortklassen, eingeschlossen Präpositionen und Adverbien. Auch wenn der Träger nominal ist, bildet das POSS -Suffix mit dem Träger keine Kasusform, wie besonders deutlich wird, wenn der Träger selbst eine kasusmarkierte Form darstellt; vgl. [the woman who loves me’s]P O S S bad habit (Anderson 2008: 12). Wenigstens würde es, wie vielfach in der Literatur gegen entsprechende Vorschläge geltend gemacht worden ist (vgl. z. B. Spencer/Luís 2012: 126), den Rahmen einer vernünftigen Konzeption von Flexionsmorphologie sprengen, wenn man Verbindungen wie me’s und mine’s als Flexionsformen, etwa als Formen des Personalpronomens der 1. Person Singular, auffassen wollte. Praktisch würde neben nahezu sämtlichen Wortformen (sowohl flektierender als auch flexionsloser Lexeme) jeweils eine entsprechende ‚Genitivform‘ auf -s anzusetzen sein. Die betreffenden Verbindungen füllen nicht wie Flexionsformen eine Stelle im Paradigma eines Lexems, dessen Struktur durch das System von Flexionskategorien für Lexeme einer gegebenen Klasse vorgegeben ist.  



Das POSS - Suffix markiert in (40) die POSS - Phrasen als Ganze; die Funktion der Phrase entspricht der einer POSS -Phrase im Genitiv in älteren Stadien des Englischen und in Sprachen wie dem Deutschen. Im Anschluss an Jespersen wird die betreffende Kon-

1122

C Nominalflexion

struktion, bei der das POSS - Suffix an eine dem Kopf der POSS - Phrase nachgestellte Einheit tritt, daher auch als ‚Gruppengenitiv‘ (oder ‚Phrasengenitiv‘) bezeichnet und die Funktion des POSS - Suffixes mit der einer Postposition verglichen, die als Klitikon an die betreffende NP tritt (Quirk et al. 1985: 328, „group genitive“; Huddleston/ Pullum 2002: 56, „phrasal genitive“). Demgegenüber kann von einem ‚Kopfgenitiv‘ gesprochen werden, wenn die POSS -Markierung am Kopf der POSS - Phrase erscheint, wie in (39) (Huddleston/Pullum ebd., „head genitive“). Die Termini sind problematisch, insofern strittig ist, inwieweit die Anwendung der Kasusterminologie (‚Genitiv‘) auf die POSS - Konstruktionen des Englischen berechtigt ist; wir verwenden diese Termini im Folgenden in informeller Redeweise, wenn die Unterschiede der Konstruktionen in (39) und (40) zur Debatte stehen. Für die Beurteilung des Status der POSS - Markierung ist das Verhältnis des Phrasengenitivs zum Kopfgenitiv wesentlich. In der Literatur bestehen unterschiedliche Auffassungen zu der Frage, ob die POSS - Markierung als Klitikon oder als Suffix zu betrachten sei, und dazu, ob POSS - Markierung im Englischen ein einheitliches Phänomen darstellt oder zwei wesentlich unterschiedene Markierungstypen vorliegen. Wie im Folgenden erläutert wird, betrachten wir die POSS -Markierung mit -s als Suffix und sprechen daher vom POSS -Suffix. Die theoretisch orientierte Literatur nimmt mehrheitlich (bei im Übrigen unterschiedlichen Ansätzen) keine Flexionskategorie ‚Genitiv‘ für das Englische an und betrachtet die s-Markierung nicht als Flexiv, sondern als Klitikon; vgl. u. a. Mel’čuk (1986: 55), Janda (1980), Blevins (2006). Als Suffix wird die s-Markierung dagegen u. a. in Nida (1949: 104 f.) analysiert. In der neueren Literatur wird vermehrt die These vertreten, dass zwei Typen von POSS -Phrasenbildung zu unterscheiden seien (Huddleston/Pullum 2002). Die Annahme, dass die s-Markierung eine doppelte Analyse verlangt und teils als Affix, teils als Klitikon aufzufassen sei, vertreten (im Rahmen unterschiedlicher Theorien) Hudson (2013) und Lowe (2016); vgl. auch Spencer/Luís (2012: 293) zu Analysen, die zulassen, dass gegebene Einheiten manchmal als Klitikon, manchmal als Affix behandelt werden.  





Zur weiteren Klärung betrachten wir den Anwendungsspielraum des POSS - Suffixes. Dazu ist zu bestimmen, wann POSS -Phrasen kein POSS - Suffix aufweisen. Zwei Hauptfälle sind zu unterscheiden. Zum einen erscheinen in pronominalen POSS -Phrasen lexikalisierte POSS -Formen, die traditionell als Genitivformen der Personalpronomina oder als Possessivpronomina klassifiziert werden, wie my, his, her usw. In pronominalen POSS - Phrasen, also Phrasen, die gerade eine Pronominalform umfassen, treten diese spezialisierten Pronominalformen auf. Die Bildung von pronominalen POSS Phrasen mittels des POSS - Suffixes kommt dann nicht in Betracht; in her husband steht her, nicht she’s usw. Zum anderen kann bei gewöhnlichen POSS -Phrasen das POSS - Suffix fehlen, wenn der potentielle Träger des Suffixes sibilantisch auslautet und insbesondere dann, wenn andernfalls eine Abfolge zweier s-Suffixe zustande kommen würde. Betroffen sind sowohl Phrasengenitive als auch Kopfgenitive; zum Fehlen des POSS - Suffixes bei Phrasengenitiven vgl. (41) (Plank 1985b: 221); vgl. auch Zwicky (1987).

C3 Person und Possession

(41)

1123

a. [a mother of five children’s]P O S S chance to re-marry b. [a mother of five girls’]P O S S chance to re-marry c. [an owner of five geese’s]P O S S chance to sell them all

In (41a) erscheint das POSS - Suffix wie gewöhnlich an der letzten Wortform der POSS Phrase, hier der irregulären PL - Form children von CHILD ‚Kind‘. In (41b) handelt es sich bei der letzten Wortform der POSS - Phrase um eine reguläre PL -Form (gebildet mit dem -s/PL -Suffix); in diesem Fall tritt das POSS -Suffix nicht an. Geht die Trägerform auf G OOSE Sibilant aus, aber nicht auf ein -s-Suffix wie die PL - Form geese (/ɡiːs/) von GOOSE ‚Gans‘ in (41c), wird die POSS - Suffigierung nicht blockiert. Wann die POSS - Markierung fehlen kann, ist somit durch die morphologische Struktur der potentiellen Trägerform mitbestimmt, also nicht einer bloß phonologischen Regelung geschuldet. Die Blockierung der POSS -Suffigierung in Fällen wie (41b) ist daher auch als ein Fall von morphologischer Haplologie (Stemberger 1981: 792) charakterisiert worden; ein Suffix (oder Klitikon) tritt in diesem Fall an einen Träger nicht an, der bereits auf ein formgleiches Suffix ausgeht. Da Phrasengenitive vergleichsweise selten sind und häufig (zugunsten einer Präpositionalkonstruktion mit of) vermieden werden, wirken die in der Literatur herangezogenen Beispiele oft eher konstruiert und die Beurteilungen der Akzeptabilität oder Grammatikalität sind nicht immer einheitlich; so geben Huddleston/Pullum (2002: 481) für one of my students’ assignments die alternativen Realisierungsmöglichkeiten /stjuːdənts/ und /stjuːdəntsɪz/ an. Entsprechende Schwankungen betreffen aber nur Konstruktionen wie (41b), nicht aber (41a), wo die POSS -Markierung nicht fehlen kann. Für die Nicht-Setzung des POSS - Suffixes bei Phrasengenitiven stellt daher das Vorhandensein eines formgleichen Suffixes – in (41b) des -s/PL -Suffixes – wenigstens eine notwendige, wenn auch mutmaßlich nicht für alle Sprecher eine hinreichende Bedingung dar. Dagegen ist das Fehlen des POSS - Suffixes bei Kopfgenitiven obligatorisch, wenn das Kopfsubstantiv bereits das -s/PL -Suffix aufweist; vgl. (42) (vgl. Huddleston/Pullum 2002: 481). (42)

a. b. c. d.

the duck’s plumage (/dʌks/) ‚das Gefieder der Ente‘ the ducks’ plumage (/dʌks/) ‚das Gefieder der Enten‘ the goose’s plumage (/ɡuːsɪz/) ‚das Gefieder der Gans‘ the geese’s plumage (/ɡiːsɪz/) ‚das Gefieder der Gänse‘

In (42a) tritt das POSS -Suffix an die SG -Form duck; es fehlt in (42b), wo als Kopf der POSS -Phrase die PL -Form ducks (zu DUCK ‚Ente‘) auftritt. Die Setzung des POSS Suffixes ist hier ausgeschlossen. (42c) zeigt, dass sibilantischer Ausgang der Trägerform für die Nicht-Setzung des POSS -Suffixes auch bei Kopfgenitiven nicht hinreichend ist. Dasselbe gilt für (42d), wenngleich die Existenz von Bildungen wie geese’s manchmal überhaupt in Frage gestellt wird (Zwicky 1975: 166). Vgl. noch

1124

C Nominalflexion

hostess’s, fox’s, boss’s; auch Eigennamen: Times’s, Marx’s, Strauss’s; Alice’s (Friedrich 1961: 107). Mit Blick auf die bisher betrachteten Fälle lässt sich festhalten: Bei Kopfgenitiven muss, bei Phrasengenitiven kann die Setzung des POSS - Suffixes unterbleiben, wenn die Form, an die das Suffix treten würde, bereits ein formgleiches Suffix (-s-Suffix) aufweist. Da die Setzung oder Nicht-Setzung des POSS - Suffixes insofern von der morphologischen Struktur des potentiellen Trägers abhängt, erscheint die häufig vorgenommene Einstufung der POSS - Markierung als Klitikon fragwürdig. Bei Klitika sollte es sich nach herrschender Lehre um eigene syntaktische Einheiten handeln, die phonologisch mit ihren Trägern verschmelzen. Dazu kann die Wahl einer Formvariante (hier: (/ɪz/, /s/ oder /z/) in Abhängigkeit von der Lautform des Trägers gehören; die innere morphologische Struktur sollte dabei keine Rolle spielen. Danach ist anzunehmen, dass die POSS - Markierung des Englischen nicht als Klitikon betrachtet werden kann. Dem folgt die Grammatik von Huddleston/Pullum (2002: 480). Da andererseits bei Phrasengenitiven eine Einstufung der POSS - Markierung als Flexionssuffix kaum annehmbar erscheint (entgegen Huddleston/Pullum ebd.), verbleibt die Analyse als Phrasensuffix, die wir hier akzeptieren. Das Auftreten des -s/POSS -Suffixes an der letzten Wortform einer Phrase kennzeichnet im Englischen die Phrase als POSS - Phrase. Der Träger des Suffixes wird durch seine Position innerhalb der Phrase bestimmt. Die Suffigierung ist daher grundsätzlich von der Kategorie des Trägerlexems unabhängig und die Verbindung aus Träger und Suffix daher auch keine Flexionsform, die durch das Paradigma des Trägers vorgegeben wäre. Da es sich andererseits beim POSS -Suffix nicht um eine separate syntaktische Form (ein Klitikon) handelt, sondern um ein Suffix, das Teil der suffigierten Wortform ist, können die morphologischen Eigenschaften des Trägers bei der Suffigierung relevant werden. Insbesondere kann, wie es im Englischen der Fall ist, die Suffigierung unter angebbaren Umständen leerlaufen (gerade so wie es bei Flexionssuffixen der Fall sein kann, etwa in der Pluralbildung im Deutschen). ). Die Setzung des Suffixes unterbleibt, wie dargelegt, optional oder obligatorisch in der Position nach einem formgleichen Suffix. Ähnlich wie bei der Bildung der Flexionsformen ist bei der Verwendung von Phrasenaffixen am ehesten im Bereich der Eigennamen und Fremdwörter mit Besonderheiten zu rechnen. Wie Elemente des peripheren Wortschatzes vielfach eine eingeschränkte Flexion zeigen oder unflektierbar bleiben können (→ C5.5.2), können Eigennamen und insbesondere fremde Eigennamen im Englischen der Suffigierung mit dem POSS - Suffix entzogen sein, ohne dass die fraglichen Formen ein anderes s-Suffix aufweisen müssten. Durchwegs stellt aber das Vorhandensein eines sibilantischen Ausgangs eine notwendige Bedingung für das Ausbleiben der POSS - Suffigierung dar. Hierunter fallen mehrsilbige Eigennamen aus den klassischen Sprachen, insbesondere griechische Eigennamen wie Socrates oder Euripides (mit Ausgang auf /iːz/) wie in Euripides’ plays ‚Euripides’ Stücke‘; ebenso Jesus und Moses (Quirk et al. 1985: 320, genauer dazu Friedrich 1961: 108). Diese Eigennamen fallen in eine lexikalisch zu

C3 Person und Possession

1125

bestimmende Klasse von Invariabilia, bei denen POSS - Suffigierung ausgeschlossen ist. Außerhalb des klassischen Bildungshorizonts findet sich wieder Suffigierung wie in Venus’s climate ‚das Klima der Venus‘, eines Planeten). Bei Ausgang auf /z/ kann das Suffix auch bei anderen Personennamen fehlen, wenngleich die Setzung des Suffixes auch hier als Normalfall gelten kann. Wenn schriftsprachlich eher als in der gesprochenen Sprache auf eine Wiedergabe verzichtet wird, bestätigt sich der ‚gelehrte‘ Charakter der Suffixunterdrückung; vgl. Dickins’s novels ‚die Romane von Dickins‘ neben Dickins’ novels, gesprochen eher /ˈdɪkɪnzɪz/ als /ˈdɪkɪnz/ (Quirk et al. 1985: 320). Bei Fremdwörtern ist die morphologische Struktur der Formen naturgemäß nicht immer klar; bei PL -Formen auf Sibilant, die die Muster fremdsprachlicher Flexionsformen fortsetzen, kann ein sibilantisches Suffix angenommen werden, und entsprechend kann POSS -Suffigierung unterbleiben; vgl. indices, PL zu INDEX ‚Index (math.)‘, dazu indices’. Auch in einigen Fällen, in denen SG - und PL -Formen gleichlautend sind, wie SERIES und SPECIES könnte von morphologischer Zerlegbarkeit ausgegangen werden. Dessen ungeachtet muss mit einer lexikalischen Regelung der Suffigierungsmöglichkeiten gerechnet werden. Viele Grammatiken des Englischen wie Quirk et al. (1985) halten zwar an der traditionellen Terminologie fest und verwenden den Terminus ‚Genitiv‘ mit Bezug auf -s/POSS -markierte Phrasen. Quirk et al. (1985) stellen jedoch zugleich fest, dass „the common/genitive distinction in present-day English is not really a case distinction, although it is a relic of a former case system comparable to that of Latin or of modern Russian“ (ebd.: 318). Die Anwendung des Terminus ‚Genitiv‘ zur Bezeichnung von POSS - Phrasen wie in (39) und (40) ist (als traditionell – im Anschluss an historische Grammatiken – eingeführte façon de parler) unschädlich, wenn der Sachverhalt deutlich ist, und wir machen in diesem Handbuch von dieser Möglichkeit gelegentlich Gebrauch.

C4

Numerus

C4.1 Allgemeines  1127 C4.1.1 Einleitung  1127 C4.1.2 Separative und kumulative Pluralmarkierung  1128 C4.1.3 Verteilung von Numerusmarkierungen in Nominalphrasen  1130 C4.2 Numerusmarkierung der Substantive  1132 C4.2.1 Vorbemerkung  1132 C4.2.2 Pluralbildung im Ungarischen  1132 C4.2.3 Pluralbildung im Englischen  1134 C4.2.3.1 Reguläre Pluralbildung  1134 C4.2.3.2 Basis der Pluralformen  1136 C4.2.3.3 Irreguläre Pluralbildungen  1136 C4.2.3.4 Non-substantivische Lexeme mit s-Plural  1137 C4.2.4 Pluralbildung im Französischen  1138 C4.2.5 Pluralbildung im Deutschen  1142 C4.2.5.1 Pluralflexive  1142 C4.2.5.2 Verteilung der Pluralflexive  1147 C4.2.5.3 Fremdwörter  1151 C4.2.6 Charakteristik der deutschen Pluralbildung  1152 C4.3 Besondere Pluralbildungen  1153 C4.3.1 Kommunikantenpronomina  1153 C4.3.2 Personalpronomina der 3. Person  1155 C4.3.3 Demonstrativa  1157 C4.3.4 Definite Artikel  1158 C4.3.5 Possessiva  1160 C4.3.6 Plural des Possessums (Ungarisch)  1162 C4.3.7 Ökonomie der Numerusmarkierung (Ungarisch)  1165 C4.4

Possessive (,assoziative‘) Plurale  1167

Bernd Wiese

C4 Numerus C4.1 Allgemeines C4.1.1 Einleitung In allen Vergleichssprachen werden im nominalen Bereich zwei Numeri unterschieden: Singular (SG ) und Plural (PL ). Eine SG - PL -Unterscheidung ist in den Vergleichssprachen bei nominalen Lexemen unterschiedlicher Art möglich. Welche Substantive in den Bereich der Numerusdifferenzierung fallen, ist wesentlich durch semantische Gründe mitbestimmt; ausgeschlossen von der Numerusdifferenzierung sind Bezeichnungen für Nichtzählbares. Die genaue Abgrenzung des Bereichs der Singulariatantum variiert in den Vergleichssprachen. Siehe dazu → B1.4.2.3 und → B2.3.3.3. In allen Vergleichssprachen stellt der Plural den markierten Numerus dar. Soweit sich Formen mit und ohne formale Kennzeichen der beiden Numeri gegenüberstehen, handelt es sich bei kennzeichenlosen Formen regelmäßig um SG -Formen (wie bei DEU FrauS G vs. Frau-enP L ).  

Im Polnischen findet sich bei wenigen Bezeichnungen für Völker oder Personengruppen ein Wechsel zwischen einfachem Pluralstamm und erweitertem Singularstamm (mit ‚Singulativsuffix‘); → C5.4.8. Eine in slawischen Sprachen (eingeschlossen das Polnische) auftretende Besonderheit bilden endungslose GEN . PL -Formen (→ C5.4.9).

In allen Vergleichssprachen ist die Numerusmarkierung bei Nominalen, die für Numerus flektierbar sind, in aller Regel obligatorisch. Ein numerusindifferenter Gebrauch von SG -Formen von Individuativa ist nur im Ungarischen möglich; siehe dazu H. Varga (2014) und → B1.4.2.2.2. (Zu Sprachen mit optionaler Numerusmarkierung siehe Haspelmath 2005.)  

Im Unterschied zu den übrigen Vergleichssprachen bleibt im Ungarischen der Plural unmarkiert, wenn innerhalb einer NP durch ein Numerale oder ein Pronomen angezeigt wird, dass Referenz auf eine Vielheit von Objekten gegeben ist; vgl. két/néhány könyvS G ‚zwei/einige Bücher‘ (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 255); siehe dazu → B2.3.4. In diesem Fall erscheint im Ungarischen das Kopfsubstantiv im Singular (dem unmarkierten Numerus). Entsprechende NPs verlangen bei Verbkongruenz Verbformen (und gegebenenfalls prädikative Adjektive) im Singular;; vgl. Négy tanár volt a teremben ‚Vier Lehrer waren in der Klasse‘ mit volt, 3SG .PRT - Form der Kopula ‚sein‘, in SG -Kongruenz mit négy tanár, SG ‚vier Lehrer‘ (ebd.: 328). Relativpronomina, die auf ein entsprechendes Substantiv im Singular zurückverweisen, können im restriktiven Relativsatz im Singular oder Plural stehen, im non-restriktiven Relativsatz nur im Plural (ebd.: 40). (Zur Vermeidung redundanter Numerusmarkierung im Ungarischen siehe auch → C4.3.7.)

1128

C Nominalflexion

Numerusindifferenter Gebrauch von Singularformen zeigt sich in den übrigen Vergleichssprachen bei Interrogativpronomina wie DEU WER / WAS ; siehe → B1.5.5.2.2.

In den Kernbereich der Numerusmarkierung fallen universell vorrangig die Kommunikantenpronomina (Personalpronomina der 1. und 2. Person) und die Köpfe von NPs, daher insbesondere die Substantive. Die entsprechenden Lexeme weisen in allen Vergleichssprachen Numerusdifferenzierung auf. Dependentien innerhalb der NPs (Determinative, Attribute) nehmen in unterschiedlichem Maße an der Numerusmarkierung der NPs teil. Sie zeigen in den Vergleichssprachen meist besondere Muster der Formenbildung, die von denen der Substantive in unterschiedlichem Maße abweichen, oder bleiben unflektiert. Umgekehrt sind die Numeruskennzeichen, die an Substantiven auftreten, in den Vergleichssprachen in unterschiedlichem Maße wortartspezifisch bzw. wortartungebunden. Zu den an Substantiven auftretenden Numeruskennzeichen siehe → C4.2, zu den Numerusmarkierungen anderer Lexeme → C4.3. Im Rahmen einer Betrachtung der Numerusflexion ist zu untersuchen, wie die Numerusspezifikationen der Nominalphrasen durch formale Markierungen ihrer Bestandteile zum Ausdruck gebracht werden. Zwei Varianzparameter können dabei als grundlegend angesehen werden. – Existenz besonderer Numeruskennzeichen. Die Systeme der Numerusmarkierung in den Vergleichssprachen unterscheiden sich danach, ob Numerusmarkierung separativ oder kumulativ erfolgt, d. h., ob besondere Numeruskennzeichen vorhanden sind oder Numerusmarkierung mittels Flexiven erfolgt, die zugleich andere Merkmalsspezifikationen, insbesondere bezüglich Kasus, anzeigen. – Verteilung von Numerusmarkierungen in NPs. Die Systeme der Numerusmarkierung in den Vergleichssprachen unterscheiden sich danach, wie sich Numerusmarkierungen auf die verschiedenen Konstituenten komplexer NPs bzw. die Wortformen, aus denen sich NPs aufbauen, verteilen.  



C4.1.2 Separative und kumulative Pluralmarkierung Im Französischen und Englischen existieren besondere Pluralflexive, die an Substantiven erscheinen; vgl. FRA enfant-sP L ‚Kinder‘, ENG boy-sP L ‚Jungen‘. Dagegen unterliegen Substantive im Französischen und Englischen nicht der Kasusflexion; zum ‚possessive case‘ des Englischen → C3.4.3. In den Vergleichssprachen mit ausgebauter Numerus- und Kasusflexion (Ungarisch, Polnisch, Deutsch) liegen drei verschiedene Muster der Kombinatorik von Numerus- und Kasusmarkierung an Substantiven vor; vgl. (43). (43) UNG a. gyermek-ekP L ‚Kinder‘ gyermek-ekP L -nekD A T

C4 Numerus

1129

POL b. dzieciak-iN O M . P L ‚Kinder (ugs.)‘ dzieciak-omD A T . P L DEU c. Kind-erP L Kind-erP L -nD A T . P L Im Ungarischen sind Numerus- und Kasusmarkierung getrennt und erfolgen mithilfe eines kasusunspezifischen Pluralflexivs (-ek in (43a)) einerseits und numerusunspezifischer Kasusflexive wie -nek/DAT (vgl. gyermek-nek, DAT . SG ) andererseits. Numerus und Kasus haben je eigene Kennzeichen: Die Markierung ist ‚separativ‘. Im Polnischen erfolgt Numerus- und Kasusmarkierung ‚kumulativ‘; die Substantivflexive sind jeweils zugleich für Numerus und Kasus spezifiziert (vgl. (43b)) und können zudem mit dem Genus variieren: Beim Lexem DZIECIAK zeigt -i zugleich Nominativ und Plural an und ebenso -om zugleich Dativ und Plural. (Im Singular erscheinen Kasussuffixe, die im Allgemeinen keinen formalen Zusammenhang mit den Pluralsuffixen erkennen lassen (vgl. dzieciak-owiD A T . S G ).) Ebenso wenig weisen die Suffixe der verschiedenen Kasus des Plurals einheitliche durchlaufende Formeigenschaften auf (vgl. dzieciak-achL O K . P L ). Traditionell werden die Flexive als Kasusmarker mit unterschiedlichen (nach Genus und Numerus unterschiedenen) Anwendungsbereichen aufgefasst. Zu den betreffenden Flexiven siehe → C5.4.7. Im Deutschen werden in der Substantivflexion spezielle Pluralflexive und kumulative Kasus-Numerus-Flexive kombiniert, wie (43c) zeigt. Die (kasusunspezifische) Pluralform von KIND lautet Kind-er (mit -er/PL -Flexiv); sie erscheint in allen Kasus des Plurals, für die kein besonderes Kasusflexiv vorhanden ist (im Nominativ, Akkusativ und Genitiv). F ür den Dativ Plural der Substantive steht ein besonderes, numerusspezifisches Kasusflexiv zur Verfügung. Im Deutschen ist einerseits (in reduziertem Umfang) die für ältere indoeuropäische Sprachen typische kumulative Kasus-Numerus-Markierung (stärker bei Nicht-Substantiven) erhalten; bei Substantiven haben sich zusätzlich besondere Pluralflexive herausgebildet. Die gleichzeitige Nutzung von separativer Pluralmarkierung und kumulativer Kasus-Numerus-Markierung in der Substantivflexion stellt ein bemerkenswertes Spezifikum des Deutschen dar. Das angeführte Substantiv KIND kann als repräsentatives Beispiel für den Formenbau der gewöhnlichen Substantive des Deutschen stehen. Es besitzt fünf im Ausdruck verschiedene Formen: Kind, Kinde, Kindes, Kinder, Kindern. Als ‚Grundform‘ dient der unmodifizierte Stamm (Kind). Die Grundform tritt insbesondere im Nominativ Singular auf, aber sie ist, für sich genommen, nicht auf einen bestimmten Kasus festgelegt. Sie fungiert vielmehr als allgemeine, d. h. kasusunspezifische Form und tritt auch im Akkusativ und im Dativ auf. Die Formen Kinde, DAT . SG , und Kindes, GEN .SG , sind durch ihre Suffixe bezüglich Kasus und Numerus gekennzeichnet. Wenn die (weitgehend obsolete) Dativ-Singular-Form nicht verwendet wird, tritt die Grundform an ihre Stelle. Die durch das Pluralsuffix von der allgemeinen Grundform unterschiedene kasusunspezifische Pluralform Kinder ist die ‚Pluralgrundform‘. Im Falle von KIND existiert zudem eine kasusspezifische Dativ-Plural-Form, die von der Pluralgrundform  

1130

C Nominalflexion

durch ein zusätzliches Suffix unterschieden wird. Die Paradigmen von Substantiven anderer Klassen zeigen den gleichen Aufbau, gegebenenfalls mit verminderter Formendifferenzierung; auszunehmen sind nur die Substantive der schwachen Flexion (→ C6.6.1).

C4.1.3 Verteilung von Numerusmarkierungen in Nominalphrasen Einen Überblick zur Verteilung von Numerusmarkierungen auf die Bestandteile von NPs in den Vergleichssprachen können die Beispiele in (44) liefern. (44) ENG UNG FRA POL DEU

a. b. c. d. e.

the big cities, PL ‚die großen Städte‘ a magyar lányok, NOM . PL ‚die ungarischen Mädchen‘ les pulls verts, PL ‚die grünen Pullover‘ wszyscy dobrzy studenci, NOM . PL ‚alle guten Studenten‘ die jungen Frauen, NOM / AKK . PL

In ENG (44a) weist das Kopfsubstantiv eine Pluralform auf (cities zu CITY ‚Stadt‘), die Dependentien (the, definiter Artikel; big, ADJ , ‚groß‘) bleiben unverändert (ohne Numerusdifferenzierung). Ebenso verhält es sich in UNG (44b) mit lányok (Pluralform zu LÁNY ‚Mädchen‘), a (definiter Artikel, unflektiert), magyar (ADJ , unflektiert, ‚ungarisch‘). Eine andere Konstellation zeigt das Französische (44c). Das Schriftbild bietet Pluralformen für alle drei Elemente, jeweils kenntlich am Ausgang auf -s (les zu LLEE , definiter PUL L , M ‚Pullover‘; verts zu VERT ‚grün‘). Tatsächlich wird in (44c) bei Artikel; pulls zu PULL keiner der drei Formen das Suffix phonologisch realisiert; die Lautformen des Substantivs, /pyl/, und des Adjektivs, /vɛʀ/, unterscheiden sich nicht von den entsprechenden Singularformen. Der Artikel zeigt dagegen einen Wechsel zwischen Singularund Pluralstamm, der durch Vokalwechsel hergestellt wird (le /lə/ vs. les /le/). Die Pluralspezifikation für die NP wird hier nicht am substantivischen Kopf, sondern am Determinativ sichtbar. In anderen Kontexten (bei Liaison) kann auch das sigmatische Suffix lautlich realisiert werden (vgl. → C4.2.4). Für die Pluralmarkierung innerhalb der NP ist jedoch in aller Regel die Markierung am Determinativ ausschlaggebend. Im Polnischen weisen alle drei Elemente (Pronomen, Adjektiv, Substantiv) ein Kasus-Numerus-Suffix auf; hier das NOM . PL - Suffix -i (orthographisch 〈i〉 oder 〈y〉), verbunden mit Konsonantenwechsel. Die Kasus-Numerus-Markierung erfolgt an allen drei Elementen, doch wird gewöhnlich die Markierung am substantivischen Kopf der Phrase als primär angesehen; die Dependentien kongruieren mit dem Kopf bezüglich Genus, Numerus und Kasus (vgl. → C6.2). Die Beispiele in (44) aus dem Englischen, Ungarischen, Französischen und Polnischen zeigen, dass Numerusmarkierung allein am Kopfsubstantiv (44a, b), allein am Artikel (44c) oder zugleich an allen NP-Bestandteilen (44d) sichtbar werden kann.

C4 Numerus

1131

Für das Deutsche wird (wie für das Polnische) Kongruenz der Dependentien mit dem Kopfsubstantiv bezüglich Genus, Numerus und Kasus angenommen. Der Beitrag der flexivischen Markierungen der einzelnen Wortformen zur Kennzeichnung der kategorialen Spezifikationen der NP in DEU (44e) unterscheidet sich jedoch in signifikanter Weise von dem in POL (44d). In POL (44d) ist jede der auftretenden Formen, sieht man von Vokativlesarten ab, für sich allein genommen durch ihr Flexiv eindeutig als NOM . PL -Form gekennzeichnet. In DEU (44e) ist dies nicht der Fall. Die Substantivform Frauen ist bezüglich des Numerus eindeutig gekennzeichnet (als Pluralform), jedoch bezüglich des Kasus unbestimmt. Die Form des Artikels die ist dagegen dieselbe, die auch im NOM / AKK . SG auftreten würde (die junge Frau), und die Form jungen kann ebenso im Singular wie im Plural auftreten, wenn auch im Singular nicht in allen Kasus. In Hinblick auf die Kennzeichnung des Plurals scheint DEU (44e) eine Konstellation zu zeigen, die eher derjenigen im Englischen (44a) und Ungarischen (44b) entspricht als derjenigen im Polnischen. Die Form des substantivischen Kopfes liefert schon für sich eine eindeutige Pluralspezifikation für die NP. Wo dies der Fall ist, liefern die Formen der Dependentien keinen zusätzlichen Beitrag zur Bestimmung der Numerusspezifikation. Die Artikelform legt vielmehr die Kasusspezifikation der NP auf NOM / AKK fest; die Adjektivform liefert nichts darüber hinaus. Wie die Übersetzungen in (44) zeigen, gilt jedoch das Verfahren der Numerusanzeige am substantivischen Kopf im Deutschen nicht uneingeschränkt. In (44b) und (44c) zeigen die deutschen Substantivformen keine Pluralkennzeichen. Die Formen fallen mit den Grundformen der betreffenden Substantive zusammen (Mädchen, Pullover), wie sie auch im NOM . SG auftreten (das ungarische Mädchen, der grüne Pullover). Aber auch diese NPs sind, trotz der je für sich uneindeutig bleibenden Formen, durch das Zusammenspiel der Formen eindeutig für Plural spezifiziert. Die Formen die und ungarischen lassen jeweils sowohl SG - als auch PL -Interpretation zu, doch tritt die im Singular nur in den direkten Kasus des Femininums auf, dagegen die Adjektivform auf -(e)n (hier: ungarischen) im Femininum Singular nur in indirekten Kasus, so dass für die Verbindung die ungarischen nur eine PL -Interpretation bleibt (und ebenso für die grünen). Dasselbe gilt aber auch für (44e) mit die jungen. Auch hier steht ohne Berücksichtigung der Pluralmarkierung an der Substantivform die Plurallesart für die NP schon wegen der auftretenden Formen von Artikel und Adjektiv fest. Würde andererseits das Adjektiv fehlen (wie in die Frauen vs. die Frau), wäre die Pluralspezifikation ohne die Pluralmarkierung am Substantiv nicht zu gewinnen. In die Mädchen und die Pullover gilt dies nicht. Hier erweist sich die Genusspezifikation als ausschlaggebend für die Herleitung der Numerusspezifikation. MÄDCHEN und PULL PUL LOVER OVER sind Non-Feminina (N bzw. M ) und bei Non-Feminina kann die nur im Plural erscheinen. Insgesamt verbindet das System der flexivischen Markierung innerhalb der NP Eigenschaften, die die Kontrastsprachen gesondert zeigen. Für die Numerusdifferenzierung (d. h. die Kennzeichnung des Plurals) ist teils die Markierung am substantivischen Kopf (wie im Englischen und Ungarischen) aus 

1132

C Nominalflexion

schlaggebend, teils die Flexion der Determinative (wie im Französischen); dabei werden alle fraglichen Bestandteile flektiert (wie im Polnischen), aber ohne die durchgängige Eindeutigkeit der Einzelmarkierungen, die im Polnischen bezüglich der Pluralspezifikation weitgehend gegeben ist. Charakteristisch für das Deutsche (mit deutlichem Unterschied zu den Kontrastsprachen) ist gerade dieses auf den ersten Blick eher verwirrende Zusammenspiel der Markierungen an verschiedenen Bestandteilen der NP (das manchmal als ‚Gruppenflexion‘ bezeichnet wird); siehe im Einzelnen → C6.4 zur ‚flexivischen Kooperation‘.  

C4.2 Numerusmarkierung der Substantive C4.2.1 Vorbemerkung Im vorliegenden Abschnitt besprechen wir die separativen Pluralflexive, die an Substantiven im Ungarischen,, Englischen, Französischen und Deutschen auftreten. Zu den kumulativen Flexiven der Kasus-Numerus-Flexion im Polnischen und im Deutschen siehe → C5.4. Die Pluralkennzeichen sind in unterschiedlichem Maße wortartgebunden. Die Pluralkennzeichen des Ungarischen und des Französischen sind wortartungebunden, die Pluralkennzeichen des Englischen weitgehend, die des Deutschen ganz auf Substantive beschränkt.

C4.2.2 Pluralbildung im Ungarischen Im Ungarischen erfolgt die Kennzeichnung des Plurals innerhalb der NP durch flexivische Markierung des Kopfsubstantivs wie in (44b). Das allgemeine Pluralflexiv der Substantive besteht aus einem optionalen kurzen Vokal – gewöhnlich mit mittlerem Öffnungsgrad (e, ö, o) – gefolgt vom Konsonanten k und kann als -(V)k/PL notiert werden. Beispielformen (im Nominativ) sind in (45) aufgeführt. (45) UNG a. b. c. d. e. f. g.

SINGULAR

PLURAL

barát ‚Freund‘ szék ‚Stuhl‘ őr ‚Wächter‘ kocsi ‚Auto‘ táska ‚Tasche‘ csinos ‚hübsch‘ ház ‚Haus‘

barát-ok szék-ek őr-ök kocsi-k táská-k csinos-ak ház-ak

Vokalharmonie: hinten Vokalharmonie: vorn Vokalharmonie: vorn, gerundet Ausfall des Flexivvokals a-Dehnung offener Flexivvokal offener Flexivvokal

Welcher Vokal auftritt, richtet sich nach den Regeln der Vokalharmonie, die im Ungarischen allgemein gelten; vgl. (45a, b, c). Endet der Stamm wie in (45d) auf

C4 Numerus

1133

Vokal, so fällt der Initialvokal des Flexivs nach allgemeiner Regel aus; stammauslautendes a oder e wird bei Antritt des Flexivs gedehnt wie in (45e) (Akzent markiert Vokallänge); zur Variantenbildung der Suffixe siehe im Einzelnen → C3.3.5. Adjektive als Attribute zu Substantiven bleiben im Ungarischen unflektiert; alleinstehend (in NPs ohne substantivischen Kopf und bei prädikativer Verwendung) werden Adjektive dagegen flektiert und nehmen gegebenenfalls das allgemeine Pluralkennzeichen an. Die Wahl des Flexivvokals wird durch die Wortart mitbestimmt. Adjektive sind ‚Öffner-Stämme‘; sie verlangen wie in (45f) die Flexivvariante -ak (mit offenem Vokal, nämlich a oder e, entsprechend der Vokalharmonie), wo Substantive die -ok-Variante nehmen würden. Die unterschiedliche Wahl des Initialvokals des Suffixes bei Substantiven und Adjektiven kann einen Formenwechsel zwischen gewöhnlichem Adjektiv und nominalisiertem Adjektiv mit sich bringen; der Plural zum Adjektiv VÖRÖS ‚rot‘ lautet vörös-ek, dagegen bei nominalisierter F ELELŐS ‚verantVerwendung vörös-ök ‚die Roten‘ (Szent-Iványi 1995: 19); ebenso FELELŐS wortlich‘, PL : felelős-ek, gegenüber felelős-ök ‚die Verantwortlichen‘ usw. (Forgács 2004: 182). Zu weiteren flexivischen (und semantischen) Differenzierungen, die mit der Nominalisierung von Adjektiven im Ungarischen einhergehen, siehe Elekfi (2000: 150–154). Zur wortartspezifischen Verteilung der Flexivvarianten gibt es Ausnahmen in beiden Richtungen. (45g) zeigt die -ak-Variante am Substantiv. HÁZ ‚Haus‘ gehört zu einer lexikalisch bestimmten Klasse von Substantiven (substantivische Öffner-Stämme), die die ‚falsche‘ Flexivvariante nehmen. Umgekehrt nehmen einige Adjektive wie NAGY ‚groß‘ die -ok-Variante (PL : nagy-ok) (Rounds 2001: 166). Das Auftreten der Flexivvarianten ist im Ungarischen auf transparente Weise phonologisch determiniert, aber es gibt lexikalisch zu markierende Ausnahmen, für die hier nur einige Beispiele genannt werden können. Etwa 60 Substantive mit vorderem Stammvokal wie CÉL ‚Ziel‘ nehmen gegen die Regel Flexivvarianten auf hinteren Vokal (PL : cél-ok) (Törkenczy 2002: 14, „anti-harmonic stems“). Bei verschiedenen Stämmen wie FÉRFI ‚Mann‘ fällt der Flexivvokal gegen die Regel nicht aus, PL : férfi-ak. Häufiger kommt dies bei Adjektiven und bei nominalisierten Adjektiven wie VÁROSI ‚Städter‘ vor, PL : városi-ak. Dies gilt in der Regel für Adjektive mit Stammausgang auf i, ú oder ű; vgl. noch HOSSZÚ ‚lang‘, PL : hosszú-ak, EGYSZERŰ ‚einfach‘, PL : egyszerű-ek, aber: KICSI ‚klein‘, PL : kicsi-k; SŰRŰ ‚dick/dicht‘, PL : sűrű-k. Adjektive auf ó oder ő wie JÓ ‚gut‘ folgen dem regelmäßigen Muster (PL : jók); anders Partizipien auf ó oder ő, die beide Varianten erlauben, wie ÉRTHETŐ ‚deutlich/verständlich‘, PL : érthető-ek oder érthető-k (Rounds 2001: 165 f.).  

Synkope des der Endung vorangehenden Stammvokals zeigt BOKOR ‚Busch‘, PL : bokr-ok, Kürzung ‚Glas‘, PL : pohar-ak, und besonderen Stammwechsel TÓ ‚See‘, PL : tav-ak. Verschiedene Besonderheiten können kombiniert auftreten wie bei HÍD ‚Brücke‘, PL : hid-ak, mit Kürzung des Stammvokals und antiharmonischem, zudem geöffnetem Flexivvokal. POHÁR

Die verschiedenen Typen von Variationen bei den Stämmen und Endungen und deren Kombination – von phonologisch regelmäßigen Wechseln über subreguläre Prozesse bis zu lexikalischen Idiosynkrasien – führen im Ungarischen zu einer außerordentlichen Vielfalt der Paradigmen (vgl. Elekfi 1994), doch weist die ganz

1134

C Nominalflexion

große Mehrheit der ungarischen Substantive und Adjektive reguläre Pluralformenbildung auf. Schwankungen in der Pluralbildung können sich ergeben, wenn reguläre und irreguläre Bildungen konkurrieren. Beispiele liefern Substantive wie FALU ‚Dorf‘ mit Ausgang auf u, die als ‚v-Stämme‘ (mit Wechsel von u zu v) behandelt werden können (PL : falv-ak) oder regelmäßige Formenbildung zeigen (PL : falu-k); vgl. auch HAMU ‚Asche‘, PL : hamvak ~ hamuk, DARU ‚Kranich/Kran‘, PL : darv-ak ~ dar-uk (mit Bedeutungsdifferenzierung), ODÚ ‚Höhle‘, PL : odv-ak ~ odú-k (Rounds 2001: 306). Bei BORJÚ ‚Kalb‘ kann der stammfinale Vokal ausfallen (PL : bor-jak); daneben ist auch eine regelmäßige Bildung möglich (PL : borjú-k); vgl. auch VÁRJÚ ‚Krähe‘ (Törkenczy 2002: 38).

C4.2.3 Pluralbildung im Englischen C4.2.3.1 Reguläre Pluralbildung Im Englischen erfolgt die Kennzeichnung des Plurals innerhalb der NP in der Regel durch flexivische Markierung des Kopfsubstantivs wie in (44a). Andere NP-Konstituenten weisen in der Regel keine Numeruskennzeichen auf. Eine Ausnahme bilden die Demonstrativa THIS ‚dieser‘ und THAT ‚jener‘, die besondere Pluralformen besitzen (these, those) (→ C4.3.3). Reguläre Pluralbildung der Substantive erfolgt durch Suffigierung. An die Grundform des Stamms tritt das Pluralsuffix, das orthographisch als 〈s〉 oder 〈es〉 erscheint, L ADY ‚Dame‘ (mit orthographischer Variation wie in boys zu BOY ‚Junge‘ oder ladies zu LADY bei der Stammschreibung), und vereinfachend als -s/PL notiert werden kann. Für die reguläre Flexion des Gegenwartsenglischen ist charakteristisch, dass eine transparente Segmentierung in Stamm und Suffix möglich ist. Damit geht einher, dass Stämme in verschiedenen Flexionsformen im Englischen im Regelfall unverändert bleiben (Prinzip der Stammkonstanz). Flexionsendungen zeigen dagegen phonotaktisch motivierte Varianten. Das Pluralsuffix erscheint lautlich in drei Varianten. Es lautet im Normalfall /z/ wie in (46c); daneben erscheinen die Varianten /ɪz/ und /s/ wie in (46a) bzw. (46b). (46) ENG

a.

HORSE

‚Pferd‘ b.

CAT

‚Katze‘ c.

DOG

‚Hund‘

SG

PL

/hɔːs/ horse

/ hɔːsɪz/ horses

/kæt/ cat

/kæts/ cats

/dɒɡ/ dog

/dɒɡz/ dogs

C4 Numerus

1135

Die Verteilung der drei Varianten wird durch das finale Segment des Stamms bestimmt, wie in (47) angegeben ist. (47)

a. /ɪz/ nach Sibilanten (/s z ʃ ʒ ʧ ʣ/) b. /s/ nach non-sibilantischen stimmlosen Konsonanten (/p t k f θ/) c. /z/ sonst

Nach Sibilanten steht /ɪz/ wie in (46a); im Übrigen steht nach stimmlosen Obstruenten /s/ wie in (46b), in allen anderen Fällen (nach stimmhaften Non-Sibilanten und Vokalen) /z/ wie in (46c). Die Variantenverteilung kann synchron als das Ergebnis des Zusammenspiels unabhängig motivierter Beschränkungen verstanden werden, die insbesondere das Auftreten von Gruppen unmittelbar aufeinanderfolgender Sibilanten und von Gruppen von Obstruenten mit wechselnder Stimmhaftigkeit ausschließen (Shibatani 1972, 1973: 93). Die Form des Pluralsuffixes kann (ähnlich dem ungarischen Pluralsuffix) als Folge aus einem instabilen Initialvokal und einem charakteristischen Obstruenten angesetzt werden, daher: /(ɪ)z/. Der instabile Initialvokal fällt soweit möglich aus; der Obstruent wird, falls erforderlich, bezüglich Stimmhaftigkeit angepasst und verliert gegebenenfalls die Stimmhaftigkeit. Diachron bildet die volle oder silbische Variante des Suffixes die Ausgangsform für die heutigen drei Varianten (Jespersen 1942: 257). Im Gegenwartsenglischen steht die silbische Form dann und nur dann, wenn es andernfalls zu einem Zusammenstoß zweier gleicher oder sehr ähnlicher Konsonanten käme. Im Falle von horse würde sich beim Antritt des Suffixes in nicht-silbischer Variante im Wortausgang eine unzulässige Abfolge zweier Sibilanten ergeben (*/hɔːss/). Eine Verschmelzung (‚Degeminierung‘) würde die flexivische Kennzeichnung unkenntlich machen und die Segmentierbarkeit aufheben. Die Erhaltung der silbischen Variante des Pluralsuffixes bei Stämmen, die auf Sibilanten (/s z ʃ ʒ ʧ ʣ/) auslauten, bewahrt dagegen die Transparenz der Formenbildung (Jespersen 1942: 268; vgl. Stockwell/Minkova 2001: 101, „a response to the need for transparency; […] the vowel was lost only in cases where the transparency was not endangered“). Steht eine nicht-silbische Variante des Suffixes nach einem auf Obstruent ausgehenden Stamm, so ergibt sich im Ausgang der Wortform eine Gruppe von Konsonanten, die im Englischen bezüglich des Merkmals Stimmhaftigkeit übereinstimmen müssen (wie in dogs /dɒɡz/, stimmhaft, und cats /kæts/, stimmlos). Bei einem Stamm wie cat würde die Suffigierung der stimmhaften Variante eine nicht wohlgeformte Form liefern (*/kætz/). Nach stimmlosen Konsonanten ist hier Stimmhaftigkeitsassimilation eingetreten. Die Stimmhaftigkeitsassimilation erfolgt bei Flexionssuffixen entgegen dem sonst im Englischen vorherrschenden Muster ‚von links nach rechts‘ (progressiv). Das Suffix, nicht der Stamm, wird angepasst. Auch hier bleibt die Konstanz des Stamms gesichert. (Entsprechendes gilt für andere Fälle regulärer Suffigierung im Englischen.) Verschiedene Pluraliatantum besitzen nur eine Form, die das Aussehen einer Pluralform hat. Gewöhnlich handelt es sich um Bezeichnungen für zweiteilige oder entsprechend gegliederte Artefakte wie PANTS ‚Hose‘, (a pair of) SCISSORS ‚Schere‘, SPECTACLES ‚Brille‘ oder aus (kleinen oder diversen) Einzelgegenständen zusammengesetzte Kontinuativa wie OATS ‚Hafer‘ oder GROCERIES ‚Lebensmittel‘. Eine weitere Gruppe von Substantiven besitzt Grundformen auf /s/ oder /z/, die sowohl als SG -Formen als auch als PL -Formen fungieren können wie BARRACKS ‚Kaserne‘ (a

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C Nominalflexion

barracks, these barracks) oder HEADQUARTERS ; ebenso SERIES , SPECIES , MEANS u. a. Auch Völkernamen auf Sibilant wie CHINESE können in der Grundform als ungekennzeichnete Plurale verwendet werden. Schließlich finden sich Substantive mit Grundformen auf /s/ oder /z/, die nur als Singulare verwendet werden (Singulariatantum), insbesondere Bezeichnungen für WissensgebieMATHEM ATICS ‚Mathematik‘ oder Spiele wie BILLIARDS ‚Billiard‘ und bestimmte Krankheiten te wie MATHEMATICS wie MUMPS ‚Mumps‘ und MEASLES ‚Masern‘.  

C4.2.3.2 Basis der Pluralformen Die Grundform des Stamms fungiert gewöhnlich zugleich als unmarkierte Wortform (als Grundform des lexikalischen Wortes). Abweichungen ergeben sich in Fällen wie BROTHER - IN - LAW ‚Schwager‘ oder PASSER - BY ‚Passant‘, bei denen die Wortform um ein auf die Stammform folgendes Element erweitert ist. Auch hier tritt das Pluralsuffix an die Stammform; vgl. Bauer/Lieber/Plag (2013: 140). Daher ergeben sich Pluralformen wie brothers-in-law und passers-by; in normierter Sprache auch courts martial (neben court martials) zu COURT MARTIAL ‚Kriegsgericht/Militärgericht‘. Im Übrigen werden Zusammensetzungen in aller Regel wie ihre Köpfe behandelt (silver spoon ‚silberner Löffel‘, PL : silver spoons). Dies gilt auch für ‚appositive Komposita‘ (Jespersen 1936: „appositional compounds“) wie fellow travellers ‚Mitreisende‘, jedoch wird zur Sexusbezeichnung vorangestelltes MAN oder WOMAN gegebenenfalls in den Plural gesetzt, MANSERVANT ‚Diener‘, PL : menservants, WOMAN WRITER ‚Autorin‘, PL : women writers (aber lady writers); dies betrifft, wie Jespersen hervorhebt, gerade Substantive, die den Plural nicht auf -s bilden. Nach Pinker (1999: 179) handelt es sich hier um Belege für die generellere Erscheinung, dass im Englischen als Erstglieder von Komposita zwar irreguläre Pluralformen, aber keine regulären Pluralformen erscheinen können. Durchsichtige Bildungen mit Köpfen, die einen unregelmäßigen Plural bilden, können wie die Köpfe behandelt werden (HOUSEWIFE ‚Hausfrau‘, PL : housewives); undurchsichtige Bildungen erhalten regulären Plural (STILL LIFE ‚Stillleben‘, PL : still lifes) (Huddleston/Pullum 2002: 1587).

C4.2.3.3 Irreguläre Pluralbildungen Bei einer Reihe von Substantiven mit Stammausgang auf Frikativ besteht als erstarrtes Relikt einer älteren phonologischen Regularität ein Wechsel zwischen stimmlosem Frikativ (/f θ s/) im Auslaut (jetzt: im Singular) und stimmhaftem Frikativ (/v ð z/) im Inlaut (jetzt: vor dem Suffix im Plural) (Jespersen 1933: 55). Die Verteilung der Suffixvarianten (/ɪz/ vs. /z/) ist regelmäßig; vgl. KNIFE ‚Messer‘ mit den Formen knife /naɪf/, SG , und knifes /naɪvz/, PL , sowie HOUSE ‚Haus‘ mit den Formen house /haʊs/, SG , und houses / haʊzɪz// , PL .

1137

C4 Numerus

Der Stammformenwechsel nach dem Muster von KNIFE zeigt sich bei einer Reihe von Substantiven wie CALF ‚Kalb‘, LIFE ‚Leben‘, WIFE ‚Ehefrau‘ und WOLF ‚Wolf‘, teilweise neben regulärer Bildung, so bei DWARF ‚Zwerg‘; ferner HALF ‚Hälfte‘, LEAF ‚Blatt‘, LOAF ‚Brotlaib‘, SHELF ‚Bord/Regalbrett‘, SHEAF ‚Garbe/Bündel‘ und THIEF ‚Dieb‘. /f/-/v/-Wechsel zeigen auch SELF ‚Selbst‘ und die (von diesem abgeleiteten) Reflexivpronomina (vgl. myself vs. ourselves usw.). In der 2. Person wird so die sonst hier fehlende SG - PL -Differenzierung (yourselfS G , yourselvesP L ) hergestellt. Dem Muster PATH ‚Weg‘ (mit den Formen path /pɑːθ/, SG , paths /pɑːðz/, PL , folgen einige weitere Substantive, teilweise mit Schwankung zwischen regulärem und irregulärem Plural wie TRUTH ‚Wahrheit‘ (truths, PL , /truːðz/ oder /truːθs/). HOUSE ist das einzige Substantiv mit /s/-/z/-Wechsel. Isolierte Beispiele für Pluralformen auf /s/ nach stimmhaftem Segment sind diceP L /daɪs/ ‚Würfel‘ und penceP L neben regulärem pennies zu PENNY (Währungseinheit) (zur diachronen Erklärung Jespersen 1942: 266 f.).  



Weiterhin existieren einige wenige fossilisierte Reste anderer Pluralbildungstypen. Darunter fallen MAN ‚Mann‘, WOMAN ‚Frau‘ und GOOSE ‚Gans‘; als Pluralform fungiert hier eine besondere Pluralstammform, die gegenüber der Grundform des Stamms Vokalwechsel (Umlaut) zeigt (men, women, geese). Zum Umlaut-Typ gehören noch vier weitere Lexeme: FOOT , feetP L ‚Fuß‘, TOOTH , teethP L ‚Zahn‘; LOUSE , liceP L ‚Laus‘, MOUSE , miceP L ‚Maus‘. Abweichende Pluralbildung (mit ‚-en-Plural‘ hat ferner OX , oxenP L ‚Ochse‘; außerdem (mit zusätzlichem Vokalwechsel) CHILD , childrenP L ‚Kind‘ und BROTHER , brethrenP L ‚Bruder‘, in der Bedeutung ‚Angehöriger einer Bruderschaft‘.

C4.2.3.4 Non-substantivische Lexeme mit s-Plural Der s-Plural ist im Englischen nahezu ausschließlich den Substantiven vorbehalten. Darunter fällt auch der s-Plural bei Numeralia wie bei millions ‚Millionen‘ oder three fives ‚drei Fünfen‘; vgl. auch in twos ‚zu zweit, paarweise‘. Nicht-Substantive bleiben im Allgemeinen unflektiert (vgl. aber → C4.3.3 zu den Demonstrativa). Auch in NPs ohne substantivischen Kopf können Adjektive nicht die für NP-Köpfe geltende Flexion übernehmen (wie z. B. im Ungarischen). Vielmehr wird die Kopf-Position in der Regel durch das Stützwort (Jespersen 1936: Ch. X „prop-word“) ONE besetzt (the blue one ‚der blaue‘). ONE und OTHER , zwei Pronomina, die typischerweise als Köpfe von NPs auftreten (wie in the big ones oder in the others, auch alleinstehend others), sind die einzigen Pronomina, die s-Pluralformen bilden (Jespersen 1933: 82; Quirk et al. 1985: 388 f.); siehe dazu im Einzelnen → D2.3.1.  





Lexeme verschiedener Typen von Nicht-Substantiven können als Substantive verwendet und gegebenenfalls in den Plural gesetzt werden (Jespersen 1936: 211–231) (vgl. ups and downs, the fors and againsts), darunter auch die Pronomina SOMEBODY ‚ein Jemand‘ und NOBODY ‚ein Niemand‘, gelegentlich auch SOMETHING ‚etwas‘ und NOTHING ‚nichts‘ (Jespersen 1936: 220 f., „half humorously“, Jespersen 1949: 599).  

1138

C Nominalflexion

C4.2.4 Pluralbildung im Französischen Die Verfahren zur Pluralmarkierung in den romanischen Sprachen sind sehr vielfältig, darunter Vokalwechsel, Konsonantenwechsel, Akzentwechsel, Suffigierung und Reduplikation (Geckeler 1986). Das am häufigsten verwendete Verfahren besteht in der Anfügung eines sigmatischen Suffixes wie im Spanischen (Butt/Benjamin 1994: 17); vgl. (48). (48) a. el campo verde (SG ) ‚das grüne Feld‘ SPA b. los campos verdes (PL ) ‚die grünen Felder‘ c. la torre alta (SG ) ,der hohe Turm‘ d. las torres altas (PL ) ,die hohen Türme‘ Hier besitzen Determinative, Substantive und Adjektive je besondere Pluralformen, die durch ein Pluralflexiv auf /s/ ausgezeichnet sind. Alle entsprechenden Bestandteile einer NP unterliegen der Flexion. Nach Konsonant wie in león/leones (‚Löwe/ Löwen‘) erscheint -es. In besonderen Fällen, etwa bei Wortausgang auf Sibilant, können die Pluralformen mit den Singularformen zusammenfallen (wie in la/las crisis, aber hier wie sonst mit Numerusdifferenzierung am Artikel); Fremdwörter zeigen Besonderheiten. Das gleiche Grundmuster der Pluralbildung findet sich auch in anderen westromanischen Sprachen wie etwa dem Portugiesischen; vgl. (49). (49) a. o campo verde (SG ) POR b. os campos verdes (PL ) c. a torre alta (SG ) d. as torres altas (PL ) In ostromanischen Sprachen wie dem Italienischen findet sich Pluralbildung bei Substantiven durch Vokalsubstitution. Im Italienischen (Dardano/Trifone 1995) können in Hinblick auf die Pluralbildung drei Typen von Substantiven unterschieden werden. (i) Feminina, die im Singular auf -a ausgehen, wie SORELLA , F ‚Schwester‘ oder PIANISTA , F ‚Pianistin‘, mit Pluralformen auf -e (z. B. sorelle, PL ). (ii) Andere vokalisch auslautende Substantive, mit Pluralformen auf -i. Dazu gehören Maskulina mit Grundformen auf -o, -a oder -e wie TRENO , M ‚Zug‘, PIANISTA , M ‚Pianist‘, PROBLEMA , M ‚Problem‘ und PADRE , M ‚Vater‘ sowie Feminina auf -e wie MADRE , F ‚Mutter‘; auch MANO , F ‚Hand‘. (iii) Substantive, die sich aus dem einen oder anderen Grunde nicht in die gewöhnlichen Muster einfügen und keine von den Singularformen unterschiedenen Pluralformen besitzen. Dazu gehören Substantive, die auf Konsonant oder auf betonten Vokal ausgehen, wie BAR , M ‚Bar/Café‘ oder CITTÀ , F ‚Stadt‘, einschließlich Einsilblern wie RE , M ‚König‘; ferner KurzCINEM A ). Andere unregelmäßige Bildungen (u. a. solche wörter (wie FOTO ) und Fremdwörter (wie CINEMA mit Stammvariation durch Palatalisierung vor -i und solche mit Pluralformen auf -a) sind selten.  



Auch im geschriebenen Französischen findet sich das westromanische Muster sigmatischer Markierung, die sich an den Bestandteilen der NP wiederholt; vgl. (50).

C4 Numerus

1139

(50) a. le petit‿enfant /ləpetitãfã/, SG ‚das kleine Kind‘ FRA b. les petits‿enfants /lepetizãfã/, PL ‚die kleinen Kinder‘ Im Allgemeinen erscheinen die im Schriftbild durch das Plural-s gekennzeichneten Formen in der Lautform ohne sibilantischen Ausgang und unterscheiden sich formal nicht von den Singularformen; vgl. enfant/enfants /ãfã/ in (50a, b), doch wird das Suffix in Liaison-Kontexten realisiert; siehe → C2.8.1 zum Verhältnis von Schriftformen und Lautformen im Französischen sowie speziell zu den Genusformen der Adjektive. Die Konstruktion mit Substantiv und vorangestelltem Adjektiv stellt einen Kontext dar, in dem Liaison die Regel ist. (In (50) ist Liaison durch das Zeichen ‚‿‘ gekennzeichnet.) Daher erscheint in (50a) die maskuline Singularform von PETIT in der langen Variante (/petit/). Ebenso wird in der Liaison das Pluralflexiv ‑s am Adjektiv als /z/ sichtbar; vgl. (50b). Bei Voranstellung des Adjektivs gilt Liaison zwischen Adjektiv und Substantiv, wo sie möglich ist, als der Regelfall (oder als ‚obligatorisch‘). Liaison zwischen Substantiv im Plural und Adjektiv bei nachgestelltem Adjektiv wie in amis‿intimes ‚enge Freunde‘ gilt als optional (Bonami/Boyé/Tseng 2004). Das Substantiv AMI steht im Plural (amis); die Pluralform lautet in der Liaison /amiz/, andernfalls /ami/. Der Formvariation bei den Pluralformen kann auf die gleiche Weise Rechnung getragen werden, wie es bei der Variation zwischen Kurzformen und Langformen im Maskulinum Singular bei Adjektiven erfolgt (→ C2.8.1). Die M . SG - Form von PETIT kann unter Berücksichtigung ihrer beiden Varianten als /peti(t)/, M . SG , notiert werden, oder äquivalent in orthographischer Notation als petit. Die Pluralform amis zu AMI kann entsprechend als /ami(z)/, M . PL , notiert werden. Die Pluralform amis unterscheidet sich von der Singularform ami gerade darin, dass sie zwei Formvarianten besitzt, eine Langvariante /amiz/, die in Liaison-Kontexten auftritt, und eine Kurzvariante /ami/, die sonst auftritt, während die Singularform ami nur eine einzige Variante (/ami/) besitzt, die mit der Kurzvariante der Pluralform zusammenfällt.

Auch die Pluralform les des definiten Artikels zeigt eine auf /z/ auslautende Langvariante (/lez/), die in Liaison-Kontexten wie (51a) auftritt, und eine vokalisch auslautende Kurzvariante (/le/), die sonst auftritt, wie in (51b). (51) a. les enfants /lezãfã/, PL ‚die Kinder‘ FRA b. les portiers /lepɔʀtje/, PL ‚die Portiers‘ Anders als bei den substantivischen und adjektivischen Pluralformen amis und petits fällt bei der Pluralform des definiten Artikels les, /le(z)/, keine der beiden Formvarianten mit einer der Singularformen (le, l’, la) zusammen, die /lə/, /l/, /la/ lauten (→ C2.8.2). Die Pluralform ist hier von den Singularformen nicht nur durch das Suffix -s, sondern zusätzlich durch Vokalalternation unterschieden. Im Französischen kann in einer NP je nachdem, ob ein Determinativ mit vokalisch markierter Pluralform vorhanden ist und/oder ein Liaison-Kontext gegeben ist, der Plural einmal, mehrmals oder gar nicht formal kenntlich sein. In (51b) ist der Plural  

1140

C Nominalflexion

nur durch den Vokalwechsel am Determinativ, in (51a) durch Vokalwechsel und die sigmatische Markierung am Determinativ, in (50b) durch Vokalwechsel am Determinativ und die sigmatische Markierung am Adjektiv gekennzeichnet. Weitere Verteilungsvarianten sind möglich, die in Dubois (1965) vollständig durchgespielt werden. Die Beispiele in (52) zeigen NPs ohne eine Form mit vokalisch markiertem Plural, aber mit sigmatischer Markierung am Pronomen (a), am Adjektiv (b) oder an beiden (c) (Geckeler 1987: 62 f.).  

(52) a. quelques‿anciens châteaux ‚einige alte Schlösser‘ FRA b. quelques petits‿ennuis ‚einige kleine Probleme‘ c. quelques‿anciennes‿églises ‚einige alte Kirchen‘ Die Beispiele in (53) zeigen weitere NPs ohne eine Form mit vokalisch markiertem Plural. (53) a. leurs enfants, /lœʀzãfã/, PL ‚ihre Kinder‘ FRA b. aux enfants, /ozãfã/, PL ‚den Kindern‘ c. leur fils/leurs fils, /lœʀfis/, SG / PL ‚ihr Sohn/ihre Söhne‘ d. au fils/aux fils, /ofis/, SG / PL ‚dem Sohn/den Söhnen‘ Ist kein Liaison-Kontext gegeben wie in (53c, d), so kann der Plural für die NP als Ganze unkenntlich bleiben; die NPs im Plural fallen mit ihren Gegenstücken im Singular zusammen. Stammwechsel zwischen Singular und Plural kommt auch bei Adjektiven und Substantiven vor, aber nur in Kleingruppen und einzelnen Ausnahmefällen. Alle entsprechenden Bildungsmuster sind unproduktiv. Eine Reihe von maskulinen Substantiven, deren Singularformen auf /al/ ausgehen, bilden Pluralformen auf /o/ (geschrieben: aux) wie CHEVAL ‚Pferd‘ (cheval, /ʃəval/ vs. chevaux, /ʃəvo/), und ebenso bilden Adjektive mit maskulinen SG - Formen auf /al/ entsprechende AM ICAL ‚freundlich‘ (amical, /amikal/, M . SG vs. amicaux, /amiko/, M . PL ). Die Pluralformen, z. B. AMICAL feminine Pluralbildung ist regelmäßig (amicale, SG , vs. amicales, PL ). Andere Substantive und Adjektive auf /al/ wie CHACAL ‚Schakal‘ oder FATAL ‚fatal‘ zeigen regelmäßige Bildung. Plural auf /o/ haben auch TRAVAIL ‚Arbeit‘ (/tʀavaj/ vs. /tʀavo/) und wenige andere auf /aj/. Nur wenige ŒUF UF weitere irreguläre Einzelfälle existieren, darunter ŒIL ‚Auge‘ (œil /œj/, SG , vs. yeux /jø/) und Œ ‚Ei‘ (œuf /œf/ vs. œufs /ø/), ebenso BŒUF . (Daneben existieren Lexeme mit orthographischen Abweichungen, aber mit regulärer Flexion.)  

Zusammenfassend lässt sich feststellen: Im Französischen existiert eine einheitliche produktive Pluralbildung für Nominalformen mittels des Suffixes -s. Diese Form der Pluralbildung liefert Pluralformen, die jeweils eine Kurzvariante und eine Langvariante besitzen. Im Ergebnis weisen regulär flektierende Substantive ein Paradigma wie in (54) auf.

C4 Numerus

(54) FRA

SG

PL

/ami/ ami

/ami(z)/ amis

AMI , M

‚Freund‘

1141

Adjektive bilden Pluralformen auf die gleiche Weise. Bei Adjektiven, die Genusdifferenzierung aufweisen, können auch im Plural die Genera unterschieden werden, wie die Paradigmen in (55) zeigen. (Möglicher Ausfall von Schwa ist nicht besonders gekennzeichnet.) (55) FRA

SG

PETIT

‚klein‘ VIEUX

‚alt‘

PL

M

F

M

F

/pəti(t)/ petit

/pətit/ petite

/pəti(z)/ /pətit(z)/ petits petites

/vjø~vjej/ vieux~vieil

/vjej/ vieille

/vjø(z)/ vieux

/vjej(z)/ vieilles

Im Maskulinum bildet immer die Non-Liaison-Variante (die Kurzvariante) der Singularform die Basis für die Pluralform (Féry 2004), daher: /pəti(z)/, M . PL . Vgl. les petits amis /lepti.zami/ ‚die kleinen Freunde‘ (Walker 2001: 162), hier mit Schwa-Ausfall. Das Gleiche gilt für Adjektive mit unregelmäßiger Formenbildung im M . SG (wie VIEUX mit den M - Formvarianten vieux /vjø/ und vieil /vjej/). Die Pluralform /vjø(z)/ wird auf der Basis der Non-Liaison-Variante gebildet; vgl. de vieux amis /dəvjøzami/ ‚alte Freunde‘ (Klein/Kleineidam 1994: 59). Die Verwendung der vier PL - Formvarianten von PET IT zeigen die Beispiele in (56) (Féry 2004: (81)). PETIT (56) a. les petits muguets, /pətimygɛ/, M . PL ‚die kleinen Maiglöckchen‘ FRA b. les petits‿iris, /pətiziʀis/, M . PL ‚die kleinen Irisse‘ c. les petites pâquerettes, /pətitpakəʀɛt/, F . PL ‚die kleinen Gänseblümchen‘ d. les petites‿anémones, /pətitzanemɔn/, F . PL ‚die kleinen Anemonen‘ Dass die maskuline Langvariante (Liaison-Variante) im Plural nie vorkommen kann, sollte nicht überraschen. Vor konsonantisch anlautender Substantivform (wie in (56a)) ist die Verwendungsbedingung für die Langvariante (‚vor V‘) trivialerweise nicht erfüllt; ebenso wenig kommt die Langvariante vor vokalisch anlautender Substantivform (wie in (56b)) in Betracht, da hier das Pluralsuffix -s realisiert wird und daher wiederum die Verwendungsbedingung (‚vor V‘) für die Langvariante nicht erfüllt ist; daher: /petiz/ < /pəti(t)/ + /z/. Im Femininum Singular steht dagegen nur eine Variante – die konsonantisch auslautende – zur Verfügung, so dass das Pluralsuffix -s in der Liaison-Position auf einen Konsonanten folgt wie in (56d).

Liaison-Konsonanten werden manchmal als bloße ‚Hiatustilger‘ betrachtet. Das Auftreten von /z/ in der Formvariante /pətitz/ (in der Position nach Konsonant) wie in (56d) zeigt aber deutlich, dass das Auftreten von /z/ durch die Pluralmarkierung

1142

C Nominalflexion

bedingt ist und die Realisierung von -s darstellt. Das Gleiche gilt für Adjektive wie ÉNORME , die im Singular nur eine konsonantisch ausgehende Form haben; vgl. les‿énormes‿efforts /lezenɔʀmzefɔʀ/ (Dubois 1965: 44). Der Konsonant des Pluralsuffixes -s tritt nicht deshalb auf, ‚weil er phonologisch benötigt wird‘; vielmehr bedingt der phonologische Kontext (‚vor V‘), dass das Suffix überhaupt eine sichtbare Realisierung erhalten kann. Wie am Beispiel des definiten Artikels erläutert, kann der s-Plural bei Determinativen mit Vokalwechsel einhergehen; zu den Formen des definiten Artikels siehe → C2.8.2 (Abbildung 5). Bei den Verschmelzungen mit der Präposition à fällt im Maskulinum die Singularvariante au /o/ mit der Kurzvariante der Pluralform (aux /o(z)/) zusammen, mit der Folge des möglichen Unkenntlichbleibens des Plurals in Fällen wie (53d). Die Pluralform des /de(z)/ als indefiniter Pluralartikel (→ B1.2.3.2.2) garantiert auch, dass in indefiniten NPs wie des olives ‚Oliven‘, im Deutschen ohne Artikel, – trotz der im Allgemeinen unrealisiert bleibenden Pluralmarkierung am Substantiv – eine explizite Pluralmarkierung gegeben ist. Der Norm nach soll zwar in der Regel bloßes de /də/ stehen, wenn ein dem Substantiv vorangestelltes Adjektiv folgt (des livres /delivʀ/ ‚Bücher‘, aber de bons livres /dəbõlivʀ/ ‚gute Bücher‘), doch wird in der Umgangssprache auch hier häufig die explizite Pluralform bevorzugt (/debõlivʀ/) (Dubois 1965: 44) und in festen Kollokationen (des bons mots) gilt dies auch für die Schriftsprache (vgl. im Einzelnen Grevisse/Goosse 2011: 783–785). Abschließend ist zu bemerken: Der s-Plural des Französischen ist durch eine ungewöhnliche Ambivalenz geprägt. Zum einen handelt es sich um ein wortartübergreifendes, hochproduktives Mittel der Pluralmarkierung. Zum anderen ist die phonologische Realisierung im Normalfall blockiert, nämlich nur unter sehr eingeschränkten Bedingungen – in Liaison-Kontexten – möglich. Aus funktionaler Sicht kommt dem s-Plural daher im heutigen gesprochenen Französischen nur eine untergeordnete Rolle zu.  



C4.2.5 Pluralbildung im Deutschen C4.2.5.1 Pluralflexive Im vorliegenden Abschnitt werden die (non-kumulativen) Pluralflexive der Substantive vorgestellt und ihre Anwendungsbedingungen besprochen. Das Deutsche besitzt fünf Pluralflexive, die in (57) aufgeführt sind (vgl. Bech 1963). (57)

a. -(e)/PL b. -(e)n/PL c. U L -(e)/PL d. U L -(e)r/PL e. -s/PL

HUND BURG BAUM HAUS AUTO

Hunde Burgen Bäume Häuser Autos

KOFFER FACKEL VOGEL

Koffer Fackeln Vögel

C4 Numerus

1143

Durrell (1990: 122, Fn. 1) setzt einen weiteren Pluralbildungstyp auf -en mit Umlaut an, dem nur WERKSTATT (PL : Werkstätten) folge. Es erscheint jedoch angemessener einen Fall von Suppletion anzunehmen. Der bei STATT fehlende Plural ist in der Zusammensetzung WERKSTATT durch den Plural zu STÄTTE (Stätten) ersetzt (Paul 1917: 90 f.); ähnlich BAU , PL : Bauten (ebd.: 151).  



Zu jedem Suffix sind ein oder zwei Lexeme und ihre mit dem Pluralflexiv gebildeten Formen angegeben. Innerhalb der Klasse der Substantivlexeme können dementsprechend nach der Art der Pluralbildung fünf Unterklassen unterschieden werden. Die Kennzeichnung des Plurals erfolgt durch Suffigierung, teils in Verbindung mit Wechsel des Stammvokals (Umlaut oder „Frontierung“); gegebenenfalls ist dem Namen des Flexivs ein Superskript ‚UL ‘ vorangestellt wie in (57c, d). Substantivsuffixe bestehen im Deutschen aus einem Vokal (vgl. (57a, c)), einer Folge von Vokal und Konsonant (vgl. (57b, d)) oder aus einem einfachen Konsonanten (vgl. (57e)). Der auftretende Vokal ist immer Schwa (/ə/). Ähnlich wie im Englischen und Ungarischen ist der Initialvokal der Suffixe instabil, d. h., in den mit den betreffenden Flexiven gebildeten Formen kann der Suffixvokal fehlen; im Grenzfall (beim Typ (57a)) bleibt die entsprechende abgeleitete Form gegebenenfalls ohne flexivische Markierung. Wir verwenden hier die gängige, orthographisch basierte Notation für die Suffixe. Instabile Initialvokale sind wie sonst durch Einklammerung gekennzeichnet. Suffixvarianten mit Initialvokal bezeichnen wir auch als ‚silbische‘ Varianten.  

Die Ausdrucksformen der silbischen Suffixvarianten können bei phonologischer Betrachtung als Phonemfolgen bestimmt werden, die aus Schwa (/ə/) oder Schwa + Konsonant bestehen. Die phonetische Realisierung von /ər/ ist gewöhnlich [ɐ]; die phonetische Realisierung von Suffixen, die aus Schwa + Nasal (/n/, /m/) bestehen, kann bei Schwa-Ausfall in Form eines silbischen Nasals erfolgen (Kleiner/Knöbl 2015: 39–41). Entsprechendes gilt für Stammausgänge auf Schwa + Sonorant. Für die morphologische Betrachtung ist die phonologische Form, nicht die phonetische Realisierung relevant. Im Allgemeinen kann von den Schriftformen ausgegangen werden.  

Die Verteilung der Varianten der Pluralflexive wird durch die ‚Schwa-Regel‘ bestimmt, die informell wie in (58) formuliert werden kann. (58)

Schwa-Regel (Substantivsuffigierung). Geht der Substantivstamm auf Schwa (e) oder auf Schwa-plus-Sonorant (er, el, en, em) aus, so kann eine schwahaltige (silbische) Suffixvariante nicht antreten.

Die Schwa-Regel stellt die synchrone Fixierung des Ergebnisses eines lautgesetzlichen Wandels dar, der bewirkt hat, dass Abfolgen zweier Schwa-Silben in den fraglichen Fällen soweit möglich ausgeschlossen wurden. Dabei ist Schwa gegebenenfalls im Suffix ausgefallen, während der Substantivstamm unberührt bleibt. Im Deutschen gilt damit – ähnlich wie im Englischen – für Substantive eine Regelung, die der Forderung nach Stammkonstanz in der Flexion entspricht. (Vgl. dagegen die andersartige Regelung der Pluralbildung im Norwegischen (Bokmål), wo die unbe-

1144

C Nominalflexion

tonten Vokale der Stammausgänge er, el, en vor vokalischem Suffix vielfach, aber nicht immer ausfallen wie in klostr-e, PL von KLOSTER ‚Kloster‘, aber baker-e, PL von BAKER ‚Bäcker‘; die Verteilung ist nur teilweise (bei gegebenem Genus und Suffix) vorhersagbar (Ramm/Fabricius-Hansen 2012: 176 f.).)  

Zugelassen sind im Deutschen Wechsel des Stammvokals (Umlaut) und (phonetische) Variation durch Auslautverhärtung. In der Standardsprache im Allgemeinen nicht zugelassen (und gegebenenfalls analogisch beseitigt) ist Längenwechsel des Stammvokals (norddt. umgangssprachlich: Glas /ɡlas/, Gläser /ɡlɛ:zər/ u.ä.) (Kleiner/Knöbl 2015: 65); eine Ausnahme bildet Stadt /ʃtat/, Städte /ʃtɛːtə/) (ebd.: 801). Stammwechsel durch Stehen/Fehlen von flüchtigen (‚mobilen‘) Vokalen wie im Polnischen oder Ungarischen kommt nicht vor; anders als im Polnischen tritt in der Regel auch kein Stammformenwechsel durch Konsonantenwechsel ein. Bei nicht-nativen Lexemen kommt Akzentverschiebung vor; vgl. ˈDoktor vs. Dokˈtoren. Zum Schwa-Ausfall siehe Behaghel (1878). Versionen der Schwa-Regel in der Substantivflexion geben u. a. Curme (1922: 71), Steche (1927: 96 et passim) und Neef (1998b, mit Literaturhinweisen). Sie wird manchmal als besondere Pluralregel präsentiert (Duden-Grammatik 2009: 183, Grundregel 3). Wie schon Bech (1963) deutlich herausstellt, ist die Regularität, die die Schwa-Verteilung steuert, jedoch nicht pluralspezifisch; sie gilt auch für Kasusflexive und zudem im Singular. Die GEN . SG -Form (gebildet mit dem Flexiv -(e)s/GEN . SG ) von KOFFER lautet Koffers, nicht *Kofferes. Unter die Schwa-Regel fallen auch Stämme auf doppelten Sonoranten (vgl. das Wandern, des Wanderns/*Wandernes). Schwa-Suffigierung ist auch bei Substantiven mit Ausgang auf unbetonten Kurzvokal + Liquid wie KONSUL (PL : Konsuln) blockiert (Curme 1922: 71; Bech 1963: 181); vgl. auch UNGAR (mit schwacher Flexion: die Ungarn), ebenso NACHBAR . Silbische Suffixe stehen bei Stämmen, die auf Schwa+Sonorant+Obstruent ausgehen (vgl. TUGEND , PL : Tugenden, GEGEND , PL : Gegenden). Auch einfaches Schwa-Suffix entfällt nicht (ABEND , PL : Abende; ebenso DUTZEND , TAUSEND ; HUNDERT ).  

Während der durch die Schwa-Regel erfasste Schwa-Ausfall unabhängig vom Numerus gilt, ist umgekehrt das obligatorische Auftreten von Schwa pluralspezifisch: (59)

Plural-Schwa. Pluralsuffixe, die schwahaltige und schwalose Varianten besitzen, erscheinen in der vollen (schwahaltigen) Variante, wenn dies nicht durch die Schwa-Regel ausgeschlossen ist.

Pluralbildungen wie *Händ (zu HAND ) oder *Bäum (zu BAUM ) sind in der Standardsprache ausgeschlossen. Bei Kasussuffixen der Substantive kann dagegen Schwa auch dann fehlen, wenn dies nicht durch die Schwa-Regel gefordert ist (→ C5.5.3). Wie gehen hier immer von den phonologisch bestimmten Vollformen aus wie etwa Seen /zeːən/, Pluralgrundform zu SEE (Kleiner/Knöbl 2015: s. v.). Nur orthographisch ist der Ausfall von 〈e〉 bei Substantiven, deren Stamm auf betonten Vokal ausgeht, wie in Alleen /aleːən/, NOM . PL von ALLEE (ebenso KATEGORIE usw.) (Kleiner/Knöbl 2015: s. v.).  



Eisenberg (2013a: 160) sieht eine „morphoprosodische Bedingung für Pluralformen“ als grundlegend für die Verteilung der Pluralflexive an („Die Pluralformen von substantivischen Simplizia enden auf Trochäus“); vgl. auch R. Wiese (1996). Dem steht entgegen, dass trochäische Stämme im Plural Schwa-Suffixe nehmen, wo dies nicht durch die Schwa-Regel ausgeschlossen ist, etwa

C4 Numerus

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Stämme mit Ausgang auf /ɪ/+Obstruent wie KÄFIG , KRANICH , HABICHT , HERING , KIEBITZ und ebenso HERZ OG , LEICHNAM , MONAT , PLURAL , KROKUS , URTEIL ; vgl. Neef (1996: 92). (Alle derartigen Stämme HERZOG müssten für morphologisch komplex erklärt werden, wenn die Trochäus-Regel aufrechterhalten werden sollte.) Umgekehrt nehmen auf Vokal auslautende Mehrsilbler wie BÜRO auch bei Ultimaakzent den s-Plural. Zu beachten sind auch Stämme mit Antepänultimaakzent wie PELIKAN ( PL : Pelikane), DEFIZIT ( PL : Defizite) oder EBENE (PL : Ebenen).

Die Wirkung der Schwa-Regel zeigen die Beispiele in (57a, b, c). – Die Substantive BAUM und VOGEL bilden Pluralformen mit dem Flexiv U L -(e)/PL . Dies besagt, dass die betreffenden Pluralformen – soweit möglich – durch Suffigierung von -e und durch Umlaut (Stammvokalwechsel) markiert werden. Die Pluralform zu BAUM lautet daher Bäume. Die Pluralform zu VOGEL lautet Vögel und zeigt, wie gefordert, Umlaut; Suffigierung von -e unterbleibt gemäß der SchwaRegel. – Die Substantive BURG , FACKEL und ebenso ROSE bilden Pluralformen mit dem Flexiv -(e)n/PL . Dies besagt, dass die betreffenden Pluralformen – soweit möglich – durch Suffigierung von -en markiert werden. Die Pluralform zu BURG lautet daher Burgen. Die Pluralform zu FACKEL lautet Fackeln; gemäß der Schwa-Regel erscheint das Suffix in schwaloser Variante. Die Pluralform zu ROSE lautet entsprechend Rosen. – Die Substantive HUND und KOFFER und ebenso SEGEL , BESEN und GEBIRGE bilden Pluralformen mit dem Flexiv -(e)/PL . Dies besagt, dass die betreffenden Pluralformen – soweit möglich – durch Suffigierung von -e markiert werden. Die Pluralform zu HUND lautet daher Hunde. Die Pluralform zu KOFFER lautet Koffer; Suffigierung von -e unterbleibt gemäß der Schwa-Regel. In diesem Fall unterscheidet sich SEG EL (PL : Segel), BESEN die Pluralform nicht von der Grundform. Dasselbe gilt für SEGEL (PL : Besen) und GEBIRGE (PL : Gebirge); ebenso KÄSE (PL : Käse). Angemerkt werden kann, dass die Annahme eines Pluralflexivs -(e) weder die Annahme eines Null-Elements irgendeiner Art noch einer Tilgungsoperation voraussetzt. Die Klasse der Substantive mit -(e)-Plural umfasst einfach diejenigen Substantive, deren Pluralformen weder eine konsonantische Markierung noch eine Markierung durch Stammwechsel (Umlaut) aufweisen, und die, soweit dies nach der Schwa-Regel möglich ist, das Suffix -e aufweisen. Die Annahme von Formen mit zugrunde liegenden Pluralsuffixen, die dann der Tilgung unterliegen, bei Wurzel (1970) ist ein Artefakt der generativen Methode, wie Wurzel (1984: 143) klarstellt. Eine realistische Analyse ist weder auf Null-Elemente noch auf Tilgungen angewiesen.

Wo sich die Pluralform nicht von der Grundform unterscheidet (wie im Falle von KOFFER ), wird in der Literatur manchmal ein besonderer ‚Pluralbildungstyp‘ (‚NullPlural‘, ‚ohne Endung‘) angenommen, der vom ‚e-Plural‘ (wie bei HUND ) zu trennen wäre (vgl. z. B. Helbig/Buscha 2001: 216). Zu beachten ist aber, dass das reguläre Fehlen von besonderen Pluralformen immer der Schwa-Regel geschuldet ist: Eine den anderen Pluralbildungen gleichgestellte Option ‚Null-Plural‘, die die Verwendung von Grundformen ohne spezifische Markierung als Pluralformen zulassen würde, gibt  

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C Nominalflexion

es im heutigen Standarddeutsch nicht. Man vergleiche dagegen das regelmäßige Fehlen besonderer NOM / AKK . PL - Formen bei einem Teil der Neutra in früheren Sprachstadien des Deutschen (Paul 2007: 193) oder in anderen germanischen Sprachen wie dem Norwegischen (Bokmål) (Ramm/Fabricius-Hansen 2012); relikthaft noch Knie /kniː/, vor allem in festen Wendungen wie Auf die Knie!, aber regelmäßig /kniːə/, NOM . PL von KNIE (vgl. Kleiner/Knöbl 2015: s. v.). Eine Ausnahme bilden nur Substantive mit dem Diminutivsuffix -lein wie BÜCHLEIN , wohl in Anlehnung an -chen (Curme 1922: 80). Auch bei Lexemen, die endungslose Pluralformen mit Umlaut zeigen (VATER , PL : Väter, MUTTER , PL : Mütter), ist die Endungslosigkeit der Schwa-Regel geschuldet. Entsprechend ist auch ein besonderer Pluralbildungstyp ‚endungsloser Umlaut-Plural‘ nicht anzunehmen: Umlaut als Komponente der Pluralmarkierung ist immer Teil einer Pluralbildungsoperation, die auch Suffigierung einschließt, wo Suffigierung möglich ist.  

Pluraliatantum des Deutschen wie die Einkünfte, die Eltern, die Ferien, die Kosten, die Leute, die Röteln, die Balearen, die Vereinigten Staaten u. a. zeigen, was die Pluralflexive betrifft, keine Auffälligkeiten. Die Form des fehlenden oder seltenen Singular ist vielfach, aber nicht immer offensichtlich; vgl. das Geschwister, N ‚Bruder oder Schwester‘ zu die Geschwister ‚Brüder und/ oder Schwestern‘, ursprünglich nur: ‚Schwestern‘, früher auch als singularisches Kollektivum (Grimm/Grimm 1854–1954: s. v.).  



Das Ausbleiben von PL - Suffigierung bei PL - Formen von Substantiven wie KOFFER , BESEN , GEBIRGE GEBIRG E , VATER V AT ER oder MUTTER stellt nur ein Beispiel für die Beobachtung dar, dass morphologische Operationen leerlaufen können: Allgemein können morphologische Kennzeichen, die regelmäßig zu erwarten wären, unter angebbaren Bedingungen fehlen. Ein offenkundiges Beispiel bietet der Umlaut. Bei U L -(e)r/PL ist Umlaut gefordert, kann aber trivialerweise nur bei umlautfähigen Stammvokalen eintreten; vgl. BUCH (Bücher) gegenüber KIND (Kinder). Ganz entsprechend können vokalische Suffixvarianten nur an Substantivstämme antreten, die „fähig“ sind, solche Suffixvarianten anzunehmen. In Analysen, die ‚Null-Plural‘ als ein besonderes Pluralbildungsmuster behandeln, werden manchmal umgekehrt die Bildungen -(e)/PL und U L -(e)/PL zu einem Typ zusammengefasst. Zu beachten ist aber, dass das (Nicht-)Auftreten von Umlaut (bei Stämmen mit umlautfähigem Vokal) anders als das Auftreten schwaloser Suffixvarianten nicht regelhaft bestimmt ist. Die Suffixe -(e)/PL und U L -(e)/PL bilden keine Varianten in dem Sinn wie -n/PL und -en/PL und können daher nicht identifiziert werden (Bech 1963).

Unter dem Gesichtspunkt der Formenbildung unterscheidet sich das Fehlen des Schwa-Suffixes beim ‚Null-Plural‘ nicht vom Fehlen des Schwas des Suffixes beim n-Plural (wie in Fackeln). Eine Aufspaltung des Musters der Pluralbildung mit dem Flexiv -(e)/PL wäre so wenig gerechtfertigt wie eine Aufspaltung des Musters der Pluralbildung mit dem Flexiv -(e)n/PL . In beiden Fällen ist die Variantenwahl automatisch geregelt.

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C4 Numerus

Vom Gesichtspunkt der Formenbildung unterschieden werden muss der Gesichtspunkt der Kenntlichkeit der kategorialen Spezifikation der resultierenden Formen. Im Falle des ‚Null-Plurals‘ bleiben die regelmäßig gebildeten Pluralformen als solche formal ungekennzeichnet. Dass es im Deutschen eine nicht unbedeutende Klasse von Substantiven gibt, bei denen die regelmäßige Pluralbildung keine formal als solche markierten Pluralformen liefert, ist eine Tatsache, die für den Bau der Nominalflexion des Deutschen wesentlich ist (Pavlov 1995), gerade so wie die (viel weitergehende) phonologische Blockierung der Pluralmarkierung für die Charakteristik des französischen Formensystems bestimmend ist. Für das Zusammenspiel flexivischer Kennzeichnungen innerhalb von Nominalphrasen und damit für die Kasusdifferenzierung von Nominalphrasen ist nicht von Belang, wie Pluralkennzeichnung bei Substantiven erfolgt, sondern nur, ob überhaupt besondere (formal ausgezeichnete) Pluralgrundformen gebildet werden. Nur im letzteren Fall können die Formen der betreffenden Substantive die Numerusspezifikation entsprechender Substantivphrasen sichtbar machen, die auch für die Ermittlung der Kasusspezifikation der Nominalphrase von erheblicher Bedeutung ist. Unter diesem Gesichtspunkt sind also die Substantive der speziellen Gruppe ohne besondere Pluralgrundformen und alle übrigen Substantive gegenüberzustellen. Hervorzuheben ist, dass die Klasse der Substantive, die keine formal ausgezeichneten Pluralgrundformen bilden, nahezu keine Feminina enthält.

C4.2.5.2 Verteilung der Pluralflexive Die Verteilung der Pluralflexive auf die Substantive korreliert vorrangig mit zwei Faktoren, dem Genus und der Stellung der Lexeme im Wortschatz. Lexeme können zur Peripherie, zum Normalbereich, oder zum Zentralbereich des Wortschatzes gehören. Zur Peripherie des Substantivbestands gehören Fremdwörter, Wörter mit besonderen phonologischen Eigenschaften sowie alle Arten uneigentlicher Substantive, z. B. Abkürzungswörter. Die meisten dieser Lexeme weisen eine vergleichsweise geringe Gebrauchshäufigkeit auf. Lexeme aus dem Zentralbereich des Wortschatzes sind durch hohe Gebrauchshäufigkeit, oft auch charakteristische Lautformen und vielleicht auch durch die Zugehörigkeit zu ausgewählten semantischen Domänen charakterisiert. Zwischen diesen Polen steht die Masse der Lexeme, die den Normalbereich ausmachen. Im Gesamtsystem dominieren die Flexive -(e)/PL und -(e)n/PL ; vgl. HUND , M (Hunde); SCHAF , N (Schafe); KATZE , F (Katzen); die Verteilung der beiden Flexive ist durch das Genus bestimmt (Steche 1927: 128; Kufner 1962: 56; Augst 1979: 224). Das Flexiv -(e)/PL kann als das reguläre Pluralflexiv für Non-Feminina angesehen werden, das Flexiv -(e)n/PL als das reguläre Pluralflexiv für Feminina. Die Formenbildung mittels dieser beiden Flexive konstituiert das Normalmuster der Pluralbildung der Substantive im Gegenwartsdeutschen. Die genusspezifische Anwendungsbedingung für das Pluralsuffix der Feminina notieren wir als Subskript; vgl. (60).  

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(60)

C Nominalflexion

Pluralflexive der Substantive (Normalplural) -(e)/PL , -(e)n/PL F Aus der umfangreichen Literatur zur Pluralbildung seien hier stellvertretend Augst (1979), Wegener (1995) und Bittner (2004), mit einer Bibliographie zur Substantivflexion für den Zeitraum 1991 bis 2004, genannt. Zum Zusammenhang von Genus und Pluralbildung siehe auch Wiese (2000).

Eine vergleichbare Unterscheidung zweier Pluralflexive, deren Verteilung wesentlich durch das Genus bestimmt ist, findet sich im Italienischen (→ C4.2.6). Unter den Vergleichssprachen weist auch das Polnische eine genusbezogene Differenzierung der Pluralbildung (im Rahmen der kumulativen Kasus-Numerus-Flexion) auf (→ C5.4.8). In (60) sind die Flexive durch eine Verknüpfung von Form, Funktion und Anwendungsbedingung gekennzeichnet. (Die Anwendungsbedingung kann leer sein.) Die Ausdrucksformen der beiden hier auftretenden Suffixe, -(e) und -(e)n, sind die in der Flexion des Deutschen am weitesten verbreiteten; sie stellen das Kernrepertoire der Flexionskennzeichen dar. Sie finden sich nicht nur in der Flexion der Substantive, Adjektive und Pronomina, sondern auch in der Konjugation. Das unmarkierte, d. h. nicht mit besonderen Anwendungsbedingungen versehene Pluralflexiv -(e)/PL stellt seiner Form nach (als bloßes Schwa-Suffix ohne konsonantischen Bestandteil) das minimale Flexionskennzeichen des Deutschen schlechthin dar. Insofern besteht ein ikonischer Form-Funktions-Zusammenhang. Das markantere, konsonantische Flexiv auf (alveolaren) Nasal fungiert als Pluralflexiv für die Lexeme des markierten Genus Femininum. Mit der genusspezifischen Verteilung der Suffixe geht einher, dass Pluralformen ohne formale Kennzeichnung in aller Regel nur im Non-Femininum vorkommen. Hierzu gehören Maskulina und Neutra mit Stammausgang auf el/er/en wie TADEL , TUNNEL , BRATEN BRAT EN , HAKEN , WAGEN , ANKER , ADLER , SOMMER und KABEL , SCHNITZEL , ZEICHEN , FENSTER , MESSER und Diminutiva wie HÄUSCHEN , zudem solche auf -lein wie BÜCHLEIN , bei denen die Pluralbildung nach der erörterten Schwa-Regel für Substantive (→ C4.2.5.1) ohne sichtbaren Effekt bleiben muss. Bei Feminina lautet die Grundform häufig auf Schwa aus (vgl. KATZE , RATTE , BLUME ); das auf Nasal lautende Pluralsuffix sichert hier formal ausgewiesene Pluralformen. Feminina mit Stammausgang auf -e nehmen ausnahmslos den -(e)n-Plural. Für den Anwendungsbereich des -(e)n-Plural existiert damit ein stabiler Kern, der doppelt bestimmt ist, nämlich durch die Grundform und das Genus. Stämme, die nur eines der beiden relevanten Merkmale (feminines Genus oder Stammausgang auf e) aufweisen, nehmen häufig, aber nicht ausnahmslos, ebenfalls den -(e)n-Plural. Zur genusbezogenen Verteilung der Pluralflexive gibt es eine Anzahl von Ausnahmen. Einige Maskulina und Neutra wie STRAHL und BETT nehmen das feminintypische Nasalflexiv. Solche Lexeme müssen lexikalisch besonders ausgezeichnet werden. Wir verwenden hier die Notation ‚M |F ‘ für ‚Maskulinum, das den Plural wie ein Femininum bildet‘ oder kürzer: ‚Maskulinum mit femininer Pluralbildung‘ und  



C4 Numerus

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entsprechend in vergleichbaren Fällen. Zu solchen Abweichungen gegenüber der gewöhnlichen Korrelation von Genus und Pluralbildung kann es unter anderem dann kommen, wenn ein Substantiv das Genus oder die Flexionsklasse wechselt (oder Schwankungen zeigt), aber dennoch die markantere konsonantische Pluralbildung bewahrt, wie im Falle von STRAHL , M |F , ursprünglich ein Femininum (Grimm/Grimm 1854–1954: s. v.); vgl. auch Grimm/Grimm (ebd.: s. v.) zu MUSKEL , M |F , und STACHEL , M |F . Den sonst feminintypischen -(e)n-Plural nehmen auch die Neutra AUGE und OHR , die ursprünglich schwach flektiert wurden; weitere Neutra mit -(e)n-Plural sind BETT , HEMD und ENDE (vgl. Paul 1917: 61). Neutra des Typs Ge…e (wie GEBIRGE , GEBÄUDE oder GEMÄLDE ) folgen dagegen dem non-femininen Muster; als weitere Maskulina mit -(e)nPANT OF FEL EL , PFAU , Plural nennen Helbig/Buscha (2001: 215) DORN , FLECK , MAST , NERV , PANTOFF SCHMERZ , SCHRECK , SEE , STAAT , TY P , UNTERTAN UNTERT AN und VETTER VETT ER . Dass umgekehrt gegen die Regel das weniger markante Suffix auftritt, kommt nur ganz vereinzelt vor. Substantive auf -nis oder -sal wie ERGEBNIS oder SCHICKSAL sind in der Gegenwartssprache gewöhnlich Neutra, und die wenigen hierher gehörigen Feminina wie ERKENNTNIS oder MÜHSAL übernehmen deren Pluralbildung (soweit überhaupt Pluralformen gebildet werden). Die Zugehörigkeit zum Femininum ist also in diesen Fällen für die Pluralbildung nicht bestimmend. Die Suffixe -nis und -sal, die gewöhnlich Neutra bilden, geben den Ausschlag; vgl. Fleischer (2012: 218 f., 221). Stärkere Abweichungen von den regulären Mustern der Formenbildung sind vorrangig im Grundwortschatz zu erwarten und betreffen insbesondere aus älteren diachronen Schichten stammende Lexeme, daher insbesondere auch Simplizia im Unterschied zu (durchsichtigen) Ableitungen; dies gilt auch für die Pluralbildung. Typisch für solche abweichenden Muster sind Fälle von Stammvariation innerhalb eines Flexionssystems, dessen regelmäßige Muster rein suffigierend sind. Das Ungarische bietet eine Reihe von Beispielen (→ C4.2.2). Auch im Deutschen existieren neben den regulären suffigierenden Flexiven des Normalplurals in der Gegenwartssprache unproduktive Pluralflexive, deren Anwendung über die Suffigierung hinaus mit einem Wechsel des Stammvokals (Umlaut) verbunden ist, wie bei BAUM (Bäume) und HUHN (Hühner). Wegen der durch den Umlaut gegebenen besonders markanten Kennzeichnung der Pluralformen ist der Umlautplural im Vergleich zum Normalplural auch als ‚verstärkte‘ Pluralbildung charakterisiert worden (Wiese 2000: 149). Lexeme dieser Klasse sind (in der Grundform) meist, aber nicht ausschließlich Einsilbler; vgl. SOHN (Söhne), aber VATER (Väter). Die Zugehörigkeit zur Klasse der Substantive mit Umlautplural ist im Allgemeinen nicht aus unabhängig gegebenen Merkmalen herleitbar; sie muss als lexikalisch vorgegeben betrachtet werden. Wie beim Normalplural erscheint beim Umlautplural im gewöhnlichen Fall das non-konsonantische, bloße Schwa-Suffix, -e, oder die Formen bleiben (nach der Schwa-Regel) suffixlos. Daneben existiert (wiederum wie beim Normalplural) beim Umlautplural ein konsonantisches Pluralsuffix (-er). Die Verteilung der beiden Suffixe korrespondiert auch hier mit dem Genus, jedoch nicht mit der NONF - F - Unterscheidung. Vielmehr stellen in diesem Fall die Neutra die   





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C Nominalflexion

ausgezeichnete Klasse dar. Neutra mit Umlautplural (meist Einsilbler) nehmen das konsonantische Suffix. Vgl. AMT (Ämter), DORF (Dörfer), KALB (Kälber) u. a.; mit nichtumlautfähigem Vokal: LIED (Lieder), RIND (Rinder), EI (Eier) u. a.; Mehrsilbler: GESICHT (Gesichter), GESPENST (Gespenster) u. a. Substantive mit Schwa-Ausgang existieren in dieser Klasse nicht (und dementsprechend kommt die schwalose Variante (-r) nicht vor). Maskulina und Feminina mit Umlautplural nehmen gewöhnlich das non-konsonantische Suffix. Vgl. (Maskulina:) BACH (Bäche), SCHRANK (Schränke); (Feminina:) STADT (Städte), BRAUT (Bräute). (Bei Maskulina mit nicht umlautfähigem Stamm ist die F ISCH (Fische).) Zugehörigkeit zum Typ -(e)/PL oder U L -(e)/PL nicht entscheidbar; vgl. FISCH Die Umlaut einschließenden Pluralflexive (gekennzeichnet durch vorangestelltes UL ) können danach wie folgt identifiziert werden:  





(61)

Pluralflexive der Substantive (Umlautplural, verstärkter Plural) -(e)/PL , U L -(e)r/PL N

UL

Auch im Bereich der Substantive mit umlautender Pluralbildung gibt es Abweichungen gegenüber der gewöhnlichen Korrelation von Genus und Pluralbildung (Paul OT T , M |N ); 1917: 30–33, 192). Einige Maskulina nehmen den er-Plural (vgl. Götter zu GGOTT ebenso GEIST , IRRTUM , LEIB , MANN , MUND , RAND , REICHT UM , WALD , WURM (Helbig/Buscha 2001: 216); ferner BÖSEWICHT , GEHALT , STRAUCH , auch VORMUND . Die umgekehrte AbweiFL OSS , N |M , chung (Neutra mit U L -(e)/PL ) tritt wiederum nur ganz vereinzelt auf; so bei FLOSS KL OSTER (Klöster) und ( AB -) Plural: Flöße, MHD M oder N , sowie – mit Schwa-Ausfall – KLOSTER WASSER ((Ab-)Wässer) u. ä., auch LAGER .  

Die auffällige, vom Standpunkt des Gegenwartsdeutschen unerwartete Gegenüberstellung von Neutrum einerseits und Maskulinum/Femininum andererseits, setzt ein altes Muster der Nichtdifferenzierung von Maskulinum und Femininum in bestimmten Deklinationsklassen indoeuropäischer Sprachen fort (i-Stämme) (vgl. etwa die 3. Deklination des Lateinischen), während der -(e)r-Plural aus dem Stammausgang der neutralen s-Stämme entwickelt ist. Die Ausdehnung des -(e)r-Plurals von den Neutra auf die Maskulina (aber nicht Feminina) könnte der Wirkung der synchronen Hauptunterscheidung (NONF vs. F ), teils vermittelt über Genusschwankungen/-wechsel, zugeschrieben werden. Bei einigen Maskulina sind früher vorhandene -(e)r-Plurale wieder aufgeben worden (Steche 1927: 124 f.). Bei Feminina tritt -(e)r-Plural nur in der dialektalen (oder scherzhaft verwendeten) Bildung Märker zu MARK (Währungseinheit) auf (Ljungerud 1955: 97, Berlinisch).  

Auch in den romanischen Sprachen ist gelegentlich aus dem vergleichbaren ererbten Formenwechsel, wie er in LAT corpusN O M . S G /corporaN O M . P L (zu CORPUS , N ‚Körper‘) vorliegt, ein r-Pluralkennzeichen entwickelt worden; vgl. Maiden (2011: 210) zu RUM -uri, einem seinem Ursprung entsprechend weitgehend auf Neutra beschränkten Pluralflexiv (Dobrovie-Sorin/Giurgea 2013: 834), und Rohlfs (1949: 59–61) zu Relikten einer entsprechenden Pluralbildung in süditalienischen Dialekten.

Substantive, die aus irgendeinem Grunde einen Sonderstatus haben, wie Fremdwörter, Kurzwörter, Indeklinabilia, phonologisch oder aus anderen Gründen ‚auffällige‘ AUT O , SOFA oder A (Name des Buchoder ‚uneigentliche‘ Substantive wie SNOB , LOK , AUTO

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C4 Numerus

stabens),, bilden den Plural häufig mit dem Flexiv -s (Bornschein/Butt 1987). Die Zugehörigkeit zur Klasse der Substantive mit s-Plural ist im Allgemeinen nicht aus unabhängig gegebenen Merkmalen herleitbar, wohl aber für bestimmte Sondergruppen. Insbesondere zählen zu den im hier relevanten Sinne ‚auffälligen‘ Lexemen Mehrsilbler, die auf Vollvokal, nicht auf Schwa, auslauten (wie UHU , M , ECHO , N , und OMA , F ). Sie nehmen regelmäßig den s-Plural, ausgenommen aber Feminina auf ALL EE , KATEGORIE und BÄCKEREI , die der regulären ee (/eː/), ie (/iː/) und ei (/ai̯/) wie ALLEE Flexion folgen. (Auf Vokal auslautende native Einsilbler nehmen im Plural SchwaSuffixe, darunter SCHUH , M (PL : Schuhe), REH , N (PL : Rehe), KNIE , N ( PL : Knie); BÖ , F (PL : Böen); FLOH , M ( PL : Flöhe), KUH , F (PL : Kühe); SAU , F (PL : Säue oder Sauen); EI , N (PL : Eier).) Vielfach muss die Zugehörigkeit zur Klasse der Substantive mit s-Plural als lexikalisch vorgegeben betrachtet werden; siehe im Einzelnen Bornschein/Butt (1987). Zu den Besonderheiten des s-Plurals (oder Sonderplurals) gehört das Fehlen einer silbischen Variante. (62)

Pluralflexive der Substantive (Sonderplural): -s/PL

Der s-Plural tritt bei allen Genera auf, aber eher selten (oder, nach Paul 1917: 129, nur ausnahmsweise) bei Feminina; vgl. OMA (Omas), MUTTI (Muttis), LOK (Loks) u. a. Insgesamt ist bei Feminina der Normalplural (-(e)n/PL ) in weitaus stärkerem Maße vorherrschend als im unmarkierten Genus Non-Femininum, wo das Potential der verschiedenen Pluraloptionen (Normalplural, verstärkter Plural, Sonderplural) sehr viel stärker ausgeschöpft wird. Während der Umlautplural unproduktiv ist und vor allem im Altbestand des Grundwortschatzes zu finden ist, ist der s-Plural sehr produktiv, findet sich aber gerade bei peripheren oder neuen Wörtern. Man hat es also mit zwei entgegengesetzten Polen der Abweichung vom Normalmuster der Pluralbildung zu tun.  

C4.2.5.3 Fremdwörter Im Deutschen (vgl. ausführlich Helbig/Buscha 2001: 217–221; Eisenberg 2011: 218) greift gewöhnlich eine der auch im nativen Vokabular verwendeten Bildungen: in großem Umfang die Normalplurale, d. h. -(e)/PL für Non-Feminina und -(e)n/PL für Feminina, zudem s-Plural, nur selten Umlautplural. Vgl. INGENIEUR , DOKUMENT (NONF mit -(e)/PL ); COMPUTER (NONF mit -(e)/PL , mit Schwa-Ausfall); ETAGE , KATEGORIE ( F mit INT ERESSE , INSEKT ); CHORAL , PALAST (M mit -U L (e)/PL ); -(e)n/PL ), dazu vereinzelt Neutra (INTERESSE HOSPITAL , REGIMENT (N mit -U L (e)r/PL ); BANKIER , ECHO , CREW (M , N , F , häufig auf Vollvokal auslautend, mit -s/PL ), auch HOTEL u. a. Eine Reihe von Fremdwörtern, insbesondere aus dem Lateinischen, bewahren im Singular fremde Suffixe oder Wortausgänge, die im Plural abfallen; auffällig ist, dass diese Lexeme unabhängig vom Genus Pluralformen auf -(e)n bilden (Eisenberg 2011: RHY THMUS , ZYKLUS ZYKL US (M ); DATUM DAT UM , KONTO , DRAMA (N ); VILLA (F ). Die Flexion dieser 223); vgl. RHYTHMUS  



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C Nominalflexion

Fremdwörter setzt eine „gelehrte“ Analyse voraus, bei der die Grundform des Fremdworts nicht wie gewöhnlich unanalysiert übernommen wird. Im nativen Bereich ist -(e)n-Plural obligatorisch bei den Feminina auf -e. Mit ihrem abtrennbaren SG -Ausgang (Ros-e, Rös-lein) bieten sie möglicherweise ein Muster, an das sich das obige Muster der Fremdwortbildung anlehnen kann, wobei die Genusbindung dieser Pluralbildung bei Fremdwörtern nicht greift; vgl. noch ˈDoktor – Dokˈtoren (mit Akzentverschiebung), ˈAtlas – Atˈlanten (mit Stammwechsel), Prinzip – Prinzipien (Kürzung des SG -Stamms bei Wegfall des fremden SG -Suffixes). In einigen Fällen wird die fremde Pluralbildung bewahrt; vgl. Modus – Modi; Solo – Soli; Kasus – Kasūs; Sou – Sous (nur orthographisch); mit endungslosem Plural:: SKI / SCHI (Schi – Schi), aber auch SchierP L aus NOR SKI , dort mit (indefinitem) Plural ski oder skier. Wie in anderen Sprachen finden sich Fälle, bei denen quellsprachliche Plurale unanalysiert übernommen und als Singulare behandelt worden sind (die dann der Pluralbildung unterliegen), wie DEU KEKS (PL : Kekse) aus ENG CAKE (PL : cakes). Diese Erscheinung ist übereinzelsprachlich verbreitet; vgl. UNG KLIPSZ (PL : klipszek) aus CL IP (PL : clips) ‚Ohrclip‘; ebenso POL czipsy ‚Chips‘ aus ENG chips; und umgekehrt ENG CLIP ENG pirogies aus POL pierogi, PL zu PIERÓG ; ferner UNG KEKSZ (Pilarský 2013: 561). Im Englischen und Französischen werden im gewöhnlichen Sprachgebrauch bei Fremdwörtern im Allgemeinen reguläre Plurale bevorzugt (Jespersen 1936: 35; Riegel/Pellat/Rioul 2014). Im Polnischen bleiben Fremdwörter, die nicht in die regulären Flexionsmuster passen, häufig ganz oder teilweise unflektiert (Swan 2002: 120 et passim). Im Ungarischen folgen Fremdwörter durchgängig der regulären Pluralbildung (auf -(V)k) (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 256). Siehe auch → C5.5.2 zur Unterlassung der Flexion bei Fremdwörtern.

C4.2.6 Charakteristik der deutschen Pluralbildung Was die Besonderheit der Pluralbildung der Substantive im Deutschen ausmacht, wird im Sprachvergleich deutlich. Wie in den Vergleichssprachen Englisch,, Französisch und Ungarisch existiert im Deutschen eine separative Numerusflexion, während im Polnischen (wie in älteren indoeuropäischen Sprachen) die Bildung von Pluralformen Teil der kumulativen Kasus-Numerus-Flexion ist. Anders als in den Vergleichssprachen konkurrieren mehrere Pluralflexive. (Im Englischen sind verschiedene Pluralbildungstypen nur noch relikthaft in Form ganz vereinzelter Ausnahmefälle belegt.) Ähnlich wie im Englischen (doch noch strenger) ist die Pluralbildung im Deutschen wortartgebunden, nämlich auf Substantive beschränkt. Diese Beschränkung stellt das System der Pluralbildung des Deutschen und des Englischen in deutlichen Gegensatz sowohl zum Französischen, das wie andere westromanische Sprachen einen wortartübergreifend verallgemeinerten (wenn auch weitgehend defunktionalisierten) s-Plural besitzt, als auch zum Ungarischen, wo die Nominalflexion (einschließlich der Pluralmarkierung) im Ganzen weitgehend wortartunspezifisch ist. Die Bindung der Pluralbildungstypen des Deutschen an die Genera, die in den Kon-

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trastsprachen (in Ermangelung konkurrierender Pluralflexive) kein Gegenstück hat, reflektiert ihre Entstehung aus einem System von Deklinationsklassen, die ihrerseits in mehr oder minder lockerer Korrelation mit den Genera standen. Eine (beschränkte) Parallele zum Deutschen bietet das Italienische. In beiden Sprachen wird der Normalplural durch ein Paar aus einem unmarkierten Pluralflexiv ohne besondere Anwendungsbedingungen und einem markierten, für die Verwendung bei Feminina spezifizierten Pluralflexiv konstituiert, im Deutschen -(e) und -(e)n (obligatorisch bei Feminina mit e-Grundform), im Italienischen -i und -e (beschränkt auf Feminina mit a-Grundform). In beiden Sprachen werden diese Flexive im Allgemeinen nicht auf Lexeme angewandt, denen aus verschiedenen Gründen ein Sonderstatus zukommt. Im Deutschen kommt im peripheren Bereich der s-Plural zum Zuge; im Italienischen können Lexeme, die sich nicht ohne Weiteres in die Normalmuster einfügen, unflektiert, also ohne als solche kenntlich gemachte Pluralformen bleiben. Schließlich gibt es in beiden Sprachen geschlossene Klassen, die besondere Bildungen zeigen: im Deutschen den Umlautplural, im Italienischen einige lexikalisierte Reste der Plurale des Neutrums auf -a wie ossa zu OSSO ‚Knochen‘, neben markiertem, aber formal regulärem ossi (‚lexikalische Plurale‘ im Sinne von Acquaviva (2008)). Auffällig ist im Deutschen die Existenz einer nicht ganz kleinen Anzahl von Lexemen, die nicht die Pluralbildung zeigen, die ihr Genus erwarten ließe (wie BETT , N |F , oder GOTT , M |N ). Im Italienischen finden sich vergleichbare Fälle ‚unerwarteter‘ Pluralbildung nur ganz AL A ‚Flügel‘ und ARMA ‚Waffe‘ mit i-Plural trotz Singular vereinzelt wie bei den Feminina ALA auf -a. Was die deutsche Pluralbildung insgesamt am deutlichsten von den Vergleichssprachen abhebt, ist der relativ große Umfang der Subklassen der Substantive, deren Pluralbildung nicht den produktiven, regulären Mustern (‚Normalplural‘) entspricht.

C4.3 Besondere Pluralbildungen C4.3.1 Kommunikantenpronomina Die Pluralformen der Kommunikantenpronomina (Personalpronomina der 1. und 2. Person) können nicht durch Anwendung morphologischer Operationen wie Suffigierung auf der Basis von unmarkierten Grundformen oder Stämmen gewonnen werden (wie dies im Regelfall bei Substantiven der Fall ist): Die Paradigmen sind im Deutschen wie in den Vergleichssprachen suppletiv aufgebaut. (Zu den Nominativformen siehe → C3.2 (20); zu den Formen der obliquen Kasus siehe → C5.2 (78), (79), (80), (82).) Bemerkenswert ist, dass auch im agglutinativ geprägten Ungarischen hier nicht die allgemeine Pluralbildung auf -(V)k verwendet wird. (Vgl. aber → C4.3.5 zu den Pluralformen der Personalsuffixe im Ungarischen.) Im Englischen ist beim Personalpronomen der 2. Person die (nach französischem Vorbild) in der höflichen Anrede verwendete Pluralform als allgemeine Anredeform  





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C Nominalflexion

verallgemeinert worden und damit in diesem Fall die SG - PL -Differenzierung verloren gegangen. Zu dieser Entwicklung siehe im Einzelnen Lass (1999: 148–155). Die alte Singularform thou findet sich noch bibelsprachlich. Neue Pluralbildungen (wie yous oder youse /juːz/) treten in verschiedenen Dialekten oder regionalen Sprachausprägungen (Irland, Amerika) auf (Montgomery 2001: 149), wenn auch nicht in der britischen Standardsprache, doch kann die Verbindung you-all (yall) als ‚regionaler Standard‘ im Süden der USA angesehen werden (Lass 1999: 155); siehe auch Bernstein (2003: 107–109). Im Französischen wird in der Umgangssprache statt der 1PL -Form nous (als konjunktes Pronomen) weitgehend das Pronomen ON ‚man‘ verwendet, das in der Standardsprache als generisches Personalpronomen fungiert. In dieser Funktion tritt umgangssprachlich oft TU ein; vgl. Fonseca-Greber/Waugh (2003). Der suppletive Bau des Paradigmas der Kommunikantenpronomina weist zugleich auf das hohe Alter und die hohe Gebrauchshäufigkeit der betreffenden Formen hin. Sehr häufig ist das Vorliegen von Suppletion jedoch mit der Annahme verknüpft worden, dass Kommunikantenpronomina (im Deutschen wie in vielen anderen Sprachen) keinen oder doch wenigstens keinen ‚normalen‘ Plural aufwiesen: ‚Wir‘ seien eben nicht mehrere ‚Ichs‘ (vgl. etwa, stellvertretend für eine Vielzahl von Quellen, Jespersen 1924: 192; Benveniste 1946: 9–12; Lyons 1968: 277; Bhat 2004: 91–93). Für das Englische wird in Huddleston/Pullum (2002: 1465) die Annahme vertreten, dass I und we verschiedene Lexeme seien. Der suppletive Paradigmenbau wird schon von Grimm (1866: 239 f.) als Ausdruck dieses Verhältnisses angesehen; auch Wundt (1912: 51) vertrat die Ansicht, dass im Falle von ich und wir „die Mehrzahl als ein inhaltlich anderer Begriff aufgefasst [wird] als die Einzahl“, jedoch nicht, ohne die Existenz von Sprachen mit „einer an die Singularformen sich anschließenden Bildung des Plurals des Pronomens“ (ebd.: 50, Fn. 3) zu vermerken. Corbett (2000: 76 f.) verweist (wie Wundt) u. a. auf amerikanische Sprachen und hält ausdrücklich fest, dass völlig reguläre Pluralbildungen bei Kommunikantenpronomina vorkommen, wenngleich irreguläre Bildungen häufig seien. Auch die angeführten Neubildungen von Pluralen zu ENG YOU können hier angeführt werden. Die Annahme, dass wir ‚nicht der Plural‘ von ich sei, erscheint nicht zwingend. Sie ist durch den Sprachvergleich nicht gesichert; sie kollidiert mit der Syntax der Personalpronomina, die PL -Formen des Verbs verlangen, soweit Kongruenz besteht; sie ist aus diachroner Sicht fragwürdig (Szemerényi 1990: 229 f., mit weiterer Literatur) und sie scheint aus semantischer Sicht nicht geboten.  









Die Semantik der Kommunikantenpronomina kann hier nicht genauer erörtert werden. Bei geeigneter Fassung der Bedeutungen der Personalpronomina dürfte sich aber die Annahme einer besonderen Pluralsemantik erübrigen (vgl. Lieb 1985 zu Bedeutungen indexikalischer Ausdrücke). Wir können von folgenden informellen Charakterisierungen ausgehen (vgl. Plank 1984): (i) Mit einem Personalpronomen der 1. Person Singular (ich/wir) bezieht sich der Sprecher auf die Elemente einer Menge von Referenzobjekten (hier: Personen), die ihn selbst (als Sprecher) einschließt.  

1155

C4 Numerus

(ii) Mit einem Personalpronomen der 2. Person Singular (du/ihr) bezieht sich der Sprecher auf die Elemente einer Menge von Referenzobjekten (hier: Personen), die den Adressaten (aber nicht den Sprecher selbst) einschließt.  

(iii) Im Singular muss die Menge der Referenzobjekte einelementig, im Plural mehrelementig sein. Im Ergebnis kann sich der Sprecher mit ich gerade auf sich selbst beziehen (nämlich auf das einzige Element einer einelementigen Menge, die den Sprecher einschließt), mit wir auf sich und andere (darunter möglicherweise den Adressaten), nämlich die Elemente einer (eventuell kontextuell bestimmbaren) mehrelementigen Menge von Personen, die den Sprecher einschließt. Entsprechendes gilt für du und ihr. Für die Numerussemantik ergeben sich aus (iii) keine Besonderheiten. Insoweit besteht kein Grund, die betreffenden Formen nicht dem Singular bzw. Plural zuzuordnen.

Die unterschiedlichen Typen der Pluralbildung bei Personalpronomina bilden einen der Untersuchungsgegenstände einer breit angelegten sprachvergleichenden Untersuchung der Personalsysteme (Forchheimer 1953). Entgegen der These, die 1. Person lasse einen Plural nicht zu, kommt Forchheimer zu dem Ergebnis, dass die Pluralbildung gerade bei der 1. Person ihren Ausgangspunkt habe („number, i. e. the distinction of singular and plural, originates from the personal pronoun of the first person“ (ebd.: 18)) und sich in einer Sprache, wenn überhaupt, dann dort finde („in the first person practically no language does without this opposition“ (ebd.)). In allgemeinerer Form wird dieser Beobachtung durch die Annahme Rechnung getragen, dass die Reichweite der Pluralbildung in verschiedenen Sprachen einen oberen Abschnitt der Allgemeinen Nominalhierarchie umfasst.  





C4.3.2 Personalpronomina der 3. Person  

Die Pluralbildung der Personalpronomina der 3. Person zeigt eine besondere Vielfalt. (Zu den Nominativformen siehe → C3.2 (20); zu den Formen der obliquen Kasus siehe → C5.2 (78), (79), (80), (82).) Der Vergleich der Pluralbildungen der Personalpronomina der 3. Person verdeutlicht wesentliche Unterschiede der Verfahren zur Pluralbildung (und der Flexion insgesamt) in den betrachteten Sprachen. Die ungarische Pluralform ők zeigt eine durchsichtige Bildung durch Suffigierung auf der Basis der unmarkierten Form (der ‚Singularform‘) ő. Das auftretende Suffix ist das allgemeine Pluralkennzeichen des Ungarischen, das wortklassenübergreifend verwendet wird (→ C4.2.2). Gegenüber der transparenten ungarischen Bildung mittels eines unbeschränkt produktiven Suffixes bietet das Englische ein extremes Gegenmodell. Bei Pronomina gibt es im Englischen nur suppletive Pluralformen (they, them).  



Die Pluralformen sind Ersetzungen (durch Entlehnung aus dem Nordischen ins Mittelenglische) für durch die Lautentwicklung aufgrund vielfältiger Homonymien weitgehend unkenntlich ge-

1156

C Nominalflexion

wordene ältere Formen (Werner 1991; Lass 1992: 117, 120 f.). Entlehnung von Flexionsformen ist ein bemerkenswerter und nicht häufig beobachteter Vorgang; von besonderem Interesse ist aber im vorliegenden Zusammenhang, dass hier gerade nur Pluralformen des betreffenden nordischen Pronominallexems übernommen worden sind, mit dem Ergebnis, dass innerhalb des Paradigmas des Personalpronomens der 3. Person eine sehr prägnante SG - PL -Unterscheidung vorliegt, wobei die Pluralformen durch den im Übrigen für Demonstrativa charakteristischen Anlaut th- charakterisiert sind.  



Im Französischen werden im Falle des Personalpronomens der 3. Person alle zur Verfügung stehenden Mittel der Pluralkennzeichnung zum Einsatz gebracht. Die NOM . PL - Formen ils, /il(z)/, M , und elles, /ɛl(z)/, F , sind regelmäßig auf der Basis der NOM . SG -Formen nach dem Muster des allgemeinen s-Plurals gebildet. Daneben kommt auch Vokalwechsel und Suppletion zum Zuge. Die Akkusativformen fallen mit den Formen des definiten Artikels zusammen. Die genusindifferente Pluralform les /le(z)/ ist mit dem s-Suffix gebildet, aber sie unterscheidet sich von den SG - Formen /lə/, M , und /la/, F , zusätzlich durch den Stammvokal /e/, der auch die Pluralformen einiger weiterer Pronomina kennzeichnet. Die Dativformen zeigen wie die Nominativ-und Akkusativformen den für das Paradigma charakteristischen Konsonanten /l/, unterscheiden sich aber bezüglich des Vokalismus auf idiosynkratische Weise (lui /lɥi/, DAT . SG vs. leur /lœʀ/, DAT . PL ). Im Maskulinum existieren besondere disjunkte (non-klitische) Formen; im Femininum fallen die disjunkten Formen mit den Nominativformen zusammen. Die SG - PL -Unterscheidung ist bei den disjunkten M - Formen (aus synchroner Sicht) stark suppletiv: Die M . SG - Form lui /lɥi/ (die mit der DAT . SG -Form gleichlautet) und die M . PL -Form eux /ø/ zeigen keine lautliche Übereinstimmung. Zu bemerken ist, dass eux /ø/ keine Liaison-Variante besitzt (Rothe 1972: 99; TLFi 2003: s. v. LUI ). Auffällig ist, dass die Pluraldifferenzierung gerade im Nominativ nur mittels des s-Plurals vorgenommen wird, der nur in Liaison-Kontexten funktional werden kann. Immerhin ist aber Liaison gerade zwischen Personalpronomina und Verb, wo sie möglich ist, obligatorisch (während nicht-pronominale Subjekte keine Liaison zulassen). Entsprechend ergibt sich ggf. eine Numerusdifferenzierung wie in (63a, b), und ähnlich, wo dem Verb eines der Pronominaladverbien en oder y vorausgeht, wie in (63c, d).  



(63) a. il écoute /ilekut/, 3SG ‚er hört‘ FRA b. ils‿écoutent /ilzekut/, 3PL ‚sie hören‘ c. il en parle /ilãpaʀl/, 3SG ‚er spricht davon‘ d. ils‿en parlent /ilzãpaʀl/, 3PL ‚sie sprechen davon‘ e. il dort /ildɔʀ/, 3SG ‚er schläft‘ f. ils dorment /ildɔʀm/, 3PL ‚sie schlafen‘ Eine Numerus-Disambiguierung bei Subjektpronomina der 3. Person durch Kongruenzformen ist zwar bei den meisten Verben im Allgemeinen nicht möglich, wohl  

C4 Numerus

1157

aber gerade bei Verben mit hoher Gebrauchsfrequenz, die eine (nicht nur schriftlich, sondern lautlich realisierte) Numerusdifferenzierung zeigen, wie in (63e, f), so dass eine Numerusdifferenzierung am Subjektpronomen vielfach tatsächlich redundant wäre. Eine Numerusdifferenzierung am Subjektpronomen ist offenbar auch dann eher entbehrlich, wenn das Pronomen auf eine vorangestellte oder folgende NP oder ein anderes Pronomen verweist, und daher auch gerade dann, wenn ein betontes (disjunktes) Pronomen hinzugesetzt wird (lui, il parle vs. eux, ils parlent), wenngleich sich Numerus-Disambiguierung nur im Maskulinum ergibt; das konjunkte Pronomen kann dann neben betontem lui oder eux sogar entfallen (Hawkins/ Towell 1996: 72). Die konjunkten Subjektpronomina sind Verbklitika. Zwischen Pronomen und Verb kann nichts treten, ausgenommen andere Klitika. Sie verhalten sich nicht wie gewöhnliche NPs: Insbesondere nehmen sie nicht die syntaktischen Positionen von NPs ein und werden nicht koordiniert oder modifiziert. Die enge Verknüpfung von Personalpronomen und Verb, die auch an der Liaison sichtbar wird, ist häufig so gewertet worden, dass sich im Französischen ein Übergang vom Status als Klitikon zum Verbpräfix vollzogen habe oder vollziehe (von Wartburg 1965). Für entsprechende empirische Befunde zur gesprochenen Umgangssprache siehe Fonseca-Greber/ Waugh (2003). Von Verbflexiven unterscheiden sich die Subjektpronomina in der Standardsprache aber (i) durch die fehlende Obligatorität, die sich bei Nicht-Setzung neben NP-Subjekten zeigt (sofern diese nicht disloziert sind) und in der Möglichkeit der Nicht-Setzung im zweiten Konjunkt einer VP-Koordination und (ii) durch die nicht-verbadjazente Positionierung, wenn Pronominaladverbien (en, y) oder die Negationspartikel ne hinzutreten. Sie sind daher nicht als Verbflexive zu betrachten.  

Im Polnischen und im Deutschen folgt die Flexion der Personalpronomina der 3. Person Mustern, die allgemeinere Geltung haben, nämlich ebenso oder in ähnlicher Form auch bei adnominalen Pronomina und Adjektiven Verwendung finden. Auch im Deutschen gibt es aber gerade in diesem Paradigma Stammalternationen, wenngleich selbst diese den Zusammenfall der SG - und PL - Formen im NOM / AKK . F nicht beseitigen (beide: sie); zum Bau der Formen siehe im Einzelnen → C6.5.1.  

C4.3.3 Demonstrativa Wie bei den Personalpronomina handelt es sich bei den Pluralformen der Demonstrativa im Englischen um irreguläre Bildungen (SG : this/that, PL : these/those), im Französischen um Formen mit vokalischer Markierung (Plural auf /e/), verbunden mit dem -s/PL -Kennzeichen (SG : ce/cet/cette, PL : ces). Bemerkenswert ist, dass es im Englischen gerade die Demonstrativa sind, die als einzige Dependentien in NPs mit Kopfsubstantiven kongruieren (wie in theseP L girlsP L ‚diese Mädchen‘). Auch das Ungarische zeigt bei den Demonstrativa eine auffällige Besonderheit. Determinative und Adjektive innerhalb einer NP als Dependentien zu einem substantivischen Kopf bleiben im Ungarischen unflektiert; vgl. (64a).

1158

C Nominalflexion

(64) a. a magyar lányok, NOM . PL ‚die ungarischen Mädchen‘ UNG b. azok a magyar lányok, NOM . PL ‚jene ungarischen Mädchen‘ c. ezeket a kék madarakat, AKK . PL ‚diese blauen Vögel‘ Eine mögliche Ausnahme bilden nur die Demonstrativa AZ ‚jener‘ und EZ ‚dieser‘ in Konstruktionen wie (64b) (→ D1.2.1.2). Hier steht das Demonstrativum vor einer formal vollständigen NP, die durch den definiten Artikel eingeleitet wird. In diesem Fall wird das Demonstrativum mit den im entsprechenden Kontext zu erwartenden Flexionssuffixen für Numerus und Kasus versehen, in (64b) mit dem Pluralsuffix -(V)k. Entsprechend erscheint in (64c) nicht nur das Pluralsuffix, sondern ebenso das Kasussuffix (-(V)t/AKK ) sowohl am Demonstrativum (ez-ekP L -etA K K ) als auch am substantivischen Kopf (madar-akP L -atA K K ). Insgesamt zeigen Konstruktionen wie (64b, c) eine appositive Struktur (Moravcsik 2003a: 147) aus einem als solches auch selbstständig verwendbaren Demonstrativum mit einer an dieses angeschlossenen NP. Die Beobachtung, dass dem Determinativ hier der definite Artikel folgt, kann für diese Analyse angeführt werden, ebenso wie die Tatsache, dass redundante Pluralmarkierung im Ungarischen im Übrigen vermieden wird (ebd.). Gegebenenfalls wird auch das Possessumsuffix oder eine Postposition doppelt gesetzt. Entsprechendes gilt für die eigentlichen Appositionskonstruktionen; vgl. Tompa (1968: 296–299) oder Pilarský (2013: 251). In nicht-appositiver Konstruktion erscheinen im Ungarischen unflektierte Demonstrativa (E , EME , EZEN ‚dieser‘; AMA , AZON ‚jener‘), doch gilt diese Alternative als eher veraltet/gehoben.

Im Polnischen und im Deutschen folgen die Demonstrativa dem allgemeinen Muster kumulativer Kasus-Numerus-Flexion (→ C5.2.2.1).

C4.3.4 Definite Artikel Die Flexionsformen des definiten Artikels im Französischen sind in Abschnitt → C2.8.2 besprochen worden. Im Englischen und Ungarischen ist der definite Artikel indeklinabel. Im Polnischen existieren keine Artikel. Die Formen des definiten Artikels im Deutschen folgen mit kleineren Variationen dem allgemeinen Muster kumulativer Kasus-Numerus-Flexion für Substantivdependentien; zu den Formen im Einzelnen siehe → C6.5.1. Das Paradigma des definiten Artikels umfasst vier Teilparadigmen, je eines für die drei Genera im Singular und eines (ohne Genusdifferenzierung) im Plural. Unter dem Gesichtspunkt der Numerusmarkierung ist wesentlich, dass die Formen eines gegebenen Kasus im Maskulinum Singular und im Neutrum Singular nie mit den Pluralformen zusammenfallen. Im Neutrum Singular treten sogar nur Formen auf, die im Plural nie vorkommen. Anders verhält es sich im Femininum Singular, wo in drei von vier Kasus die betreffende Form mit der Pluralform übereinstimmt. Eine wirksame Numerusdifferenzierung innerhalb von NPs mithilfe der Formen der Artikel ist daher nur im Non-Femininum, aber nicht im Femininum, gegeben. Am Substantiv ist

C4 Numerus

1159

dagegen im Femininum nahezu immer eine deutliche Numerusunterscheidung gegeben, während die Blockierung der Pluralkennzeichnung durch die Schwa-Regel nur Substantive im Non-Femininum betrifft (→ C4.2.5.1). Für eine Phrase aus definitem Artikel und Substantiv ergibt sich bei gegebenem Kasus daher aus dem Zusammenspiel der Numerusmarkierungen am Substantiv und den unterschiedlichen Formen des Artikels immer eine eindeutige Numerusdifferenzierung wie (65) am Beispiel der NOM . PL -Formen zeigt. (65)

NOM . SG

NOM . PL

a.

PULLOVER , M

der Pullover

die Pullover

b.

MÄDCHEN , N

das Mädchen

die Mädchen

c.

FFRAUEN RA UEN , F

die Frau

die Frauen

Im Femininum ist die Numerusdifferenzierung schon allein durch die Substantivflexion gesichert, im Neutrum schon allein durch die Formendifferenzierung im Paradigma des Artikels (das/dem/des vs. die/den/der). Im Maskulinum stimmen die Artikelformen der direkten Kasus des Singulars mit denen der indirekten Kasus G EN .PL einerseits und von des Plurals überein. Ein Zusammenfall von NOM . SG . M und GEN AKK . SG . M und DAT . PL ist daher bei Phrasen aus definitem Artikel und Substantiv auf Phrasenebene insoweit nicht ausgeschlossen und tatsächlich möglich. Jedoch haben PUL LOVER OVER im die Substantive mit blockierter allgemeiner Pluralkennzeichnung wie PULL Allgemeinen gerade im DAT . PL eindeutige Pluralformen, die durch das kumulative DAT . PL -Suffix gekennzeichnet sind (wie Pullovern). Nur bei der kleineren Gruppe der Maskulina mit Grundformen auf -en, bei denen die DAT . PL Suffigierung leerläuft, bleibt die AKK . SG - /DAT . PL -Homonymie auf Phrasenebene unaufgelöst (den Besen). (Dies betrifft auch die Substantive der schwachen Flexion wie STUDENT , den StudentenA K K . S G = D A T . P L ; → C6.6.1.)

Insgesamt zeigt sich, dass sich im Deutschen Numerusmarkierung am Substantiv und am Artikel ergänzen, während in den Kontrastsprachen das eine oder das andere Element allein oder primär Träger der Numerusmarkierung ist. Wo besondere Pluralformen fehlen (im Non-Femininum), liefert die Formenunterscheidung am Determinativ für jeden gegebenen Kasus eine eindeutige Numerusdifferenzierung. Interessanterweise kann zugunsten der Forderung, nach der Feminina nicht ohne formal ausgezeichnete Pluralformen bleiben, sogar die Schwa-Regel durchbrochen werden. Zum Femininum SIEBEN (Ziffer, Spielkarte o.ä.) existieren die Pluralformen Sieben und Siebenen. Die erstere respektiert die Schwa-Regel (mit Blockierung der Suffigierung des Nasal-Suffixes nach nasalem Stammausgang), die letztere das ‚Pluralbildungsgebot‘ für Feminina. Ausnahmen zum Pluralbildungsgebot sind selten; mögliche Beispiele liefern fremde Pflanzen- und Tierbezeichnungen mit Stammausgang auf s wie ANANAS , ANOPHELES , ANSCHOVIS , IRIS und TAGETES , die aber teilweise neben Varianten mit Pluralkennzeichnung stehen.

1160

C Nominalflexion

C4.3.5 Possessiva Bei den Possessiva sind Stammkategorien und Flexionskategorien im engeren Sinne zu unterscheiden (→ C3.2). Stammkategorien reflektieren Eigenschaften des Possessors, Flexionskategorien (Kongruenzkategorien) solche des Possessums. Wie bei den Personalpronomina erfolgt die Formenunterscheidung und damit insbesondere auch die Numerusdifferenzierung weitgehend suppletiv. Als Flexionskategorien (Kongruenzkategorien) kommen wie generell bei kongruierenden Substantivdependentien Numerus, Kasus und Genus in Betracht. Im Französischen wird auch hier eine Numerusdifferenzierung vorgenommen, im Singular auch Genusdifferenzierung (→ C2.8.2). Die Bildung der Pluralformen entspricht im Singular des Possessors (mes, PL der 1. Person Singular) derjenigen beim Artikel und kombiniert Stammwechsel und Suffigierung (s-Plural). Der Stammwechsel beim Flexionsplural im Singular des Possessors entspricht dem beim definiten Artikel und beim Demonstrativum; die Pluralformen lauten auf /e/. Im Plural des Possessors gibt es bei der 1. und 2. Person einen abweichenden Stammwechsel (notre/nos, votre/vos), bei der 3. Person fehlt der Stammwechsel (leur/leurs), so dass der Plural unkenntlich bleiben muss, wenn das Suffix lautlich nicht realisiert wird. Zu den Formen der selbstständigen Possessivpronomina siehe → C3.4.1. Im Französischen werden Artikel-Pronomen-Verbindungen verwendet. Der Plural des Possessors wird lexikalisch, der Plural des Possessums wird flexivisch ausgezeichnet; vgl. (66), mit ‚SG P U M ‘ für ‚Singular des Possessums‘ und ‚PL P U M ‘ für ‚Plural des Possessums‘.  





(66) FRA

POSSESSOR

1SG

2SG

3SG

1PL

2PL

3PL

SG P U M (NONF )

le mien

le tien

le sien

le nôtre

le vôtre

le leur

SG P U M (F )

la mienne

la tienne

la sienne

la nôtre

la vôtre

la leur

PL P U M (NONF )

les miens

les tiens

les siens les nôtres

les vôtres

les leurs

PL P U M (F )

les miennes les tiennes

les siennes

Im Englischen gibt es bei den Possessivpronomina nur eine possessorbezogene Formendifferenzierung, eingeschlossen eine suppletive SG -PL -Differenzierung; vgl. → C3.2. Im Deutschen werden die Possessor-Kategorien (eingeschlossen den Numerus) beim Possessivpronomen ebenfalls suppletiv unterschieden, mittels Stammformen, die partielle Übereinstimmungen mit den Stämmen der Personalpronomina zeigen (siehe ebenso → C3.2). Die Bildung der Kongruenzformen entspricht dem allgemeinen Muster der pronominalen Flexion, aber mit der Unterscheidung selbstständiger und unselbstständiger Formen wie beim indefiniten Artikel EIN (→ C6.5.2).  

1161

C4 Numerus

Im Ungarischen existieren keine attributiven Possessivpronomina (wie DEU MEIN oder FRA MON ); zu den selbstständigen Possessivpronomina des Ungarischen siehe → C3.4.2. Als funktionale Gegenstücke zu Possessivpronomina können Personalsuffixe (Person-Numerus-Suffixe, kurz: PN -Suffixe) fungieren (→ C3.3); vgl. rendőr-öm ‚mein Polizist‘ zu RENDŐR ‚Polizist‘ mit dem 1SG - Personalsuffix -(V)m. Substantivformen mit Personalsuffixen (Person-Numerus-Suffixen) werden als Possessivformen der Substantive bezeichnet. Die Bildung der Possessivformen zeigt (67) anhand des Beispiellexems RENDŐR . (Zu beachten ist, dass, wenn die in → C4.3.7 beschriebene Ökonomieregel greift, die 3SG -Formen für die 3PL -Formen eintreten.) (67) UNG

POSSESSOR

1SG

2SG

3SG

1PL

2PL

3PL

SG P U M

rendőr-öm

rendőr-öd

rendőr-e

rendőr-ünk

rendőr-ötök

rendőr-ük

PL P U M

rendőr-ei-m

rendőr-ei-d

rendőr-ei

rendőr-ei-nk rendőr-ei-tek rendőr-ei-k

Wie im Französischen und Deutschen liegt eine doppelte Numeruskategorisierung vor. Unterschieden werden Possessivformen gemäß Person (1, 2, 3) und Numerus (SG , PL ) des Possessors sowie nach dem Numerus des Possessums (SG P U M , PL P U M ). Man betrachte zunächst die SG P U M -Formen. Alle Suffixe erscheinen mit den gewöhnlichen vokalharmonischen Anpassungen (→ C3.3.5). Die Personalsuffixe (-(U)nk, -(V)tOk, -(U)k) lauten auf k aus und zeigen im Übrigen formale Ähnlichkeit mit den SG - PN -Suffixen (-(V)m, -(V)d, -(A)). Die Suffixe der 1. Person weisen im Singular und Plural einen Nasal, die Suffixe der 2. Person einen alveolaren Verschlusslaut auf. Die Suffixe der 3. Person zeigen keinen Suffixkonsonanten (→ C3.3.5). Insgesamt sind die Personalsuffixe des Plurals synchron nicht zerlegbar; sie kommen jedoch formal Endungen nahe, wie sie sich bei Verbindung der SG - Suffixe mit dem allgemeinen PL -Suffix -(V)k/PL ergeben würden (vgl. z. B. -ötök2P L mit -öd2S G + -ökP L ). Diachron handelt es sich mutmaßlich um Verschmelzungen der SG -Suffixe mit dem Pluralsuffix (Károly 1972: 125); vgl. auch Collinder (1960: 302). Diese Pluralbildung ist bemerkenswert, da im Übrigen in den Vergleichssprachen die Pluralbildung der 1. und 2. Person nie dem regulären Pluralbildungsmuster folgt. Die Annahme, dass die suppletive Bildung von PL -Possessorformen (wie DEU wir1P L gegenüber ich1S G ) Ausdruck der Tatsache sei, dass es sich nicht eigentlich um Pluralgegenstücke zu den entsprechenden SG - Formen handele, wird durch die Betrachtung -Suffixe des Ungarischen nicht gestützt, wo Verschmelzungen aus Singularder PN -S Suffixen mit dem regulären Pluralsuffix vorliegen. Die Bildung der PL - POSSESSUM -Formen des Ungarischen ist unterschiedlich analysiert worden und verdient besondere Betrachtung (→ C4.3.6).  









1162

C Nominalflexion

C4.3.6 Plural des Possessums (Ungarisch) Mit NPs, die ein Possessivpronomen enthalten (wie mein Haus), kann auf Gegenstände referiert werden, die Possessoren, auf die mit den enthaltenen Possessivpronomina Bezug genommen wird, als Possessum zugeordnet sind. Die Pluralbildung bei NPs mit Possessumbezug (wie meine Häuser) weist im Deutschen keine Besonderheiten auf. Die Flexion im Plural folgt dem allgemeinen Muster (wie bei diese Häuser), eingeschlossen die gewöhnliche Pluralbildung des substantivischen Kopfs. Entsprechendes gilt auch für die Kontrastsprachen, mit Ausnahme des Ungarischen. Im Ungarischen wird der Possessorbezug durch PN -Suffixe angezeigt wie in ház-am1S G ‚mein Haus‘ zu HÁZ ‚Haus‘ mit dem 1SG -Suffix -(V)m (→ C3.3.3). Bei einem pluralischen Possessum wird jedoch nicht die gewöhnliche Pluralform zugrunde gelegt, die mit dem allgemeinen Pluralsuffix -(V)k gebildet wird (vgl. ház-akP L ‚Häuser‘). Vielmehr kommt bei der Bildung von Possessivformen der Substantive ein spezielles Pluralflexiv zum Einsatz, das im Paradigma der Possessivformen von HÁZ als -ai erscheint, wie in ház-aiP L -m1S G ‚meine Häuser‘. Wir bezeichnen es als Possessum-Plural-Flexiv (PPL ). Den Bestand der Possessivformen von HÁZ bietet (68). Zu beachten ist hier und im Folgenden wiederum, dass unter bestimmten Bedingungen 3SG Formen für die 3PL -Formen eintreten (→ C4.3.7).

(68) UNG

POSSESSOR

1SG

2SG

3SG

1PL

2PL

3PL

SG P U M

ház-am

ház-ad

ház-a

ház-unk

ház-atok

ház-uk

PL P U M

ház-ai-m

ház-ai-d

ház-ai

ház-ai-nk

ház-ai-tok

ház-ai-k

Das PPL - Suffix (hier: -ai) wird an den Grundstamm (hier: ház-) angefügt. Auf der Basis des so gebildeten Pluralstamms werden die PL P U M -Formen durch Anfügung der gewöhnlichen PN - Suffixe gebildet. Gemäß der allgemeinen Regel entfällt dabei in der Position nach Vokal (hier: nach dem PPL -Suffix -ai) der instabile Initialvokal der PN -Possessorform des Suffixe; zur Verdeutlichung zeigt (69a) die Ableitung der 1SG -P Possessum Plural (mit ‚POR ‘ für ‚Possessor‘). (69) a. ház- + -aiP P L UNG b. ház- + -aiP P L c. ház- + -aiP P L

→ házai- + -(V)m1S G → házai- + -(A)3S G → házai- + -(U)k3P L

→ → →

házaim (1SG P O R .PL P U M ) házai (3SG P O R .PL P U M ) házaik (3PL P O R .PL P U M )

Im Falle der Possessum-Plural-Form mit 3SG -Possessor (házai ‚seine Häuser‘) ist zu beachten, dass das 3SG - PN - Suffix -(A) lautet. Es besteht nur aus einem instabilen Initialvokal; ein charakteristischer Konsonant fehlt (wie es übereinzelsprachlich typischerweise bei PN - Suffixen der 3. Person möglich ist). Der instabile Initialvokal fällt  

1163

C4 Numerus

auch hier aus und die sich ergebende Form lautet daher házai (3SG P O R .PL P U M ); vgl. (69b). Die 3SG - Suffigierung läuft in diesem Fall leer; das 3SG - Suffix bleibt ohne overte Realisierung. Die sich ergebende Form ist wegen des spezifischen PPL -Suffixes dennoch als possessivmarkierte Form klar gekennzeichnet und zudem wegen des NichtAuftretens eines PN -Suffixes der 1. oder 2. Person oder des Plurals als 3SG -Form eindeutig erkennbar.  

Auch bei der Possessum-Plural-Form mit 3PL -Possessor fällt der Initialvokal des PN - Suffixes aus, so dass die Form házaik ‚ihre Häuser‘ vom Pluralstamm házai- nur durch das antretende pluralspezifische k unterschieden wird, das für sich betrachtet keinen Hinweis auf die 3. Person enthält; vgl. (69c). Wiederum ist die sich ergebende Form wegen des spezifischen PPL -Suffixes dennoch als possessivmarkierte Form und wegen des PN -Suffixes (hier: -k) als Possessum-Plural-Form klar gekennzeichnet und zudem wegen des Nicht-Auftretens eines PN -Suffixes der 1. oder 2. Person als Form der 3. Person eindeutig erkennbar.  





Der charakteristische Bestandteil des PPL -Suffixes ist der Vokal i. Wie andere Suffixe des Ungarischen besitzt auch dieses Suffix einen variablen Initialvokal, der der Vokalharmonie unterliegt, wie der Vergleich der Possessivformen von HÁZ (gebildet mit der Variante -ai) und RENDŐR (gebildet mit der Variante -ei) in (67), oben, zeigt. Der variable Initialvokal ist zudem wie gewöhnlich zugleich instabil, d. h., er entfällt regelmäßig nach vorangehendem Vokal, wie die Bildung der Possessivformen von Substantiven mit vokalfinalem Stamm wie HAJÓ ‚Schiff‘ zeigt; vgl. (70).  

(70) UNG

POSSESSOR

1SG

2SG

3SG

1PL

2PL

3PL

SG P U M

hajó-m

hajó-d

hajó-ja

hajó-nk

hajó-tok

hajó-juk

PL P U M

hajó-i-m

hajó-i-d

hajó-i

hajó-i-nk

hajó-i-tok

hajó-i-k

Die PL P U M -Formen werden wiederum regelmäßig gebildet, indem an den Grundstamm das PPL -Suffix tritt, gefolgt vom jeweiligen PN -Suffix (in initialvokalloser Variante). Nur erscheint im Falle von HAJÓ das PPL - Suffix nach stammfinalem Vokal ohne Initialvokal (daher in der Variante -i). Eine Besonderheit weisen im Paradigma (70) die Possessum-Singular-Formen der 3. Person des Possessors auf. Wo die 3SG - und 3PL -Suffixe (-(A) bzw. -(U)k) an einen vokalfinalen Grundstamm treten, würde der Ausfall der Initialvokale bewirken, dass die betreffenden Possessivformen häufig als solche nicht mehr kenntlich wären und mit den SG - bzw. PL -Grundformen (hier: hajóS G bzw. hajókP L ) zusammenfielen. In diesem Fall tritt j-Epenthese zwischen Stamm und Endung ein und entsprechend unterbleibt der Ausfall des Initialvokals der PN - Suffixe in den 3SG - Formen des Singulars des Possessums; daher: hajója, hajójuk (vgl. → C3.3.5). Bei den entsprechenden PL POSSESSUM -Formen (hajói, hajóik) ist der Ausfall der Initialvokale der PN -Suffixe dagegen unschädlich; diese Formen sind trotz der reduzierten Personalmarkierung als Possessivformen der 3. Person eindeutig.  



1164

C Nominalflexion

Besonders zu erwähnen sind Substantivstämme mit stammfinalem Vokal i wie ‚Wagen‘ mit den Possessivformen in (71). (71) UNG

KOCSI

POSSESSOR

1SG

2SG

3SG

1PL

2PL

3PL

SG P U M

kocsi-m

kocsi-d

kocsi-ja

kocsi-nk

kocsi-tok

kocsi-juk

PL P U M

kocsi-jai-m

kocsi-jai-d

kocsi-jai

kocsi-jai-nk kocsi-jai-tok kocsi-jai-k

Da das PPL - Suffix nach vokalfinalem Stamm regelmäßig in der Variante -i erscheint, wäre bei stammfinalem i mit einem Hiatus, zudem dem Zusammentreffen zweier gleicher Vokale, zu rechnen. In diesem Fall tritt j-Epenthese zwischen Stamm und Endung ein und entsprechend unterbleibt der Ausfall des Initialvokals des PPL -Suffixes, das daher durchgehend in der Variante -jai erscheint. Die PN - Suffigierung erfolgt wie gewöhnlich. Die j-Epenthese sichert vielfach die Erkennbarkeit der morphologischen Spezifikationen oder verbessert die morphotaktische Transparenz der Formen; sie ist aber nicht auf vokalfinale Stämme beschränkt, sondern findet sich auch bei einem Teil der konsonantisch auslautenden Stämme, besonders bei Substantiven mit Stammausgang auf Plosiv wie ZSÁK ‚Sack‘. Konsonantisch auslautende Stämme zeigen j-Epenthese in den PL P U M -Formen in der Regel genau dann, wenn auch die SG P U M -Formen der 3. Person j-Epenthese aufweisen (Törkenczy 2002: 23).  

Im Überblick kann festgehalten werden, dass die PL P U M -Formen der Substantive gebildet werden, indem an den Grundstamm das PPL -Suffix, gefolgt von einem PN -Suffix tritt. Die Form des PPL -Suffixes ist als -((j)A)i anzugeben. Das charakteristische Element ist der Vokal i, dem unter angebbaren Bedingungen ein variabler (der Vokalharmonie unterliegender) Initialvokal A (realisiert als e oder a) vorangeht, dem wiederum epenthetisches j vorangestellt sein kann. Die angefügten PN -Suffixe treten dabei, der allgemeinen Regel entsprechend, immer ohne Initialvokal auf. Aus sprachvergleichender Perspektive ist die Analyse von Formen wie házai (3SG P O R .PL P U M ) (vgl. (69b)) und házaik (3PL P O R .PL P U M ) (vgl. (69c)) von besonderem Interesse. Diese Formen lassen sich nicht mechanisch in aufeinanderfolgende Segmente zerlegen, die jeweils für sich als Träger der Merkmale kenntlich wären, die durch Suffigierung angezeigt werden. Diese Tatsache hat dazu geführt, dass in der Literatur eine ganze Reihe von unterschiedlichen morphologischen Zerlegungen für die possessivmarkierten Formen des Ungarischen vorgeschlagen worden oder die Analysierbarkeit der Endungen der Possessivformen der Substantive im Plural überhaupt in Frage gestellt worden ist; so nimmt Tompa (1972: 39) an, dass man es mit „kaum ganz deutlich analysierbaren Suffixblöcken“ zu tun habe. Einen Überblick über verschiedene ältere Analysen gibt Antal (1964), der sich zur Annahme diskontinuierlicher Morpheme gezwungen sieht. In traditionellen diachronen Darstellungen wie Szinnyei (1912: 30) wird mit Bezug auf die angeführten Formen die Annahme vertreten, dass das PN - Suffix der 3. Person  

1165

C4 Numerus

Singular nach dem Pluralzeichen ‚geschwunden‘ sei und dass das PN -Suffix der 3. Person Plural mit dem Pluralzeichen ‚verschmolzen‘ sei. In praktisch orientierten synchronen Darstellungen findet sich die Angabe, dass in der 3. Person Singular nach dem Pluralzeichen kein PN - Suffix auftrete (Törkenczy 2002: 22, „no marker“) und dass das Kennzeichen der 3. Person Plural nach dem PPL - Suffix -k sei. Festzuhalten ist, dass das Fehlen des Initialvokals der PN -Suffixe nach dem vokalisch auslautenden PPL -Suffix einen einfachen Anwendungsfall der allgemeinen Regel über den Ausfall von Initialvokalen nach Vokal im Ungarischen darstellt.  





Suffigierung kann ganz oder teilweise leerlaufen, d. h., keinen oder nur einen partiellen formalen Ausdruck an den abgeleiteten Formen finden. Insoweit entfernt sich die ungarische Flexion in den betreffenden Fällen vom agglutinierenden Ideal. Für die typologische Beurteilung der ungarischen Nominalflexion ist aber wesentlich, dass die Herleitung der Formen durch eine Reihe von Affigierungsschritten – Anwendungen von Flexiven – möglich ist, die jeweils in durchsichtiger Weise auf die ausgedrückten Merkmale bezogen sind.  

C4.3.7 Ökonomie der Numerusmarkierung (Ungarisch) Redundante Numerusmarkierung wird im Ungarischen im Allgemeinen vermieden (etwa bei gegebener Markierung von Vielheit durch Numeralia, vgl. két könyvS G ‚zwei Bücher‘). Einen bemerkenswerten Fall von Redundanzvermeidung (oder Ökonomie der Numerusmarkierung) stellt die Unterlassung der Pluralmarkierung beim Personalpronomen der 3. Person bzw. beim PN -Suffix der 3. Person in Possessivkonstruktionen dar (Moravcsik 2003a: 149 f.; Ortmann 2011); vgl. (72).  





(72) a. a fiú-kPL könyv-e3S G ‚das Buch der Jungen‘ UNG b. a könyv-ük3P L ‚ihrP L Buch‘ c. az ő3S G könyv-ük3P L (dass.) d. a könyv-ünk1P L ‚unser Buch‘ e. a mi1P L könyv-ünk1P L (dass.) In einer Possessivkonstruktion mit einem nominativischen Possessorausdruck wird Mehrzahligkeit des Possessors entweder durch Pluralmarkierung am Possessorausdruck wie in (72a) oder durch die Pluralform des PN -Suffixes wie in (72b, c) angezeigt, jedoch nicht doppelt markiert. Im Einzelnen gilt: In den gewöhnlichen Fällen ist die Possessor-Position in einer Possessivkonstruktion entweder durch eine NP (Substantivphrase) belegt oder leer. Wenn die Possessor-Position in einer Possessivkonstruktion wie in (72a) durch eine NP belegt ist, so erscheint bei Mehrzahligkeit am Possessor das allgemeine Pluralsuffix (-(V)k) wie in fiú-kPL. In diesem Fall wird im gegenwärtigen Ungarisch am Kopfsubstantiv das PN -Suffix der 3. Person Singular (hier: -e3S G ) gesetzt, nicht: Plural (-ük3P L ). Ein doppeltes Auftreten des pluralsignalisie-Possessorform könyve3S G bzw. renden k wird vermieden. Die SG -Formen (hier: die 3SG -P  

1166

C Nominalflexion

die 3SG -Form des Personalpronomens ő3S G ) fungieren (wie in anderen Fällen der Vermeidung redundanter PL - Markierung) als unmarkierte Numerusformen. Ist die Possessor-Position nicht belegt (oder ‚leer‘) wie in (72b), so muss, wenn eine Lesart mit pluralischem Possessor intendiert ist, das PN -Suffix der 3. Person Plural erscheinen (-ük3P L ); andernfalls erhielte man eine Lesart mit dem Possessor im Singular (wie in könyv-e3S G ‚sein Buch‘). (Nur bei Fernstellung eines pluralischen NPPossessors im Dativ ist die Nicht-Markierung des Plurals des Possessors am Kopf der Phrase optional; vgl. É. Kiss 2002: 172 (48)). Tritt nun aber das gewöhnlich nicht zu setzende Personalpronomen doch hinzu wie in (72c), so bleibt die Suffigierung des Kopfsubstantivs die gleiche wie bei leerem Possessor (-ük3P L ), aber wiederum wird ein doppeltes Auftreten des pluralsignalisierenden k vermieden: Das hinzutretende Personalpronomen der 3. Person steht ohne Pluralsuffix in der 3SG - Form ő, nicht ő-kP L (Szinnyei 1912: 49; Lotz 1968: 630). Handelt es sich um einen Possessor der 1. oder 2. Person, so muss bei nicht besetzter Possessorposition ebenfalls ein pluralanzeigendes PN - Suffix stehen; vgl. (72d). Es ergibt sich aber eine andere Situation als beim Possessor der 3. Person, wenn wiederum das Personalpronomen hinzutritt. Die Pluralformen der 1. und 2. Person (mi ‚wir‘ und ti ‚ihr‘) sind Suppletivformen, die nicht mit dem -(V)k-Pluralsuffix gebildet sind, das beim Pronomen der 3. Person unterdrückt wird. Hier erscheinen die Pronomina in der Pluralform wie in (72e). Die gleiche Regularität gilt für Possessivphrasen im Plural des Possessums, d. h. für Possessivphrasen mit dem Possessum-Plural-- Suffix -(A)i; vgl. (73).  













(73) a. a fiú-kP L könyv-eiP P L ‚die Bücher der Jungen‘ UNG b. a könyv-eiP P L -k3P L ‚ihreP L Bücher‘ c. az ő3S G könyv-eiP P L -k3P L (dass.) d. a könyv-eiP P L -nk1P L ‚unsere Bücher‘ e. a mi1P L könyv-eiP P L -nk1P L (dass.) Wiederum wird in einer Possessivkonstruktion mit einem nominativischen Possessor die Mehrzahligkeit des Possessors entweder durch Pluralmarkierung am nicht-pronominalen Possessor wie in (73a) oder durch die Pluralform des PN -Suffixes wie in (73b, c) angezeigt, jedoch nicht doppelt markiert. Die Initialvokale der PN - Suffixe fallen dabei wie gewöhnlich nach Vokal (hier nach -ei) aus. Die Suffigierung des -(A)/3SG -Suffixes läuft daher leer, so dass in (73a) kein PN - Suffix sichtbar wird (anders als in (72a)); das -(U)k/3PL -Suffix erscheint in (73b, c) entsprechend in der Variante -k3P L . Für (73d, e) gelten die Erläuterungen zu (72d, e). Man vergleiche noch (74). (74) UNG

a fiú könyv-eiP P L ‚die Bücher des Jungen‘

C4 Numerus

1167

In (74) steht in einer Possessum-Plural-Phrase der Possessor im Singular; als PN -Suffix käme daher nur -(A)/3SG in Betracht. Wiederum läuft aber in der Position nach Vokal die Suffigierung (bei Ausfall des Initialvokals des Suffixes) leer, so dass auch hier kein PN - Suffix sichtbar wird. Im Ergebnis unterscheiden sich (73a) und (74) nur durch Stehen oder Fehlen der PL -Markierung am Possessor; ein PN -Suffix wird bei einem nicht-pronominalen Possessor nur sichtbar, wenn das Possessum im Singular steht, wie in (72a) oder in a fiú könyv-e3S G ‚das Buch des Jungen‘. Das Anredepronomen ÖN wird hier wie sonst wie ein Substantiv behandelt, d. h., der Plural wird gegebenenfalls am Pronomen, nicht am Possessumausdruck (als PN -Suffix) markiert (Rounds 2001: 127).  

Insgesamt zeigt sich: In Konstruktionen mit einem (nominativischen) Possessor der 3. Person Plural (wo ‚k-haltige‘ Formen sowohl für possessivmarkierte Substantive als auch für das Personalpronomen grundsätzlich zur Verfügung stehen) wird der Plural bei vorhandenem lexikalischem (NP-förmigem) Possessorausdruck am Possessorausdruck selbst (und nur dort), bei nicht-vorhandenem lexikalischen (also pronominalen oder ‚leeren‘) Possessorausdruck am Kopfsubstantiv (und nur dort) markiert.  

C4.4 Possessive (‚assoziative‘) Plurale Unter ‚assoziativen Pluralen‘ werden flexivische Bildungen verstanden, deren Bedeutungen durch Umschreibungen wie ‚X und die seinigen‘/‚X und seine Familie‘/‚X und seine Gruppe‘ o. ä. wiedergegeben werden können, wobei die Basis der Konstruktion eine Bezeichnung für ‚X‘ ist (vgl. Moravcsik 2003c). Ein prägnantes Beispiel liefert unter den Vergleichssprachen das Ungarische mit Bildungen auf -ék, wie (75) zeigt (mit dem männlichen Vornamen János als Basis).  

(75) UNG

János-ék ‚János und die seinigen‘

Assoziative Plurale können auf unterschiedliche Weise gebildet werden; die Bildung kann mithilfe besonderer Suffixe, aber auch mittels gewöhnlicher Plural-Kennzeichen oder mittels Verbindungen oder Verschmelzungen auch unabhängig auftretender Suffixe erfolgen. Verschiedene Bildungstypen werden in Daniel/Moravcsik (2005) aus sprachvergleichender Perspektive vorgestellt. Bestimmend für assoziative Plurale ist, neben der Numerusspezifikation, die die Gruppe konstituierende Beziehung der Zugehörigkeit, in der die ‚assoziierten‘ Elemente zu dem durch die Basis bezeichneten Element – dem ‚Fokusreferenten‘ (Daniel/Moravcsik 2005: 150, „focal referent“) – stehen. Im Polnischen wird das Pluralsuffix -owie zur Pluralbildung bei Familiennamen verwendet wie in Małowie ‚Familie Klein/Kleins‘ zum Familiennamen MAŁY , Klein‘

1168

C Nominalflexion

(vgl. → C5.7.4.1). Darüber hinaus können aber auch männliche Vornamen in Verbindung mit -owie zur Bezeichnung von Ehepaaren dienen (vgl. Janowie ‚Jan und Frau‘ zum Vornamen Jan; Swan 2002: 80). Ähnliche Verwendung ist bei Verwandtschaftsnamen möglich; vgl. dziadkowie, Plural zu DZIADEK , M ‚Großvater/Vorfahr/Ahn‘ in der Lesart ‚Großeltern‘ (Piprek et al. 1979: s. v.). Im Französischen und Englischen existieren keine assoziativen Plurale (nach Daniel/Moravcsik 2005). Verwiesen wird aber in der Literatur auf koordinative syntaktische Konstruktionen des Typs John’n them in englischen Dialekten (Moravcsik 2003b: 470). Belege bietet Vasko (2010, Cambridgeshire Dialect Grammar zu „Associative plural constructions“). Verwendungen von Eigennamen oder Verwandtschaftsbezeichnungen in Verbindung mit Pluralsuffixen zur Bezeichnung einer Gruppe, zu der die benannte Person gehört, finden sich in einer Vielzahl von Sprachen, etwa im Türkischen (Göksel/Kerslake 2005: 151). Vgl. Ahmet’ler ‚Ahmet und seine Frau/Freundin/Familie/ Gruppe‘ und bei Verwandtschaftsbezeichnungen (in Verbindung mit Personalsuffix) abla-m1S G -larP L ‚meine ältere Schwester und ihr Mann/Freund usw.‘ zu ABLA ‚ältere Schwester‘. Das Pluralsuffix tritt hier an die possessivmarkierte Form – im Unterschied zu abla-larP L -ım1S G ‚meine älteren Schwestern‘ mit gewöhnlicher Plurallesart (mit dem Pluralsuffix am Stamm). Nicht-standardsprachlich werden im Türkischen auch Bildungen mit einem Kollektivsuffix -gil verwendet wie in Ahmet-gil ‚Ahmet und seine Familie/Gruppe‘, amca-si3S G -gil ‚sein/ihr Onkel und Familie‘ zu AMCA ‚Onkel/ Vatersbruder‘; Göksel/Kerslake (2005: 151). Im Vergleich zu gewöhnlichen Fällen liefert die Anwendung des Pluralkennzeichens in den betreffenden Fällen nicht einen Ausdruck, der eine Vielheit von Objekten des Typs bezeichnet, auf die individuell mit einem entsprechenden Ausdruck im Singular Bezug genommen werden kann, und steht somit nicht für ‚mehrere X‘, sondern für ‚X und Angehörige‘. Die für den assoziativen Plural konstitutive Zugehörigkeitsrelation wird in durchsichtiger Weise angezeigt, wenn die Kennzeichnung mittels einer Verbindung aus Possessivkennzeichen und Pluralkennzeichen erfolgt, wie in verschiedenen slawischen Sprachen (siehe dazu Daniel 2004; Vassilieva 2005). So können im Bulgarischen (Beaulieux 1950: 55, 57) mittels Verbindungen aus Possessivsuffix (-ov, -in) und Pluralsuffix (-i) von (männlichen und weiblichen) Vornamen Bezeichnungen für die Familie des oder der Benannten abgeleitet werden wie in Mari-inP O S S -iP L ‚Maria und Familie‘, wörtlich ‚Marias (PL )‘; vgl. dazu (mit gleichlautendem unselbstständig gebrauchtem Possessivadjektiv) Mari-in-iP L blizk-iP L ‚Marias Verwandte‘ (Vassilieva 2005: 29). Die beiden Bestandteile des Kennzeichens für den assoziativen Plural stehen in diesem Fall in direkter Entsprechung zu den ausschlaggebenden Komponenten (Zugehörigkeit und Plural). Solche Fälle von assoziativen Pluralen können ihrer Form nach als Konstruktionen mit selbstständig gebrauchtem Possessivum im Plural analysiert werden, in anderer Terminologie, als Possessivkonstruktion mit ‚leerem Kopf‘, nämlich mit unbesetzt bleibender Possessum-Position. Die Pluralmarkierung betrifft danach das unausgedrückte Possessum, nicht den Possessor, also  

C4 Numerus

1169

nicht die Bezeichnung des Fokusreferenten; die Pluralsemantik ist in solchen Fällen nach dieser Analyse die gewöhnliche. Für Bildungen wie (75) im Ungarischen wird zwar in den Grammatiken meist ein besonderes Suffix -ék angenommen, das jedoch als Resultat einer Verschmelzung aus dem Possessumsuffix -é (→ C3.4.2) und dem allgemeinen Pluralsuffix -(V)k ausgewiesen wird (Tompa 1968: 108). Eine auch synchron gültige Zerlegung nimmt Lotz (1968: 636) an. Wiederum ist es möglich, die betreffende Bildung als Fall einer Possessivkonstruktion mit unbesetzter Kopfposition zu analysieren. Dennoch ist die Bedeutung insgesamt nicht völlig kompositionell. Die Komponenten würden für Jánosék eine Lesart wie ‚die von János‘ erwarten lassen, wie sie sich im Ungarischen tatsächlich bei der völlig regulären Bildung János-é-i (mit dem Possessum-Plural-Suffix -i) ergibt. Ein assoziativer Plural liegt demgegenüber erst vor, wenn (i) die unbestimmte Zugehörigkeitsbeziehung auf eine engere personale Beziehung (im typischen Fall die der Angehörigen) verengt ist und (ii) der Fokusreferent selbst als Teil der bezeichneten Gruppe betrachtet wird. Der Übergang von einer durchsichtigen possessiven Konstruktion des Typs ‚die von X‘ zu einer als assoziativem Plural verfestigten Konstruktion ‚X und Angehörige‘ kann als eine Abfolge zweier Reinterpretationsschritte aufgefasst werden. Zum einen entspricht die Einengung auf Personenbezug der präferierten Interpretation selbstständig gebrauchter Adjektive, die gilt, wenn der Kontext nicht eine anderweitige anaphorische Füllung der unbesetzten Kopfposition liefert (vgl. die Grünen vs. die grünen); die weitergehende Einengung der Zugehörigkeits- auf die Angehörigen- (oder Verwandten-)Relation zeigt sich zudem ebenso bei pronominalen Possessiva. Vgl. FRA (76a) mit (76b) (Grevisse/Goosse 2011: 935 f.).  

(76) a. Tu as tes soucis. J’ai les miens. FRA ‚Du hast deine Sorgen. Ich habe meine.‘ b. Ce père de famille s’est sacrifié pour les siens. ‚Dieser Familienvater hat sich für die Seinen geopfert.‘ Im Maskulinum Plural kann das non-anaphorisch gebrauchte Possessivum der Bezeichnung der Familie, der Anhänger, der Gefährten o. ä. (ebd.) dienen wie in (76b). Entsprechendes gilt für das Deutsche wie die Übersetzungen in (76) zeigen. Hier ist wiederum die Beziehung des Plurals auf die Possessa, nicht den Possessor, durchsichtig. Die Reinterpretation der Zugehörigkeitsrelation als Angehörigen- und, spezieller, Verwandtschaftsrelation, wie sie sich auch in der Etymologie von Familie (aus LAT FAMILIA ‚Gesinde‘ zu FAMULUS FAMUL US ‚dienend/Diener‘) spiegelt, schafft die Voraussetzung für den zweiten Schritt: die Subsumption des Possessors unter die Possessa. Diese prima facie eher unerwartete Möglichkeit eröffnet sich offenbar durch den Übergang von einer (im Allgemeinen asymmetrischen) Possessionsrelation zu einer symmetrischen Relation, wie sie insbesondere im Falle der Blutsverwandtschaft vorliegt.  

1170

C Nominalflexion

Bezieht man sich mit einem Ausdruck wie Jánosék auf die Verwandten von János, so bietet sich der Übergang zu einer Lesart, die mit ‚die János-Familie‘ umschrieben werden kann, an, weil János auch selbst (wegen der Symmetrie der Verwandtschaftsrelation) Mitglied der betreffenden Gemeinschaft von Verwandten ist, die durch die Bezugnahme auf János (als ‚Anker‘ der Possessivkonstruktion) identifiziert wird. Der Fokusreferent wird damit zum Repräsentanten der Gruppe, ähnlich wie bei DEU die Familie Hans Müller. Im Deutschen zeigt sich eine Reinterpretation der Possessivkonstruktion bei Familiennamen, bei denen aus Genitiv-Singular-Formen auf -s pluralische Familienbezeichnungen wie Müllers, Schulzes entstanden sind (Paul 1917: 158, „Umdeutung zum Plural“), die die betreffende Familie als Gesamtheit bezeichnen. Müllers kann mit Bezug auf eine Person mit Namen Müller als elliptische Possessivkonstruktion (mit nicht-besetzter Possessums-Position) interpretiert werden (wie in Das war nicht Meiers Idee, sondern Müllers). Die Entstehung der Plurallesart kann als Anwendungsfall des zuvor skizzierten Reinterpretationsweges verstanden werden, die sich bei nicht-anaphorischer Interpretation der Konstruktion mit unbesetzter Kopfposition eröffnet, wobei eine Possessivkonstruktion mit der Bezeichnung des Benannten (hier des ‚Familienoberhaupts‘ und damit des primären Namensträgers) den Ausgangspunkt bildet (vgl. Steche 1927: 149). Insoweit die Angehörigen des Benannten ebenfalls (sekundäre) Träger des Namens sind, ergibt sich die Möglichkeit, die Bezeichnung für die Gemeinschaft der Angehörigen des Familienoberhauptes als Bezeichnung für die Gemeinschaft derer zu verstehen, die Träger des Namens sind, womit die Reinterpretation als Plural zum Familiennamen erreicht ist. Die für assoziative Plurale als charakteristisch betrachtete Interpretation als Bezeichnung einer Gruppe findet sich auch hier. Müllers bezeichnet bei der relevanten Lesart die Familie Müller, ähnlich Grimms ein Geschwisterpaar, nicht einfach eine Mehrzahl von Trägern des gleichen Namens (wie der Eigennamenplural in die beiden Annas in unserer Klasse); im letzteren Fall wird bei Familiennamen gewöhnlich kein s-Plural verwendet (die beiden Müller/*Müllers in unserer Firma); vgl. → B1.4.3.8. Die nicht umstrittene Beobachtung der Entwicklung von s-Pluralen aus Genitiven bei Familiennamen liefert keine zwingende Grundlage für die Annahme, dass der s-Plural im Deutschen generell auf diese Weise entstanden wäre (vgl. aber Nübling/Schmuck 2010). Hinzuweisen ist darauf, dass der aus Genitiven entwickelte spezielle s-Plural im gesamten deutschen Sprachgebiet auftritt, während der allgemeine s-Plural im Deutschen vom Niederdeutschen ausgeht und nach gut begründeter, wenngleich umstrittener Auffassung auf das Altsächsische zurückgeht (Öhmann 1924: 7, 128; Öhmann 1962).

Eine entsprechende Entwicklung ist auch in anderen germanischen Sprachen zu beobachten und an Dialektformen nachvollziehbar (Nübling/Schmuck 2010). Zu vergleichen sind auch nominalisierte Adjektive auf -isch(en) als Familienbezeichnungen, die Curme (1922: 420) aus dem österreichischen Deutsch anführt. Genitiv- oder Posses-

C4 Numerus

1171

sivformen als Quelle für Familiennamen sind weit verbreitet. Darunter fallen die (oben aus dem Bulgarischen angeführten) Possessivadjektive im Slawischen. Im Bulgarischen geht die große Mehrheit der Familiennamen auf Possessivadjektive zurück (Beaulieux 1950: 70), z. B. Stojan-ov zu Stojan. Der Plural zum Familiennamen Stojanov lautet Stojanovi und zeigt damit die gleiche Form wie ein entsprechender ‚assoziativer Plural‘ zum Vornamen Stojan, so dass Stojanovi sowohl für ‚die Familie von Stojan‘ als auch für ‚die Familie Stojanov‘ stehen kann (ebd.: 55). Familiennamen aus Patronymen im Genitiv sind einzelsprachübergreifend vielfach belegt. Betrachtet man die verschiedenen in der Literatur genannten Fälle assoziativer Plurale im Überblick, so ist nicht klar, ob ein einheitliches Phänomen vorliegt. Die in der früheren Literatur erwogene Annahme, dass der assoziative Plural einen besonderen Numerus (neben Singular, Dual und gewöhnlichen Plural) darstellt, wird aus typologischer Sicht von Corbett (2000: 101–111) zurückgewiesen. Die Betrachtung der Flexionsformen stützt diese Auffassung. Insbesondere können die ungarischen Bildungen auf -ék, die im Bereich der Vergleichssprachen den prägnantesten Fall darstellen, als spezielle Fälle der für das Ungarische charakteristischen Possessivbildungen mit dem Possessumsuffix -é analysiert werden (Honti 1997: 88 f.); vgl. → C3.4.2. Wie im Türkischen kann die Basis, an die die Markierung -ék tritt, ihrerseits eine Possessivkonstruktion (markiert durch Personalsuffix) auf der Basis eines Verwandtschaftsnamen sein. Der Verwandtschaftsname kann seinerseits im Plural stehen. Vgl. die Bildungen in (77) mit dem Verwandtschaftsnamen UNG TESTVÉR ‚Bruder/Schwester/Geschwister‘ (Moravcsik 2003a: 155).  



(77) a. testvér-em1S G -ék ‚mein Geschwister und die seinigen‘ UNG b. testvér-eiP P L -m1S G -ék ‚meine Geschwister und die ihrigen‘ Auch Bildungen mit gewöhnlichen Appellativa sind möglich (wie tanár-om1S G -ék ‚mein Lehrer und die seinigen‘ zu TANÁR ‚Lehrer‘). Der durch das Personalsuffix angezeigte Possessor der eingebetteten Possessivkonstruktion muss singularisch sein (*tanár-unk1P L -ék) (ebd.); allgemeiner muss der als ‚Anker‘ dienende ‚oberste Possessor‘ eine Individuenbezeichnung sein (wie János in (75)). Die Formen in (77) zeigen, dass der assoziative Plural nicht eine Pluralisierung ESTV ÉR ) (das unabhängig im Singular oder Plural stehen des Basisnomens liefert (TTESTVÉR kann), sondern eine Numerusmarkierung für die Gesamtform darstellt (die ihrerseits eine Bezeichnung der Angehörigen des oder der Fokusreferenten darstellt). Der assoziative Plural stellt also keine alternative Option zum regulären Plural dar, sondern eine Pluralbildung mit anderem Bezugsbereich; beide können in einer Form zugleich auftreten. Zu den Pluralen der Personalpronomina der 1. und 2. Person, die in der Literatur ebenfalls als Fälle assoziativen Plurals genannt werden, siehe → C4.3.1. Die Einstufung von Pluralformen wie DEU wir oder ihr (oder ihrer Entsprechungen in den Kontrastsprachen) als assoziative Plurale scheint fragwürdig; beim Plural des Per 

1172

C Nominalflexion

sonalpronomens ist (anders als beim assoziativen Plural) offenbar nicht gefordert (entgegen Moravcsik 2003c: 489 et passim), dass die Menge der Referenten eine Gruppe darstellt, die durch eine Zugehörigkeitsbeziehung zu einem Fokusreferenten konstituiert wird; die Referentenmenge kann ko- oder kontextuell frei bestimmt sein (vgl. wir alten Männer/ihr alten Männer), ohne dass eine Possessivbeziehung (im weitesten Sinne) zum Sprecher oder Adressaten bestehen müsste.

C5

Kasus

C5.1

Einleitung  1175

C5.2 Kasusflexion im Vergleich: Überblick  1176 C5.2.1 Englisch, Französisch  1176 C5.2.2 Deutsch, Polnisch  1179 C5.2.2.1 Pronomina  1179 C5.2.2.2 Adjektive  1187 C5.2.2.3 Substantive  1189 C5.2.3 Ungarisch  1191 C5.3 Kasussynkretismus  1195 C5.3.1 Einleitung  1195 C5.3.2 (Nicht-)Differenzierung bei direkten Kasus  1197 C5.3.2.1 Allgemeines  1197 C5.3.2.2 Stark entwickelte Nominativ-Akkusativ-Differenzierung (Ungarisch)  1198 C5.3.2.3 Gering entwickelte Nominativ-Akkusativ-Differenzierung  1200 C5.3.2.4 Mittlere Nominativ-Akkusativ-Differenzierung (Polnisch)  1202 C5.3.2.5 Mittlere Nominativ-Akkusativ-Differenzierung (Deutsch)  1203 C5.3.3 Direkt-Indirekt-Synkretismus  1205 C5.3.4 (Nicht-)Differenzierung bei indirekten Kasus  1207 C5.4 Die Inventare der Kasusflexive (Polnisch, Deutsch)  1210 C5.4.1 Einleitung  1210 C5.4.2 Spezifizität und Unterspezifikation  1212 C5.4.3 Kasusflexive des Non-Femininum Singular (Polnisch, Deutsch)  1214 C5.4.4 Paradigmen des Non-Femininum Singular (Polnisch)  1219 C5.4.5 Genitiv-Singular-Formen (Polnisch)  1223 C5.4.6 Kasusflexive und Paradigmen des Femininum Singular (Polnisch, Deutsch)  1225 C5.4.7 Kasusflexive des Plurals (Polnisch, Deutsch)  1227 C5.4.8 Paradigmen des Plurals (Polnisch)  1229 C5.4.9 Genitiv-Plural-Formen (Polnisch)  1232 C5.4.10 Synopse der Kasusflexion (Polnisch, Deutsch)  1235 C5.5 Substantivparadigmen (Deutsch)  1239 C5.5.1 Vorbemerkung  1239 C5.5.2 (Nicht-)Verwendung von Kasusflexiven  1239 C5.5.3 Genitiv: Flexivvarianten  1243

C5.5.4 C5.5.5

Dativ: Flexivvarianten  1248 Paradigmenvielfalt  1249

C5.6 Numeralia  1252 C5.6.1 Übersicht  1252 C5.6.2 Kardinalia (Polnisch)  1256 C5.6.2.1 Formenbestand der Kardinalia  1256 C5.6.2.2 (In-)Kongruenz in Numeralphrasen  1260 C5.6.2.3 Verteilung von homogener und heterogener Konstruktion  1263 C5.6.2.4 Nominativ- und Akkusativhypothese  1265 C5.6.3 Kardinalia (Deutsch)  1268 C5.6.4 Kardinalia (Französisch)  1271 C5.7 Anhang: Personennamen im Polnischen  1274 C5.7.1 Vorbemerkung  1274 C5.7.2 Adjektivisch flektierte Personennamen  1274 C5.7.3 Adjektivisch-substantivisch flektierte Personennamen  1275 C5.7.4 Substantivisch flektierte Personennamen  1276 C5.7.4.1 Maskulina  1276 C5.7.4.2 Feminina  1277 C5.7.5 Vokative bei Personennamen  1277 C5.7.6 Familiennamen und Appellativa  1279

Bernd Wiese

C5 Kasus C5.1 Einleitung Das traditionelle, am Lateinischen orientierte Verfahren zur Darstellung der Nominalflexion und insbesondere der Kasusflexion stützt sich auf die Annahme von Paradigmen. Charakteristisch für das System der lateinischen Nominalflexion ist, dass jede Deklination ihren eigenen, spezifischen Satz von Endungen hat. Die Endungen zeigen kaum den Charakter von isoliert interpretierbaren Zeichen, anders als in agglutinierenden Sprachen wie dem Ungarischen. Endungen mit gleicher Funktion in verschiedenen Deklinationen sind im Lateinischen gewöhnlich nicht gleichlautend, andererseits gibt es innerhalb der Paradigmen eine nicht ganz unerhebliche Zahl von Synkretismen. In modernen indoeuropäischen Sprachen Europas hat man es dagegen verglichen mit älteren indoeuropäischen Sprachen gewöhnlich mit einem mehr oder minder starken Abbau der Deklinationsklassensysteme zu tun. Soweit die produktive Kasusflexion dann nicht ganz untergegangen ist, sieht man eine Reduktion der Zahl der Kasus und eine zunehmende Durchsetzung von Genus gegenüber Stammklasse als grundlegendem Organisationsgesichtspunkt (→ C2.3). In dem Maße, in dem Unterschiede zwischen Deklinationen verschwinden, können die verbleibenden Suffixe ihre genus- oder klassenspezifischen Anwendungsbedingungen ablegen und damit Eigenschaften gewinnen, die sie den Flexiven agglutinierender Systeme näher bringen. Besonders weitreichend ist diese Erscheinung im Englischen, wo das (im Altenglischen wie im Neuhochdeutschen auf das Maskulinum und Neutrum beschränkte) Genitiv-s – und ebenso das Plural-s – über den ursprünglichen Anwendungsbereich hinaus verallgemeinert worden ist. Im Modernen Englisch ist das Plural-s zum allgemeinen Pluralkennzeichen für alle Substantive geworden und das Genitiv-s zum Phrasensuffix weiterentwickelt, also über den Bereich der Kasusflexion im engeren Sinne hinausgewachsen (→ C3.4.3); ähnlich in den skandinavischen Sprachen. In den westeuropäischen Sprachen sind die Kasussysteme weitgehend geschwunden und teilweise durch Präpositionensysteme ersetzt worden. Anders verhält es sich in den slawischen Sprachen. Dort sind Kasussysteme zwar besser erhalten, was die Anzahl der unterschiedenen Kasus angeht, aber doch ebenfalls in ihrem inneren Aufbau wesentlich verändert worden. Jakobson stellt schon für das Protoslawische eine Tendenz fest, Paradigmen mit Genera zu identifizieren, und bemerkt, dass der Impuls zur Vereinheitlichung der Flexion in den slawischen Einzelsprachen anhalte (vgl. → C2.3). Der unterschiedlich weit reichende Abbau fusionierender Charakteristika im Englischen, Französischen und Deutschen positioniert die Flexionssysteme dieser Sprachen im Spektrum zwischen Systemen des älteren indoeuropäischen Typs (mit vorherrschend fusionierender Flexion), für den unter den Vergleichssprachen  

1176

C Nominalflexion

das Polnische stehen kann, und agglutinierenden Systemen wie dem des Ungarischen; siehe dazu → C5.2.3 und → C5.4 sowie (zusammenfassend) → C7. Die Personalpronomina bilden den Bereich, in dem alle Vergleichssprachen Kasusdifferenzierung aufweisen. Nur die Personalpronomina der 1. und 2. Person (im Singular) und die Personalpronomina der 3. Person (im Singular und Plural) besitzen in allen Vergleichssprachen wenigstens zwei nach Kasus geschiedene Formen. Die Analyse der entsprechenden Formen und Paradigmen steht daher im Folgenden am Anfang der Darstellung der Kasusflexion der Einzelsprachen. Die sich im Deutschen,, Polnischen und Ungarischen auch auf andere nominale Wortklassen erstreckende Kasusflexion wird jeweils im Anschluss an die Pronominalflexion beschrieben.  



Eine ausführliche vergleichende Betrachtung der Systeme der Kasusmarkierung an Substantivphrasen liefert → C5.4 für die beiden Vergleichssprachen mit den komplexesten Systemen der Kasusflexion – Deutsch und Polnisch. Zu einer Synopse der Kasusflexive im Deutschen und Polnischen siehe → C5.4.10. Vorausgeschickt ist eine vergleichende Erörterung der wichtigsten Fälle von Synkretismus (Nichtdifferenzierung bezüglich Kasus), die den Bau der Kasussysteme wesentlich prägen (→ C5.3). Ergänzende und weiterführende Fragestellungen zur Kasusflexion des Deutschen sind in → C5.5 Gegenstand der Darstellung. Dies schließt die Darstellung der Vielfalt der Substantivparadigmen des Deutschen ein, deren Bau sich aus der Verbindung von Numerus- und Kasusflexion ergibt (→ C5.5.5). Besonderheiten der Kasusflexion der Kardinalnumeralia werden in → C5.6 aufgenommen. Ein ergänzender Anhang bietet einen Abriss der (besonders diversifizierten) Kasusflexion der Personennamen im Polnischen (→ C5.7).

C5.2 Kasusflexion im Vergleich: Überblick C5.2.1 Englisch, Französisch Die am wenigsten entfalteten Systeme der Kasusflexion besitzen das Englische und das Französische. Im Englischen und Französischen findet keine produktive Kasusformenbildung statt. Kasusdifferenzierung beschränkt sich auf einen festen Formenbestand der Personalpronomina und des Relativums/Interrogativums. Wie in allen Vergleichssprachen sind für die betreffenden Pronomina die Kategorisierungen nach Person (1/2/3) und nach Numerus (SG / PL ) einschlägig. Kasusflexion im Englischen beschränkt sich auf eine NOM - AKK -Unterscheidung bei Personalpronomina und beim Relativum/Interrogativum. Produktiv ist dagegen die Auszeichnung von Possessivphrasen mittels des Possessivsuffixes (‚possessive case‘); siehe → C3.4.3. Den Gesamtbestand der Kasusformen zeigt (78). (78) ENG

NOM AKK

1SG

1PL

I

we

me

us

2SG /PL you

REL /INT

3SG M

who

he

whom

him

3SG N it

3SG F

3PL

she

they

her

them

1177

C5 Kasus

Beim Personalpronomen der 2. Person fehlt die NOM - AKK - Differenzierung (ebenso wie die Numerusdifferenzierung). In der 3. Person Singular werden drei Genera unterschieden (M , N , F ); im Neutrum wird wie gewöhnlich keine NOM - AKK -Unterscheidung gemacht (vgl. → C2.6). Charakteristisch ist das gänzliche Fehlen einer AKK -DAT -Unterscheidung – anders als im Französischen auch beim Personalpronomen der 3. Person. Personalpronomina und Relativum besitzen lexikalisierte possessive Gegenstücke (Possessivpronomina) (→ C3.2).  





Pronomina haben im Englischen (wie andere Funktionswörter, darunter Artikel, Präpositionen, Auxiliare usw.) starke und schwache Varianten (mit starkem bzw. schwachem Vokal); schwache Formen erscheinen in unbetonter Verwendung, starke in betonter Verwendung und eingeschränkt in unbetonter Verwendung (Wells 2008). Im Falle von he können die Varianten /hiː/ (stark) sowie /hi/ und /i/ (schwach) unterschieden werden (ebd.: s. v.); ähnlich für andere Pronomina. Diese Formenvariation konstituiert keine Unterscheidungen nach flexivischen Kategorien. Vgl. → B1.5.2.8/9 zur Klitisierung und zur Verwendung schwacher Pronomina in den Vergleichssprachen.  

Wie im Englischen handelt es sich bei den Kasusformen im Französischen um eine geschlossene Gruppe lexikalisch fixierter Formen. Im Singular der 3. Person wird nach Genus (M / F ) unterschieden, beim Relativum ist zwischen der Verwendung zum Bezug auf Personen (PER ) oder Sachen (NONPER ) zu unterscheiden. Traditionell wird zwischen formes disjointes und formes conjointes (Riegel/Pellat/Rioul 2014) oder freien und gebundenen (klitischen) Formen unterschieden (vgl. im Einzelnen → B1.5.2). Die freien Formen weisen keine Kasusdifferenzierung auf. In Hinblick auf die gebundenen Formen sind drei Kasus (Nominativ, Akkusativ und Dativ) zu unterscheiden. Den vollständigen Bestand der Kasusformen des Französischen zeigt (79).  

(79) FRA

1SG – NOM

moi

2SG

toi

REFL

soi

je

tu



me

te

se

REL

REL

NONPER

PER

quoi

3SG M

3SG F

lui qui

qui que

DAT

3PL F

eux elle

il le

AKK

3PL M

la lui

elles

ils les leur

Die erste Zeile zeigt die ungebundenen Formen; ‚–‘ im Zeilenkopf zeigt das Fehlen von Kasusdifferenzierung an. Die übrigen Zeilen zeigen die gebundenen (‚klitischen‘) Formen. In einigen Teilparadigmen (in der 3. Person Femininum Singular und Plural und beim personenbezogenen Relativum) wird keine Unterscheidung zwischen ungebundener (kasusloser) Form und gebundener Nominativform gemacht; die ungebundene 3SG . M -Form (lui) stimmt zudem mit der 3SG . DAT -Form überein. Das Reflexivum besitzt eine AKK / DAT -Form und eine ungebundene Form; beide schließen sich formal an die parallelen Formen der 1. und 2. Person an.  



1178

C Nominalflexion

Die Formen des einfachen Interrogativums (quoi, qui, que) fallen mit denen des Relativums zusammen, aber sie werden nicht zur Kasusunterscheidung genutzt. Periphrastische Interrogativa wie qui est-ce qui ‚wer‘ und qui est-ce que ‚wen‘ stellen dagegen der Form nach eine Verbindung aus einfachem Interrogativum, Kopula, Demonstrativum und Relativum dar und schließen die Kasusdifferenzierung des Relativums ein.

Eine formale AKK - DAT -Unterscheidung findet sich nur beim Personalpronomen der 3. Person; sie fehlt bei den übrigen kasusdifferenzierenden Pronomina. Formen, die gleichermaßen als Akkusativ-- und Dativformen fungieren, werden auch als Objektivus-- Formen bezeichnet. Im Plural der 1. Person (nous) und der 2. Person (vous) wird keine Kasusdifferenzierung gemacht; ebenso wenig wird zwischen gebundener und freier Form formal unterschieden. (Die betreffenden Formen sind der Übersichtlichkeit halber in (79) nicht aufgeführt.)  





Bei Pronomina, die keine spezifischen (nicht-kasusambigen) Akkusativformen besitzen, ist die Verwendung in der Funktion als direktes Objekt stark beschränkt: Nur spezifische Akkusativformen (le, la, les) lassen Verbindungen zweier klitischer Objektformen (AKK - und DAT -Formen) bei einer Verbform zu wie in Je teD A T lA K K ’ai donné(e) ‚Ich habe es/sie/ihn dir gegeben‘; vgl. → B2.4.

Die Pluralbildung ist teilweise durchsichtig; im Übrigen handelt es sich um einen lexikalisch fixierten Bestand von Einzelformen, die synchron morphologisch nicht zerlegbar sind, wenngleich formale Parallelen zwischen Ausdrucksformen gleicher Funktion in verschiedenen Paradigmen sichtbar sind; vgl. z. B. moi, toi, soi (/mwa/, /twa/, /swa/) mit me, te, se (/mə/, /tə/, /sə/).  

Der finale Schwa-Vokal in je, me, te, se, le, que entfällt regelmäßig vor vokalisch anlautenden Verbformen (vgl. je viens und j’arrive) sowie vor den Pronominaladverbien en und y, ferner auch der finale Vokal in la und (nur umgangssprachlich) in tu (vgl. t’as raison) (Riegel/Pellat/Rioul 2014: 103 f., „l’élision“), aber nicht bei postverbaler Stellung: Puis-je entrer? ‚Darf ich eintreten?‘ (in der Schreibung mit Bindestrich angeschlossen). Umgangssprachlich sind weitere Reduktionen möglich. So kann il (/il/) vor Konsonant als [i] und ils (/ilz/) vor Vokal als [iz] erscheinen (ebd.: 368); ferner findet sich il an Stelle von elle und ils anstelle von elles unter Aufgabe der Genusdifferenzierung (Lambrecht 1981: 40).  

Beim nicht-negierten Infinitiv (in postverbaler Stellung) erscheinen die Pronomina der 1. und 2. Person Singular in den volleren (‚disjunkten‘), dabei kasusindifferenten Formen (moi, toi statt me, te), soweit nicht Elision eintritt (m’, t’); vgl. Dites-le-moi! ‚Sagen Sie es mir!‘, Va-t’en ‚Geh weg‘. Hier fehlen somit bei den Kommunikantenpronomina auch im Singular (wie generell im Plural) kasusmarkierte (von den kasusindifferenten unterschiedene) Formen, die Elisionsformen ausgenommen. (Die auffällige postverbale Stellung der Klitika ist diachron durch die typischerweise satzinitiale Stellung des Imperativs zu erklären; vgl. Goldbach (2008) zum ‚Tobler-Mussafia-Gesetz‘.)  

NPs unterliegen im Französischen nicht der Kasusdifferenzierung. Jedoch existieren Verschmelzungsformen aus grammatischen Präpositionen und dem definiten Artikel des Maskulinums (à + le > au, à + les > aux, de + le > du, de + les > des) (→ C2.8.2), deren Ausdrucksformen synchron nicht zerlegbar sind; hierin könnte ein Ansatz zur

C5 Kasus

1179

Kasusformenbildung gesehen werden. Die Formen sind jedoch aus funktionaler Sicht transparent und treten als obligatorische Substitute für die angegebenen Verbindungen aus Präposition und Artikel auf. (Die gleichlautenden Formen le, les des Personalpronomens der 3. Person unterliegen nicht der Verschmelzung.) Englisch und Französisch stimmen darin überein, dass nur selbstständige, nicht aber adnominale Pronomina oder Artikel Kasusflexion aufweisen; NPs und ihre Bestandteile sind (anders als im Deutschen) kasusindifferent. Das Deutsche hebt sich in dieser Hinsicht von den westlichen Kontrastsprachen deutlich ab.  

C5.2.2 Deutsch, Polnisch C5.2.2.1 Pronomina Im Deutschen und Polnischen erstreckt sich die produktive Kasusflexion auf alle nominalen Klassen (insbesondere Pronomina und Artikel, Adjektive und Substantive). Ähnlich wie im Französischen und Englischen gibt es aber einen Kernbestand lexikalisch fixierter Pronominalformen, die teils morphologisch nicht analysierbar sind, teils nicht nach allgemeinen Regeln ableitbare Besonderheiten aufweisen. Dazu gehören wiederum die Personalpronomina, insbesondere die Personalpronomina der 1. und 2. Person; vgl. (80) mit den Formen der Personalpronomina und des Reflexivums im Deutschen.  

(80) DEU

1SG

2SG

1PL

2PL

REFL

3SG M

3SG N

3SG F

3PL

NOM

ich

du

wir

ihr



er

AKK

mich

dich

es

sie

sie

DAT

mir

dir

ihm

ihr

ihnen

GEN

meiner

deiner

seiner

ihrer

ihrer

ihn uns

euch

sich

unser

euer



Das Deutsche geht über die Differenzierungen hinaus, die im Englischen und Französischen gemacht werden, und unterscheidet vier Kasus. Zudem zeigen die Personalpronomina der 1. und 2. Person sowohl im Singular und als auch im Plural Kasusdifferenzierung; die NOM - AKK -Unterscheidung ist durchgehend gegeben. Im Plural ist dies systemweit nur hier der Fall. Dagegen ist die NOM - AKK -Differenzierung beim Personalpronomen der 3. Person anders als im Französischen und Englischen auf den Singular des Maskulinums beschränkt. Das System des Deutschen stimmt mit dem des Französischen darin überein, dass bei den Pronomina der 1. und 2. Person und beim Reflexivum, nicht aber in der 3. Person DAT - AKK - Synkretismus vorkommt. Den verschiedenen Systemen gemeinsam ist, dass bei den betrachteten Lexemen gewöhnlich der Kasus des indirekten Objekts (Dativ im Französischen und Deutschen, Akkusativ im  







1180

C Nominalflexion

Englischen) einerseits und der Kasus des Subjekts (Nominativ) andererseits nicht zusammenfallen; Ausnahmen bilden aber ENG you und it und FRA nous und vous. Als Genitivformen fungieren die Stämme der Possessivpronomina (→ C3.2 (21)), erweitert um den Ausgang -er. Die Erweiterung kann unterbleiben, wenn die betreffenden Stämme bereits auf er ausgehen; daher meiner, GEN . SG , und unser oder unserer, GEN . PL , usw. Die er-Erweiterung gilt als wichtigste Veränderung in der Flexion der Personalpronomina vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen (Walch/Häckel 1988: 28); zur Entwicklung dieser Formen (und zu möglichen Erklärungen für ihre Entstehung) siehe ebd.: 33, 45, 62, 120, 153. Nicht auf r auslautende Genitivformen werden als obsolet betrachtet (vgl. Vergissmeinnicht ‚Myosotis‘). Erweiterte Formen zu auf r auslautenden Basen (uns(e)r-er, eu(e)r-er) werden nicht immer als standardsprachlich anerkannt (Paul 1917: 172; Steche 1927: 158, „veraltet“); vgl. aber DudenGrammatik (2009: 269).

Im Übrigen sind die Formen der genusindifferenten Pronomina morphologisch nicht zerlegbar, wenn auch teils parallele Ausdrucksformen auftreten (mich/mir vs. dich/ dir). Traditionell wird (aus diachroner Perspektive) für die Personalpronomina der 1. und 2. Person in den indoeuropäischen Sprachen ein suppletives System mit vier Wurzeln angenommen, die den Formen des Nominativs bzw. der obliquen Kasus, jeweils gesondert für die 1. und 2. Person, zugrunde liegen; ein weiterer Stamm erscheint im Reflexivum (de Boor/Wisniewski 1998: 95).  



Wie im Englischen weisen Pronomina und Artikel (sowie andere Funktionswörter) im Deutschen starke und schwache Varianten auf (Kleiner/Knöbl 2015: 74–77). Wir nennen beispielhaft die in Kleiner/Knöbl (ebd.: 75) für er angegebenen Formen: [eːɐ̯ ] (Vollform), [eɐ̯ ], [ɛɐ̯ ], [ɐ] (schwache Formen).

Die Formenbildung des Personalpronomens der 3. Person folgt im Grundsatz dem systemweit geltenden Muster der pronominalen Flexion, wie es am Paradigma des Demonstrativums DIESER abgelesen werden kann; vgl. (81).  

(81)

DIESER

SG M

NOM

dies-er

AKK

dies-en

DAT GEN

SG N

SG F

PL

dies-es

dies-e

dies-e

dies-em dies-es

dies-en dies-er

dies-er

Dieses Flexionsmuster (‚pronominale Flexion‘) gilt im Deutschen im Grundsatz (mit geringen Variationen) für alle Adpronomina; dazu zählen die Demonstrativa (DIESER , JENER ) und die flektierbaren pronominalen Quantifikativa (JEDER , JEDWEDER , JEGLICHER JEGL ICHER ; ALLER , BEIDE ; EINIGER EINIG ER , ETLICHER , MANCHER ; MEHRERE ), das Interrogativum/Relativum WELCHER . Die Pronomina JEDER und JEDWEDER werden nur im Singular verwendet, das

C5 Kasus

Pronomen MEHRERE nur im Plural. Einige Pronomina (ALLER , MANCHER , besitzen besondere endungslose Formen (zum Gebrauch siehe → B1.5.5).

1181

WELCHER )

Im NOM / AKK . SG . N kann dies statt dieses stehen. Für die Genitivformen der Pronomina gelten besondere Verwendungsbeschränkungen (→ C6.5.3). In beschränktem Umfang können Pronomina im Genitiv Singular Non-Femininum (wie Adjektive) schwache Flexion annehmen; → C6.6.3. Die zusammengesetzten Pronomina DERJENIGE und DERSELBE werden wie Verbindungen aus definitem Artikel und Adjektiv flektiert.

Kommunikantenpronomina folgen, wie dargestellt, einem eigenen Flexionstyp. Bei anderen selbstständigen Pronomina kommt neben pronominaler auch substantivische Flexion vor, oder sie bleiben unflektiert. Die personenbezogenen Pronomina JEDERMANN , NIEMAND und JEMAND haben, soweit sie flektiert werden, nur Formen des Maskulinum Singular. Das zusammengesetzte Pronomen JEDERMANN (nur Singular) (mit substantivischer Basis MANN ) wird substantivisch flektiert: jedermannN O M / A K K / D A T , jedermannsG E N . JEMAND kann ebenfalls substantivisch flektiert werden (jemandN O M / A K K / D A T , jemandsG E N ). In den obliquen Kasus ist daneben auch pronominale Flexion möglich (jemandenA K K , jemandemD A T , jemandesG E N ). Gewöhnlich bleibt JEMAND aber unflektiert. Unflektiert bleiben auch die selbstständigen Pronomina ETWAS und NICHTS , die die sachbezogenen Gegenstücke zu JEMAND und NICHTS bilden. Eine entsprechende Opposition von personenbezogenem und sachbezogenem Pronomen zeigt sich auch bei den Interrogativa/Relativa. Das Pronomen WER (personenbezogen) besitzt nur Maskulinum-Singular-Formen, die nach pronominalem Muster (wie bei DER / DIE / DAS in selbstständiger Verwendung) gebildet werden (werN O M , wenA K K , wemD A T , wessenG E N ); WAS (sachbezogen) ist Neutrum. Die Ausdrucksform was entspricht formal der NOM / AKK . N -Form das von DER . Die Verwendung der Formen der indirekten Kasus (wemD A T , wessenG E N ), die nach ihrer Bildung Non-Femininum-- Formen sind, als Neutrumformen (mit Sachbezug) ist weitgehend obsolet, im Dativ praktisch ausgeschlossen; vgl. Duden-Grammatik (2009: 304, 306) zur Verwendung von wessen mit Sachbezug. Alternativ bleibt WAS unflektiert, wie in der Verwendung mit dativregierenden Präpositionen (mit was) sichtbar wird, auch wenn nach der Norm Pronominaladverbien zum Zuge kommen sollten (womit). Auch die Formenbildung der polnischen Interrogativa KTO / CO ‚wer/was‘ ist auf den Singular des Non-Femininums beschränkt. Zur Morphologie der Interrogativa in den Vergleichssprachen siehe im Einzelnen → B1.5.5.2.2.

Das Personalpronomen der 3. Person (siehe (80)) zeigt gegenüber dem allgemeinen Muster charakteristische Besonderheiten, die das Paradigma dem der Personalpronomina der 1. und 2. Person formal nahe bringen und im Ergebnis einen ähnlich hohen Grad der formalen Differenzierung der Kasusformen herstellen, insbesondere das Auftreten von Stammwechsel (z. B. e-r vs. ih-r). Als Genitivformen werden wie bei den Personalpronomina der 1. und 2. Person die betreffenden Possessivstämme mit er-Erweiterung verwendet; die übrigen Formen (NOM , AKK , DAT ) zeigen die systemweit  







1182

C Nominalflexion

regulären Formendifferenzierungen und die allgemein geltende Verteilung der charakteristischen Konsonanten der Kasusmarkierungen (r, n, m, s); vgl. (80) mit (81). Insbesondere werden Nominativ und Akkusativ nur im doppelt (nämlich bezüglich Genus und Numerus) unmarkierten Teilparadigma (M . SG ) unterschieden; im Neutrum und Femininum sowie im Plural besteht im Deutschen systematischer Zusammenfall (Synkretismus) von Nominativ und Akkusativ.. Die D Unterscheidung von Maskulinum und Neutrum ist wie gewöhnlich auf die direkten Kasus beschränkt; im Plural fehlt im Deutschen die Genusdifferenzierung ganz. Für das Femininum ist die (im Deutschen) fehlende bzw. (in vergleichbaren Sprachen) reduzierte Differenzierung der indirekten Kasus charakteristisch. Ähnlich wie ER /SIE /ES flektiert DER /DIE /DAS . (Im Einzelnen siehe → C6.5.1.)  

Wie im Französischen, aber in höherer Zahl, existieren lexikalisierte Verschmelzungsformen zu Verbindungen aus Präposition und Artikel. Der Bestand schließt die sehr häufig verwendeten Präpositionen ein, die die unmarkierten Elemente des Kernsystems der Lokalpräpositionen darstellen (→ B2.4.3.3.4, Abbildung 11). Sie bilden den engeren Bereich der stark grammatikalisierten Verschmelzungsformen, zu denen beim, zum, vom, im und am (DAT . SG . NONF ) sowie zur (DAT . SG . F ) gerechnet werden können (Eisenberg 2013b: 190–193). Zur weiteren Gruppe der Verschmelzungsformen rechnet Eisenberg (ebd.) unter anderen ans, ins, aufs; hinterm, überm; hinters, unters. Die Grenze zwischen lexikalisierten Formen und okkasionellen Bildungen wird in der Literatur unterschiedlich gezogen. Zum Vergleich der Verschmelzungsformen des Französischen und des Deutschen siehe Cabredo Hofherr (2012) und → D1.1.3.1.13.

Zu den Pronomina mit flexivischen Besonderheiten gehören einzelsprachübergreifend auch die Possessivpronomina. Im Deutschen bleiben die Formen des Nominativ Singular Non-Femininum (und daher auch des Akkusativ Singular Neutrum) bei adnominalem Gebrauch endungslos (vgl. das ist [mein Hut]N O M . S G . M vs. das ist meinerN O M . S G . M ). Im Übrigen ist die Formenbildung regelmäßig (gemäß dem Muster in (81)). Die gleiche Besonderheit zeigt auch der indefinite Artikel EIN ; ebenso KEIN . (Siehe dazu → C6.5.2.) Das für das Deutsche skizzierte Gesamtbild gilt auch für das Polnische (bei einem um die Kasus Lokativ und Instrumental erweiterten System). Die Formen der Personalpronomina und des Reflexivums zeigt (82); Formenbestand nach Swan (2002: 153, 156, 158). Das Personalpronomen der 1. Person zeigt wiederum wie in anderen indoeuropäischen Sprachen Stammsuppletion und einen deutlichen Schnitt zwischen Ausdrucksformen im Nominativ und in den obliquen Kasus; einen ähnlichen Grad von Formendifferenzierung zeigt das Personalpronomen der 2. Person. Es bestehen jedoch auch bemerkenswerte Übereinstimmungen mit regulären Flexionsmustern. Im höchstmarkierten Kasus Instrumental zeigen die Formen die größte Ähnlichkeit mit regulären Mustern. Die Formen mną/tobą/sobą zeigen den INS - typischen Ausgang, wie er bei den regulär flektierenden Pronomina und Substantiven im Singular des Femininums (traditionell gesprochen, der a-Deklination) auftritt (-ą), nami/wami zeigen den INS typischen Ausgang wie er bei den Substantiven im Plural allgemein auftritt (-ami)  



1183

C5 Kasus

(traditionell gesprochen, in den aus der a-Deklination verallgemeinerten Pluralformen); zur Diachronie vgl. Vaillant (1958: 450). Auch die DAT . PL -Formen (nam, wam) zeigen einen Ausgang, dessen Form (Vm) ganz generell für DAT . PL -Formen gilt (-om bei Substantiven, -im bei Pronomina). Die Paradigmen der 1. und 2. Person zeigen zudem einige Fälle von Formengleichheit, die übergreifenden Mustern entsprechen; sie folgen insbesondere der im Übrigen im Singular und Plural für Personalmaskulina geltenden Akkusativ-Genitiv-Regel (→ C2.7.1), nach der die Akkusativformen mit den Genitivformen formgleich sind.  

(82) POL

1SG

2SG

1PL

2PL

REFL

NOM

ja

ty

my

wy



AKK

mnie (mię)

ciebie cię

nas

was

siebie się

L OK

mnie

tobie

nas

was

sobie

DAT

mnie mi

tobie ci

nam

wam

sobie (se)

GEN

mnie (mię)

ciebie cię

nas

was

siebie się

INS

mną

tobą

nami

wami

sobą

MPERS

3PL (sonst)

ona

oni

one

n

n

n

3SG M

3SG N

3SG F

on

ono

n

jego go

n

je



3PL

ich

je

n

im

n

n

jemu mu

n

n

jego go

n

n

nim

nią

nimi

jej

ich

n

jej

im

n

jej

ich

Im Plural sind die Genitivformen ihrerseits bei Pronomina generell mit den Lokativformen identisch. Dies gilt auch für den Plural der Personalpronomina der 1. Person (nas, AKK / LOK / GEN ) und der 2. Person (was, AKK / LOK / GEN ). Den genusindifferenten Personalpronomina (1, 2, REFL ) und den genusunmarkierten Formen (NONF - Formen, d. h. M / N -Formen) des Personalpronomens der 3. Person ist gemein, dass für den Dativ sowie für Akkusativ und Genitiv, die hier regulär zusammenfallen, besondere Kurzformen (‚klitische Formen‘) zur Verfügung stehen (DAT : mi, ci, mu; AKK / GEN : cię, się, go); die Form mię wird schriftsprachlich nicht benutzt (oder gilt als archaisch), wohl aber mündlich, und ist deshalb in der Tabelle in Klammern gesetzt (Swan 2002: 153; Sadowska 2012: 266). Kurzformen stimmen im Polnischen mit den entsprechenden Langformen (oder ‚Vollformen‘) in ihren Kategorisierungen überein; Kurz- und Langformen fallen in die gleichen Paradigmenpositionen und können insofern als ‚Varianten‘ angesehen werden. Der Status der pronominalen Kurzformen des Polnischen unterscheidet sich damit wesentlich von dem der klitischen (‚konjunkten‘) Pronominalformen des Französischen, die ein eigenes (kasusdifferenzierendes) Teilsystem im Gesamtsystem der Pronominalformen bilden, das (trotz formaler Überlappungen) vom  







1184

C Nominalflexion

Teilsystem der disjunkten (kasusindifferenten) Pronominalformen klar geschieden ist. Nach Präposition stehen immer die Langformen. Der in der Tabelle sichtbare Unterschied zwischen Lokativ mnie bzw. tobie einerseits und Dativ mnie/mię bzw. cebie/cię andererseits liefert daher keine echte Unterscheidung für diese Paradigmenpositionen: Die Kurzform fehlt im Lokativ allein deswegen, weil der Lokativ immer nach Präposition steht. Dies ist beachtenswert, da der LOK - DAT -Synkretismus im Übrigen bei Substantiven, aber nicht bei Pronomina vorkommt. Die Verwendung der Kurzform se des Dativs des Reflexivums (in der Tabelle in Klammern gesetzt) ist stilistisch markiert und stark beschränkt (Swan 2002: 158). Im Übrigen stehen Langformen in satzinitialer Position wie in Jego widzieliśmy na ulicy ‚Wir sahen ihn auf der Straße‘ und bei besonderer Betonung wie in Widzieliśmy jego, a nie ją ‚Wir sahen ihn und nicht sie‘, sonst Kurzformen wie in Widzieliśmy go ‚Wir sahen ihn‘ (Olszewska 1974: 340).

Ähnlich wie im Deutschen zeigen die Formen des Personalpronomens der 3. Person die systemweit geltenden Muster der Formendifferenzierung bzw. Nichtdifferenzierung und in den Wortausgängen die charakteristischen Kasusmarkierungen, ebenfalls in der systemweit geltenden Verteilung, aber zugleich eine Reihe von Besonderheiten. Zur Verdeutlichung kann wieder das Paradigma des Demonstrativums, hier: TEN ‚dieser‘, herangezogen werden.  

(83) POL

TTEN EN

SG M

‚dieser‘

M A N I M /sonst

NOM

ten

AKK

SG N

SG F

PL M P E R S /sonst

t-o

→GEN /→NOM

LOK

t-ym

DAT

t-emu

GEN

t-ego

INS

→LOK

t-a

c-i/t-e

t-ę

→GEN /→NOM t-ych

t-ej

t-ym →LOK

t-ą

t-ymi

Die beiden auf Nasalvokal lautenden Formen des Femininum Singular können in der gesprochenen Sprache zusammenfallen: tą, AKK = INS .SG . F (Swan 2002: 171). Bei anderen Pronomina stellt dieser Zusammenfall die Regel dar, so im Falle des Indefinitpronomens JEDEN ‚einer‘, das im Übrigen grundsätzlich wie TEN flektiert wird. Die Nominativformen lauten jeden (M . SG ), jedno (N . SG ), jedna (F . SG ), jedni (MPERS . PL ), jedne (NONMPERS . PL ). Die Pluralformen treten in Verbindung mit Pluraliatantum sowie in Verwendungen auf, denen im Deutschen die Gegenüberstellung die einen – die anderen entspricht (POL jedni/jedne – inni/inne) (ebd.: 174); ebenso gehen TAMTEN ‚jener‘ und ÓW ‚jener‘.

Charakteristisch für das Polnische sind die Subgenus-Unterscheidungen, die die Formenbildung im Akkusativ Singular und im Nominativ und Akkusativ Plural betreffen (siehe im Einzelnen → C2.7).

1185

C5 Kasus

Die Subklasse der Maskulina personalia non-virilia (→ C2.7.2), die in der Literatur nicht immer als Subgenus eingestuft wird, lassen wir hier und im Folgenden unberücksichtigt.

Zu den lexemspezifischen Besonderheiten des Personalpronomens der 3. Person im Polnischen gehört neben dem Vorhandensein besonderer klitischer Formen die in (82) sichtbare Stammsuppletion zwischen Nominativ und obliquen Kasus (Kuraszkiewicz 1981: 109), wie sie sich auch in den anderen slawischen Sprachen findet. Die NOM - AKK Differenzierung ist so (wie bei den Kommunikantenpronomina) auch beim Personalpronomen der 3. Person durchgehend (unabhängig von Belebtheit oder Personalität) – sogar im Neutrum – gesichert.  



Statt der Nominativformen zum Stamm des Personalpronomens der 3. Person stehen schon im Altkirchenslawischen Formen der Demonstrativa tъ (proximal) oder onъ (distal) (Lunt 2001: 63). Verglichen werden kann die Verwendung unterschiedlicher Stämme im Nominativ und in den übrigen Kasus bei Demonstrativa im Urindoeuropäischen. Als Ursache nimmt Prokosch (1939: 267) die gewöhnliche Nichtsetzung in Subjektfunktion (‚pro-drop‘) bei Verbkongruenz an; wo das Subjekt bei Emphase zu setzen war, wäre ein Pronomen mit stärkerer deiktischer Kraft verwendet worden.  

Die Verwendung der Genitivform des Neutrum Singular (go) als Akkusativform (statt je), wie sie im Russischen vorliegt (Isačenko 1962: 483), ist auch im Polnischen verbreitet, gilt aber als nicht-standardsprachlich (Swan 2002: 157). Eine weitere auffällige Besonderheit des Personalpronomens der 3. Person ist das Vorliegen besonderer Formvarianten mit einem prothetischen n wie niego zu jego, die verwendet werden, wenn die Formen als Komplemente zu Präpositionen fungieren.  

Historisch liegt eine (schon gemeinslawische) ‚falsche Abtrennung‘ des Auslautkonsonanten vorangehender Präpositionen vor (Kuraszkiewicz 1981: 109). Synchron treten im Dativ und Genitiv Formen mit n-Prothese auf (wie niemu/niego, niej und nim/nich), wenn das Pronomen als Komplement der Präposition fungiert wie in dla niego ‚für ihn‘ oder do nich ‚an sie‘; andere anderswo. Keine n-Prothese tritt ein, wenn Genitivformen als vorangestellte Attribute (‚als Possessiva‘) in der Position nach einer Präposition stehen, aber nicht Komplement der Präposition sind wie in bez jej wiedzy ‚ohne ihr Wissen‘ (Swan 2002: 157). In (82) ist die Variantenbildung durch ein hochgestelltes n angezeigt; dabei ist nj… ggf. als ni… zu lesen. Die n-Prothese findet sich auch bei Formen des Lokativs (oder ‚Präpositivs‘), die nur nach Präposition erscheinen, so dass hier die Varianten ohne Prothese notwendigerweise fehlen. Um Formgleichheiten wie die zwischen LOK . PL und GEN . PL , die für Pronomina systemweit gelten, nicht zu verdecken, ist das prothetische n bei den Lokativformen in der Tabelle dennoch durch Hochstellung gekennzeichnet. Im Instrumental sind die n-Formen verallgemeinert und stehen ausnahmslos. In anderen slawischen Sprachen wie dem Slowenischen kommt auch eine weitere Verallgemeinerung der n-Formen als allgemeine ‚Langformen‘ vor (vgl. Herrity 2000: 89). Schriftsprachlich können Verschmelzungsformen anstelle von Verbindungen aus (vokalfinaler) Präposition und niego treten: doń = do niego, nań = na niego usw. (Swan 2002: 157; Trawiński 2005). Zu erwähnen ist der Vokaleinschub vor den Formen mnie/mną des Personalpronomens der 1. Person in der Position nach konsonantfinalen Präpositionen wie BEZ ‚ohne‘; vgl. beze mnie ‚ohne mich‘ (Swan 2002: 153).  

1186

C Nominalflexion

Für das Personalpronomen der 3. Person gilt wie für die gewöhnlichen Pronomina die Nichtdifferenzierung von Lokativ und Instrumental im Non-Femininum Singular (nim), die Nichtdifferenzierung von Lokativ, Dativ und Genitiv im Femininum Singular (njej, d. h. jej/niej) und die Nichtdifferenzierung von Lokativ und Genitiv im Plural;; vgl. die entsprechenden Nichtdifferenzierungen beim Demonstrativum, die in der Tabelle in (83) zur Verdeutlichung durch Verweispfeile besonders gekennzeichnet sind. Possessivpronomina existieren im Polnischen als Gegenstücke zu den Personalpronomina der 1. und 2. Person Singular und Plural (MÓJ , TWÓJ , NASZ , WASZ ), zum Reflexivum (SWÓJ ) und zum Interrogativum (CZYJ ), aber nicht zum Personalpronomen der 3. Person (→ C3.2). Die Flexion folgt insgesamt dem allgemeinen pronominalen Muster; vgl. das Paradigma von MÓJ ‚mein‘ in (84) mit dem Formenbestand nach Laskowski (1972: 95).  







(84) POL

MÓJ

SG M

‚mein‘

M A N I M /sonst

NOM

mój

AKK

SG N

SG F

PL M P E R S /sonst

moje (me)

→GEN /→NOM

LOK

moim (mym)

DAT

mojemu (memu)

GEN

mojego (mego)

INS

→LOK

moja (ma)

moi/moje (me)

moją (mą)

→GEN /→NOM moich (mych)

mojej (mej)

moim (mym) →LOK

moją (mą)

moimi (mymi)

Wiederum fallen im Femininum Singular die Formen zusammen, die beim Demonstrativum gewöhnlich durch verschiedene auf Nasalvokal lautende Suffixe (-ę, -ą) unterschieden werden; vgl. moją, 3SG . AKK . F und 3SG . INS . F . Die Possessiva der 1. und 2. Person Singular (MÓJ ‚mein‘; TWÓJ ‚dein‘) zeigen als zusätzliche Besonderheit einen Stammwechsel (Vokalwechsel) zwischen der endungslosen Form (mój/twój, NOM . SG . M ) und den übrigen Formen. Außerdem existieren Kurzformen, die in (84) in Klammern gesetzt sind; sie sind nach Laskowski (1972: 95) selten und tragen schriftsprachlichen Charakter. Die Ähnlichkeiten im Aufbau der pronominalen Paradigmen im Deutschen und Polnischen sind aus dem Vergleich von (83) mit (81) ersichtlich; sie betreffen insbesondere die Gliederung des NONF -Bereichs (mit der auf die direkten Kasus be 

1187

C5 Kasus

schränkten M - N - Unterscheidung) und die Unterdifferenzierung der indirekten Kasus im Femininum. Ein wesentlicher Unterschied ergibt sich aus dem das Deutsche auszeichnenden Fehlen der NOM - AKK -Differenzierung im Femininum und Plural (→ C5.3) und dem weitgehenden Zusammenfall der pronominalen F - und PL - Formen im Deutschen (→ C5.4.7).

C5.2.2.2 Adjektive Der pronominalen Flexion folgen im Deutschen auch die Adjektive (‚starke Flexion‘), doch existiert daneben für Adjektive ein zweites Flexionsmuster, die sogenannte schwache Flexion. Die starken Formen des Adjektivs KLUG zeigt (85). (85) DEU

KLUG

SG M

NOM

klug-er

AKK

klug-en

DAT GEN

SG N

SG F

PL

klug-es

klug-e

klug-e

klug-em (klug-es)

klug-en klug-er

klug-er

Im Genitiv Singular Non-Femininum folgen Adjektive im Gegenwartsdeutschen immer der schwachen Flexion. Die nach dem pronominalen Muster gebildete Genitivform (auf -es) wird nicht mehr verwendet; sie ist in (85) in Klammern gesetzt. Wo sich durch Suffigierung Formen mit Ausgang auf zwei Schwa-Silben ergeben würden (vgl. finster + en > finsteren), kann (in beschränktem Umfang) eines der Schwa-Vorkommen ausfallen; als regelmäßig gilt der Ausfall des Stamm-Schwas bei Adjektiven mit Stammausgang auf el wie DUNKEL (vgl. ein dunkles Zimmer) und bei Adjektiven mit Stammausgang er nach Diphthong wie TEUER (vgl. ein teures Geschenk), auch bei fremden Adjektiven mit Stammausgang auf er wie INTEGER (vgl. ein integrer Mann); ansonsten wird Schwa-Ausfall meist als umgangssprachlich angesehen (auch bei Pronomina wie in unsrer Mutter); vgl. Duden-Grammatik (2009: 178: 365 f.), Helbig/Buscha (2001: 276).  

Die schwache Flexion (→ C6.6.1) zeichnet sich durch eine nur minimal ausgebaute Formendifferenzierung aus; die Verwendung starker und schwacher Adjektivformen wird durch das ‚Prinzip der Adjektivflexion‘ (→ C6.6.2) gesteuert. In den indoeuropäischen Sprachen folgen Adjektive gewöhnlich substantivischen Flexionsmustern. Die Übernahme pronominaler Flexive in die Flexion der Adjektive und die Herausbildung einer Unterscheidung zweier Flexionsmuster für Adjektive (stark, schwach) stellen Charakteristika der germanischen Sprachen dar (Paul 1916: 55). Die pronominale Flexion der Adjektive bewahrt im Deutschen für diese Wortklasse die Möglichkeit der Kasusdifferenzierung, die bei den Substantiven weitgehend

1188

C Nominalflexion

abgebaut ist. Adjektive können daher im Deutschen den Kasus von NPs anzeigen, wo dies mit anderen Mitteln nicht möglich ist. Auch im Polnischen folgen die Adjektive der pronominalen Flexion, wie das Paradigma für MĄDRY ‚klug‘ zeigt; vgl. (86). (86) POL

M MĄDRY ĄDRY

SG M

‚klug‘

M A N I M /sonst

NOM

mądr-y

AKK

SG N

SG F

PL M P E R S /sonst

mądr-e

→GEN /→NOM

LOK

mądr-ym

DAT

mądr-emu

GEN

mądr-ego

INS

→LOK

mądr-a

mądrz-y/mądr-e

mądr-ą

→GEN /→NOM mądr-ych

mądr-ej

mądr-ym →LOK

mądr-ą

mądr-ymi

Die orthographischen Schreibungen der Suffixe 〈y〉, 〈ym〉, 〈ymi〉, 〈ych〉 sind Varianten, die bei hartstämmigen Adjektiven erscheinen; vgl. dagegen Formen mit 〈i〉 wie głupi, głupim, głupimi, głupich beim weichstämmigen Adjektiv GŁUPI ‚dumm‘. Die Suffixe (als morphologische Einheiten) notieren wir, wo sie nicht als Teile orthographischer Wortformen zitiert werden, einheitlich als: -i, -im, -imi, -ich. Zu beachten ist, dass die Schreibung 〈i〉 in Formen wie 〈głupi〉 (NOM . SG . M ) zugleich das Suffix -i und die Palatalisierung des stammfinalen Konsonanten anzeigt; vgl. dazu das Adjektiv SKĄPY ‚geizig‘ mit der NOM . SG . M -Form 〈skąpy〉, wo 〈y〉 das Suffix -i bei einem harten Stamm repräsentiert. Zur orthographischen Regelung siehe → C2.3, Bemerkungen zu (4). MPERS PE RS -Form wie hier bei mądr- → Zum Wechsel des stammfinalen Konsonanten in der NOM . PL . M mądrz- (/r/→/ʒ/-Wechsel) siehe → C5.4.8 sowie die Aufstellung der für die polnische Nominalflexion typischen Konsonantenwechsel in → C5.4.3 (97).

Die Flexion entspricht grundsätzlich der der Possessiva; während die Possessiva (und ebenso das Demonstrativum) im Nominativ Singular Maskulinum eine endungslose Form – gegebenenfalls mit einer besonderen Stammvariante (mój, ten) – aufweisen, zeigen Adjektive aber ein Suffix -i. Dieses Muster gilt auch für einige Pronomina wie JAKI ‚was für ein‘. Die Bildung der Kasus-Numerus-Genus-Formen der Adjektive im Komparativ und Superlativ folgt im Deutschen und Polnischen dem gewöhnlichen Muster. (Zur Bildung von Komparativ und Superlativ siehe → B1.3.3.)

Unflektierte Formen (‚Kurzformen‘) der Adjektive treten im Deutschen bei prädikativer Verwendung und postnominal auf (ist rot; Röslein rot). Im Polnischen existieren nur bei wenigen Adjektiven Kurzformen (suffixlose Formen), die zudem zunehmend außer Gebrauch zu geraten scheinen; die Verwendung der betreffenden endungslosen Formen ist auf den Nominativ Singular Maskulinum beschränkt (wo auch bei einem Teil der Pronomina und regelmäßig bei Substantiven endungslose Formen erscheinen

1189

C5 Kasus

(→ C5.4.3). Sie stehen, wenn überhaupt, gewöhnlich wiederum prädikativ und postnominal (Swan 2002: 137). Zu den Adjektiven mit Kurzformen gehört u. a. CIEKAW ‚neugierig‘, NOM . SG . M ciekaw (Kurzform) und ciekawy (Langform). Geläufig ist die Kurzform bei PEWIEN ‚sicher‘, auch pränominal ‚ein gewisser‘, kaum: pewny. Bei einigen wenigen nur prädikativ gebrauchten Adjektiven wie RAD ‚froh‘ und WART ‚wert‘ fehlt die maskuline Langform; siehe im Einzelnen Swan (ebd.), Laskowski (1972: 80).  

Pronominale Flexion bei Adjektiven in den slawischen Sprachen geht auf Verschmelzung früherer Verbindungen aus Adjektiv und Pronomen zurück. Die Vorgeschichte der pronominalen Flexion der Adjektive im Germanischen und Slawischen ist nicht die gleiche; vgl. Orr (1982). Anders als im Deutschen ist im Polnischen die Unterscheidung zweier Adjektivflexionen (ausgenommen die erwähnten Kurzformen) nicht erhalten.

Nominalisierte Adjektive (→ D2) folgen im Deutschen dem allgemeinen Muster der adjektivischen Flexion, eingeschlossen den Wechsel zwischen starker und schwacher Flexion (Paul 1919: 106); vgl. der Deutsche/ein Deutscher; das Junge/ein Junges; der Gelehrte/ein Gelehrter. Ebenso flektiert BEAMTE ( R ) (der Beamte, ein Beamter; die Beamte, eine Beamte). Das Substantiv JUNGE , M ‚Knabe‘ wird schwach flektiert (vgl. der Junge/ein Junge), aber auch s-Plural ist möglich (die Jungs); JÜNGER , M ‚Anhänger‘ wird stark flektiert. Schwache Flexion zeigt auch PREUSSE , M . In einigen Fällen (wie GERADE ) besteht Schwankung zwischen adjektivischer und substantivischer Flexion (Duden-Grammatik 2009: 352).

Auch im Polnischen folgen nominalisierte Adjektive wie CHORY / CHORA , M / F ‚Kranke(r)‘ zu CHORY ‚krank‘ der adjektivischen Flexion (Swan 2002: 81). Adjektivisch flektiert werden auch BAGAŻOWY ‚Gepäckträger‘, PIESZY ‚Fußgänger‘ und andere, die in Swan (2002: ebd.) als Substantive ausgewiesen werden („personal nouns“). Bei einer Reihe von maskulinen Nominalisierungen mit substantivischem Charakter („adjectival nouns“, Swan 2002: 74; Brooks 1975: 269), etwa Berufsbezeichnungen wie LEŚNICZY ‚Förster‘ oder BUDOWNICZY ‚Erbauer‘, wird im Plural das honorifikative Pluralsuffix der Substantive (-owie, → C2.7.3) verwendet (leśniczowie, NOM . PL ); die übrigen Formen folgen dem adjektivischen Muster. Zu Feminina und Neutra siehe auch Swan (2002: 56, 121), zu Partizipien als „adjectival nouns“ Swan (ebd.: 300). Zur adjektivischen Flexion von Personennamen siehe → C5.7.2.

C5.2.2.3 Substantive Während die Kasusflexion bei Pronomina und Adjektiven im Deutschen und Polnischen mutatis mutandis ein im Ganzen vergleichbares Bild zeigt, unterscheidet sich der Bau der Substantivflexion und insbesondere die Kasusflexion der Substantive in beiden Sprachen radikal. Im Deutschen umfasst die Kasusflexion der Substantive nur zwei produktive Suffixe (für den Genitiv Singular bei Maskulina und Neutra und genusübergreifend für den Dativ Plural). Wir zeigen die Verwendung der Suffixe zur

1190

C Nominalflexion

Verdeutlichung anhand eines Substantivparadigmas ohne overte Pluralmarkierung; vgl. (87). (87) DEU

KELLNER

SG

PL

NOM

Kellner

Kellner

AKK

Kellner

Kellner

DAT

Kellner

Kellner-n

GEN

Kellner-s

Kellner

Beide Suffixe (-(e)s/GEN . SG . NONF und -(e)n/DAT . PL ) erscheinen mit identischer Funktion auch in der pronominalen Flexion; das Inventar der produktiven Kasussuffixe der Substantivflexion im Deutschen stellt somit eine kleine Teilmenge des Inventars der ‚pronominalen‘ (oder ‚starken‘) Flexive dar. Spezielle Substantivflexive existieren, mit Ausnahme des weitgehend obsoleten DAT . SG -Suffixes -e wie in dem ManneD A T . S G . M , nicht. Die zahlreichen verschiedenen Typen von Substantivparadigmen im Deutschen ergeben sich aus dem Zusammenspiel der Kasussuffixe und der Pluralsuffixe; vgl. → C5.5. Wir halten fest, dass die Kasusflexion der Substantive im Deutschen auf die indirekten Kasus beschränkt ist. Zudem wird bei den Substantiven in beiden Numeri aus dem jeweiligen Teilinventar der Flexive der pronominalen Flexion nur das bezüglich Kasus EN . SG -Markierung und → C5.4.7 höchstmarkierte Flexiv verwendet; vgl. → C5.4.3 zur GGEN zur DAT . PL -Markierung. (Zur schwachen Flexion der Substantive siehe → C6.6.1.) Anders als im Deutschen weisen die Substantive im Polnischen eine stark entfaltete Kasusflexion auf; vgl. (88).  



(88) POL

KELNER

SG

PL

NOM

kelner

kelnerz-y

VOK

kelnerz-e

kelnerz-y

AKK

kelner-a

kelner-ów

LOK

kelnerz-e

kelner-ach

DAT

kelner-owi

kelner-om

GEN

kelner-a

kelner-ów

INS

kelner-em

kelner-ami

‚Kellner‘

Der Grad der formalen Differenzierung von Kasusformen ist bei den Substantiven sogar höher als in der pronominalen/adjektivischen Flexion. Nach den Ausdrucksformen stimmen die Flexive der Substantivflexion mit denen der pronominalen/

1191

C5 Kasus

adjektivischen Flexion nur partiell überein. In einigen Fällen (etwa im Dativ Singular) treten in der pronominalen und in der substantivischen Flexion Suffixe ohne formale Ähnlichkeit auf; vgl. (88) mit (83) und (86), oben. Im Einzelnen siehe die Synopse der Kasusflexion im Polnischen und Deutschen in → C5.4.10. Dieser massive Unterschied im Ausbau der Kasusflexion korreliert mit dem unterschiedlichen Bau der Nominalphrasen im Polnischen und Deutschen. Während im Polnischen Substantive regelmäßig alleinstehend verwendet werden, gilt dies für das Deutsche nur beschränkt. Gewöhnlich werden Substantive der prototypischen Substantivklasse (Individuativa) im Deutschen von pronominal flektierten Dependentien, insbesondere vom definiten oder indefiniten Artikel oder einem Pronomen, andernfalls auch von Adjektiven begleitet (→ D1.2.1.2). Aus funktionaler Sicht sind daher speziell bei der Analyse der Kasusmarkierungen an NPs die Substantivformen des Polnischen mit Verbindungen aus Substantivformen mit pronominal flektierten Dependentien im Deutschen zu vergleichen; siehe dazu im Einzelnen → C5.4.

C5.2.3 Ungarisch Im Ungarischen weisen die Personalpronomina ebenso wie in den anderen Vergleichssprachen teils idiosynkratische, teils halbtransparente, aber lexikalisch fixierte Formen, teils regulär gebildete Formen auf. Der Bau der Kasusformen der Personalpronomina unterscheidet sich auch in dieser Sprache mit vorwiegend agglutinierender Formenbildung von der regulären Kasusflexion, wie sie für Substantive und sonstige nominale Lexeme gilt. Die Flexion der Personalpronomina zerfällt in zwei deutlich geschiedene Subsysteme, das der direkten Kasus (Nominativ, Akkusativ) und das der übrigen Kasus. Der Aufbau des NOM - AKK -Subsystems weist strukturelle Parallelen zu den oben betrachteten Flexionssystemen für Personalpronomina der übrigen Vergleichssprachen auf, die im Subsystem der sonstigen Kasus fehlen; vgl. (89). (89) UNG

1SG

2SG

1PL

2PL

3SG

3PL

NOM

én

te

mi

ti

ő

ők

AKK

engem(-et)

téged(-et)

minket

titeket

őt

őket

Noch mehr als im Deutschen und Polnischen unterscheiden sich die Formen des Personalpronomens der 3. Person drastisch hinsichtlich ihrer morphologischen Analysierbarkeit von denen der Kommunikantenpronomina. Die Bildung der Formen der 3. Person ist völlig regelmäßig und erfolgt auf der Basis der unmarkierten Form ő, die für sich als NOM . SG -Form erscheint, durch Suffigierung des Pluralsuffixes -(V)k bzw. des Akkusativsuffixes -(V)t, die in der AKK . PL - Form kombiniert werden (ő-k-et,  



1192

C Nominalflexion

3PL . AKK ). (Eine Genusunterscheidung findet im Ungarischen nicht statt.) Die Nominativformen der Kommunikantenpronomina zeigen dagegen Stammwechsel und unregelmäßige Pluralbildung; zu den Pluralformen (mi, ti) kann aber die Verwendung von -i als (Variante des) speziellen Possessum-Plural-- Suffixes verglichen werden (→ C4.3.6). Die Akkusativformen der Kommunikantenpronomina zeigen einen komplexen, nicht vollständig analysierbaren (nicht-kompositionellen) Formenbau. Die Akkusativformen des Plurals, minket und titeket, bestehen aus der Grundform des Personalpronomens, wie sie im Nominativ erscheint, mi bzw. ti, gefolgt vom entsprechenden Person-Numerus-Flexiv (→ C3.3.5), also -(V)nk1P L bzw. -(V)tOk2P L , und schließlich dem AKK -Suffix -(V)t.  

Alternativ werden im Plural als Akkusativformen die 1PL - bzw. 2PL -Formen des Inessivs, versehen mit dem AKK -Suffix -(V)t, verwendet: bennünket (1PL . AKK ), benneteket (2PL . AKK ).

Die Akkusativformen des Singulars, engem(et) und téged(-et), zeigen den gleichen Aufbau, allerdings wechselt am ersten Bestandteil gegenüber der im Nominativ erscheinenden Grundform die Vokallänge; zwischen den ersten und den zweiten Bestandteil tritt der Konsonant g (der in den AKK . PL - Formen ausgefallen sein könnte) (vgl. Szent-Iványi 1995: 60). Der auf g folgende Bestandteil entspricht wieder dem Person-Numerus-Flexiv, also -(V)m1S G bzw. -(V)d1P L . Die Setzung des AKK -Suffix -(V)t ist hier optional und unterbleibt gewöhnlich (Rounds 2001: 122). Die Formen der indirekten Kasus der Personalpronomina des Ungarischen stellen erstarrte und zu Wortformen verschmolzene Konstruktionen dar, deren Struktur durch das Muster von Postpositionalphrasen mit personalpronominalen Komplementen geprägt ist, aus denen sie hervorgegangen sind. Die Kasusmarkierung erfolgt mithilfe besonderer Formen der Kasusflexive, die allgemein bei der Kasusformenbildung der Substantive und anderer nominaler Lexeme verwendet werden. Die Inessivform (én)bennem ‚in mir‘ des Personalpronomens der 1. Person Singular ÉN ‚ich‘ kann als Beispiel dienen. Die bei Substantiven verwendete Form des Inessivflexivs lautet -bAn (mit den vokalharmonischen Varianten -ben und -ban), wie in házban ‚im Haus‘, Inessiv zu HÁZ ‚Haus‘. Die bei Personalpronomina verwendete Form des Kasusflexivs ist invariabel und lautet benn. Wie an eine Postposition tritt an das Kasusflexiv ein Personalsuffix (hier: -(V)m, 1SG ), während die Grundform des Personalpronomens dem Kasusflexiv (wie das Komplement einer Postposition) vorangestellt werden kann. Wie im Falle der Komplemente von Postpositionen unterbleibt die Setzung der Grundform des Pronomens regelmäßig, sofern nicht Kontrast oder Emphase gegeben ist. Auf diese Weise ergeben sich die emphatische Variante énbennem und die gewöhnliche Variante bennem des Personalpronomens der 1. Person Singular im Inessiv. Zur Struktur dieser Formen siehe im Einzelnen → C3.3.4; zum Bestand der Lokalkasus → B2.4.3.3.3. Zu jedem Personalpronomen können eine Dativform, eine Instrumentalform, eine Kausalform sowie sechs Lokalkasusformen gebildet werden. Den Bestand der (non 



1193

C5 Kasus

emphatischen) Kasusformen der Personalpronomina (für die indirekten Kasus) zeigt Abbildung 6 im Vergleich zu den entsprechenden Kasusformen des Substantivs SZÉK ‚Stuhl‘.

Abb. 6: Kasusformen des Ungarischen (Auswahl). Substantive und Personalpronomina  

In linken Teil der Abbildung sind die Formen der Kasusflexive, die zur Bildung der Kasusformen der Substantive dienen, und die Formen der Kasusflexive, die zur Bildung der Kasusformen der Personalpronomina dienen, nebeneinandergestellt, mit den Namen der Kasus in den Zeilenköpfen. Die zweite Spalte enthält die betreffenden Kasusformen zum Substantiv SZÉK ‚Stuhl‘ ohne weitere Suffixe (d. h. die non-possessiven Singularformen). In der mit ‚sub.‘ überschriebenen Spalte stehen die entsprechenden Kasussuffixe der Substantive in der verallgemeinerten Notation, die von der lokalharmonischen Formenvariation (wo sie vorliegt) abstrahiert. (Beim INS - Suffix -vAl wird der initiale Konsonant an den stammfinalen Konsonanten assimiliert wie in székkel.) In der mit ‚pro.‘ überschriebenen Spalte stehen die bei der Bildung der Kasusformen der Personalpronomina auftretenden Flexivformen. Im Weiteren sind im rechten Teil der Abbildung in den Spaltenköpfen die Personalsuffixe aufgeführt; zu den Flexivvarianten und ihren Anwendungsbedingungen siehe → C3.3.5. Das Hauptfeld der Abbildung zeigt die Kasusformen der Personalpronomina (in non-emphatischer Variante, d. h. ohne Voranstellung der Grundform). Die Kombinatorik von Kasusflexiv und Personalsuffix ist im Allgemeinen transparent, doch gibt es kleinere Unregelmäßigkeiten und Variationen; nicht alle Formen sind regulär ableitbar (vgl. z. B. neki, Dativ des Personalpronomens der 3. Person Singular). Zu den Formen hozzá, bele und rá existieren lange Varianten (hozzája, beléje, rája), die in der Tabelle nicht aufgeführt sind.  







1194

C Nominalflexion

Im Falle des Superessivs stimmt das Kennzeichen an den Substantiven (-(O)n) nicht mit dem der Personalpronomina überein, die mit der Basis rajt gebildet werden. Im Übrigen ähneln sich Kasuskennzeichen von Substantiven und Personalpronomina oder fallen ganz oder teilweise (in einer Variante) zusammen. Auch bei den Substantiven werden als Nominativformen die Grundformen (ohne Kasusflexiv) verwendet, während die Akkusativformen mit dem Suffix -(V)t gebildet werden, wie in szék-et, Akkusativ zu SZÉK . Weitere Kasusformen werden gebildet, wie Abbildung 6 zeigt; zu den Lokalkasusformen der Substantive siehe auch → B2.4.3.3.3. Über den Bestand der in Abbildung 6 genannten Kasus hinaus besitzen Substantive einen weiteren Lokalkasus, den Terminativ auf -ig ‚bis‘ (vgl. székig ‚bis zum Stuhl‘) sowie besondere Prädikativkasusformen (→ B2.4.3.4.7). Alle Formen der obliquen Kasus der Substantive werden durch Suffigierung der Kasusflexive an Stämme gebildet, die mit Nominativformen gleichlauten. Nominativformen können aus der bloßen Grundform des Stamms bestehen oder zusätzlich das allgemeine Pluralflexiv (→ C4.2.2) einschließen; ferner kann es sich um Formen mit einem Personalsuffix (Possessivformen) handeln (→ C3.3.5), dem jeweils das Possessum-Plural-Suffix (→ C4.3.6) vorangehen kann. Zu dieser schon beträchtlichen Zahl von Nominativformen kommen die Formen, die mit dem Possessumsuffix (→ C3.4.2) gebildet werden können, und solche, die das Suffix des ‚assoziativen Plurals‘ (→ C4.4) einschließen. Der damit mögliche Kombinationenreichtum der Suffigierung stellt zweifellos eines der herausragenden Charakteristika der ungarischen Nominalflexion dar. Basierend auf der Vielfalt von Nominativformen liefert die Kasusformenbildung (bei einem Kasussystem mit wenigstens 18 Kasus) für jeden Substantivstamm im Ungarischen eine riesige Zahl von möglichen Flexionsformen – nach Gergely/Pléh (1994: 178) über 700 Formen. Die Flexionsformenbildung trägt insofern quasi-syntaktische Züge. Während die Formen, die zu einem gegebenen Stamm gebildet werden können, im Deutschen und im Polnischen jeweils eine eng abgegrenzte Menge von Optionen realisieren, die durch die Strukturen der Wortparadigmen vorgegeben sind, ergibt sich die Formenbildung im Ungarischen aus einer weitgehend freien Kombinatorik von Ausdrucksformen mit je für sich feststehender Funktion. Die Kasussuffixe, die zur Bildung der Kasusformen der Substantive dienen, können (in Phrasen ohne substantivischen Kopf) auch an Lexeme anderer nominaler Wortklassen treten; vgl. → C6.3. Die Formenbildung entspricht im Grundsatz der der Substantive. Auf eine detaillierte Darstellung kann daher hier verzichtet werden; vgl. nur beispielsweise die Inessivformen ebben zum Demonstrativums EZ ‚dieser‘ und magasban zum Adjektiv MAGAS ‚hoch‘, mit dem Inessivsuffix -bAn (jeweils in vokalharmonisch angepasster Variante, -ben/-ban) sowie Assimilation des stammfinalen Konsonanten im Falle des Demonstrativums. Eine umfassende Übersicht bietet Forgács (2004: 142–226). Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die ungarische Nominalflexion in ausgeprägter Form die Charakteristika eines agglutinierenden Systems zeigt, das  

C5 Kasus

1195

durch einen weitgehend eineindeutigen Zusammenhang zwischen Ausdrucksformen und den durch sie signalisierten Kategorien gekennzeichnet ist. Kasusflexive mit bestimmter Ausdrucksform zeigen je bestimmte Kasus an, und umgekehrt steht für die Markierung eines bestimmten Kasus in der Regel genau ein Flexiv zur Verfügung. Eine Ausnahme bildet, wie angeführt, nur der Superessiv, der bei Personalpronomina eine besondere, in der Nominalflexion sonst nicht verwendete Realisierungsform aufweist. Im Übrigen existieren in der ungarischen Nominalflexion keine konkurrierenden Flexive (wie etwa im Falle der verschiedenen Pluralflexive im Deutschen), wenn auch die einzelnen Flexive häufig einen erheblichen Variantenreichtum aufweisen; vgl. → C3.3.5. Mit der hohen Zeichenhaftigkeit der Flexive, denen kontextunabhängig feststehende Inhalte zukommen, geht einher, dass Flexive mit bestimmter Funktion innerhalb einer NP einerseits nur einmal gesetzt werden (‚Monoflexion‘) und andererseits ‚transkategorial‘ (in einheitlicher Weise bei Trägern unterschiedlicher Wortklassen) verwendet werden; → C6.3. Das Flexionssystem des Ungarischen hebt sich damit deutlich von den Systemen der übrigen Vergleichssprachen ab, insbesondere von dem des Polnischen, dessen Nominalflexion durch das Vorherrschen fusionierender (oder ‚flektierender‘) Charakteristika ausgezeichnet ist (→ C5.4.3). Kumulative Flexion findet sich in Systemen, die agglutinierende und fusionierende Teilsysteme einschließen, universell am ehesten im Falle der Kategorien Person und Numerus (Plank 1999: 292), wie sich am Ungarischen bestätigt. Personalpronomina (Kommunikantenpronomina) und Personalsuffixe zeigen zugleich Numerus und Person an. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Personalsuffixe des Plurals im Ungarischen trotz Verschmelzung das allgemeine Pluralsuffix noch mehr oder minder deutlich erkennen lassen; → C4.3.5.

C5.3 Kasussynkretismus C5.3.1 Einleitung Wie der gegebene Überblick über die Kasussysteme der Vergleichssprachen zeigt, werden verschiedene Kasusformen innerhalb eines Paradigmas im Englischen, Französischen, Deutschen und Polnischen häufig nicht formal differenziert. Die Zahl der kategorial differenzierbaren Flexionsformen ergibt sich aus dem Kategorienbestand und der Reichweite der Kategorisierungen. Das Deutsche besitzt vier Kasus, zwei Numeri und drei Genera. Damit können systemweit für nominale Lexeme bis zu 24 „Kategorienbündel“ unterschieden werden; die Bündel stellen kategoriale Spezifikationen dar, die Vorkommen nominaler Wortformen als syntaktischen Einheiten zugeordnet werden können. Die Zahl der in einem gegebenen Paradigma ausdrucksseitig unterschiedenen Flexionsformen ist bei allen nominalen Lexemen im Deutschen klein im Vergleich zur Zahl der Kategorienbündel. Diese (in unterschiedlicher Ausprägung) für Sprachen mit fusionierender Formenbildung typische Eigenschaft hebt das Deutsche (und in verschiedenem Grade die übrigen angeführten Kontrast 

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C Nominalflexion

sprachen) vom agglutinierenden Ungarischen ab. Beschränkt man sich auf die Numerus- und Kasusflexion mit zwei Numeri und 18 Kasus, so ergeben sich für ein beliebiges Substantiv des Ungarischen 36 Kategorienbündel, denen 36 Flexionsformen gegenüberstehen. Im Falle des Deutschen ist die starke Reduktion der Ausdrucksformen gegenüber der Zahl der Kategorienbündel ein prägendes Charakteristikum der Nominalflexion. Formidentitäten können sich durch phonologische Abbauprozesse sozusagen ‚zufällig‘ ergeben; in anderen Fällen kann die Formidentität systematisch verankert sein und muss bei der Beschreibung der Struktur der Nominalflexion berücksichtigt werden. Ein offenkundiges Beispiel für eine systematische Unterdifferenzierung bei den nominalen Flexionsformen des Deutschen stellt das Fehlen von Genusdifferenzierung bei Pluralformen dar, die die Zahl der Paradigmenpositionen bei Lexemen, die der pronominalen Flexion folgen, auf 16 reduziert. Auch der Zusammenfall von Maskulinum und Neutrum in den indirekten Kasus stellt einen Fall von systematischer Nichtdifferenzierung dar (→ C2.6). Die Unterscheidung zwischen zufälligen Formidentitäten (‚Homonymien‘) und systematischen Formidentitäten (‚Synkretismen‘ im engeren Sinn) ist nicht immer eindeutig (und ‚theorieunabhängig‘) zu treffen. Wir sprechen in diesem Abschnitt bei Zusammenfall von Kasusformen (bei übereinstimmender Numerusspezifikation) immer von Synkretismus (im weiteren Sinn genommen); der Status der Formübereinstimmung ist im Einzelfall zu klären. Hinweise dazu liefert der Sprachvergleich. Auf der Basis einer weltweit gestreuten Sprachenauswahl kommen Baerman/ Brown/Corbett (2005: 38–57) zu einer Unterscheidung von drei Typen von Kasussynkretismen, die mit der auch für die Kasussysteme der Vergleichssprachen fundamentalen Unterscheidung von direkten Kasus und indirekten Kasus korrespondiert. Typ 1 liegt vor bei Synkretismus von direkten Kasus („core grammatical cases“); hierunter fällt die Erscheinung der differentiellen Objektmarkierung (→ B2.4.2.3.3). Typ 2 liegt vor bei Synkretismus von Formen eines direkten Kasus, typischerweise des Akkusativs (in Akkusativ-Systemen), und eines indirekten Kasus; hierunter fällt der durch die Akkusativ-Genitiv-Regel (→ C2.7.1) beschriebene Formenzusammenfall im Polnischen (und anderen slawischen Sprachen). Typ 3 liegt vor, wenn Formen verschiedener indirekter Kasus („peripheral cases“) zusammenfallen; Beispiele bietet die Flexion der Adjektive des Polnischen mit dem Zusammenfall von Lokativ und Instrumental (im Non-Femininum Singular), von Lokativ, Dativ und Genitiv (im Femininum Singular) und von Lokativ und Genitiv (im Plural); vgl. das Paradigma (86) in → C5.2.2.2. Der dritte Typ erweist sich nach Baerman/Brown/Corbett (2005: 40) im Sprachvergleich als Charakteristikum indoeuropäischer Sprachen (und am wenigsten systematischer Begründung zugänglich). Wir erörtern die drei Typen von Synkretismen in der gegebenen Reihenfolge.  



C5 Kasus

1197

C5.3.2 (Nicht-)Differenzierung bei direkten Kasus C5.3.2.1 Allgemeines Die Kasussysteme der Vergleichssprachen gehören zum akkusativischen Typ (→ B2.4.2.3.2). Die Unterscheidung von Nominativ und Akkusativ ermöglicht die Kennzeichnung der Kernkomplemente der Verben mit flexivischen Mitteln; im akkusativischen System steht ein PATIENS - spezifischer Kasus (Akkusativ) als Kennzeichen des direkten Objekts dem rollenunspezifischen Kasus Nominativ, dem Kasus des Subjekts, gegenüber. Es kann angenommen werden, dass der Bedarf für eine besondere formale Auszeichnung des direkten Objekts variiert. Er ist umso höher, umso eher ein direktes Objekt nach seinen semantischen Eigenschaften, darunter die lexikalische Bedeutung des Substantivs, für die Funktion des Subjekts in Frage käme, umso geringer, umso weniger das direkte Objekt ein potentielles Subjekt darstellt (Bossong 1998b: 202). Typischerweise kann im letzteren Fall eine formale Kennzeichnung des direkten Objekts unterbleiben. Wenn überhaupt eine formale Differenzierung vorgenommen wird, dann eher im ersteren Fall. Formale Subjekt-Objekt-Differenzierung, insbesondere mit Mitteln der Kasusmarkierung, erfolgt dann nicht durchgängig, sondern nur in einem Teil der Fälle; in entsprechenden Kasussystemen liegt differentielle (partielle) Objektmarkierung vor (siehe → B2.4.2.3.3 zum Zusammenhang von Kasusdifferenzierung und Allgemeiner Nominalhierarchie). Verschiedene Fälle der Nichtauszeichnung von Objekten mittels Kasusmarkierungen in einer Sprache, die die Kasus Nominativ und Akkusativ besitzt, können unterschieden werden. Zum einen kann die Reichweite der Kasusunterscheidung als solcher durch verschiedene Faktoren begrenzt sein. So ist im Englischen die Nominativ-Akkusativ-- Unterscheidung auf Pronomina begrenzt. Zum anderen kann bei systematisch gegebener Möglichkeit der Nominativ-Akkusativ-- Unterscheidung die Verwendung des Akkusativs zur Objektmarkierung semantisch eingeschränkt sein. So ist im Türkischen die Auszeichnung von direkten Objekten mittels des Akkusativs an die Bedingung gebunden, dass bei entsprechenden NPs eine spezifische Lesart vorliegt (von Heusinger/Kornfilt 2005). Schließlich kann bei gegebener Nominativ-Akkusativ-Unterscheidung die flexivische Differenzierung von Nominativ- und Akkusativformen fehlen. Im Deutschen ist in Hinblick auf die syntaktischen Regularitäten anzunehmen, dass direkte Objekte im Akkusativ stehen. Eine ausdrucksseitige Unterscheidung liegt aber nur im Maskulinum Singular (wie in [der alte Mann]N O M . S G . M vs. [den alten Mann]A K K . S G . M ) und bei Kommunikantenpronomina (wie in ichN O M . S G vs. michA K K . S G und wirN O M . P L vs. unsA K K / D A T . P L ) vor. Im Übrigen wird keine formale Nominativ-Akkusativ-- Differenzierung vorgenommen (vgl. [die alte Frau]N O M / A K K . S G . F , [das kleine Kind]N O M / A K K . S G . N oder [die alten Männer]N O M / A K K . P L ).

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C Nominalflexion

C5.3.2.2 Stark entwickelte Nominativ-Akkusativ-- Differenzierung (Ungarisch) Im Ungarischen können zu flektierbaren nominalen Lexemen nahezu einschränkungslos Akkusativformen mit dem Suffix -(V)t gebildet werden (Tompa 1968: 192). Dieses Suffix ist zugleich das einzige Akkusativflexiv. Es existieren mit -(V)t suffigierte Akkusativformen bei Kommunikantenpronomina, bei anderen Pronomina, bei Eigennamen und bei Substantiven; vgl. die Akkusativ-Singular-Formen engem-et zu ÉN ‚ ich‘, ő-t zu Ő ‚er/sie/es‘, Péter-t zu PÉTER (Eigenname), autó-t zu AUTÓ AUT Ó ‚Auto‘. Im Ungarischen können die Nominalstämme durch verschiedene Suffixe, insbesondere Numerus- oder Personalsuffixe, erweitert sein wie in autó-kP L mit dem Pluralsuffix -(V)k oder autóm ‚mein Auto‘ mit dem 1SG - Personalsuffix -(V)m. Auch zu diesen Stammformen (‚relative Stämme‘) existieren immer suffigierte Akkusativformen wie autók-atA K K und autóm-atA K K . Als Ausnahme notieren die Grammatiken nur das Verbalsubstantiv auf -ni (den ‚Infinitiv‘), das generell nicht der Kasusflexion unterliegt (Tompa 1968: 57). Im Allgemeinen dürften Verbalnomina die geringste Wahrscheinlichkeit für Kasusflexion aufweisen (Moravcsik 2009: 236). Tompa (1968: 57, vgl.: 258) betrachtet das Verbalsubstantiv (den Infinitiv) sétálni in Szeretnék veled sétálni ‚Ich möchte mit dir spazieren [gehen]‘ als „Akkusativobjekt“ (ebd.) und nimmt in solchen Fällen ein „unbezeichnetes Objekt“ an (Tompa 1972: 164; ebenso Szent-Iványi 1995: 117). Vgl. die Kasusflexion des Infinitivs im Türkischen (Verbalnomen auf -mek). Der Infinitiv als Objekt steht im Akkusativ wie in ekmek almağı unuttu, Brot kauf.AKK vergess.3SG . PRF ‚Er hat vergessen, Brot zu kaufen‘; nur als Objekt zu ISTEMEK ‚wollen‘ und BILMEK ‚kennen/wissen/ können‘ erscheint der kasusunmarkierte Infinitiv (Lewis 2000: 168 f.).  

Der Sprachvergleich zeigt, dass reine Akkusativsysteme (mit durchgehender AGENS PAT IENS - Differenzierung mittels Kasus) selten sind (Blake 2001: 119); in manchen in PATIENS Betracht kommenden Fällen kann fraglich sein, ob Kasusmarkierung oder Markierung durch Adpositionen vorliegt (Blake, ebd., zum Koreanischen). Auch für ältere Sprachstufen des Uralischen wird eine Teilung bezüglich Definitheit angenommen (Collinder 1960: 239, „The accusative seems to have been the case of the definite direct object (in the singular).“); vgl. auch Hajdú (1972). Obwohl die Herkunft des ungarischen Akkusativflexivs als unklar gilt (Collinder 1960: 285), wird meist eine Entstehung aus einem definitheitsmarkierenden Element angenommen, das an Objektformen getreten ist (Simonyi 1907: 28). Nach Bárczi (2001) ist dieses Element mit der zunehmenden Herausbildung der Unterscheidung von subjektiver und objektiver Konjugation schon im Urungarischen in seiner definitheitsmarkierenden Funktion redundant geworden und dann als Akkusativkennzeichen auf Indefinita ausgedehnt worden. Eine „ständige langsame Verbreitung des Akkusativsuffixes“ (ebd.: 182) lasse sich feststellen. Vgl. auch Marcantonio (1985: 280; „[…] in the very old stages of Hungarian, while the Agent and the indefinite DO remained unmarked, the definite DO received a special marker.“) und Károly (1972: 99). (Marcantonio zieht ausdrücklich eine Parallele zum Türkischen.) Im weiteren Verlauf ist der definite Artikel als eigentliches Definitheitskennzeichen der ungarischen Gegenwartssprache herausgebildet worden.

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C5 Kasus

Tatsächlich gibt es auch im Ungarischen eine, wenngleich relikthafte Asymmetrie in der Akkusativmarkierung zwischen Kommunikantenpronomina und anderen Nominalen. Zum einen existieren bei den Kommunikantenpronomina formal komplexe, aber synchron undurchsichtige Akkusativformen, die ihrerseits mit dem Akkusativsuffix -(V)t erweitert worden sind, wie die schon angeführte Form engemet (engem + -(V)t) und ebenso tégedet, AKK zu TE ‚du‘;; ferner minket, AKK zu MI ‚wir‘ und titeket, AKK zu TI ‚ihr‘. Bei den Kommunikantenpronomina sind also die Akkusative durch irreguläre Formen, wie sie sich in der Nominalflexion des Ungarischen sonst nicht finden, besonders markant gekennzeichnet. Zum anderen können Formen, die auf die Personalsuffixe -(V)m oder -(V)d ausgehen, in der Verwendung als direktes Objekt die Akkusativform annehmen oder in der kasusunmarkierten (Nominativ-)Form erscheinen; vgl. (90) (Tompa 1968: 190, 259). (Bei anderen Person-Numerus-Kombinationen ist die Nicht-Setzung des Akkusativs nicht standardsprachlich.) (90) UNG

Elvesztettem a ceruzám(-at) Bleistift.1SG (- AKK ) verlier.PRT . 1SG DEF ‚Ich habe meinen Bleistift verloren.‘

Diese Verwendung kasusunmarkierter Formen mit den Personalsuffixen der 1./2. Person Singular stellt nach Bárczi (2001: 82) den letzten Rest der sonst beseitigten Verwendung kasusunmarkierter Formen in Objektfunktion dar. Das Fehlen des t-Suffixes in Formen mit possessivem Personalsuffix geht danach auf ein Sprachstadium zurück, in dem das Suffix einerseits nur zur Kennzeichnung definiter Objekte verwendet wurde, während andererseits Possessivsuffixe für sich bereits Definitheit anzeigen konnten (Károly 1972: 99). Die mit Possessivmarkierung typischerweise, wenn auch (im Ungarischen) nicht zwingend verbundene ‚Definitheitsinduktion‘ (→ B1.5.4.8) hätte eine zusätzliche Setzung des Suffixes entbehrlich gemacht (vgl. das Fehlen des definiten Artikels vor Possessivpronomina im Deutschen).  

Optionale Verwendung des Akkusativsuffixes -(V)t gilt auch für die angeführten irregulären Akkusativformen der Kommunikantenpronomina der 1. und 2. Person Singular engem(et) und téged(et), in denen die betreffenden Possessivsuffixe -(V)m und -(V)d noch erkennbar sind. Wegen der irregulären Bildung sind diese Formen aber auch ohne Suffix eindeutige Akkusative. Im Ergebnis sind Objektformen der Kommunikantenpronomina immer eindeutig als Akkusative gekennzeichnet, während Substantive unter den angegebenen Bedingungen in Objektfunktion ohne Kasusmarkierung bleiben können. Insofern wird auch im Ungarischen eine Korrelation zwischen Akkusativmarkierung und Allgemeiner Nominalhierarchie sichtbar.  

Das Reflexivpronomen (maga) stellt formal ein Substantiv dar, das mit Personalkennzeichen versehen ist, wie in magam, 1SG (vgl. ENG myself). Es kann ebenfalls ohne Kasusmarkierung in Objektfunktion erscheinen. Vgl. Szégyelld magad (schäm.IMP .2SG REFL .2SG , ‚schäme dich‘) (Tompa 1968: 192). Optionale Suffigierung gilt auch für MIND ‚alle/alles‘ wie in Mind(et) neki adod? ‚Gibst du ihm/ihr alle?‘ (ebd.: 259).

1200

C Nominalflexion

C5.3.2.3 Gering entwickelte Nominativ-Akkusativ-Differenzierung Im Englischen und Französischen weisen Pronomina, soweit sie überhaupt nach Kasus flektiert werden, im Allgemeinen eine Nominativ-Akkusativ-Differenzierung auf, doch fehlt die formale Differenzierung in einzelnen Fällen, etwa (erwartungsgemäß) im Englischen im Neutrum der 3. Person Singular it ‚es‘; vgl. im Einzelnen → C5.2.1. Wir schließen hier noch einige Beispiele für unterschiedlich weit reichende Nominativ-Akkusativ-Differenzierung aus anderen europäischen Sprachen an, die den Zusammenhang von Kasusdifferenzierung und Allgemeiner Nominalhierarchie weiter verdeutlichen. Auch im Rumänischen ist die Akkusativmarkierung stark beschränkt. Nur Personalpronomina besitzen besondere (von den Nominativformen formal differenzierte) Akkusativformen und nur Pronomina der 1./2. Person Singular besitzen zudem besondere betonte Akkusativformen; vgl. eu, 1SG . NOM vs. mine, 1SG . AKK (betonte Form); tu, 2SG . NOM vs. tine, 2SG . AKK (betonte Form). Im Übrigen wird im Rumänischen in entsprechender Funktion eine präpositionale Markierung verwendet (mit der Präposition pe ‚auf‘, vgl. pe masă ‚auf dem Tisch‘), wobei der Anwendungsbereich von pe wiederum der Allgemeinen Nominalhierarchie folgt. Die Beispiele in (91) (Mallinson 1986: 89, 129) zeigen die obligatorische Setzung von pe bei freien Formen von Personalpronomina (mine) und Personennamen (Maria), hier (wie gewöhnlich) in Verbindung mit einem unbetonten klitischen Pronomen (m-, 1SG ; -o, 3SG . F ) (clitic doubling).  

(91) a. Ion m-a văzut pe mine. RUM ‚Ion hat mich gesehen.‘ b. Ion a văzut-o pe Maria. ‚Ion hat Maria gesehen.‘ c. Ion a văzut filmul și Maria piesa. ‚Ion hat den Film gesehen und Maria das Theaterstück.‘ Bei NPs, die Lebewesen bezeichnen, insbesondere definiten NPs mit Personenbezug, PAT IENS - Markierung fungieren, bei Unbelebten steht pe nicht kann pe ebenfalls als PATIENS (vgl. Mallinson 1986: 193, 207 f.). Einen knappen Überblick über die Verteilungsregeln für den Bereich der belebten NPs gibt Bossong (2008: 264–266). Bemerkenswerterweise ist pe im Falle von Pronomina auch bei Inanimata gefordert (ebd.). Die formale Kategorie Pronomen, die regelmäßig mit hoher Position in der Nominalhierarchie verknüpft ist, setzt sich gegenüber der semantisch-basierten Regelung nach Belebtheit durch. Auch der Verwendungsspielraum der im Spanischen auftretenden funktional vergleichbaren präpositionalen Markierung mittels a folgt der Allgemeinen Nominalhierarchie (vgl. Hanssen 1910: 227; Bossong 1991: 157; García García 2014 zum Faktor ‚Agentivität‘). Wenn eine Erweiterung der Reichweite der Nominativ-Akkusativ-Differenzierung über die Personalpronomina hinaus vorliegt, gehören nach der Nominalhierarchie  

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C5 Kasus

Eigennamen und Verwandtschaftsbezeichnungen zu den ersten Kandidaten für Akkusativmarkierung. Eine solche (im Vergleich zum Englischen oder Französischen minimale) Erweiterung zeigt das Mazedonische, das sich (zusammen mit dem Bulgarischen) gegenüber den übrigen slawischen Sprachen durch einen starken Abbau des Kasussystems auszeichnet (Friedman 2002; Feuillet 1995). Wie im Französischen gibt es im Mazedonischen und im Bulgarischen eine NOM - AKK - DAT -Differenzierung bei Personalpronomina, z. B. tojN O M /negoA K K /nemuD A T (3SG . M ), sowie – beschränkt auf den Singular des Maskulinums – beim Interrogativum/Relativum (KOJ ‚wer‘, mit kogoA K K , komuD A T ) (und davon abgeleiteten Indefinitpronomina), während nichtpronominale Nominale, abgesehen von einer beschränkten Bildung fakultativ verwendbarer Vokativformen, in der Regel für Kasus unflektiert bleiben. Akkusativformen (ebenfalls fakultativ verwendbar) finden sich aber im Mazedonischen – wiederum beschränkt auf den Singular des Maskulinums – bei Eigennamen und Verwandtschaftsbezeichnungen (Tomić 2006: 52–55, mit Hinweisen zu dialektalen Schwankungen); vgl. IvanN O M /IvanaA K K (Eigenname), tatkoN O M /tatkaA K K ‚Vater‘, bratN O M /brataA K K ‚Bruder‘ u. a. Auch zu den Substantiven BOG ‚Gott‘, GOSPOD ‚Herr/ Ǵ AVOL ‚Teufel‘ und ČOVEK ‚Mann/Mensch‘ existieren nach Friedman (2002: 18) Gott‘, ǴAVOL solche kasusmarkierten Formen („oblique form“); vgl. auch Lunt (1952: 33 f., „dependent form“). Im nahe verwandten Bulgarischen werden die entsprechenden Formen praktisch nicht mehr verwendet, wenngleich ihre Bildung in Hinblick auf den älteren Gebrauch in den Grammatiken noch dargestellt wird (Feuillet 1995: 149, „ancien génitif-accusatif (cas régime)“); vgl. auch Tomić (2006: 88, archaisch und/oder dialektal).  





Das Bulgarische zeigt seinerseits eine eigentümliche Erweiterung der NOM - AKK -Differenzierung -D über den Bereich der Personalpronomina hinaus. Sie betrifft definite NPs des Maskulinum Singular. In der Schriftsprache ist im Bulgarischen eine Kasusdifferenzierung bei NPs in stark eingeschränkter Form gegeben, die mittels einer Unterscheidung von Kurz- und Langformen bei dem im Südslawischen entstandenen (postponierten klitischen) definiten Artikel erfolgt; vgl. učitel-jăt/učitel-ja ‚Lehrer.M . SG - DEF ‘ mit Langform/Kurzform des definiten Artikels (Tomić 2006: 90). In Subjektfunktion (und als Prädikativ) steht nach der geltenden Normierung die Langform, in Objektfunktion (und als Komplement zu Präpositionen) die Kurzform (Feuillet 1996: 153); damit wäre eine Nominativ-Akkusativ-Unterscheidung gegeben, doch geben die Grammatiken zugleich an, dass der gewöhnliche Sprachgebrauch dieser Norm nicht folge, sondern beide Varianten promiscue gebraucht würden (Scatton 1983: 165, „free variation“) oder die Kurzform allgemein verwendet werde (Feuillet 1996: 153). Wenngleich die schriftsprachliche Subjekt-ObjektDifferenzierung deshalb vielfach als „künstlich“ angesehen worden ist, fügt sie sich, was ihren Anwendungsbereich (definit, Maskulinum, Singular) betrifft, ohne Weiteres in das auch sonst zu beobachtende Muster der Faktoren ein, die der NOM - AKK - Differenzierung förderlich sind; vgl. auch die ausführliche Diskussion in Mayer (1988: 57–70).

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C Nominalflexion

C5.3.2.4 Mittlere Nominativ-Akkusativ-Differenzierung (Polnisch) In Hinblick auf die Reichweite der Akkusativmarkierung nehmen Polnisch und Deutsch eine mittlere Stellung zwischen dem Ungarischen einerseits (das nahezu unbeschränkte Akkusativmarkierung zeigt) und dem Englischen und Französischen andererseits (die die Akkusativmarkierung auf Pronomina an der Spitze der Nominalhierarchie beschränken) ein. Polnisch und Deutsch zeigen NOM - AKK -Differenzierung nicht nur bei selbstständigen Pronomina, sondern auch bei vollen Nominalphrasen, wenngleich mit erheblichen Beschränkungen. Die formale Kennzeichnung einer ererbten NOM - AKK -Differenzierung, wie sie in den indoeuropäischen Sprachen bei Maskulina und Feminina gegeben ist, kann durch phonologische Entwicklungen beeinträchtigt oder aufgehoben werden. Bemerkenswerterweise lässt sich jedoch beobachten, dass es in derartigen Fällen zu ausgleichenden „Reparaturen“ mit morphologischen Mitteln kommen kann. Im Slawischen war auf lautlichem Wege beim Haupttyp der maskulinen Substantive, nach traditioneller Terminologie bei den o- (und jo-) Stämmen, die Unterscheidung Nominativ-Akkusativ im Singular verlorengegangen. Die Unterscheidung ist wiederhergestellt worden, jedoch nicht durchgehend, sondern beschränkt auf Bezeichnungen für Lebewesen. Die Wiederherstellung erfolgte, indem die fehlende morphologische Markierung für den Akkusativ aus einem anderen Objektkasus übernommen wurde, im slawischen Fall aus dem Genitiv. Das Ergebnis in den Gegenwartssprachen bildet die Akkusativ-Genitiv-Regel (siehe → C2.7.1 (14) zum Polnischen). Wie vielfach beschrieben worden ist (vgl. besonders Meillet 1897 und die Grammatiken des Altkirchenslawischen, z. B. Lunt 2001: 144), hatte die Wiederherstellung der NOM - AKK -Unterscheidung im Slawischen ihren Ausgangspunkt bei ausgewählten Personenbezeichnungen (Lunt 2001: 56, Fn. 1: „substantives indicating a healthy, free, male person; the sick, the crippled, the enslaved, and the supernatural did not count“), speziell bei definiter Lesart, und dehnte sich sodann auf Personenbezeichnungen im Allgemeinen und weiter auf Bezeichnungen für Lebewesen schlechthin aus, im heutigen Polnischen teilweise auch auf Sachbezeichnungen. Die schrittweise Ausweitung des Anwendungsbereichs der Akkusativ-Genitiv-Regel folgte somit der Nominalhierarchie; der erfasste Bereich stellt jeweils einen zusammenhängenden oberen Abschnitt der Hierarchie dar.  



Aufschlussreich sind auch Beobachtungen aus verschiedenen slawischen Sprachen, nach denen häufig die Durchsetzung der Akkusativ-Genitiv-Regel dort später erfolgte, wo die Akkusativkennzeichnung aus funktionalen Gründen eher entbehrlich wäre, nämlich wo eine AGENS / PATIENS Ambiguität unabhängig ausgeschlossen ist, z. B. bei präpositional regierten Substantiven oder in Verbindung mit dem reflexiven Possessivpronomen (Bräuer 1969: 148 f.); im heutigen Polnisch gilt die Akkusativ-Genitiv-Regel grundsätzlich für alle Verwendungen des Akkusativs. Ihre Anwendung ist grammatisch fixiert; dabei ist Unterlassung der Anwendung bei belebten Maskulina auf die Rolle eines ‚pragmatischen Signals‘ für meist eher pejorative Lesarten festgelegt (→ C2.7.2).  





1203

C5 Kasus

Wie die Verhältnisse im Polnischen illustrieren, zeigt die Entwicklung in den slawischen Sprachen allgemein die Tendenz zur Bewahrung oder Wiederherstellung der NOM - AKK -Unterscheidung bei Einheiten, die in der Nominalhierarchie hoch angesiedelt sind. Zugleich zeigt sich bei niedrig angesiedelten Einheiten – beschränkt auf den markierten Numerus Plural – die Tendenz zum Abbau der Unterscheidung. Im Einzelnen unterscheiden sich die Regelungen zur NOM - AKK -Differenzierung in den verschiedenen slawischen Sprachen, doch fügen sie sich in das Gesamtbild ein. Die Unterschiede betreffen vor allem die Verhältnisse im Plural, auf die hier nur exemplarisch hingewiesen werden kann (vgl. im Einzelnen Huntley 1980). Im Tschechischen ist in den direkten Kasus des Plurals die ältere Differenzierung bei den belebten Maskulina bewahrt, vgl. páni, NOM . PL , pány, AKK . PL zu PÁN ‚Herr‘, bei den unbelebten dagegen beseitigt, vgl. hrady, NOM / AKK . PL zu HRAD ‚Burg‘ (Naughton 2005: 28, 31). Hier greift der Ersatz der Akkusativform durch die Genitivform nicht; die Genitiv-Plural-Formen lauten hradů und pánů. Im Russischen ist umgekehrt im Plural die Differenzierung mittels unterschiedlicher NOM - und AKK -Suffixe durchgehend beseitigt. Zudem wird im Plural bei den Pronomina und Adjektiven nicht mehr nach dem Genus differenziert; damit korrespondiert, dass der Ersatz der Akkusativformen durch Genitivformen im Russischen im Plural genusübergreifend gilt, nämlich für Belebte aller Genera, eingeschlossen die (seltenen) belebten Neutra wie чудовище G EN . PL (Andrews 2001). Das (ČUDÓVIŠČE ) ‚Ungeheuer/Scheusal‘; vgl. чудовищ, AKK / GEN Polnische schlägt insofern eine Brücke zwischen dem Tschechischen und dem Russischen, als es (wie das Tschechische) besondere NOM . PL -Bildungen verwendet und zugleich (wie das Russische) die Akkusativ-Genitiv-Regel im Plural zum Tragen bringt (jedoch beschränkt auf personale Maskulina).

C5.3.2.5 Mittlere Nominativ-Akkusativ-Differenzierung (Deutsch) Auch im Deutschen folgt die Ausbildung der Nominativ-Akkusativ-Differenzierung der Allgemeinen Nominalhierarchie; vgl. (92). (92) DEU

1SG

2SG

1PL

2PL

3SG M

NOM

ich

du

wir

ihr

er der alter

Affe Mensch

AKK

mich

dich

uns

euch

ihn den alten

Affen Menschen

SG M

(schwach)

Im Deutschen werden Nominativ und Akkusativ bei den Kommunikantenpronomina ausnahmslos (im Singular und Plural) unterschieden. Bei anderen Lexemen gelten

1204

C Nominalflexion

Einschränkungen. Bei genusvariablen Pronomina und den Artikeln werden Nominativ und Akkusativ unterschieden, jedoch nur im Maskulinum Singular (er/der/wer/ dieser/jener/ein/mein, NOM . SG vs. ihn/den/wen/diesen/jenen/einen/meinen, AKK . SG , usw., aber sie, NOM / AKK . SG . F , und sie, NOM / AKK . PL ). Bei den Substantiven hebt sich die Klasse der schwachen Maskulina ab, bei denen es sich mit wenigen Ausnahmen um Bezeichnungen für Lebewesen, oft Personen, handelt. Nur diese Klasse der Substantive zeigt NOM - AKK -Differenzierung, wiederum beschränkt auf den Singular (Mensch, NOM . SG , Menschen, AKK . SG ); im Übrigen fungiert bei Substantiven die (Singular- oder Plural-) Grundform (die Nominativform) auch als Akkusativform (Mann, NOM /AKK . SG usw.). Die Beschränkung der NOM - AKK -Differenzierung auf den Singular des Maskulinums gilt ebenso für Adjektive. Sie folgen bei starker Flexion dem pronominalen Muster wie in alter Wein, NOM . SG vs. alten Wein, AKK . SG ; bei schwacher Flexion (→ C6.6.1) wird im Maskulinum Singular wie bei den schwachen maskulinen Substantiven unterschieden (der alte, NOM . SG . M vs. den alten, AKK . SG .M ); im Übrigen findet keine NOM - AKK -Differenzierung statt (vgl. die alte, NOM / AKK . SG . F ). Die im Deutschen geltende Beschränkung der NOM - AKK - Differenzierung auf den Singular kann als Ausdruck der allgemeinen Tendenz zur reduzierten Formendifferenzierung im markierten Numerus Plural betrachtet werden. Das Fehlen der Differenzierung im Neutrum ergibt sich aus der Spezifik dieses Genus (→ C2.6). Mögliche Gründe für das (aus sprachvergleichender Perspektive) auffällige, für das Deutsche spezifische Fehlen der NOM - AKK - Differenzierung im Femininum Singular werden ausführlich in Krifka (2009) erörtert. Insoweit die Ausbildung der NOM - AKK -Differenzierung regelmäßig der Allgemeinen Nominalhierarchie (bei Krifka, in Anschluss an Silverstein 1976, „animacy hierarchy“) folgt, sei der NOM - AKK - Synkretismus im Femininum prima facie ‚unerwartet‘ (ebd.: 152), wenn man voraussetzt, dass sich Feminina von Maskulina bezüglich Belebtheit nicht unterscheiden („that feminine NPs do not differ in animacy from masculine NPs“, ebd.: 141). Wie Krifka belegt, sind jedoch Bezeichnungen für Belebtes in überwiegender Mehrheit Maskulina, und ebenso werden Maskulina im Text häufiger als Feminina oder Neutra zur Bezeichnung von Partizipanten in der AGENS -Rolle verwendet. Aus grammatischer Perspektive nehmen Maskulinum und Femininum in der Belebtheitshierarchie nicht den gleichen Rang ein („as far as grammatical processes are concerned, masculines are animates, whereas feminines and neuters are inanimate“, ebd.: 157). (Vgl. dazu auch Jakobsons Charakterisierung des Maskulinums als unmarkiertes Genus (Jakobson 1960); → C2.2.) Die Herausbildung einer Subklasse von (vorwiegend) Belebten innerhalb des Maskulinums (‚schwache Maskulina‘) im Deutschen ähnelt der Auszeichnung des Subgenus der belebten Maskulina im Polnischen (und anderen slawischen Sprachen): In beiden Fällen ist die NOM - AKK -Differenzierung (innerhalb des Maskulinums) auf eine in der Nominalhierarchie (gemäß Belebtheit) hochgeordnete Subklasse beschränkt. (Im Deutschen handelt es sich nicht um ein Subgenus – oder ein weiteres Genus –, da die Unterscheidung starker und schwacher Maskulina für die Kongruenz-

C5 Kasus

1205

regeln ohne Belang ist.) Beide Fälle von Subklassenbildung im Maskulinum fügen sich in die Allgemeine Nominalhierarchie ein. Während es sich im Slawischen bei der belebtheitsbasierten Subgenusunterscheidung im Maskulinum um das Ergebnis eines fortschreitenden Prozesses der Regelverallgemeinerung handelt, dem im Polnischen schließlich alle in Frage kommenden belebten Maskulina unterworfen worden sind, ergibt sich die Korrelation von schwacher Flexion und Belebtheit bei den maskulinen Substantiven im Deutschen aus einem Abbauprozess, in dessen Verlauf in der nunmehr relikthaften Flexionsklasse gerade (fast) nur belebte Maskulina zurückgeblieben sind. Beispiele wie Rappe (M , belebt, Pferd) vs. Rappen (M , unbelebt, Münze) veranschaulichen, dass bei Sachbezeichnungen (soweit sie maskulines Genus bewahrten) die Akkusativform in den Nominativ übertragen wurde (und damit die NOM - AKK -Differenzierung beseitigt wurde), während bei Personenbezeichnungen die (n-lose) Nominativform (und damit zunächst auch die schwache Flexion) erhalten blieb (Wilmanns 1909: 380–384). Der Grund liegt, wie angenommen werden kann, darin, dass belebte Nomina viel häufiger als unbelebte in Subjektfunktion auftreten, wie schon Behaghel (1878: 271) mit ausdrücklichem Verweis auf parallele Entwicklungen im Französischen und auf die NOM - AKK -Unterscheidung bei Belebten im Slawischen darlegt. Ein weiterer Abbau (durch Aufgabe der Formen auf n in den obliquen Kasus) zeichnet sich ab. Nur in Einzelfällen sind (belebte) Maskulina aus anderen Klassen in die schwache Klasse gewechselt (CHRIST , HEIDE , RABE , SCHÖFFE ); eine Verallgemeinerung des Musters auf alle belebten Maskulina hat nicht stattgefunden.

C5.3.3 Direkt-Indirekt-Synkretismus Den wichtigsten Fall eines Synkretismus zwischen direkten und indirekten Kasus bildet im Bereich der Vergleichssprachen der Akkusativ-Genitiv-Zusammenfall im Polnischen (gemäß der Akkusativ-Genitiv-Regel), der sich aus der Herstellung der Nominativ-Akkusativ-Differenzierung bei Lexemen mit hoher Position in der Allgemeinen Nominalhierarchie ergibt. In gleicher Weise kann sich, wie der weitere Sprachvergleich zeigt, Akkusativ-Dativ-Synkretismus ergeben, wenn Dativmarkierungen als Mittel differentieller Objektmarkierung auf direkte Objekte übertragen werden – ähnlich wie im Fall der entsprechenden Verwendung funktional vergleichbarer Präpositionen (wie a im Spanischen). In den Vergleichssprachen sind die Formen der direkten und der indirekten Kasus (soweit die Kasusflexion einzelsprachlich reicht) im Übrigen in der Regel formal gut differenziert. Einen weiteren Fall von Direkt-Indirekt-Synkretismus liefert aber der (partielle) Zusammenfall von Akkusativ und Dativ, insbesondere bei Kommunikantenpronomina im Französischen. Im Englischen und Französischen liegt nur bei wenigen Pronomina überhaupt Kasusdifferenzierung vor. Im Englischen sind die Formen der Personalpronomina des Maskulinums und des Femininums durch den Abbau des Genus bei den Substantiven in aller Regel auf Personenbezug beschränkt; damit geht einher, dass die AKK -DAT Differenzierung hier fehlt. Bewahrt sind die Formen, die typischerweise bei Personenbezug auftreten, also die Dativformen (vgl. ENG him mit DEU ihm und ENG her mit DEU  

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C Nominalflexion

ihr). Im Neutrum, also bei Sachbezug, setzt dagegen die Objektform it die alte Akkusativform fort, die hier wie immer im Neutrum formgleich mit der Nominativform ist. Im Französischen liegt, ähnlich wie im Englischen (und verschiedenen anderen germanischen Sprachen), ein Zusammenfall von Akkusativ und Dativ vor, der jedoch unvollständig ist. Bei den Personalpronomina der 3. Person werden Akkusativ und Dativ unterschieden. Funktional relevant ist die AKK - DAT - Unterscheidung bei Pronomina vorrangig dann, wenn pronominale Objekte beider Typen zugleich auftreten; vgl. (93) (Price 2008: 146 f.):  



(93) a. IlS U meI O lesD O donne. FRA ‚Er gibt sie mir.‘ b. JeS U leD O luiI O ai donné. ‚Ich habe es ihm/ihr gegeben.‘ Nun sind aber Kombinationen zweier klitischer Objektpronomina im Französischen nur zulässig, wenn in DO -Funktion ein Pronomen der 3. Person auftritt wie in (93). Kommunikantenpronomina können in Klitikakombinationen nur in IO -Funktion auftreten. Aufgrund dieser Kombinationsbeschränkung für Klitika ist die funktionale Interpretation von Kommunikantenpronomina in IO - DO -Kombinationen unabhängig von der Kasusmarkierung gesichert (nämlich auf die IO -Funktion festgelegt). Ähnliche Beschränkungen gelten in einer Vielzahl von Sprachen; siehe → B2.4.3.2.4. Wo ein Kommunikantenpronomen die dritte Argumentposition eines dreiwertigen Verbs besetzt, wird von präpositionaler Markierung (mittels à) Gebrauch gemacht wie in Il vous présentera à moi ‚Er wird Sie mir vorstellen‘ (Price 2008: 148). Eine AKK -DAT -Differenzierung ist insofern bei Kommunikantenpronomina im Französischen entbehrlich (und im Vergleich zum Lateinischen aufgegeben worden). Im Deutschen finden sich keine den Regularitäten im Französischen vergleichbaren grammatikalisierten Kombinationsbeschränkungen für Personalpronomina. Zugleich ist die AKK - DAT -Differenzierung auch bei Kommunikantenpronomina grundsätzlich gegeben. Immerhin findet sich aber AKK - DAT -Synkretismus auch im Deutschen gerade bei Kommunikantenpronomina, wenn auch nur im Plural (unsA K K / D A T . P L , euchA K K / D A T . P L ), also bei Pronomina, die auf den Personenbezug beschränkt sind, und beim Reflexivum, das dem Muster der Kommunikantenpronomina folgt (und typischerweise, wenn auch keineswegs immer, dem Personenbezug dient). Dieser innerhalb des Deutschen isoliert dastehende und prima facie auffällige Synkretismus fügt sich somit in das im Sprachvergleich sichtbare Muster, nach dem eine DAT -AKK Unterscheidung am ehesten bei Pronomina, die dem Personenbezug dienen, entbehrlich ist. Bei den Personalpronomina des Polnischen liegt ein Dativ-Akkusativ-Zusammenfall nur bei den Langformen der 1. Person Singular vor (mnie, DAT = AKK ). Außerhalb des Bereichs der Pronomina ist aus dem Deutschen die fehlende Differenzierung zwischen Dativ und indirekten Kasus bei den Eigennamen zu nennen.  



C5 Kasus

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Im Singular kann bei Eigennamen wie Karl oder Anna der Genitiv formal markiert werden (Karls, Annas); bei alleinstehendem Gebrauch im Genitiv ist die Verwendung der mit dem Genitivflexiv gekennzeichneten Formen zwingend (→ C6.7.3). Dagegen ist die alleinstehende Verwendung der formal unmarkierten Form bei Eigennamen im Dativ unanstößig (und die Verwendung des Dativflexivs ‑e sogar ausgeschlossen); vgl. Sie hat Karl das Geld gegeben. Hier zeigt sich eine markante Ungleichbehandlung der beiden indirekten Kasus. Für nackte Eigennamen im Genitiv gilt Kennzeichnungspflicht (gemäß dem Prinzip der Genitivmarkierung; → C6.7.2), für nackte Eigennamen im Dativ steht keine Kennzeichnung zur Verfügung. Substantivphrasen im Dativ Singular wie dem Mann oder der Frau sind durch die pronominale Flexion der Substantivdependentien deutlich von entsprechenden Phrasen in den direkten Kasus (wie der Mann, den Mann; die Frau) unterschieden. Im Plural können Appellativa (wegen der Beschränkung des indefiniten Artikels auf den Singular) jedoch regelmäßig ohne kongruierende Dependentien auftreten. Bei Lexemen, die den s-Plural oder den -(e)n-Plural nehmen und bei Substantiven, die der schwachen Flexion folgen, bleibt der Dativ im Plural bei alleinstehender Verwendung ohne overtes Kennzeichen (wie in Er hilft Kollegen gerne). Die Möglichkeit, unkenntliche Dativformen zu verwenden, steht auch hier in markantem Kontrast zur Notwendigkeit, Genitivphrasen als solche auszuweisen (*Er erinnert sich Kollegen gerne). Zur ‚Unterlassung der Flexion‘ bei nackten Substantiven im Singular siehe → C6.7.4.  

Weltweit findet sich nach Næss (2002) AKK - DAT -Synkretismus typischerweise bei der Markierung von Objekten, die in der Belebtheitsordnung eine hohe Position einnehmen („high in animacy“). Næss verweist gleichermaßen auf indoeuropäische (darunter romanische und indoarische) und nicht-indoeuropäische Sprachen aus verschiedenen Kontinenten; die typische Verteilung von personalen vs. nicht-personalen Partizipanten auf die Objektstellen dreistelliger Verben (indirektes vs. direktes Objekt) dürfte für diese verbreitete Asymmetrie im Bau von Kasussystemen verantwortlich sein.

C5.3.4 (Nicht-)Differenzierung bei indirekten Kasus Synkretismen im Bereich der indirekten Kasus können im Bereich der Vergleichssprachen nur das Deutsche und das Polnische betreffen. Das Englische besitzt nur die Kasus Nominativ und Akkusativ, also keine indirekten Kasus, das Französische nur einen indirekten Kasus, den Dativ; im Ungarischen kommen entsprechende Nichtdifferenzierungen aufgrund der agglutinierenden Morphologie nicht in Betracht. Für das Ungarische wird manchmal eine Unterscheidung zweier Kasus ‚Dativ‘ und ‚Genitiv‘ angenommen, die formal nie differenziert würden; ähnliche Annahmen sind auch mit Bezug auf Sprachen des Balkansprachbundes vertreten worden. Vom synchronen Standpunkt liegt kein Synkretismus (Formenzusammenfall), sondern ein einheitlicher Kasus (Dativ) vor; → B2.4.3.1.7.

1208

C Nominalflexion

In den slawischen Sprachen finden sich in großem Umfang Synkretismen im Bereich indirekter Kasus. Im Polnischen bestehen im Bereich der indirekten Kasus sechs unterschiedliche Muster der Formendifferenzierung; vgl. Abbildung 7. (i)

LOK

DA T DAT

GEN

INS

(ii)

L OK /INS LOK

DAT

GEN



(iii)

L OK /GEN

DAT



INS

(iv)

LOK /DAT



GEN

INS

(v)

L OK /DAT /GEN LOK





INS

(vi)

LOK /DAT /GEN /INS







Abb. 7: Differenzierungsmuster der indirekten Kasus im Polnischen  

Bei Typ (i) werden alle vier indirekten Kasus durch unterschiedliche Formen gekennzeichnet. Bei den übrigen Typen fällt jeweils der Lokativ mit einem, zwei oder drei der übrigen indirekten Kasus zusammen. In der Abbildung sind in der ‚LOK - Spalte‘ gegebenenfalls die zusammenfallenden Kasus angegeben, mit ‚–‘ ist das Fehlen von einzelkasusspezifischen Formen des Dativs, Genitivs oder Instrumentals markiert. Als Beispiele für den voll differenzierten Typ (i) können das Singular- und das Pluralparadigma hartstämmiger Maskulina wie KELNER dienen (→ C5.2.2.3 (88)) ) ebenso wie die Pluralparadigmen beliebiger anderer Substantive (→ C5.4.8, Abbildung 11). Typ (ii) und (iii) zeigen die Singularformen der Adjektive im Non-Femininum bzw. die Pluralformen der Adjektive; mądrymL O K / I N S . S G . N O N F und mądrychL O K / G E N . P L (→ C5.2.2.2 (86)) belegen die beiden Synkretismustypen. Beispiele für (iv) und (v) liefern weichPOL E , N ‚Feld‘ bzw. Feminina wie ZIEMIA , F ‚Erde‘ mit den Formen stämmige Neutra wie POLE poluL O K / D A T . S G , polaG E N . S G , polemI N S . S G (vgl. → C5.4.4, Abbildung 8) und ziemiL O K / D A T / G E N . S G , ziemiąI N S . S G (vgl. → C5.4.6, Abbildung 10); auch die Flexion der Adjektive im Femininum Singular folgt Typ (v). Typ (vi) mit vollständigem Zusammenfall der indirekten Kasus konkurriert mit Typ (v) in der Flexion der Numeralia (bei Kardinalia wie PIĘĆ ‚5‘); → C5.6.2. Weitere Belege für Typ (i) bieten die Singularparadigmen hartstämmiger ). Neutra (wie BIURO ‚Büro‘) und weichstämmiger Maskulina animata (wie GOŚĆ ‚Gast‘). Weichstämmige Maskulina inanimata wie HOTEL ‚Hotel‘ folgen im Singular Typ (iii); vgl. auch die Plural-Paradigmen der Kommunikantenpronomina (→ C5.2.2.1 (82)). Die Gesamtverteilung der Differenzierungsmuster ergibt sich aus den Anwendungsbedingungen der Kasusflexive, die in → C5.4 angegeben werden.  





Alle angeführten Typen von Synkretismen kommen auch in anderen slawischen Sprachen, wenn auch teils in anderen Mischungen vor; vgl. den Überblick über die Synkretismusmuster des Russischen in Baerman/Brown/Corbett (2005: 39), wo Beispiele für die Typen (iii) bis (vi) gegeben werden. Typ (ii) (mit Zusammenfall von Lokativ und Instrumental) kann u. a. aus dem Slowenischen belegt werden wie beim Demonstrativum SLN TÁ ‚dieser‘ mit den NONF . SG - Formen tém, LOK / INS ; tému, DAT ; téga, GEN (Herrity 2000: 98 f.). Sussex/Cubberley (2006: 227 f.) verweisen auf die allgemeine Tendenz zum Zusammenfall des Lokativs mit anderen indirekten Kasus in den  





C5 Kasus

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slawischen Sprachen. Wenn man annimmt, dass der Lokativ (als ‚Präpositionalkasus‘) bei Verlust seiner lokalen Semantik zum unspezifischen indirekten Kasus werden konnte, so wird verständlich, dass er für beliebige indirekte Kasus eintreten kann.

Unter funktionalem Gesichtspunkt ist für die Beurteilung der Differenzierungstypen wesentlich, dass der Lokativ nur in Verbindung mit Präpositionen verwendet wird. Da die betreffenden Präpositionen nur den Lokativ (przy ‚an/bei‘) oder den Lokativ und den Akkusativ regieren (na ‚auf/in/zu‘, o ‚um/an/über/von‘, po ‚nach‘, w ‚in‘) (Brooks 1975: 348), sind Lokativphrasen auch bei Zusammenfall des Lokativs mit einem oder mehreren anderen indirekten Kasus als solche eindeutig markiert. In Hinblick auf die Erkennbarkeit des Kasus ist im Übrigen zwischen den Differenzierungstypen (i) bis (iv) einerseits und den Typen (v) und (vi) andererseits zu unterscheiden. Bei den Typen (i) bis (iv) sind die Formen des Dativs, Genitivs und Instrumentals immer verschieden. Wegen der angegebenen Verwendungsbeschränkung für den Lokativ ist der Kasus bei Phrasen mit Formen aus (Singular- oder Plural-)Paradigmen, die eines dieser Differenzierungsmuster aufweisen, immer eindeutig erkennbar; die Synkretismen der Differenzierungsmuster (ii) bis (iv) sind insofern für die Kasusdifferenzierung unschädlich. Sie reduzieren die Formenvielfalt in den betreffenden Paradigmen ohne funktionalen Verlust. Bei Typ (v) fehlt dagegen eine formale DativGenitiv-Differenzierung, bei Typ (vi) liegt völliger Zusammenfall der indirekten Kasus vor. Die Verteilung der Differenzierungsmuster auf die nominalen Paradigmen ist nicht beliebig. Typ (vi) kommt nur (als Option) bei Numeralia vor, für die eine stark reduzierte Flexion allgemein charakteristisch ist (→ C5.6). Im Übrigen gilt: Im NonFemininum Singular und im Plural kommen nur die „verlustfreien“ Differenzierungstypen (i) bis (iv) vor. Dagegen folgen die Paradigmen des Femininum Singular den Typen (iv) oder (v). Typ (v), bei dem im Vergleich zu den Typen (i) bis (iv) die formale Dativ-Genitiv-Unterscheidung fehlt, ist somit auf das markierte Genus Femininum beschränkt; ausgenommen sind zudem die hartstämmigen femininen Substantive, die Typ (iv) folgen. Das Deutsche besitzt zwei indirekte Kasus (Dativ und Genitiv), die (wie im Polnischen) im Non-Femininum Singular und im Plural formal differenziert werden (wie in [diesem Mann]D A T . S G vs. [dieses Mannes]G E N . S G und in [diesen Männern]D A T . P L vs. [dieser Männer]G E N . P L ). Dazu tragen sowohl die Formen der pronominalen Flexion der Nicht-Substantive bei als auch die an Substantive tretenden Flexive. Im Femininum Singular fehlt dagegen sowohl bei flektierbaren Nicht-Substantiven als auch bei Substantiven eine formale Dativ-Genitiv-Differenzierung. (Ausgenommen sind nur Paradigmen mit irregulärer bzw. suppletiver Formenbildung; siehe → C6.5.1.) Das Polnische und das Deutsche stimmen somit darin überein, dass die formale DativGenitiv-Differenzierung in der Regel nur im Femininum Singular fehlen kann; das Deutsche geht über das Polnische insofern hinaus, als die Dativ-Genitiv-Differenzierung im Femininum Singular mit Mitteln der produktiven Flexion in keinem Fall hergestellt werden kann.  

1210

C Nominalflexion

Verglichen werden kann der (nicht lautgesetzliche) Zusammenfall der Genitiv- und Dativformen des Femininum Singular im Altenglischen; siehe Hogg/Fulk (2011: 30 et passim). Auch im Lateinischen zeichnen sich gerade die 1. und 5. Deklination, die typischerweise Feminina aufnehmen, durch das Fehlen einer formalen Dativ-Genitiv-Differenzierung im Singular aus; vgl. → C2.5 (7) zu ancillae, DAT / GEN . SG von ANCILLA , F ‚Magd‘.

C5.4 Die Inventare der Kasusflexive (Polnisch, Deutsch) C5.4.1 Einleitung Gegenstand des vorliegenden Abschnitts sind die Kasusmarkierung im Polnischen und im Deutschen und insbesondere die relevanten Flexivinventare. Im Falle des Polnischen steht zunächst die Flexion der Substantive im Mittelpunkt, bei denen die Kasusdifferenzierung am stärksten ausgebaut ist. Im Falle des Deutschen, wo Kasusmarkierung vorrangig an Nicht-Substantiven erfolgt, werden die flexivischen Markierungen an kongruierenden Dependentien zusammen mit denjenigen an Substantiven erörtert. Abschließend werden die Kasusflexive der Substantive und Nicht-Substantive im Polnischen und Deutschen gegenübergestellt.

Die Flexion des Polnischen hebt sich von der der übrigen Vergleichssprachen durch die starke Ausprägung fusionierender Charakteristika ab. Kasus-Numerus-Markierung erfolgt kumulativ durch Suffixe, die gleichzeitig Numerus und Kasus kennzeichnen. Formen mit gleicher kategorialer Spezifikation können unterschiedliche Flexive aufweisen (z. B. Nominativ-Plural-Formen zu Substantiven verschiedener Genera), und umgekehrt können Flexionsformen mit unterschiedlichen kategorialen Spezifikationen gleiche Ausdrucksformen (‚Synkretismen‘) zeigen (z. B. Formen verschiedener indirekter Kasus bei femininen Substantiven) (→ C5.3.4). Zu den weiteren das Polnische prägenden fusionierenden Charakteristika gehört das (nicht nur phonologische, sondern morphologisch relevante) Ineinandergreifen von Stammformen und Flexiven. Bei den Substantiven wird einerseits die Wahl der Suffixe durch die Stammklassen (weich, hart) mitbestimmt (→ C2.3). Umgekehrt weisen Substantivparadigmen vielfach Stammwechsel zwischen verschiedenen Flexionsformen auf; dabei treten sowohl Vokalwechsel als auch Konsonantenwechsel auf. Stammwechsel innerhalb eines Paradigmas findet sich typischerweise zwischen suffixlosen und suffigierten Formen. Wie in anderen slawischen Sprachen können zudem bestimmte Suffixe mit Wechsel des stammfinalen Konsonanten (‚Erweichung‘) gekoppelt sein. Der Stammwechsel stellt dann einen Teil der flexivischen Markierung dar (vergleichbar dem Umlaut als Teil von Pluralmarkierungen im Deutschen) und muss in die Beschreibung der flexivischen Formenbildung einbezogen werden; siehe dazu → C5.4.3, insbesondere (97), zu den für die Nominalflexion wichtigsten Konsonantenwechseln. Flexivisch nicht relevante Lautwechsel bleiben im Folgenden außer Betracht.  





C5 Kasus

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Das Deutsche weist wie das Polnische fusionierende Flexion auf, jedoch in insgesamt geringerer Ausprägung (und in Verbindung mit non-kumulativer Pluralbildung bei den Substantiven). Stammwechsel treten in der nominalen Flexion nur sehr beschränkt auf; die Stammklassenunterscheidung des Polnischen besitzt im Deutschen kein Gegenstück. Die Systeme der kumulativen Kasus-Numerus-Flexion zerfallen im Polnischen und im Deutschen gemäß den grundlegenden Numerus- und Genusunterscheidungen in drei Teilsysteme: die Kasusflexion der Singularformen der Non-Feminina, der Singularformen der Feminina und der Pluralformen. Im Non-Femininum Singular kommt eine beschränkte Subdifferenzierung zwischen den non-femininen Genera Maskulinum und Neutrum hinzu. An dieser Einteilung orientiert sich die folgende Darstellung. Das Deutsche besitzt vier Kasus (Nominativ, Akkusativ, Dativ und Genitiv), das Polnische besitzt drei weitere Kasus (Vokativ, Lokativ und Instrumental). ). Unter dem Gesichtspunkt der Formenbildung zerfallen die Kasus in zwei Hauptgruppen: (i) direkte Kasus (Nominativ und Akkusativ sowie – im Polnischen – Vokativ), (ii) indirekte Kasus (alle verbleibenden) (→ B2.4.2.4.4). Die Ausbildung der Kasusflexion zeigt darüber hinaus wortklassenspezifische Differenzen: zu unterscheiden ist im Polnischen und Deutschen zwischen der Flexion der Substantive (‚substantivische Flexion‘) und der der Pronomina (‚pronominale Flexion‘). Die pronominale Flexion findet in beiden Sprachen (teils mit kleineren Abweichungen) auch Anwendung auf die Adjektive (→ C5.2.2). Im Deutschen ist ferner zwischen starker Flexion, die den Hauptbereich des Kasussystems umfasst, und schwacher Flexion zu unterscheiden, die für Adjektive (unter bestimmten Verwendungsbedingungen) und eine kleinere Klasse von Substantiven einschlägig ist; zur schwachen Flexion siehe → C6.6.1. Alle Feststellungen zur Kasusflexion im Deutschen im vorliegenden Abschnitt betreffen die starke Flexion. Bei der Darstellung der Substantivflexion des Polnischen beschränken wir uns im Folgenden auf die wichtigeren Paradigmentypen und insbesondere die Muster der großen produktiven Klassen; Abweichungen und Besonderheiten (besonders bei Fremdwörtern und Eigennamen) können nur in den wichtigeren Fällen genannt werden. In der Darstellung des Formenbestands folgen wir Orzechowska (1999) und Swan (2002); insbesondere Swan (2002) bietet umfassende Aufstellungen von Paradigmen. Herangezogen wurden ferner Bartnicka et al. (2004), Bielec (1998), Brooks (1975), Damerau (1967), Feldstein/Franks (2002), Engel et al. (1999), Grappin (1963), Grzegorczykowa/Laskowski/Wróbel (Hg.) (1999), Kotyczka (1976) und Laskowski (1972); ferner als Gesamtdarstellung der Nominalflexion: Schenker (1964); Überblicksdarstellungen sind Rothstein (1993), Stone (1987) und Tokarski (1979). Ein Wörterbuch der grammatischen Formen bieten Saloni et al. (2012).

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C Nominalflexion

C5.4.2 Spezifizität und Unterspezifikation Für die Signalisierung eines gegebenen flexivischen Merkmals oder Merkmalsbündels stehen in den Flexionssystemen der einzelnen Vergleichssprachen häufig zwei oder mehr unterschiedliche Flexive zur Verfügung. Bei dem Ziel, die Verteilung solcher konkurrierender Flexive durchsichtig zu machen, erweist es sich als nützlich, zwischen Flexiven mit einem eng umrissenen Anwendungsspielraum (die als ‚markiert‘ gelten können) und solchen mit weiterem Anwendungsspielraum zu unterscheiden (‚unmarkierte Flexive‘). Als einfaches Beispiel können die Pluralflexive des Deutschen dienen (→ C4.2.5). Im ‚Normalbereich‘ des Substantivwortschatzes des Deutschen stehen sich zwei Pluralflexive gegenüber: -e/PL und -en/PL . Das Pluralflexiv -en ist in seinen typischen Verwendungsfällen auf Substantive des Femininums beschränkt, während im Übrigen (im Non-Femininum), also im Maskulinum und im Neutrum, typischerweise das Pluralflexiv -e erscheint. Diese Verteilung lässt sich bequem beschreiben, indem für das genusspezifische, feminintypische Flexiv eine entsprechende Anwendungsbedingung angegeben wird, die wir mittels eines Subskripts notiert haben, wie in -en/PL F . Das Flexiv -e/PL kann dann ohne Anwendungsbedingung bleiben; es erscheint „sonst“. Die Verteilung wird durch das Spezifizitätsprinzip geregelt: Wo zwei oder mehr Flexive konkurrieren, d. h. nach ihren Merkmalsspezifikationen und Anwendungsbedingungen gleichermaßen anwendbar wären, hat das spezifischere Flexiv (dasjenige mit dem enger geschnittenen Anwendungsbereich) ceteris paribus Vorrang. Ist die Pluralgrundform eines femininen Substantivs zu bilden, so hat das spezifischere der beiden angeführten Flexive (-en/PL F ) Vorrang. Das weniger spezifische (-e/PL ), das (in Ermangelung einer entgegenstehenden Anwendungsbedingung) nach seinen Spezifikationen ebenfalls anwendbar wäre, kommt bei Feminina nicht zum Zuge; bei Non-Feminina ist es das einzige anwendbare Suffix bei der gegebenen Auswahl. Für die Zwecke der vorliegenden Darstellung (im Rahmen der Nominalflexion) kann das Spezifizitätsprinzip informell wie in (94) formuliert werden.  

(94)

Spezifizitätsprinzip. In einem Kontext, in dem verschiedene flexivische Einheiten konkurrieren, blockieren spezifischere Einheiten (Einheiten mit höherer Merkmalhaftigkeit) weniger spezifische Einheiten (Einheiten mit geringerer Merkmalhaftigkeit).

Im Ergebnis beschneiden spezifischere (merkmalhaftere) Einheiten die Anwendungsbereiche weniger spezifischer (weniger merkmalhafter) Einheiten. Das Spezifizitätsprinzip wird in der Literatur auch als ‚elsewhere principle‘ bezeichnet (Kiparsky 1973, mit Anwendung in der Phonologie), auch ‚blocking principle‘ (Williams 1997). Zur genaueren Explikation und Anwendung auf das Deutsche siehe u. a. Gallmann (1996; 1998), Blevins (2000) und Müller (2002); vgl. auch zum Russischen Wiese (2004). Der Begriff der Markiertheit  

C5 Kasus

1213

oder Spezifik spielt für Erörterungen zur Nominalflexion (auch implizit bei informeller Darstellung) vielfach eine wichtige Rolle; vgl. u. a. → C2.2 zur Diskussion der Markiertheitsverhältnisse im System der Genera und → C6.7.4 zur Möglichkeit kasusindifferenter Verwendung der Grundformen der Substantive im Deutschen.  

Die Kasusflexion des Deutschen liefert prägnante Beispiele für die Unterscheidung unmarkierter und markierter Flexionsformen. Bei den Substantiven stehen sich sowohl im Singular als auch im Plural unmarkierte, nämlich kasusunspezifische Formen (die allgemeine Grundform, die im Nominativ Singular und, je nach Formenbestand des betreffenden Substantivs, in weiteren Kasus – bei Feminina in allen Kasus – erscheint, sowie die Pluralgrundform, die im Nominativ/Akkusativ/Genitiv Plural und bei einem Teil der Substantive in allen Kasus erscheint) und markierte Formen gegenüber, nämlich einzelkasusspezifische Formen (wie die Genitiv-Singular-Formen im Non-Femininum und die Dativ-Plural-Formen in allen Genera). Die kasusunspezifischen Formen werden in der Literatur auch als (bezüglich Kasus) ‚unterspezifizierte‘ Formen bezeichnet; entsprechend kann auch mit Bezug auf andere Kategorisierungen von ‚Unterspezifikation‘ gesprochen werden (etwa bei genusunspezifischen Pluralformen). Die Verwendung der spezifischen Formen ist in der Regel in Kontexten obligatorisch, wo sie nach den signalisierten Merkmalen (und bei erfüllten sonstigen Anwendungsbedingungen) auftreten können; die unspezifischen Formen finden Verwendung, insoweit keine spezifischeren Formen anwendbar sind. Häufig weisen spezifische Formen im Vergleich zu unspezifischen Formen besondere Kennzeichen auf; so sind die kasusspezifischen Substantivformen im Deutschen durch besondere Kasussuffixe ausgezeichnet, während bei kasusunspezifischen Formen entsprechende Suffixe fehlen. Wo auf diese Weise formale und funktionale Markiertheit Hand in Hand gehen, kann die Beziehung zwischen Form und Funktion als ‚ikonisch‘ charakterisiert werden (Mayerthaler 1981). Umgekehrte Verteilungen (wie beim Fehlen formaler Markierung bei kategorial hochspezifischen Formen) haben eher Ausnahmecharakter; ein Beispiel liefern suffixlose Genitiv-Plural-Formen in den slawischen Sprachen, eingeschlossen das Polnische (→ C5.4.9). Die pronominale Kasusflexion des Deutschen umfasst für den Bereich des NonFemininum Singular vier Flexive (-er/NOM , -en/AKK , -em/DAT , -es/GEN ) für die vier zu unterscheidenden Kasus. Obwohl in diesem Fall jede kasusspezifische Form ein besonderes Suffix hat, kann von einem ikonischen Form-Funktions-Zusammenhang gesprochen werden, wenn man die lautlichen Eigenschaften der für die Suffixe charakteristischen Konsonanten in Betracht zieht. Mit steigender Markiertheit der Kasus (d. h. relativ niederer Position in der Kasushierarchie), also in der Reihenfolge der gegebenen Aufzählung der Flexive, steigt die konsonantische Stärke (bzw. sinkt die Sonorität) der Suffixkonsonanten (Wiese 2009: 179). Zum Bereich des Non-Femininum Singular gehört ferner ein fünftes genusspezifisches Flexiv, das in den direkten Kasus (Nominativ und Akkusativ) des Neutrums auftritt (-(e)s/DIR N ). Die als Subskript notierte spezifische Anwendungsbedingung legt fest, dass dieses Suffix im Neutrum Vorrang hat, während die ebenfalls im Nominativ  

1214

C Nominalflexion

bzw. Akkusativ anwendbaren Suffixe, die ohne Genusspezifikation (-er/NOM , -en/AKK ) bleiben, auftreten, wo das neutrumspezifische Suffix nicht anwendbar ist, nämlich im (unmarkierten Genus) Maskulinum. Die Kasusflexion des Polnischen liefert nicht-triviale Beispiele für die Steuerung flexivischer Markierungen durch das Spezifizitätsprinzip. Zum Inventar der bei Substantiven des Non-Femininum Singular anwendbaren Suffixe gehört ein Suffix -owi, das als Kennzeichen für den Dativ fungiert und im Regelfall nur bei Maskulina auftritt. Andere Dativformen des Non-Femininum Singular zeigen ein Suffix -u, das, anders als -owi, nicht auf einen bestimmten Einzelkasus festgelegt ist, sondern in verschiedenen Kasus erscheint. Der sonst schwer abzugrenzende Anwendungsbereich des Suffixes -u kann unter Rückgriff auf das Spezifizitätsprinzip in einfacher Weise bestimmt werden. Das unspezifische Suffix -u kommt bei der Bildung der Substantivformen der indirekten Kasus (im Non-Femininum Singular) zum Zuge, wenn keines der spezifischeren Suffixe, die für die verschiedenen indirekten Kasus zur Verfügung stehen, anwendbar ist. Die spezifischeren Suffixe (darunter -owi) haben, wo sie anwendbar sind, Vorrang, das unspezifische Suffix erscheint „sonst“ (→ C5.4.4).

C5.4.3 Kasusflexive des Non-Femininum Singular (Polnisch, Deutsch) Der Singular des Non-Femininums, also der nach Numerus und Genus unmarkierte Teilbereich des Flexionssystems, stellt wie in vergleichbaren Sprachen auch im Polnischen und im Deutschen den am stärksten ausdifferenzierten Teil des Kasussystems dar. Die Grundmuster der Kasusdifferenzierung in diesem Bereich zeigt die Gegenüberstellung der Singularformen zweier Nomina des Maskulinums in (95);; beim deutschen Beispiel sind die Formen des Demonstrativums DIESER hinzugesetzt. (95)

ORZEŁ , M

‚Adler‘

ADLER , M

VOK

INDIR

AKK

LOK DAT GEN INS

orzeł orl-e orł-a orl-e orł-owi orł-a orł-em

DIR

NOM

SG

INDIR

DIR

SG NOM AKK

DAT GEN

dies-er Adler dies-en Adler

dies-em Adler dies-es Adler-s

Die Anordnung der Kasus in Tabellen wie in (95) orientiert sich an der Kasushierarchie; → B2.4.3.1.8.  

C5 Kasus

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Im Polnischen treten in den indirekten Kasus vier Flexive (Kasusendungen) auf, die jeweils spezifische Kennzeichen der betreffenden Kasus darstellen. Für die direkten Kasus besitzen die regulär flektierten Maskulina dagegen keine kasusspezifischen Flexive. Im Nominativ Singular tritt der endungslose Stamm auf. Reguläre Maskulina besitzen zudem keine besonderen Akkusativ-Singular-Formen. Bei belebten Maskulina tritt die Form des Genitiv Singular an die Stelle der fehlenden Form und fungiert auch als Akkusativform. Bei unbelebten fungiert die im Nominativ erscheinende Grundform zugleich als Akkusativform (z. B. obraz, NOM / AKK . SG zu OBRAZ , M ‚Bild‘); siehe → C2.7.1 (14) (Akkusativ-Genitiv-Regel). Die Auszeichnung besonderer Vokativformen (die nicht mit entsprechenden Nominativformen zusammenfallen) ist auf den Singular des Maskulinums und des Femininums beschränkt; sie unterbleibt (ähnlich wie in verwandten Sprachen) im Plural und im Neutrum Singular grundsätzlich. Erforderlichenfalls würde der Nominativ als Anredeform verwendet. Auch im Singular der regulär flektierenden Maskulina fehlt aber ein Flexiv, das als spezifische Markierung des Vokativs dienen würde. Als Vokativformen fungieren die Formen, die auch im Lokativ auftreten. Hier gilt die ‚Vokativ-LokativRegel‘: Im Singular des Maskulinums und Femininums treten, soweit keine besonderen Vokativformen vorhanden sind, regelmäßig die Lokativformen an ihre Stelle.  

Die Annahme einer Vokativ-Lokativ-Verweisregel („rule of referral“) für das Polnische wird in Cameron-Faulkner/Carstairs-McCarthy (2000: 825, Fn. 10) erwogen. Lokativformen, die für fehlende Vokativformen eintreten, können unterschiedliche Ausdrucksformen aufweisen: -ʹe oder -u bei Maskulina, -i bei Feminina. Diese Beobachtung verweist auf einen systematischen Zusammenhang, der nicht an bestimmte Flexive gebunden ist und daher als Argument für die Annahme einer Verweisregel gewertet werden kann (Johnston 1997): Verweisregeln (wie die AkkusativGenitiv-Regel) stellen keine Anwendungsregeln für bestimmte Flexive dar; sie sind blind für die Ausdrucksformen der Substitute.  

Die Kasusformenbildung für Substantive des Typs ORZEŁ ergibt sich danach insgesamt durch (i) Suffigierung der für die indirekten Kasus spezifischen Flexive und (ii) durch Verweisregeln, die die Formen der direkten Kasus festlegen. (Die Verweisregeln können als Feststellungen über Formidentitäten aufgefasst werden.) Das Flexivinventar und die Regeln können vorläufig wie in (96) angegeben werden. (96)

Kasusflexion des Polnischen (substantivische Flexion). (i) Inventar der Flexive des Non-Femininum Singular (vorläufig): OK , -owi/DAT , -a/GEN , -em/INS -e/LLOK (ii) Verweisregeln: AKK → GEN (SG . M A N I M ) VOK → LOK L OK (SG . M )  

Bei den Verweisregeln ist in Klammern der Anwendungsbereich der Regel angegeben. Die Akkusativ-Genitiv-Regel gilt im Singular der Maskulina animata, die VokativLokativ-Regel allgemein im Singular des Maskulinums.

1216

C Nominalflexion

Das Paradigma von ORZEŁ zeigt, dass suffixlose und suffigierte Wortformen eines Lexems unterschiedliche Stammvarianten aufweisen können (ohne Suffix: orzeł-, mit Suffix: orł-). Viele Lexeme zeigen wie ORZEŁ einen Wechsel zwischen suffixlosen Formen, in denen der Vokal e vor dem stammfinalen Konsonanten erscheint, und suffigierten Formen, in denen der Vokal fehlt. In anderen Fällen können sich suffixlose und suffigierte Stammformen durch Vokalwechsel unterscheiden. Der im Stamm der suffigierten Formen im Vergleich zur suffixlosen Form fehlende Vokal wird traditionell als ‚flüchtiges e‘ bezeichnet (Damerau 1967: 24); zu seinem Auftreten siehe im Einzelnen Swan (2002: 31–33 zu „mobile vowels“). Wie im gegebenen Beispiel kann zugleich auch der dem ‚mobilen‘ Vokal vorangehende Konsonant wechseln, hier: rz /ʃ/ vs. r /r/). Der Wechsel zwischen suffixloser Form (mit e) und suffigierter Form (ohne e) betrifft nicht nur Lexeme mit suffixlosen Nominativ-Singular-Formen, sondern auch Lexeme mit suffixlosen Genitiv-Plural-Formen (→ C5.4.9); vgl. krzesł-o, NOM . SG (mit Suffix),, vs. krzeseł, GEN . PL (suffixlos), zu KRZES ŁO , N ‚Stuhl‘; vgl. Swan (ebd.: 114). Bei Stämmen, die auf stimmhaften Konsonanten ausgehen (ausgenommen Nasale) kann 〈ó〉 (phonologisch: /u/) in suffixlosen Formen mit 〈o〉 in suffigierten Formen wechseln; vgl. ogród, NOM . SG , vs. ogrodu, GEN . SG zu OGRÓD , M ‚Garten‘ (Damerau 1967: 25). Nicht in allen in Betracht kommenden Fällen tritt der Wechsel ein; vgl. król, NOM . SG , vs. króla, GEN . SG zu KRÓL , M ‚König‘ (ebd.). Auch Wechsel von 〈ą〉 und 〈ę〉 kommt vor wie in dąb, NOM . SG , vs. dębu, GEN . SG zu DĄB , M ‚Eiche‘; dagegen ohne Wechsel sąd, NOM . SG , vs. sądu, GEN . SG zu SĄD , M ‚Gericht‘. Entsprechende Wechsel finden sich auch bei Neutra (ebd.: 41) und Feminina (ebd.: 34, 39) (auch bei Stammausgang auf stimmlosen Konsonanten). Im gewöhnlichsten Fall tritt kein solcher Stammwechsel auf (wie etwa bei NOM . SG vs. studenta, GEN . SG ).

STUDENT ,

student,

In der Form orle (Lokativ Singular, zugleich Vokativ Singular) geht mit der Suffigierung ein Wechsel des stammfinalen Konsonanten einher (‚Erweichung‘): ł → l (/w/ → /l/). Diese Stammveränderung ist Teil der Lokativmarkierung und bei der Bestimmung der Kasusflexive entsprechend zu berücksichtigen. Wir verwenden im Folgenden das sogenannte Prime-Zeichen (ʹ) zur Kennzeichnung von Flexiven, deren Anwendung mit Stammerweichung einhergeht, wie in ‚-ʹe‘. In der Nominalflexion treten die folgenden Wechsel auf: Labiale werden palatalisiert: /p b f v m/ → /pʲ bʲ fʲ vʲ mʲ/. Bei Dentalen und Velaren wechseln Plosive mit Affrikaten und Frikative mit Frikativen. Dentale werden durch Palatale ersetzt: /t d s z n/ → /tɕ ͡ dʑ͡ ɕ ʑ ɲ/. Velare und Labiovelare werden im Falle der Plosive durch Dentale, sonst durch Alveolare ersetzt: /k ɡ x w/ → /ts ͡ dz͡ ʃ l/. Ferner gilt: /r/ → /ʒ/. Im Schriftbild erscheinen die Wechsel im Regelfall (bei Zugrundelegung der vorherrschenden Phonem-Graphem-Korrespondenzen), wie in (97) angegeben ist. (Zur orthographischen Repräsentation harter und weicher Konsonanten siehe → C2.3, Bemerkungen zu (4).)

1217

C5 Kasus

(97)

Konsonantenwechsel in der polnischen Nominalflexion. 〈p b f v m〉 → 〈pi bi fi vi mi〉 〈t d s z n〉 → 〈ć/ci dź/dzi ś/si ź/zi ń/ni〉 〈k g ch ł〉 → 〈c dz sz l〉 〈r〉 → 〈rz〉 Auch als erstes Segment von stammfinalen Konsonantenverbindungen (wie st, zd u. a.) unterliegen s und z dem Wechsel wie in pomyśle, LOK . SG zu POMYSŁ , M ‚Gedanke‘. Zu besonderen Wechseln im Nominativ Plural des Personalmaskulinums siehe → C5.4.8. Zu abweichendem Wechsel bei Vokativformen siehe → C5.4.4. Zu Wechseln in der Komparativbildung siehe → B1.3.3.  

Konsonantenwechsel kann fallweise von Vokalwechsel begleitet sein; vgl. den Wechsel zwischen a und e bei LAS , M ‚Wald‘ mit der LOK . SG -Form lesie oder zwischen ó und e bei KOŚCIÓŁ ‚Kirche‘ mit der LOK . SG -Form kósciele (Swan 2002: 69).

Flexive mit der Ausdrucksform -ʹe, die im Lokativ Singular Non-Femininum und ebenso im Lokativ/Dativ Singular Femininum (→ C5.4.6) auftreten, lösen alle angegebenen Wechsel aus; ausgenommen sind jedoch bei Non-Feminina die Stämme auf velare Obstruenten /k ɡ x/ (〈k g ch〉), die den Wechsel nicht mitmachen. Festzuhalten ist, dass die Bildung der Flexionsformen im Polnischen in bedeutendem Umfang Wechsel zwischen Stammvarianten einschließt; die Wechsel sind teils an einzelne Lexeme oder Lexemgruppen (und unterschiedlich strikt an bestimmte durch Regeln erfassbare Anwendungsbedingungen) gebunden, teils in die regelmäßige Formenbildung (als Bestandteil flexivischer Markierungen) integriert. Die Nominalflexion des Polnischen unterscheidet sich in dieser Hinsicht sehr deutlich von der des Deutschen, wo Stammvariation nur eine sehr beschränkte Rolle spielt; siehe → C4.2.5 zur Rolle des Umlauts bei der Pluralbildung sowie unten zur g-Spirantisierung. Im Deutschen erfolgt Kasusdifferenzierung in NPs vorrangig durch Artikel oder andere Dependentien des substantivischen Kopfs, wie (95) zeigt. Der Bereich des Maskulinum Singular stellt den Bereich der Formen dar, die außer bezüglich Kasus gänzlich unmarkiert sind (d. h. Formen des unmarkierten Numerus und des unmarkierten Genus). In diesem Bereich (und nur hier) werden in der pronominalen Flexion (hier: am Demonstrativum) alle vier Kasus formal unterschieden. Die Markierung erfolgt durch Suffixe mit je charakteristischen Konsonanten, die mit oder ohne den allgemeinen Suffixvokal (Schwa, /ə/) auftreten können; schwahaltige Varianten stellen den Regelfall in der pronominalen Flexion dar (vgl. die Formen dies-er, dies-en, dies-em, dies-es des Demonstrativums DIESER ). Die angeführten Flexive können wie folgt notiert werden:  

(98)

-(e)r/NOM , -(e)n/AKK , -(e)m/DAT , -(e)s/GGEN EN

Von den vier betrachteten Kasussuffixen tritt das Genitivsuffix des Non-Femininum Singular auch am Substantiv auf. Die reguläre Substantivflexion des Deutschen unterscheidet sich von der pronominalen Flexion nicht durch besondere, ihr eigene Flexive, sondern durch eine stark beschränkte Auswahl aus dem gemeinsamen

1218

C Nominalflexion

Flexivinventar. Im Non-Femininum Singular ist das auch für Substantive verwendete Teilinventar gerade auf das Suffix des höchstmarkierten Kasus Genitiv beschränkt. Für Phrasen wie dies-es Adlers ergibt sich so eine ‚doppelte Kasusmarkierung‘. Das Neutrum ist durch die regelmäßige Nichtdifferenzierung der direkten Kasus charakterisiert, d. h. im Deutschen durch die Nichtdifferenzierung von Nominativ und Akkusativ, im Polnischen und verwandten Sprachen, die einen Vokativ besitzen, durch die Nichtdifferenzierung von Nominativ, Akkusativ und Vokativ. Im Deutschen wird die Nichtdifferenzierung in der pronominalen Flexion sichtbar wie in dieses Bier oder dieses Feld mit der Demonstrativform dies-es, die sowohl Nominativ als auch Akkusativ abdeckt. Das auftretende Suffix kennzeichnet Formen der direkten Kasus, ohne einen speziellen Kasus zu markieren. Es kann daher als DIR -Flexiv charakterisiert werden; solche Flexive markieren die betreffenden Formen als Formen, die in direkten Kasus verwendbar sind, ohne einen bestimmten direkten Kasus auszuzeichnen. Hier handelt es sich um ein DIR -Suffix, das auf das Neutrum beschränkt ist. Solche speziellen genusbezogenen Anwendungsbedingungen können durch Subskripte an der Kasusangabe für das Flexiv notiert werden. Das bisher betrachtete Teilinventar der Kasusflexive des Deutschen kann danach wie in (99) angegeben werden.  

(99)

Kasusflexion des Deutschen. Inventar der Flexive des unmarkierten Systembereichs (Non-Femininum Singular): EN , -(e)s/DIR N , -(e)r/NOM , -(e)n/AKK , -(e)m/DAT , -(e)s/GGEN davon auch am Substantiv verwendet: -(e)s/GEN

Das Gegenstück zum DIR N -Suffix der Pronomina im Deutschen ist im Polnischen das Suffix der Grundformen der Substantive des Neutrums. Es lautet (abhängig vom Stammtyp) auf -o (bei harten Stämmen) oder -e (bei weichen Stämmen); vgl. piwo, NOM / AKK .SG , zu PIWO , N ‚Bier‘ und pole, NOM / AKK .SG , zu POLE POL E , N ‚Feld‘. Der Vokativ würde, soweit verwendet, gegebenenfalls die gleiche Form aufweisen. Für die Substantive des Neutrums im Polnischen handelt es sich bei den betreffenden Formen einfach um die lexikalisch gegebenen Grundformen. Nicht alle Neutra weisen Grundformen dieses Typs auf, aber in jedem Fall sind die Grundformen der Neutra, was die Verwendung als Kasusformen angeht, unspezifische DIR -Formen. Andere Grundformausgänge kommen vor wie z. B. bei IMIĘ , N ‚Vorname‘ oder CENTRUM , N ‚Zentrum‘. Die Formen der indirekten Kasus des Neutrums werden im Deutschen und im Polnischen wie in anderen indoeuropäischen Sprachen mit Flexiven gebildet, die auch für das Maskulinum gelten (→ C2.6). In der pronominalen Flexion des Deutschen wird in den indirekten Kasus nicht zwischen Maskulinum und Neutrum unterschieden. Formen wie diesemD A T . S G und diesesG E N . S G sind bezüglich des Genus NONF -Formen ohne Subspezifikation. Im Polnischen unterscheiden sich die Substantive des Neutrums von den Maskulina in den indirekten Kasus des Singulars durch die NichtVerwendung des Flexivs -owi/DAT . Auch bei den Maskulina werden nicht bei allen  

C5 Kasus

1219

Lexemen alle in (96) aufgeführten Flexive verwendet. Die sich ergebenden unterschiedlichen Paradigmen werden in Abschnitt C5.4.4 beschrieben. Anders als im Polnischen tritt Stammvariation durch Konsonantenwechsel im Flexionssystem des Deutschen selten auf und im Allgemeinen nur in Verbindung mit Vokalwechsel (wie beim Stammwechsel starker Verben; vgl. schneid-/schnitt- zu SCHNEIDEN ). Eine Ausnahme bildet die sogenannte g-Spirantisierung (/ɡ/ → /ç/). Der Wechsel betrifft u. a. die nominalen Flexionsformen, ist aber nicht Teil einer flexivischen Operation, wohl aber an den Stammausgang ig gebunden. In Stämmen auf ig (wie bei KÖNIG ) wechselt nach der in den Aussprachewörterbüchern kodifizierten Norm in Positionen, wo Auslautverhärtung eintreten muss, /ɡ/ mit /ç/ (außer wenn die Folgesilbe /ç/ enthält, nämlich bei Ableitungen auf -lich wie in königlich /køːnɪklɪç/) (vgl. Curme 1922: 27; Heidolph/Flämig/Motsch 1981: 957 f.). Die Grundform König (NOM . SG . -Form) von KÖNIG lautet daher auf /…ç/ im Unterschied zur Pluralgrundform (NOM . PL -Form) Könige (/…ɡə/); siehe Kleiner/Knöbl (2015: s. v.). Ähnlich wie bei Palatalisierung von Velaren im Polnischen liegt eine Vorverlegung der Artikulationsstelle des Konsonanten vor, im Deutschen in der Position nach vorderem Vokal zugleich mit einem Wechsel vom Plosiv zum Frikativ. Die Regel repräsentiert im Wesentlichen norddeutschen Sprachgebrauch; siehe im Einzelnen (ebd.: 462).  





Zum Wechsel zwischen [x] (nach hinterem Vokal) und [ç] (sonst) wie in Bach/Bäche siehe Heidolph/Flämig/Motsch (1981: 954 f.).  

C5.4.4 Paradigmen des Non-Femininum Singular (Polnisch) Die Singular-Teilparadigmen einer repräsentativen Auswahl von Substantiven des Non-Femininums zeigt Abbildung 8. Der Übersichtlichkeit halber sind nur die Suffixe aufgeführt. ‚-‘ steht für unsuffigierte Formen. Für jedes Lexem ist das Genus (oder Subgenus) angegeben, sowie die Stammklasse (H : hartstämmige; H , VEL : hartstämmige auf Velar; W : weichstämmige).

STUDENT

‚Student‘, CUKIER ‚Zucker‘, GOŚĆ ‚Gast‘, HOTEL ‚Hotel‘, BIURO ‚Büro‘, TANGO ‚Tango‘, POLE ‚Feld‘

Abb. 8: Substantivparadigmen des Non-Femininum Singular (Polnisch)  

1220

C Nominalflexion

Die Flexion der hartstämmigen Maskulina mit Ausgang auf Velar (H , VEL ) im Singular BIOL OG , M ‚Biologe‘ wie GOŚĆ stimmt mit der der weichstämmigen überein. So wird BIOLOG ‚Gast‘ und BANK , M ‚Bank‘ wie HOTEL flektiert. Traditionell wird die Substantivflexion des Polnischen durch eine Taxonomie der Paradigmen unter Annahme einer großen Zahl von Flexionsklassen beschrieben. Die Gramatyka współczesnego języka polskiego (Grammatik der polnischen Gegenwartssprache) unterscheidet in der Darstellung der Substantivflexion (Orzechowska 1999) bei den Maskulina drei ‚Typen‘, die jeweils drei oder vier ‚Klassen‘ (bestimmt nach Art der Grundform) umfassen; jede Klasse wird in wenigstens zwei ‚Subklassen‘ (hartstämmige/weichstämmige) zerlegt und schließlich werden in jeder Subklasse bis zu drei ‚Gruppen‘ angesetzt, die nach den vorkommenden Plural-Endungen unterschieden werden. Für diese Gruppen werden jeweils mehrere Paradigmen aufgeführt. Innerhalb der Gruppen werden noch Varianten und Sonderfälle untergebracht. Bei den Feminina und Neutra ist die Vielfalt der Deklinationen zwar etwas geringer, aber die Gesamtzahl der nach dieser Darstellung zu unterscheidenden Paradigmen ist beträchtlich.

Charakteristisch für die polnische Substantivflexion ist aber, wie aus Abbildung 8 abgelesen werden kann, dass verschiedene Paradigmen (innerhalb eines nach Genus und Numerus abgegrenzten Systembereichs, hier: Non-Femininum Singular) starke formale Übereinstimmungen zeigen. Anders als in Sprachen mit einem entwickelten System von Deklinationsklassen (wie z. B. dem Lateinischen) liegen keine formal unterschiedenen ‚Sätze von Flexiven‘ vor, die sich als Ganze gegenüberstehen und jeweils eine bestimmte Deklination konstituieren (vgl. Wiese 2012). Den polnischen Paradigmen fehlt die deutliche Ausprägung der Distinktivität von Flexivsätzen im Sinne von Corbett (2009), die für Sprachen mit Deklinationsklasseneinteilungen charakteristisch ist. Wenigstens im Falle des Polnischen verbietet sich die Annahme, die Paradigmen bildeten die irreduziblen Grundbausteine des Kasussystems. Die Verschiedenheit der Paradigmen ergibt sich vielmehr auf regelmäßige Weise aus der Kombinatorik der Flexive. Die verschiedenen Paradigmen bauen sich aus einem gemeinsamen Flexivinventar auf, das neben den bereits in (96) spezifizierten nur ein weiteres Suffix umfasst. Das Suffix -u tritt in Formen verschiedener indirekter Kasus auf und ist, anders als die in (96) aufgeführten Suffixe, nicht auf einen bestimmten Kasus festgelegt. Dieses Suffix kann als allgemeines (unspezifisches) Suffix für den Bereich der Formen der indirekten Kasus (INDIR ) charakterisiert werden; daher: -u/INDIR .  



Zum Suffix -u als ‚unspezifisches‘ Suffix siehe Halle/Marantz (2008) (kritisch dazu CarstairsMcCarthy 2010: 219–222); vgl. auch Wiese (2011).

Man vergleiche zum Folgenden die in Abbildung 8 gezeigte Verteilung der Flexive. In allen Paradigmen erscheint das Flexiv -em/INS . Die übrigen einzelkasusspezifischen Suffixe erscheinen nicht in allen Paradigmen; sie unterliegen besonderen Anwendungsbedingungen, die teils das Genus, teils den Stammtyp der Substantive betreffen. Die Verwendung der Lokativmarkierung (-- ʹe) wird durch den Stammtyp geregelt. Sie tritt nur bei harten non-velaren Stämmen auf (in der Tabelle: H ). Zur Charakteristik

C5 Kasus

1221

dieser Formen gehört das Eintreten eines Stammwechsels (‚Erweichung‘), angezeigt durch das Prime-Zeichen (ʹ). Das Suffix kann nur auf harte Stämme (jedoch nicht auf velare) angewandt werden kann; bei weichen Stämmen kann Erweichung nicht eintreten. Diese stammbezogene Verwendungsbedingung notieren wir mit einem voranOK . Wo die Anwendungsbedingestellten Superskript am Namen des Suffixes: H -ʹe/LLOK L OK - Flexiv -ʹe demnach nicht angewandt werden kann, gung nicht erfüllt ist und das LOK tritt das unspezifische -u/INDIR -Flexiv an seine Stelle; dies ist der Fall in den LokativPOL E . formen von GOŚĆ , HOTEL , TANGO und POLE Die Verwendung der DAT -Markierung wird durch das Genus geregelt: Das Suffix -owi tritt nicht im Neutrum (sondern nur bei Maskulina) auf. Diese kategoriale Verwendungsbedingung notieren wir mit einem nachgestellten Subskript am Namen des Suffixes: -owi/DAT M . Wo die Anwendungsbedingung für -owi/DAT M nicht erfüllt ist, tritt wiederum das unspezifische -u/INDIR -Flexiv auf; dies ist der Fall bei den Dativformen POL E . der Neutra BIURO , TANGO und POLE Die Verwendung der Genitivmarkierung wird ebenfalls durch das Genus geregelt: Das Suffix -a tritt bei Neutra und bei Maskulina animata (M A N I M ), aber nicht bei Maskulina inanimata (M I N A N ) auf; siehe → C5.4.5. Wiederum notieren wir diese Verwendungsbedingung mit einem Subskript am Namen des Suffixes: -a/GEN * M I N A N . Das Sternchen kennzeichnet, dass es sich um eine Ausschlussbedingung (oder negative Anwendungsbedingung) handelt. Und wieder gilt: Wo die Anwendungsbedingung des betreffenden Suffixes nicht erfüllt ist, tritt das unspezifische -u/INDIR -Flexiv an seine Stelle, so in den Genitivformen von CUKIER und HOTEL . Die Verteilung der Flexive in den direkten Kasus ergibt sich wie zuvor beschrieben (→ C5.4.3): Bei den Neutra erscheint durchgehend die Grundform (die in der Regel bei harten Stämmen auf -o und bei weichen Stämmen auf -e lautet). Bei den Maskulina greifen die in (96) angegebenen Verweisregeln; andernfalls erscheint die (endungslose) Grundform. Gegenüber (96) ist danach nur die Bestimmung des Inventars der Flexive durch die Angabe der relevanten Anwendungsbedingungen und die Aufnahme des unspezifischen INDIR - Suffixes wie in (100) zu ändern. (100)

Kasusflexion des Polnischen (substantivische Flexion). (i) Inventar der Flexive des Non-Femininum Singular: -ʹe/LOK , -owi/DAT M , -a/GEN * M I N A N , -em/INS -u/INDIR , H -ʹ (ii) Verweisregeln: (siehe (96))

Wir halten noch ausdrücklich fest: Das unspezifische INDIR - Suffix kommt zum Zuge, wo die Anwendungsbedingungen der auf bestimmte indirekte Einzelkasus ‚spezialisierten‘ Suffixe nicht erfüllt sind (vgl. → C5.4.2 zum Spezifizitätsprinzip). Was die Formendifferenzierung im Bereich der indirekten Kasus betrifft, ist von Interesse, dass ein Zusammenfall der Formen zweier indirekter Kasus in den in Abbildung 8 gezeigten Paradigmen (wie im Fall von HOTEL , TANGO und POLE ) immer den Lokativ einschließt, der auf die Ver-

1222

C Nominalflexion

wendung als Präpositionalkasus beschränkt ist; die auftretenden Synkretismen sind daher funktional unschädlich (siehe dazu → C5.3.4).

Wie gezeigt wurde, ergeben sich die Unterschiede zwischen den verschiedenen regulären Paradigmen des Non-Femininum Singular aus den unterschiedlichen Beschränkungen, denen die Anwendung der auftretenden Flexive unterliegt. Es existieren aber Ausnahmen und Irregularitäten, die hier nicht vollständig beschrieben werden. Von Interesse ist die Beobachtung, dass abweichende Flexionsmuster meist dann auftreten, wenn die Anwendungsbereiche der Flexive enger oder weiter als im Regelfall gezogen werden. Welchen Kasus ein Suffix anzeigt, ändert sich dagegen nicht. Die Bestimmung des Flexivinventars wird durch die Sonderfälle bestätigt und muss nicht geändert werden; vgl. Abbildung 9.

NOS

‚Nase‘, GROSZ ‚Groschen‘, KOT ‚Katze‘, ŚWIAT ŚW IAT ‚Welt‘, SYN ‚Sohn‘, DOM ‚Haus‘, PAN ‚Mann/Herr‘

Abb. 9: Substantivparadigmen des Non-Femininum Singular (Polnisch). Sonderfälle  

Eine Reihe von Maskulina inanimata wie NOS und GROSZ bilden die indirekten Kasus wie Animata (und nehmen gegen die Grundregel im Genitiv das spezifische Genitivsuffix -a). Die Maskulina KOT und ŚWIAT bilden die indirekten Kasus wie Neutra (und nehmen das Suffix -owi nicht an). SYN und DOM sind hartstämmige Substantive, nehmen aber wie weichstämmige nicht das Lokativsuffix - ʹe; an seine Stelle tritt -u. Bei PAN fehlt zusätzlich auch die DAT -Endung - owi der Maskulina; wiederum tritt -u an seine Stelle. Die auftretenden Flexive sind die gewöhnlichen (mit ihren gewöhnlichen Funktionswerten); die Abweichungen betreffen die (Nicht-)Beachtung der Anwendungsbedingungen. Die Verweisregeln sind von den Abweichungen nicht betroffen; die Formenbildung der direkten Kasus ist regelmäßig. Eine isolierte Abweichung stellt die Vokativform von PAN dar (panie), die das bei hartstämmigen Maskulina zu erwartende Suffix - ʹe zeigt, obwohl dieses Suffix im Lokativ gegen die Regel fehlt.

C5 Kasus

1223

(in Verbindung mit Vornamen oder Titeln) stellt die gewöhnliche höfliche maskuline Anredeform dar; der Vokativ steht in Verwendungen wie Dzień dobry, panie Janie! ‚Guten Tag, Jan!‘ (Swan 2002: 163–166). Einige wenige weitere Substantive wie OJCIEC ‚Vater‘ (mit Lokativformen auf -u) besitzen Vokativformen auf -e, deren Bildung zudem einen unregelmäßigen Konsonantenwechsel (c → cz) einschließt (Swan 2002: 26, 70); vgl. ojcze, VOK . SG (vs. ojcu, LOK . SG ). PAN

Maskulina auf -a wie KOLEGA ‚Kollege‘ (→ C2.3) haben wir im Vorhergehenden außer Betracht gelassen; sie flektieren im Polnischen im Singular (aber nicht im Plural) wie Feminina. (Entsprechend wird auch von ‚gemischter Deklination‘ gesprochen.)

C5.4.5 Genitiv-Singular-Formen (Polnisch) Wie dargestellt wurde, weisen die GEN . SG -Formen der Maskulina das spezifische Genitivsuffix -a oder das unspezifische INDIR -Suffix -u auf. Die Verteilung der Suffixe im Genitiv Singular korreliert wenigstens teilweise mit semantischen Eigenschaften der Substantive. Nach den Grammatiken ist die Genitivendung -a bei den Maskulina auf die belebte Teilklasse beschränkt. Dagegen ist -u die normale Endung für die GEN . SG -Formen der unbelebten Maskulina, von denen allerdings eine nicht ganz kleine Teilgruppe die Endung -a nimmt. Eine Durchsicht von Swans Lernerwörterbuch (Swan 1992) mit ungefähr 27000 Lemmata zeigt, dass etwa ein Siebtel der Maskulina inanimata die Endung -a nehmen (ca. 550 von 3800 Lemmata). Swan gibt auch einen Minimalwortschatz, der ungefähr ein Zehntel der Lemmata seines Lernerwörterbuchs bietet; hier würde die fragliche Gruppe lexikalisch speziell zu markierender Substantive ca. 50 Lemmata ausmachen.

Die Verteilung der beiden Gruppen innerhalb der Maskulina inanimata ist nicht einfach arbiträr. Die Grammatiken unterscheiden diverse kleinere Fallgruppen, bei denen eher die eine oder die andere Endung bevorzugt wird, etwa die Endung -a im Falle von Nomina Instrumenti. Eine detaillierte Aufstellung gibt Orzechowska (1999: 305–307); vgl. auch Bartnicka et al. (2004). Eine die Kleingruppen übergreifende, hier relevante semantische Unterscheidung ist die in Kontinuativa und Individuativa. In aller Regel nehmen maskuline Kontinuativa die Genitiv Singular Endung -u und nur ganz ausnahmsweise -a, so bei einigen Bezeichnungen für Nahrungsmittel (CHLEB ‚Brot‘, SER ‚Käse‘, OWIES ‚Hafer‘). Damerau (1967: 26) nennt als einschlägige Gruppen die „Abstrakta“ sowie die „Stoff- und Kollektivbegriffe“. Feldstein/Franks (2002) nennen „abstract nouns“ (GNIEW ‚Ärger‘, BÓL ‚Schmerz‘, ŻAL ‚Trauer‘) und „mass nouns“ (SOK ‚Saft‘, MIÓD ‚Honig‘). Vgl. ferner Swan (2002: 71), der (wie u. a. auch Orzechowska 1999) insbesondere auch die Verbalabstrakta anführt: „The Gsg. ending -u almost always occurs with names for large and especially  

1224

C Nominalflexion

amorphous objects (gmach gmachu ‘large building’, kraj kraju ‘country’, ocean oceanu ‘ocean’); substances (miód miodu ‘honey’, piasek piasku ‘sand’, płyn płynu ‘liquid’); forces, intangibles, and abstractions (fach fachu ‘trade, profession’, pokój pokoju ‘peace’, temat tematu ‘subject’, wiatr wiatru ‘wind’); and nouns formed on verbal roots (postój postoju ‘stop, stand’; przelot przelotu ‘flight’, utwór utworu ‘creation’).“

Bartnicka et al. (2004) identifizieren ‚Gestalthaftigkeit‘ (bzw. ‚Gestaltlosigkeit‘) als wichtigstes hier relevantes semantisches Merkmal; Substantive mit ‚nicht-gestalthafter‘ Semantik tendierten zu -u, darunter Abstrakta und Kollektiva sowie Bezeichnungen für Substanzen. Die Verteilung der beiden Genitivbildungen auf -u und -a lässt sich mit ihren Gegenstücken im Russischen vergleichen. Dort werden jedoch bei einem Teil der Maskulina tatsächlich zwei Genitive (zwei Kasus!) formal unterschieden, deren Bildung (mit semantischer Differenzierung) bei ein und demselben Lexem möglich ist (Jakobson 1936; Wade 2011: 76, 109 f.). Sie fungieren dann als allgemeiner Genitiv bzw. als spezieller Genitivus partitivus. Im Polnischen besteht dagegen anscheinend keine systematische funktionale Differenzierung. Wenn beide Formenbildungen bei demselben Substantiv möglich sind, handelt es sich nach Stankiewicz (1955) um stilistische Varianten. Im Übrigen sind die beiden Bildungen aber tendenziell recht ähnlich verteilt. Auch das Polnische kennt den so genannten partitiven Genitiv (in semantisch pseudo-partitiver Lesart) (→ A5.2.1). Vgl. (101) (Swan 2002: 333):  

(101) a. Nalać ci herbaty? EN POL eingieß.INF 2SG . DAT Tee.GGEN ‚Darf ich dir Tee eingießen?‘ b. Dodać cukru? EN zufüg.INF Zucker.GGEN ‚Soll ich Zucker zufügen?‘ Im partitiven Genitiv erscheint bei den Maskulina in aller Regel -u, da ja gerade die Kontinuativa den -a-Genitiv nahezu ausschließen. Umgekehrt handelt es sich bei den Maskulina, die den Genitiv auf -a nehmen, insbesondere bei den Belebten, um solche, für die (pseudo-)partitive Verwendung kaum oder nicht als unmarkierte Option in Frage kommt. Während also Kontinuativa fast ausnahmslos -u nehmen, scheinen innerhalb der Klasse der unbelebten Individuativa einige kleinere unscharf abgegrenzte Gruppen angebbar zu sein, die gegen die Grundregel zu -a tendieren. Anlehnung an die Bildungsweise der Animata kommt insbesondere in Frage, wenn formale oder inhaltliche Merkmale auftreten, die sich auch bei Animata finden, etwa bestimmte Endungen oder Bildungsweisen (wie Diminution). Auch im Falle der Nomina Instrumenti ist die übereinzelsprachliche Affinität zu Nomina Agentis offensichtlich.

C5 Kasus

1225

C5.4.6 Kasusflexive und Paradigmen des Femininum Singular (Polnisch, Deutsch) Im Singular weist das Femininum eine besondere Formenbildung auf. (Im Plural wird im Polnischen wie im Deutschen in der Regel keine NONF - F - Unterscheidung gemacht; einzige Ausnahme ist das Numerale POL DWA ‚zwei‘.) Die typischen Muster der Kasusdifferenzierung in diesem Bereich zeigt die folgende Gegenüberstellung der Singularformen zweier Nomina des Femininums; beim deutschen Beispiel ist wieder das Demonstrativum hinzugesetzt. (102)

ZIEMIA , F

‚Erde‘

ERDE , F

AKK

INDIR

VOK L OK DAT GEN INS

ziemi-a ziemi-ę ziemi-o ziem-i ziem-i ziem-i ziemi-ą

DIR

NOM

SG

INDIR

DIR

SG NOM AKK

DAT GEN

dies-e Erde dies-e Erde dies-er Erde dies-er Erde

Zur Orthographie der Formen mit i-initialem Suffix im Polnischen siehe → C2.3, Bemerkungen zu (4).  

Beiden Sprachen gemein ist die im Vergleich zum Non-Femininum reduzierte Formendifferenzierung in den indirekten Kasus; vgl. → C5.3.4. Im Polnischen wird nur der Instrumental bei allen Feminina immer durch ein spezifisches Suffix gekennzeichnet (hier: -ą/INS ). (Es bildet das Gegenstück zu dem bei Non-Feminina durchgängig verwendeten Flexiv -em/INS . ) Zudem existiert wie bei den Non-Feminina ein unspezifisches INDIR -Suffix (-i/INDIR ), das nicht auf einen bestimmten indirekten Kasus festgelegt ist, sondern im Lokativ, Dativ und Genitiv erscheinen kann. Bei allen weichstämmigen Feminina (wie ZIEMIA ‚Erde‘) ist -i/INDIR zugleich das einzige hier anwendbare Suffix. Daneben existiert nur ein weiteres Suffix für den Bereich der indirekten Kasus, das mit dem LOK -Flexiv des Non-Femininums gleichlautet (-- ʹe) und wie dort auf harte Stämme wie LAMPA ‚Lampe‘ beschränkt ist, die Erweichung zulassen. Im Unterschied zum Non-Femininum tritt dieses Suffix im Femininum nicht nur im Lokativ, sondern OK - DAT ); vgl. lampieL O K / D A T . S G . Der Anwendungsbereich des auch im Dativ auf (-- ʹe/LLOK unspezifischen -i/INDIR -Suffixes beschränkt sich daher bei den hartstämmigen Feminina auf den Genitiv. Im Ergebnis fallen bei den femininen Substantiven Lokativ und Dativ immer und bei den weichstämmigen Feminina zudem Lokativ, Dativ und Genitiv zusammen. Zu den gegebenenfalls eintretenden Konsonantenwechseln siehe → C5.4.3 (97).

1226

C Nominalflexion

Im Deutschen fehlt im Femininum sowohl bei den direkten als auch bei den indirekten Kasus in der pronominalen Flexion eine formale Subdifferenzierung. In den indirekten Kasus tritt ein auf r lautendes Suffix auf, das als unspezifisches INDIR -Suffix zu charakterisieren ist (-(e)r/INDIR ). In den direkten Kasus tritt im gewöhnlichen Fall (bei Stämmen, die Schwa-Suffixe zulassen) ein non-konsonantisches Schwa-Suffix auf, wie (102) zeigt. Das betreffende Suffix kennzeichnet Formen der direkten Kasus, ohne einen bestimmten Kasus festzulegen, und ist daher, wie in (103) angegeben, als DIR -Suffix zu charakterisieren (-(e)/DIR ). (103)

Kasusflexion des Deutschen (pronominale Flexion). ). Inventar der Flexive des Femininum Singular: -(e)/DIR , -(e)r/INDIR

Die Reduktion der flexivischen Markierung im Femininum betrifft auch die Substantive: Im Femininum Singular fehlt bei den Substantiven die Kasusdifferenzierung ganz. Im Polnischen werden bei den Feminina anders als im Deutschen die direkten Kasus im Singular gewöhnlich formal unterschieden. Bei den femininen Substantiven des Polnischen können aufgrund der lexikalisch gegebenen Grundformen vier Typen unterschieden werden. Gewöhnlich zeigen Feminina eine Grundform auf -a; der Stamm kann hart sein (wie in LAMPA ‚Lampe‘) oder weich (wie in ZIEMIA ‚Erde‘). Daneben existieren weichstämmige Feminina auf -i (wie GOSPODYNI ‚Hausherrin‘) sowie solche ); die Verteilung der Flexive zeigt Abmit endungsloser Grundform (wie NOC ‚Nacht‘); bildung 10. Im Nominativ sind die Grundformen, im Übrigen der Übersichtlichkeit halber wieder nur die Suffixe aufgeführt. (Beim Typ NOC erscheint die Grundform auch im Akkusativ.)

Abb. 10: Substantivparadigmen des Femininum Singular (Polnisch)  

Zur orthographischen Regelung bei Wortformen mit i-initialen Suffixen verweisen wir nochmals auf → C2.3, Bemerkungen zu (4).

C5 Kasus

1227

Im Unterschied zum Non-Femininum existieren in der femininen Substantivflexion spezifische Kasussuffixe für die direkten Kasus. Das Femininum fällt daher nicht in den Geltungsbereich der Akkusativ-Genitiv-Regel. Das Flexivinventar ist in (104) in entsprechender Weise wie für das Non-Femininum in (100) angegeben. (104)

Kasusflexion des Polnischen (substantivische Flexion): (i) Inventar der Flexive des Femininum Singular: V-ę/AKK , a-o/VOK , -i/INDIR , H -ʹe/LOK - DAT , -ą/INS (ii) Verweisregel: VOK → LOK (SG . F )

Das Akkusativsuffix -ę ist auf die in der Grundform vokalisch ausgehenden Substantive beschränkt. Diese Beschränkung ist in (104, i) durch das dem Flexivnamen vorangestellte Superskript notiert (V). Das Vokativsuffix -o ist auf die in der Grundform auf -a ausgehenden Substantive beschränkt. Diese Beschränkung ist in (104, i) wiederum durch ein dem Flexivnamen vorangestelltes Superskript notiert (a). Für Substantive, die aufgrund dieser Beschränkung keine spezifische Vokativform bilden, greift (wie im Non-Femininum) die Vokativ-Lokativ-Regel. Die Kasusmarkierungen im Bereich der indirekten Kasus ergeben sich wie oben beschrieben. Damit sind die in Abbildung 10 gezeigten Paradigmen vollständig ableitbar.

C5.4.7 Kasusflexive des Plurals (Polnisch, Deutsch) Die Kasusflexion im Plural zeigt in beiden Sprachen im Vergleich zum Non-Femininum Singular bestimmte Vereinfachungen im Bereich der direkten Kasus, jedoch nicht die weitergehende, für das Femininum Singular charakteristische Unterdifferenzierung der indirekten Kasus; vgl. (105). (105)

ORZEŁ , M

‚Adler‘

ADLER , M

VOK

INDIR

AKK L OK DAT GEN INS

orł-y orł-y orł-y orł-ach orł-om orł-ów orł-ami

DIR

NOM

PL

INDIR

DIR

PL NOM AKK

DAT GEN

dies-e Adler dies-e Adler

dies-en Adler-n dies-er Adler

Im Polnischen fehlt in den direkten Kasus des Plurals wie im Non-Femininum Singular eine Differenzierung durch besondere einzelkasusspezifische Flexive. Der Anwendungsbereich der Akkusativ-Genitiv-Regel ist auf Personalmaskulina (M P E R S ) be-

1228

C Nominalflexion

schränkt; vgl. etwa kelnerówA K K = G E N . P L von KELNER , M P E R S ‚Kellner‘, mit dem Suffix -ów. Andere Belebte wie ORZEŁ ‚Adler‘ fallen anders als im Singular nicht unter die Regel. Besondere (vom Nominativ unterschiedene) Vokativformen werden im Plural gewöhnlich (und so auch im Polnischen) nicht gebildet; die Vokativ-Lokativ-Regel findet somit keine Anwendung. Im Ergebnis zeigen Substantive wie ORZEŁ im Bereich der direkten Kasus keine Kasusdifferenzierung. Das hier auftretende Suffix kennzeichnet Formen der direkten Kasus, ohne einen bestimmten Kasus festzulegen, und ist daher als DIR -Suffix zu charakterisieren (-i/DIR ). Wie immer bei Flexiven auf i erscheinen zwei (allophonische) Varianten, in der Schreibung: 〈i〉 oder 〈y〉; vgl. ptaki, NOM / AKK / VOK von PTAK ‚Vogel‘ mit orły, NOM / AKK / VOK von ORZEŁ ‚Adler‘; ebenso buty zu BUT , M ‚Stiefel‘, banki (auf velaren Plosiv) zu BANK , M ‚Bank‘ und ferner radości zu RADOŚĆ , F ‚Freude‘, wiadomości zu WIADOMOŚĆ ‚Nachricht‘ usw. und myszy zu MYSZ , F ‚Maus‘.

Alle vier indirekten Kasus werden (wie im Singular der hartstämmigen Maskulina) durch besondere Suffixe ausgezeichnet; der Bestand der Pluralsuffixe, wie er bei hartstämmigen Maskulina impersonalia sichtbar wird, kann danach vorläufig wie in (106) bestimmt werden. (106)

Kasusflexion des Polnischen (substantivische Flexion). (i) Inventar der Flexive des Plurals: L OK , - om/DAT , -ów/GEN , -ami/INS -i/DIR , -ach/LOK (ii) Verweisregel: AKK → GEN (PL . M P E R S )

Varianten zum vorgestellten Pluralparadigma betreffen zum einen die mit DIR -Flexiven gebildeten Formen, die im NOM . SG und gegebenenfalls auch im Vokativ und im Akkusativ auftreten (→ C5.4.8), zum anderen die Formen des Genitivs (→ C5.4.9). Im Deutschen fehlt im Plural wie im Femininum Singular die Differenzierung der direkten Kasus, während Dativ und Genitiv wie im Non-Femininum Singular unterschieden werden. Das in den direkten Kasus auftretende Suffix unterscheidet sich nicht von dem entsprechenden Suffix des Femininum Singular (-(e)/DIR ) und kann mit diesem identifiziert werden. -(e)/DIR ist ein genus- und numerusunspezifisches Suffix, das in den direkten Kasus des markierten Systembereichs (F . SG und PL ) durchwegs auftritt. Besondere Beachtung verdient die Markierung der indirekten Kasus im Plural. Auch das im Genitiv auftretende Suffix unterscheidet sich nicht von dem entsprechenden Suffix des Femininum Singular, das als -(e)r/INDIR charakterisiert wurde, und kann (wie im Falle von -e/DIR ) mit diesem identifiziert werden. -(e)r/INDIR ist ein genus- und numerusunspezifisches Flexiv, das in den direkten Kasus immer dann auftritt, wenn kein spezifischeres Suffix zum Zuge kommt. Im Plural ist seine Verwendung auf den Genitiv beschränkt, da hier ein spezifisches DAT - Suffix zur Verfügung steht, nämlich das PL -spezifische Suffix -(e)n/DAT P L .

1229

C5 Kasus

Das DAT -Suffix des Plurals lautet wie das DAT -Suffix des Non-Femininum Singular auf Nasal. Im Althochdeutschen findet sich im DAT . PL auch noch m wie in dësēm, neben dësēn, und im, neben in (Braune 2004: 243, 250), das im Auslaut der Flexionsformen im 9. Jahrhundert zu n geschwächt wurde; vgl. auch ENG them (Objektivus des Plurals des Personalpronomen der 3. Person). Das INDIR -Suffix -(e)r geht auf drei lautgesetzlich zusammengefallene ‚r-Suffixe‘ zurück; vgl. AHD blint-era/-ero/-eru (ebd.: 220). Wir folgen Bierwisch (1967: 252) in der Annahme, dass synchron ein einziges Suffix angenommen werden kann.  



In den indirekten Kasus des Plurals stehen sich danach Dativformen mit einem spezifischen DAT -Flexiv und solche mit einem unspezifischen INDIR -Flexiv gegenüber, die als Genitivformen fungieren. Mit dieser Besonderheit geht zum einen einher, dass in diesem Bereich der Dativ (auf n) gegenüber dem Genitiv (auf r) die markantere Form zeigt. Zum anderen wird wie im Non-Femininum Singular im Plural von den Suffixen der indirekten Kasus wiederum das markantere und zugleich spezifischere Suffix (und nur dieses) auch bei Substantiven verwendet. Während es im Non-Femininum Singular NPs sind, die im Genitiv stehen, die ‚doppelte Kasusmarkierung‘ aufweisen (wie in dies-es Haus-es), erhalten im Plural nur NPs, die im Dativ stehen, eine solche ‚doppelte Kasusmarkierung‘ (wie in dies-en Häuser-n). Im Ergebnis kann das Teilinventar der Kasusflexive, die in den höhermarkierten Systembereichen Femininum und Plural Anwendung finden, wie in (107) aufgestellt werden. (107)

Kasusflexion des Deutschen. Inventar der Flexive des markierten Systembereichs (PL , F . SG ): -(e)/DIR , -(e)r/INDIR , -(e)n/DAT P L , davon auch am Substantiv verwendet: -(e)n/DAT P L

C5.4.8 Paradigmen des Plurals (Polnisch) Wie in vielen anderen indoeuropäischen Sprachen existiert ein besonderes Flexiv für die Pluralformen der Neutra (-a// DIR N ); vgl. pola, NOM / VOK / AKK . PL von ‚Feld‘.

DIR POLE

Bezüglich des Flexivs -a vergleiche auch Pluraliatantum auf -a wie WROTA ‚Tor‘ oder entsprechende Fremdwörter wie REALIA ‚Realien‘. Nur irreguläre Neutra nehmen die Endung nicht; vgl. OKO ‚Auge‘, NOM . PL : oczy; UCHO ‚Ohr‘, NOM . PL : uszy, die Relikte der untergegangenen Dualbildung zeigen. Auch einige wenige irreguläre Maskulina nehmen -a, z. B. BRAT ‚Bruder‘, NOM . PL : bracia (Swan 2002: 80).  

Bei den Maskulina treten im Plural in verschiedenen Subklassen unterschiedliche DIR Suffixe auf. Bei den Maskulina honorifikativa (M H O N ) (→ C2.7.3), einer Subklasse der Personalmaskulina, wird das DIR - Suffix -owie verwendet; vgl. królowie, NOM / VOK .PL von KRÓL ‚König‘. Wie immer bei Personalmaskulina im Plural erscheint im Akkusativ

1230

C Nominalflexion

die Genitivform (królów). Bei sonstigen hartstämmigen Personalmaskulina wird die DIR -Form mit dem Suffix -′i gebildet. Wie das Prime-Zeichen im Namen des Flexivs anzeigt, geht die Suffigierung mit Erweichung des stammfinalen Konsonanten einher; ͡ vgl. studenci, NOM / VOK .PL von STUDENT ‚Student‘ mit t→c-Wechsel (/t/→/tɕ/-Wechsel) oder kelnerzy, NOM / VOK .PL von KELNER ‚Kellner‘ mit r→rz-Wechsel (/r/→/ʒ/-Wechsel). Das Suffix erscheint wie gewöhnlich als 〈i〉 oder 〈y〉. Zu den auftretenden Konsonantenwechseln siehe → C5.4.3 (97). Hier greifen alle angegebenen Wechsel, jedoch werden die Stämme auf velaren Frikativ (/x/, 〈ch〉) wie diejenigen auf dentalen Frikativ behandelt (so dass gegebenenfalls Wechsel zu /ɕ/ 〈ś/si〉 eintritt wie in Czesi, NOM . PL zu CZECH ‚Tscheche‘) (Swan 2002: 25). Adjektive zeigen ebenfalls den Wechsel vor -i im NOM . PL des Personalmaskulinums, dehnen aber den ‚Wechsel zu /ɕ/‘ auch auf Stämme auf alveolaren Frikativ (/ʃ/) aus (hier gilt also: /s/, /ʃ/, /x/ → /ɕ/). Diese Erweiterung betrifft insbesondere Komparative; vgl. młodsi, NOM . PL . MPERS , zum Komparativ auf -sz zu MŁODY ‚jung‘ (mit sz→ś-Wechsel). Vgl. auch piesi, NOM . PL . MPERS , zu PIESZY ‚Fußgänger‘, mit adjektivischer Flexion (Swan 2002: 128). Einen isolierten Fall stellt der Wechsel in duzi, NOM . PL . MPERS , zu DUŻY ‚groß‘ dar (ebd.). Zu beachten ist, dass bei Adjektiven die NOM . PL -Formen auf -i von allen Stämmen gebildet werden können, auch von solchen, die keinen Konsonantenwechsel zulassen, z. B. gorący, NOM . PL . MPERS zu GORĄCY ‚heiß‘.  

Die Personalmaskulina unterscheiden sich somit im Plural im Polnischen nicht nur durch die Wirkung der Akkusativ-Genitiv-Regel, sondern zusätzlich durch eine besondere Bildung der DIR -Form des Plurals; vgl. dazu auch Abschnitt → C2.7.2. Alle verbleibenden Substantive zeigen das allgemeine DIR -Suffix des Plurals, das in zwei Varianten auftritt. Hartstämmige zeigen wie beschrieben -i. Weichstämmige Substantive zeigen -e anstelle von -i; vgl. hotele zu HOTEL ‚Hotel‘, konie zu KOŃ , M ‚Pferd‘, ziemie zu ZIEMIA , F ‚Erde‘, cele zu CEL ‚Ziel‘. Wir notieren diese stammabhängige Variation mit einer Tilde: -i~e/DIR . Wie gewöhnlich existieren verschiedene Ausnahmegruppen, darunter eine Klasse von in der Grundform endungslosen weichstämmigen Feminina, insbesondere solche auf -(o)ść wie TRUDNOŚĆ ‚Schwierigkeit‘, die gegen die Regel -i nehmen; vgl. myszy, NOM / VOK / AKK .PL von M MYSZ YS Z ‚Maus‘, mit dem Suffix -i, das hier als 〈y〉 erscheint. Einige Personenbezeichnungen (Völkernamen u. ä.) weisen im Singular ein Suffix (Singulativsuffix) -in auf, das im Plural entfällt, und bilden den Nominativ Plural auf -ʹe; vgl. Rosjanie, NOM . PL zu ROSJANIN ‚Russe‘; vgl. auch Cyganie, NOM . PL zu CYGAN ‚Zigeuner‘, mit Nominativ Plural auf -ʹe, ohne Singulativsuffix (Swan 2002: 80, 98).  

Eine äußerst detaillierte Analyse der NOM . PL -Formen der Maskulina bietet Dunaj (1993).

Insgesamt zeigen die DIR -Formen des Plurals der Substantive gegenüber allen anderen Kasusformen eine sonst nicht vorliegende Variation nach (im Grundsatz) semantisch bestimmten Subklassen der Maskulina; vgl. auch → C2.7. Das in (106) angegebene Inventar der PL -Suffixe ist danach um die in (108) aufgeführten genusspezifischen DIR . PL -Suffixe zu ergänzen.

C5 Kasus

(108)

1231

Kasusflexion des Polnischen (substantivische Flexion). DIR -Flexive des PLURAL PL URAL :

-i~e/DIR , H -ʹi/DIR M P E R S , -owie/DIR M H O N , -a/DIR N Eine repräsentative Auswahl von Suffixsätzen regulärer PL -Paradigmen zeigt Abbildung 11. Nach den gegebenen Bestimmungen der Flexive und ihrer Anwendungsbedingungen sind die Paradigmen, ausgenommen die GEN .PL -Formen, ableitbar (zu den GEN .PL -Formen siehe → C5.4.9).  

‚General‘, STUDENT ‚Student‘, SWETER ‚Pullover‘, MYSZ M YS Z ‚Maus‘, LAMPA ‚Lampe‘, PLAC ‚Platz‘, ‚Nacht‘, ZIEMIA ‚Erde‘, MUZEUM ‚Museum‘, POPOŁUDNIE ‚Nachmittag‘, BIURO ‚Büro‘

GENERAŁ NOC

Abb. 11: Pluralparadigmen der Substantive (Polnisch)  

(Zur graphischen Verdeutlichung der weitgehenden formalen Übereinstimmungen der Paradigmen sind die Kasus in Abbildung 11 in der Horizontalen angeordnet.) Die Tabelle macht wiederum anschaulich, wie sich im heutigen Polnischen die Vielfalt der Substantivparadigmen aus kleineren, ‚lokalen‘ Variationen eines paradigmenübergreifenden Grundmusters ergibt, das durch das Flexivinventar in (106) vorgegeben ist.

1232

C Nominalflexion

C5.4.9 Genitiv-Plural-Formen (Polnisch) Die Bildung der Genitiv-Plural-Formen der Substantive gilt als der prekärste Bereich der Kasusformenbildung des Polnischen und verdient besondere Betrachtung. Die folgende Analyse wirft ein Schlaglicht auf die Komplikationen der Kasusflexion, die in einer Sprache mit fusionierender Morphologie möglich sind – selbst im Polnischen, wo die in älteren indoeuropäischen Sprachen zu unterscheidenden Deklinationsklassen weitgehend zu einem einheitlichem Modell der Substantivflexion verschmolzen sind, wie im Vorhergehenden gezeigt wurde. Im Genitiv Plural treten die Endungen -ów und -i (〈i〉 oder 〈y〉) auf; wie in anderen slawischen Sprachen finden sich aber als Folge früher phonologischer Verluste vielfach endungslose Formen, eine Auffälligkeit, die natürlicherweise besonders in Paradigmen zu ausgleichenden Reaktionen („Reparaturen“) geführt hat, in denen auch die Grundform endungslos war. Indem aus anderen Paradigmen dort vorhandene Genitiv-Plural-- Flexive übernommen wurden, konnte sich eine Konstellation herausbilden, wie sie im heutigen Russischen belegt ist, bei der der Genitiv Plural in der Regel genau dann endungslos bleibt, wenn nicht Zusammenfall mit der (gegebenenfalls endungslosen) Grundform droht (Jakobson 1939). Auch im Polnischen stellt das Stehen oder Fehlen einer Endung in der Grundform neben dem Genus einen Steuerungsfaktor für die Verteilung konkurrierender Endungen dar; das Genus hat hier jedoch Vorrang: Maskulina der ‚gemischten‘ Deklination wie KOLEGA ‚Kollege‘ nehmen trotz ihrer Grundformendung -a die Genitiv-Plural-Endung -ów an. Mit der Bindung dieser Endung an das Maskulinum nimmt das Gegenwartspolnische eine mittlere Position ein, verglichen etwa mit dem Russischen einerseits, wo Maskulina mit vokalischen Grundformendungen wie КОЛЛЕГА ‚Kollege‘ im Genitiv Plural endungslos bleiben, und dem Sorbischen andererseits, wo die GEN . PL -Endung -ow regelmäßig auch im Neutrum und Femininum auftritt (Faßke 1981: 496). Neben dem Genus (M , N , F ) und dem Grundformtyp (Vorliegen oder NichtVorliegen einer Grundform mit vokalischem Ausgang) bildet die Stammklasse (H , W , hartstämmig bzw. weichstämmig) einen dritten Faktor, der für die Verteilung der drei Typen von Genitiv-Plural-Formen (auf -ów, auf -i, endungslos) wesentlich ist. Abbildung 12 veranschaulicht die Zusammenhänge (vgl. Schenker 1964: 59).

C5 Kasus

1233

Abb. 12: Verteilung der Genitiv-Plural-Bildungen gemäß Genus, Stammklasse und Grundformtyp (Polnisch)  

Beispiele. Genitivformen nach Orzechowska (1999), in Klammern Seitenzahlen der Paradigmen. MĘŻCZYZNA , M ‚Mann‘ (292): mężczyzn; ROSJANIN , M ‚Russe‘ (289): Rosjan; AFRYKANIN , M ‚Afrikaner‘ ): kolegów; STUDENT , M ‚Student‘ (285): ): studentów; (290): Afrykanów; KOLEGA , M ‚Kollege‘ (292): MUZEUM , N ‚Museum‘ (317): muzeów; RAMIĘ , N ‚Schulter‘ (316): ): ramion; ŁĄKA , F ‚Wiese‘: łąk; LATO , N ‚Sommer‘ (115): ): lat; WÓZNICA , M ‚Kutscher‘: wózniców; DOŻA , M ‚Doge‘: dożów; KUC , M ‚Pony‘ (304): kuców; PAŹ , M ‚Page‘ (289): paziów; SŁOŃ , M ‚Elefant‘ (303): słoni; SIEŃ , F ,Hausflur‘ (278): sieni; LEKCJA , F ‚Lektion‘ (276): ): lekcji; NARZĘDZIE , N ‚Werkzeug‘ (315): narzędzi; PRACA , F ‚Arbeit‘ (276): ): prac; GOSPODYNI , F ‚Wirtin‘ (55): gospodyń; POLE , N ‚Feld‘ (315): pól.

Die durchgezogenen Kästchen in der Abbildung geben die tatsächlichen Anwendungsbereiche der beiden GEN . PL -Flexive an; der Restbereich ist der Bereich des suffixlosen Typs (in der Abbildung durch ‚-#‘ gekennzeichnet). Zur Verdeutlichung sind entsprechende Beispiellexeme genannt. Die gestrichelten Linien verweisen auf Abweichungen von den anzunehmenden unmarkierten oder regulären Verteilungen. Die regulären Verteilungen können zunächst durch Angabe der relevanten Anwendungsbedingungen wie in (109) charakterisiert werden. Zusätzlich sind Sondergruppen zu spezifizieren, denen durch lexikalische Markierung oder durch Subregularitäten Rechnung getragen werden muss. (109)

Verteilung der Genitiv-Plural-Bildungen der Substantive im Polnischen. (i) -i/GEN . PL , bei weichstämmigen Substantiven mit endungsloser Grundform, (ii) sonst: - ów/GEN . PL , bei Maskulina, (iii) sonst: keine Suffigierung.

1234

C Nominalflexion

Das Flexiv -i/GEN G EN . PL hat gemäß (109, i) seinen regulären Anwendungsbereich genusübergreifend bei weichstämmigen Substantiven mit endungsloser Grundform wie SŁOŃ , M ‚Elefant‘, SIEŃ , F ‚Hausflur‘; Neutra, die die Anwendungsbedingung erfüllen würden, existieren nicht. Soweit das Flexiv -i/GEN . PL nicht zum Zuge kommt, nehmen G EN . PL . Dies gilt für gewöhnliche Maskulina gemäß (ii) regelmäßig das Flexiv - ów/GEN hartstämmige Maskulina wie STUDENT mit suffixloser Grundform und ebenso für Maskulina mit vokalisch auslautender Grundform wie KOLEGA , WÓZNICA oder DOŻA . In G EN . PL -Form suffixlos. den verbleibenden Fällen bleibt gemäß (iii) die GEN Als Neutra mit endungsloser Grundform können die Lexeme der Typen RAMIĘ ‚Schulter‘ und ZWIERZĘ ‚Tier‘ analysiert werden (Swan 2002: 112 f.), die besondere Stammwechsel aufweisen. Die Pluralstammformen zeigen harten Ausgang (ramion-, zwierzęt-), so dass die endungslose Bildung der GEN . PL -Formen regelkonform ist (ramion; zwierząt, mit Vokalwechsel). Der Stammwechsel verhindert gleichzeitig einen Zusammenfall mit der Grundform.  

Einige Grammatiken nehmen eine Endung -ę an (z. B. Feldstein/Franks 2002: 54). Zur Frage der Endungslosigkeit des NOM . SG vergleiche auch die Literatur zum russ. VREMJA -Typ (siehe Corbett 1982).  

Die Anwendungsbereiche der drei Typen sind jedoch nicht scharf abgegrenzt. Zum einen greift -ów auf das Gebiet von -i über; zum anderen greifen beide Suffixe in den Bereich der suffixlosen Konstruktion über. Als Sondergruppen, die Abweichungen von der in (109) angegebene Regularität zeigen, sind zu nennen: (i) weichstämmige Feminina und Neutra mit vokalischer Grundform, die gegen NARZ ĘDZIE ‚Werkdie Regel das Flexiv -i/GEN . PL nehmen, darunter LEKCJA ‚Lektion‘, F ; NARZĘDZIE zeug‘, N . EN . PL nehmen. Darunter fallen (ii) Lexeme, die gegen die Regel das Flexiv -ów// GGEN ein Teil der in der Grundform endungslosen weichen Maskulina; dies gilt durchgängig für solche mit Stämmen auf c wie KUC ‚Pony‘ und für solche, die im NOM . PL das Suffix EN . PL : paziów) (vgl. Swan 2002: -owie haben (etwa PAŹ ‚Page‘, M , NOM . PL : paziowie, GGEN STUDIO UDIO ; und schließlich 75); ferner im Singular unflektierte fremde Neutra wie MUZEUM , ST belebte Augmentativa auf -isko (Swan 2002: 113). (iii) Hartstämmige Maskulina nehmen gemäß (109) -ów. Ausnahmen existieren nur in sehr beschränktem Umfang (siehe im einzelnen Swan 2002: 80, 98, 113), aber ein lexikalisch auszuzeichnender Teilbestand der Maskulina auf -anin wie ROSJANIN , bleibt im Genitiv Plural endungslos (Rosjan). Wegen des Abfalls des Singulativsuffixes -in- im Plural kommt es dennoch nicht zu einem Zusammenfall mit der Grundform. Andere nehmen das Suffix, z. B. AFRYKANIN (GEN . PL : Afrykanów). Einen Einzelfall bildet MĘŻCZYNA ‚Mann‘ (GEN . PL : mężczyn) mit vokalisch auslautender Grundform.  

Wo von den angegebenen regulären Bildungsmustern abgewichen wird, also bei den Lexemen der Sondergruppen, liegt im Allgemeinen Ersatz weniger markanter Bil-

1235

C5 Kasus

dungsweisen durch markantere vor; vgl. dazu die entsprechende Erscheinung in der deutschen Pluralbildung (→ C4.2.5). Wo (im Femininum und Neutrum) endungslose Bildung das Erwartete wäre, können im markierten Fall suffigierte Formen auftreten (insbesondere mit -i bei weichstämmigen, aber auch -ów bei hartstämmigen). Soweit die beiden Endungen konkurrieren, also im Maskulinum, kann im markierten Fall die markantere (biphonemische/konsonantische) und zudem kasuseindeutige Endung -ów eintreten, wo die weniger markante (monophonemische/non-konsonantische) und im Übrigen nicht eindeutige Endung -i (die auch in den direkten Kasus auftreten kann) das Erwartete wäre; Schwankungen bei ein und demselben Lexem sind dabei vielfach belegt. Umgekehrte Abweichungen (Maskulina mit endungslosem Genitiv Plural oder Maskulina mit Genitiv Plural auf -i trotz vokalischer Grundform) treten nur vereinzelt und teils nur als optionale Varianten auf. Zu Fällen mit endungslosem Genitiv Plural entsprechend dem femininen Muster bei maskuliner Verwendung von Epicoena und verschiedenen lexikalischen Idiosynkrasien (u. a. bei KALEKA ‚Krüppel‘, SIEROTA ‚Waise‘, SŁUGA ‚Diener‘) siehe Swan (2002: 83 f.).  



C5.4.10 Synopse der Kasusflexion (Polnisch, Deutsch) Eine paradigmenübergreifende Betrachtung der Flexive und ihrer Funktionen, wie sie im Vorhergehenden angewandt worden ist, bietet die Möglichkeit, Gleichheiten und Verschiedenheiten in der Flexion verschiedener Wortklassen adäquat zu erfassen. Die pronominale Flexion (eingeschlossen die Adjektivflexion) folgt im Polnischen (mit deutlichen Vereinfachungen) grundsätzlich den gleichen Mustern wie die Substantivflexion. Natürlich stellen aber Genera hier Formenkategorien dar. Den Bau der pronominalen Flexion des Deutschen und des Polnischen zeigen die Paradigmen des Personalpronomens der 3. Person; → C5.2.2.1 (80) bzw. (82). Paradigmen mit der gleichen Grundstruktur, aber ohne die speziellen Komplikationen der Personalpronomina bieten die Paradigmen der Demonstrativa, DEU DIESER und POL TEN ‚dieser‘ in (81) und (83). Den Gesamtbestand der Kasusflexive der direkten Kasus im Polnischen und Deutschen zeigt Abbildung 13.  

1236

C Nominalflexion

Abb. 13: Synopse der Kasusflexive der direkten Kasus (Polnisch, Deutsch)  

In Abbildung 13 stehen ‚-o~e‘ und ‚-i~e‘ für Suffixe mit stammklassengesteuerten Varianten (hart~weich). Zu beachten ist die Wirkung der Verweisregeln. Für die substantivische und die pronominale Flexion gilt die Akkusativ-Genitiv-Regel (im Singular bei Maskulina animata, im Plural bei Maskulina personalia). Zudem gilt für die substantivische, aber nicht für die pronominale Flexion die Vokativ-Lokativ-- Regel (im Maskulinum und Femininum,, anwendbar, wenn keine besondere Vokativform vorhanden ist).

Abbildung 13 zeigt im Überblick die Gleichheiten und Differenzen im Flexivbestand der direkten Kasus zwischen substantivischer und pronominaler (bzw. adjektivischer) Flexion im Polnischen und stellt die entsprechenden Flexive des Deutschen daneben. Im Polnischen zeigen die DIR -Formen des Non-Femininum Singular bei den Adjektiven, wie dargestellt, ein besonderes Flexiv (-i/DIR ), bei den Pronomina teilweise abweichende Formen (z. B. ten, DIR .SG . M -Form des Demonstrativums TEN ‚dieser‘). Die DIR N -Formen lauten auf -e (wie bei weichstämmigen Substantiven). Bei den Adjektiven ist durchgehend der weiche Typus verallgemeinert. Bei den DIR - Formen des Plurals sind die besonderen Formenbildungen für N und M H O N auf Substantive beschränkt. Im Übrigen ist die Verteilung der Flexive in der pronominalen Flexion leicht vereinfacht. Bei den Formen des Personalmaskulinums steht -i (soweit möglich mit Stammerweichung), sonst -e, wiederum bei Verallgemeinerung des weichen Typus. Besondere Vokativformen werden in der pronominalen Flexion grundsätzlich nicht gebildet; dies gilt auch für das Femininum Singular. Die DIR - Form im Femininum Singular wird in der pronominalen Flexion mit dem genustypischen Suffix -a gebildet.  



C5 Kasus

1237

Während in traditionellen Darstellungen der polnischen Nominalflexion, die Paradigmentafeln verwenden, das Verhältnis von substantivischer und pronominaler Flexion eher undurchsichtig bleibt, wird bei flexivorientierter Darstellung (wie in Abbildung 13) deutlicher sichtbar, dass die pronominale Formenbildung der direkten Kasus im Ganzen genommen – bei wenigen Besonderheiten – eine vereinfachte Version der substantivischen Flexion darstellt. In der pronominalen Flexion des Deutschen entspricht die Formendifferenzierung in den Grundzügen derjenigen der pronominalen Flexion im Polnischen. NOM - AKK Differenzierung erfolgt im Maskulinum, nicht im Neutrum. Die Sprachen unterscheiden sich hier nur durch das Fehlen der NOM - AKK -Differenzierung bei den Maskulina inanimata im Polnischen. Im Femininum und im Plural ist dagegen im Deutschen, wie besprochen, die Formendifferenzierung im Vergleich zum Polnischen reduziert. Substantive bleiben im Deutschen in den direkten Kasus grundsätzlich ohne Kasusmarkierungen. Den Gesamtbestand der Kasusflexive der indirekten Kasus im Polnischen und Deutschen zeigt Abbildung 14. Die Flexive der pronominalen Flexion des Deutschen, die auch an Substantive treten, sind in der Abbildung unterstrichen.

Abb. 14: Synopse der Kasusflexive der indirekten Kasus (Polnisch, Deutsch)  

1238

C Nominalflexion

Wir vergleichen wiederum den Flexivbestand in der pronominalen Flexion im Polnischen mit dem der im Vorhergehenden beschriebenen substantivischen Flexion. Nur in den indirekten Kasus des unmarkierten Systembereichs (Non-Femininum Singular) zeigen die Formen der pronominalen Flexion Suffixe, die sich formal deutlich von denen der substantivischen Flexion unterscheiden, nämlich -emu// DAT und -ego/GEN . Die Formen der verbleibenden Kasus fallen in der pronominalen Flexion zusammen (Lokativ und Instrumental mit dem Flexiv -im/INDIR ). Formal ähnelt das hier auftretende Suffix dem Instrumentalsuffix der Substantive des NonFemininums (-em); vgl. Kuraszkiewicz (1981: 110) zur Diachronie. Im Femininum Singular fehlt im Vergleich zur substantivischen Flexion gemäß der durchgehenden Verallgemeinerung des weichstämmigen Flexionsmuster das Flexiv H -ʹe, das nur an harte Stämme tritt. Die Bildung der Instrumentalformen stimmt überein; die unspezifischen INDIR - Suffixe zeigen eine Variation in der Lautform (-i vs. -ej), die aber regionalsprachlich verwischt sein kann (Swan 2002: 126). Im Plural treten in den indirekten Kasus der pronominalen Flexion Flexive auf, die formal (bis auf den Initialvokal) mit Flexiven der substantivischen Flexion übereinstimmen, nur unterbleibt hier die Auszeichnung besonderer Genitivformen. Sie fallen mit den Lokativformen zusammen (-ich/INDIR ). Da das Lokativsuffix -ach der substantivischen Flexion (bis auf den Vokal) mit dem Lokativ-/Instrumentalsuffix -ich der pronominalen Flexion zusammenfällt, könnte auch (für beide Suffixe gleichermaßen) eine Charakterisierung als INDIR -Suffix erwogen werden. Insgesamt zeigt sich wieder die im Vergleich zur substantivischen Flexion vereinfachte Struktur der pronominalen Flexion des Polnischen; markante formale Besonderheiten in der pronominalen Flexion sind auf den Singular des Non-Femininums beschränkt. Die (im Vergleich zur pronominalen Flexion) größere Zahl von Flexiven der substantivischen Flexion bringt es mit sich, dass Substantivparadigmen gebildet werden können, die eine je verschiedene Auswahl von Flexiven aus dem Gesamtinventar einschließen, während die pronominale Flexion – bei minimalen Variationen – keine Flexionsklassen unterscheidet. Das Muster der Formendifferenzierung in der pronominalen Flexion des Deutschen ähnelt dem des Polnischen, soweit die entsprechenden Kasus vorhanden sind (Dativ und Genitiv). Wie im Polnischen werden im Non-Femininum Singular Dativ G EN -Unterund Genitiv deutlich markiert, während im Femininum Singular keine DAT - GEN scheidung gemacht wird. Das dort auftretende unspezifische INDIR -Flexiv wird, wie besprochen, auch im Plural verwendet, aber dort auf den Genitiv beschränkt, da der G EN - speziDativ besonders markiert wird (-(e)n/DAT P L ). Wie im Polnischen ist ein GEN fisches Suffix für Pluralformen der pronominalen Flexion nicht vorhanden. In beiden Sprachen gibt es in der pronominalen Flexion spezialisierte Genitivsuffixe nur im Non-Femininum Singular, nicht aber im Femininum oder im Plural. In den indirekten Kasus weisen, wie dargestellt wurde, im Deutschen auch die Substantive (obligatorische) Kasusflexive auf, nämlich im Genitiv Singular Non-Femininum und im Dativ Plural, und nur dort.

C5 Kasus





1239

Mit Blick auf die Systeme im Ganzen lässt sich feststellen: Die pronominale Flexion im Polnischen unterscheidet sich von der substantivischen Flexion durch Vereinfachungen der Flexivverteilung und Reduktionen bei der Kasusdifferenzierung. Die Kasusdifferenzierung in der pronominalen Flexion im Deutschen entspricht (für die in beiden Sprachen vorhandenen Kasus) im Grundsatz derjenigen im Polnischen; die Unterschiede betreffen die Reichweite der NOM - AKK -Differenzierung.

C5.5 Substantivparadigmen (Deutsch) C5.5.1 Vorbemerkung In älteren indoeuropäischen Sprachen folgt die Substantivflexion (anders als in agglutinierenden Sprachen wie dem Ungarischen) nicht einem einzigen für alle Substantive einheitlichen Markierungssystem; vielmehr konkurrieren verschiedene Muster (Deklinationen), die unterschiedliche Flexivsätze umfassen. Im Polnischen ergibt sich die Vielfalt der Paradigmentypen vorrangig durch eine je unterschiedliche Auswahl der in einem Paradigma verwendeten Kasusflexive aus den drei allgemeinen Flexivinventaren, die für die Hauptbereiche der polnischen Nominalflexion (NONF . SG , F . SG und PL ) konstitutiv sind; siehe → C5.4. Eine entsprechende auf unterschiedlichen Kasusmarkierungen basierende Vielfalt von Paradigmentypen für Substantive ist im Gegenwartsdeutschen nicht mehr gegeben. Da in der produktiven Substantivflexion nur zwei Kasusflexive verwendet werden, ist die Unterscheidung verschiedener Paradigmentypen, die auf einer unterschiedlichen Auswahl aus diesem minimalen Inventar von Flexiven (und gegebenenfalls Flexivvarianten) entstehen kann, notwendigerweise äußerst beschränkt. Die auch im Deutschen gegebene tatsächliche Vielfalt von Paradigmentypen ergibt sich erst im Zusammenspiel mit den Numerusflexiven (→ C5.5.5).

C5.5.2 (Nicht-)Verwendung von Kasusflexiven Nicht-Verwendung von Flexiven, die nach ihren Spezifikationen grundsätzlich anwendbar wären, findet sich übereinzelsprachlich typischerweise bei (nicht-integrierten) Fremdwörtern, die häufig als Indeklinabilia behandelt werden oder bei denen in einem Teilparadigma die Flexion fehlen kann. Im Polnischen bleiben Fremdwörter im Neutrum (selbst solche mit dem typischen Grundformausgang o) häufig unflektiert (Swan 2002 118, 120); vgl. AWOKADO ‚Avocado‘, DŻUDO ‚Judo‘ oder BIKINI ‚Bikini‘. Neutra auf -um wie CENTRUM ‚Zentrum‘ bleiben nur im Singular unflektiert. Andere, PALT O ‚Wintermantel‘ (vgl. FRA PALETOT PAL ETOT ‚Paletot‘) stärker integrierte wie AUTO ‚Auto‘, PALTO

1240

C Nominalflexion

haben die reguläre Flexion angenommen. Im Russischen bleibt пальто (PAL ’ TO ) ‚Mantel‘ unflektiert; vgl. auch RUS кенгурý (KENGURU ) ‚Känguru‘ u. a. Allgemeiner ist mit der Nicht-Verwendung von anwendbaren Flexiven (‚Unterlassung der Flexion‘) zu rechnen, wenn die betreffenden Lexeme innerhalb ihrer Wortart oder Klasse aus dem einen oder anderen Grund eine periphere Position einnehmen. Beispiele aus der Adjektivflexion liefern Farbwörter in verschiedenen Sprachen wie POL BEŻ ‚beige‘ oder BORDO ‚bordeauxrot‘ oder FRA BLEU ‚blau‘; vgl. auch GRI μπλε (ble) ‚blau‘. Auch im Deutschen bleiben viele fremde Farbadjektive wie BEIGE oder ORANGE ORANG E , darunter typischerweise solche, die auf Substantive zurückgehen, (nach der Norm der Standardsprache) unflektiert; umgangssprachlich kann Anpassung an die reguläre Flexion erfolgen (Duden-Grammatik 2009: 344). Beispiele für sonstige invariable Adjektive liefern POL FAIR ‚fair‘ und DEU SEXY . In der Substantivflexion sind typischerweise Lexeme betroffen, die aus dem einen oder anderen Grund nicht die für Substantive charakteristischen Eigenschaften typischer Appellativa haben. Außer durch fehlende Flexion können sich entsprechende Subklassen von Lexemen auch durch die Verwendung besonderer Ausweichformen oder, bei Fremdwörtern, durch Bewahrung fremder Flexionsformen auszeichnen. BeiAUT O , PL : Autos) spiele liefert die Pluralbildung des Deutschen mit dem s-Plural (vgl. AUTO und mit fremden Pluralsuffixen (vgl. VISUM , PL : Visa). Positionierung an der Peripherie einer Wortklasse ist auch für Fälle von Nicht-Verwendung der Kasusflexive der Substantive wesentlich. Das an Substantiven auftretende Dativflexiv -(e)n ist auf den Plural beschränkt und genusunspezifisch. Paradigmentypen können danach unterschieden werden, ob (i) das Flexiv verwendet wird oder (ii) nicht verwendet wird. Im ersteren Fall kann weiter danach unterschieden werden, ob (ia) die Anwendung overt markierte Flexionsformen liefert oder ob (ib) die Anwendung leerläuft. Welche der drei Optionen im Einzelfall zum Zuge kommt, ergibt sich aus der Form der Pluralgrundform des betreffenden Substantivs. Als Regel kann formuliert werden: Lexeme, die bereits durch ihre Pluralbildung als periphere Elemente der Klasse Substantiv ausgewiesen sind, unterliegen im Deutschen im Plural nicht der Kasusflexion; sie nehmen das DAT . PL -Suffix grundsätzlich nicht an (Typ (ii)). Dies betrifft Substantive mit s-Plural wie AUTO ( PL : Autos) und solche mit fremden Pluralsuffixen wie VISUM (PL : Visa). Substantive dieser Typen zeigen im Plural in allen Kasus die Pluralgrundform. Substantive, die ihre Pluralgrundform mit einem Schwa-Suffix bilden, nehmen dagegen das DAT . PL -Suffix grundsätzlich immer an; wie gewöhnlich kann die Suffigierung unter bestimmten Bedingungen leerlaufen (vgl. Neef 1998a). Beispiele für entsprechende Lexeme mit ihren Pluralgrundformen sowie ihren DAT . PL -Formen bietet (110).  

(110) a. b. c.

HUND :

HundS G , HundeP L , HundenD A T . P L VogelS G , VögelP L , VögelnD A T . P L HAUS : HausS G , HäuserP L , HäusernD A T . P L VOGEL :

C5 Kasus

d. e. f.

1241

KOFFER :

KofferS G , KofferP L , KoffernD A T . P L FrauS G , FrauenP L , FrauenD A T . P L BESEN : BesenS G , BesenP L , BesenD A T . P L

FRAU :

Die Beispiele in (110a, b, c, d) stehen für Typ (ia) (mit overter Kasusmarkierung im DAT . PL ) bei verschiedenen Pluralbildungen. Dabei zeigt (110d) ein Substantiv mit leerlaufender Pluralbildung (also mit einer Pluralgrundform, die sich nach ihrer Ausdrucksform nicht von der Singulargrundform unterscheidet). Das Leerlaufen der PL -Markierung ergibt sich aus der Schwa-Regel für die Substantivsuffigierung, die in → C4.2.5.1 (58) gegeben wurde. Die Erscheinung des Leerlaufens der PL -Markierung ist Teil der regulären Pluralbildung im Deutschen und kein Hinweis auf einen peripheren Status der betreffenden Lexeme. Die Schwa-Regel für die Substantivsuffigierung ist auch dafür verantwortlich, dass das DAT . PL -Suffix bei Substantiven immer die schwalose Variante -n aufweist. Da Pluralgrundformen, wenn keine markierte Pluralbildung (s-PL oder fremder Plural) vorliegt, regelmäßig auf eine Schwa-Silbe ausgehen, gibt es hierzu keine Ausnahmen. Das durchgehende Auftreten der schwalosen Variante folgt aus den Regularitäten der Substantivflexion, und es besteht kein Anlass dem DAT . PL Suffix hier einen besonderen Status (als inhärent vokalloses Suffix) einzuräumen. (Eine solche Annahme verbietet sich ohnehin, wenn man das an Substantiven auftretende DAT . PL - Suffix mit dem entsprechenden Suffix der pronominalen Flexion identifiziert.) Die Beispiele in (110e, f) stehen für Typ (ib) (mit leerlaufender Kasusmarkierung im DAT . PL ) bei verschiedenen Pluralbildungen. In (110e) liegt -(e)n-PL und daher eine auf en ausgehende Pluralgrundform vor. Nach der Schwa-Regel könnte das DAT . PL Suffix nur in schwaloser Variante (-n) antreten. Das Ergebnis wäre eine phonotaktisch nicht wohlgeformte Form (mit Ausgang auf Geminate), und daher ist die Suffigierung blockiert und läuft leer; alternativ wird Geminatenreduktion angenommen (Bech 1963: 184). Die DAT . PL -Formen bei Substantiven mit -(e)n-PL unterscheiden sich notwendigerweise nicht von der Pluralgrundform. Dasselbe gilt für Substantive, die bereits in der allgemeinen Grundform auf en ausgehen (und daher auch in der Pluralgrundform, bei leerlaufender PL -Markierung); vgl. (110f). Nach Schwa-Ausfall in der Position nach Schwa-Silbe ist der Suffixkonsonant (n) mit dem Endkonsonanten des Stamms verschmolzen (Paul 1917: 7); vgl. MHD wagenD A T . P L aus wagenen (Paul 1916: 232).  

Im Ergebnis steht eine overte DAT . PL -Endung -n gerade „bei Substantiven, die im Nominativ Plural auf unbetontes -e, -el oder -er ausgehen“ (Duden-Grammatik 2009: 219). Gelegentlich wird erwogen, dass das Ausbleiben von DAT . PL -Suffigierung bei Substantiven mit s-Plural phonotaktisch motiviert sei; vgl. die Diskussion bei Bittner (2004: 30–32). Festzuhalten ist, dass die ausgeschlossenen Bildungen (wie *BürosenD A T . P L zu BürosP L von BÜRO ) keineswegs generell phonotaktisch abweichend sind (vgl. Neurosen); ); zudem gilt, wie angeführt, Ausschluss der DAT . PL Suffigierung auch für andere Substantive, die ihre Pluralgrundformen nicht mit einem SchwaSuffix bilden (wie VISUM , PL : Visa, oder MODUS , PL : Modi).

1242

C Nominalflexion

Auch für Fälle der Nicht-Verwendung des GEN . SG -Flexivs des Non-Femininums (wo es grundsätzlich anwendbar ist) ist der (relativ zentrale oder periphere) Status wesentlich. Wiederum können drei Fälle unterschieden werden: (ia) Anwendung mit Bildung overt markierter Flexionsformen, (ib) leerlaufende Anwendung und (ii) Ausschluss der Anwendung. Im Unterschied zur Nicht-Verwendung des DAT .PL -Suffixes, die strikt geregelt ist, zeigt sich bezüglich der (Nicht-)Verwendung des GEN . SG -Suffixes ein erheblicher Spielraum schwankender Fälle. Zudem treten beim GEN . SG -Suffix sowohl die schwalose Suffixform (-s) als auch die vokalische Suffixform (-es) auf, wiederum mit erheblicher Schwankungsbreite. Für alleinstehende Kontinuativa und grammatische Eigennamen gelten besondere Regeln (→ C6.7). Im Übrigen lässt sich beobachten, dass Nicht-Verwendung des GEN .SG -Suffixes bei erfüllter Anwendungsbedingung (d. h. bei Non-Feminina) möglich ist, wenn die betreffenden Lexeme in ihren Eigenschaften (mehr oder weniger weit) von denen normaler Substantive abweichen, darunter bestimmte Typen von Eigennamen, auch Akronyme und verschiedene Substantivierungen. Bei gewöhnlichen non-femininen Substantiven, eingeschlossen Namen, deren letzter Bestandteil als Appellativum erkennbar ist, und bei Appellativa aus Eigennamen (Zeppelin ‚Luftschiff‘) kann das Suffix standardsprachlich nicht fehlen.  

Zum Fehlen des Genitiv-s vgl. Appel (1941) und Duden-Grammatik (2009: 200–206) sowie die Ergebnisse der Korpusauswertungen in Konopka/Fuß (2016), auf die wir hier verweisen. Eine detaillierte Darstellung gehört in die Lexikologie; wir beschränken uns auf wenige Hinweise.

In besonderem Umfang wird von der Option zur Unterlassung der Flexion bei solchen Personennamen Gebrauch gemacht, die regelmäßig ohne Artikel verwendet werden; sie können als Prototyp der Eigennamen betrachtet werden. Vgl. die Steinigung des heiligen Stefan. Ältere Texte bieten Belege für den in dieser Verwendung jetzt weitgehend obsoleten s-Genitiv; vgl. die Steinigung des heiligen Stefans (Fernow, Römische Studien, 1806). Bei anderen Eigennamen und „eigennamenähnlichen Appellativen“ (DudenGrammatik 2009: 202) besteht die Option zur Unterlassung der Kasusflexion ebenfalls, wird jedoch gemäß abnehmender Nähe zum Prototyp der Eigennamen tendenziell weniger konsequent genutzt; darunter fallen gewöhnlich artikellos gebrauchte Toponyme (des alten Rom(s)), Bezeichnungen für Monate und Wochentage (Mai, Mittwoch), Währungsbezeichnungen (Euro), Farb- und Sprachenbezeichnungen (Grün, Deutsch), Namen von Buchstaben (I), Produktbezeichnungen (Aspirin, Opel), schließlich auch Stil- und Epochenbezeichnungen (Barock). Auch bei Akronymen (wie in des PC) und bestimmten substantivisch gebrauchten Nicht-Substantiven kann die Kasusflexion gewöhnlich (des Gestern, Heute, Morgen) oder mehr oder weniger häufig (des Ich(s)) fehlen; zu weiteren Fällen siehe die genannte Literatur. Verschiedene Faktoren, die die Unterlassung der Kasusflexion fördern, können sich gegenseitig stützen, wenn sie kombiniert auftreten, während größere Geläufigkeit ceteris paribus gewöhnlich die reguläre Flexion stützt; vgl. auch dazu Konopka/Fuß (2016).

C5 Kasus

1243

Regelmäßig mit Artikel als Namen gebrauchte Komposita, deren letzter Bestandteil als Appellativum erkennbar ist (des schönen Vogtlands), folgen der regulären Flexion. Vgl. dagegen mit Eigennamen-Flexion DEUTSCHLAND ; ebenso des schönen Wolfsburg, NONF (trotz BURG , F .); siehe dazu → B1.4.3.3/7.

Als wesentliches Motiv für die Unterlassung der Flexion bei Eigennamen betrachtet Steche (1927) die Erkennbarkeit der Grundform, und damit des betreffenden Namens selbst, die bei der Vielfalt der Eigennamen nicht im gleichen Maße wie bei Appellativa als bekannt vorausgesetzt werden kann; bei Verwendung von Flexionsformen könnte der für das korrekte Verständnis erforderliche Rückschluss auf die Grundform bei Eigennamen gefährdet oder erschwert sein. Die Forderung nach „Reversibilität“ (Steche 1925: 224) habe im Neuhochdeutschen bei steigender Vielfalt der Namen (u. a. durch zunehmende Verwendung von Familiennamen) den Abbau der Flexion bei Eigennamen (im Singular) gefördert; nur wo andernfalls das Prinzip der Genitivmarkierung (→ C6.7.2) verletzt wäre (bei nackten Eigennamen wie in Karls Auto), blieb die Kasusflexion erhalten. Ebenso betrachtet Nübling (2014: 117–120) die Unterlassung der Flexion als eine „Wortschonungsstrategie“. „Wortkörperschonung“ (ebd.: 121) sei vorrangig bei Familiennamen, auch bei Rufnamen, schließlich bei weiteren Typen von Namen und sodann bei Kurzwörtern, Onomatopoetika, Konversionen und Fremdwörtern geboten und habe sich im Sinne der durch die Aufzählung angegebenen Ordnung durchgesetzt. Zu den Wortschonungsstrategien rechnet Nübling (ebd.) auch die Verwendung des s-Plurals, dessen Vorteil im Konstanthalten des Wortkörpers liege (ohne Formvariation durch Auslautverhärtung oder Umlaut, ohne Änderung der Silbenzahl), und die Verwendung der kurzen Flexivvariante -s bei der Genitivmarkierung. Generell werden bei Eigennamen im Singular nur schwalose Suffixvarianten verwendet und im Plural präferiert. (Daher kann das DAT . SG -Flexiv -(e) nicht realisiert werden.) Die angeführten Fälle belegen Lexeme, bei denen ‚Unterlassung der Flexion‘ die Regel oder eine mögliche Option ist. Bei Lexemen, die zur Klasse gehören, für die das Suffix gefordert oder möglich ist, ist zu unterscheiden, ob die silbische oder die nichtsilbische Variante auftritt oder die Suffigierung leerläuft, wie im Folgenden dargelegt wird.  

C5.5.3 Genitiv: Flexivvarianten Das Genitivflexiv -(e)s/GEN (NONF . SG ) tritt in zwei Varianten auf, einer unsilbischen Variante (ohne den Suffixvokal Schwa) -s und einer silbischen Variante -es. Die ältere, volle Variante ist im Gegenwartsdeutschen weitgehend durch die kurze Variante ersetzt worden. In bestimmten prosodisch bzw. phonotaktisch charakterisierten Konstellationen, die dem Schwa-Ausfall besonders förderlich sind, ist die schwalose Variante obligatorisch. In Bereichen, in denen keine stark förderliche Konstellation vorliegt, ist die schwalose Form nicht vollständig durchgedrungen bzw. die schwahal-

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C Nominalflexion

tige Form restituiert worden; die schwalose Form ist aber immer möglich, soweit nicht die Suffigierung leerlaufen würde. Die schwalose Variante wird daher als Normalfall angesehen (Duden-Grammatik 2009: 197). Die Verteilung der Flexivvarianten wird durch verschiedene Faktoren beeinflusst. Dazu gehören wenigstens die Stellung der betreffenden Lexeme im Wortschatz, die Silben- und Akzentstruktur der Wortformen, die morphologische Struktur und die Lautform der Stämme sowie die Verwendungshäufigkeit und die Erkennbarkeit der Formen als Genitivformen. Eine umfassende Zusammenstellung der vielfältigen in der Literatur erwogenen Faktoren (mit Literaturangaben) und eine detaillierte korpusbasierte Überprüfung ihrer tatsächlichen Relevanz sowie Analysen ihres komplexen Zusammenspiels bieten Konopka/Fuß (2016), auf deren Befunde wir uns im Folgenden stützen; vgl. auch Bubenhofer/Hansen-Morath/Konopka (2014). Im Folgenden können nur einige wenige wesentliche Gesichtspunkte aufgegriffen werden.

Bei Fremdwörtern ist die Bevorzugung der non-silbischen Variante durchwegs stärker als im Normalwortschatz ausgeprägt (Paul 1917: 133). Im Sonderwortschatz (bei Abkürzungen, Kurzwörtern und Eigennamen) ist in der Regel nur die non-silbische Variante des Flexivs -(e)s/GEN möglich (vgl. des LKWs, Horsts), ebenso bei bestimmten durch Konversion abgeleiteten Substantivierungen, insbesondere Farbbezeichnungen (GRÜN , des Grüns) und bei Sprachbezeichnungen, soweit das Suffix nicht ganz fehlt (SANSKRIT , des Sanskrit(s)) (Duden-Grammatik 2009: 205 f.). Zu den in der Literatur vorrangig benannten Faktoren, die die Variantenwahl beeinflussen, gehört die Position des Wortakzents. (Einen schematischen Überblick gibt Abbildung 15; mit ‚ˈ‘ zur Kennzeichnung des Wortakzents und ‚σ‘ für ‚Silbe‘.)  

Abb. 15: Verteilung der Varianten des -(e)s/GEN -Flexivs. Akzent und Silbenstruktur  

C5 Kasus

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Wie in der Literatur durchgehend herausgestellt wird (vgl. z. B. Steche 1927: 129; DudenGrammatik 2009: 197), ist für die Verwendung der silbischen Variante das Vorliegen von Ultimaakzent ein wesentlicher förderlicher Faktor. Am besten bewahrt, aber nicht alleinherrschend, ist die silbische Variante bei Einsilblern wie KIND oder MANN (in der Tabelle: ˈσ) und zwar besonders bei solchen mit hoher Vorkommenshäufigkeit. Konkurrenz von silbischer und unsilbischer Variante besteht auch bei Mehrsilblern mit GEHAL T (mit unbetonten Präfixen). Beide Typen mit Ultimakzent (σˈσ) wie ERFOLG oder GEHALT Ultimaakzent (ˈσ und σˈσ) nehmen eher die silbische Variante als Substantive, bei denen der Wortakzent nicht auf die letzte Silbe fällt. Die vermehrte Verwendung der silbischen Variante bei Genitivformen mit hoher Vorkommenshäufigkeit ist besonders bemerkenswert; sie verweist darauf, dass die Bevorzugung der einen oder der anderen Variante wenigstens teilweise lexemspezifisch ist, d. h. für verschiedene Einzellexeme unterschiedlich ausgeprägt ist (Fehringer 2011). Bei hochfrequenten Einsilblern kann die Verwendung der silbischen Variante weitgehend als der gewöhnliche Fall gelten. Bei nicht endbetonten Substantiven (in der Tabelle: ˈσσ) herrscht die non-silbische Variante vor. Mehrere Unterfälle können unterschieden werden. Bei Präfixbildungen und Komposita (ANRUF , FAHRRAD ) (in der Tabelle: ˈσ+σ) ist auch die Verwendung der silbischen Variante möglich, bei Anlehnung an das Muster der entsprechenden Simplizia (Paul 1917: 8). Nach Fehringer (2011: 104–109) wird die silbische Variante eher gewählt, wenn der Bezug auf die Basis eines Kompositums semantisch transparent ist; Steche (1927: 99) qualifiziert die Verwendung der silbischen Variante bei Komposita wie REICHSTAG (des Reichstages) als „Papierdeutsch“. Bei den verbleibenden Fällen ist die silbische Variante in aller Regel ausgeschlossen. Dies gilt für Suffixbildungen wie REICHTUM ebenso wie für mehrsilbige Simplizia URT EIL . (MONAT gehört zu den Lexemen, für die die Wörterbücher die wie HERZOG oder URTEIL Möglichkeit von Schwa-Suffigierung angeben; dieser Normierung entsprechend finden sich Schriftformen auf 〈es〉.) Ebenso werden Mehrsilbler behandelt, die auf eine unbetonte Silbe auf /ɪ/ wie HONIG , HERING oder HABICHT ausgehen. Gelegentlich finden sich abweichende Angaben; vgl. PONS-DaF (2006: s. v. KÖNIG ): König(e)s; andere Quellen: Königs (Duden-Universalwörterbuch 1989: s. v.). Gänzlich ausgeschlossen ist die schwahaltige Variante bei Stämmen, die auf eine Schwa-Silbe, also eine nichtbetonbare Silbe, ausgehen wie MUSTER , SEGEL , BALKEN oder ABEND (in der Tabelle: ˈσσə). Substantivstämme mit Ausgang auf Schwa (+ Sonorant) bilden den Kernbereich, in dem silbische Flexive generell – auch bei der Pluralbildung – ausgeschlossen sind (vgl. → C4.2.5.1 (58)).  







Eine genauere Analyse müsste die phonologische Struktur der Wortformen, insbesondere die Fußstruktur explizit einbeziehen; vgl. Szczepaniak (2010).

Bei Fremdwörtern erstreckt sich die stärkere Bevorzugung der non-silbischen Variante auch auf solche mit Endbetonung; vgl. PLAGIAT (Plaˈgiats),, RESULTAT (Resulˈtats). Nicht DOKT OR endbetonte fordern regelmäßig die non-silbische Variante; vgl. DATIV (ˈDativs), DOKTOR (ˈDoktors), STADIUM (ˈStadiums); siehe dazu Duden-Grammatik (2009: 198).

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C Nominalflexion

Unter den weiteren Faktoren, die das Stehen oder Fehlen von Schwa beeinflussen, kommt der Lautform des Stammausgangs besondere Bedeutung zu; einen groben schematischen Überblick anhand von Einsilblern gibt Abbildung 16.

Abb. 16: Verteilung der Varianten des -(e)s/GEN -Flexivs. Stammauslaute (Einsilbler)  

Ob die schwalose Variante zum Zuge kommt oder nicht, hängt (mit den Worten von Wilmanns 1897: 348) wesentlich davon ab, „ob sich das s bequem mit dem Stammauslaut verbindet oder nicht“. Mit einem Wegfall der Initialvokale von Suffixen ist natürlicherweise vorrangig bei vokalischem Stammausgang zu rechnen. Im Deutschen steht bei Stammausgang auf Monophthong (in der Tabelle: -V) wie bei SEE oder SCHNEE oder auf Diphthong (-VV̯ ) wie bei HEU oder BAU , auch EFEU , regelmäßig die schwalose Variante des Genitivflexivs (Steche 1927: 99). Bei Schreibung mit finalem 〈h〉 wie in STROH oder SCHUH geben die Wörterbücher die Schreibvariante 〈es〉 (neben 〈s〉) an; anders Helbig/Buscha (2001: 204). Etwas häufiger findet sich der Gebrauch der Schreibvariante 〈es〉 bei Stämmen auf Diphthong (Duden-Grammatik 2009: 198 f.). Zum Zusammenhang von Schreibvarianten und Sprechvarianten siehe Kohrt (1992). Definit ausgeschlossen scheint die silbische Variante bei Mehrsilblern mit Auslaut auf Vollvokal (wie OPA oder KINO ), wo auch bei der Pluralbildung schwahaltige Suffixvarianten nicht vorkommen. Bei Stämmen mit konsonantischem Ausgang konkurrieren beide Varianten. Obligatorisch ist die Verwendung der silbischen Variante nur bei Stammausgang auf Sibilant (/s/, /z/), eingeschlossen die Affrikate (/ts/). Bei Lexemen wie KREIS , FASS , FUSS , KREUZ , WITZ , FUCHS würde die initialvokallose Variante zum Leerlaufen der Suffigierung führen, da nach Ausfall des Suffixvokals der Suffixkonsonant mit dem stammauslautenden Konsonanten zusammenfallen würde. Die Verwendung der silbischen Variante „rettet“ das Suffix und damit die Kenntlichkeit der Genitivformen (Kreises, Fasses usw.) (vgl. Paul 1916: 232 zur „Rücksicht auf die Verständlichkeit“). (Auf s-lose Vorkommen weist aber Appel 1941: 32 hin.) Auch bei Fremdwörtern, bei denen in der Regel die non-silbische Variante selbst bei Ultimaakzent stark bevorzugt wird, wird bei sibilantischem Stammausgang die -es-Variante verwendet (Paul 1917: 133, „der Deutlichkeit wegen“); vgl. PROZESS (Pro 

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zesses), KOLOSS (Kolosses). Ausgenommen sind hier die nicht endbetonten Lexeme auf us oder os, bei denen die Suffigierung leerläuft, wie häufig durch Apostroph angezeigt G EN . SG : Zyklus), SOZIALISMUS SOZIAL ISMUS (GEN . SG : Sozialismus); wird (Paul ebd.); vgl. ZYKLUS (GEN ebenso KOSMOS , EPOS usw. Bei stärkerer Integration können auch diese Lexeme zum G EN . SG : Index oder Indexes). Im Schriftbild kann nativen Muster wechseln; vgl. INDEX (GEN die Suffigierung bei Fremdwörtern, deren Grundform in der Schriftform auf (phonologisch nicht realisiertes) 〈s〉 ausgeht wie FONDS , verdeckt sein. Bestätigt durch Auswertungen schriftsprachlicher Korpora wird angenommen (Szczepaniak 2010; Konopka/Fuß 2016), dass im Deutschen mit sinkender Sonorität des Stammausgangs ceteris paribus vermehrt mit der Verwendung der schwahaltigen Variante des -(e)s/GEN -Flexivs zu rechnen ist. Nach Ausgang auf Sonoranten (-S), ausgenommen den Vibranten (r), kann (wie nach Vokal) die schwalose Variante als Normalfall betrachtet werden, bei Ausgang auf Obstruenten (Frikativ oder Plosiv, in der Tabelle: -F bzw. -P) konkurrieren beide Varianten. Vgl. aber auch Meder/Mugdan (1990: 92–96). Bei Ausgang auf Affrikate (in der Tabelle: -PF) wird die silbische Variante bevorzugt; dies gilt für pf und in noch sehr viel ausgeprägterem Maße für tsch. (Bei Stammausgang auf einfaches sch wie bei BUSCH wird die silbische Variante ebenfalls, wenn auch nicht in ebenso hohem Grade bevorzugt.) Auch bei sonstiger Mehrfachkonsonanz wird die silbische Variante eher bei Ausgang auf Obstruent als bei Ausgang auf Sonorant (KERL , Kerls) verwendet, dabei eher bei Ausgang auf Plosiv (ABT , Abtes) als bei Ausgang auf Frikativ (DORF , Dorf(e)s), besonders aber bei st und zt. (Im Einzelnen siehe Konopka/Fuß 2016.) Neben der Sonorität des Stammauslauts sind in der Literatur weitere phonologische Merkmale (der Vokale der finalen Silben oder der finalen Konsonanten) als Faktoren, die die Variantenwahl beeinflussen, in Betracht gezogen worden, etwa die Vokalqualität oder -quantität. Genannt werden soll hier noch die Stimmhaftigkeit/Stimmlosigkeit des stammfinalen Konsonanten. Insgesamt ist Schwa im Wortformenausgang im Gegenwartsdeutschen gut bewahrt (oder gelegentlich wieder hergestellt), wo ein stimmhafter Konsonant vorausgeht und bei Schwa-Ausfall Auslautverhärtung eintreten müsste (wie bei den Stämmen von KNABE , SKLAVE , LÖWE ) (Steche 1927: 109). Hierzu passt der Befund in Konopka/Fuß (2016), dass die Häufigkeit der Verwendung der silbischen Variante bei Stämmen mit Auslaut auf /b/, /d/, /ɡ/ (vgl. KALB , KIND , TAG ) höher liegt als bei solchen auf /p/, /t/, /k/. Die Verwendung der silbischen Variante garantiert hier die Konstanz des Stamms in den suffigierten Flexionsformen (Kindes, Kinde, Kinder, Kindern); Wechsel durch Auslautverhärtung bleibt gegebenenfalls auf die unsuffigierte Form beschränkt (Kind [kɪnt]). Entsprechendes gilt vermutlich für die Bevorzugung der silbischen Variante bei Stammauslaut auf Vibrant (vgl. TIER , Tieres, STIER , Stieres), wo gegebenenfalls die Vokalisierung des Vibranten in den suffigierten Genitivformen vermieden wird (vgl. Szczepaniak 2010).

Im Ergebnis ist die schwalose Variante bei vokalfinalen Stämmen und bei nichtendbetonten Stämmen (soweit es sich nicht um Präfixbildungen oder Komposita handelt) obligatorisch, dagegen bei Stämmen auf Sibilant ausgeschlossen. Im Übrigen sind beide Varianten zulässig, wobei am ehesten im Grundwortschatz (und dabei insbesondere bei hochfrequenten Einsilblern) mit der silbischen Variante zu rechnen ist.

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C Nominalflexion

Die Konstellationen, unter denen silbische Flexivvarianten generell – auch bei der Pluralbildung – ausgeschlossen sind, stellen eine Teilmenge der Konstellationen dar, bei denen silbische Kasusflexive ausgeschlossen sind. Die Variation beim Genitivflexiv hat häufig zu normativen Festlegungen bzw. stilistischen Bewertungen geführt, die sich gewöhnlich an älteren Sprachstadien orientieren und daher, soweit sie befolgt werden, dazu tendieren, die synchron erreichten Regularitäten zu stören; vgl. Szczepaniak (2014). Mutmaßlich reflektiert die Unsicherheit in der Formenbildung des Genitivflexivs zudem die ausgeprägte Bindung des Genitivs an die Schriftsprache, die den Verwendern die Orientierung an explizit gesetzten Normen (etwa in Form der Vorgaben der Wörterbücher) nahelegt. Aus sprachvergleichender Sicht entspricht der Ausschluss der silbischen Variante bei vokalfinalen Stämmen dem zu erwartenden Normalfall; vgl. dazu den regelmäßigen Ausfall der Initialvokale der Flexive im Ungarischen nach vokalfinalen Stämmen, aber auch die Bewahrung des Suffixinitialvokals bei andernfalls drohendem Unkenntlichwerden der flexivischen Markierung (→ C3.3.5). Die besondere Behandlung sibilantenfinaler Stämme entspricht den Verhältnissen in der englischen Flexion, insbesondere in der Numerus- und Kasusformenbildung, wo die silbische Variante der sibilantischen Flexive nach sibilantischem Stammausgang obligatorisch, andernfalls ausgeschlossen ist (→ C4.2.3.1). Anders als im Englischen ist im Deutschen die silbische Variante nicht auf den funktional basierten Sonderfall der Verwendung nach Sibilant beschränkt. Hervorzuheben ist, dass die vielfach gegebene Möglichkeit des Wechsels zwischen beiden Varianten (beeinflusst, aber nicht festgelegt durch eine nur schwer abgrenzbare Zahl verschiedener Faktoren) sich im Vergleich zu den Kontrastsprachen als eine charakteristische Besonderheit des Deutschen, und insbesondere des -(e)s/GEN -Flexivs darstellt (sowie, soweit verwendet, des -(e)-DAT -Flexivs). In anderen Fällen ist die Wahl zwischen Flexivvarianten in der Regel nicht frei, sondern grammatisch festgelegt.

C5.5.4 Dativ: Flexivvarianten Die Verwendung des -e/DAT . SG -Flexivs ist weitgehend auf feste Wendungen oder die Literatursprache beschränkt und nie obligatorisch (Duden-Grammatik 2009: 206). Im Vergleich zum Genitiv-Singular-Flexiv in der Verwendung bei Substantiven fehlt hier der Fall nicht zulässiger Unterlassung der Flexion. Die Fälle des generellen Ausschlusses von Schwa-Suffixen, wie sie sich in der Pluralbildung zeigen, gelten auch für die Bildung der Dativformen auf -e; daher dem Segel/*Segele, dem Opa/*Opae (→ C4.2.5). Mit Bezug auf die Literatursprache aus der Sicht des Beginns des 20. Jahrhunderts gibt Paul (1917: 8) an, dass -e eher bei Einsilblern als bei Mehrsilblern (und insbesondere Komposita), besonders aber bei Stammausgang auf stimmhaften Obstruenten (b, d, g, s) auftrete. Diese Präferenzen entsprechen im Grundsatz den für das -(e)s/GEN . SG -Flexiv beobachteten. Nach der  

C5 Kasus

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Duden-Grammatik (2009: 207) ist -e im Dativ generell bei Substantiven ausgeschlossen, die auch im GEN . SG die schwahaltige Suffixvariante „aus lautlichen Gründen“ nicht nehmen; vgl. aber [dem Könige]D A T . S G . M (ebd.) mit [des Königs]G E N . S G . M (letzteres nur so, nach der Mehrzahl der Wörterbücher). Wegen des vorangeschrittenen Verlusts des DAT . SG -Flexivs besteht für die Formulierung genauerer Verteilungsregularitäten vermutlich keine zuverlässige Basis mehr. Ausgeschlossen ist die Verwendung des DAT . SG -Flexivs bei alleinstehenden (‚nackten‘) Kontinuativa (aus Gold/*Golde) nach der Kontinuativa-Regel (→ C6.7.4.2).

C5.5.5 Paradigmenvielfalt Während im Polnischen die Substantivformen (wie andere nominale Flexionsformen), soweit sie nicht endungslos sind, jeweils ein einziges kumulatives (gegebenenfalls genusspezifisches) Kasus-Numerus-Flexiv aufweisen, werden im Deutschen bei der Formenbildung der Substantive zwei Typen von Flexiven kombiniert, nämlich Numerusflexive (Pluralflexive) und Kasusflexive. Für die Pluralbildung stehen mehrere Flexive zur Verfügung. Substantive mit -(e)-Plural (ohne Umlaut) weisen keine besonderen, vom Grundstamm unterschiedenen Pluralformen auf, wenn der Grundstamm das Antreten des Suffixes -e nicht zulässt (→ C4.2.5.1 (58)), im Regelfall aber Pluralformen auf -e. Andere Substantive besitzen besondere Pluralformen mit den Suffixen -(e)r, -(e)n oder -s; zusätzlich kann Umlaut vorliegen. Die Kasusflexive entstammen dem wortartübergreifend gültigen Inventar, dessen Elemente durch genusbezogene und numerusbezogene Anwendungsbedingungen charakterisiert sind; ihre Anwendung und die Variantenwahl können für bestimmte Klassen von Lexemen (wie Eigennamen oder Fremdwörter) oder Teilklassen aus diesen oder für bestimmte Einzellexeme weiter beschränkt sein (→ C5.5.2). Die (wenn auch hochbeschränkte) Auswahl von Kasussuffixen am Substantiv gewährleistet immerhin, soweit nicht Suffigierung aus unabhängigen Gründen unterbleibt, dass die systemweit (ausgenommen im Femininum Singular) in der Regel formal deutlich differenzierten indirekten Kasus Dativ und Genitiv auch beim Substantiv selbst nicht zusammenfallen: Im Singular wird der Genitiv (ausgenommen im Femininum), im Plural der Dativ ausgezeichnet, während der jeweils andere indirekte Kasus durch die kasusunflektierte Form des jeweiligen Numerus abgedeckt wird (vgl. Mann vs. Mannes und Männer vs. Männern). Aus der Kombinatorik der fünf Pluralbildungen und den Regeln für die Kasuskennzeichnung ergibt sich die bunte Vielfalt der sogenannten ‚Deklinationstypen‘; vgl. Abbildung 17, die die Unterschiede im Paradigmenbau für eine repräsentative Auswahl von Substantiven zeigt.

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C Nominalflexion

Abb. 17: Substantivparadigmen (Deutsch)  

Die unproduktive DAT . SG -Markierung auf -(e) bei den Non-Feminina ist in Abbildung 17 außer Acht gelassen. Dies vorausgesetzt, haben Substantive im Deutschen maximal vier formal unterschiedene Flexionsformen (Ausdrucksformen). Die Paradigmen können daher, wie in der Abbildung geschehen, unter Berücksichtigung der systematischen Nichtdifferenzierungen bezüglich Kasus, in Form sogenannter ‚unterspezifizierter Paradigmen‘ dargestellt werden (vgl. Wiese 1999; Eisenberg 2013a: 149 et passim). Die Ableitung der vollständigen Paradigmen (mit acht Kasus-Numerus-Positionen) ist trivial.

Neben der schwachen Flexion (→ C6.6.1) können unterschieden werden: Substantive mit -(e)-Plural, bei denen das Antreten des Suffixes zugelassen ist wie TAG , (i), und solche, die, nach der Schwa-Regel, sein Antreten nicht zulassen wie MESSER , (xiii), darunter wieder solche, die auch das Dativ-Plural-Suffix nicht nehmen können, bei

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Stammausgang auf en wie BESEN , (xiv). Bei Substantiven mit U L -(e)-Plural ergeben sich auf entsprechende Weise sogar fünf Typen: Substantive mit Grundformen, die das Antreten des Suffixes zulassen, wie BAUM , NONF , (ii), und HAND , F , (vi), die sich aber (wegen ihres Genus) darin unterscheiden, ob sie im Singular das Kasussuffix -(e)s annehmen oder nicht; und wiederum Substantive mit Grundformen, die nach der Schwa-Regel kein Pluralsuffix annehmen können wie VOGEL , M , (iii),, oder TOCHTER , F , (vii), ebenfalls mit der angegebenen genusbedingten Unterscheidung im Singular; und dann darunter wieder solche, bei denen die DAT . PL -Suffigierung leerläuft – bei ). Wegen der Genusabhängigkeit der KasusStammausgang auf en wie GRABEN (viii). kennzeichnung im Singular unterscheiden sich in der angegebenen Weise bei den STAAT AAT , NONF , (ix), und FRAU , F , (xi), und Substantiven mit -(e)n-Plural solche wie ST ebenso bei denjenigen mit -s-Plural SOFA , NONF , (x), und KOBRA , F , (xii). Zusätzlich können bei Substantiven mit U L -er-Plural umlautfähige und nicht umlautfähige unterschieden werden wie MANN , (iv), und KIND , (v). Welche Differenzen als konstitutiv für Deklinationstypen angesehen werden, variiert in der Literatur. Beispielsweise könnten zusätzlich zu den genannten auch noch Substantive der Klasse mit -(e)n-Plural, die die non-vokalische Form des Pluralsuffix nehmen (-n), gesondert aufgeführt werden, wobei wiederum nach dem Genus zu unterscheiden wäre; ebenso nicht umlautfähige Feminina mit Plural auf -e wie KENNT NIS . Andere Unterscheidungen könnten als irrelevant wegfallen wie die UmlautKENNTNIS Variation beim U L -er-Plural (KIND vs. MANN ). Zusätzliche Typen von Lexemen mit substantivischer Flexion bekommt man, wenn man Eigennamen und Fremdwörter einEN . SG -Flexivs bezieht und die Besonderheiten der Setzung oder Nicht-Setzung des GGEN berücksichtigt, die für diese Klassen gelten; ebenso bei Einbeziehung von Substantiven, die keine SG - oder keine PL -Formen besitzen. Abstrahiert man von Formvariationen, die systematisch als untergeordnet betrachtet werden, lässt sich eine kleine Zahl von Grundtypen auszeichnen (vgl. z. B. die Darstellung bei Eisenberg 2013a: 152– 156); bezieht man alle Formvarianten ein wie in Kunze/Rüdiger (1968), dort basierend auf dem Schriftbild, so ergibt sich eine vergleichsweise sehr hohe Zahl. (Die Angaben zur Zahl der Deklinationstypen variieren zwischen sechs und 77; vgl. die Zusammenstellung bei Neef 1998a: 219.) Der sichtbar werdende Variantenreichtum der Paradigmenbildung mit ihren unterschiedlichen Mustern der Kasusdifferenzierung leitet sich, wie dargelegt wurde, aus dem Zusammenspiel verschiedener für die Formenbildung relevanter, unabhängiger Faktoren her (insbesondere Pluralbildungstyp, Stammausgang und, vermittelt über die Kasuskennzeichnung und die Wahl des Pluraltyps, Genus), die sich in ihren Wirkungen überschneiden. Die Bildung der Substantivparadigmen im Deutschen unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von der des Polnischen. Für eine angemessene Charakterisierung der Substantivflexion im Deutschen ist es wesentlich, die Ableitbarkeit der Paradigmen auf der Basis des gegebenen Flexivinventars in Verbindung mit den verschiedenen interagierenden Regularitäten der Flexivverwendung zu berücksichtigen.  

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C Nominalflexion

In traditionell orientierten Darstellungen der Flexionsmorphologie des Deutschen werden die Paradigmentypen (‚Deklinationstypen‘ oder ‚Deklinationen‘) dagegen häufig (in Fortführung der Verfahren lateinischer Schulgrammatiken) als Grundbausteine des Flexionssystems betrachtet (vgl. z. B. Simmler 1998); auf dieser Basis wird versucht, eine Systematik der Substantivflexion auf eine Klassifikation der Deklinationstypen zu stützen. Da es sich bei den Deklinationstypen um Entitäten mit epiphänomenalem Charakter handelt, ist dieser Ansatz nicht erfolgversprechend. (Eine sprachvergleichend orientierte Erörterung der Rolle der Deklinationsklassen in der Grammatik der Vergleichssprachen (und darüber hinaus) findet sich in Wiese (2012).) Bezeichnenderweise sind die entsprechenden Klassifikationsvorschläge so vielfältig wie die Deklinationstypen selbst; siehe dazu ausführlich Thieroff (2000b, Kap. 4). Die in der Literatur zu findenden Bemühungen, Paradigmen (oder auch Teilparadigmen für Singular oder Plural) zu ordnen und zu klassifizieren (und gegebenenfalls der Kombinatorik der Teilparadigmen nachzuforschen), können als nachträglicher Versuch angesehen werden, die Mängel der zugrunde liegenden traditionellen Konzeption, nach der die Paradigmen nicht weiter herleitbare Grundelemente darstellen, wenigstens teilweise auszugleichen. Zu einer anerkannten Systematik haben sie nicht geführt, wie schon Mugdan (1977: 116) betont; vgl. auch Eisenberg (2013a: 155 f.).  





C5.6 Numeralia C5.6.1 Übersicht Die Flexion der Numeralia folgt in den Vergleichssprachen überwiegend dem jeweils für Adjektive geltenden Muster. Andere Flexionsmuster finden sich besonders bei Kardinalnumeralia, die den Kern der Wortklasse (oder den ‚unmarkierten Typ‘ von Numeralia) bilden. Sonstige Numeralia, etwa Ordinalia, sind typischerweise, wenngleich nicht immer, von Kardinalia abgeleitet. Die abgeleiteten Typen zeigen im Allgemeinen weniger flexivische Besonderheiten. Einen vergleichenden Überblick über die Flexion der Numeralia in verschiedenen europäischen Sprachen gibt Hurford (2003); Gvozdanović (Hg.) (1992) bietet eine umfassende Darstellung der Numeralia in den indoeuropäischen Sprachen. Im Folgenden beschränken wir uns auf die Flexion der Kardinalia (bis zum Wert ‚12‘), deren Formenbildung in den Vergleichssprachen Französisch, Deutsch und Polnisch beachtliche Besonderheiten aufweist. Andere Aspekte der Wortklasse der Numeralia werden in diesem Handbuch vielfach aufgegriffen. Zur Abgrenzung und zur allgemeinen Charakteristik der Numeralia siehe → A5.3 und → B1.5.1; speziell zu DUTZEND , HUNDERT , TAUSEND und ihren Äquivalenten in den Vergleichssprachen siehe → A5.2.1, zu Numeralia für den Wert ‚1‘ → B1.5.5.3.6; zu Numeralia und Numerus → B2.3.4; zur Syntax der Konstruktionen, die Numeralia einschließen, siehe vor allem → D1.2.2, → D2.2 und → D5.  

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Im Englischen werden Kardinalia (wie in three men ‚drei Männer‘) wie gewöhnliche Adjektive in der Regel nicht flektiert. Nur bei substantivischer Verwendung von DOZEN ‚Dutzend‘, HUNDRED ‚100‘, THOUSAND ‚1000‘, MILLION MILL ION ‚Million‘ u. ä. treten Pluralformen auf wie in hundreds of voters ‚Hunderte von Wählern‘ – gegenüber attributiver Verwendung in three hundred voters ‚dreihundert Wähler‘ (Huddleston/Pullum 2002: 351). Zu den wenigen weiteren Fällen von Pluralbildung (Huddleston 1984: 328) gehören Verwendungen wie in in twos ‚paarweise/in Zweiergruppen‘ oder in festen Wendungen wie in on all fours ‚auf allen vieren‘. Auch Bruchzahlen können im Plural stehen (two sevenths ‚zwei Siebtel‘). Im Ungarischen werden Kardinalia wie Adjektive behandelt. Sie bleiben als Dependentien eines substantivischen Kopfes unflektiert; alleinstehend nehmen sie die gewöhnlichen Flexive in den Varianten mit offenem Initialvokal (e, a), ausgenommen öt ‚5‘ und hat ‚6‘ mit den Akkusativformen ötöt bzw. hatot. Stammvariation (Vokalausfall, Vokalkürzung) kommt bei három ‚3‘, hét ‚7‘ und ezer ‚1000‘ vor; vgl. die AKK -Formen hárm-at, het-et und ezr-et (Forgács 2004: 177). Ebenso werden Pluralformen von hohen Numeralia wie száz (PL : százak ‚Hunderte‘) oder ezer gebildet (PL : EG Y ‚1‘ ist ezrek ‚Tausende‘) (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 341–343). Das Numerale EGY homonym mit dem indefiniten Artikel (→ A5.1). Beim Numerale für den Wert ‚2‘ wird zwischen einer attributiv gebrauchten Form két und einer selbstständig gebrauchten Form kettő unterschieden, wie in két kocsi ‚zwei Autos‘ vs. Hány kocsi? Kettő ‚Wie viele Autos? Zwei‘ (Rounds 2001: 243); zu beachten ist, dass substantivische Köpfe, die mit einem Kardinalnumerale verbunden werden, im Singular stehen. Numeralia können in flexivischer Hinsicht Eigenschaften mit Pronomina, mit Adjektiven und mit Substantiven teilen, müssen aber flexivisch mit keiner dieser Klassen übereinstimmen. Sie können flexivische Eigenschaften verschiedener Wortklassen mischen und Besonderheiten zeigen, die nur in der Numeralflexion vorkommen. Ein Beispiel bietet die Genusunterscheidung NONF - F im Plural, die im Polnischen nur beim Numerale DWA ‚zwei‘ auftritt. Kardinalia besitzen typischerweise keine Numerusdifferenzierung. Die Formen der Kardinalia können ihrem Bau nach als Pluralformen kenntlich sein, aber morphologische Singularformen (für Werte über ‚1‘) sind nicht ausgeschlossen (wie im Falle der sogenannten Kollektivnumeralia des Polnischen). Da die Semantik der Numeralia die Mehrzahlinformation liefert, ist morphologische Pluralmarkierung im Grundsatz für Numeralia redundant; dementsprechend können Pluralmarkierungen bei Numeralia in Fällen fehlen, in denen sie für andere Lexeme im Flexionssystem einer Sprache gefordert sind. Fehlende Flexion ist numeraliatypisch und häufig nicht Ausdruck allgemeinen Flexionsabbaus in einer gegebenen Sprache.  

Das Ungarische und das Deutsche können als Beispiele für zwei einfache Typen der Redundanzvermeidung stehen. (Komplexere Typen der Numerusverteilung in europäischen Sprachen bespricht Hurford (2003).) Redundanz kann zum einen vermieden werden, indem NPs, die durch Numeralia für Mehrzahligkeit ausgezeichnet sind, syntaktisch nicht im Plural, sondern im unmarkierten Numerus (Non-Plural, in traditioneller Terminologie: Singular) erscheinen. In diesem

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C Nominalflexion

Fall bleiben auch die Numeralia selbst für Numerus unmarkiert. Dieses Verfahren gilt für das Ungarische. Zum anderen wird Redundanz vermieden, wenn die betreffenden NPs zwar syntaktisch im Plural stehen, aber die morphologischen Pluralmarkierungen an den Numeralia fehlen oder fehlen können, jedenfalls dort, wo sie redundant sind. (Dies wird im Allgemeinen dann nicht der Fall sein, wenn Fusion von Numerus- und Kasusexponenten vorliegt wie im Polnischen.) Dieses Verfahren gilt für das Deutsche. Für das Urindoeuropäische wird angenommen, dass Numeralia zunächst als Indeklinabilia mit abhängigem Genitiv verwendet wurden, während im unteren Zahlenbereich kongruenzmarkierende Endungen hinzukamen (Meier-Brügger 2010: 369); nach Szemerényi (1990: 235) wurden nur Numeralia der Werte 1 bis 4 und 100 flektiert.

Typischerweise variiert die Ausbildung der Flexion innerhalb der Gruppe der Numeralia (in einer gegebenen Sprache). Dabei sind zwei ineinander greifende Gesichtspunkte von besonderer Bedeutung (von Mengden 2010: 248): (i) der Zahlwert des Numerales (kardinalitätsabhängige Variation), (ii) die syntaktische Funktion des Numerales (kontextabhängige Variation). Beide betreffen die relative Position von Numeralia in einem morphosyntaktischen Spektrum zwischen Adjektiv und Substantiv (Corbett 1978b); vgl. auch Hurford (1987: 192 et passim). (i) Allgemein korreliert Flexion signifikant mit den Zahlwerten: Bei kleinen Werten gibt es die am stärksten ausdifferenzierte Flexion. Dazu gehört insbesondere, dass Genusdifferenzierung mit steigender Kardinalität tendenziell abnimmt. Numeralia mit dem Wert ‚1‘ unterscheiden sich flexivisch gewöhnlich von anderen Numeralia und zeigen pronominale Flexion. Abweichungen finden sich am ehesten beim Numerale für ‚2‘. Ein Beispiel bietet das Griechische (Holton/Mackridge/Philippaki-Warburton 2012: 122–127). Das Numerale für ‚2‘ (δυο) ist indeklinabel, während die Numeralia für ‚1‘, ‚3‘ und ‚4‘ Genus- und Kasusflexion aufweisen. Die Flexion für ‚1‘ ist mit der des indefiniten Artikels identisch und zeigt die gewöhnlichen Kasusund Genusunterscheidungen (mit der Unterscheidung von drei Genera im Nominativ, έναςM , έναN , μίαF ). Bei ‚2‘ und ‚3‘ fehlen besondere F - Formen; Nominativ: τρεις (M / F ), τρία (N ) ‚3‘, τέσσερις (M / F ), τέσσερα (N ) ‚4‘. Ab ‚5‘ bleiben die Grundzahlen unflektiert, aber Vielfache von Hundert (wie διακόσιοιM ‚200‘) werden wie gewöhnliche Adjektive flektiert und die Numeralia für Million und Milliarde sind Substantive des Neutrums; vgl. δύο χιλιάδες ‚2000‘, mit Pluralmarkierung. Besonderheiten bei Numeralia für ‚2‘ stellen häufig Relikte eines untergegangenen Duals dar, so auch in den slawischen Sprachen, eingeschlossen das Polnische.

(ii) Kardinalia können innerhalb von NPs mit dem Substantiv, das die Bezeichnung des Gezählten liefert, kongruieren (wie Adjektive) oder dieses als Dependens nehmen (wie Substantive); vgl. → A5.2.1; → D5. Numeralia für höhere Zahlwerte zeigen eher substantivischen Charakter, niedere eher adjektivischen (Corbett 1978a, 1978b). Im Deutschen stehen attributive Konstruktion (wie in drei Kinder) (mit dem Numerale als Dependens) und Konstruktion mit einem Genitivus partitivus (drei der Kinder) (mit der Bezeichnung des Gezählten in untergeordneter Position) alternativ (mit Bedeutungsdifferenzierung) zur Verfügung. Im Polnischen ist der Wechsel zwischen formal ver-

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gleichbaren Konstruktionen vielfach automatisch geregelt. Steht das Quantifikandum (die Bezeichnung dessen, was gezählt oder quantifiziert wird) in einer untergeordneten Phrase (insbesondere in einer Genitivphrase), so zeigt sich diachron häufig die Tendenz, das Quantifikandum zum Kopf der Gesamtphrase zu machen. Die synchron gegebenen Zwischenstufen einer solchen Umgestaltung zeigen oft schwer analysierbare, gemischte Strukturen, die sich auch in flexivischen Besonderheiten niederschlagen können. Dazu gehört die Verwendung von (vormals als Kopf fungierenden) Quantitätsbezeichnungen als flexionslosen Attributen wie im Falle von VIEL und WENIG , wo sie neben Stoffnamen oder anderen Bezeichnungen für Nicht-Gezähltes (im Sinne von ‚eine große/kleine Menge von‘) auftreten (Paul 1919: 296–299, „Gliederungsverschiebung“); vgl. viel Geld, wenig Brot. Neben Bezeichnungen für Gezähltes (im Plural) ist bei VIEL und WENIG (hier im Sinne von ‚eine kleine/große Anzahl‘) die Anpassung an das adjektivische Muster durchgeführt, und die Flexion entspricht der gewöhnlicher Adjektive (wenige Menschen, mit vielen Ideen), doch kann die Flexion auch im Plural noch unterbleiben, wenn das Bezeichnete eher als ungezählte Masse, weniger als Vielheit zählbarer Objekte erscheint, wie in Er macht sich nicht viel Gedanken. Die Verteilung flektierter und unflektierter Formen korreliert insoweit mit der Semantik, die im Englischen Ausdruck durch unterschiedliche Lexeme findet (much/many, little/few). Bezeichnenderweise erzwingt die Voranstellung eines Determinativs aber in jedem Fall den Übergang zum adjektivischen Muster und entsprechende Flexion (wie in das viele Geld, mit dem vielen Müll, mit der vielen Zeit); aber unflektiert (erstarrt) ein wenig (wie ein bisschen, ein paar). Unflektiert bleibt MEHR (wie in mit mehr Ideen) und ebenso WENIGER ; MEHRERE fungiert als quantifikatives Pronomen (wie in mit mehreren Kollegen). Auch sogenannte Gattungszahlwörter auf -lei (wie in in mancherlei Hinsicht) bleiben unflektiert. Charakteristischerweise können auch substantivische Maß- und Mengenbezeichnungen im Deutschen, wo sie in Verbindung mit Kardinalia stehen, häufig ohne Pluralmarkierung bleiben (wie in drei Paar Schuhe oder drei Glas Wein, neben drei Gläser Wein); im Einzelnen siehe → D5.

Aus sprachvergleichender Perspektive konstituieren die verschiedenen Ausprägungen von kardinalitätsabhängiger und kontextabhängiger Variation einen Varianzparameter, der sich flexivisch bei Numeralia intralingual in einem Variationsspektrum manifestiert, das von pronominaler über adjektivische zu substantivischer Flexion reicht; interlingual variiert, wie sich die Kardinalia auf dieses Spektrum verteilen. Einen Überblick dieser Verteilung im Polnischen, Deutschen und Französischen (beschränkt auf Kardinalia für die Werte ‚1‘ bis ‚12‘) bietet Abbildung 18.

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Abb. 18: Flexionstypen bei Kardinalia (Polnisch, Deutsch, Französisch)  

In der Abbildung sind für die drei Sprachen (jeweils in der ersten Zeile) die Muster der Formenbildung bezeichnet, denen die einzelnen Numeralia folgen, die die in den Spaltenköpfen angegebenen Werte bezeichnen; darunter (jeweils in der zweiten Zeile) sind die Kategorien genannt, die an den betreffenden Numeralia formal differenziert werden. Der unterschiedliche Ausdifferenzierungsgrad der Flexion der Numeralia, den die Tabelle zeigt, korreliert mit dem unterschiedlichen Ausdifferenzierungsgrad der Flexion als Ganzer in den betreffenden Sprachen. Das Polnische zeigt eine stark entfaltete Flexion der Kardinalia (mit Genus und Kasusdifferenzierung). Im Deutschen ist die Flexion der Kardinalia über ‚1‘ gering ausgeprägt (mit sehr beschränkter Kasusdifferenzierung). Im Französischen liefert die Formenvariation nur im Falle des Numerales für ‚1‘ eine Differenzierung von Flexionskategorien (nach Genus); dennoch unterscheiden sich die Numeralia für ‚2‘ und ‚3‘ von denjenigen für Werte zwischen ‚4‘ und ‚10‘ in ihrer Formenbildung. Einzelheiten werden im Folgenden erläutert. Innerhalb der Flexion der Vergleichssprachen stellt die Kasusmorphologie der Kardinalnumeralia im Polnischen eines der meist diskutierten und in den Grammatiken am uneinheitlichsten und widersprüchlichsten behandelten Teilgebiete dar. Sie bildet den Schwerpunkt des vorliegenden Teilkapitels.

C5.6.2 Kardinalia (Polnisch) C5.6.2.1 Formenbestand der Kardinalia Das Paradigma des Numerales für den Wert ‚1‘ stimmt mit dem Paradigma des Indefinitpronomens JEDEN ‚einer‘ überein, das pronominale Flexion aufweist (→ C5.2.2.1, Erläuterungen zu (83)). Pluralformen werden in Verbindung mit Pluraliatantum wie

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DRZWI ‚Tür‘ verwendet, z. B. jedneP L drzwiP L ‚eine Tür‘ (Swan 2002: 190). Als Zählform fungiert raz ‚Mal‘ (ebd.). Abbildung 19 bietet eine Synopse der Paradigmen der Numeralia DWA ‚2‘, TRZY ‚3‘ und PIĘĆ ‚5‘. CZTERY ‚4‘ wird wie TRZY flektiert, Numeralia ab SZEŚĆ ‚6‘ wie PIĘĆ .  

Abb. 19: Flexionsparadigmen der Kardinalia (Polnisch)  

Der in Abbildung 19 gegebene Formenbestand der Numeralia entspricht (bei etwas anderer Präsentation) den Paradigmen, die u. a. in Laskowski (1972: 105 f.) und Brooks (1975: 316 f.) gegeben werden. In anderen Darstellungen werden zusätzliche Nominativformen des Personalmaskulinums angenommen, die mit den Genitivformen gleichlauten würden; siehe dazu → C5.6.2.4.  





OBA ‚beide‘ und OBYDWA ‚zweibeide‘ werden nach Saloni et al. (2012: s. v.) wie DWA flektiert. Allerdings wird hier anscheinend die reduzierte Variante bevorzugt (mit der Form auf -u für den Genitiv, Lokativ und Dativ). Swan (2002: 190) gibt für OBA / OBYDWA nur diese Formen an.  

Als Ausgangspunkt für eine Analyse der Paradigmen der Numeralia kann ein Vergleich mit den Pluralparadigmen der Adjektive dienen. Das Paradigma des Numerales TRZY ‚drei‘ weist die gleiche Struktur auf wie die Plural-Paradigmen der Adjektive

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(wie z. B. MĄDRY ‚klug‘) (→ C5.2.2.2 (86)). Wie diese umfasst es fünf Ausdrucksformen, deren kategoriale Spezifikationen die gleichen wie bei den Adjektiven sind. In den indirekten Kasus (trz-echL O K / G E N . P L , trz-emD A T . P L , trz-emaI N S . P L ) erscheinen Formen mit Flexiven, die dem systemweit (für Adjektive und andere nominale Lexeme) gültigen Muster folgen (-Vch/LOK , -Vm/DAT , -VmV/INS ); der Genitiv Plural fällt wie generell in der adjektivischen Flexion mit dem Lokativ Plural zusammen. Vom produktiven Muster unterscheiden sie sich nur durch abweichende Endungsvokale; vgl. die entsprechenden Formen von MĄDRY (mądr-ychL O K / G E N . P L , mądr-ymD A T . P L , mądr-ymiI N S . P L ). In den direkten Kasus sind die Formen nach dem Genus differenziert. Im Personalmaskulinum (M P E R S ) wird zwischen Nominativ (trzej) und Akkusativ (trzech) unterschieden; die Akkusativform fällt systemweit im Plural des Personalmaskulinums mit der Genitivform zusammen. Die (auch als Zählform verwendete) Grundform trzy (zugleich Nennform des Paradigmas) deckt als unspezifische DIR -Form Nominativ und Akkusativ der übrigen Genera (NONMPERS ) ab (traditionell: „Sachform“). Die Ausgänge der unspezifischen DIR - Form (trz-y) und der MPERS - spezifischen Nominativform (trz-ej) weichen vom produktiven Muster ab, wie sie die entsprechenden regulären Adjektivformen mądr-e und mądrz-yM P E R S (zu MĄDRY ‚klug‘) zeigen. Exakt wie TRZY wird auch CZTERY ‚vier‘ flektiert (mit den Ausdrucksformen cztery, czterej, czterech, czterom, czterema). Die Flexion der Numeralia für die Werte ‚5‘ bis ‚10‘ (Typ PIĘĆ ‚fünf‘) unterscheidet sich deutlich von der des Typs TRZY . Eine spezielle MPERS -Nominativform („Personalform“) fehlt; dies entspricht den Verwendungsregeln für diese Numeralia, die im Folgenden angegeben werden. Die Kasusformendifferenzierung ist insgesamt (ähnlich wie im Singular femininer Substantive) reduziert. Wie bei NOC ‚Nacht‘ umfasst das Paradigma nur drei Ausdrucksformen; vgl. nocN O M / A K K , nocyV O K / L O K / D A T / G E N , nocąI N S (→ C5.4.6, Abbildung 10). Dabei ist (wie bei NOC ) die NOM / AKK -Form (anders als bei Adjektiven) endungslos. In den indirekten Kasus besitzt nur der Instrumental eine einzelkasusspezifische Form (mit charakteristischer Ausdrucksform), deren Verwendung zudem optional ist (Kuraszkiewicz 1981: 116, „heute immer seltener“). In den übrigen indirekten Kasus erscheint eine unspezifische INDIR - Form, die auf -u lautet. Sie kann auch an Stelle der speziellen Instrumentalform verwendet werden. In der Tabelle ist dies durch die nicht durchgezogene Linie angedeutet, die das Feld für pięciu vom Instrumental-Feld trennt. Hervorzuheben ist, dass Numeralia des Typs PIĘĆ wie andere Numeralia (aber anders als Substantive) genusvariabel sind: Im Personalmaskulinum gilt die Akkusativ-Genitiv-Regel, während im Übrigen die Grundform den Akkusativ abdeckt. Im Akkusativ wird daher zwischen pięć (NONMPERS ) und pięciu (MPERS ) unterschieden. Die Flexion der Numeralia des Typs PIĘĆ stellt einen besonderen, nur bei Numeralia auftretenden Typ dar, der die Ausdrucksformendifferenzierung nach dem Muster von NOC , die Akkusativ-Genitiv-Regel (für den Plural des Personalmaskulinums) und (im Instrumental) pluraltypische Formenbildung verbindet. Wegen des Zusammenflie 

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ßens adjektivischer und substantivischer Züge kann dieses Muster als adjektivischsubstantivische Flexion der Numeralia charakterisiert werden. Die Numeralia ab ‚5‘ gehen diachron auf Substantive verschiedener Klassen zurück (Comrie 1992), und insbesondere folgt die Flexion der Numeralia des Typs PIĘĆ der der femininen Substantive der (aus diachroner Sicht so bezeichneten) i-Deklination (ebd.: 747). Die Gliederung des Paradigmas entspricht, wie dargelegt, auch synchron derjenigen des Singularparadigmas der entsprechenden Substantive (Typ NOC ). Die auftretenden Suffixe der beiden markierten Formen sind jedoch ausgetauscht worden. Im Instrumental ist die F . SG -Endung -ą verschwunden (bzw. jetzt archaisch, Swan 2002: 193); die jetzige INS - Endung -oma zeigt das Muster -VmV, wie es sich im Übrigen bei den INS . PL -Endungen der Substantive und Adjektive findet. Damit sind die entsprechenden Formen auch flexivisch als Pluralformen ausgewiesen. Dass es sich bei den Formen der Numeralia des Typs PIĘĆ tatsächlich um Pluralformen handelt, zeigen Phrasen wie teA K K . P L pięćA K K . P L kobietG E N . P L , wo das Demonstrativum (hier: te, → C5.2.2.1 (83)) mit dem Numerale kongruiert und im Plural steht; vgl. → C5.6.2.4. Die Endung -u der allgemeinen INDIR -Form (in anderer Terminologie „general oblique-case form“, Rothstein 1993: 710) ist aus dem Paradigma von DWA ‚2‘ übernommen worden. Sie stimmt formal mit der allgemeinen INDIR -Endung des NonFemininum Singular der Substantive überein.

werden auch die unbestimmten Zahlwörter KILKA ‚einige‘, PARĘ ‚ein paar‘, ‚viele‘, ILE ‚wie viele‘, TYLE TYL E ‚so viele‘ flektiert. Zu vergleichen sind unflektierbare unbestimmte Zahlwörter wie DUŻO ‚viel(e)‘ oder MAŁO ‚wenig(e)‘, die in indirekten Kasus (wo Kasusmarkierung geboten ist) in der Regel nicht verwendet werden. Das Paradigma von DWA ‚2‘ zeigt unter den Numeralia die größte Komplexität. Es vereinigt die Muster der adjektivischen Flexion vom Typ TRZY und der adjektivischsubstantivischen Flexion vom Typ PIĘĆ . Das Paradigma umfasst zum einen die fünf Ausdrucksformtypen der adjektivischen Flexion; Abweichungen gegenüber der Formenbildung von TRZY beschränken sich auf den Vokalismus der Endungen. Hinzu kommt die für die adjektivisch-substantivische Numeraliaflexion charakteristische INDIR -Bildung auf -u. Als Anwendungsbereich für dwu werden in den Grammatiken gewöhnlich die Kasus Lokativ, Genitiv und Dativ angegeben, z. B. in Grappin (1963: 132) oder Brooks (1975: 316), doch kommt dwu (ebenso wie pięciu) auch im Instrumental vor (Swan 2002: 190). Darüber hinaus weist das Paradigma von DWA in den direkten Kasus und im Instrumental auffälligerweise besondere Formen für das Femininum auf (in der Abbildung durch Subskript gekennzeichnet): dwieF (NOM / AKK ) und dwiemaF (INS ). Im Instrumental ist die Verwendung der F - spezifischen Form optional; an ihrer statt kann die genusunspezifische Form dwoma verwendet werden, soweit nicht dwu vorgezogen wird. Das Numerale DWA ist das einzige Lexem des Polnischen, das im Plural eine dreigliedrige Genusformendifferenzierung (MPERS , F , sonst) aufweist. Wie

PIĘĆ

WIELE



Das ‚Überangebot‘ an Formen bei DWA DW A geht diachron auf das Nebeneinander von Pluralformen und ehemaligen Dualformen innerhalb dieses Paradigmas zurück. Zur Diachronie vgl. Grappin (1950: 5). Entsprechende Besonderheiten (eingeschlossen das Vorhandensein besonderer F -Formen) finden sich auch in anderen slawischen Sprachen; vgl. Wade (2011: 209) zum Russischen.

1260

C Nominalflexion

C5.6.2.2 (In-)Kongruenz in Numeralphrasen Zur speziellen Syntax von NPs, die Numeralia enthalten, verweisen wir auf die grundlegenden Ausführungen unter → A5 und → D2 sowie auf → D5. Die Klärung des Formenbestands der Paradigmen der Numeralia kann erfolgen, ohne besondere Annahmen zum syntaktischen Bau dieser Phrasen vorauszusetzen, insbesondere zur teilweise in der Literatur strittigen Identifizierung von Kopf und Kern (→ D5.5). Die im Folgenden verwendete terminologische Unterscheidung von homogener und heterogener Konstruktion (Franks 1995) bleibt in dieser Frage neutral.

Wie im Deutschen können im Polnischen Numeralia mit der substantivischen Benennung des Gezählten (dem ‚Numeratum‘) in attributiver Konstruktion stehen und kongruieren dann (wie Adjektive) mit dem Numeratum in Kasus, Numerus und Genus; diese Konstruktion (die ‚homogene‘ Konstruktion, Franks 1995) ist obligatorisch, wenn die betreffende Phrase in einem indirekten Kasus steht, wie in [pięciu kobietom]D A T . P L ‚fünf Frauen‘ oder z [pięcioma kobietami]I N S . P L ‚mit fünf Frauen‘. Dagegen steht in ‚heterogener‘ Konstruktion wie in Widzę siedem kobiet ‚Ich sehe sieben Frauen‘ das Numeratum im Genitiv (hier: kobiet, GEN . PL , zu KOBIETA , F ‚Frau‘), während das Numerale in der Grundform erscheint (hier: siedem zu SIEDEM ‚sieben‘); es besteht keine Kasuskongruenz zwischen Numerale und Numeratum. Bei den Numeralia von DWA ‚2‘ bis CZTERY ‚4‘ (‚Paukalnumeralia‘) findet sich die homogene Konstruktion in direkten und indirekten Kasus (sowohl im Personalmaskulinum als auch in den anderen Genera), wie (111) zeigt (vgl. Swan 2002: 196). (111) POL

CHŁOPIEC , M P E R S

KROWA , F

‚Junge‘

‚Kuh‘

NOM

trzej chłopcy

trzy krowy

AKK

trzech chłopców

trzy krowy

LOK

trzech chłopcach

trzech krowach

DAT

trzem chłopcom

trzem krowom

GEN

trzech chłopców

trzech krów

INS

trzema chłopcami

trzema krowami

‚drei Jungen‘

‚drei Kühe‘

Im Vergleich zum Deutschen zeichnen sich die Numeralphrasen in (111) durch die durchgehende Kasusflexion der Numeralia aus. Im Nominativ und Akkusativ unterscheiden sich die Formen des Numerales zudem nach dem Genus. Die Konstruktion der Numeralphrasen weist keine besonderen Auffälligkeiten auf. Die Substantive zeigen ihre gewöhnlichen Kasusformen. Formenbestand und Formenbau von TRZY ‚drei‘ entsprechen, wie dargelegt, abgesehen von Abweichungen im Vokalismus der Endungen, dem des Pluralparadigmas der adjektivischen Flexion. Vom synchronen

1261

C5 Kasus

Standpunkt können alle Formen als Pluralformen betrachtet werden. Singularformen existieren nicht. Steht die Numeralphrase (Feldstein/Franks 2002: 57, „numeral phrase“), d. h. eine Phrase aus Numerale und Numeratum (und gegebenenfalls weiteren Elementen, etwa einem Pronomen oder Adjektiv), in einer Position, für die syntaktisch ein direkter Kasus gefordert ist, so konkurriert mit der homogenen Konstruktion die heterogene Konstruktion, bei der das Numeratum im Genitiv steht. In (112) stehen Numerale und Numeratum gleichermaßen im syntaktisch geforderten Nominativ (mit studenci, NOM . PL zu STUDENT , M P E R S ‚Student‘ und studentki, NOM . PL zu ST STUDENTKA UDENTKA , F ‚Studentin‘) (homogene Konstruktion).  

(112) a. Tu są/byli dwaj studenci. POL ‚Hier sind/waren zwei Studenten.‘ b. Tu są/były dwie studentki. ‚Hier sind/waren zwei Studentinnen.‘ Bei Numeralia des Typs PIĘC ist in entsprechenden syntaktischen Positionen dagegen die Verwendung der heterogenen Konstruktion obligatorisch; vgl. (113), wo die heterogenen Phrasen mit PIĘĆ die Funktion der homogenen Nominativphrasen mit DWA in (112) übernehmen. (113) a. Tu jest/było pięciu studentów. POL ‚Hier sind/waren fünf Studenten.‘ b. Tu jest/było pięć studentek. ‚Hier sind/waren fünf Studentinnen.‘ In (113) steht das Numeratum im Genitiv Plural, ähnlich wie in einer Konstruktion mit partitivem Genitiv im Deutschen (zwei der Studenten). Die Phrasen mit dem Numeratum im Genitiv in (113) liefern aber keine (echt) partitive Lesart und können in den deutschen Übersetzungen korrekt durch eine homogene Konstruktion wiedergegeben werden. Der Kasus des Numeratums ist in (113b) aus der (nicht ambigen) Form STUDENT KA , F ‚Studentin‘) ersichtlich. Der Spezifikation Genitiv studentek (GEN . PL zu STUDENTKA Plural genügt auch die Form studentów, AKK / GEN . PL zu STUDENT , (die – bei einem Personalmaskulinum – mit der AKK . PL -Form gleichlautet) in (113a). Nur bei Paukalnumeralia im Personalmaskulinum ist alternativ homogene oder heterogene Konstruktion möglich; vgl. (114a) (= (112a)) (homogene Konstruktion) und (114b) (heterogene Konstruktion). (114) a. Tu są/byli dwaj studenci. POL ‚Hier sind/waren zwei Studenten.‘ b. Tu jest/było dwóch studentów. ‚Hier sind/waren zwei Studenten.‘

1262

C Nominalflexion

In der heterogenen Konstruktion besteht keine Kasuskongruenz, wie (113b) zeigt, wo das Numerale in der genusunspezifischen Grundform steht, die im Polnischen als Nominativ- oder Akkusativform verwendet wird und für eine Verwendung im Genitiv nicht in Betracht kommt. Während Numerale und Numeratum im Kasus nicht übereinstimmen, stellen alle beteiligten Formen Pluralformen dar; das Genus wird durch das Numeratum festgelegt und steuert die Form des Numerales; vgl. pięciu in Verbindung mit einem personalmaskulinen Numeratum in (113a) gegenüber pięć mit femininen Numeratum in (113b). Die Identifizierung des Kasus, den das Numerale in heterogener Konstruktion trägt, ist umstritten; legt man den in Abbildung 19 angenommenen Formenbestand zugrunde, so handelt es sich bei pięciu um eine Lokativ-/Genitiv-/Dativform und bei dwóch um eine Lokativ-/Genitivform; beide können im Personalmaskulinum (nach allgemeiner Regel) auch als Akkusativformen fungieren. Da andererseits pięć als Nominativ-/Akkusativform einzustufen ist, folgt, dass das Numerale in heterogener Konstruktion im Akkusativ steht. Die beiden Konstruktionen unterscheiden sich zusätzlich bezüglich des Bestehens oder Nicht-Bestehens von Kongruenz zwischen Numeralphrase und finitem Verb. Bei homogener Konstruktion wie in (112) steht das Verb (wie in der deutschen Entsprechung) in der 3. Person Plural (im Präsens: są ‚sind‘) und kongruiert zudem im Genus, wenn eine Form des Präteritums vorliegt (byli/były ‚waren‘, 3PL . MPERS / NONMPERS ); bei heterogener Konstruktion wie in (113) und (114b) besteht keine Kongruenz zwischen Numeralphrase und Prädikatsverb. Das Verb steht in der unmarkierten Form (oder Default-Form), der 3. Person Singular (im Präsens: jest ‚ist‘), dabei im Präteritum im Neutrum (było ‚war‘, 3SG . N ). Die heterogene Konstruktion wird daher auch als ‚unpersönliche‘ Konstruktion charakterisiert; die Frage, ob danach eine syntaktisch subjektlose Konstruktion (bei der die Numeralphrase als ‚logisches Subjekt‘ fungiert) oder eine Konstruktion vorliegt, bei der keine Kongruenz zwischen Subjekt (Numeralphrase) und Prädikat besteht, muss im Rahmen der Erörterung der Kasusverteilung nicht entschieden werden und ist daher hier nicht aufzunehmen. Auch in Akkusativ-Position (als direktes Objekt oder als Komplement einer akkusativregierenden Präposition) tritt bei Numeralphrasen mit Numeralia ab ‚5‘ die heterogene Konstruktion an die Stelle von homogenen Phrasen im Akkusativ bei Paukalnumeralia (‚2‘ bis ‚4‘) wie im angeführten Beispiel Widzę siedem kobiet ‚Ich sehe sieben Frauen‘. Heterogene Phrasen – die immer ein Numerale im Akkusativ und ein Numeratum im Genitiv beinhalten – in Nominativ- und in Akkusativposition unterscheiden sich nicht. Im Personalmaskulinum lassen sich heterogene Konstruktion und homogene Akkusativ-Konstruktion (mit Numerale und Numeratum im Akkusativ) wegen der Übereinstimmung von Akkusativ- und Genitivformen formal nicht unterscheiden; vgl. dwóch studentów in (114b) und in Widzę tu dwóch studentów ‚Ich sehe hier zwei Studenten‘.  



C5 Kasus

1263

Bei zusammengesetzten Numeralia entscheidet der letzte Bestandteil über den Typ der Numeralphrase. Ist der letzte Bestandteil ein Numerale ab ‚5‘ wie SIEDEM ‚7‘ in dwudziestu siedmiu studentów ‚27 Studenten‘ oder dwadzieścia siedem studentek ‚27 Studentinnen‘, so gilt heterogene Konstruktion. Ist der letzte Bestandteil ein Paukalnumerale wie TRZY ‚drei‘, so wird in aller Regel die heterogene Konstruktion verwendet, soweit sie zur Verfügung steht (nämlich im Personalmaskulinum); vgl. dwudziestu trzech studentów zdało egzamin ‚23 Studenten haben die Prüfung bestanden‘. Andernfalls (im NONMPERS ) greift die homogene Konstruktion (mit Herstellung von Verbkongruenz); vgl. dwadzieścia trzy studentki zdały egzamin ‚23 Studentinnen …‘ (Lewicki 2002: 99).

C5.6.2.3 Verteilung von homogener und heterogener Konstruktion Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Verteilung von homogener und heterogener Konstruktion durch drei Faktoren gesteuert wird, (i) Kasus, (ii) Numeralklasse und (iii) Genus. (i) Indirekte Kasus lassen nur homogene Konstruktion zu; in syntaktischen Positionen, für die Nominativ oder Akkusativ gefordert ist (DIR -Positionen), ist homogene oder heterogene Konstruktion möglich. (ii) Für DIR - Positionen gilt ferner: Numeralia ab ‚5‘ (Typ PIĘĆ ) lassen nur heterogeCZT ERY ) lassen homogene oder ne Konstruktion zu; niedere Numeralia (DWA , TRZY , CZTERY heterogene Konstruktion zu. (iii) Für niedere Numeralia gilt ferner: Numeralphrasen des Personalmaskulinums lassen homogene oder heterogene Konstruktion zu, Numeralphrasen anderer Genera lassen nur homogene Konstruktion zu. Diese Verteilungsregeln spiegeln allgemeinere Tendenzen wider. (i) Die kasusbezogene Beschränkung für die heterogene Konstruktion fügt sich in ein allgemeineres Muster ein, nach dem am ehesten in DIR - Positionen vom Normalmuster abweichende Kasusmarkierung zugelassen ist (wie etwa der Genitiv der Negation an Stelle des Akkusativs als Objektkasus im Polnischen; vgl. → B2.4.3.2.3). Wo speziellere, nach der Kasushierarchie (→ B2.4.3.1.8) niedere Kasus gefordert sind, ist eine eindeutige Markierung tendenziell eher zwingend (wie etwa im Falle des Genitivs im Deutschen; vgl. → C6.7.2). (ii) Höhere morphosyntaktische Variabilität bei niederen Numeralia und das tendenziell stärkere Hervortreten substantivischer Konstruktionsmerkmale (hier: die Beschränkung auf die Genitivkonstruktion) bei höheren Numeralia ist für Numeralkonstruktionen allgemein charakteristisch, wie einleitend angeführt wurde. (iii) Stärkere konstruktionelle Differenzierung bei Lexemen mit hoher Position in der Nominalhierarchie (hier im Personalmaskulinum) wird auch sonst vielfach sichtbar (etwa bei der Kasusdifferenzierung). Wegen der Nichtunterscheidbarkeit von heterogener Konstruktion und homogener Akkusativ-Konstruktion bei Personalmaskulina besteht im Ergebnis nur in Nominativ-- Positionen bei mit Paukalnumeralia gebildeten Phrasen des Personalmaskulinums eine Möglichkeit zur Wahl zwischen zwei formal unterschiedenen Konstruktionen.  



1264

C Nominalflexion

Wo eine Wahlmöglichkeit besteht, stellt sich die Frage nach der funktionalen Unterscheidung der zur Verfügung stehenden Alternativen. Angaben dazu fehlen jedoch in den Grammatiken weitgehend. Nach Falkenhahn/Zielke (1964: 18) ist der Unterschied zwischen beiden Konstruktionen „heute nur noch stilistischer Art“. Vermerkt wird jedoch, dass bei heterogener Konstruktion (anders als bei homogener Konstruktion) das Verb typischerweise vorangestellt wird (Grappin 1963: 140). Entgegen der allgemein präferierten Wortstellung (Subjekt-Prädikat) stelle bei heterogener Konstruktion die Variante mit Verbvoranstellung (wie in POL Tam czekało pięciu studentów ‚Da warteten fünf Studenten‘) die unmarkierte Option dar (im Vergleich zu markiertem Pięciu studentów tam czekało) (Schenker 1971: 57). Grappin (1963: 140) gibt die in (115) (zusammen mit Grappins französischen Übersetzungen) wiedergegebenen Beispiele. (115) a. [Dwaj młodzi panowie]N O M . P L . M P E R S przyszli3P L . M . POL ‚Deux jeunes messieurs sont arrivés.‘ ‚Zwei junge Herren sind angekommen.‘ b. Przyszło dwóch młodych panów. ‚Il est arrivé deux jeunes messieurs.‘ ‚Es sind zwei junge Herren angekommen.‘ Mit dem Wechsel zweier (jeweils unmarkierter) Wortstellungsvarianten zwischen homogener Konstruktion (mit vorangestelltem Subjekt) und heterogener Konstruktion (mit vorangestelltem Verb) bietet die Wahlmöglichkeit zwischen beiden Konstruktionen, wo sie besteht, eine erhöhte Flexibilität in der informationellen Gliederung, wie sie sich auch in Grappins französischen Übersetzungen andeutet. Im Polnischen stellt die Wortstellung (wie in anderen Sprachen, die keine Artikel besitzen) das grundlegende Mittel zur Signalisierung von (In-)Definitheit dar (Topolinjska 2009: 184, „basic marker of definiteness is the linearization of the text“). Indefinite NPs werden tendenziell nahe dem Satzende platziert (Fisiak/Lipińska-Grzegorek/Zabrocki 1978: 73); vgl. auch Szwedek (1974). Nach Topolinjska (2009: 184) signalisiert präverbale (unmarkierte) Position einer Nominativ-NP in Nauczyciel wszedł do klasy ‚(Der) Lehrer betrat das Klassenzimmer‘, dass von einem bestimmten Lehrer („identified teacher“) die Rede ist. Indefinitheit könnte durch ein Pronomen (wie in jakiś nauczyciel ‚irgendein Lehrer‘) signalisiert werden; aber auch ohne Hinzufügung eines entsprechenden Determinativs signalisiere postverbale (markierte) Stellung der Nominativ-NP Position Indefinitheit (ebd.: „/–definite/ use“). Für Phrasen in anderen Kasus gelten besondere Regelungen.

Einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Unterscheidung von homogener und heterogener Konstruktion und der Signalisierung von (In-)Definitheit, der von der Wortstellung unabhängig sei, nimmt Decaux (1964) an (vgl. auch Rothstein 1993: 749); wo eine Wahlmöglichkeit besteht, signalisiere heterogene Konstruktion Indefinitheit, während homogene Konstruktion gegenüber der (In-)Definitheitsunterschei-

C5 Kasus

1265

dung neutral sei. Verwendung eines M P E R S -Subjekts in heterogener Konstruktion setze ein indefinites Subjekt voraus (Decaux 1964: 68, „la syntaxe de régime [= heterogene Konstruktion] suppose un sujet indéterminé [= indefinit]“); umgekehrt schließe homogene Konstruktion indefinite Lesart nicht aus. Signalisierung von Indefinitheit würde bei den personalmaskulinen Numeralphrasen die markierte Option darstellen. Wie im Plural gerade im Personalmaskulinum eine formale Nominativ-AkkusativDifferenzierung gemacht werde, so sei es verständlich, dass sich gerade in diesem Subgenus der Bedarf für die Unterscheidung von Definitheit und Indefinitheit in besonderer Weise manifestiere (ebd.: 72). Vgl. auch Topolinjska (2009: 186) zum Zusammenhang zwischen (un)persönlicher Konstruktion und (In-)Definitheit. Nach Swan (2009: 55) sind die Formen dwaj, trzej, czterej und obaj auf Referenz auf männliche Personen beschränkt (dwaj studenci ‚zwei (männliche) Studenten‘), während dwóch, trzech, czterech und obu, auch dwu, nicht in dieser Weise festgelegt seien.

C5.6.2.4 Nominativ- und Akkusativhypothese In Numeralphrasen zeigt sich bei heterogener Konstruktion, wie sie bei Numeralia des Typs PIĘĆ in Nominativ- oder Akkusativ-Position gefordert ist, ein Wechsel zwischen der Grundform des Numerales (pięć) (113b) und – im Personalmaskulinum – einer mit der Genitivform gleichlautenden Form (pięciu) (113a). Diese Verteilung ergibt sich ohne weitere Zusatzannahmen (aufgrund der Akkusativ-Genitiv-Regel für den Plural des Personalmaskulinums), wenn man annimmt, dass das Numerale in dieser Konstruktion im Akkusativ steht (‚Akkusativhypothese‘); siehe auch → D1.2.2.1. (Vorausgesetzt wird dabei nur, dass die heterogenen Konstruktionen im M P E R S (113a) und im NONM P E R S (113b) strukturell übereinstimmen.) Geht man davon aus, dass (i) die Numeralphrasen in (113) als Subjekt fungieren und (ii) Subjekte im Polnischen im Nominativ stehen, so ergibt sich, dass pięciu in (113b) eine Nominativform des Personalmaskulinums darstellt (‚Nominativ-Hypothese‘). Bei Annahme der Nominativ-Hypothese müssten die Paradigmen aller Kardinalia (eingeschlossen die unbestimmten Kardinalia wie KILKA ‚einige‘) gegenüber den in Abbildung 19 gegebenen Mustern um besondere personalmaskuline Nominativformen (dwóch, dwu, trzech, pięciu, kilku usw.) ergänzt werden, die in allen Fällen mit den personalmaskulinen Akkusativformen übereinstimmen würden (Saloni et al. 2012). Die Paradigmen der Kardinalia zeichneten sich danach durch das Vorhandensein eines besonderen Formtyps (Genitiv-Nominativ-Formen) aus, der im Übrigen in der Flexion des Polnischen nicht auftritt. Die Numeralia von DWA bis CZTERY würden bei dieser Analyse jeweils zwei Nominativ-Plural-Formen des Personalmaskulinums besitzen (dwaj/dwóch usw.), die sich auf unterschiedliche Konstruktionen (homogen/ heterogen) verteilen würden.

1266

C Nominalflexion

Die Vielfalt sich häufig untereinander ausschließender Analysen in der Literatur zu den Numeralphrasen der slawischen Sprachen im Allgemeinen wie auch zum Polnischen ist außergewöhnlich und kann hier nicht einmal annähernd umrissen werden. Wir beschränken uns auf eine etwas erweiterte Auswahl von Literaturangaben zum Polnischen. Nach Przepiórkowski (1999: 166 f.) stellt die Nominativ-Hypothese die in der Literatur zum Polnischen vorherrschende Auffassung dar. Zu den Grammatiken, die eine personalmaskuline Nominativform für Numeralia des Typs PIĘĆ annehmen, gehören u. a. Grappin (1950: 102), Bielec (1998: 245), Lewicki (2002: 97), Bartnicka et al. (2004: 270), Swan (2002: 197) (der aber auf die Möglichkeit der Akkusativ-Interpretation hinweist) sowie Sadowska (2012: 500), bei im Einzelnen häufig unterschiedlichen Analysen der Numeralkonstruktionen. Nicht immer werden in Darstellungen, die die Nominativ-Hypothese für höhere Numeralia zugrunde legen, auch personalmaskuline Genitiv-Nominativ-Formen für Paukalnumeralia angenommen (wie in Saloni et al. 2012).  



Die „Akkusativ-Hypothese“ rechtfertigt Schenker (1971), der verschiedene in der Literatur vertretene Positionen gegenüberstellt; ebenso (ausführlicher) Przepiórkowski (1999: 166 f.), mit neueren Literaturangaben (auch zur generativen Grammatik). Franks (1995) vertritt die Akkusativ-Hypothese über das Polnische hinaus für weitere westslawische Sprachen. Auch in verschiedenen traditionellen Grammatiken, insbesondere bei Autoren, die die Diachronie berücksichtigen, wird die Annahme, dass das Numerale in heterogener Konstruktion (immer oder wenigstens im Personalmaskulinum) im Akkusativ steht, zugrunde gelegt; darunter neben den in den obigen Quellen genannten auch Ssymank (1921: 45), Falkenhahn/Zielke (1964: 184) und Brooks (1975: 330, „accusative […] used for the nominative“); vgl. auch Laskowski (1972: 107) und Decaux (1964: 64 f.).  



Einige Darstellungen gehen davon aus, dass in im Übrigen übereinstimmend strukturierten syntaktischen Konstruktionen abhängig vom Genus – nämlich bei personalmaskulinen Numerata und anderen Numerata wie (113a) bzw. (113b) – unterschiedliche Kasusverteilungen vorliegen können; dazu ablehnend Przepiórkowski (1999: 173). Unter anderen nehmen Damerau (1967: 66– 68), Feldstein/Franks (2002: 61) und Skibicki (2007: 203) an, dass Numeralia des Typs PIĘĆ bei heterogener Konstruktion neben einem personalmaskulinen Numeratum im Genitiv stehen, bei anderem Genus dagegen im Nominativ („Nominativ-Genitiv-Hypothese“).

Die Akkusativ-Hypothese wird durch Beobachtungen zur Subjekt-Verb-Kongruenz und zur NP-internen Kongruenz gestützt. Wo eine heterogene Numeralphrase nach der Nominativ-Hypothese als Subjekt im Nominativ fungieren würde (wie in (114b)), bliebe das Fehlen von Subjekt-Prädikat-Kongruenz erklärungsbedürftig. Fehlende Kongruenz kann dagegen erwartet werden, wenn (gemäß der Akkusativ-Hypothese) in Sätzen dieses Typs ein Nominativ-Subjekt nicht vorhanden ist. In Hinblick auf die NP-interne Kongruenz ist die Beobachtung wesentlich, dass innerhalb einer heterogenen Numeralphrase, die neben Numerale und Numeratum ein kongruierendes Pronomen enthält, im Polnischen das Pronomen mit dem Numeratum kongruieren kann wie in (116a), wo das Demonstrativum tych (GEN . PL zu TEN ‚dieser‘) den Genitiv des Numeratums kobiet (GEN G EN . PL zu KOBIETA ‚Frau‘) aufnimmt, oder mit dem Numerale wie in (116b), wo das Demonstrativum te (NOM / AKK . PL . NONMPERS von TEN T EN ) den Kasus des Numerales aufnimmt, dessen Bestimmung (Nominativ oder Akkusativ) offen ist. Nach der Akkusativhypothese ergibt sich die durch die Subskripte in (116) angegebene Kasusverteilung (Przepiórkowski 2004a).

C5 Kasus

1267

(116) a. TychG E N pięćA K K kobietG E N stało. POL b. TeA K K pięćA K K kobietG E N stało. ‚Diese fünf Frauen standen.‘ Parallele Beispiele mit einem personalmaskulinen Numeratum (MĘŻCZYZNA , M P E R S ‚Mann‘), wiederum mit der Kasusverteilung gemäß der Akkusativhypothese, zeigt (117). (117) a. TychG E N pięciuA K K mężczyznG E N stało. POL b. TychA K K pięciuA K K mężczyznG E N stało. ‚Diese fünf Männer standen.‘ Da im Plural des Personalmaskulinums Akkusativ und Genitiv zusammenfallen, sind die Konstruktionen, bei denen das Personalpronomen mit dem Numeratum bzw. mit dem Numerale kongruiert, in diesem Fall formal nicht unterscheidbar; alle Beispiele in (116) und (117) sind aber mit der Akkusativ-Hypothese kompatibel. Nach der Nominativ-Hypothese wären pięć und pięciu in (116) und (117) sämtlich Nominativformen, und daher müsste auch das Demonstrativum bei Kongruenz mit dem Numerale im Nominativ stehen; die NOM / AKK - Form te wäre in (116b) als Nominativform zu lesen. Im Personalmaskulinum unterscheiden sich auch beim Demonstrativum Nominativform (ci) und Akkusativform (tych). Bei Kongruenz zwischen Demonstrativum und einem (nach der Nominativ-Hypothese) im Nominativ stehenden Numerale, sollte daher die Nominativform des Demonstrativums (ci) erscheinen; entsprechend konstruierte Nominalphrasen (*[ci pięciu mężczyzn]) sind jedoch ungrammatisch, wie Przepiórkowski (1996: 208 f.) herausstellt; vgl. auch Franks (1995: 139), mit Bezug auf das Obersorbische. Damit scheitert die Nominativ-Hypothese (Przepiórkowski 1999: 173). Den Numeralia der heterogenen Numeralphrasen fehlen, wie die Kongruenzverhältnisse zeigen, die für Nominativformen zu erwartenden Eigenschaften. Werden dennoch entsprechende zusätzliche Nominativ-MPERS -Formen postuliert, so müssen diese Formen lexikalisch so spezifiziert werden, dass sie von „echten“ Nominativformen unterschieden werden können. So werden im grammatischen Wörterbuch von Saloni et al. (2012) für DWA ‚zwei‘ zwei Nominativformen des Personalmaskulinums angesetzt (dwaj und dwóch); dabei wird dwóch durch den Zusatz „mit Genitiv“ besonders ausgezeichnet. Es erscheint jedoch fragwürdig, Kasusrektion einzelnen Flexionsformen zuzuschreiben. Bei Zugrundelegung der Akkusativ-Hypothese erübrigt sich dies; dwaj ist eine Nominativform und kann als solche nur in homogener Konstruktion verwendet werden, während dwóch (als Akkusativform) in der heterogenen Konstruktion (Akkusativ+Genitiv-Konstruktion) erscheinen kann.  

Das Resultat, dass das Numerale in heterogener Konstruktion im Polnischen im Akkusativ steht, sieht Franks (2009a: 360) als unausweichlich, aber „bizarr“ an. Diese aus der Sicht der generati-

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C Nominalflexion

ven Grammatik formulierte Einschätzung, relativiert sich bei diachroner Betrachtung. Wie Grappin (1950) in seiner detaillierten Untersuchung der Geschichte der Numeralia im Polnischen darlegt, bildet den diachronen Ausgangspunkt (nach traditioneller Terminologie) ein Akkusativus Quantitatis („accusatif de quantité“, ebd.: 112) in Sätzen mit unpersönlicher Konstruktion neben einem Genitivus partitivus („phrase de type impersonnel comprenant, à côté du prédicat neutre singulier, un génitif partitif et un accusatif de mesure“ (ebd.: 111)); vgl. auch MiechowiczMathiasen (2012). Nach Schenker (1971: 55) wären Numeralphrasen wie die in (113) auch synchron als „accusative of measure“ zu analysieren, eine Auffassung, die Schenker bis zu Małecki (1863) zurückverfolgt. Schenker weist auch auf unbestimmte Zahlwörter hin, die, wo sie aus femininen Substantiven entwickelt sind (wie PARĘ ‚ein paar‘), noch den ursprünglichen Akkusativ erkennen lassen (parę, AKK . SG zu PARA , F ‚Paar‘); vgl. auch TROCHĘ ‚ein bisschen‘. In Tam było masę studentów, wörtl.: ‚dort war Menge Studenten‘ sei masę auch synchron als (nicht kasusambiger!) Akkusativ zu MASA , F ‚Menge/Masse‘ anzusehen, womit auch der Akkusativ in Tam było pięciu studentów, wörtl.: ‚dort war fünf Studenten‘ außer Zweifel stehe.

C5.6.3 Kardinalia (Deutsch) In Übereinstimmung mit übereinzelsprachlich zu beobachtenden Mustern weisen Kardinalia im Deutschen für niedere Werte stärkere flexivische Differenzierung auf und können flexivisch eher wie Adjektive, höhere, soweit sie flektiert werden, eher wie Substantive behandelt werden. EIN als Numerale (oder Indefinitpronomen) weist pronominale Flexion auf (→ C6.5.2). Dasselbe gilt für das Quantifikativum BEIDE (vgl. [beide Männer]N O M / A K K . P L , [die beiden Männer]N O M / A K K . P L ), das auch im Singular gebraucht wird (vgl. Duden-Grammatik 2009: 313). ZWEI und DREI lassen in beschränktem Maße adjektivische und, meist in festen Wendungen, substantivische Flexion zu, VIER bis ZWÖLF ZWÖL F nur substantivische Flexion. Kardinalia für Werte über ‚12‘ unterliegen im Allgemeinen nicht der Flexion, soweit nicht substantivischer Gebrauch bei HUNDERT , TAUSEND usw. vorliegt; vgl. → A5.2.1. Abbildung 20 zeigt die Flexion der Kardinalia ZWEI bis ZWÖLF im Deutschen. Alle suffigierten Formen der Kardinalia von ZWEI bis ZWÖLF sind ihrer Morphologie nach Pluralformen. Die Kardinalia von ZWEI bis ZWÖLF können substantivisch, die Kardinalia ZWEI und DREI zudem adjektivisch flektiert werden. Die Abbildung zeigt im linken Teil die Flexive der starken und schwachen Flexion der Pluralformen der Adjektive. Eckige Klammern kennzeichnen Flexive der adjektivischen Flexion, die bei Numeralia (im Unterschied zu Adjektiven) nicht verwendet werden. Im rechten Teil sind die Flexive des substantivischen Flexionsmusters angegeben, dem die Numeralia folgen, soweit überhaupt substantivische Flexion vorkommt. Die substantivische Flexion der Numeralia ZWEI bis ZWÖLF ist weitgehend obsolet; im Kopf der Spalte für die substantivische Flexion sind die Lexemnamen daher in Klammern gesetzt.

C5 Kasus

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Abb. 20: Flexionsmuster der Kardinalia ‚2‘ bis ‚12‘ (Deutsch)  

Eine Genusformendifferenzierung fehlt bei den Kardinalia wie generell im Plural im Gegenwartsdeutschen. Bis ins Frühneuhochdeutsche zeigt ZWEI und, weniger ausgeprägt, DREI Genusdifferenzierung (Walch/Häckel 1988: 536–575). Die mit der untergegangenen femininen Form übereinstimmende Variante zwo zu zwei wird zur deutlicheren Unterscheidung von drei verwendet, besonders bei der Nennung von Ziffern – nach Jakobson (1965: 354) eingeführt durch die Berliner Telefonauskunft, nach Jespersen (1941: 46) durch militärsprachliche Regelung. Ähnlich kann im Ungarischen kettő ‚2‘ zur deutlicheren Unterscheidung von hét ‚7‘ attributiv verwendet werden, wo nach der gewöhnlichen Verteilung két ‚2‘ zu erwarten wäre (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 343).

Bei der Betrachtung der Flexion der Numeralia kann zwischen Gebrauch in attributiver und in non-attributiver Stellung (Behaghel 1923: 447; vgl. Blatz 1895: 388, „konjunkter“ vs. „absoluter“ Gebrauch) bzw., nach verbreiteter Terminologie, zwischen adjektivischem und substantivischem Gebrauch unterschieden werden. Non-attributive Stellung (im hier relevanten Sinn) liegt vor, wo das Numerale – mit oder ohne vorangehendes Determinativ – nicht als Dependens zu einem substantivischen Kopf fungiert (wie in diese drei sind gekommen), sonst attributive Stellung (wie in diese drei Männer/drei Männer sind gekommen). Substantivische Flexion nehmen die Numeralia ZWEI bis ZWÖLF nur in non-attributiver Stellung an, in attributiver Stellung gilt adjektivische Flexion (vgl. im Einzelnen Curme 1922: 149). Bei attributiver Stellung der Numeralia ZWEI und DREI ist adjektivische Flexion möglich, jedoch im Vergleich zur Flexion der gewöhnlichen Adjektive auf ein Minimum reduziert: Adjektivische Flexion kommt nur bei starker Flexion im Genitiv vor. Als ausschlaggebend kann das Prinzip der Genitivmarkierung (→ C6.7.2) betrachtet werden; vgl. Ljungerud (1955: 248–251). Wenn nicht anderweitig eine hinreichende Genitivmarkierung gegeben ist, ist Flexion des Kardinalnumerales obligatorisch. Dies ist dann der Fall, wenn das Numerale das einzige Dependens zum substantivischen Kopf einer NP im Genitiv Plural ist, wie in Durch [zweier Zeugen]G E N . P L Mund wird allerwegs die Wahrheit kund (Goethe, Faust I). Folgt in einer Genitiv-NP auf das Numerale noch ein den Kasus anzeigendes Adjektiv, so ist die Flexion des Numerales

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C Nominalflexion

optional, aber üblich; vgl. die Entstehung [zweier deutscher Staaten]G E N . P L vs. die Entstehung [zwei deutscher Staaten]G E N . P L (seltener). Die Möglichkeit zur Genitivmarkierung besteht bei ZWEI und DREI . Ab VIER kommt eine alternative präpositionale Konstruktion zum Zuge (die Aussagen von vier Zeugen/*vierer Zeugen), die umgangssprachlich auch für niedere Numeralia bevorzugt wird. Relikte einer in älteren Sprachstufen weiterreichenden Verwendung der flexivischen Markierung sind noch in erstarrten Formen wie viererlei, fünferlei usw. erhalten (Paul 1917: 185). Im Übrigen bleiben Adjektive in attributiver Position im Gegenwartsdeutschen unflektiert wie in drei MännerN O M / A K K . P L , die drei MännerN O M / A K K . P L , mit drei MännernD A T . P L , mit den drei MännernD A T . P L oder der drei MännerG E N . P L . Die GEN . SG -Endung -er ist auch auf substantivische Numeralia wie HUNDERT und TAUSEND übertragen worden und findet sich auch bei alleinstehendem Gebrauch wie in das Leben Tausender (Ljungerud 1955: 250). Adjektive in der Position nach dem flektierten Numerale werden gewöhnlich stark flektiert, wenngleich auch schwache Flexion vorkommt (Curme 1922: 133); vereinzelte Belege (und verschiedene Grammatikermeinungen) bietet Ljungerud (1955: 304–306). Die Kardinalnumeralia werden in diesem Fall somit auch unter dem Gesichtspunkt der Flexion folgender Adjektive in aller Regel wie Adjektive behandelt (‚parallele Flexion‘).

Die weitgehende Flexionslosigkeit der Numeralia kann dem fehlenden funktionalen Druck zur flexivischen Markierung zugeschrieben werden. Wo Adjektive im Plural keine Kasusdifferenzierung aufweisen (in Positionen, die schwache Flexion fordern), tritt, wie man erwarten kann, auch bei Kardinalia keine Kasusflexion auf. Bei den Kardinalia – die nur Pluralformen besitzen – wäre zudem die Setzung der in der schwachen Flexion im ganzen Plural herrschenden Endung -en funktionslos und unterbleibt (vgl. in diesen drei Restaurants). In der starken Flexion der Adjektive haben im Plural nur Dativ und Genitiv einzelkasusspezifische Flexive. In Positionen, wo starke Flexion gefordert wäre, ist der Dativ im Plural häufig schon durch die Substantivform gekennzeichnet (wie in drei Männern); vielfach geht zudem eine Präposition, die den Kasus festlegt, voraus (wie in mit drei Blumen). Es kann daher kaum überraschen, wenn die starke Flexion der Numeralia auf den Genitiv beschränkt geblieben ist, also auf Positionen, wo Kasusmarkierung nach allgemeiner Regel vielfach zwingend ist, soweit nicht eine präpositionale Konstruktion vorgezogen wird. In non-attributiver Stellung kommt bei Kardinalia von ZWEI bis ZWÖLF substantivische Flexion vor. In der substantivischen Pluralflexion weist nur der Dativ ein besonderes Kasusflexiv auf. Belege für entsprechende DAT . PL -Formen aus der Literatursprache des 20. Jahrhunderts gibt Ljungerud (1955: 247): auf allen Vieren; der Schlimmste von allen dreien; der eine von den dreien, mit dreien; die andere Schwadron kam, in vieren, heran. Nach Behaghel (1923: 427) werden die Dativformen auf -en „als archaisch empfunden“. Wenigstens in der Position nach dem definiten Artikel scheint die flektierte Form aber eher „unauffällig“, auch wenn flexionslose Formen üblich sind wie in einer von den drei.  

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C5 Kasus

Einen besonderen Fall stellt das Muster der adverbialen Kollektivnumeraliakonstruktion wie etwa zu dreien dar (Drosdowski et al. 1988: s. v. DREI : „veraltend“), wo flexionslose Formen der Kardinalia ausgeschlossen sind (*zu drei, stattdessen: zu dritt, mit unflektiertem Ordinale).  

Numerusflexive (Pluralflexive ohne kasusmarkierende Funktion) sind bei Numeralia, die inhärent pluralisch sind, entbehrlich und werden in der Regel im Gegenwartsdeutschen nicht mehr verwendet. Soweit flexivische Pluralmarkierung in der substantivischen Flexion der Kardinalia erhalten ist, erscheint das Pluralflexiv -(e). Formen auf -(e) sind weitgehend auf feste Wendungen wie alle viere von sich strecken, fünfe gerade sein lassen oder alle neune beschränkt, finden sich aber auch sonst bei Personenbezug; vgl. Sechse kommen durch die ganze Welt (Märchentitel, Brüder Grimm). Paul (1917: 185) gibt (im frühen 20. Jahrhundert) an, dass die Formen auf -e „noch gebräuchlich [seien], wenigstens in Norddeutschland“. Sie gelten aber nicht als schrift- oder standardsprachlich (so schon Wilmanns 1909: 446; vgl. Duden-Grammatik 2009: 384). Zu älteren Verwendungen im Genitiv siehe Blatz (1895: 390); vgl. Spruch der Viere (Goethe, Faust I) (nämlich der vier Elemente oder Elementargeister). (Bei SIEBEN scheitert die -(e)-Form an der Schwa-Regel; vgl. → C4.2.5.1 (58)). In jedem Fall ist substantivische Flexion bei Kardinalia an die non-attributive Stellung gebunden (*die sechse Freunde, *mit dreien Autos); vgl. Paul (1917: 187) zu drei vs. dreie.  

Die Numeralia des Typs FÜNF (und aufwärts) werden im Germanischen (ebenso wie im Slawischen) in non-attributiver Verwendung ursprünglich wie Substantive der i-Deklination flektiert; in attributiver Verwendung bleiben sie unflektiert (Paul 1917: 185; Ross/Berns 1992: 557 f.). Die im Mittelhochdeutschen durch Endsilbenabschwächung entstandene weitgehende Übereinstimmung des Flexivbestands von substantivischer Flexion im Plural und starker adjektivischer Flexion hat den Weg zur adjektivischen Flexion der Numeralia eröffnet (mit dem Genitiv auf -er) (Paul 1917: 185) und in der Folge viele Schwankungsfälle erzeugt; vgl. im Einzelnen mit Belegen Blatz (1895: 388–391).  

Numeralia als Substantive (eine gute Vier) und von Numeralia abgeleitete Substantive (ein Achtundsechziger) folgen der maskulinen bzw. femininen gewöhnlichen Flexion der Substantive (VIER , F ; ACHTUNDSECHZIGER , M ) ohne Abweichung. In Fällen wie die achtziger Jahre können synchron unflektierbare Adjektive angenommen werden, ähnlich den Ortsadjektiven wie FRANKFURT ER usw., nicht Genitivformen (wie bei Blatz 1895: 390).

C5.6.4 Kardinalia (Französisch) Abbildung 21 zeigt die Formen und Formvarianten der Kardinalia des Französischen für die Werte ‚1‘ bis ‚3‘. (Zum Formenbestand der Numeralia siehe Malécot (1954), Price (2005) und die Grammatiken.)

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C Nominalflexion

Abb. 21: Kardinalia ‚1‘ bis ‚3‘ (Französisch)  

Als Kardinale zeigt UN ‚eins‘ die gleichen Formen wie in anderen Funktionen, insbesondere als indefiniter Artikel. Die Formenbildung fügt sich in das Muster der Flexion der Pronomina ein; vgl. → C2.8.2, Abbildung 5. Unterschieden werden eine F - Form une (/yn/) und eine NONF - Form un (/œ̃ (n)/, die zwei Varianten aufweist, eine konsonantfinale Variante (Langform), die in Liaison-Kontexten (vor einer folgenden vokalinitialen Form) erscheint (wie in un‿homme), und eine vokalfinale Form (Kurzform), die erscheint, wo die Langform nicht verwendet wird (vor einer folgenden auf Konsonant anlautenden Form oder in finaler oder isolierter Position). Wie in den Pronominalformen mon, ton, son, aber anders als bei Adjektiven, verliert der Vokal in der Liaison-Variante /œ̃ n/ die Nasalierung nicht. DEUX ‚zwei‘ und T TROIS ROIS ‚drei‘ zeigen keine Genusdifferenzierung, aber wie UN und viele Adjektive einen Wechsel zwischen Kurzform und Langform. Vor vokalinitialen Folgeformen tritt wiederum Liaison ein, wenn dies nach den allgemeinen LiaisonRegularitäten möglich ist, wie in deux‿hommes, trois‿hommes. Als Nennform/Zählform fungiert bei den Numeralia für ‚1‘ bis ‚3‘ die Kurzform (/œ̃ /, /dø/, /tʀwɑ/). Abbildung 22 zeigt die Formen und Formvarianten der Kardinalia des Französischen für die Werte ‚4‘ bis ‚10‘.

Abb. 22: Kardinalia ‚4‘ bis ‚10‘ (Französisch)  

Einige Numeralia dieses Bereichs sind in der Gegenwartssprache invariabel (wie SEPT ) oder tendieren stark zu Invariabilität wie NEUF und CINQ , andere besitzen zwei oder drei Formvarianten wie HUIT (/ɥit/, /ɥi/) bzw. SIX (/sis/, /siz/, /si/). Auffälliges Merkmal der Numeralia dieser Gruppe ist die Verwendung der Langform in finaler und isolierter Position (als Nennform/Zählform) bei denjenigen, die mehrere FormvariT ROIS geltenden Verteilung erscheint in anten besitzen. Entgegen der für UN , DEUX , TROIS

C5 Kasus

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isolierter Position oder in Endstellung nicht die vokalisch auslautende Form, sondern eine konsonantisch auslautende; vgl. donne m’en un /dɔnmãœ̃ / ‚gib mir eines‘, … deux /dɔnmãdø/, … trois /dɔnmãtʀwɑ/ mit donne m’en cinq /dɔnmãsε͂ k/, … six /dɔnmãsis/ (Malécot 1954: 288). Zur Erfassung der Variantenverteilung kann ähnlich wie im Deutschen zwischen Gebrauch in attributiver und in non-attributiver Stellung (adjektivischem und substantivischem Gebrauch) unterschieden werden; vgl. Malécot (1954: 287–293, „numerals used as nouns“, „used as adjectives“). Siehe auch TLFi (2003: s. v. CINQ , „emploi adj. du numéral“ vs. „emploi non adj.“) oder Grevisse/Goosse (2011: 803, „déterminant“ vs. „non-determinant“). Der für die Numeralia für ‚1‘ bis ‚3‘ beschriebene Wechsel zwischen Kurz- und Langformen ist bei den Numeralia ab ‚4‘, soweit sie überhaupt Formenvariation zulassen, auf die Verwendung in attributiver Stellung (vor Substantiv, Adjektiv oder Pronomen) beschränkt – hier tritt gegebenenfalls Liaison ein (dix‿amis ‚zehn Freunde‘, dix‿aimables amis ‚zehn nette Freunde‘, sis‿autres ‚sechs andere‘); vgl. huit livres /ɥiliːvʀ/ ‚acht Bücher‘ vs. huit ans /ɥitã/ ‚acht Jahre‘ oder six livres /siliːvʀ/ ‚sechs Bücher‘ vs. six ans /sizã/ ‚sechs Jahre‘. In non-attributiver Stellung erscheint immer eine Langform (wie in den obigen Beispielen mit finaler Position); SIX und DIX besitzen jeweils zwei Langformen, eine Liaison-Variante (/siz/; /diz/) und eine besondere Langform (/sis/; /dis/), die in non-attributiver Stellung erscheint. Price (2008) gibt auch für CINQ in non-attributiver Stellung eine besondere Form an (/sε͂ ːk/). Vor Monatsnamen, wo im Französischen anders als im Deutschen Kardinalia, nicht Ordinalia gebraucht werden, schwankt der Gebrauch zwischen ‚adjektivischer‘ und ‚substantivischer‘ Form; vgl. le six mai (/ləsisme/ oder /ləsime/) (Malécot 1954: 288); auch in Konstruktionen wie dix pour cent ‚zehn Prozent‘ gibt es Schwankungen (Grevisse/ Goosse 2011: 803).  

Für QUATRE verlangt die Norm die Aussprache /katʀ/. Die häufig als Zählform oder in präkonsonantischer Position verwendete, um den Sonoranten gekürzte Variante /kat/ (Malécot 1954: 291) wird meist als umgangssprachlich qualifiziert (Grevisse/Goosse 2011: 45, 803, „peu soignée“). Die Variante /nœv/ zu NEUF (mit stimmhaftem Auslaut in prävokalischer Position) findet sich nur in den Verbindungen neuf ans ‚neun Jahre‘ und neuf heures ‚neun Stunden‘ (Malécot 1954: 292).

Insgesamt ist bei den mittleren Kardinalia eine Tendenz zum Abbau der Formendifferenzierung zugunsten der konsonantisch auslautenden Varianten zu beobachten, der bei SEPT schon vollständig vollzogen ist, aber auch bei CINQ fortschreitet, wenn der Auslautkonsonant in präkonsonantischer Position bewahrt wird wie in cinq livres /sε͂ kliːvʀ/ ‚fünf Bücher‘. Ab dem Wert ‚11‘ sind die Numeralia bis auf VINGT ‚20‘ und CENT ‚100‘ im Allgemeinen invariabel. Das Numerale MILLION MIL LION ‚Million‘ ist ein Substantiv; vgl. un million de francs ‚eine Million Franc‘. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Während bei UN , DEUX , TROIS der bei Pronomina und Adjektiven verbreitete Wechsel zwischen Liaison-Variante und NonLiaison-Variante durchwegs gilt (also pronominale bzw. adjektivische Formenbil-

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C Nominalflexion

dung vorliegt), tritt dieser Wechsel bei Kardinalia von ‚4‘ bis ‚10‘, wenn überhaupt, nur auf, wo diese (nach traditioneller Terminologie) tatsächlich „als Adjektive“ gebraucht werden (in attributiver Stellung). In non-attributiver Stellung (beim Gebrauch „als Substantiv“) tritt kein Wechsel ein. (Substantivstämme besitzen – anders als Pluralformen der Substantive – grundsätzlich keine Liaison-Varianten (Rothe 1972: 99).) Obwohl eine kategoriale Differenzierung (nach Genus) nur beim Numerale für ‚1‘ gegeben ist, zeigt die Gesamtverteilung der Formenvariation bei den Grundzahlen des Französischen das aus dem Sprachvergleich bekannte Gefälle: ‚1‘ – pronominal; ‚2‘ und ‚3‘ – adjektivisch; ‚4‘ bis ‚10‘ – adjektivisch oder invariabel, ab ‚11‘ invariabel.

C5.7 Anhang: Personennamen im Polnischen C5.7.1 Vorbemerkung Die Flexion von Eigennamen in den Vergleichssprachen fügt sich im Ganzen betrachtet in die jeweiligen Muster der Substantivflexion ein. Jedoch können insbesondere Personennamen (Vor- und Nachnamen) im Polnischen der substantivischen oder der adjektivischen Flexion folgen oder Mischungen beider Typen zeigen und gegenüber der Flexion der Appellativa charakteristische Abweichungen aufweisen, wie im Folgenden dargestellt wird. Besonderheiten der Eigennamenflexion im Deutschen werden in → C5.5.2 und → C6.7.3 angesprochen. Zur vergleichenden Betrachtung der Eigennamen insgesamt siehe → B1.4.3; siehe auch → C4.4 (zum ‚assoziativen‘ Plural bei Eigennamen).

Die Flexion der Personennamen folgt im Grundsatz der der Substantive bzw. Adjektive, soweit sich die Personennamen anhand ihrer Grundformen (NOM . SG ) in die betreffenden Flexionsmuster einreihen lassen. Übergreifend gilt, dass maskuline Personennamen zu den Personalmaskulina (M P E R S ) gehören und die Charakteristika dieses Subgenus zeigen.

C5.7.2 Adjektivisch flektierte Personennamen Beispiele für Personennamen, die rein adjektivisch flektiert werden, liefern Namen, die auf Herkunftsbezeichnungen zurückgehen, die mit adjektivbildenden Suffixen gebildet sind und diese noch deutlich erkennen lassen. Es handelt sich um Familiennamen, die im NOM . SG . M den Ausgang -ski/-cki/-dzy aufweisen, wie z. B. KOCHANOWSKI , GOMUL ICKI oder NIEDŹWIEDZKI . Personennamen mit diesem Ausgang (darunter alte GOMULICKI Adelsnamen) gehen insbesondere auf Ableitungen zu Ortsnamen zurück. In anderen Fällen handelt es sich um Bildungen gleicher Form auf der Basis von Appellativa  

C5 Kasus

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verschiedener Art (darunter Bezeichnungen von Ständen, Berufen u. a.). Sie gelten als besonders typische polnische Familiennamen. Das betreffende Bildungsmuster stellt auch in der Gegenwartssprache ein produktives Mittel zur Ableitung von Adjektiven auf der Basis von Nomina und insbesondere zur Ableitung von Adjektiven auf der Basis von Städtenamen dar; vgl. WARSZAWSKI , Adjektiv zum Städtenamen WARSZAWA (Warschau) (Swan 2002: 139), dazu der gleichlautende Familienname WARSZAWSKI . Die Wahl zwischen den angegebenen Suffixvarianten wird durch den Stammausgang der Basis bestimmt (Bielec 1998: 181). Da das Muster produktiv ist, kann es nicht überraschen, dass auch die Familiennamen mit entsprechender Grundform der regulären adjektivischen Flexion ohne Abweichung folgen (unter Einschluss maskuliner und femininer Formen bei Bezug auf männliche bzw. weibliche Personen). Die Varianten, die dem Bezug auf weibliche Personen dienen, lauten im NOM . SG auf -ska, -cka bzw. -dzka. Der maskulinen Variante des Familiennamens JAROCKI entspricht demgemäß die feminine Variante JAROCKA ; entsprechend z. B. KRUPSKA , ZAWADZKA . Hierzu können nach dem Muster der adjektivischen Flexion Pluralformen gebildet werden wie Jaroccy (NOM . PL . M ) und Jarockie (NOM . PL . F ).  



C5.7.3 Adjektivisch-substantivisch flektierte Personennamen Zum adjektivisch-substantivischen Typ gehören u. a. Familiennamen, die wie einfache Adjektive in der Grundform auf i/y lauten, z. B. MAŁY zum Adjektiv MAŁY ‚klein‘. Während die rein adjektivisch flektierten Personennamen (auf -ski usw.) formal abgeleiteten Adjektiven entsprechen und einen vollständigen Satz maskuliner und femininer Formen aufweisen können, sind die adjektivisch-substantivisch flektierten Personennamen mit nominalisierten Adjektiven vergleichbar, die dem Personenbezug dienen (Swan 2002: 74, „personal adjectival nouns“). Das maskuline oder das feminine Teilparadigma kann fehlen. Im Plural wird meist das honorifikative Suffix der Substantive (-owie) verwendet, daher Małowie, NOM . PL . M (seltener Mali nach adjektivischen Muster, Swan 2002: 82). Dieses Flexionsmuster gilt generell für Familiennamen mit Ausgang auf y bzw. i in der Grundform (soweit sie nicht zum rein adjektivischen Typ auf -ski usw. gehören), eingeschlossen fremde Namen wie GORKI , PUCCINI oder KENNEDY (Kotyczka 1976: 49) und zudem für maskuline Vornamen auf i/y wie IGNACY , ANTONI oder EDDIE . GOET HE folgen im Singular dem Muster von Familiennamen auf e wie LINDE und GOETHE Ortsnamen wie ZAKOPANE , daher Lindem, LOK / INS . SG (Saloni et al. 2012, s. v.).  





Ortsnamen wie ZAKOPANE werden im Einklang mit ihrer Lautform wie Adjektive im Neutrum flektiert (daher Zakopanego, GEN . SG , usw.). Pluralformen sind nicht vorhanden; ebenso gehen Gebietsnamen wie POZNAŃSKIE (Gebiet um Poznań) (Kotyczka 1976: 51). Der Lokativ (und ebenso der gleichlautende Instrumental) zeigt aber nicht die reguläre Adjektivendung -im/-ym, sondern bewahrt die ältere Endung -em wie in w Zakopanem ‚in Zakopane‘ (Swan 2002: 121). Dies fügt sich

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C Nominalflexion

der allgemeineren Beobachtung, dass bei Ortsnamen gerade in Lokalkasus mit Archaismen zu rechnen ist (Mańczak 1995: 428). Verglichen werden können auch die archaischen Lokativ-PluralFormen auf -ech (statt -ach) bei den pluralischen substantivischen Ländernamen (Pluraliatantum) NIEMCY ‚Deutschland‘, WĘGRY W ĘGRY ‚Ungarn‘ und WŁOCHY W ŁOCHY ‚Italien‘ wie in w Niemczech ‚in Deutschland‘, we Włoszech ‚in Italien‘, na Węgrzech ‚in Ungarn‘ (Kuraszkiewicz 1981: 101; Swan 2002: 123).

Während bei Ortsnamen wie ZAKOPANE keine Pluralformen existieren, folgen Familiennamen auf e im Plural der regulären substantivischen Flexion (Lindowie, NOM . PL , Lindów, AKK / GEN . PL ; usw.) (Brooks 1975: 273; Kotyczka 1976: 49). Die Flexion der Familiennamen auf e kombiniert so ein nicht ganz regelmäßiges adjektivisches Singularparadigma mit einem regelmäßigen substantivischen Pluralparadigma.

C5.7.4 Substantivisch flektierte Personennamen C5.7.4.1 Maskulina Maskuline Appellativa weisen im Polnischen im Allgemeinen endungslose, auf Konsonant ausgehende Grundformen (NOM . SG - Formen) auf wie etwa STUDENT ‚Student‘; eine kleinere Gruppe bilden die Maskulina des Typs KOLEGA (mit Grundformen auf -a), die im Singular wie entsprechende Feminina flektiert werden. Beide Typen sind auch bei Personennamen belegt. Auf Konsonant ausgehende Familiennamen wie NOWAK oder KRÓL fügen sich ohne Weiteres in das reguläre Flexionsmuster ein und werden als Maskulina grundsätzlich wie gewöhnliche Appellativa flektiert. Es gelten aber die Regelungen für die Personalmaskulina (M P E R S ), hier die Akkusativ-Genitiv-Regel (für den Singular und den Plural). Der Nominativ Plural zeigt die honorifikative Form auf -owie. Daraus ergeben sich gegebenenfalls Unterschiede in der Flexion zwischen Personennamen und in der Grundform gleichlautenden Appellativa. Ebenso behandelt werden die entsprechenden maskulinen Vornamen wie ADAM oder TOMASZ . Einen nur in der Grundform abweichenden besonderen Bildungstyp, der insbesondere Personennamen einschließt, stellen maskuline, weichstämmige Hypokoristika/Diminutiva mit dem (im Übrigen neutrumtypischen) Ausgang -o dar. Das Genus Maskulinum ist durch den Sexus festgelegt. Mit Ausnahme der Grundform folgen alle Formen dem allgemeinen Muster. Hierzu gehören Verwandtschaftsbezeichnungen wie DZIADZIO ‚Großväterchen‘ oder WUJCIO ‚Onkelchen‘, aber auch PIESIO ‚Hündchen‘ (Laskowski 1972: 37), und Vornamen wie ST STASIO ASIO (zu STANISŁAW STANISŁ AW ) oder JÓZIO (zu JÓZEF ). Fremde Namen (wie TASSO oder PICASSO ) fügen sich hier ein; solche, HUG O oder ROUSSEAU , mit die nicht in das polnische System passen (wie z. B. FRA HUGO Endbetonung), ), bleiben unflektiert. Dem substantivischen Typ KOLEGA (mit Grundformausgang -a) folgen gemäß ihrer ZAGŁ OBA , auch Grundform die entsprechenden Familiennamen wie KONOPKA oder ZAGŁOBA fremde Namen wie NERUDA oder OBAMA (Brooks 1975: 272; Kotyczka 1976: 48); daher:  

C5 Kasus

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Zagłobę, AKK . SG ; Zagłoby, GEN . SG ; usw. wie im Femininum. (Im Plural gibt es keine Abweichungen gegenüber den gewöhnlichen maskulinen Personennamen.) Zum honorifikativen Plural auf -owie lässt sich zusammenfassend feststellen: Bei substantivisch flektierten Personennamen (eingeschlossen die Personennamen auf -e) ist der Plural auf -owie obligatorisch, bei adjektivisch-substantivisch flektierten die Regel, aber nicht zwingend, bei solchen, die aufgrund ihrer Form (auf -ski usw.) in die adjektivische Flexion fallen, ist er nicht möglich.

C5.7.4.2 Feminina Feminine Varianten der Familiennamen (Namen für weibliche Familienangehörige) sind häufig derivierte Bildungen auf der Grundlage maskuliner Personennamen (Namen für männliche Personen bzw. sexusunspezifische oder generisch verwendbare Namen). Die femininen Varianten zu maskulinen Namen können durch Suffigierung oder durch Konversion gewonnen werden. Zum ersten Typ gehören Bildungen auf -owa wie NOWAKOWA ‚Frau N.‘ zu NOWAK ‚Herr N.‘. Sie werden adjektivisch flektiert; siehe aber zum Vokativ → C5.7.5. Andere mit Suffixen gebildete feminine Nachnamen wie NOWAKÓWNA ‚Tochter von N.‘/‚Fräulein N.‘ sowie die weitgehend obsoleten Bildungen auf -ina und -anka folgen aber der substantivischen Flexion, teils mit Untermischung adjektivischer Formen (Swan 2002: 60 zum INS / LOK . PL ). Zur Verwendung der abgeleiteten femininen Nachnamen unter sprachpolitischen Aspekten siehe Sadowska (2012: Kap. 12, „Gender issues of address“); vgl. auch Brooks (1975: 275 f.) und Swan (2002: 58–61). Beim zweiten Typ fungiert die Grundform der maskulinen Variante unverändert auch als feminine Namensform. Die feminine Variante bleibt in diesem Fall unflektiert; etwa pani Nowak, NOM . SG . F ; panią Nowak, AKK . SG . F ; usw. Dies gilt nicht nur, wie man erwarten kann, für Namen, deren Grundform einen maskulintypischen Ausgang zeigen, etwa auf Konsonant wie im angeführten Beispiel, oder auch für Namen auf -ko wie Kościuszko (Bogusławski 2009: 44), sondern sogar für Namen, die (in der Grundform) mit femininen Appellativa auf -a gleichlauten wie etwa ZIMA , F ‚Winter‘; vgl. pani Zima, NOM . SG ; panią Zima, AKK . SG ; usw. Swan (2002: 59). Es wird beobachtet, dass sich dieser Typ zunehmend gegenüber der Verwendung suffigierter femininer Nachnamen durchsetzt (Brooks 1975: 275; Swan 2002: 60 f.).  





C5.7.5 Vokative bei Personennamen Die Sachlage bei der Bildung der Vokative ist unübersichtlich. Die Grammatiken machen vielfach unterschiedliche Angaben. Vokative werden in erster Linie von Personenbezeichnungen gebildet und daher insbesondere auch von Personennamen. Personennamen können, wie dargestellt,

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adjektivisch, adjektivisch-substantivisch oder substantivisch flektiert werden. In der adjektivischen Flexion fallen Vokativ und Nominativ immer zusammen; vgl. etwa die in Briefen verwendete Anredeformel Szanowny Panie ‚Geehrter Herr‘ mit panie, VOK . SG . M zu PAN ‚Herr‘ und szanowny, ADJ , NOM / VOK . SG . M (Swan 2002: 166). Soweit rein adjektivische Flexion vorliegt, stehen daher (auch bei Personennamen wie etwa LASKOWSKI ) keine besonderen Vokativformen zur Verfügung. Zu den mit dem Suffix -owa gebildeten (jetzt in vielen Fällen als veraltet geltenden) adjektivisch flektierten femininen Personenbezeichnungen, die von maskulinen Berufsbezeichnungen oder Titeln abgeleitet sind, existieren Vokative auf -o, z. B. proPROF ESOROWA , F ‚Frau eines Professors‘, abgeleitet von PROFESOR PROF ESOR , fesorowo, VOK . SG zu PROFESOROWA M ‚Professor‘. Dementsprechend kann auch bei femininen, adjektivisch flektierten Nachnamen auf -owa mit Vokativformen auf -o gerechnet werden (Damerau 1967: 60); jedoch verzeichnen Swan (2002: 60) und Saloni et al. (2012: s. v. Nowakowa) Zusammenfall mit dem Nominativ (gemäß dem adjektivischen Muster). Der Vokativ der maskulinen Vornamen wird wie bei Appellativa gebildet; z. B. Janie zu JAN (Personenname), Marku zu MAREK (Personenname), doch kann der Nominativ für den Vokativ eintreten, etwa Paweł statt Pawle (Mańczak 1960: 134). Auch für maskuline Familiennamen wird vielfach, aber nicht immer eine besondere, vom Nominativ verschiedene Vokativform (etwa Lipko zu LIPKA , Turgieniewie zu TURGIET OŁ ST OJ ) angesetzt (Saloni et al. 2012); anders Swan (2002: 70). NIEW oder Tołstoju zu TOŁSTOJ Bei maskulinen Appellativa des Typs KOLEGA lautet der Vokativ auf -o (kolego), vgl. Kolego! Telefon do pana! ‚Kollege! Ein Anruf für Sie!‘ (Laskowski 1972: 63). Familiennamen auf -a folgen als Maskulina grundsätzlich dem gleichen Flexionsmuster, so dass der Vokativ auf -o lauten sollte, z. B. Zagłobo, VOK . SG . M zu ZAGŁOBA (Familienname) nach Brooks (1975: 272) und Saloni et al. (2012, s.v). Unterschiedliche Angaben zur (Nicht-)Existenz besonderer, vom Nominativ verschiedener Vokativformen finden sich aber sowohl zu Namen auf -a als auch zu konsonantisch auslautenden Familiennamen. Die Frage, bei welchen Namen besondere, vom Nominativ verschiedene Vokativformen überhaupt als gegeben angenommen werden können, berührt sich mit der Frage, unter welchen Bedingungen Vokative verwendet werden. Insoweit Vokative bei Familiennamen keine eingeführten Verwendungskontexte haben oder gemäß der generellen Tendenz Nominative vokativisch verwendet werden (Swan 2002: 70), ist die Existenz besonderer Vokativformen fraglich. Wenigstens wo konsonantisch auslautende Familiennamen in der Verbindung mit einem Titel im Vokativ (wie panie, VOK . SG zu PAN ‚Herr‘) stehen, erscheinen sie in der unveränderten Grundform (ebd.: 82), wie etwa Klimczak (Familienname) in Dzień dobry, doktorze Klimczak! ‚Guten Tag, Doktor Klimczak!‘ mit doktorze, VOK . SG zu DOKT OR – anders als Vornamen und Appellativa; vgl. Dzień dobry, panie Janie! ‚Guten DOKTOR Tag, Herr Jan!‘ mit Janie, VOK . SG zu JAN (Vorname) (ebd.: 164) und Dzień dobry, panie dyrektorze! ‚Guten Tag, Herr Direktor!‘ mit dyrektorze, VOK . SG zu DIREKTOR (ebd.: 371). Maskuline Vornamen mit dem Ausgang -o im Nominativ Singular (der bei Appellativa für Neutra charakteristisch ist) wie STASIO (zu STANISŁAW ) (Hypokoristika, weich 







C5 Kasus

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stämmig) folgen in den obliquen Kasus der gewöhnlichen maskulinen Flexion und zeigen Vokativformen auf -u. Die besondere Rolle, die der Vokativ bei Personennamen spielt (potentiell als Grundform in Konkurrenz mit dem Nominativ), zeigt sich, wenn die entsprechenden Vokativformen tatsächlich als Nominative verwendet werden, wie es häufig der Fall ist, aber als ‚unkorrekt‘ gilt (Mańczak 1960: 134) (vgl. Swan 2002: 107, „de facto nominative“, zu Beispielen wie Rysiu, Rychu, Vokativ als Nominativ zu RY SIO , RYCHO , Diminutiv/Augmentativ zu RYSZARD RYSIO RY SZARD ). Die femininen Hypokoristika (weichstämmig), z. B. DANUSIA (zum Personennamen DANUTA ) und MAMUSIA ‚Mutti‘ bilden den Vokativ, abweichend von der regulären Flexion der Feminina, ebenfalls auf -u (Danusiu, mamusiu). Im Regelfall bilden feminine Appellativa mit NOM . SG -Formen auf -a den Vokativ auf -o, z. B. siostro zu SIOSTRA ‚Schwester‘, vgl. Kochana Siostro! ‚Liebe Schwester‘; dies gilt auch für Personennamen, vgl. Kochana Urszulo! ‚Liebe Ursula!‘ zu URSULA ; ebenso Mario, VOK . SG . F zu MARIA , wobei wiederum der Nominativ für den Vokativ eintreten kann, z. B. Baśka statt Baśko (Mańczak 1960: 134). Bei den abgeleiteten femininen Namen auf -ówna (wie NOWAKÓWNA ‚Fräulein Nowak‘ zu NOWAK ), die weitgehend substantivisch flektiert werden, fordern die Grammatiken ebenfalls den Vokativ auf -o (Nowakówno) (Swan 2002: 60; Brooks 1975: 275), während Mańczak (1960: 133) als Vokativ Nowakówna angibt. Bei den adjektivisch flektierten Familiennamen stimmt der VOK . SG . F wie allgemein der Vokativ in der adjektivischen Flexion auch im Femininum mit dem Nominativ überein (Jarocka, VOK / NOM . SG . F zu JAROCKI / JAROCKA ). Vokative auf -o gelten als Grammatikfehler (Swan 2002: 58). Im Allgemeinen können Nominativformen auch als Vokativformen verwendet werden. Wie bemerkt, besteht eine Tendenz zur Auszeichnung und Nutzung besonderer Vokative bei Vornamen. Dagegen besteht eine (praktisch weit fortgeschrittene) Tendenz zur Nicht-Verwendung besonderer Vokative bei Familiennamen. Dies gilt auch für Fälle, wo der Gesamtaufbau des Flexionsparadigmas nach Analogie der Flexion der Appellativa die Existenz einer besonderen Vokativform erwarten ließe. Besondere Vokativformen können in diesem Fall, dem allgemeinen Muster folgend, zwar gebildet werden. Die Annahme, dass solche Formen systematisch gar nicht mehr anzunehmen seien, scheint zu weit zu gehen; doch haben sie vielleicht aus der Sicht des Sprachgebrauchs eher fiktiven Charakter, insofern tatsächlich die Nominativformen an ihrer statt verwendet werden.  





C5.7.6 Familiennamen und Appellativa Viele Familiennamen wie WRÓBEL , KOT und GOŁĄB , KRÓL oder auch SŁÓWKO lauten (in G OŁĄB , M der Grundform) mit Appellativa gleich; vgl. WRÓBEL , M ‚Spatz‘; KOT , M ‚Katze‘; GOŁĄB ‚Taube‘; KRÓL , M ‚König‘; SŁÓWKO , N ‚Wörtchen‘. Die betreffenden Flexionsparadigmen können sich jedoch unterscheiden. Auch wenn Personennamen grundsätzlich ge-

1280

C Nominalflexion

wöhnlichen Flexionsmustern folgen, wie sie auch für Appellativa gelten, liefern die besonderen Regeln für Personalmaskulina und Familiennamen für das gesamte Paradigma oder für einzelne Formen andere Bildungen als bei Appellativa. Die angeführten Beispiele können zur Illustration unterschiedlicher Grade der Differenzierung zwischen dem Paradigma des Appellativums und dem des Familiennamens dienen; vgl. Mańczak (1967; 1995). Im Falle von WRÓBEL unterscheiden sich die Singularparadigmen allenfalls im Vokativ, der beim maskulinen Appellativum regulär mit dem Lokativ zusammenfällt und hier auf -u lautet (wróblu), während beim Familiennamen der Vokativ dem Nominativ gleich ist, hier: Wróbel (Mańczak 1967: 13); aber anders Saloni et al. (2012: s. v.). Im Nominativ Plural zeigt der Familienname den Plural auf -owie (Wróblowie) (gegenüber dem einfachen Nominativ Plural wróble des Appellativums) und daher auch (nach allgemeiner Regel) den Genitiv Plural auf -ów (Wróblów), gegenüber der für weiche Stämme den Standardfall darstellenden Genitiv-Plural-Bildung auf -i (wróbli). Schließlich fällt noch gemäß der Regel für das Personalmaskulinum im Plural beim Familiennamen der Akkusativ mit dem Genitiv (Wróblów) zusammen, beim Appellativum (das kein Personalmaskulinum ist) jedoch mit dem Nominativ (wróble). Die hier zu beobachtenden Unterschiede in der Flexion maskuliner Familiennamen und maskuliner Appellativa stellen keine Idiosynkrasien der betreffenden Paradigmen dar; sie ergeben sich regulär aus der Subgenus- und Wortklassenzugehörigkeit. Die Flexion von Personennamen kann sich von der (in der Grundform) gleichlautender Appellativa darüber hinaus unterscheiden, wenn die betreffenden Appellativa Unregelmäßigkeiten oder Besonderheiten aufweisen, die bei den Personennamen nicht auftreten. Das Appellativum KOT ‚Katze‘ zeigt im Dativ Singular (kotu) entgegen der Regel die allgemeine INDIR -Endung (statt der für Maskulina zu erwartenden DativEndung -owi) (vgl. → C5.4.4). Beim Familienamen KOT ist dieser Archaismus beseitigt und die Dativ-Singular-Form lautet regelgemäß Kotowi. OŁ ĄB . Das Noch weiter geht die Differenzierung der Paradigmen im Falle von GGOŁĄB Appellativum GOŁĄB , M ‚Taube‘ zeigt einen besonderen Stammwechsel, wie er sich bei labial auslautenden Stämmen findet, zwischen hartem Stamm in der endungslosen Grundform (gołąb,, NOM . SG ) und weichem Stamm in den suffigierten Formen (z. B. gołębia, GEN . SG ), der zudem von einem Vokalwechsel (ą – ę) begleitet ist. Bei der gewöhnlichen Flexion des Familiennamens ist dieser Stammwechsel beseitigt, und alle Formen werden vom harten Stamm der Grundform (ohne Vokalwechsel) gebildet (daher lautet die GEN . SG -Form Gołąba). Vgl. die Paradigmen für GOŁĄB als AppellatiG EN . PL - Form des Appellavum und als Familienname in (118) (Mańczak 1967: 13). (Die GEN tivums, gołębi- + -i, erscheint orthographisch als gołębi.)  



C5 Kasus

(118) POL

GOŁĄB , M A N I M

GOŁ ĄB , M P E R S GOŁĄB

‚Taube‘

(Familienname)

SG

PL

SG

PL

NOM

gołąb

gołębi-e

Gołąb

Gołąb-owie

VOK

gołębi-u

gołębi-e

Gołąb

Gołąb-owie

AKK

gołębi-a

gołębi-e

Gołąb-a

Gołąb-ów

LLOK OK

gołębi-u

gołębi-ach

Gołąbi-e

Gołąb-ach

DAT

gołębi-owi

gołębi-om

Gołąb-owi

Gołąb-om

GEN

gołębi-a

gołęb-i

Gołąb-a

Gołąb-ów

INS

gołębi-em

gołębi-ami

Gołąb-em

Gołąb-ami

1281

Die Beibehaltung des Stammwechsels beim Familiennamen bleibt eine mögliche Alternative (Brooks 1975: 273 f.), und verschiedene Sprecher zeigen unterschiedliche Präferenzen bei der Flexion von Personennamen, aber die Tendenz zur Regularisierung/Beseitigung von Ausnahmen ist (über das Polnische hinaus) für die Flexion der Personennamen charakteristisch (vgl. Mańczak 1967: 12, zum „première loi“ der Eigennamenflexion).  

Beim Personennamen GOŁĄB sind alle Formen nach dem Muster der unsuffigierten NOM . SG - Form gebildet, also auf der Basis der Stammform gołąb-. Dies schlägt sich auch in der Bildung des Lokativ Singular nieder. Da alle suffigierten Formen des Personennamens von der harten Stammform gołąb- gebildet werden, ist im Lokativ (anders als beim Appellativum) das (auf harte Stämme beschränkte) Suffix H -ʹe anwendbar (so dass Erweichung eintritt: Gołąbie, LOK . SG ). Beim Appellativum, dessen suffigierte Formen von der weichen Stammform gołębi- gebildet werden, lautet die Lokativ-Singular-Form gołębiu; sie fungiert nach der allgemeinen Regel auch als Vokativform. Hier ist zu bemerken, dass (in Einklang mit der allgemeinen Tendenz zur Regularisierung der Eigennamenflexion) ein regulärer flexivischer, durch Suffigierung bedingter Wechsel des stammfinalen Konsonanten beim Personennamen durchgeführt wird, während der irreguläre (lexikalische) Wechsel des Stammvokals gewöhnlich beseitigt wird.

C6

Flexive in Phrasen

C6.1

Vorbemerkung  1283

C6.2

Kongruenz in Nominalphrasen  1283

C6.3

Verteilung von Kasusmarkierungen in Nominalphrasen  1287

C6.4 Flexivische Kooperation  1289 C6.4.1 Optionen der Kasus-Numerus-Genus-Differenzierung  1289 C6.4.2 Realisierung der Kasus-Numerus-Genus-Differenzierung  1292 C6.5 (Un-)Selbstständige Pronomina und Artikel  1295 ER /SIE /ES und DER /DIE /DAS  1295 C6.5.1 EIN , MEIN , KEIN  1299 C6.5.2 C6.5.3 Genitivblockierung  1301 C6.6 Starke und schwache Flexion  1304 C6.6.1 Paradigma der schwachen Flexion  1304 C6.6.2 Prinzip der Adjektivflexion  1306 C6.6.3 Schwache Flexion bei Pronomina  1309 C6.6.4 Unmarkierte und markierte Form  1310 C6.7 Flexionsgebot und Flexionslosigkeit  1312 C6.7.1 Einleitung  1312 C6.7.2 Prinzip der Genitivmarkierung  1313 C6.7.3 Genitivmarkierung der Personennamen  1316 C6.7.4 Kasusindifferente Substantivformen  1318 C6.7.4.1 Pseudo-partitive Attribute  1318 C6.7.4.2 Kontinuativa  1320 C6.7.4.3 Individuativa  1323 C6.7.4.4 Maßeinheiten  1325

Bernd Wiese

C6 Flexive in Phrasen C6.1 Vorbemerkung Gegenstand des vorliegenden Abschnitts sind Fragen der Verteilung flexivischer Markierungen, insbesondere von Kasusmarkierungen, auf die verschiedenen Bestandteile von Nominalphrasen. Dies schließt Besonderheiten ein, die sich im Deutschen ergeben, wenn Substantive ohne pronominal flektierte Dependentien auftreten (wie sie gewöhnlich in NPs gegeben sind) oder umgekehrt pronominal flektierte Nicht-Substantive selbstständig (ohne Anbindung an einen substantivischen Kopf) auftreten. Traditionell spielt in diesem Zusammenhang der Begriff der Kongruenz von Substantivdependentien mit Kopfsubstantiven von NPs eine zentrale Rolle. Das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen von Kongruenz ist mitbestimmend dafür, an welchen Bestandteilen von NPs flexivische Markierungen welcher Kategorien realisiert werden. Die Feststellung, ob Kongruenz besteht oder nicht besteht, liefert aber bei Weitem keine erschöpfende Antwort auf die Frage, welchen Beitrag die auftretenden Flexive gegebenenfalls effektiv zur Signalisierung der kategorialen Spezifikation der NPs als Ganzer leisten.

C6.2 Kongruenz in Nominalphrasen Nach traditionellem Verständnis betreffen die Kategorien Kasus, Numerus und Genus innerhalb von NPs primär Substantive. Von Determinativen und attributiven Adjektiven wird angenommen, dass ihre kategorialen Spezifikationen durch die des Kopfsubstantivs der NP bestimmt werden: Sie kongruieren (im Deutschen und Polnischen) mit dem Kopfsubstantiv in Kasus, Numerus und Genus. Danach ist in einer NP wie POL ta kobieta ‚diese Frau‘, die im Nominativ steht, das Kopfsubstantiv der primäre Kasusträger: kobieta ist eine Form eines femininen Substantivs und (bei gegebenem Genus) durch die Endung -a als NOM . SG -Form eindeutig markiert. Das Pronomen muss (wegen der Kongruenz-Forderung) eine NOM . SG . F - Form sein, und die betreffende Form des Pronomens TEN ‚dieser‘ lautet ta. Im gegebenen Beispiel ist auch das Suffix am Substantiv und am Pronomen das gleiche. Das Substantiv ist der Kongruenzauslöser (‚controller‘), das Pronomen das ‚Ziel‘ (‚target‘), also die Einheit, die mit dem Auslöser kongruiert (vgl. Corbett 2006: 4). Der Kopf der NP steuert die Flexion der Dependentien; siehe im Einzelnen → D1.1.2 zum Begriff des Kopfes. Eine entsprechende Analyse wird gewöhnlich auch für die NPs des Deutschen angenommen. Betrachtet man eine NP wie der Blume in einem Verwendungskontext, in dem der Dativ gefordert ist (wie in der Mann mit der Blume), so fungiert Blume als DAT . SG -Form eines femininen Substantivs (BLUME ); der definite Artikel muss (wegen

1284

C Nominalflexion

der Kongruenz-Forderung) im Dativ Singular Femininum stehen. Die korrekte Form ist derD A T . S G . F . Der Mechanismus der Kongruenz wäre danach grundsätzlich für beide Sprachen der gleiche. Auch im deutschen Beispiel muss das Substantiv (hier: Blume) als primärer Träger der Kategorienspezifikation (hier: DAT . SG . F ) fungieren, wenn das kongruierende Element (der Artikel) diese Spezifikation übernehmen können soll. Diese Annahme bereitet bezüglich der Genus- und der Numerusspezifikationen im gegebenen Fall keine Probleme. Das Genus (hier: Femininum) ist lexikalisch für das Substantivlexem festgelegt; die Genusspezifikation kommt daher in einer Phrase wie der Blume primär dem Substantiv zu, und sie ist mitbestimmend für die Wahl der korrekten Flexionsform des Artikels. Entsprechendes gilt im Beispielsfall für die Numerusspezifikation. Die Form Blume ist durch die fehlende PL - Markierung (die die Form Blumen liefern würde) eindeutig als SG -Form kenntlich. Auch der Numerus des Substantivs ist für die Wahl der korrekten Form des Artikels wesentlich; dies wird durch die traditionelle Analyse, nach der Kongruenz besteht, erfasst. Dagegen scheint die Annahme, dass die Kasusspezifikation in einer Phrase wie der Blume primär dem Substantiv zukäme, eher fragwürdig. BLUME gehört zu den Substantiven, die keine formale Kasusdifferenzierung zeigen. Die Eigenschaft, als Dativform zu fungieren, kann nicht an der Ausdrucksform Blume festgemacht werden; sie kommt der Form nur im gegebenen Kontext zu, wo die Form als Kopf einer Nominalphrase fungiert, die „im Dativ steht“. Hier müsste die Kasusspezifikation des Artikels per Kongruenz von einem Kopfsubstantiv übernommen werden, das selbst nicht der Kasusflexion unterliegt. In der Literatur wird daher gegen die traditionelle Lehre auch die Auffassung vertreten, dass, wo Kasus ausschließlich am Artikel (oder an anderen Dependentien des Kopfes) zum Ausdruck käme (und nicht am Kopfsubstantiv), schlicht keine Rede davon sein könne, dass der Artikel mit dem Substantiv kongruiere (vgl. Lehmann 1982: 204, Fn. 5); auch die Postulierung von Numeruskongruenz sei fragwürdig, wenn man Nominalphrasen in Sprachen wie dem Französischen in Betracht zieht, wo in einer Artikel+Substantiv-Verbindung der Numerus gewöhnlich nur am Artikel, aber nicht am Substantiv sichtbar wird (→ C4.2.4). Wie Lehmann (aus typologischer Perspektive) argumentiert, würden die Probleme, die sich aus der traditionellen Behandlung von Kongruenz in der Nominalphrase ergäben, verschwinden, wenn man die Phrase als Ganze (und nicht das Substantiv) als „trigger“ (ebd.: 223) der Kongruenz identifiziert; vgl. (aus germanistischer Perspektive) auch Fourquet (1968). Für diese Auffassung kann angeführt werden, dass die funktionale Seite der Kongruenzkategorien auf der Ebene der Nominalphrasen zum Tragen kommt, indem sie über deren syntaktische und semantische Eigenschaften mitbestimmen. Es sind NPs, die bestimmte Rollen (wie Subjekt, direktes Objekt oder indirektes Objekt) im Satz übernehmen, zu deren Signalisierung Kasus im Deutschen vor allem beitragen, und es sind NPs, die bestimmte referentielle Bedeutungen tragen, zu deren Aufbau die Numeri beitragen (indem sie Bedingungen bezüglich der Kardinalität der Menge der Referenz 

C6 Flexive in Phrasen

1285

objekte setzen). Ferner müssen Spezifikationen des Genus auf der Ebene der Phrasen zur Verfügung stehen, wenn sie in deren Interpretation und Verwendungsbedingungen (bezüglich zulässiger Referenzobjekte und bezüglich zulässiger referentieller Beziehungen in der Anaphora) einfließen. All dies gilt unabhängig von der Frage, ob bestimmte Kategorien (einzelsprachlich oder einzelsprachübergreifend) formal oder funktional enger an gewisse Bestandteile von NPs gebunden sind als an andere. Spencer (2000: 335) gibt weitere Argumente für die Auffassung, dass „syntactic features are properties of phrases, not individual words, and that their semantic interpretation is therefore defined over phrasal expressions“. Speziell zum Numerus im Deutschen aus sprachvergleichender Perspektive siehe Zifonun (2004a).

Die Annahme, dass das Kopfsubstantiv als Kongruenzauslöser in der NP fungiert, schiene danach (als ‚Erbstück‘ traditioneller Lateingrammatiken) allenfalls auf Sprachen mit einer reichen Substantivflexion zu passen, wo das Kopfsubstantiv (wenigstens in aller Regel) schon für sich genommen die relevanten kategorialen Spezifikationen der Nominalphrase erkennen lässt. Im Polnischen sind die Kasus am Substantiv im Allgemeinen gut markiert. So besitzt das maskuline Substantiv MĘŻCZYZNA ‚Mann‘ im Singular für sieben Kasus sechs Formen. Es besteht kein Zweifel, dass Kopfsubstantive in NPs im Polnischen „Kasusträger“ sind. Dennoch ist es selbst im Polnischen (und in anderen hochflexivischen Sprachen, darunter das Lateinische) nicht immer möglich, die korrekten Flexionsformen von Substantivdependentien allein aufgrund der Form des Kopfsubstantivs herzuleiten. Beim Substantiv MĘŻCZYZNA fallen die Formen von Lokativ und Dativ im Singular in der Form mężczyźnie zusammen. Diese Formgleichheit gilt jedoch im Maskulinum Singular nicht für Pronomina und Adjektive, z. B. das Demonstrativpronomen TEN ‚dieser‘: die DAT . SG . M -Form lautet temu, die LOK . SG . M - Form tym, so dass sich Dativ- bzw. Lokativ-NPs wie in pomagać [temu mężczyźnie]D A T ‚diesem Mann helfen‘ oder mówić o [tym mężczyźnie]L O K ‚über diesen Mann reden‘ ergeben. Auch hier zeigt sich, dass die Wahl der korrekten Kasusform des Demonstrativums (temu vs. tym) durch den Kasus, der der NP als Ganzer zukommt, bestimmt wird.  

Die Annahme, dass die Merkmale des Kopfsubstantivs innerhalb einer Substantivphrase die Form kongruierender Dependentien steuern, kann selbst für hochflektierende Sprachen nur aufrechterhalten werden, wenn von den kategorialen Spezifikationen ausgegangen wird, die dem betreffenden Substantiv in seiner Funktion als Kopf der Phrase zukommen, nicht von den Spezifikationen, die an der Ausdrucksform abgelesen werden können. Insbesondere ist bei der Annahme von Kongruenz vorauszusetzen, dass das Kopfsubstantiv (als syntaktische Einheit) den Kasus trägt, in dem die NP als Ganze ‚steht‘. Dass die Flexionsformen der kongruierenden Substantivdependentien nicht durch die flexivischen Markierungen, die am Kopf einer NP auftreten, sondern durch die kategoriale Spezifikation des Kopfes (die zugleich die kategoriale Spezifikation der NP darstellt) bestimmt werden, ergibt sich weiterhin aus der Rolle des Genus als wesentlichem Steuerungsfaktor für die Formenwahl bei den kongruierenden Depen-

1286

C Nominalflexion

dentien (in Sprachen wie dem Polnischen und dem Deutschen) (→ C2.3). Als lexembezogene (nicht formenbezogene) Kategorie wird das Substantivgenus am Substantiv nicht flexivisch angezeigt. Zwar können mehr oder minder enge Beziehungen zwischen Genera und Flexionsklassen bestehen. Da diese sich aber im Allgemeinen nicht decken, sind die flexivischen Merkmale des Substantivs (die die Genusspezifikation nicht einschließen) für die Wahl der korrekten Form kongruierender Dependentien in einer Sprache mit Genusdifferenzierung grundsätzlich nicht hinreichend. Ohne Kenntnis des Genus des Substantivs lässt sich bei NPs im Singular weder im Polnischen noch im Deutschen bestimmen, aus welchem der (genusspezifischen) Teilparadigmen der Artikel, Pronomina und Adjektive die Formen der kongruierenden Dependentien zu nehmen sind (→ C5.2.2). Zudem kann selbst der kategoriale Wert einer gegebenen Substantivendung nicht immer ohne Kenntnis des Genus des Substantivs bestimmt werden; cukru (auf -u) ist die GEN . SG - Form zum Maskulinum CUKIER ‚Zucker‘, dagegen biuru (ebenfalls auf -u) die DAT . SG -Form zum Neutrum BIURO ‚Büro‘.

Wo (wie im Polnischen und Deutschen) die Flexion der kongruierenden Dependentien wesentlich vom Genus des Kopfsubstantivs abhängig ist, ist auch nicht zu bezweifeln, dass das Substantiv insoweit, wenigstens indirekt, als ‚trigger‘ oder ‚controller‘ der Kongruenz fungiert; die NP als Ganze „erbt“ das Genus von ihrem Kopfsubstantiv, nicht umgekehrt. Geht man davon aus, dass die Kasus-, Numerus- und Genus-Spezifikationen einer Phrase und ihres Kopfes in der Regel übereinstimmen müssen, so stellt sich die Entscheidung darüber, ob der Kopf oder die Gesamtphrase als ‚trigger‘ der Kongruenz fungiert, eher als eine technische Frage des verwendeten Grammatikmodells dar als als eine substantielle Frage zum Bau der Nominalphrasen. Nach der traditionellen Konzeption müssen im Deutschen die verschiedenen (kongruierenden) Bestandteile einer NP wie etwa Artikel, Adjektiv und Substantiv allesamt gleichermaßen und je für sich mit den für die NP als Ganze geltenden kategorialen Spezifikationen (und daher auch untereinander) kompatibel sein. Identität kann nur insofern nicht gefordert werden, als Genus bei den Substantiven eine Kategorisierung der Lexeme, bei den kongruierenden Dependentien eine Kategorisierung von Flexionsformen darstellt; insbesondere würden in einer beliebig gewählten gewöhnlichen NP wie dem alten Mann alle vorkommenden Formen (als syntaktische Einheiten) Formen desselben Kasus sein (hier: Dativ), der auch der Kasus der NP ist („in dem die NP steht“). Die Einwände gegen den traditionellen Kongruenzbegriff sind hinfällig, wenn klargestellt wird, dass Kongruenz sich auf das Vorliegen kategorialer Abstimmung zwischen syntaktischen Einheiten bezieht und nicht an das „Sichtbarwerden“ der Zugehörigkeit zu bestimmten Kategorien gebunden ist. Wir nehmen an, dass die Rolle des Kopfsubstantivs als Kongruenzauslöser von der Frage des Sichtbarwerdens kategorialer Spezifikationen am Kopf zu trennen ist und die traditionelle Auffassung, nach der die Dependentien mit dem Kopfsubstantiv kongruieren, aufrechterhalten werden kann.

C6 Flexive in Phrasen

1287

Die Funktion der flexivischen Markierungen ist danach im Falle des Kopfsubstantivs (dem Kongruenzauslöser) und im Falle der kongruierenden Elemente grundsätzlich die gleiche: In beiden Fällen handelt es sich um die formale Realisierung der kategorialen Spezifikationen der NP als Ganzer. Das kongruenzauslösende Substantiv trägt in seiner Funktion als Kopf die kategorialen Spezifikationen, die auch die der NP als Ganzer sind. Die Dependentien tragen (durch Kongruenz) die Spezifikationen des Kopfs und damit ebenfalls die der gesamten NP. Das Vorliegen von Kongruenz besagt aber nicht, dass die Signalisierung der Spezifikationen von den in Kongruenz stehenden Einheiten in gleichem Maße geleistet würde; welchen Beitrag die Flexion der Bestandteile zur Erkennbarkeit der kategorialen Spezifikationen einer NP liefert, muss gesondert gezeigt werden.

C6.3 Verteilung von Kasusmarkierungen in Nominalphrasen Die Vergleichssprachen zeigen erhebliche Variation bezüglich der Distribution morphologischer Markierungen auf die Bestandteile von NPs; die unterschiedlichen Markierungsverfahren manifestieren sich in der Verteilung der Pluralmarkierungen (→ C4.1.3) und gegebenenfalls ebenso in der Verteilung der Kasusmarkierungen. Im Ungarischen treten die Flexive, die die kategorialen Spezifikationen der NPs signalisieren, an den Kopf der NP oder, wenn die Kopfposition nicht besetzt ist, an das letzte der Kopfposition vorangehende Element, wie (119) am Beispiel des Akkusativ-Suffixes (-(V)t) zeigt (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 187). (119) a. négy alacsony férfi-tA K K UNG ‚vier kleine Männer (AKK )‘ b. négy alascony-atA K K ‚vier kleine (AKK )‘ c. négy-etA K K ‚vier (AKK )‘ In (119a) tritt das Flexiv an den substantivischen Kopf, während Numerale und Adjektiv unflektiert bleiben; in (119b), wo kein substantivischer Kopf gegeben ist, tritt das Flexiv an das Adjektiv, in (119c) an das Numerale. Bei kopflosen Possessivphrasen treten die Flexive gegebenenfalls an das Possessumsuffix bzw. das Possessum-Plural-Suffix; → C3.4.2. Mehrfache Markierung an Kopf und Dependentien innerhalb einer NP – wie bei ‚offener Kongruenz‘ (→ C2.5) in indoeuropäischen Sprachen – findet nicht statt. Dies gilt ebenso wie für Kasussuffixe auch für das Pluralsuffix (-V(k)) und für Personalsuffixe, die sämtlich im Ungarischen nicht an bestimmte nominale Wortklassen gebunden sind; vgl. a fiú-kP L

1288

C Nominalflexion

‚die Jungen‘, Plural zum Substantiv FIÚ , a kék-ek ‚die blauen‘ zum Adjektiv KÉK , ez-ek ‚diese‘ zum Demonstrativum EZ oder ő-k (Pluralform zum Personalpronomen der 3. Person). (Zu den Personalsuffixen siehe → C3.3.) Eine Besonderheit des Adjektivs KIS / KICSI ‚klein‘ stellt die Unterscheidung von attributiv gebrauchter Form (kis) und prädikativ gebrauchter Form (kicsi) dar (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 330).  

Zur Kongruenz bei appositiver Konstruktion im Ungarischen siehe → C4.3.3 und → D1.2.1.2.

Während im Ungarischen die Nominalflexive mit Lexemen unterschiedlicher Klassen verbunden werden können, aber nur einmal in einer einfachen NP gesetzt werden, ist die Verteilung der Flexive in den übrigen Vergleichssprachen wesentlich dadurch bestimmt, welche nominalen Klassen in welchem Umfang überhaupt Flexion zulassen. Im Englischen und Französischen, wo nur Pronomina Kasusflexion aufweisen, beschränkt sich flexivische Markierung in NPs mit substantivischem Kopf auf Numerusflexion. Numerusmarkierung an substantivischen Köpfen ist in allen Vergleichssprachen möglich. Unter den Dependentien zeigen im Englischen nur Demonstrativa Numerusdifferenzierung, im Französischen zudem auch Artikel und Adjektive (→ C4.1.3). Artikel und (ein Teil der) Adjektive zeigen im Französischen darüber hinaus Genusdifferenzierung (→ C2.8).

Im Polnischen kongruieren pronominale und adjektivische Dependentien mit dem substantivischen Kopf; vgl. mójN O M . S G . M małyN O M . S G . M stółN O M . S G . M ‚mein kleiner Tisch‘, mojaN O M . S G . F małaN O M . S G . F szkołaN O M . S G . F ‚meine kleine Schule‘, mojeN O M . S G . N małeN O M . S G . N oknoN O M . S G . N ‚mein kleines Fenster‘ oder przy moimL O K . S G . N biurkuL O K . S G . N ‚an meinem Schreibtisch‘ (Skibicki 2007: 132, 384). Es bestehen systematische Kasussynkretismen (darunter die Nichtdifferenzierung von Nominativ und Akkusativ im Plural, ausgenommen bei Personalmaskulina, und die beschränkte Differenzierung indirekter Kasus im Singular des Femininum); im Übrigen werden die kategorialen Spezifikationen der NPs durch Flexive am substantivischen Kopf (zusammen mit dem lexikalisch gegebenen Genus) angezeigt. Eine darüber hinausgehende Disambiguierung durch die Flexive der Dependentien ist im Einzelfall möglich, wie am Beispiel [temu mężczyźnie]D A T vs. [tym mężczyźnie]L O K gezeigt wurde; in der Regel sind im Polnischen die an kongruierenden Dependentien formal sichtbar werdenden Differenzierungen jedoch gegenüber denen an substantivischen Köpfen (wenn auch nur in beschränktem Maße) reduziert (siehe → C5.4.10). Vielfach liefert die Flexion jedes kongruierenden Dependens wie auch die des Kopfes schon je für sich die Merkmale der NP als Ganzer, wenn die lexikalischen Eigenschaften des Kopfes (Genus und Stammklasse) als gegeben vorausgesetzt werden. Die Verteilung der flexivischen Markierungen in NPs im Polnischen kommt insofern dem Muster ‚kanonischer‘ Kongruenz im Sinne von Corbett (2006) nahe, zu dessen Charakteristika Corbett es zählt, dass das kongruenzsteuernde Element overte Markierungen zeigt, während die Kongruenzmarkierungen selbst redundant sind (ebd.: 11).

C6 Flexive in Phrasen

1289

Das Deutsche weist eine Verteilung flexivischer Markierungen auf die Bestandteile von NPs auf, die sich von der der Vergleichssprachen grundsätzlich unterscheidet. Dazu gehört, dass zum einen an den Substantivformen zwar vielfach, aber keineswegs immer, die Numerusspezifikation der NP abgelesen werden kann, sehr häufig aber nicht die Kasusspezifikation (wie im Falle von FrauenP L in [dieser Frauen]G E N . P L ; zum anderen, dass die Formen der Dependentien zwar manchmal die Merkmalsspezifikation einer NP nahezu vollständig festlegen können (wie demD A T . S G . N O N F in [dem Mann]D A T . S G . M ), in anderen Fällen dagegen für sich genommen vieldeutig bleiben wie dieser (NOM . SG . M , DAT / GEN . SG . F oder GEN . PL ). Im Allgemeinen erschließen sich die vollständigen Spezifikationen der NPs erst aus dem Zusammenspiel (oder der „Kooperation“, Admoni 1982: 77 f.) der Formen der verschiedenen NP-Bestandteile, wie im Folgenden gezeigt wird; vgl. dazu Durrell (1977; 1979; 1990), Spencer (2009) und besonders Frey (1973; 1975) sowie Pavlov (1995).  

C6.4 Flexivische Kooperation C6.4.1 Optionen der Kasus-Numerus-Genus-Differenzierung Das Deutsche besitzt drei Genera, zwei Numeri und vier Kasus. Die Kombinatorik der drei Kategorisierungen nach Genus, Numerus und Kasus lässt daher 24 unterschiedliche kategoriale Spezifikationen zu. Im Allgemeinen wird jedoch in Flexionssystemen wie dem des Deutschen (traditionell: in fusionierenden Sprachen im Unterschied zu agglutinierenden Sprachen) nur ein Teil der möglichen kategorialen Differenzierungen formal abgebildet; vgl. Abbildung 23. SG M NOM

dieser Mann

AKK

diesen Mann

DAT GEN

SG N

SG F

PL

dieses Kind

diese Frau

diese Männer/Kinder/Frauen

diesem Mann/Kind dieses Mannes/Kindes

diesen Männern/Kindern/Frauen dieser Frau

dieser Männer/Kinder/Frauen

Abb. 23: Kasus-Numerus-Genus-Differenzierung bei NPs im Deutschen

Die Kasus-Numerus-Genus-Differenzierung ist durch eine Reihe von Neutralisierungen reduziert, vorrangig durch die Beschränkung der flexivischen NOM -AKK -Unterscheidung auf den Singular des Maskulinums und die Aufhebung der Genusdifferenzierung im Plural. Insgesamt werden nur zehn Kasus-Numerus-Genus-Kombinationen bei NPs systematisch formal unterschieden, wie die Abbildung anhand von Verbindungen aus Determinativ und Substantiv zeigt.

1290

C Nominalflexion

Die bei einer gegebenen Kategorisierung (z. B. der Kategorisierung bezüglich Genus) kategorial möglichen Unterscheidungen (hier: M vs. N vs. F ) werden typischerweise voll ausgeschöpft, wenn die zu differenzierenden Formen bezüglich anderer Kategorisierungen (hier der Kategorisierungen bezüglich Kasus und Numerus) unmarkiert bleiben. In höher markierten Bereichen kann der Differenzierungsgrad sinken, wie Abbildung 24 für das Genus zeigt.  

DIR . SG

M

INDIR . SG

N

F

M/N

F M/N/F

PL

Abb. 24: Maximale Genusformendifferenzierung im Deutschen  

Die Unterscheidung der drei Genera ist in der pronominalen Flexion in den direkten Kasus des Singulars formal durchgeführt, also bei den Formen der (im Vergleich zu den indirekten Kasus) weniger markierten Kasus und zudem im unmarkierten Numerus; so erscheint das Demonstrativum DIESER im NOM . SG genusabhängig in drei verschiedenen Formen: dieser (M ), dieses (N ), diese (F ). In den höher markierten indirekten Kasus fehlt im Singular die formale Differenzierung von M und N ; die dreigliedrige Genusunterscheidung ist formal auf eine zweigliedrige, NONF ( M / N ) vs. F , reduziert, wie die im Dativ erscheinenden Formen zeigen: diesem (M / N ) vs. dieser (F ). Im markierten Numerus Plural fehlt die Genusdifferenzierung im Deutschen ganz, also in allen Kasus; die Formen diese (NOM / AKK . PL ), diesen (DAT . PL ) und dieser (GEN . PL ) gelten für alle Genera (M / N / F ). Die gezeigten Muster der Genusformendifferenzierung sind die der pronominalen oder ‚starken‘ Flexion, zugleich aber auch die Muster maximaler flexivischer Differenzierung bei NPs. Genusformendifferenzierung über die in Abbildung 24 gezeigten Optionen hinaus ist im Gegenwartsdeutschen ausgeschlossen. Wie beim Genus findet sich auch bei der Differenzierung der Kasus eine Abstufung, die Abbildung 25 zeigt. M . SG

NOM

AKK

(sonst)

NOM / AKK

F . SG

NOM / AKK

DAT

GEN

DAT

GEN DAT / GEN

Abb. 25: Maximale Kasusformendifferenzierung im Deutschen

Die Unterscheidung der vier Kasus ist in der pronominalen Flexion im Singular des Maskulinums formal durchgeführt, in anderen Bereichen reduziert; siehe → C5.3. Kasusformendifferenzierung über die in Abbildung 24 gezeigten Optionen ist im

C6 Flexive in Phrasen

1291

Gegenwartsdeutschen mit Mitteln der produktiven Flexion nicht herstellbar; dies schließt wiederum auch NPs als Ganze ein. Nur durch Verwendung suppletiver bzw. irregulärer Formen ist beim Personalpronomen der 3. Person und beim Demonstrativum/Relativum eine formale DAT - GEN -Differenzierung im Femininum Singular hergestellt (ihrD A T vs. ihrerG E N , derD A T vs. derenG E N /dererG E N ); siehe → C5.2.2.1 (80) und → C6.5.1 (120). Ebenso liegt bei den Kommunikantenpronomina eine suppletive NOM - AKK Differenzierung vor.  

Hauptträger der nominalen Numerusunterscheidung sind im Deutschen die Substantive. Die Unterscheidung der beiden Numeri unterliegt keiner genus- oder kasusbezogenen Beschränkung. Eine formale SG - PL -Differenzierung ist grundsätzlich in allen Kasus und allen Genera möglich; im Femininum fehlt sie nahezu nie (→ C4.2.5). Die systematischen Beschränkungen der Genusdifferenzierung und der Kasusdifferenzierung, die Abbildung 24 und Abbildung 25 zeigen, bestimmen zusammen genommen das Maximum der produktiven flexivischen Differenzierung bei nominalen Lexemen und zugleich bei NPs als Ganzen. Flexionsformen mit unterschiedlicher kategorialer Spezifikation können zusammenfallen, wenn bestimmte kategoriale Unterscheidungen oder Subunterscheidungen nicht durchgehend, sondern nur unter angebbaren Beschränkungen formal zum Ausdruck gebracht werden. Wo Formenzusammenfall dieser Art vorliegt, kann gesagt werden, dass die verschiedenen Paradigmenpositionen, die eine gemeinsame Ausdrucksform zeigen, ein Synkretismusfeld bilden (Bierwisch 1967: 245, „syncretism fields“). Mit Bezug auf NPs können, wie Abbildung 23 zeigt, zehn Synkretismusfelder identifiziert werden. Im Unterschied zu Synkretismen können Fälle von Ausdrucksgleichheit bei unterschiedlicher kategorialer Spezifikation, die sich nicht aus Unterdifferenzierung ergeben, als Fälle von Homonymie bezeichnet werden. Homonymie liegt im Paradigma DIESER u. a. bei der Ausdrucksgleichheit von NOM . SG . M - und GEN . PL -Form vor (beide: dieser). Legt man das traditionelle Kategoriensystem zugrunde, so gibt es im Falle dieser Formen keine kategoriale Unterscheidung, deren Neutralisierung (formale Nichtdifferenzierung) für die Ausdrucksgleichheit verantwortlich gemacht werden könnte. Weitere Homonymien im Paradigma von DIESER liegen beim ausdrucksseitigen Zusammenfall von dieserD A T / G E N . S G . F mit den zuvor genannten vor sowie bei den Formen diesenA K K . S G . M /diesenD A T . P L , diesesN O M / A K K . S G . N /diesesG E N . S G . N O N F und dieseN O M / A K K . S G . F /dieseN O M / A K K . P L .  

Die Identifizierung der Synkretismusfelder innerhalb eines Paradigmas (und damit die Unterscheidung zwischen Synkretismen und Homonymien) ist von den vorausgesetzten Annahmen zum Kategorien- oder Merkmalssystem abhängig; nach der Analyse von Bierwisch (1967) wären die in Abbildung 23 unterschiedenen Felder DAT / GEN . F . SG einerseits und GEN . PL andererseits sowie NOM / AKK . SG . F und NOM / AKK . PL zu je einem Synkretismusfeld zusammenzufassen; die (unvollständige) formale Übereinstimmung zwischen Femininum-Singular-- Formen und Plural-Formen berücksichtigen wir bei der Ansetzung des Flexivinventars (→ C5.4.7 (107)).

1292

C Nominalflexion

C6.4.2 Realisierung der Kasus-Numerus-Genus-Differenzierung In Anbetracht der weitgehend abgebauten Flexion der Substantive und der vergleichsweise gut erhaltenen Formendifferenzierung bei den Determinativen, die der pronominalen Flexion folgen, ist traditionell die Auffassung vertreten worden, dass Determinative in Substantivphrasen die kategorialen Spezifikationen liefern, die an Substantiven nicht sichtbar werden. In diesem Sinn stellt Eisenberg (2013b: 167) fest: „Der bestimmte Artikel in der Baum; die Wiese; das Buch etwa macht das am Substantiv nicht offen gekennzeichnete Genus sichtbar.“ Daher rühre der traditionelle Terminus „Geschlechtswort“. Hier droht allerdings ein Paradox: Die Formen der pronominalen Flexion bedürfen ihrerseits der Disambiguierung. Das Auftreten von der in der Mann bzw. der Frau kann, für sich genommen, weder das Genus noch den Kasus anzeigen. Pronominale Formen auf -(e)r (wie der oder dieser) treten im Nominativ, Dativ und Genitiv auf, zudem im Singular und im Plural sowie im Maskulinum,, im Femininum und ohne Genusdifferenzierung im Plural. Ähnliches gilt für andere nach der pronominalen Flexion gebildete Formen. Nur Formen auf -(e)m legen Kasus und Numerus eindeutig fest (DAT . SG . NONF ); nur die Artikelform das legt das Genus eindeutig fest (NOM / AKK . SG . N ). Wegen der vielfältigen Homonymien in den pronominalen Paradigmen können die verwendeten Pronominal- oder Artikelformen für sich genommen die ihnen traditionell zugeschriebene Disambiguierungsleistung nicht erbringen; vgl. Admoni (1982: 76). Die „Logik“ des Zusammenspiels von Determinativ und Substantiv bei der Festlegung der Spezifikationen für NPs wird deutlich, wenn man die primär mit dem Kopfsubstantiv verbundenen Kategorisierungen als Ausgangspunkt nimmt. Das Kopfsubstantiv liefert kraft lexikalischer Festlegung die (für die Gesamtphrase relevante) Genusspezifikation; darüber hinaus wird in der Regel der Numerus durch das Stehen oder Fehlen eines PL -Suffixes eindeutig angezeigt. Sind mit dem Kopfsubstantiv Genus und Numerus gegeben, so beschränkt sich die zusätzliche Markierungsleistung, die durch das Auftreten von Flexiven der pronominalen Flexion erbracht wird, auf die Kasusdifferenzierung. Die vorgegebenen Genus- und Numerusspezifikationen disambiguieren die pronominalen Flexive und ermöglichen es damit erst, dass diese – trotz gegebener Homonymien – die Kasusdifferenzierung, soweit sie im Deutschen reicht, herstellen können. Im Neutrum ist die Kasus-Numerus-Spezifikation, auch wenn der Numerus nicht durch die Substantivform gegeben ist, bei NPs wie den in Abbildung 23 gezeigten allein anhand der auftretenden Kasussuffixe ablesbar; im Maskulinum ist das immerhin dann der Fall, wenn aus dem Kontext erschlossen werden kann, ob die NP in einem direkten oder aber in einem indirekten Kasus steht. Im Non-Femininum ist die Pluralmarkierung am Kopfsubstantiv daher eher entbehrlich; im Femininum darf sie in aller Regel nicht fehlen.

Ist ein Kopfsubstantiv des Maskulinums (wie MANN ) im Singular gegeben (mit dem SG Stamm Mann-), so liefern die nach ihren Spezifikationen in Betracht kommenden

C6 Flexive in Phrasen

1293

Flexive der pronominalen (oder ‚starken‘) Flexion eine je eindeutige Kasuskennzeichnung bei Differenzierung von vier Kasus: -(e)r (NOM ), -(e)n (AKK ), -(e)m (DAT ), -(e)s (GEN ). Die Flexive erscheinen am Determinativ und im Falle des Genitivs auch am Kopfsubstantiv selbst. Entsprechendes gilt bei Kopfsubstantiven im Plural und ebenso bei Kopfsubstantiven im Femininum Singular. Auch hier sichert die Vorgabe von Genus und Numerus durch das Kopfsubstantiv eine eindeutige Lesart für die pronominalen Flexive, auch wenn wegen der systematischen Synkretismen die Interpretation nicht immer auf einen Einzelkasus festgelegt ist. Im Femininum Singular liefern die nach ihren Spezifikationen in Betracht kommenden Flexive der pronominalen Flexion eine Differenzierung zwischen direkten und indirekten Kasus: -(e) (NOM / AKK ), -(e)r (DAT / GEN ), ebenso im Plural, aber mit zusätzlicher Auszeichnung des Dativs, dessen Kennzeichen (-(e)n) nach Möglichkeit auch am Substantiv erscheint. Eine besondere Situation liegt im Neutrum Singular vor. Aufgrund der Homonymie von Formen wie diesesN O M / A K K . S G . N /diesesG E N . S G . N reichen die Determinative zur Anzeige der hier geltenden Kasusdifferenzierung, nämlich (wie im Plural) NOM / AKK vs. DAT vs. G GEN EN nicht aus. Die Doppelsetzung des pronominalen Flexivs im Genitiv (wie in dieses Hauses) sichert aber auch in diesem Fall die generell geforderte Unterscheidung von direkten und indirekten Kasus. Die Kasusmarkierungen am Substantiv sind innerhalb von Determinativ-Substantiv-Phrasen nicht generell redundant; sie können zur Festlegung der Kasusspezifikation der Phrasen wesentlich beitragen. Auch die Doppelsetzung der Flexive im Dativ Plural kann, wenn auch sehr beschränkt, disambiguierend wirken, wenn die allgemeine Grundform und die Pluralgrundform zusammenfallen (wie in [den Deckel]A K K . S G vs. [den Deckeln]D A T . P L ); unaufgelöste Homonymien können verbleiben, wenn die DAT . PL -Markierung am Substantiv leerläuft wie in [den Wagen]A K K . S G oder D A T . P L . Wir fassen den Flexivbestand, aus dem sich die Grundmuster der Kasus-Numerus-Flexion bei Substantivphrasen im Deutschen aufbauen, in einer schematischen Übersicht zusammen (Abbildung 26) und führen damit die im vorliegenden Abschnitt sowie in → C4.2.5 (zur Pluralbildung) und → C5.4 (zum Inventar der Flexive der pronominalen Flexion) gewonnenen Ergebnisse zusammen.

1294

C Nominalflexion

Abb. 26: Flexive der Substantivphrasen (Überblick)  

Die Abbildung ist gemäß der folgenden Erläuterung zu verstehen: Grundlegend für die Flexivverteilung in der Substantivphrase ist das Genus der Substantive, das lexikalisch gegeben ist. Das Genus ist der wesentliche Steuerungsfaktor für die Numerusflexion, die durch Substantivflexive realisiert wird. Die vorherrschenden Grundmuster (‚Normaldeklinationen‘) verwenden die Pluralflexive -(e)/PL und -(e)n/PL F . Ein Teil der Substantive zeigt besondere Pluralbildung mit Umlaut. Daneben existiert der Sonderplural (auf -s). Zur Verteilung der Pluralflexive im Einzelnen siehe → C4.2.5. Das Inventar der kasusanzeigenden Flexive (der Flexive der starken oder pronominalen Flexion) zerfällt in zwei Teilinventare (Steche 1927: 153). Teilinventar (i) umfasst die Flexive des bezüglich Genus (NONF vs. F ) und Numerus (SG vs. PL ) unmarkierten Systembereichs (Non-Femininum Singular). Wie man erwarten kann, ist in diesem unmarkierten Bereich die Kasusdifferenzierung gut ausgebaut und deutlich markiert; im Neutrum fehlt (entsprechend der definierenden Charakteristik dieses Genus) die NOM - AKK -Differenzierung und es existiert ein besonderes DIR -Suffix (NOM / AKK -Suffix). Teilinventar (ii) deckt den gesamten Restbereich des Systems (F und PL ) ab. Im Subinventar für den markierten Systembereich existiert je ein Kasussuffix für die direkten Kasus und für die indirekten Kasus sowie ein spezielles Flexiv für den Dativ Plural. Die betreffenden Flexive kommen zum Zuge, wenn die spezifischen NonFemininum-Singular-- Suffixe des Teilinventars (i) nicht anwendbar sind, also im Femininum Singular und im Plural. Die im Nominativ des Non-Femininums auftretenden Flexive -(e)s/DIR N und -(e)r/NOM können in NPs (zugunsten unsuffigierter Formen) bei einer Sondergruppe pronominal flektierender Lexeme entfallen, die in Abbildung 26 genannt sind (siehe dazu → C6.5.2).  

C6 Flexive in Phrasen

1295

Die prima facie eher arbiträr erscheinende Zusammensetzung des bei Substantiven anwendbaren Flexivbestands, der gerade -(e)s/GEN (NONF . SG ) und -(e)n/DAT P L umfasst, erschließt sich, wenn man in Rechnung stellt, dass es sich um ein systematisch reduziertes Subinventar der pronominalen Flexion handelt. Kasusmarkierung an Substantiven (mit pronominalen oder starken Flexiven) findet nur in indirekten Kasus statt. Für beide Teilsysteme gilt, dass das für Kasus höchstmarkierte Flexiv auch am Substantiv verwendet wird. In Teilsystem (i) ist dies das GEN -Suffix, also das Suffix für den höchstmarkierten Kasus. In Teilsystem (ii) ist dies das DAT -Suffix, das einzige Suffix in diesem Teilinventar, das einen spezifischen Kasus markiert. (Vgl. auch → C5.4.3 und → C5.4.7.) Im Singular wird das System der Substantivflexion durch ein im eigentlichen Sinne substantivspezifisches Suffix ergänzt, das auch die Markierung des zweiten indirekten Kasus ermöglicht: -e/DAT (NONF . SG ); dieses Flexiv ist im Unterschied zu den übrigen optional und in seiner Verwendung stark beschränkt (vgl. → C5.5.4). Der weitgehende Verlust dieses Suffixes im normalen Sprachgebrauch steht in Einklang mit der Gesamtentwicklung der Substantivflexion, die dazu geführt hat, dass im Regelfall nur Suffixe zugelassen werden, die mit Suffixen der pronominalen Flexion identifiziert werden können.

Die Verteilung der Flexive in NPs ist auf der Basis des in Abbildung 26 gegebenen Flexivinventars für die Mehrheit der Fälle ableitbar. Besondere Berücksichtigung verlangen darüber hinaus im Wesentlichen nur Phrasen, die Formen der schwachen Flexion (insbesondere Adjektivformen) einschließen; siehe dazu → C6.5.3. Zusammenfassend lässt sich die flexivische Kooperation bei der Markierung der kategorialen Merkmale der NPs wie folgt beschreiben. Der substantivische Kopf bestimmt das Genus. Die Flexion des Kopfsubstantivs zeigt darüber hinaus in aller Regel den Numerus (Singular-Plural) an. Die Suffixe der ‚starken‘ oder ‚pronominalen‘ Flexion liefern für eine gegebene Genus-Numerus-Kombination die formale Kasusdifferenzierung, soweit sie systematisch reicht. Die Kasussuffixe treten in NPs an Dependentien des Kopfes (an Artikel, Pronomina oder – erforderlichenfalls – an Adjektive) sowie (beschränkt auf die höchstmarkierten Flexive) an das Kopfsubstantiv selbst. Damit ist die formale Differenzierung der systemweit unterschiedenen zehn KasusNumerus-Genus-Positionen in aller Regel gewährleistet.

C6.5 (Un-)Selbstständige Pronomina und Artikel C6.5.1

ER / SIE / ES

und DER / DIE / DAS

Da in der pronominalen Flexion nur fünf Suffixformen zur Verfügung stehen, können mit den Mitteln der pronominalen Flexion allein die zehn systemweit differenzierten Genus-Kasus-Numerus-Kombinationen („Synkretismusfelder“) formal nicht unterschieden werden. In verschiedenen Teilparadigmen treten gleiche Suffixformen auf. Besondere Beachtung verdienen Formgleichheiten zwischen direkten und indirekten

1296

C Nominalflexion

Kasus, die dem Erfordernis entgegenlaufen, Formen der indirekten Kasus grundsätzlich als solche zu markieren. – Die Suffixformen -(e)r und -(e)n treten sowohl in direkten Kasus (im Maskulinum Singular) als auch in den indirekten Kasus auf (im Plural und, im Falle von -(e)r, im Femininum Singular). – Die Suffixform -(e)s erscheint innerhalb des gleichen Teilparadigmas (Neutrum Singular) sowohl in den direkten Kasus als auch im Genitiv. Diese Homonymie kann als besonders kritisch gelten, da sie, anders als andere Homonymien, nicht schon anhand der Genus-Numerus-Spezifikation der Phrase, in der sie auftritt, auflösbar ist, sondern nur dann, wenn eine zusätzliche kasusrelevante Markierung gegeben ist. Die betreffenden Homonymien werden regelmäßig auf NP-Ebene aufgelöst, im Wesentlichen im Zusammenspiel mit den kategorialen Spezifikationen der Substantive. Die angeführten Homonymien sind insoweit für die Kasusdifferenzierung „unschädlich“. Bei selbstständigem Gebrauch der Pronomina fehlen dagegen zunächst einmal die in Substantivphrasen durch den Kopf gelieferten Beiträge zur Ermittlung der kategorialen Spezifikationen der NP als Ganzer. Infolgedessen kann die Möglichkeit zum selbstständigen Gebrauch der Pronomina, insbesondere im Genitiv, stark beschränkt sein (→ C6.5.3). In anderen Fällen wird diesem Mangel durch flexivische Mittel abgeholfen (Frey 1973). Innerhalb der Flexion des fast ausschließlich alleinstehend gebrauchten Personalpronomens der 3. Person ER / SIE / ES geschieht dies durch verschiedene kompensatorische Verstärkungen der Formendifferenzierung (vorrangig Stammwechsel). Ähnliche Verstärkungen gelten auch für das DER / DIE / DAS als Demonstrativum und Relativum (Stammwechsel, doppelte Suffigierung); als Artikel zeigt DER (im Vergleich zum Demonstrativum/Relativum) eine geringer ausgebaute Formendifferenzierung.  

Selbstständiger Gebrauch liegt vor, wenn ein Pronomen nicht als (kongruierendes) Dependens innerhalb einer NP (typischerweise einer Substantivphrase) auftritt, sondern als Kopf einer Phrase fungiert, die typischerweise gerade das Pronomen selbst umfasst, aber daneben auch weitere Bestandteile enthalten kann (wie bei ich Trottel oder der da; → B1.5.1.9.). Selbstständiger Gebrauch liegt auch vor, wenn ein Pronomen als Genitivattribut (nicht-kongruierendes Attribut) innerhalb einer größeren Phrase fungiert (wie in dessen Auto).

Wir betrachten die Formenverstärkung bei ER / SIE / ES (kurz: ER ) (Personalpronomen der 3. Person) und bei DER / DIE / DAS (kurz: DER ) (Demonstrativum, Relativum und Artikel) anhand der Gegenüberstellungen in (120).  

C6 Flexive in Phrasen

(120)

ER SG M

SG N

SG F

3PL

e-s da-s

siedie-

siedie-

ih-r de-r

ih-n-en de-n (-en)

DER

NOM

e-r de-r

AKK

ih-n de-n

DAT

ih-m de-m

GEN

seiner de-s (-en)

1297

ihrer de-r (-en)/(-er)

Die eingeklammerten Formbestandteile treten nur bei selbstständigem Gebrauch auf. Dem Muster des Singularparadigmas von DER (bei selbstständiger Verwendung) folgt auch die W ER / WAS W AS (mit den Formen wer, wen, wem, wessen, was). Flexion des Interrogativums/Relativums WER

Der Stamm, an den die Suffixe treten, ist im Deutschen in der pronominalen Flexion im Regelfall (wie beim Demonstrativum DIESER ) invariabel. Bei den ER - und DER Lexemen werden dagegen unterschiedliche Stämme zur Formendifferenzierung genutzt (e-, ih-, sie- bzw. de-, da-, die-), insbesondere zur Genusdifferenzierung im Nominativ Singular. In den Paradigmen der pronominalen Flexion kann zwischen Formen, die im Nominativ erscheinen (und, außer im Maskulinum Singular,, auch den Akkusativ abdecken), und den übrigen Formen unterschieden werden, deren flexivische Markierungen für oblique Kasus spezifisch sind. Diese Unterscheidung korreliert beim Personalpronomen der 3. Person mit der Verteilung unterschiedlicher Stämme, wie aus (120) abgelesen werden kann. Die NOM - (bzw. NOM / AKK -) Formen weisen im Non-Femininum Singular den Stamm e- (mit den Varianten /eː/ und /ɛ/) auf, sonst sie- (/ziː/); demgegenüber zeigen die spezifischeren Kasusformen durchgehend den Stamm ih- (/iː/), soweit nicht Suppletivformen vorliegen (im Genitiv). Eine ähnliche Verwendung von Stammvarianten zur Formendifferenzierung zeigt DER / DIE / DAS . Bei den NOM - bzw. NOM / AKK Formen wird dreifach differenziert (im Maskulinum Singular:: de- /deː/, im Neutrum Singular:: da/daː/, sonst: die- /diː/). Die spezifischen obliquen Kasusformen weisen wiederum eine einheitliche Stammform auf; sie werden sämtlich mit dem Stamm des unmarkierten Genus (Maskulinum) (de-, mit den Varianten /deː/ bzw. /dɛ/) gebildet.  

Der Stammwechsel trägt wesentlich zur Kasusdisambiguierung bei. Im Falle von ER / sind die Nominativformen als solche allein aufgrund der auftretenden Stämme als solche kenntlich. Ausgenommen den Singular des Maskulinums, gilt dies auch für DER / DIE / DAS . Durchgängig ist schon auf Stammebene die kritische Homonymie von Nominativ/Akkusativ Singular Neutrum und Genitiv Singular Neutrum aufgehoben. Eine besonders markante Ausprägung von Stammwechsel stellt die Verwendung von Suppletivformen dar, wie sie im Genitiv der Personalpronomina vorliegen. Als Genitivformen fungieren die um den Ausgang er erweiterten Stämme der entsprechenden Possessiva (→ C5.2.2.1). Die Genitivformen sind damit eindeutig als solche markiert. Im Vergleich zur regulären pronominalen Flexion wird die Homonymie von

SIE / ES

1298

C Nominalflexion

NOM . SG . M -

und GGEN EN . PL -Form (vgl. dieser) und die Homonymie von NOM / AKK . SG . N - und (vgl. dieses), die sonst erst in der NP aufgelöst werden, bereits bei den Wortformen aufgehoben. An die verschiedenen Stammformen treten die gewöhnlichen Suffixe der pronominalen Flexion (die er-erweiterten Genitivformen ausgenommen). Der instabile Initialvokal (Schwa) der Suffixe entfällt nach den hier sämtlich auf Vokal ausgehenden Stammformen; die Stammvokale sind (entsprechend einem im Deutschen gewöhnlichen Muster) vor stimmlosem Obstruent (hier: /s/) kurz, sonst lang. Dementsprechend ergeben sich die in (121) gezeigten Ausdrucksformen von ER / SIE / ES und DER / DIE / DAS . GEN . SG . NONF - Form

(121)

ER / SIE / ES

er (/eːr/) es (/ɛs/) sie (/ziː/) ihr (/iːr/) ihn (/iːn/) ihm (/iːm/)

DER / DIE / DAS

< < < < <
(ii) referentielle Distinktheit > (iii) numerische Vielheit. Relevant ist der Unterschied zwischen den Stadien (i) und (ii) einerseits und (ii) und (iii) andererseits. Bei referentieller Distinktheit wird kein qualitativer Aspekt angesprochen, es wird lediglich ausgedrückt, dass es sich um eine Vielheit konkreter, numerisch verschiedener Einzeldinge handele. Das würde dazu passen, dass bestimmte Quantifikativa nicht in Messkontexten wie (244) verwendet werden, was von Breban allerdings nicht angesprochen wird: Als Abstrakta sind metrische Einheiten nicht numerisch verschieden, daher können sie durch Elemente der Stufe (ii) nicht quantifiziert werden. Ein formaler Reflex der Grammatikalisierung besteht nach Breban darin, dass die fraglichen Elemente mit zunehmender Grammatikalisierung weiter links in der NP stehen. Das passt ebenfalls zu den französischen Daten, nach denen die Elemente präoder postnominal stehen, je nachdem ob sie quantifikative oder qualitative Bedeutung haben. Referentielle Distinktheit im o.g. Sinne können auch die deutschen Adjektive verschiedene, unterschiedliche, einzelne ausdrücken, die in dieser Bedeutung als „Diskriminationsadjektive“ als eine eigene adjektivische Subklasse aufgefasst werden könnten.  



Ähnlich verhalten sich die deutschen auf -lei gebildeten Quantifikativa (vgl. (245), Schanen/Confais 2013: 329). mancherlei Probleme bedeutet ‚Probleme mancher Art‘,

1434

D Nominale Syntagmen

Entsprechendes gilt für alle anderen Bildungen, abgesehen von allerlei, das keine Allquantifikation über den Kopf beinhaltet; allerlei Probleme heißt nicht so viel wie ‚Probleme aller Art‘. (245)

*Wir brauchen zweierlei Kilo Mehl.

Die Quantifikativa im Polnischen sind entweder Adjektive oder Nomina. Adjektive sind die Quantifikativa in (246a) und die Kardinalnumeralia für die Zahlen 1–4 (vgl. (246b)). Sie alle sind mit dem Demonstrativum POL ten, z. T. auch mit taki oder einem Indefinitum verbindbar.  

(246) a. ten liczny elektorat ‚diese zahlreiche Wählerschaft‘ (Internet), te wszystkie POL wydarzenia ‚all diese Erlebnisse‘ (Engel et al. 1999: 807), ta cała rzecz ‚diese ganze Sache‘ (Internet) b. ten jeden raz ‚dieses eine Mal‘, te dwa/trzy/cztery domy ‚diese zwei/drei/vier Häuser‘ Die Quantifikativa in (247a) ebenso wie die Kardinalnumeralia für die Zahlen 5–900 (247b) sind dagegen dann und nur dann Adjektive, wenn sie in den indirekten Kasus (Genitiv, Dativ, Lokativ, Instrumental) stehen (→ C5.6.2). (247) a. po paruLOK minutachLOK ‚nach einigen Minuten‘, w kilkuLOK wypadkachLOK POL ‚in mehreren Fällen‘, z wielomaINS uchyleniamiINS ‚mit vielen Ausflüchten‘ (Swan 2002: 197) b. pięciomaINS studentamiINS ‚fünf Studenten‘ Dies ist eine Vereinfachung. Ausdrücke für Zahlen ab 20, die auf ein Numerale für die Ziffern 1–9 enden, sind syntaktisch komplex, wobei das Numerale für die letzte Ziffer am Ende steht und den Kopf der (appositiven) Struktur bildet. Als solcher bestimmt es, ob sich der Gesamtausdruck adjektivisch oder substantivisch verhält, vgl. dwadzieściaNOM trzyNOM kotyNOM ‚dreiundzwanzig Katzen‘ vs. trzydzieściNOM pięćNOM kotówGEN ‚fünfunddreißig Katzen‘ (Swan 2002: 199). – Die Kardinalnumeralia tysiąc ‚Tausend‘, milion ‚Million‘, miliard ‚Milliarde‘ etc. sind nach Rutkowski (2007: 90) Nomina, die in allen Kasus den Genitiv regieren.  

Stehen sie dagegen in einem direkten Kasus (Nominativ, Akkusativ), sind sie Nomina, die mit dem quantifizierten Teilausdruck Strukturen nach dem Muster partitiver Konstruktionen bilden, vgl. (248–250). Der quantifizierte Teil erscheint im Genitiv; die gesamte NP hat die Gestalt einer Attributionsstruktur, in der das Quantifikativum bzw. Numerale den Kopf bildet (→ A5). Wir bezeichnen solche Strukturen als unterordnend, alle anderen, in denen Kasuskongruenz zwischen dem fraglichen Element und dem Rest der NP besteht, dagegen als nebenordnend (zur Terminologie → D1.2.2.2).  

(248) POL

ile [pytań] (wie viele.NOM Frage.GEN . PL ) ‚wie viele Fragen‘

1435

D1 Syntax der Nominalphrase

(249) POL

DEM . NOM

te

kilka/parę/wiele wenigen.NOM /paar.NOM /viel.NOM ‚diese wenigen/paar/vielen Fragen‘

(250) POL

DEM . NOM

te

pięć fünf.NOM ‚diese fünf Personen‘

[pytań] Frage.GEN . PL

[osób] Person.GEN G EN . PL (vgl. Rutkowski/Maliszewska 2007: 792)

Historisch gehen die betreffenden Quantifikativa ebenso wie die Kardinalnumeralia auf Substantive zurück (vgl. etwa parę < para ‚Paar‘). Als Substantive bilden sie markierte Strukturen, da sie selbst als Köpfe fungieren, während der Hauptinformationsträger, i. e. der quantifizierte substantivische Teilausdruck als syntaktisches Dependens „ausgelagert“ ist (vgl. auch den Terminus ‚Quantifikator-als-Kopf ‘ in → A5). Diese Struktur erstreckte sich ursprünglich über alle Kasus, wurde aber ab dem 16. Jahrhundert in den indirekten (markierten) Kasus zugunsten einer nebenordnenden Struktur aufgegeben (Rutkowski 2007: 92–94 unter Verweis auf Klemensiewicz/ Lehr-Spławiński/Urbańczyk 1964). Dies steht im Einklang mit einer generellen diachronen Tendenz zum Abbau solcher Strukturen (vgl. Croft 1993, 2001, → D1.1.2).  







Analog wurden die unterordnenden Strukturen in den indirekten Kasus im Neurussischen – im Unterschied zum Altrussischen – aufgegeben (vgl. Babby 1987: 103). Russisch unterscheidet sich aber dahingehend vom Polnischen, dass die Strukturen nach den Kardinalnumeralia für 2, 3 und 4 ebenfalls unterordnend sind, wobei in diesen Fällen (anders als nach den Numeralia für 5 und höher) das quantifizierte Substantiv im (Genitiv) Singular steht (vgl. Panzer 1999: 19, 70 f.) – Weitere Sprachen, in der Kardinalnumeralia unterordnende Strukturen bilden, sind das Walisische und das Finnische. Im Walisischen kann das quantifizierte Substantiv entweder im Singular oder Plural mit einem Kardinalnumerale kombinieren. Im ersten Fall ist die Struktur nebenordnend, im zweiten unterordnend, wobei der quantifizierte Teil eine PP bildet, vgl. (251). Im Finnischen steht das quantifizierte Substantiv im Partitiv Singular, sofern das Kardinalnumerale (> 1) – und damit die gesamte NP – Nominativ oder Akkusativ ist (vgl. (252), Abondolo 1998: 176). In allen anderen Kasus ist die Struktur nebenordnend. Zu beachten ist weiter, dass bei nominativischen oder akkusativischen (partitiven), durch ein Kardinalnumerale (> 1) quantifizierten Subjekt-NPs das kongruierende Prädikatsverb immer Singular ist, es sei denn, es wird durch ein Demonstrativum eingeleitet (vgl. Karlsson 1999: 140–142, 195–198).  









(251) WAL





a. naw dyn neun Mann.SG b. naw o ddynnion neun von Mann.PL ‚neun Männer‘ (Hurford 2003: 569)

(252) FIN

kolme lasia drei Glas.PART .SG ‚drei Gläser‘

(Abondolo 1998: 176)

1436

D Nominale Syntagmen

Die unterordnenden Strukturen weisen eine Reihe von Eigenschaften auf, die zeigen, dass es sich nicht um kanonische Kopf-Dependens-Strukturen handelt. So können etwa Demonstrativa oder Qualitätsadjektive, die vor dem Quantifikator bzw. Kardinalnumerale stehen, mit dem eingebetteten Substantiv im Genitiv kongruieren, vgl. (253)–(254). In der Literatur finden sich zwei alternative Vorschläge mit Blick auf eine Kasuskategorisierung des Numerales, wenn die Gesamt-NP Subjekt ist: Das Numerale wird entweder als Nominativ oder als Akkusativ kategorisiert. Wir gehen hier – anders als in → C5.6 – von der Nullhypothese aus und fassen die Form als Nominativ auf. Daraus ergeben sich einige Probleme, die im Folgenden dargestellt werden. Zu beachten ist, dass wir das Numerale in den aus der Literatur entnommenen Beispielen auch dann als nominativische Form glossieren, wenn sie dort als akkusativisch beschrieben ist. Zu der alternativen Auffassung vgl. den Petit-Absatz oberhalb von Beispiel (260).

(253) a. mordercze pięć fünf.NOM POL mörderisch.NOM . PL b. morderczych pięć EN . PL fünf.NOM mörderisch.GGEN ‚fünf mörderische Tage‘

dni Tag.GEN . PL dni Tag.GEN . PL (vgl. Przepiórkowski 1999: 172))

(254) a. te pięć DEM . NOM . PL fünf.NOM POL b. tych pięć DEM . GEN . PL fünf.NOM ‚diese fünf Frauen‘

kobiet Frau.GGEN EN . PL kobiet Frau.GGEN EN . PL (vgl. ebd.)

Ob und inwiefern die jeweiligen Stellungsvarianten und Kasusmarkierungen skopusbedingte Bedeutungsunterschiede induzieren, ist alles andere als klar und hängt auch vom Typ der beteiligten Elemente ab. Zunächst einmal ist zu beachten, dass ein etwaiger Bedeutungsunterschied nicht oder zumindest nicht notwendigerweise darin besteht, dass die Quantifikation in dem einen Fall partitiv (vgl. DEU fünf dieser Frauen) und in dem anderen nicht-partitiv (vgl. DEU diese fünf Frauen) ist. Partitivkonstruktionen im Polnischen erfordern die Präposition z (‚von‘, alternativ: spośród ‚aus‘, beide mit Genitiv, → A5). So hat jedenfalls (255a) eine eindeutig nicht-partitive, (255b) dagegen eine eindeutig partitive Interpretation. (255) a. te pięć problemów DEM . NOM . PL fünf.NOM Problem.GEN . PL POL ‚diese fünf Probleme‘ b. pięć z tych problemów fünf.NOM von DEM . GEN . PL Problem.GEN . PL ‚fünf dieser Probleme‘

1437

D1 Syntax der Nominalphrase

Dass die Voranstellung von Quantifikatoren (Determinativen oder Adjektiven) vor Demonstrativa in nebenordnenden Strukturen eine partitive Interpretation induziert, gilt auch für das Isländische und stellt möglicherweise ein übereinzelsprachliches Form-Funktions-Muster dar. Im Isländischen betrifft dies eine lexikalisch bestimmte Gruppe von Quantifikatoren, ein Beispiel ist (256). (256) ISL

sumar þessar nýju kenningar einige diese neue Theorien ‚einige dieser neuen Theorien‘

(Sigurðsson 1993: 183)

Nicht so eindeutig ist die Interpretationslage in Beispielen wie (255c, d), in denen das Demonstrativum im Genitiv mit dem eingebetteten Substantiv kongruiert, dieses aber seinerseits nicht durch eine Präposition wie z eingeleitet wird. (255) c. pięć tych DEM . GEN . PL POL fünf.NOM d. tych pięć DEM . GEN . PL fünf.NOM ‚diese fünf Probleme‘

problemów Problem.GEN . PL problemów Problem.GEN . PL

Rutkowski/Maliszewska (2007: 792) beschreiben den Bedeutungsunterschied zwischen Strukturen des Typs (255a) einerseits und solchen des Typs (255c, d) andererseits mit Blick auf ein analoges Beispiel als einen Unterschied zwischen einer kollektiven und einer distributiven Lesart: „In [(255a)] it is the whole set that is being described by the demonstrative te ‚these‘ […], whereas in [(255c)] and [(255d)] the modifiers refer to each quantified item separately.“ Insbesondere weisen sie darauf hin, dass der fragliche Unterschied unabhängig von der Stellung des Demonstrativums sei, also wesentlich von dessen Kasuskongruenz abhänge (ebd.: 792 f.). – Nach Auskunft unserer Informanten kann (255c) auch eine partitive Interpretation haben, bei (255d) ist diese Interpretationsmöglichkeit dagegen schwächer ausgeprägt.  



Ebenso wie Demonstrativa müssen Qualitätsadjektive dem Numerale vorangehen, wenn sie mit diesem – und nicht mit dem eingebetteten Substantiv – kongruieren. Dies ist bei Qualitätsadjektiven aber nur dann möglich, wenn sie sich semantisch auf das Numerale beziehen, was in aller Regel mit einer Bedeutungsverschiebung des Adjektivs einhergeht, vgl. (257a, b) → D5.3.2. Falls eine adnumerale Interpretation aus semantischen Gründen ausgeschlossen ist, muss ein vorangestelltes Adjektiv im Genitiv erscheinen, vgl. (257c).  



(257) a. dobre pięć samochodów G EN . PL POL gut.NOM . PL fünf.NOM Autos.GEN ‚gut fünf Autos‘ / ‚mindestens fünf Autos‘ (Dziubała-Szrejbowska 2014: 213) b. pełne osiemset szklanek Glas.GEN G EN . PL voll.NOM . PL achthundert.NOM ‚nicht weniger als achthundert Gläser‘ (vgl. Rutkowski/Maliszewska 2007: 792)

1438

D Nominale Syntagmen

c. *drogie / drogich teuer.NOM . PL / teuer.GEN . PL ‚fünf teure Autos‘

pięć fünf.NOM

samochodów Auto.GEN . PL (Dziubała-Szrejbowska 2014: 213)

Dass Adjektive als ad-adjektivische Modifikatoren von Adjektiven fungieren können, mit denen sie in einer Kongruenzbeziehung stehen, ist offensichtlich eine zwar marginale, aber dennoch übereinzelsprachlich anzutreffende grammatische Option: „Andererseits nehmen in verschiedenen Sprachen manche Adverbia neben einem Adjektivum adjektivische Flexion an. So sagt man im Franz. toute pure, toutes pures; entsprechend it. tutta livida, span. tod[o]s desnudos etc.; ebenso it. mezza morte, span. medios desnudos. Auch in vielen deutschen Mundarten sagt man ein ganzer guter Mann, eine ganze gute Frau; solche schlechte Ware; eine rechte gute Frau (Le.).“ (Paul 1920c: 366).

Eine ähnliche Flexibilität herrscht bei prädikativen Adjektiven. Auch diese können entweder mit dem quantifikativen Kopf oder dem untergeordneten Substantiv kongruieren, vgl. (258). (258) a. Kilka drzew było wyrwane z ziemi. POL einige.NOM Baum.GEN . PL sein.PRT . N ausgerissen.NOM . PL von Erde.GEN b. Kilka drzew było wyrwanych z ziemi. einige.NOM Baum.GEN . PL sein.PRT . N ausgerissen.GEN . PL von Erde.GEN ‚Einige Bäume wurden aus der Erde gerissen.‘ (vgl. Przepiórkowski 2001: 159 f.)  

Darüber hinaus sind auch Fälle möglich, in denen Attribut und Prädikativ zugleich, aber jeweils mit einem anderen Element – einmal mit dem Kopf und einmal mit dem Dependens – kongruieren (vgl. (259), ebd.: 166). Das Dependens erweist sich damit als eine Art Ko-Kopf, dessen syntaktische Merkmale für bestimmte syntagmatische Beziehungen sichtbar sind.  



(259) a. Leniwe siedem kotów POL faul.NOM . PL sieben.NOM Katze.GEN . PL b. Leniwych siedem kotów faul.GEN .PL sieben.NOM Katze.GEN . PL ‚Sieben faule Katzen waren schläfrig.‘

było sein.PRT . N było sein.PRT . N

śpiących. schläfrig.GGEN EN .PL śpiące. schläfrig.NOM .PL (vgl. ebd.: 166)

Fungiert das quantifizierte Nominal als Subjekt, so steht das Prädikatsverb durchgehend im Singular, speziell im Präteritum auch im Neutrum, trägt also Merkmale, die auch in subjektlosen Sätzen instanziiert werden. Dies zeigt, dass die Nominale als Subjekte nicht kongruenzfähig sind. Kongruenzfähige Subjekte müssen im Polnischen nominativisch sein. Wir sind bisher der Nullhypothese gefolgt (und damit u. a. Brooks 1975: 317–320; Damerau 1967: 66 f.; Swan 2002: 191–193; Bartnicka et al. 2004: 270–  



D1 Syntax der Nominalphrase

1439

272) und haben das Quantifikativum als nominativische Form kategorisiert (die morphologisch mit der akkusativischen zusammenfällt), wenn es Kopf einer Subjekt-NP wie in (249) und (250) ist. Trifft diese Kategorisierung zu, dann muss das Quantifikativum in Hinblick auf seinen Kopfstatus zumindest als defektiv eingestuft werden. Babby (1987) argumentiert für analoge Fälle im Russischen mit Hinweis auf Kongruenzdaten dafür, auch in den direkten Kasus nicht das Quantifikativum, sondern das Kopfsubstantiv des genitivischen Nominals als Kopf der gesamten NP anzusetzen. Dies würde die fraglichen Kongruenzdaten erklären, weil die NP aufgrund des Genitivs nicht kongruenzfähig wäre. – Ein weiterer, in der Literatur vertretener Vorschlag besteht darin, den betreffenden Numeralia generell eine nominativische Form abzusprechen und sie durchgehend als Akkusative zu analysieren, was ebenfalls ihre fehlende Kongruenzfähigkeit erklären würde (vgl. Kotyczka 1976: 74 f.; Przepiórkowski 2004b: 134 und die dort zitierte Literatur sowie → C5.6.2.2). Die Begründung bezieht sich auf ihre Paradigmenstruktur und die Form kongruierender Elemente: In den nicht-personalmaskulinen Genera fallen Nominativ und Akkusativ bei den Numeralia ohnehin zusammen, hier ließe sich also auch immer von einem Akkusativ ausgehen. Bei den Personalmaskulina wird für ein kongruierendes Demonstrativum nicht die – formal vom Akkusativ unterschiedene – Form ci gewählt, sondern die Form tych (vgl. *ci pięciu mężczyzn vs. tych pięciu mężczyzn ‚diese fünf Männer‘). tych ist formal entweder Genitiv oder Akkusativ. Die Annahme, dass es sich um einen Akkusativ handelt, ermöglicht eine einheitliche Behandlung für die Personalmaskulina und Nichtpersonalmaskulina. Ein weiteres unabhängiges Argument beruht auf der Beobachtung, dass quantitativ unbestimmte Numeralia, die sich historisch aus Substantiven herausgebildet haben, auf akkusativischen Formen beruhen, vgl. parę < paraNOM, paręAKK ‚Teil‘, trochę < trochaNOM, trochęAKK ‚[das] Bisschen‘.  







Was die Subjekt-Verb-Kongruenz angeht, verhalten sich Nominale, deren quantifizierender Kopf ein Adverb ist, wie dużo ‚viel‘, mało ‚wenig‘, sporo ‚ziemlich viel‘, trochę ‚ein wenig‘ u. a., analog (vgl. (260), → A5.3.1). Dabei kann der quantifizierende Ausdruck auch phrasal ausgebaut sein, vgl. (261).  

(260) a. Dużo ludzi przyszło. komm.PRT . 3SG . N POL viel Leute.GEN . PL ‚Viele Leute kamen.‘ b. Widziałem dużo gwiazd filmowych. Film.ADJ . GEN . PL seh.PRT . 1SG viel Stern.GEN . PL ‚Ich sah viele Filmstars.‘ (Przepiórkowski 1999: 113) (261) a. bardzo mało studentek POL sehr wenig Studentin.GEN .PL ‚sehr wenige Studentinnen‘ b. bardzo dużo benzyny sehr viel Benzin.GEN .SG ‚sehr viel Benzin‘ Solche NPs können nur im Nominativ oder Akkusativ (bei Negation auch im Genitiv) stehen (Przepiórkowski 1999: 112–116). In Subjektfunktion ist das Prädikatsverb als

1440

D Nominale Syntagmen

Singular bzw. Singular Neutrum kategorisiert. Auch diese Nominale sind damit nicht kongruenzfähig, da der Kopf – trivialerweise – nicht Nominativ ist.  



Wir hatten oben erwähnt, dass bei den polnischen Kardinalnumeralia ≥ 5 unterordnende Strukturen in den indirekten Kasus zugunsten von nebenordnenden abgebaut worden sind. Dies stellt allerdings nicht die einzige diachrone Option dar. Nach Miechowicz-Mathiasen (2013: 101) konnten im Altserbokroatischen die Numeralia für Zahlen ≥ 5 entweder nebenordnende oder unterordnende Strukturen bilden. Hier wurde das nebenordnende Muster abgebaut, so dass im gegenwärtigen Serbokroatischen nur noch unflektierbare Numeralia existieren. Die Struktur ist analog zu der o. g. Konstruktion mit adverbialem Kopf; ebenso wie bei dieser ist der Kopf hier lediglich ein Pseudo-Kopf und nur in dem Sinne Kopf, als der Nicht-Kopf die Form eines possessiven Attributs hat. In keinem der Fälle ist der Kopf mit einem finiten Prädikatsverb kongruenzfähig; dieses muss auch in den serbokroatischen Numeralkonstruktionen stets als Singular (Neutrum) markiert sein (Zlatić 1997: 70). Anders als die polnischen Konstruktionen mit adverbialem Kopf können die Numeralkonstruktionen im Serbokroatischen auch in den indirekten Kasus auftreten; im Instrumental und Dativ allerdings nur unter Rektion von Präpositionen (ebd.: 71–75). Und sie können auch mit adnominalen Pronomina oder Adjektiven kombinieren wobei diese dann mit dem eingebetteten quantifizierten Ausdruck kongruieren (Svih tih deset studenata je stiglo ‚All.GEN . PL DEM . PROX .GEN .PL zehn Student.GEN . PL sind gekommen‘, Browne 1993: 374). – Festzuhalten bleibt: Wenn sich unterordnende Strukturen mit Pseudo-Kopf diachron durchsetzen können, dann stellt das Muster offenbar eine typologisch relevante Option für nominale Quantifikationsstrukturen dar. Dies ist wichtig mit Blick auf Sprachen wie das Französische, in dem solche Strukturen Standardcharakter haben.  



D1.2.2.2 Quantifizierte Nominalphrasen Der Bereich der in diesem Abschnitt zu besprechenden NPs, die im Sinne der funktionalen Domäne der nominalen Quantifikation (→ A5) als quantifizierte NPs (QNPs) zu fassen sind, lässt sich nach zwei Parametern klassifizieren. Zum einen ist zwischen partitiven und nicht-partitiven QNPs zu unterscheiden, je nachdem, ob die QNP ein referentielles oder ein nicht-referentielles Nominal enthält, in Bezug auf dessen Denotat eine Quantifizierung ausgedrückt wird (→ D5.1). Zum anderen unterscheiden sich QNPs danach, ob der quantifizierende Teil ein Numerativsubstantiv (→ D5) – oder ggf. ein anderes, die Quantifikation ausdrückendes Substantiv – enthält, oder nicht.  



Zur Terminologie: Im Einklang mit → D5 nennen wir das Kopfsubstantiv des eingebetteten Nominals N2. N2 kann auch attributiv ausgebaut sein. Der Einfachheit halber wird in diesem Abschnitt symbolisch nicht zwischen N2 und NOM2 bzw. N2/NOM2 unterschieden. Ist das eingebettete Nominal eine NP und soll diese als Ganze in den Blick genommen werden, sprechen wir explizit von NP2. Ein eine NP2 einleitendes Determinativ wird, sofern relevant, als D2 angesprochen. Eingebettete Nominale (N2, NOM2, NP2) können entweder durch eine Kasuskategorie oder mithilfe einer Adposition als dependente und damit syntaktisch untergeordnete Konstituenten kodiert sein. Soll von der jeweiligen Kodierungstechnik abstrahiert werden, wird übergreifend von NP2 gesprochen. Andernfalls wird die unterordnende Adposition P2, die entsprechende Phrase PP2 genannt. Der Quantifikator (Pronomen, Adjektiv, Adverb) heißt Q1, ein mit Q1 verknüpftes, übergeordnetes Substantiv, das mit diesem zusammen die Quantifikation ausdrückt, N1 (und es wird symbolisch nicht zwischen N1 und NOM1 bzw. N1/NOM1 unterschieden).

D1 Syntax der Nominalphrase

1441

Die vier Strukturtypen sind schematisch in Tabelle 3 aufgeführt. Wir bezeichnen sie als partitive QNPs (Typ 1), nicht-partitive QNPs (Typ 2), partitive QNPs mit Numerativsubstantiv (Typ 3) und nicht-partitive QNPs mit Numerativsubstantiv (Typ 4). Bei Typ 4 handelt es sich (vor allem) um die in → D5 behandelten Numerativkonstruktionen. Auf diesen und auf den Typ 3 gehen wir daher in diesem Abschnitt nicht näher ein. Weiter beschränken wir uns aus Umfangsgründen auf QNPs, in denen N2 ein Individuativum ist. Das Ungarische wird weitgehend außen vor gelassen und zwar im Wesentlichen aus zwei Gründen: Zum einen finden sich hier für partitive QNPs mehrere, aber syntaktisch höchst unterschiedliche Realisierungsmöglichkeiten, die aber nicht immer freier Variation unterliegen. Alle (potentiellen) ungarischen QNPs zu berücksichtigen, würde den Rahmen dieses Abschnitts ebenso sprengen wie eine Diskussion ihrer jeweiligen spezifischen syntaktisch-semantischen Anwendungsbedingungen. Zum anderen spielen im Ungarischen die hier interessierenden Fragen, die insbesondere den Kopfstatus, die syntagmatischen Relationen zwischen Q und N2, und die syntaktisch bedingten Distributionsbeschränkungen von QNPs, die durch die Kategorie von Q bedingt sind, keine so zentrale Rolle wie in den übrigen Vergleichssprachen. Wie der Kontrast zwischen dem Deutschen und Französischen zeigt, lassen sich die nicht-partitiven Strukturen noch dahingehend unterteilen, ob sie nach dem Muster der partitiven gebildet sind – die Literatur spricht hier seit Selkirk (1977: 302) von pseudo-partitiven Strukturen (vgl. z. B. Koptjevskaja-Tamm 2001a) – oder nicht. Wir verwenden dagegen weiterhin die bisher gebrauchten Termini und sprechen von nebenordnenden (Typ 2a, 4a) bzw. unterordnenden Strukturen (Typ 1, 2b, 3, 4b). Partitive Strukturen sind in allen Vergleichssprachen durchgehend unterordnend.  











Der Begriff der QNP ist so zu verstehen, dass der „quantifizierende Teil“ die funktionale Domäne der Quantifikation erfüllt. Da wir die Funktion existenzquantifizierender Ausdrücke nicht zu dieser Domäne rechnen (→ A5, → B1.5.5.1), bleiben strukturell äquivalente NPs ausgeklammert (vgl. (262a)), die teilweise die gleichen syntaktischen Eigenschaften aufweisen wie diejenigen, die das Besondere an den hier interessierenden Typen von QNPs ausmachen. Wir werden aber gelegentlich auch solche Strukturen einbeziehen und damit die Begriffe Quantifikation und Quantifikator in diesem Abschnitt cum grano salis verstehen. – Ebenfalls analog strukturiert sind NPs, in denen anstelle des „quantifizierenden Ausdrucks“ ein „Identitätsadjektiv“ steht (vgl. (262b)), das ggf. durch einen indefiniten Artikel eingeleitet sein kann, oder ein bestimmtes Demonstrativum (vgl. (262c)).  

(262)

a. irgendeine/keine dieser Tomaten b. eine bestimmte von diesen Tomaten, einen beliebigen dieser Zustände (books.google.de) c. diejenige von diesen Tomaten

(263)

a. irgendwelche dieser Tomaten b. bestimmte von diesen Tomaten, beliebige dieser Zustände c. diejenigen von diesen Tomaten

Weiter ist zu beachten, dass sich die NPs in (262) von ihren pluralischen Gegenstücken in (263) zumindest mit Blick auf die hier diskutierten Phänomene nicht nennenswert unterscheiden.

1442

D Nominale Syntagmen

Tab. 3: Subklassen quantifizierter Nominalphrasen  

Typ Schema

1

Sprache

Beispiel

Partitivität

DEU

viele dieser Äpfel

FRA

beaucoup de ces pommes

DEU

viele Äpfel

Q-NP2

partitiv

2a

nebenordnend

Q-N2

nicht-partitiv

2b 3

unterordnend

FRA

beaucoup de pommes

DEU

drei Kisten von diesen Äpfeln

FRA

trois boîtes de ces pommes

DEU

drei Kisten Äpfel

Q-N1-NP2

unterordnend partitiv

4a Q-N1-N2

unterordnend nebenordnend

nicht-partitiv

4b

FRA

trois boîtes de pommes

unterordnend

D1.2.2.2.1 Partitive QNPs (Typ 1) Beispiele für partitive QNPs aus den Vergleichssprachen sind in (264) aufgeführt. NP2 ist in allen Fällen definit und wird im Deutschen, Englischen und Französischen in Form eines possessiven NP-Attributs realisiert, während es im Polnischen durch eine Präposition angebunden wird. Die fragliche Definitheitsbedingung figuriert in der Literatur als partitive constraint (Jackendoff 1977: 111–114); für Vorschläge zu einer semantischen Fassung vgl. Hoeksema (Hg.) (1996), wo sich auch der Hinweis findet, dass NP2 durchaus indefinit sein kann, ebenso Hoeksema (1996) und die dort (8 f.) zitierte Literatur (vgl. weiter Keizer 2007: 68–70). Wir beschränken uns hier auf die definiten Fälle.  

(264) DEU ENG FRA POL

viele dieser Studenten, viele von diesen Studenten many of these students beaucoup de ces étudiants wielu z tych studentów

Keenan/Stavi (1986: 287 f.) schlagen (für das Englische) vor, partitiv-quantifizierende NPs als rechtsköpfig aufzufassen – mit N2 als Kopf und der syntaktischen Einheit bestehend aus Quantifikativum, ggf. Präposition und Artikel als komplexes Determinativ oder Determinativphrase (vgl. (265), Hoeksema 1996: 4; Keizer 2007: 67).  



(265) DEU ENG FRA POL

[D viele von diesen] Studenten [D many of these] students [D beaucoup de ces] étudiants [D wielu z tych] studentów

D1 Syntax der Nominalphrase

1443

Syntaktisch spricht so gut wie nichts für diese Analyse (vgl. auch Hoeksema 1996: 8). Wir erwähnen sie lediglich aus zwei Gründen: Erstens findet sich in der Literatur gelegentlich der Vorschlag, pseudo-partitive Strukturen als rechtsköpfig und unter Annahme eines analogen komplexen Determinativs (oder einer Determinativphrase) zu analysieren. Dies wird mit Blick auf eine Reihe von Eigenschaften, darunter vor allem Kongruenzeigenschaften zu rechtfertigen versucht, die wiederum Reflex des speziellen, grammatikalisierten Status pseudo-partitiver Strukturen sein sollen. Wenn aber die fraglichen Eigenschaften bereits bei den partitiven Strukturen vorliegen, können sie auch bei den pseudo-partitiven kaum als Evidenz eines – durch Reanalyse herausgebildeten – komplexen Determinativs dienen. Zweitens werden wir sehen, dass N2 durchaus Kopfeigenschaften aufweist, aber dennoch als syntaktisch eingebettet gelten muss. Hier also die wichtigsten syntaktischen Gegenargumente:  



– Split-Partitives Die Topikalisierbarkeit von NP2 (vgl. (266)) ist mit der in (265) angenommenen Konstituentenbildung nicht vereinbar. (Im Deutschen ist diese Konstruktion nur bei PP-Attributen, nicht aber bei Genitiv-Attributen möglich.) (266) DEU ENG

Von den Studenten waren mindestens zehn betrunken. Of the students, at least ten were drunk.

(Hoeksema 1996: 6)

– Pronominale NP2 Die komplexe Determinativphrase hätte die Form [DP Q (P2) D2] (vgl. Keenan/Stavi 1986: 287: „DET → DET of DET[+pl, +def]“) und würde daher die Kombination mit pronominalen – grundsätzlich nicht-determinierten – NP2 ausschließen (vgl. (267), Hoeksema 1996: 6). Pronominale NP2 sind jedoch bei präpositionalem Anschluss ohne Weiteres möglich.  

(267) DEU ENG



*viele von den ihnen / *viele der ihrer vs. viele von ihnen *many of the them vs. many of them

– Pronominalisierbarkeit Beispiele wie DEU viele von ihnen, ENG many of them (vgl. (267)) könnten umgekehrt als Evidenz für den Konstituentenstatus der Einheit D2+N2 (i. e. NP2) herangezogen werden, da diese durch das jeweilige Personalpronomen als Ganze pronominalisiert wird. Für das Französische gilt zudem, dass die durch de eingeleitete Einheit (P2+D2+N2) durch en pronominalisierbar ist (vgl. (268)), was wiederum als Evidenz für deren Konstituentenstatus gewertet werden kann.  

1444

(268) FRA

D Nominale Syntagmen

Il a beaucoup de ces pommes. – Il en a beaucoup. ‚Er hat viele von diesen Äpfeln. – Er hat viele davon.‘  



– Koordination Schließlich wäre Konstituentenbildung wie in (265) lediglich mit Koordinationen wie in (269a) kompatibel, nicht aber mit solchen in (269b, c). (269) a. viele von den Äpfeln und Birnen b. viele von den Äpfeln und den Birnen c. viele von den Äpfeln und von den Birnen Für Analysen, die partitive QNPs als linksköpfig beschreiben, lassen sich zwei Subtypen unterscheiden. Nach einer prominenten Auffassung wird der Kopf durch ein „leeres N1“ gebildet. Damit fallen die Typen 1 und 3 strukturell zusammen, so dass für alle partitiven NPs von einer einheitlichen Struktur ausgegangen werden kann. Ein früher Vorschlag dieses Typs findet sich in Stockwell/Schachter/Partee (1973: 114–122) für das Englische (vgl. auch Milner 1978: 119–136 für das Französische). Nach den Ausführungen der Autoren müsste als N1 hier eine „getilgte“ Form des gleichen lexikalischen Wortes fungieren, zu dem auch N2 gehört, vgl. (270). Die in der Literatur vorgeschlagenen Analysen unterscheiden sich – z. T. bedingt durch die jeweils vorausgesetzte syntaktische Theorie – in der Strukturierung der QNP und der Kategorisierung ihrer Konstituenten. Wir versuchen so weit wie möglich von diesen Unterschieden zu abstrahieren, um die Diskussion auf die „Kopffrage“ zu fokussieren.  





(270) a. [NP three [NOM [N1 children] [PP of [NP the [N1 children]]]]] ENG b. [NP each [NOM [N1 child] [PP of [NP the [N2 children]]]]] (271) a. [NP drei [NOM [N1 Kinder] [PP von [NP2 den [N2 Kindern]]]]] DEU b. [NP jedes [NOM [N1 Kind] [PP von [NP2 den [N2 Kindern]]]]] (272) a. [NP trois [NOM [N1 enfants] [PP de [NP2 ces [N2 enfants]]]]] FRA b. [NP un [NOM [N1 enfant] [PP de [NP2 ces [N2 enfants]]]]] ‚eines von diesen Kindern‘ Bereits Selkirk (1977: 311 f.) weist auf die Defizite dieser Analyse hin. Zunächst greift das in → A5 angeführte Argument, nach dem die Analyse QNPs mit pronominalem N2 nicht Rechnung tragen kann.  

(273) ENG DEU FRA

[NP three [NOM [N1 ?] [PP of [NP2 us]]]] [NP drei [NOM [N1 ?] [PP von [NP2 uns]]]] [NP trois [NOM [N1 ?] [PP de [NP2 nous]]]]

D1 Syntax der Nominalphrase

1445

Für substantivische N2 besteht das Problem, dass eine Tilgungsbedingung nicht auf die Formgleichheit der Ausdrücke rekurrieren kann, wie es in elliptischen Strukturen der Fall ist. N1 und N2 müssen weder im Numerus noch im Kasus übereinstimmen (vgl. (270b)–(272b)). Eine schwächere, dafür aber stipulative, weil speziell auf QNPs zugeschnittene Bedingung könnte lauten, dass N1 und N2 Formen des gleichen lexikalischen Worts sein müssen. Unklar ist weiter, wie die Analyse auf QNPs anzuwenden wäre, in denen der Quantifikator mit einer PP kombiniert, was vor allem das Französische mit Ausdrücken wie beaucoup ‚viel‘, peu ‚wenig‘, assez ‚genug‘ etc. betrifft, vgl. (274). „Getilgt werden“ müsste hier eine PP, die der eingebetteten PP2 entspricht, aber unter Ausschluss des zu NP2 gehörenden Determinativs. Auch eine solche „Tilgungsbedingung“ wäre schlicht ad hoc. (274) a. Un traitement substitutif bien dosé et bien conduit peut pallier beaucoup de FRA ces effets […] ‚Eine gut dosierte und gut durchgeführte Ersatz[hormon]behandlung kann viele dieser Auswirkungen lindern.‘ (books.google.de) b. beaucoup d’effets [PP2 de [NP2 ces effets]] Für alle angeführten Fälle gilt, dass das Ausbleiben der Tilgung – anders als in elliptischen Strukturen – nicht lediglich zu redundanten und daher allenfalls stilistisch fragwürdigen Ausdrücken führt, sondern zu solchen von zweifelhafter Grammatikalität. Informationsstrukturelle Kontexte, die eine Nicht-Tilgung lizenzieren würden, sind etwa für Beispiele wie in (270)–(272) kaum vorstellbar. Ein drittes Problem bilden Fälle wie (275)–(277), in denen der Quantifikator mit N2 sortal inkompatibel ist (für das Englische vgl. Kim/Sells 2008: 113).  



(275) a. She doesn’t believe much of that story. ENG ‚Sie glaubt nicht viel von dieser Geschichte.‘ b. *She doesn’t believe much story of that story. (276) a. We listened to as little of his speech as possible. ENG ‚Wir hörten so wenig von seiner Rede wie möglich.‘ b. *We listened to as little speech of his speech as possible. (277) a. Ich habe nicht viel / nur wenig von dem Buch verstanden. DEU b. *Ich habe nicht viel / nur wenig Buch von dem Buch verstanden. (278) a. Et puis, en fin, un peu de cette histoire honteuse […] FRA ‚Und dann, zum Schluss, ein wenig von dieser peinlichen Geschichte.‘ (books.google.de) b. *Et puis, en fin, un peu d’histoire de cette histoire honteuse […]

1446

D Nominale Syntagmen

Alternativ wurde – statt von Tilgung auszugehen – vorgeschlagen, dass N1 durch ein „leeres Element“ gefüllt wird, i. e. obligatorisch leer bleibt (vgl. (279), so Doetjes 1997: 160 für das Französische; Keizer 2007: 70 für das Englische).  





(279) a. [NP jedes [NOM [N1 e] [NP2 der Kinder]]] b. [NP jedes [NOM [N1 e] [PP von [NP2 den Kindern]]]] Für diese Analyse besteht das zuletzt genannte Problem weiterhin. Sobald N2 und der Quantifikator sortal inkompatibel sind, kann das „leere N1“ nicht für einen Gegenstand aus der Extension von N2 stehen. Die Partitivkonstruktion erlaubt offenbar eine metonymische Verschiebung von N2 zugunsten einer, durch die lexikalische Bedeutung von N2 beschränkten, kontinuativischen Lesart. So kann ein Individuativum wie Buch in QNPs wie (277) im Sinne von ‚Inhalt/Sinn des Buches‘ gelesen werden. Wichtig ist aber, dass eine solche Lesart nicht allein durch das Quantifikativum, sondern erst durch die Einbettung in die gesamte QNP erzwungen wird. Damit ist aber selbst eine mehr oder weniger rein semantische Motivation für ein „leeres N1“, wie sie etwa Keizer (2007) ins Feld zu führen scheint, geschwächt. Natürlich lassen sich Ausdrücke wie DEU viel Buch für wenig Geld, ENG much book for little money bilden, aber solche Ausdrücke haben einen speziellen stilistischen Witz, der bei den o. g. QNPs nicht anzutreffen ist. Zudem handelt es sich dabei um eine nicht-metonymische Umkategorisierung eines Individuativums in ein Kontinuativum, die bei bestimmten lexikalischen Subklassen häufig vorkommt (Ich esse einen Fisch vs. Ich esse Fisch), → B1.4.2.  

Abgesehen davon stellt sich vor allem die Frage nach der syntaktischen Motivation für die Annahme eines „leeren N1“. Sobald man dieses für syntaktische Merkmale spezifiziert, treten zumindest einige Probleme der „Tilgungsanalyse“ wieder auf. So müsste etwa für Genussprachen wie Deutsch, Französisch und Polnisch gefordert werden, dass zwischen dem „leeren N1“ und N2 Genuskongruenz besteht, vgl. (280). (280) a. [NP jederM [NOM [N1 eM ] [NP2 der LöffelM ]]] b. [NP jedeF [NOM [N1 eF ] [NP2 der GabelnF ]]] c. [NP jedesN [NOM [N1 eN ] [NP2 der MesserN ]]] Dabei ist das Beispiel – hier aus dem Deutschen – so gewählt ist, dass das Genusmerkmal semantisch nicht interpretierbar ist und somit kein Fall von semantischer Kongruenz vorliegen kann. Andererseits wäre aber Genuskongruenz nur bei „leerem N1“ obligatorisch, da ein lexikalisch gefülltes, „overtes N1“ durchaus ein anderes Genus aufweisen kann als N2, vgl. (281).  

(281) jedes Exemplar von diesen Pflanzen



D1 Syntax der Nominalphrase

1447

Analoges gilt im Übrigen für partitive QNPs mit Numerativsubstantiv: (282)

a. jede Kiste von diesen Äpfeln b. jeder Löffel von dieser Suppe

Problematisch ist weiter, dass der Quantifikator durch pronominale Formen realisiert werden kann, die ausschließlich selbstständig auftreten und somit keinen Platz für ein „leeres N1“ lassen. Unter den Beispielen (283)–(285) aus dem Französischen, Englischen und Deutschen weisen zwar nur (283a, b) und (284b) ein Quantifikativum im (hier vorausgesetzten) engeren Sinne auf, alle anderen Beispiele mit Indefinitpronomen anstelle von Q sind aber analog strukturiert und können daher zur Stützung des Arguments herangezogen werden (siehe dazu den Petit-Absatz vor Tabelle 3). (283) a. chacun de ces enfants ‚jedes dieser Kinder‘ FRA b. quelques-uns de ces enfants ‚einige wenige dieser Kinder‘ (284) a. none of these children ‚keines von diesen Kindern‘ ENG b. every one of these children ‚jedes von diesen Kindern‘ (285) a. eines von diesen Kindern DEU b. keines von diesen Kindern Allerdings werden Daten wie (283)–(284) von einigen Vertretern der entsprechenden Theorie gerade als Evidenz für die Annahme eines „leeren N1“ angeführt: „Evidence for the presence of a second NP in the partitive construction comes from the fact that in some cases a visible pronominal element shows up. In French un is present in the partitive constructions quelques *(uns) de ces livres ‘some of these books’ and chacun/*chaque de ces livres ‘each of these books.’“ (Doetjes 1997: 160, vgl. auch Hoeksema 1996: 4). Damit ist offensichtlich gemeint, dass die fraglichen Ausdrücke aus zwei syntaktisch separaten Wortformen bestehen, wobei das „pronominal element“ in der N1-Position erscheint. Eine solche Analyse wäre aber für ENG none nicht haltbar (vgl. (284a)), weil die Form lexikalisiert ist und sich nicht aus generellen phonetischphonologischen Regeln als Kontraktion aus no und one erklären lässt. Und in den Beispielen aus dem Deutschen in (285) findet sich schlicht kein zweites „pronominal element“. Das oben aufgeworfene Problem bestünde also für diese Fälle weiterhin.

Wir belassen es dabei und skizzieren einen Alternativvorschlag, der auf die Annahme eines „leeren“ oder „getilgten“ N1 verzichtet. Als Optionen für die Vergleichssprachen Deutsch, Englisch, Französisch und Polnisch ergeben sich je nach den morphosyntaktischen Eigenschaften des Quantifikators drei Subtypen von QNPs partitiv-quantifizierenden Strukturen: (i) Q ist ein flektierendes Pronomen oder ein flektierendes Adjektiv und hat die Konstituentenkategorie N. (ii) Q flektiert nicht und kann „außerhalb“ von partitiven Strukturen u. a. sowohl als adverbales Supplement als auch als adverbales Komplement fungieren. Kategorial könnte es daher einmal als Adverb (Adv) und einmal als pronominales N (N[PRO ]) eingeordnet werden. (iii) Q ist ein Adverb, es kann außerhalb von Partitivkonstruktionen keine nominale syntaktische Kernfunktion (Subjekt-, Objektkomplement) erfüllen.  



1448

D Nominale Syntagmen

Q als flektierendes Pronomen oder Adjektiv Pronominale oder adjektivische Qs, die mit N2 im Genus kongruieren, finden sich im Deutschen, Französischen und Polnischen, vgl. (286)–(288). (Die Beispiele (286) und (287b) sind Wiederholungen – aber mit geänderter Strukturzuweisung.)  

(286) a. [NP jederM [NP2 der LöffelM ]], [NP jederM [PP2 von [NP2 den LöffelnM ]]] DEU b. [NP jedeF [NP2 der GabelnF ]], [NP jedeF [PP2 von [NP2 den GabelnF ]]] c. [NP jedesN [NP2 der MesserN ]], [NP jedesN [PP2 von [NP2 den MessernN ]]] (287) a. [NP chacuneF [PP de [NP ces cuillièresF ]]] FRA ‚jeder von diesen Löffeln‘ b. [NP chacunM [PP de [NP ces couteauxM ]]] ‚jedes von diesen Messern‘ (288) a. [NP niejedenM /każdyM [PP z [NP tych problemówM ]]] POL ‚manches/jedes von diesen Problemen‘ b. [NP niejednaF /każdaF [PP z [NP tych regułF ]]] ‚manche/jede von diesen Regeln‘ c. [NP niejednoN /każdeN [PP z [NP tych imionN ]]] ‚mancher/jeder von diesen Namen‘ Anders als in den analogen nicht-partitiven Strukturen (s. u.) kongruieren Q und N2 nicht im Numerus und in den Kasussprachen Deutsch und Polnisch auch nicht im Kasus. In partitiven Strukturen ist individuativisches N2 immer Plural, während der Numerus von Q entweder lexemabhängig ist (vgl. jeder vs. einige) oder bei numerusflektierbaren Qs schlicht danach gewählt wird, ob die gesamte QNP auf ein Einzelding oder auf eine Vielheit (bzw. ein Pluralobjekt) referiert (vgl. (so) mancher dieser Studenten vs. manche dieser Studenten). Der Kasus von NP2 wiederum ist entweder durch die regierende Präposition oder als genereller Attributskasus („struktureller Kasus“) festgelegt und damit nicht durch die spezielle syntaktische Umgebung der QNP bedingt. Was die Genuskongruenz angeht, so bilden auch Beispiele wie (286)–(288) keine Instanz von semantischer Kongruenz, da das jeweilige N2 unbelebt ist. Das Vorliegen von Genuskongruenz ist insofern erklärungsbedürftig, als partitive QNPs zwar nach dem Muster von Kopf-Attribut-Strukturen gebildet sind, aber zwischen einem Kopf und seinem nominalen Attribut (oder dem in seinem adpositionalen Attribut eingebetteten nominalen Komplement) „normalerweise“ schon deshalb keine Genuskongruenz besteht, weil beide Substantive sein können, vgl. (289a). Aber auch pronominale Köpfe kongruieren mit ihren Attributen nicht im Genus, vgl. (289b).  

(289) a. ein SachbearbeiterM vom FinanzamtN b. einerM vom FinanzamtN

D1 Syntax der Nominalphrase

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Anders als in partitiven NPs wird mit kanonischen Kopf-Attribut-Strukturen nicht auf Gegenstände referiert, die zur Extension des eingebetteten Nominals gehören, und das gilt auch dann, wenn der Kopf pronominal ist. In jedem Fall muss auf Dinge referiert werden können, die durch Ausdrücke benennbar sind, die ein anderes Genus haben als das des eingebetteten Nominals. Dagegen wird mit partitiven Strukturen stets auf etwas referiert, was in der Extension des eingebetteten Nominals liegt; andernfalls könnte der Ausdruck nicht partitiv sein. Entscheidend ist, dass Q und N2 in den partitiven QNPs auch dann im Genus übereinstimmen müssen, wenn die Elemente der Extension von N2 auch mit Ausdrücken eines anderen Genus benennbar wären, vgl. (290). (290) a. jedesN /*jedeF der MädchenN b. jedesN /*jedeF von den MädchenN Unterschiedliches Genus ist nur in QNPs mit Numerativsubstantiv, also bei den Typen 3 und 4 möglich (vgl. (281)–(282)). Ähnliche Kongruenzeigenschaften finden sich systematisch zwischen Relativpronomen und Bezugssubstantiv. Anders als in den partitiven QNPs ist aber hier das genuskontrollierende Element der Kopf der GesamtNP und nicht Teil ihres Attributs, und es besteht Numeruskongruenz, vgl. (291).  

(291) a. der LöffelM , [derM … / mit demM …] b. die GabelF , [dieF … / mit derF …] c. das MesserN , [dasN … / mit demN …] Die Kongruenz zwischen Bezugs-NP und Relativpronomen ist ein Fall von anaphorischer Kongruenz. Die relevanten Bedingungen sind jedoch strikter als bei Kongruenz zwischen NP und Personalpronomina, wo etwa die Beziehung auch satzübergreifend sein kann. Und im Unterschied zu Personalpronomina ist die Genuskongruenz bei Relativpronomina auch bei extraponierten Relativsätzen syntaktisch geregelt, vgl. (292). (292)

Nur das Model wird eine erfolgreiche Karriere machen, das/*die keine Marshmallows isst.

In partitiven QNPs sind solche Inkongruenzen allenfalls bei Split-Partitives denkbar, vgl. (293). (293)

Von den Mädchen wurde nur ??jede dritte zur Prüfung zugelassen.

Halten wir fest, dass es sich bei der syntagmatischen Beziehung zwischen Q und N2 um eine phorische, genauer kataphorische Beziehung handelt, die aufgrund der linearen und strukturellen Lokalität stärkeren Beschränkungen unterliegt als sonstige

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D Nominale Syntagmen

anaphorische Beziehungen. Damit lassen sich die angeführten QNPs des Deutschen, Englischen und Französischen so beschreiben, dass das pronominale oder adjektivische Q Kopf der Gesamtkonstruktion ist. Via kataphorischer Kongruenz übernimmt es – als agreement target – diejenigen morphosyntaktischen Merkmale von N2, die für externe Kongruenzbeziehungen, i. e. Kongruenzbeziehungen zwischen der QNP und anderen potentiell kongruierenden Konstituenten im Satz, relevant sind. Solche Kongruenzbeziehungen manifestieren sich etwa in den Beispielen (294)–(296).  





(294) a. [NP JederM [NP2 der LöffelM ]] war verbogen. ErM war unbrauchbar. DEU b. [NP JedeF [NP2 der GabelnF ]] war verbogen. SieF war unbrauchbar. c. [NP JedesN [NP2 der MesserN ]] war verbogen. EsN war unbrauchbar. (295) a. [NP ChacuneF [PP de [NP ces cuillèresF ]]] était chèreF . FRA ‚Jeder von diesen Löffeln war teuer.‘ b. [NP ChacunM [PP de [NP ces couteauxM ]]] était cherM . ‚Jedes von diesen Messern war teuer.‘ (296) a. [NP NiejedenM /KażdyM [PP z [NP tych problemówM ]]] byłM niepotrzebnyM . POL ‚Manches/Jedes von diesen Problemen war unnötig.‘ b. [NP NiejednaF /KażdaF [PP z [NP tych regułF ]]] byłaF głupiaF . ‚Manche/Jede von diesen Regeln war dumm.‘ c. [NP NiejednoN /KażdeN [PP z [NP tych imionN ]]] byłoN osobliweN . ‚Mancher/Jeder von diesen Namen war ungewöhnlich.‘ Im Deutschen richtet sich ein anaphorisches Personalpronomen im Genus nach dem Genus des pronominalen Q, vgl. (294). Im Französischen kongruiert ein prädikatives Adjektiv mit Q bezüglich Genus, vgl. (295). Im Polnischen besteht zwischen Q und einem prädikativen Adjektiv ebenfalls Genuskongruenz; im Präteritum betrifft diese zudem das Kopulaverb. Q als unflektiertes Pronomen oder Adverb Der zweite Subtyp ist insbesondere für das Französische charakteristisch. Hier kann Q durch eine Reihe von Ausdrücken vertreten werden, die sonst vor allem in der Funktion von Adverbialia auftreten und daher auch als Adverbien (adverbes de degré, Grevisse/Goosse 2011: 989) eingeordnet werden, vgl. (297). (298) zeigt die Verwendung als Q innerhalb einer QNP-Struktur, (299) dagegen die als kanonische adverbale Adverbialia. (297) FRA

assez ‚genug‘, autant ‚so viel(e)‘, beaucoup ‚viel(e)‘, davantage ‚mehr‘, énormement ,(enorm) viel‘, moins ‚weniger‘, pas mal ‚etliche‘, peu ‚wenig(e)‘, un peu ‚ein wenig‘, plus ‚mehr‘, plus … moins ‚je mehr … desto weniger‘, tant ‚so viel(e)‘, trop ‚zu viel(e)‘

D1 Syntax der Nominalphrase

(298) FRA

Nous avons acheté beaucoup/assez/trop de ce pain. ,Wir haben viel/genug/zu viel von diesem Brot gekauft.‘

(299) FRA

Elle chante beaucoup/assez/trop. ,Sie singt viel/genug/zu viel.‘

1451

In unterordnenden Strukturen (des Typs 2b: Q-de-N2) liegt im Numerus Kongruenz des Finitums mit N2 vor. Das zeigt sich bei externer Kongruenz wie in (300), wo N2 einmal ein Kontinuativum und einmal ein pluralisches Individuativum ist. (300) a. Beaucoup de ce vin est FRA viel von DEM . SG Wein ist ‚Viel von diesem Wein ist …‘ b. Beaucoup de ces étudiants viel von DEM . PL Student.PL ‚Viele von diesen Studenten sind …‘



sont sind



Die Ausdrücke aus (297) können z. T. auch wie selbstständige Pronomina und somit als Vertreter der syntaktischen Kategorie N auftreten. In (301) fungieren sie als Subjekt in (302) als direktes Objekt, in (303) als Teil eines PP-Komplements, in (304) als Prädikativ. Zu beachten ist, dass sowohl auf Nicht-Personales (konkreter und abstrakter Art) als auch auf personale Pluralobjekte Bezug genommen werden kann. Dies korreliert damit, dass Quantifikatoren dieses Typs in den unterordnenden QNP-Strukturen mit N2 wie in (301) mit individuativischem oder mit kontinuativischem N2 auftreten können. Daher sind sie nicht als inhärent pluralische Ausdrücke aufzufassen.  

(301) a. Beaucoup dépend des États-Unis. FRA ,Viel hängt von den Vereinigten Staaten ab.‘ (Grevisse/Goosse 2011: 990) b. Beaucoup vivaient bien qui n’avaient pas de fortune. ‚Viele lebten gut, die kein Vermögen hatten.‘ c. Peu comprirent notre situation. ‚Wenige verstanden unsere Situation.‘ d. Pas mal avaient l’air éméché, sentaient au moins l’alcool. ‚Etliche schienen angeheitert, rochen zumindest nach Alkohol.‘ (ebd.: 990 f.)  

(302) a. Vous croyez sans doute avoir fait beaucoup pour moi. FRA ,Ihr glaubt ohne Zweifel viel für mich getan zu haben.‘ b. C’est un homme […] qui sait énormement. ,Das ist ein Mann, der enorm viel weiß.‘

1452

D Nominale Syntagmen

c. J’en connais beaucoup qui prétendent […] ,Ich kenne viele, die vorgeben […]‘

(ebd.: 990–992)

(303) a. Se contenter de peu, vivre de peu. FRA ,Sich mit wenig(em) zufrieden geben, von wenig(em) leben.‘ b. Elle est violée par beaucoup qui l’ignorent. ,Sie wird von vielen, die sie missachten, verletzt.‘ (304) FRA

Nous sommes beaucoup. ‚Wir sind viele.‘

(ebd.)

(Jones 1996: 318)

Die Wörter in (297) sind allerdings in unterschiedlichem Maße für nominale syntaktische Funktionen zugänglich, und zwar sind sie eher als direkte Objekte, denn als Subjekte und kaum als Komplemente von Präpositionen möglich. Als Subjekte (mit Pluralkongruenz) – somit bezogen auf Pluralobjekte – kommen nach Grevisse/Goosse (2011: 991) neben beaucoup die Ausdrücke peu und pas mal häufig vor, alle anderen dagegen selten oder (so bien, pas, ebd.: 989) gar nicht. Da die fraglichen Qs in nominalen Kontexten auftreten können, lassen sich auch die QNPs als nominale Ausdrücke auffassen. Allerdings wären sie als nominale Ausdrücke für Numerus und Genus unterspezifiziert, indem sie das jeweilige Numerus- und Genusmerkmal von N2 übernehmen würden.  



Q als Adverb Dieser Subtyp unterscheidet sich von dem vorangehenden dadurch, dass die Elemente außerhalb von QNPs ausschließlich in adverbialer Funktion auftreten. Im Deutschen ist dieser Subtyp nicht vertreten, da die fraglichen Elemente in adverbialer Funktion Adjektive bzw. Adjektivphrasen sind. Im Französischen sind hier vor allem Elemente auf -ment vertreten. Zu den polnischen Adverbien dużo ,viel‘, mało ‚wenig‘ usw., deren Kongruenzverhalten etwas anders gelagert ist, vgl. → D1.2.2.1 mit den Beispielen (260), (261). (305) a. nombre ‚zahlreiche‘, quantité ‚eine Menge‘ FRA b. furieusement ‚furchtbar‘, infiniment ‚unendlich‘, passablement ‚einigermaßen‘, tellement ‚so‘, terriblement ‚schrecklich‘, vachement ‚tierisch‘ QNPs, in denen ein Adverb dieser Gruppe als Q fungiert, sind keine eindeutig endozentrischen Strukturen und daher als partiell exozentrisch einzustufen. (Die Möglichkeit exozentrischer Nominalphrasen hatten wir in → D1.1.2 ausdrücklich zugelassen.) Das Adverb kann nicht als Kopf im kanonischen Sinn aufgefasst werden: Es hat in kategorialer Hinsicht keine nominalen Eigenschaften, da es außerhalb von QNPs nicht in für Nominale typischen syntaktischen Funktionen, insbesondere als Subjekt oder direktes Objekt, auftreten kann. Von daher wäre es – anders als bei der zuvor  

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D1 Syntax der Nominalphrase

genannten Gruppe – kaum motivierbar, es als (nominales) Element aufzufassen, das die für die Kongruenzbeziehungen der QNP relevanten morphosyntaktischen Merkmale von N2 übernimmt. Wie die Beispiele in (306) zeigen, ist N2 auch bei dieser Gruppe Auslöser von Genuskongruenz.  

(306) a. Nombre de ces locutions F . P L sont définies F . P L au nom complément. FRA ,Zahlreiche dieser Wendungen werden bei der nominalen Ergänzung definiert.‘ (Grevisse/Goosse 2011: 561) b. Il avait tellement des choses F . P L que lui avait donées F . P L sa mère. ,Er hatte so viele von den Dingen, die ihm seine Mutter gegeben hatte.‘ Für den Kopfstatus von N2 spräche dagegen die Konstituentenkategorie – N2 ist nominal (N) – sowie die für das Kongruenzverhalten der Gesamt-NP relevanten morphosyntaktischen Kategorien von N2. Auf der anderen Seite spielt N2 mit Blick auf seine (morpho-)syntaktischen Eigenschaften in allen drei QNP-Subtypen die gleiche Rolle, und ebenso ist der innere Aufbau der QNP jeweils gleich: Auch bei adverbialem Q gibt es keinerlei Evidenz für eine Reanalyse der Struktur zugunsten eines komplexen, N2 nebengeordneten Determinativs nach dem Strukturmuster in (265). Es bleibt dabei, dass die Gesamtkonstruktion nach dem Muster kanonischer Kopf-Attribut-Strukturen aufgebaut ist, wobei das Attribut ein syntaktisch untergeordnetes NPoder PP-Attribut ist. Die Unterschiede zwischen den Subtypen (i), (ii) und (iii) betreffen – wie wir gesehen haben – einmal die Frage der Konstituentenkategorie von Q und einmal die Frage, ob und inwiefern sich die für externe Kongruenzbeziehungen relevanten morphosyntaktischen Merkmale von N2 an Q manifestieren. Beim Subtyp (i) ist Q ein Pronomen, das mit N2 kongruiert. Beim Subtyp (ii) schließlich ist Q entweder als Adverb oder als ein nicht-flektierbares Pronomen einzustufen, das die Kongruenzmerkmale von N2 in der oben angegebenen Weise übernimmt. Beim Subtyp (iii) schließlich ist Q ein Adverb, das mit N2 (trivialerweise) nicht kongruiert. Strukturell realisiert es die Kopfposition, hat aber keine Kopfeigenschaften im kanonischen Sinn. Der (partiell) exozentrische Charakter einer QNP mit adverbialem Q (Pseudo-Kopf) korreliert im Übrigen mit ihrer syntaktischen Defektivität als Nominalphrase: QNPs dieses Subtyps können nur als Subjekte und direkte Objekte auftreten und insbesondere nicht in Adpositionalphrasen eingebettet werden. (Insofern verhalten sie sich distributionell analog zu den pronominalen/adverbialen Qs des zweiten Subtyps.) Nicht zuletzt aus diesem Grund scheidet eine Analyse von N2 als Kopf der QNP aus: Wären QNPs mit adverbialem Q endozentrisch mit N2 als Kopf, bliebe ihre syntaktische Defektivität im Französischen unerklärt. Gerade der defektive Charakter der QNP zeigt die Relevanz von Q für die syntaktische Distribution der GesamtNP.  







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D Nominale Syntagmen

D1.2.2.2.2 Nicht-partitive QNPS (Typ 2) Quantifizierte NPs, die weder partitiv sind noch ein Numerativsubstantiv enthalten, bilden den zentralen Typ der quantifizierten Nominalphrasen (→ A5). Die Funktion des Quantifikativs besteht in der Größenbestimmung dessen, was durch die Rest-NP benannt wird. Strukturell sind hier zwei Subtypen – wie oben verzeichnet – zu unterscheiden, ein nebenordnender und ein unterordnender. Trotz dieses Unterschieds leistet die Quantifikation in beiden Fällen das gleiche. Dennoch besteht kein Grund, den strukturellen Unterschied zwischen den beiden Subtypen wegzuerklären. Insbesondere lässt sich der subordinierende Strukturtyp nicht durch die Annahme von Restrukturierung wegerklären. In nebenordnenden QNPs ist Q entweder Determinativ oder Adjektiv. Im Deutschen und Englischen sind nicht-partitive QNPs mehr oder weniger durchgängig nebenordnend, und im Ungarischen ist die Nebenordnung jedenfalls der dominante Fall. Es gibt möglicherweise Abgrenzungsprobleme zu nicht-partitiven QNPs mit grammatikalisiertem Numerativsubstantiv, die aber von der Sache her kaum ins Gewicht fallen. So bilden etwa die Ausdrücke ENG a lot, a bunch unterordnende Strukturen. Werden sie als lexikalisierte Formen aufgefasst, hätte man es mit unterordnenden Quantifikativa, analog zu lots in (307b) zu tun. Gegen die Annahme solcher lexikalisierter Formen spräche aber, dass in beiden Fällen ein Modifikator vor das potentielle N-Element treten kann, vgl. (307a).  



(307) a. a (whole) lot of problems, a (whole) bunch of problems ENG ,eine (ganze) Menge Probleme, ein ganzes Bündel von Problemen‘ b. lots of problems ‚viele Probleme‘ Im Französischen und Polnischen finden sich ebenfalls nebenordnende (nicht-partitive) QNPs; dominant ist hier aber der unterordnende Subtyp. Im Französischen bilden die Kardinalnumeralia sowie die in (214) (→ D1.2.2.1) aufgeführten quantifikativen Determinative nebenordnende Strukturen, vgl. (308). (308) FRA

[NP deux [NOM bons amis]] ‚zwei gute Freunde‘, [NP plusieurs [NOM bons amis]] ‚mehrere gute Freunde‘

Unterordnende Strukturen werden wiederum mit quantifikativen Pronomina und Adverbien gebildet, wie wir sie bereits im Zusammenhang mit den partitiven QNPs kennengelernt haben. Das Französische verfügt unter den Vergleichssprachen über das (qualitativ) umfangreichste Inventar an unterordnenden Quantifizierern. Da diese Gruppe hochfrequente Wörter umfasst, die zentrale Quantitätskonzepte wie ‚viel‘, ‚wenig‘ etc. ausdrücken, ist der unterordnende Strukturtyp im nominalen Bereich für das Französische prägend. Zudem scheint das Inventar an adverbialen Quantifizierern erweiterbar und auch für Neubildungen zugänglich zu sein. So stammt der älteste Beleg des „Trésor“ für vachement – in adverbialer Funktion – aus  



D1 Syntax der Nominalphrase

1455

dem Jahr 1936 (vgl. http://atilf.atilf.fr). Für nicht-partitive QNPs gilt darüber hinaus, dass unterordnende Quantifizierer und Determinative sich nicht nur darin strukturell ähneln, dass sie die gleiche Position in der NP einnehmen, in dem sie diese nach links abschließen, sondern dass sie auch das Auftreten weiterer Determinative blockieren – anders als bei den partitiven QNPs. Da sie somit zu Determinativen komplementär verteilt zu sein scheinen, ist es nicht verwunderlich, dass sie in manchen Grammatiken des Französischen selbst als Determinative aufgefasst werden. Als Evidenz für diese Analyse wird zudem ins Feld geführt, dass potentielle Kongruenzbeziehungen zu externen Kongruenzzielen durch N2 gesteuert werden, vgl. (309), analog zu (295).  

(309) a. Beaucoup de cuillèresF étaient chèresF . ‚Viele Löffel waren teuer.‘ b. Beaucoup de couteauxM étaient chersM . ‚Viele Messer waren teuer.‘ Es gibt allerdings auch für nicht-partitive QNPs keine Evidenz für eine Strukturierung nach dem Muster von (310). (310)

[NP [D beaucoup de] X] sont Y

Vielmehr weisen Koordinations- ebenso wie Pronominalisierungsdaten darauf hin, dass de als Präposition mit N2 eine PP bildet. (311) a. beaucoup et peu [de choses] vs. *[beaucoup de] et [peu de] choses b. Il a beaucoup [PP de choses]. Il en a beaucoup. Darüber hinaus ist die Möglichkeit von externen Kongruenzbeziehungen keine hinreichende Evidenz für die fragliche Reanalyse, da die externen Kongruenzbeziehungen auch bei partitiven QNPs möglich sind, für die eine Reanalyse nach dem Muster von (310) nach den oben angeführten Argumenten nicht infrage kommt. Zu beachten ist weiter, dass auch nicht-partitive QNPs mit adverbialem Q die bereits im Zusammenhang mit den partitiven QNPs mit adverbialem Q angeführten distributionellen Beschränkungen aufweisen. Das Konstruktionsmuster erweist sich, wie die Zusammenstellung in (312) und (313) zeigt, im Vergleich zu anderen romanischen Sprachen als besonders ausgeprägt. (312) a. FRA beaucoup d’argent, ITA molti soldi, SPA mucho dinero, RUM mulți bani ‚viel Geld‘ b. FRA plus d’argent, ITA più soldi, SPA más dinero, RUM mai mulți bani ‚mehr Geld‘ c. FRA peu d’argent, ITA pochi soldi, SPA poco dinero, RUM puțini bani ‚wenig Geld‘

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D Nominale Syntagmen

d. FRA moins d’argent, ITA meno soldi, SPA menos dinero, RUM mai puțini bani ‚weniger Geld‘ (313) a. FRA assez d’argent, ITA abbastanza soldi, SPA suficiente dinero, RUM destui bani ‚genug Geld‘ b. FRA tant d’argent, ITA tanti soldi, SPA tanto dinero, RUM așa de mulți bani / atâția bani ‚so viel Geld‘ c. FRA trop d’argent, ITA troppo soldi, SPA demasiado dinero, RUM prea mulți bani ‚zu viel Geld‘ Weshalb das Französische einen anderen Weg als andere romanische Sprachen gegangen ist, bleibt erwartungsgemäß offen. Zu berücksichtigen ist, dass bereits im Lateinischen die Möglichkeit bestand, quantifizierende Nominale nicht nur mit kongruierendem Quantitätsadjektiv (vgl. (314a)), sondern auch mit einem „substantivisch gebrauchten“ Adjektiv im Neutrum Singular (vgl. (314b)) oder einem Adverb (vgl. (314c)) zu bilden, wobei der quantifizierte Teil – wie im heutigen Polnischen – als Genitiv erschien. Und ebenso wie im Polnischen konnten die Ausdrücke nur als Subjekte oder direkte Objekte auftreten, wobei das verbale Prädikat im Singular steht (Kühner/Stegmann 1988a: 428–430, 433 f.; Burkard/Schauer 2012: 376–378; Pinkster 2015: 1022 f.).  







(314) LAT

a. multaNOM institutaNOM nostraNOM ‚viele unserer Einrichtungen‘ (Kühner/Stegmann 1988a: 428), paucaNOM dictaNOM nostraNOM ‚wenige unserer Worte‘ (ebd.) b. tantumNOM civiumGEN ‚so viele Bürger‘ (ebd.: 430), multumNOM sanguinisGEN ‚viel Blut‘ (Carlier 2011: 6), nimiumNOM lucriGEN ‚zu viel Gewinn‘ (Burkard/Schauer 2012: 377) c. virorumGEN atque armorumGEN satis ‚genügend Männer und auch Waffen‘ (Kühner/ Stegmann 1988a: 433), humanitatisGEN parum ‚zu wenig Menschlichkeit‘ (ebd.), nimis enim insidiarumGEN ‚denn allzuviel an Hinterhalt/Fallen‘ (Cicero, Orator, 170, zit. in Pinkster 2015: 1023), Largiter mercedis indipiscar ‚Ich werde einen hohen Lohn bekommen‘ (Pl. Rud. 1315, zit. in ebd.)

Wegen der Beschränkung auf die Subjekt- und Objektfunktion fasst Carlier (2011: 7) auch die Quantifikativa in (315b) als Adverbien auf. Gegen eine Kategorisierung als deadjektivische Nomina (Neutra) spreche, dass quantifizierende Nominale nicht als akkusativische Komplemente von Präpositionen vorkommen können, da in solchen Fällen eine kongruierende Konstruktion gewählt werden muss, vgl. (315a). Daneben zeigen Beispiele wie (315b), dass sich die NeutrumSingular-Formen von Quantifikativa wie multus tatsächlich zu Adverbien entwickelt haben. (315) LAT

a. propter tantam wegen so viel.AKK . SG ‚wegen so viel Arbeit‘

operam Arbeit.AKK . SG (Carlier 2011: 7)

b. Multum te amamus. viel 2SG . AKK lieb.PRS . 1PL ‚Wir lieben dich sehr.‘ (Cicero, Epistulae ad Atticum, 1,1,5, zit. in ebd.: 9) Für die altfranzösische Entsprechung von LAT multus, AFR moult (andere Schreibweisen: mout, mult), ist zu beobachten, dass deren flektierte Formen bereits ab dem 13. Jahrhundert verschwinden (Carlier 2011: 13). Die unflektierte Form kann wie LAT multum adverbial oder in Verbindung  

D1 Syntax der Nominalphrase

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mit quantifizierten Nominalen verwendet werden. Im letzteren Fall wird zunehmend die Präposition de eingesetzt, so dass sich schließlich das Muster moult de NOM etabliert (ebd.: 14). Dabei kann das Quantifikativum auch in Distanzstellung auftreten: „Given that moult is an adverb, it looses its capacity to appear freely in combination with a noun, in the way of a nominal determiner, unless de is inserted. Hence, de fulfils a syntactic role: it enables an adverbial quantifier to combine with a noun, whether it is contiguous to the noun or separated from it by a verb.“ (ebd.: 15). Wenn moult – ab dem 15. Jahrhundert – durch beaucoup (und très) ersetzt wird, ist die unterordnende Struktur schon etabliert. Auf welchem Wege sich die Struktur für andere adverbiale Quantifikativa durchgesetzt hat, müssen wir offenlassen. Carlier (ebd.: 14, 15, 19) zitiert altfranzösische Beispiele für AFR assez ‚genug‘ und AFR tant ‚so viel‘.  





D1.2.3 Attributiv erweiterte Nominalphrasen Mit Blick auf den attributiven Ausbau von NPs sind vor allem die folgenden Varianzparameter typologisch relevant und aus der Sicht des Deutschen von Interesse: (i) das Inventar an Konstituentenkategorien, die in einer Sprache die syntaktische Funktion eines (adnominalen) Attributs realisieren können; (ii) die formale Kodierung der Attributionsbeziehung; (iii) die Stellung eines Attributs eines bestimmten Typs zum substantivischen Kopf (pränominal vs. postnominal); (iv) die Abfolgebeschränkungen von Attributen untereinander, und zwar (α) des gleichen Typs oder (β) verschiedener Typen. Der Parameter (ivα) setzt voraus, dass ein Attributtyp mehr als einmal auftreten kann, der Parameter (ivβ), dass eine Sprache über verschiedene Attributtypen verfügt. Die Redeweise von Attributtypen kann kategorial oder semantisch-funktional – im Sinne der durch ein Attribut realisierbaren funktionalen Domänen (Identifikation, nominale Quantifikation, referentielle/qualitative/klassifikatorische Modifikation) – aufgefasst werden. Wir verstehen ihn im Folgenden im kategorialen Sinn, werden aber im Zusammenhang mit den Abfolgerestriktionen auch auf funktionale Eigenschaften zu sprechen kommen. Den Aufbau von attributiven Strukturen und speziell die Reihenfolge der Attribute untereinander und zum Kopfsubstantiv besprechen wir vor allem anhand von adjektivischen, nominalen und adpositionalen Attributen, klammern also Relativsyntagmen und sententiale Attribute allgemein aus, ebenso Partizipien und Partizipialphrasen. Zu letzteren → D7, zu Relativsätzen → D6. Auch auf adverbiale Attribute gehen wir nicht ein (vgl. dazu → A4.3.3.5.1.3 sowie Gunkel/Schlotthauer 2012). Die Varianzparameter (i)–(iv) werden in den folgenden drei Abschnitten zu adjektivischen, nominalen und adpositionalen Attributen besprochen. Der Parameter (ivα) zur Wortstellungstypologie wird dominant in Bezug auf Adjektive behandelt, so dass wir die Diskussion ebenfalls auf diese Kategorie beschränken.  



Der sachliche Hintergrund für diese Beschränkung besteht darin, dass neben den Adjektiven vor allem nicht-possessive NP- und PP-Attribute in einer NP mehrfach vorkommen können, deren Abfolgebeschränkungen untereinander in der Wortstellungstypologie aber vor allem in ihrer Funktion als adverbale Komplemente oder Supplemente eine Rolle spielen.

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D Nominale Syntagmen

D1.2.3.1 Adjektive und Adjektivphrasen Thema dieses Abschnitts sind zum einen die Stellungseigenschaften von Adjektiven und APs und zwar sowohl untereinander als auch relativ zum Kopfsubstantiv. Zum anderen wird die syntaktische Ausbaufähigkeit von APs (relativ zu ihrer Stellung) untersucht. Alle Vergleichssprachen verfügen über Adjektive (→ B1.3) und APs, deren syntaktische Eigenschaften sich jedoch mit Blick auf die o. g. Parameter z. T. erheblich voneinander unterscheiden.  



D1.2.3.1.1 Stellung des adjektivischen Attributs relativ zum Determinativ In den Vergleichssprachen stehen Determinative – so vorhanden – pränominal. Dies steht im Einklang mit einer generellen typologischen Tendenz von Determinativen, allgemeiner: von adnominalen Elementen, die sich syntaktisch zwar nicht als Determinative ausweisen lassen, aber von ihrer Funktion her einen „determinativähnlichen“ Bedeutungsbeitrag für die Gesamt-NP leisten, in den Randbereichen der NP aufzutreten. Da solche Elemente auch übereinzelsprachlich tendenziell eher pränominal positioniert sind, erscheinen sie als NP-abschließende Elemente, die vor allem deren „linken Rand“ strukturell und linear markieren.  



Zur typologischen Verteilung vgl. Dryer (2013d, 2013e, 2013f) und Rijkhoff (2004). In der Wortstellungstypologie wird seit Greenberg (1963) mit den Kategorien Dem(onstrativum), Num(erale) und A(djektiv) gearbeitet – abgesehen von possessiven Attributen und Relativsätzen. Die klassische Generalisierung ist Greenbergs 20. Universal:  

„Universale 20. When any or all of the items (demonstrative, numeral, and descriptive adjective) precede the noun, they are always found in that order. If they follow, the order is either the same or its exact opposite.“ (Greenberg 1963: 68 f.)  

Die bislang erhobenen Daten sprechen für eine „universale“ Tendenz von Dem >> N gegenüber N >> Dem, ebenso von Num >> N gegenüber N >> Num.

Stehen Adjektive in den Vergleichssprachen ebenfalls pränominal, so sind sie durchgehend zwischen Determinativ und Kopfsubstantiv platziert. Die für das Deutsche oft festgestellte Nominalklammer (Weinrich 1993: 355–358; Eisenberg 2013b: 388–390) erweist sich damit als Spezialfall eines allgemeineren typologischen Musters. Was die (relative) Adjazenz eines adjektivischen Attributs gegenüber dem substantivischen Kopf betrifft, sind für den pränominalen und postnominalen Bereich unterschiedliche Präferenzen zu verzeichnen. Wir betrachten daher zunächst nur den pränominalen Bereich. Hierzu ist zunächst festzustellen, dass adnominale Adjektive tendenziell näher am Kopf stehen als possessive Attribute. Die Stellungspräferenz Poss >> A >> N gegenüber A >> Poss >> N lässt sich aber zumindest für einen großen Teil der possessiven Attribute aus unabhängigen Prinzipien ableiten: Erstens sind possessive Attribute z. T. phrasal und die Voranstellung gegenüber Adjektiven folgt damit dem unabhängigen Prinzip, dass phrasale Attribute tendenziell eher an den Rändern der NP angesie 

D1 Syntax der Nominalphrase

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delt sind als nicht-phrasale. Zweitens sind nicht-phrasale possessive Attribute entweder Determinative oder gehören zu den o. g. determinativähnlichen Ausdrücken, die ohnehin eher an den Rändern der NP stehen.  

Voranstellung eines Adjektivs vor ein Determinativ tritt übereinzelsprachlich kaum und in der Regel nur in einzelnen, markierten Fällen auf (Rijkhoff 2004: 266–276). Ein Beispiel ist das Englische. Unter bestimmten, „highly restricted conditions“ (Huddleston/Pullum 2002: 529) können Adjektive vor dem indefiniten Artikel – nicht aber vor anderen Determinativen – auftreten, vgl. (316). Dabei muss das Adjektiv von einer Intensitätspartikel – oder einem entsprechenden Interrogativadverb – begleitet sein. Das Muster existiert nach Delsing (1993: 138 f.) auch im Dänischen und Norwegischen – nicht aber im (Standard-)Schwedischen, vgl. (317).  











(316) a. how big a company ‚eine wie große Firma‘, so serious a matter ‚eine so ENG ernste Angelegenheit‘, too big a fuss ‚ein zu großes Aufhebens‘, that/this big a spider ‚eine so große Spinne‘ (Huddleston/Pullum 2002: 551) b. how ridiculously trivial a problem ‚ein wie lächerlich trivales Problem‘ (ebd.: 551) c. [AP AdvI N T A] [NP DI N D E F N] (317) DÄN/ NOR SWE a.

så stort et hus so groß ein Haus ‚ein so großes Haus‘ *så stor en bil so groß ein Auto b. en så stor bil ein so groß Auto ‚ein so großes Auto‘ (Delsing 1993: 138 f.)  

Im Deutschen kann lediglich die Intensitätspartikel so vor den indefiniten Artikel rücken, wobei sie in Beispielen wie (318c–f) Skopus über die gesamte N/NOM-Konstituente hat und ein spezieller Bezug auf das Adjektiv (vgl. (318c)) oder das Substantiv (vgl. (318d)) ein Effekt der Fokussierung ist. Fokussierung der gesamten NOMKonstituente (vgl. (318e)) oder einer einzelnen N-Konstituente (vgl. (328f)) ist natürlich auch möglich (vgl. (318), zu ein solcher → D1.2.1.1.2). (318) a. *so groß ein Auto DEU b. ein so großes Auto c. so ein großes Auto d. so ein guter Schwimmer e. so ein blödes Zeug f. so ein Armleuchter

1460

D Nominale Syntagmen

Im Ungarischen kann ein Adjektiv „in an exclamation (i. e. not in NPs in a regular sentence)“ (Rijkhoff 2004: 267) vor einem indefiniten Artikel erscheinen. Das adjektivische Attribut ist dabei akzentuiert (Tompa 1968: 77). Hierbei handelt es sich um eine spezielle NP-Funktion.  

(319) a. gyönyörű egy állat! (prächtig INDEF Tier) ‚ein Prachtstück von einem Tier‘ (Tompa 1968: 77) b. szép egy ló! (schön INDEF Pferd) ‚ein schönes Pferd‘ (Lotz 1988: 231) Im Türkischen ist die Position von bir ‚ein‘ gegenüber adjektivischen Attributen mit einem potentiellen Bedeutungsunterschied verbunden. Nur präadjektivisch kann es als Einernumerale gelesen werden, postadjektivisch fungiert es dagegen als indefiniter Artikel, vgl. (320). (320) a. büyük bir tarla (groß INDEF Feld) ,ein großes Feld‘ TÜR b. bir büyük tarla (1/INDEF groß Feld) ,1/ein großes Feld‘ (vgl. Lewis 2000: 51)

D1.2.3.1.1.1 Deutsch Im Deutschen stehen adjektivische Attribute pränominal nach dem Determinativ (so vorhanden), kongruieren mit diesem und dem Kopfsubstantiv bezüglich Genus, Numerus und Kasus und richten sich in ihrem Flexionstyp nach dem (so vorhanden) vorangehenden Determinativ (vgl. (321), → C6). Textsorten- und registerspezifisch treten Adjektive auch postnominal auf, vgl. (322), wobei sie in dieser Position unflektiert sind. Wir gehen auf solche Fälle nicht weiter ein (vgl. hierzu Dürscheid 2002; Trost 2006: Kap. 17). Zu beachten ist, dass hier ein Übergangsbereich zu appositiven Strukturen besteht, vgl. (323).  

(321) a. b. c. d.

mit dem silbernen Löffel, mit dem silbernen Messer, mit der silbernen Gabel ein silberner Löffel, ein silbernes Messer, eine silberne Gabel die silbernen Löffel/Messer/Gabeln silberne Löffel/Messer/Gabeln

(322) a. Hänschen klein b. Forelle blau c. Fußball total (323)

Birnen, süß und saftig

APs sind durchgehend rechtsköpfig und können syntaktisch unbeschränkt ausgebaut werden (auch → D7.2.3). Dies ist kennzeichnend und signifikant für das Deutsche,

D1 Syntax der Nominalphrase

1461

auch im Vergleich zu anderen germanischen Sprachen (Askedal 1994: 249; Harbert 2007: 129; Fabricius-Hansen 2010; Schuster 2010: 159). (324)

der auf seine Tochter, die ihn immer wieder mit sehr guten Noten überrascht, überaus stolze Vater

Die adjektivischen Köpfe können durch Adverbien, NPs, PPs oder AjkPs attributiv erweitert sein, vgl. (325)–(328). (325) a. ein [AP [Adv sehr] schöner] Text b. ein [AP [Adv besonders] unklarer] Text c. ein [AP [Adv leider] völlig misslungener] Text (326) a. das [AP [NP seiner Mutter] ähnliche] Kind b. ein [AP [NP des Singens] überdrüssiger] Bassbariton (327) a. ein [AP [PP mit den Ergebnissen] unzufriedener] Vorgesetzter b. ein [AP [PP für seine Verhältnisse] offenes] Gespräch (328)

ein [AP [AjkP als Arzt] tätiger] Onkel aus Athen

Adjunktorphrasen (→ D1.1.3.1), die als Attribute von komparativischen Adjektiven fungieren, müssen dagegen postnominal und damit diskontinuierlich realisiert werden, vgl. (329). (329) a. ein [A größeres] Auto [AjkP als deines] vs. *ein größeres als deines Auto b. ein [AP so großes] Auto [AjkP wie deines] vs. *ein so großes wie deines Auto

D1.2.3.1.1.2 Englisch Im Englischen stehen Adjektive und APs in der Regel ebenfalls pränominal und folgen auf das Determinativ (so vorhanden). Ferner können Adjektive und APs auch postnominal erscheinen (s. u.).  

(330) a. a [A big] company ‚eine große Firma‘, a [A serious] matter ‚eine ernste AngeENG legenheit’ b. a [AP very serious] matter ‚eine sehr ernste Angelegenheit‘, a [AP ridiculously trivial] problem ‚ein lächerlich triviales Problem‘ NPs wie in (331), bei denen es sich um der Größenbestimmung dienende Messausdrücke handelt, können nicht als ad-adjektivische NP-Attribute fungieren, obwohl sie

1462

D Nominale Syntagmen

nicht referentiell sind. Nicht referentiell sind auch die pränominalen ad-adjektivischen PP-Attribute in (332). (331) ENG

*a [AP [NP three years] old] child intendiert: ‚ein drei Jahre altes Kind‘, *a [AP [NP five centimeters] thick] board intendiert: ‚ein fünf Zentimeter dickes Brett‘ (Huddleston/Pullum 2002: 551)

(332) ENG

these [AP [PP in some respects] [AP highly controversial]] ideas ‚diese in einigen Hinsichten hochkontroversen Ideen‘, his [AP [PP at times] [AP very offensive]] behaviour ‚sein gelegentlich sehr beleidigendes Benehmen‘, this [AP [PP in my view] [AP quite outrageous]] suggestion ‚dieser meiner Ansicht nach ziemlich unverschämte Vorschlag‘, their [AP [PP to some extent] [AP perfectly valid]] objections ‚ihre in bestimmtem Maße völlig treffenden Einwände‘ (ebd.: 550)

Fälle wie (332) sind nach Huddleston/Pullum (2002: 550) „very restricted with respect to the kinds of PPs permitted“. APs, die PPs als Attribute zum Kopf enthalten, stehen normalerweise postnominal, und die meisten dieser APs können auch nicht pränominal positioniert sein. Bevor wir zu diesem Typ kommen, betrachten wir einfache Adjektive in postnominaler Position (also Konstituenten der Kategorie A). Hier sind zwei Fälle zu unterscheiden: Zum einen Adjektive, die ausschließlich postnominal auftreten, vgl. (333), und zum anderen solche, die prä- und postnominal auftreten, dabei aber unterschiedliche Lesarten haben, vgl. (334). (333) ENG

ablaze ‚in Flammen‘, afloat ‚auf See‘, afraid ‚verängstigt‘, alike ‚gleich‘, alone ‚allein‘, asleep ‚schlafend‘ (Huddleston/Pullum 2002: 559)

(334) a. present ‚gegenwärtig‘/‚anwesend‘, concerned ‚besorgt‘/betreffend‘, navigENG able ‚schiffbar‘, visible ‚sichtbar‘ b. the navigable rivers ‚die (grundsätzlich) schiffbaren Flüsse‘ – the rivers navigable ‚die Flüsse, die (de facto) befahren werden können‘, the visible stars ‚die (grundsätzlich) sichtbaren Sterne‘– the stars visible ‚die Sterne, die man gerade sehen kann‘ c. the visible stars visible ‚die (grundsätzlich) sichtbaren Sterne, die man gerade sehen kann‘ Die Adjektive in (334a) haben in pränominaler Position stage-level-Lesarten, in postnominaler individual-level-Lesarten (vgl. (334b), Kratzer 1995). Daher sind Ausdrücke wie (334c) auch keine Pleonasmen. APs, deren adjektivischer Kopf durch ein PPAttribut erweitert ist, müssen postnominal stehen, solche, die keine PP-Attribute enthalten, dagegen pränominal. (Wir sehen im Folgenden von Fällen wie (332) ab.) Diese Verteilung ist strukturell signifikant. Wir kennzeichnen daher die relevanten AP-Attri-

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D1 Syntax der Nominalphrase

bute durch zusätzliche Merkmale: diejenigen ohne AP-Attribut durch ‚AP[–PP ]‘ („leichte APs“), diejenigen mit AP-Attribut dagegen als ‚AP[+PP ]‘ („schwere APs“, vgl. (335)). (335) a. a [AP[–P P ] very serious] matter ‚eine sehr ernste Angelegenheit‘ vs. *a matter ENG [AP[–P P ] very serious] b. the mother [AP[+P P ] proud of her son] ‚eine auf ihren Sohn stolze Mutter‘ vs. *the [AP[+P P ] proud of her son] mother (vgl. Alexiadou/Wilder 1998: 311) Die Unterscheidung der phrasalen Kategorien AP[–PP ] und AP[+PP ] ist durch die Kategorie des Dependens bedingt ist und beruht damit nicht auf einem Kopf-Merkmal. – Es wird oft behauptet, dass (komplexe) APs genau dann nachgestellt werden, wenn das Dependens ein Argument des Kopfes, also in unserem Sinne ein valenzabhängiges Attribut ist (vgl. etwa Alexiadou/Haegeman/Stavrou 2007). Dem widersprechen Beispiele wie *a [tired [PP in the evening]] man – a man [tired [PP in the evening]] ‚ein Mann, der am Abend müde ist‘, in denen die eingebettete PP theorieübergreifend nicht als Argument des Adjektivs analysiert werden kann.  



D1.2.3.1.1.3 Polnisch Im Polnischen stehen Adjektive entweder prä- oder postnominal; in Abhängigkeit von ihrer semantischen Funktion ist die eine oder andere Stellung präferiert, dominant oder ausschließlich möglich. Als allgemeine Regel kann gelten: Pränominal steht ein Adjektiv, wenn es qualifiziert (vgl. (336)), postnominal wenn es klassifiziert (vgl. (337), Brooks 1975: 382, 393; Fisiak/Lipińska-Grzegorek/Zabrocki 1978: 81; Engel et al. 1999: 921, 925; Skibicki 2007: 437; Sadowska 2012: 220). (336) a. dobry człowiek ‚guter Mensch‘, piękna książka ‚schönes Buch‘ POL b. złoty zegarek ‚goldene Uhr‘ (Damerau 1967: 136), wełniana kurtka ‚Wolljacke‘ (Bartnicka et al. 2004: 248), babie lato ‚Altweibersommer‘ (Skibicki 2007: 437) (337) a. wóz konny ‚Pferdewagen‘, pociąg towarowy ‚Güterzug‘, szkoła podstawowa POL ‚Grundschule‘ (Engel et al. 1999: 921), bażant złocisty ‚Goldfasan‘, statek handlowy ‚Handelsschiff‘, wyrób precyzyjny ‚Präzisionsarbeit‘, wojna atomowa ‚Atomkrieg‘, zamach bombowy ‚Bombenanschlag‘ (ebd.: 925), koncert symfoniczny ‚Sinfoniekonzert‘, dom akademicki ‚Studentenheim‘ (Brooks 1975: 382) b. chleb biały ‚Weißbrot‘, chleb razowy ‚Schwarzbrot‘, blacha biała ‚Weißblech‘, telewizor czarno-biały ‚Schwarzweißfernseher‘, zdjęcie czarno-białe ‚Schwarzweißfoto‘, drukarka kolorowa ‚Farbdrucker‘ Adjektive in klassifikatorischer Funktion treten aber auch pränominal auf (Fisiak/ Lipińska-Grzegorek/Zabrocki 1978: 82). Darunter finden sich vor allem Qualitätsadjektive (vgl. (338)), pränominale Relationsadjektive sind aber ebenfalls möglich (vgl. (339)).

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D Nominale Syntagmen

(338) a. dzika świnia ‚Wildschwein‘, kwaśna śmietana ‚saure Sahne‘, ciężka woda POL ‚schweres Wasser‘ b. białe złoto ‚Weißgold‘, czarna pantera ‚schwarzer Panther‘, czarna kawa ‚schwarzer Kaffee‘, czarna magia ‚schwarze Magie‘, czarny rynek ‚Schwarzmarkt‘ (339) POL

psia buda ‚Hundehütte‘, kurze jajko ‚Hühnerei‘, kurza ferma ‚Hühnerfarm‘, rajski ptak ‚Paradiesvogel‘ (Cetnarowska 2015: 143)

Für Fälle vom Typ (338) wird bei Fokussierung präferiert die Nachstellung gewählt, vgl. (340). (340) POL

Jeśli jesteś osobą, która dba o zdrowie, to wenn sein.2SG Person.INS REL . F kümmer.3SG um Gesundheit.LOK dann w twojej diecie nie powinno zabraknąć herbaty zielonej fehl.INF Tee.GGEN EN grün.G GEN EN in POSS . 2SG . LOK Diät.LOK NEG sollte ‚Wenn du jemand bist, der sich um seine Gesundheit kümmert, soll es in deiner Diät an grünem Tee nicht fehlen.‘

Zudem gibt es Fälle, in denen beide Serialisierungen möglich sind, vgl. (341). (341) a. dysk twardy – twardy disk ‚Festplatte‘, czerwona kapusta – kapusta POL czerwona ‚Rotkohl‘, białe wino – wino białe ‚Weißwein‘, czerwone wino – wino czerwone ‚Rotwein‘, tłuste mleko – mleko tłuste ‚Vollmilch‘ b. woda mineralna – mineralna woda ‚Mineralwasser‘, lampy gazowe – gazowe lampy ‚Gaslampen‘ (Cetnarowska 2015: 143, 151)  













Für manche Sprecher ist hier die Voranstellung präferiert.

Engel et al. (1999: 925) stellen eine Tendenz zur Voranstellung ursprünglich nachgestellter Adjektive fest und führen in diesem Zusammenhang Beispiele wie in (342) an. (342) POL

wieczne pióro – pióro wieczne ‚Füller‘, centralne ogrzewanie – ogrzewanie centralne ‚Zentralheizung‘  



Bei Adjektiven, die qualitative und klassifikatorische Lesarten erlauben, induziert Voranstellung die qualitative Lesart, Nachstellung dagegen die klassifikatorische, vgl. (343). (343) a. aktor komiczny ‚Schauspieler komischer Rollen‘, komiczny aktor ‚komischer POL Schauspieler‘ (Fisiak/Lipińska-Grzegorek/Zabrocki 1978: 81 f.) b. zwierzęce ryki ‚tierisches Gebrüll‘, ryki zwierzęce ‚Gebrüll von Tieren‘ (ebd.)  

D1 Syntax der Nominalphrase

1465

c. ludzkie zachowanie ‚menschliches Verhalten‘, zachowanie ludzkie ‚(das) Verhalten des Menschen‘ (vgl. ebd., Beispiel abgeändert) d. odpowiedzialna osoba ‚verantwortungsvolle Person‘ – osoba odpowiedzialna ‚verantwortliche Person‘ (Sadowska 2012: 220) e. najwyższy sędzia ‚der [körperlich] größte Richter‘ – sędzia najwyższy ‚der höchste Richter‘ (ebd.) f. polski król ‚(der) polnische(r) König‘ – język polski ‚(die) polnische Sprache‘ (ebd.: 222)  





Voranstellung von klassifikatorischen Adjektiven findet sich auch dann, wenn das Kopfsubstantiv von mehr als einem klassifikatorischen Attribut begleitet wird, entweder einem weiteren Adjektiv- (vgl. (344)–(345)), einem Genitiv- oder PP-Attribut (vgl. (346)–(347)). Das vorangestellte Adjektiv steht in der Regel zu dem Kopfsubstantiv in einer weniger engen konzeptuellen Verbindung als das jeweils nachgestellte Attribut. So ist etwa eine Reiseschreibmaschine eine Schreibmaschine für die Reise und nicht eine Reisemaschine zum Schreiben. Bei zwei klassifikatorischen Adjektiven sind mitunter beide Serialisierungen möglich (vgl. (345)), während die Voranstellung von Genitiv- oder PP-Attributen aus unabhängigen (formalen) Gründen blockiert ist. (344) a. kolorowa drukarka atramentowa POL Farbe.ADJ Drucker Tinte.ADJ ,Tintenstrahlfarbdrucker‘ b. kolorowa drukarka ‚Farbdrucker‘ c. drukarka atramentowa ‚Tintenstrahldrucker‘ (Linde-Usiekniewicz 2012: 107) (345) a. pasażerskie przewozy lotnicze POL Passagier.ADJ . PL Transport.PL Flug.ADJ . PL ‚Flugtransport von Passagieren‘ b. lotnicze przewozy pasażerskie ‚Passagiertransport per Flug‘ (ebd.) (346) a. państwowy instytut badawczy ‚staatliches Forschungsinstitut‘ POL b. instytut badawczy ‚Forschungsinstitut‘ c. przedsiębiorstwo państwowe ‚Staatsbetrieb‘ (347) a. maszyna do pisania ‚Schreibmaschine‘ POL b. podróżna maszyna do pisania ‚Reiseschreibmaschine‘ c. czek podróżny ‚Reisescheck‘

1466

D Nominale Syntagmen

Bei attributivem Ausbau durch NPs oder PPs ist nach Siewierska/Uhlířová (1998: 135 f.) die postnominale Stellung, obwohl nicht obligatorisch, so doch der Normalfall, vgl. (348). Anders als im Deutschen können solche APs im Polnischen auch kopfinitial strukturiert sein, vgl. (349).  

(348) a. człowiek bogaty w doświadczenia POL Mann reich in Erfahrung.AKK . PL b. bogaty w doświadczenia człowiek Mann reich in Erfahrung.AKK . PL ‚(ein) an Erfahrung reicher Mann‘ (Siewierska/Uhlířová 1998: 135 f.)  

(349) a. [AP wdziȩczni [NP losowi]] ludzie Schicksal.DAT Leute dankbar.PL ‚dem Schicksal dankbare Leute‘ kierowca b. [AP zły [PP na przechodnia]] böse auf Fußgänger.AKK Autofahrer ‚der auf den Fußgänger böse Autofahrer‘

(Engel et al. 1999: 905 f.)  

Alle anderen ad-adjektivischen Attribute gehen dem Adjektiv voran, vgl. (350). Je nach Kategorie des Attributs ist die AP somit links- oder rechtsköpfig. Diese Unterscheidung entspricht in etwa dem oben für das Englische aufgezeigten Unterschied zwischen prä- und postnominalen APs. (350) a. mój [AP [Adv dość] [A próżny]] kolega POSS .1SG ziemlich eitel Kollege POL ‚mein ziemlich eitler Kollege‘ (Engel et al. 1999: 914) b. ta [AP [Adv zdecydowanie] [A najstarsza]] wzmianka DEM eindeutig alt.SUPL Beleg ‚dieser eindeutig älteste Beleg‘ (ebd.) tym mieście] ceniony] lekarz c. ten [Adv bardzo [PP w DEM sehr in DEM . LOK Stadt.LOK geschätzt Arzt ‚der in dieser Stadt sehr geschätzte Arzt‘ (ebd.: 913) Vergleichsausdrücke, die auf pränominale Adjektive bezogen sind, können markiert auch pränominal positioniert sein, vgl. (351). Der Normalfall ist die postnominale Stellung, vgl. (351b). Nach Engel et al. (1999: 915) ist die pränominale Position nicht für alle Sprecher akzeptabel.

(351) a. %On POL 3SG . M

ma hab.3SG

więcej mehr

[ode als

mnie] 1SG . GEN

dzieci. Kind.AKK . PL

D1 Syntax der Nominalphrase

b. On ma więcej dzieci mehr Kind.AKK . PL 3SG . M hab.3SG ‚Er hat mehr Kinder als ich.‘

[ode als

1467

mnie]. 1SG . GEN

Ferner können PP-Attribute, die sich auf pränominale Adjektive beziehen, unter bestimmten Bedingungen postnominal platziert werden, vgl. (352). (352) a. zbyt duże mieszkanie dla jednej osoby POL zu groß Wohnung für ein.GEN Person.GEN G EN ‚eine zu große Wohnung für eine Person‘ b. bardzo łatwe imię do zapamiętania sehr leicht Name zu Merken.GEN ‚ein leicht zu merkender Name‘ (Siewierska/Uhlířová 1998: 137)

D1.2.3.1.1.4 Französisch Im Französischen treten neben Determinativen pränominal ausschließlich Adjektive auf, so dass dieser Bereich insgesamt nur beschränkt ausbaubar ist. Für die Adjektive sind die Stellungsregeln komplex und involvieren eine Reihe unterschiedlicher grammatischer wie pragmatischer Faktoren, deren Zusammenspiel weitgehend ungeklärt ist (von Wartburg/Zumthor 1958: 151; Riegel/Pellat/Rioul 2014: 629 f.). Daher sind wohl nur wenige der im Folgenden beschriebenen Regularitäten ohne Ausnahme. Insgesamt beschränken wir uns auf die generellen Tendenzen, insbesondere diejenigen, die übereinzelsprachlich belegbar sind. Pränominal stehen zunächst Numeraladjektive – und zwar sowohl Ordinal- (le premier jour ‚der erste Tag‘ vs. *le jour premier) als auch Kardinaladjektive (les trois cochons ‚die drei Schweine‘ vs. *les cochons trois). Numeraladjektive fungieren als Quantifikatoren; kategorial handelt es sich entweder um Determinative oder Adjektive; ihre funktionale Domäne spiegelt sich in ihrem topologischen Verhalten wider. Pränominal findet sich weiter eine Reihe von nicht-prädikativen und nicht-intersektiven Adjektiven, die das Zutreffen des Substantivbegriffs auf einen oder mehrere mögliche Referenten negieren oder temporal oder modal beschränken, vgl. actuel ‚gegenwärtig‘, ancien ‚ehemalig‘, ci-devant ‚ehemalig‘, faux ‚falsch‘, futur ‚zukünftig‘, présent ‚gegenwärtig‘, soi-disant ‚angeblich‘, supposé ‚vermeintlich‘, vieux ‚alt‘ (→ A4.1, le futur président ‚der zukünftige Präsident‘ vs. *le président futur, Bouchard 2002: 76). Einige dieser Adjektive haben lexikalische Dubletten, die eine andere Bedeutung haben und postnominal auftreten, vgl. un ancien chateau ‚ein ehemaliges Schloss‘ vs. un chateau ancien ‚ein altes Schloss‘. Solche Dubletten finden sich auch in anderen semantischen Klassen, und auch hier gilt, dass die jeweilige Bedeutung an eine der beiden Positionen gebunden ist, vgl. un brave homme ‚ein anständiger Mann‘ vs. un homme brave ‚ein mutiger Mann‘, un certain succès ‚ein gewisser Erfolg‘ vs. un succès certain ‚ein sicherer  





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D Nominale Syntagmen

Erfolg‘, une pauvre femme ‚eine bedauernswerte Frau‘ vs. une femme pauvre ‚eine mittellose Frau‘ (vgl. Confais 1980: 217; Grevisse/Goosse 2011: 431 f., vgl. auch die Liste in Waugh 1977: 181–189). Die Bedeutung der postnominalen Variante kann zumeist als „Grundbedeutung“ gelten, insofern als sie allein bei prädikativer Verwendung – soweit möglich – zum Tragen kommt (l’homme, qui est brave ‚der Mann, der mutig ist‘, le succès était certain ‚der Erfolg war sicher‘, la femme qui était pauvre ‚die Frau, die arm war‘). Analoge Fälle gibt es im Englischen und Polnischen. Relationsadjektive (taches solaires ‚Sonnenflecken‘), einschließlich Herkunftsadjektive (une voiture italienne ‚ein italienisches Auto‘) sind auf den postnominalen Bereich beschränkt. Das gilt auch für Adjektive, die aus Partizipien abgeleitet sind (une adresse inconnue ‚eine unbekannte Adresse‘, un argument convaincant ‚ein schlagendes Argument‘, Riegel/Pellat/Rioul 2014: 630). Entsprechendes gilt in der Regel auch für Partizipien (→ D7). Auch der größte Teil der Qualitätsadjektive steht postnominal, dazu gehören insbesondere alle Adjektive, die im engeren Sinne intersektiv sind (Bouchard 1998: 141; Knittel 2005: 188), darunter solche, die Farb- oder Formeigenschaften (Grevisse/Goosse 2011: 429 f.) oder andere wahrnehmbare Eigenschaften oder aus Wahrnehmungen ableitbare Eigenschaften bezeichnen (Riegel/Pellat/Rioul 2014: 630, un costume gris ‚ein graues Kostüm‘ vs. *un gris costume, un ballon ovale ‚ein ovaler Ball‘ vs. *un ovale ballon, un café amer ‚ein bitterer Kaffee‘ vs. *un amer café). Prä- und postnominal können Adjektive stehen, die eine bewertende oder intensivierende Bedeutungskomponente im weitesten Sinn haben (abominable ‚abstoßend‘, admirable ‚bewundernswert‘, affreux ‚scheußlich‘, atroce ‚grauenhaft‘, délicat ‚heikel‘, énorme ‚riesig‘, épouvantable ,schrecklich‘, excellent ‚hervorragend‘, extraordinaire ‚außerordentlich‘, horrible ‚furchtbar‘, immense ‚riesig‘, magnifique ‚wundervoll‘, merveilleux ‚wundervoll‘, redoutable ‚furchterregend‘). Die postnominale Stellung ist dabei unmarkiert, die pränominale geht mit speziellen semantischen und/oder pragmatischen Effekten unterschiedlicher Art einher. Voranstellung dient einmal dazu, eine „subjektive“, „emotionale“ oder „affektive“ Bedeutungskomponente zu konnotieren (Blinkenberg 1933: 54; Riegel/Pellat/Rioul 2014: 631, un énorme éléphant ‚ein riesiger Elefant‘, un extraordinaire acteur ‚ein außergewöhnlicher Schauspieler‘, une délicate affaire ‚eine heikle Angelegenheit‘, une immense joie ‚eine Riesenfreude‘). Das Adjektiv kann in dieser Position auch fokussiert sein (une SUperbe voiture, Laenzlinger 2005: 652). Umgekehrt kann Voranstellung gerade dazu dienen, das Adjektiv als nicht-restriktiv oder informationsstrukturell thematisch zu kennzeichnen, wie etwa in anaphorischen NPs,  







when the discourse context has sufficiently established the quality as pertaining to that particular substantive: […] J’ai vu un éléphant énorme.… Cet énorme éléphant buvait de l’eau. (Waugh 1977: 132, siehe auch Blinkenberg 1933: 107–113).

Weiter kann Voranstellung bei semantisch geeigneten Kopfsubstantiven eine roleLesart induzieren, während bei Nachstellung ceteris paribus die unmarkierte valueLesart vorliegt. So bezeichnet un mauvais élève ‚ein schlechter Schüler‘ jemanden, der

D1 Syntax der Nominalphrase

1469

als Schüler schlecht ist, un élève mauvais dagegen jemanden, der Schüler und (als Person) schlecht ist (Knittel 2005: 189). Zur Unterscheidung der beiden Lesarten vgl. Fauconnier (1985: Kap. 2). Eine kleine Gruppe von hochfrequenten, vor allem mono- aber auch bisyllabischen Adjektiven mit evaluativer Bedeutung, die in den Grammatiken gewöhnlich durch Auflistung bestimmt wird (vgl. mit Unterschieden Grevisse/Goosse 2011: 428; Riegel/Pellat/Rioul 2014: 631), steht in der Regel pränominal. Dazu gehören autre ‚anderer‘, beau ‚schön‘, bon ‚gut‘, brave ‚mutig‘,bref ‚kurz‘, grand ‚groß‘, gros ‚dick‘, haut ‚hoch‘, jeune ‚jung‘, joli ‚hübsch‘, long ‚lang‘, mauvais ‚schlecht‘, meilleur ‚besser‘, moindre ‚gering‘, petit ‚klein‘, vieux ‚alt‘ aber z. B. nicht laid ‚hässlich‘ (Riegel/ Pellat/Rioul 2014: 631), was zeigt, dass die Gruppe nur lexikalisch bestimmbar ist, vgl. une grande maison ‚ein großes Haus‘, un petit appartement ‚eine kleine Wohnung‘, une mauvaise route ‚eine schlechte Straße‘ (Confais 1980: 215 f.). Diese Adjektive stehen auch pränominal, wenn sie miteinander kombiniert auftreten (un brave jeune prêtre ‚ein mutiger junger Priester‘, une jolie vieille maison ‚ein hübsches altes Haus‘, Grevisse/Goosse 1993: 506). Nachstellung ist bei Fokussierung möglich (une femme BELLE ‚eine schöne Frau‘, un résumé BREF ‚eine kurze Zusammenfassung‘, une responsabilité LOURDE ‚eine schwere Verantwortung‘, Confais 1980: 218). Abgesehen von semantisch-pragmatischen Faktoren kann eine Veränderung der unmarkierten – prä- oder postnominalen – Stellung auch durch syntaktische Faktoren ermöglicht oder erzwungen werden. Wir demonstrieren die Wirksamkeit dieser Faktoren anhand ausgewählter, in der Literatur angeführter Beispiele, die insgesamt nur bestimmte Teilklassen von Adjektiven betreffen. Inwieweit die sich hier abzeichnenden Wortstellungsmöglichkeiten auf andere Adjektivklassen verallgemeinerbar sind, bleibt zu untersuchen. Ein erster Faktor betrifft den attributiven Ausbau des postnominalen Bereichs insgesamt. Adjektive, die prä- oder postnominal stehen können, also im Wesentlichen Einstellungsadjektive, werden präferiert pränominal positioniert, wenn der postnominale Bereich bereits attributiv besetzt ist (Riegel/Pellat/Rioul 2014: 344). Nach Knittel (2005: 203) kann die Voranstellung in solchen Fällen ebenso pragmatisch „neutral“ sein wie die Nachstellung (un chateau blanc magnifique – un magnifique chateau blanc ‚ein wunderbares weißes Schloss‘, un tableau ovale affreux – un affreux tableau ovale ‚ein scheußliches ovales Bild‘, ebd.: 202). Dieser Effekt findet sich auch, wenn ein klassifikatorisches PP-Attribut postnominal steht (un fort vent d’ouest ‚ein starker Westwind‘, une élégante robe du soir ‚ein elegantes Abendkleid‘, une épaisse couche de neige ‚eine dicke Schneeschicht‘, ebd.: 202). Bemerkenswert ist dieses Phänomen insofern, als es sich auch in anderen Sprachen mit flexibler Adjektivwortstellung findet, so etwa im Polnischen, wo allerdings (auch) andere Adjektivklassen betroffen sind. Ein zweiter Faktor ist durch den phrasalen Ausbau des adjektivischen Attributs selbst gegeben. Bei Adjektiven, die optional oder obligatorisch pränominal stehen, ermöglicht oder erzwingt der Ausbau zur AP die postnominale Stellung. Phrasaler Ausbau hat daher immer einen Effekt auf die Nachstellung; umgekehrt kann aber  













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D Nominale Syntagmen

durch phrasalen Ausbau keine Voranstellung lizenziert werden. Adjektivische Attribute haben somit in postnominaler Stellung einen größeren „syntagmatischen Spielraum“, (auch) in dieser Hinsicht kann diese Position als unmarkiert gelten. Obligatorisch nachgestellt sind adjektivische Attribute, wenn sie durch eine PP erweitert sind, wobei diese entweder ein nominales oder ein verbales Komplement enthalten kann (un conseil bon pour des novices ‚ein für Anfänger guter Rat‘, Confais 1980: 220, une maladie longue à guerir ‚eine Krankheit, die lange braucht, um zu heilen‘, Riegel/Pellat/Rioul 2014: 632). Ebenso führen durch comme ‚wie‘ oder que ‚als‘ (bei Komparativen) eingeleitete Vergleichsausdrücke zur Nachstellung (un jardin grand comme le mien ‚ein Garten, so groß wie meiner‘, Grevisse/Goosse 2011: 431; un appartement plus grand que le nôtre ‚eine Wohnung, die größer ist als unsere‘, Riegel/ Pellat/Rioul 2014: 632). Dabei ist irrelevant, ob das Dependens valenzgebunden ist oder nicht (une table longue de 2 mètres ‚ein Tisch von 2 Metern Länge‘ vs. cette décision étrange à vos yeux ‚diese in euren Augen befremdliche Entscheidung‘, Abeillé/Godard 2000: 339). Werden Adjektive durch Adverbien erweitert, ist die Nachstellung teils optional, teils obligatorisch. Adjektive, die durch Gradadverbien der Gruppe trés, trop, assez, vraiment, peu modifiziert sind, können prä- oder postnominal stehen (une très/ vraiment belle maison – une maison très/vraiment belle ‚ein sehr/wirklich schönes Haus‘, une décision très habile – une très habile décision ‚eine sehr geschickte Entscheidung‘, Abeillé/Godard 1999: 14). Bei allen anderen Adverbien ist dagegen Nachstellung obligatorisch (*une véritablement belle jeune fille vs. une jeune fille véritablement belle ‚ein wirklich schönes Mädchen‘, *une politiquement habile décision vs. une décision politiquement habile ‚eine politisch geschickte Entscheidung‘, ebd.).  



Die Akzeptabilitätsurteile divergieren. So bewertet Laenzlinger (2005: 652) das Beispiel une extrȇmement belle fille (‚ein extrem schönes Mädchen‘) als grammatisch.

Optional ist die Nachstellung bei „einfachen“ Koordinationsstrukturen wie une grande et belle maison – une maison grande et belle (‚ein großes und schönes Haus‘, Knittel 2005: 191; siehe auch Blinkenberg 1933: 128–132). Auf diesem Wege können auch Adjektive wie actuel, faux, vrai etc. (s. o.) postnominal platziert werden (des vrais ou faux coupables vs. des coupables vrais ou faux ‚wahre und falsche Schuldige‘, les anciens ou actuels sénateurs vs. les sénateurs anciens ou actuels ‚die ehemaligen oder gegenwärtigen Senatoren‘, Abeillé/Godard 2000: 340). Die dominanten Attributtypen im postnominalen Bereich sind Adjektive, APs und PPs, wobei jede Kategorie auch mehrfach vertreten sein kann. Wir skizzieren im Folgenden die grundsätzlichen Abfolgemöglichkeiten der Kategorien untereinander; berücksichtigt werden ferner nur solche Attribute, die mit ihrem substantivischen Kopf keine lexikalisierte Verbindung eingehen. Im Bereich der PP-Attribute ist zwischen referentiellen (PP+ref) und nicht-referentiellen (qualitativen und klassifikatorischen, PP−ref) zu unterscheiden, im Bereich der adjektivischen Attribute zwischen Qualitäts- (AQ) und Relationsadjektiven (AR). Zur Debatte stehen damit die folgenden  



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D1 Syntax der Nominalphrase

sechs Abfolgemuster: N + AQ + PP+ref, N + AR + PP+ref, N + AQ + PP−ref, N + AR + PP−ref, N + AQ + AR, N + PP−ref + PP+ref. (N + AR + AQ, N + PP−ref + PP+ref) Relationsadjektive gehen Qualitätsadjektiven immer voran (l’armée romaine victorieuse ‚die siegreiche römische Armee‘ – *l’armée victorieuse romaine, Riegel/Pellat/Rioul 2014: 344); ebenso folgen referentielle PPs strikt auf nicht-referentielle, vgl. l’industrie de luxe en France ‚die Luxusindustrie in Frankreich‘ (Internet) – *l’industrie en France de luxe. (N + AQ + PP+ref) Die relative Abfolge von Qualitätsadjektiven und referentiellen PP-Attributen ist nicht fest, vgl. une île verte des Caraïbes – une île des Caraïbes verte ‚eine grüne karibische Insel‘, une voiture rouge/française/magnifique de 1958 – une voiture de 1958 rouge/française/magnifique ‚ein rotes/französisches/wunderbares Auto von 1958‘ (Laenzlinger 2005: 674), un livre intéressant sur les Indiens – un livre sur les Indiens intéressant ‚ein interessantes Buch über Indianer‘ (Abeillé/Godard 2000: 40), le chien noir du berger – le chien du berger noir ‚der schwarze Hund des Schäfers‘ (Waugh 1977: 197). Hervorgehoben wird die Stellungsfreiheit bei superlativischen Adjektivformen, vgl. les rivières les plus torrentueuses d’Europe – les rivières d’Europe les plus torrentueuses ‚die wildesten Küsten Europas‘ (Jenkins 1980: 700). Riegel/ Pellat/Rioul (2014: 344) behaupten dagegen, dass zwischen Qualitätsadjektiv und substantivischem Kopf keine „substantivischen Komplemente“ stehen können und führen als Evidenz das Beispielpaar la réponse négative de Pierre – *la réponse de Pierre négative ‚die negative Antwort von Peter‘ an. (N + AQ + PP−ref) Werden Qualitätsadjektive mit nicht-referentiellen, hier vor allem: klassifikatorischen PPs kombiniert, hängt die Präferenz zugunsten einer kopfadjazenten Stellung der PP tendenziell vom Lexikalisierungsgrad der N+PP-Verbindung ab; allerdings ist der Spielraum des Adjektivs mitunter recht weit, vgl. des conditions humaines de travail ‚menschliche Arbeitsbedingungen‘ (Waugh 1977: 197). In vielen Fällen sind beide Abfolgen möglich: conditions d’existence précaires – conditions précaires d’existence ‚prekäre Existenzbedingungen‘ (Internet), des peintures turques sur verre ‚türkische Glasmalereien‘, les camps classiques de prisonniers ‚die klassischen Gefangenenlager‘ (Jenkins 1980: 700).  















Ein lexikalischer Faktor, der bei (partieller) Lexikalisierung der N+PP-Verbindung eine Zwischenstellung des Adjektivs begünstigt, scheint darin zu bestehen, dass die Verbindung Teil einer Reihenbildung ist, wie sie vor allem bei abstrakten Substantiven wie condition ‚Bedingung‘, production ‚Produktion‘, système ‚System‘ etc. zu finden ist. Reihenbildungen zeigen produktive Muster, bei denen der Bedeutungsaufbau kompositional nachvollziehbar ist. Daher liegt in diesen Fällen ein geringerer Lexikalisierungsgrad vor. Ein syntaktischer Faktor, der die entferntere Stellung des PP-Attributs begünstigt, ist wiederum dessen phrasaler Ausbau, wie er etwa bei Koordination gegeben ist, vgl. les techniques modernes de production et de commercialisation ‚die modernen Produktions- und Vermarktungstechniken‘ (Jenkins 1980: 701). Bei qualitativen PP-Attributen sind ebenfalls beide Stellungen möglich, vgl. un vase de toute beauté marron – un vase marron de toute beauté ‚eine wunderschöne braune Vase‘ (Laenzlinger 2005: 677).  

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D Nominale Syntagmen

(N + AR + PP+ref) Dagegen stehen Relationsadjektive immer strikt vor referentiellen PPs, vgl. l’industrie charbonnière en France ‚die Kohleindustrie in Frankreich‘ – *l’industrie en France charbonnière, commerce international du vin ‚internationaler Weinhandel‘ – *commerce du vin international, région administrative/rurale du Québec ‚Verwaltungsregion/ländliche Region von Québec‘ – *région du Québec administrative/rurale. Das ist auch dann der Fall, wenn die Relationsadjektive koordiniert auftreten, vgl. conditions sociales de la population ‚soziale Bedingungen der Bevölkerung‘ (Internet) – *conditions de la population sociales, conditions sociales et économiques de la population ‚soziale und wirtschaftliche Bedingungen der Bevölkerung‘ (Internet) – *conditions de la population sociales et économiques. Zu beachten ist, dass Fälle, in denen anscheinend die Serialisierung ‚PP+ref A2 bzw. A2 >> A1 grammatisch, die andere dagegen ungrammatisch ist, vgl. (377). (377) a. eine neue elektrische Eisenbahn b. *eine elektrische neue Eisenbahn Für Sprachen, in denen Adjektive prä- und postnominal stehen können, wären solche Aussagen noch auf den jeweiligen Bereich relativ zum Kopf zu relativieren. Davon abstrahieren wir im Moment.

Umgekehrt wäre die Abfolge von zwei Adjektiven untereinander frei, wenn sich zwischen beiden Stellungsmöglichkeiten kein grammatischer (aber vielleicht allenfalls „stilistischer“) Unterschied feststellen lässt. Ob es solche Fälle von freier Variation für verschiedene semantische Klassen tatsächlich gibt, mag dahingestellt bleiben. Zu erwarten sind sie am ehesten bei Adjektiven der gleichen semantischen Klasse, vgl. (378). (378) a. ein angenehmer, jovialer Kollege b. ein jovialer, angenehmer Kollege Bei der Bezugnahme auf semantische Klassen ist zu berücksichtigen, dass eine semantische Klassifizierung (von Adjektiven) verschiedenen Kriterien folgen und in unterschiedlichem Grad ausdifferenziert sein kann. Je nachdem, welche Klassifizierung zugrunde gelegt wird, können zwei Adjektive daher zur gleichen oder zu verschiedenen Klassen gehören.

Es ist sinnvoll, das Konzept der Abfolgemöglichkeit oder Abfolgebeschränkung zwischen Adjektivklassen als skalares Konzept aufzufassen, wobei eine strikte und eine völlig freie Abfolge im o. g. Sinn die Endpunkte eines Kontinuums bilden. Dazwischen liegt ein Bereich, in der die eine gegenüber der anderen Abfolge als in unterschiedlichem Grad „markiert“, „präferiert“ oder „natürlich“ bzw. „neutral“ zu charakterisieren ist. Für den Sprachvergleich sind vor diesem Hintergrund zwei Fragestellungen relevant und auseinanderzuhalten: (i) Inwieweit unterscheiden sich Sprachen in Bezug auf die unmarkierte Abfolge von attributiven Adjektiven? (ii) Inwieweit unter 



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D Nominale Syntagmen

scheiden sich Sprachen in Bezug auf die Flexibilität in der Abfolge von attributiven Adjektiven? Beide Fragen setzten einen Begriff von unmarkierter oder neutraler Abfolge voraus, wie er generell in Arbeiten zur Wortstellung verwendet wird. Im Folgenden sprechen wir in erster Linie Fragestellung (i) an, die Frage der Flexibilität (= (ii)) wird nur am Rand angesprochen. Bezüglich des Konzepts der unmarkierten Abfolge wird etwa davon ausgegangen, dass eine Abfolge A1 >> A2 etwa gegenüber einer Abfolge A2 >> A1 unmarkiert ist, wenn A1 >> A2 in mehr informationsstrukturell unterschiedlichen Kontexten auftreten kann, was sich ausdrucksseitig auch darin manifestieren kann, dass die markierte Abfolge ein bestimmtes Akzentmuster verlangt (in diesem Sinne Eisenberg 2013b: 391). Als markiert lässt sich aber auch eine Abfolge A2 >> A1 gegenüber A1 >> A2 auffassen, wenn A2 (oder A1) in dieser Abfolge weniger Lesarten aufweisen kann als in der anderen. So könnte z. B. A2 in der einen Stellung restriktiv oder nichtrestriktiv interpretierbar sein, in der anderen dagegen nur nicht-restriktiv. Falls jede der Abfolgen jeweils auf eine bestimmte Lesart festgelegt ist, ließe sich dennoch fragen, welche der beiden die „natürlichere“ ist. So ist etwa für Qualitätsadjektive aufgrund der diskriminierenden Funktion der Modifikation anzunehmen, dass die restriktive Lesart die unmarkierte darstellt. – In der Literatur wird von solchen „Markiertheitskriterien“ durchgehend, wenn auch gelegentlich nur implizit Gebrauch gemacht.  



Adjektive sind sprachabhängig prä- oder postnominal platziert, in manchen Sprachen sind beide Möglichkeiten gegeben, wenn auch nicht für alle Adjektivklassen gleichermaßen. Die Redeweise von der Adjektivstellung betrifft daher zwei verschiedene Parameter: zum einen die Stellung eines Adjektivs (einer bestimmten Klasse) relativ zum Kopf und zum anderen die Stellung von Adjektiven verschiedener Klassen untereinander. Ein abstraktes und sehr vereinfachtes Beispiel soll zunächst das Problem verdeutlichen: Angenommen, es existieren drei Gruppen oder Typen von Sprachen, in denen Adjektive der semantischen Klassen A1, A2 und A3 im unmarkierten Fall pränominal (vgl. (379a, d)) oder postnominal (vgl. (379b, c)) stehen können. Die Muster (b) und (d) unterscheiden sich jeweils von (a) und (c) darin, dass die relative Abfolge der Adjektive untereinander spiegelbildlich zu der in (a) bzw. (c) ist, aber die relative Nähe der Adjektivklassen zum Kopf in den zueinander spiegelbildlichen Versionen gleich bleibt. (379) a. b. c. d.

A1 >> A2 >> A3 >> N N >> A3 >> A2 >> A1 N >> A1 >> A2 >> A3 A3 >> A2 >> A1 >> N

Angenommen, es gibt eine typologisch relevante Menge von Sprachen, in denen die Adjektive der jeweiligen Klassen pränominal im unmarkierten Fall dem Muster (a) folgen. Dann lässt sich fragen, ob auch Sprachtypen existieren, die einem der anderen Muster folgen. Der Typ (d) scheint nach Aussage der typologischen Literatur nicht vorzukommen; somit stellt sich die Frage, wie die Abfolgen (b) und (c) relativ zu (a) zu bewerten sind.

D1 Syntax der Nominalphrase

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Was den Parameter der Stellung von Adjektiven relativ zum Kopf angeht, so nennen wir Sprachen mit unmarkiert pränominaler Stellung der Einfachheit halber AN-Sprachen, solche mit unmarkiert postnominaler Stellung NA-Sprachen. Von den Vergleichssprachen zählen Ungarisch, Deutsch, Englisch und Polnisch zu den ANSprachen. Dabei gilt die pränominale Stellung im Ungarischen und auch im Deutschen für alle Adjektivklassen strikt; im Englischen und Polnischen ist dagegen auch Nachstellung möglich. Wie alle romanischen NA-Sprachen ist auch im Französischen die pränominale Stellung bestimmter Adjektivklassen möglich oder sogar obligatorisch. Was den zweiten Parameter angeht, die Stellung der Adjektive verschiedener Klassen untereinander, ist es methodisch sinnvoll, zunächst von größeren Klassen von Adjektiven auszugehen, die jeweils verschiedene kleinere, semantisch spezifizierbare Klassen subsumieren. Die größeren Klassen bezeichnen wir im Folgenden als Makroklassen, die kleineren einfach als semantische Klassen. Das Kriterium für die Zusammenfassung zu einer Makroklasse besteht darin, dass der Rekurs auf Makroklassen sinnvolle topologische Generalisierungen erlaubt. Auf weitere semantische oder funktionale Eigenschaften der Elemente einer Makroklasse wird weiter unten im Zusammenhang mit möglichen Erklärungsgründen für die Abfolgeregularitäten zu sprechen zu kommen sein. Wir orientieren uns dabei an der typologisch-sprachvergleichenden (Hetzron 1978; Seiler 1978; Sproat/Shih 1991; Scott 2002; Cinque 2010) sowie einzelsprachbezogenen Literatur (Huddleston/Pullum 2002 zum Englischen; Kiefer 2004; Riegel/Pellat/ Rioul 2014 zum Französischen), mit Bezug auf semantische Klassen allgemein insbesondere an den Arbeiten zum Deutschen (Trost 2006; Duden-Grammatik 2009). Als Makroklassen im intendierten Sinn lassen sich die folgenden Klassen von Adjektiven zusammenfassen, wobei wir im Vorgriff auf die nachfolgende Diskussion die Klassen nach zunehmender Kopfnähe anordnen: Numeraladjektive (Klasse IV) sind unmarkiert die kopffernsten, Relationsadjektive (Klasse I) die kopfnächsten, vgl. (380). (380) IV III II I

Numeraladjektive deiktische und phorische Adjektive Qualitätsadjektive (einschließlich Materialadjektive) Relationsadjektive (einschließlich Herkunftsadjektive)

Die Makroklassen gründen sich in den für Attribute relevanten funktionalen Domänen: Numeraladjektive (wie viel, zahlreich, zwei) fungieren als Quantifikatoren, deiktische Adjektive (wie obig, hiesig, gestrig) sind dagegen verankernde, Qualitätsadjektive qualitative im Normalfall und Relationsadjektive klassifikatorische Modifikatoren. Phorische Adjektive (wie folgend, letzt-, erwähnt, nachstehend) haben am ehesten eine den Identifikatoren vergleichbare Funktion, die in Rijkhoff (2010) als „diskursreferentiell“ bezeichnet wird (vgl. auch → A1.3). Als Ausdrucksformen ihrer jeweiligen funktionalen Domäne sind Qualitätsadjektive in den Vergleichssprachen zentral, deiktische Adjektive – wie auch phorische – dagegen peripher, da referentiell-ver 



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D Nominale Syntagmen

ankernde Modifikation prototypisch durch NPs/PPs realisiert wird. Relationsadjektive sind für solche Sprachen eines der zentralen Mittel zur Bildung klassenbenennender Ausdrücke, in denen diese nicht oder nur marginal via Komposition geformt werden können. Die Klassifizierung in vier Makroklassen entspricht der in Eichinger (1987: 159–167), wo zwischen Zugehörigkeitsadjektiven, Qualitätsadjektiven, referentiellen und quantitativen Adjektiven unterschieden wird (vgl. hierzu auch Eisenberg 2013b: 392) und von „Stellungs(groß)kategorie[n]“ die Rede ist; ähnliche 4 Gruppen werden in der Duden-Grammatik (1998: 828) aufgeführt. Zu weiterer Literatur vgl. Eichinger (1987). Im Einzelnen unterschieden sich die Darstellungen in der Subklassifizierung der vier Makroklassen etc. Insbesondere Eichinger orientiert sich auch an Seiler (1977); in dem dort angeführten Beispiel alle diese meine erwähnten zehn schönen roten hölzernen Kugeln folgt das Numeraladjektiv auf das phorische Adjektiv. Die umgekehrte Folge von Numeral- und phorischem Adjektiv ist jedoch ebenso möglich. Eisenberg (2013b: 392) nennt Beispiele mit deiktischen und phorischen Adjektiven, denen ein (im weiteren Sinne zu verstehendes) Numeraladjektiv vorangestellt sind: die andere obengenannte alte eiserne Lampe, ein weiteres hiesiges kleines französisches Restaurant.

In erster Linie sind bei der Makroklasse der Qualitätsadjektive feinere topologisch signifikante semantische Subklassifizierungen vorzunehmen: Als prototypische Adjektive, die (in der Regel) attributiv und prädikativ gebraucht werden können, drücken sie Eigenschaften in einem prätheoretischen, intuitiv zugänglichen Sinn aus, wobei es sich um Eigenschaften vielfältiger Art handeln kann. Zunächst bietet sich eine Einteilung in sprecherbezogene und objektbezogene Qualitätsadjektive an (vgl. die Unterscheidung zwischen „subjektiven“ und „objektiven“ Eigenschaften bei Hetzron 1978: 178; Jones 1996: 325). Zur ersten Subklasse gehören Emotions- (wie grauenhaft, glücklich, traurig) und Evaluationsadjektive (wie unschön, mangelhaft, gut, perfekt). Beide Untergruppen sind alles andere als scharf voneinander zu trennen; insbesondere drücken Emotionsadjektive ebenfalls Bewertungen aus, aber umgekehrt drücken nicht alle Evaluationsadjektive Emotionen aus. Es geht hier lediglich darum, tendenziell eher neutrale von tendenziell eher affektiven Bewertungen abzugrenzen. Zur zweiten Subklasse, den objektbezogenen Qualitätsadjektiven, dagegen gehören Adjektive, die eher sprecherunabhängige, intersubjektiv konstante Eigenschaften zuschreiben. Dazu zählen relative Adjektive wie die Dimensionsadjektive (z. B. groß, lang, breit, hoch, tief) und absolute Adjektive wie Form-, Farb- und Materialadjektive. Materialadjektive (wie hölzern, silbern, seiden) allerdings liegen im peripheren Bereich der Qualitätsadjektive; anders als deren typische Vertreter – Dimensions-, Form- oder Farbadjektive – sind sie etwa im Deutschen aus der prädikativen Funktion ausgeschlossen. Sie teilen diese und weitere Eigenschaften mit klassifikatorisch modifizierenden Ausdrücken. Wir bewerten jedoch (→ A.4.2) die mit typischen Qualitätsadjektiven geteilten Eigenschaften – z. B. das Vorliegen einer spezifischen semantischen Relation zum Modifikandum – höher und ordnen sie daher als periphere semantische Klasse der Qualitätsadjektive ein. Kommen wir nun zu möglichen Prinzipien der Stellungsfolge für die eingeführten Klassen. Wie in der Literatur verschiedentlich festgestellt wurde, folgt der Aufbau des  









D1 Syntax der Nominalphrase

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zentralen Bereichs der NP dem Prinzip des konstruktionellen Ikonismus im Sinne von Behaghels „oberstem Gesetz“ für die Wortstellung. Es besagt, „daß das geistig eng Zusammengehörige auch eng zusammengestellt wird“ (Behaghel 1932: 4). Somit ist dem funktionalen Aufbau der NP „von innen her“ zu folgen: Im Zentrum einer prototypischen, substantivischen Nominalphrase steht eine lexikalisierte Benennungseinheit, die eine für die jeweilige Sprache kognitiv relevante und etablierte Klasse von Entitäten bezeichnet (→ A3) und damit die funktionale Domäne der Nomination realisiert. Lexikalisierte Benennungseinheiten sind im einfachsten Fall einzelne Wortformen, die aus einem morphologisch einfachen, ggf. flektierten Substantivstamm bestehen. Sie können wortbildungsmorphologisch (per Komposition) oder syntaktisch (per Attribution) erweitert werden, und zwar mithilfe von Stämmen oder Wortformen mit einer inhaltlichen, begrifflichen Bedeutung. Wenn das erweiternde Element als klassifikatorischer Modifikator fungiert, bezeichnet das so gebildete (syntaktisch oder morphologisch) komplexe Nominal eine (kognitiv relevante) Subklasse der von der nicht-erweiterten Nominationseinheit benannten Klasse von Entitäten. Solche Nominale (Syntagmen oder Komposita) haben das Potential, wiederum zu festen Benennungen lexikalisiert zu werden (→ A3, → A4.2). In topologischer Hinsicht bilden Benennungen kompakte, kontinuierliche, syntaktisch nicht trennbare Einheiten (vgl. (SB0), ‚SB‘ für ‚Serialisierungsbeschränkung‘). Im Fall morphologisch komplexer, per Komposition gebildeter Benennungsausdrücke gilt dies trivialerweise. (SB0)

Klassifikatorische Modifikatoren, die mit ihrem Modifikanden eine Benennungseinheit bilden, stehen zu diesem in strikter Adjazenz.

Da syntaktisch komplexe Benennungseinheiten „Wortcharakter“ haben, unterliegen ihre modifikativen Teile nicht den für reguläre Attribute gültigen Serialisierungsbeschränkungen. Benennungseinheiten werden daher im Folgenden weitgehend ausgeklammert. Für die Frage der Serialisierungsbeschränkungen unter den adjektivischen Attributen ist wichtig, dass auch Qualitätsadjektive in Benennungen eingehen können und in diesem Fall, wie erwartbar, kopfnäher stehen als Relationsadjektive im engeren Sinne und Herkunftsadjektive, so etwa in Ausdrücken wie industrielle rote Grütze oder japanischer grüner Tee. Als Relationsadjektive im engeren Sinne fassen wir alle Relationsadjektive mit Ausnahme der Herkunftsadjektive. Die erste, eigentliche übereinzelsprachliche syntaktische Serialisierungsbeschränkung ist damit (SB1): (SB1)

Relationsadjektive stehen näher am substantivischen Kopf als alle anderen Adjektive, insbesondere Qualitätsadjektive.

Relationsadjektive sind als Attribute klassifikatorische Modifikatoren und dienen damit der Bildung von subklassenbezeichnenden Ausdrücken, auch wenn diese nicht lexikalisiert sind und keinen Benennungscharakter haben, vgl. (381).

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D Nominale Syntagmen

(381) DEU ENG FRA UNG

(neues) physikalisches Gesetz (new) physical law loi physique (nouvelle) (új) fizikai törvény

Tritt ein Relationsadjektiv zusammen mit einem Qualitätsadjektiv auf, so führt ihre lineare Vertauschung – also die Verletzung von (SB0) oder (SB1) – ggf. zu einer Bedeutungsänderung, vgl. (382).  



(382) a. an old criminal lawyer ENG ,ein alter Strafverteidiger‘ b. a criminal old lawyer ,ein krimineller alter Anwalt‘ Im Ungarischen, Deutschen und Englischen gilt die AN-Abfolge strikt, d. h. alle Relationsadjektive – sowie alle Qualitätsadjektive in klassifikatorischer Funktion – stehen pränominal und unmittelbar vor dem Kopfsubstantiv. Im Französischen dagegen stehen alle Relationsadjektive – sowie Qualitätsadjektive in klassifikatorischer Funktion – obligatorisch postnominal. Im Polnischen wiederum kann das Relationsadjektiv (klassifikatorische Adjektiv) prä- oder postnominal platziert sein, muss aber in beiden Fällen kopfadjazent stehen. Im Polnischen ist die postnominale Stellung charakteristisch für klassifikatorische Lesarten; manchmal ist sogar davon die Rede, dass sich klassifikatorische Lesarten durch die postnominale Stellung automatisch einstellen. Zumindest gilt, dass auch Qualitätsadjektive in postnominaler Stellung eher inhärente, stabile, individual level-Eigenschaften kodieren als in pränominaler Stellung. – Dass die postnominale Position eher für konstante Eigenschaften steht, scheint aber unter den slawischen Sprachen eine Besonderheit des Polnischen zu sein. Die Adjazenz von Relationsadjektiven zum Kopf ist unabhängig vom Serialisierungstyp der jeweiligen Sprache. Im Deutschen und Ungarischen stehen sie – wie alle adjektivischen Attribute – pränominal, im Französischen ausschließlich postnominal und im Polnischen sind – bei Präferenz der postnominalen Stellung – beide Möglichkeiten gegeben. Wir zeigen Kopfadjazenz und spezifisches lineares Verhältnis zum Kopf an folgender Kombination mit einem Qualitätsadjektiv (Subklasse Emotionsadjektive). Hier stehen Deutsch, Englisch und Ungarisch mit ANSerialisierung (vgl. (383a–c)) einerseits dem Französischen mit NA-Serialisierung (vgl. (383d)) und andererseits dem Polnischen, gegenüber, das in diesem Fall sowohl konsequente NA-Serialisierung (vgl. (383e)) als auch gespaltene Serialisierung mit dem Qualitätsadjektiv vor N und dem Relationsadjektiv nach N (vgl. (383f)) zulässt. Wie sich zeigt, liegt in (383a–e) das oben angesprochene spiegelbildliche Verhältnis zwischen AN- und NA-Strukturen vor, während in der Lineari 



















D1 Syntax der Nominalphrase

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sierung (383f) das Kopfsubstantiv interveniert und sozusagen die Spiegelung „durch Spaltung verhindert“. (383) DEU ENG UNG FRA POL POL

a. b. c. d. e. f.

die wunderschönen königlichen Paläste the wonderful royal palaces ezek a gyönyörű királyi paloták les palais royals merveilleux te przepiȩkne królewskie pałace te przepiȩkne pałace królewskie (vgl. Zifonun 2016: 237)

Die nächste Gruppe von Adjektiven, die auch übereinzelsprachlich tendenziell vergleichsweise kopfnah stehen, bilden die Herkunfts- und Materialadjektive. Beide Gruppen verweigern sich einer eindeutigen Zuordnung zu einer der Makroklassen der Qualitäts- und der Relationsadjektive. Während wir in → A4.2 bezüglich der Materialadjektive für eine Zuordnung als periphere Klasse der Qualitätsadjektive plädieren (vgl. auch weiter oben), müssen für die Herkunftsadjektive die in → A4.2 beschriebenen Fallunterscheidungen in Rechnung gestellt werden: Sie beziehen sich auf Verwendungsweisen, die von pseudo-referentieller Modifikation (wie bei deutsche Invasion in Polen) über qualitative Modifikation (wie in (typisch) italienische Schuhe) bis zu klassifikatorischer Modifikation (wie in Schweizer Käse) reichen. Insofern sie insgesamt somit eine offene kontextabhängige Assoziation mit dem Gegenstandsbegriff, aus dem sie gebildet sind, bezeichnen, ordnen wir sie hier (vergröbernd) den Relationsadjektiven i. w. S. zu. Was die relative Reihenfolge angeht, so liegen übereinzelsprachlich keine eindeutigen Befunde vor, was auch mit der genannten Bandbreite der spezifischen Funktion begründet sein mag. Die Tendenz geht dahin, dass bei gleichzeitigem Auftreten im pränominalen Bereich das Materialadjektiv dem Herkunftsadjektiv vorausgeht (vgl. (384)); vgl. auch die polnische Entsprechung in (385a).  

(384)



seidene italienische Krawatten vs. ??italienische seidene Krawatten

In den Vergleichssprachen kompliziert sich die Lage dadurch, dass Materialangaben überwiegend nicht durch adjektivische Modifikatoren ausgedrückt werden, sondern durch andere Verfahren, nämlich Komposition, durch N-Attribute oder PP-Attribute. Adjektivisch wird häufig im Polnischen verfahren (vgl. (385a)), daneben auch (noch beschränkter als im Deutschen) im Englischen (vgl. (385b)). Meist kompositional erfolgt die Modifikation im Deutschen (vgl. (386a)) und Ungarischen (vgl. (386b)), substantivische N-Attribution ist im Englischen häufig anzutreffen (vgl. (386c)). Im Französischen erfolgt präpositionale Anbindung (mit en oder de) des entsprechenden Materialsubstantivs (vgl. (386d)); diese Alternative ist auch in anderen Vergleichssprachen gegeben, hier vertreten durch ein polnisches Beispiel (vgl. (386e)).

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D Nominale Syntagmen

(385) POL a. jedwabne włoskie italienisch.PL Seide.ADJ .PL ,seidene italienische Krawatten‘ bawełniana koszula Hemd Baumwolle.ADJ . F ,Baumwollhemd‘ złota moneta Münze Gold.ADJ . F ,Goldmünze‘ gumowa rękawiczka Gummi.ADJ . F Handschuh ,Gummihandschuh‘ ENG b. woolen socks (neben wool socks) ,wollene Socken’

krawaty Krawatte.PL

(386) DEU a. Baumwollhemd, Goldmünze, Gummihandschuh UNG b. pamuting (Baumwolle+Hemd), aranyérem (Gold+Münze), gumikesztyű (Gummi+Handschuh) ENG c. cotton shirt, gold coin, rubber glove FRA d. chemise en/de coton, pièce d’or, gant en caoutchouc POL e. koszula z bawełny ,Hemd aus Baumwolle‘ Bei Komposition ist Kopfadjazenz trivialerweise, bei N-Attribution ist sie im Allgemeinen gegeben. Liegen im Englischen mehrere (nicht koordinierte) N-Attribute vor, so muss zunächst gemäß (SB0) die Benennungseinheit konstituiert bzw. ein eindeutig klassifikatorisches Attribut angebunden werden. Diesem wird ein materialbezeichnendes N-Attribut vorangestellt. So erklärt sich, dass z. B. für das Englische in Huddleston/Pullum (2002: 453) anhand des Beispiels (387) das Prinzip (P1) formuliert wird, das wir hier als Zitat festhalten.  

(387) ENG

an attractive tight-fitting brand-new pink Italian lycra women’s swimsuit ,ein attraktiver engsitzender brandneuer pinkfarbener italienischer LycraDamen-Badeanzug‘

(P1)

Evaluative >> General property >> Age >> Colour >> Provenance >> Manufacture >> Type

In (P1) wird die Ordnung ,Herkunftsbezeichnung (provenance) >> Materialbezeichnung (manufacture)‘ für das Englische postuliert. Wie wir gesehen haben, ist dies jedoch der spezifischen – und zwar (im Allgemeinen) nicht-adjektivischen – Aus 



D1 Syntax der Nominalphrase

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drucksform für Materialbezeichnungen geschuldet. Daher fassen wir die syntaktische Beschränkung bezüglich der Abfolge von Herkunfts- und Materialadjektiven als labile Ordnung, da wie gezeigt auch eine Umkehrung der Folge bei bestimmten Auslegungen der Herkunftsrelation gegeben sein mag: seidene italienische Krawatten (‚aus Italien‘) versus (typisch) italienische seidene Krawatten (,nach italienischem Stil‘). (SB2)

AM A T E R I A L >> AH E R K U N F T >> N [labile Ordnung]

Was die Makroklasse der Qualitätsadjektive angeht, so lässt sich für die beiden größeren Subklassen der sprecher- und der objektbezogenen Adjektive – wieder im Einklang mit Behaghels „oberstem Gesetz“ (vgl. oben) – die Beschränkung (SB3) formulieren.  



(SB3)

Objektbezogene Qualitätsadjektive stehen näher am substantivischen Kopf als sprecherbezogene Qualitätsadjektive.

Diese Ordnung ist auch in das oben genannte Prinzip (P1) bei Huddleston/Pullum eingegangen, wobei der Terminus evaluative dort im weiteren Sinne als sprecherbezogene Modifikation zu interpretieren ist. (SB3) gilt zwar sprachübergreifend, aber nicht als „a strong universal that must manifest itself everywhere“ (Hetzron 1978: 175). Für die Vergleichssprachen bestätigt sich die Beschränkung, insofern als bei AN-Ordnung sprecherbezogene Qualitätsadjektive den objektbezogenen vorangehen, während bei NA-Ordnung spiegelbildlich sprecherbezogene den objektbezogenen folgen. Allerdings handelt es sich auch hierbei eine labile Ordnung, Umstellungen sind möglich. Unter den sprecherbezogenen dürften wiederum die Emotionsadjektive den Evaluationsadjektiven (in unserem engeren Sinne) präferiert vorangehen (vgl. (unmarkiert) diese bewundernswerte kluge Frau vs. (markierter) diese kluge bewundernswerte Frau). Dies mag auch der Grund dafür sein, dass bei Huddleston/Pullums Prinzip (P1) „eher objektivierbare“ Eigenschaften wie die Klugheit den general properties zugeschlagen werden, nicht den evaluative properties. Was die objektbezogenen (und nicht evaluativen) Eigenschaften angeht, so ist hier Labilität wohl noch ausgeprägter. Am stabilsten scheint die Tendenz zu einer möglichst kopfnahen Positionierung von Farbadjektiven gegenüber alters-, form- und dimensionsbezogenen: (unmarkiert) dieser alte/verbeulte/kleine grüne Hut vs. (markierter) dieser grüne alte/verbeulte/ kleine Hut; vgl. auch die Position Colour in (P1). Dimension und Form sind untereinander weniger determiniert, mit der Tendenz zur kopfnäheren Stellung des Formadjektivs (dieser kleine verbeulte Hut vs. dieser verbeulte kleine Hut). Altersbezogene Adjektive finden sich vergleichsweise stabiler in der Position nach dimensions- und vor formbezogenen Adjektiven: (unmarkiert) dieser kleine alte verbeulte Hut vs. (markierter) dieser alte kleine verbeulte Hut; vgl. auch die Position Age in (P1). Verlässliche

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D Nominale Syntagmen

Angaben zur auch übereinzelsprachlichen Gültigkeit dieser Tendenzen sind nur aus einzelsprachlichen und vergleichenden Korpusauswertungen zu gewinnen. Immerhin bestätigen Informantenbefragungen die skizzierten Tendenzen für die Positionierung der Qualitätsadjektive, zumindest was strikte AN-Ordnung angeht; vgl. dazu die Beispiele in (388) und (389). (388) DEU ENG POL UNG

diese nette elegante große schlanke Dame this nice elegant tall slim lady ta miła elegancka wysoka szczupła pani ez a kedves elegáns magas karcsú hölgy

(389) DEU ENG POL UNG

dieser schreckliche kleine grüne Hut this horrible small green hat ten straszny mały zielony kapelusz ez a szörnyű kicsi zöld kalap

Bei einer gespaltenen Linearisierung, wie sie im Französischen in den entsprechenden Fällen vorliegt – ein Teil der Adjektive steht pränominal, ein anderer Teil postnominal –, scheinen sich dagegen die Tendenzen für die in NA-Ordnung auftretenden Adjektive nur teilweise zu bestätigen. Zwar folgen die sprecherbezogenen Adjektive hier auf die objektbezogenen. Dies entspricht der nach (SB3) zu erwartenden Verteilung, insofern als sie sich zur AN-Ordnung spiegelbildlich verhält. Die Anordnung der postnominalen objektsbezogenen Qualitätsadjektive verläuft aber eher analog zu der bei pränominaler Ordnung, wäre also gerade nicht spiegelbildlich. Man vergleiche dazu die französischen Beispiele in (390). Das sprecherbezogene Adjektiv folgt (anders als bei pränominaler Position in den Vergleichssprachen) in postnominaler Stellung auf das objektbezogene Adjektiv (vgl. (390a)); es ist also kopfferner. Dagegen folgt das Farbadjektiv in postnominaler Stellung (wie bei pränominaler Position in den Vergleichssprachen) auf das Formadjektiv (vgl. (390b)), ist also kopfferner.  



(390) a. une grande maison blanche élégante INDEF groß.F Haus.F weiß.F elegant.F FRA ,ein elegantes großes weißes Haus‘ b. un petit mouchoir carré blanc (en soie) INDEF klein.M Taschentuch.M kariert.M weiß.M (in Seide) ,ein kleines kariertes weißes Taschentuch (aus Seide)‘ (Riegel/Pellat/Rioul 2014: 629) Mit Blick auf die objektbezogenen Qualitätsadjektive ergibt sich somit (als Hypothese) die folgende von AN-Ordnung vs. NA-Ordnung abhängige Reihenfolge (SB4). Dabei

D1 Syntax der Nominalphrase

1489

beziehen wir für die bezüglich des Französischen geltende NA-Folge nur Form- und Farbadjektive ein, da zentrale dimensionsbezogene (wie grand ,groß‘ und petit ‚klein‘) sowie altersbezogene Adjektive (wie jeune ,jung‘, vieux ,alt‘) pränominal stehen. (SB4)

AD I M E N S I O N >> AA L T E R >> AF O R M >> AF A R B E >> N [labile Ordnung] N >> AF O R M >> AF A R B E

Was die peripheren Adjektiv-Makroklassen angeht, so beschränken wir uns auf eine kurze Charakterisierung der Stellungsbeschränkungen. Numeraladjektive stehen in allen Vergleichssprachen pränominal, und zwar in aller Regel an der linken Grenze der Adjektivfolge. Phorische und deiktische Adjektive folgen diesen in pränominaler Stellung in der Regel nach. Im Französischen werden sie postnominal gestellt und stehen somit am äußersten rechten Rand der Adjektivfolge (vgl. ein Beispiel wie FRA la question intéressante suivante ,die folgende interessante Frage‘). In (SB5) sind die Stellungsbeschränkungen für die Makroklassen sowie für die beiden großen Unterklassen der Qualitätsadjektive zusammengefasst. Dabei ignorieren wir die im Französischen gegebene obligatorische oder fakultative Voranstellung gewisser Qualitätsadjektive, sondern gehen von einer reinen NA-Stellungsfolge aus. (SB5)

AN U M E R A L >> AD E I K T I S C H / P H O R I S C H >> AQ U A L I T Ä T , S P R E C H E R >> AQ U A L I T Ä T , O B J E K T >> AR E L A T I O N >> N AN U M E R A L >> N >> AR E L A T I O N >> AQ U A L I T Ä T , O B J E K T >> AQ U A L I T Ä T , S P R E C H E R >> AD E I K T I S C H / PHORISCH

Abschließend kommen wir auf die in (379) genannten schematisierten Typen der Linearisierung für Adjektivfolgen relativ zum Kopf und ihr Verhältnis zueinander zurück. Es lässt sich feststellen, dass die Vergleichssprachen im unmarkierten Fall für die zentralen Makroklassen entweder Typ (a) oder Typ (b) folgen, also spiegelbildliche Ordnungen aufweisen. Typ (c) gilt (im Verhältnis zu (a)) für diese zentralen Makroklassen nicht. Bezüglich peripherer Klassen (Numeraladjektive, deiktisch-phorische Adjektive) und für semantische Klassen innerhalb der beiden großen Unterklassen der Qualitätsadjektive allerdings sind keine solch klaren Typenbildungen möglich. Zudem muss die Labilität der Folgeprinzpien, die abhängig von der semantischen Klasse und mutmaßlich auch sprachabhängig gilt, sowie die mögliche Zwischenstellung des Kopfsubstantivs in Rechnung gestellt werden.

1490

D Nominale Syntagmen

D1.2.3.2 N- und NOM-Attribute D.1.2.3.2.1 Deutsch Im Deutschen sind in substantivischen Nominalphrasen keine NOM-Attribute zulässig. N-Attribute sind kategorial auf Eigennamen in postmodifikativen, engen Appositionen beschränkt (vgl. mein Freund Harvey). Wir besprechen diese Strukturen zusammen mit den französischen Daten in → D1.2.3.2.3.

D1.2.3.2.2 Englisch Im Englischen treten pränominal auch Attribute der Kategorien N und NOM auf, und zwar entweder mit oder ohne /s/-Marker („Genitiv-s“). Ebenso wie Adjektive sind solche Attribute nicht-referentiell, sondern fungieren als qualitative und vor allem klassifikatorische, im Fall von Eigennamen auch als pseudo-referentielle Modifikatoren. Betrachten wir zunächst Ausdrücke ohne Genitiv-s (vgl. (391), Beispiele aus Huddleston/Pullum 2002: 448; Rosenbach 2007a: 148). (391) a. cotton shirt ‚Baumwollhemd‘ ENG b. gas cooker ‚Gaskocher‘, television screen ‚Fernsehschirm‘ c. two London colleges ‚zwei Londoner Colleges‘, the Major plan ‚der MajorPlan‘, the Nielsen rating ‚das Nielsen-Rating‘ Hier treten Abgrenzungsprobleme auf, und zwar gegenüber NN-Komposita einerseits, und adjektivischen Attributionsstrukturen andererseits. Zur Abgrenzung von NNKomposita vgl. Huddleston/Pullum (2002: 448–451). Strukturmöglichkeiten, die für den syntaktischen Status des nominalen Attributs kriterial sind, sind durch die Beispiele (392–395) exemplifiziert. In (392) wird der Kopf (cotton, London) seinerseits durch ein adjektivisches bzw. nominales Attribut syntaktisch erweitert. Es kann sich daher weder um ein Adjektiv noch um den Nicht-Kopf-Teil eines Kompositums handeln. Beispiele wie diese zeigen zudem, dass nominale Attribute auch als komplexe NOM-Ausdrücke realisiert werden können. (392) a. some [NOM Egyptian cotton] shirts ENG ‚ein paar Hemden aus ägyptischer Baumwolle‘ (Huddleston/Pullum 2002: 447) b. two [NOM south London] colleges ‚zwei Süd-Londoner Colleges‘

(ebd.: 449)

Rosenbach (2007a: 147, Fn. 146) führt das Beispiel another typically Sunday occurrence (‚ein weiteres für den Sonntag typisches Erscheinen‘) an, in dem das Attribut Sunday von dem Adverb typically modifiziert wird. Ob Sunday deshalb als Adjektiv aufgefasst werden muss, liegt nicht auf der Hand. Im Französischen finden sich analoge Fälle, vgl. FRA son cursus implacablement gender studies (‚ihre erbarmungslosen gender studies‘, Michel Houellebecq, Soumission, S. 29).  



1491

D1 Syntax der Nominalphrase

Die Beispiele in (393) zeigen, dass das Attribut koordiniert, die in (394), dass es sich auf koordinierte Köpfe beziehen kann. Signifikant sind auch die Ausdrücke in (395), in denen zwischen nominalem Attribut und Kopf noch ein weiterer attributiver Ausdruck steht. (393) a. television and computer screens ‚Fernseh- und Computerbildschirme‘, a gas ENG or electric cooker ‚ein Gas oder Elektrokocher‘ (Huddleston/Pullum 2002: 449) b. various London and Oxford colleges ‚verschiedene Londoner und Oxforder Colleges‘ (394) a. product design and management ‚Produktdesign und -management‘ (books. ENG google.de) b. various London schools and colleges ‚verschiedene Londoner Schulen und Colleges‘ (Huddleston/Pullum 2002: 449) (395) a. an independent investment advisory and research firm ‚eine unabhängige ENG Firma für Finanzberatung und Forschung‘ (Internet) b. two London theological colleges ‚zwei Londoner theologische Colleges‘ (Huddleston/Pullum 2002: 449), the new Major business plan ‚der neue Major-Geschäftsplan‘ (Rosenbach 2007a: 150, Fn. 112)  

Eigennamen können als Attribute entweder pseudo-referentiell oder klassifikatorisch fungieren, vgl. (391c). In pseudo-referentieller Lesart bedeutet Major plan etwa so viel wie ‚Plan von John Major‘, in klassifikatorischer so viel wie ‚Plan, wie er für John Major typisch ist‘ oder ‚Plan nach Art von John Major‘ (Rosenbach 2007a: 149). In (396) sind Beispiele für sog. descriptive genitives aufgeführt (→ D3, Beispiele z. T. aus Huddleston/Pullum 2002: 470). In (396a) und (396b) handelt es sich um ein einfaches N- bzw. ein komplexes NOM-Attribut. Beide Beispiele zeigen auch, dass neben descriptive genitives noch andere Adjektivattribute auftreten können. Zu beachten ist, dass in (396a) a metal [N baby’s] high-chair das vorangehende Adjektiv ein Materialadjektiv ist. Qualitätsadjektive dieser semantischen Klasse stehen – relativ zu anderen Qualitätsadjektiven – pränominal „am weitesten rechts“, also dem Kopf am nächsten. Dass der substantivische s-Genitiv hier noch näher am Kopf steht, belegt seinen funktionalen Status als klassifikatorischer Modifikator. Beispiele wie (396c) – aus Huddleston/Pullum (2002: 470) – haben insofern Ausnahmecharakter, als das Attribut hier formal eine NP ist, während für descriptive genitives sonst nur Ausdrücke der Kategorien N oder NOM in Frage kommen (vgl. Rosenbach 2006: 81, → D3). Nach Rosenbach (2007a: 149) können descriptive genitives in Form von Eigennamen wie in (396d) nur pseudo-referentiell, nicht aber klassifikatorisch gelesen werden. (396d) hat daher nur die Lesart ‚ein Katalog von Sainsbury‘. (Diese Einschränkung gilt nicht für lexikalisierte Verbindungen aus attributivem Eigennamen und substantivischem  









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D Nominale Syntagmen

Kopf, s. u.). Es gibt weder syntaktisch noch semantisch einen Grund, attributive Eigennamen wie Sainsbury’s in (396d) als NPs zu behandeln, weshalb sie hier als Ns kategorisiert werden.  

(396) a. a [N baby’s] chair ‚ein Babystuhl‘, a metal [N baby’s] high-chair ‚ein BabyENG Hochstuhl aus Metall‘ (Rosenbach 2007a: 145) b. an [NOM old people’s] home ‚ein Altersheim‘, a luxurious [NOM old people’s] home ‚ein luxuriöses Altersheim‘ c. an [NP all girls’] school ‚eine Mädchenschule‘ d. a [N Sainsbury’s] catalogue ‚ein Katalog von Sainsbury’ Viele mit descriptive genitives gebildete Attributionsstrukturen sind lexikalisiert (vgl. (397), Huddleston/Pullum 2002: 470; Rosenbach 2006: 92–94; Booij 2012: 85); das gilt auch für eine Reihe von Verbindungen, die mit Eigennamen gebildet sind (Down’s syndrome ‚Downsyndrom‘, Booij 2012: 85). (397) a. [NP some [NOM fool’s gold]] ‚etwas Katzengold‘, [NP a [NOM dog’s breakfast]] ENG ‚ein Durcheinander‘ b. [NP some black [NOM [N electrician’s] tape]] ‚etwas schwarzes Isolierband‘ c. the statistical probability of [NP a [NOM Down’s syndrome]] ‚die statistische Wahrscheinlichkeit eines Downsyndroms‘ (books.google.de) Lexikalisierte Verbindungen aus genitivischem Eigennamen und Substantiv wie Down’s syndrome können selbst als Eigennamen auftreten, vgl. Down’s syndrome is a genetic disorder ‚Das Downsyndrom ist ein genetischer Defekt‘.

Descriptive genitives müssen nicht adjazent zum Kopfsubstantiv stehen. Als intervenierende Ausdrücke kommen sowohl klassifikatorische (a women’s health magazine ‚ein Gesundheitsmagazin für Frauen‘, an old people’s retirement home ‚ein Altersheim‘) als auch qualitative Attribute in Frage (a child’s pink balloon ‚ein rosafarbener Ballon‘, a puppy’s lush eyelashes ‚die üppigen Wimpern eines jungen Hundes‘, Beispiele aus Rosenbach 2006). Ein weiterer Typ von nicht-referentiellen Genitiven sind sog. measure genitives, die entweder eine zeitliche Ausdehnung (one hour’s delay ‚einstündige Verspätung‘) oder einen Wert bezeichnen (the one dollar worth of chocolates ‚die Pralinen im Wert von einem Dollar‘), im letzteren Fall treten sie immer als Attribute zum Kopfsubstantiv worth auf. Wir beschränken uns hier auf die temporale Variante. Measure genitives zeigen in syntaktischer Hinsicht ein ähnliches Verhalten wie Numeralia, insofern als sie einerseits NP-abschließend wirken können ([NP an hour’s] delay ‚eine einstündige Verspätung‘, [NP one week’s] holiday ‚Ferien von einer Woche‘, vgl. Huddleston/ Pullum 2002: 470, Klammerung geändert), andererseits mit weiteren Determinativen (und vorangestellten Adjektiven) kombinieren können (a second [NP one hour’s] delay ‚eine zweite einstündige Verspätung‘, vgl. auch Rosenbach 2006: 113 f.). Eine beson 

D1 Syntax der Nominalphrase

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dere Regel gilt hier allerdings dann, wenn der Genitiv durch einen indefiniten Artikel eingeleitet wird, dieser fällt in Adjazenz zu einem vorangestellten Determinativ weg (this [N hour’s] delay ‚diese einstündige Verspätung‘, vgl. Huddleston/Pullum 2002: 372, 470). Festzuhalten ist, dass weder genitivische noch nicht-genitivische nicht-referentielle Attribute adjazent zum Kopf stehen müssen. Für die Platzierung der nominalen relativ zu den adjektivischen Attributen scheinen auf den ersten Blick die gleichen Linearisierungsbeschränkungen zu gelten wie für die (pränominalen) adjektivischen Attribute untereinander. In den meisten Fällen sind nominale Attribute klassifikatorische Modifikatoren; diese stehen immer enger am Kopf als qualitative, so dass zwischen nominales Attribut und Kopf wiederum nur Attribute in klassifikatorischer Funktion treten können. Wie wir gesehen haben, gibt es hier aber bei den genitivischen Nominalattributen Ausnahmen. Topologisch sind diese flexibler und können vom Kopf weiter entfernt stehen als qualitative Attribute. In dieser Hinsicht verhalten sie sich eher wie referentielle Genitive, was durch ihre formale Ähnlichkeit bedingt sein kann. (Zu den syntaktischen und semantischen Übergangsmöglichkeiten zwischen nicht-referentiellen und referentiellen Genitiven vgl. auch Rosenbach 2006.)

D1.2.3.2.3 Französisch Postnominal treten im Französischen neben adjektivischen und präpositionalen Attributen auch substantivische auf, die allerdings starken syntaktischen und semantischen Beschränkungen unterliegen, weshalb Strukturen mit substantivischen Attributen oft als Komposita klassifiziert werden. (Zur Abgrenzung gegenüber Komposita vgl. unten.) In der deutschen Grammatikographie werden solche Strukturen häufig als Appositionen bezeichnet („enge Apposition“, Helbig/Buscha 2001: 510–515; „appositive Nebenkerne“, Duden-Grammatik 2009: 987–989; anders IDS-Grammatik 1997: 2043–2047, wo von „Erweiterungsnomina“ die Rede ist, die explizit als „postnominale[n] Attribute“ klassifiziert werden, ebd.: 2045). Bereits Helbig/Buscha (2001: 510) betrachten Appositionen als „eine Art Attribut“. Eisenberg (2013b: 258 f.) zeigt auf, inwiefern die fraglichen Strukturen sich wie Attributionsstrukturen verhalten; in Zifonun (2010b) werden sie – vergleichend zu ähnlichen Fällen im Englischen – durchgehend als Attributionsstrukturen behandelt. In der Grammatik des Französischen von Riegel/Pellat/Rioul (2014: 345 f.) werden substantivische Attribute als eigenständiger Attributtyp explizit angeführt; eine umfangreiche Untersuchung, die sich dem Phänomen des substantivischen Attributs im Französischen widmet, ist Noailly (1990).  







Adnominale Substantive sind entweder Eigennamen (le président Mitterrand ‚der Präsident Mitterrand‘, le projet Delors ‚das Projekt Delors‘) oder Appellativa (pause pipi ‚Pinkelpause‘, ticket repas ‚Essenmarke‘). Anders als Appellativa zeigen Eigennamen in attributiver Funktion niemals Pluralkongruenz, vgl. les projets Hollande ‚die Hollande-Projekte‘ – *les projets Hollandes. Signifikant ist weiter die Koordinierbarkeit (les projets Hollande et Aubry ‚die Projekte von Hollande und Aubry‘) sowie, wenn

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D Nominale Syntagmen

auch eher marginal, die Möglichkeit, auf koordinierte Köpfe bezogen zu werden, vgl. avec le Député et le Ministre Philippe Richert (‚mit dem Abgeordneten und Minister Philippe Richert‘, Internet). Ein Blick auf vergleichbare Strukturen im Deutschen (und Englischen, vgl. Zifonun 2010b) zeigt eine Reihe von Gemeinsamkeiten aber auch Unterschieden: Im Deutschen und Französischen finden sich für N+N-Syntagmen mit postmodifikativen Personaleigennamen die semantischen Beziehungen der folgenden Typen: (i) In DEU die Kameradin Catherine, FRA la camarade Catherine ist die Beziehung subsumtiv (‚Catherine ist eine Kameradin‘). (ii) In DEU das Unternehmen ‚Barbarossa‘, FRA l’opération ‚Barbarossa‘ ist sie namensgebend (‚Barbarossa ist der Name eines Unternehmens‘). Dabei besteht zwischen subsumtiver und namensgebender Beziehung ein enger Zusammenhang (Eisenberg 2013b: 259). Da der Name eine Entität bezeichnet, die unter den vom Appellativum bezeichneten Begriff fällt, handelt es sich um einen Subtyp der subsumtiven Beziehung (vgl. ‚Barbarossa ist ein Unternehmen‘). In (iii) DEU die Regierung Merkel, FRA l’administration Merkel wiederum ist die Beziehung „repräsentativ“ im Sinne von ‚die Regierung, die von Merkel repräsentiert wird‘; es handelt sich hierbei um einen Subtyp einer inalienablen Zugehörigkeitsrelation (Merkel ist Teil der Regierung, die sie repräsentiert, vgl. IDS-Grammatik 1997: 2044; Zifonun 2010b: 176). Anders als im Deutschen sind im Französischen darüber hinaus auch inalienable Zugehörigkeitsrelationen möglich, die alternativ auch durch eine Struktur mit PP-Attribut realisiert werden können, vgl. le projet Delors – le projet de Delors ‚das Projekt von Delors‘ (vgl. Kleiber 1984). Wichtig ist, dass ein substantivisches Attribut tatsächlich referentiell interpretiert wird, es muss sich also um eine „echte“ Possessivrelation handeln (→ D3, daneben ist natürlich immer eine namensgebende Deutung möglich im Sinne von ‚das Projekt, das Delors heißt‘). Ausgeschlossen ist eine Deutung als klassifikatorisches Attribut; für diesen Funktionstyp muss stattdessen auf ein relationales Adjektiv zurückgegriffen werden (*la philosophie Hegel – la philosophie hégélienne ‚die hegelsche Philosophie‘). Bei geografischen Bezeichnungen und bei Monatsnamen sind im Französischen neben den dominanten N+PP-Strukturen auch N+N-Bildungen möglich (le continent d’Amérique – le continent Amérique ‚der amerikanische Kontinent‘, le mois de décembre – le mois décembre ‚der Monat Dezember‘), während im Deutschen N+N-Bildungen (der Kontinent Amerika, der Monat Dezember) und im Englischen N+PP-Strukturen (the continent of America, the month of December) jeweils die einzige Möglichkeit darstellen (Zifonun 2010b: 178). Adnominale Appellativa treten als qualitative oder klassifikatorische Modifikatoren auf. Für N+N-Syntagmen mit appellativischem Modifikator kommen zwei alternative Analysen in Frage, die – zumindest für einen Teil der Ausdrücke des fraglichen Typs – in der Literatur vorgeschlagen wurden: zum einen eine Analyse, nach der der Gesamtausdruck ein Kompositum ist, zum anderen eine, nach der es sich bei dem Attribut um ein desubstantivisches Adjektiv handelt.  

















D1 Syntax der Nominalphrase

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Noailly (1990) argumentiert für den syntakischen Status solcher N+N-Verbindungen. Zur kategorialen Einordnung des Attributs (Substantiv vs. Adjektiv) vgl. auch Rohrer (1977: 102–109), Noailly (1990) und Arnaud (2003: 22–25). Rohrer (1977) weist auf die lexikographische Praxis hin, häufig in attributiver Funktion auftretende Substantive auch als Adjektive zu klassifizieren.

Syntagma vs. Kompositum: Vorauszuschicken ist, dass wir keinen Wortbegriff verwenden, nach dem lexikalisierte Strukturen per definitionem Wörter sind. Daher behandeln wir lexikalisierte Verbindungen aus PP oder Adjektiv plus substantivischem Kopf (crotte de nez ‚Popel‘, plante verte ‚Grünpflanze‘) nicht als Komposita, sondern als lexikalisierte Syntagmen (vgl. Arnaud 2003: 22–25; Gunkel/Zifonun 2009, 2011; generell auch Noailly 1990; zu einem möglichen theoretischen Hintergrund Booij 2012: 84–87 sowie → A4.2). Im Unterschied zu N+N-Verbindungen steht jedoch außer Frage, dass es im Französischen – unabhängig von den o. g. lexikalisierten Fällen – syntaktische Strukturen mit Adjektiv- und PP-Attributen gibt. Die Frage, ob die N+N-Verbindungen Syntagmen oder Wörter sind, kann daher nicht unter Rekurs auf etwaige bona fide-Fälle syntaktischer N+N-Verbindungen beantwortet werden. Für den syntaktischen Status von N+N-Verbindungen lassen sich hingegen die folgenden Phänomene ins Feld führen: (i) Das substantivische Attribut kann modifikativ ausgebaut sein, cuisinière quatre feux ‚Vierflammenherd‘, assurance tous risques ‚Versicherung gegen alle Risiken‘ (Booij 2009: 223); allerdings könnte man diese Ausdrücke auch als Phrasenkomposita analysieren (vgl. ebd.). (ii) Das Attribut kann koordiniert werden, vgl. deux sandwichs jambon et fromage ‚zwei Schinken- und Käsesandwiches‘ (google.books.de), une sauce tomates et herbes ‚eine Tomaten- und Kräutersauce‘ (Internet). (iii) Zwischen Kopf und Attribut können weitere Attribute, vor allem Relationsadjektive, treten (un village solaire modèle ‚ein Modell-SolarDorf‘, un déficit commercial record ‚ein wirtschaftliches Rekorddefizit‘, Noailly 1990: 42, programme de travail type ‚typisches Arbeitsprogramm‘, centre de gynécologie modèle ‚modellhaftes Frauengesundheitszentrum‘, Rohrer 1977). (iv) Pluralmarkierung findet sich immer am Kopf, also „im Inneren“ des Ausdrucks, da Linksköpfigkeit vorliegt (des voitures sport ‚Sportwagen‘). Bei den „echten“, rechtsköpfigen Komposita ist das entsprechend anders (Booij 2009: 223, des autoroutes ‚Autobahnen‘). Wir betrachten die fraglichen Verbindungen daher als Syntagmen. Substantiv vs. Adjektiv. Für die Frage, ob das Attribut als Substantiv oder desubstantivisches Adjektiv zu behandeln ist, spielt der Modifikationstyp eine entscheidende Rolle. Bei qualitativer Modifikation ist ein Übergang in die Wortart der Adjektive von der Sache her gegeben. Zwingend ist die Annahme, dass man es mit per Konversion gebildeten Adjektiven zu tun hat, wenn die fraglichen Wörter durch Adverbien intensivierbar sind (un remède vraiment miracle ‚ein wahres Zaubermittel‘, des propos passablement cochons ,ziemlich schweinische Reden‘, un sujet un peu bateau ‚ein etwas abgedroschenes Thema‘, Riegel/Pellat/Rioul 2014: 345; weitere Beispiele in Noailly 1990) sowie prädikativ verwendet werden können (Ce sujet est plutôt bateau ‚Das Thema ist ziemlich abgedroschen‘, Ce cas est vraiment limite ‚Dieser Fall ist wirklich grenzwertig‘, Riegel/Pellat/Rioul 2014: 345). Beispiele wie bateau ‚abgedro 









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D Nominale Syntagmen

schen, ausgelutscht‘, zeigen, dass die Bedeutung soweit idiomatisiert sein kann, dass eine Beziehung zu dem entsprechenden Substantiv (bateau ‚Schiff‘) semantisch gar nicht oder nur noch sehr schwer nachvollziehbar ist. Diese formalen Anhaltspunkte bleiben allerdings auf qualitative Modifikatoren beschränkt; da Relationsadjektive weder prädikativ fungieren noch syntaktisch (oder morphologisch) gesteigert werden können (→ A4.2), ergibt sich hier kein Abgrenzungskriterium zu potentiell attributiven Substantiven. Allerdings spricht per se auch nichts für die Annahme, für klassifikatorisch fungierende Substantive Konversion zu Relationsadjektiven anzunehmen, da der funktionale Witz von Relationsadjektiven ja gerade darin besteht, einen substantivischen Begriff formal als Attribut verfügbar zu machen. Wo solche formalen Anhaltspunkte fehlen, kann wiederum nicht von Adjektiven die Rede sein. Als weiterer formaler Anhaltspunkt wird die Numeruskongruenz mit dem Attribut genannt: Bei Kongruenz verhalte sich das Attribut eher adjektivisch, sonst eher substantivisch (so etwa Noailly 1990, 1999). Manche Autoren führen das Ausbleiben oder Auftreten von Pluralkongruenz explizit als Unterscheidungskriterium an, so etwa Klein/Kleineidam (1994) bei Farbbezeichnungen wie marron ‚braun‘, orange ‚orange‘ etc. Hier handelt es sich aber um qualitative Attribute, für deren Wortartenzugehörigkeit ohnehin andere Kriterien zur Verfügung stehen. Ob und inwiefern das Auftreten von Pluralkongruenz ein Indikator für den adjektivischen Status des Attributs ist, ist nicht ohne Weiteres klar. Dass sich oft beide Varianten finden (des verres tulipe – des verres tulipes ‚Tulpengläser‘), ließe sich als Ausdruck eines Übergangsphänomens deuten: Wörter wie tulipe treten einmal als Adjektiv und einmal als Substantiv auf (so im Prinzip Noailly 1999). Allerdings finden sich Variationen in der Pluralmarkierung auch bei sog. (exozentrischen) VNKomposita. Standardmäßig wird bei Komposita wie gratte-ciel ‚Wolkenkratzer‘ der Plural überhaupt nicht morphologisch markiert (les gratte-ciel), eine Suchanfrage im Internet zeigt aber, dass daneben alle anderen möglichen Markierungsweisen (wenn auch in unterschiedlicher Häufigkeit) vertreten sind: les grattes-ciel, les gratte-ciels, les grattes ciels.  

D1.2.3.2.4 Polnisch Im Polnischen finden sich N+N-Verbindungen, die grammatisch zwischen Kompositum und Syntagma anzusiedeln sind, insgesamt aber eher zum syntaktischen Pol tendieren, vgl. (398). (398) POL

inżynier elektryk (Ingenieur Elektrik) ‚Elektro-Ingenieur‘, lekarz dentysta (Arzt Zahn) ‚Zahnarzt‘, kobieta inżynier (Frau Ingenieur) ‚Ingenieurin‘, statek przetwórnia (Schiff Fabrik) ‚Fabrikschiff‘, wagon cysterna (Wagon Zisterne) ‚Kesselwagen‘ (Bartnicka et al. 2004: 536)

Bartnicka et al. (2004: 536) sprechen von „Apposition“ bzw. „Substantiv-Attribut“, analog Engel et al. (1999: 933) von „Nomen varians“. Willim (2001) betrachtet die Verbindungen ebenfalls als syntaktische Strukturen.

D1 Syntax der Nominalphrase

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Für ihren syntaktischen Status spricht, dass beide Einheiten unabhängig (aber kongruierend) nach Numerus und Kasus flektieren, vgl. (399a), und zwar selbst dann, wenn sie lexikalisiert sind, vgl. (399b). EN . SG Pilot. (399) a. kobiety piloci (Frau.NOM . PL Pilot.NOM . PL ) – kobiety pilota (Frau.GGEN GEN . SG ) ‚Pilotin‘ POL b. pisarz widmo (Schreiber.NOM . SG Geist.NOM . SG ) – pisarze widma (Schreiber. NOM . PL Geist.NOM . PL ) ‚Ghostwriter‘ (Cetnarowska 2015: 149 f.)  





Manche Verbindungen finden sich in der Schrift auch mit Bindestrich (pisarz-widmo ‚Ghostwriter‘, Cetnarowska 2015: 150). – Zu beachten ist, dass bei morphologisch gebildeten Komposita im Polnischen nur der Kopf flektiert wird, vgl. zegarmistrz (Uhr Meister) – zegarmistrza (Uhr Meister. GEN ) ‚Uhrmacher‘ (ebd.: 149).  



Die gesamte Struktur ist linksköpfig, wie die Kongruenzdaten in (400)–(401) zeigen: Adjektivattribute in der NP kongruieren immer mit der ersten Konstituente der N+NVerbindung. Werden die Konstituenten vertauscht – was in den vorliegenden Beispielen möglich ist –, ändern sich die entsprechenden flexivischen Kategorien des Adjektivs. (In beiden Fällen gibt es aber eine Präferenz für die Reihenfolge in den a-Beispielen.)  



(400) a. moja kolejna POSS . 1SG . F nächst.F POL b. mój kolejny POSS . 1SG . M nächst.M ‚meine nächste Chefin‘ (401) a. najlepsza kobieta POL best.F Frau.F b. najlepszy pilot Pilot.M best.M ‚die beste Pilotin‘

kobieta Frau.F szef Chef.M

szef Chef.M kobieta Frau.F

pilot Pilot.M kobieta Frau.F (Cetnarowska 2015: 163)

Zudem kann die Kopfkonstituente – unter geeigneten semantischen Bedingungen (auf die wir nicht weiter eingehen) – auch koordiniert werden, was ebenfalls für den syntaktischen Status der Gesamtkonstruktion spricht, vgl. (402).  



(402) a. kobiety i mężczyźni Frau.PL und Mann.PL ‚Fahrerinnen und Fahrer‘

kierowcy Fahrer.PL

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D Nominale Syntagmen

b. kobieta lub mężczyzna pilot Pilot.SG Frau.SG oder Mann.SG ‚Pilotinnen oder Piloten‘ (Cetnarowska 2015: 162) Allerdings weist Cetnarowska (2015: 163–165) darauf hin, dass Koordinierbarkeit unter den entsprechenden semantischen Bedingungen auch bei Komposita gegeben ist, vgl. (403). (403) POL

styl wczesno-gotycki albo romański Stil früh-gotisch oder romanisch ‚früh-gotischer oder (früh-)romanischer Stil‘ (Cetnarowska 2015: 164)

Die Nicht-Kopfkonstituente ist allerdings nicht attributiv erweiterbar, insofern ist die Struktur stärker beschränkt als im Französischen (und Englischen). Quantitativ fällt sie wohl weniger ins Gewicht als im Französischen, was allerdings durch entsprechende Korpusauswertungen überprüft werden müsste.

D1.2.3.3 NP-Attribute NP-Attribute treten in allen Vergleichssprachen außer dem Französischen als possessive Attribute auf. Daneben finden sich im Ungarischen markierte Fälle von postnominalen NP-Attributen, deren Kopfsubstantiv durch einen semantischen Kasus gekennzeichnet ist (→ D4). Da die possessiven Attribute ausführlich in → D3 (z. T. auch in → A4.3) behandelt sind, gehen wir auf sie in diesem Abschnitt nur kurz und nur mit Blick auf ihren Beitrag zur syntaktischen Struktur der NP ein. Etwaige Überschneidungen mit den anderen Kapiteln oder Abschnitten lassen sich dabei nicht vermeiden. Etwas ausführlicher wird auf die possessiven Attribute im Ungarischen eingegangen, die in unterschiedlichen Hinsichten Besonderheiten in Bezug auf ihre syntaktische Rolle in der ungarischen NP aufwerfen.  

D1.2.3.3.1 Deutsch NP-Attribute sind im Deutschen Genitivattribute, die prä- oder postnominal auftreten. Die pränominale Stellung ist weitgehend auf personale und geografische Eigennamen beschränkt, findet sich aber auch bei einigen Pronomina, vgl. (404). Bei diesen wird der Genitiv in allen Genera mit -s gebildet, es sei denn, der Stamm endet selbst auf -s (Eisenberg 2013b: 253). Als die entscheidende formale Kennzeichnung der von Eigennamen gebildeten pränominalen Genitive lässt sich somit die s-Endung auszeichnen. (404)

Dirks Fahrrad, Mannheims Charme, Helenes Scherze, Johannes’ Helm, jedermanns Liebling

D1 Syntax der Nominalphrase

1499

Markiert sind pränominale Genitivattribute mit appellativischem Kopf, hier muss der Genitiv des Kopfsubstantivs nicht mit -s gebildet werden; er wird allerdings durch das jeweilige Determinativ kodiert. Analoges gilt für Eigennamen, die durch ein Determinativ eingeleitet sind, vgl. (405). (405) a. des Eiffelturms Spitze, der Niederlande Königin b. eines Baumes Rinde, der Widerspenstigen Zähmung In keinem der Fälle kann das Genitivattribut postnominal erweitert sein, vgl. (406). (406) a. *Dirks aus meiner Klasse Fahrrad b. *Kölns am Rhein Kirchen Zumindest für geografische Eigennamen gilt weiter die informationsstrukturelle Beschränkung, dass das Attribut thematisch sein muss, vgl. (407)–(408). (407)

Welche europäische Hauptstadt ist die schönste? Hauptstadt. vs. Die Hauptstadt von Italien.

??Italiens

(408)

Ich frage dich jetzt die europäischen Hauptstädte ab: ist Italiens Hauptstadt? vs. Was ist die Hauptstadt von Italien?

??Was

Pränominale Genitivattribute sind im Deutschen nicht nur referentielle Attribute, sondern auch (definite) Determinatoren; sie schließen somit die NP nach links ab und sind mit Determinativen komplementär verteilt (→ D3, → D1.1.3.3.3). Da sie aber in der Regel aus einfachen Wortformen (Eigennamen) bestehen, sind sie zwar phrasal, aber nicht syntagmatisch komplex. Sie ähneln damit formal den Determinativen, die ja ebenfalls einfache Wortformen sind, und formal und funktional den possessiven Determinativen, die ebenfalls die funktionalen Domänen der referentiellen Modifikation und der Identifikation realisieren. Anders als bei den Determinativen ist dagegen das syntagmatische Verhältnis zum Kopf. Bei den Determinativen ist es nebenordnend – im Deutschen kongruierend –, bei den Genitivattributen dagegen unterordnend. Postnominale Genitivattribute zeichnen sich dadurch aus, dass sie erstens kopfadjazent stehen müssen (vgl. (409), zu den potentiellen Ausnahmen → D3) und zweitens nicht iterierbar sind, vgl. (410). Strukturell signifikant ist weiter, dass postnominale Genitivattribute nicht durch pränominale Genitivattribute eingeleitet sein können, vgl. (411).  

(409)



*das Haus in Dänemark ihrer Eltern vs. das Haus ihrer Eltern in Dänemark

1500

D Nominale Syntagmen

(410) a. Das Lesen meines Nachbarn stört mich. b. Das Lesen des Buchs stört mich. c. *Das Lesen meines Nachbarn des Buchs stört mich. (411) a. die Ausstellung neuer Autos / *Peters neuer Autos b. im Garten neuer Nachbarn / *Peters neuer Nachbarn Die Ungrammatikalität folgt in keinem der beiden Fälle aus der sog. Genitivregel, der zufolge „[e]ine Nominalphrase […] nur dann im Genitiv stehen [kann], wenn sie (i) mindestens ein adjektivisch flektiertes Wort und (ii) mindestens ein Wort mit s- oder rEndung enthält.“ (Duden-Grammatik 2009: 972, → C6.7.2 zum ‚Prinzip der Genitivmarkierung‘.) Die relevanten Bedingungen sind in beiden Fällen erfüllt, speziell in (411b) durch das Adjektiv allein, was laut Regel zulässig ist (vgl. die Pflicht jedes Studenten). Zudem können solche NPs ohne Probleme als verbale Komplemente auftreten, aber eben nicht als Attribute, vgl. (412). (412) a. Das geschah während [Monikas letzten Auslandsaufenthalts] (Duden-Grammatik 2009: 968) b. *die Kosten Monikas letzten Auslandsaufenthalts Ansonsten unterliegen die postnominalen Genitivattribute keinen syntaktischen Beschränkungen und sind attributiv maximal ausbaubar (→ D3).

D1.2.3.3.2 Englisch NP-Attribute treten im Englischen – von vereinzelten Ausnahmen wie shoes [NP this size] abgesehen – nur pränominal auf. Die NP wird dabei als Ganze durch ein Phrasensuffix (s) gekennzeichnet. Da es dennoch Usus ist, hier von Genitivattributen zu sprechen, werden wir diesem Sprachgebrauch folgen (auch → D3). Im Unterschied zum Deutschen ist das Kopfsubstantiv in den englischen Genitivattributen nicht auf Eigennamen beschränkt; allerdings gibt es eine Präferenz für NPs mit belebten Referenten (→ D3). Daneben treten – wie im Deutschen – auch geografische Bezeichnungen und Pronomina auf, sowie – anders als im Deutschen – temporale Nominale und Adverbien (zu weiteren Einzelheiten → D3).  







(413) a. John’s car ‚Johns Auto‘ ENG b. Italy’s government ‚Italiens Regierung‘ c. everybody’s darling ‚jedermanns Liebling‘ (414) a. yesterday’s meeting ‚das gestrige Treffen‘ ENG b. that morning’s meeting ‚das Treffen an dem Morgen‘





1501

D1 Syntax der Nominalphrase

Charakteristisch ist weiter, dass die Genitivattribute syntaktisch maximal ausbaufähig sind, pränominal wie postnominal, und sogar durch Relativsätze erweitert sein können. Es handelt sich also im Unterschied zum Deutschen um „echte“ phrasale Attribute. (415) a. [NP an old man’s] shoes ‚die Schuhe eines alten Mannes‘ ENG b. [NP the queen of England’s] ship ‚das Schiff der Königin von England‘ c. [NP the man who I met recently’s] car ‚das Auto des Mannes, den ich kürzlich getroffen habe‘ Ebenso wie im Deutschen sind pränominale Genitive im Englischen mit Determinativen komplementär verteilt und schließen die NP nach links ab. Sie fungieren gleichzeitig als Determinatoren (Identifikatoren) und als Attribute (referentielle Modifikatoren). Zu beachten ist, dass sie die NP auch dann auf Definitheit festlegen, wenn sie selbst indefinit sind (Woisetschlaeger 1983, → D3).

D1.2.3.3.3 Polnisch Im Polnischen finden sich Genitivattribute in referentieller, klassifikatorischer und qualitativer Funktion (→ D3). Da die Kategorien N, NOM und NP im Polnischen zusammenfallen, gehen wir davon aus, dass alle Genitivattribute NPs sind. Alle Genitivattribute stehen im unmarkierten Fall postnominal (Brooks 1975: 385; Siewierska/Uhlířová 1998: 137 f.; Engel et al. 1999: 937). Nicht-referentielle (i. e. qualitative oder klassifikatorische) Genitivattribute können unter bestimmten Umständen pränominal auftreten, vgl. (416); eine Eigenschaft, die das westslawische Polnisch mit den ostslawischen Sprachen teilt:  







Polish and East Slavic allow prenominal placement […] if the adnominal construction expresses the shape, colour, size, material, or other qualities of an entity, a product, or a psychical feature of a person, or if it is a classifying noun. (Siewierska/Uhlířová 1998a: 138).

(416) a. ta [niskiego wzrostu] kobieta DEM klein.GEN G EN Größe.GEN G EN Frau POL ‚diese Frau von kleiner Größe‘ b. [tego typu] opis DEM .GEN Typ.GEN Beschreibung ‚(eine/die) Beschreibung dieses Typs‘ (Siewierska/Uhlířová 1998: 138) Referentielle Genitivattribute können ebenfalls pränominal stehen, wobei die Möglichkeit dieser Position durch die Allgemeine Nominalhierarchie (Belebtheitshierarchie) beschränkt ist: Bei Eigennamen, die Personen bezeichnen, ist die Voranstellung ebenso gut wie die Nachstellung (vgl. (417a)); bei Appellativa, die Personen oder

1502

D Nominale Syntagmen

andere Lebewesen bezeichnen, ist sie ebenfalls möglich, wenn auch gegenüber der Nachstellung markiert (vgl. (417b, c)), für Appellativa, die keine Lebewesen bezeichnen, ist sie kaum akzeptabel (vgl. (417d)). (417) a. JanaG E N dzwonek vs. dzwonek JanaG E N POL ‚Jans Klingel‘ b. sąsiadaG E N dzwonek vs. dzwonek sąsiadaG E N ‚die Klingel des Nachbarn‘ c. ogon kotaG E N vs. kotaG E N ogon ‚der Schwanz der Katze‘ d. ??budzikaG E N dzwonek vs. dzwonek (?)budzikaG E N ‚die Klingel des Weckers‘ Aptacy (2006: 17) führt Beispiel (418) mit einem vorangestellten Genitivus subiectivus an und bemerkt dazu: „Die Konstruktion in [(418)] ist nicht unbedingt als ungrammatisch anzusehen. Sie ist zwar stilistisch markiert, könnte aber z. B. als Überschrift eines Zeitungsartikels, der die Verletzung der Kinderrechte in der polnischen Schule zum Thema hätte, fungieren. Sie hätte dabei eine ironische Stilfärbung.“ (ebd.: 18, Fn. 14).  



(418) POL

?

polskiej szkoły szanowanie praw dziecka polnisch.GEN Schule.GEN Respektierung Recht.GEN Kind.GEN ‚(die) Respektierung der Kinderrechte durch die polnische Schule‘

Pränominale Genitivattribute stehen nicht notwendigerweise linksperipher (Aptacy 2005: 14, → D3) und können insbesondere zusammen mit Demonstrativa und Quantifikativa auftreten, denen sie obligatorisch folgen, vgl. (419)–(420). (419) a. te matki / Janka zdjęcia DEM . PL Mutter.GEN Janek.GGEN EN Bild.PL POL ‚diese Bilder von der Mutter / von Janek‘ b. *matki / Janka te zdjęcia DEM Bild.PL Mutter.GEN / Janek.GEN (420) a. wszystkie siostry zdjęcia POL all(e) Schwester.GEN Bild.PL ‚alle Bilder der Schwester‘ b. *siostry wszystkie zdjęcia alle Bild.PL Schwester.GEN Postnominal sind auch zwei Genitivattribute möglich. Referentielle Genitive folgen dabei auf klassifikatorische (421), können aber qualitativen vorangehen (vgl. (422), → D3).  

D1 Syntax der Nominalphrase

(421) POL

galeria sztuki (Małgorzaty G EN (Margaret.GEN Galerie Kunst.GEN ‚(Margaret Kowalskas) Kunstgalerie‘

1503

Kowalskiej) Kowalska.GEN ) (Rappaport 2004: 254)

(422) a. zagłada miasta zastraszających rozmiarów EN Ausmaß.PL . GGEN EN POL Zerstörung Stadt.GEN erschreckend.PL . GGEN ‚(eine) Zerstörung der Stadt erschreckenden Ausmaßes‘ b. galeria sztuki Małgorzaty Kowalskiej światowej sławy G EN Margaret.GEN Kowalska.GEN Welt.GGEN EN Ruhm.GEN Galerie Kunst.GEN ‚Margaret Kowalskas weltberühmte Kunstgalerie‘ (Rappaport 2004: 257) Das Auftreten zweier referentieller Genitive ist ebenfalls möglich, aber in der Regel auf Nomina Acti, i. e. deverbale Nomina mit Objekt- oder Resultatslesart, beschränkt. Der (potentielle) Genitivus subiectivus wird hier als Possessor interpretiert (Willim 2000: 334) und folgt auf den Obiectivus (vgl. (423), Rappaport 2004: 254).  

(423) POL

opis zachodu słońca (Mickiewicza) Beschreibung Untergang.GEN Sonne.GEN Mickiewicz.GEN ‚Mickiewiczs Beschreibung des Sonnenuntergangs‘ (Rappaport 2004: 255)

Ausgeschlossen sind dagegen zwei referentielle Genitive bei Nomina Actionis; hier muss der potentielle Subiectivus durch ein PP-Attribut realisiert werden (vgl. (424), Willim 2000: 332 f.; Rappaport 2004: 251, → D3).  

(424) POL

zagłada miasta *barbarzyńców / przez Zerstörung Stadt.GEN Barbar.GEN . PL durch ‚die Zerstörung der Stadt durch die Barbaren‘

barbarzyńców Barbar.GEN . PL (Rappaport 2004: 251)

Die relative Abfolge von Genitiv- und PP-Attributen ist im Kern funktional gesteuert. Bei gleicher semantischer Funktion gibt die Kategorie den Ausschlag: Sind Genitivund PP-Attribut beides referentielle Ausdrücke, geht das Genitivattribut im unmarkierten Fall voran, vgl. (425)–(427). [PP dla nauczyciela]] (425) a. [NP [NP prezent Janka] EN für Lehrer.GEN G EN POL Geschenk Janek.GGEN ‚Janeks Geschenk für den Lehrer‘ b. ?[NP [NP prezent [PP dla nauczyciela]] Janka] G EN Janek.GGEN EN Geschenk für Lehrer.GEN

1504

D Nominale Syntagmen

(426) a. [NP [NP prezent [NP dzieci z pierwszej klasy]] Klasse.GEN POL Geschenk Kind.GEN . PL aus erst.GEN nauczyciela]] G EN Lehrer.GEN ‚Geschenk der Kinder aus der ersten Klasse für den Lehrer‘ z b. ?[NP [NP prezent [PP dla nauczyciela]] [PP dzieci G EN Kind.GEN . PL aus Geschenk für Lehrer.GEN klasy]] Klasse.GEN (427) a. [NP [NP okulary Janka] [PP na EN auf POL Brille Janek.GGEN ‚Janeks Brille auf dem Tisch‘ b. ?[NP [NP okulary [PP na stole]] Brille auf Tisch.LOK

[PP dla für

pierwszej erst.GEN

stole]] Tisch.LOK Janka] Janek.GGEN EN

Engel et al. (1999: 941) führen aber das Beispiel (428) – mit vorangestelltem referentiellem PPAttribut – als grammatisch an.  



(428) POL

wyjazd do Krakowa mojego Reise nach Krakau.GEN POSS 1SG .GEN ‚Reise meines Chefs nach Krakau‘

szefa Chef.GEN

Ist das PP-Attribut dagegen nicht-referentiell, wie in (429a), wo es klassifikatorisch ist, ist die Nachstellung eines referentiellen Genitivattributs nicht nur möglich, sondern obligatorisch, vgl. (429b). (429) a. książka o składni znanego lingwisty Noama G EN POL Buch über Syntax.LOK berühmt.GEN Linguist.GEN Noam.GEN Chomskiego Chomsky.GEN ‚(das/ein) Buch über Syntax des berühmten Linguisten Noam Chomsky‘ lingwisty Noama Chomskiego b. ??książka znanego G EN Chomsky.GEN Buch berühmt.GEN Linguist.GEN Noam.GEN o składni über Syntax.LOK

D1.2.3.3.4 Ungarisch NP-Attribute treten im Ungarischen als possessive Attribute auf und zwar einmal im Nominativ und einmal im Dativ. Das Kopfsubstantiv ist dabei durch ein Possessorsuffix (→ B1.5.4.5) gekennzeichnet. Typologisch entsprechen Attributionen mit Nominativ-Possessor dem Strukturtyp der Dependensmarkierung, während Attributionen mit Dativ-Attribut vom Typ der Doppelmarkierung sind (vgl. Nichols 1986; Nichols/Bickel

D1 Syntax der Nominalphrase

1505

2013, → D3). Possessive Nominativ-Attribute stehen im Ungarischen durchgehend pränominal, während Dativ-Attribute unter Umständen auch postnominal auftreten können (s. u. (435b)). Postnominal können in attributiver Funktion auch NPs in semantischen Kasus auftreten. Auf diese – markierten – Fälle gehen wir in diesem Abschnitt nicht ein, dazu ausführlich → D4).  





D1.2.3.3.4.1 Dativ-Possessoren Eine maximale NP kann durch ein dativmarkiertes possessives Attribut (Dativ-Possessor) begrenzt werden; über dieses hinaus sind keine weiteren Determinative oder Attribute möglich. Als Dativ-Possessoren sind (dativische) NPs beliebiger Form zulässig: definite wie indefinite Appellativ-NPs (vgl. (430a, b)), Eigennamen mit und ohne Artikel (vgl. (431a, b)) und NPs, die selbst durch ein possessives Attribut erweitert sind, und zwar präferiert durch ein nominativisches (Tompa 1968: 295, vgl. (432a, b)). Ein Dativ-Possessor ist nach Szabolcsi (1984, 1994: 203) ebenfalls möglich, die Konstruktion wirke dann aber „clumsy“ oder „awkward“, vgl. (432c). kerítése (430) a. [NP az udvarnak] a DEF Garten.DAT DEF Zaun.3SG UNG ‚der Zaun des Gartens‘ kerítése b. [NP egy udvarnak] a INDEF Garten.DAT DEF Zaun.3SG ‚der Zaun eines Gartens‘ (vgl. Moravcsik 2003b: 426, Übersetzung korrigiert) (431) a. [NP a Péternek] a könyve DEF Péter.DAT DEF Buch.3SG UNG ‚Péters Buch‘ könyve b. [NP Ödönnek] a DEF Buch.3SG Ödön.DAT ‚Ödöns Buch‘

(vgl. Kornai 1985: 83)

(432) a. [NP a Mari vendégének] az álma DEF Mari Gast.3SG . DAT DEF Traum.3SG UNG ‚der Traum von Maris Gast‘ (wörtl. ,der Traum von der Mari ihrem Gast‘) (vgl. Szabolcsi 1984: 94) barátjának] b. [NP az öcsém DEF jüngerer-Bruder.1SG Freund.3SG .DAT a húga DEF jüngere-Schwester.3SG ‚die jüngere Schwester des Freundes meines jüngeren Bruders‘ (vgl. Keresztes 1999: 132)

1506

D Nominale Syntagmen

c.

?[ NP

Marinak a vendégének] DEF Gast.3SG . DAT Mari.DAT ‚der Traum von Maris Gast‘

az DEF

álma Traum.3SG (vgl. Szabolcsi 1984: 94)

Auch pronominale Dativ-Attribute sind bei entsprechender Hervorhebung des Possessors zulässig, vgl. (433); präferiert sind aber hier entsprechende Konstruktionen mit Nominativ-Possessor (Moravcsik 2003a: 131). (433) UNG

?nekem

a

1SG . DAT

DEF

könyvem Buch.1SG (Moravcsik 2003a: 131)

Nach Szabolcsi (1984: 91) sind in dieser Funktion die komplexen Formen énnekem (1SG .1SG . DAT ), teneked (2SG .2SG . DAT , zu diesen Formen vgl. etwa Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 270) zulässig, während É. Kiss (2000: 122) ein entsprechendes Beispiel mit énnekem ablehnt.

Schematisch lässt sich der Aufbau einer maximalen NP, die durch einen Dativ-Possessor eingeleitet wird, wie in (434) darstellen. Wichtig ist zweierlei. Zum einen kombiniert das possessive Attribut immer mit einer NP, zum anderen gehören Determinative, die am linken Rand auftreten, immer zum Dativ-Possessor. Ausdrücke wie (431a), in denen der Dativ-Possessor durch einen Eigennamen realisiert wird und mit einem definiten Artikel auftritt, sind nur in solchen Varietäten und Registern des Ungarischen möglich, in denen Eigennamen auch sonst einen definiten Artikel nehmen. (434)

[NP NP.DAT [NP … N.POSS ]]

Ein Dativ-Possessor kann auch extern, also außerhalb der maximalen NP, zu der das Possessum-N gehört, vorkommen, vgl. (435). In (435a) sind Possessor und Possessum nicht adjazent, in (435b) steht das Possessum vor dem Possessor. (435) a. A fiúnak olvasom a könyvét. DEF Junge.DAT les.1SG . DEF DEF Buch.3SG . AKK UNG b. Olvasom a könyvét a fiúnak. les.1SG . DEF DEF Buch.3SG . AKK DEF Junge.DAT ‚Ich lese das Buch des Jungen.‘ (Moravcsik 2003a: 131) Dass ein Dativ-Possessor und eine darauf folgende Possessum-NP dennoch zur gleichen übergeordneten NP gehören, zeigt sich darin, dass beide zusammen in der Fokusposition, also unmittelbar präverbal erscheinen können, vgl. (436a). Als weitere Evidenz für Konstituenz wird die Möglichkeit der „gemeinsamen w-Bewegung“ angeführt (Szabolcsi 1994: 199), wobei wir offenlassen, ob beide Kriterien nicht auf das gleiche hinauslaufen, vgl. (436b).

D1 Syntax der Nominalphrase

1507

(436) a. Kati (nem) csak [NP Marinak a kalapját] látta nur Mari.DAT DEF Hut.3SG .AKK seh.PRT . 3SG . DEF UNG Kati NEG ‚Kati sah (nicht) nur Maris Hut (sondern …)‘ kalapját] látta? b. Kati [NP kinek a DEF Hut.3SG .AKK seh.PRT . 3SG . DEF Kati wer.DAT ‚Wessen Hut sah Kati?‘ (vgl. Szabolcsi 1994: 199) Bei unmittelbarer Voranstellung des Possessums vor dem Possessor wie in (435b) können beide hingegen nicht in der Fokusposition stehen (vgl. (437b) vs. (437a)); wird das Possessum vorangestellt, kann es allenfalls allein fokussiert werden, und Possessum und Possessor stehen dann nicht adjazent, sondern werden durch das finite Verb getrennt, vgl. (437c). az apja] (437) a. Csak [NP a fiúnak Junge.DAT DEF Vater.3SG UNG nur DEF ‚Nur der Vater des Jungen weiß es.‘ b. *Csak az apja fiúnak tudja. c. Csak [NP az apja] tudja [NP a fiúnak].

tudja. wiss.3SG . DEF

Bei externer Realisierung des Possessors stellt sich die Frage, ob der Possessor auch hier strukturell zu der Possessiv-NP gehört, oder ob er als Komplement oder Supplement auf den verbalen Kopf der Phrase bezogen werden muss, die die Possessiv-NP enthält. Im ersten Fall würden Possessor und Possessum eine diskontinuierliche Konstituente bilden. Im zweiten Fall hätten wir es dagegen mit einer Instanz von sog. possessor raising (oder possessor ascension) bzw. „externem Possessor“ zu tun (König/Haspelmath 1998; Haspelmath 1999b; Nikolaeva 2002, → D3). Eine solche Struktur, in der ein Possessor als verbbezogenes Dependens erscheint, unterliegt allerdings charakteristischen, typologisch ausweisbaren Eigenschaften, die für die entsprechenden Konstruktionen des Ungarischen nicht gegeben sind (vgl. Biermann 1985: 54 sowie → D3). König/Haspelmath (1998: 557) schließen daher: „Le syntagme nominal au datif […] fait cependant évidemment partie du syntagme nominal [vgl. Szabolcsi 1981, 1984; Biermann 1985], même si, en surface, il ne forme pas un constituant continu avec le possédé.“ Ein weiteres Argument zugunsten dieser Analyse lässt sich aus dem Kongruenzverhalten von Possessor und Possessum gewinnen: Dass der Possessor auch bei externer Realisierung mit dem Possessum kongruiert, kann am einfachsten durch die Annahme erfasst werden, dass beide zu derselben NP gehören – unter der theoretischen Voraussetzung, dass sich die Kongruenz von Attributen mit ihrem substantivischen Kopf innerhalb einer NP abspielen muss. Dabei ist zu berücksichtigen, dass dativische possessive NPs auch als Prädikative mit ihrem Possessum kongruieren, vgl. (438); hier erfüllt der Possessor jedoch eine andere syntaktische Funktion (Prädikativ vs. Attribut), so dass eine Übertragung der obigen Analyse auf diesen Konstruktionstyp zumindest nicht zwingend ist.  

1508

D Nominale Syntagmen

(438) UNG

Péternek van verse. Péter.DAT ist Gedicht.3SG ‚Péter hat ein Gedicht.‘

(Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 157)

Szabolcsi (1994) nimmt für externe possessive Attribute und possessive Prädikative die gleiche zugrunde liegende Struktur an, in der der Possessor adjazent und pränominal zum Possessum steht. – Tompa (1968: 296) vermutet, dass die attributive Funktion dativischer Possessoren in adjazenter Position zur Possessum-NP das Ergebnis eines Reanalyseprozesses ist, so dass Strukturen mit dativischen Possessor-NPs in nicht-adnominaler Funktion und zur Possessum-NP in nicht-adjazenter Position historisch vorgängig seien (vgl. Benkő/Samu 1972: 125 f.).  



Nach Biermann (1985: 54) kann sowohl der Possessor als auch das Possessum durch ein Demonstrativum eingeleitet werden. In den von Biermann angeführten Beispielen stehen beide Ausdrücke adjazent, vgl. (439). Da Biermann davon ausgeht, dass dativmarkierte Possessor-NPs mit ihrer Possessum-NP bei Nicht-Adjazenz eine diskontinuierliche Konstituente bilden, wäre in den fraglichen Beispielen von einer einheitlichen Konstituente auszugehen. (Adjazente Konstituenten können per definitionem nicht diskontinuierlich sein.) (439) a. [a szónak] [ez a jelentése] DEF Wort.DAT DEM . PROX DEF Bedeutung.3SG UNG ‚diese Bedeutung des Wortes‘ b. [[ennek a szónak] a jelentése] DEM . PROX . DAT DEF Wort.DAT DEF Bedeutung.3SG ‚die Bedeutung dieses Wortes‘ (Biermann 1985: 54) Dass eine Possessum-NP, die durch einen Dativ-Possessor attribuiert wird, durch ein Demonstrativum (az/ez) eingeleitet werden kann (vgl. (442a)), wird allerdings in Teilen der einschlägigen Literatur bestritten. So verweisen Kenesei/Vago/Fenyvesi (1998: 95) darauf, dass Dativ-Possessoren in Kombination mit solchen NPs in der Fokusposition ungrammatisch seien. In einem Beispiel wie (440a) ist eine Lesart, in der Possessor und Possessum in Fokusposition stehen, durch das vorangehende Negationselement erzwungen. Solche Beispiele seien aber ungrammatisch. Stattdessen müsse der Possessor außerhalb der NP (und des Fokus), in diesem Fall vor dem Negationselement realisiert werden, vgl. (440b). (440) a. *Nem [ Annának azt a kalapját ] láttam. NEG Anna.DAT DEM . DIST .AKK DEF Hut.3SG . AKK seh.PRT . 1SG . DEF UNG b. Annánaki nem [ ti azt a kalapját ] láttam. ‚Es war nicht jener Hut von Anna, den ich sah.‘ (Kenesei/Vago/Fenyvesi 1998: 95)

1509

D1 Syntax der Nominalphrase

É. Kiss (2000: 122) argumentiert für die Möglichkeit der Bildung einer gemeinsamen Konstituente (so auch Dékány 2011: 78), und zwar ebenfalls unter Rekurs auf Fokussierungsdaten. Anders als Kenesei/Vago/Fenyvesi (1998) hält sie diese aber für grammatisch, vgl. (441). (441) UNG

a cikkét] volt Csak [NP Chomskynak ezt DEM . PROX . AKK DEF Artikel.3SG .AKK war nur Chomsky.DAT hajlandó elolvasni. PV .les.INF bereit ‚Er war bereit, nur diesen Artikel von Chomsky zu lesen.‘ (É. Kiss 2000: 122)

Wir belassen es dabei, die strukturellen Konsequenzen beider Auffassungen zu skizzieren. Nach Kenesei/Vago/Fenyvesi (1998) – ebenso wie Szabolcsi (1994) – stehen Dativ-Possessor und Demonstrativum am linken Rand der NP in komplementärer Distribution, Strukturen wie (442a) sind ausgeschlossen. Maximale NPs sind daher entweder durch einen Dativ-Possessor (vgl. (442b)) oder ein Demonstrativum (vgl. (442c)) „nach links“ abgeschlossen. Nach É. Kiss (2000) kommen dagegen für maximale NPs nicht nur die Strukturen (442b) und (442c) in Frage, sondern auch eine Struktur wie (442a). Für beide Auffassungen gilt, dass sich eine Dativ-Possessor-NP nur mit einem Ausdruck der Kategorie NP verbindet, also insbesondere nicht mit Ausdrücken der Kategorie NOM oder N. Entsprechend sind NPs, die einen DativPossessor enthalten, immer so strukturiert, dass Possessor und Possessum unmittelbare Kokonstituenten der maximalen NP sind, vgl. (442d).  

(442) a. b. c. d.



[NPmax NP.DAT [NP DEM DEF … N.POSS ]] [NPmax [NP NP.DAT ] … N] [NPmax [NP DEM DEF ] … N] [NPmax [NP NP.DAT ] [NP … N.POSS ]]

Ist die maximale NP definit und das Kopfsubstantiv kein Eigenname, so muss das Possessum durch ein definites Determinativ, präferiert einen definiten Artikel, eingeleitet sein. Anders als „genitivische“ pränominale possessive Attribute in Sprachen wie Deutsch, Englisch oder Schwedisch ist das dativische possessive Attribut des Ungarischen nicht definitheitsinduzierend. In früheren Sprachstadien konnte (oder musste) ein definiter Artikel zwischen (dativischem) Possessor und Possessum fehlen, möglich waren also Strukturen wie [NPmax [NP NP.DAT ] [N/NOM … N.POSS ]]. In Tompa (1968: 294) wird noch die Setzung des Possessum-Artikels als optional markiert (a könyvnek (az) ára ‚der Preis des Buches‘); im gegenwärtigen Ungarischen würde das Weglassen des Artikels jedoch zu stilistisch hochmarkierten, antiquiert wirkenden Ausdrücken führen (Dániel Czicza, p.M.).

D1.2.3.3.4.2 Nominativ-Possessoren Nominativ-Possessoren treten am linken Rand der NP auf und sind in diesem Sinn „NP-abschließend“ (vgl. (443)–(445)). Sie können durch NPs unterschiedlicher Art

1510

D Nominale Syntagmen

realisiert werden, insbesondere kann die NP durch ein definites (vgl. (443a)) oder indefinites Determinativ bzw. Quantifikativum (vgl. (443b–d)) eingeleitet werden oder aus einem Eigennamen bestehen, dem unter Umständen ein definiter Artikel vorangeht (vgl. (443e)). Um Nominativ-Possessoren leichter erkennbar zu machen, kennzeichnen wir sie in diesem Abschnitt in den Glossen durch ihr Kasusmerkmal.

(443) a. [NP a fiú] könyve (DEF Junge.NOM Buch.3SG ) ‚das Buch des Jungen‘ UNG b. [NP egy fiú] könyve (INDEF Junge.NOM Buch.3SG ) ‚das Buch eines Jungen‘ c. [NP mindegyik fiú] könyve (ein jeder Junge.NOM Buch.3SG ) ‚das Buch eines jeden Jungen‘ d. [NP minden fiú] könyve (jeder Junge.NOM Buch.3SG ) ‚das Buch jedes Jungen‘ e. [NP (a) Béla] könyve ((DEF ) Béla.NOM Buch.3SG ) ‚Bélas Buch‘ Nominativische Possessoren können allerdings – anders als dativische (vgl. (432a, b)) – nur marginal ein nominativisches possessives Attribut enthalten (vgl. (444); Szabolcsi 1984: 94, 1994: 203; Biermann 1985: 53 sowie einer unserer Informanten schließen solche Strukturen aus).  



(444) UNG

?a

Mari vendége DEF Mari.NOM Gast.3SG . NOM ‚der Traum von Maris Gast‘

álma Traum.3SG (vgl. Szabolcsi 1984: 94)

Darüber hinaus gehen nominativische possessive Attribute ihrem Possessorausdruck immer unmittelbar voran (vgl. (445a)); Nachstellungen (vgl. (445b)) oder diskontinuierliche Realisierungen (vgl. (445c)) wie bei den dativischen possessiven Attributen sind nicht möglich. (445) a. A fiú könyvét olvasom. DEF Junge.NOM Buch.3SG . AKK les.1SG . DEF UNG ‚Ich lese das Buch des Jungen.‘ b. *Olvasom könyvét a fiú. les.1SG . DEF Buch.3SG . AKK DEF Junge c. *A fiú olvasom könyvét. DEF Junge.NOM les.1SG . DEF Buch.3SG . AKK In der Literatur zur Syntax der ungarischen NP wurde im Zusammenhang mit nominalen possessiven Attributen insbesondere den Distributions- und Bezugsmöglichkeiten von Determinativen besondere Aufmerksamkeit geschenkt (Szabolcsi 1994; É. Kiss 2002; Moravcsik 2003b; Dékány 2011). Ein in dieser Hinsicht relevanter Unterschied zu Strukturen mit dativischen possessiven Attributen besteht darin, dass zwischen einem nominativischen Possessor und dessen Possessum kein definiter Artikel stehen kann,  

D1 Syntax der Nominalphrase

1511

der in diesem Fall das Possessum determinieren würde, vgl. dazu die Beispiele in (443). Hier stellt sich die Frage, wie die Definitheit des Possessums bei Abwesenheit eines Determinativs zu bestimmen ist. Einen zweiten Unterschied markiert das für die Diskussion zentrale Problem, dass in NPs mit nominativischen possessiven Attributen (ebenso wie in solchen mit Partizipialattributen, s. u.) zwei Determinative auftreten können – eines vor und eines nach dem Attribut –, die sich beide auf das Possessum zu beziehen scheinen, vgl. (446a). In Bezug auf solche Strukturen stellt sich erstens die Frage der Abgrenzung zu Strukturen wie (446b), in denen das einleitende Determinativ zum possessiven Attribut gehört. Zweitens stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen solche Strukturen möglich sind, da beide Determinative bei Abwesenheit eines intervenierenden Attributs nicht kookkurrieren können, vgl. (446c). Und drittens ist die Funktion des vor dem Possessor platzierten Determinativs zu bestimmen, falls dessen Definitheitswert mit dem des vor dem Possessum platzierten inkompatibel ist, vgl. (446a).  





feladatod (446) a. a [NP te] bármelyik DEF 2SG jede beliebige[INDEF ] Aufgabe.2SG UNG ‚eine jede von deinen Aufgaben‘ (vgl. É. Kiss 2000: 131, Beispiel abgeändert) b. [NP a János] könyve DEF János Buch.3SG ‚János’ Buch‘ (vgl. É. Kiss 2002: 158, Beispiel abgeändert) c. *a bármelyik feladat DEF irgendein Aufgabe Zu berücksichtigen ist aber die Markiertheit von Strukturen wie (446a). Da der Possessor schon flexivisch am Substantiv kodiert ist, können Personalpronomen und Artikel entfallen (vgl. bármelyik feladatod), was von Informanten in der Regel als sprachlich deutlich besser bewertet wird.

Beginnen wir mit dem ersten angeführten Unterschied zu Strukturen mit DativPossessoren, der obligatorischen Abwesenheit eines definiten Artikels zwischen Possessum und Possessor. Betrachtet man die Beispiele in (447)–(448), und zwar in den durch ihre Übersetzungen angezeigten Lesarten, so ist zunächst festzustellen, dass der einleitende Artikel jeweils zum Possessorausdruck gehört. Damit ist zum einen klar, dass der Artikel weder als NP-abschließendes Element fungiert – diese Rolle fällt dem possessiven Attribut als Ganzem zu – noch die Definitheit des Possessums bestimmt. Dass der Artikel nicht auf das Possessum bezogen sein kann, zeigt (447b). Hier ist das Possessum ebenso wie in (447a) definit, aber anders als in (447a) ist der Possessor indefinit. Analoges zeigen die Beispiele in (448) mit einem auf den Possessor bezogenen Quantifikativum.  



1512

D Nominale Syntagmen

Die hier gebrauchte Redeweise, der zufolge der Artikel auf das Possessum bezogen ist, ist semantisch zu verstehen. Syntaktisch ist der Artikel Teil der maximalen NP, zu der Possessor und Possessum gleichzeitig gehören, und dieser unmittelbar untergeordnet.

(447) a. [NP az udvar] kerítése DEF Garten Zaun.3SG UNG ‚der Zaun des Gartens‘ b. [NP egy udvar] kerítése INDEF Garten Zaun.3SG ‚der Zaun eines Gartens‘ (vgl. Moravcsik 2003b: 425 f.)  

(448) a. [NP minden fiú] könyve UNG alle Junge Buch.. 3SG ‚das Buch aller Jungen‘, NICHT: ‚alle Bücher des/eines Jungen‘ könyve b. [NP mindegyik fiú] jeder Junge Buch.. 3SG ‚jedes Jungen Buch‘, NICHT: ‚jedes Buch des/eines Jungen‘ (vgl. ebd.: 427) Was die Definitheit des Possessums (und damit der gesamten NP) angeht, so liegt es auf den ersten Blick nahe, diese auf die Präsenz des possessiven Attributs zurückzuführen, zumal ein nach dem Attribut platzierter und damit eindeutig auf das Possessum bezogener definiter Artikel zu Ungrammatikalität führt, vgl. (449). (449)

*az udvar a kerítése, *egy udvar a kerítése, *minden fiú a könyve, *mindegyik fiú a könyve

Dass das possessive Attribut im Ungarischen aber nicht in dem Sinne definitheitsinduzierend wirkt wie pränominale Genitivattribute im Deutschen oder Englischen, wird wiederum durch Fälle wie (450a) sichtbar. Hier wird das Possessum durch einen indefiniten Artikel eingeleitet und die maximale NP ist indefinit (→ D3). Darüber hinaus zeigen Daten wie (450b), dass außer dem indefiniten Artikel auch Quantifikativa an der fraglichen Position möglich sind. Die Frage, ob Quantifikativa wie minden oder solche auf -ik, die auch an dieser Stelle stehen können, definit sind, ist bestenfalls umstritten. [egy háza] (450) a. [NP a fiú] DEF Junge INDEF Haus.3SG UNG ‚ein Haus des Jungen‘ (vgl. Moravcsik 2003b: 403)

D1 Syntax der Nominalphrase

1513

b. a

fiú [bármelyik feladata] Junge ein jeder Aufgabe.3SG ‚eine jede Aufgabe des Jungen‘ DEF

Zu beachten ist weiter, dass Ausdrücke wie in (451), in denen ein definiter Artikel, der sich auf die maximale NP und damit auf das Possessum beziehen würde, dem possessiven Attribut voranginge, ebenfalls ungrammatisch sind. (451) UNG

*az [NP az udvar] kerítése, *az [NP egy udvar] kerítése, *a [NP minden fiú] könyve, *a [NP mindegyik fiú] könyve

In der Literatur gibt es Vorschläge, nach denen Ausdrücke wie (447)–(448) so zu analysieren sind, dass die Definitheit des Possessums durch eine vor dem PossessorAusdruck angesiedelte „Determinativposition“ (D oder DET ) bedingt ist, wobei jeweils vorausgesetzt wird, dass die NP eine DP-Struktur hat. Szabolcsi (1994) nimmt an, dass eine solche Position in Ausdrücken mit definitem Possessum tatsächlich mit einem definiten Artikel besetzt ist, der jedoch getilgt wird, wenn der linear unmittelbar folgende Ausdruck – wie in (451) – ebenfalls ein Determinativ ist (vgl. (452)); analoge Beispiele für egy, minden, mindegyik.  

(452) UNG



[DP *az [ az udvar] kerítése ] → [DP Ø [ az udvar] kerítése ]

Wie in Dékány (2011) gezeigt wird, lassen sich Belege mit linear aufeinanderfolgenden Determinativen finden, die auch von Dékány als grammatisch beurteilt werden. Schon Tompa (1968) führt das Beispiel (453) an, in dem das linear erste Determinativ allerdings ein indefiniter Artikel ist. (453) UNG

[NP Egy, [AP [NP a vitán] felmerült] kérdést] tisztáztunk. INDEF DEF Diskussion.SUP aufgetaucht Frage.AKK bereinig.PRT . 1PL ‚Wir bereinigten eine in der Diskussion aufgetauchte Frage.‘ (vgl. Tompa 1968: 77)

É. Kiss (2000) dagegen schlägt vor, dass Quantifikativa in einer DP obligatorisch in deren Spezifikatorposition wandern, „[. . .] presumably [sic!] to check the [+ definite] feature of the D head.“ (ebd.: 154). Ist die Spezifikatorposition auf diese Weise gefüllt, könne der D-Kopf aus „Ökonomiegründen“ nicht durch einen definiten Artikel realisiert werden und bleibt daher „leer“ (ebd.: 154). Dies treffe auf das Beispiel in (454a) zu, das demnach die Struktur in (454b) haben müsste.  



1514

D Nominale Syntagmen

(454) a. *[DP a [QP mindegyik [NP fiú ]]] UNG b. [DP mindegyiki [D …] [QP ti [NP fiú ]]]; (É. Kiss 2002: 154) Dagegen sei die Bewegung in Fällen wie (455) durch den intervenierenden Ausdruck blockiert, so dass im D-Kopf ein definiter Artikel realisiert werden müsse (É. Kiss 2000: 131). Solche Phrasen können sowohl possessive (vgl. (455a)) als auch partizipiale Attribute (vgl. (455b)) sein, wie in É. Kiss (2000: 131, 2002: 154) angegeben.  

(455) a. a te bármelyik feladatod DEF 2SG eine jede Aufgabe.2SG UNG ‚jede beliebige von deinen Aufgaben‘ b. a [neked kiosztott] bármelyik DEF DAT . 2SG aufgetragen eine jede ‚jede beliebige dir aufgetragene Aufgabe‘

feladat Aufgabe (vgl. É. Kiss 2000: 131)

Die Analyse ist allerdings problematisch. É. Kiss nimmt an, dass durch Quantifikativa eingeleitete Ausdrücke wie in (454) immer eine DP „projizieren“ (É. Kiss 2002: 154); folglich würde dies auch für possessive Attribute gelten, die durch ein Quantifikativum determiniert werden wie in (452c, d). Dann würde das Quantifikativum aber innerhalb der „eigenen“, eingebetteten DP in die Spec-DP-Position bewegt werden und auch dort bleiben; eine weitere Bewegung in die nächsthöhere Position wäre ausgeschlossen, da die bewegungsauslösende Merkmalsüberprüfung nur einmal stattfinden kann. Dann aber müsste im D-Kopf der maximalen DP via „Spell-Out“ ein definiter Artikel realisiert werden, und damit würde die Theorie genau die ungrammatischen Strukturen zulassen, die sie eigentlich ausschließen sollte (456a–c). Darüber hinaus werden Strukturen wie (456d) nicht als ungrammatisch vorausgesagt: Der definite Artikel sitzt hier im D-Kopf der Possessor-Phrase, wo er auch bleiben muss. Der D-Kopf der maximalen DP müsste dann ebenfalls durch „Spell-Out“ mit einem definiten Artikel besetzt werden, was aber ungrammatisch wäre.  

(456) a. [DP [D …] [DP mindeni [QP ti fiú] könyve]] → *[DP [D a ] [DP mindeni [QP ti fiú] UNG könyve ]] b. [DP [D …] [DP mindegyiki [QP ti fiú] könyve]] → *[DP [D a] [DP mindegyiki [QP ti fiú] könyve]] c. [DP [D …] [DP ei [DemP ti fiú]] kutyája] → *[DP [D az] [DP ei [DemP ti fiú]] kutyája] d. [DP [D …] [DP [D az] udvar] kerítése] → *[DP [D az] [DP [D az] udvar] kerítése] Aus analogen Gründen werden ungrammatische Ausdrücke mit definitem und indefinitem Artikel wie in (457b) zugelassen: Wird der indefinite Artikel als Quantifikativum analysiert, ergeben sich Strukturen wie in (457a) (analog zu denen in (456a–c)),

D1 Syntax der Nominalphrase

1515

wird er dagegen als Artikel analysiert, dann erhält man Strukturen wie in (457b) (analog zu denen in (456d)). (457) a. [DP [D …] [DP egyi [NumP ti udvar] kerítése]] → *[DP [D az] [DP egyi [NumP ti udvar] UNG kerítése]] b. [DP [D …] [DP [D egy] udvar] kerítése] → *[DP [D az] [DP [D egy] udvar] kerítése] Für die in (455) angesetzten Strukturen ist wichtig, dass der definite Artikel nicht auf den unmittelbar folgenden, zu dem jeweiligen Attribut gehörenden Ausdruck bezogen werden kann, da es sich in beiden Fällen um Personalpronomina handelt, speziell in (455a) um ein Personalpronomen in adnominaler possessivischer Funktion. Folglich wird die maximale NP durch den definiten Artikel abgeschlossen, nicht durch den nachfolgenden attributiven Ausdruck und insbesondere nicht durch ein nachfolgendes possessives Attribut. Die entsprechende Generalisierung wäre, dass ein nominativisches possessives Attribut genau dann als NP-abschließendes Element fungiert, wenn es eine nicht-pronominale NP ist. Da das phrasale Attribut in (455b) ebenfalls keine NP ist, ließe sich die obige Generalisierung dahingehend erweitern, dass generell nur nicht-pronominale NP-Attribute NP-abschließend fungieren können, wobei NP-Attribute entweder nominativische oder dativische possessive Attribute sind. Dass hier eine kategoriale Bedingung (nicht-pronominale NP) ins Spiel kommt, eine funktionale (possessives Attribut) dagegen nicht ausreicht, liegt daran, dass pränominale Personalpronomina in der Funktion von possessiven Attributen mit einem definiten Artikel auftreten müssen. Den meisten Analysen zufolge bezieht sich der Artikel dabei auf das Possessum, nicht auf das Pronomen. So argumentiert Dékány (2011: 72) dahingehend, dass, da Personalpronomina im Ungarischen grundsätzlich keinen definiten Artikel nehmen, eine Struktur, in der der Artikel mit dem Pronomen eine Konstituente bildet, also etwa (458) für (455a), mit Sicherheit ausgeschlossen werden könne. (Dékány ebd. selbst verwendet ein anderes Beispiel.) (458) UNG

[a DEF

te] 2SG

bármelyik feladatod eine jede Aufgabe.2SG

Chisarik/Payne (2003: 183) dagegen nehmen jedoch gerade solche Strukturen an, indem sie die notwendige Kookkurrenz von definitem Artikel und Personalpronomen in der Funktion von possessiven Attributen als Ergebnis eines Reanalyseprozesses beschreiben: Der definite Artikel sei hier als genitivisches Kasusaffix reanalysiert, das in Verknüpfung mit Personalpronomina – nach dem Modell der Verbindungen der Kasusaffixe mit Pronomina – ein Paradigma der Possessivpronomina bildet (ebd.: 182 f.). Evidenz dafür sehen sie darin, dass solche „Possessivpronomina“ auch in indefiniten NPs wie (459) auftreten, so dass die maximale NP nicht durch den definiten Artikel als definit markiert sein kann.  





1516

D Nominale Syntagmen

(459) UNG

az-én egyik lányom DEF -1SG ein Tochter.1SG ‚eine Tochter von mir‘

(vgl. Chisarik/Payne 2003: 183)

Nach Chisarik/Payne (2003) wären NPs mit einleitendem, pronominalem possessiven Attribut (vgl. (455)) daher wie in (460) zu strukturieren. Wenn diese Analyse zutrifft, wäre die relevante Generalisierung die, dass possessive Attribute, unabhängig von ihrer kategorialen Realisierung, NP-abschließend fungieren können. Funktional ließe sich dies damit erklären, dass possessive Attribute referentielle Attribute sind und durch die referentielle Verankerung eine determinierende Funktion induziert wird, insofern als durch die Verankerung eine pragmatische Beschränkung des Referenzbereichs ins Spiel kommt. [N a

te] ezen feladatod 2SG DEM Aufgabe.2SG ‚diese Aufgabe von dir‘

(460) UNG

DEF

Nach der Analyse von Chisarik/Payne (ebd.) gäbe es keine Fälle, in denen sich ein (definiter) Artikel, der vor einem possessiven Attribut positioniert ist, auf das Possessum bezöge. Was pronominale possessive Attribute angeht, so hatten wir gesehen, dass eine Analyse mit Possessumbezug des definiten Artikels insofern problematisch ist, als das Possessum auch mit indefiniten Determinativen konstruiert werden kann, wie das von Chisarik/Payne (ebd.) angeführte Beispiel (459) zeigt. Ein ähnliches Beispiel war bereits (455a) mit dem Quantifikativum bármelyik ‚(ein) jedes‘, ‚ein beliebiges‘, während (455b) zeigte, dass sich das gleiche Phänomen auch bei intervenierenden Partizipialattributen findet. Nach Aufweis der solchen Quantifikativa zugeschriebenen Bedeutung (sichtbar gemacht durch Übersetzungsäquivalente) wären diese indefinit, dennoch wird die maximale NP durch einen definiten Artikel eingeleitet. Festzuhalten ist somit: Da das Problem einer „Definitheitsinkongruenz“ nicht nur bei NPs mit possessiven Attributen wie (455a) auftritt, lässt es sich durch eine auf pronominale possessive Attribute zugeschnittene Analyse wie die von Chisarik/Payne (ebd.) nicht generell lösen. Was auch immer sonst für diese Analyse sprechen mag, stellen wir daher an dieser Stelle zurück und betrachten den Artikel in Strukturen wie (455a) – im Einklang mit dem Großteil der Literatur – als eine auf den Possessumausdruck bezogene, eigenständige Wortform. In Teilen der theoretischen Literatur zur ungarischen NP besteht eine Tendenz, das Problem mithilfe geeigneter Bedeutungszuschreibungen für die beteiligten Determinative aus der Welt zu schaffen. So erklärt É. Kiss (2002: 154) die fraglichen Quantifikativa kurzerhand für definite Determinative, was sich aber semantisch kaum rechtfertigen lässt. Ebenso verfährt Szabolcsi (1994: 219 f.) für einen Teil der Quantifikativa („Ezen ‚this‘, melyik ‚which‘, valamelyik ‚one of the‘, semelyik ‚none of the‘, and so on are obviously definite.“ ebd.: 219), nicht aber für das Quantifikativum minden ‚alle‘,  







D1 Syntax der Nominalphrase

1517

‚jeder‘. Dieses sei zwar nicht definit, aber spezifisch, und zwar spezifisch in dem Sinn, dass es eine Existenzpräsupposition auslöse. Sichtbar werde dies in Existenzsätzen, in denen sich der sog. Definitheitseffekt zeigt. Hier ist das allquantifizierende minden ebenso wenig möglich wie das (nicht-flektierende) Demonstrativum ezen, vgl. (461). (461) a. Van két könyv. UNG ist zwei Buch ‚Es gibt zwei Bücher.‘ b. *Van minden könyv. ist jedes Buch ‚Es gibt jedes Buch.‘ c. *Van ezen könyv. ist dieses Buch ‚Es gibt dieses Buch.‘ (Szabolcsi 1994: 219 f.)  

Da der definite Artikel gerade mit solchen, eine Existenzpräsupposition auslösenden Determinativen in Strukturen wie (455) auftreten kann, folgert Szabolcsi (1994: 220) „[…] that what a(z) signals in the general case is strength (specificity), and not necessarily definiteness“. Dass er überhaupt in solchen Strukturen auftreten muss, ergibt sich nach Szabolcsi aus einer zweiten, zentraleren Funktion des Artikels, die darin besteht, als syntaktisches Einleitungselement („pure subordinator“) für argumentstellenfüllende Ausdrücke (ebd.) aufzutreten. Das entspricht in etwa der Eigenschaft, die wir generell für Determinative festgestellt haben, nämlich nominale Ausdrücke in NPs, i. e. referenzfähige Phrasen, zu überführen und in diesem Sinne syntaktisch abzuschließen. Beide Funktionen sind offenbar unabhängig voneinander. Prinzipiell könnte der definite Artikel daher in den fraglichen Strukturen auf die zweite Funktion beschränkt sein, und zwar unter der Voraussetzung, dass seine semantische, definitheitsinduzierende Funktion hier (weitgehend) neutralisiert ist. Szabolcsi (1994: 219) findet aber eine solche Lösung „not very attractive“, weil der Artikel dann semantisch uneinheitlich fungieren würde. Attraktiv ist Szabolcsis Vorschlag nun aber auch nicht, denn die Annahme einer konstanten Bedeutung des definiten Artikels wird damit erkauft, für das Gros seiner Verwendungskontexte eine völlig unplausible, weil extrem unterbestimmte Semantik anzunehmen: Wenn der definite Artikel nichts anderes als die Existenz des Referenzobjekts präsupponiert, stellt sich die Frage, weshalb er sich nicht in allen Kontexten durch den indefiniten Artikel austauschen lässt (oder einfach wegfallen kann), in denen die Präsupposition aus unabhängigen Gründen erfüllt ist. Als Fazit können wir festhalten, dass bei Fällen von doppelter Determination mit semantisch inkompatiblen Determinativen zu rechnen ist, da das eine Determinativ ein definiter Artikel sein muss, das andere dagegen ein Indefinitpronomen sein kann. In solchen Strukturen wird der Definitheitswert der Gesamtkonstruktion nicht durch den definiten Artikel festgelegt, sondern durch das jeweils andere, pronominale  

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D Nominale Syntagmen

Determinativ. Die semantische Funktion des definiten Artikels scheint hier generell neutralisiert zu sein; der Artikel dient lediglich als NP-abschließendes Element. Warum ein solches Element überhaupt erforderlich ist, liegt aber nicht auf der Hand. Hier wäre weitere Evidenz aus dem Sprachvergleich erforderlich, um zu brauchbaren Generalisierungen zu kommen.

D1.2.3.4 PP-Attribute Die Syntax und Semantik der PP-Attribute ist ausführlich in → D3 und → D4 behandelt; daher gehen wir auf diesen Attributtyp nur am Rande ein. PP-Attribute treten in allen Vergleichssprachen auf und sie stehen in allen Vergleichssprachen ausschließlich postnominal. Im Ungarischen unterliegt das Auftreten von postnominalen PP-Attributen allerdings besonderen Bedingungen (→ D4.8). Regulär müssen PPs, die modifikativ auf Nominale bezogen werden sollen, in Adjektiv- oder Partizipialphrasen eingebettet werden. Diese sind dann wie alle Adjektivoder Partizipialattribute pränominal positioniert (→ D4.7, → D7.2.2.1). Für alle anderen Vergleichssprachen gilt, dass PP-Attribute in der Regel nach allen anderen nichtsententialen Attributen, aber vor den sententialen Attributen, insbesondere den Relativsätzen stehen. Die Anzahl der PP-Attribute und ihre interne Komplexität unterliegt dabei (außer im Ungarischen) keiner Beschränkung.  

D1.3 Zusammenfassung Das Profil der Nominalphrase im Deutschen ist durch das Spektrum der ausdrucksseitigen Realisierungsformen der relevanten funktionalen Domänen Identifikation, nominale Quantifikation und Modifikation bestimmt. Als relevante syntaktische Varianzparameter relativ zu diesen Domänen haben sich die folgenden Eigenschaften erwiesen: Identifikation: (i) Verfügt eine Sprache überhaupt über eine syntaktische Kategorie der Determinative oder nicht. (ii) Welche pronominalen Elemente gehören zu dieser Kategorie, insbesondere mit Blick auf Demonstrativa und Possessiva. (iii) Inwieweit sind adnominale Elemente doppelt zu kategorisieren, i. e. sowohl als Adjektive als auch als Determinative.  

ad (i) Das Deutsche ist eine Artikelsprache mit definiten und indefiniten Artikeln. Diese Eigenschaft teilt es mit dem Englischen, Französischen und Ungarischen; das Polnische verfügt dagegen – wie die meisten slawischen Sprachen – nicht über Artikel.  



D1 Syntax der Nominalphrase

1519

Wie in anderen Artikelsprachen korreliert die Wortart der Artikel mit einer Konstituentenkategorie der Determinative, der auch Formen von Wörtern anderer lexikalischer Klassen – insbesondere der Pronomina – angehören. Sofern eine Sprache über Determinative verfügt, bilden Formen dieser Kategorie übereinzelsprachlich typischerweise die einleitenden Elemente von NPs. Eine Determinativkategorie ist auch für das Englische, Französische und Ungarische aufweisbar, nicht aber für das Polnische: Auch wenn im Polnischen adnominale Pronomina in semantischer Hinsicht den Determinativen der anderen Vergleichssprachen gleichen, verhalten sie sich in Bezug auf die relevanten syntaktischen Kriterien wie Adjektive.  



ad (ii) Anders als im Ungarischen gehören im Deutschen (ebenso wie im Englischen und Französischen) auch die Demonstrativa zu den Determinativen; insbesondere sind Artikel und Demonstrativa in diesen Sprachen komplementär verteilt. Die Nominalphrase des Deutschen kennt daher keine multiple Definitheitsexponenz, wie sie sich im europäischen Sprachraum in den skandinavischen Sprachen oder in den Balkansprachen findet. Zu den Determinativen zählen im Deutschen (sowie im Französischen und Englischen) auch die adnominalen Possessiva. Diese fungieren gleichzeitig als Identifikatoren und referentielle Modifikatoren. Das Deutsche (und Englische) generalisiert diese Doppelfunktion auf den phrasalen Typ des pränominalen referentiellen Modifikators, i. e. des pränominalen Genitivattributs (possessiven Attributs). Die gemeinsame semantische Funktion (i. e. Identifikation), die Determinative und pränominale Genitive im Deutschen und Englischen aufweisen, korreliert mit gemeinsamen syntaktischen Eigenschaften: Pränominale Genitivattribute und Determinative sind komplementär verteilt und schließen die Nominalphrase „nach links“ ab. Das Deutsche unterscheidet sich dahingehend vom Englischen, als im Deutschen die pränominalen Genitive fast ausschließlich und jedenfalls prototypischerweise durch Eigennamen realisiert werden und diese sind in ihren phrasalen Ausbaumöglichkeiten beschränkt. Im unmarkierten Fall stehen hier einfache Wortformen; daneben aber auch appositive Strukturen wie Herrn Müllers Zukunftsvisionen, Bundeskanzler Kohls Regierung. Sprachen mit indefiniten Artikeln verfügen nur selten über Formen indefiniter Artikel, die mit summativischen Ns/NOMs kombinieren. Hier besteht unter den Artikelsprachen übereinzelsprachlich eine Lücke, insofern indefinite Summativ-NPs auch in Artikelsprachen ohne Determinativ auftreten können. Das Deutsche verhält sich hier mit Blick auf die relevanten Artikelsprachen eher typisch, das Französische, das mit den partitiven Artikeln für die fraglichen Fälle über spezielle indefinite Artikelformen verfügt, eher untypisch.   



1520

D Nominale Syntagmen

ad (iii) Im Französischen sind Numeralia doppelt zu kategorisieren, einmal als Adjektive und einmal als Determinative, während sie in den übrigen Artikelsprachen durchgehend zu den Adjektiven zu zählen sind. Die nominale Quantifikation ist im Deutschen (sowie im Englischen und Ungarischen) typischerweise nebenordnend (juxtapositiv), im Polnischen und Französischen dagegen nebenordnend oder unterordnend. Quantifikativa sind im Deutschen Determinative oder Adjektive; die im Polnischen und vor allem im Französischen prominente „Quantifikator-als-Kopf-Struktur“ hat allenfalls marginalen Status. Mit Blick auf die Subjekt-Verb-Kongruenz weisen quantifikative Strukturen daher nicht die für das Französische oder Polnische anzutreffenden Ambiguitäten auf; diese finden sich lediglich beim speziellen Typ der Numerativkonstruktion. NPs mit Quantifikativa sind daher im Deutschen – qua Nebenordnung – einfacher strukturiert (syntaktisch weniger komplex) als die unterordnenden Strukturen im Französischen oder Polnischen. Was den Einfluss der funktionalen Domäne der Modifikation auf das syntaktische Profil der Nominalphrase betrifft, so stellt sich die kategoriale Realisierung und die Verteilung der nicht-sententialen Attribute in den Vergleichssprachen wie in Tabelle 4 und Tabelle 5 dar.  





Tab. 4: Kategoriale Realisierung der Attribute  

Kategorie

Sprache

A, AP

DEU, ENG, FRA, POL, UNG

N

DEU, ENG, FRA, POL

NOM

ENG, FRA

NP

DEU, ENG, POL, UNG

PP

DEU, ENG, FRA, POL, UNG

Tab. 5: Stellung der Attribute  

pränominal

postnominal

DEU

A, AP, NP[+PROP ]

N[+PROP ], NP, PP

POL

A, AP, NP[+bel]

A, AP, N, NP, PP

ENG

A, AP[–PP ], N, NOM, NP

A, AP[+PP ], PP

FRA

A

A, AP, N, NOM, PP

UNG

A, AP, NP

NP, PP

D1 Syntax der Nominalphrase

1521

Alle Vergleichssprachen weisen A- und AP-Attribute, daneben, bis auf das Französische, auch NP-Attribute auf. Das Französische verfügt im (nicht-pronominalen) nominalen Bereich weder über Kasusflexion noch – wie das Englische – über ein spezielles Phrasensuffix, das NP-Attribute attributiv markieren könnte. (Andere Verfahren der Attributmarkierung wie die schlichte Juxtaposition oder die Kopfmarkierung sind aus unabhängigen Gründen ausgeschlossen.) Der unter den möglichen nominalen Attributen wichtige und zentrale Typ der possessiven Attribute kann somit ausschließlich durch PPs realisiert werden. Der besondere Status der possessiven Attribute unter den NP-Attributen zeigt sich auch darin, dass diese die einzigen NP-Attribute sind, die im Ungarischen die unmarkierte, pränominale Attributposition einnehmen. Postnominal können im Ungarischen nur NPs in semantischen Kasus erscheinen, keine possessiven Attribute. Zudem sind im Ungarischen postnominale NP-Attribute ebenso wie die PP-Attribute auf substantivische Köpfe im Nominativ und Akkusativ beschränkt und können daher als markiert gelten (→ D4.8). PP-Attribute treten wiederum in allen Vergleichssprachen auf, und zwar ausschließlich postnominal. Im Ungarischen stellen sie allerdings, wie gerade angeführt, einen markierten Fall dar. NOM-Attribute finden sich ausschließlich im Englischen und Französischen, N-Attribute im Englischen, Französischen und begrenzt auch im Polnischen und im Deutschen. Im Deutschen sind sie auf appositive Strukturen mit postmodifikativen Eigennamen beschränkt (vgl. die Kameradin Catherine, das Unternehmen Barbarossa, die Regierung Merkel, der Monat Dezember, → D1.2.3.2.3), im Polnischen stehen entsprechende N+N-Verbindungen (vgl. lekarz dentysta ‚Zahnarzt‘) Kompositionsstrukturen nahe (→ D1.2.3.2.4). N- und NOM-Attribute können im Englischen auch durch einen postklitischen Marker – wie bei den NP-Attributen – gekennzeichnet sein. Bei den englischen N-Attributen ist die Setzung des Markers durch die „Allgemeine Nominalhierarchie“ (alias Belebtheitshierarchie) beschränkt (ENG a baby’s chair ‚ein Babystuhl‘ vs. a gold coin ‚eine Goldmünze‘ / *a gold’s coin). Im Englischen und teilweise auch im Französischen bestehen bezüglich der attributiven Nomina Abgrenzungsprobleme gegenüber den attributiven Adjektiven. Im Ungarischen haben postnominale NP- und PP-Attribute markierten Status. Markiert ist auch die pränominale Stellung von Adjektiven im Französischen. Hier sind drei Fälle zu unterscheiden. Erstens, eine lexikalisch fixierte Klasse von Adjektiven wie bon, beau etc. Zweitens Adjektive, die prä- und postnominal auftreten können, in der jeweiligen Stellung aber unterschiedliche Bedeutungen aufweisen. Und drittens Adjektive, die unmarkiert postnominal stehen, aber unter bestimmten pragmatischen Bedingungen pränominal platziert werden können. Im Polnischen stehen alle genitivischen NP-Attribute im Standardfall postnominal. Die Voranstellung referentieller Genitivattribute unterliegt der Allgemeinen Nominalhierarchie, ansonsten sind pränominal nur qualitative und klassifikatorische Genitivattribute zulässig, aber auch diese stehen im Normalfall postnominal. Wenn man sich schließlich die pränominalen Genitivattribute des Deutschen ansieht – und sie insbesondere mit denen des Englischen vergleicht, dann fällt ihre kategoriale und syntagmatische  















1522

D Nominale Syntagmen

Beschränktheit unmittelbar ins Auge: Kategorial sind diese Attribute auf Eigennamen beschränkt, syntagmatisch sind sie nicht ausbaufähig. Eigennamen fungieren hier als referentielle Modifikatoren, analog den (pränominalen) possessiven Determinativen. Und ebenso analog zu den possessiven Determinativen fungieren diese nicht nur als Modifikatoren, sondern auch als Identifikatoren. Wenn man nun die gerade erwähnten Attributtypen in ihren jeweiligen Stellungen ausblendet und nur die als prototypisch ausweisbaren Fälle in den Blick nimmt, gelangt man zu einer Verteilung wie in Tabelle 6.  

Tab. 6: Verhältnis von Stellung, Kategorie und Modifikationstyp  



pränominal

postnominal

Mod.-Typ

Kategorie

Mod.-Typ

Kategorie

DEU

qual, klass

A, AP

ref

NP, PP

POL

qual, klass

A, AP

qual, klass, ref

A, AP, N, NP, PP

ENG

qual, klass, ref

A, AP[– – PP ], N, NOM, NP

qual, klass, ref

A, AP[+ + PP ], PP

qual, klass, ref

A, AP, N, NOM, PP

FRA UNG

qual, klass, ref

A, AP, NP

In Tabelle 6 sind zudem die semantischen Subtypen der Modifikation verzeichnet und auch die Zuordnung dieser Typen zu den Kategorien in der jeweiligen Stellung ist eine an den prototypischen Fällen orientierte Idealisierung. So können auch im Deutschen postnominale NP- und PP-Attribute klassifikatorisch (bzw. qualitativ) fungieren, nur stellt diese kategoriale Realisierung der Funktion etwa im Vergleich zum Polnischen und Französischen einen markierten Fall dar: Im Deutschen ist die Komposition das Mittel der Wahl für den Ausdruck klassifikatorischer Modifikation, im Französischen und Polnischen sind dagegen Relationsadjektive und PP-Attribute, im Polnischen darüber hinaus auch (genitivische) NP-Attribute in dieser Funktion zentral. Damit wird für das Deutsche ein Form-Funktions-Zusammenhang zwischen den Parametern Stellung, Kategorie und Modifikationstyp sichtbar: Im Deutschen ist die pränominale Position für die begrifflichen (i. e. qualitativen und klassifikatorischen) Modifikatoren reserviert, die postnominale dagegen für die referentiellen. Dies folgt allerdings aus zwei unabhängigen Korrelationen: Erstens gibt es im Deutschen eine Form-Funktions-Korrelation zwischen Kategorie und Stellung: Adjektivattribute stehen pränominal, alle anderen (prototypischerweise) postnominal. Zweitens gibt es im Deutschen eine Korrelation zwischen Funktionstyp und Kategorie: Begriffliche Modifikatoren sind in erster Linie adjektivische Attribute, referentielle Modifikatoren dagegen NP- und PP-Attribute. Daraus folgt dann drittens die o. g. Korrelation zwischen Stellung und Funktionstyp.  



D1 Syntax der Nominalphrase

1523

In den Vergleichssprachen ist eine solche Korrelation nicht aufzufinden: Im Französischen und Ungarischen trivialerweise nicht, da in diesen Sprachen alle Attribute entweder postnominal (Französisch) oder pränominal (Ungarisch) stehen. Im Polnischen liegt die Korrelation nicht vor, da das Polnische wesentlich über begriffliche NP- und PP-Attribute verfügt. Und im Englischen findet sie sich wiederum deshalb nicht, weil im Englischen vor allem die Stellung der AP-Attribute durch den oben beschriebenen Parameter der „Schwere“ bedingt ist. Die hier aufgezeigten Form-Funktions-Korrelationen zeigen, dass speziell der Parameter Stellungsfolge in der NP von verschiedenen Faktoren abhängt, denen sprachabhängig unterschiedliches Gewicht zukommt. In der Sprachtypologie wurde in der Nachfolge von Greenberg (1963) vor allem der Parameter Kategorie als determinierend für die Stellungsfolge betrachtet und für ein großes Sprachenspektrum ausgewertet. Der funktionale Parameter Modifikationstyp konnte dabei nicht berücksichtigt werden, ebenso wenig wie weitere Einflussfaktoren. Auch finden bei dieser Perspektive notwendigerweise ausschließlich die unmarkierten oder hochfrequenten Muster Beachtung. Korrelationen wie die oben für das Deutsche genannten sind der feinkörnigeren Analyse geschuldet, wie sie im Sprachvergleich mit einigen wenigen Kontrastsprachen geleistet werden kann.

D2

Nominalphrasen mit adjektivischem oder partizipialem Kopf

Funktionale Charakterisierung  1525 Ellipse des Kopfsubstantivs versus nominaler Gebrauch des Adjektivs  1525 D2.1.2 Zwischen Modifikation und Nomination  1529 D2.1.3 Semantische Restriktionen  1532 D2.1.3.1 Die Art des Adjektivs  1532 D2.1.3.2 Unterschiedliche Beschränkungen auf den Partizipialtyp  1534

D2.1 D2.1.1

D2.2 Formale Eigenschaften  1535 D2.2.1 Flexion und Position des nominal gebrauchten Adjektivs  1536 D2.2.1.1 Ausschluss von nicht attributiv verwendbaren Adjektiven  1536 D2.2.1.2 Obligatorische Flexion  1537 D2.2.1.3 Numerus  1539 D2.2.1.4 Genus  1539 D2.2.2 Komparation  1541 D2.2.3 Modifikation  1542 D2.2.3.1 Adverbiale Modifikation  1542 D2.2.3.2 Modifikation durch Präpositional- und Kasusphrasen  1544 D2.2.4 Determination  1548 D2.3 Semantische Eigenschaften  1550 D2.3.1 Der Referenzbereich beim Bezug auf Personen und Nicht-Personales  1550 D2.3.1.1 Personales  1550 D2.3.1.2 Nicht-Personales  1556 D2.3.1.3 Die Rolle des Kontextes  1559 D2.3.2 Vom Adjektiv zum Substantiv  1560 D2.4

Zusammenfassung  1565

Christine Günther

D2 Nominalphrasen mit adjektivischem oder partizipialem Kopf D2.1 Funktionale Charakterisierung D2.1.1 Ellipse des Kopfsubstantivs versus nominaler Gebrauch des Adjektivs Dass der Kopf einer Nominalphrase nicht zwangsläufig ein lexikalisches Substantiv sein muss, ist hinlänglich bekannt. So können nur-selbstständige Pronomina (1) oder non-selbstständige Pronomina (2) (→ B1.5) eine vollständige NP konstituieren, wie in den folgenden Beispielen deutlich wird. (1)

Sie ist ganz ohne Frage eine der markantesten Ermittlerinnen im deutschen Fernsehen: „Die Kommissarin“, gespielt von der großartigen Schauspielerin Hannelore Elsner. (Mannheimer Morgen, 02.01.2006)

(2)

Manche sind der Ansicht, das Leben sei nicht viel mehr als ein Spiel. (die tageszeitung, 09.01.2009)

Schwieriger sind jedoch Fälle wie die folgenden, in denen den NPs ein nominales Element in Kopfposition zu fehlen scheint. (3)

Die Engerlinge haben sich bis in den Oktober dick und rund gefressen, nur wenige hat der Winter dahingerafft. (Mannheimer Morgen, 17.03.2007)

(4)

Sein Wunsch: Er möchte das riesige Mammutskelett gegen ein kleineres eintauschen, dieses aber in aufrechter Haltung aufbauen. (Rhein-Zeitung, 24.04.2007)

(5)

Hamburg, ein Paradies für die Reichen. (Hamburger Morgenpost, 27.05.2008)

(6)

Der angeblich Geständige möge bitte mit uns Kontakt aufnehmen», sagte Oberstaatsanwalt Peter Aldenhoff zu einem Bericht der «Bild»-Zeitung. (dpa, 14.08.2008)

(7)

Nach dem Wiederanpfiff passierte das Unfassbare. (Braunschweiger Zeitung, 25.02.2008)

1526

(8)

D Nominale Syntagmen

„Das Abscheuliche an dieser Geschichte ist, dass Diana nicht mehr lebt, um sich zu verteidigen.“ (Hamburger Morgenpost, 13.07.2006)

Dass es sich bei den betreffenden Konstituenten um Nominalphrasen handelt, geht eindeutig aus ihren syntaktischen Rollen als Subjekt, Objekt oder Komplement einer Adposition hervor. Um jedoch der Frage nach der Struktur dieser Phrasen nachzugehen, müssen zunächst die ersten beiden Fälle von den folgenden abgegrenzt werden. Diese Unterscheidung beruht in erster Linie auf den Interpretationsmechanismen. Während die NPs in Beispiel (3) und (4) in Bezug zu textuell vorhandenen Antezedenzien (die Engerlinge und das riesige Mammutskelett) interpretiert werden, liegt eine solche Bezugsphrase in den Beispielen (5) bis (8) nicht vor. Hier referieren die NPs auf eine Gruppe von Menschen wie in (5), einzelne Individuen wie (6) oder auf etwas Nicht-Personales, Abstraktes wie in (7) und (8). Diese Interpretationsunterschiede manifestieren sich ebenfalls auf struktureller Ebene: So können die „fehlenden“ nominalen Elemente, nämlich die Kopfsubstantive, bei den antezedensbasierten Fällen in (3) und (4) problemlos in die Kopfposition eingefügt werden (vgl. nur wenige Engerlinge und ein kleineres Mammutskelett); bei den unabhängig interpretierten wird diese Ergänzung jedoch schwieriger. Man könnte gegebenenfalls dafür argumentieren, dass in Fällen wie (5) und (6) ein „stilles“ Substantiv wie Menschen im Plural, oder Mann im Singular, in der Struktur vorhanden ist (vgl. die reichen Menschen, der angeblich geständige Mann), allerdings verfügt das Deutsche – ebenso wenig wie die Kontrastsprachen – über kein entsprechendes Substantiv für die Fälle mit nicht-personaler Lesart in (7) und (8).  







Ein zusätzliches formales Indiz, das bei nicht-personalem Bezug gegen die Analyse als Ellipse spricht, ist folgendes: Bei Ellipse eines neutralen Kopfsubstantivs muss ein Relativsatz durch eine Form des Relativpronomens das eingeleitet werden (wie in Gib mir die Bücher, zuerst das neue [_], das/*was ich gestern gekauft habe). Beim nominalisierten Adjektiv können neben das auch Formen des Relativpronomens was erscheinen (wie in Das Neue, das/was wir hier erfahren, ist Folgendes).

Aufgrund dieser Unterschiede erscheint eine Trennung der beiden Phänomene auf struktureller Ebene gerechtfertigt: In den antezedensbasierten Fällen kann theorieabhängig von einer Ellipse, bzw. einer Tilgung, des Kopfsubstantivs gesprochen werden, oder auch von einer syntaktischen Leerstelle für das Kopfsubstantiv, N: (4’)

a. Er möchte das riesige Mammutskelett gegen ein kleineres Mammutskelett eintauschen. b. Er möchte [NP das riesige NMammutskelett] gegen [ein kleineres N[_]] eintauschen.

Bei (4’b) ist anzunehmen, dass auf der Ebene der semantischen Interpretation bezüglich der Leerstelle auf den durch das Kopfsubstantiv bereitgestellten Begriff zurückgegriffen wird.

1527

D2 Nominalphrasen mit adjektivischem oder partizipialem Kopf

In den unabhängig interpretierten NPs hingegen liegt keine derartige Tilgung und damit auch keine daraus resultierende Leerstelle vor. Wir analysieren somit z. B. die NP in (5) wie folgt:  

(5’)

Hamburg, ein Paradies für [NP die NReichen].

Diese Auffassung knüpft an die traditionelle Handhabung an, in der die betreffenden Elemente mit den nicht-antezedensbasierten Interpretationen als „substantivierte Adjektive“ oder als „substantivisch gebrauchte Adjektive“ betrachtet werden und von elliptischen, d. h. von antezedensbasierten, Fällen abgegrenzt werden, wie beispielsweise in der Duden-Grammatik (2009: 324) (man beachte, dass die Unterscheidung auch in der Groß- und Kleinschreibung evident ist):  

(9)

a. Die großen Fische fressen die kleinen (= die kleinen Fische). b. Die Großen fressen die Kleinen.

Allerdings ist zwischen einem engeren und einem erweiterten Konzept von „substantivischem“ Gebrauch zu unterscheiden. Oder genauer gesagt: zwischen 1. dem Übergang eines Elementes der Wortart Adjektiv in die Wortart Substantiv und 2. dem Gebrauch eines Elements der Wortart Adjektiv als N, als Kopf der NP. Im ersten Fall handelt es sich um einen Wechsel von der Wortart Adjektiv zur Wortart Substantiv, im zweiten Fall wollen wir von ,nominal verwendeten Adjektiven‘ (bzw. ,nominalisierten Adjektiven‘) sprechen. Als Oberbegriff für beide Phänomene gebrauchen wir den Terminus ,adjektivbasierte NP-Köpfe‘. Wir ziehen den Terminus ,nominal gebrauchtes/nominalisiertes‘ Adjektiv dem Terminus ,substantiviertes Adjektiv‘ vor, weil es in den betreffenden Fällen nicht um eine Änderung der lexikalischen Kategorie (vom Adjektiv zum Substantiv) geht, sondern um das Auftreten eines Adjektivs als Element der syntaktischen Kategorie Nomen.

In welcher Weise Merkmale der beiden Kategorien – der lexikalischen Kategorie des Adjektivs und der Konstituentenkategorie des Nomens – jeweils aufgewiesen werden und der Begriff des ,nominal verwendeten Adjektivs‘ somit legitim ist, wird in → D2.3.2 detailliert dargelegt. An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass dieser Begriff ebenfalls den nominalen Gebrauch von Partizipien beinhaltet, da diese auch in attributiver Position auftreten (→ D7) und, wie die folgenden Beispiele zeigen, ebenfalls ohne substantivischen Kopf Verwendung finden:  





(10)

Die Tanzenden passieren alle einander von Angesicht zu Angesicht und treffen sich zweimal pro Rundgang. (http://de.wikipedia.org/wiki/Färöischer_ Kettentanz: Wikipedia, 2011)

1528

D Nominale Syntagmen

(11)

Die Gedemütigten und Beleidigten reagieren wie immer paradox. (die tageszeitung, 18.03.2009)

(12)

Es kann sich auch auf das Geschaffene oder Hervorgebrachte beziehen. (http://de.wikipedia.org: Wikipedia, 2005)

(13)

Ein Dritter schüttet aus einem Eimer rote Farbe ins Gesicht des Hinzurichtenden, der zehn Sekunden starr ins Publikum blickt. (Berliner Zeitung, 02.04.2001) Zum Verhältnis von Adjektiv und Partizip vgl. genauer → D7.3.1.

Die folgende Übersicht zeigt den nominalen Gebrauch des Adjektivs in den Kontrastsprachen. Dabei werden zwei Arten unterschieden: NPs mit nominal gebrauchten Adjektiven, die sich auf Personen beziehen (Beispiele 14a–17a), und solche, die sich auf etwas Nicht-Personales beziehen (Beispiele 14b–17b).

Nominal gebrauchte Adjektive in den Kontrastsprachen (14) a. The poor are an integral part of the working class ENG ,Die Armen sind ein integraler Teil der Arbeiterklasse.‘ (BNC, EDH 1184) b. Furthermore, we cannot equate the spiritual with the religious. ,Außerdem können wir das Spirituelle nicht mit dem Religiösen gleichsetzen.‘ (BNC, HYB 1353) (15) a. les riches qui pensent que les pauvres sont heureux DEF . PL reich.PL RPRO denk.3PL dass DEF . PL arm.PL sind glücklich FRA ‚die Reichen, die denken, dass die Armen glücklich sind‘ (Internet) b. un quilibre entre le facile et le difficile INDEF Gleichgewicht zwischen DEF einfach und DEF schwer ‚ein Gleichgewicht zwischen dem Einfachen und dem Schwierigen‘ (Internet) (16) a. A republikánusok a vörösök. DEF Republikaner.. PL DEF rot.. PL UNG ‚Die Republikaner sind die Roten.‘ b. A jóban és a szépben hisz. DEF gut.INE und DEF schön.INE glaub.3SG ‚Er glaubt an das Gute und das Schöne.‘ (17) a. Tylko bogaci mają jeszcze POL nur reich.PL hab.3PL noch ‚Nur die Reichen haben noch Arbeit.‘

pracę. Arbeit.AKK

1529

D2 Nominalphrasen mit adjektivischem oder partizipialem Kopf

b. Możemy spróbować niemożliwego. könn.1PL versuch.INF unmöglich.N . GEN ‚Wir können das Unmögliche versuchen.‘

D2.1.2 Zwischen Modifikation und Nomination Adjektivbasierte Köpfe in NPs mit unabhängiger, nicht-antezedensbasierter Interpretation weisen sowohl für Adjektive typische als auch für Substantive typische Merkmale auf. Zu den adjektivischen Eigenschaften zählen Flexion, Komparierbarkeit, Modifizierbarkeit durch Adverbien, Ergänzungen sowie Flexibilität hinsichtlich Genus, zu den substantivischen Eigenschaften gehören die fehlende Ergänzbarkeit eines nominalen Kopfes sowie gewisse morphologische Merkmale (vgl. → D2.2.1 bis D2.2.4). Dieser interkategoriale Status ist keineswegs gleichermaßen ausgeprägt – es gibt nominal gebrauchte Adjektive, deren adjektivische Eigenschaften überwiegen, und solche, bei denen ein vollständiger Kategorienwechsel zum Substantiv vorliegt. Allerdings können unter den adjektivbasierten NP-Köpfen auch Zwischenformen identifiziert werden. Dieses „Kontinuum“ zwischen nominal gebrauchtem Adjektiv und Substantiv spiegelt sich auch in den Funktionen der jeweiligen Elemente wider: Sie bilden das Spektrum von Modifikation zu Nomination ab (→ A3, → A4). Das Lexem Beamter beispielsweise geht auf das Partizip des Verbs beamten zurück, und zwar auf die laut DWB seit dem 14. Jahrhundert bezeugte verkürzte Partizipialform beampt. Nur als Substantivierung ist diese Kurzform im heutigen Deutsch gebräuchlich, eine attributive Verwendung wie in *der beamte Leiter der Dienststelle ist ausgeschlossen. Zudem gibt es, im Gegensatz zu den unten aufgeführten Fällen, eine durch das Movierungssuffix -in, das nur mit Substantivstämmen verbindbar ist, abgeleitete pluralisierbare Form für weibliche Individuen.  



(18)

Diese Wertschätzung erfahren die Beamtinnen und Beamten der Bundespolizei und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Deutschen Bahn (DB). (Braunschweiger Zeitung, 14.12.2010)

Dieser syntaktische Kategorienwechsel spiegelt sich auch auf semantischer Ebene wider, da er zu einer recht spezifischen Bedeutung (‚Personen in einem besonderen Arbeitsverhältnis im öffentlichen Dienst‘) gegenüber dem allgemeineren Sinne des Verbs beamten ,mit einem Amt ausstatten‘ führt. In diesen Fällen, in denen der nominale Gebrauch bereits auf der Lexemebene festgelegt, also ,lexikalisiert‘ ist, leistet das Element die Bereitstellung des begrifflichen Kerns. Dies folgt aus der oben beschriebenen Bedeutungsänderung, die mit dem Kategorienwechsel einhergeht. So ist ein Beamter eben nicht einfach eine männ-

1530

D Nominale Syntagmen

liche Person, die ein spezielles Amt zugewiesen bekommen hat, sondern eine festangestellte Person in einem speziellen Arbeitsverhältnis im öffentlichen Dienst. Somit liegt hier die funktionale Domäne der Nomination vor. Am anderen Ende der Skala befinden sich Adjektive, die nur insofern wie Substantive gebraucht werden, als sie Köpfe der NP konstituieren. Da diese Elemente ihre Adjektiveigenschaften beibehalten (vgl. → D2.2), behalten sie auch die Funktion der Modifikation, d. h., sie reichern den – implizit bleibenden – begrifflichen Kern zu einem komplexeren Ausdruck an.  

(19)





Sie führen die Gruppe der Enttäuschten an, für die keine WM-Tickets übrig blieben. (Hamburger Morgenpost, 04.12.2009)

Die NP referiert auf eine Gruppe von Menschen, die durch das Adjektiv enttäuscht näher spezifiziert wird. Somit wird der Bereich der Referenz durch die modifizierende Funktion des Adjektivs begrenzt. Die Nomination erfolgt in diesen Fällen durch den nominalen Gebrauch ohne separaten Ausdruck als Träger der Nomination. Sie erfolgt hier per default, ggf. nach Maßgabe des Genus des nominalisierten Ausdrucks: Im Deutschen etwa sind maskuline und Pluralformen generisch auf personale Denotation festgelegt (,Menschen‘, ,Personen‘), feminine Singularformen auf weibliche Personen. Neutrale Formen haben nicht-personalen Bezug, vgl. dazu im Einzelnen → D2.3.1.2. Neben den nominal gebrauchten und den vollständig zum Substantiv übergegangenen Adjektiven gibt es Elemente, die eine doppelte Kategorienzugehörigkeit aufweisen, wie beispielweise Angestellter. So existieren für Arbeitnehmer, die über eine Festanstellung verfügen, sowohl die komplexe Form fest Angestellte, wo die Verwendung von unflektiertem fest als Adverbiale auf den adjektivischen Status hinweist, als auch feste Angestellte, wo die kongruierende Form feste auf den substantivischen Status des modifizierten Elementes hindeutet. Auch bei dem frequenteren Festangestellter ist eher von einer Herleitung aus der verbalen Phrase fest anstellen, somit von einer adverbialen Beziehung auszugehen als von einem Kompositum aus dem Adjektiv fest und Angestellter:  

(20)

a. Mit ihrem Mann Hans Jakob sowie mit der Unterstützung einer Festangestellten und drei Teilzeitmitarbeiterinnen bewirtschaftet sie einen Hühnerhof mit rund 15 000 Hennen. (St. Galler Tagblatt, 06.08.2010) b. Das bescheidene Entgelt für die geleisteten Dienste steht in keinem Verhältnis zu den Lohnkosten von fest Angestellten. (St. Galler Tagblatt, 18.08.2000)

(21)

a. Wir haben demnächst 200 feste Angestellte, wir haben eine Million Besucher im Jahr. (Berliner Zeitung, 01.03.2005) b. Gestern erklärte Herman den Richtern, dass sie in der „Tagesschau“Redaktion jahrelang wie eine feste Angestellte eingebunden war, sich an

D2 Nominalphrasen mit adjektivischem oder partizipialem Kopf

1531

Schichtdienste und Urlaubspläne halten musste. (Hamburger Morgenpost, 02.10.2008) c. Seit drei Monaten bin ich nun fester Angestellter bei Auto 5000. (Braunschweiger Zeitung, 24.07.2008) Allerdings ist zu den Formen nach dem Muster fester Angestellter zweierlei anzumerken: a) Im Deutschen sind bei deverbalen Personenbezeichnungen adjektivische Attribute, die auf Partizipanten oder „Umstände“ des Sachverhalts zurückgehen, ausgeschlossen oder zumindest randgrammatisch. Das gilt z. B. für Agens-Nominalisierungen mit Adjektiven in einer „Objekt“-Lesart wie *dentaler Pfleger, *mentaler Trainer (statt Dentalpfleger ,jemand, der sich um die Pflege von Zähnen kümmert‘, Mentaltrainer; vgl. Gunkel/Zifonun 2008: 295), aber auch für Nominalisierungen von Partizipien. Deutlicher als bei fester Angestellter wird dies bei der Opposition bereitwillig Angestellte/Bewirtete versus bereitwillige Angestellte/Bewirtete. Die Formen mit flektiertem Adjektiv bezeichnen ausschließlich angestellte bzw. bewirtete Personen, die über die Qualität der Bereitwilligkeit verfügen, nicht solche Personen, die mit Bereitwilligkeit angestellt oder bewirtet wurden. b) Die Verbindung eines flektierten Adjektivs mit einem adjektivbasierten Kopf wie in fester Angestellter ist per se kein Nachweis für die Substantivierung des Kopfausdrucks, sondern ist bei nominal gebrauchten Adjektiven prinzipiell möglich, vgl. z. B.: die neuen Reichen, das große Unbekannte.  



Nominal verwendete Adjektive haben ein doppeltes Gesicht: Qua nominalem Status leistet das Element die Nomination innerhalb der NP und qua adjektivischem Status modifiziert es die Bedeutung des Nominationselementes. Dabei handelt es sich um qualitative Modifikation, das heißt, durch die Adjektive werden Qualitäten beschrieben, die eine bestimmte Gruppe Menschen oder eine Sache auszeichnen. Eine klassifizierende Funktion ist ausgeschlossen, da sich diese ja nur in der Verbindung mit spezifischen Substantiven ergibt, wie beispielsweise in königlicher Palast oder mütterliches Erbe. So werden die Adjektive königlich und mütterlich zwar auch nominal verwendet, wie die folgenden Beispiele zeigen, jedoch haben die Adjektive keine klassifikatorische Funktion. (22)

Man ermunterte sie, die Königliche. (Berliner Zeitung, 30.08.2003)

(23)

Ein Gespräch mit Mary Riddell, der britischen Expertin fürs Königliche. (Berliner Zeitung, 26.03.2005)

(24)

Die Mütterliche vertritt die Ansicht, dass sich alle irgendwie mögen müssen. (die tageszeitung, 27.09.2006)

(25)

Prof. Dr. Peter Struck: Kinder brauchen das Mütterliche und das Väterliche. (Hamburger Morgenpost, 24.05.2009)

1532

D Nominale Syntagmen

D2.1.3 Semantische Restriktionen D2.1.3.1 Die Art des Adjektivs Neben der Beschränkung auf Qualitätsadjektive unterliegen die in der Konstruktion verwendbaren Adjektive semantischen Restriktionen. So können einige Adjektive im nominalen Gebrauch nicht auf Menschen verweisen, da sie keine menschlichen Eigenschaften bezeichnen. Beispiele hierfür lassen sich sowohl in der Klasse der extensionalen als auch in der der intensionalen Adjektive finden. Einige exemplarische Kandidaten wären etwa achtbeinig, grün-blau-kariert, vorteilhaft, gehaltvoll oder ungünstig. So fällt es schwer, Modelle zu konstruieren, in denen die Menge der achtbeinigen oder der grün-blau-karierten Dinge eine Schnittmenge mit der der Menschen bildet. Gleichermaßen erscheint die Modifikation einer Komponente der Intension von Mensch durch vorteilhaft oder gehaltvoll schwierig, da keine Bedeutungskomponente der Kategorie mit diesen Eigenschaften kompatibel ist. Die hier zugrunde liegende Kategorie ‚Mensch‘ ist sehr basal und basiert auf biologischen Kriterien, die entweder erfüllt oder nicht erfüllt sind. Aus diesem Grunde können auch Adjektive der Art total, absolut, wahr oder echt nicht zur Beschreibung von Menschen benutzt werden, da sie eine Skalierung der in der Intension von ‚Mensch‘ enthaltenen Eigenschaften präsupponieren und ‚Mensch‘ eben eine nicht graduell strukturierte Kategorie ist. Auch die Adjektive tatsächlich, vermeintlich, mutmaßlich und dergleichen, die das Zutreffen oder Nicht-Zutreffen der Eigenschaft Mensch ausdrücken (vgl. nicht-subsektive Adjektive in → A4.1.2.3), können nicht mit personalem Bezug nominalisiert werden.  

(26)

a. *die Totalen, *die Absoluten, *die Wahren, *die Echten b. *die Tatsächlichen, *die Vermeintlichen, *die Mutmaßlichen

Während bei mutmaßliche/vermeintliche/falsche Menschen die Extension nicht notwendigerweise bzw. überhaupt nicht eine Teilmenge der Menschen bzw. der personalen Entitäten ist, ist dies bei nominalem Gebrauch dieser Adjektive vorausgesetzt. Vgl. (27)

(a) Die mutmaßlichen Menschen, die auf dem Mars gesichtet wurden, erwiesen sich als Angehörige einer anderen Spezies.

versus: (b) *Die Mutmaßlichen, die auf dem Mars gesichtet wurden, erwiesen sich als Angehörige einer anderen Spezies. Diese Formen sind nur möglich, wenn nicht die biologische Klasse ‚Mensch‘ sondern eine andere Bedeutungskomponente (wie beispielsweise Menschlichkeit, oder politi-

D2 Nominalphrasen mit adjektivischem oder partizipialem Kopf

1533

sche Haltung) modifiziert wird, oder aber in fiktionalen Kontexten (vgl. (29)), in denen es Menschenähnliche gibt. Wie die folgenden Belege hingegen zeigen, können diese Adjektive durchaus in elliptischen Nominalphrasen verwendet werden: (28)

Fast scheint es, dies sei die Farbe des Wahnsinns, des vermeintlichen und des tatsächlichen, entpuppt sich doch die Ärztin am Schluss als die einzig wahre Verrückte. (Die Südostschweiz, 21.01.2008)

Dies liegt darin begründet, dass hier über ein Antezedens die Intension von Wahnsinn bei der Modifikation zur Verfügung steht. In einigen wenigen Fällen kann vermeintlich auch Mensch modifizieren, wie etwa in folgendem fiktionalen Kontext: (29)

Er war Tausende von Jahren alt, er wußte mit anderen Menschen umzugehen; auch wenn diese vermeintlichen Menschen nur Androiden waren. (Internet)

Ebenso kann ein derartiges Adjektiv in Zusammenhang mit Menschen gebraucht werden, wenn es auf die Bedeutungskomponente des Humanitären abzielt. (30)

Und bitte zeigen Sie mir, ob bei diesen Schlägertypen etwas von Menschlichkeit zu entdecken ist! Dazu kann ich nur sagen, diese angeblichen Menschen sind sogar schlimmer als Tiere, denn Tiere töten nicht aus Mordlust […] (Internet)

In diesem Beleg wird also nicht das Menschsein (die biologische Kategorienzugehörigkeit), sondern die Menschlichkeit in Abrede gestellt beziehungsweise in Zweifel gezogen. Die folgenden Belege verdeutlichen, dass die oben genannten intensionalen Adjektive nominal verwendet werden können, wenn die NPs Nicht-Personales bezeichnen. (31)

Zugleich lernte man, dass der einzelne Mensch im »Reich der Zerrspiegel« lebt und sich aus eigener Anstrengung heraus eine facettenreiche Welt schafft, die jeden Augenblick droht im Nichts, im Sog des Vermeintlichen unterzugehen. (Die Zeit (Online-Ausgabe), 04.09.2008)

(32)

Ich habe argumentiert, dass aus dem Gefühlten das Tatsächliche resultiert. (Kuhn, Fritz. Kündigungsschutz. Rede im Deutschen Bundestag am 03.04.2003, Hrsg: Bundestagsfraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN)

Der Referenzbereich der Konstruktion mit nicht-personaler Interpretation ist breiter und weniger klar umrissen. Er umfasst eine Reihe abstrakter Gegenstände wie Eigen-

1534

D Nominale Syntagmen

schaften, Zustände, Sachverhalte oder Ereignisse, die mit den oben behandelten Modifikatoren kompatibel sind.

D2.1.3.2 Unterschiedliche Beschränkungen auf den Partizipialtyp Ein besonders deutlicher Unterschied zwischen den beiden Konstruktionen manifestiert sich beim Gebrauch von Partizipien, der durch die Argumentstruktur der zugrunde liegenden Verben (z. B. belebtes Subjekt) und Diathese (Aktiv beim Partizip Präsens, Passiv bei Partizip Perfekt und modalem Partizip mit der Partikel zu) bedingt wird (→ D7.2.1). Da Menschen sowohl als Agens und Experiens als auch als Patiens und Benefaktiv fungieren können, können alle drei Partizipialformen im nominalen Gebrauch Personales bezeichnen.  

(33)

Sicherheitskräfte versuchten, die Protestierenden auseinanderzutreiben. (dpa, 03.08.2009)

(34)

Und die Wartenden an allen nachfolgenden Haltestellen werden auch ungeduldig… (Nürnberger Nachrichten, 15.08.2009)

(35)

Die Sterbenden werden weiterhin von Angehörigen und Mitarbeitern des Hospizvereins betreut. (St. Galler Tagblatt, 04.04.1998)

(36)

Bei Kündigungen müssen die Arbeitgeber die zu Entlassenden insbesondere nach Alter und Unterhaltspflichten auswählen. (Berliner Zeitung, 26.02.2001)

(37)

Und danach Champagner, Küsschen links und Küsschen rechts für den Sieger und die Besiegten. (Berliner Zeitung, 28.07.2001)

(38)

Und nie sah man die Verdammten aus dieser Nähe. (Die Zeit (Online-Ausgabe), 10.04.2008)

(39)

Da passt der 200. Geburtstag von Pater Alberik Zwyssig (1809 bis 1854) bestens, um einem fast Vergessenen ein wenig Glanz zuteil werden zu lassen. (St. Galler Tagblatt, 18.11.2008)

Beim Nicht-Personalen, Unbelebten hingegen ist die Auswahl der möglichen Verben im Partizip stark beschränkt: Es finden nur die Partizipien Präsens solcher Verben Verwendung, die in ihrer Argumentstruktur kein belebtes Subjekt benötigen. (40)

„Das Faszinierende und Irritierende ist, Instrumente zu hören, die man nicht sieht – es gibt nur die Künstler auf der Bühne und ihre Stimme“,  

D2 Nominalphrasen mit adjektivischem oder partizipialem Kopf

1535

erläutert Indra, der eine deutsche Szene-Größe ist. (Braunschweiger Zeitung, 30.10.2009) (41)

Nicht nur will sie mit knirschender Rhetorik uns ein Land als Welt verkaufen, sondern auch das Furchteinflößende als das Hinreißende: … (Berliner Zeitung, 20.02.2002)

Das Partizip Perfekt findet beim Nicht-Personalen jedoch wieder breitere Anwendung, da die oben beschriebenen Beschränkungen aufgrund des Passivs nicht relevant sind. (42)

Ihm hat es das Verborgene, das vielleicht gar Vergessene oder an den Rand Gedrängte angetan, das er aus der Stille der Umgebung herauszulösen versteht, womit eine Identität erst zustande kommt. (St. Galler Tagblatt, 25.02.1998)  

Der Gebrauch des modalen Partizips mit zu ist ebenfalls zulässig: (43)

Die Anspannung der Besucher auf das zu Erwartende war zu spüren. (Braunschweiger Zeitung, 13.05.2008)

(44)

[…] aber ich habe Respekt davor, das nicht zu Verteidigende zu verteidigen. (die tageszeitung, 24.06.2006)

D2.2 Formale Eigenschaften Aus dem Zwischenstatus zwischen Modifikation und Nomination (bzw. zwischen Adjektiv und Substantiv) ergeben sich auf der strukturellen und der semantischen Ebene teilweise sprachspezifisch, aber auch innerhalb einer Sprache unterschiedliche Möglichkeiten, in welchem Maße jeweils adjektivische oder substantivische Eigenschaften realisiert werden. Die formale Ebene umfasst die folgenden Komponenten (→ D2.2.1 bis D2.2.4): – Flexion des Adjektivs hinsichtlich Kasus, Genus und Numerus, d. h. die Rolle der in den Vergleichssprachen ganz unterschiedlich ausgeprägten flexivischen Markierung des attributiven Adjektivs sowie den Umgang mit Genusvariabilität (falls vorhanden) – Möglichkeit des nominalen Gebrauchs von Komparativ- und Superlativformen des Adjektivs – die Form der adjektivspezifischen Modifikation durch Supplemente und Komplemente beim nominalen Gebrauch – obligatorische und optionale Determination sowie ihre formale Realisierung  

1536

D Nominale Syntagmen

Zudem ergeben sich folgende semantische Parameter (→ D2.3): – Ergänzbarkeit durch nominale Elemente und hieraus resultierende Bedeutungsunterschiede – der Referenzbereich beim Bezug auf Personen und Nicht-Personales als Reflex der Belebtheitshierarchie – das Kontinuum vom Adjektiv zum Substantiv auf formaler und auf semantischer Ebene

D2.2.1 Flexion und Position des nominal gebrauchten Adjektivs D2.2.1.1 Ausschluss von nicht attributiv verwendbaren Adjektiven Im Deutschen können nur solche Adjektive nominal verwendet werden, die in attributiver Position auftreten können; oder, mit anderen Worten, rein prädikativ verwendbare sind hier ausgeschlossen: (45)

*das Schade, *das Umsonste, *die Alleinen

Dass dies in erster Linie eine syntaktische Beschränkung ist, zeigt die Verwendbarkeit von synonymen Ausdrücken. (46)

das Bedauerliche, das Zwecklose, die Einsamen

Dies ist im Englischen ebenso der Fall. Im Französischen, Polnischen und Ungarischen gibt es, mit wenigen, z. T. entlehnten Ausnahmen, keine Adjektive, die auf den prädikativen Gebrauch beschränkt sind, deswegen zeigt sich hier kein Unterschied; vgl. dazu → B1.1.4.1, → B1.3.1.1.  

Prädikative Adjektive im Englischen An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass es Belege für den Gebrauch der von Huddleston/Pullum (2002) als „never attributive“ klassifizierten Adjektive in den besagten Konstruktionen gibt. (47) ENG

In fact, the scar marked the dividing line between the alive and the dead of his body the way a ragged and permanent tear identifies where a sleeve has been torn from a shirt. ,Eigentlich markierte die Narbe die Trennlinie zwischen dem Lebendigen und dem Toten an seinem Körper, so wie ein zerfetzter und bleibender Riss zeigt, wo ein Ärmel von einem Hemd abgerissen wurde.‘ (COCA, 2003 FIC)

D2 Nominalphrasen mit adjektivischem oder partizipialem Kopf

1537

Aber diese Adjektive treten, entgegen der Aussagen von Huddleston/Pullum (2002), auch in pränominaler Position auf. (48) ENG

May they return to us, their women, the alive, hearty, healthy, whole, loveable men who left in early December. ,Mögen sie zu uns, ihren Frauen, zurückkehren, die lebenden, tüchtigen, gesunden, unversehrten, liebenswerten Männer, die Anfang Dezember fortgingen.‘ (COCA, 1991 NEWS)

Die Bedeutung der Position des Adjektivs im Englischen wird im Zuge der Varianzparameter eingehender behandelt (→ D2.2.3.2).

D2.2.1.2 Obligatorische Flexion Im Deutschen zeigt sich die bei Adjektiven übliche Markierung hinsichtlich Kasus, Genus und Numerus, im Französischen ist das nominal gebrauchte Adjektiv für Genus und Numerus markiert, im Ungarischen weist es Kasus- und Numerusmarkierungen auf und im Polnischen ist es ebenso wie im Deutschen für Kasus, Genus und Numerus markiert. Das französische Adjektiv muss jedoch, anders als im Deutschen, nicht zwangsläufig flektiert werden. Dies lässt sich mithilfe eines nicht flektierenden Fremdwortes aus dem Englischen wie sexy zeigen. (49) FRA

les

sexy ont la peau claire sexy hab.3PL DEF Haut klar ‚die Attraktiven haben reine Haut‘ (Internet)

DEF . PL

(50) FRA

Trop sexy, et nous ne sommes pas encore prêts pour le sexy. NEG noch bereit.PL für DEF sexy zu sexy und 1PL NEG sind ‚Zu freizügig, und wir sind noch nicht bereit für das Freizügige.‘ (Internet)

Eine weitere Ausnahme bezüglich der Flexionsbedingung zeigt sich im Englischen; da Adjektive generell keine Flexion aufweisen, bleiben sie auch im nominalen Gebrauch unmarkiert. Das Ungarische verfügt über keine nicht flektierenden Adjektive, somit sind auch die nominal gebrauchten in jedem Falle flektiert. Im Polnischen gibt es, ebenso wie im Deutschen, einige wenige Adjektive, die nicht flektieren (z. B. kontent ‚zufrieden‘, sexy ‚sexy‘). Diese können nicht nominal gebraucht werden. Allerdings ist der Gebrauch der nicht-flektierten Form, oder genauer: der nicht adjektivisch flektierten Form, bei Farbadjektiven, die die Farbe selbst bezeichnen (vgl. (51)), möglich.  

1538

(51)

D Nominale Syntagmen

Dieses Grün steht mir wirklich gar nicht. (Duden-Grammatik 2009: 351)

Es liegt hier ein deutlicher semantischer Unterschied gegenüber dem Gebrauch adjektivisch flektierter Nominalisierungen der Farbadjektive vor, wie die beiden folgenden Belege zeigen. Während etwa das Schwarze bzw. das Weiße eine unbelebte (konkrete oder auch abstrakte) Substanz mit der entsprechenden Farbeigenschaft bezeichnet, bezeichnet das Schwarz bzw. das Weiß die entsprechende Farbeigenschaft selbst: (52)

Zubereitung: Lauch längs einschneiden und unter fließend kaltem Wasser abwaschen. Das oberste, dunkle Grün entfernen und den Lauch in Ringe schneiden. In 30 g Butterschmalz nur das Weiße des Lauchs anschwitzen. Tomatenmark zugeben und mit anschwitzen. (Braunschweiger Zeitung, 02.04.2013)  

Unbeschadet des grundsätzlichen Unterschieds können auch Lexikalisierungen wie hier das Grün vorliegen, die nicht die Farbe, sondern eine spezielle Träger-Entität (‚grüner Teil einer Pflanze‘) bezeichnen.

(53)

Es ist ein Charakteristikum aller Aufarbeitung dunkler Vergangenheiten, daß sie mit wachsender Gewöhnung an die Fakten das Schwarze aufhellt und das Weiße eintrübt; so ist es auch mit den Mechanismen von Widerstand und Anpassung in der DDR geschehen. (Berliner Zeitung, 03.04.1998)

Auch die Kontrastsprachen kennen beide Verwendungsweisen der Farbadjektive, wobei im Englischen, Französischen und Ungarischen mangels flexivischer Differenzierbarkeit die Lesart kontextabhängig erschlossen werden muss. Lediglich das Polnische bildet hier eine Ausnahme, da es für Farbbezeichnungen separate Substantive gibt (vgl. beispielsweise niebieski ‚blau‘ und niebieskość ‚Blau‘). (54) DEU ENG FRA UNG POL

das Blau ihrer Augen the blue of her eyes le bleu de ses yeux a szeme kékje niebieskość jej oczu

Ebenso ist es möglich, unflektierte und nicht-determinierte Adjektive in bestimmten Kontexten als Gegensatzpaare (ähnlich den Paarformeln wie bei Nacht und Nebel und mit Kind und Kegel) zu gebrauchen:

D2 Nominalphrasen mit adjektivischem oder partizipialem Kopf

(55) DEU ENG FRA UNG

1539

die Kluft zwischen Arm und Reich the gap between rich and poor le fossé entre pauvre et riche a szegény és a gazdag közötti szakadék

Das Polnische bildet auch hier wieder eine Ausnahme, da Adjektive auch in diesem Kontext nicht unflektiert gebraucht werden können. POL

przepaść pomiędzy biednymi i bogatymi wörtl.: ,die Kluft zwischen (den) Armen und (den) Reichen‘

D2.2.1.3 Numerus Bezüglich Numerus zeigt sich mehr Varianz, da alle Vergleichssprachen Singular und Plural sowie Individuativa und Kontinuativa unterscheiden (→ B1.4.2), aber im Hinblick auf Adjektivflexion zum Teil erheblich voneinander abweichen. So wird Numerus im Englischen bekanntermaßen nicht am Adjektiv markiert. Die Konstruktion mit personaler Interpretation wird immer pluralisch verstanden, was sich in der SubjektVerb-Kongruenz offenbart. (56) ENG

He said: ‘The successful are always tempted to regard their success as a sort of blessing or reward for righteousness. This can lead to judgements being made about the unsuccessful, the unemployed, the poor and the unintelligent, which are both uncharitable and untrue.’ ,Er sagte: „Die Erfolgreichen sind immer versucht, ihren Erfolg als eine Art Segen oder Belohnung für Rechtschaffenheit zu betrachten. Das kann dazu führen, dass Urteile über die Erfolglosen, die Arbeitslosen, die Armen und die Unintelligenten gefällt werden, die sowohl lieblos als auch unwahr sind.“‘ (BNC, A3G 521-2)

Dies hat erheblichen Einfluss auf den Referenzbereich der jeweiligen Konstruktion (vgl. → D2.3.1).

D2.2.1.4 Genus Ein weiterer, wesentlicher Aspekt bei der Wortklassenzuordnung ist die Spezifizierung hinsichtlich Genus. Substantive verfügen im Deutschen, im Französischen und im Polnischen über ein inhärentes Genus; das attributive Adjektiv kongruiert mit dem Genus des Substantivs, ist diesbezüglich also variabel (→ B2.2, → C2).

1540

D Nominale Syntagmen

Die hier betrachteten Elemente sind ebenfalls flexibel, was die Spezifizierung für Genus anbelangt. Eine NP mit einem Adjektiv wie beispielsweise böse, das sowohl menschliche Eigenschaften als auch etwas Abstraktes denotieren kann, kann bei der nominalen Verwendung ebenfalls auf Personales oder Nicht-Personales referieren. Dabei zeigt sich der Effekt der Genera: Neutra bezeichnen Nicht-Personales (59), Maskulina (58) und Feminina (57) Personales. (57)

a. Im Märchen herrschen klare Fronten: Die Stiefmutter ist die Böse, und jeder ist froh, wenn sie das Weite sucht. (Mannheimer Morgen, 07.08.2007) b. Nie würde sie eine Böse nur aus purer Lust auf Abwechslung spielen: […] (dpa, 15.10.2008)

(58)

a. Doch als der Schwindel aufzufliegen droht, bringt sich der Böse um. (Berliner Zeitung, 23.01.1998) b. Nur wer die Guten will, braucht auch einen Bösen, und sei es nur dazu, um die Guten überhaupt zu erkennen. (Berliner Zeitung, 26.11.1999)

(59)

Was ist denn heute überhaupt das Böse? (Mannheimer Morgen, 14.05.2008)

Das nominal verwendete Adjektiv kann bei allen drei Genera auftreten und wird dementsprechend flektiert. Demzufolge weist es, wie Adjektive im Allgemeinen, keine Festlegung auf ein Genus auf. Bei den Kontrastsprachen ergibt sich ein ähnliches Bild. Im Französischen können Adjektive wie méchant ‚böse‘ und gentil ‚nett/gut‘ im nominalen Gebrauch in der maskulinen Form entweder Individuen (60a) und Gruppen von Personen (60b) bezeichnen oder sich auf etwas Nicht-Personales beziehen (60c). (60) a. Il faut beaucoup plus de méchants que de gentils als von nett.PL FRA es braucht viel mehr von böse.PL pour faire une série correcte. um mach.INF DEF Serie korrekt ‚Man braucht viel mehr Böse als Gute, um eine vernünftige Serie zu machen.‘ (Internet) b. Le méchant est l’ exact opposé du gentil qui DEF böse ist DEF exakt Gegensatz von.DEF nett RPRO va 3SG . M . AKK affronter. dem gegenübertret.INF geh.3SG ‚Der Böse ist das exakte Gegenstück zu dem Guten, der ihm die Stirn bieten wird.‘ (Internet) c. la différence entre le mal et le bon DEF Unterschied zwischen DEF schlecht und DEF gut ‚der Unterschied zwischen dem Bösen und dem Guten‘

D2 Nominalphrasen mit adjektivischem oder partizipialem Kopf

1541

Ebenso wie im Deutschen wird zwischen männlichen und weiblichen Individuen unterschieden (61a), allerdings gibt es wegen der Differenzierung im Plural darüber hinaus die Möglichkeit, rein weibliche Gruppen von Personen zu bezeichnen (61b). (61) a. la méchante et la gentille de DEF . F böse.F und DEF . F nett.F von FRA ‚die Böse und die Gute der Geschichte‘ b. les méchantes et les gentilles DEF . PL böse.. F . PL und DEF . PL nett.F . PL ‚die Bösen und die Guten (Frauen)‘

l’ DEF . F

histoire Geschichte

D2.2.2 Komparation Die folgenden Beispiele verdeutlichen, dass die nominal verwendeten Adjektive komparierbar sind. Dies betrifft sowohl die personale als auch die nicht-personale Lesart. (62)

Die Reichen werden immer reicher, die Ärmeren immer ärmer. (Nürnberger Zeitung, 20.05.2006)

(63)

Die Verantwortlichen dürfen aber keine Maßnahmen übersehen, die helfen, die schlimmsten Auswirkungen der Krise auf die Ärmsten zu lindern. (Hannoversche Allgemeine, 10.12.2008)

(64)

Dies war allerdings von Anfang an eher eine Art Public-Relation-Gag, der jedoch deutlich von dem Glauben erzählt, das Unglaublichste zu denken und das Unmöglichste für möglich zu halten. (http://de.wikipedia.org/wiki/ Empire_State_Building: Wikipedia, 2011)

(65)

Die Russen haben immer die zeitliche Sehnsucht, sie sehen in ihrer Vergangenheit das Schönere, nicht in der Gegenwart. (Berliner Zeitung, 23.07.2005)

Auch in den Kontrastsprachen kann in diesen Kontexten Komparation erfolgen. (66) ENG

New aid to the poorest is given as grants, not loans. ,Neue Beihilfe für die Ärmsten wird als Zuschuss vergeben, nicht als Darlehen.‘ (BNC, AM8 180)

(67) ENG

In a Christian society, it is a fundamental principle that people help each other, and that the stronger and the wealthier have an obligation to help the weaker and the poorer.

1542

D Nominale Syntagmen

,In einer christlichen Gesellschaft ist es ein fundamentales Prinzip, dass die Menschen einander helfen und dass die Stärkeren und die Wohlhabenderen eine Verpflichtung haben, die Schwächeren und die Ärmeren zu unterstützen.‘ (BNC, ANA 1257) (68) ENG

Ramsay absorbed the late baroque style of smooth theatricality, full of implied movement, but he was also attracted to the French Academy in Rome with its emphasis on the more informal. ,Ramsay absorbierte den spätbarocken Stil geschmeidiger Theatralik, voller angedeuteter Bewegung, aber er fühlte sich auch hingezogen zu der französischen Akademie in Rom mit ihrer Betonung des eher Informellen.‘ (BNC, CC0 524)

(69) FRA

les

(70) FRA

Une

(71) UNG

Csak a legerősebbek elintézhetik ezt nur DEF kräftig.SUPL . PL erledig.POT . 3PL DEM . AKK ‚Nur die Kräftigsten können diese Arbeit erledigen.‘

a

(72) UNG

Még a leglehetetlenebbet is lehetségesnek noch DEF unmöglich.SUPL . AKK auch möglich.DAT ‚Wir halten selbst das Unmöglichste für möglich.‘

tartjuk. halt.1PL . DEF

(73) POL

Najszybsi osiągnęli cel po południu. schnell.SUPL . PL erreich.PRT . 3PL Ziel.AKK an Nachmittag.LOK ‚Die Schnellsten erreichten das Ziel am Nachmittag.‘

pauvres sont aussi les plus seuls arm.PL sind auch DEF . PL KOMPR einsam.PL ‚die Armen sind auch die Einsameren/Einsamsten‘ (Internet) DEF . PL

union pour le meilleur ou pour le pire? Einigung für DEF gut.KOMPR oder für DEF schlecht.KOMPR ‚Eine Vereinigung zum Besseren oder zum Schlechteren?‘ (Internet)  

INDEF

DEF

dolgot. Sache.AKK

D2.2.3 Modifikation D2.2.3.1 Adverbiale Modifikation Die Modifikation der betroffenen Elemente durch Adverbien bzw. – bezogen auf das Deutsche – auch durch unflektierte adverbial gebrauchte Adjektive ist möglich. Dies ist bei Substantiven nicht der Fall.  



D2 Nominalphrasen mit adjektivischem oder partizipialem Kopf

1543

(74)

Dass sie den Blick aufs Ganze hat und sich zum Beispiel nicht darauf reduziert, die Steuern für die ganz Reichen zu senken. (Rhein-Zeitung, 18.09.2009)

(75)

Die private Lust-und-Laune-Mobilität wird öffentlich erfolgen (mindestens für die weniger Reichen unter uns). (Die Südostschweiz, 23.07.2008)

(76)

Mit so gut wie keinem Training schaffte Puisis schließlich das fast Unmögliche, erst im Halbfinale musste er dem fehlenden Training Tribut zollen. (Mannheimer Morgen, 19.09.2006)

(77)

Das ist eine Methode, das ohnehin Unabänderliche zum nationalen, noch viel mehr aber ganz persönlichen Erfolg zu erklären. (Oberösterreichische Nachrichten, 10.07.1999)

(78) ENG

quantum theory, whose characteristic it is to replace the continuous by the discrete, the smoothly varying by the fitful ‚Quantentheorie, deren Charakteristik es ist, das Stetige durch das Diskrete zu ersetzen, das gleichmäßig Variierende durch das Ruckartige‘ (BNC, EW6 101)

(79) ENG

the wording of his own work is not bland and ranges from the delphic to the painfully controversial ,die Ausdrucksweise seines eigenen Werks ist nicht langweilig und reicht vom Delphischen bis zum schmerzhaft Kontroversen‘ (BNC, A42 74)

(80) FRA

(81) FRA

Ces

films où il y avait les vraiment bons, les Film.PL wo es gab DEF . PL wirklich gut.PL DEF . PL vraiment méchants, la belle au milieu, des DEF schön.F in.DEF Mitte INDEF . PL wirklich böse.PL paysages fascinants. faszinierend.PL Landschaft.PL ‚Jene Filme, in denen es die wirklich Guten, die wirklich Bösen, die Schöne in der Mitte, faszinierende Landschaften gab.‘ (Internet) DEM . PL

Ce

jeu souffle le chaudni et le froid et oscille Spiel pust.3SG DEF heiß und DEF kalt und schwank.3SG entre le très bon et le très mauvais. sehr gut und DEF sehr schlecht zwischen DEF ‚Dieses Spiel ist sehr widersprüchlich und reicht vom sehr Guten bis zum ganz Schlechten.‘ (Internet) DEM

1544

D Nominale Syntagmen

(82) UNG

a

nagyon gazdagok sehr reich.PL ‚die sehr Reichen‘

(83) UNG

a

(84) POL

w zakresie od zaskakująco łatwego do całkowicie im Bereich.LOK von überraschend.ADV leicht.GEN zu total.ADV niemożliwego unmöglich.GEN ‚im Bereich vom überraschend Einfachen zum total Unmöglichen‘ (Internet)

DEF

teljesen elégedettek total zufrieden.PL ‚die total Zufriedenen‘ DEF

Auch wenn dies kein Kriterium für die Unterscheidung zwischen Substantiv und Adjektiv ist, sei hier kurz erwähnt, dass das Hinzutreten von weiteren attributiven Adjektiven natürlich weiterhin möglich ist. (85)

Schämen wir uns also ein wenig: für all die armen Reichen dieser Stadt. (die tageszeitung, 30.04.2008)

(86)

Gut 2,5 Milliarden Euro lässt sich der Kasino-Gigant aus Las Vegas den Lifestyle-Spaß kosten, der vor allem die neuen hedonistischen Reichen aus China und den boomenden südostasiatischen Ländern im Visier hat. (Berliner Zeitung, 13.08.2008)

D2.2.3.2 Modifikation durch Präpositional- und Kasusphrasen Unterschiede zwischen den Kategorien Substantiv und Adjektiv treten im Deutschen bei der Verwendung von Ergänzungen deutlich zutage. Attributive Adjektive (und Partizipien) können im Gegensatz zu Substantiven durch vorangestellte Präpositionalphrasen oder Kasusphrasen modifiziert beziehungsweise ergänzt werden (→ B1.3.1.1). Folgende Belege zeigen, dass auch die hier untersuchten Elemente diesbezüglich adjektivisches Verhalten aufweisen.  

(87)

Die auf dem Marktplatz Wartenden schließen sich den Kindergruppen, die aus der Kirche kommen, an. (Rhein-Zeitung, 06.11.2009)

(88)

Die im Wind Wandernden, die im Garten Gethsemane Betenden, die auf Golgatha Gekreuzigten, ins Grab Gelegten und am dritten Tag Auferste-

D2 Nominalphrasen mit adjektivischem oder partizipialem Kopf

1545

henden tragen heutige Kleidung, Jeans, Hemden, Arbeitsoveralls. (Berliner Zeitung, 12.10.2002) (89)

Möglicherweise werden die Informationen vom „liberalen“ Medwedjew aber auch nur gezielt ausgestreut, um allen auf einen Neuanfang der Beziehungen mit Russland Hoffenden Sand in die Augen zu streuen. (dpa, 03.03.2008)

(90)

Das Gericht verurteilte den der Tat Angeklagten zu sieben Monaten Haft und setzte die Strafe für vier Jahre zur Bewährung aus. (Braunschweiger Zeitung, 02.07.2009)

(91)

Er singt und bewegt sich im Kreise von Tänzern zum Song „They don’t care about us“, und es sieht viel mehr nach einem Popstar denn nach einem dem Tod Geweihten aus. (Hannoversche Allgemeine, 04.07.2009)

Im Französischen kann das Adjektiv ebenfalls durch Präpositionalphrasen ergänzt werden. Die so erweiterte Adjektivphrase wird dabei immer postnominal gestellt. (92) FRA

Les

élèves bons en langues sont en général bons partout. DEF . PL Schüler.. PL gut.PL in Sprachen sind in allgemein gut.PL überall ‚Die Schüler, die in Sprachen gut sind, sind im Allgemeinen überall gut.‘ (Internet)

Auch nominal gebrauchte Adjektive können durch Präpositionalphrasen ergänzt werden. (93) FRA

uniquement pour les bons en DEF . PL gut.PL in ausschließlich für ‚nur für die in Englisch Guten‘ (Internet)

anglais Englisch

Im Französischen können Adjektive durch mit de erweiterte Infinitive ergänzt werden. (94) FRA

des

jeunes gens contents de travailler jung.PL Leute zufrieden.PL zu arbeit.INF ‚junge Leute, die glücklich sind, dass sie arbeiten‘ (Internet) INDEF . PL

Nominal gebrauchte Adjektive können ebenso ergänzt werden.

1546

(95) FRA

D Nominale Syntagmen

les

contents d’ avoir gagné et les contents d’ glücklich.PL zu hab.INF gewonnen und DEF . PL glücklich.PL zu avoir perdu verloren hab.INF ‚die, die glücklich sind, gewonnen zu haben, und die, die glücklich sind, verloren zu haben‘ (Internet) DEF . PL

Auch im Polnischen und Ungarischen kann das nominal gebrauchte Adjektiv (oder Partizip) mit Komplementen auftreten. (96) UNG

a

buszra várakozók DEF Bus.SUB wart.PTZP . PRS . PL ‚die auf den Bus Wartenden‘

(97) POL

co sprawia, że wielu czekających na rezygnację was bewirkt.3SG dass viel.PL wart.PTZP . PRS . GEN . PL auf Rücktritt.AKK rozstraja sobie nerwy strapazier.3SG REFL Nerv.AKK . PL ‚was zur Folge hat, dass es die Nerven vieler auf den Rücktritt Wartender strapaziert‘ (Internet)

Komplexe Adjektivphrasen im Englischen Im Englischen suggeriert der Gebrauch von Erweiterungen der Adjektiv- oder Partizipialphrasen durch Präpositionalphrasen und nicht-finite Teilsätze wie in den Belegen (98)–(100) zunächst, dass das nominal gebrauchte Adjektiv hier nicht dem pränominalen attributiven Adjektiv entspricht, sondern dem postnominalen. Komplexe Adjektivphrasen werden gewöhnlich postnominal gestellt (vgl. Huddleston/Pullum 2002 und → D1.2.3.1.1.2). (98) ENG

The hypothesis of God offers no worthwhile explanation for anything, for it simply postulates what we are trying to explain. It postulates the difficult to explain, and leaves it at that. ,Die Hypothese der Existenz Gottes bietet keine nennenswerte Erklärung für irgendetwas, weil sie einfach postuliert, was wir zu erklären versuchen. Sie postuliert das schwer zu Erklärende und belässt es dabei.‘ (GloWBe, IE G)

(99) ENG

It is not a business for the thin-skinned or weak at heart. ,Es ist keine Sache für die Dünnhäutigen oder die schwachen Herzens.‘ (COCA, 1993 MAG)

D2 Nominalphrasen mit adjektivischem oder partizipialem Kopf

(100) ENG

1547

In 1987, the Reagan administration decided that they were going to appoint me as the ambassador of health for the United States, with a mandate of reaching the hard to reach and the high at risk with regards to AIDS specifically and other health-related issues, but specifically AIDS. ,Im Jahre 1987 beschloss die Reagan-Regierung mich zum Gesundheitsbotschafter für die Vereinigten Staaten zu berufen, mit einem Mandat, besonders die Schwer-zu-Erreichenden und die in Hinblick auf AIDS Hoch-Gefährdeten zu erreichen, und für andere Aufgaben im Bereich Gesundheit, aber insbesondere AIDS.‘ (COCA, 1993 SPOK)

Jedoch werden eben genau jene komplexen APs durchaus auch in pränominaler Position verwendet. (101) ENG

the elderly, the young and the high-at-risk people ,die Älteren, die Jüngeren und die hochgradig gefährdeten Menschen‘ (Internet)

(102) ENG

over 60% of the high at-risk students ,über 60% der Hoch-Risiko-Studenten‘ (Internet)

(103) ENG

one of those weak at heart people ,einer von diesen weichherzigen Leuten‘ (Internet)

(104) ENG

a weak-at-heart girl ,ein kleinmütiges Mädchen‘ (Internet)

(105) ENG

the difficult to define concept that wine makers often use to describe a key component of their art ,der schwer zu definierende Begriff, den Weinmacher oft benutzen, um eine Schlüsselkomponente ihrer Kunst zu beschreiben‘ (Internet)

(106) ENG

the difficult to define border region between Southwest, Central, and South Asia ,die schwer zu definierende Grenzregion zwischen Südwest-, Zentral- und Südasien‘ (Internet)

Diese Daten sprechen dafür, dass die Möglichkeit, Adjektive bzw. Adjektivphrasen zu nominalisieren, unabhängig von der prä- oder postnominalen Position der entsprechenden Adjektivattribute gegeben ist.

1548

D Nominale Syntagmen

D2.2.4 Determination Die Vergleichssprachen unterscheiden sich deutlich hinsichtlich des Spektrums an möglichen Determinativen: Während das Deutsche und das Französische diesbezüglich völlig frei sind, weist das Englische starke Beschränkungen auf. Hier kann nur der definite Artikel benutzt werden, in einigen Fällen finden sich bei der Referenz auf Personen jedoch auch possessive oder demonstrative Determinative. (107) a. ‘Bury your dead in the best grave we have,’ is their first response. ENG ,„Begrabt eure Toten im besten Grab, das wir haben“, ist ihre erste Antwort.‘ (BNC, ACG 439) b. What’s being done, for our disabled? ,Was wird getan, für unsere Behinderten?‘ (BNC, BM4 1122) (108) a. ‘These dead are my responsibility,’ replied the policeman. ENG ,„Diese Toten liegen in meiner Verantwortung“, antwortete der Polizist.‘ (BNC, H84 2287) b. In addition to those unemployed who are not claiming benefits […] ,Zusätzlich zu jenen Arbeitslosen, die keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen […]‘ (BNC, BNW 280) Im Französischen und Deutschen können neben definiten Determinativen (bzw. das Polnische betreffend: neben Adjektiven in vergleichbarer Funktion) auch Indefinita verwendet werden: (109) FRA

Que dans une même nation il y a quelques riches et INDEF selbe Nation es gibt einige reich.PL und dass in beaucoup de pauvres. PART arm.PL viel ‚Dass es in ein und derselben Nation einige Reiche und viele Arme gibt.‘ (Internet)

(110) POL

A czy są tu jacyś nowi? neu.PL und PTL sei.3PL hier irgendwelch.PL ‚Gibt es hier irgendwelche Neuen?‘ (Internet)

(111)

Morgens um 7 Uhr verlasse ich mein Haus, behandle ein paar Kranke. (St. Galler Tagblatt, 17.11.1998)  

Zudem ist der Artikel im Deutschen optional.

D2 Nominalphrasen mit adjektivischem oder partizipialem Kopf

(112)

1549

Ex-Eisläuferin Katarina Witt (42) will für den Privatsender ProSieben aus Dicken Dünne machen. (Rhein-Zeitung, 08.01.2009)

Im Ungarischen muss der definite Artikel stehen. (113)

a kövérek ,die Dicken‘, a boldogtalanok ‚die Unglücklichen‘

Beim Bezug auf Nicht-Personales zeigt sich ein ähnliches Bild. Es wird ebenfalls der definite Artikel verwendet – dies betrifft natürlich nur die Sprachen, die über Artikel verfügen, d. h., das Polnische ist von dieser Generalisierung ausgeschlossen (dort wird das Adjektiv ohne Artikel benutzt).  



(114) DEU ENG FRA UNG

das Schöne the beautiful le beau a szép

Auch hier ist der Artikel im Deutschen optional. (115)

Schönes kommt damit zweifellos zu Schönem. (St. Galler Tagblatt, 24.07.2009)  

Zudem kann das Adjektiv in folgendem Kontext auch mit dem singularischen Zahlwort ein benutzt werden: (116)

Doch ein Gutes scheint der scharfe Frost der vergangenen Tage zu haben.

(117)

Über den Chip sei es ein Leichtes, den Namen des Halters zu erfragen. (Braunschweiger Zeitung, 16.03.2013)

Hierbei handelt es sich jedoch um einen Spezialfall, der nur in idiomatischer Verbindung ein Gutes haben / ein Leichtes sein (jemandem / für jemanden) möglich ist und der im Widerspruch zum kontinuativen Nominalaspekt der nicht-personalen Form steht. Im Französischen besteht darüber hinaus die Möglichkeit, die NP mit Teilungsartikel zu verwenden. (118)

du beau

1550

D Nominale Syntagmen

D2.3 Semantische Eigenschaften D2.3.1 Der Referenzbereich beim Bezug auf Personen und Nicht-Personales Es werden zunächst die formalen und funktionalen Eigenschaften der NP mit personaler Lesart erfasst, es folgen die mit nicht-personaler Lesart.

D2.3.1.1 Personales Nominal gebrauchte Adjektive mit personaler Lesart gibt es in allen fünf Vergleichssprachen (vgl. → D2.1).

Beschränkungen bezüglich des Partizipialtyps Da die Restriktionen bezüglich der Wahl des zu verwendenden Adjektivs semantischer Natur sind (vgl. → D2.1.3), sind hier keine sprachspezifischen Abweichungen zu erwarten. Beim Gebrauch von Partizipien zeigen sich jedoch strukturell bedingte Unterschiede zwischen den Vergleichssprachen. Wie in → D2.1.3.2 dargelegt, können sowohl das Partizip Präsens als auch das Partizip Perfekt im Deutschen problemlos zur Bezeichnung von menschlichen Individuen verwendet werden. Die Beispiele in → D2.2.3.2 zeigen zudem, dass die Partizipialphrasen unter Umständen sehr komplex werden können (die auf dem Marktplatz Wartenden, die im Garten Gethsemane Betenden). Im Französischen ist der nominale Gebrauch von einfachen und komplexen Partizipialphrasen ebenfalls möglich: (119) FRA

(120) FRA

le

parking est gratuit pour les travaillants du centre Parkplatz ist gratis für DEF . PL arbeit.PTZP PT ZP . PRS . PL von.DEF Zentrum ‚der Parkplatz kostet nichts für die im (Einkaufs-)Zentrum Arbeitenden‘ (Internet)

DEF

l’

exposition générale de l’ association, elle est ouverte Ausstellung allgemein von DEF Verein 3 SG . F ist offen à tous les désirants de participer DEF . PL wünsch.PTZP . PRS . PL zu teilnehm.INF an alle ‚die Hauptausstellung des Vereins, sie ist offen für alle, die sich wünschen, teilzunehmen‘ (Internet) DEF

D2 Nominalphrasen mit adjektivischem oder partizipialem Kopf

(121) FRA

1551

deux étrangers parmi les tués dans l’ attentat DEF Attentat zwei Ausländer.PL unter DEF . PL töt.PTZP . PRF . PL in suicide Selbstmord ‚zwei Ausländer unter den beim Selbstmordattentat Getöteten‘ (Internet)

Im Polnischen können ebenfalls sowohl Partizip Präsens als auch Partizip Perfekt nominal gebraucht werden. (122) POL

Mówiący ciągle zmieniał temat. PT ZP . PRS . M ständig wechsel.PRT .3SG . M Thema.AKK sprech.PTZP ‚Der Sprechende wechselte ständig das Thema.‘ (Swan 2002: 300)

(123) POL

Skazany wrócił do verurteil.PTZP . PRF . M zurückkomm.PRT .3SG . M zu ‚Der Verurteilte kehrte zur Zelle zurück.‘ (ebd.: 305)

celi. Zelle.GEN

Im Englischen hingegen unterliegt der nominale Gebrauch des Partizips stärkeren Beschränkungen. Das Partizip Perfekt kann (weitestgehend) frei auftreten – es kommen sowohl einfache (the oppressed ‚die Unterdrückten‘, the wounded ‚die Verwundeten‘, the converted ‚die Bekehrten‘) als auch zusammengesetzte Formen (the open-minded ‚die Aufgeschlossenen/Toleranten‘, the light-hearted ‚die Leichtherzigen‘, the selfemployed ‚die Selbstständigen‘) vor. Allerdings kann das Partizip nicht durch vorangestellte Präpositionalphrasen erweitert werden (*the in the war wounded ,die im Krieg Verwundeten‘). Das Partizip Präsens kann im Englischen, anders als im Deutschen und Französischen, nur in wenigen Fällen nominal gebraucht werden. Wie die folgenden Beispiele suggerieren, scheint die Akzeptabilität durch die Temporär-Permanent-Dichotomie determiniert. In den Beispielen (124)–(129) drückt das Partizip permanentere Eigenschaften (im Sterbeprozess befindlich, lebendig, vermisst, kontaktfreudig) beziehungsweise habituelle Tätigkeiten (die regelmäßig Betenden, die Kirchgänger) aus, in den unakzeptablen Fällen ((130)–(132)) werden temporäre Eigenschaften beziehungsweise Tätigkeiten beschrieben. Ebenso wie beim Partizip Perfekt kann keine PPErweiterung stattfinden.  

(124) ENG

[…] it is a place where we attend to the sick and the dying. ,[…] es ist ein Platz, wo wir uns um die Kranken und die Sterbenden kümmern.‘ (BNC, H9L 2337)

(125) ENG

The living are sleeping among the dead. ,Die Lebenden schlafen mitten unter den Toten.‘ (Internet)

1552

D Nominale Syntagmen

(126) ENG

[…] the unmarked graves are being uncovered, the secret prisons are being discovered and the names of the missing at last being revealed. ,[…] die nicht gekennzeichneten Grabstätten werden aufgedeckt, die Geheimgefängnisse werden entdeckt und die Namen der Vermissten schließlich enthüllt.‘ (BNC, HHW 8231)

(127) ENG

the church-attending (people) in our culture wörtl.: ,die Kirchen B/besuchenden (Leute) in unserer Kultur‘

(128) ENG

the praying (people) among us ,die B/betenden (Leute) unter uns‘

(129) ENG

and they always seem to hire the more outgoing (people) ,und sie scheinen immer die K/kontaktfreudigeren (Leute) einzustellen‘ (Internet)

(130) ENG

the *(people) leaving were letting us take their table ,die Weggehenden überließen uns ihren Tisch‘ (Internet)

(131) ENG

Most of the *(people) arriving looked hungry. ,Die meisten der Ankommenden sahen hungrig aus.‘

(132) ENG

The second group began talking to the *(people) waiting (for the bus). ,Die zweite Gruppe begann mit den auf den Bus Wartenden zu sprechen.‘

Genus, Numerus und der Referenzbereich Gemäß dem generell verfügbaren Rahmen an Morphologie in der jeweiligen Sprache, ergibt sich für die Markierung von Genus folgendes Bild: Im Deutschen werden bei der personalen Lesart im Singular Maskulinum und Femininum unterschieden, im Französischen und Polnischen ist dies beim Plural ebenso der Fall. Interessanter ist der Fall von Numerus, da diese Kategorie in der englischen NP zwar relevant, jedoch nicht am Adjektiv markiert ist. Beim nominalen Gebrauch mit personaler Lesart sind die NPs im Englischen trotz fehlender Markierung pluralisch (→ D2.2.1.3). Durch den Gebrauch des definiten Artikels ergibt sich dabei eine generische Lesart, Spezifität wird nur bei dem (seltenen) Gebrauch von anderen definiten Determinativen (possessive und demonstrative, → D2.2.4) erzielt. Wenn der Kontext jedoch salient genug ist, können nominal gebrauchte Adjektive auch singularisch verwendet werden. In folgenden Partitivkonstruktionen beispielsweise dienen die NPs als Prädikationen zu einzelnen Individuen.

D2 Nominalphrasen mit adjektivischem oder partizipialem Kopf

1553

(133) ENG

“Image is everything,” echoed Hartly, the taller of the two, and the better dressed. ,„Image ist alles“, wiederholte Hartly, der Größere von beiden und der besser Gekleidete.‘ (COCA, 1992 FIC)

(134) ENG

Lena is chatting with a companion. Vera? Velma? Vida? Harry has overheard the name but not registered it. Arguably, V is the prettier of the two, but it is Lena who holds Harry’s gaze. ,Lena plaudert mit einer Begleiterin. Vera? Velma? Vida? Harry hat den Namen mitgehört, aber ihn nicht registriert. V ist wohl die Hübschere von den beiden, aber es ist Lena, die Harrys Blick anzieht.‘ (COCA, 2009 FIC)

Zudem können nominal gebrauchte Superlative evaluativer Adjektive wie beispielsweise good ‚gut‘ und great ‚groß‘ prädikativ verwendet werden. (135) ENG

Today, I’m the greatest of all time. ,Heute bin ich die/der Größte aller Zeiten.‘ (COCA, 2005 SPOK)

(136) ENG

“Little Cousin, you are the best!” ,„Kleine(r) Cousin(e), du bist die/der Beste.“‘ (COCA, 2004 MAG)

Durch kontextuelle Hinweise wie das singularische Personalpronomen I und die Anrede little cousin ‚kleiner Cousin/kleine Cousine‘ werden die NPs the best und the greatest of all time singularisch interpretiert. Im Gegensatz zum Englischen können NPs mit nominal gebrauchten Adjektiven im Deutschen, Französischen und Polnischen ohne Weiteres zur Referenz auf Individuen dienen. (137)

Ein anderer Kollege von der Hochschule, der uns bei der Wohnungssuche helfen will, ist ein von den neuen Zeiten Enttäuschter. (Berliner Zeitung, 04.08.2004)

(138) FRA

On a l’ impression qu’ un très grand est mort. dass INDEF sehr groß ist tot man hab.3SG DEF Eindruck ‚Man hat den Eindruck, dass ein sehr Großer gestorben ist.‘ (Internet)

(139) POL

Biedny stał przed kościołem. steh.PRT . 3SG . M vor Kirche.INS arm.M ‚Ein Armer/der Arme stand vor der Kirche.‘ (Brooks 1975: 362)

1554

D Nominale Syntagmen

Im Ungarischen können nominal gebrauchte Adjektive – wie im Englischen – nur in Ausnahmefällen wie beispielsweise in folgendem, salienten Kontext Singularbezug leisten.  

(140) UNG



Pityu (a sovány, aki kövér) RPRO dick Pityu DEF dünn ‚Pityu, der Dünne, der dick ist‘ (Internet)

In den Sprachen, die regulären Singularbezug mit nominal gebrauchten Adjektiven erlauben, ist auch eine spezifische Referenz mithilfe dieser Adjektive möglich. Das Zusammenspiel zwischen Markierung und Referenzbereich zeigt sich auch bei der Verwendung der unflektierten Adjektivpaare, wie beispielsweise arm und reich (→ D2.2.1.2). (141)

die Kluft zwischen Arm und Reich

Durch den Verzicht auf jegliche grammatische Information (Definitheit, Genus, Numerus) wird der Referenzbereich vergrößert – Arm und Reich bezeichnen hier nicht nur Personales oder Nicht-Personales, sondern die Gesamtheit des Denotats der beiden Ausdrücke. Es geht hier nicht ausschließlich um arme und reiche Menschen, sondern eben auch um all jenes, was das Arm- bzw. Reichsein impliziert. Ein scheinbares Gegenbeispiel liefert der Ausdruck durch Dick und Dünn, was lediglich eine nicht-personale Lesart erhalten kann. Allerdings handelt es sich bei diesem Ausdruck um eine idiomatische Wendung, zudem wird ein Personenbezug von der Bedeutung der Präposition durch verhindert, was wiederum den Einfluss des Kontextes auf den Referenzbereich verdeutlicht (vgl. → D2.3.1.3).  

Unabhängige Interpretationen von one im Englischen Huddleston/Pullum (2002) unterscheiden drei verschiedene Typen des Lexems one im Englischen: das Personalpronomen, das determinative one (das Numerale beziehungsweise die betonte Form des indefiniten Artikels) und das „pronominale“ one, das als Platzhalter in elliptischen NPs dient. (142) ENG

One shouldn’t take oneself too seriously. ,Man sollte sich selbst nicht zu ernst nehmen.‘

(143) ENG

She had taken only one book. ,Sie hatte nur EIN Buch genommen.‘

(144) ENG

This knife is blunt: have you got a sharper one? ,Dieses Messer ist stumpf. Hast du ein schärferes?‘

Die folgenden Daten belegen jedoch weitere Verwendungsweisen von one, die Parallelen zu den NPs mit nominal gebrauchten Adjektiven aufweisen. So tritt one auch als Platzhalter auf, wenn das Adjektiv nicht mithilfe eines Antezedens interpretiert wird. Hier lassen sich drei Typen unterscheiden: spezifische Bedeutungen (145), personale (146–152) und nicht-personale Lesarten (153–155).

D2 Nominalphrasen mit adjektivischem oder partizipialem Kopf

1555

Im folgenden Beispiel substituiert one das Substantiv day ‚Tag‘. (145) ENG

Have a good one. ,Hab einen guten (Tag).‘

Es erhält lediglich diese Bedeutung, d. h., kein anderes Substantiv könnte an diese Stelle treten. Dies ist vergleichbar mit den in → D2.3.2 angeführten Beispielen, in denen ein bestimmtes Substantiv getilgt wird, wie etwa eine Illustrierte Zeitschrift.  

Eine NP mit one als Kopf kann aber auch auf Personen referieren. Dabei kann das nominale Element sowohl Singularform aufweisen: (146) ENG

Poor one, you suffer so much and are still very happy? ,Armes Ding, du leidest so viel und bist doch sehr glücklich.‘ (COCA, 2008 ACAD)

(147) ENG

It’s like rich people asking poor people to compare their treasure. The poor one has nothing to show, so he uses secrecy as an excuse not to play the game. ,Es ist wie wenn reiche Leute arme Leute auffordern, ihr Vermögen zu vergleichen. Der Arme hat nichts vorzuweisen, also benutzt er das Bankgeheimnis als Ausrede, um das Spiel nicht mitspielen zu müssen.‘ (COCA, 2009 NEWS)

(148) ENG

Everyone on this flight seemed utterly expendable, even the partial person in first class the “human organ” in the cooler box, on its way to some poor one strapped in a hospital bed. ,Jedermann auf diesem Flug schien entbehrlich, sogar die partielle Person in der ersten Klasse, das „menschliche Organ“ in der Kühlbox, auf seinem Weg zu irgendeinem Armen, der an ein Krankenhausbett gefesselt ist.‘ (COCA, 2001 FIC)

(149) ENG

My biggest fears would be, perhaps, he couldn’t get the work done that he wants to do. That politics as usual would stay in place. That he would attempt to work across the aisle and they would refuse. He’s a tough one to turn down, though. ,Meine größten Befürchtungen wären wohl, dass er das, was er sich vorgenommen hat, nicht schaffen kann. Dass die übliche Politik beibehalten wird. Dass er sich um Annäherung bemühen würde und die das ablehnten. Aber er ist ein Hartnäckiger, wenn es ums Abweisen geht.‘ (COCA, 2008 MAG)

als auch Pluralform: (150) ENG

Both Ipa and Xucate had become ill then but had survived. Sometimes entire villages perished. Those who lived never got the sickness again and were forced to wait on the sick ones and bury the dead. ,Sowohl Ipa als auch Xukate waren dann krank geworden, hatten aber überlebt. Manchmal gingen ganze Dörfer zugrunde. Diejenigen, die weiterlebten, bekamen die Krankheit nie wieder und waren gezwungen, für die Kranken zu sorgen und die Toten zu begraben.‘ (COCA, 1995 FIC)

(151) ENG

They make mistakes. But they’re not weak. The weak ones are these ‘people’ who can’t speak their own minds. ,Sie machen Fehler. Aber sie sind nicht schwach. Die Schwachen sind diejenigen Leute, die ihre eigene Meinung nicht äußern können.‘ (COCA, 2000 FIC)

(152) ENG

Last night, perhaps, the bombs that fell from Rob’s plane had killed women and children and old, helpless men, but for all that he was a tender lover. She wished the dead ones could have known that.

1556

D Nominale Syntagmen

,Letzte Nacht hatten die Bomben, die aus Robs Flugzeug fielen, vielleicht Frauen und Kinder und alte hilflose Männer getötet, aber trotz allem war er ein zärtlicher Liebhaber. Sie wünschte, die Toten hätten das wissen können.‘ (BNC, CEH 489-90) Im Gegensatz zu den NPs ohne one, also denen mit nominal gebrauchten Adjektiven, liegt hier nicht zwangsläufig generische Referenz vor. Mit anderen Worten, wenn one eingefügt wird, kann die NP auch spezifisch referieren. Es gibt ebenfalls eine nicht-personale Lesart dieser NPs, wenn sie im Singular auftreten. (153) ENG

He sat down again. Christ, he thought, that was a close one. ,Er setzte sich wieder hin. Oh Gott, dachte er, das war knapp. (wörtl.: Das war ein Knappes.)‘ (BNC, ASN 753-ENG 4)

(154) ENG

Oh, gosh. You know, that’s a tough one. ,O je. Weißt du, das ist schwierig. (wörtl.: Das ist ein Schwieriges.)‘ (COCA, 2009 SPOK)

(155) ENG

I think I’m an alcoholic. It’s a hard one to say. ,Ich denke, ich bin Alkoholiker. Es ist hart, das zu sagen. (wörtl.: Das ist ein Hartes zu sagen.)‘ (COCA, 2004 SPOK)

Im Regelfall sind nominalisierte Adjektive in nicht-personaler Lesart Kontinuativa. Hier hingegen liegt eine individuative Verwendung bei nicht-personaler, genauer: abstrakter, Lesart vor.

D2.3.1.2 Nicht-Personales In allen fünf Vergleichssprachen existiert für die NP mit nominal gebrauchtem Adjektiv neben der personalen auch eine nicht-personale Lesart. Dabei bezeichnet die NP eine Menge von abstrakten, im Deutschen und Polnischen mitunter auch konkreten, Dingen. Wie oben bereits in → D2.1.3.2 ausführlich diskutiert, unterliegt die Wahl des Modifikators semantischen/pragmatischen Beschränkungen. Dies betrifft besonders das Partizip Präsens, da nur solche Verben in der „nicht-personalen Konstruktion“ Verwendung finden können, die kein belebtes Subjekt benötigen. In allen Vergleichssprachen sind die NPs kontinuativ und somit zwangsläufig nicht pluralisierbar. In den Sprachen, die über Genus verfügen, ist dieses hier nicht variabel: Im Deutschen und Polnischen werden Neutra und im Französischen Maskulina verwendet. (156) DEU FRA POL

das Mögliche le possible możliwe

D2 Nominalphrasen mit adjektivischem oder partizipialem Kopf

1557

Konkrete Lesarten Das Deutsche verfügt über die Möglichkeit, mit der „nicht-personalen Konstruktion“ auf Konkretes zu referieren. Aus diesem Grunde wurde hier auch der Begriff „nicht-personal“ dem in der Literatur üblichen Ausdruck „abstrakt“ vorgezogen. (157)

Die Drittklässler des Oberschulhauses verschenkten Gebackenes sowie Gebasteltes. (St. Galler Tagblatt, 26.11.2009)

(158)

«In» ist Gestreiftes und ganz fein Getupftes. (St. Galler Tagblatt, 14.03.1998)

(159)

Im Online-Shop des berühmten Gefängnisses „Santa Fu“ gibt es von den Insassen selbst Produziertes. (Hamburger Morgenpost, 22.08.2009)

Die Form der in den Kontexten verwendeten Quantoren macht deutlich, dass es sich, wie in den oben diskutierten Fällen, um Kontinuativa handelt. Das Genus, Neutrum, ist ebenfalls fest. (160)

Ganz außen befindet sich die populäre Kantinenzeile, an der viel Frittiertes, Kassler und gebratene Hühnchen bereit liegen. (Berliner Zeitung, 22.12.2007)

Allerdings wird bei dieser Verwendungsweise eher auf den definiten Artikel verzichtet, da letzterer in der Regel mit der abstrakten Interpretation assoziiert ist. Die Referenz auf Konkretes lässt sich auch im Polnischen belegen. (161) POL

Jak powiedzieć mamie, że nie lubię smażonego? Mutti.DAT dass NEG lieb.1SG Frittiertes.GEN wie sag.INF ‚Wie soll ich Mama sagen, dass ich Frittiertes nicht mag?‘ (Internet)

Im Englischen und Französischen besteht die Möglichkeit zur Bezugnahme auf Konkretes nur unter Hinzunahme einer vorangestellten nominalen Form. Dies sind something und quelque chose (verknüpft durch den partitiven Artikel de), die dem deutschen etwas entsprechen, das hier ebenfalls verwendet werden kann. (162) DEU ENG FRA POL UNG

etwas Kaltes something cold quelque chose de froid coś zimnego valami hideg

1558

D Nominale Syntagmen

Verwendung als Prädikativkomplement Die NP mit nicht-personaler Lesart findet ebenfalls als Prädikativkomplement eines (Teil-)Satzes Verwendung. Dabei wird mithilfe von evaluativen Adjektiven ein bestimmter Aspekt einer Sache oder eines Sachverhaltes hervorgehoben. Der definite Artikel weist auf die Inklusivität der evaluativen Eigenschaft hin: Der als Subjekt genannte betreffende Aspekt einer Sache, z. B. in (163) die positive Grundstimmung, schöpft den ganzen Umfang dieser Eigenschaft aus, im Beispiel alles, was an der Sache wichtig ist.  

(163)

Das Wichtige ist die positive Grundstimmung. (Oberösterreichische Nachrichten, 09.12.1999)

(164)

Das Interessante ist, dass sich an Kiosken die unterschiedlichsten Menschen treffen. (Berliner Zeitung, 14.10.2003)

(165)

Das Wichtige ist, junge Leute auf ein lebenslanges Lernen vorzubereiten. (Berliner Zeitung, 20.04.2005)

Auch in den Kontrastsprachen Polnisch und Ungarisch kann das nominal gebrauchte Adjektiv in analogen Kontexten auftreten. (166) POL

najlepsze jest (to), gut.SUPL . N ist (das) ‚das Beste ist, dass …‘

(167) UNG

fontos az hogy … wichtig ist dass ‚das Wichtige ist, dass …‘

że … dass

a

DEF

Im Englischen kommt dies eher selten vor, ist aber durchaus möglich. (168) ENG

But the essential is that we have money. ,Aber das Wesentliche ist, dass wir Geld haben.‘ (BNC, G07 644)

(169) ENG

The ugly is that we are left with an element of structural overcapacity. ,Das Hässliche ist, dass wir mit einer Art struktureller Überkapazität behaftet sind.‘ (BNC, ALV 386)

(170) ENG

CEOs agree: the worst is to lose a customer through some fault of your own. ,CEOs stimmen überein: Das Schlimmste ist einen Kunden durch einen eigenen Fehler zu verlieren.‘ (COCA, 1994 MAC)

D2 Nominalphrasen mit adjektivischem oder partizipialem Kopf

1559

Präferiert wird hier der Gebrauch von (semantisch relativ leeren) Nomina wie point ‚Punkt‘ oder thing ‚Sache‘. (Im BNC liefert the important thing is 147, the important point is 52 und the important is lediglich 2 Treffer). (171) ENG

And the strange thing is my boyfriend was dreaming about pizzas at the same time. ,Und das Seltsame ist, mein Freund träumte gleichzeitig von Pizzen.‘ (BNC, HUL)

Hinzugefügt werden können derartige Substantive in allen Vergleichssprachen (DEU Aspekt, Punkt, FRA chose ,Sache‘, point ,Punkt‘, POL rzecz ,Sache‘, UNG dolog ‚Sache‘).

D2.3.1.3 Die Rolle des Kontextes Wie oben deutlich wurde, werden die beiden möglichen Interpretationen, personal und nicht-personal, mithilfe von grammatischer oder kontextueller Information disambiguiert. Dies wird besonders bei Adjektiven, die sowohl personale als auch nichtpersonale Eigenschaften bezeichnen können, evident: (172)

«Man muss alles im Verhältnis sehen und Gott für das Gute und Schlechte danken», soll sie gesagt haben. (St. Galler Tagblatt, 11.06.2008)

(173)

Ist es in der Politik nicht auch so, dass die Guten zu wenig und die Schlechten im Schnitt zu viel verdienen? (Burgenländische Volkszeitung, 02.09.2009)

Im Deutschen ist die Disambiguierung unproblematisch, da die beiden Konstruktionen durch Genus klar voneinander zu unterscheiden sind. Zudem gibt es eine Individuativ-Kontinuativ-Opposition. Im Englischen hingegen, wo Numerus die beiden Lesarten unterscheidet, spielt der Kontext eine größere Rolle, da eine Singular-Plural-Unterscheidung lediglich am finiten Verb sichtbar werden kann. (174) ENG

May we learn to cherish the good that lies within us. ,Mögen wir lernen, das Gute, das in uns liegt, wertzuschätzen.‘ (BNC, ALH 2797)

(175) ENG

‘Alas that the good are called so soon!’ sighed the lady Alianor. ,„Ach, dass die Guten so früh heimgerufen werden!“ seufzte Lady Alianor.‘ (BNC, CCD 1612)

1560

D Nominale Syntagmen

Wenn keine derartige grammatische Information vorhanden ist, muss der Kontext zur Disambiguierung herangezogen werden. In (176) beispielsweise geht aus der Bedeutung von happiness ‚Glück/Glückseligkeit‘ hervor, dass es sich bei the good um eine pluralische NP mit personaler Referenz, also ‚die Guten‘, handelt. (176) ENG

the future life; the happiness of the good; the punishment of the wicked ,das künftige Leben, das Glück der Guten, die Bestrafung der Bösen‘ (BNC, CL6 110)

Im Französischen ergibt sich ein ähnliches Bild, wie bereits in → D2.2.1.4 anhand des Lexems méchant ‚böse‘ deutlich wurde. Lauwers (2008: 138) spricht in diesem Zusammenhang ebenfalls von unscharfen Grenzen zwischen den Lesarten, was, wie im folgenden Beispiel deutlich wird, zwei mögliche Interpretationen zur Folge haben kann. (177) FRA

Ainsi de notre petit monde carcéral … tout s’y reforme comme dans l’autre … le beau, le grand, l’honnête … les classes sociales, les diverses vanités, les hiérarchies. ,So ist es in unserer kleinen beschränkten Welt … alles ändert sich wie auch in der anderen [Welt] … das Schöne, das Große, das Ehrliche … die gesellschaftlichen Klassen, die verschiedenen Eitelkeiten, die Hierarchien.‘ (FT, A. Boudard, 1982, Les enfants de choeur)  

D2.3.2 Vom Adjektiv zum Substantiv Die betrachteten Elemente weisen auf formaler Ebene adjektivische Eigenschaften auf, werden aber wie Substantive gebraucht, weshalb in der Literatur der Begriff „substantivisch gebrauchte Adjektive“ gewählt wurde. Diese morphosyntaktischen Adjektiveigenschaften sind jedoch keineswegs in allen Fällen gleichermaßen ausgeprägt, sondern es gibt Abweichungen unterschiedlichen Grades, die ein Kontinuum von Adjektiven mit nominaler Verwendung zu auf Adjektiven beruhenden Substantiven, also nicht länger adjektivischen Elementen, bilden. So wurde in → D2.1.2 das Lexem Beamter, da es seine adjektivischen Eigenschaften verloren hat, als „echtes“ Substantiv angeführt. Weitere vollständig zu Substantiven gewordene ursprüngliche Adjektive sind beispielsweise Invalide und Gläubiger, bei denen jeweils unabhängig von der Wahl des Determinativs die schwache bzw. die starke Adjektivflexion beibehalten wird (vgl. Duden-Grammatik 2009: 351), wie der Kontrast jeweils mit der Konstruktion bei vorhandenem Kopfsubstantiv (b-Beispiele) deutlich zeigt. (178) a. Seitdem ist der logische Weltmeister von einst ein Invalide. (Salzburger Nachrichten, 18.06.1991)

1561

D2 Nominalphrasen mit adjektivischem oder partizipialem Kopf

b. Ich, ein invalider Mann am Boden liegend, konnte mich nicht mehr erheben. (St. Galler Tagblatt, 18.06.1997) (179) a. Jetzt stelle der Gläubiger Amer Haddadin eine Zwangsräumung in Aussicht. (Mannheimer Morgen, 28.12.2010) b. Mit 22 folgte der gläubige Moslem dem Beispiel seines älteren Bruders – und trat in die Streitkräfte Ihrer Majestät ein. (Berliner Zeitung, 02.02.2007)  

An dieser Stelle sei kurz darauf hingewiesen, dass die Fälle, in denen nominal gebrauchte Adjektive substantivischen Status erlangen, vom Phänomen der lexikalisierten Ellipse abzugrenzen sind. In den folgenden Beispielen ließe sich jeweils ein spezifisches Substantiv (Zeitschrift, Bier) in die Struktur einfügen, wodurch sich die NP vom Standardfall nominal gebrauchter Adjektive unterscheidet. (180)

Vor dem Einschlafen nimmt sie eine Illustrierte zur Hand. (Braunschweiger Zeitung, 24.01.2009)

(181)

Nach all der Aufregung gönnte man sich dann im Hotel mit anderen Musikern ein kühles Helles. (Rhein-Zeitung, 04.12.2009)

Nominal gebrauchten Adjektiven können sowohl adverbiale Formen als auch flektierte Adjektive vorangehen, jedoch ergibt sich ein Bedeutungsunterschied, der im folgenden Beispiel deutlich wird, wo die NP sich auf eine Gruppe Menschen bezieht, die a) über einen großen Reichtum verfügen, oder die b) durch eine andere, nicht näher spezifizierte Charakteristik gekennzeichnet sind. (182) a. Damit dürfte das Gesetz nur ganz besonders Reiche belasten. (Mannheimer Morgen, 10.05.2006) b. … ganz besondere Reiche … Beim Lexem verwandt gibt es ebenso wie bei angestellt sowohl eine nominale Verwendung unter Beibehaltung des Adjektivstatus als auch einen Wechsel in die Klasse des Substantivs zu verzeichnen. Die folgenden Beispiele liefern Belege für beide Optionen, was ebenfalls wieder an der Opposition flektiertes versus unflektiertes, somit adverbial gebrauchtes Adjektiv in der pränominalen Position evident wird. So zeigt die Verwendung des flektierten Adjektivs eng in (183) den nominalen Status an, die unflektierte Form eng in (184) hingegen deutet auf adjektivische Eigenschaften von verwandt hin. (183)

Nur die engen Verwandten und Trauzeugen sollten kommen, denn die Hochzeit sollte auf jeden Fall stattfinden. (Braunschweiger Zeitung, 28.06.2008)

(184)

So kommt es, wie im Fall der Klägerin vor dem Verfassungsgericht, Susan K., in der Regel nur dann zum Inzest, wenn die Geschwister (oder andere eng Verwandte) völlig getrennt aufgewachsen sind. (die tageszeitung, 14.03.2008)

1562

D Nominale Syntagmen

Dieser Unterschied hinsichtlich der Kategorienzugehörigkeit macht sich auch in anderen syntaktischen Aspekten bemerkbar. So weist Haider (1988) darauf hin, dass eine postnominale Genitivkonstruktion nur dann auftreten kann, wenn keine Elemente vorhanden sind, die auf einen Adjektivstatus hinweisen. Dies zeigt er (unter anderem) an folgendem Beispiel. (185) a. die (*mit ihr) Verwandten des Verstorbenen b. die mit ihr Verwandten (*des Verstorbenen) (Haider 1988: 46, Beispiel 45e) Sobald ein postnominaler Genitiv auftritt, wie in (185a), kann das Element nicht mit einer vorangestellten PP attribuiert werden, was es als Adjektiv ausweisen würde. Anderseits kann, wie in (185b) deutlich wird, unter Beibehaltung des adjektivischen Status kein Genitiv folgen. Neben den echten Substantivierungen und den Mischformen, die sich durch eine doppelte Kategorienzugehörigkeit ausweisen, gibt es am anderen Ende des Kontinuums auch echte Adjektive, die nominal gebraucht werden. Nahezu jedes Adjektiv (oder Partizip), das Eigenschaften denotiert (mit den oben genannten Einschränkungen wie Flexion und der Möglichkeit zur attributiven Verwendung), kann auf diese Weise gebraucht werden, sofern seine Semantik mit einer personalen oder nichtpersonalen Lesart kompatibel ist. Dies betrifft auch erst kürzlich ins Deutsche übernommene Adjektive wie nerdig (vom Englischen nerdy, was etwa mit ‚intelligent aber sozial unbeholfen‘ umschrieben werden kann), was die Produktivität des Mechanismus verdeutlicht. (186)

Für die „Nerdigen“ unter uns ist Bioshock außerdem in einer Collectors Edtion [sic] erhältlich. (Internet)

(187)

Keiner in meiner Umgebung spielt es noch, aber an meiner Schule gibt es einen Magic-Club, wo die nerdigsten der Nerdigsten sich treffen. (Internet)

In den Kontrastsprachen weisen die betreffenden Elemente ebenfalls Zugehörigkeiten zu verschiedenen Kategorien auf. Am Beispiel des Englischen lässt sich der Kategorienwechsel von Adjektiv zu Substantiv besonders gut verdeutlichen, weil hier vormals adjektivische Elemente Pluralmorphologie aufweisen, was für einen substantivischen Status spricht. (188) ENG

Moreover, 87% think that the Royals should be protected from photographers when not on official duty. ,Darüber hinaus denken 87%, dass die Mitglieder der königliche Familie vor Fotografen geschützt werden sollten, wenn sie keine öffentlichen Pflichten wahrnehmen.‘ (BNC, APK 77)

D2 Nominalphrasen mit adjektivischem oder partizipialem Kopf

(189) ENG

1563

Americans are much better at this than we are. ,Amerikaner sind darin sehr viel besser, als wir es sind.‘ (BNC, A06 1920)

Gleichermaßen gibt es hier auch singularische Verwendung aus dem Bereich des Personalen. (190) ENG

‘I’m not a Catholic, so could you say a prayer for her?’ ,„Ich bin kein Katholik, könntest also du ein Gebet für sie sprechen?“‘ (BNC, ADM 210)

Die Variation bezüglich Adjektiv oder Adverb als Modifikator zeigt auch für das Englische die Existenz von „Zwischenformen“ an. (191) a. and then confronting really crazies who might go on nuclear alert ENG ,und dann wirklich Verrückten gegenüberzustehen, die in nukleare Alarmbereitschaft treten könnten‘ (COCA, 1999 SPOK) b. Bill had a peculiar affinity for talking down the real crazies. ,Bill hatte eine besondere Neigung, die wirklich Verrückten herunterzumachen.‘ (COCA, 1998 FIC) Beispiele für vollständige Lexikalisierungen im Französischen sind unter anderem le vide ‚das Leere, die Leere‘ oder le tragique ‚das Tragische, die Tragik‘, die sich laut Lauwers (2008) dadurch auszeichnen, dass sie neben dem definiten Artikel auch andere Determinative zulassen. (192) FRA

Dans ce vide absolu, la pensée ne trouve nul aliment DEM leer absolut DEF Gedanke NEG find.3SG null Nahrung in pour se constituer. REFL bild.INF um ‚In dieser totalen Leere findet der Gedanke keine Nahrung, um sich zu formen.‘ (Internet)

(193) FRA

La

destinée dans son tragique est un thème récurrent Schicksal in POSS .3SG tragisch ist INDEF Thema häufig en littérature. in Literatur ‚Das Schicksal in seiner Tragik ist ein häufiges Thema in der Literatur.‘ (Internet) DEF

Außerdem lassen sich die betreffenden Elemente nicht mehr durch Adverbien modifizieren; stattdessen wird auf die entsprechenden Adjektive zurückgegriffen, wie am Beispiel der Religionsbezeichnungen deutlich wird.

1564

(194) FRA

D Nominale Syntagmen

Les vrais chrétiens, les vrais juifs, et les DEF . PL wahr.PL Christ.PL DEF . PL wahre.PL Jude.PL und DEF . PL vrais musulmans n’ existent plus. Moslem.PL NEG existier.3PL mehr wahr.PL ‚Die wahren Christen, die wahren Juden und die wahren Moslems existieren nicht mehr.‘ (Internet)

Das Adverb vraiment ‚wirklich‘ wäre an dieser Stelle nicht möglich. Einige Formen weisen Varianz bezüglich der Wahl zwischen Adverb und Adjektiv auf. So kann beispielsweise les fous ‚die Verrückten‘ sowohl mit Adjektiv vrai als auch mit Adverb vraiment verwendet werden. Wie in Beispiel (195b) evident wird, kann fou trotz der Modifikation durch das Adjektiv seine PP-Ergänzung behalten. (195) a. les vraiment fous DEF . PL wahrlich verrückt.PL FRA ‚die wahrlich Verrückten‘ (Internet) b. Et tout ça, sans laisser de côté les vrais fous verrückt.PL und alles das ohne lass.INF zu Seite DEF . PL wahr.PL de musique que nous sommes. REL 1PL sind von Musik ‚Und all das, ohne die wirklich nach Musik Verrückten wie uns außen vor zu lassen.‘ (Internet) Im Ungarischen besteht hinsichtlich Flexion kein Unterschied zwischen Adjektiven und Substantiven, allerdings manifestieren sich Abweichungen bei der Wahl des Flexivvokals (→ C4.2.2). Die folgenden Belege verdeutlichen den Gebrauch von unterschiedlichen Flexivvokalen bei vörös ‚rot‘ – als Attribut zu einem (getilgten, siehe (197)) Substantiv wird der Flexivvokal e verwendet, beim nominalen Gebrauch lautet der Flexivvokal jedoch ö (196).  

(196) UNG

[…] hogy mostanában trend a szocdem előretörés a német nyelvterületen: Burgenland és Stájerország után nemrégiben a németországi DEF deutsch Burgenland und Steiermark nach kürzlich Rajna-Pfalzban és Baden-Würtenbergben is a vörösök und BW-INE auch DEF rot.PL RP-INE ünnepeltek. feier.. PRT . 3PL ‚[…] dass derzeit der Vorstoß der Sozialdemokratie Trend im deutschen Sprachgebiet ist: Nach dem Burgenland und der Steiermark feierten die Roten vor kurzem auch im deutschen Rheinland-Pfalz und in Baden-Württemberg.‘ (Internet)

1565

D2 Nominalphrasen mit adjektivischem oder partizipialem Kopf

(197) UNG

A

fehérborok arattak nagyobb sikert, a vörösek Weißwein.PL ernt.PRT . 3PL groß.KOMPR Erfolg.AKK DEF rot.PL között volt néhány gyengébb minőségű. schwach.KOMPR Qualität.ADJ zwischen sei.PRT .3SG einige ,Die Weißweine ernteten größeren Erfolg, unter den roten waren einige von geringerer Qualität.‘ (Internet)   

DEF



Allerdings zeichnet sich auch hier kein einheitliches Bild ab: Zum einen können bei einigen nominal gebrauchten Adjektiven beide Vokale benutzt werden, zum anderen besteht trotz der Wahl der substantivischen Variante die Möglichkeit zur Modifikation durch Adverbien.

D2.4 Zusammenfassung Der Kopf N der prototypischen NP ist ein Substantiv. Selbstständige Pronomina sind Köpfe eines speziellen NP-Untertyps, der Pronominalphrase. Auch Adjektive können als Kopf der NP auftreten. Ein solcher ,nominaler Gebrauch‘ von Adjektiven liegt vor, wenn das Adjektiv nicht modifikativ auf ein im Kontext vorerwähntes Substantiv zu beziehen, sondern unabhängig zu interpretieren ist. (Andernfalls ist von der Ellipse des Kopfsubstantivs auszugehen.) Diese Verwendung von Adjektiven (einschließlich Partizipien) ist in allen Vergleichssprachen möglich. Nominal gebrauchte Adjektive leisten die Funktion der qualitativen Modifikation einer implizit bleibenden, per default zu erschließenden Nomination. Letztere wird nicht versprachlicht, sondern beruht auf der grundlegenden semantischen Opposition von Personalem versus Nicht-Personalem. Im Deutschen ist der jeweilige Bezug deutlich durch die Genus-/Numeruskategorien erkennbar. Maskuline und feminine Formen sowie Pluralformen (wie DEU der Reiche, die Reiche, die Reichen) sind auf männliche (M ) bzw. weibliche (F ) Personen bzw. Personengruppen (PL ) festgelegt – generische Verwendung des Maskulinums unter Vernachlässigung der Sexusdifferenzierung ist ebenfalls möglich –, neutrale Formen (DEU das Gute, das Schmackhafte) auf Nicht-Personales. Eine vergleichbare formale Distinktion der Bezüge gilt nicht durchgängig in den Kontrastsprachen. So fällt etwa im Französischen der, wie in den anderen Sprachen in der Regel generische, Bezug auf eine männliche Person mit dem Bezug auf Nicht-Personales formal zusammen (FRA le bon ,der/das Gute‘). Dies gilt vergleichbar für das Ungarische, wo darüber hinaus die Genusdifferenzierung fehlt (UNG az új ,der/die/das Neue‘). Im Englischen ist der nominale Gebrauch von Adjektiven formal wie semantisch stark beschränkt. Der Status zwischen Adjektiv und Nomen kommt auch in den Attribuierungsmöglichkeiten des nominal gebrauchten Adjektivs zum Ausdruck. Hier können die pränuklearen Ausbauoptionen der Adjektivphrase in Form von Adverbien (wie in DEU die sehr Reichen), adverbial gebrauchter Adjektive (wie in DEU der frisch Verliebte), von  





1566

D Nominale Syntagmen

Nominal- und Präpositionalphrasen in Komplementfunktion (wie in DEU die dem Tod Geweihten, die mit ihrem Schicksal Zufriedenen) genutzt werden, aber auch die postnuklearen Attributionsmöglichkeiten, wie sie beim Substantiv gegeben sind, z. B. ein Genitivattribut oder Präpositionalattribut (wie in DEU die Reichen dieses Dorfes / in diesem Dorf). Insgesamt ist mit einem Kontinuum zwischen adjektivischen und substantivischen Eigenschaften zu rechnen. Im Deutschen allerdings ist adjektivische (vom Determinativ gesteuerte) versus substantivische (determinativunabhängige) Flexion ein vergleichsweise klares Indiz für die Abgrenzung zwischen nur syntaktisch-semantisch nominal gebrauchen Adjektiven wie der Angestellte / ein Angestellter und Substantiven, die auf Adjektive zurückgehen, wie der/ ein Invalide, der/ein Gläubiger.  

D3

Possessive Attribute

D3.1

Vorbemerkung: Possessive Attribute und Possessorattribute  1568

D3.2

Possessorattribute und possessive Argumente: Funktionale und typologische Charakterisierung  1569 D3.2.1 Die semantische Landkarte der Possession  1569 D3.2.2 Possessive Argumente  1576 D3.3

Testverfahren für referentielle NP/PPform-Attribute in Modifikationsfunktion  1578

D3.4

Varianzparameter für referentielle NP/PPform-Attribute  1581

D3.5

Dependens- versus Kopfmarkierung versus Doppelmarkierung  1583

D3.6

Synthetische oder analytische Form bei Dependensmarkierung oder Kombinationen von beidem  1588

D3.7

Serialisierung  1590

D3.8

Adjazenz und Rekursion  1595

D3.9

Funktionale Korrelate der Synthetisch-analytisch-Unterscheidung  1601

D3.10

Argument-Realisierungen: possessiv-possessive versus ergativ-possessive versus possessiv-akkusativische Kodierung  1608

D3.11 Nicht-referentielle possessive Attribute  1615 D3.11.1 Überblick zu den funktionalen Typen  1615 D3.11.2 Synthetische oder analytische Form des possessiven Attributs  1617 D3.11.2.1 Synthetische Form des possessiven Attributs  1617 D3.11.2.1.1 Klassifikatorische Modifikation und verwandte Formen begrifflicher Modifikation  1618 D3.11.2.1.2 Qualitative Modifikation  1622 D3.11.2.2 Analytische Form des possessiven Attributs  1625 D3.11.2.2.1 Klassifikatorische Modifikation und verwandte Formen begrifflicher Modifikation  1625 D3.11.2.2.2 Qualitative Modifikation  1629 D3.11.3 Adjazenz und Rekursion  1632 D3.12

Zusammenfassung  1635

Gisela Zifonun

D3 Possessive Attribute D3.1 Vorbemerkung: Possessive Attribute und Possessorattribute Als ‚possessive Attribute‘ bzw. ‚possessive Modifikatoren‘ (auch: ‚Possessivattribute‘) werden Ausdrucksklassen bezeichnet, die dazu verwendet werden können, prototypischerweise eine Possessorrelation oder Zugehörigkeitsbeziehung auszudrücken. Im Deutschen, Englischen und Polnischen betrifft dies den attributiven Genitiv, im Ungarischen eine dem Kopf präponierte NP im Nominativ bzw. eine NP im Dativ bei gleichzeitiger Possessormarkierung des Kopfs. Im Französischen wird diese Funktion primär von einer PP mit der ‚formalen‘ Präposition de ausgeübt. Entsprechende formale Präpositionen kommen auch in anderen europäischen Sprachen zum Einsatz, wie auch im Deutschen mit von und im Englischen mit of neben der Kasusmarkierung. Der Terminus ‚possessives Attribut‘ ist auf die Konstruktionen verallgemeinert und besagt nicht, dass jeweils eine Possessorrelation vorliegt, wie etwa in DEU der Hut meiner Schwester. Hier ist das possessive Attribut gleichzeitig ein Possessorattribut. Auch bei DEU Tugend der Bescheidenheit sprechen wir von einem possessiven Attribut. Es drückt jedoch keine Possessorrelation aus und ist daher kein Possessorattribut. In diesem Kapitel wird mit Bezug auf das Englische gelegentlich von ‚Genitivattribut‘ oder auch vom Genitiv im Sinne eines Kasus gesprochen. Dies ist als façon de parler zu verstehen, die vor allem eine leichtere Vergleichbarkeit mit dem Deutschen garantieren soll. Inhaltlich ist jedoch auf die Einordnung des s-Markers als Phrasensuffix hinzuweisen, für die in → C3.4.3 argumentiert wird; vgl. auch → D3.8. Die Verbindung von Kopf und possessivem Attribut nennen wir ‚Possessivkonstruktion‘. Allgemeiner sprechen wir auch von ‚possessiven Konstruktionen‘, wenn wir z. B. dieses Kodierungsmuster gegenüber funktional vergleichbaren Mustern absetzen wollen.  

Im Folgenden werden zunächst die Possessorattribute und die ‚possessiven Argumente‘ wie in die Ankunft des Siegers, die Eroberung Galliens behandelt. Beide Typen haben u. a. die funktionale Gemeinsamkeit, dass (in aller Regel) referentielle Modifikation vorliegt.  

Andere possessive Attribute wie z. B. in ENG woman’s magazine ‚Frauenzeitschrift‘, man of honour ‚Mann von Ehre‘, DEU Stadt des Schreckens, Bauten von immenser Höhe, die keine Possessorattribute sind und klassifikatorische oder qualitative Modifikation ausdrücken, werden im Anschluss knapper dargestellt; vgl. auch → A4.1, → A4.2. Auf so genannte ‚pseudo-partitive‘ Konstruktionen in possessiver Form wie DEU eine Tasse heißer Milch, FRA un verre d’eau wird hier nicht im Einzelnen eingegangen; dazu ist auf die Darstellung in → D5 zu verweisen.  





1569

D3 Possessive Attribute

D3.2 Possessorattribute und possessive Argumente: Funktionale und typologische Charakterisierung D3.2.1 Die semantische Landkarte der Possession NP-Attribute (in einem ‚formalen‘ oder grammatischen Kasus wie dem Genitiv, dem Nominativ oder wie im Ungarischen dem Dativ) und PP-Attribute mit einer formalen Präposition (PPform, vgl. dazu → D3.9) können als prototypische und am stärksten grammatikalisierte Realisierungsform referentieller Modifikation betrachtet werden: – In Übereinstimmung mit der funktionalen Domäne für NPs bezeichnet die attributive NP einen außersprachlichen Gegenstand (bzw. eine Vielheit von Gegenständen). Die attributive NP wird also selbst in prototypischer Weise interpretiert. – Es gibt keinen separaten lexikalischen Ausdruck für die Relation zwischen Modifikator und Modifikandum oder aber der relationierende Ausdruck ist semantisch zur ‚formalen‘ bzw. grammatischen Präposition ausgebleicht. Die Relation zwischen dem durch den ggf. bereits modifikativ erweiterten Kopf ausgedrückten Begriff als Modifikandum und dem durch das Attribut bezeichneten Referenzobjekt ist daher offen bzw. unspezifisch bzw. unterdeterminiert (vgl. auch Jensen/Vikner 2004: 3; Solstad 2010: 233–248). Sie wird durch den Kontext festgelegt. Das Fehlen eines lexikalisch differenzierenden Relationsmarkers kann aber als Hinweis auf eine besonders enge, leicht erschließbare oder auch kognitiv saliente Beziehung gewertet werden, die man unter das Konzept ‚Zugehörigkeit‘ fassen könnte. In der Literatur (vgl. Taylor 1996; Heine 1997a; Baron/Herslund/Sørensen (Hg.) 2001; McGregor (Hg.) 2009) wird übereinstimmend die ‚Possession‘ als konzeptueller Kern dieses Standardfalls einer kognitiv salienten Beziehung zwischen Modifikandum und Modifikator gefasst. Unter Possession ist dabei die asymmetrische Beziehung zwischen einem Possessor (Modifikator) und einem Possessum bzw. genauer dem Begriff für ein Possessum (Modifikandum) zu verstehen, die ihrerseits nach dem Prototypenkonzept bzw. dem Konzept des „cognitive space“ strukturiert ist. Prototyp ist die so genannte alienable Possession, bei der ein menschlicher Possessor einen konkreten Gegenstand besitzt und in der Regel durch einen Transaktionsakt, einen Kauf, einen Tausch oder eine Schenkung, als Eigentum erworben hat (Beispiel: das Auto dieses Mannes ‚das Auto, das diesem Mann gehört / das dieser Mann als Eigentum hat‘). Charakteristisch ist hier die permanente Verfügbarkeit bzw. prinzipielle Erreichbarkeit des Possessums und ein exklusives oder zumindest privilegiertes Nutzungs- sowie Veräußerungsrecht (vgl. dazu z. B. Taylor 1996: 340). Diese beiden Charakteristika sind in Stassen (2009: 17) zu den Merkmalen [+permanenter  



1570

D Nominale Syntagmen

Kontakt] und [+Kontrolle] verallgemeinert. Das Konzept Eigentum, das hier kodiert wird, ist zweifellos sozio-kulturell in seinen Erscheinungsformen und seiner Reichweite differenziert. Nach Stassen (2009: 16) gilt jedoch: […] it is safe to say that, as a concept, ‘ownership’ is cross-culturally universal. To my knowledge, there has never been a society in which the notion of theft had no value at all, and this notion of course presupposes the notion of exclusive ownership.

Der zweite zentrale Bereich ist die inalienable Possession, die zwischen einem Possessor und dem ihm unveräußerlich Zugehörigen besteht. Nach Stassen (2009: 18) bildet die Beziehung eines menschlichen Possessors zu seinen Körperteilen und den ihm durch Verwandtschaftsbeziehungen verbundenen Menschen sprachübergreifend das Kernstück inalienabler Possession (Beispiele: die Hand dieses Mannes, der Sohn / die Mutter dieses Mannes; vgl. auch: Dieser Mann hat nur eine Hand / Diese Mutter hat einen Sohn). Auch diese Beziehungen sind permanent, unterliegen aber nicht der Kontrolle des Possessors. Die Merkmalskombination lautet [+permanenter Kontakt] und [–Kontrolle]. Alienable und inalienable Possession werden in vielen Sprachen unterschiedlich kodiert. In den europäischen Sprachen sind solche Formen der ‚gespaltenen Possession‘ (split possession) nicht stark ausgeprägt (vgl. aber Stolz 2012). Wo inalienable Possession separat kodiert wird, ist immer der Possessumtyp Körperteil oder Verwandter (oder beides) so kodiert (vgl. Stolz et al. 2008: 31). Ggf. werden auch weitergehende soziale Beziehungen oder essentielle materielle Güter oder auch Teil-Ganzes-Beziehungen im unbelebten Bereich so kodiert. Die Prinzipien, nach denen zum Teil heterogene Gruppen von Possessa in verschiedenen Sprachen unter ‚Inalienables‘ fallen, liegen nicht klar auf der Hand; vgl. zu einer Diskussion Stolz et al. (2008: 29–31). Als übergreifende Prinzipien identifizieren sie (enge) soziale und biologische Beziehungen sowie die Teil-Ganzes-Relation. Diese treten z. T. in Kombination auf, wie z. B. im Fall der Körperteil-Possession, die sowohl eine biologische Beziehung als auch eine Teil-GanzesRelation darstellt. „Biology can be made responsible for kinship relations, body-part relations, and those things which are essential for one’s survival, whereas inherent relationships are translatable into part-whole relations and the same applies to body-parts etc.“ (ebd.: 30).  



Shin (2004: 45) betrachtet die Possessorrelation zwischen einem menschlichen Possessor und einem relationalen Konkretum, also z. B. eine Körperteil- oder Verwandtschaftsbezeichnung, als Prototyp; sie werde interlingual „am geringsten markiert“, d. h. mit dem geringsten strukturellen Aufwand ausgedrückt.  



Auch das Merkmal der permanenten Verfügung kann bei Possession aufgehoben werden, etwa wenn man von einem Mann spricht, der bei einem Einbruch ein Messer oder eine Pistole hatte – hier bleibt unklar und ist letztlich auch irrelevant, ob Messer oder Pistole ihm gehörten oder ob er sie im Haus an sich genommen oder zuvor an sich gebracht hatte. Auch hier ist die entsprechende adnominale Konstruktion Messer/Pistole dieses Mannes. Die Merkmalskombination lautet bei Stassen: [–permanenter Kontakt] und [+Kontrolle].

D3 Possessive Attribute

1571

Schließlich kann auch nach Stassen zusätzlich ‚Kontrolle‘ negativ spezifiziert sein. Dies ist der Fall bei abstrakter Belegung des Possessum-Ausdrucks wie in Dieser Mann hat eine Erkältung / keine Angst bzw. die Erkältung / die Angst dieses Mannes. Stassen (2009: 20) weist darauf hin, dass die Anwendung des Merkmals Kontrolle hier eher unangemessen („a category mistake“) ist. Dennoch geht er in seiner Einordnung von negativer Merkmalsspezifikation für Kontrolle aus, während das Merkmal permanenter Kontakt hier in jedem Fall ebenfalls negativ zu spezifizieren sei. Jedoch ist mangelnde Permanenz aus unserer Sicht nicht grundsätzlich gegeben. Auch grundlegende körperliche und andauernde Charaktereigenschaften werden possessiv kodiert: die Größe oder der Mut, die/den dieser Mann hat versus Größe/Mut dieses Mannes. Wir geben hier zusammenfassend die Merkmalsbelegungen bei Stassen (2009: 17) wieder:  

Possessive Subtype Alienable Inalienable Temporary Abstract

Permanent Contact + + – –

Control + – + –

Stassens Hauptaugenmerk ist auf die prädikative Possession – wiedergegeben durch Verben wie DEU besitzen, haben, gehören – gerichtet, nicht auf die adnominale Possession. Außerdem geht er grundsätzlich von menschlicher Belegung des Possessorausdrucks aus. Adnominale Possession stimmt zwar in den Kernbereichen des abgedeckten kognitiven Raums mit der prädikativen überein. Es ergeben sich jedoch Unterschiede: Adnominale Possession ist, so scheint es, noch weiter ausgedehnt als prädikative: – Anders als bei prädikativ-verbaler Possession, wo in der Regel klare Selektionsbeschränkungen für die Belegung der Argumente des Prädikats vorliegen, spielt die Unterscheidung nach ±menschlichem Possessor (in unseren Vergleichssprachen) eine weniger zentrale Rolle: So ist z. B. die gehören-Prädikation auf menschliche Possessoren beschränkt (Das Auto gehört meinem Sohn – *Die Tür gehört dem Schrank); adnominal jedoch das Auto meines Sohnes wie die Tür des Schranks. Wir haben beide Denotatssorten einzubeziehen, wenn auch wir für die Prototypen von menschlichem Possessor ausgehen. – Insbesondere bei temporärer Relation geht die adnominale Possession weit über die prädikative hinaus. Neben Fällen, wo auch verbal Possession kodiert würde (wie das Messer des Einbrechers / das Buch von Peter ‚der Gegenstand, den der Possessor gerade (in der Hand / zu seiner Verfügung) hat‘) – man kann hier von ‚Disposition‘ als schwacher Form der Possession sprechen, vgl. KoptjevskajaTamm (2002: 147) mit „disposal“ –, gibt es zahlreiche andere Fälle, wo haben-Paraphrasen ausgeschlossen sind (vgl. Jensen/Vikner 2004: 17): Die saliente Beziehung kann auf dem Wissen über den Possessor beruhen, z. B. über besondere Vorlieben  





1572

D Nominale Syntagmen

(wie in Peters Café ‚das Café, das Peter regelmäßig aufsucht‘), oder über aktuelle Ereignisse (wie in Peters Zug ‚der Zug mit dem Peter heute gefahren ist‘) oder auch auf den Äußerungen des Possessors (wie in Peters Schmetterlinge ‚die Schmetterlinge, von denen Peter ständig spricht‘). Ein englischer Beleg für eine solche Verwendung ist der folgende; hier bezieht sich your Edsel owner auf den Besitzer des Edsel-Autos, dem Ex-Kommissar Wexfords (des Angesprochenen) aktuelle Ermittlungen gelten: (1) ENG

Whoever put her in the – er, vault, maybe your Edsel owner, must have known about the vault in advance. ‚Wer auch immer sie hineingelegt hat in die – ähm, Gruft, vielleicht dein Edsel-Besitzer, muss vorher schon von der Gruft gewusst haben.‘ (Ruth Rendell 2012: 60)

Nach Seiler (1977: 224) ist es kaum möglich, hier Restriktionen zu benennen. Jensen/ Vikner (2004: 5) sprechen von „pragmatischen Interpretationen“ des (englischen) Genitivs, die als zweite interpretatorische Großklasse den „semantischen“ gegenüberstünden und von denen es bezogen auf eine beliebige NP mit Genitivattribut „indefinitely many“ gebe. Seiler (1977) nennt für Karls Haus u. a. folgende Interpretationen: ‚Haus, in dem Karl wohnt / in dem Karl wohnen wird / das Karl baut / das Karl entworfen hat / das Karl gefällt‘. Temporäre Possession allerdings wird in der Literatur nur für menschliche oder zumindest belebte Possessoren geltend gemacht (vgl. z. B. die literarischen Beispiele in Jensen/Vikner 2004). Es ist in der Tat kaum vorstellbar, dass entsprechend zu Peters Zug von der Zug dieser Kisten die Rede sein könnte, wenn man z. B. meint ‚der Zug, in dem diese Kisten transportiert wurden‘. Eine mögliche Erklärung ist: Wir ordnen die Gegenstände der uns umgebenden Welt nach ihren wechselnden Rollen in Aktivitäten von Personen (den Possessoren) in allen möglichen Lebenssituationen und Lebensgeschichten. Gegenstände untereinander haben – abgesehen von Teil-Ganzes oder auch Lokalisierung, deren permanente Variante als eine Art Teil-Ganzes-Relation gesehen werden kann – in der Regel (mangels Interaktion) keine auch ohne explizite Benennung intersubjektiv deutbare Beziehung.  





– Auch die permanente Possession hat adnominal eine weitere Auslegung als prädikativ-verbal: Der Possessor kann die hervorbringende bzw. verursachende Größe bezeichnen oder allgemeiner die Größe, von der etwas herkommt. Bei menschlichem Possessor kann man hier von einer ‚Urheber-‘ bzw. ‚Auctoris‘-Relation sprechen wie in Peters Buch ‚das Buch, dessen Autor Peter ist‘, der Brief von Anna ‚der Brief, den Anna geschrieben hat‘. Das einem Bild, einer Fotografie, einer Statue usw. zugrundeliegende ‚Urbild‘ kann ebenfalls durch Possession bezeichnet werden: das Bild/Foto/ Porträt von Anna, die Statue des Großen Kurfürsten, die Röntgenaufnahme des Halswirbelbereichs (Engelen 2010a: 67 spricht vom „Genitiv des dargestellten Objekts“). Hier wird der Kopf nicht als ereignis-, sondern als gegenstandsdenotierend interpretiert.

D3 Possessive Attribute

1573

Wir werden anders als Stassen nicht von einer einfachen Aufteilung in vier kognitive Subdomänen der Possession ausgehen. Auch schließen wir nicht direkt an Jensen/ Vikner (2004) an, die – neben der bereits erwähnten „pragmatischen Interpretation“ – die semantischen Typen Control, Inherent, Part-Whole und Producer etablieren. Dabei entspricht Control der prototypischen alienablen POSSESSOR -Relation, Inherent steht für die Argument-Relation bei relationalen Köpfen, Part-Whole und Producer gehen auf in der Bedeutung des Kopfsubstantivs, genauer in seiner Qualia-Struktur (vgl. Pustejovsky 1995: 76, 85 f., 98), angelegte Rollen zurück. Part-Whole entspreche der Rolle CONSTITUTIVE („relation between an object and its constitutive parts“), Producer entspricht der Rolle AGENTIVE („factors involved in its origin or bringing it about“; vgl. unsere Urheber-Relation). Beide Ansätze erfassen nicht das volle Spektrum adnominaler Possessorrelationen im weiteren Sinne. Vielmehr schlagen wir folgende semantische Landkarte (Abb. 1) für die adnominale Possession in unseren Vergleichssprachen, s. folgende Seite, vor. Der alienable und der inalienable Prototyp sind (in Übereinstimmung mit Stassen und der typologischen Literatur) gebunden an ein nicht-abstraktes (i. e.) konkretes Possessum (POS) und einen belebten (in der Regel sogar menschlichen) Possessor (POR). Die Beschränkung auf menschliches Denotat gilt strikt nur für Eigentumsverhältnisse im engsten Verständnis, während alienable Possession im Sinne von Verfügungsgewalt oder privilegiertem Nutzungsrecht (man denke an die Höhle des Löwen, das rote Halsband der Katze) und vor allem die inalienablen Prototypen Körperteil- und Verwandtschaftsbeziehungen auch für andere Lebewesen gelten. Die Prototypen zeigen jeweils differenzierte Belegungen für die Permanenz der Possessor-PossessumRelation (POR-POS) und deren Kontrolliertheit durch den Possessor. Sie sind, wie die semantische Landkarte zeigt, die merkmalreichsten (und somit die Blätter an den am stärksten verzweigenden Ästen der Struktur). Die übrigen Typen entstehen durch Neutralisierung bestimmter bei den Prototypen vorhandener Merkmale. (Wir verfolgen dabei von rechts oben ausgehend die Verzweigungen des einen Hauptastes zur Wurzel und folgen dann dem zweiten Hauptast.) Bereits bei der Merkmalsbelegung, die für einen der Prototypen gilt, ist eine nicht prototypische Auslegung verzeichnet: Der Urheber-Typ ist eine Form einer permanenten und vom Possessor kontrollierten Possession, die aber auf einem Verursachungsverhältnis beruht. Kontrolle ist bei temporärer Possession kein relevantes Merkmal: Das Messer des Einbrechers unterliegt seiner Kontrolle, während der Zug des Zugbenutzers seiner Kontrolle nicht unterliegt. Bei nicht-belebtem Possessor ist das Merkmal Kontrolle (vgl. oben) ohnehin auszusetzen. Wir hatten darüber hinaus festgestellt, dass bei nicht-belebtem Possessor (in der Regel) nur eine permanente (und inalienable) saliente Beziehung als Possession konstruiert wird: Deren Prototyp ist die Teil-Ganzes-Beziehung. Der markierte Typ Urbild neutralisiert die Opposition bzgl. der Belebtheit des Possessors, die Relation ist (per default) permanent (und unauflöslich/inalienabel)  







Abb. 1: semantische Landkarte Possession

1574 D Nominale Syntagmen

1575

D3 Possessive Attribute

und unterliegt nicht der Kontrolle/Verursachung durch den Possessor. Vielmehr kann bei der Urbild-Relation ein anderweitiger Verursacher hinzukommen, der durch eine Auctoris-Relation ausgedrückt wird: Peters Foto von Anna / von dieser Landschaft. Lokale und temporale Verankerung schließlich kann im Prinzip für beliebige Possessa (konkrete und abstrakte Possessa: Gegenstände und Ereignisse) erfolgen: die Jugendlichen dieser Stadt (vgl. Engelen 2010a: 64), Deutschlands Banken, die Zeitung / die Ereignisse des gestrigen Tages. Grundsätzliche Voraussetzung für den Ausdruck lokaler Verankerung nach dem Muster der Possession (statt unter Verwendung lokaler Kasus/Adpositionen) ist die Permanenz bzw. Inhärenz oder auch ‚Holizität‘ der Beziehung, im Einzelnen zu den Faktoren der Wahl zwischen possessiver und adpositionaler Kodierung → D4.3. Temporäre Beziehungen zwischen nicht-belebtem POS und POR werden komitativ (der Zug mit den Kisten) oder unter Umkehrung von Kern und Modifikator lokativ (Kisten aus/in dem Zug) realisiert.  

Heine (1997a: 35) spricht mit Bezug auf Teil-Ganzes-Relationen von „inalienable inanimate possession“: Bei der fragwürdigen Kombination Zug dieser Kisten oder auch Kisten dieses Zuges läge hingegen „alienable unbelebte Possession“ vor. Man vergleiche aber Shin (2004: 64) zum Koreanischen, wo ein genitivisches Attribut sowohl lokale als auch Possessor-Verhältnisse ausdrücke, → D4.3.

Bei temporaler Verankerung verhält es sich anders: Sie beinhaltet direkt oder indirekt eine Verankerung von Ereignissen; so ist z. B. das Brot von gestern zu verstehen als ‚das Brot, das gestern gebacken wurde‘. Da die Ereigniszeit für das Ereignis selbst konstitutiv ist, ist die temporale Verankerung per se permanent: Trotz der Flüchtigkeit der Zeit bleiben die Zeitung oder das Brot des Vortags auf ewig die Zeitung bzw. das Brot des entsprechenden Vortags. Der markierte Status der temporalen Verankerung durch possessive Attribute beruht eher darauf, dass bei Gegenständen nur ausnahmsweise ein konstitutives Ereignis mit der entsprechenden zeitlichen Verankerung im Allgemeinwissen zugänglich ist (vgl. ??das Buch des 1. Juli ‚das Buch, das am 1. Juli geschrieben wurde / am 1. Juli erschienen ist / der Sprecher am 1. Juli gekauft hat / am 1. Juli verloren ging‘ usw.). Bei Ereignisbezeichnungen kommt eine possessive Form temporaler Verankerung nur dann in Frage, wenn das Ereignis als wesentlicher oder repräsentativer Teil des als Ereignissumme aufzufassenden Zeitraums perspektiviert wird (vgl. Das heftige Gewitter des 1. Juli / am 1. Juli führte landesweit zu Überschwemmungen versus Bei einem heftigen Gewitter ??des 1. Juli / am 1. Juli suchten wir Schutz in einer Hütte). Daher ist nur bei allgemeinen Ereignisbegriffen wie eben Ereignis selbst, Geschehnis, Vorkommnis eine possessive zeitliche Verankerung üblich (2), auch noch (3) bei pluralischer Quantifikation im Falle von Nominalisierungen, kaum (4) bei Bezug auf ein spezifisches Einzelereignis:  





















(2) ENG







For the calendar I do, I just had to put a square over each day and its events.

1576

D Nominale Syntagmen

,Für den Kalender, den ich mache, musste ich nur ein Quadrat über jeden Tag und seine Ereignisse legen.‘ (Internet) (3)

Zwischen dem 19. und 24. Juli war die Straße mehrmals gesperrt. Die Sperrungen dieser Woche führten zu erheblichen Behinderungen.

(4)

Am Montag wurde die Straße kurzfristig gesperrt. ??Die Sperrung dieses Tages führte zu erheblichen Behinderungen.



Insofern ordnen wir diesen Typ, der im Hinblick auf POS und POR unbeschränkt ist, als nicht prototypisch ein. Bei abstrakten Possessa (zweiter Hauptast) ist die Opposition bzgl. des Possessors neutralisiert, Kontrolle entfällt ohnehin. Es bleiben nur die Typen der permanenten Possession, die Eigenschaftsträgerschaft, und der temporären Possession, die Zustandsträgerschaft. Wir gebrauchen folgende Kurzformeln für die verschiedenen Typen; die vom possessiven Attribut getragene semantische Rolle ist durch Unterstreichung gekennzeichnet: 1) POSSESSION Prototyp alienabel (Eigentümer zu Possessum) 2) POSSESSION Prototyp inalienabel (Possessor zu Körperteil/verwandtem Lebewesen) 3) POSSESSION Urheber (Urheber zu Produkt) 4) POSSESSION temporär (temporärer Possessor zu temporärem Possessum) 5) POSSESSION Teil-Ganzes (Ganzes zu Teil) 6) POSSESSION Urbild (Urbild zu Abbild) 7) POSSESSION lokal/temporal (lokaler/temporaler Anker zu Verankertem) 8) POSSESSION Eigenschaft/Zustand (Eigenschaftsträger/Zustandsträger zu Eigenschaft/Zustand)

D3.2.2 Possessive Argumente Neben der (in diesem weiten Sinn verstandenen) ‚Possession‘ werden auch Argumente von inhärent relationalen (nicht-abgeleiteten) Substantiven sowie von Nominalisierungen in unseren Vergleichssprachen durch referentielle NP-Attribute bzw. PPformAttribute ausgedrückt. Sie stimmen also in der Kodierung mit Possessorattributen überein. Was inhärent relationale Substantive angeht, genannt werden z. B. Freund, Lehrer, Mitglied, Chef, so fällt eine eindeutige Bestimmung und Abgrenzung schwer (vgl. Jensen/Vikner 2004: 24). So ist etwa bei Freund, bei Verwandtschaftsbezeichnungen wie Mutter, Vater, Sohn, Tochter usw. das Argument des relationalen Substantivs gleichzeitig als (inalienables) Possessum interpretierbar; bei Spitze (des Speers / des Eisbergs) kann eine Argument-Relation oder eine Teil-Ganzes-Relation gesehen wer 



D3 Possessive Attribute

1577

den. Ähnlich verhält es sich auch bei Anfang, Ende, die sich wie in Anfang des Tages oder Ende des Vortrags auf Teile von Zeitintervallen oder Ereignissen beziehen. Auch Abstraktsubstantive wie Größe, Mut, Glätte bedürfen im Regelfall der Sättigung durch ein Argument (die Größe des Bauwerks, der Mut dieses Mannes, die Glätte der vereisten Oberfläche), die Kopfsubstantive drücken aber andererseits Eigenschaften oder Zustände aus, die die Argumente haben oder gar „besitzen“ (Mut kann man besitzen). Es gibt also, kurz gesagt, janusköpfige referentielle Attribute, die Merkmale von Possessoren und von Argumenten haben. Dies ist einer der Gründe, warum wir Argumentsättigung als eine Form von Modifikation betrachten und nicht etwa sie strikt abtrennen (→ A4.3). Relevant ist auch, dass viele relationale Substantive auch als ‚sortale‘ Ausdrücke gebraucht werden können. In diesem Fall denotieren sie, ohne dass ein Argument angebunden ist, somit als einstellige Prädikate bzw. nullstellige Nomina, eine Klasse von Gegenständen einer bestimmten Sorte, etwa das Substantiv Lehrer eine Klasse von Personen, die einen bestimmten Beruf ausüben (zur sortalen Lesart relationaler Substantive vgl. Partee/Borschev 2000: 193–196). Vor allem abstrakte Dimensionsausdrücke wie Länge, Breite oder auch ‚Funktionalbegriffe‘ (Löbner 1979) wie Dauer, Preis können kaum sortal interpretiert werden, hier ist auch bei absoluter Verwendung immer von der Ellipse des Arguments auszugehen: die Länge (des Bettes), die Dauer (des Vortrags), der Preis (der Ware). So genannte „Ultranominale“ (vgl. Barker/Dowty 1993; Primus 2012: 87), nichtabgeleitete Substantive mit einer präferierten semantischen Argument- bzw. Modifikatorstruktur (Buch, Garten, Haus) werden nach den Qualia (im Sinne von Pustejovsky 1995) interpretiert, also danach, welchen Zwecken sie dienen, wer sie hergestellt hat, wem sie gehören usw.; vgl. auch Jensen/Vikner (2004). Auch in dieser Sehweise sind Argumente und freie Modifikatoren nicht scharf geschieden. Jensen/Vikner (2004: 20 f.) behandeln Substantive wie picture (stellvertretend für die ganze Klasse) als 1-stellig: Inhärent (also Argument) ist die Stelle für das dargestellte Objekt (‚Urbild‘), während der ‚Urheber‘ (Producer) mit der Qualia-Struktur des Substantivs gegeben ist. Diese Stelle steht also gewissermaßen zwischen Argument und Adjunkt. Nur der ‚Possessor‘ (Control) ist ein freier Modifikator.  

Wie die Beispiele (5)

a. Cäsars Eroberungen

b. die Eroberung Galliens

zeigen, wird sowohl das Argument, das in einem Satz mit dem der Nominalisierung zugrundeliegenden Verb Subjekt wäre (5a), als auch das Argument, das in diesem Fall direktes Objekt wäre (5b), hier durch ein referentielles NP-Attribut im Genitiv ausgedrückt. Man spricht daher auch von Subjektsgenitiv und Objektsgenitiv. In den Vergleichssprachen kann übergreifend, wenn nur eines der beiden Argumente vorhanden ist, dieses wie ein Possessorattribut durch eine NP (im Genitiv bzw. für das Ungarische im Nominativ) oder durch eine PPform ausgedrückt werden. Varianz ergibt

1578

D Nominale Syntagmen

sich zum einen vor allem bezüglich der Repräsentation von Objekt-Argumenten bestimmter semantischer Rollen wie der Stimulus-Rolle, die sprachabhängig nicht durch ein possessives Attribut ausgedrückt werden wie bei DEU Liebe zu Eva / #Liebe Evas oder wie bei ENG love of Eve / #Eve’s love, nur durch eine bestimmte Form des possessiven Attributs (→ D3.9 sowie → D4.2.4). Zum anderen ergeben sich bei Kookkurrenz beider Argumente mehrere, in den Sprachen unterschiedlich genutzte Möglichkeiten. Hier folgen wir Koptjevskaja-Tamm (1993, 2002, 2003c), die neben dem possessiv-possessiven Typ (wie in DEU Cäsars Eroberung von Gallien) weitere Strukturmuster identifiziert. Der entsprechende Parameter lautet: ‚Argument-Realisierungen: possessiv-possessive versus ergativ-possessive versus possessiv-akkusativische Kodierung‘. Wenn Argumente einer Nominalisierung wie Possessorattribute kodiert werden, stellt sich die Frage, ob es über den Status als referentielle Modifikatoren hinaus Gemeinsamkeiten mit der Possession gibt. Dieser Frage gehen wir in → A4.3.3.1 nach.

D3.3 Testverfahren für referentielle NP/PPformAttribute in Modifikationsfunktion Das zentrale Argument für die Zusammenfassung aller Spielarten der Possession und die Hinzunahme der Argumentsättigung bei relationalen Substantiven und Nominalisierungen ist, dass all diese semantischen Unterarten referentieller possessiver Attribute die folgenden beiden Tests bestehen: den Pronominalisierungstest und den Test auf Substituierbarkeit durch ein adnominales Possessivum (vgl. auch Zifonun 2010a, → A4.3.1). Wir wenden die Tests exemplarisch auf einen typischen Possessor-Genitiv sowie auf ArgumentGenitive an und überlassen dem Leser die Nachprüfung für andere semantische Typen.

Pronominalisierungstest: Das Attribut kann durch ein kongruierendes Personalpronomen der 3. Person (die Anapher im Sinne der IDS-Grammatik 1997) wieder aufgenommen werden.  

(6)

a. Hier steht das Fahrrad [meines Vaters]i. Eri hat es gestern gekauft. b. Wir warten noch auf die Rückkehr [der Vertriebenen]i / die Rettung [der Gefangenen]i. Siei befinden sich an einem geheimen Ort.

Test auf Substituierbarkeit durch ein adnominales Possessivum: (7)

a. Hier steht das Fahrrad [meines Vaters]i. – Hier steht seini Fahrrad. b. Wir warten noch auf die Rückkehr [der Vertriebenen]i / die Rettung [der Gefangenen]i. – Wir warten noch auf ihrei Rückkehr/Rettung.

1579

D3 Possessive Attribute

Auch Rappaport (2004: 254) betrachtet die Tatsache, dass Substituierbarkeit durch ein adnominales Possessivum sprachübergreifend gleichermaßen für Possessoren und Argumente zutrifft „as a linguistically significant generalization“. Er erklärt sie allerdings nicht semantisch, sondern in generativem Rahmen syntaktisch. Es handle sich bei beiden Typen, die er zusammenfassend als „possessors“ bezeichnet, um ein syntaktisches Konstrukt, das diejenigen nominalen Satelliten umfasse, denen durch die funktionale Kategorie D (Determiner) ein struktureller Kasus zugewiesen werde. Dieser strukturelle Kasus werde im Englischen generell pränominal realisiert, bei lexikalischer Belegung durch den „sächsischen Genitiv“, bei pronominaler durch ausgezeichnete possessive Formen. Im Polnischen, der zweiten von ihm untersuchten Sprache, erscheine nur die pronominale Realisierungsform pränominal. Diese sei aber im Sinne einer Diagnostik auch für die Einordnung der durch sie substituierbaren Genitivphrasen als possessors heranzuziehen.

Durch den Pronominalisierungstest wird die Referentialität des Attributs abgeprüft. Die Möglichkeit der Pronominalisierung ist ein hinreichender Test für die Referentialität des Attributs, jedoch keine notwendige Voraussetzung. Adverbien können grundsätzlich nicht durch Pronomina wieder aufgenommen werden. Das gilt auch für deiktische lokale oder temporale Adverbien wie hier, dort; gestern, morgen, die wir als referentiell betrachten. Wiederaufnahme geschieht hier ggf. nur adverbial, durch ‚Pro-Adverbien‘ mit weniger spezifischer Bedeutung (vgl. dazu Zifonun 2001a: 12 f.):  

(8) DEU ENG

Hier hast du die Zeitung von gestern. Da ist doch dieses schreckliche Unglück passiert. Here you have yesterday’s newspaper. That’s when this terrible accident happened.

Durch den Test auf Substituierbarkeit durch ein adnominales Possessivum wird nonspezifische modifikative Relationalität abgeprüft. Der Substitutionstest setzt den Pronominalisierungstest voraus, anders gesagt, nur nominale referentielle Ausdrücke als Attribute oder Teil von PPform-Attributen haben die Chance, den Substitutionstest zu passieren. Dies schließt auch hier adverbiale Attribute aus. Das gilt insbesondere auch für das Englische, wo Adverbien wie today, yesterday usw. im s-Genitiv stehen können. Dieser „Kasus“ ist anders als die Genitive des Polnischen und Deutschen nicht auf nominale Wortarten beschränkt (→ D3.6). Die Form der Wiederaufnahme eines Adverbs im Genitiv muss aber adverbial bleiben (vgl. when im englischen Beispiel). Nicht alle Attribute, die den Pronominalisierungstest passieren, passieren auch den Substitutionstest: Hier handelt es sich um (nominale) referentielle Ausdrücke, die keine modifikative Funktion haben. Zu nennen sind hier vor allem partitive Verhältnisse wie in folgendem Beispiel. (9a) zeigt via Pronominalisierung, dass das Attribut referentiell ist, (9b) zeigt via scheiternder Substitution, dass es keine Modifikation leistet: (9)

a. Geben Sie mir doch bitte noch eine Tasse von [diesem hervorragenden Tee]i. Eri tut mir wirklich gut.

1580

D Nominale Syntagmen

b. Geben Sie mir doch bitte noch eine Tasse von [diesem hervorragenden Tee]i. #[Seine] Tassen tun mir wirklich gut. i Zu partitiven Attributen vgl. Zifonun (2010a), weiteres → A5. Beide Tests sind mit Blick auf die Attribute, die unter Possession fallen oder Argumentstatus haben, robust und führen im Allgemeinen zu klaren Ergebnissen (auch in den Kontrastsprachen). Beim Test auf Substituierbarkeit durch ein Possessivum gibt es einige Grenzfälle bzw. unklare Fälle: – Bei Argumentrelationen gelten folgende Einschränkungen: Bei PPform (synthetische Realisierung ist hier in unseren Sprachen wohl ausgeschlossen), das den Auslöser/Stimulus einer Emotion ausdrückt wie ENG fear of God, FRA crainte de dieu ist Substitution durch das Possessivum komplett ausgeschlossen, stattdessen: fear of him, crainte de lui. Kodiert das Attribut ein nicht-affiziertes und unbelebtes THEMA Argument z. B. bei ENG avoidance, DEU Meiden/Vermeidung oder bei Kommunikationsausdrücken wie Äußerung/Ausdruck, so ist die Substitution durch das Possessivum dispräferiert (dazu ausführlicher → B1.5.4.2). – Im Bereich Possession gelten folgende Einschränkungen: (i) Kodiert das Attribut den URHEBER in einer Auctoris-Relation wie bei Gemälde von Picasso oder das URBILD in einer ikonischen Relation wie bei Foto von Anna ist das Possessivum dispräferiert, es wird auf die Umschreibung mit formaler Präposition + Personalpronomen ausgewichen: DEU Gemälde von ihm, ENG painting of him, FRA peinture de lui / DEU ein Foto von ihm, ENG a photograph of him, FRA une photo de lui. Dies steht möglicherweise im Zusammenhang mit der „ablativischen“ Grundbedeutung von von, of und de; vgl. → D3.9. (ii) Erfolgt die zeitliche oder lokale Verankerung durch ein Adverb, so ist, wie oben bereits festgestellt, Pronominalisierung und Substitution durch das Possessivum ausgeschlossen.  

(10)

Deutschlands Banken → seine Banken / die Banken von hier → ø

(11)

die Ereignisse der Woche → ihre Ereignisse / die Ereignisse von gestern → ø

Schlechte oder mangelnde Substituierbarkeit durch das Possessivum korreliert mit einem peripheren oder markierten Status in der semantischen Landkarte der Possession und (darauf beruhend) ggf. mit einer Beschränkung auf analytischen Ausdruck (PPform). Zu beachten ist auch, dass bei zwei oder drei referentiellen NP/PPform-Attributen die Pronominalisierung einer Hierarchie folgt, in der sehr vereinfacht der prototypische alienable Possessor dem AGENS / URHEBER -Argument hierarchisch übergeordnet URBILD D -Ausdruck dominiert: ist, das wiederum einen THEMA / URBIL POSSESSOR

> AGENS / URHEBER > THEMA / URBILD  

1581

D3 Possessive Attribute

Wir können dies an den Substitutionsmöglichkeiten für das folgende Beispiel demonstrieren: (12)

PetersP O S S Porträt [eines jungen Mannes]U R B I L D [von Picasso]U R H E B E R seinP O S S /U R B I L D /U R H E B E R Porträt seinP O S S /U R H E B E R Porträt [eines jungen Mannes / von ihm]U R B I L D seinP O S S Porträt [von Picasso / von ihm]U R H E B E R ??sein U R B I L D Porträt [von Picasso / von ihm]U R H E B E R *seinU R B I L D /U R H E B E R Porträt [von Peter / von ihm]P O S S seinP O S S Porträt [eines jungen Mannes / von ihm]U R B I L D [von Picasso / von ihm]U R H E B E R  







In der Literatur (vgl. z. B. Altenberg 1982: 215–217) wird die URBILD -Rolle direkt unter der Rolle THEMA gefasst. Es werden also z. B. ‚dargestelltes Objekt‘ von picture, image usw. und ‚Inhalt, Gegenstand‘ von book, story, report usw. identifiziert. Allerdings werden im Deutschen possessiv realisierte THEMA -Attribute etwa von Geschichte, Roman kaum mit URHEBER - und gar nicht mit POSSESSOR -Attributen oder beidem kombiniert: die Geschichte eines exaltierten jungen Mannes versus ?GoethesU R H E B E R Geschichte eines exaltierten jungen Mannes / ??die Geschichte eines exaltierten jungen Mannes von GoetheU R H E B E R versus *PetersP O S S Geschichte eines exaltierten jungen Mannes versus *PetersP O S S Geschichte eines exaltierten jungen Mannes von GoetheU R H E B E R .  





(Eine ausführliche Darstellung der Verhältnisse in den Kontrastsprachen und eine Herleitung der Hierarchie findet sich in Zifonun 2005a: 33–52.)

D3.4 Varianzparameter für referentielle NP/PPform-Attribute Wir untersuchen im Folgenden vier Varianzparameter formaler und zwei funktionaler bzw. semantischer Natur für die possessiven Possessor- und Argument-Realisierungen in unseren Vergleichssprachen. Auf der formalen Seite geht es zum einen um die Alternative zwischen der formalen Auszeichnung der Attribut-NP wie in DEU das Buch des Sohns gegenüber der Auszeichnung des Kopfs der NP durch ein Possessoraffix wie in UNG a fiú könyve. Wir behandeln dies unter dem Parameter ‚Dependens- versus Kopfmarkierung versus Doppelmarkierung‘. Im Falle von Dependensmarkierung verfahren die indoeuropäischen Vergleichssprachen entweder synthetisch durch Kasusmarkierung des Dependens oder aber analytisch unter Nutzung einer ‚formalen Präposition‘ wie in FRA le livre du fils. Das Deutsche und das Englische kombinieren beide Verfahren. Zwei weitere formale Parameter behandeln Optionen, die mit der Linearisierung in der NP zusammenhängen. Possessive Attribute können vor oder nach dem Kopf der NP auftreten. Die Position hängt dabei von unterschiedlichen Faktoren ab: (a) der Alternative synthetisch – analytisch. Analytische Realisierung erfolgt – von markierten

1582

D Nominale Syntagmen

Fällen der „Bewegung“ abgesehen – immer postnominal, synthetische (durch den Kasus Genitiv) kann wie im Englischen an die pränominale Position gebunden sein (wie in the son’s book) oder aber wie im Deutschen durch einen weiteren Faktor konditioniert sein, nämlich (b) der Zugehörigkeit des Dependens zu einer Denotatsklasse im oberen Bereich der Allgemeinen Nominalhierarchie (vgl. DEU Peters Sohn). Im Polnischen spielt (neben der Allgemeinen Nominalhierarchie) dagegen (c) die Informationsstruktur die entscheidende Rolle für die Belegung des Parameters ‚Serialisierung von Dependens und Kopf‘. Im Deutschen folgt der postnominale Genitiv unmittelbar auf das Kopfsubstantiv bzw. den nominalen Kern. Daraus folgt auch, dass Rekursion, also zwei gleichberechtigte postnominale Genitive zu ein und demselben Kopf ausgeschlossen sind. Zu fragen ist, ob beide Beschränkungen bezüglich ‚Adjazenz und Rekursion‘ über das Deutsche hinaus Gültigkeit haben. Die funktionalen Parameter greifen die bereits in → D3.1 und → D3.2 erörterte Unterscheidung zwischen ‚Possession‘ und ‚Argumentsättigung‘ auf. In der Abdeckung der semantischen Landkarte der Possession gibt es keine markanten Unterschiede zwischen den Vergleichssprachen. Alle Spielarten der in der Landkarte erfassten Possessions-Verhältnisse werden sprachübergreifend durch possessive Attribute verkörpert. Es können dabei stilistische Präferenzen auftreten. So werden im Englischen permanente lokale Verhältnisse eher als im Deutschen possessiv realisiert, z. B. ENG the paths of our garden versus DEU die Wege in unserem Garten. Bei der analytischen Realisierung ist in Rechnung zu stellen, dass Präpositionen wie FRA de, ENG of, DEU von nicht nur als formale Marker der Possessorrelation gebraucht werden, sondern auch synchron ablativische Verhältnisse kodieren können. Die Grenze zwischen ablativischer Verwendung und formalem Relationsmarker ist nicht immer scharf, vgl. etwa ENG The Witches of Eastwick (Roman von John Updike), DEU Die Hexen von Eastwick. Die Synthetisch-analytisch-Unterscheidung kann außerdem im Deutschen und Englischen, wo beide Optionen gegeben sind, referenz-, rollen- oder wortsemantisch, oder auch syntaktisch, informationsstrukturell und stilistisch motiviert sein. Dem relativen Gewicht dieser Faktoren in beiden Sprachen und der allgemeinen Differenzierung zwischen semantischer und formaler Lesart des Markers gehen wir mit ‚funktionale Korrelate der Synthetisch-analytisch-Unterscheidung‘ nach. Als letzten Parameter behandeln wir im Anschluss an KoptjevskajaTamm (1993, 2003c), die Strukturmuster, die sprachübergreifend bei Nominalisierungen für die Realisierung von Subjekt- und Objekt-Argumenten des zugrundeliegenden Verbs zur Verfügung stehen, und untersuchen die entsprechenden Optionen, nämlich ‚Argument-Realisierungen: possessiv-possessive versus ergativ-possessive versus possessiv-akkusativische Kodierung‘ in den Vergleichssprachen.  

Varianzparameter formaler Natur: 1. 2.

Dependens- versus Kopfmarkierung versus Doppelmarkierung Bei Dependensmarkierung: synthetische oder analytische Form oder Kombinationen von beidem

D3 Possessive Attribute

1583

3.

Serialisierung: Attribut vor oder nach dem Kern: pränominale oder postnominale Position oder beides, Restriktionen für die Belegung der Positionen, Besonderheiten der pränominalen Position: Determinatorfunktion/Definitheitsinduktion 4. Adjazenz und Rekursion Varianzparameter semantischer/funktionaler Natur: 1. 2.

funktionale Korrelate der Synthetisch-analytisch-Unterscheidung Argument-Realisierungen: possessiv-possessive versus ergativ-possessive versus possessiv-akkusativische Kodierung

D3.5 Dependens- versus Kopfmarkierung versus Doppelmarkierung Koptjevskaja-Tamm (2002) macht bei ihrer formalen Klassifikation der possessive NPs (PNPs) die Hauptunterscheidung zwischen synthetischer und analytischer Konstruktion, die Unterscheidung nach dem Sitz des Markers wird nur als sekundäres Unterscheidungsmerkmal bei synthetischen Konstruktionen hinzugenommen. Wir halten es in unserem Rahmen für angemessener, den Sitz des Markers als Merkmal erster Ordnung zu betrachten, vor allem weil in unseren Vergleichssprachen nicht nur in dieser funktionalen Domäne analytische und synthetische Markierungsformen nebeneinander vorkommen und sich ergänzen (vgl. z. B. auch Verbkomplementation durch Kasus- und Präpositionalergänzungen). Die analytische Markierung (durch Adpositionen) wird daher als Grammatikalisierungserscheinung betrachtet, die nicht notwendig zu einem neuen, nicht mehr dependensmarkierenden Sprachtyp führt. Dependensmarkierend (synthetisch und/oder analytisch) sind alle Kern-Kontrastsprachen außer dem Ungarischen (vgl. dazu den nächsten Parameter). Kopf- bzw. Doppelmarkierung haben neben dem Ungarischen das Türkische und weitere Sprachen an der östlichen und südöstlichen Peripherie Europas (vgl. Koptjevskaja-Tamm 2002: 147). Kopfmarkierung bei ungarischen adnominalen Possessorphrasen liegt in (13) vor, Doppelmarkierung in (14). (Zur Syntax der ungarischen Strukturen vgl. insbesondere auch → D1.2.3.3.4.)  

(13) UNG a. a

fiú könyv-e Junge Buch-3SG ,das Buch des Jungen‘ DEF

1584

D Nominale Syntagmen

b. (az

én) könyv-ei-m 1SG Buch-PPL . 1SG ‚meine Bücher‘ c. (a) János könyv-e DEF János Buch-3SG ,János’ Buch‘ d. [a fiú] egy könyv-e DEF Junge INDEF Buch-3SG ,ein Buch des Jungen‘ e. Péter két könyv-e itt fekszik, három Peter zwei Buch-3SG hier lieg.3SG drei ,Zwei Bücher von Peter liegen hier, drei dort. ‘ DEF

ott. dort

(14) a. a fiúnak a könyv-e DEF Junge.DAT DEF Buch-3SG UNG ,das Buch des Jungen‘ b. [A fiúnak] ellopták a könyv-é-t. DEF Junge.DAT stehl.PRT .3PL . DEF DEF Buch-3SG - AKK ,Sie stahlen / Man stahl das Buch des Jungen.‘  

Zur kopfmarkierenden Struktur (13): Hier erscheint der Possessorausdruck ohne Kasusmarker und der Kopf, also der Ausdruck für den Possessum-Begriff, trägt einen Marker, der Person und Numerus in Kongruenz mit dem Possessorausdruck anzeigt. Zu diesen ‚Possessorsuffixen‘, wie wir diese Art Personalsuffixe im nominalen Bereich hier nennen wollen, vgl. ausführlich → C3.3.3, auch → B1.5.4.5. Auf den ersten Blick vergleichbar dem pränominalen Genitiv des Englischen oder Deutschen blockiert das nominativische (bzw. kasuslose) Dependens (wie in 13a) die Setzung des definiten Artikels für die Gesamt-NP. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass dies nur gilt, wenn das Dependens selbst einen definiten Artikel hat, sonst wird der Artikel obligatorisch oder fakultativ gesetzt. Obligatorisch steht er, wenn ein personalpronominaler Possessor explizit genannt wird, was nur unter Hervorhebung erforderlich ist (13b), fakultativ steht er bei einem Eigennamen als Dependens (vgl. (13c)). Dies zeigt, dass kasuslose Dependensphrasen im Ungarischen (neben der Modifikatorfunktion) nicht als Determinatoren eingeschätzt werden können. Das Fehlen des Artikels scheint ein reines Oberflächenphänomen zu sein. Definitheitsinduktion liegt nicht vor, denn ein indefiniter Artikel für die Gesamt-NP kann gesetzt werden (13d). Auch numerische Quantifikation bei indefiniter Referenz lässt die Nennung des Possessors in dieser Form zu, während im Deutschen und Englischen obligatorisch auf die nichtdefinitheitsinduzierende postnominale Possessorphrase umgestiegen werden muss (13e).

D3 Possessive Attribute

1585

Die Gemeinsamkeit mit den pränominalen determinierenden Genitivattributen des Deutschen oder Englischen beschränkt sich darauf, dass sie, insofern als sie, wie in (15) ersichtlich, ebenso links vor attributiven Adjektiven und anderen attributiven Erweiterungen erscheinen, potentiell einen Zusammenstoß von Artikel des Attributs und Artikel der Gesamt-NP auslösen, der auf die eine oder andere Art strukturell bewältigt werden muss: (15) UNG

a

fa legtöbb korai virág-ja Baum meist früh Blüte-3SG ,die meisten frühen Blüten des Baums‘ wörtl. ‚des Baumes meiste frühe Blüte‘ (Tompa 1968: 294) DEF

Die Positionierung des possessiven Attributs (wie anderer Attribute) vor dem Kopfsubstantiv ist auf die für das Ungarische kennzeichnende Eigenschaft der Linksverzweigung (left-branching) zurückzuführen. Zur doppelmarkierenden Struktur (14): Hier wird der Possessorausdruck (bzw. dessen Kopf) mit dem Affix -nek/-nak (dem Dativsuffix) versehen, der Kopf der Gesamt-NP wird im Allgemeinen wie bei der nur kopfmarkierenden Struktur affigiert. Wie (14a) zeigt, muss hier der definite Artikel für die Gesamt-NP gesetzt werden, er folgt nach der Dependensphrase. Die kasusmarkierte Possessorphrase nimmt somit die linksperiphere Position in der Gesamt-NP ein, die auch das Demonstrativum az/ez besetzen kann. Die kasusmarkierte Possessorphrase kann anders als die kasuslose auch aus der Gesamt-NP wegbewegt werden (vgl. (14b)) „sitting among the complements of the matrix verb, on a par with the projection of the possessed verb“ (É. Kiss 2002: 157). Hier wird (ebd.) von „cleft possessive construction“ gesprochen.  

Doppelmarkierte Strukturen wie (14b) könnten aber auch Anlass geben, die adnominale Natur der Possessorphrase in Zweifel zu ziehen und stattdessen von einer Konstituente auf Satzebene auszugehen. So erklärt Tompa (1968: 296) die adnominale kasusmarkierte Possessorphrase durch Reanalyse aus einem Verbkomplement bei ditransitiven Verben: „Das Relationsaffix nek/nak des Possessivattributs ist durch die syntaktische Verlagerung und die dadurch bedingte Funktionsanreicherung bzw. Funktionsteilung des ähnlichen Dativsuffixes entstanden (Ein Dativobjekt wie Az anyának – [a] leánya virágot vitt ‘Der Mutter brachte die Tochter Blumen’ wurde allmählich als Possessivattribut aufgefasst: Az anyának [a] leánya – virágot vitt [valahová] ‘Die Tochter der Mutter brachte die Blumen [irgendwohin]’).“ Allerdings ist gerade bei (14b) nicht von einer möglichen Lesart als Verbkomplement auszugehen, da Verben des ‚negativen Transfers‘ wie ellop ‚stehlen‘ den Vor-Possessor im Ungarischen anders als im Deutschen nicht als IO konstruieren, sondern als Phrase im Ablativ (vgl. → B2.4.3.2.2.1). Folgt man also Tompa, so muss die Reanalyse von Verben des ‚positiven Transfers‘ wie ‚bringen‘, die ein IO im Dativ aufweisen, ausgegangen sein. Erst das bereits adnominal reanalysierte Possessorsuffix ermöglichte dann die breitere Anwendung, wie sie in (14b) vorliegt.

1586

D Nominale Syntagmen

Reanalyse, wie Tompa sie annimmt, wurde auch für den adnominalen possessiven Dativ des Deutschen, etwa in dem Vater sein Hut, vorgeschlagen (vgl. Zifonun 2003c, 2005b). Hier ist aber für das adnominal reanalysierte Attribut nicht mit der Möglichkeit der Extraktion zu rechnen, da ein adnominaler Dativ + Possessivum nicht vom Kopfsubstantiv abgetrennt werden kann; vgl. *Dem Vater sein liegt hier Hut versus Dem Vater sein Hut liegt hier. Auch die Wegbewegung nur des Dativs ist hier ungrammatisch: *Dem Vater liegt hier sein Hut. Auch Tompa (1968: 295) geht davon aus, dass bei adnominalem Gebrauch zwischen Attribut und Bezugswort etwas eingeschoben werden kann („Subjekt, Prädikat, Objekt, Adverbiale“) und nennt das Beispiel A könyvnek piszkos egy lapja ‚Ein Blatt des Buches ist schmutzig‘. Die Entscheidung zwischen adnominalem und adverbalem Bezug solcher Possessorphrasen dürfte vor allem davon abhängen, ob das Prädikatsverb für einen entsprechenden Dativ subkategorisiert ist. Ist dies nicht der Fall wie hier – es handelt sich um einen Adjektivalsatz ohne Kopula – kann die adnominale Analyse gerechtfertigt sein. Sie muss aber nicht vorliegen, da auch mit der Möglichkeit eines „freien“ adverbalen Dativs (Dativus Commodi/Incommodi) zu rechnen ist. Nach Bartos (2000: 681–683) kann die Numeruskongruenz zwischen einem adverbalen Adjunkt im Dativ und einem extraponierten adnominalen Possessorausdruck differenzieren:  

(16) UNG

(17) UNG

(18) UNG

a. Csak [a fiú-k-nak a kalap-ja] veszett el. hol.PRT .3SG PV nur DEF Junge-PL - DAT DEF Hut-3SG ,Nur der Hut der Jungen ist verlorengegangen.‘ b. *[a fiú-k-nak a kalap-juk] DEF Junge-PL - DAT DEF Hut-3PL A

fiú-k-nak elveszett a Junge-PL - DAT verlorengeh.PRT .3SG DEF ,Den Jungen ist ihr Hut verlorengegangen.‘

DEF

kalap-juk/?kalap-ja. Hut-3PL /Hut-3SG

Nekem csak a fiú-k-nak tetszett a műsor-a/*műsor-uk. 1SG . DAT nur DEF Junge-PL - DAT gefall.PRT .3SG DEF Programm-3SG / Programm-3PL ,‚Mir hat nur das Programm der Jungen (und nicht das der Mädchen) gefallen.‘

Bei pluralischem adnominalem dativischem Possessorausdruck in Adjazenz zum Possessumausdruck ist Pluralkongruenz am Kopfsubstantiv ungrammatisch, (16a) versus (16b). Erscheint die dativische Phrase getrennt vom Possessum, so ist Pluralkongruenz der Regelfall, unter der Voraussetzung einer Interpretierbarkeit als adverbales Komplement oder Supplement, vgl. (17). Wenn dagegen ein adverbaler Bezug ausgeschlossen ist, ist Numeruskongruenz ungrammatisch (18); nur in diesem Fall ist das Verständnis als distant gestellte adnominale Possessorphrase zwingend.

Gerade das Vorkommen als direkte Satzkonstituente, ohne vom Verb lizensiert zu sein, ist eine der definitorischen Eigenschaften des dativischen so genannten ‚externen Possessors‘. So gilt denn auch nach Haspelmath (2001b: 1498): „The SAE feature, external possessors in the dative, is found in Romance, Continental West Germanic, Balto-Slavic, Hungarian and Balkan languages (Greek, Albanian).“ Vom prototypischen Fall des externen Possessors, wie er in DEU Dem Mann flattern die Nerven vorliegt, unterscheiden sich aber die ungarischen Beispiele mindestens in folgenden Punkten:

D3 Possessive Attribute

1587

a.

NP-intern und -extern hat im Ungarischen (wie auch im Griechischen und im Albanischen) die Possessorphrase dieselbe morphosyntaktische Form, da in bestimmten „Balkansprachen“ Genitiv und Dativ zusammengefallen sind (→ B2.4.3.1.7). Demgegenüber unterscheidet sie sich im Deutschen und anderen mittel- oder osteuropäischen Sprachen, für die externe Possessoren als areales Merkmal geltend gemacht werden: Dort ist der externe Possessor ein Dativ, der interne (standardsprachlich) ein Genitiv oder eine PPform. b. Die extraponierte Possessorphrase im Ungarischen unterscheidet sich semantisch nicht von der NP-internen, während für die externen Possessoren ein höherer Grad an Betroffenheit (affectedness) geltend gemacht wird. c. Aus (b) folgt insbesondere auch, dass für die extraponierte ungarische Possessorphrase die Beschränkung auf inalienable Possessa (Körperteile) von in der Regel belebten Possessoren, die für die externen Possessoren weitgehend gilt, nicht zutrifft. Vgl. Dem Mann flattern die Nerven versus *Dem Mann flattert der Kanarienvogel. Das ungarische Beispiel, das König (2001b: 973) für einen externen Possessor anführt, ist: (19) UNG

A

kutya beleharapott a szomszéd-nak DEF Hund anbeiß.PRT .3SG DEF Nachbar-DAT ‚Der Hund biss dem/den Nachbarn ins Bein.‘

a DEF

lábá-ba. Bein.3SG - ILL

Hier ist die kasusaffigierte Possessorphrase dem Artikel des Possessumausdrucks direkt präponiert und damit nicht echt extraponiert und muss nicht als ein externer Possessor verstanden werden. Es zeigt sich somit, dass bei allen Gemeinsamkeiten zwischen dem externen Possessor im Deutschen und dem extraponierten Possessor des Ungarischen doch erhebliche Unterschiede bestehen. Im Deutschen konkurriert hier, wie die Übersetzung zeigt, ein externer possessiver Dativ mit einem Akkusativkomplement in der PATIENS -Rolle. Beide Möglichkeiten sind nach D E R E K O Recherche (26.11.2012) etwa gleich stark belegt.

Eine andere Art von Doppelmarkierung stellt der „oblique genitive“ des Englischen dar, bei Altenberg (1982: 70–72) auch „double genitive“ genannt, wie in a friend of John’s. Hier wird der Dependens-Ausdruck zweimal, analytisch und synthetisch, gekennzeichnet. Er erscheint nur bei indefiniter bzw. durch that determinierter Gesamtphrase, wie in that wife of his ‚diese Frau von ihm‘, that slim waist of hers ‚diese schmale Taille von ihr‘ (ebd.: 71). Das Attribut hingegen muss definit sein und ein belebtes bzw. menschliches Denotat haben. Die semantische Relation muss „subjektiv“ sein, also entweder einen Possessor, ein Agens oder ein Experiens einbringen. Die Rolle des dargestellten Objekts, des Urbildes, ist ausgeschlossen, so dass z. B. folgende Opposition gegeben ist: a portrait of John’s ‚ein Portrait, das John  

1588

D Nominale Syntagmen

gehört‘ vs. a portrait of John ‚ein Portrait, das John darstellt‘ (vgl. Partee/Borschev 2000: 196).

D3.6 Synthetische oder analytische Form bei Dependensmarkierung oder Kombinationen von beidem Synthetische Realisierung der referentiellen possessiven Attribute ist (vgl. Koptjevskaja-Tamm 2002: 147) in Europa der am meisten verbreitete Typ; er findet sich vor allem in Zentral- und Osteuropa, jedoch nicht an der äußersten östlichen und südöstlichen Peripherie. Entsprechende Nominalphrasen haben den Kasus Genitiv (bzw. Possessivus oder auch mit Bezug auf Balkansprachen: Genitiv/Dativ) wie im Polnischen und anderen slawischen Sprachen, dem Englischen, den skandinavischen Sprachen oder dem Neugriechischen. Analytische Realisierung ist vor allem im westlichen Europa, in romanischen und teilweise germanischen Sprachen verbreitet. Relationselement ist typischerweise eine semantisch wenig spezifische, ‚formale‘ Präposition wie ENG of, NDL van, DEU von. Romanische Sprachen verwenden die auf LAT de ‚von‘ zurückgehenden Präpositionen de, di. Die genannten Präpositionen sind ‚ablativisch‘. Vor allem in den skandinavischen Sprachen werden aber mehrere Präpositionen aus dem spatialen Feld zur Kodierung von adnominaler Zugehörigkeit gebraucht, die wie in Stolz et al. (2008: 217–238) im Einzelnen gezeigt, z. T. Aufspaltungen nach Alienabilität aufweisen. Im Isländischen beispielsweise werden für Körperteil-Beziehungen die Präpositionen á ‚auf‘ und í ‚in‘ gebraucht (20, 21), wobei á auch bei anderen Teil-Ganzes-Beziehungen zur Anwendung kommt (22); im Schwedischen erscheint bei Körperteil-Beziehungen die Präposition på ‚auf‘, bei Verwandtschaftsverhältnissen till ‚zu‘.  

(20) ISL

hjartáđ í mér 1SG . DAT Herz.DEF in ,mein Herz‘ (Kress 1982: 195)

(21) ISL

skeggiđ á pabba Bart.DEF auf Papa ‚Papas Bart‘ (ebd.: 197)

(22) ISL

dyrnar á húsi-nu auf Haus.DAT - DEF . DAT Tür.DEF ‚die Tür des Hauses‘ (ebd.)

D3 Possessive Attribute

1589

Auch im Französischen kann von einer lokativen/adlativen Präposition, nämlich à ‚an, in, zu‘ Gebrauch gemacht werden (vgl. la fille unique à M. le maire ‚die einzige Tochter von Herrn Bürgermeister‘, le manteau à M. Bernard ‚der Mantel von Herrn Bernard‘; vgl. Grevisse/Goosse 2011: 455). Dieser Gebrauch ist nach Grevisse/Goosse (ebd.) eher umgangssprachlich und beschränkt sich auf belebte Possessoren. Nominale (synthetische) und präpositionale (analytische) Realisierung schließen sich bei Sprachen, die über beide Attributtypen verfügen, nicht unbedingt aus: In der Regel überlappen sich die beiden Typen dann funktional, ohne wirklich funktional völlig äquivalent zu sein. In den germanischen Sprachen konkurriert der Genitiv mit adnominalen Präpositionalphrasen vom Typ PPform. Dabei sind die Gebrauchsspektren aber sehr ungleich verteilt: Während im Niederländischen der s-Genitiv weitgehend auf Eigennamen und Verwandtschaftsbezeichnungen (unterschiedlicher Rollen und Funktionen) beschränkt ist und van-PPs stark dominieren, ist das Spektrum des s-Genitivs in den festlandskandinavischen Sprachen, insbesondere im geschriebenen Standard-Schwedischen und Dänischen, sehr ausgedehnt. Das Englische nimmt eine intermediäre Position zwischen der niederländischen und der skandinavischen Lösung ein: Der s-Genitiv hat ein vergleichsweise breites Anwendungsspektrum, die of-Phrase ist aber, was die semantischen Funktionen angeht, in fast allen Fällen für den s-Genitiv substituierbar und hat darüber hinaus Verwendungen, die der Genitiv nicht hat (inkludiert also weitgehend die Genitivfunktionen), → D3.9. Auch das Deutsche hat diese Doppelstrategie; allerdings ist der Genitiv der Standardfall. Die von-Phrase steht einerseits unter bestimmten morphosyntaktischen Bedingungen statt des Genitivs (gemäß dem ‚Prinzip der Genitivmarkierung‘ → C6.7.2 bzw. der so genannten „Genitivregel“, vgl. Duden-Grammatik 2009: 968). Eine weitere morphosyntaktische Bedingung für analytische Kodierung ist gegeben, wenn das possessive Attribut ein Adverb ist wie in DEU Leute von hier, die Zeitung von gestern vs. *hiers Leute, *gesterns Zeitung. Diese Beschränkung, die mit dem Status des deutschen Genitivs als „echter“ Kasus und damit der Einschränkung auf nominale Wortklassen zusammenhängt, wird erst auffällig im Vergleich mit den im Englischen teilweise grammatischen entsprechenden Strukturen wie ENG yesterday’s newspaper. Andererseits gehört die analytische Realisierungsform dort, wo der Genitiv möglich ist, eher zum Substandard. Nach der Duden-Grammatik (2009: 828) hat sich die analytische Realisierung jedoch auch auf „Attribute ausgedehnt, die eigentlich durchaus die Form einer Genitivphrase haben könnten“; es bestehe somit weitgehend freie Variation, nur bei definitem Artikel werde standardsprachlich der Genitiv vorgezogen. Demnach wären zu (23a) analoge von-Beispiele standardsprachlich; solche in Analogie zu (23b) dagegen nicht.  

(23)

a. die Probleme junger Menschen – die Probleme von jungen Menschen; die Probleme dieser Menschen – die Probleme von diesen Menschen; die Probleme eines Menschen – die Probleme von einem Menschen

1590

D Nominale Syntagmen

b. die Probleme des Sohns – %die Probleme vom Sohn; die Probleme der Tochter / der Kinder – %die Probleme von der Tochter / den Kindern  



Die Setzung von von statt des Genitivs ist bei Eigennamen, zumal „einfachen, kurzen Namen“ (vgl. Duden-Grammatik 2009: 828) wie in eine bekannte Fuge von Bach sicher mindestens ebenso gebräuchlich wie der Genitiv in eine bekannte Fuge Bachs. Wie es in anderen Konkurrenzfällen steht, müssen genauere Korpusuntersuchungen zeigen. Korpusuntersuchungen müssen dabei nicht nur Faktoren wie Register, Stilhöhe und Medium berücksichtigen, sondern auch die Form und Komplexität der Phrase (z. B. artikelloser Eigenname versus artikelhaltige NP), vor allem aber auch die semantische Rolle des Attributs. Eine exploratorische Korpusrecherche in DE RE KO (durchgeführt am 11.05.2012) zeigt etwa, dass bei Kopfsubstantiven wie Geschichte, Ballade, die ein possessives THEMA -Attribut zulassen, genitivische Realisierung in geschriebener Sprache weit überwiegt: 17.572 Belegen für Geschichte eines/ einer stehen nur neun Belege für die Geschichte von einem/einer gegenüber, 19 Belegen für die Ballade eines/einer fünf Belege für Ballade von einem/einer. Der Kollokation der Besitz eines/einer mit 828 Belegen stehen nur sieben Belege der Form der Besitz von einem/einer gegenüber, wobei fast ausschließlich THEMA -, kaum Possessorattribute belegt sind.  







Die Korpusrecherchen von Scott (2014: 263) zeigen, dass die von-Phrase, unabhängig von Register und Medium, bedeutend weniger frequent ist als der konkurrierende Genitiv. Am schwächsten ist das Vorkommen in formalen Registern, „where it occurs in approximately 10% of the situations in which it could have occurred; this indicates a conventionalisation of von-avoidance in formal language use“.

D3.7 Serialisierung Alle PPform der Vergleichssprachen werden dem Kopfsubstantiv nachgestellt, man vergleiche hier die Beispiele aus romanischen Sprachen, wo dies die einzige Alternative ist: (24) FRA SPA ITA

le chien du fils el perro del hijo il cane del figlio ,der Hund des Sohns‘

Seit Greenberg (1963) wird die Stellung des „Genitivs“ relativ zum N-Kopf in Verbindung gebracht mit der relativen Stellung anderer Kopf-Argument/ModifikatorStrukturen. Nach Greenbergs Universale 2 gehe in Sprachen mit Präpositionen das Kopfnomen dem „Genitiv“ voraus, während in Sprachen mit Postpositionen der Genitiv dem Kopfnomen vorausgehe. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass hier unter „Genitiv“ nicht der Kasus oder die Phrase im Kasus Genitiv zu verstehen ist, sondern die funktionale Kategorie der ‚Possessorphrase‘ bzw. des ‚Possessorattributs‘. Dem 

D3 Possessive Attribute

1591

nach müssten in allen Vergleichssprachen außer dem Ungarischen die Possessorphrasen postnominal erscheinen, im Ungarischen pränominal. Die Voraussage trifft für das Ungarische zu, ebenso für die präpositionalen Realisierungsformen der Possessorattribute in allen Vergleichssprachen und die genitivischen im Deutschen (im Normalfall). Im Anschluss an Greenberg wurden solche Wortstellungsmuster zwischen Paaren grammatischer Elemente vor allem von Winfred P. Lehmann und Theo Vennemann in verschiedenen Publikationen (beginnend mit Lehmann 1973 und Vennemann 1973) in Zusammenhang gebracht mit der Ordnung von Prädikatsverb und Objekt als fundierendem Prinzip. Mit der Wahl zwischen VOOrdnung und OV-Ordnung als grundlegender Ordnung im (Aussage-)Satz korreliere auch die jeweilige Stellung etwa von Kopfnomen und „Genitiv“, von Adposition und NP-Komplement, von Verb und Adverb und einer ganzen Reihe anderer Paar-Ordnungen. Dabei spricht Vennemann jeweils von Operator-Operand-Strukturen, Dryer (1995) nennt (Kopf-)Nomen, Adposition usw. „verb patterners“, Genitiv, NP-Komplement, Adverb usw. „object patterners“. Man kann auch verallgemeinernd von Kopf-Dependens-Strukturen sprechen (ebd.: 1055). Allerdings zeigt Dryer (1992) in seiner groß angelegten typologischen Studie, dass nicht alle Kopf-Dependens-Strukturen diesem Prinzip folgen (z. B. nicht Kopfnomen – Adjektiv im Gegensatz zu Kopfnomen – Genitiv), und dass darüber hinaus andere Prinzipien interagieren. Man vgl. dazu auch Rijkhoff (2004: 261–280). Zur Anordnung der Attribute in der NP bei den Vergleichssprachen siehe → D1.2.3.  

In diesen typologischen Untersuchungen werden nur Possessorattribute als der prototypische Fall possessiver Attribute untersucht. Eine Ausdehnung der Befunde auf alle possessiven Attribute ist, wie der feinkörnige Vergleich im vorliegenden Kapitel zeigt, nicht so ohne Weiteres möglich. So liegen in den Vergleichssprachen durchaus „Serialisierungsspaltungen“ je nach funktionalem Typ des possessiven Attributs vor.

Allerdings haben in allen germanischen Sprachen (außer dem Deutschen und dem Isländischen) Genitiv- und Präpositionalphrase grundsätzlich unterschiedliche lineare (und gegebenenfalls auch strukturelle) Positionen in der NP: Die Genitivphrasen sind dem Kopfsubstantiv prä-, die Präpositionalphrasen postponiert. Die (nach Greenbergs Universale wortstellungstypologisch dispräferierte) Voranstellung des Genitivs in diesen Sprachen mag damit zusammenhängen, dass alle pränominalen referentiellen Genitive der germanischen Sprachen gleichzeitig Determinatoren sind: (25) ENG SWE

Peter’s dog, the son’s dog Peters hund, sonens hund ,Peters Hund, der Hund des Sohnes‘

Im Deutschen und im Isländischen gibt es nur sehr eingeschränkt präponierte Genitivphrasen: In beiden Sprachen werden in der Regel nur Eigennamen (bevorzugt von belebten Referenten) präponiert; im Isländischen muss noch Fokussierung hinzukommen. Im Standardfall sind Genitivphrasen (und PPs) dem Kopfsubstantiv postponiert.

1592

D Nominale Syntagmen

Die Untersuchungen von Smith (2003) im TIGER-Korpus (40.000 Sätze aus Zeitungstexten) zeigen folgende Befunde für das Deutsche: Es finden sich 699 Belege für postnominales Vorkommen gegenüber 904 Belegen für pränominales Vorkommen einfacher (also ‚grammatischer‘) Eigennamen. Pränominale Genitive mit einem Gattungsnamen als Kern wie des Kaisers neue Kleider, meines Vaters Pferde, mit eurer Hände Arbeit stellen bewusst archaisierenden Sprachgebrauch dar, oft auch wie in den genannten Beispielen in idiomatisch verfestigter Form. Smith (2003) spricht hier von „fossilized forms“. Immerhin 20 solche „Fossilien“ gibt es in dem von ihm ausgewerteten TIGER-Korpus. In poetischem Sprachgebrauch finden sich gegebenenfalls auch frei gebildete Formen wie: (26)

[…] endlich, ich bin der Mitte, höre ich des Fahrstuhls glucksendes Geräusch und kehre um. (Josef Roth 1975: 142)

Die unmittelbare Voranstellung eines von-Attributs wie in Von Peter die Jacke hängt über den Stuhl, die unter dem syntaxtheoretischen Gesichtspunkt der „Bewegung“ häufiger diskutiert wird, kommt nach der Duden-Grammatik (2009: 828 f.) nur regional in gesprochener Sprache vor und dort nur „bei Subjekten und Akkusativobjekten“. Davon zu unterscheiden ist die Extraktion ins Vorfeld, die unter bestimmten Bedingungen möglich erscheint: ??Von Peter hängt die Jacke über den Stuhl / ?Von Peter hängt eine Jacke über den Stuhl, vgl. auch Beispiel (28). Im Englischen sind nach Quirk et al. (1985: 1286–1288) nur nicht-restriktive attributive Präpositionalphrasen ggf. aus der postnominalen Position an die Satzspitze verschiebbar; sie wechselten dabei aber ihre syntaktische Funktion vom Attribut zum adverbialen Adjunkt. of-Phrasen, die nahezu ausschließlich restriktiv seien, könnten somit nicht bewegt werden, vgl. (27). Dies steht im Gegensatz zu Beispielen wie (28) aus Alexiadou/Haegeman/Stavrou (2007: 396) mit Extraktion einer PP (mit URBILD -Rolle) an die Satzspitze:  

(27) ENG

*Of children, a party entered the theatre. ,*Von Kindern, eine Gruppe kam in das Theater.‘

(28) ENG

Of his parents, John does not have any pictures. ‚Von seinen Eltern hat Peter keine Bilder. / *Von seinen Eltern, Peter hat keine Bilder.‘

Im Französischen hingegen ist nach Grevisse/Goosse (2011: 453) eine Bewegung eines de-Attributs an die Satzspitze ohne entsprechende Einschränkung möglich: (29) FRA

Des textes en langue galloise, quelle est la date? von.DEF . PL Text.PL in Sprache gallisch welch ist DEF Datum ,*Von den Texten in gallischer Sprache, welches ist das Datum?‘

Im Polnischen (und anderen slawischen Sprachen) steht das Genitivattribut im unmarkierten Fall postponiert (30a); bei Fokussierung (30b) kann Umstellung erfol-

1593

D3 Possessive Attribute

gen, sofern es sich um ein belebtes Denotat handelt. Auch im Polnischen ist somit die Allgemeine Nominalhierarchie hier wirksam, → D1.2.3.3. Man vergleiche die deutschen und polnischen Übersetzungsäquivalente: (30) DEU a. b. POL a. b.

der Hund Peters / von Peter, der Hund des Sohnes; das Dach des Hauses Peters Hund pies Piotra, pies syna; dach domu SYna pies ‚der Hund des SOHnes‘

Voranstellung kommt besonders bei Kontrastfokus wie in (31) vor: (31) POL

To

jest Krysi aparat, a nie Zosi. ist Krysia.GEN Fotoapparat und NEG Zosia.GEN ,Das ist Krysias Fotoapparat und nicht Zosias.‘ (Swan 2002: 330) DEM

Auch bei Voranstellung wirkt das Genitivattribut im Polnischen nicht determinierend. Wie es generell im Polnischen der Fall ist, kann auch die vorangestellte Genitiv-NP definit oder indefinit interpretiert werden. Ein auf den Kopf bezogenes Demonstrativum kann ggf. vorausgehen: (32) POL

to

ojca narzekanie Vater.GEN G EN Jammern.N ,dieses Jammern des/eines Vaters‘ (Aptacy 2006: 14) DEM . N

Auch die Genitivattribute (bzw. Genitiv-/Dativattribute) der Balkansprachen (u. a. Rumänisch, Neugriechisch) sind postponiert. Im Ungarischen stehen kasuslose possessive Attribute grundsätzlich, mit dem Dativsuffix -nek/-nak suffigierte im unmarkierten Fall pränominal. Sie haben jedoch keinen zusätzlichen Determinatorstatus. Wir halten die Ergebnisse (für unsere Vergleichssprachen und eine Reihe weiterer europäischer Sprachen) in Tabelle 1 fest. Dabei weist ein * nach der Sprachsigle darauf hin, dass die entsprechende Konstruktion hier nur markiert oder unter starken Restriktionen möglich ist. Zu vergleichen ist auch Tabelle 2 in → B1.5.4.  



1594

D Nominale Syntagmen

Tab. 1: lineare Position und Determinatorstatus referentieller possessiver Attribute  

referentielle Attribute (NP/PPform)

Genitiv prä +

Determinatorstatus



Genitiv post

PP post

Nominativ/Dativ prä

DEU, ISL, POL, weitere slawische Sprachen, RUM, GRI, weitere Balkansprachen

FRA, weitere UNG romanische Sprachen, ENG, NDL, festlandskandinavische Sprachen, DEU*

ENG, NDL*, festlandskandinavische Sprachen, DEU*, ISL*

Zu erwähnen ist noch die Diskontinuität oder Spaltung des possessiven Attributs, wie sie nach Curme (1993: 232) im älteren Englisch möglich war, etwa in Hyrick’s tomb, who was mayor of the town (Altenberg 1982: 90) und vereinzelt noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts belegt ist: But how far might he presume on the big animal’s timidity who stood before him blocking the way? ‚Aber inwieweit konnte er von der Furchtsamkeit des großen Tieres ausgehen, das vor ihm stand und den Weg blockierte?‘ (William Joseph Long, Wood Folk at School, 1902). Im Deutschen ist eine solche Spaltung allenfalls bei Extraposition des Relativsatzes, nicht aber im Mittelfeld möglich: *Hyricks Grab, der Bürgermeister der Stadt war, […].  

Bezogen auf die Possessivadjektive (Corbett 1987: possessive adjectives) slawischer Sprachen, die aufgrund eines an einen Substantivstamm angefügten Adjektivierungssuffixes mit dem Kopfsubstantiv kongruieren, aber in syntaktischer Hinsicht einem referentiellen Genitivattribut entsprechen, ist (weitgehend beschränkt auf das Obersorbische, Mazedonische und Slowakische) der Anschluss eines Relativsatzes möglich: Das Relativpronomen kongruiert im Genus und Numerus (obligatorisch Singular) mit dem dem Adjektiv zugrundeliegenden Substantiv, wird also vom Possessivadjektiv, nicht vom Kopfsubstantiv gesteuert (bzw. „kontrolliert“, control bei Corbett). Da das Possessivadjektiv pränominal und der Relativsatz postnominal gestellt werden, ist auch hier Spaltung gegeben; vgl. das obersorbische Beispiel aus Corbett (1987: 304, vgl. zum Thema auch Haspelmath 1996: 59–61): (33) OSO

kotryži je Wićaziowy hlós, Wićaz.ADJ Stimme RPRO . M . NOM . SG ist ‚die Stimme von Wićaz, der hereinkam‘

zastupil hereingekommen

Im Polnischen gelten unter den slawischen Sprachen besonders starke Beschränkungen für den Gebrauch von Possessivadjektiven, die „Kontrolle“ eines Relativsatzes ist nicht möglich, → A4.3.3.5.1.2.

D3 Possessive Attribute

1595

D3.8 Adjazenz und Rekursion Die postnominalen Genitivphrasen des Deutschen sind auf direkte Adjazenz mit dem Kopfsubstantiv (34a) beschränkt; andere Attribute dürfen nicht dazwischentreten (34b): (34)

a. [Die Blumen [dieser Frau] [mit ihren riesigen Blüten]] werden sicher schnell verkauft. b. *Die Blumen [mit ihren riesigen Blüten] [dieser Frau] werden sicher schnell verkauft.

Appositive Erweiterungen des Kopfsubstantivs, etwa durch einen nachgestellten Eigennamen (35a) oder im Rahmen einer Numerativkonstruktion (35b) sind möglich: (35)

a. [die [Tochter Kristina] [unserer Nachbarin]] hat Geburtstag (Löbel 1991: 6) b. [Die [drei Körbe Blumen] [dieser Frau]] werden sicher schnell verkauft.

Ebenso kann auch das Genitivattribut durch ein vorangestelltes nicht-flektiertes Erweiterungsnomen vom Kopf getrennt sein: (36)

Die Entlassung [Bundesumweltminister Röttgens] (Tagesschau, 20.05.2012)

Bei genauerer Betrachtung sind es jedoch nicht nur kopferweiternde appositive Komplexe, bei denen das Adjazenzgebot für Genitivattribute zu modifizieren ist, sondern allgemeiner enge, z. T. eigennamenartige Verbindungen, bei denen das Kopfsubstantiv durch ein nicht-referentielles Attribut erweitert ist. In den folgenden Beispielen (37)–(40) ist dieses nicht-referentielle Attribut eine PP mit klassifikatorischer Funktion, in (41) eine qualitative PP.  

(37)

das Fräulein vom Amt der Filiale in Königswiesen (Lühr 1991b: 36, als „feste Verbindung“ bezeichnet)

(38)

die Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg

(39)

das Ministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau der Bundesrepublik Deutschland (ebd.: 37, „unfeste Verbindung“)

(40)

Im Haus am See des diakonischen Trägers EJF Lazarus […] (Duden-Grammatik 2009: 803)

(41)

[…] eine gelungene Symbiose mit [den [Wasserobjekten aus Metall] [des Künstlerpaares]] […] (ebd.: 803 f.)  

1596

D Nominale Syntagmen

Zur Erklärung bringt Löbel hierzu den Aspekt der „syntaktischen Referenzfähigkeit“ ins Spiel. Dementsprechend könne das Adjazenzprinzip folgendermaßen modifiziert werden: Voraussetzung für die Kasuszuweisung [des Genitivs als „struktureller Kasus“, G.Z.] sei, dass die beiden Elemente adjazent sind bzw. nicht durch eine syntaktisch referenzfähige Konstituente getrennt sind; daraus ist zu folgern, „daß Adjazenz nur für syntaktisch referenzfähige Konstituenten gilt und Konstituenten, die diese Eigenschaft nicht haben, für die Adjazenzbedingung in NPen irrelevant sind“ (Löbel 1991: 31). Im vorliegenden Rahmen entspricht dies der Aussage: Die Adjazenzbedingung gilt nur für referentielle Attribution. Nicht-referentielle Dependentien des Kopfsubstantivs (appositiven, klassifikatorischen oder qualitativen Typs) gehen einem referentiellen Genitivattribut voraus, ebenso wie appositive Erweiterungen des Genitivattributs selbst.

Das Adjazenzgebot unterbindet gleichzeitig das Vorkommen von mehr als einem – referentiellen – postnominalen Genitivattribut: (42)

*die Eroberung Galliens Cäsars / *die Eroberung Cäsars Galliens

Im Polnischen dagegen gilt weder das Adjazenzgebot in dieser Striktheit noch die Beschränkung auf nur einen postnominalen Genitiv. Zwar folgt auch im Polnischen im Allgemeinen das Genitivattribut dem Kopfsubstantiv unmittelbar nach; es können markiert aber auch präpositionale Attribute dem Genitiv vorangehen, → D1.2.3.3.3: (43) a. wyjazd mojego szefa do Krakowa POSS . 1SG . G GEN EN Chef.GGEN EN nach Krakau.GEN POL Reise b. wyjazd do Krakowa mojego szefa EN Chef.G GEN EN Reise nach Krakau.GEN POSS . 1SG . GGEN ‚die Reise meines Chefs nach Krakau‘ Aptacy (2005: 156 f.) liefert zahlreiche Korpusbelege (aus polnischen Wochenzeitschriften bzw. dem Internet) für die nicht-adjazente Stellung des Genitivattributs bei cie/nie-Nominalisierungen, darunter auch solche mit Voranstellung einer referentiellen AGENS -Phrase wie in (44). Dies ist im Deutschen (vgl. oben) nicht möglich:  

(44) POL

wręczenie przez ambasadora wspomnianego dokumentu erwähnt.GEN Dokument.GEN Überreichung durch Botschafter.AKK Gomułce […] Gomułka.DAT ,*die Überreichung durch den Botschafter des erwähnten Dokumentes an Gomułka‘

Zwei postnominale Genitive gleichen Rangs sind möglich, wenn einer der beiden Genitive lexikalisch gefordert ist wie etwa bei pozbawienie + GEN ‚Beraubung um / Entzug von‘ (45) oder wenn er nicht-referentiell ist wie etwa in bochenek chleba Marka ‚Marks Laib Brot‘ (dazu → D3.11.3).

1597

D3 Possessive Attribute

(45) POL

ci,

którzy

DEM - MPERS . PL

RPRO . MPERS . NOM . PL

dążyli do streb.PRT .3PL nach [pozbawenia Polaków wolności] Beraubung.GEN Pole.GEN . PL Freiheit.GEN ,diejenigen, die nach der Beraubung der Polen um die Freiheit strebten‘ (Rappaport 2004: 252) Die Formulierung ist allerdings (ähnlich wie das deutsche Gegenstück) gegenüber einer Konstruktion mit Verb + abhängigem Satz dispräferiert, vgl.: (46) POL

ci,

którzy

DEM . M MPERS PE RS . PL

RPRO . MPERS . NOM . PL

dążyli streb.PRT .3PL

do nach

tego, DEM . GEN

by damit

Polakó wpozbawić wolności Freiheit.GEN Pole.GEN . PL beraub.INF ,diejenigen, die danach strebten, die Polen um die Freiheit zu berauben‘

Lexikalisch geforderte Komplemente werden im Deutschen, Englischen und Französischen durch eine spezifische Präposition angeschlossen, diese kann, z. B. bei einer ablativischen Beziehung, zumal im Deutschen und Französischen, im Ausdruck identisch sein mit der bei possessiven Attributen geforderten wie in DEU Abschied/ Abfahrt von, FRA départ de. Hier ist die Kookkurrenz zweier mit von/de realisierter Attribute möglich, wobei das possessive gewöhnlich vorangeht und zum Kopf adjazent ist: DEU der Abschied Marias/von Maria von ihrer Schwester, FRA le départ de Marie de sa sœur; vgl. folgende Belege:  

(47)

Spekulationen um einen Abschied von Goll von der ENBW-Spitze sollten aus den „Gesellenstücken“ jedoch nicht abgeleitet werden. (Frankfurter Allgemeine, 12.07.2001)

(48)

In Frankfurt deutet sich der Abschied von Michael Fink von der Eintracht an, und die „Frankfurter Rundschau“ schrieb kürzlich: „Die heißeste Spur führt wohl nach Hannover.“. (Hannoversche Allgemeine, 08.04.2009)

Bei analytischer Realisierung possessiver Attribute scheint die Adjazenzforderung sprachübergreifend jedoch weniger stark ausgeprägt zu sein, wie am Französischen und Englischen gezeigt werden kann. Im Französischen wird die possessive PPform generell postnominal kopfadjazent gestellt. Der Einschub eines anderen postnominalen Attributs ist jedoch nicht ausgeschlossen: (49) FRA

l’

infiltration en l’ Einsickern in DEF termes speciaux Ausdruck.PL speziell.PL DEF

usage Gebrauch

commun allgemein

de von

ces DEM . PL

1598

D Nominale Syntagmen

‚*das Einsickern in den allgemeinen Gebrauch dieser speziellen Ausdrücke‘ (vgl. Grevisse/Goosse 2011: 451) (50) FRA

la

création et la libre disposition en Thailande Schaffung und DEF frei Verteilung in Thailand de bases aériennes von Basis.PL Luft.ADJ . PL ‚*die Schaffung und freie Verteilung in Thailand von Luftstützpunkten‘ (ebd.) DEF

Auch im Englischen kann markiert eine possessive of-Phrase auf andere präpositionale Attribute folgen; nach Huddleston/Pullum (2002: 454) gehen postnominale Komplemente, zu denen neben possessiven Argumenten auch Possessor-Phrasen zählen, normalerweise anderen Modifikatoren voraus; dieses Prinzip könne jedoch mit der generellen Regularität konfligieren, dass „light dependents heavy dependents“ vorausgehen. In folgendem Beleg etwa gewinnt diese letztere Regularität: (51) ENG

the capture or destruction by the enemy of any of Her Majesty’s aircraft ,*die Ergreifung oder Zerstörung durch den Feind eines jeden Flugzeugs Ihrer Majestät‘ (Internet)

Die Positionierung eines anderen präpositionalen Attributs vor einer possessiven ofPhrase kann auch informationsstrukturell bedingt sein. Die vorangestellte, z. B. wie in (52) temporale, Phrase werde stark fokussiert, so Quirk et al. (1985: 1397), die dieses Beispiel nennen:  

(52) ENG

Architecture has been revolutionized by the discovery in this century of new building materials. ,Die Architektur wurde revolutioniert durch die Entdeckung von neuen Baumaterialien in diesem Jahrhundert.‘

Dieser Fokussierungseffekt spielt wohl auch bei den entsprechenden Beispielen des Polnischen (43b, 44) und Französischen (50) eine Rolle. Im Deutschen kann der entsprechende Effekt – zumindest bei einer Genitiv-NP als possessives Attribut – nicht durch Umordnung der Stellungsfolge, sondern nur intonatorisch erreicht werden. Im Gegensatz zu Kopfadjazenz, also minimaler Kopfdistanz bei postnominaler Stellung, sind pränominale Genitivphrasen maximal kopfdistant: Sie markieren die linke Grenze der Gesamt-NP: (53)

des Kaisers neue, noch nie gesehene Kleider

Dies trifft auf die pränominalen Genitive der germanischen Sprachen mit ihrem Determinatorstatus generell zu. (Zur Position der ungarischen Äquivalente vgl. oben.)

D3 Possessive Attribute

1599

Im Polnischen dagegen ist bei markierter Voranstellung von Attributen das Genitivattribut nicht notwendigerweise das erste, also maximal kopfdistante. In folgendem Internetbeleg steht der Genitiv vor der Adjektivgruppe. Eine umgekehrte Reihenfolge ist nach Auskunft von Muttersprachlern jedoch auch möglich: (54) POL

Matki miękkie i ciepłe ramiona und warm.PL Arm.PL Mutter.GEN weich.PL ,die weichen und warmen Arme der Mutter‘ (Internet)

Die pränominalen Genitive des Deutschen lassen anders als die postnominalen in aller Regel keine Rekursion zu: (55)

a. die großen Taten [des Kaisers [des römischen Imperiums]] / die Frau [des Bruders [Friedrichs des Großen]] b. *[des Kaisers [des römischen Imperiums]] große Taten / *[[des römischen Imperiums] Kaisers] große Taten / *[[Friedrichs des Großen] Bruders] Frau In früheren Sprachzuständen war Rekursion auch bei pränominalem Genitiv möglich. Nach Behaghel (1923: 526–530) konnte man bis zum früheren Neuhochdeutschen noch vereinzelt „den dienenden Genitiv“ – also den dependenten bzw. attribuierten Genitiv – grundsätzlich dem „herrschenden“ – also regierenden bzw. übergeordneten – Substantiv voran- oder nachstellen. In Fällen, wo das übergeordnete Substantiv selbst ein Genitiv ist, können so entweder linear gleich gerichtete oder ungleich gerichtete Dependens- und Verzweigungsverhältnisse entstehen. Im Folgenden werden in zwei Beispielen Behaghels die alternativen Rektionsverhältnisse angedeutet: (56)

Ich bin

[[des Königs] [[Dependens]

Kämmerers] ← Kopf]Dependens

Braut (Scheffel, Eckeh. 52) ← Kopf

(57)

[eines Besitzers [der lebendigen Sprache]] Denken (Fichte, Reden 69) ← Kopf [[Kopf] → [Dependens]]Dependens ,die Braut des Kämmerers des Königs‘ versus ‚das Denken eines Besitzers der lebendigen Sprache‘

In Beispiel (56) wird ‚monoton nach links‘ regiert. Das übergeordnete Substantiv Braut regiert den Genitiv Kämmerers, welcher wiederum des Königs regiert. In Beispiel (57) dagegen sind Rektion nach links und Rektion nach rechts kombiniert: Das übergeordnete Substantiv Denken beherrscht den Genitiv ganz links außen, nämlich eines Besitzers, welcher seinerseits nach rechts herrscht über der lebendigen Sprache. Behaghel spricht hier davon, dass es leicht unklar wird, „welches Glied das herrschende, welches das dienende ist“ (ebd.: 529). Die Beschränkung auf monotone Rektionsverhältnisse dürfte, wie bei Behaghel angedeutet, auf Probleme bei der syntaktischen Verarbeitung durch den Hörer zurückgehen. Dies mag auch der Grund dafür sein, dass es sich nicht um absolut ungrammatische Strukturen handelt, sondern ggf. nur um wenig akzeptable oder markierte wie etwa bei dessen als eingebettetem pränominalem Genitiv wie bei in dessen Nachfolgers Beisein (vgl. dazu Zifonun 2003d; Keller 2006: 97).

Mit dem Verzweigungsverbot für pränominale Genitive wird eindeutig festgelegt, dass die einzig mögliche Rektionsrichtung bei einem regierenden Genitiv diejenige ist, die

1600

D Nominale Syntagmen

auch seinem Verhältnis zum Kopfsubstantiv entspricht, nämlich nach rechts. Es wird also nur noch monoton nach rechts regiert wie bei den rechtsverzweigenden Genitivattributen in (55a). Wird einem postnominalen Genitiv ein (erweiterter) genitivischer Eigenname als Dependens zweiter Stufe vorangestellt, so wird die Konstruktion fragwürdig (→ D1.2.3.3.1): (55)

c.

??die

Frau [[Friedrichs] Bruders] / ??die Frau [[Friedrichs des Großen] Bruders]

Im Englischen, das nur einen pränominalen, keinen postnominalen Genitiv kennt, ist Rekursion möglich, in strikter Linksverzweigung: (58) a. [[the Roman empire’s] emperor’s] great deeds ENG ‚die großen Taten des Kaisers des Römischen Reichs‘ b. [[Peter’s] brother’s] wife ‚die Frau von Peters Bruder‘ [[my younger sister’s] neighbour’s] dog ,der Hund des Nachbarn meiner jüngeren Schwester‘ (Fischer 2016: 262) Die unterschiedliche Entwicklung des deutschen und des englischen pränominalen Genitivs kann nicht unabhängig von der Kasusmarkierung für den Genitiv bewertet werden: Im Englischen ist der s-Marker generalisiert; er markiert obligatorisch die rechte Grenze des Dependens und tritt somit nicht nur an ein Kopfsubstantiv, sondern auch an postnominale Attribute heran: (59) a. [the king of England’s] daughter ENG ‚die Tochter des Königs von England‘ b. [a guy I know’s] house ‚das Haus eines Kerls, den ich kenne‘ (Huddleston/Pullum 2002: 479) Allerdings werden Konstruktionen dieser Art als markiert oder gar ungrammatisch eingeschätzt, es sei denn der pränominale Modifikator und sein Postmodifikator „function as an institutionalized unit“ (Altenberg 1982: 78). Ein ebd. genanntes Beispiel ist *a person of so much importances’s life. Der Status des englischen s-Genitivs ist umstritten. Während Quirk et al. (1985: 328) anlässlich von „group genitives“ wie in (59) von einer „enclitic postposition“ sprechen, lehnen Huddleston/Pullum (2002) klitischen Status ab und sprechen von „head genitives“ und „phrasal genitives“. Bei beiden Typen handle es sich um Kasusmarkierung; sie seien aber zu differenzieren. Eines der Argumente ist, dass der Marker von phrasal genitives als „äußerer Kasus“ auf bereits kasusmarkierten Ausdrücke angewendet werden kann (z. B. die Objektivusform me in [the man opposite me’s] facial expression), während dies beim head genitive nicht möglich ist. Zur Einordnung in dieser Grammatik → C3.4.3.  

Im Deutschen wird Kasusmarkierung in erster Linie vom Determinativ bzw. einer adjektivischen Erweiterung getragen, feminine und pluralische Substantive tragen keinen Genitivmarker. Bei rekursiv eingebetteten pränominalen Genitiven entfällt das

D3 Possessive Attribute

1601

Determinativ des regierenden Genitivs (vgl. (56)). Wenn dieser z. B. als feminines Substantiv keinen Kasusmarker trägt, wäre Kasusmarkierung nicht mehr erkennbar:  

(56’)

*Ich bin [[des Königs] Braut] Kämmerer.

D3.9 Funktionale Korrelate der Synthetisch-analytisch-Unterscheidung Im Englischen und Französischen wie auch im Deutschen und weiteren europäischen Sprachen bezeichnen die formalen Präpositionen, die bei analytischer Realisierung possessiver Attribute gebraucht werden, daneben (unter anderem) die semantische Relation der Herkunft; sie haben also „ablativische“ Funktion. Auch der Genitiv selbst konnte in früheren Sprachstufen des Deutschen den Partizipanten, dem etwas fehlt oder genommen wird, kodieren. Dies zeigt sich, gegebenenfalls auch noch im heutigen Deutsch erhalten, bei Konstruktionen wie intransitiv einer Sache bedürfen, ermangeln (archaisch auch einer Sache entbehren), transitiv bei Verben des negativen Transfers wie entbinden, entledigen (archaisch auch einer Sache berauben). Haspelmath/Michaelis (2008) zeigen, dass in vielen romanischen und germanischen Sprachen possessive Markierungsmittel (Genitiv oder formale Präposition) die Nachfolge des lateinischen Ablativs angetreten haben. Dabei verallgemeinern sie deren Funktion von der ablativisch-separativen auf die Kodierung eines „background theme“ und ziehen neben der lokalen Domäne (wie in DEU wimmeln von / strotzen von, entledigen, entheben + GEN , ENG clean of, clear of) und der bereits mit deutschen Beispielen wie bedürfen, berauben usw. genannten possessiven Domäne auch die kognitive heran (mit DEU gedenken, sich erinnern + GEN , archaisch auch einer Sache vergessen). Die Studie zeigt, dass im Englischen und besonders im Französischen bedeutend mehr Verben in den genannten Domänen die analytische Konstruktion mit of bzw. de fordern als im Deutschen possessive Markierung insgesamt (GEN + von). Außerdem ist der Genitiv auf seine „Rückzugsgebiete“ im Bereich negative Verben der Lokation/Possession sowie einige kognitive Verben und, hier nicht erfasst, „juristische“ transitive Verben wie beschuldigen beschränkt. In Konstruktionen wie Im Hof wimmelte es von Menschen, Mir dröhnt der Kopf von diesem Lärm ist der Genitiv nicht möglich. Zu solchen vonKonstruktionen, die als Alternationen zu Lokationskonstruktionen wie Menschen wimmelten im Hof, dieser Lärm dröhnt in meinem Kopf betrachtet werden können, vgl. Zifonun (2015).  

Während der Genitiv der Kasus ist, in dem im Deutschen Subjekt-Argumente und DO -Argumente bei Nominalisierung im Normalfall erscheinen, stellen Verb-Argumente im Genitiv nun bei Nominalisierung ein Problem dar, vgl. die Sache bedarf der Klärung versus ??der [Bedarf der Klärung] dieser Sache. Man vergleiche dazu → A4.3.

In dieser Funktion werden DEU von und FRA de nicht nur bei adverbialen Komplementen zum Verb verwendet, wie in DEU vom Bahnhof kommen, FRA arriver de l’Allemagne, sondern auch als Attribute zu nominalen Köpfen wie in DEU Abschied von der Heimat, FRA fuite de la France, fruits de la France. Im Englischen steht das etymologisch mit of identische off (nach „The New Oxford Dictionary of English 1998“ ist off

1602

D Nominale Syntagmen

„originally a variant of of which combined the senses of ‚of‘ and ‚off‘“) neben from und out (of) für die Relation source (Huddleston/Pullum 2002: 648), während die ursprünglich lokative Bedeutung von of „indicating source“ schon vergleichsweise früh weitgehend verschwand (ebd.: 658) und nur noch in Resten in der grammatikalisierten heutigen Verwendung erhalten ist. Solche Überreste finden sich gerade in der adnominalen Verwendung, wenn das Attribut den „place of origin“ bezeichnet wie in ENG Jesus of Nazareth, a merchant of those countries (Altenberg 1982: 30); vgl. DEU Jesus von Nazareth, die Jungs von der Waterkant, ein Mädchen vom Lande. Auch im Deutschen ist aber bei Länder- und Städtenamen, abgesehen von festen namenartigen Verbindungen wie Jesus von Nazareth, Franz von Assisi, anstelle des von die Präposition aus zu setzen: Eva aus Berlin, der Mann aus Apulien. Altenberg (1982) weist darauf hin, dass zwischen Possessorrelation und Herkunftsbezeichnung oft schwer zu unterscheiden ist. Eigennamen und indefinite NP würden eher als source gedeutet, „definite nouns promote a possessive reading if they refer to individuals or groups that are the sole representative of their class in the place in question“ wie in the witch of Brainford, all the Lime-hounds of the City. Im Deutschen spiegelt sich dies zum Teil darin wider, dass bei Eigennamen die Herkunftsangabe mit von nicht durch einen Genitiv zu ersetzen ist: *Jesus Nazareths.

In den Sprachen, bei denen synthetische und analytische possessive Konstruktionen koexistieren, ist nach den Prinzipien der Verteilung zu fragen. Wir beziehen uns hier nur auf den Vergleich zwischen Englisch und Deutsch. Allerdings ist diese Unterscheidung im Englischen eineindeutig mit der linearen Dichotomie und der Funktionsaufspaltung in determinierende und nicht-determinierende possessive Attribute verknüpft, während im Deutschen keine so einfache Korrelation besteht. Tab. 2: Position und determinierende Funktion possessiver Attribute im Englischen  

Englisch pränominal-determinierend

postnominal

synthetisch analytisch

Tab. 3: Position und determinierende Funktion possessiver Attribute im Deutschen  

Deutsch pränominal-determinierend synthetisch analytisch

stark beschränkt

postnominal

D3 Possessive Attribute

1603

Die Wahl zwischen synthetischer und analytischer Konstruktion hängt im Englischen von einer ganzen Reihe von Faktoren ab, die zum Teil obligatorische, zum Teil nur präferentielle Kraft haben. Diese Faktoren entstammen unterschiedlichen sprachsystematischen Ebenen ebenso wie außergrammatischen Bedingungen. Genannt werden syntaktische, rollen-, referenz- oder wortsemantische Faktoren neben informationsstrukturellen, stilistischen und textsorten- bzw. registerspezifischen (vgl. Altenberg 1982; Quirk et al. 1985: 1277–1282). Biber et al. (2006: 301) nennen in dieser Reihenfolge folgende Faktoren: Register, Typ des abhängigen Nomens, semantische Relation zwischen Kopf und Dependens, Komplexität der Dependens-Phrase, informationeller Status der Dependens-Phrase sowie spezifische Kollokationen. Wir handeln hier die außergrammatischen Faktoren zunächst und nur kurz ab, wobei diese grundsätzlich nur dort überhaupt wirksam werden, wo keine obligatorischen oder stark präferentiellen grammatischen Faktoren wirksam sind. Im Anschluss gehen wir auf die syntaktischen, referenz- und rollensemantischen Faktoren und ihr Zusammenspiel ein. Dabei erörtern wir bei Argumentanbindung an dieser Stelle in erster Linie Konstruktionen mit einer Argumentstelle, die Muster für die Anbindung von zwei Argumenten werden in → D3.10 behandelt. Nach Biber et al. (2006: 300–302) ist der s-Genitiv in der Textsorte Nachrichten (news) besonders stark vertreten, in Gesprächen (conversation) besonders schwach. of-Phrasen sind (zu Lasten des Genitivs) besonders stark vertreten in akademischer Prosa (academic prose). Der s-Genitiv wird vorgezogen, wenn die Dependens-Phrase vergleichsweise kurz ist, die of-Phrase, wenn sie länger und komplexer ist. Altenberg (1982: 76–116) untersucht in einigem Detail die Gewichtsverhältnisse von Modifikator und Kopf, verstanden als relative Länge bzw. Komplexität der beiden Konstituenten, sowie die Verzweigungsrichtung, auch unter Gesichtspunkten wie Bezugsklarheit versus -ambiguität, Idiomatizität, Restriktivität. Strikt präferiert werde der (Possessor-)Genitiv, wenn das Kopfsubstantiv ein of-Komplement regiert wie in: (60) ENG DEU

my wife’s fondness of Tom / ??the fondness of Tom of my wife ?? die Begeisterung von meiner Frau von Tom / die Begeisterung meiner Frau von Tom

Was die Informationsstruktur angeht, so tendiert der s-Genitiv zu bereits gegebener bekannter Information, während die of-Phrase eher neue Information präsentiert. Die Tatsache, dass referentielle pränominale Genitivphrasen definit determinieren, stellt einen entscheidenden Faktor für die Konkurrenz der Konstruktionen dar, und zwar auf der Ebene der Syntax der Gesamt-NP. NPs, die durch ein anderes Determinativ als den definiten Artikel determiniert werden sollen, lassen keinen pränominalen Genitiv zu. Hier ist allein die postnominale Konstruktion möglich. Nach Altenberg (1982: 28) spielt das in seinem Material eine extrem große Rolle: 60% der ofPhrasen seien Teil einer indefiniten NP. Referenzsemantische Gesichtspunkte betreffen die Position des Attributs in der Allgemeinen Nominalhierarchie (Hierarchie i) (→ B1.5.1). Nach Biber et al. (2006:

1604

D Nominale Syntagmen

302 f.) tendieren Substantive mit menschlicher/belebter Referenz, insbesondere Eigennamen zum s-Genitiv; für ausgewählte Eigennamen, nämlich Fred, Jane, Sarah, Tom, liegt die Korpusfrequenz bei über 80%, für belebte Appellativa (baby, girl, girls, student) liegt sie bei 61–80%. Umgekehrt tendieren „nouns with inanimate concrete reference and abstract impersonal nouns“ dazu, eher in einer of-Phrase vorzukommen. Die Autoren nehmen bei der Präferenz für den s-Genitiv implizit auf die Teil-Hierarchien (i.2) und (i.3), die Referentialitätshierarchie und die Belebtheitshierarchie i. e. S., Bezug, wenn sie einerseits den Eigennamen, das höchste in Betracht kommende Element von (i.2) erwähnen – das höchste Element (Possessiv-)Pronomen fassen wir nicht als NP im Genitiv auf – andererseits ‚menschlich‘, das ranghöchste Element von (i.3). Offenbar wirken die beiden Hierarchien zusammen, insofern als hoher Rang in beiden die Chance auf pränominalen s-Genitiv erhöht. Bei Biber et al. wird dieser referenzsemantische Faktor unabhängig von anderen Faktoren, insbesondere dem rollensemantischen, abgehandelt. Rollensemantische Gesichtspunkte betreffen die Possessor-Rollen (im weiteren PAT IENS / THEMA Sinne) des Attributs sowie die Argument-Rollen AGENS , EXPERIENS , PATIENS (affiziert versus nicht-affiziert) und STIMULUS STIMUL US . Fasst man die Possessor-Rollen mit Ausnahme der eher objektanalogen Urbild-Relation (wie in ENG the painting of the AG ENS - und die EXPERIENS -Rolle und das Argument von Nominalihay stack) sowie die AGENS sierungen intransitiver Verben (wie in ENG the arrival of the train) unter dem Stichwort ‚subjektive‘ Rollenfunktionen zusammen, wie Altenberg (1982: 241) es tut, so gilt in einer groben Annäherung, die immerhin referenz- und rollensemantische Faktoren korreliert: „GEN is generally preferred when the modifying case role is both animate and ‘subjective’, while OF is preferred when neither of these conditions apply.“ Dabei ist zu berücksichtigen, dass die POSSESSOR -Rolle (in ihren prototypischen Auslegungen) und die genannten subjektiven Argument-Rollen grundsätzlich oder zumindest normalerweise von belebten bzw. menschlichen Rollenträgern wahrgenommen werden. Die beiden Dimensionen sind nicht unabhängig voneinander. Bei den ArgumentPAT IENS / THEMA und STIMULUS hingegen ist die präferierte Belegung nichtRollen PATIENS belebt. Wenn Altenbergs Generalisierung zutrifft, sind die Beispiele in (61a) „generally preferred“ gegenüber den Gegenstücken mit of in (61b), da sowohl eine subjektive Rolle als auch ein menschlicher Rollenträger vorliegt. (Die Beispiele sind Quirk et al. 1985: 1278 f. und Biber 2006: 303 entnommen):  







(61) a. the family’s car, Martha’s courage, Byron’s poems, the Prime Minister’s remiENG niscences b. the car of the family, the courage of Martha, the poems of Byron, the reminiscences of the Prime Minister ,das Auto der Familie, Marthas Mut, die Gedichte von Byron, die Erinnerungen des Premierministers‘

D3 Possessive Attribute

1605

In (62a) sind subjektive Rollen nicht-menschlich belegt; die of-Alternativen von (62b) dürften somit mindestens ebenso gut möglich sein: (62) a. the ship’s funnel, the train’s arrival ENG b. the funnel of the ship, the arrival of the train ,der Schornstein des Schiffs, die Ankunft des Zuges‘ Bezüglich der subjektiven Rollen scheint in der Tat Belebtheit eine maßgebliche Rolle für die Wahl zwischen den Alternativen zu spielen. Bezüglich der objektiven Rollen hingegen liegt dies weniger auf der Hand. Nehmen wir für das Attribut in den Beispielen (63a) versus (63b) jeweils eine objektive Rolle (PATIENS / THEMA ) an, so spielt (vgl. Taylor 1996: 152 f.) nicht Belebtheit die entscheidende Rolle:  

(63) a. Kennedy’s assassination, Kuwait’s invasion, the city’s destruction, the moENG ney’s donation b. the assassination of Kennedy, the invasion of Kuwait, the destruction of the city, the donation of the money ,Kennedys Ermordung, die Invasion von Kuwait, die Zerstörung der Stadt, die Spende des Geldes‘ versus (64) a. *the cliff’s avoidance, *relief’s expression, *the enemy’s fear, *the politician’s ENG admiration, *the fact’s knowledge b. the avoidance of the cliff, the expression of relief, the fear of the enemy, the admiration of the politician, the knowledge of the fact ,das Meiden des Kliffs, der Ausdruck von Erleichterung, die Furcht vor dem Feind, die Bewunderung für den Politiker, die Kenntnis der Tatsache‘ Bei den Beispielen unter (63) sind belebte wie nicht-belebte Träger einer objektiven Rolle in der Realisierung durch einen s-Genitiv grammatisch (ebenso wie als ofPhrase), während bei den Beispielen unter (64) unabhängig von Belebtheit nur die ofRealisierung möglich ist. Der Unterschied zwischen (63) und (64) wird in erster Linie rollensemantisch beschrieben (vgl. Taylor (1996: 151–183) mit Überblick über die Literatur zum Thema): In (63) ist das Attribut ein „affiziertes Objekt“, in (64) dagegen ein nicht-affiziertes Objekt, in einer THEMA -Rolle (wie bei avoidance, expression) oder bei Nominalisierungen zu kognitiven Verben in einer STIMULUS -Rolle. Es lägen somit zwei Beschränkungen vor: der affectedness constraint und der experiencer constraint. Sie besagen, dass „non affected and experienced entities“ (ebd.: 157) nicht durch einen pränominalen Genitiv realisiert werden dürfen. Anders gesagt: Bei Nominalisierungen sind Träger der AGENS -Rolle und der EXPERIENS -Rolle als s-Genitiv möglich PAT IENS / THEMA affiziert, nicht aber nicht-affizierte THEMA - und sowie Träger der Rollen PATIENS

1606

D Nominale Syntagmen

STIMULUS -Rollen.

Was den experiencer constraint angeht, so gilt dieser unabhängig ST IMULUS US beim zugrundevon der syntaktischen Funktion jeweils von EXPERIENS und STIMUL liegenden Verb: Auch bei z. B. Peter’s annoyance oder Ann’s fright ist der pränominale Genitiv dem EXPERIENS vorbehalten, unbeschadet der Tatsache, dass die zugrundeliegenden Verben to annoy, to frighten die Konstellation SubjektStimulus ObjektExperiens haben (wie in the fact annoys Peter / the vision frightens Ann).  

Taylor (1996: 205–264) führt beide Beschränkungen auf eine vergleichsweise geringere „topicworthiness“ bzw. „cue validity“ der entsprechenden Attribute zurück; vgl. die oben erwähnte Präferenz der pränominalen Stelle für bekannte Information bzw. dessen Status als Topik. Im Anschluss an Langackers „Cognitive Grammar“ geht er (ebd.: 205) davon aus, dass der pränominale Genitiv, den er generalisierend als „possessor nominal“ in einer „possessive construction“ bezeichnet, „names a reference point entity, which the speaker introduces as an aid for the subsequent identification of the target entity, denoted by the possessee“. Die Konstruktion „grammaticalizes a special strategy for ‚anchoring‘ the possessee“ (ebd.: 211). Der Possessor müsse (ebd.: 238) „reliable cues“ für die Identifikation des Possessums bieten. Bei Nominalisierungen habe etwa der Experiens eine höhere cue validity als der Stimulus. So muss etwa im Falle von Peter’s love of Ann sinnvollerweise bei Peter überprüft werden, ob die Relation vorliegt, nicht bei Ann (ebd.: 246).

Im Deutschen ist die Opposition zwischen synthetischer und analytischer Konstruktion funktional anders gelagert. Prä- und postnominaler Genitiv zusammengenommen unterscheiden sich, was referentielle Modifikation angeht, weder rollensemantisch noch referenzsemantisch von der von-Konstruktion: Beide Konstruktionstypen erlauben belebte wie unbelebte Denotate in den semantischen Rollen POSSESSOR , AGENS , EXPERIENS und PATIENS PAT IENS / THEMA . (Einzig die Asymmetrie zugunsten von von bei der URBILD -Rolle ist zu bedenken.): (65)

a. Peters Hund, Peters Rückkehr, das Spiel einer Jugendmannschaft, die Ermordung Kennedys; die Rückseiten mehrerer Blätter, die Ankunft eines Schnellzuges, die Überwindung solcher Ängste b. der Hund von Peter, die Rückkehr von Peter, das Spiel von einer Jugendmannschaft, die Ermordung von Kennedy; die Rückseiten von mehreren Blättern, die Ankunft von einem Schnellzug, die Überwindung von solchen Ängsten. Shin (2004) argumentiert an verschiedenen Stellen (z. B. ebd.: 95, 104, 127) zugunsten von semantischen Unterschieden zwischen Genitiv und von-Phrase. Die von-Phrase ist für ihn Ausdruck einer „Spezifikation der konzeptuellen Distanz“ zwischen Possessor und Possessum. Zurückgehend auf die ablativische bzw. „separative“ Grundbedeutung von von will er z. B. einen Unterschied zwischen Das ist meine/deine/seine Uhr und Das ist die Uhr von mir/dir/ihm feststellen. Die Fügungen mit von seien „nicht gebräuchlich, wenn die Uhr […] sich nicht am Körper des Possessors“ befindet (ebd.: 127). Solche feinen Unterschiede werden aber – sollten sie überhaupt vorhanden sein – in jedem Fall von den morphosyntaktischen und stilistischen Zwängen bzw. Präferenzen überlagert, die in → D3.6 genannt wurden. Dies gilt mehr noch für Eigennamen als für pronominale Possessoren: Das ist die Uhr von Peter ist der unmarkierte Normalfall.  



D3 Possessive Attribute

1607

Funktionale Unterschiede betreffen nicht die morphosyntaktischen Typen synthetisch vs. analytisch, sondern den pränominalen Genitiv vs. die postnominalen possessiven Attribute (Genitiv + von-Phrase). Für den pränominalen Genitiv gelten dieselben Beschränkungen auf der Ebene der Syntax der Gesamt-NP wie im Englischen: Determinativsetzung ist beim pränominalen Genitiv, der die definit determinierende Funktion mit übernimmt, ausgeschlossen (vgl. *Peters mehrere/einige/solche Bücher). Die referenzsemantischen Beschränkungen des englischen s-Genitivs gelten nur in einer Art Schwund- bzw. Reduktionsstufe für den deutschen pränominalen Genitiv: Neben dem Genitiv des Demonstrativums der (dessen/deren) und gelegentlich der Indefinita jemand/niemand werden nur noch Eigennamengenitive, gegebenenfalls unter Erweiterung durch eine enge Apposition, stilistisch unmarkiert pränominal gestellt: dessen Erfolg, jemandes/niemandes Erfolg, Peters Erfolg, Professor Maiers Erfolg. Es geht also um die zweite Position der Referentialitätshierarchie. Dass auch Belebtheit bei der Belegung der pränominalen Possessorposition häufig im Spiel ist, ist zum einen darauf zurückzuführen, dass Eigennamen in allererster Linie von Personen getragen werden. Zum anderen aber scheint Belebtheit doch auch noch eine Abstufung zwischen den Eigennamen zu erzeugen. Geografische Namen kommen durchaus pränominal vor, sofern sie ‚grammatische Eigennamen im engeren Sinne‘ sind, also keinen Proprialartikel fordern (→ B1.4.3), was vor allem auf Länder- und Städtenamen zutrifft: Frankreichs Hauptstadt, Berlins Bürgermeister. Ländernamen mit Proprialartikel, die also keine grammatischen Eigennamen i. e. S. sind, werden nicht pränominal gestellt: *des Iraks und der Vereinigten Staaten Armee (wohl aber: Iraks Armee). Verglichen mit Personennamen gibt es aber bei den geografischen grammatischen Eigennamen wohl eine Präferenzumkehrung: Während erstere üblicherweise pränominal gestellt werden, scheint bei den geografischen Namen die Nachstellung wie in die Hauptstadt Frankreichs, der Bürgermeister Berlins bevorzugt; dies ergibt sich aus den Daten in Eisenberg/Smith (2002: 120). Bei beiden Sorten gibt es, dies ist hervorzuheben, nur Stellungspräferenzen, keine obligatorische Position.  



Allerdings behauptet Fuß (2011: 26), Eigennamen mit belebtem Denotat in Possessor-Funktion seien auf pränominale Position festgelegt, während solche in Auctoris- oder Argumentfunktion auch postnominal erscheinen könnten. Sowohl die referenz- als auch die rollensemantische Beschränkung bedürfen genauerer Korpusrecherchen. Nach Peschke (2014), die eine kleine und damit nur begrenzt aussagekräftige Korpusuntersuchung zugrunde legt, spielt bei der Vor- oder Nachstellung des Eigennamen-Genitivs vor allem der Faktor Komplexität eine Rolle. Komplexität des Eigennamens, z. B. in Form mehrteiliger Personennamen bzw. appositiv erweiterter Eigennamen führe „zu vermehrter Nachstellung“ (Peschke 2014: 247); vgl. Merkels Neujahrsansprache versus die Neujahrsansprache Bundeskanzlerin Angela Merkels. Bei einem Auslaut auf -s bzw. Sibilant dagegen werde besonders stark auf die von-Phrase ausgewichen wie in die Gründung von Mainz.  

Damit dürften jedoch noch nicht alle Faktoren benannt sein. Die Suche in DE RE KO (am 05.07.2012) ergibt bezüglich des prä- bzw. postnominalen Vorkommens ausgewählter geografischer Eigen-

1608

D Nominale Syntagmen

namen folgendes Bild. Auf jeweils 200 per Zufallswahl ausgewählte Belege entfallen bei Apuliens 33 auf die pränominale Position, bei Heidelbergs hingegen 140. Dem vorläufigen Eindruck nach begünstigen appositive Erweiterungen des Kopfsubstantivs und die Einbettung der NP in eine PP die pränominale Position wie in Apuliens Hauptstadt Bari, die Ostküste von Apuliens südlichster Region oder mit Heidelbergs Oberbürgermeisterin Beate Weber. Umfassende Korpusrecherchen, die möglichst multifaktoriell ausgelegt sind, sind somit erforderlich.

D3.10 Argument-Realisierungen: possessiv-possessive versus ergativ-possessive versus possessiv-akkusativische Kodierung In allen Vergleichssprachen kann, wie bereits ausgeführt, wenn bei zugrundeliegender semantischer Zweistelligkeit nur entweder das Subjekt- oder das Objekt-Argument realisiert ist, dies in possessiver Konstruktion erfolgen, vgl. (66) versus (67). (66) ENG FRA POL UNG DEU

Caesar’s conquests les conquêtes de César podboje Cezara Caesar hódításai Cäsars Eroberungen

(67) ENG FRA POL UNG DEU

the conquest of Gaul la conquête de la Gaule podbój Galii Gallia meghódítása die Eroberung Galliens

Sind adnominal beide Argumente realisiert, so ergeben sich nach Koptjevskaja-Tamm (1993, 2002, 2003c) mehrere alternative Strukturmuster. In ihrer typologisch-vergleichenden Studie von 1993 geht die Autorin verallgemeinernd von „action nominal constructions“ (ANCs) aus mit den beiden prototypischen Argument-Rollen A (AGENS , thematische Rolle des Subjektsgenitivs in (66)) und P (PATIENS , thematische Rolle des Objektsgenitivs in (67)); vgl. auch Koptjevskaja-Tamm (2002: 166 f.). Sie zeigt, dass die beobachtete Parallelität der Argument-Kodierung mit dem Possessorattribut keineswegs universal gültig ist. Zum einen fehlen in vielen Sprachen Nominalisierungen von (Handlungs-)Verben überhaupt. Aber auch in Sprachen, die sie haben, kann die Kodierungsform für A und P, die beim finiten Verb vorliegt, auch direkt für die Nominalisierung übernommen werden. Nominalisierungen  

D3 Possessive Attribute

1609

würden generell die Konstruktionstypen für ihre Argumentrealisierungen „entlehnen“, entweder eben vom finiten Verb oder von der NP, oder sie würden sie zumindest nach diesen Vorbildern „modellieren“. Dies sei auf den vergleichsweise komplexen Status von Nominalisierungen zurückzuführen, die hoch entwickelten kommunikativen Bedürfnissen genügten und sich daher sowohl ontogenetisch wie auch mutmaßlich phylogenetisch erst spät in der Sprachentwicklung herausbildeten.

Die europäischen Sprachen verhalten sich im Hinblick auf die beiden Verfahren ‚Beibehaltung der Kodierungsform im Satz‘ und ‚Übernahme der Kodierungsform für den Possessor‘ nach drei Mustern (vgl. Koptjevskaja-Tamm 2002: 166): – Favorisiert würden klar die beiden folgenden Muster: (i) A und P übernehmen Possessor-Kodierung wie in ENG Peter’s writing of the letter oder DEU Cäsars Eroberung Galliens wir sprechen hier vom possessiv-possessiven Typ (bzw. double-possessive type) und (ii) P übernimmt Possessor-Kodierung und A wird durch eine Adpositionalphrase wie in DEU die Eroberung Galliens durch Cäsar, ENG America’s discovery by Columbus, POL podbój Galii przez Cezara oder eine NP im Instrumentalis im Russischen (zavoevanie Gallii Cezarem), bzw. durch eine adjektivierte Postpositionalphrase im Ungarischen, vgl. (68), ausgedrückt. Koptjevskaja-Tamm spricht hier vom ergativpossessiven Typ. Kennzeichnend für diesen Typ ist, dass P und das nicht-agentive Subjekt-Argument etwa von Prozess-Nominalisierungen (wie in DEU das Fallen der Blätter) possessiv kodiert werden, während das AGENS vergleichbar der AGENS -Phrase im Passiv kodiert wird. (68) UNG

Gallia [Caesar Gallien Cäsar

által-i] durch-ADJ

meghódítás-a Unterwerfung-3SG

– Im Baskischen und den daghestanischen Sprachen wird für A und P die Kodierungsform im Satz beibehalten. Stärker restringiert und nur als Alternative zum possessivpossessiven oder ergativ-possessiven Muster kann dies auch in den iberoromanischen Sprachen sowie im Italienischen der Fall sein. So kann im Portugiesischen „vorwiegend in der Literatursprache“ im Rahmen einer „substantivierten Infinitivkonstruktion“ (E. Gärtner 1998: 507–512), d. h. einer durch Setzung von Artikel oder Demonstrativum nominalisierten Konstruktion, sowohl ein nominativisches Subjekt als auch ein präpositionslos angeschlossenes direktes Objekt auftreten:  

(69) POR



É grave [o eles desprezar-em a paz]. DEF 3PL missacht.INF - 3PL DEF Frieden ist schlimm ,Es ist schlimm, dass sie den Frieden missachten.‘ (E. Gärtner 1998: 508)  

Auch im Spanischen und Italienischen kann beim artikelführenden Infinitiv ein in der Regel nachgestelltes Subjekt (ggf. auch ein direktes oder indirektes Objekt) auftreten (70, 71). Die Beispiele (72) und (73) zeigen das Vorkommen von Subjekt und direktem Objekt beim Infinitiv als Komplement einer Präposition:

1610

D Nominale Syntagmen

(70) SPA

[El

esperado yo allí tanto tiempo] gewartet 1SG dort so.viel Zeit resultó inútil. sich erweis.PRF . 3SG nutzlos ‚Dass ich dort so lange gewartet hatte,/Mein so langes Warten dort (wörtl.: Das haben gewartet ich dort so lange) erwies sich als nutzlos.‘ (Rosemeyer 2011: 50).

(71) ITA

[L’

(72) SPA

[Por yo no saber nada] me sorprendieron. wiss.INF nichts KL . 1SG . OBJ überrasch.PRF . 3PL für 1SG NEG ‚Weil ich nichts wusste (wörtl.: durch ich nicht wissen nichts), überraschten sie mich.‘ (De Bruyne 1995: 504)

(73) ITA

[Per aver io fatto una scelta sbagliata] gemacht INDEF Entscheidung falsch durch hab.INF 1SG la mia ditta è andata in rovina. DEF POSS . 1SG Firma ist gegangen in Ruine ‚Da ich eine falsche Entscheidung getroffen habe (wörtl.: Durch haben ich getroffen eine falsche Entscheidung), ist meine Firma ruiniert worden.‘

DEF

haber hab.INF

aver lui affermato che ti hab.INF 3SG behauptet KOMP KL . 2SG . OBJ vuole aiutare] non implica che sei fuori implizier.3SG KOMP bist draußen woll.3SG helf.INF NEG dei guai. von.DEF . PL Schwierigkeit.PL ‚Dass er behauptet hat/Seine Behauptung (wörtl.: das haben er behauptet), dass er dir helfen möchte, impliziert nicht, dass du nicht mehr in Schwierigkeiten bist.‘ (Mensching 2000: 87) DEF

– Der gemischte Typ, bei dem A wie ein Possessor kodiert, P hingegen wie ein direktes Objekt im Satz (der possessiv-akkusativische Typ), ist im universalen Vergleich am häufigsten, bei den europäischen Sprachen dagegen sehr selten. Er kommt nur im Türkischen und einer samojedischen und einer daghestanischen Sprache als Alternative zur satzanalogen Kodierungsform vor, sowie bemerkenswerterweise im Englischen, z. B. in ENG Peter’s singing the song.  

In Koptjevskaja-Tamm (2003c: 726–736) wählt die Autorin eine etwas andere Terminologie und trifft leicht abweichende Unterscheidungen: Sie spricht von den Haupttypen „sentential“, „possessive-accusative“, „ergative-possessive“ und „nominal“. Beim Typ „nominal“ differenziert sie zwischen „double-possessive“ und „possessive-adnominal“. Letzterer Typ liege etwa im Schwedischen vor, wo P mithilfe der Präposition av ‚von‘ angeschlossen wird, die anders als ENG of nicht als Umschreibung des Genitivs angesehen werden könne. Vielmehr würden pränominale

D3 Possessive Attribute

1611

Genitive des Schwedischen durch eine ganze Reihe verschiedener präpositionaler Attribute ersetzt, unter denen av-Phrasen keine ausgezeichnete Rolle spielten (ebd.: 736).

Der possessiv-possessive Typ wird in den Vergleichssprachen nur realisiert, wenn eines der Attribute pränominal, das andere postnominal erscheint. Dabei ist stets das pränominale das Subjekt-Argument. Als possessiv-possessiv ist aber auch die pränominale Realisierung des Subjekt-Arguments durch ein Possessivum einzuschätzen wie in DEU seine Eroberung Galliens, FRA sa conquête de la Gaule. Bei präpositionalanalytischem Possessiv-Ausdruck, wie er im Französischen (und anderen romanischen Sprachen) bei einer NP obligatorisch vorliegt, ist aber pränominale Positionierung des Attributs nicht möglich; der possessiv-possessive Strukturtyp ist somit hier ausgeschlossen. Stattdessen wird im Französischen: (i) bei Emotions-Substantiven eine PP mit einer spezifischen Präposition (pour, STIMULUS IMULUS der Emotion) gecontre, envers) bezüglich des Objekt-Arguments (THEMA / ST braucht wie in l’amour d’une mère pour ses enfants ‚die Liebe einer Mutter für ihre Kinder‘, la haine de Jacob contre Édom ‚der Hass von Jakob auf Edom (Esau)‘ (Grevisse/Goosse 2011: 457, → D4.2.4) (ii) bei anderen Verbalableitungen auf eine ergativ-possessive Struktur mit FRA par ‚durch‘ umgestiegen: la conquête de l’Algérie par la France (vgl. ebd.). Im Deutschen und Englischen ist der possessiv-possessive Typ durch pränominale Stellung des Subjekt-Arguments auch bei nominaler Realisierung möglich, wobei Beschränkungen für diese Position gelten, die im Deutschen besonders stark ausgeprägt sind (→ D3.9). Ist pränominale Realisierung ausgeschlossen oder dispräferiert, wird ebenfalls ergativ-possessiv verfahren: DEU die Eroberung Galliens durch die römischen Legionen, ENG the conquest of Gaul by the Roman legions. Im Polnischen ist der possessiv-possessive Typ durch pränominale Stellung des Subjekt-Arguments ebenfalls möglich, jedoch stark markiert: (74) POL

?polskiej

szkoły szanowanie praw dziecka Schule.GEN Respektierung Recht.GEN . PL Kind.GEN polnisch.GEN ,die Respektierung von Kinderrechten durch die polnische Schule‘ (Aptacy 2006: 17) Nach Sprecherurteil (Ewa Drewnowska-Vargáné, p.c.) ist die Konstruktion ausgeschlossen.

Wie im Deutschen ist postnominale Kookkurrenz beider Genitive im Allgemeinen nicht möglich (auch → D1.2.3.3), vgl. (75a). Die übliche Kodierungsform ist auch hier ergativ-possessiv, wie in (75b). Allerdings sind Konstruktionen wie (75c) belegt, vgl. auch Beispiel (45) in → D3.8.

1612

D Nominale Syntagmen

(75) a. *szanowanie polskiej szkoły praw dziecka POL Respektierung polnisch.GEN Schule.GEN Recht.GEN . PL Kind.GEN b. szanowanie praw dziecka przez polską szkołę Respektierung Recht.GEN . PL Kind.GEN durch polnisch.AKK Schule.AKK ,die Respektierung von Kinderrechten durch die polnische Schule‘ (Aptacy 2005: 24) c. Recenzja [profesora historii] [pracy historycznej] Gutachten Professor.GEN Geschichte.GEN Arbeit.GEN Geschichte.ADJ . GEN ‚das Gutachten des Geschichtsprofessors zu der Geschichtsarbeit / die Begutachtung der Geschichtsarbeit durch den Geschichtsprofessor‘ Bezüglich des ergativ-possessiven Typs ist auch zu beachten, dass im Deutschen wie im Polnischen ergative Kodierung des Subjekt-Arguments (des AGENS ) auch dann möglich ist, wenn das Objekt-Argument nicht realisiert ist; in diesem Fall kann das Satzsubjekt – bei (76) der Antrag, bei (77) studenci – das bei der Nominalisierung fehlende Argument kontextuell liefern: (76)

nach der Überprüfung durch das Finanzamt wandert der Antrag an […]

(77) POL

po zaproszeniu przez profesora studenci […] OK durch Professor.AKK Student.PL nach Einladung.LLOK ,nach der Einladung durch den Professor […] die Studenten‘ (Aptacy 2005: 24)

Trotz gegenteiliger Aussagen in der Literatur (vgl. das als ungrammatisch eingestufte Beispiel (78) in Grimshaw 1990: 52) sind wohl auch im Englischen – gemäß zahlreichen Internetbelegen wie (79) – entsprechende Konstruktionen möglich: (78) ENG

*the examination by the instructor ‚die Prüfung durch den Ausbilder‘

(79) ENG

Apart from finding areas of tenderness, the examination by a doctor will usually find no other abnormality. ,Abgesehen davon, dass empfindliche Körperregionen gefunden werden, wird die Untersuchung durch einen Arzt normalerweise keine Normabweichungen ergeben.‘ (Internet)

Im Ungarischen werden beide Argumente ausschließlich pränominal realisiert; possessiv-possessive Struktur ist auch hier ausgeschlossen: Das Objekt-Argument wird possessiv realisiert (im Kasus Nominativ und mit Possessoraffix am Kopf) und geht dem ergativ (mittels der adjektivierten Postposition által ‚durch‘) realisierten SubjektArgument voran:

D3 Possessive Attribute

(80) UNG

1613

a

terv független szakértő által-i Plan unabhängig Sachverständiger durch-ADJ vizsgálat-a Prüfung-3SG ,die Überprüfung des Plans durch einen unabhängigen Sachverständigen‘ DEF

Auch ist besonders zu beachten, dass die unterschiedlichen morphologischen und aspektualen Typen von Ereignissubstantiven sich hinsichtlich der Realisierungsbedingungen für die Argumentstellen unterscheiden. So sind etwa (vgl. Ehrich/Rapp 2000) bei den für das Deutsche zentralen ung-Ableitungen im Falle eines transitiven Basisverbs nur bei einer atelisch-durativen Aspektualität Subjekt- und Objekt-Argument als Kandidaten für ein possessives Attribut und die Pronominalisierung durch das Possessivum gleichberechtigt. Sie machen dies durch folgendes Gegensatzpaar deutlich (ebd.: 275): (81)

a. die Befragung des Kanzlers b. die Absetzung des Kanzlers

→ →

Genitivus subiectivus oder obiectivus Genitivus obiectivus

In den beiden folgenden Korpusbelegen ist das Genitivattribut bzw. das Possessivpronomen bei den atelischen Prozessnominalisierungen Beratung und Beschreibung als AGENS , also Subjekt-Argument zu interpretieren: (82)

Vor der ersten Beratung der Kommission […] besucht der Minister heute die Personalversammlung der Generalstaatsanwaltschaft Koblenz. (Rhein-Zeitung, 28.06.2011)

(83)

Heribert Faßbender spricht am schnellsten. […] Nur 2,2 Sekunden benötigte Faßbender beim WM-Finale 1974 für seine Beschreibung des 2:1 gegen die Niederlande, den Torjubel nicht eingerechnet. (Berliner Zeitung, 26.04.2006)

Bei telischer Aspektualität – Ehrich/Rapp (2000: 284 f.) nennen hier ‚Herstellungsnominalisierungen‘ mit Beispielen wie Abfassung, Fertigstellung oder ‚Vernichtungsnominalisierungen‘ mit Beispielen wie Abschaffung oder Erschießung – hingegen wird tendenziell nur das Objekt-Argument durch ein possessives Attribut realisiert, das Subjekt-Argument in Form der durch-Phrase; es wird also zu einer ergativ-possessiven Struktur mit Ersparung des possessiv zu realisierenden Objekt-Arguments übergegangen, wie etwa in:  

(84)

Katzen droht die Erschießung durch den Jäger schon, wenn sie mehr als 300 Meter vom nächsten bewohnten Gebäude entfernt sind. Der Abschuss von Hunden oder Katzen dürfe für den Jäger immer nur die »ultima ratio«, der letzte Schritt sein) […]. (Nürnberger Nachrichten, 28.02.2005)  

1614

D Nominale Syntagmen

Allerdings gilt der Ausschluss einer Subjektlesart auch bei telischer Aspektualität nicht ausnahmslos. Ehrich-Rapp verweisen auf die Tatsache, dass Nominalisierungen wie die zugrundeliegenden telischen Verben auch in einer atelischen Variante auftreten können, beobachtbar etwa an den „Modifikationsnominalisierungen“ wie Kürzung, Umgestaltung, vgl. Der Stadtteil wird durch die Umgestaltung der Planer nicht schöner (Ehrich/Rapp 2000: 286). Selbst bei „Vernichtungsnominalisierungen“ kann Pluralisierung den Anschluss eines possessiven SubjektTHEM A Arguments ermöglichen, vgl. (85). Dies sei (ebd.: 285) „rein konzeptuell“ zu erklären, eine THEMA Lesart sei hier „meist aus pragmatischen Gründen“ ausgeschlossen. (85)

Beachtlich hemmungslos wird hier ein Leben besichtigt. Der verstockte Knabe, der als Hitlerjunge in Kärnten Erschießungen der Gestapo sah. (Mannheimer Morgen, 04.09.2004)

Auch bezüglich des Englischen wird, zumindest für den pränominalen Genitiv bei telischer Aspektualität, die AGENS -Lesart bei nur einem possessiven Attribut für nichtgrammatisch erklärt: ENG *the enemy’s destruction versus the city’s destruction (Taylor 1996: 4). Dagegen können bei atelischer Aspektualität sowohl AGENS -Phrasen (wie in the doctor’s examination / the examination of the doctor) als auch vor allem EXPERIENS -Phrasen (the voters’ admiration) isoliert vorkommen; vgl. auch den experiencer constraint in → D3.9. Eine Konstruktion wie ENG the shooting of the rebels (vgl. Quirk et al. 1985: 1279) erlaubt nur in der intransitiven Version des Verbs im Sinne von ‚das Schießen der Rebellen‘ (wie im Deutschen) eine AGENS -Lesart, als transitives ‚Vernichtungsverb‘ ist auch hier wohl nur eine Objektlesart als ‚die Erschießung der Rebellen‘ möglich. Bei Infinitivnominalisierungen im Deutschen, die generell atelische Aspektualität haben, ist, darauf deuten die Untersuchungen von Blume (2004) hin, die Präferenz für eine ergativ-possessive Struktur bei Nominalisierungen zweistelliger Verben generalisiert. Man vergleiche etwa (nach Blume 2004: 89): (86)

Der Laden kann das Kostüm reinigen – *das Reinigen des Ladens – das Reinigen des Kostüms seinOBJ Reinigen

Bei Ereignissubstantiven ohne explizites Derivationsmorphem wie z. B. Kritik, Angebot, Test hingegen scheint das Subjekt-Argument als Belegung des possessiven Attributs (und damit Kandidat für Substitution durch das Possessivum) eher präferiert, man vgl. (87) (nach Blume 2004: 88):  

(87)

Die Freundin kritisiert die Aufführung – die Kritik der Freundin – ?die Kritik der Aufführung ihreSU/?OBJ Kritik

Der possessiv-akkusativische Typ des Englischen Peter’s singing the song kommt nur beim gerund vor. Das possessive Argument (A, AGENS /EXPERIENS ) ist determinierend wie alle anderen referentiellen Genitivattribute des Englischen, hat aber doch

D3 Possessive Attribute

1615

eine klare Sonderstellung gegenüber diesen: Er kann nicht gegen ein Determinativ ausgetauscht und in eine of-Phrase „umgeformt“ werden: (88) a. We enjoy Peter’s / his singing the song. ENG b. *We enjoy the singing the song of Peter/him. ,Wir genießen es, wie Peter/er das Lied singt.‘ (Altenberg 1982: 187)  

Bei dieser englischen Konstruktion, die von anderen Konstruktionen mit der ing-Form zu unterscheiden ist, ist die externe Syntax eindeutig nominal (Vorkommen nach Präpositionen wie because of; vgl. Taylor 1996: 277), die interne Syntax aber bis auf das „logische Subjekt“ verbal: So wird das Objekt direkt, ohne die Präposition of angeschlossen, Modifikation erfolgt adverbial, nicht adjektivisch: the enemy’s ruthlessly destroying the city. Die Position des Determinators muss obligatorisch durch einen Possessorausdruck (NP oder Possessivum) ausgedrückt werden; Artikelsetzung ist ausgeschlossen.

D3.11 Nicht-referentielle possessive Attribute D3.11.1 Überblick zu den funktionalen Typen Sprachübergreifend werden in den Vergleichssprachen possessive Konstruktionen über die bisher erörterten Funktionen als Possessorattribution und Argumentrealisierung, die beide als Spielarten referentieller Modifikation zu betrachten sind, hinaus gebraucht. Es sind folgende funktionale Typen zu unterscheiden, die hier zunächst am Beispiel des Deutschen vorgestellt werden: Begriffliche Modifikation Klassifikatorische Modifikation: Mann der Tat, Ort des Friedens Qualitative Modifikation: Bauten von großer Schönheit, Erkenntnisse von bedeutendem Wert Nominale Quantifikation Partitive Quantifikation: ein Stück von diesem Kuchen, fünf Prozent der Weltbevölkerung Pseudo-partitive Quantifikation: eine Tonne gesammelter Altkleider, eine Menge von alten Leuten Bei diesen Typen werden von den für Possessorattribute und Argumentanbindung einschlägigen Tests, dem Pronominalisierungstest und dem Test auf Substitution

1616

D Nominale Syntagmen

durch ein Possessivum, entweder beide oder zumindest einer nicht erfüllt. Weitere Ausführungen zur Anwendung der Tests auf die verschiedenen Typen finden sich in → B1.5.4.2, zur funktionalen Bestimmung der verschiedenen Typen vgl. → A4.1, → A4.2, → A5. Der Schwerpunkt in diesem Kapitel liegt zum einen auf dem Vergleich der possessiven Attribute in der Funktion begrifflicher Modifikation mit den zentralen Possessorattributen in referentieller Funktion im Hinblick auf die oben erörterten formalen Parameter. Die Unterschiede zwischen den Vergleichssprachen scheinen bei begrifflicher Modifikation größer zu sein als bei Possessorattribution und der Argumentanbindung in Form von possessiven Attributen; diese Unterschiede sind daher der zweite leitende Gesichtspunkt. Zu possessiven Konstruktionen im Sinne nominaler Quantifikation vgl. → D5. Der formale Parameter ‚Dependenz- versus Kopfmarkierung versus Doppelmarkierung‘ braucht nicht noch einmal aufgenommen zu werden. Er gilt in den Vergleichssprachen jeweils für die formale Klasse der possessiven Attribute insgesamt. Allerdings kommt Doppelmarkierung im Ungarischen, also die Realisierung durch einen possessiven Dativ + Possessormarkierung am Kopf, im Allgemeinen nicht bei nicht-referentiellen possessiven Attributen vor:  



(89) a. az DEF UNG b. *az

iszákosság szenvedély-e Trunkenheit Laster-3SG iszákosság-nak szenvedély-e DEF Trunkenheit-DAT Laster-3SG ,das Laster der Trunkenheit‘

Die prä- oder postnominale Positionierung des Attributs braucht nicht als unabhängiger Parameter behandelt zu werden. Die Regularitäten folgen aus den für die einzelnen Sprachen im ersten Kapitelteil beschriebenen Eigenschaften. Im Englischen ist auch der nicht-referentielle s-Genitiv pränominal, im Polnischen gilt wie für alle Genitive in aller Regel postnominale Realisierung. Im Deutschen sind aufgrund der Beschränkung der pränominalen Position auf Eigennamen nur postnominale Genitive im nicht-referentiellen Fall möglich. Im linksverzweigenden Ungarischen sind auch die nicht-referentiellen possessiven Attribute pränominal. Possessive PPform-Attribute sind in allen Vergleichssprachen wie die referentiellen Attribute postnominal. Es sind somit nur die folgenden beiden Parameter vorzusehen: 1. Synthetische oder analytische Form des possessiven Attributs 2. Adjazenz und Rekursion: Hier wird die Kookkurrenz eines nicht-referentiellen possessiven Attributs mit anderen possessiven Attributen, sowohl referentieller als auch nicht-referentieller Art, erörtert; die Frage der Adjazenz zum Kopfsubstantiv wird angesprochen.

D3 Possessive Attribute

1617

D3.11.2 Synthetische oder analytische Form des possessiven Attributs Ordnungsgesichtspunkte sind die synthetische oder analytische Realisierungsform und in zweiter Linie die in → D3.11.1 genannten funktionalen Typen.

D3.11.2.1 Synthetische Form des possessiven Attributs Im Englischen zeichnen sich Konstruktionen mit einem nicht-referentiellen Genitivattribut durch eine eigene syntaktische Struktur und typische Belegungsbedingungen für den Modifikator vergleichsweise klar von Konstruktionen mit referentiellem Genitiv in Possessor- oder Argumentfunktion ab: Sie haben keine determinierende Funktion und können mit einem Artikel oder einem anderen Determinativ für die Gesamtphrase verbunden werden. Zwei funktionale Typen dieses bei Huddleston/Pullum (2002: 469) so genannten attributive genitive sind zu unterscheiden: der descriptive genitive, als eine Ausdrucksform klassifikatorischer Modifikation, und der measure genitive als spezifische Unterart qualitativer Modifikation. Der syntaktische Unterschied gegenüber den Konstruktionen mit referentiellem Genitiv (subject determiner bei Huddleston/Pullum 2002: 467, determiner genitive bei Rosenbach 2007a) kann verdeutlicht werden wie in (90a) mit descriptive genitive gegenüber (90b) mit determiner genitive – und (91) mit measure genitive. (90) a. He lives in [this [old people’s] home]. ENG ‚Er lebt in diesem Altersheim.‘ b. He lives in [[these old people’s] home]. ,Er lebt im Haus dieser alten Leute.‘ (91) ENG

He apologized for [his [two hours’] delay]. ‚Er entschuldigte sich für seine Verspätung von zwei Stunden.‘

Die Genitivattribute enthalten hier keine Determinative; in Huddleston/Pullum (2002) werden sie daher der Kategorie des nominal, in Rosenbach (2007a: 146) der Kategorie (erweitertes) Nomen (noun) zugeordnet, nicht der Kategorie NP; dies entspricht unserer Einordnung als Elemente der Konstituentenkategorie NOM (→ D1.2.3.2). Allerdings kommen nach Huddleston/Pullum (2002: 470) bei den measure genitives auch Formen vor, wo das Attribut die linke Grenze der Gesamt-NP markiert, ähnlich wie bei determiner genitives, vgl. He arrived with [[an hour’s] delay]. Rosenbach (2007a: 182) spricht hier von einem „wavering morphosyntactic status […] between determiner and attributive use“.

Im Polnischen und Deutschen gibt es keine solchen klaren ausdrucksseitigen Unterschiede gegenüber den referentiellen Genitiven. Morphosyntaktische Differenzierung

1618

D Nominale Syntagmen

erfolgt nicht: So ist im Deutschen ein Fehlen des Artikels, das beim englischen descriptive genitive vorliegt und das generell bei klassifikatorischen NPs beobachtet werden kann (→ A4.2), ausgeschlossen. Der Artikel fungiert hier als obligatorischer Träger des Kasusmarkers; artikellose Gegenstücke wären gemäß dem ‚Prinzip der Genitivmarkierung‘ bzw. der ‚Kontinuativa-Regel‘ (→ C6.7.2, → C6.7.4.2) ungrammatisch (Stunde der Wahrheit – *Stunde Wahrheit, Sekunde des Schreckens – *Sekunde Schreckens). Im Polnischen wird weder bei referentieller noch bei nicht-referentieller Verwendung ein Artikel gesetzt. Nur die Stellung unmittelbar nach dem Kopfsubstantiv kann bei zwei Genitiven wie etwa in POL cecha charakteru męża (Zug Charakter. GEN Mann.GEN ) ‚ein Charakterzug des Mannes‘ auf die klassifikatorische Funktion hinweisen (→ D3.11.3). Auch die ungarische Possessivkonstruktion (nominativisches Attribut + possessormarkierter Kopf) ist strukturell ambig zwischen referentieller und nicht-referentieller Deutung.

D3.11.2.1.1 Klassifikatorische Modifikation und verwandte Formen begrifflicher Modifikation Im Englischen, im Polnischen, weniger ausgeprägt im Deutschen finden sich Genitive, die die Kriterien für klassifikatorische Modifikation, nämlich Subklassenbildung gegenüber der vom Kopf bezeichneten Klasse und Auszeichnung dieser Subklasse als eine spezifische ‚Unterart‘ (subkind), in vollem Umfang erfüllen (→ A4.2). Der englische descriptive genitive (so in Quirk et al. 1985: 327 f.; Rosenbach 2006; Huddleston/Pullum 2002: 470) kommt in folgenden Formen vor: (a) unerweitertes Substantiv im Genitiv Singular, (b) adjektivisch erweitertes Substantiv im Genitiv Singular, (c) unerweitertes Substantiv im Genitiv Plural, (d) adjektivisch erweitertes Substantiv im Genitiv Plural. Als Modifikator des Kopfsubstantivs kann somit links des Genitiv-Nominals jeweils ein Adjektiv hinzutreten:  

(92) a. a baby’s chair ‚ein Kinderstuhl‘, my doctor’s degree ‚mein Doktorgrad‘, ENG lawyer’s fees ‚Anwaltsgebühren‘, a warm summer’s day ‚ein warmer Sommertag‘ b. a nice [little boy’s] haircut ‚ein schöner Kleine-Jungen-Haarschnitt‘ c. a women’s college ‚ein Frauenkolleg‘ d. an [old men’s] belly ‚ein Altmännerbauch‘, the famous [African Children’s] Choir ‚der berühmte Chor Afrikanischer Kinder‘ Ähnlich wie beim referentiellen determiner genitive werden Genitive mit belebtem bzw. menschlichem Denotat bei dieser Konstruktion eindeutig bevorzugt. Bei unbelebtem Denotat hingegen wird im Sinne klassifikatorischer Modifikation die N+N-Konstruktion präferiert. Rosenbach (2007a: 175, vgl. auch die Studie zum jeweiligen Vorkommen in Web-Dokumenten in Rosenbach 2007b) zeigt dies an folgendem Kontrast:

D3 Possessive Attribute

1619

lawyer’s fees präferiert gegenüber lawyer fees ‚Anwaltsgebühren‘ aber: museum shop präferiert gegenüber museum’s shop ‚Museumsshop‘ Auch die of-Konstruktion kann klassifikatorischer Art sein, das Denotat des Attributs ist dort in der Regel ein abstrakter Gegenstand wie in prisoner of war (vgl. → D3.11.2.2.1). Im Polnischen ist das Genitivattribut neben dem relationalen Adjektiv die bevorzugte Realisierungsform klassifikatorischer Modifikation, die Alternative einer PPform existiert nicht, die Komposition ist wenig elaboriert. So findet sich erwartungsgemäß ein weites Spektrum klassifikatorischer Genitiv-Konstruktionen unterschiedlicher Denotatsklassen: menschliches Denotat in (93a), unbelebtes, konkretes Denotat in (93b), abstraktes Denotat in (93c). EN , ‚Kinderheim‘), kolegium kobiet (93) a. dom dziecka (dom ‚Haus‘, dziecka Kind.GGEN POL (kolegium ‚Kolleg‘, kobiet Frau.GEN . PL ‚Frauenkolleg‘) b. targi książki (targi ‚Messe‘, książki Buch.GEN , ‚Buchmesse‘), galeria sztuki (galeria ‚Galerie‘, sztuki Kunst.GEN , ‚Kunstgalerie‘), kierowca samochodu (kierowca ‚Fahrer‘, samochodu Auto.GEN , ‚Autofahrer‘) c. urząd pracy (urząd ‚Amt‘, pracy Arbeit.GEN , ‚Arbeitsamt‘), data urodzenia (data ‚Datum‘, urodzenia Geburt.GEN , ‚Geburtsdatum‘), radość życia (radość ‚Freude‘, życia Leben.GEN , ‚Lebensfreude‘)

Im Deutschen enthält das klassifikatorische Genitivattribut obligatorisch einen definiten Artikel; die Erweiterung durch ein adjektivisches Attribut ist selten. Während das Kopfsubstantiv semantisch nicht beschränkt ist – vgl. (94a) mit menschlichem, (94b) mit unbelebt-konkretem Denotat, vorwiegend aus dem lokal-temporalen Bereich oder bezogen auf geistig-künstlerische Produkte, (94c) mit abstraktem Denotat: Ereignis- oder Eigenschaftsbezeichnung –, ist der Modifikator weitgehend beschränkt auf abstrakte Gegenstände: (94)

a. Mann der Tat / des Friedens, Mann des (fairen) Ausgleichs, Held der Arbeit, Kinder der Liebe b. Stadt der Trauer, Stadt der Zukunft (als Übersetzung von ITA città futura, gehört am 15.11.10, SWR 1), Ort der Begegnung / des Schreckens / der Trauer / der Freude, Welt des Krieges, Land stiller Abschiede (Spiegel 11/2009, S. 36), Zeit der Besinnung, Stunde der Wahrheit, Moment des Stolzes (Spiegel 24/ 2016, S. 89), Wort des Trostes / der Ermutigung, Buch der Erinnerung (Nádas), Bild des Schreckens c. Schrei der Empörung, Schlaf der Erschöpfung, Akt der Gerechtigkeit, Mut der Verzweiflung; Früchte des Zorns  











1620

D Nominale Syntagmen

Daneben sind auch Attribute mit konkreter Belegung zu erwähnen wie Stadt der Engel, Tiere der Steppe (‚Steppentiere‘), Schöne des Tages (deutsche Übersetzung des Titels „Belle de Jour“, Film mit Cathérine Deneuve), Gott der Farben (mit Bezug auf Albrecht Dürer: Spiegel 23.04.2012, S. 130), Muse des Waldes (vgl. dazu Zifonun 2011). Hier ist die in → A4.2 erläuterte schwierige Abgrenzung gegenüber generisch-referentieller Lesart zu bedenken. Die Konstruktion ist typisch für Textsorten konzeptioneller Schriftlichkeit und wird vor allem im journalistischen Stil, etwa in Artikelüberschriften, gepflegt. Viele der Ausdrücke sind kollokativ, idiomatisch oder auch einem Eigennamen ähnlich verfestigt; metaphorischer Sprachgebrauch (wie in Früchte (‚Ergebnisse‘) des Zorns / der Arbeit) deutet auf gehobenes Register hin. Auf dem Wege von Analogiebildungen sind aber produktive Neubildungen möglich. Im Ungarischen ist die Konstruktion mit Attribut im Nominativ und Possessormarker am Kopfsubstantiv auch klassifikatorisch möglich; Beschränkungen nach der Denotatssorte des Attributs scheinen nicht vorzuliegen.  



(95) UNG

az erdő állatai (az erdő ‚der Wald‘, állatai Tier.PPL , ‚Tiere des Waldes‘), a béke embere (a béke ‚der Frieden‘, embere Mann.3SG ‚Mann des Friedens‘), a munka hőse (a munka ‚die Arbeit‘, hőse Held.3SG , ‚Held der Arbeit‘), a szerelem gyerekei (a szerelem ‚die Liebe‘, gyerekei Kind.PPL , ‚Kinder der Liebe‘), az igazság órája (az igazság ‚die Wahrheit‘, órája Stunde.3SG , ‚Stunde der Wahrheit‘), a vigasz szavai (a vigasz ‚der Trost‘, szavai Wort.PPL , ‚Worte des Trostes‘)

Neben diesen semantisch eindeutigen Fällen klassifikatorischer Modifikation finden sich im Polnischen, Deutschen und Ungarischen auch entsprechende Konstruktionen, die eher als Grenzfälle zu betrachten sind. Im Unterschied zum reinen klassifikatorischen Typ, der z. B. in der deutschen Grammatikographie keine Beachtung findet bzw. mit der qualitativen Modifikation zusammengefasst wird, werden sie als eigene Ausprägungen geführt und benannt: Als ‚Identitätsgenitive‘ fassen wir die in der Literatur genannten Gruppen ‚Definitionsgenitiv‘ (vgl. z. B. Behaghel 1923: 520), ‚explikativer Genitiv‘ (Eroms 2000: 283) sowie ‚Genitiv der Gruppenbildung‘ (Engelen 2010b: 78 f.) zusammen. Die Beziehung zwischen Kopf und Modifikator kann durch eine IST -Paraphrase expliziert werden:  





(96)

a. der Makel der Hässlichkeit – Die Hässlichkeit ist ein Makel (Definitionsgenitiv) b. die Gnade der späten Geburt – Die späte Geburt ist (eine Form von) Gnade die Milch der frommen Denkungsart – Die fromme Denkungsart ist wie Milch (explikativer Genitiv) c. die Klasse der Wolfsmilchgewächse – Die Wolfsmilchgewächse sind/bilden eine Klasse (Genitiv der Gruppenbildung)

D3 Possessive Attribute

1621

Die extensionale Identität zwischen Gesamtphrase und Genitivattribut steht im Widerspruch zur Subklassenbildung als definitorischer Eigenschaft klassifikatorischer Modifikation. Andererseits wird gerade bei dieser Art Genitiv auf die Funktion der Klassen- bzw. Typenbildung besonders abgehoben. Der Sonderstatus des Identitätsgenitivs ist auch an seinem Testverhalten ablesbar: Der Test auf Substitution des Attributs durch ein Possessivum gelingt nicht bedeutungserhaltend; Pronominalisierung des Attributs kann im Allgemeinen erfolgen; sie hat aufgrund der extensionalen Identität keinen anderen semantischen Effekt als die Pronominalisierung der Gesamtphrase, vgl. (97) und ausführlicher Zifonun (2010a: 146 f.):  

(97)

Man fürchtet [den Makel [der Hässlichkeit]i]j. Siei/Erj kann das Leben belasten. Engelen unterscheidet beim Definitionsgenitiv sieben verschiedene Gruppen, und zwar nach testbaren grammatischen Eigenschaften wie mögliche Determinative des Attributs, Möglichkeit der engen Apposition statt des possessiven Attributs, Möglichkeit einer von-Phrase statt des Genitivs usw. Bei Gruppe 4 mit Beispielen wie der Titel des/eines Professors, der Beruf der Altenpflegerin kann das Attribut nicht im Austausch mit der Gesamtphrase pronominalisiert werden: (98)

Eva übt [den Beruf [der Altenpflegerin]i ]j aus. *Siei/Erj stellt hohe Anforderungen.

Dies ist darauf zurückzuführen, dass trotz der IST -Paraphrase Altenpflegerin unmarkiert eine andere Denotatssorte (nämlich ‚Person‘) bezeichnet als Beruf. Beispiele für Identitätsgenitive aus dem Polnischen sind: (99) POL

grzech pijaństwa (grzech ‚Laster‘, pijaństwa Trunkenheit.GEN , ‚Laster der Trunkenheit‘), cnota pracowitości (cnota ‚Tugend‘, pracowitości ‚Arbeitsamkeit.GEN , ‚Tugend der Arbeitsamkeit‘), pociecha snu (pociecha ‚Trost‘, snu Schlaf.GEN , ‚Trost des Schlafes‘), klasa ssaków (klasa ‚Klasse‘, ssaków Säugetier.GEN . PL , ‚Klasse der Säugetiere‘)

Beispiele für Identitätsgenitive aus dem Ungarischen sind die folgenden. Wie in (95) ist das erste Substantiv ein Attribut im Nominativ, dem der bestimmte Artikel vorausgeht, das zweite das um den Possessormarker erweiterte Kopfsubstantiv. (100) UNG

az iszákosság szenvedélye/bűne ‚das Laster der Trunkenheit‘, a puhatestűek törzse ‚der Stamm der Weichtiere‘, a Szentháromság hittétele ‚das Dogma der Dreifaltigkeit‘, a többségi választás elve ‚das Prinzip der Mehrheitswahl‘, a munkanélküliség kérdése ‚das Problem der Arbeitslosigkeit‘, a vereség szégyene ‚die Schmach der Niederlage‘

Enthält das Attribut bereits selbst ein possessives Attribut in Form einer NP im Nominativ und ist daher das Kopfsubstantiv auch Träger der Possessormarkierung, so muss trotz des nicht-referentiellen Status des Attributs insgesamt eine -nek/nak-Markierung am Kopf erfolgen wie in folgendem Beispiel:

1622

(101) UNG

D Nominale Syntagmen

a

az

DEF

hatalmi ágak szétválasztásának Gewalt.ADJ Zweig.PL Teilung.3SG . DAT ,das Prinzip der Gewaltenteilung‘

DEF

elve Prinzip.3SG

D3.11.2.1.2 Qualitative Modifikation Die synthetische Realisierungsform possessiver Attribute ist bei qualitativer Funktion generell in den Vergleichssprachen – jedoch in unterschiedlichem Maße – beschränkt. Qualitative Modifikation in Form von NP oder PP ist ohnehin, da sie als periphrastische Explizitform häufig mit der einfachen Realisierungsform durch adjektivische Attribute konkurriert, eher randständig. Zudem wird sprachspezifisch auch die explizite Verknüpfung mithilfe von Präpositionen wie mit dem possessiven Attribut vorgezogen (DEU Mann vieler Talente versus Mann mit vielen Talenten). Die potentiell possessiv ausdrückbaren Qualitäten können eine ganze Reihe unterschiedlicher Dimensionen betreffen (vgl. Rijkhoff 2009a: 67–69; Zifonun 2010a: 132 f.). Es handelt sich zum einen um Qualitäten, die in messbaren, mit Zahlenangaben verbundenen Größen ausgedrückt werden, wie Alter, (Geld-)Wert, Gewicht, Höhe, Breite, Länge, Zeitdauer. Hier kann dann von ‚Maßgenitiven‘ (measure genitives) gesprochen werden. Dem stehen die nicht exakt quantifizierbaren Qualitäten etwa ästhetischer oder ethischer Art gegenüber sowie Eigenschaftszuschreibungen, die den relativen Umfang oder Rang einer Qualität benennen. Das Englische verfügt nur über einen Maßgenitiv für Zeitdauerangaben (vgl. Quirk et al. 1985: 322, „genitive of measure“; Huddleston/Pullum 2002: 470, „measure genitive“):  

(102) ENG

[an hour’s] delay ‚Aufschub von einer Stunde‘, [one week’s] holiday ‚Ferien von einer Woche‘, [a few days’] time ‚Zeitraum von einigen Tagen‘, a [seven days’] absence ‚eine Abwesenheit von sieben Tagen‘

Daneben wird bei Huddleston/Pullum (2002: 470) die feste Verbindung mit dem Substantiv worth als Kopf zum Ausdruck von „value measures“ erwähnt, wie in the [one dollar’s worth of chocolates] he bought ‚die einen Dollar werten Schokolädchen, die er kaufte‘. In den festlandskandinavischen Sprachen sind Maßgenitive anderer Dimensionen wie Alter oder Länge möglich: (103) SWE

ett

[sex veck-or-s] barn sechs Woche-PL - GEN Kind ,ein Kind von sechs Wochen‘ (Koptjevskaja-Tamm 2003a: 522)

(104) NOR

en

INDEF

[ni side-r-s] forklaring neun Seite-PL - GEN Erklärung ,eine Erklärung von neun Seiten‘ (Fabricius-Hansen 1987: 179)

INDEF

D3 Possessive Attribute

1623

Im Polnischen dagegen gibt es keine Maßgenitive, wohl aber nicht (exakt) quantifizierbare Qualitätszuschreibungen bzw. Rangeinstufungen im Genitiv: (105) POL

osoba różnych talentów, G EN . PL Talent.GEN . PL Person verschieden.GEN ludzie złej woli, Leute böse.GEN Wille.GEN wino najniższego gatunku G EN Sorte.GEN Wein schlecht.SUPL . GEN ‚Person vieler Talente, Menschen bösen Willens, Wein schlechtester Sorte‘ (Swan 2002: 331)

Anstelle von Maßgenitiven werden attributive Adjektivphrasen gebraucht, bei denen das Maßsubstantiv (z. B. ‚Tag‘, ‚Meter‘, ‚Jahr‘) adjektiviert und mit der Zahlenangabe kompositionell verknüpft ist:  

(106) POL

dwudniowa nieobecność (dwu-dni-ow-a zwei-Tag-ADJ - F , nieobecność ‚Abwesenheit‘, ‚Abwesenheit von zwei Tagen‘), drzewo dwumetrowe (drzewo ‚Baum‘, dwu-metr-ow-e zwei-Meter-ADJ - N , ‚Baum von zwei Metern‘), mężczyzna trzydziestoletni (mężczyzna ‚Mann‘, trzydziesto-let-n-i 30-JahrADJ - M , ‚Mann von 30 Jahren‘)

Alternativ wird mit der Präposition o + Lokativ konstruiert: (107) POL

dwuprocentowy wznos terenu / wznos terenu EN / Steigung Gelände.GGEN EN zwei.Prozent.ADJ . M Steigung Gelände.GGEN o dwa procenty um zwei Prozent.AKK . PL ,zweiprozentige Steigung des Geländes‘ / ‚Steigung des Geländes um zwei Prozent‘

Ähnlich wie im Polnischen verhält es sich auch im Ungarischen. Maßangaben sind in possessiver Konstruktion ausgeschlossen, stattdessen wird adjektiviert, vgl. (108). Bei anderen Arten qualitativer Modifikation ist jedoch die possessive Konstruktion marginal möglich wie in (109a), sofern keine adjektivische Erweiterung vorliegt, vgl. (109b). Wie in (95) und (100) ist in (109a) das erste Substantiv ein Attribut im Nominativ, dem der bestimmte Artikel vorausgeht, das zweite das um den Possessormarker erweiterte Kopfsubstantiv. (108) UNG

kétnapos távollét (két-nap-os zwei-Tag-ADJ , távollét ‚Abwesenheit‘, ,Abwesenheit von zwei Tagen‘), kétméteres fa (két-méter-es zwei-Meter-ADJ , fa ‚Baum‘, ‚Baum von zwei Metern‘), harmincéves férfi (harminc-év-es drei-

1624

D Nominale Syntagmen

ßig-Jahr-ADJ , férfi ‚Mann‘, ‚Mann von 30 Jahren‘), kétszázalékos növekedés (két-százalék-os ‚zwei-Prozent-ADJ ‘, növekedés ‚Anstieg‘, ‚Anstieg von zwei Prozent‘) (109) a. a becsület embere, Mann von Ehre‘, a jellem embere ‚Mann von Charakter‘, UNG az elvek embere ‚Mann von Prinzipien‘, a tehetség embere ‚Mann von Begabung‘ b. *olasz eredet emberei (olasz ‚italienisch‘, eredet ‚Herkunft‘, emberei Mensch. PPL , ‚Menschen italienischer Herkunft‘), *magas színvonal regénye (magas ‚hoch‘, színvonal ‚Niveau‘, regénye Roman.3SG , ‚Roman von hohem Niveau‘), *alattomos jellem embere (alattomos ‚bösartig‘, jellem ‚Charakter‘, embere Mann.3SG , ‚Mann von bösartigem Charakter‘) Auch im Deutschen sind Maßgenitive ausgeschlossen. Dies kann teilweise mit dem ‚Prinzip der Genitivmarkierung‘ in Verbindung gebracht werden, nach dem Konstruktionen aus unflektiertem bzw. unflektierbarem Zahladjektiv + Substantiv im Plural nicht als Genitiv erkennbar und damit ausgeschlossen sind (wie *Mann dreißig Jahre versus Mann von dreißig Jahren). Aber auch Genitivphrasen mit flektiertem Zahladjektiv sind (in dieser Lesart) ungrammatisch: *ein Aufenthalt eines Tages, *ein Baum zweier Meter. Dagegen sind andere Arten der qualitativen Modifikation – außer Materialangaben wie *ein Ring (puren) Goldes – im Genitiv möglich, sofern dem Prinzip der Genitivmarkierung entsprochen und ein flektiertes Adjektiv vorhanden ist. Artikelsetzung (definiter Artikel) ist nur bei Adjektiven im Superlativ fakultativ erlaubt: (110)

ein Mann großer Bescheidenheit und Diskretion, ein Mann fester Überzeugungen, Menschen unterschiedlicher Überzeugungen/Meinungen/Herkunft, eine Frau südländischen Aussehens, ein Moment großer Schönheit, Repräsentationsbauten großer Eleganz

(111)

Milch hervorragender Qualität / bester Güte / der besten Qualität, eine Koalition alten Stils, ein Mann vieler Talente, ein Skandal erster Ordnung, eine Kulturleistung höchsten Ranges

Solche „Eigenschaftsgenitive“ sind wie auch die entsprechenden von-Phrasen auf gehobenen Sprachgebrauch in der Schriftlichkeit beschränkt, wobei Kollokationen der Art N + bester Güte / höchsten Ranges / erster Ordnung vergleichsweise gebräuchlich sind.

D3 Possessive Attribute

1625

D3.11.2.2 Analytische Form des possessiven Attributs Die grobe Verteilung auf die Vergleichssprachen entspricht dem Fall referentieller possessiver Attribution: Polnisch und Ungarisch weisen keine analytische Realisierungsform auf, das Französische nur diese, während Deutsch und Englisch beide Möglichkeiten haben, allerdings bei hier klar ausgeprägter funktionaler Komplementarität.

D3.11.2.2.1 Klassifikatorische Modifikation und verwandte Formen begrifflicher Modifikation Im Französischen spielt das possessive Attribut mit der formalen Präposition de, neben der Konstruktion mit relationalem Adjektiv, die tragende Rolle bei klassifikatorischer Modifikation. Dabei sind keine Beschränkungen hinsichtlich der Denotatssorte des Attributs erkennbar. Neben usuellen Verbindungen, die im Deutschen Komposita entsprechen (112a), werden insbesondere auch die Gegenstücke zum klassifikatorischen Genitiv des Deutschen, also mit einem abstrakten Gegenstand als Denotat des Attributs, so konstruiert (112b). Das Attribut selbst ist im unmarkierten Fall artikellos und unerweitert (112a, b). Adjektivische Erweiterungen, die selbst klassifikatorisch zu verstehen sind, sind möglich (112c). Die Setzung des definiten Artikels (de la, bzw. der Verschmelzungen du und des, vgl. (112d)) lässt häufig eine referentielle Interpretation neben einer klassifikatorischen zu: (112) a. château d’eau (wörtl. ‚Schloss von Wasser‘, ‚Wasserschloss‘), voiture de sport (wörtl. ‚Wagen von Sport‘, ‚Sportwagen‘), fête de famille (wörtl. ‚Feier von FRA Familie‘,‚Familienfeier‘), jour d’été (wörtl. ‚Tag von Sommer‘, ‚Sommertag‘), prisonnier de guerre (wörtl. ‚Gefangener von Krieg‘, ‚Kriegsgefangener‘) b. homme d’action ‚Mann der Tat‘, cri de terreur ‚Schrei des Schreckens‘, ‚Schreckensschrei‘, mot d’excuse ‚Wort der Entschuldigung‘ c. collège de jeunes filles (wörtl. ‚Mittelschule von jungen Mädchen‘, ‚Mädchenmittelschule‘), taxe de cabinet médical (wörtl. ‚Gebühr von ärztlicher Praxis‘, ‚Praxisgebühr‘) d. étoile du soir (wörtl. ‚Stern des Abends‘, ‚Abendstern‘), reine des abeilles (wörtl. ‚Königin der Bienen‘, ‚Bienenkönigin‘), conseil des ministres (wörtl. ‚Rat(schlag) der Minister‘, ‚Ministerrat‘) Im Englischen verhält sich die analytische Realisierungsform klassifikatorischer possessiver Attribute weitgehend komplementär zur synthetischen, also zum descriptive genitive: of-Konstruktionen werden bei abstraktem Denotat des Modifikators gebraucht, während der s-Genitiv in erster Linie bei belebter Belegung vorkommt. Überschneidungen sind jedoch nicht ausgeschlossen, vgl. degree of doctor – doctor’s degree, profession of teacher – teacher’s profession. (Daneben ist die Konkurrenz zum relationalen Adjektiv, zur Komposition sowie vor allem zur N+N-Konstruktion zu beachten.)

1626

(113) ENG

D Nominale Syntagmen

man of action ‚Mann der Tat‘, cry of despair ‚Schrei der Verzweiflung, Ver-. zweiflungsschrei‘ (Huddleston/Pullum 2002: 477), smile of delight ‚Lächeln des Entzückens‘ (Quirk et al. 1985: 1300), world of war ‚Welt des Krieges‘, bird of prey ‚Raubvogel‘, weapons of mass destruction ‚Massenvernichtungswaffen‘, prisoner of war ‚Kriegsgefangener‘

Klinge (2006: 234) spricht hier von einem „lexical word formation pattern which is un-Germanic“, das sich in der Folge der normannischen Eroberung nach romanischem Vorbild herausgebildet habe. Er kontrastiert exemplarisch ENG weapons of mass destruction mit DEU Massenvernichtungswaffen, DÄN masseødelœggelsesvåben, NDL massavernietigingswapens, ISL gjöreyðingarwopn, allesamt Determinativkomposita. Man vgl. auch den englischen gegenüber dem deutschen Beleg aus dem zweisprachigen Leitartikel in Spiegel 24/2016, S. 8: „This vote is about preserving Europe’s competitiveness in times of change and struggle between world powers. / Es geht um die Konkurrenzfähigkeit Europas in Zeiten des Wandels und im Wettstreit der Weltmächte.“

Markiert sind auch, vgl. auch hierzu das Französische, artikelhaltige of-Konstruktionen klassifikatorisch möglich: man of the road ‚Mann von der Straße‘, ship of the line ‚Linienschiff‘. Sowohl im Französischen als auch im Englischen entsprechen den deutschen Identitätsgenitiven Konstruktionen mit de bzw. of. Hier wird auch von ‚Apposition‘ (Quirk et al. 1985: 1284, „apposition with of-phrases“‚ bzw. Grevisse/Goosse 2011: 443, „construction indirecte de l’apposition“) gesprochen. Auch hier konkurrieren im Französischen wie partiell im Englischen ggf. artikelhaltige Konstruktionen: (114) DEU FRA ENG

Tugend der Geduld, Problem der Arbeitslosigkeit, Beruf des Lehrers vertu de (la) patience, problème de/du chômage, profession d’enseignant virtue of patience, problem of unemployment, profession of a teacher (neben: teaching profession)

In beiden Sprachen ist der Gebrauch hier weiter als im Deutschen: (115) FRA ENG DEU

le mois de Mai, la ville de Paris the month of May, the city of Paris der Monat Mai, die Stadt Paris

Im Deutschen sind analytische possessive Attribute in klassifikatorischer Funktion weitgehend ausgeschlossen. Bei einer Gruppe des Definitionsgenitivs (Engelen 2010b: 73 f.) ist von + definiter Artikel alternativ möglich oder gar bevorzugt: die Lehre des Gesellschaftsvertrags / vom Gesellschaftsvertrag, der Satz von der Erhaltung der Energie. Artikellos mithilfe einer von-Phrase werden gelegentlich Substantive, die Formen des Verhaltens oder psychische Zustände bezeichnen, an Ereignisbezeichnungen  



1627

D3 Possessive Attribute

angeschlossen wie in ein Anfall von Grausamkeit, ein plötzlicher Ausbruch von Leidenschaft (D D E R E K O ). Simone/Masini (2014: 61) sprechen hier von „support nouns“ und schreiben der Konstruktion eine aspektuelle Funktion zu: Das Kopfsubstantiv N1 bezeichne eine einzelne Instanziierung eines Ereignisses, das mit dem Modifikatorsubstantiv zu tun habe. Auch hier ist der Konstruktionstyp im Englischen, Französischen und weiteren romanischen Sprachen sehr viel ausgedehnter als im Deutschen. Im Deutschen steht in der Regel eine Genitivphrase oder ein Kompositum. Man vergleiche im Anschluss an die genannten Autoren (ebd.: 60): (116) ITA FRA ENG DEU

atto di cortesia, botta di fortuna, attacco d’ira, accesso di rabbia acte de courtoisie, coup du sort / de chance, accès de colère act of courtesy, stroke of fate / of luck, fit of anger, burst of rage Akt der Höflichkeit, Schicksalsschlag/Glücksfall, Zornesausbruch    

   

Die Autoren betrachten „support nouns“ als einen von vier Typen von „light nouns“. Des Weiteren zählen sie „taxonomic nouns“ wie ENG type, ITA tipo ‚Typ‘, „approximators“ wie ENG sort, FRA espèce ‚Art‘ und „quantifiers (and classifiers)“ wie ENG lot, FRA tas ‚Haufen‘, ITA bicchiere ‚Glas‘ zu den light nouns. Konstruktionen mit taxonomischen Substantiven entsprechen im Deutschen einem „Genitiv der Gruppenbildung“ oder auch einer von-Phrase, vgl. z. B. FRA deux sortes de casques ‚zwei Arten der/von Helme(n)‘. Approximatoren, die als Grammatikalisierungen von taxonomischen Substantiven betrachtet werden können und mit denen die Extension des Modifikatornomens „moduliert“ wird „by weakening its belonging to a definite category“ (Simone/Masini 2014: 57), werden im Deutschen bevorzugt juxtaponiert vorangestellt (enge Apposition) wie in DEU eine Art Abschluss gegenüber ENG a kind of conclusion. Zu quantifizierenden und klassifizierenden Substantiven ist auf → A5 sowie → D5 zu verweisen.  

Die Bündelung dieser verschiedenen Kopfsubstantive in possessiven Konstruktionen unter dem Stichwort „light nouns“ wird damit begründet, dass ähnlich wie bei den etablierteren „light verbs“ ihre „Referentialität in diesen Konstruktionen“ abgeschwächt sei (Simone/Masini 2014: 52). Allerdings erscheint dies nur im Fall der Approximatoren eindeutig zuzutreffen, während etwa bei den „support nouns“ gegebenenfalls eine Bedeutungsveränderung hin zu abstrakterer Lesart stattfindet, Referentialität aber erhalten bleibt bzw. sogar durch die Möglichkeit nunmehr auf ein Ereignis Bezug zu nehmen geradezu „gestärkt“ wird.

Daneben existiert sprachübergreifend eine „emphatische“ Variante der IST -Relation, bei der das Kopfsubstantiv einen positiv oder negativ wertenden (z. B. ENG angel, fool), der Modifikator einen rein deskriptiven Begriff (z. B. ENG girl, policeman) bezeichnet. Die Konstruktion liegt im Englischen, Französischen wie auch im Deutschen in der analytischen possessiven Form vor. Engelen (2010b: 83 f.) spricht hier, bezogen auf das Deutsche, von „appositiven von-Gefügen“, bezogen auf das Englische hat sich der Terminus binominals eingebürgert (vgl. Keizer 2007: 85–108).  





(117) ENG

an angel of a girl ‚ein Engel von einem Mädchen‘, a fool of a policeman ‚ein Dummkopf von einem Polizisten‘, the jewel of an island ‚das Juwel von Insel‘

1628

FRA DEU

D Nominale Syntagmen

(Quirk et al. 1985: 1285), a hell of a mess, wörtl. ‚eine Hölle von einer Schweinerei‘, ‚eine Mordsschweinerei‘ ce fripon de valet (Grevisse/Goosse 2011 : 443), un bandit d’aubergiste dieser Spitzbub von (einem) Diener, ein Schurke von (einem) Wirt

dieser Schurke von (einem) Wirt wird interpretiert etwa im Sinne von ‚dieser Wirt, der (als Wirt) ein echter Schurke ist‘. Das Attribut ist der begriffliche Kern („notionally the head“ bei Quirk et al. 1985) der Konstruktion; das Kopfsubstantiv drückt, vergleichbar einem qualitativen Adjektiv (‚dieser schurkenhafte Wirt‘) eine Prädikation über den Referenten aus. Erkennbar sei diese Divergenz von syntaktischer und semantischer Struktur auch am Bezug des Possessivpronomens wie etwa in ENG her brute of a brother, auch FRA mon coquin de fils (Grevisse/Goosse 2011: 444), DEU mein Frechdachs von Sohn. Rijkhoff (2009a: 76, Fn. 24) spricht hier von dependency reversal (,Dependenzumkehrung‘). In generativen Ansätzen (vgl. zum Überblick Alexiadou/Haegeman/Stavrou 2007: 439–449) wird diese Dependenzumkehrung durch die Ableitung der Oberflächenstruktur (ii) aus der prädikativen small-clause-Struktur (i) erfasst:  

i. ii.

[DP that (…) [SC[N2 doctor] [Pred [N1 idiot]]]] [DP that (…) [N1 idiot] of [SC [N2 doctor] ti]] (ebd.: 440)

Aufgrund des Auseinanderfallens von begrifflichem Kern und syntaktischem Kopf wird hier (vgl. ebd.: 395–398) auch eine Parallele zu pseudo-partitiven bzw. Numerativkonstruktionen (→ D5) gezogen. Wie bei diesen ist das verbale Prädikat semantisch auf den Kern (N2) abgestimmt, nicht auf den Kopf (N1): John drives [a monster of a truck] John tasted [two bottles of wine] Auch in einer komplexen Attributionsstruktur wie der folgenden bezieht sich das übergeordnete Nomen (lives) nicht auf N1 (mug) sondern auf N2 (husband): (118) ENG

You’re in the process of ruining more lives than your spineless mug of a husband’s. ,Du bist dabei, mehr Leben zu ruinieren als deines rückgratlosen Dussels von Ehemann.‘ (Colleen McCullogh 2005: 327)

Im Deutschen ist das Attribut artikellos oder begleitet vom indefiniten Artikel. Wie auch in den Kontrastsprachen kann das Attribut auch ein Eigenname sein. (119)

Und was sagte der Dummkopf von einem Ehemann: „Also diese Farbe geht nun wirklich nicht.“ (Berliner Zeitung, 29.12.2001)

(120)

Wenn ein Amerikaner sich zum Beispiel am heißen Kaffee die Lippen verbrennt, dann ist er nicht selber schuld, sondern der Dummkopf von Kellner, der ihn nicht vor dem heißen Gebräu gewarnt hat. (Salzburger Nachrichten, 20.08.1999)

(121)

Über den «Lohengrin» aus Bayreuth notierte Mann 1936: «Die Vorstellung, dass dieser idiotische Schurke von Hitler da süß-heldische Romantik „genießt“, während sozialistische Arbeiter gefoltert werden… – über die Maßen ekelhaft.» (dpa, 19.07.2010)

D3 Possessive Attribute

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Erscheint linksperipher ein nach vorn gezogenes Possessivum, muss das in die von-Phrase eingebettete nominale Syntagma artikellos sein (Kategorie N/NOM): (122)

Saß so vor dem Pc und hab überlegt wie ich mich nennen soll-da meint mein frechdachs [sic!] von Sohn doch das [sic!] ich mich „Mausi“ nennen soll. (Internet)

Im Polnischen wie im Ungarischen wird nicht possessiv, sondern appositiv durch Juxtaposition konstruiert: (123) POL UNG

bandyta karczmarz gazember kocsmáros ,Schurke von (einem) Wirt‘

Auch die synthetische possessive Konstruktion ist in den europäischen Sprachen belegt, etwa im Slowenischen (ta kretod zdravnika ‚DEM Idiot Doktor.GEN ‘) oder Finnischen (tuo tohtori-n idiootti ‚DEM Doktor-GEN Idiot‘ (Alexiadou/Haegeman/Stavrou 2007: 439 f.). Analytische Konstruktion liegt (vgl. ebd.) des Weiteren vor z. B. im Italienischen (il tuo cretino di fratello), im Spanischen (esta maravilla de niño ‚dieses Wunder von Kind‘) oder im Niederländischen (wat een ramp van een opvoering ‚was für ein Desaster von (einer) Aufführung‘).  



D3.11.2.2.2 Qualitative Modifikation Die analytische Realisierungsform qualitativer possessiver Attribute betrifft das Französische – dort ist es die einzige possessive Möglichkeit –, das Englische und das Deutsche. Im Französischen werden sowohl Maßattribute der unterschiedlichen Dimensionen (124a) als auch andere Qualitätszuschreibungen (124b) durch de + (Zahlwort/ Adjektiv +) N ausgedrückt; anders als im Deutschen werden auch Materialangaben possessiv konstruiert (124c); daneben ist auch die Präposition en gebräuchlich: (124) a. une absence de deux jours ‚eine Abwesenheit von zwei Tagen‘, un arbre de FRA deux mètres ‚ein Baum von zwei Metern‘, une montée de 2% ‚eine Steigung von 2%‘, un homme de trente ans ‚ein Mann von 30 Jahren‘ b. un homme d’honneur ‚ein Mann von Ehre‘, une femme de talents et de goût ‚eine Frau von Talenten und Geschmack‘, une maison de style moderne ‚ein Haus von modernem Stil‘ c. une cheminée de marbre ‚ein Kamin *von/aus Marmor‘, une chemise de coton/de soie ‚ein Hemd *von/aus Baumwolle/Seide‘, un vêtement en linge ou en laine ‚ein Kleidungsstück in Leinen oder in Wolle‘ (Grevisse/Goosse 2011: 461) Auch im Englischen wird das ganze Spektrum von Qualitätsattributen analytisch, durch of-Phrasen realisiert. Das gilt insbesondere auch für temporale Maßangaben

1630

D Nominale Syntagmen

(125a), bei denen es (vgl. oben) eine synthetische Alternative gibt. Zu anderen Maßangaben vgl. (125b), zu nicht-quantifizierten Zuschreibungen (125c). Materialangaben (125d) werden ebenfalls so konstruiert; bei einer unerweiterten Stoffbezeichnung wird die N+N-Konstruktion wohl präferiert: (125) a. a delay of an hour ‚eine Verspätung von einer Stunde‘, a holiday of one week ENG ‚ein Urlaub von einer Woche‘, an absence of seven days ‚eine Abwesenheit von sieben Tagen‘ b. a tree of two metres ‚ein Baum von zwei Metern‘, a rise of 2% ‚ein Anstieg von 2%‘, a man of thirty years ‚ein Mann von 30 Jahren‘ c. a man of honour ‚ein Mann von Ehre‘, a woman of many talents ‚eine Frau von vielen Begabungen‘, a house of modern style ‚ein Haus von modernem Stil‘ d. a heart of gold ‚ein Herz ??von/aus Gold‘, a chimney of marble / a marble chimney ‚ein Kamin *von/aus Marmor / ein Marmorkamin‘, a brown mantle of precious silk / a silk mantle ‚ein brauner Umhang *von/aus kostbarer Seide / ein Seidenumhang‘ Im Deutschen sind alle Maßattribute bei possessiver Realisierung an die analytische Form gebunden (126a). Dabei kann außer bei Dauer- und Altersangaben die Dimension selbst in substantivischer Form hinzugesetzt werden; üblich ist dies bei Länge/ Höhe/Breite. Bei anderen Qualitätszuschreibungen ist die Wahl zwischen synthetischer und analytischer Alternative von der spezifischen Kollokation abhängig; in (126b) werden Kollokationen genannt, bei der die von-Phrase gängiger erscheint. Enthält das Attribut keine adjektivische Erweiterung, muss es aufgrund des Prinzips der Genitivmarkierung analytisch realisiert werden (126c): (126) a. eine Abwesenheit von einer Stunde, ein Baum von zwei Metern (Höhe), eine Melone von drei Kilo (Gewicht), ein Mann von dreißig Jahren b. ein Mensch von großer Bescheidenheit und Diskretion, Repräsentationsbauten von großer Eleganz, Milch von hervorragender Qualität, eine Kulturleistung von hohem Rang c. ein Mann von Ehre/Mut Bei der Alternative Mann + Adjektiv.GEN + Herkunft versus Mann + von + Adjektiv.DAT + Herkunft, z. B. Mann (von) türkischer Herkunft überwiegt die synthetische Form weitaus: Von rund 350 Belegen (recherchiert am 30.07.2012) waren nur sechs analytisch, das Attribut hohen Ranges hingegen ist (bei beliebigem Kopfsubstantiv) nur ein Drittel so häufig wie von hohem Rang.  

Im Deutschen sind qualitative und klassifikatorische possessive Attribute somit konstruktionell voneinander abgegrenzt: – Klassifikatorische possessive Attribute haben die Form [definiter ArtikelGEN + SubstantivGEN]. Adjektivische Erweiterungen kommen markiert vor: Mann des

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D3 Possessive Attribute

fairen Ausgleichs, Stunde der finanzpolitischen Wahrheit (St. Galler Tagblatt 10.05.1999), vgl. auch: (127)



Hochmütig ist Beckstein dadurch nicht geworden; der gebürtige Nürnberger ist ein Mann der unermüdlichen Tat, nicht des großen Worts. (Frankfurter Allgemeine, 22.11.2003)

Qualitative possessive Attribute haben die Form [AdjektivGEN + SubstantivGEN] oder die Form [von (+ AdjektivDAT) + SubstantivDAT]. Die Weglassung des Adjektivs in der von-Phrase ist markiert möglich. Dies geschieht in idiomatischen Verbindungen wie Mann von Ehre, Dame/Herr von Adel. In anderen Fällen ist ein hoher Grad der entsprechenden Qualität zu erschließen, was durch ein Adjektiv in der Bedeutung ‚groß‘, ‚hoch‘ usw. explizit gemacht werden kann, z. B.: Kunstwerke von (großem) Wert / (hohem) Rang, Mann von (ausgeprägtem) Format.  



Semantisch unterscheiden sich die beiden Typen auch im Hinblick auf die Denotatssorten des dependenten Nomens: Der nominale Kern eines qualitativen Attributs bezeichnet immer eine Eigenschaft, häufig handelt es sich um abgeleitete Nomina Qualitatis wie Bescheidenheit, Eleganz, Glätte. Der nominale Kern eines klassifikatorischen Attributs ist weitaus weniger beschränkt (vgl. oben), abstrakte Belegung umfasst Ereigniskonzepte wie Tat, Ausgleich, insbesondere auch solche für emotionale Ereignisse und Zustände wie Verzweiflung, Schrecken usw. Allerdings gibt es hier einen Überschneidungsbereich, wo Minimalpaare vorkommen können wie (128), (129). Auch hier gibt es, ggf. minimale, Bedeutungsunterschiede: (128)

Mann des Verstandes – Mann von Verstand ,Mann, der auf den Verstand setzt‘ ,Mann, der Verstand hat‘

(129)

Augenblick der (großen) Ruhe ,Augenblick, wo (große) Ruhe herrscht‘

– Augenblick großer Ruhe / von großer Ruhe ,Augenblick, dem große Ruhe innewohnt‘

In den übrigen Vergleichssprachen sind die beiden Untertypen begrifflicher Modifikation bei possessiver Realisierung nicht so deutlich voneinander unterschieden. Im Französischen, Polnischen und Ungarischen gibt es keinen formalen Unterschied, sofern überhaupt possessive Form möglich ist. Im Englischen fallen sie bei of-Konstruktion vollständig zusammen; die nicht-referentiellen Genitive des Englischen sind zwar klar von den referentiellen determiner genitives getrennt, untereinander sind jedoch der klassifikatorische descriptive genitive und der qualitative measure genitive formal nicht differenziert.

1632

D Nominale Syntagmen

Dies mag der Grund dafür sein, dass in der Literatur traditionsgemäß – man denke an den Genitivus Qualitatis der lateinischen Grammatik – und bis in die jüngste Zeit die beiden Typen nicht unterschieden werden. So fasst Keizer (2007: 71–73) beide Typen von englischen „nonreferring embedding NPs“ als „qualifying of-constructions“ zusammen (ebd.: 71). Sie nennt Beispiele wie a book of comics, a word of gratitude (klassifikatorisch) neben a linguist of far greater eminence, a boat of fibreglass (qualitativ) nebeneinander. Sie weist deutlich auf die Nähe zur Komposition hin, in dem Sinne, dass Kopf und Attribut zusammen ein „Extended Predicate“ (ebd.: 73) bilden. So sei word of gratitude nur einen Schritt entfernt von gratitude word usw. (ebd.: 73). Dies trifft jedoch nur für die klassifikatorischen Beispiele zu; ein Beispiel wie a linguist of far greater eminence hat keine Parallele in *a far-greater-eminence linguist.

D3.11.3 Adjazenz und Rekursion Untersucht wird hier, ob und in welcher Form ein nicht-referentielles possessives Attribut in den Vergleichssprachen mit einem anderen possessiven Attribut kookkurrieren kann und wie in diesem Fall serialisiert wird. Dabei gibt es eine Tendenz dazu, dass das nicht-referentielle, also klassifikatorische oder qualitative Attribut kopfadjazent platziert wird, das referentielle, bei identischem linearem Verhältnis zum Kopf, kopfferner adjazent zum nicht-referentiellen Attribut. Allerdings ist dieser funktionale Faktor wie generell bei der Attributserialisierung nicht ausschließlich wirksam, sondern interagiert z. B. mit der Komplexität des jeweiligen Attributs (→ D1.2.3). So deutet etwa (131) darauf hin, dass klassifikatorische Attribute referentiellen vorausgehen, qualitative aber, sofern sie höheren Komplexitätsgrad haben, auch referentiellen nachfolgen können. Diese Beobachtung dürfte nicht nur für das Polnische, sondern auch für die anderen Vergleichssprachen gelten. Wir behandeln die beiden Formen begrifflicher Modifikation hier zusammen und geben jeweils unter a. Beispiele für klassifikatorische, unter b. für qualitative Modifikation.  

Begrifflich modifizierendes + referentielles possessives Attribut: beide in synthetischer Form Hier kommen die Vergleichssprachen Englisch (130), Polnisch (131) und Deutsch (132) in Betracht, das Französische entfällt mangels synthetischer Realisierungsform. Aber auch im Ungarischen ist es nicht möglich, ein begrifflich modifizierendes und ein referentielles Attribut kookkurrent als Possessoren in einer Phrase unterzubringen (133): (130) a. Peter’s baby’s chair ‚Peters Kinderstuhl‘, her husband’s old men’s belly ‚der ENG Altmännerbauch ihres Mannes‘ b. Peter’s two days’ absence ‚Peters Abwesenheit von zwei Tagen‘

D3 Possessive Attribute

1633

(131) a. galeria sztuki Małgorzaty Kowalskiej, G EN Małgorzata.GEN Kowalska.GEN POL Galerie Kunst.GEN wolność wyboru Polaków Pole.GEN . PL Freiheit Wahl.GEN ,Małgorzata Kowalskas Kunstgalerie‘, ‚die Wahlfreiheit der Polen‘ (Rappaport 2004: 254) b. obywatele Polski pochodzenia niemieckiego Herkunft.GEN deutsch.GEN Einwohner.PL Polen.GEN ,Polens Bürger deutscher Herkunft‘ (132) a. Frankfurts Orte des Schreckens, Peters lauter Schrei der Verzweiflung, das Institut der deutschen Wirtschaft der Stadt Köln b. Deutschlands Bürger türkischer Herkunft (133) UNG

*Európá-nak a béke ember-ei Europa-DAT DEF Frieden Mann-PPL *a gyár-unk-nak a munka hős-ei DEF Betrieb-1PL - DAT DEF Arbeit Held-PPL *Németországnak az erdő állat-ai Wald Tier-PPL Deutschland.DAT DEF ,Europas Männer des Friedens, die Helden der Arbeit unseres Betriebs, Deutschlands Tiere des Waldes‘

Im Deutschen wird hier nach Möglichkeit der referentielle Genitiv pränominal gestellt; nur bei engen eigennamenartigen Verbindungen mit einem klassifikatorischen Genitiv (vgl. → D3.8) kann auf diesen postnominal ein referentieller Genitiv folgen. Dagegen sind im Polnischen zwei postnominale Genitive ohne Weiteres möglich, wenn einer der beiden Genitive begriffliche Modifikation (131) ausdrückt. Die gegenüber dem Deutschen ausgedehntere Möglichkeit der Kookkurrenz von zwei postnominalen Genitivattributen im Polnischen ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass bei klassifikatorischer Modifikation im Deutschen der Genitiv nur markiert vorkommt. Im Englischen gehen determiner genitive und descriptive genitive bzw. measure genitive in dieser Reihenfolge dem Kopfsubstantiv voraus. Begrifflich modifizierendes + referentielles possessives Attribut: eines davon in analytischer Form Diese Konstellation ist im Deutschen und Englischen möglich, wobei die formale Ausdrucksform wesentlich von der konventionalisierten Konstruktion für das begrifflich modifizierende Attribut abhängt:

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D Nominale Syntagmen

(134) a. the baby’s chair of Peter ‚der Kinderstuhl von Peter‘, the old men’s belly of her ENG husband ‚der Alt-Männer-Bauch ihres Mannes‘, Peter’s cry of despair ‚Peters Schrei der Verzweiflung‘ b. Peter’s absence of two days ‚Peters Abwesenheit von zwei Tagen‘, Great Britain’s citizens of Iranian descent ‚Großbritanniens Bürger von iranischer Herkunft‘ (135) a. der Schrei der Verzweiflung von Peter, das Institut der deutschen Wirtschaft von Köln b. Peters Abwesenheit von zwei Tagen, Großbritanniens Bürger von iranischer Abstammung Begrifflich modifizierendes + referentielles possessives Attribut: beide in analytischer Form Hier ist in erster Linie das Französische zu nennen. Vergleichbar dem synthetischen Gegenstück im Polnischen können im Französischen eine PPform in begrifflich modifizierender und referentieller Funktion in dieser Reihenfolge unmarkiert aufeinander folgen. Im Englischen ist eine entsprechende Kombination stilistisch markiert und im Allgemeinen durch einen s-Genitiv für das referentielle Attribut vermeidbar: (136) a. le château d’eau du roi français (wörtl. ‚das Schloss von Wasser von dem König französisch‘, ‚das Wasserschloss des französischen Königs‘), les priFRA sonniers de guerre de l’Angleterre (wörtl. ‚die Gefangenen von Krieg von dem England‘, ‚Englands Kriegsgefangene‘) b. l’absence de deux jours de Pierre ‚Peters Abwesenheit von zwei Tagen‘, les citoyens d’origine iranienne d’ici et d’ailleurs ‚die Bürger von iranischer Abstammung von hier und anderswo‘ (137) a. the cry of despair of Peter ‚Peters Schrei der Verzweiflung‘, the prisoners of ENG war of England ‚die Kriegsgefangenen von England‘ b. the absence of two days of Peter ‚Peters Abwesenheit von zwei Tagen‘, the citizens of Iranian descent of Great Britain ‚die Bürger iranischer Herkunft von Großbritannien‘ Zu erwähnen ist abschließend, dass auch die possessiven Attribute in Numerativkonstruktionen im Polnischen, Englischen und Französischen mit referentiellen possessiven Attributen kombiniert werden können; sie verhalten sich stellungsmäßig wie die begrifflichen Modifikatoren. Im Ungarischen hingegen werden wie im Deutschen im Beispielfall Numerativ- und Stoffsubstantiv nicht possessiv verbunden, sondern juxtaponiert:

D3 Possessive Attribute

(138) POL ENG FRA DEU UNG

1635

bochenek chleba Marka / dwie kromki chleba Marka Mark’s loaf of bread / Mark’s two slices of bread la miche de pain de Mark / les deux tranches de pain de Mark Marks Laib Brot / Marks zwei Scheiben Brot Mark egész kenyere / Mark két szelet kenyere

D3.12 Zusammenfassung Possessive Attribute sind neben den Adjektivattributen die am stärksten grammatikalisierten Formen der Attribution in den Vergleichssprachen. Sie werden im Deutschen, Englischen und Polnischen als NP im Genitiv realisiert, im Ungarischen als NP im Nominativ und (markierter) im Dativ unter gleichzeitiger Possessivmarkierung des Kopfs der NP. Im Französischen und als weitere Option neben der Genitiv-NP auch im Englischen und im Deutschen haben possessive Attribute die Form einer PP mit formaler Präposition (FRA de, ENG of, DEU von). Bei referentiellen possessiven Attributen handelt es sich um Possessorattribute (wie in DEU Hut meines Vaters) oder um possessive Argumente (wie in DEU Kopf einer Schnecke, Befreiung von Gefangenen). Die Possessorrelation umfasst dabei ein weites Spektrum unterschiedlicher Spielarten alienabler Zugehörigkeit (von der Relation des Eigentums bis zu temporaler Verankerung) und inalienabler Zugehörigkeit (wie Verwandtschaftsbeziehung oder Körperteil- und Teil-Ganzes-Beziehung allgemein), dessen Struktur durch eine semantische Landkarte erfasst werden kann. Die Vergleichssprachen unterscheiden sich kaum in der Reichweite der Possessorrelation. Auch zeigen sie – wie es dem europäischen Trend entspricht – kaum Spaltungen nach Alienabilität. Referentielle Genitivattribute des Deutschen können – weitgehend beschränkt auf (Personen-)Eigennamen – pränominal erscheinen. Sie sind wie die englischen referentiellen Genitivattribute gleichzeitig Modifikatoren und Identifikatoren. Der englische adnominale und dabei immer pränominale Genitiv ist im Hinblick auf die Nominalhierarchien weitaus weniger beschränkt als der deutsche pränominale; präferiert sind NPs mit belebtem Denotat AG ENS oder EXPERIENS ). Mit dem Englischen trifft sich das Deutsche (als POSSESSOR , AGENS auch im Hinblick auf ein Nebeneinander von synthetischer und analytischer Form possessiver Attribute. Die Konditionen allerdings sind verschieden: Die englische ofPP ist zwingende Alternative bei postnominaler Stellung des Attributs oder bei fehlender Definitheit der Gesamt-NP; die deutsche von-PP wird zum einen bei begleiterlosen Substantiven durch das Prinzip der Genitivmarkierung bzw. die Kontinuativa-Regel erzwungen (wie in *der Kauf Milch/Biers versus der Kauf von Milch/Bier); zum anderen ist sie als stilistische oder varietätenabhängige Variante zum Genitiv zu werten. Postnominale Genitivattribute des Deutschen sind kopfadjazent – wobei auch appositive oder begrifflich modifizierende Erweiterungen des Kopfes wie in Objekte aus Metall eines bekannten Künstlers nicht ausgeschlossen sind. Dies unterscheidet

1636

D Nominale Syntagmen

das deutsche vom positionsvariableren Genitivattribut im Polnischen, wo zudem anders als aufgrund der Adjazenz-Restriktion im Deutschen auch mehr als ein referentielles postnominales Genitivattribut zum selben nominalen Kopf möglich ist (vgl. DEU *die Eroberung Galliens Cäsars). Die Sonderstellung des possessiven Attributs als prototypische substantivisch basierte Attributsform zeigt sich auch in den Linearisierungsbedingungen der übrigen Vergleichssprachen: Im Ungarischen werden possessive Attribute entsprechend der linksverzweigenden Serialisierung in der NP pränominal gestellt; im Französischen werden de-Phrasen wie die possessiven Attribute im Deutschen präferiert postnominal kopfadjazent gestellt, die Voranstellung eines anderen PP-Attributs ist jedoch nicht ausgeschlossen. Was die Argumente von Nominalisierungen transitiver Verben angeht, so kann bei Vorkommen nur eines solchen Arguments sowohl das Subjekt- als auch das Objekt-Argument in allen Vergleichssprachen als possessives Attribut erscheinen (vgl. DEU Peters Bewertung mit beiden möglichen Argumentrollen für Peters). Sind beide Argumente realisiert, so können diese sprachübergreifend nach dem possessiv-possessiven Muster, also durch zwei possessive Attribute ausgedrückt werden. Voraussetzung ist die Möglichkeit einer pränominalen Positionierung des Subjekt-Arguments wie in DEU Peters Bewertung dieser Aussage. Eine große Rolle spielt dieses Muster im Englischen; im Deutschen ist es, wie auch in den übrigen Kontrastsprachen, aufgrund der Beschränkungen für die pränominale Stellung eher marginal. Hier überwiegt das ergativ-possessive Muster, bei dem das Objekt-Argument possessiv, das Subjekt-Argument als Phrase erscheint, die in der Regel als AGENS bzw. INSTRUMENT markiert ist, im Deutschen in Form einer PP mit durch wie in die Bewertung dieser Aussage durch Peter. Possessive Markierung ist in allen Vergleichssprachen von referentieller auf begriffliche Modifikation ausgedehnt (sowie auf die an anderer Stelle behandelte (pseudo-)partitive Quantifikation wie in DEU eine Tasse von diesem vorzüglichen Tee). Neben Possessorattributen und possessiven Argumenten finden sich somit klassifikatorische und qualitative Modifikatoren in Form possessiver Attribute. Im Deutschen sind anders als etwa beim descriptive genitive des Englischen nur postnominale Realisierungen gegeben. Dabei ist im Deutschen die klassifikatorische Spielart gegenüber der qualitativen formal deutlicher abgegrenzt als in den Kontrastsprachen: Klassifikatorische Attribute sind genitivische NPs mit definitem Artikel, die in der Regel nicht adjektivisch erweitert sind, wie in Mann der Tat, Ort der Begegnung, Akt der Gerechtigkeit. Qualitative Attribute können synthetisch und (meist usueller) analytisch realisiert werden und sind normalerweise adjektivisch erweitert wie in Menschen unterschiedlicher Herkunft, Milch von bester Qualität. Wie in den Kontrastsprachen sind possessive Phrasen auch in weiteren Funktionen vertreten, die wie etwa der „Identitätsgenitiv“ in DEU der Makel der Armut z. T. als Randphänomen klassifikatorischer Modifikation einzuordnen sind. Ebenfalls auf einer Identitätsbeziehung zwischen Kopf und Attribut beruhen Konstruktionen wie DEU dieser Schurke von (einem) Wirt. Zu ihnen gibt es formale Entsprechungen im Englischen und Französischen; im Polnischen und Ungarischen dagegen wird juxtapositiv konstruiert.  

D4

Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

D4.1

Funktionale und typologische Charakterisierung  1638

D4.2 Argumentanbindung durch adpositionale Attribute  1647 AGENS  1648 D4.2.1 EXPERIEN S  1649 EXPERIENS D4.2.2 REZIPIENT  1650 D4.2.3 PATIENS /THEMA  1653 D4.2.4 D4.3

Referentielle Modifikation: Varianz zwischen adpositionalen und possessiven Attributen  1666

D4.4

Qualitative Modifikation durch adpositionale Attribute  1670

D4.5

Klassifikatorische (und qualitative) Modifikation: Durch adpositionale Attribute realisierte semantische Relationen  1677

D4.6

Quantifikation durch adpositionale Attribute  1687

D4.7

Stellung des adpositionalen Attributs: pränominal vs. postnominal  1688

D4.8

Syntaktische Funktion / morphologische Markierung des Kopfsubstantivs bzw. lineare Stellung der Gesamt-NP im Satz  1692

D4.9

Anschluss von PPs an das Kopfnomen über „semantisch leere“ Präpositionen  1694

D4.10

Zusammenfassung  1697

Susan Schlotthauer

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute D4.1 Funktionale und typologische Charakterisierung In diesem Kapitel werden adnominale Modifikatoren in Form von Präpositional- und Postpositionalphrasen behandelt, im Folgenden zusammenfassend Adpositionalphrasen genannt. Unter Adpositionalphrasen verstehen wir Ausdrücke, deren Kopf eine Adposition (Prä- oder Postposition) ist. Adpositionen wiederum sind relationsmarkierende/relationierende Ausdrücke, die die Relata „in eine durch die Präposition semantisch spezifizierte Beziehung“ bringen (IDS-Grammatik 1997: 44). Adpositionen kodieren prototypischerweise autonom die semantische Rolle, in der sie auftreten; dies ist der Fall bei der ,adverbialen‘ Funktion von Adpositionalphrasen. Tritt eine semantische Ausbleichung ein, übernehmen die regierenden Ausdrücke (Verben, Substantive, Adjektive) zunehmend diese Aufgabe. Je nach relativer Stellung der Adposition zum abhängigen Ausdruck werden Prä- von Postpositionen unterschieden. Über eine Ausbleichung der Eigenbedeutungen der Adpositionen nähern sich Adpositionalphrasen den Nominalphrasen mit Kasusmarkierung an. Semantisch nahezu „leere“ Adpositionen wie ENG of, FRA de sind dementsprechend in der adverbialen Funktion nicht mehr produktiv. Relikthaft in adverbialer Verwendung findet sich of in festen Phrasen wie of course sowie in temporalen Adverbialia wie in of a week-end (We like to go to the beach of a week-end), letztere Verwendung ist tatsächlich auch produktiv (Huddleston/Pullum 2002: 659).

In diesem Sinne bleiben Adpositionalphrasen mit einer „semantisch leeren“ Adposition, die als „Genitiversatz“ im Sinne eines Ausdrucksmittels possessiver Verhältnisse dienen, in diesem Kapitel unberücksichtigt. Diese sind Thema des Kapitels zu possessiven Attributen (→ D3). In den Kern-Vergleichssprachen betrifft dies Präpositionen, deren Grundbedeutung sich mit „Herkunft“, „Zugehörigkeit“, „Quelle“ umreißen lässt, dazu zählen DEU von, ENG of, FRA de. Der Ausdruck possessiver Relationen ist aber nicht auf Adpositionen dieser Grundbedeutung beschränkt; unter den europäischen Sprachen nutzen das Isländische und Färöische Präpositionen lokativischer Grundbedeutung zum Ausdruck der Possession: FÄR hjá ,bei‘, á ,auf‘, í ,in‘, ISL í ,in‘, á ,an, auf‘, vgl. auch im Französischen die (eher umgangssprachliche) Verwendung von à zum Ausdruck der Possession (→ D3.6). Auf der Formseite nähern sich Adpositionalphrasen den Nominalphrasen an, wenn die Adposition zunächst an die abhängige Nominalphrase klitisiert und schließlich integraler Bestandteil der Nominalphrase wird. Ein Großteil der ungarischen sog.

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

1639

Lokalkasusmarker (→ B2.4.3.3.3) stellen ursprüngliche Postpositionen dar. Auch wenn sich für die Kasus der indoeuropäischen Sprachen derartige Grammatikalisierungspfade nicht nachweisen lassen, sollen in diesem Kapitel über die Adpositionalphrasen hinaus auch attributive Nominalphrasen behandelt werden – jedoch unter Ausschluss der Genitivattribute, diese sind Thema des Kapitels zu possessiven Attributen (→ D3). Aus unseren Kern-Vergleichssprachen sind somit nur die NPs in den nicht-genitivischen Kasus des Ungarischen und Polnischen einschlägig. Das Ungarische bietet neben den grammatischen Kasus Akkusativ und Dativ ein breites Spektrum an semantischen Kasus, das Polnische bietet ein siebengliedriges Kasusinventar (→ B2.4). Adpositionen und Kasus in einem Zug zu behandeln liegt bei Einnahme eines funktionalen Blickwinkels auf der Hand. Beide Ausdrucksmittel übernehmen die Funktion der Kodierung semantischer Rollen genauso wie die Funktion des Ausdrucks von Adverbialia. Die Verteilung der beiden Realisierungsformen auf die semantischen Rollen mag tendenziell so aussehen, dass die grundlegenden Rollen des AGENS und PATIENS über Kasusmarker, andere Rollen über Adpositionen ausgedrückt werden; es bleibt aber nur eine Tendenz, vgl. u. a. die direkten „persönlichen“ Objekte mit a im Spanischen (→ C5.3.3): No conozco a nadie ,Ich kenne niemanden‘. Die REZIPIENT -Rolle variiert in ihrem Ausdruck auch innersprachlich, vgl. die Variation in ditransitiven Strukturen des Deutschen, des Englischen, aber auch weiterer Sprachen wie des Rumänischen (vgl. Proost 2014, Tigău 2014 und → B2.4.3.2.4). In formaler Hinsicht ist mit Übergängen zwischen Adpositionen und Kasusmarkern zu rechnen. Das Problem der Grenzziehung zwischen Adposition und Kasusmarker ist auch einzelsprachlich ein notorisches (vgl. u. a. Türkisch, Ungarisch). Fälle der Grammatikalisierung von Adpositionen zu Kasusmarkern sind en masse dokumentiert und dienen als Lehrbuchbeispiele. Zur Einteilung in „semantische“ und „formale“ Adpositionen: Im Sinne der Prinzipien der Grammatikalisierung ist jede „formale“ Adposition auf eine „semantische“ zurückzuführen, häufig stehen synchron beide Grammatikalisierungsstufen in einer Adposition nebeneinander („layers“). So verfügen die als prototypische formale Adpositionen beschriebenen DEU von und FRA de neben ihrer Funktion zum Ausdruck possessiver Verhältnisse auch über ihre (ursprüngliche) ablativische Bedeutung (Er kommt von oben). Für das englische of scheint dies in geringerem Maße zu gelten, hier hat eine Spaltung in die formale/abstrakte Adposition of und die konkrete/räumliche Adposition off stattgefunden. Abgesehen von diesem Prototyp der formalen Adpositionen zum Ausdruck der Possession weisen weitere spatiale (wenn nicht gar die meisten) Adpositionen abstrakte Verwendungsweisen auf: Präpositionen wie DEU auf, an, über, zu – die Äquivalente aus den Kontrastsprachen lassen sich hier ebenso einreihen – haben neben ihrer räumlichen Grundbedeutung abstrakte Bedeutungen entwickelt. In ihren abstrakten Bedeutungen erscheinen sie in argumentanbindender Funktion bei Verben (man spricht dann von  











1640

D Nominale Syntagmen

Präpositionalobjekten bzw. Präpositivkomplementen), Adjektiven und Substantiven. Argumentanbindung über Adpositionen ist in all unseren Vergleichssprachen verbreitet. Daneben finden sich Adpositionen, denen synchron betrachtet keine spatiale Grundbedeutung zuzuordnen ist: Aus dem Deutschen ließen sich mit und für nennen, aus dem Englischen with ,mit‘, aus dem Französischen avec ,mit‘. In die Sprachgeschichte zurückgehend ist eine spatiale Grundbedeutung durchaus zuzuordnen: mit ~ Mitte, für < AHD furi ,vor [wohin]‘.

Die Trennung von grammatischen Kasus, die dem Ausdruck der syntaktischen Grundrelationen dienen, und den semantischen Kasus erweist sich auch im adnominalen Bereich als relevant. Die adnominale Verwendung der grammatischen Kasus Nominativ (abgesehen von N-N-Verbindungen) und Akkusativ ist eher atypisch oder gar ausgeschlossen. Dativische Nominalphrasen kommen im Deutschen nicht in adnominaler Funktion im engeren Sinne vor, sondern nur in „elliptischen“ Ausdrücken (1) oder aber formelhafter Sprache (3), vgl.: (1)

Krieg den Palästen, Kampf dem Hunger

(2)

*Der Krieg den Palästen wurde ausgerufen. *Der Kampf dem Hunger ist noch nicht gewonnen.

(3)

Per Handschlag müssen sie sich zur Verpflichtungsformel bekennen. Sie lautet: „Ich gelobe Treue der Verfassung, Gehorsam den Gesetzen und gewissenhafte Erfüllung meiner Pflichten. […]“ (Mannheimer Morgen, 21.07.2009)

Dies ist anders im Ungarischen und Polnischen (vgl. → D4.2), der Dativ ist aber ohnehin als Grenzfall zwischen grammatischen und semantischen Kasus zu betrachten (→ B2.4.3.2.2). Adnominale Akkusativphrasen sind im Deutschen ein zwar einschlägiger, aber marginaler Fall, sie kommen nur in temporalen Angaben vor (→ B2.4.2.5.2). Im Ungarischen sind sie ausgeschlossen. Im Polnischen werden derartige Phrasen kaum verwendet, hier kommen stattdessen Adpositionalphrasen zum Einsatz (4):  

(4) DEU POL

das Treffen (am) letzten Donnerstag to spotkanie w ostatni czwartek DEM Treffen in letzt.. AKK Donnerstag.. AKK

Aus deutscher Sicht erscheint die Verwendung von Adpositionalphrasen in adnominaler Funktion genauso wenig eingeschränkt wie in adverbaler Funktion, aus übereinzelsprachlicher Sicht hingegen ist die Anbindung von Adpositionalphrasen an

1641

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

Nomina und Nominalphrasen keine Selbstverständlichkeit. Eingehendere Untersuchungen aus typologischer Sicht dazu fehlen aber (vgl. Hagège 2010: 232). Für unsere Kern-Vergleichssprachen und so gut wie alle anderen europäischen Sprachen sind adnominale Adpositionalphrasen dokumentiert. Ausnahmen bilden das Türkische und das Baskische (vgl. dazu explizite Aussagen in Eguzkitza 1993; de Rijk 1993; Boeder/Schroeder 2000). Diese Einschränkung zum Türkischen gilt indes nur für postnominale Adpositionalphrasen, pränominal sind sie durchaus anzutreffen, wenn auch nur wenige ausgewählte Adpositionen dies erlauben (Göksel/Kerslake 2005: 259): TÜR gibi ‚wie‘, kadar ,ebenso wie‘, göre ,gemäß, zufolge‘, başka ‚außer‘ (vgl. dazu den Varianzparameter ,Prä- oder postnominale Stellung des adpositionalen Attributs‘, → D4.7). Eine unserer Kontrastsprachen, das Ungarische, verfügt zwar über adpositionale Attribute, macht hiervon aber weitaus restringierter Gebrauch als die anderen Vergleichssprachen. Die Erörterung der eingeschränkten Verwendungsmöglichkeiten dieses Attributtyps ist geradezu ein Topos innerhalb der ungarischen Sprachkritik und -pflege: Von einem Teil der Sprachpfleger werden derartige Attribute rundweg abgelehnt, die ungarische Grammatikschreibung behandelte sie bisher auch wenig ausführlich; der Sprachgebrauch zeigt aber, dass dieser Attributtyp nicht zu vernachlässigen ist. Die geltenden syntaktischen Beschränkungen, die sich in dieser Form in keiner anderen der Vergleichssprachen finden, sind unter dem Varianzparameter ‚Syntaktische Funktion/morphologische Markierung des Kopfnomens bzw. lineare Stellung der Gesamt-NP im Satz‘ (→ D4.8) thematisiert. Die nicht-universelle Verwendbarkeit von Adpositionalphrasen (und Adverbien) zur adnominalen Modifikation steht in Übereinstimmung mit dem funktionalen Erklärungsansatz von Hengeveld (1992a: 58), der ein adverbial predicate als Prädikat definiert, welches als Modifikator eines nicht-nominalen Kopfes fungiert – „without further measures being taken“. Das Primat der adverbalen und adsententialen Funktion von Adpositionalphrasen ist nicht allein sprachübergreifend zu verzeichnen, sondern gilt auch für die einzelsprachliche Betrachtung. So gilt auch im Deutschen die Verwendung als Adverbiale als „Hauptfunktion“ der Präpositionalphrase (Heidolph/Flämig/Motsch 1981: 370). Darauf, dass „Adverbialia“ nicht uneingeschränkt adnominal verwendet werden können, weist auch die IDS-Grammatik (1997: 1000 f.) hin; unter den semantischen Gruppen, die ausgeschlossen sind, finden sich u. a. die „modalisierenden“. Adnominal in einem weiteren Sinne können sie nur bei Anbindung an ein Adjektiv verwendet werden (7).  





(5)

*Der Genuss allem Anschein nach enttäuscht Hans sehr.

(6)

*Die Verschiebung des Termins zu meinem größten Bedauern rief beim Kanzler Verstimmung hervor.

(7)

dieser leider unerfreuliche Spaziergang

1642

D Nominale Syntagmen

Adnominale Adpositionalphrasen konzessiver Bedeutung liegen im Randbereich der Akzeptabilität (IDS-Grammatik 1997: 1000), u. U. sind hier je nach Kopfsubstantiv unterschiedliche Bewertungen zu erwarten.  

(8)

?Den

(9)

Seine Teilnahme trotz seiner schweren Krankheit überraschte uns.

Ausflug trotz des schlechten Wetters genossen sie.

Ansonsten sind die von der IDS-Grammatik (1997: 45) als die „wichtigsten“ semantischen Subklassen von Präpositionen bezeichneten Klassen auch in adnominaler Funktion vertreten: – – – – – – – – – – – – – – – – –

Adversativ: seine Teilnahme wider Erwarten Direktional: die Reise nach Glückstadt Distributiv: Kosten pro Gebühreneinheit Final: eine Einlage zur Belustigung des Publikums Instrumental: der Schlag mit einem Hammer Kausal: unsere Fortschritte dank ihrer Hilfe Komitativ: die Reise mit ihrem Freund Konditional: ein Ausflug bei schlechtem Wetter Konfrontativ: die Vorteile gegenüber der alten Technik Konsekutiv: seine Verletzungen infolge von Gewalteinwirkung Konzessiv: sein Scheitern trotz aller Bemühungen, sein Misserfolg entgegen den Erwartungen Lokal: das Gebäude an der Straße Partitiv: eine von tausend Restriktiv: alle Menschen außer Egon Substitutiv: sein kurzes Statement anstelle eines Berichtes Temporal: seine Krankheit vor einiger Zeit, seine Arbeit seit Ostern Thematisch-relationierend: Buch über Goethe, die Einwände in Bezug auf das Schreiben

Die Frage nach der adnominalen Verwendbarkeit adpositionaler Subklassen kann auch aus einer anderen Richtung gestellt werden, und zwar, ob die formalen Eigenschaften der Adpositionen die adnominale Verwendbarkeit beeinflussen. Adpositionen können in verschiedene Formklassen eingeteilt werden und es wäre zu fragen, ob bestimmte Formklassen die adnominale Verwendung ausschließen. Zunächst können Adpositionen danach unterschieden werden, ob sie Prä-, Post- oder Zirkumpositionen sind. Diese Dreiteilung ist aus der Reihe unserer Kern-Vergleichssprachen allein für das Deutsche von Bedeutung; das Englische, Französische und Polnische verfügen nur über Präpositionen, das Ungarische allein über Postpositionen. Auf die adnominale Verwendbarkeit hat die Zugehörigkeit zu den marginalen Klassen der Postposi-

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

1643

tionen (im Deutschen entlang, halber, zufolge, zuliebe) oder Zirkumpositionen (um … willen, von … wegen) keinen Einfluss: (10)

eine Aktion der Umwelt zuliebe

(11)

seine Entscheidung um des lieben Friedens willen

Dies gilt ebenso wenig im Englischen, wo das Element ago ,vor‘ als (exzeptionelle) Postposition zu klassifizieren ist (vgl. Huddleston/Pullum 2002: 632): (12) ENG

his situation ten years ago ,seine Situation vor zehn Jahren‘

Klassen könnten auch danach unterschieden werden, aus welchen Quellen kategorialer Art sie sich speisen: Neben primären Adpositionen (bzw. aus Lokaladverbien entstanden Adpositionen) existieren – im Deutschen wie auch in den Kontrastsprachen – aus Substantiven (dank, kraft, trotz), aus Adpositionalphrasen (infolge, zugunsten), aus Partizipien (entsprechend, ungeachtet) und Adjektiven (gleich, nahe, treu) abgeleitete, sog. „sekundäre“ Adpositionen (vgl. Zifonun 2014). Ein Einfluss auf die adnominale Verwendbarkeit lässt sich hier nicht konstatieren. Bezogen auf die definierten Subklassen der Modifikation (→ A4) ist für adnominale Adpositionalphrasen festzuhalten, dass sie referentielle (einschließlich der argumentanbindenden), qualitative und klassifikatorische Funktion haben können. Die Testverfahren zur Abgrenzung der einzelnen Modifikationstypen sollen hier nochmals speziell am Beispiel der adpositionalen Attribute dargestellt werden: Mithilfe des Pronominalisierungstests (→ A2.3, → D3.3) wird die Referentialität des Ausdrucks abgeprüft. PPs, die eine singularische NP mit Determinativ enthalten, passieren diesen Test, sind somit als referentielle Modifikatoren einzuordnen. Für determinativlose NPs trifft dies nicht zu, um referentielle Modifikatoren kann es sich hier also nicht handeln.  







(13)

Gestern war ein Mann mit Brille hier. *Die muss ziemlich teuer gewesen sein.

(14)

Gestern war ein Mann mit deiner Brille hier. Die hattest du doch schon vermisst.

(15)

Gestern war ein Mann mit einer ziemlich teuren Brille hier. Die hätte mir auch gefallen.

1644

D Nominale Syntagmen

Ein Test auf Substituierbarkeit durch ein Pronominaladverb ist für adpositionale Attribute eine Alternative zum Pronominalisierungstest und sollte zu den gleichen Testergebnissen führen. (16)

Der Mann mit Brille war nicht noch mal hier. *Der Mann damit …

Abzuprüfen wäre, ob nicht zumindest Verankerung (ohne Referentialität) vorliegt, wie für die pseudo-referentiellen Adjektive vom Typ morgig, obig etc. in Betracht zu ziehen, vgl. → A4.3.3.5.1.3. Zur Abgrenzung der beiden Subtypen der klassifikatorischen und der qualitativen Modifikation sind verschiedene Tests vorgeschlagen worden, die je nach formaler Realisierung der Modifikation unterschiedlich gut verwendbar sind. Der Prädikationstest funktioniert zufriedenstellend bei Adjektiven und bei possessiven Attributen. Demnach sind Qualitätsadjektive und qualitative possessive Attribute prädikativ verwendbar (Die Studie ist von hoher Qualität), klassifikatorische hingegen nicht. Bei PPs zeichnet sich kein solch einheitliches Bild ab, was auch daran liegen mag, dass PPs als solche nicht für eine prädikative Verwendung im eigentlichen Sinne in Frage kommen. So sind lokale PPs zwar problemlos mit dem sein-Verb kombinierbar (Er ist im Haus), mit anderen Kopulaverben ist die prädikative Verwendung hingegen ausgeschlossen (Er bleibt im Haus, aber *Er wird im Haus). (17)

Urlaub auf dem Bauernhof → *Der Urlaub ist auf dem Bauernhof.

(18)

Krawatte mit Streifen. → ??Die Krawatte ist mit Streifen.

(19)

Mädchen mit langen Haaren → *Das Mädchen ist mit langen Haaren.

(20)

Mann mit Brille → *Der Mann ist mit Brille.

(21)

Flugzeug aus Papier → Das Flugzeug ist aus Papier. ?Das Flugzeug bleibt aus Papier. *Das Flugzeug wird aus Papier.

(22)

Zimmer mit Dusche → Das Zimmer ist mit Dusche. ?Das Zimmer bleibt mit Dusche. *Das Zimmer wird mit Dusche.

(23)

Buch für Kinder → Das Buch ist für Kinder. ?Das Buch bleibt für Kinder. *Das Buch wird für Kinder.

Der Ausschluss von der prädikativen Verwendung bleibt in einigen Fällen erklärungsbedürftig, da semantisch äquivalente Ausdrücke sehr wohl in ein prädikatives Komplement umgewandelt werden können:

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

(24)

gestreifte Krawatte → Die Krawatte ist gestreift.

(25)

bebrillter Mann → Der Mann ist bebrillt.

(26)

aber: langhaariges Mädchen → ?Das Mädchen ist langhaarig.

1645

Die Verwendung in appositiver Nachstellung (27) als verkürzte Prädikation weist in Richtung der Einordnung derartiger Phrasen als qualitative Modifikatoren. (27)

Eine Krawatte, mit Streifen und gepunktet, …

Der Koordinationstest beruht auf der Annahme, dass ausschließlich Phrasen desselben Modifikationstyps miteinander koordiniert werden können. Auf indirekte Weise könnte man so Aufschluss darüber gewinnen, ob zwei Modifikatoren denselben Modifikationstyp repräsentieren. Indirekt deshalb, weil der Typ einer der beiden Phrasen vorher bekannt, also auf anderem Wege identifiziert sein muss. Vorgeschlagen wurde der Test von Booij (2009) und Koptjevskaja-Tamm (2004a), hier illustriert anhand von Beispielen aus dem Niederländischen und Deutschen. Koordination ist demnach unabhängig von den formalen Realisierungen (hier A-N-Verbindungen und Komposita) möglich, wesentlich ist die Übereinstimmung in der Funktion (hier klassifikatorische Modifikation): (28) NDL

Amerikaanse (talen) en Papoeatalen ,amerikanische (Sprachen) und Papua-Sprachen‘ (Booij 2009: 231)

(29) NDL

*Amerikaanse (talen) en moeilijke talen ,amerikanische (Sprachen) und schwierige Sprachen‘ (ebd.)

(30)

die Juristischen und Wirtschaftsfakultäten

Will man dieses Kriterium auf PPs anwenden, stößt man auf folgende Schwierigkeit: Im Deutschen erscheinen adnominale PPs postnominal, die anderen adnominalen Modifikatoren jedoch typischerweise pränominal. Koordination in der Form, dass der nominale Kopf nur einmal realisiert ist, wie oben demonstriert, ist hier nicht einschlägig. Von Nutzen ist dieses Kriterium aber in Sprachen wie Polnisch und Französisch, wo das Gros bzw. ein bestimmter Teil der Adjektive (im Polnischen sind es primär die klassifikatorischen) auch postnominal realisiert wird. So erweisen sich die formal unterschiedlich realisierten Modifikatoren in den folgenden Beispielen als zum selben Modifikationstyp gehörig (in den französischen Beispielen qualitativ, in den polnischen Beispielen klassifikatorisch).

1646

D Nominale Syntagmen

(31) FRA

un grand choix de cravates à pois, rayées et unies ,eine große Auswahl an gepunkteten, gestreiften und einfarbigen Krawatten‘

(32) POL

okulary przeciwsłoneczne Brille gegen.Sonne.ADJ ,Sonnen- und Lesebrille‘

i do und zu

czytania Lesen.GEN G EN

Hervorzuheben ist auch der Zusammenhang zwischen NP-interner Wortfolge und den verschiedenen Subtypen der adnominalen Modifikation (→ D1.3). Referentielle Modifikatoren erscheinen am weitesten vom Kopf entfernt, gefolgt von qualitativen Modifikatoren; Charakteristikum klassifikatorischer Modifikatoren ist hingegen ihre generelle Nähe zum Kopf. Für die pränominale Position ist diese Tendenz gut dokumentiert. Für die postnominale Position wäre so die Abfolge ‚klassifikatorisch – qualitativ – referentiell‘ zu erwarten. Derart eindeutig scheint die Zuordnung für das Nachfeld des Kopfsubstantivs im Deutschen nicht zu sein. Wir haben es hier mit Stellungsvariation zu tun, die offenbar von weiteren Faktoren wie der Länge bzw. Komplexität der Ausdrücke abhängt. In den folgenden Beispielen ist vorausgesetzt, dass es sich bei den von-Phrasen um qualitative Modifikatoren handelt, bei den mit-Phrasen ist (zunächst) fraglich, ob hier qualitative (dann wäre sowohl die Stellung vor als auch hinter der von-Phrase erwartbar) oder klassifikatorische Modifikation vorliegt (dann sollte nur die Stellung vor der von-Phrase zulässig sein).  



(33)

eine junge Frau mit Brille / mit langen Haaren von unglaublicher Intelligenz

(34)

?eine

(35)

?ein

junge Frau von unglaublicher Intelligenz mit Brille / mit langen Haaren

Kind mit Brille von zwei Jahren

(Da mit Brille der kürzere Ausdruck ist und die größere Nähe zum Kopfnomen gegenüber dem qualitativen Modifikator wenig akzeptabel erscheint, sollte die Annahme einer hier vorliegenden klassifikatorischen Modifikation ausgeschlossen sein.) (36)

ein Kind von zwei Jahren mit Brille

(37)

Hut von roter Farbe mit breiter Krempe, Mantel von roter Farbe mit Kapuze

(38)

?Mantel

mit Kapuze von roter Farbe

Folgende Varianzparameter werden im Einzelnen behandelt:

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

1647

1.

Argumentanbindung durch adpositionale Attribute: Werden die Argumente durch Adpositionalphrasen ausgedrückt? Oder durch possessive Attribute? Welche Argumente bevorzugen oder erzwingen welche Realisierung? 2. Referentielle Modifikation: Varianz zwischen adpositionalen und possessiven Attributen 3. Qualitative Modifikation durch adpositionale Attribute 4. Klassifikatorische (und qualitative) Modifikation: Durch adpositionale Attribute realisierte semantische Relationen 5. Quantifikation durch adpositionale Attribute 6. Stellung des adpositionalen Attributs: pränominal oder postnominal 7. Syntaktische Funktion / morphologische Markierung des Kopfsubstantivs bzw. lineare Stellung der Gesamt-NP im Satz 8. Anschluss von PPs an das Kopfnomen über „semantisch leere“ Präpositionen

D4.2 Argumentanbindung durch adpositionale Attribute In allen Vergleichssprachen dienen Adpositional- und Nominalphrasen zur Sättigung von substantivischen Argumentstellen. Die einzelnen Sprachen machen von dieser Strategie bezogen auf die Frequenz in Texten in unterschiedlichem Maße Gebrauch. Im Falle der Argumentanbindung stehen Adpositionalphrasen in besonderer Weise in Konkurrenz zu possessiven Attributen. Folgende (grundlegende) Argumente werden hier behandelt: AGENS , EXPERIENS , OBJEKT ( PATIENS / THEMA ), REZIPIENT . Zu beobachten ist für das Deutsche und hier speziell im Bereich des PATIENS -/ THEMA -Arguments eine – im Vergleich zu den Kontrastsprachen – Präferenz für adpositionale Attribute gegenüber possessiven. Possessive Attribute sind hier in den Kontrastsprachen teils eher präferiert oder sie sind im Kontrast zum Deutschen zumindest nicht ausgeschlossen (vgl. auch → B1.5.4). Possessive Attribute sind im Deutschen teils noch in bestimmten Wendungen bzw. archaisierter Redeweise erhalten, eine Tendenz des Rückzugs des Genitivs als OBJEKT -/ THEMA -Ausdruck ist unverkennbar. Eine Varianz hinsichtlich der Realisierungsform besteht aber in allen Sprachen, und zwar eine Varianz hinsichtlich der Realisierungsform als possessives oder adpositionales Attribut und eine Varianz hinsichtlich der Wahl der spezifischen Adposition. Als Varianzparameter sind mithin zu behandeln: Werden die Argumente durch Adpositionalphrasen oder durch possessive Attribute ausgedrückt? Welche Argumente bevorzugen oder erzwingen welche Realisierung?  



Die Definition von semantischen Rollen/thematischen Rollen/Argumentrollen ist ein schier unlösbares Problem innerhalb der Linguistik. Für funktional-typologische Studien ist die Zugrundelegung derartiger Konzepte aber unabdingbar. Schon in Bezug auf das Verb bestehen diese Probleme, in Bezug auf das Substantiv treten sie noch deutlicher hervor. Auch wird der Kom-

1648

D Nominale Syntagmen

plementstatus von Begleitern des Nomens insgesamt in Frage gestellt (u. a. Eisenberg 2013b). Die Mehrzahl der Studien zieht auch nur die einigermaßen etablierten Rollen wie AGENS , PATIENS und REZIPIENS in Betracht, die Definition marginalerer Rollen wird häufig ad hoc vorgenommen. Wir beschränken uns hier auf einige wenige Rollen, die nah an den Proto-Rollen AGENS und PATIENS angesiedelt sind (vgl. Dowty 1991; Primus 1999a). Zu dem Verhältnis von Kasus und semantischen Rollen auch → B2.4.2.2.  

D4.2.1

AGENS

Neben der Realisierung des AGENS als possessives Attribut (→ D3.10), d. h. für das Deutsche die Realisierung als Genitivattribut bzw. Adpositionalphrase mit von, ist im Deutschen die Kodierung des Agens als Adpositionalphrase mit durch gegeben. Diese kommt insbesondere dann zum Einsatz, wenn bereits das Objekt-Argument mittels eines possessiven Attributs ausgedrückt ist. In den Kontrastsprachen werden dem Deutschen äquivalente Strukturen genutzt: die jeweils einschlägigen Ausdrucksformen possessiver Attribute sowie Adpositionalphrasen, durch die auch in passivischen Strukturen das Agens kodiert wird bzw. kodiert werden kann:  

(39) DEU ENG FRA POL UNG

G EN /von, seitens/vonseiten durch, GEN of (POSS ), by de (POSS ), par ,durch‘ GEN , INS , przez ,durch‘ POSS , általi < által ‚durch‘

Im Deutschen variiert der Agensausdruck in Passivsätzen zwischen Adpositionalphrasen mit von und solchen mit durch (daneben auch das – laut Duden-Grammatik 2009: 548 – verwaltungssprachliche seitens/vonseiten). durch wird laut Duden-Grammatik (ebd.) verwendet bei „nicht willentlich verursachendem Agens“ oder „wenn das Agens im Auftrag eines anderen handelt“, durch in Passivsätzen „kann auch im Sinne eines Instruments, eines Mittels, einer Art und Weise oder einer Vermittlerinstanz interpretiert werden“ (IDS-Grammatik 1997: 1831). Diese Gebrauchsunterschiede sind in der nominalen Struktur aufgehoben.  



Die jeweiligen ‚durch‘-Phrasen (bzw. die polnische Instrumentalphrase) kommen übereinstimmend nur bei Nominalisierungen von transitiven Verben zum Zuge, vgl. (40) vs. (41): (40) DEU ENG FRA POL UNG

*die Ankunft durch den Vater *the arrival by the father *l’arrivée par le père *przyjazd przez ojca *az apja általi megérkezés

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

(41) DEU ENG

?die ?the

1649

ständige Nörgelei durch ihn constant moaning by him

Campe (1999: 179) erklärt den Ausschluss von durch bei Nominalisierungen intransitiver Verben mit dem „geringeren Grad der Agentivität“ ihrer Subjekte.

Im Polnischen, wo mit dem Kasus Instrumental und der Adposition przez zwei Strukturen zum Agensausdruck zur Verfügung stehen, richtet sich die Realisierungsform nach der Art des Agens. Ein belebtes bzw. „anthropomorphisiertes“ Agens wird über eine przez-Phrase angeschlossen, ein unbelebtes Agens durch den Instrumental ausgedrückt (Aptacy 2005: 101): (42) POL

zła ocena wykładowcy przez władze szkoły G EN durch Schulleitung.AKK schlecht Beurteilung Lehrer.GEN ‚die schlechte Beurteilung des Lehrers durch die Schulleitung‘ (ebd.: 83)

(43) POL

spowodowanie strat długotrwałymi opadami Verursachung Schaden.GGEN EN . PL langanhaltend.INS . PL Regenfall.INS . PL ‚die Verursachung von Schäden durch langanhaltende Regenfälle‘ (ebd.: 101)

(44) POL

zalanie łąk wodą / przez wodę Überschwemmung Wiese.GEN . PL Wasser.INS durch Wasser.AKK ,die Überschwemmung der Wiesen durch das Wasser‘ (ebd.)

D4.2.2

EXPERIENS

Der Ausdruck des Experiens erfolgt in erster Linie über possessive Attribute: (45) DEU ENG FRA POL UNG

die Angst Peters / die Angst von Peter / Peters Angst Peter’s fright la peur de PierreS U / O B J strach PiotraG E N Péter félelmeP O S S

Des Weiteren bestehen Ausdrucksmöglichkeiten mit sekundären Adpositionen: DEU seitens, ENG on the part of, FRA de la part de (< part ‚Teil‘), POL ze strony (< strona ‚Seite‘), UNG részéről (< rész ‚Teil‘), die bevorzugt dann zum Einsatz kommen, wenn gleichzeitig ein THEMA -Argument als possessives Attribut realisiert ist.

1650

D Nominale Syntagmen

(46)

Die Vorurteile und die Angst seitens der Erzieher und Lehrer waren sehr groß. (Internet)

(47) FRA

l’envie de sucreries de la part de mon frère ,die Lust meines Bruders auf Süßigkeiten‘

(48) UNG

a

szülők szeretete a gyerekek részéről DEF Eltern Liebe.3SG DEF Kind.PL vonseiten wörtl.: ,?die Liebe der Eltern vonseiten der Kinder‘

Auch Adpositionen mit lokaler Grundbedeutung finden Verwendung, die Übergänge zur Interpretation des betreffenden Ausdrucks als lokale Angabe sind fließend: DEU bei/unter/im Kreise, ENG among, FRA parmi ‚unter‘, POL pośród ‚inmitten‘, UNG között ‚zwischen‘: (49)

Interesse bei den Experten, Ärger bei den Experten

(50)

Sorge unter den Experten, Neid unter den Experten, Interesse unter den Experten

D4.2.3

REZIPIENT

Im verbalen Bereich ist der Dativ – sofern ein solcher Kasus vorhanden ist – in allen Vergleichssprachen das Mittel der Wahl zum Ausdruck des Rezipienten. Dies gilt in den slawischen Sprachen, darunter im Polnischen, sowie im Ungarischen auch für den adnominalen Bereich. Im Deutschen ist der Dativ adnominal – sieht man vom possessiven Dativ ab – ausgeschlossen. Die Präpositionen an und für übernehmen dessen Rolle quasi als „Dativ-Ersatz“, sichtbar hier an Nominalisierungen dativregierender Verben, vgl.: – Präposition an: Antwort an (jm. antworten), Befehl an (jm. befehlen), Dank an (jm. danken), Hilfe an (jm. helfen), Rat an/für (jm. etw. raten), Vorschlag an (jm. etw. vorschlagen), Zusage an (jm. etw. zusagen) – Präposition für: Hilfe für (jm. helfen)  







Die Verwendung dieser Präpositionen ist aber nicht als ausschließlicher Ersatz des verbalen Dativs zu verstehen, auch Ableitungen transitiver Verben nutzen diese Präpositionen zur Anbindung des Rezipienten: – Präposition an: Aufforderung an (jn. auffordern), Bitte an (jn. bitten), Einladung an (jn. einladen), Frage an (jn. fragen), Gruß an (jn. grüßen) – Präposition für: Verständnis für (jn. verstehen), Unterstützung für (jn. unterstützen)

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

1651

Reguläre Entsprechung eines direkten Objekts im nominalen Bereich wäre der Objektsgenitiv, der in einigen Fällen – je nach Lesart – auch zum Einsatz kommen kann (die Einladung Tanjas, vgl. IDS-Grammatik 1997: 1975). Es liegt demnach näher, hier von einer „Vererbung“ der Präpositionen über entsprechende Funktionsverbgefüge auszugehen (vgl. es ergeht eine Aufforderung/Bitte/Einladung an X, Verständnis für X haben), wie es u. a. von Ansätzen zur französischen Nominalgrammatik (Gross/Vivès 1986; Kubczak/Costantino 1998) und – darauf basierend – von Valenzwörterbüchern zum Ungarischen (Bassola et al. 2003, 2012) vertreten wird. Die besagten Präpositionen treten auch an nicht-deverbale Konkreta, die eine REZIPIENT -Rolle eröffnen:  







(51)



Paket, Brief an/für

Die zu wählenden Präpositionen im Englischen (to, for) und Französischen (à, pour) entsprechen in ihren Grundbedeutungen den deutschen: ENG

FRA

letter to/for ,Brief an/für‘, gratitude/thanks to ,Dank an‘, advise to ,Rat an‘, answer to ,Antwort an‘, help to/for ,Hilfe an/für‘, invitation to/for ,Einladung an/für‘ lettre à/pour ,Brief an/für‘, conseil à ,Rat an/für‘, aide à ,Hilfe an/für‘, invitation à ,Einladung an/für‘

Im Polnischen wie im Ungarischen bleibt der Dativ bei von dativregierenden Verben abgeleiteten Nomina (wie hier UNG segély ,Hilfe‘, POL pomaganie ,Helfen, Hilfe‘) in der Regel als solcher erhalten: (52) UNG

segély munkanélkülieknek Hilfe Arbeitsloser.PL . DAT ,Hilfe für Arbeitslose‘

(53) POL

pomaganie bliźnim jest cnotą Hilfe Nächster.DAT .PL ist Tugend.INS ‚den Nächsten zu helfen / die Hilfe für die Nächsten ist eine Tugend‘ (Aptacy 2005: 132)

Das Polnische betreffend gilt dies vor allem für die produktiven -nie/-cie-Derivate, aber auch unproduktive Ableitungen wie die auf -ba (vgl. in (54) służba ,Dienst‘) oder weitere wie pomoc ,Hilfe‘ (vgl. (55)) lassen dativische Attribute zu, diese alternieren dann mit durch die Präposition dla ,für‘ eingeleiteten Attributen (Aptacy 2005: 132 f.). Entsprechendes gilt für das Ungarische, wo der Dativ mit der sekundären Postposition számára ,für‘ alternieren kann (56).  

1652

D Nominale Syntagmen

(54) POL

służba ojczyźnie / dla ojczyzny Vaterland.GEN Dienst Vaterland.DAT für ‚Dienst dem Vaterland / für das Vaterland‘ (ebd.: 132)

(55) POL

pomoc ofiarom wypadku / dla Hilfe Opfer.DAT . PL Unfall.GGEN EN für ‚die Hilfe für die Unfallopfer‘ (ebd.: 133)

(56) UNG

tanács / jelzés valakinek / Rat Hinweis jemand.DAT ,Rat/Hinweis an/für jemanden‘

valaki jemand

ofiar Opfer.GGEN EN . PL

wypadku Unfall.GGEN EN

számára für

Von dativregierenden Adjektiven abgeleitete Substantive erlauben im Polnischen und Ungarischen ebenso dativische Komplemente, die im Deutschen ausgeschlossen sind: (57) POL

wierność przewodniczącemu partii Partei.GEN Treue Vorsitzender.DAT ,Treue zum Parteivorsitzenden‘

Die Wahl eines dativischen Attributs oder eines präpositionalen ist (unabhängig von der EXPERIENS -Rolle) im Polnischen prinzipiell verknüpft mit der „Verbalität“ oder „Nominalität“ der betreffenden Ableitung: Ein Dativattribut spricht für eine starke Verbalität, hier bleibt auch ein ggf. vorhandenes Reflexivpronomen erhalten; eine wenig verbale Ableitung tendiert zu präpositionalen Attributen (Aptacy 2005: 133). (58) POL

sprzeciwianie się miejscowej ludności wrogowi REFL einheimisch.GEN Bevölkerung.GEN Feind.DAT Widersetzen ‚das Sich-dem-Feind-Widersetzen der einheimischen Bevölkerung‘ (ebd.)

(59) POL

sprzeciw miejscowej ludności wobec wroga Widerstand einheimisch.GEN Bevölkerung.GEN gegenüber Feind.GEN ‚der Widerstand der einheimischen Bevölkerung gegenüber dem Feind‘ (ebd.)

Im Deutschen ist ein Erhalt des Dativkomplements, wie in der Übersetzung sichtbar, nur über die Integration in ein Konvertat aus einer Verbalphrase möglich (vgl. Schlotthauer/Zifonun/Cosma 2014).

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

D4.2.4

1653

PATIENS / THEMA

Ausgehend von den Proto-Rollen AGENS und PATIENS fassen wir unter die PATIENS -Rolle alle dem OBJEKT -Bereich angehörenden Ausdrücke. Als Spezialfall sondern wir die THEMA - ((bzw. STIMULUS -) -)Rolle aus, darunter verstehen wir den „typischerweise unbelebte[n] Gegenstand […] einer kognitiven oder emotionalen Relation“ (IDS-Grammatik 1997: 1305), die in diesem Abschnitt zur Sprache kommenden Ausdrücke sind fast alle dem THEMA -Bereich zuzuordnen. In diesem Bereich ist generell eine große Varianz an möglichen adpositionalen Anschlüssen zu konstatieren, diese soll hier nicht en detail vorgestellt werden. Besondere Aufmerksamkeit soll hingegen der sprachübergreifenden wie auch innersprachlichen Alternation eines possessiven Attributs mit adpositionalen Attributen gewidmet werden. Das PATIENS / THEMA einer Handlung kann regelhaft in Form eines Genitivus obiectivus angebunden werden (→ D3.10). Für einige Substantivklassen ist im Deutschen jedoch die Bevorzugung des Genitivus subiectivus gegenüber dem obiectivus nicht von der Hand zu weisen. Welke (2011: 294) z. B. nennt im Speziellen die „imperfektiven Psych-Verben“ und spricht davon, dass bei zahlreichen Substantivierungen die „Subjektvererbung [gegenüber der Objektvererbung] obligatorisch“ geworden ist:  

(60)

#Hass

der Gallier, #die Liebe Wims, ?die Liebe der Arbeit, ?der Wunsch der Schokolade, *das Verlangen des Futters

Dieser obligatorisch als subiectivus zu lesende Genitiv ist in erster Linie bei Stammkonversionen und anderen älteren Wortbildungsmustern anzutreffen und weniger bei -ung-Ableitungen und „Infinitivkonversionen“ (ebd.: 295). Angeführt seien zunächst einige nominale Ableitungen, denen (in allen Vergleichssprachen) transitive Verben als Ableitungsbasis zugrunde liegen. Die im verbalen Ausdruck akkusativisch (oder im Polnischen teils auch genitivisch) realisierten Objekte würden im nominalen Ausdruck regulär als possessive Attribute erscheinen, vgl. die Eroberung Galliens. Im Deutschen ist diese Regelhaftigkeit auf nominalisierte Infinitive und -ung-Ableitungen (jedoch auch nicht alle, vgl. Hoffnung) beschränkt. Andere Wortbildungen erfordern zumeist präpositionale Realisierungen der PATIENS -/ THEMA -Rolle. Welche Präposition zum Einsatz kommt, richtet sich nach dem semantischen Gehalt des Substantivs/des zugrunde liegenden Verbs, es können hier nur Tendenzen angegeben werden. (61) DEU a. ?die Liebe der Macht / der Eltern b. die Liebe zur Macht / zu den Eltern c. die Liebe der Eltern zu ihren Kindern

1654

ENG a. b. c. FRA a. b. c. POL a. b. c. UNG a. b. c.

D Nominale Syntagmen

the love of power / of the parents the love for power / for the parents the love of the parents to/for their children l’amour du pouvoir / l’amour des parents l’amour ?pour le pouvoir / pour les parents l’amour des parents pour leurs enfants umiłowanie władzyG E N / ?miłość rodzicówG E N . P L miłość dozu władzy / dozu rodziców miłość rodziców dozu ich dzieci a hatalom szereteteP O S S / a szülők szereteteP O S S a hatalom irántiin Richtung.. A D J szeretet / a szülők irántiin Richtung.. A D J szeretet a szülők szeretete a gyerekek részéről DEF Eltern Liebe.3SG DEF Kind.PL vonseiten ,?die Liebe der Eltern vonseiten der Kinder‘ a szülők szeretete gyerekük iránt DEF Eltern Liebe.3SG Kind.3PL in Richtung ,die Liebe der Eltern zu ihren Kindern‘

Man beachte, dass das polnische umiłowanie ,Liebe‘ gegenüber miłość ,Liebe‘ eine Ableitung mit stärker verbalem Charakter ist, wodurch sich die Präferenz für die genitivische Realisierung des Objekts erklärt.

(62) DEU a. b. ENG a. FRA a. b. POL a. b. UNG a. b.

die Furcht ?des HerrnT H E M A / #Peters die Furcht vor dem Herrn / vor Peter the fear of God / of Peter la peur du Seigneur / de Pierre la peur ?devant le Seigneur / devant Pierre obawa PanaG E N / #PiotraG E N obawa przedvor Panem / przedvor Piotrem az Úr félelmeP O S S (arch.) / #Péter félelmeP O S S az ÚrtólA B L valóseiend félelem / PétertólA B L valóseiend félelem

Der pränominale Genitiv ist zum Ausdruck der parents’ love, #God’s fear) (→ D3.9).

(63) DEU a. b. ENG a. b. FRA a. b.

STIMULUS -Rolle

allerdings ausgeschlossen (#the

das Lob Gottes, das Lob der Torheit, das Lob des LehrersA G E N S //?? T H E M A Lob an/für den Lehrer (nah an REZIPIENT -Rolle) the praise of God, the praise of folly, the praise of the teacherA G E N S /? T H E M A the praise to the teacher la louange de Dieu, l’éloge de la folie, l’éloge du professeurA G E N S / T H E M A l’éloge pour le professeur

1655

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

POL a. b. UNG a. b.

pochwała PanaG E N , pochwała głupotyG E N , pochwała nauczycielaG E N - A G E N S / T H E M A pochwała dlafür nauczyciela Isten dicséreteP O S S , a balgaság dicséreteP O S S , a tanár dicséreteP O S S - A G E N S / T H E M A a dícséret a tanárnakD A T

(64) DEU ENG FRA POL UNG

*die Hoffnung des Friedens / auf Frieden the hope of/for peace espoir de paix nadzieja naauf pokój a béke reményeP O S S / remény a békéreS U B

Diese kleine Auswahl zeigt zweierlei: Englische, französische, ungarische und in geringerer Ausprägung polnische Substantivderivate erlauben ein possessives Attribut zum Ausdruck der PATIENS / THEMA -Rolle auch dann, wenn ein solches im Deutschen ausgeschlossen ist. Genitivische Realisierungen im Deutschen beschränken sich (in den eben genannten Fällen) auf archaisierende Verwendungen bzw. feste Fügungen. Den Verhältnissen in den Kontrastsprachen entsprechende Possessivattribute lassen sich noch problemlos im Deutschen des 19. Jahrhunderts finden:  

(65)

da die Leipziger Allgemeine Zeitung, die unter sächsischer Censur erscheint, wegen ihrer Besprechung der preußischen Angelegenheiten verboten wird, so wird damit zugleich die Hoffnung einer censurfreien Besprechung unserer innern Angelegenheiten verboten. (K. Marx: Das Verbot der „Leipziger Allgemeinen Zeitung“ für den preußischen Staat, (publiziert in: Rhein. Ztg., 01.01.1843), In: Marx-Engels-Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 1. – Berlin, 1975 [S. 291])  







Vereinzelt finden sie sich auch gegenwartssprachlich: (66)

So scheinen sich die Olympischen Spiele, mit denen viele die Hoffnung einer Öffnung Chinas verbunden hatten, zunächst sogar als Bumerang zu erweisen. (dpa, 16.03.2008)

Eine PATIENS -Rolle im engeren Sinne liegt vor bei sog. „Substantiven der Aggression“ (Jacob-Reitz 1993). Die zumeist akkusativische Realisierung in der zugrunde liegenden verbalen Entsprechung wird bevorzugt in eine präpositionale Form überführt. Auffällig ist hier im Deutschen die Präferenz der direktiven Präposition auf. Im Polnischen ist die Realisierung mit der Adposition na ,auf, an [direktional]‘ ebenso die einzig mögliche Ausdrucksvariante. Im Ungarischen erlauben deverbale Derivate auf -ás/-és, die in ihrer Produktivität und Anwendungsbreite den deutschen nominalisierten Infinitiven entsprechen, er-

1656

D Nominale Syntagmen

wartungsgemäß die possessive Struktur. Für andere Substantive wie roham ‚Angriff‘, merénylet ,Attentat‘ sind Patientia in Form eines Possessums zwar anzutreffen (68), viel üblicher werden sie aber in einer PP realisiert (69), im angeführten Beleg eingebaut in ein Partizipialattribut. Das Französische ist die Sprache, die possessive Attribute für die PATIENS -Rolle am ehesten zulässt bzw. gar favorisiert, alternative präpositionale Attribute (in diesem speziellen Fall mit à oder der komplexen sekundären Präposition à l’encontre ,entgegen‘) sind auch hier zu finden. (67) DEU a. der Überfall auf die Postkutsche b. das Attentat auf Kennedy (auch: Angriff auf, Anschlag auf, Attacke auf, Hatz auf, Jagd auf/nach) c. der Mord an John Lennon ENG a. the raid on the stagecoach b. the assassination of Kennedy c. the murder of John Lennon FRA a. l’attaque de la malle-poste b. l’assassinat de Kennedy auch: la chasse au lion ,die Jagd auf den Löwen‘ (Grevisse/Goosse 2011: 457) c. le meurtre de John Lennon / à l’encontre de John Lennon POL a. napad naauf dyliżans pocztowy b. zamach naauf Kennedy’ego c. morderstwo Johna LennonaG E N UNG a. a postakocsi megtámadásaP O S S b. Kennedy merényleteP O S S / a Kennedy ellenigegen.A D J merénylet c. John Lennon meggyilkolásaP O S S (68) UNG

[…] megkezdődött a város rohama. Stadt Sturm.3SG beginn.PRT . 3SG DEF ,[…] begann der Sturm auf die Stadt.‘ (MNSz)

(69) UNG

esztergomi vár ellen intézett Esztergom.ADJ Burg gegen durchführ.PTZP . PRT ,während des Sturms auf die Burg Esztergom‘ (Internet)

az

DEF

roham alatt Sturm während

Possessive Attribute sind im Deutschen hier nicht gänzlich ausgeschlossen, aber eindeutig dispräferiert: So sind Beispiele der Art, wie sie noch von Sommerfeldt/ Schreiber (1977) dargeboten werden, kaum in gegenwartssprachlichen Texten aufzufinden (vgl. aber z. B. (72)).  

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

1657

(70)

der Angriff der Festung durch die Armee (Sommerfeldt/Schreiber 1977: 73)

(71)

der Überfall der Postkutsche durch die Banditen (ebd.: 327)

(72)

Gleichzeitig hat das Tübinger Team um Nicholas Conard auch Steinwerkzeuge gefunden, weshalb es eine gezielte Jagd der Tiere durch die damals in diesem Raum lebenden Neandertaler für wahrscheinlich hält. (Zürcher Tagesanzeiger, 25.11.1997)

Im Englischen sind die präpositionalen Varianten ebenfalls präferiert, es finden sich allerdings auch Verwendungen der possessiven Strukturen, die im Deutschen ausgeschlossen sind: (73) ENG

Basically, if there’s no evidence for the father or parents to be accused with the attack of their child, would it not be better to leave the child in the home until this could be resolved, for the betterment of the child? ‚Wenn es also keinen Nachweis dafür gibt, dass der Vater oder die Eltern des Angriffs auf ihr Kind beschuldigt werden, wäre es nicht besser, das Kind zu Hause zu belassen, bis das geklärt werden kann, zum Wohle des Kindes?‘ (COCA 1991, spok)

(74) ENG

Christer Petersson [sic!], who was acquitted of the 1986 murder of the Swedish Prime Minister, Mr Olof Palme, is demanding two million kronor (£213,000) compensation for the 10 months he spent in jail, news reports said yesterday. ‚Christer Petersson, der vom Mord im Jahre 1986 am schwedischen Ministerpräsidenten, Olof Palme, freigesprochen worden war, fordert zwei Millionen Kronen (£ 213.000) Entschädigung für die 10 Monate, die er im Gefängnis verbrachte, wie Meldungen gestern verlauteten.‘ (BNC, 1989)

Die Substantive Mord oder Angriff können im Deutschen offenbar nicht (mehr) produktiv mit einem Genitivus obiectivus verbunden werden, Belege wie (75) und (76) sind als fragwürdig einzuschätzen: (75)

Untitled (1982) ist eine Anspielung auf John Lennons Mord. (Internet)

(76)

Sein Mord wurde mangels Aussagen nie aufgeklärt, so wenig wie die Ermordung des Anwalts der Bauern. (die tageszeitung, 09.07.2010)

Belege der Art Angriff der StadtP A T I E N S oder Angriff PolensP A T I E N S sind in D E R E K O (Abfrage vom 09.12.2012) nicht zu finden, wohl aber einige Internetbelege mit einem Genitivus obiectivus bei gleichzeitiger Realisierung des Agens über eine durch-Phrase:

1658

(77)

D Nominale Syntagmen

Angriff Kuwaits durch den Irak (mehrere Internetbelege, 09.11.2012)

Eine ähnliche Bevorzugung eines präpositionalen Attributs mit auf ist bei sog. „Substantiven des Verlangens“ (Jacob-Reitz 1993) zu konstatieren. Zur akkusativischen Realisierung des PATIENS bestehen hier aber z. T. bereits in der verbalen Entsprechung Alternativkonstruktionen mit nach (etw. / nach etw. suchen, etw. / nach etw. jagen) (vgl. zu diesen Alternanzen Proost 2009) bzw. diese sind die einzig möglichen Realisierungen (nach etw. hungern). Diese Phrasen mit nach kommen im adnominalen Bereich als Variante ebenso zur Anwendung. Von den exemplarisch ausgewählten Lexemen erlaubt allein Recht einen Anschluss über den Genitiv, die produktive Variante ist aber auch hier die mit auf.  

(78)

a. Lust auf, Gier auf, Hunger auf, Durst auf, Appetit auf/(nach), Recht/Anspruch auf b. Bedürfnis nach, Forderung nach, Wunsch nach c. Recht der freien Meinungsäußerung – Recht auf freie Meinungsäußerung, Recht auf Asyl, Recht auf Arbeit  

Produktive Ableitungen auf -ung wie Forderung erlauben eher einen Genitivus obiectivus, dieser ist dennoch gegenüber der Variante mit nach eindeutig dispräferiert (vgl. in D E R E K O zwei Belege für Forderung von Neuwahlen gegenüber 282 Belegen für Forderung nach Neuwahlen, Abfrage vom 09.11.12; wobei hier darüber hinaus zu beachten ist, dass das Verb fordern selbst nicht die Präposition nach regiert). Insgesamt sind Objektsgenitive hier gegenwartssprachlich selten (81), typisch aber noch für den Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts (vgl. (79), (80)).  

(79)

[…], schilderte sein eigenes glückliches Los, sprach den Wunsch des Bekanntwerdens aus, […] (François, Louise von: Stufenjahre eines Glücklichen, Erstdruck: 1877 – Berlin: DIRECTMEDIA Publishing GmbH, 2004, S. 6–658 [S. 333])  



(80)



Die nächste Veranlassung hierzu mag das Bedürfnis der Ruhe gewesen sein. (Meysenbug, Malwida von: Der Lebensabend einer Idealistin, Erstdruck: 1898 – Berlin: DIRECTMEDIA Publishing GmbH, 2004, S. 204–537 [S. 284])  

(81)





Der Lampertheimer Rathauschef nahm ferner den Wunsch einer Hinweistafel auf öffentliche Rosengartener Einrichtungen mit auf den Nachhauseweg. (Mannheimer Morgen, 21.11.2008)

Das Englische geht hier wieder mit dem Deutschen, in dem es die Präposition for gegenüber der possessiven Struktur zumeist bevorzugt. Im Französischen ist die possessive Struktur die Variante der Wahl, ähnlich im Polnischen.

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

(82) ENG a. b. c. d. e. f. g. FRA a. b. c. d. e. f. g. POL a. b. c. d. e. f. g.

1659

the greed for possession ,die Begierde nach Besitz‘ the hunger/appetite for chocolate ,der Hunger/Appetit auf Schokolade‘ the thirst for beer ,der Durst auf Bier‘ the need for peace ,das Bedürfnis nach Ruhe‘ the request for reforms ,die Forderung nach Reformen‘ the desire of/for change ,der Wunsch nach Veränderung‘ right of/to asylum ,Recht auf Asyl‘ le désir de possession la faim/l’appétit de chocolat soif de bière le besoin de tranquillité la demande de réformes le souhait de changement droit d’asile ,Recht auf Asyl‘, droit au travail ,Recht auf Arbeit‘ żądza własnościG E N głód czekoladyG E N / apetyt naauf czekoladę pragnienie piwaG E N potrzeba spokojuG E N żądanie/roszczenie/wymaganie reformG E N . P L żądanie zmianyG E N prawo (dozu) azyluG E N ,Recht auf Asyl‘

Das Ungarische zeigt ebenso eine Alternation zwischen possessiver und adpositionaler Struktur. Ausprägungen der adpositionalen sind die Realisierung über die Direktionalkasus Sublativ oder Allativ bzw. über die Postpositionen után ,nach‘ und iránt ‚zu, in Richtung‘. Die possessive Struktur kommt dabei bevorzugt in übertragenen Bedeutungen vor. UNG a. b.

c. d. e. f.

?a

tulajdon vágyaP O S S /a tulajdon utáninach.A D J vágy ,die Begierde nach Besitz‘, a híresség vágyaP O S S ,Sucht nach Ruhm‘, *a csokoládé éhségeP O S S /étvágyaP O S S , a csokoládé irántiin Richtung.A D J éhség/ étvágy ‚der Hunger/Appetit auf Schokolade‘, a hatalom étvágyaP O S S ‚der Appetit nach Macht‘ *a sör szomjúságaP O S S /a sör irántiin Richtung.A D J szomjúság ,der Durst auf Bier‘, az igazság szomjúságaP O S S ‚der Durst nach Wahrheit‘ a nyugalom szükségeP O S S /szükség a nyugalomraS U B ,Bedürfnis nach Ruhe‘ reformok követeléseP O S S /reformok irántiin Richtung.A D J követelés ,Forderung nach Reformen‘ a változás kívánságaP O S S /a változás utáninach.A D J /irántiin Richtung.A D J kívánság ‚der Wunsch nach Veränderung‘

1660

D Nominale Syntagmen

g. a vélemény szabadságának jogaP O S S ,das Recht auf freie Meinungsäußerung‘, a jog a munkáhozA L L ‚das Recht auf Arbeit‘ Ebenso kaum mehr gebräuchlich sind Genitive im Deutschen bei „Substantiven der Emotion“ (Jacob-Reitz 1993) zum Ausdruck des STIMULUS der Emotion. Die Substantive aus diesem Bereich verfügen zumeist über keine verbale Basis, teils existieren Adjektive mit präpositionalen Ergänzungen. Dabei soll offenbleiben, ob die adjektivische oder die substantivische Valenz originär ist, diachron bleibt dies auch oft kaum zu klären, vgl. Stolz/stolz auf, Zorn/zornig auf (aber zürnen + DAT ), Gier/ Begierde/gierig/begierig nach (aber begehren + AKK ). Semantisch ist (zum Teil) eine gewisse Nähe zu „Substantiven der Aggression“ festzustellen (speziell im Bereich der „negativen“ Emotionen: Hass, Zorn), was die Übereinstimmung in der Wahl der Präposition – in dem Fall auf – erklären mag. Die Vergleichssprachen bieten hier jeweils ein ganzes Spektrum an Präpositionen, in der Regel zeigen die Präpositionen eine dynamisch-direktionale Perspektive des Experiens auf den Stimulus an. Angeordnet sind die als Beispiele herangezogenen Substantive nach der im Deutschen geforderten Präposition, wodurch Äquivalenzen in der Wahl der Präposition durch die Vergleichssprachen hindurch, aber insbesondere im Kontrast zum Deutschen, erkennbar werden.  

(83) DEU



ENG FRA POL UNG

auf der Neid / die Eifersucht auf ihre Schwester / ?der Neid des Erfolges (auch: Hass auf, Stolz auf) the envy of/at her sister / the jealousy of her sister l’envie de sa sœur / la jalousie à l’égard de sa sœur zawiść/zazdrość oum siostrę a húga irántiin Richtung.A D J féltékenység/irigység

(84) DEU a. b. ENG a. b. FRA a. b. POL a. b. UNG a. b.

für die Bewunderung für den König die Leidenschaft/Schwäche für Schokolade the admiration of/for the king the passion/weakness for chocolate, the fondness of/for chocolate l’admiration pour le roi la passion du chocolat, le faible pour le chocolat podziw królaG E N / dlafür króla namiętność/słabość dozu czekolady a király irántiin Richtung.A D J csodálat a csokoládé irántiin Richtung.A D J szenvedély

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

(85) DEU a. b. c. ENG a. b. c. FRA a. b. c. POL a. b. c. UNG a. b. c. (86) DEU

gegen/gegenüber Groll gegen die Kollegen Misstrauen gegenüber den Lehrern Widerstand gegen Reformen (auch: Abneigung, Unmut, Widerwille gegen/gegenüber) the resentment against/at the colleagues the mistrust of the teachers the resistance to reforms la rancune contre les collègues la défiance à l’égard / envers des professeurs la résistance contre/aux réformes uraza dozu kolegów brak zaufania dozu nauczycieli przeciwko/przeciwgegen reformom a kollégák ellenigegen.A D J harag a tanárokkal szembenigegenüber.A D J bizalmatlanság a reformokkal szembenigegenüber.A D J ellenállás

ENG FRA POL UNG

zu die Liebe zu meiner Schwester, der Wille zu Reformen (auch: Mut zu, Vertrauen zu) the love of/for my sister, the intent of reforms l’amour de ma sœur, la volonté de réformes miłość dozu mojej siostry, chęć dozu reform a húgom irántiin Richtung.A D J szeretet, a reformok akarataP O S S

(87) DEU a. b. c. ENG a. b. c. FRA a. b. c. POL a. b. c. UNG a. b. c.

über Reue über seine Taten Schmerz über den Verlust Unwille über die Berichte the remorse/repentance for his doings the pain of bereavement the displeasure/anger over/about the report le repentir / le remords de ses actions la peine / le chagrin de la perte le dépit / l’indignation à l’encontre des rapports żal/skrucha z powoduanlässlich jego czynów ból nadüber stratą / z powoduanlässlich straty niechęć dozu sprawozdań a bűnök megbánásaP O S S / megbánás a bűnökértK A U a veszteség fájdalmaP O S S a felháborodás a jelentések felettüber / miattwegen

1661

1662

(88) DEU ENG FRA POL UNG

D Nominale Syntagmen

vor (vgl. auch Beispiel (62)) Achtung (auch: Respekt) vor seiner Leistung / für seine Leistung the respect for his performance le respect pour son exploit szacunek dlafür jego osiągnięcia e teljesítmény tiszteleteP O S S / e teljesítmény előttivor.. A D J tisztelet

Als allgemeine Tendenzen lassen sich konstatieren: Aus der Reihe der Vergleichssprachen bevorzugt das Französische am ehesten die possessive Ausdrucksvariante, eine adpositionale Alternative steht teils gar nicht zur Verfügung. Anders im Englischen, wo possessive und adpositionale Strategie nebeneinanderstehen. Das Polnische und Ungarische geben parallel zum Deutschen der possessiven Variante nur in der kleineren Zahl der Fälle den Vorzug (in erster Linie bei deverbalen -ás/-és-Derivaten im Ungarischen und deverbalen Derivaten auf -nie im Polnischen). Bei der Wahl der spezifischen Adposition lässt sich hinsichtlich der Grundbedeutung der jeweiligen Adposition in der Mehrzahl der Fälle eine Parallelität in den Vergleichssprachen feststellen. Das Polnische verfügt mit der direktionalen Präposition do über die – ausgehend von diesem kleinen Beispielsample – am vielseitigsten einsetzbare Präposition. Die anderen Sprachen variieren je nach Kopfsubstantiv zwischen Adpositionen der Bedeutung ,für‘, ‚zu‘, ,in Richtung‘, ‚auf‘, ,gegenüber‘. Auch für „Substantive der Emotion“ ist bis ins Deutsche des 19. Jahrhunderts ein Possessivattribut zum Ausdruck des Stimulus die Strategie der Wahl:  





(89)

Dann überfiel mich eine Beängstigung wie die Reue einer großen Freveltat: ich war wie in einen Abgrund von Unruhen gestürzt. (Wezel, Johann Karl: Hermann und Ulrike, Erstdruck: 1780 – Berlin: DIRECTMEDIA Publishing GmbH, 2000, S. 5–822 [S. 532])  





Ist im Deutschen neben der adpositionalen Variante auch die possessive Struktur erlaubt, so bietet die adpositionale folgenden Vorteil (der ggf. zu ihrer Ausbreitung und bevorzugten Nutzung beigetragen haben mag): Eine Modifikation des abhängigen Nomens mittels eines possessiven Attributs ist ohne Weiteres (ohne dass eine Genitivkette entstehen würde) möglich. Hier spielen vor allem stilistische Erwägungen eine Rolle. So ist gegenwartssprachlich der Schmerz des Verlustes wie auch der Schmerz über den Verlust belegt, die genitivische Variante dabei aber nur mit 91 Belegen in D E R E K O gegenüber 372 Belegen für die adpositionale (Korpusanfrage vom 23.09.15). Der Übergang zu einer Interpretation des genitivischen Anschlusses als Identitätsgenitiv ist fließend. Auffällig ist, dass die über-Variante in einem Großteil der Belege über einen untergeordneten postnominalen, possessiven Modifikator verfügt, bei Schmerz des Verlustes trifft dies nur in zwei Fällen zu, vgl. dazu (90):

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

(90)

1663

Mit großer Intensität schildert sie die vergebliche Sehnsucht nach Geborgenheit, den Schmerz des Verlustes von geliebten Menschen und die psychologischen Muster der Erinnerung, deren sich Louise zu jedem Zeitpunkt bewusst ist: […] (Nürnberger Nachrichten, 03.10.2003)

Eine intra- wie interlinguale Varianz zwischen possessiven und adpositionalen Attributen besteht auch bei weiteren THEMA -Argumenten. Wir betrachten hier eine Gruppe von Attributen, die von Lauterbach (1993: 95) in die Nähe der Explikativergänzungen gestellt werden (vgl. die Absicht einer zweiten Heirat → Eine zweite Heirat ist die Absicht) und die jeweils den „Inhalt“ oder „Gehalt“ einer Absicht, eines Vorschlags etc. ausdrücken. Auch hier präferiert das Französische wieder die possessive Variante, meist ohne adpositionale Alternative. Die anderen Vergleichssprachen stimmen darin überein, dass sie finale Adpositionen als Alternativen wählen; für das Deutsche und Englische sind dies für/for oder aber Adpositionen/Kasus mit direktionaler Grundbedeutung (DEU zu, POL na ,auf‘, UNG Allativ, Sublativ). (Weitere Realisierungen wie Infinitivkonstruktionen oder Nebensätze werden hier nicht thematisiert.) (91) DEU a. Angebot eines Einfamilienhauses / über ein Einfamilienhaus / für ein Einfamilienhaus b. Absicht einer zweiten Heirat / zu einer zweiten Heirat c. ?Pläne einer höheren Mehrwertsteuer (Lauterbach 1993: 165) / über eine höhere Mehrwertsteuer / zu einer höheren Mehrwertsteuer d. Vorschlag einer Fusion / zu einer Fusion / für eine Fusion ENG a. offer of/for/on a house b. the intention of a second marriage c. plan of/for/on a higher VAT d. proposal of/for/on a fusion FRA a. l’offre d’une maison b. l’intention d’un mariage c. le plan d’une taxe à la valeur ajoutée plus élevée d. la suggestion d’une/de fusion / (pour une) fusion POL a. oferta na dom b. intencja małżeństwa c. plan wyższego podatkuG E N od wartości dodanej d. propozycja fuzjiG E N / ?propozycja naauf fuzję UNG a. ajánlat családi házraS U B b. a második házasság szándékaP O S S / a szándék a második házasságraS U B c. a magasabb forgalmi adó terveP O S S / a terv a magasabb forgalmi adórólD E L / -raS U B /-hozA L L d. a fúzió javaslataP O S S / javaslat a fúzióraS U B

1664

D Nominale Syntagmen

Über finale Bedeutung verfügen auch THEMA -Argumente von „Substantiven des Beeinflussens oder der Wirkung“. Das Deutsche bietet hier den Anschluss über die Präpositionen auf oder zu, teils auch für. (92) DEU a. Einfluss auf seine Arbeit (auch: Eindruck auf, Reiz auf, Rücksicht auf) b. Talent zur Provokation (auch: Hang zu, Veranlagung zu) c. Gelegenheit zum Betrug, Mittel zur Terrorismusbekämpfung, Möglichkeit zum Schulbesuch, Pflicht zum Unterrichtsbesuch (auch: Chance zu, Vorsatz zu) Die Alternanz mit possessiven Attributen ist bei finalen Argumenten zum Teil gegeben (Mittel der Terrorismusbekämpfung, Möglichkeit des Schulbesuchs etc.). Dies steht im Einklang mit den meisten Vergleichssprachen, die an dieser Stelle eine Alternanz zwischen possessiven Attributen und adpositionalen zeigen. Nur das Französische und auch das Polnische zeigen hier am ehesten eine Präferenz für die possessive Variante, adpositionale Alternativen fehlen hier teilweise gänzlich: ENG a. the influence on his work b. the gift of/for provocation c. the chance/opportunity of/for cheating, the means of/for counterterrorism, the chance of/for school attendance, the duty of/for school attendance FRA a. l’influence sur sa tâche b. le talent de [la] provocation / pour la provocation c. l’occasion de fraude, le moyen de la lutte antiterroriste, la possibilité de fréquentation scolaire, l’obligation d’enseignement POL a. wpływ naauf jego pracę b. talent dozu prowokacji c. sposobność dozu oszustwa, środek (dozu) walkiG E N z terroryzmem, możliwość uczęszczaniaG E N do szkoły, obowiązek uczęszczaniaG E N na zajęcia UNG a. #a munka hatásaP O S S / hatás a munkájáraS U B b. a provokáció tehetségeP O S S / a tehetség a provokációraS U B c. a csalás alkalmaP O S S / alkalom a csalásraS U B , a terrorizmus elleni harc eszközeiP O S S / eszközök a terrorizmus elleni harcraS U B /harchozA L L , az iskolába járás lehetőségeP O S S / lehetőség az iskolába járásraS U B , az iskolába járás kötelességeP O S S / kötelesség az iskolába járásraS U B Die Präposition für alterniert im Deutschen des Weiteren mit dem Genitiv bei Argumenten, deren „finale[r] Aspekt“ „fast vernachlässigbar“ (IDS-Grammatik 1997: 2132) ist. Hier steht die für-Phrase auch nah am Ausdruck eines „Stellvertreters“, eines „Repräsentanten“ (inbes. Symbol, Zeichen). Diese Gruppe unterscheidet sich von den bisher genannten dadurch, dass die Obligatorik eines possessiven Ausdrucks im Französischen zwar nicht gegeben ist (wenn auch die Ausdrucksvariante mit pour die

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

1665

dispräferierte gegenüber dem possessiven Attribut ist), das Englische, Polnische und Ungarische aber zumindest in einigen der Fälle die adpositionale Variante gänzlich ausschließen. Charakteristisch für das Deutsche wiederum ist die generelle Möglichkeit eines Anschlusses mit für, der letztlich auch als die präferierte Variante erscheint. In den Kontrastsprachen bleibt auch bei Vorliegen einer adpositionalen Alternative die possessive Variante präferiert. (93) DEU a. b. c. d. e. f. g. ENG a. b. c. d. d. e. FRA a. b. c. d. e. f. g. POL a. b. c. d. e. f. g. UNG a. b. c. d. e. f. g.

Beispiel guten Benehmens / für gutes Benehmen Grund des Besuchs / für den Besuch Preis eines Brotes / für ein Brot Programm der Tagung / für die Tagung Rezept eines Kuchens / für einen Kuchen Symbol des Friedens / für den Frieden Zeichen der hohen Qualität / für die hohe Qualität example of good behavior / *example for good behavior reason of the visit / for the visit price of a bread / for a bread programme of the conference / for the conference symbol of/for peace / for peace sign of high quality / ?for high quality exemple d’un / pour un bon comportement la raison de la visite / pour la visite le prix du pain le programme du congrès / pour le congrès la recette du gâteau marbré / pour le gâteau marbré le symbole de la paix / pour la paix la marque de qualité élevée / pour la qualité élevée przykład dobregoG E N zachowaniaG E N / naauf dobre zachowanie przyczyna wizytyG E N cena jednego chlebaG E N / zafür jeden chleb program konferencjiG E N / naauf konferencję przepis naauf babkę symbol pokojuG E N znak dobrejG E N jakościG E N jó viselkedés példájaP O S S / egy példa (a) jó viselkedésreS U B a látogatás okaP O S S / ok a látogatásraS U B egy kenyér áraP O S S a konferencia programjaP O S S egy sütemény receptjeP O S S / recept egy süteményhezA L L a béke jelképeP O S S a magas minőség jeleP O S S

1666

D Nominale Syntagmen

D4.3 Referentielle Modifikation: Varianz zwischen adpositionalen und possessiven Attributen Aus dem Bereich der nicht-argumentrealisierenden referentiellen Modifikation soll an dieser Stelle der Bereich der Lokation herausgegriffen und in seiner inter- und intralinguistischen Varianz zwischen der Realisierung als possessives und adpositionales Attribut dargestellt werden. Possession und Lokation liegen nah beieinander, u. a. indem die Lokation ein bedeutender Quellbereich zum Ausdruck possessiver Relationen ist (→ D3.2.1), der gemeinsame Funktionsbereich ist der Ausdruck eines TeilGanzes-Verhältnisses. Im Koreanischen z. B. erhalten possessive und lokativische Attribute dieselbe Markierung, den Genitiv; die Belebtheit des genitivmarkierten Elements entscheidet über eine possessive oder lokale Lesart (Shin 2004: 64):  



(94) KOR

өntөk wi-ʉi cip Hügel Oberseite-GEN Haus ,Haus auf dem Hügel‘ (ebd.)

(95) KOR



namca-ʉi cip Mann-GEN Haus ,das Haus des Mannes‘ (ebd.) DEM

Im Deutschen besteht eine Variation zwischen Genitivattributen und Adpositionalphrasen lokaler Bedeutung, die sich eher als stilistische Präferenz charakterisieren lässt, „wobei sich bei der Variante mit Präposition immer ein Plus an Information konstatieren läßt, das jedoch nicht wesentlich erscheint“ (Lauterbach 1993: 169). Beispiele für den Ausdruck eines partitiven Verhältnisses mittels lokaler Präpositionen, die ohne Weiteres durch die genitivische Ausdrucksweise ersetzt werden können (bzw. umgekehrt), sind (nach Lauterbach 1993: 145, 154, 168): (96)

die Knöpfe an meinem Sonntagsanzug (Christoph Hein) / die Knöpfe meines Sonntagsanzugs

(97)

in einem Garten der Wiener Vorstadt (Stefan Zweig) / in einem Garten in der Wiener Vorstadt

(98)

Veränderungen in den Beziehungen / Veränderungen der Beziehungen

Zunächst geht es hier um Ausdruckspräferenzen, kaum um Fragen der Grammatikalität, subtile semantische Unterschiede lassen sich teilweise konstatieren, dazu Lauterbach (1993: 169):

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

1667

Während in der Verbindung mit Genitivattribut das Denotat des Substantivs im attribuierenden Teil zur Gänze, holistisch, bezeichnet wird, ist dies in der Variante mit PP nicht der Fall. Nicht die Beziehungen in ihrer Gänze unterliegen Veränderungen, sondern nur „etwas in den Beziehungen“ wird verändert.

Dieser mehr oder weniger freien Varianz sind einzelsprachlich Grenzen gesetzt. Diese Grenzen verlaufen einzelsprachlich unterschiedlich und sind (in Anlehnung an Campe 1998, 1999) mit folgenden Stichpunkten verbunden: Inhärenz, Holizität, Stabilität/ Permanenz. Je stärker diese Eigenschaften ausgeprägt sind, umso stärker wird die possessive Ausdrucksweise (im Deutschen wie in den Kontrastsprachen) bevorzugt. Das Kriterium der Inhärenz bezieht sich in erster Linie auf relationale Substantive, hier sind die adpositionalen Varianten als quasi ungrammatisch einzustufen, im Deutschen (Campe 1998: 342) wie auch in den Kontrastsprachen: (99) ENG FRA POL UNG

der Gipfel des Vulkans / *der Gipfel auf dem Vulkan the peak of the volcano / *the peak on the volcano le sommet du volcan / *le sommet au volcan szczyt wulkanuG E N / *szczyt naauf wulkanie a tűzhányó csúcsaP O S S / *a csúcs a tűzhányón

Inhärenz kann durchaus als „graduelles“ Phänomen betrachtet werden (Campe 1998: 342): Bei unter Umständen abtrennbaren Teilen eines Ganzen ist die adpositionale Variante nicht gänzlich undenkbar (vgl. (100)): (100) ENG FRA POL UNG

das Dach des Haus / ?das Dach auf dem Haus (immerhin vier D E R E K O Belege, 09.10.2015) the roof of the house / ?the roof on the house le toit de la maison / ?le toit à/sur la maison dach domuG E N / ?dach naauf domu a ház tetejeP O S S / ?a tető a házonS U P

Besteht eine Alternierungsmöglichkeit zwischen possessivem und adpositionalem Attribut, können beiden Varianten unterschiedliche Lesarten zugrunde liegen: Bei Wahl der possessiven Variante, wird eine inhärente Lesart nahegelegt. Campe (1998: 345) legt an folgendem deutschen Beispiel dar, dass die Wahl der genitivischen Variante impliziert, dass die Menschen oder Tiere permanente Bewohner der Insel/ des Waldes sind (sie „gehören“ zu der Insel oder dem Wald; hier ist dann der Weg zur klassifikatorischen Modifikation gegeben), während die adpositionale Variante offenlässt, ob sie sich u. U. nur kurzfristig bzw. zufällig dort befinden. Im Französischen indessen hat sich in einigen Fällen die adpositionale Variante als Ausdruck der klassifikatorischen Modifikation durchgesetzt (auch → D4.5).  

1668

(101) ENG FRA POL UNG

D Nominale Syntagmen

die Tiere des Waldes (= ,Waldtiere‘) / die Tiere im Wald, die Menschen der Insel / die Menschen auf der Insel the animals of the forest / the animals in the forest, the people of the island / the people on the island les animaux de la forêt / les animaux en forêt ,Waldtiere‘ zwierzęta lasuG E N / zwierzęta win lesie az erdő állataiP O S S – az állatok az erdőbenI N E

Ist eine Teil-Ganzes-Beziehung als holistisch (vgl. ,Rektor‘ gegenüber ‚Professor‘ bezogen auf eine Universität) charakterisiert, ist die adpositionale Variante dispräferiert bis hin zur Ungrammatikalität. Dies ist über alle Vergleichssprachen hinweg zu konstatieren: (102) ENG FRA POL UNG

der Rektor der Universität Köln / ?der Rektor an der Universität Köln (+Holizität) (Campe 1998: 350) the rector of Cologne university / ?the rector at Cologne university le recteur de l’Université de Cologne / ?le recteur à l’Université de Cologne rektor Uniwersytetu Kolońskiego / ?rektor na Uniwersytecie Kolońskim a kölni egyetem rektoraP O S S / ?a rektor a kölni egyetemenS U P

Die Beziehung zwischen einem Professor und seiner Universität ist hingegen nicht als „einzigartig“ zu bewerten, demnach wird die adpositionale Variante bevorzugt (ebd.), ohne dass die possessive Variante ausgeschlossen wäre: (103) ENG FRA POL UNG

Professor der Universität Köln / Professor an der Universität Köln professor of Cologne university / professor at Cologne university professeur de l’Université de Cologne / professeur à l’Université de Cologne profesor UniwersytetuG E N KolońskiegoG E N / profesor naan Uniwersytecie Kolońskim a kölni egyetem professzoraP O S S / professzor a kölni egyetemenS U P

Die Relation zwischen Kopf und Modifikator (in Campes Terminologie „Landmarke“ und „Trajektor“) kann auch sekundär, z. B. über einen Superlativ, als „einzigartig“ ausgewiesen sein. Dann wird ebenso die possessive Variante bevorzugt (ebd.), durch diesen Superlativ wird quasi eine Inhärenzbeziehung erzeugt (ebd.: 346):  

(104)

er ist der mächtigste Professor der / ?an der ganzen Universität Köln (+Holizität)

Allgemein besteht jedoch im Falle von Nominalphrasen mit superlativischem Adjektiv eine freie Variation zwischen beiden Ausdrucksvarianten: (105)

die größte Stadt in Europa ~ die größte Stadt Europas

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

(106) ENG

1669

Europe’s largest city ~ the largest city in Europe

Die ,Permanenz‘ bzw. ,Stabilität‘ der Beziehung ist wesentliche Voraussetzung für die possessive Ausdrucksweise, so ist erwartbar, dass eine zufällige bzw. ungewöhnliche Relation (ebd.: 346 f.) bevorzugt mittels lokaler Präpositionen ausgedrückt wird und der possessive Ausdruck dispräferiert ist. Subtile Unterschiede in der Akzeptabilität von Ausdrücken sind durchaus zu beobachten, bedingt sind diese durch den Grad der Stabilität der Beziehung.  

(107)

die Kerzen auf der Torte – ?die Kerzen der Torte  

Ist die Rede von einer „Geburtstagstorte“, ist die Akzeptabilität der possessiven Variante deutlich größer (vgl. Campe 1999: 328, Fn. 32), die Relation zwischen Kerzen und Torte wird hier als stabiler empfunden. Im Französischen ist hier kein Unterschied auszumachen, das possessive Attribut ist immer akzeptabel; im Polnischen wirkt die genitivische Variante ungewöhnlich, mit dem Ausdruck „Geburtstag“ aber vergleichbar dem Deutschen noch am ehesten akzeptabel:  

(108) ENG FRA POL UNG

die Kerzen auf der Geburtstagstorte / die Kerzen der Geburtstagstorte the candles on the (birthday) cake / the candles of the (birthday) cake les bougies du gâteau (d’anniversaire) świeczki naauf (urodzinowym) torcie / ?świeczki tortuG E N (urodzinowegoG E N ) a (születésnapi) torta gyertyáiP O S S / a gyertyák a (születésnapi) tortánS U P

Um „ungewöhnliche Relationen“ handelt es sich im besonderen Maße, wenn Entitäten wie ,Riss‘, ‚Lücke‘, ,Wunde‘ involviert sind. Von deren Existenz ist quasi „erwünscht“, dass sie nur vorübergehender Natur ist. Den adpositionalen Varianten wird hier klar der Vorzug gegeben. In den Kontrastsprachen, und dabei im besonderen Maße im Französischen, sind die possessiven Varianten eher akzeptabel.

ENG FRA POL UNG

Lücke im Gesetz / in der Gesetzgebung (359 Belege) / ?Lücke des Gesetzes (4 Belege in D E R E K O , 06.10.2015) loophole in the law / ?loophole of the law lacune dans la législation / lacune de la législation luka win przepisach / ??luka przepisówG E N lyuk a törvénybenI N E / ?a törvény lyukaP O S S

(110) ENG FRA

Loch im Zaun (443 Belege) / ?Loch des Zauns (3 Belege in D E R E K O , 06.10.2015) gap in the fence / ?gap of the fence brèche dans la clȏture / ?brèche de la clȏture

(109)



1670

D Nominale Syntagmen

POL UNG

luka win ogrodzeniu / ??luka ogrodzeniaG E N lyuk a kerítésenS U P / a kerítés lyukaP O S S

(111) ENG FRA POL UNG

Wunde am Kopf / *Wunde des Kopfes wound on/to the head / *wound of the head plaie à la tête / plaie de la tête rana naauf głowie / rana głowyG E N seb a fejenS U P / a fej sebeP O S S

D4.4 Qualitative Modifikation durch adpositionale Attribute Als grundlegende Dimensionen der qualitativen Modifikation sind zu nennen (vgl. Dixon 1977): Material (material), Alter (age), Wert (value), menschliche Neigung/ Eigenschaft (human propensity), Gewicht (weight), Höhe (height), Weite (width). In allen diesen Dimensionen sind im Deutschen possessive Attribute gebräuchlich (→ D3.11, auch Zifonun 2005a, 2010a), und zwar überwiegend mit von eingeleitete Adpositionalphrasen, nur in der „Eigenschafts“-Dimension und auch dann nur bei adjektivischer Erweiterung sind Genitivphrasen möglich. Possessive Attribute sind ebenso im Englischen, Französischen und Polnischen gebräuchlich, im Polnischen beschränkt auf Eigenschaftszuschreibungen, im Falle der anderen Dimensionen ist wie auch im Ungarischen die adjektivische Realisierung die Strategie der Wahl. Die von-Phrasen im Deutschen sind teils durch spezifischere Adpositionalphrasen abgelöst worden, bei Materialangaben durch aus-Phrasen (Zifonun 2010a: 134). Im Englischen werden die spezifischen Präpositionen out of und from zwar in adverbialer Verwendung zur Materialangabe genutzt, in attributiver Funktion sind sie ungebräuchlich, nur vermittels eines partizipialen Anschlusses erscheinen sie auch adnominal: (112) ENG

?furniture

out of oak, ?furniture from oak, furniture made out of oak, furniture made from oak ,Möbel aus Eichenholz‘

Für die Dimensionen Alter, Wert, Gewicht, Höhe ist die Ausdrucksweise mit von weiterhin fest etabliert, die Alternative über die Präposition mit ist in gegenwartssprachlichen Texten auch belegt (113), viel typischer ist eine solche mit-Phrase in der Funktion eines adverbalen Supplements (114). (113)

Das Problem ist: Das Spiel des Lebens spielt nach anderen Regeln. Und ein Mann mit 39 Jahren sollte ein Haus gebaut, einen Baum gepflanzt und Kinder gezeugt haben. (Braunschweiger Zeitung, 07.05.2011)

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

(114)

1671

Auch ihr 20-jähriger Sohn dürfte theoretisch mitmachen: „Wir drohen, ihn anzumelden, wenn er eine unsympathische Freundin mitbringt“, sagt sie und lacht. Sie selbst hat ihren Mann mit 17 Jahren im Fasching kennengelernt. (Mannheimer Morgen, 16.04.2011)

Abgesehen von der Dimension Alter ist für die mit-Konstruktion die Nennung des „Dimensions“-Substantivs (Gewicht, Wert etc.) präferiert, für Wertangaben sogar obligatorisch: (115)

ein Mann mit 100 Kilogramm Gewicht, ein Mann mit einem Gewicht von 100 Kilogramm, ein Mann mit 100 Kilogramm  

(116)

eine Banknote mit einem Wert von 100 Euro, *eine Banknote mit 100 Euro

mit-Phrasen sind im Deutschen auch in die Domäne der Eigenschaftszuschreibungen vorgedrungen. Diese Alternanz zwischen einem Genitivus Qualitatis und der Präposition mit stellt auch die Duden-Grammatik (2009: 830) fest, der Genitiv wird dabei als gehoben charakterisiert: (117)

ein Mensch guten Willens ~ ein Mensch mit gutem Willen

Nicht jedes qualitative possessive Attribut erlaubt diese Alternanz; vgl. folgende Beispiele (aus Zifonun 2010a: 133): (118)

ein Mann (von) großer Bescheidenheit und Diskretion, ein Moment (von) großer Schönheit, Repräsentationsbauten (von) großer Eleganz

(119)

?/*ein

Mann mit großer Bescheidenheit und Diskretion, ?/*ein Moment mit großer Schönheit, ?/*Repräsentationsbauten mit großer Eleganz

(120)

ein Mann fester Überzeugungen / ein Mann mit festen Überzeugungen, Menschen unterschiedlicher Meinungen / Menschen mit unterschiedlichen Meinungen, eine Frau südländischen Aussehens / eine Frau mit südländischem Aussehen

mit-Phrasen sind offensichtlich nur dann zugelassen, wenn eine ‚haben‘-Relation vorliegt, somit auch eine Umformung in einen haben-Satz möglich ist: (121)

Der Mann hat feste Überzeugungen.

(122)

*Der Mann hat eine große Bescheidenheit.

1672

D Nominale Syntagmen

Enthält das von-Attribut hingegen ein deadjektivisches Substantiv, dessen zugrunde liegendes Adjektiv prädikativ in Bezug auf das Kopfsubstantiv verwendet werden kann, ist eine attributive mit-Phrase ausgeschlossen: (123)

eine Person von/*mit ungeheurer Attraktivität

(124)

Diese Person ist ungeheuer attraktiv.

Ist eine Variation zwischen mit- und von-Phrasen gegeben, so ist der Unterschied in erster Linie ein stilistischer. Eine Präferenz für die mit-Variante scheint in bestimmten Fällen dann zu bestehen, wenn das in der Adpositionalphrase enthaltene Substantiv über keine adjektivische Erweiterung verfügt: (125)

ein Politiker mit/?von Profil (vs. ein Politiker mit/von starkem Profil)

(126)

eine Sendung/ein Hotel mit/?von Niveau (vs. eine Sendung mit/von hohem Niveau)

In den Kontrastsprachen ist die ,mit‘-Strategie weniger bzw. gar nicht ausgeprägt: Das Ungarische nutzt für die qualitative Modifikation – bis auf wenige possessive Konstruktionen wie in az elvek embere ‚Mann von Prinzipien‘, a becsület embere ‚Mann von Ehre‘ – die adjektivische Strategie:  



(127) UNG

becsületesA D J ember ‚Mann von Ehre‘, jellemesA D J ember ‚Mann von Charaker‘, alattomos jelleműA D J ember ‚Mann von heimtückischem Charakter‘, színvonalas/magas színvonalúA D J előadás ‚Vortrag von (hohem) Niveau‘, idegen eredetűA D J férfi ‚Mann von fremder Herkunft‘

Das Polnische nutzt den Genitiv: (128) POL

człowiek duchaG E N ‚Mann von Geist‘, człowiek średniegoG E N wzrostuG E N ‚Mann mittlerer Größe‘

Ist eine adjektivische Erweiterung vorhanden, erfolgt die Anbindung in der Regel allerdings mittels der Präposition o ‚über‘ bzw. w ‚in‘ (bei Altersangaben): (129) POL

człowiek o silnym/słabym charakterze ‚Mann von/mit starkem/schwachem Charakter‘, człowiek o wielkich zdolnościach ‚Mann von großer Begabung‘, mężczyzna w średnim wieku ‚Mann mittleren Alters / im mittleren Alter‘

1673

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

In solchen Fällen ist die Präposition z ,mit‘ anstelle der Präposition o zwar prinzipiell möglich, wird aber als umgangssprachlich gewertet. Auch wenn keine adjektivische Erweiterung vorliegt, ist z möglich, die Verteilung entspricht dann der im Deutschen: (130) POL

człowiek z zasadami ‚Mann von/mit Prinzipien‘, człowiek z głową ‚Mann von Geist‘, człowiek z charakterem ‚Mann von Charakter‘

Zum Englischen stellt Hößelbarth (1981) in seiner Studie zu of-Konstruktionen anhand von Übersetzungen aus dem Englischen ins Deutsche heraus, dass eine possessive Struktur im englischen Original in der deutschen Übersetzung als mit-Phrase wiedergegeben wird, obwohl durchaus eine possessive Variante auch im Deutschen – wenn auch stilistisch gehobener – zur Verfügung stünde:  



(131) ENG

DEU

a man of imagination, a man of property (Graham Greene, The Comedians, zit. nach Hößelbarth 1981: 100), birds of the same plumage (Graham Greene, The Comedians, zit. nach Hößelbarth 1981: 62), an area of small houses and abandoned gardens (Graham Greene, The comedians, zit. nach Hößelbarth 1981: 75) Übersetzungen: ein Mensch mit Phantasie, ein Mann mit Grundbesitz, Vögel mit gleichem Gefieder, eine Gegend mit kleinen Häusern und vernachlässigten Gärten (Greene-DEU: 44, 64, 157, 104)

Alternative ,mit‘-Phrasen sind im Englischen wie auch im Französischen teils möglich, aber weniger präferiert; eher sind sie noch üblich bei adjektivisch erweiterten Attributen. (132) ENG FRA

a man of principle / a man with principles ,ein Mann von/mit Prinzipien‘, a man of character ,ein Mann von Charakter‘, a man with a bad reputation ,ein Mann mit einem schlechtem Ruf‘ un homme de principes / homme à principes (weniger üblich) / homme avec des principes (weniger üblich) ,ein Mann von/mit Prinzipien‘, un homme de caractère ,ein Mann von Charakter‘, un homme de/avec un mauvais caractère ,ein Mann mit einem schlechten Charakter‘, un hôtel de haut niveau / hôtel avec un haut niveau ,ein Hotel von/mit hohem Niveau‘

Attribute dieser Art sind teilweise auch schon recht nah an einer TEIL - GANZES -Relation (→ D4.5). Auch hier besteht im Deutschen eine Alternanz zwischen possessiven und mit-Attributen. Diese Alternanz ist ebenso in den Kontrastsprachen anzutreffen, wobei sich das Ungarische wie zu erwarten am restriktivsten in Bezug auf die adpositionale Variante zeigt. Belege mit einem durch den Instrumental markierten Attribut lassen sich zwar finden, werden von Muttersprachlern jedoch als abweichend charakterisiert:

1674

(133) DEU

ENG FRA POL

D Nominale Syntagmen

a. ein Strauß roter Rosen / ein Strauß mit roten Rosen b. eine Wohnung mit drei Zimmern / eine Wohnung von drei Zimmern c. ein Haus von drei Etagen / ein Haus mit drei Etagen a. a bunch of/with red roses b. an apartment of/with three bedrooms c. a house of/with three storeys a. un bouquet de roses rouges b. un appartement à/de / (weniger üblich) avec trois pièces c. une maison de/à/avec trois étages a. bukiet czerwonychG E N . P L różG E N . P L / bukiet zmit czerwonymi różami b. mieszkanie trzypokojoweA D J / mieszkanie zmit trzema pokojami c. dom zmit trzema piętrami a. csokor vörös rózsa (~ csokor vörös rózsávalI N S ) b. háromszobásA D J lakás (~ lakás három szobávalI N S ) c. háromemeletesA D J ház (~ ház, három emelettelI N S )  







UNG





Sind im Polnischen die Substantive im Attribut noch durch Adjektive erweitert (wie in DEU eine Wohnung mit hohen Decken), ist als alternative Anschlussmöglichkeit wieder die über die Präposition o möglich, das Attribut hat dann eindeutiger qualitativen Charakter.

Der entscheidende Unterschied zwischen ,mit‘-Phrasen und den alternativen Strukturen ist: ,mit‘-Phrasen machen keine Aussage darüber, ob die durch das Kopfsubstantiv bezeichnete Entität allein aus den durch ,mit‘ angeschlossenen Bestandteilen besteht. Bei appositiven und possessiven Realisierungen wie ein Strauß rote Rosen / ein Strauß von roten Rosen / ein Strauß roter Rosen ist eindeutig, dass der Strauß nicht auch noch weiße oder gelbe Rosen enthält. Die Struktur mit mit ist im Deutschen offenkundig auf dem Vormarsch, für die Beispielphrase „Wohnung/Haus von […] Zimmern“ finden sich in D E R E K O ausschließlich Belege mit historischem Bezug: (134)

Es enthält außer dem sehr geräumigen Kellergeschoss im Erdgeschoss zwei schöne helle Lehrzimmer und einen Lehrsaal, der auch als Klassenzimmer benutzt worden ist; im mittleren Stock eine sehr anständige Wohnung von sechs Zimmern mit einer vortrefflich eingerichteten Küche für den Direktor; im Dachgeschoss eine zweite, ebenso große Wohnung für den zweiten Lehrer; […]. (Rhein-Zeitung, 23.05.2003)

Gegenwartssprachliche Belege für von-Phrasen in diesem Bereich weisen darauf hin, dass die Angabe eines Maßes (in den Beispielen die Angabe der Höhe) im Vordergrund steht, für entsprechende mit-Phrasen (138) gilt dies nicht (bzw. weniger): Das durch mit angeschlossene Attribut ist eher als Ausstattungsmerkmal zu verstehen. (135)

Auf hoch erhobenen Händen schwebte schwankend eine riesige Torte von mehreren Etagen herein. (St. Galler Tagblatt, 23.02.2009)

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

1675

(136)

„Round about 10.000 Euro Kosten” verursache die Abwahl, sagt Harri Kühn. Er ist Sprecher der Stadtverwaltung und sitzt in einem Büro im Rathausturm, ein ans flache Haupthaus Ende der 50er-Jahre angebauter unschöner Klotz von sieben Etagen, verklinkert, mit Uhr. (die tageszeitung, 13.10.2007)

(137)

Vom Akropolis-Berg sieht man die Schwimmbäder der Penthäuser glitzern. Im Jachthafen von Athen liegen schwimmende Prunkschlösser von vier Etagen. (Die Zeit (Online-Ausgabe), 30.06.2011)

(138)

Für seine quirligen Bewohner kann der Käfig gar nicht groß genug sein. Die kletterfreudigen Nager benötigen einen Rattenkäfig mit mehreren Etagen, Sitzbrettern, Schlafhäuschen und Kuschelecken, die mittels Treppen, Seilen, Ästen oder Leitern verbunden sind. (Niederösterreichische Nachrichten, 07.10.2008)

In die Nähe der Numerativkonstruktionen bzw. der Quantifikation sind ‚mit‘-Phrasen zu stellen, die eine Behälter-Inhalt-Relation ausdrücken. Diese Phrasen stellen somit eine Alternative zum „Teilungsgenitiv“ dar, bzw. zur pseudo-partitiven Apposition, die bei fehlender adjektivischer Erweiterung des Attributs den Genitiv weitgehend verdrängt hat (ein Glas Wasser, *ein Glas Wassers, aber noch: ein Glas kalten Wassers). Der pseudo-partitive Genitiv bzw. die Apposition ist beschränkt auf typische Maße bzw. beschränkt auf den typischen „Behälter“: ein Glas Wasser, aber nicht *ein Schwimmbecken Wasser, so stellen Borschev/Partee (2004: 29) in Bezug auf das Russische fest, bei ,mit‘-Phrasen besteht eine solche Einschränkung nicht. Auch durchaus für bestimmte Gegenstände typische Behälter (wie Vase) sind im Deutschen für possessive Attribute bzw. die pseudo-partitive Apposition nicht zugänglich, Sprecherurteile schwanken hier aber: (139)

ein Glas mit Wasser / *ein Glas von Wasser, ein Korb mit Obst / ein Korb Obst / ?ein Korb von Obst, eine Vase mit roten Rosen / ?eine Vase roter Rosen / eine Vase von roten Rosen, ein Regal mit Büchern / ?ein Regal Bücher / ein Regal von Büchern  

(140)

Hirose Takashi hat ein ganzes Regal Bücher geschrieben, meist über die Atomindustrie und den militärisch-industriellen Komplex. (Internet)

Das Englische und Französische bevorzugen possessive Attribute, schließen ,mit‘Phrasen aber nicht völlig aus. Im Polnischen ist auch nur für typische „Behälter“ die possessive Struktur die Struktur der Wahl. Ansonsten steht auch hier die ,mit‘-Strategie zur Verfügung:

1676

(141) ENG FRA POL

D Nominale Syntagmen

a. a glass of water b. a basket of fruit / a basket with fruits (üblicher: a basket with fruit in it) c. a vase of red roses / a vase with red roses a. un verre d’eau / un verre avec de l’eau b. une corbeille de fruits (selten: avec des fruits) c. un vase de roses rouges / un vase avec (des) roses rouges a. szklanka wodyG E N / szklanka zmit wodą b. kosz owocówG E N . P L / kosz zmit owocami c. ?wazon czerwonych różG E N . P L / wazon zmit czerwonymi różami  





Im Ungarischen wird die appositive Struktur genutzt. Die ,mit‘-Strategie ist marginal vertreten, wird von den Sprechern in der Akzeptabilität auch unterschiedlich bewertet. (142) UNG

egy tál gyümölcs / egy tál gyümölcsökkelI N S ,eine Schüssel Obst / eine Schüssel mit Obst‘

An Übersetzungstexten lässt sich gut zeigen, welche Strategie jeweils die präferierte ist: Englische of-Konstruktionen im Bereich der Behälter-Inhalt-Relation werden – so stellt Hößelbarth (1981) fest – regulär in mit-Phrasen umgeformt.  



(143) ENG

a vase of fresh daffodils (Barry Hines, zit. nach Hößelbarth 1981: 66), a plate of bacon and egg (Sillitoe, zit. nach Hößelbarth 1981: 118), the plates of biscuits (C. P. Snow, zit. nach Hößelbarth 1981: 118) Übersetzungen (zit. nach Hößelbarth 1981): eine Vase mit frischen Narzissen, ein Teller mit Speck und Eiern, die Teller mit Gebäck  

DEU

Gerade okkasionelle Phrasen geben Auskunft über die Präferenz der einzelnen Strategien in den Vergleichssprachen. Dies mag ein Übersetzungsbeispiel aus einem Roman von Mankell verdeutlichen. Das schwedische Original bietet eine ‚mit‘-Phrase an: (144) SWE

Han skickar två bussar med rekryter klockan sju. ,Er schickt um 7 zwei Busse mit Rekruten.‘ (Mankell-SWE: 54)

Aus der Gruppe unserer Vergleichssprachen belässt es allein das Deutsche bei einer solchen ,mit‘-Phrase: (145)

zwei Busse mit Rekruten (Mankell-DEU: 64)

Die Kontrastsprachen wählen jeweils die possessive Struktur (mit einer abweichenden Konzeptualisierung im Englischen: ,Busladungen‘ statt ,Busse‘) bzw. im Falle des Ungarischen eine quantifikative Adjektivbildung; trotz des untypischen „Behälters“ steht hier also der Quantifizierungsaspekt im Vordergrund:

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

(146) ENG FRA POL UNG

1677

two bus-loads of conscripts (Mankell-ENG: 46) deux cars de recrues (Mankell-FRA: 61) dwa autobusy poborowychG E N . P L (Mankell-POL: 56) kétbusznyiA D J kiskatonát (Mankell-UNG: 56)

D4.5 Klassifikatorische (und qualitative) Modifikation: Durch adpositionale Attribute realisierte semantische Relationen Für den Bereich der nicht-referentiellen Modifikation lassen sich Tendenzen aufzeigen, welche semantischen Relationen in den einzelnen Sprachen vorzugsweise mithilfe von Adpositionalphrasen realisiert werden. Wir wollen hier angesichts der unklaren Ergebnisse der diagnostischen Tests nicht nach klassifikatorischer und qualitativer Modifikation differenzieren – von Koptjevskaja-Tamm (u. a. 2004a) wird dieser Bereich auch zusammenfassend als ‚non-anchoring‘ bezeichnet –, intuitiv wird man dennoch einzelne Bildungen recht eindeutig dem einen oder anderen Typ zuordnen können. In den meisten Fällen stehen generell auch alternative Ausdrucksvarianten zur Verfügung, so die Kompositabildung als Prototyp zum Ausdruck klassifikatorischer Modifikation oder die Verwendung von Adjektiven als Prototyp zum Ausdruck qualitativer Modifikation. In diesem Abschnitt thematisiert werden semantische Relationen, die nicht als Argumente behandelt werden. Syntaktisches Kennzeichen der hier behandelten Bildungen und damit Kennzeichen ihrer Nicht-Referentialität ist u. a. die syntaktische Defektivität (fehlender Artikel innerhalb der PP in Artikelsprachen). Betrachtet werden sollen hier die folgenden Relationen: KONSTITUTION , LOKATION , ZWECK , URSACHE , INSTRUMENT . KONSTIT UTION umfasst ein weites Spektrum spezifischerer RelatioDer Terminus KONSTITUTION nen, darunter die Relationen FORM , MUSTER , MATERIAL sowie die sogenannten KOMITATIV -Relationen (dazu gehören ORNATIV , KOMBINATION , TEIL - GANZES ), deren Subsumierung unter einen einheitlichen Begriff auch ihre Parallele im sprachlichen Ausdruck hat. In vielen europäischen Sprachen kommt eine Adposition mit der Bedeutung ‚mit‘ für alle diese komitativischen Relationen zum Einsatz. Eine Charakterisierung dieser spezifischeren KOMITATIV -Relationen bieten Stolz/Stroh/Urdze (2006: 42 f.):  









(can be labeled as ‘temporary property’ as an alternative): is described as a temporary bodily property of an animate participant

ORNATIVE

PART - W HOLE

relationship (alternatively, permanent property): concerns two entities (not necessarily of identical animacy) that are permanently associated with each other; the one cannot normally be conceived without the other; typically, one entity is an integral part of the other

1678

D Nominale Syntagmen

COM BINATION : two prototypically inanimate entities occur in more or less conventionalized (but COMBINATION dissolvable) combinations which may be asymmetrical, and thus one of the entities is seen as super-ordinate to the other

Im vorausgehenden Kapitel wurden diese komitativischen Relationen bereits speziell unter dem Gesichtspunkt der Alternanz zwischen adpositionalen und possessiven Realisierungen betrachtet, hier folgt eine Darstellung unter Einbezug weiterer Ausdrucksmöglichkeiten, der Kompositabildung und der adjektivischen Realisierung. ANZES -Beziehung, zu deren Ausdruck Adpositionen mit der Zunächst zur TEIL - GGANZES Bedeutung ‚mit‘ im Deutschen, Englischen und Polnischen verwendet werden. Im Polnischen steht die Präposition z ,mit‘ teils als umgangssprachliche Variante der schriftsprachlichen Variante mit o gegenüber. Diese Alternanz betrifft allerdings nicht alle Ausdrücke. (147) DEU ENG POL

a. Herr mit Schnurrbart b. Mädchen mit langen Haaren c. Hemd mit langen Ärmeln d. Mantel mit Kapuze e. Mütze mit Schirm a. man with a moustache b. girl with long hair c. shirt with long sleeves d. coat with a hood e. cap with a peak a. pan zmit wąsami b. dziewczyna zmit długimi włosami / dziewczyna o długich włosach c. koszula zmit długimi rękawami d. kurtka zmit kapturem e. czapka zmit daszkiem  





Das Französische macht hier i. d. R. Gebrauch von der Präposition à, z. T. in Variation mit avec ,mit‘:  

FRA





a. homme à la moustache / avec moustache b. fille aux cheveux longs / avec des cheveux longs c. chemise à/avec manches longues d. manteau à/avec capuchon e. casquette à/avec visière  

Ausnahme unter den Kontrastsprachen ist das Ungarische, das hier keine adnominalen Adpositionalphrasen zulässt, sondern immer eine adjektivische Realisierung des Modifikators verlangt: UNG

a. bajuszosA D J úr b. hosszú hajúA D J lány c. hosszú ujjúA D J ing d. kapucnisA D J kabát e. ellenzősA D J sapka  

Die adjektivische Realisierung steht bis auf die Ausnahme des Französischen auch in den anderen Sprachen zur Verfügung. Dort ist sie teils auch gebräuchlicher als die adpositionale Variante, dies scheint für das Englische zuzutreffen. Im Deutschen variiert die Bevorzugung einer bestimmten Realisierungsmöglichkeit u. U. von Wortverbindung zu Wortverbindung (bzw. von Kontext zu Kontext).  

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

(148) ENG

1679

a. moustached man b. long-haired girl c. long-sleeved shirt d. hooded coat e. peaked cap a. schnurrbärtiger Herr b. langhaariges Mädchen c. langärmeliges Hemd d. *kapuziger Mantel e. *schirmige Mütze a. pan wąsatyA D J b. długowłosaA D J dziewczyna  



DEU





POL



Zu beachten ist, dass die englischen Bildungen partizipialer Herkunft sind, was ihre Bedeutung ,versehen mit‘, die wenig adjektivischen Charakter hat, erklären mag. Im Deutschen vergleichbar wären damit die wenig produktiven Pseudopartizipien/ Scheinpartizipien (Duden-Grammatik 1995: 534) wie gestiefelt, geringelt, gestreift, gesternt, gehörnt, behelmt, behandschuht, bebrillt, bezopft, bemützt, bemoost etc., die ebenfalls allein die Bedeutung ‚versehen mit‘ transportieren. Die genannten ornativen Adjektive sind offenbar nur mit Adjektiv-Substantiv-Verbindungen als Basis uneingeschränkt zulässig (langärmelig – *ärmelig). Bildungen wie bärtig transportieren hingegen nicht einfach nur die ornative Bedeutung ‚versehen mit‘, sondern vermitteln eine stärker qualitative Komponente: Ein bärtiger Herr ist nicht einfach nur ein ‚Mann mit Bart‘, sondern eher ein Mann mit „viel“ Bart oder Vollbart, genauso wie davon auszugehen ist, dass in einem ‚narbigen‘ Gesicht nicht nur eine Narbe und in einer ‚bergigen‘ Landschaft nicht nur ein Berg ist. Uneingeschränkt produktiv ist diese Adjektivbildung auch auf Basis von Wortgruppen nicht; breitmündig, kurzbärtig sind zwar belegt, bleiben aber Okkasionalismen. Als weitere Alternative bietet das Deutsche, in gewissem Rahmen auch das Englische, die Kompositastrategie an, im Prinzip sind alle der genannten Ausdrücke auf diese Weise realisierbar: (149) DEU ENG

Schnurrbartherr, Langhaarmädchen, Langarmhemd, Kapuzenmantel, Schirmmütze hood coat ,Kapuzenmantel‘, peak cap ,Schirmmütze’

Bei menschlichen Referenten machen diese allerdings den Eindruck okkasioneller Bildungen. Naturgemäß kommt für terminiartige Begriffe (die eindeutig klassifikatorisch sind) das Kompositum zum Einsatz und ist dort auch die „natürlichere“ Variante (Schirmmütze, Kapuzenmantel), die adpositionalen Strukturen können bestenfalls als Umschreibungen gelten. Wichtig ist aber festzuhalten, dass eine Umschreibung mittels Adpositionalphrase zum Ausdruck dieser semantischen Relationen möglich ist, bei anderen Relationen ist dies ausgeschlossen. Vergleichbar sind Bezeichnungen für natürliche Arten, die mit Ausnahme des Französischen in keiner der Sprachen adpositionale Verbindungen zulassen (wieder bestenfalls als Umschreibung) und für die im Deutschen überwiegend die Kompositumvariante, in den anderen Sprachen die adjektivische Variante gewählt wird:

1680

(150) DEU ENG FRA POL UNG

D Nominale Syntagmen

Langhaardackel, Steinobst long-haired dachshund, stone fruit teckel à poil long, fruits à noyau jamnik długowłosyA D J , owoce pestkoweA D J hosszúszőrűA D J tacskó, csonthéjasA D J gyümölcs

Die Nachstellung des Adjektivs weist im Polnischen auf seinen klassifikatorischen Charakter, was bei Ausdrücken dieser Art auch zu erwarten ist. Für die zuvor genannten Verbindungen sind die Verhältnisse nicht ganz so eindeutig, der Gebrauch schwankt zwischen Vor- und Nachstellung des Adjektivs.

Für die TEIL - GANZES G ANZES -Beziehung lassen sich somit für jede Sprache recht eindeutige Ausdruckspräferenzen konstatieren, die teils auch sprachübergreifend in eine Richtung weisen: die weite Verbreitung der adjektivischen Realisierung, das Vorherrschen von Adpositionen der Bedeutung ,mit‘ bei der adpositionalen Realisierung. Für die ORNATIV -Relation ist das Bild weniger eindeutig, was auch daran liegen mag, dass der ORNATIV -Begriff zu unklar gefasst ist, u. U. ist die Bestimmung des Grads der Permanenz bzw. Temporarität, der wesentlich für die Unterscheidung der TEIL GANZES -Relation und der ORNATIV -Relation ist, schwierig zu realisieren. Das Bild, das die Sprachen sowohl sprachübergreifend als auch innersprachlich bieten, ist hier variantenreicher. Einzig das Ungarische hat hier mit der adjektivischen eine dominante Strategie aufzuweisen.  

(151) UNG

a. szemüvegesA D J férfi ‚Mann mit Brille‘ b. esernyősA D J férfi ‚Mann mit Regenschirm‘ c. bundásA D J nő ‚Frau mit/im Pelz‘  

Die adjektivische Strategie, die für die TEIL - GANZES G ANZES - Relation noch vorherrschend war, weicht hier der adpositionalen Variante, allerdings ohne eine festgelegte Adposition, G ANZES mit ,mit‘ bzw. à im Französischen gegeben ist, sondern je nach wie sie für TEIL - GANZES Semantik der abhängigen NP wird die ‚mit‘-Adposition oder eine Adposition mit lokaler Bedeutung gewählt. Die vorhandenen adjektivischen Bildungen im Deutschen und Englischen (bebrillt) können dahingehend interpretiert werden, dass hier ein höherer Grad an Permanenz vorliegt. DEU ENG FRA POL

a. Mann mit Brille / bebrillter Mann b. Mann mit Regenschirm c. Frau in/im/ mit Pelzmantel a. (be)spectacled man b. man with an umbrella c. woman in a fur coat a. homme aux lunettes b. homme avec le parapluie c. dame en fourrure a. pan win okularach b. mężczyzna zmit parasolką c. pani win futrze  

     

1681

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

Erwähnenswert erscheint die Beobachtung zum Deutschen, dass sich mit auf Verwendungen ausgedehnt hat, in denen eine äquivalente Adposition in den Kontrastsprachen nicht gebräuchlich ist (Frau mit Pelzmantel). Werden im Polnischen ,mit‘Bildungen in diesem Bereich verwendet, so ergeben sich klare Bedeutungsunterschiede: Ein pan zmit okularami ,Mann mit Brille‘ hat die Brille nicht aufgesetzt, sondern trägt sie anderweitig bei sich (bzw. hat sie nur in seinem Besitz), eine pani z futrem ‚Frau mit Pelz‘ hat auch diesen nicht angezogen, sondern trägt ihn u. U. über dem Arm. Kompositabildungen sind als Okkasionalismen zu werten, die im Erstglied transportierte „Eigenschaft“ erhält dann einen stark klassifikatorischen Charakter:  

(152) DEU ENG

Brillenmann, Regenschirmmann, Pelzdame; Brillenbär (als Fachterminus) glasses girl ,Brillenmädchen‘

KOMBINAT ION Die dritte unter den komitativischen Relationen, die unter den Begriff der KOMBINATION gefasst wird, ist wiederum durch eine sprachübergreifende Dominanz der adpositionalen Realisierung charakterisiert. Übereinzelsprachlich identisch ist auch die Bedeutung der zum Einsatz kommenden Adposition: ‚mit‘. Diesen Schritt geht hier sogar das Ungarische mit, das das Attribut im Instrumental realisiert. Als einzige Sprache weist hier das Ungarische mit der adjektivischen Strategie eine Alternative auf.

(153) DEU ENG FRA POL UNG

a. Zimmer mit Bad b. Tee mit Zucker c. Kaffee mit Sahne d. Vollmilchschokolade mit Haselnussfüllung a. room with bath b. tea with sugar c. (white coffee) d. milk chocolate with hazelnut filling a. chambre avec salle de bains b. thé avec du sucre / thé au sucre c. café avec de la crème / café au lait d. chocolat au lait avec fourrage noisette a. pokój zmit łazienką b. herbata zmit cukrem c. kawa zemit śmietanką d. czekolada mleczna zmit orzechowym nadzieniem a. szoba fürdőszobávalI N S / fürdőszobásA D J szoba b. tea cukorralI N S / cukrosA D J tea c. kávé habbalI N S / habosA D J kávé d. tejcsokoládé mogyorós töltelékkelI N S  











Komposita sind hier im Deutschen unüblich: (154)

?Badzimmer,

Zuckertee, Sahnekaffee (aber: Typ Milchkaffee)

Als weitere der umfassenden KONSTITUTION KONSTIT UTION -Relation zugeordneten Relationen sei nun die FORM -Relation behandelt: Aus deutscher Sicht würde man hier zunächst keine adnominalen Adpositionalphrasen vermuten, als Periphrasen von entsprechenden Komposita sind sie dennoch auch im Deutschen vorstellbar. Im Französischen und

1682

D Nominale Syntagmen

Polnischen stellen sie aber die konventionalisierten Varianten dar, quasi als „Ersatz“ für die fehlende Kompositabildung. Zum Einsatz kommt hier eine lokativische Adposition (FRA en, POL w), ebenso wie in möglichen deutschen Paraphrasen (Zucker in Würfeln / in Form von Würfeln). Von Fall zu Fall kommt in einzelnen Sprachen auch die Adjektivstrategie zum Einsatz. (155) DEU

ENG FRA

a. Pulverkaffee b. Würfelzucker c. Kugelblitz, d. Bohnenkaffee e. Stangenzimt, Stangenweißbrot, Stangensellerie f. Milchpulver g. Schokoladenflocken (Beachte, dass jeweils eine „Umkehrung“ der Benennungsrichtung gegenüber den englischen, französischen und polnischen Entsprechungen vorliegt.) a. powdered milk b. lump sugar c. ball lightning a. café en poudre b. sucre en morceaux c. foudre en boule d. café en grains f. lait en poudre g. chocolat en flocons; antenne en cornet ,Hornantenne‘, cabane en rondins ,Blockhütte‘ a. kawa win proszku b. cukier win kostkach c. piorun kulistyA D J d. kawa ziarnistaA D J e. seler naciowyA D J ,Stangensellerie‘ f. mleko win proszku a. porkávé b. kockacukor c. gömbvillám d. babkávé (~ szemesA D J kávé) f. tejpor  

   



POL UNG







Die MUST ER -Relation wird in den Sprachen, in denen die adpositionale Strategie zumindest als eine Variante vorgesehen ist, nach Vorbild einer komitativischen Relation konzeptualisiert, mit einer Adposition der Bedeutung ‚mit‘ bzw. im Französischen mit à, das auch bei den komitativischen Relationen zur Anwendung kommt. (156) DEU ENG FRA POL UNG

gestreifte Krawatte / Krawatte mit Streifen / Streifenkrawatte, karierter Mantel / ?Mantel mit Karos / Karomantel striped tie / tie with stripes (on it), checked coat cravate à rayures / cravate rayée, manteau à carreaux krawat win paski / pasiastyA D J , płaszcz win kratę / kraciastyA D J csíkosA D J nyakkendő, kockásA D J kabát

Bemerkenswerte Ausnahme ist hier das Polnische, das eine Adpositionalphrase mit direktionaler Bedeutung nutzt (w ‚in‘ + AKK ), die dazu produktiv und offen für Neubildungen ist (,in Schiffchen‘, ,in Sonnen‘). Derartig produktiv ist die deutsche ,mit‘Konstruktion nicht: Ein Kleid mit Sonnen / mit Schiffchen würde bevorzugt durch eine Lokalangabe erweitert (Kleid mit Sonnen d(a)rauf). Ansonsten ist in allen Sprachen die adjektivische Strategie vorherrschend bzw. steht als gleichwertige Alternative neben der Adpositionalphrase zur Verfügung (Polnisch, Französisch). Das Englische präferiert bei Nutzung der ,mit‘-Strategie auch bei frequenteren Mustern (wie ‚mit Streifen‘) eine Erweiterung durch eine Lokalangabe (on it), die MUST ER -Relation weist hier dadurch eine (nicht unmittelbar zu erwartende) formale Nähe zur – gemäß der  

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

1683

Terminologie von Heine (1997a) – inanimate alienable possession auf. Lokalangaben kommen hier auch bei prädikativer Possession zum Einsatz: ENG That table has three legs (inanimate inalienable possession), ?That table has three books (inanimate alienable possession), dafür That table has three books on it (ebd.: 191). Die Kompositabildungen des Deutschen vermitteln auch hier wieder den Eindruck okkasioneller Bildungen (Karomantel, Streifenkrawatte, selten ENG stripe shirt). Bei Termini bzw. festen Begrifflichkeiten, also Nominationseinheiten im Sinne von → A3, hingegen ist die Kompositabildung die Strategie der Wahl, adpositionale Fügungen sind hier ausgeschlossen, dies gilt in gleichem Maße für das Polnische, wo in diesem Fall die adjektivische Strategie zu wählen ist.  



(157) DEU ENG FRA POL UNG

Streifenhyäne, Brillenbär striped hyena, spectacled bear hyène rayée, ours à lunettes hiena pręgowanaA D J , andoniedźwiedź okularowyA D J csíkosA D J hiéna, pápaszemesA D J medve

NPs mit adpositionalen Attributen sind mit Ausnahme des Französischen kaum lexikalisiert. Für die MATERIAL -Relation sind im Deutschen Adpositionalphrasen mit der Adposition aus charakteristisch (die aus-Phrase hat erst im Laufe des 19. Jahrhunderts an dieser Stelle die von-Phrase abgelöst, vgl. Zifonun 2010a: 134). Semantisch äquivalent ist das polnische z ,aus‘, das englische Äquivalent from hingegen ist hier nicht in die Domäne des unspezifischeren of eingedrungen. Abgesehen davon sind Phrasen des Typs ENG plane of paper relativ unüblich, bevorzugt werden hier Partizipialphrasen plane made out of paper, wenn nicht gleich zum Kompositum gegriffen wird: paper plane, was ansonsten auch die präferierte Option im Deutschen und auch Ungarischen ist, wobei wir hier zunächst offenlassen, ob im konkreten Sprachgebrauch Blechschilder und Schilder aus Blech gleichwertig sind (vgl. Eichinger 2010: 102). Die Adjektivierung der Materialbezeichnung ist die Alternativstrategie im Polnischen, gleichfalls im Deutschen; Materialadjektive des Typs papieren, eisern, blechern liegen in ihrer Vorkommensfrequenz allerdings deutlich unter den anderen Strategien und sind u. U. in der Gegenwartssprache auf dem Weg zu reinen Qualitätsadjektiven (gebraucht in metaphorischer Bedeutung, in diesen Fällen fehlen dann erwartungsgemäß die Konkurrenzbenennungen in Kompositaform: *Eisenwille).  



Nach Trost (2006: 138) sind von dieser Polysemie allerdings nur „generalisierbare Stoffadjektive wie eisern, hölzern, golden, aber nicht spezifische Stoffadjektive wie messingen“ betroffen.

(158) DEU

Flugzeug aus Papier / Papierflugzeug / papiernes Flugzeug, Eimer aus Blech / Blecheimer / blecherner Eimer

1684

ENG FRA POL UNG

D Nominale Syntagmen

paper plane, metal bucket avion en papier, seau en fer-blanc samolot zaus papieru / papierowyA D J samolot, wiadro zaus blachy / wiadro blaszaneA D J papírrepülőgép, bádogvödör

Die semantische Relation LOKATION (im lokalen wie auch temporalen Sinne) kann in allen Sprachen mit Ausnahme des Ungarischen durch Adpositionalphrasen in klassifikatorischer Funktion ausgedrückt werden. Besonders ausgeprägt ist diese Strategie erwartungsgemäß im Polnischen und Französischen, wo keine Kompositabildung zur Verfügung steht. Typisch für derartige Phrasen ist generell, dass sie eine Reihe mit Komposita bilden: Urlaub auf dem Bauernhof, Strandurlaub, Badeurlaub, Wanderurlaub, … (159) DEU

a. Haus am See b. Urlaub auf dem Bauernhof c. Mann in den besten Jahren d. Eishockey e. Flaschenbier a. house by the lake / lake house b. holiday on the farm / farmhouse holiday c. man in his prime d. ice hockey e. bottled beer a. maison près du lac b. vacances à la ferme / tourisme rural c. homme dans la fleur de l’âge d. hockey sur glace e. bière en bouteille a. dom naan jeziorze b. wypoczynek na wsi c. mężczyzna w najlepszych latach d. hokej na lodzie e. piwo butelkoweA D J f. manna na mleku ‚Grießbrei; wörtl. Grieß in Milch‘ g. worki pod oczami ‚Augenringe, Tränensäcke; wörtl.: Säcke unter den Augen‘ a. tópartiA D J ház b. falusiA D J turiszmus c. javakorabeliA D J férfi d. jégkorong e. üvegesA D J sör  

ENG



FRA POL

UNG



Für die Bezeichnung natürlicher Arten haben wir – zumindest in Hinblick auf das Deutsche – die Verwendung von Adpositionalphrasen ausgeschlossen. Ein Hinweis bei Marchand (1969: 122) zur „Bildung neuer lexikalischer Einheiten“ mittels syntaktischer Gruppen im Englischen führt zunächst in eine andere Richtung: Der Bildungstyp man in the street sei besonders ausgeprägt bei Pflanzen- und Tierbezeichnungen, vgl. die Beispiele ENG love-in-a-mist ‚Stinkende Passionsblume; Filziges Hornkraut‘, love-in-idleness ‚Wildes Stiefmütterchen‘, snow-in-summer ‚Filziges Hornkraut‘. Auch das Deutsche bietet derartige – volkstümliche – Benennungen für Pflanzen, die die Struktur N+PP aufweisen: Jungfrau/Braut in Haaren, Jungfer im Grünen, Gretchen/ Gretel im Busch ‚Schwarzkümmel, Nigella damascena‘, Dame in Trauer ‚Iris susiana‘, Frau in der Badewanne ‚Tränendes Herz, Dicentra spectabilis‘, Täubchen im Nest ‚Blauer Eisenhut, Aconitum napellus‘ (nach Carl 1957: 241). Als Gegenbeispiele zu der Annahme, für Bezeichnungen natürlicher Arten seien im Deutschen ausschließlich Kompositabildung und A-N-Verbindungen die Strategien der Wahl, können diese  







1685

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

nicht dienen. Es handelt sich hier um metaphorische Bildungen, die Metaphorisierung betrifft hier die gesamte Phrase, nicht nur den Modifikator wie z. B. in Herzkirsche. Vollmotivierte Benennungen der Art Hyäne mit Streifen, Dackel mit langem Haar bleiben fürs Deutsche (und unter Ausnahme des Französischen auch für die anderen Sprachen) ausgeschlossen. Die ZWECK -Relation, die durch Paraphrasen wie ,dienen zu etw.‘ bzw. ,schützen vor etw.‘ näher umschrieben werden kann, ist eine typische Domäne der Komposita im Deutschen, aber auch Englischen und Ungarischen. Im Französischen und Polnischen kommen hier hingegen Adpositionalphrasen zum Einsatz, die zum Teil auch die semantische Relation genau spezifizieren (POL do, na ,für‘ gegenüber od ,gegen‘), jedoch ist bei diesen vermeintlich spezifischen Präpositionen auch semantische Entleerung festzustellen (POL klucz od mieszkania ,Wohnungsschlüssel‘), die sich auch in der völligen Austauschbarkeit verschiedener Präpositionen äußert (POL klucz od mieszkania ~ klucz do mieszkania ,Wohnungsschlüssel‘, POL syrop od kaszlu ~ syrop na kaszel ,Hustensirup‘). PPs mit semantisch spezifischen Präpositionen sind auch im Deutschen jederzeit als Paraphrase möglich (die Paraphrasen benennen dann aber nicht zwangsläufig verschiedene Arten, wie es bei klassifikatorischen Modifikatoren der Fall ist).  

(160) DEU

a. Zahnbürste / Bürste für die Zähne b. Lesebrille / Brille zum Lesen c. Hustensaft / Saft gegen Husten d. Regenjacke / ?Jacke gegen den Regen e. Milchtopf a. toothbrush b. reading glasses c. cough syrup d. rainjacket e. milk pan a. brosse à dents b. lunettes pour lire / la lecture c. sirop (pour/contre la toux) d. cape de pluie e. casserole à lait a. szczoteczka do zębów b. okulary do czytania c. syrop od kaszlu / na kaszel d. kurtka od deszczu ~ na deszcz e. kubek do mleka f. lek na ból głowy ~ lek od bólu głowy ~ lek przeciwgegen bólowi głowy ,Kopfschmerzmittel‘ (Bartnicka et al. 2004: 454) a. fogkefe b. olvasószemüveg c. köhögés ellenigegen.A D J szirup d. esőkabát e. tejesfazék  



ENG FRA POL



UNG



Die URSACHE / GRUND -Relation kann prinzipiell in den Sprachen, in denen diese Strategie zur Verfügung steht, durch Komposita realisiert werden (Deutsch, Englisch, Ungarisch). Die adjektivische Strategie ist eine Option im Polnischen und Ungarischen. Die uns hier interessierende adpositionale Realisierung ist möglich im Deutschen (wenn auch teils nur als paraphrasierende Variante zum Kompositum, teils aber auch als unmarkierte Variante – Tod durch Ersticken), im Englischen (wo die Verhältnisse augenscheinlich ähnlich liegen wie im Deutschen), im Französischen (wo die Option mit der spezifisch kausalen Präposition par alterniert mit dem possessiven de) sowie Polnischen (mit den Präpositionen z ,aus‘ und przez ‚durch‘).  

1686

(161) DEU ENG FRA POL UNG

D Nominale Syntagmen

a. Kriegsschäden / Schäden durch Krieg b. Erstickungstod, Hungertod / Tod durch Ersticken/Hunger c. K.-o.-Sieg / Sieg durch K. o. a. war damage b. death from asphyxia/starvation c. victory by knock-out a. dommages de guerre b. mort par asphyxie/inanition c. victoire par KO a. szkody wojenneA D J b. śmierć zaus uduszenia / zaus głodu c. zwycięstwo przezdurch nokaut a. háborúsA D J kár b. fulladásosA D J halál / éhhalál c. kiütésesA D J győzelem

Die INSTRUMENT INST RUMENT - Relation ist in der Hinsicht singulär, dass die Ausdrucksmöglichkeit mittels Adpositionalphrase (für Konkreta, vgl. aber Abstrakta wie Reisen mit Bus und Bahn) im Deutschen nicht gegeben ist, die bloße Verknüpfung durch die Präposition mit ist ausgeschlossen, allenfalls durch die Einfügung weiterer Lexeme kann die Konstruktion „gerettet“ werden (Maschine mit Dampfantrieb). Komposita sind die Strategie der Wahl auch im Englischen und Ungarischen, Adjektive die im Polnischen. Einzig das Französische macht Gebrauch von Adpositionalphrasen, die Präposition à ist innerhalb der Nominalphrase das gängige Mittel zum Ausdruck des Instruments. (162) DEU ENG FRA POL UNG

Dampfmaschine / *Maschine mit Dampf (bestenfalls: Maschine mit Dampfantrieb), Handbremse / *Bremse mit der Hand steam engine, hand break machine à vapeur, frein à main maszyna parowa, hamulec ręczny gőzmozdony, kézifék

Zusammenfassend lässt sich in Bezug auf die behandelten semantischen Relationen folgendes konstatieren: Adnominale Adpositionalphrasen in nicht-referentieller Funktion sind im besonderen Maße im Französischen und Polnischen etabliert (dies sind zugleich die beiden Sprachen, in denen die Nominalkomposition wenig oder so gut wie nicht ausgeprägt ist), in vielen Fällen verfügen diese Sprachen über keine Alternativstrategie. Dies ist anders im Deutschen, Englischen und Ungarischen, wo mit der Komposition das Mittel der Wahl zum Ausdruck klassifikatorischer Modifikation stark ausgeprägt ist und die Adpositionalphrase nur ein Weg unter mehreren ist. Ungarisch repräsentiert den restriktivsten Fall, was adnominale NPs in nicht-referentieller Funktion betrifft: Beschränkt ist ihre Verwendung auf die Relation KOMBINATION , aber auch hier alternieren sie mit der adjektivischen Strategie, was in starkem Kontrast zu den anderen Sprachen steht, die für diese Relation ausschließlich Adpositionalphrasen zulassen. Eine Beobachtung darüber hinaus ist, dass (mit Ausnahme des Französischen) bei Bezeichnungen für natürliche Arten Adpositionalphrasen ausgeschlossen sind

1687

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

(vgl. auch den Hinweis von Donalies 2009: 66, dass Substantivphraseme, die ein Genitiv- bzw. ein Präpositionalattribut enthalten, „eher selten zur sachlichen Nomination“ verwendet werden). Die semantischen Relationen, in denen sprachübergreifend Adpositionalphrasen am etabliertesten sind, sind die unter dem Etikett KOMITATIV zusammengefassten, speziell die KOMBINATION - und ORNATIV -Relation bietet (mit Ausnahme des Ungarischen) kaum alternative Ausdrucksmöglichkeiten; anders die TEIL - GANZES -Relation, hier erscheint die adjektivische Strategie als die etabliertere.

D4.6 Quantifikation durch adpositionale Attribute In der Domäne der nominalen Quantifikation sind als Realisierungsstrategien possessive Attribute vorherrschend, im Ungarischen und Deutschen darüber hinaus die Juxtaposition (→ D5 und → A5). ,Numerativsubstantive‘ wie Anzahl, Menge fordern konstruktionell (in Numerativkonstruktionen) eine Ergänzung, diese ist im Deutschen auch appositiv/juxtaponiert möglich. Bei anderen Köpfen wie Reichtum, Mangel ist keine appositive Ergänzung möglich (*ein Reichtum Wissen). Strukturen dieser Art sind als Sonderfall von Argumentanbindung zu werten. Der Anschluss über die Präposition an kommt auch bei entsprechenden verbalen und adjektivischen Strukturen vor (Der Verein wächst an Mitgliedern / ist reich an Mitgliedern, Dem Verein mangelt es an Mitgliedern). Vereinzelt ist auch in den Kontrastsprachen eine nicht-possessive adpositionale Struktur anzutreffen (ENG increase, growth in; FRA richesse en; UNG fölösleg + Inessiv), das Polnische schließt adpositionale Anschlüsse hier aus – trotz des in etwaigen adjektivischen oder verbalen Entsprechungen anzutreffenden Anschlusses mit w ,in‘ (bogaty w ,reich an‘, obfitować w ,reich sein an‘).  

(163) DEU a. eine große Anzahl an guten Beispielen / von guten Bespielen / guter Beispiele / gute Beispiele (Duden-Grammatik 2009: 832) b. der Zuwachs an Mitgliedern c. der Vorrat an Ersatzteilen d. der Überfluss an Lebensmitteln e. ein Rest an Anstand f. der Rekord an Passagieren g. sein Reichtum an Wissen h. der Mangel an Mitgliedern ENG a. a large number of good examples b. an increase in, of / a growth in members c. a stock/supply of spare parts d. the abundance of food e. a least bit of decency  

1688

D Nominale Syntagmen

f. his wealth of knowledge; richness in mineral resources ,Reichtum an Bodenschätzen‘ h. the lack/shortage of members FRA a. un grand nombre de bons exemples b. surcroît des membres c. provision de pièces de rechange d. surabondance de denrées alimentaires f. record de passagers g. richesse en connaissances h. insuffisance/manque de membres POL b. przyrost członkówG E N . P L c. zapas częściG E N . P L zapasowychG E N . P L d. obfitość artykułówG E N . P L żywnościowychG E N . P L g. bogactwo wiedzyG E N h. brak członkówG E N . P L UNG a. a jó példák sokaságaP O S S d. fölösleg pénzbenI N E ‚Überfluss an Geld‘ g. az ismeretek gazdagságaP O S S h. a tagok hiányaP O S S

D4.7 Stellung des adpositionalen Attributs: pränominal vs. postnominal Übereinzelsprachlich ist die postnominale Stellung adpositionaler Attribute der Regelfall. Dies kann durchaus in Zusammenhang damit stehen, dass referentielle Modifikatoren typischerweise postnominal stehen und die primäre Domäne der adpositionalen Attribute die der referentiellen Modifikation ist. Die postnominalen Adpositionalphrasen sind in allen Vergleichssprachen und mit Ausnahme der in → D4.1 genannten Sprachen (Türkisch, Baskisch) auch in allen anderen europäischen Sprachen anzutreffen. Pränominale adpositionale Attribute sind indes nicht in allen Vergleichssprachen zu finden und haben – so wird zu zeigen sein – einen anderen funktionalen Status. Für den pränominalen Anschluss ist mitunter eine Kategorienänderung, und zwar in erster Linie die Transformierung in eine Adjektivbildung erforderlich, somit können als Strategien der Anbindung unterschieden werden: – die „Juxtaposition“, bei der die Kategorie Adpositionalphrase als solche erhalten bleibt. Diese Struktur ist in unseren Vergleichssprachen allein im Englischen anzutreffen. Funktional gesehen handelt es sich hier um Fälle klassifikatorischer Modifikation, dementsprechend sind als deutsche Übersetzungsäquivalente Komposita und Adjektive vorherrschend. Vgl. Bildungen wie  



1689

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

(164) ENG

after sales service, after installation service ‚Kundendienst‘, after tax income ‚Ertrag nach Steuern‘, after dinner speech ‚Tischrede‘, after dinner walk ‚Verdauungsspaziergang‘, after shave lotion, between-seasons coat ‚Übergangsmantel‘, in-car telephone ‚Autotelefon‘, in-house production ‚Eigenfertigung‘, off the cuff speech ‚Stegreifrede‘, out of work teacher ‚arbeitsloser Lehrer‘, out of the way place ‚abgelegener Ort‘, out-of-wedlock childbirth ‚außereheliche Geburt‘, over-the-counter drug ‚rezeptfrei erhältliches Medikament‘, over-the-fence gossip ‚Klatsch über den Gartenzaun‘

Der kategoriale Status der PP bleibt dennoch fraglich: Sind sie als Adpositionalphrasen, als Kompositumglieder oder als Adjektive zu werten? Als Unterscheidungskriterien werden u. a. angeführt:  



Der Ausschluss des Einschubs von Adjektiven ist nach Plag (2003: 134 f.) das entscheidende Kriterium für einen Kompositumstatus. Dieses Kriterium würde auch hier für Komposita sprechen, da im Falle klassifikatorischer Modifikation der Einschub von (qualitativen) Adjektiven aber so oder so ausgeschlossen ist, kommt es hier nicht zum Tragen.



Huddleston/Pullum (2002: 449) führen als Tests zur Unterscheidung von Komposita und syntaktischen Phrasen im Englischen die folgenden an: Die Koordination von Prämodifikatoren (two [London and Oxford] streets), die Koordination von Kernen (two Oxford [streets and places]), die Modifikation von Prämodifikatoren (two [south Oxford] streets) sowie die rekursive Prämodifikation (two [Oxford [theological colleges]]) sprechen jeweils gegen den Status als Kompositum. Wendet man Koordinationskriterien auf die pränominalen PPs an, ergibt sich folgendes Bild: Koordination in beiden Ausprägungen ist prinzipiell möglich (offroad and other vehicles, off-road trucks and vehicles).



– die Komposition: Eine pränominale Adpositionalphrase ist im Deutschen ausgeschlossen, stattdessen wird die Adpositionalphrase als Erstglied eines Kompositums ins Wort eingebunden. (165)

Nachkriegstheater, Nachmessegeschäft, Nachsteuergewinn, Nachwendezeit, Nachzerfallswärme, Überwasserschiff, Unterpflaster(straßen)bahn, Unterschallgeschwindigkeit, Unterseeboot, Unterseekabel, Untertagedeponie, Unterwasserwelt, Vorkindergartentreff, Vorkriegsmodell, Vorsteuerergebnis, Vorwahljahr, Vorweihnachtsgeschäft, Vorwendezeit, Zwischenkriegsjahr

In Einzelfällen können sich hier Analyseprobleme hinsichtlich der internen Struktur ergeben: Handelt es sich um [PP]+[N]- oder um [N]+[N]-Komposita? Von N-N-Komposita ist z. B. bei Komposita wie Unterbodenwäsche, Überseehafen, Überseehandel, Nachmittagsschlaf zu sprechen, da es sich bei Erstgliedern wie Unterboden, Übersee, Nachmittag um etablierte Substantive handelt (von Abusamra 1971: 147 werden sie dennoch als Kompositum aus präpositionaler Wortgruppe und Substantiv analysiert).  

Auffallend sind die zahlreichen direkten Übernahmen aus dem Englischen ins Deutsche in diesem Bereich; ob eine Übersetzung ins Deutsche in stärkerem Maße als sonst vermieden wird, muss offenbleiben:

1690

(166)

D Nominale Syntagmen

Afterhourparty, Aftershowparty, After-Sun-Lotion, Inhouseseminar, Offsetdruck, Off-Shore-Windräder, Off-Shore-Finanzplätze

– Adjektivierung der Adpositionalphrase: Im Polnischen und Ungarischen sind pränominale Adpositionalphrasen als solche wie auch deren Einbindung in ein Kompositum ausgeschlossen, dagegen ist die Adjektivierung von Adpositionalphrasen außerordentlich produktiv. Vgl.: (167) UNG

borotválkozás után → borotválkozás Rasur nach Rasur ,Rasierwasser, After-Shave-Lotion‘

(168) POL

przed wojną vor Krieg.INS , Vorkriegszeit‘

utáni nach.ADJ

arcvíz Gesichtswasser

→ okres przedwojenny Zeit vor.Krieg.ADJ

Aufgrund des klassifikatorischen Charakters dieser Adjektive ist im Polnischen für sie die postnominale Stellung vorgesehen. Allerdings ist bei Vorhandensein eines postnominalen Modifikators die pränominale Stellung präferiert: (169) POL

międzybranżowy zespół ekspertów Gruppe Experte.GEN . PL zwischen.Branche.ADJ ,branchenübergreifende Expertengruppe‘

Im Deutschen ist die Adjektivierung von Adpositionalphrasen – in der germanistischen Literatur teils Zusammenbildung genannt (u. a. Henzen 1965; Erben 1983) – prinzipiell möglich, jedoch offenbar nur dann, wenn bereits (bzw. parallel) ein entsprechendes denominales – klassifikatorisches – Adjektiv vorliegt.  







(170)



börslich – nachbörslich, steuerlich – vorsteuerlich, weihnachtlich – nachweihnachtlich, österlich – vorösterlich, betrieblich – innerbetrieblich, gerichtlich – außergerichtlich, seeisch (vgl. Grimm/Grimm 1854–1954: s. v.) – überseeisch  















Existiert hingegen ein solches Adjektiv nicht, sind auch entsprechende Phrasenderivate/Zusammenbildungen ausgeschlossen: (171)

*vorwahlisch (o. ä.), *unterwasserlich (o. ä.), *nachmesslich (o. ä.), *nachkrieglich (o. ä.)  





  

Etwaig vorhandene Qualitätsadjektive (kriegerisch, wässrig, wählerisch) sind hierfür ohne Belang.

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

1691

Der Status dieser Adjektivderivate ist aufgrund dieser Einschränkung somit ein grundlegend anderer als der von Derivaten mit einer Adjektiv-Substantiv-Kombination als Basis, wie in blauäugig (*äugig).

Neueren Datums sind im Deutschen offensichtlich Komposita, deren Erstglied aus Präposition und (artikelhaltiger) Nominalphrase (und nicht nur bloßem Substantiv) besteht: (172)

Hinter-dem-Ohr-(Hör)Geräte, Im-Ohr-(Hör)Geräte (auch, aber weniger etabliert: Hinterohrgeräte, Inohrgeräte)

(173)

Beim guten Zusatzmaterial stehen ein Audiokommentar sowie auf der BonusDVD Interviews im Mittelpunkt. Dazu gibt es das übliche Hinter-den KulissenMaterial und entfallene Szenen. (Mannheimer Morgen, 03.08.2007)

(174)

Es soll keine bilateralen „Über-den Schalter-Geschäfte“ mehr geben. Stattdessen sollen Derivate an Börsen gehandelt und mit Eigenkapital hinterlegt werden. (die tageszeitung, 19.07.2011)

Inwieweit englische Bildungen als Vorlagen dienten, kann hier nicht geklärt werden; zumindest böte das Englische entsprechende Vorbilder an: (175) ENG

behind-the-ear hearing aid ,Hinter-dem-Ohr-Hörgerät‘, in-the-ear hearing aid ,Im-Ohr-Hörgerät‘, behind-the-scenes material ‚Hinter-den-Kulissen-Material‘, over-the-counter business ,Über-den-Schalter-Geschäft‘

Die polnischen Entsprechungen solcher Bildungen – nämlich von klassifikatorischen pränominalen PPs – nutzen präferiert die adjektivische Strategie – mit postnominaler Stellung – oder aber Adpositionalphrasen – ebenfalls generell in postnominaler Stellung:  









(176) POL

aparat (słuchowy) zauszny ,Hinter-dem-Ohr-(Hör)Gerät‘, aparat (słuchowy) wewnątrzuszny ,Im-Ohr-(Hör)Gerät‘; materiał zakulisowy ‚Hinter-den-Kulissen-Material‘

(177) POL

krem po opalaniu Creme nach Bräunen.LOK ,After-Sun-Lotion‘

(178) POL

płyn po goleniu Flüssigkeit nach Rasur.LOK ,After-Shave-Lotion‘

1692

D Nominale Syntagmen

Adjektivisch werden sie – erwartungsgemäß – auch im Ungarischen realisiert:  



(179) UNG

fül mögötti hallókézülék Ohr hinter.ADJ Hörgerät ,Hinter-dem-Ohr-Hörgerät‘

(180) UNG

kullisszák mögötti felvételek hinter.ADJ Aufnahme.PL Kulisse.PL ‚Hinter-den-Kulissen-Aufnahmen‘

Für Adpositionalphrasen – darunter auch denen mit klassifikatorischer Funktion – ist im Französischen die postnominale Realisierung obligatorisch:  



service après-vente ‚Kundendienst‘, lotion après-rasage ,After-Shave-Lotion‘, lait après-soleil ,After-Sun-Lotion‘

(181) FRA

Allenfalls die graphische Markierung über die Bindestrichschreibung könnte als Hinweis auf den besonderen funktionalen Status – nämlich den klassifikatorischen Charakter – dieser Phrasen gewertet werden. Sie kommt allerdings bei derartigen klassifikatorischen Adpositionalphrasen nicht durchgängig zur Anwendung (machine à laver ,Waschmaschine‘, frein à main ‚Handbremse‘), auch das Ausmaß der Bindestrichschreibung ist variabel: arc-en-ciel ,Regenbogen‘. Ob in allen Sprachen bei pränominalen Adpositionalphrasen durchgehend klassifikatorische Modifikation vorliegt, ist fraglich. So sind im Englischen durchaus auch Graduierungen dieser Phrasen belegt, was für qualitative Modifikation sprechen würde:  



(182) ENG

a very out of the way place (Foskett 1991: 42) ,ein sehr weit abgelegener Ort‘

D4.8 Syntaktische Funktion / morphologische Markierung des Kopfsubstantivs bzw. lineare Stellung der Gesamt-NP im Satz Dass die syntaktische Funktion bzw. (davon ausgehend) die morphologische Markierung (die Kasusmarkierung) des Kopfsubstantivs Einfluss auf die Grammatikalität des Gesamtausdrucks hat, ist in unseren Vergleichssprachen allein im Ungarischen zu beobachten. Adpositionale Attribute und kasussuffigierte Attribute enthaltende NPs kommen hier bevorzugt bzw. fast ausschließlich in Funktion des Subjekts bzw. direkten Ob-

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

1693

jekts vor, d. h. ohne Kasusmarkierung bzw. mit Akkusativmarkierung des Kopfsubstantivs. Erhalten die Kopfsubstantive eine Markierung eines semantischen Kasus, kommen also z. B. in adverbialer Funktion vor, werden adpositionale Attribute von den Sprechern kaum akzeptiert:  



(183) UNG

Én nem tartom aggodalmasnak az EU-országok besorgniserregend.DAT DEF EU-Staat.PL 1SG NEG halt.1SG . DEF félelmét a válságtól. DEF Krise.ABL Angst.3SG . AKK ‚Ich halte die Angst der EU-Staaten vor der Krise nicht für besorgniserregend.‘ (Bassola 2008: 172)

(184) UNG

?Az

újságok sokat írtak az EU-országok Zeitung.PL viel.AKK schreib.PRT .3PL DEF EU-Staat.PL félelméről a válságtól. DEF Krise.ABL Angst.3SG . DEL ‚Die Zeitungen haben viel über die Angst der EU-Länder vor der Krise geschrieben.‘ (Bassola 2008: 172) DEF

Darüber hinaus ist auch die Position im Satz für die Akzeptanz adpositionaler Attribute entscheidend, die Nominalphrasen der Struktur N + PP/NP sind vorrangig am Satzende anzutreffen, am wenigsten häufig im Innern des Satzes. Die Korpusdaten zeigen ganz wenige Ausnahmen, z. B.:  

(185) UNG

ami Ady ellenállását a világgal szemben REL Ady Widerstand.3SG . AKK DEF Welt.INS gegenüber képviseli darstell.3SG . DEF ‚[…], der Adys Widerstand gegen die Welt repräsentiert […]‘ (MNSz)

Laczkó (2003: 214) formuliert, dass perzeptuelle Gründe das Auftreten dieses Attributtyps restringieren: Das postnominale Attribut muss für den Hörer/Leser leicht als zum Kopfsubstantiv gehörig identifizierbar sein, somit eine Interpretation als adsententiales oder adverbales Element ausgeschlossen werden können. Die Identifizierbarkeit als adnominales Attribut werde durch die satzfinale Stellung erleichtert. Vergleichbare Restriktionen sind durchaus auch im Deutschen zu finden, und zwar wenn man dem Determinativ vorangestellte PPs in die Betrachtung einbezieht. Hier ist die Vorfeldposition am ehesten akzeptabel: (186)

Auf dem Stuhl die Bücher muss ich unbedingt noch lesen.

(187)

?Ich

muss auf dem Stuhl die Bücher unbedingt noch lesen.

1694

D Nominale Syntagmen

Auch die syntaktische Funktion ist offenbar von Bedeutung für die Grammatikalität/ Akzeptabilität vorangestellter NPs. Uneingeschränkt akzeptabel sind diese Phrasen nur in Funktion des Subjekts oder direkten Objekts. Für Genitiv- und Dativobjekte wird von einem Teil der Sprecher ein Akzeptabilitätsunterschied zu Subjekten und direkten Objekten wahrgenommen. (188)

Auf dem Stuhl die Bücher sind noch ungelesen.

(189)

Auf dem Stuhl die Bücher habe ich schon gelesen.

(190)

?Auf

dem Stuhl den Büchern kann ich nichts abgewinnen.

(191)

?Auf

dem Stuhl der Bücher muss ich mich noch entledigen.

D4.9 Anschluss von PPs an das Kopfnomen über „semantisch leere“ Präpositionen In einigen der bisher vorgestellten Varianzparameter (→ D4.2 bis D4.6) wurden adpositionale und possessive Attribute als Alternativen zueinander behandelt: Eine Adposition wie von, die im prototypischen Fall der Realisierung possessiver Attribute dient, kann aber durchaus in Kombination mit anderen Adpositionen auftreten, vgl. zum Deutschen:  

(192)

seine Ansichten von vor zehn Jahren

Die Adposition von fungiert hier quasi als Relationsmarker bzw. „formaler Verknüpfer“ (vgl. Gunkel/Schlotthauer 2008, 2012), eine Charakterisierung, die ebenso für das englische of und das französische de zutrifft. Im Deutschen lässt sich als erster Bereich, in dem eine solche „Doppelung“ von Adpositionen, d. h. hier, ein Einschub von von zwischen Kopfnomen und adnominale PP, möglich ist, der der Alters-, Gewichts-, Wertangaben etc. – also der nach Rijkhoff (2004) typischen Dimensionen der qualitativen Modifikation – identifizieren. Hier leitet von durch über bzw. unter eingeleitete Phrasen ein:  





(193)

ein Sack von über 10 Kilo ~ ein Sack über 10 Kilo

(194)

Jugendliche von unter 17 Jahren ~ Jugendliche unter 17 Jahren

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

1695

Zumindest bei Altersangaben können die von-Phrasen als stilistisch markiert, als veraltend gelten, die Belegzahlen für die von-Variante machen nur einen Bruchteil der Belegzahlen für die Variante ohne von aus. Andere Kopfsubstantive weisen wiederum andere Präferenzen auf, insbesondere Kopfsubstantive, bei denen von Argumentsättigung durch die PP auszugehen ist (Anteil, Wert, Erhöhung etc.), präferieren stark die von-Variante bzw. fordern sie gar: (195)

Strafen von unter zehn Jahren ~ Strafen unter zehn Jahren

(196)

Temperaturen über 30 Grad Celsius ~ Temperaturen von über 30 Grad Celsius

(197)

ein Preis von unter 100 Euro ~ ein Preis unter 100 Euro

(198)

ein Stimmenanteil von unter 5%, ?ein Stimmenanteil unter 5%

(199)

eine Lohnerhöhung von unter 3 Prozent, ?eine Lohnerhöhung unter 3 Prozent

(200)

im Wert von unter 100 Euro, *im Wert unter 100 Euro

Einschränkend ist zu sagen, dass die Elemente über und unter (neben bis zu, gegen) hier als Gradpartikeln zu klassifizieren sind (IDS-Grammatik 1997: 2080), das für Präpositionen im Deutschen bestimmende Kriterium der Kasusrektion greift hier nicht mehr, vgl. den attributiven Genitiv gegenüber der attributiven von-Phrase in folgenden Beispielen (ebd.): (201)

Die Ergebnisse bis zu/über eines ganzen Jahrhunderts wurden überprüft.

(202)

Die Ergebnisse von bis zu/über einem ganzen Jahrhundert wurden überprüft.

Im Englischen – wo das Kriterium der Kasusrektion von vornherein nicht konstituierend für die Klasse der Präpositionen ist – werden Präpositionen in derartiger Verwendung wie over, under, above, below als „PPs with quantificational complements“ (Huddleston/Pullum 2002: 646) bzw. „intensifying prepositions“ (Quirk et al. 1985: 687) bezeichnet. Die Verhältnisse eine Präferenz für die Variante mit oder ohne of betreffend sind denen im Deutschen vergleichbar.  



(203) ENG

temperatures (of) below minus 25 degrees Celsius ,Temperaturen (von) unter 25°C minus‘

(204) ENG

a discount of over 30% / ?a discount over 30% ,ein Rabatt von über 30%‘

1696

D Nominale Syntagmen

Als zweiter – klar abzugrenzender – Bereich dieses „Doppelungsphänomens“ erscheinen temporale Angaben, speziell mit den Präpositionen vor und nach; die Kombination mit anderen temporalen Angaben ist hingegen ausgeschlossen:  

(205)



Dokumente von vor dem Krieg / von nach dem Krieg / ?von während des Kriegs / *von im Jahre 1940  

Ebenso ausgeschlossen ist die Verbindung mit lokalen Angaben (*die Dienerschaft von auf den Gutshöfen / *von bei den Gutsleuten), es sei denn, von kommt in seiner ablativischen Grundbedeutung zum Einsatz: (206)

sein Sprung von hinter der Tür / von vor dem Fenster aufs Sofa

Derartige Einschränkungen bestehen im Französischen nicht: de-Phrasen sind auch für lokale Angaben vorgesehen, hier mit chez ,bei‘: (207) FRA

un homme de chez nous (Grevisse/Goosse 2011: 450) wörtl.: ,ein Mann von bei uns‘

Darauf, dass auch im Falle temporaler Angaben die ablativische Grundbedeutung durchaus präsent sein kann, weist das Englische, wo die Präposition from (deren ablativische Grundbedeutung kaum verblasst ist) in freier Variation mit der Präposition of erscheint. Den Belegzahlen nach zu urteilen ist eine Präferenz für of gegeben. Die für das Deutsche auszumachenden Beschränkungen auf Präpositionen der Bedeutung ,vor‘ und ,nach‘ scheinen im Englischen ebenfalls nicht zu gelten: (208) ENG

world maps of / from before World War II ,Weltkarten von vor dem 2. Weltkrieg‘

(209) ENG

photographs of / from during the war ,?Fotos von während des Krieges‘

Der Anschluss mit von bei vor-Angaben erweist sich gemäß den Belegzahlen als recht üblich, erscheint aber austauschbar mit der Variante ohne von: (210)

Jeder kann sich leicht ausrechnen, dass das Niveau von vor der Krise damit erst 2017 wieder erreicht würde. (die tageszeitung, 29.07.2009)

(211)

Zwei bis drei Jahre wird es wohl noch dauern, bis der Welthandel wieder das Niveau vor der Krise erreicht und die Branche zu alter Stärke zurückfindet. (dpa) (die tageszeitung, 20.03.2010)

D4 Nicht-possessive PP- und NP-Attribute

1697

D4.10 Zusammenfassung Unter die nicht-possessiven NP- und PP-Attribute fassen wir Attribute in Form von Adpositionalphrasen und Attribute in Form von Nominalphrasen in einem semantischen Kasus, deren Funktion nicht dem Bereich der Possession zugeordnet werden kann. In den Vergleichssprachen sind diese NP- und PP-Attribute (wie auch die possessiven Attribute) auf die postnominale Position festgelegt. Als Ausnahmen können zum einen die dem Determinativ vorangestellten Präpositionalphrasen im Deutschen gelten, die jedoch weitgehend auf die Mündlichkeit beschränkt sind (vor dem Haus die Bäume), und zum anderen pränominale Präpositionalphrasen im Englischen (after installation service ,Kundendienst‘), die als klassifikatorische Modifikatoren fungieren und insgesamt nah am Status als Kompositumglied stehen. Restringiert ist das Vorkommen dieser Attribute im Ungarischen, als Vertreter des linksverzweigenden Sprachtyps ist die Verwendung einer nach rechts verzweigenden Struktur ein Ausnahmefall (neben dem der Relativsyntagmen). Eine Beschränkung findet die Verwendung dieses Attributstyps hier in zweierlei Hinsicht: Zum einen in der Bandbreite der syntaktischen Funktionen des Gesamtausdrucks, die mit der morphologischen Markierung des Kopfsubstantivs als Nominativ oder Akkusativ einhergeht; zum anderen in der weitgehenden Beschränkung auf die referentielle Modifikation. Die referentielle Modifikation ist als die für nicht-possessive NP- und PPAttribute übereinzelsprachlich vorherrschende und auch primäre anzusehen. Zum Einsatz kommen derartige Attribute aber für alle Typen der Modifikation. In allen Vergleichssprachen stehen sie dabei in besonderer Konkurrenz zu possessiven Attributen. Fürs Deutsche ist in diachroner Hinsicht und in der Gegenwartssprache auch aktuell beobachtbar ein Vordringen der adpositionalen Attribute auf Kosten der possessiven Variante zu konstatieren; dies betrifft im besonderen Maße den Bereich der Argumentanbindung und hier im Speziellen den THEMA -Bereich. In den Kontrastsprachen erweisen sich die possessiven Varianten als stärker etabliert. Im Bereich der qualitativen Modifikation lässt sich für das Deutsche ebenso eine Ausbreitung des adpositionalen Attributs, wieder auf Kosten possessiver Attribute, feststellen: Es geht hier in erster Linie um mit-Phrasen (vgl. ein Mensch fester Überzeugungen vs. mit festen Überzeugungen, ein Haus von fünf Stockwerken vs. mit fünf Stockwerken), deren possessive Ausdrucksalternativen bereits als ausschließlich gehobener, wenn nicht gar veraltender Sprachgebrauch gelten.

D5

Numerativkonstruktionen

D5.1

Funktionale Charakterisierung  1699

D5.2 Semantische Eigenschaften  1702 D5.2.1 Subtypen von Numerativkonstruktionen  1702 D5.2.2 Zur Semantik von N1 und N2  1706 D5.3 Syntaktische Eigenschaften  1710 D5.3.1 Art der N1-N2-Bindung  1710 D5.3.2 Erweiterbarkeit von N1 und N2 durch Adjektive  1714 D5.3.3 Zur Determinierbarkeit von Numerativkonstruktionen  1718 D5.4 Morphologische Eigenschaften  1720 D5.4.1 Numerusmarkierung  1720 D5.4.2 Kasusmarkierung  1723 D5.5

Zur Frage der Köpfigkeit  1725

D5.6 Ausblick  1729 D5.6.1 Numerativkonstruktionen und Komposita  1729 D5.6.2 Numerativkonstruktionen und der Ausdruck von Numerus  1731 D5.7

Zusammenfassung  1734

Adriano Murelli

D5 Numerativkonstruktionen D5.1 Funktionale Charakterisierung Numerativkonstruktionen sind nominale Konstruktionstypen, in denen zum Zweck des Messens oder Zählens zwischen Quantifikator (Kardinalnumerale oder Quantifikativum) und substantivischem Kern (im Folgenden als N2 bezeichnet) ein weiteres Substantiv (ein ‚Numerativsubstantiv‘, im Folgenden als N1 bezeichnet) eingeschoben wird, das die Einheiten, in denen gezählt oder gemessen werden soll, benennt – vgl. (1).  



(1)

a. Man sollte jeden Tag [zwei LiterN1 WasserN2] trinken. b. [Vier StückN1 KuchenN2] hast du gegessen!

Der Terminus ‚Numerativkonstruktion‘ wird in Krifka (1989: 11, 1991: 401) sowie in der IDS-Grammatik (1997: 1979) verwendet. In der englischsprachigen Sprachwissenschaft wird oft der Terminus pseudo-partitive constructions gebraucht (z. B. Alexiadou/Haegeman/Stavrou 2007: 395; Keizer 2007: 109), wohl um die zumindest im Englischen gegebene strukturelle Ähnlichkeit zwischen Numerativ- und Partitivkonstruktionen hervorzuheben. Diesem Usus widersetzt sich etwa Beckwith (2007), der betont, dass Numerativ- und Partitivkonstruktionen funktional unterschiedlich sind und als solche anders genannt werden sollen. Durch Partitivkonstruktionen (z. B. zwei Tassen von diesem Kaffee) wird auf einen Teil eines determinierten, spezifischen (d. h. präsupponierten) Ganzen referiert. Bei Numerativkonstruktionen (z. B. zwei Tassen Kaffee) dagegen ist das eingebettete Nominal (im Beispielfall der Ausdruck Kaffee) nicht-referentiell; sie dienen der Quantifikation einer nicht-präsupponierten Entität; die bezeichnete Menge braucht weder determiniert noch spezifisch zu sein (Koptjevskaja-Tamm 2001a: 527). Partitivkonstruktionen werden in diesem Kapitel nicht behandelt: Es sei hier auf → A5, → D1.2.2 sowie auf die breit angelegte Studie von Koptjevskaja-Tamm (2001a) verwiesen.  







In → A5.2.1 wird von ,pseudo-partitiven‘ Konstruktionen gesprochen, und zwar mit Bezug auf Konstruktionen, die formal (weitgehend) identisch sind mit partitiven, bei denen der dependente Ausdruck jedoch nicht referentiell ist. Dabei kann es sich um eine Numerativkonstruktion handeln wie bei ENG a cup of tea ,eine Tasse Tee‘, aber auch um sogenannte ,Quantifikator-alsKopf-Konstruktionen‘ wie FRA beaucoup de sucre ,viel Zucker‘. Pseudo-partitive Strukturen enthalten also nach unserem Verständnis – anders als Numerativkonstruktionen – nicht notwendigerweise ein Numerativsubstantiv N1.  



Die Literatur über Numerativkonstruktionen, sowohl einzelsprachlich als auch (areal-)typologisch, ist relativ spärlich. In der Regel konzentrieren sich funktionaltypologische Studien auf

1700

D Nominale Syntagmen

Numeralklassifikatoren (die nur einen Subtyp von Numerativkonstruktionen darstellen), vgl. Aikhenvald (2000). Versuche, Numerativkonstruktionen zu analysieren, kommen eher von der formal ausgerichteten Linguistik (z. B. Alexiadou/Haegeman/Stavrou 2007: Teil III, Kap. 2). Sie untersuchen hauptsächlich das Englische und ziehen gelegentlich andere europäische Sprachen in Betracht. Umfassende einzelsprachliche Analysen liegen für das Deutsche (Löbel 1986), das Englische (Keizer 2007: Kap. 6) und teilweise für das Ungarische (Dékány/Csirmaz 2014) vor, wobei nur Keizer den Terminus ‚Numerativkonstruktionen‘ (pseudo-partitives) in ihrem Werk explizit erwähnt. Sprachübergreifende bzw. arealtypologische Studien zu den Numerativkonstruktionen legen Beckwith (2007) und Koptjevskaja-Tamm (2001a) vor. Letztere erforscht neben der synchronen auch die diachrone Dimension und versucht, die Entstehung von Partitiv- und Numerativkonstruktionen in den europäischen Sprachen (besonders: in den Sprachen des Ostseeraums) durch Grammatikalisierung zu erklären.  





Die Funktion von Numerativkonstruktionen kann der funktionalen Domäne der nominalen Quantifikation zugeordnet werden (→ A5, vgl. auch Zifonun 2010a: 145 f.). Primär dienen Numerativkonstruktionen dazu, Entitäten in der Extension von kontinuativischen NP-Kernen zählbar zu machen (→ B1.4.2.1) sowie, im Fall von individuativischen NP-Kernen, Entitäten als Ensembles zu gruppieren (Alexiadou/Haegeman/Stavrou 2007: 404). Daraus folgt einerseits, dass die Individuativ-KontinuativUnterscheidung auch bei den Numerativkonstruktionen eine Rolle spielt, wie es sich immer wieder erweisen wird; andererseits haben Numerativkonstruktionen funktionale Ähnlichkeiten zur Kategorisierung Numerus, insbesondere zum Phänomen der Umkategorisierung (→ B2.3.3.1), wie in → D5.6.2 dargelegt wird. Numerativkonstruktionen haben in unseren Vergleichssprachen folgende allgemeine Struktur (Löbel 1986: 5; IDS-Grammatik 1997: 1979):  



(Determinator) Quantifikator N1 (Präposition) N2 Beispiele aus unseren Vergleichssprachen mit einem Kardinalnumerale und einem Quantifikativum sind in (2) und (3) zu sehen. In der einschlägigen Literatur werden Numerativkonstruktionen gewöhnlich in Subtypen klassifiziert: (2) wäre ein Beispiel für eine Zählkonstruktion, (3) für eine Behälterkonstruktion. Die Subtypen werden in → D5.2.1 eingeführt. In → D5.2.2 wird dagegen auf die semantischen Eigenschaften eingegangen, die das Numerativsubstantiv N1 und das Kernsubstantiv N2 aufweisen. (2) FRA ENG POL UNG DEU

Tous les soirs il mange [deux tranches de jambon]. He eats [two slices of ham] every evening. Co wieczór je [dwa plasterki szynki]. Minden este eszik [két szelet sonkát]. Er isst jeden Abend [zwei Scheiben Schinken].

1701

D5 Numerativkonstruktionen

(3) FRA ENG POL UNG DEU

On a acheté [quelques caisses de pommes]. We bought [some crates of apples]. Kupiliśmy [kilka skrzynek jabłek]. Vettünk [néhány láda almát]. Wir haben [einige Kisten Äpfel] gekauft.

Kardinalnumerale und Quantifikativum stehen in komplementärer Distribution: Man hat z. B. drei Kisten Wein, viele Kisten Wein, nicht aber *drei viele Kisten Wein. Ein Determinator kann dagegen immer vor dem Quantifikator auftreten (diese eine Kiste Wein, die drei Kisten Wein, die vielen Kisten Wein). Im Grenzfall kann der Determinator auch ohne Quantifikator stehen (die/diese Kiste Wein). Welche (morphosyntaktischen) Folgen die Setzung eines Determinators für die ganze Konstruktion hat und ob wir es hier noch mit einer Numerativkonstruktion zu tun haben, wird in → D5.3.3 (Parameter ‚Determinierbarkeit‘) diskutiert. Das Numerativsubstantiv N1 und der substantivische Kern N2 können unter verschiedenen Bedingungen durch Attribute erweitert werden – in diesem Fall ist von der Konstituentenkategorie NOM, somit jeweils von NOM1 und NOM2, auszugehen, z. B. zwei Scheiben leckerer/italienischer/frisch geschnittenen Schinken (Adjektiv-, Partizipialattribut), zwei Scheiben Schinken aus Italien (präpositionales Attribut); zwei Scheiben Schinken, die ich gestern Abend gegessen habe (Relativsyntagma). In diesem Kapitel wird spezifisch auf die Erweiterung durch Adjektivattribute eingegangen (Parameter ‚Erweiterbarkeit von N1 und N2 durch Adjektive‘); andere Attribute werden nur angesprochen, wenn sie für den Sprachvergleich relevant sind. Die Bindung zwischen N1 und N2 kann in unseren Sprachen auf unterschiedliche Art und Weise erfolgen: Mal sind N1 und N2 einfach juxtaponiert, wie es der Fall im Ungarischen ist, mal erfolgt die Bindung durch einen Kasusmarker an N2, wie im Polnischen, oder eine Präposition, wie im Englischen und Französischen. Wir setzen also den Parameter ‚Art der N1-N2-Bindung‘ an, der in → D5.3.1 untersucht wird. Außerdem variiert neben der Art der syntaktischen Bindung auch die morphologische Markierung von N1 und N2, insbesondere was die Numeruskategorisierung betrifft. Während der Numerus von N1 generell von dem vorausgehenden Quantifikator syntaktisch bestimmt wird, wobei das Deutsche teilweise eine Ausnahme darstellt, hängt der Numerus von N2 mit dem Nominalaspekt des substantivischen Kerns zusammen (→ B1.4.2.4). In diesem Rahmen ist außerdem zu untersuchen, in welchem Verhältnis die morphologische Numerusmarkierung sowie die Art der N1-N2-Bindung zu der Kasusmarkierung bzw. zur Einbettung der Numerativkonstruktionen in Präpositionalattributen steht. Hierzu setzen wir die Parameter ‚Numerusmarkierung‘ und ‚Kasusmarkierung‘ an, die in → D5.4.1 und → D5.4.2 behandelt werden. Das morphosyntaktische Verhältnis von N1 und N2 zueinander wirft eine weitere Frage auf, die in der betreffenden Literatur noch keine endgültige bzw. überzeugende Antwort gefunden hat: Soll N1 oder N2 als Kopf der Numerativkonstruktion angesehen werden? Einzelsprachbezogene Versuche, diese Frage zu beantworten – so etwa  







1702

D Nominale Syntagmen

Keizer (2007) für das Englische und Löbel (1986) für das Deutsche –, weisen auf eine Spaltung zwischen „semantischem“ und „syntaktischem Kopf“, wie sie es nennen, hin. Wir werden beobachten, ob eine Verteilung von syntaktischen und semantischen Kopfeigenschaften auf die beiden Konstituenten N1 und N2 in allen unseren Vergleichssprachen nachweisbar ist (Parameter ‚Köpfigkeit‘, → D5.5). Zum Schluss wird in einem Ausblick einerseits das Verhältnis zwischen Numerativkonstruktionen und Komposita kurz erörtert (→ D5.6.1), andererseits die Stellung von Numerativkonstruktionen unter den sprachlichen Mitteln, die zum Ausdruck von Numerus dienen, unter die Lupe genommen (→ D5.6.2).  

D5.2 Semantische Eigenschaften D5.2.1 Subtypen von Numerativkonstruktionen Numerativkonstruktionen werden traditionell in Subtypen klassifiziert – vgl. etwa Löbel (1986: 10–34), Krifka (1989: 12, 1991: 402), Keizer (2007: 109). Dabei unterscheiden sich diese Klassifizierungsversuche leicht voneinander. Wir folgen hier grundsätzlich Krifka (1989, 1991) und ergänzen seine Klassifikation, wenn weitere Subunterscheidungen, wie etwa die Ergänzung um Singulativkonstruktionen, vonnöten sind. In Tabelle 1 werden die Subtypen anhand deutscher Beispiele illustriert. Die Namen der Subtypen sind selbsterklärend: Messkonstruktionen dienen dazu, eine messbare Quantität auszudrücken; Behälterkonstruktionen bezeichnen eine Quantität, die sich in einem Behälter befindet; Zähl- und Klassifikatorkonstruktionen dienen dazu, Teile eines Stoffes bzw. einer nicht-zählbaren Entität als Einheiten zu zählen; Kollektivkonstruktionen gruppieren einzelne Individuen zu Aggregaten; Sortenkonstruktionen bezeichnen einzelne Arten oder Sorten einer Entität.  

Tab. 1: Subtypen von Numerativkonstruktionen (nach Krifka 1989) am Beispiel des Deutschen  

Konstruktionstyp

Beispiele

Messkonstruktionen

zwei Liter Bier, zwei Pfund Bohnen, zwei Glas Bier

Behälterkonstruktionen

zwei Flaschen Milch, zwei Gläser Bier, zwei Eimer/Sack Kartoffeln

Zählkonstruktionen

zwei Scheiben/Laib Brot, zwei Barren Gold, zwei Prisen Glück, zwei Schluck Wasser, zwei Bund Tannenreisig, zwei Quanten Trost

Klassifikatorkonstruktionen

zwei Stück Vieh, zwei Kopf Salat, zwei Mann Besatzung, %zwei Stück Kartoffel(n)/Ei(er)

Kollektivkonstruktionen

zwei Hundertschaften Polizei/Polizisten, zwei Bund Karotten; zwei Rudel Wölfe

Sortenkonstruktionen

zwei Sorten Bier, zwei Arten Glück, zwei Sorten Bohnen

D5 Numerativkonstruktionen

1703

Löbel (1986: 10–34) unterscheidet nur Mess-, Kollektiv- und Zählkonstruktionen, wobei der letzterwähnte Subtyp vier weitere Subtypen umfasst: Behälter-, Numeralklassifikator-, Numerativ- und Singulativkonstruktionen. Der Unterschied zwischen den beiden letzten Subtypen besteht in der Natur von N1: Während in Singulativkonstruktionen N1 auftreten, die „natürliche Einheiten“ (ebd.: 22) bezeichnen – weswegen keine Variation in der – durch N2 determinierten – Selektion von N1 besteht (zwei Körner Reis, *zwei Bohnen Reis, da Reis in der Natur in Form von Körnern vorkommt) – stehen in Numerativ- (Krifka: Zähl-)konstruktionen (auch) nichtnatürliche, d. h. nichtnaturgegebene Einheiten (z. B. zwei Scheiben Brot, wobei das Brotschneiden ein durch den Menschen verursachter Prozess ist).  











Keizer (2007: 109) lässt Klassifikator- und Sortenkonstruktionen außer Acht, betrachtet aber dazu noch den Subtyp quantifier-noun constructions (z. B. a number of people). Dieser Subtyp wird hier kurz kontrastiv skizziert, in der Folge dieses Kapitels jedoch nicht mehr berücksichtigt. Es handelt sich um einen Grenzfall, d. h. um eine Art „Numerativ“-Konstruktion, bei der gar nicht gezählt werden darf, also die Kombination mit einem Zahlwort ausgeschlossen ist, sondern nur auf eine unbestimmte bzw. große Quantität abgehoben wird; vgl. (4a) vs. (4b).  



(4)

a. Auf dem Platz hatte sich eine (ganze) Menge/Unmenge/Anzahl Leute versammelt. b. *Auf dem Platz hatten sich zwei (ganze) Mengen/Unmengen/Anzahlen Leute versammelt.

Charakteristisch für diesen Subtyp sind folgende Eigenschaften: – – –

N1 ist ein „non-count quantificational noun“ (Huddleston/Pullum 2002: 349) N1 kommt in Artikelsprachen im Singular in der Regel mit einem Artikel, vorzüglich dem indefiniten Artikel, vor; Pluralisierung von N1 ist möglich, allerdings sprachen- und lexemabhängig. Es liegt in diesem Fall eine Instanz von Abundanzplural (→ B2.3.3.2) vor – es werden keine Gruppierungen von großen Vielheiten bezeichnet, vielmehr dient Pluralisierung dazu, die Größe des Referenzobjekts emphatisch hervorzuheben. Eine Kombination mit Kardinalzahlen ist wie erwähnt ausgeschlossen; Attributive Erweiterung von N1 ist lexemspezifisch und vorwiegend auf größen- bzw. einstellungsbezogene Adjektive (‚groß’, ‚klein‘; ‚beachtlich‘, ‚unbedeutend‘ usw.) beschränkt; Generell können sowohl Kontinuativa als auch (pluralische) Individuativa die Position N2 besetzen.  

– – (5) ENG FRA POL UNG DEU

I have got a whole load of things to do. J’ai un grand nombre de choses à faire. Mam całą masę rzeczy do zrobienia. Egy csomó dolgom van. Ich habe eine ganze Menge Sachen zu tun.

Im Ungarischen können halom, rakás und csomó ‚Haufen, Menge‘ sowie tömeg ‚Unmenge‘, sokaság ‚Anzahl‘, sereg ‚Schar‘ die Position N1 besetzen. Sie werden in der Regel nicht pluralisiert. Das erste Substantiv kann adjektivisch erweitert werden: egy egész/jelentős halom ‚eine ganze/beachtliche Menge‘. Wie generell in den Numerativkonstruktionen im Ungarischen, steht der substantivische Kern N2 im Singular. Im Polnischen haben wir N1-Substantive wie mnóstwo, ilość, masa, siła (ugs. bzw. dialektal), die auch adjektivisch erweitert werden können: całe mnóstwo/cała masa ‚(eine/die) ganze Menge‘, ogromna ilość ,(eine/die) Riesenmenge‘ (Swan 2002: 195). Sie können sich sowohl auf Kontinuativa als auch auf Individuativa beziehen. Präferiert mit Individuativa werden gromada ‚Menge‘,

1704

D Nominale Syntagmen

tłum‚ (Un-)Menge‘ und chmara ‚Schar‘ kombiniert, die beiden letzten speziell mit belebten Individuativa. Alle N1-Substantive sind auch pluralisierbar. Im Französischen stehen relativ viele N1-Substantive zur Auswahl: quantité, foule, tas (ugs.), plein, masse, ribambelle sowie flopée (ugs.), paquet (ugs.), nombre. Die beiden letzten kommen eher im Singular vor, alle anderen sind ohne Weiteres pluralisierbar. foule (wörtl. ‚Menschenmenge‘), flopée ‚Menge‘ und ribambelle ‚Schar‘ werden hauptsächlich mit individuativischen N2 kombiniert – präferiert [+belebt]. Der unbestimmte Artikel wird manchmal auch weggelassen, so etwa bei nombre oder quantité (Grevisse/Goosse 2011: 846). Adjektivierung ist immer möglich.  

Im Englischen sind N1-Substantive wie lot, load (ugs.), number, deal, plenty, bit zu verzeichnen. Die letzten beiden kommen nur im Singular vor – plenty in der Regel ohne Artikel; deal ist immer von einem Adjektiv (good, great) begleitet. Mit bit und deal kombinieren eher Kontinuativa, mit number eher Individuativa.  

Im Deutschen haben wir schließlich Menge, Unmenge, Haufen (ugs., nur im Singular) sowie Anzahl (nur im Singular), Unzahl (nur im Singular) und Schar. Mit den drei letzten kombinieren ausschließlich pluralische Individuativa, bei den anderen sind keine Restriktionen in Bezug auf den Nominalaspekt zu verzeichnen. Pluralisierung von Menge und Unmenge ist – unabhängig vom Nominalaspekt des N2-Ausdrucks – möglich, Menge als N1 muss dabei durch ein Attribut wie große, gewaltige erweitert sein (6a). Sofern N2 nicht erweitert ist, muss bei pluralischem N2 entsprechend der Genitivregel der Anschluss durch von erfolgen (6b). Bei adjektivisch erweitertem N2 ist Juxtaposition, genitivischer und von-Anschluss möglich (6c). Man vgl. gegenüber den komplizierten Verhältnissen im Deutschen die englischen Konstruktionen in (7). Zu Parallelen bei „echten“ Numerativkonstruktionen → D5.3.1.  



(6)

a. eine (große) Menge Bier; große Mengen Bier; *Mengen Bier; Unmengen Bier b. eine (große) Menge Zuschauer; *Mengen Zuschauer; *große Mengen Zuschauer; Unmengen Zuschauer; (große) Mengen von Zuschauern; eine (große) Schar Gänse; *Scharen Gänse, *große Scharen Gänse; (große) Scharen von Gänsen c. eine (große) Menge unnütze Dinge/unnützer Dinge; (große) Mengen von unnützen Dingen

(7) ENG

a. a (huge) lot of beer; (huge) lots of beer b. a (huge) lot of people; (huge) lots of people c. a lot of people/lots of people, a number of ants/numbers of ants

An den Ausdruck Unmenge, der (wie Unzahl) lexikalisch bereits eine übermäßig große Quantität bezeichnet und daher ein entsprechendes Attribut ausschließt (vgl. *eine große Unmenge Bier / *eine große Unzahl Menschen), kann anders als bei Menge ein kontinuativer Singular (Unmengen Bier) oder (seltener) ein individuativer Plural (Unmengen Zuschauer) juxtapositiv angeschlossen werden. Auch bei Riesenmenge kann so verfahren werden: Riesenmengen Müll, Riesenmengen Drogen (D D E R E K O -Belege). Zu erwähnen ist neben der Präposition von auch der Anschluss mithilfe der Präposition an: Riesenmengen an Hilfsgütern, Unmengen an Daten (D D E R E K O -Belege). Wie aus den obigen Kurzbeschreibungen ersichtlich, entstammen die N1-Substantive, die in diesem Subtyp von Numerativkonstruktionen vorkommen, einer relativ überschaubaren Gruppe: In allen Sprachen kommen Ausdrücke vor, die eine Masse bezeichnen, etwa ‚Haufen‘ (vgl. auch SPA montón, ITA mucchio, RUS kuča), ‚Menge‘, ‚Menschenmenge‘, ‚Masse‘, ‚Meer‘ (ITA mare, CZE moře, RUS more), ‚Abgrund‘ (RUS propast’, bezdna), abstrakt auch ‚Fülle‘ (ENG plenty), ‚unzählbare Quantität‘ (DEU Un-zahl, Un-menge, auch CZE bez-počet, UKR/BLR bez-lič wörtl. ‚ohne Zahl‘). Seltener sind Behältersubstantive zu verzeichnen, etwa ‚Paket‘ (FRA paquet), ‚Sack‘ (ITA

1705

D5 Numerativkonstruktionen

sacco), ‚Wagen‘ (CZE fůra); in den slawischen Sprachen finden sich auch abstrakte Substantive, die ‚Kraft‘/‚Macht‘ bedeuten, so etwa POL siła, CZE síla, moc, UKR sila. Es ist schließlich anzumerken, dass manche der N1-Substantive sich im Übergang vom Numerativsubstantiv zum Quantifikator befinden. Dies geschieht insbesondere auf umgangssprachlichem Niveau: Vgl. etwa FRA foule, das umgangssprachlich wie Quantifikatoren auch artikellos erscheint (z. B. J’ai pas foule de temps (=beaucoup de temps) ‚Ich habe nicht viel Zeit‘, Internet), oder im ugs. Tschechischen die Substantive hromada und spousta ‚Unmenge‘, die in ihrer Akkusativform hromadu, spoustu zu Quantifikatoren erstarrt sind (Berger 2001: 207) – ähnlich dem, was im Polnischen mit para geschah, das als Quantifikator neben der akkusativischen femininen Form parę auch die maskulin-personale Form paru in Anlehnung etwa an wiele – wielu ‚viel‘ entwickelt hat. Ebenfalls im Polnischen hat sich siła dialektal zum indeklinablen Quantifikator in der nominativischen Form etabliert: z. B. Mamy siłaNOM.SG gościGEN.PL ‚Wir haben eine Menge Gäste‘ (Swan 2002: 195). Im Tschechischen ist dies mit moře ‚Meer‘ der Fall, das alternativ zur normalen Flexion mit N2 im Genitiv eine unflektierte Form zeigt, die aber verlangt, dass N2 im vom Kontext geforderten Kasus steht (z. B. Šnil o mořiL O K . S G pivG E N . P L / o mořeN O M . S G pivechL O K . P L ‚Er träumte von einer Unmenge Bier‘, Berger 2001: 214). Zu ähnlichen Kasusangleichungsphänomenen im Slawischen → D5.4.2.  









Die Klassifikationsversuche sind in der Regel funktionaler oder semantischer Art, d. h., sie berücksichtigen die Funktion der ganzen Konstruktion (z. B. Messen, Zählen) oder die Semantik des Numerativsubstantivs N1 (Kollektivnomen, Bezeichnung eines Behälters, Klassifikator). Diese Lösung erweist sich als praktikabel, doch nicht immer als eindeutig: Eine Konstruktion, die dasselbe Numerativsubstantiv enthält, kann manchmal je nach substantivischem Kern N2 bzw. je nach Kontext unterschiedlichen Subtypen zugeordnet werden, wie Löbel (1986: 13, 31) anhand zweier Beispiele zeigt: Glas kann in Messkonstruktionen wie zwei Glas Wasser oder in Behälterkonstruktionen wie zwei Gläser Wasser vorkommen – hier hat die Numerusmarkierung eine unterscheidende Funktion, vgl. → D5.4.1; ebenso Stapel in zwei Stapel Holz (Zählkonstruktion) und zwei Stapel Bücher (Kollektivkonstruktion). Im letzteren Beispiel spielt die Semantik von N2 (Kontinuativum vs. Individuativum) im Hinblick auf die Zuordnung der ganzen Konstruktion auch eine Rolle – Kontinuativa kommen ja nicht in Kollektivkonstruktionen vor. Ähnlich kann etwa piece im Englischen sowohl in Zähl- als auch in Klassifikatorkonstruktionen erscheinen (a piece of paper ‚ein Stück Papier‘ vs. a piece of furniture ‚ein Möbel(stück)‘, Beckwith 2007: 80). Zur Frage der Zuordnung von Numerativkonstruktionen zu verschiedenen Subtypen siehe auch Wiese (1997: 226–231). Die Klassifikation von Numerativkonstruktionen in Subtypen soll nicht nur der besseren Übersichtlichkeit dienen: Quer zu den Parametern wird in den folgenden Abschnitten auch der Frage nachgegangen, ob sich die einzelnen Subtypen je nach Parameter gleich verhalten oder ob Unterschiede zu verzeichnen sind.  







1706

D Nominale Syntagmen

D5.2.2 Zur Semantik von N1 und N2 Nicht alle Substantive taugen als Numerativsubstantive: Es gelten für die N1-Position diverse Restriktionen (Jansen 1980; Löbel 1986: 10–34). Die Substantive, die in unseren Vergleichssprachen in der Position N1 vorkommen können, tragen folgende semantische Eigenschaften: –

Sie sind zählbare Individuativa: Damit ist sichergestellt, dass sie mit Kardinalia sowie Quantifikativa, die Kardinalia substituieren können (etwa: viele, einige, alle, vgl. auch Wiese 1997: 217), kombinierbar sind. Individuativum zu sein ist dagegen allein keine ausreichende Eigenschaft, da, wie in → B2.3.3.3 erläutert, nicht alle Individuativa in ihrer usuellen Lesart zählbar sind (vgl. z. B. sogenannte Unikate wie Sonne, Universum). Sie bezeichnen Teilbares: Dies betrifft in der Regel nur N1, die in Mess-, Behälterund Zählkonstruktionen erscheinen (z. B. ein halbe Tonne Äpfel, eine halbe Flasche Öl, ein halber Laib Brot) – wobei innerhalb des letzten Subtyps die Klasse der Singulativkonstruktionen ausgeschlossen ist (?/*ein halbes Korn Reis/Sand). Sie sind relational: „the denotation of N1 requires a certain domain of objects denoted by N2“ (Alexiadou/Haegeman/Stavrou 2007: 405), d. h., Numerativsubstantive sind alleine nicht denotationsfähig, sondern brauchen ein zweites Substantiv, um es zu werden. Fehlt N2 in der Konstruktion (z. B. zwei Unzen, eine Prise), so ist diese als elliptisch anzusehen; N2 muss aus dem Kontext erschließbar sein (Löbel 1986: 7).  













Zwar besitzen manche N1 neben der relationalen auch eine absolute Lesart, wie es etwa bei Kollektiv- oder Behälter-Substantiven der Fall ist (z. B. drei Gruppen, zwei Eimer, drei Dosen) – sie werden jedoch durch Einbettung in eine Numerativkonstruktion relational: Obwohl sie ihren Gegenstandscharakter behalten, bezeichnen sie nicht mehr den Gegenstand (‚Eimer‘ als Plastik-, Holz- oder Blechbehälter mit einer Öffnung auf der oberen Seite), sondern die Menge N2, die in diesem Gegenstand enthalten sein kann (‚zwei Eimer Wasser‘ ist so viel Wasser, wie zwei Eimer enthalten können). Der Übergang von der absoluten zu der relationalen (Behälter-)Lesart erfolgt nach Borschev/Partee (2004: 32) durch einen metonymischen Prozess (metonymic shift). Ein zweiter metonymic shift kann das Behälter-N1 zum (konventionalisierten) Maßausdruck machen – wie in → D5.2.1 erwähnt, können Strukturen wie zwei Glas/Gläser Wein mal als Behälter-, mal als Messkonstruktionen kategorisiert werden; teilweise geht diese unterschiedliche Kategorisierung mit morphologischen Änderungen (Nicht-Markierung des Plurals) einher. Die nicht-relationale Lesart von Messsubstantiven ist dagegen auf spezifische Kontexte beschränkt, wo die Maßeinheit an sich als Denotat dient (z. B. Der Liter ist eine Zähleinheit, Löbel 1986: 53).  









Sie sind in der jeweiligen Sprache als gültige Zähleinheiten konventionalisiert. Im Deutschen kann man Flüssigkeiten in Litern, Kubikmetern, Eimern, Flaschen usw., nicht aber etwa in Schwimmbecken messen, weil ‚Schwimmbecken‘ keine allgemein akzeptierte Maßeinheit für Flüssigkeiten ist (?zwei Schwimmbecken Wasser/Wein/Bier). Ähnlich verhält es sich bei sprachspezifischen Maßeinheiten:

D5 Numerativkonstruktionen

1707

Im Deutschen kann man, nur wenn man den entsprechenden Wert in Metern kennt, Längen in Füßen, Wersten oder Shaku messen. Außerdem können ähnlich lautende Maßeinheiten von Sprache zu Sprache (bzw. von Kultur zu Kultur) verschiedene Größen bezeichnen: Man denke nur an Meile (ENG mile, ITA miglio) und an die verschiedenen Längen, die damit bezeichnet werden. Wie Borschev/Partee (2004: 33, 37 f.) betonen, ist die Grenze zwischen akzeptablen und inakzeptablen N1 unscharf (fuzzy) und in vielen Fällen kontextgebunden. So würde man generell nicht behaupten, dass Treibstoff in Schwimmbecken, Pilze in Filzhüten, oder Natur in Grashalmen gemessen werden können. Bei einem entsprechenden Kontext (Treibstoff soll provisorisch in Schwimmbecken gelagert werden; auf Pilzsuche hat man geeignete Behälter zu Hause vergessen) würden aber Numerativkonstruktionen wie drei Schwimmbecken Treibstoff oder drei Hüte Pilze akzeptabel – und selbst Natur kann metaphorisch als die Gesamtheit aller Grashalme verstanden werden, s. (8).  



(8)

Offroad-Trekking mit 100 PS in der grandiosen Canyonlandschaft des US-Bundesstaates Utah. Und das ohne auch nur einen Grashalm Natur zu zerstören. Darauf achtet Hans Weibel (60), gebürtiger Schweizer, der sich in den Un-Ruhestand ins WildwestNest Moab 240 Meilen südöstlich von Salt Lake City im sittenstrengen Mormonenstaat Utah zurückgezogen hat. (Nürnberger Nachrichten, 21.05.1994)

Diese Beispiele zeigen auch, dass manche absolute Substantive, die per se nicht relational wären, durch Einbettung in einen geeigneten Kontext relationale Lesarten zulassen. Dies ist oft mit Behältersubstantiven der Fall.



Sie sind nicht mit jedem beliebigen N2 kombinierbar. N2 zeigen mehr oder weniger enge Restriktionen bei der Selektion von N1. Diese können auf das Einzellexem bezogen oder allgemein semantischer Natur sein. Erstere kommen etwa in Klassifikator- oder Singulativkonstruktionen zum Vorschein: Vieh als N2 selegiert den Klassifikator-N1 Stück, Salat das N1 Kopf, Gras das N1 Halm (s. Tabelle 1 oben); es gibt hier keinen Spielraum für Variation. Restriktionen semantischer Natur hängen in der Regel mit dem von N2 Bezeichneten zusammen: Kartoffeln können in Kilos, nicht aber in Litern gemessen, Gras kann in Halmen, Büscheln usw., nicht aber in Barren gezählt werden. Speziell zu den Restriktionen bei Kollektivkonstruktionen siehe Beckwith (2007: Kap. 3).  



Selbstverständlich können für ein und dasselbe N2 je nach Subtyp andere Restriktionen in Bezug auf die Selektion von N1 gelten. So kann mit Gras nicht nur Halm, sondern auch Büschel oder Korb als N1 kombinieren. Die Selektion bleibt allerdings konstruktionsbezogen: Halm kommt in Singulativ-, Büschel in Zähl-, Korb in Behälterkonstruktionen vor.



Sie können semantisch klassifiziert werden. Während die Klassifizierung von Jansen (1980: 16–21, 34–38) sich nach den übergeordneten semantischen Klassen orientiert, denen N1 zugeordnet werden können (sie unterscheidet dabei die Klassen Raum, Zeit, Sprache, Anzahl, Sorte, Gewicht, Geld, Temperatur und Zustand), verfährt Löbel (1986) nach semantischen Merkmalen: Sie ermittelt fünf Merkmale ([Gegenstandscharakter], [natürlich], [Zuordnung], [Form] und [Kon-

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D Nominale Syntagmen

figuration]), die N1 aufweisen können oder nicht. Die Merkmale sind hierarchisch geordnet (ebd.: 40). Das übergeordnete Merkmal ist [Gegenstandscharakter]: Hat ein N1 keinen Gegenstandscharakter, so bezeichnet es ein Maß oder eine Einheit, die als ‚abstrakt‘ bzw. ‚standardisiert‘ gelten. Somit unterscheidet Löbel (ebd.: 18) zwischen Mensurativa (N1 in Messkonstruktionen, wie Kilo, Meter, Flasche als Maßeinheit) und Numeralklassifikatoren einerseits und Numerativa (N1 in anderen Subtypen) andererseits. Numerativa ordnen dem N2 eine zusätzliche Qualität zu: So kann man behaupten, dass zwei Scheiben Brot sowohl Brot als auch zwei Scheiben sind, nicht aber, dass zwei Kilo Kartoffeln sowohl Kartoffeln als auch zwei Kilos sind – ‚Kilo‘ repräsentiert nämlich keinen Gegenstand. D. h., mit dieser Unterscheidung geht auch die Möglichkeit einher, ein N1 nur quantitativ bzw. sowohl quantitativ als auch qualitativ zu bestimmen. Dies schlägt sich auch bei der Bildung von Komposita aus N1 und N2 nieder (vgl. → D5.6.1). Sie können ausgehend von den Restriktionen bei der Kombinierbarkeit mit N2 sowie ihren semantischen Merkmalen auf eine Prädikativitätsskala gesetzt werden (Löbel 1986: 37): Minimal prädikativ sind hochlexikalisierte N1, die wenig oder keinen Spielraum bei der Kombination mit N2 zulassen und dem N2 keine zusätzliche Eigenschaft zuordnen – wie es der Fall mit Klassifikatoren ist; maximal prädikativ sind dagegen weniger lexikalisierte N1, die Gegenstandscharakter haben und dadurch dem N2 eine zusätzliche Eigenschaft zuordnen.  







Fragt man nun umgekehrt, welche Substantive die Position N2 besetzen können, so erweist es sich, dass sowohl Kontinuativa als auch Individuativa – inklusive Pluraliatantum, exklusive Singulariatantum – in Frage kommen, obwohl nicht alle Subtypen der Numerativkonstruktionen für Substantive beider Nominalaspekte offenstehen. Es sei auf die ausführliche Analyse in → B1.4.2.4 verwiesen; hier ist zusammenfassend hervorzuheben, dass in unseren Vergleichssprachen nur Kontinuativa die Position N2 in Zähl- und Klassifikatorkonstruktionen besetzen können. Eine Numerativkonstruktion zum einfachen Zählen von Individuen, also im Standardfall, wird generell nicht gebraucht: *drei Stück Bücher. Hierdurch unterscheiden sich unsere Sprachen von Sprachen mit Numeralklassifikatoren (etwa Chinesisch, Japanisch, südostasiatische Sprachen), die auch zum einfachen Zählen von Individuen neben Zahlwort und substantivischem Kern einen Klassifikator benötigen, wie in JAP empitsu ni hon ‚zwei Bleistifte‘, wörtl. ‚Bleistift zwei KLF[langes Objekt]‘ (→ B2.2.1 mit einschlägigen Literaturverweisen sowie die Anmerkungen in Greenberg 1972). Dies mag eine funktionale Erklärung haben: Zähl- und Klassifikatorkonstruktionen dienen in erster Linie dazu, Unzählbares zählbar zu machen; eine Anwendung auf bereits zählbare Entitäten würde sich erübrigen, da sie im Grunde als redundant angesehen werden kann. In Kollektivkonstruktionen kommen dagegen nur Individuativa vor.  



Die Bildung einer Numerativkonstruktion stellt in unseren Vergleichssprachen neben der Umkategorisierung (→ B2.3.3.1) die geläufigste Art und Weise dar, wie Kontinuativa zählbar und somit

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D5 Numerativkonstruktionen

pluralisierbar gemacht werden können. Die Umkategorisierung erlaubt auch für Kontinuativa eine rein morphologische Pluralisierung durch Anhängen von Pluralmarkern: Allerdings lässt sie in der Regel vorrangig eine Sorten-, für bestimmte lexikalische Bereiche dazu noch eine Portions(etwa für Essbares, Trinkbares) oder Instanzlesart (für Abstrakta) zu (vgl. auch → D5.6.2). Wie am angegebenen Ort ausgeführt, ist Umkategorisierung sowie Pluralisierung oft lexikalisch gesteuert: So ist in manchen Fällen die Numerativkonstruktion deutlich präferiert, wie z. B. bei ?/*zwei Fleische, ?/*zwei Glücke gegenüber zwei Sorten Fleisch, zwei Arten Glück (Sortenlesart), manchmal stellt sie die einzige Möglichkeit dar, wie in zwei Stück Fleisch (Portionslesart). Zum Gebrauch von Numerativkonstruktionen zum einfachen Zählen von Individuen – also in Kombination mit Individuativa – ist noch Folgendes anzumerken: Im Deutschen, Englischen und Polnischen können pluralische Individuativa als N2 in Klassifikatorkonstruktionen (mit DEU Stück, ENG piece, POL sztuka als N1) in der Umgangssprache sowie in fachsprachlichen Texten (z. B. Regelungen, Kochrezepten) vorkommen; diese Konstruktionen werden allerdings gewöhnlich als normabweichend angesehen, da Individuativa an sich bereits zählbar sind.  







(9)

Es sind noch fünf Stück Kartoffeln übrig.

(10) ENG

a maximum amount of 50 pieces of cigarettes or 25 pieces of cigarillos, or 10 pieces of cigars, or 50 g of tobacco (Internet)

(11) POL

Jan kupił dziesięć sztuk próbówek. Stück.GEN . PL Reagenzglas.GEN . PL Jan kauf.PRT . 3SG . M zehn ‚Jan kaufte zehn Stück Reagenzgläser.‘ (Sussex/Cubberley 2006: 314)



Auch in anderen europäischen Sprachen ist diese Möglichkeit vertreten. Im Türkischen wird der Klassifikator tane ‚Stück‘ unter bestimmten pragmatischen Bedingungen zum Zählen von Individuen – sowohl belebten als auch unbelebten – gebraucht (hierzu siehe ausführlich Schroeder 1999: Kap. 4); Ähnliches geschieht im Finnischen und Schwedischen mit dem Klassifikator ‚Stück‘ (FIN kappale, SWE styck), der jeweils auch auf belebte N2 anwendbar ist (KoptjevskajaTamm 2001a: 529 f.). Im Russischen kommt neben dem Klassifikator štuka ‚Stück‘, der mit unbelebten (ugs. auch belebten) N2 kombiniert (z. B. 5 štuk karandašej ‚5 Stück Bleistifte‘, wo beide Substantive im Genitiv Plural stehen), auch der Klassifikator čelovek ‚Mensch‘ für belebte N2 vor (z. B. 5 čelovek studentov ‚5 Studenten‘, 5 čelovek p’janych rabotnikov ‚5 betrunkene Arbeiter‘ – alle Substantive und Adjektive im Genitiv Plural, Beispiele aus Sussex/Cubberley 2006: 314, 348). Zum Ursprung des Klassifikators čelovek als Singulativum für Kollektiva mit pluralischer Flexion s. Greenberg (1972: 28); zur Frage, ob čelovek neben štuka und golova als Numeralklassifikator anzusehen ist, s. Sussex (1976).  













Im Ungarischen dagegen steht für unbelebte individuativische N2 neben dem Allgemeinklassifikator (general classifier) darab (entspricht dem deutschen Stück) optional auch eine Reihe anderer Klassifikatoren zur Verfügung (Csirmaz/Szabolcsi 2012: 436–439), etwa szál für lange Objekte wie Zigaretten, Haare, Möhren usw. (z. B. hét szál cigaretta ‚sieben Zigaretten‘) oder kötet für Bände (z. B. hét kötet könyv ‚sieben Bücher‘). Csirmaz/Dékány (2010: 16) listen etwa 15 solcher Klassifikatoren auf, die Liste in Csirmaz/Dékány (2014: 147) enthält 18 Einträge. Klassifikatorkonstruktionen scheinen in freier Variation mit den entsprechenden Strukturen ohne Klassifikatoren (hét cigaretta, hét könyv) zu stehen; zumindest werden in den einschlägigen Quellen (Beckwith 2007: 85–87; Csirmaz/Dékány 2010; Csirmaz/Szabolcsi 2012: 436) außer der Angabe bezüglich ihrer Optionalität keine Anwendungsrestriktionen erwähnt. In Csimarz/Dékány (2014: 152) werden lediglich bezüglich Belebtheit Einschränkungen gemacht: „Every Hungarian (nonhuman) count noun can occur with the general classifier darab ‚piece‘.“ Für Individuativa mit menschlichem Denotat steht der Klassifikator fő ,Kopf‘ zur Verfügung. Die Autoren betrachten  



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D Nominale Syntagmen

daher Ungarisch als „Klassifikatorsprache“ und ziehen weitreichende Parallelen zu südostasiatischen Sprachen wie Thai, Burmesisch und Mandarin. Ob dem tatsächlich so ist oder ob gewisse Restriktionen vorliegen, kann hier aus Platzgründen leider nicht weiter untersucht werden. Auch eine tiefere Auseinandersetzung mit der Frage, warum und unter welchen semantischen, syntaktischen und pragmatischen Bedingungen Numerativkonstruktionen zum Zählen an sich bereits zählbarer Individuativa in diesen Sprachen Anwendung finden können, muss hier erst einmal ausbleiben.

Zuletzt sei auf einen weiteren Punkt hingewiesen: Ob eine NP, die dem in → D5.1 genannten syntaktischen Strukturmuster entspricht, als Numerativkonstruktion anzusehen ist, hängt schließlich von der Semantik des gesamten Satzes ab, in dem die NP auftritt – und besonders vom Verbalprädikat (Alexiadou/Haegeman/Stavrou 2007: 422 f.; Keizer 2007: 118–120): In ENG He spilled two bottles of wine geht es um die Menge Wein, die verschüttet wurde; in ENG He smashed two bottles of wine on the floor geht es in erster Linie um die Flaschen, die kaputt gingen, nicht um die Menge Wein. Der Kontext, in dem die Konstruktion erscheint, spielt auch eine Rolle, die besonders bedeutend wird, wenn es darum geht, den Kopf der (Numerativ-)Konstruktion zu bestimmen. Näheres dazu in → D5.5.  



D5.3 Syntaktische Eigenschaften D5.3.1 Art der N1-N2-Bindung Ein Bereich, in dem in unseren Vergleichssprachen größere Variation zu verzeichnen ist, ist die Art der Bindung des Numerativsubstantivs an den substantivischen Kern. Diese kann entweder juxtapositiv (bzw. nebenordnend) oder unterordnend erfolgen: Im ersten Fall werden N1 und N2 einfach aneinandergereiht, im zweiten wird N2 durch Kasus oder Präposition syntaktisch als untergeordnetes Element markiert. Dies ist der Fall in drei der Kontrastsprachen, nämlich Polnisch, Französisch und Englisch. Im Polnischen steht N2 im Genitiv (dwa plasterki szynki ‚zwei Scheiben Schinken‘ mit szynka ‚Schinken‘ im Genitiv Singular, kilka skrzynek jabłek ‚einige Kisten Äpfel‘ mit jabłko ‚Apfel‘ im Genitiv Plural), im Französischen und Englischen wird N2 durch die Präpositionen de und of angebunden (FRA deux tranches de jambon, ENG two slices of ham). Juxtaponiert wird N2 dagegen im Ungarischen und im Deutschen (UNG néhány láda alma, DEU einige Kisten Äpfel). Vgl. die ClusterBeispiele (2) und (3) oben. Auch die anderen europäischen Sprachen zeigen jeweils eine der beiden Bindungsmöglichkeiten; diese zeigen eine relativ klare areale Distribution (Koptjevskaja-Tamm 2001a: 555 f.). In den romanischen Sprachen erfolgt die Bindung durch die Präposition de/di, in den meisten slawischen und baltischen Sprachen durch den Genitiv; wo ein separater partitiver Kasus vorhanden ist, wie für einige Lexeme im Russischen der Fall, kann dieser neben dem Genitiv benutzt werden (RUS tri kusočki sacharaGEN/sacharuPART ‚drei Würfel Zucker‘; vgl. Paperno 2012: 731). Eine Aus 

D5 Numerativkonstruktionen

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nahme bilden die Balkansprachen Bulgarisch und Mazedonisch, wo die Bindung juxtapositiv erfolgt (BUL lităr mljako ‚ein Liter Milch‘, čift volove ‚ein Paar Ochsen‘). Juxtaposition ist auch im Baskischen, Niederländischen und den skandinavischen Sprachen (nicht aber im Isländischen, wo die Präposition af eingesetzt wird) vertreten. Griechisch und Türkisch zeigen auch eine juxtapositive Default-Bindungsart (GRI duo kilá patátes ‚zwei Kilo Kartoffeln‘, TÜR sekiz bardak su ‚acht Glas Wasser‘), die mit der genitivischen und (im Griechischen) der präpositionalen alterniert (für das Griechische s. weiter unten in diesem Abschnitt). Im Finnischen wird in Numerativkonstruktionen der Partitiv (gegenüber dem Elativ in Partitivkonstruktionen) eingesetzt. Ungarisch hat außerdem eine weitere Bindungsart, bei der Adjektivierung erfolgt: Quantifikator und N1 werden durch das Suffix -nyi (mit der Bedeutung ‚etwa so groß, so viel wie‘) adjektiviert und stehen wie alle attributiven Adjektive vor dem N2-Substantiv – vgl. etwa [egy kiló]-nyi só ‚(etwa) so viel Salz, wie ein Kilo wiegt; eine Menge wie ein Kilo Salz‘, [két üveg]-nyi bor ‚(etwa) so viel Wein, wie zwei Flaschen enthalten; eine Menge wie zwei Flaschen Wein‘ (Csirmaz/Szabolcsi 2012: 440). Diese Art der Bindung kann mit allen Subtypen benutzt werden, außer Klassifikator-, Singulativ- und Sortenkonstruktionen sowie Kollektivkonstruktionen, in denen N2 belebt ist.  

In den Kontrastsprachen wird die jeweilige Art der Bindung in der Regel unabhängig von dem Subtyp der Numerativkonstruktionen oder der syntaktischen Funktion genutzt, die die Konstruktion annimmt. Ausnahmen hierzu sind etwa das Weglassen von of im Englischen mit dem Substantiv dozen (a dozen daffodils) und, im Polnischen, das Übernehmen des Kasus von N1 durch N2 unter bestimmten Bedingungen (N1 im Singular, kein Quantifikator vor N1, s. unten → D5.4.2). Am größten ist die Variation im Deutschen, wo alle in den Kontrastsprachen vertretenen Bindungsarten (außer der im Ungarischen vorkommenden Adjektivierung) möglich sind: Vgl. (12) nach Krifka (1989: 14).  

(12)

a. ein Korb (rote) Äpfel b. ein Korb (roter) Äpfel c. ein Korb von (roten) Äpfeln

Diese Konstruktionen stehen jedoch nicht (immer) in freier Variation, ihr Gebrauch hängt zumindest teilweise mit dem Subtyp von Numerativkonstruktion bzw. der Natur der Konstruktion (qualitativ-quantifikativ) zusammen. Die Analyse von Löbel (1986: 114–124) zeigt, dass die verschiedenen Subtypen auf eine Skala mit den Polen ‚juxtapositive‘ und ‚präpositionale‘ Bindungsart verteilt werden können: Bei Mess- (auch: Behälter-als-Maß-), Klassifikator- und Singulativ- und manchen Kollektivkonstruktionen (mit N1 wie Dutzend, Gros) – d. h. Konstruktionen, deren N1 keinen Gegenstandscharakter hat – sowie Zählkonstruktionen mit N1 Stück, Scheibe, Schnitte ist die juxtapositive Bindungsart deutlich präferiert, eine präpositionale Konstruktionen ist hier gar nicht zulässig (z. B. *zwei Stück von Vieh, *zwei Liter von/aus/mit Wasser). Die juxtapositive Bindungsart kommt weiterhin auch bei Konstruktionen vor, deren N1 Gegenstandscharakter hat, wie Behälter- und Zählkonstruktionen; bei Kollektivkonstruktionen ist sie nicht uneingeschränkt anwendbar, sie kommt eher mit unbelebten N2 vor (vgl. zwei Stapel (bunte) Illustrierte, ??zwei Banden Unbekannte). Zur Variation  







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D Nominale Syntagmen

im Bereich der Kollektivkonstruktionen, insbesondere in Bezug auf das Merkmal [menschlich] bei N2, siehe im Detail Löbel (ebd.: 117–119). Bei letzterer Gruppe (Behälter-, Zähl-, Kollektivkonstruktionen) ist eine präpositionale Bindung immer zulässig, d. h., hier kommen beide Bindungsarten in freier Variation vor. Bei näherer Betrachtung kann allerdings ein Bedeutungsunterschied ausgemacht werden: Bei der juxtapositiven Bindungsart steht die quantitative, bei den anderen Bindungsarten die qualitative Lesart im Vordergrund: Zwei Körbe (rote) Äpfel oder zwei Glas Wein geben eine Menge (rote) Äpfel bzw. Wein an; in zwei Körbe von/mit (roten) Äpfeln oder zwei Gläser mit Wein wird der Kern Körbe bzw. Gläser durch das Präpositionalattribut näher charakterisiert. So ist in (13) und (14) jeweils nur der b.-Satz, nicht der c.-Satz, eine gültige Paraphrase des a.-Satzes.  

(13)

a. Frank brachte zwei Körbe frisch gepflückte Äpfel mit. b. Frank brachte frisch gepflückte Äpfel mit (und zwar zwei Körbe). c. Frank brachte zwei Körbe mit (und zwar mit frisch gepflückten Äpfeln).

(14)

a. Frank brachte zwei Körbe mit frisch gepflückten Äpfeln mit. b. Frank brachte zwei Körbe mit (und zwar mit frisch gepflückten Äpfeln). c. Frank brachte frisch gepflückte Äpfel mit (und zwar zwei Körbe).

Man könnte in diesem Sinne die These vertreten, dass die juxtapositive Konstruktion der funktionalen Domäne der Quantifikation, die präpositionale eher der funktionalen Domäne der qualitativen Modifikation zuzuschreiben ist (→ D4.6, vgl. ähnlich auch Löbel 1986: 77). Streng genommen wären somit bei Behälter-, Zähl- und Kollektivkonstruktionen nur die Varianten mit juxtapositiver Bindungsart – bzw. höchstens die Präpositionalbindung durch von – als Numerativkonstruktionen anzusehen. Als quer zu den Subtypen möglich erweist sich auch der Gebrauch der Genitivkonstruktion: Bei Konstruktionen, deren N1 keinen Gegenstandscharakter hat, ist sie nur bedingt akzeptabel, z. B. ein Liter guten Weines; sie ist speziell in älteren Sprachstufen vertreten und als veraltet bzw. stilistisch markiert anzusehen. Der Unterschied zwischen der juxtapositiven und der genitivischen Bindungsart ist also in diesem Fall stilistischer Natur (Löbel 1986: 73). Bei Konstruktionen, deren N1 Gegenstandscharakter hat, ist die genitivische Bindung nur bei Kollektivkonstruktionen gebräuchlich (z. B. ein Stapel wertvoller Bücher, ein Verein junger Leute gegenüber ?drei Körner ungebleichten Reises, ?ein Barren echten Goldes, ?ein Klumpen schweren Hefeteigs, ebd.: 116 f.). Dabei spielt der Numerus von N2 sowie die Tatsache, ob N2 durch ein Adjektiv erweitert ist, eine Rolle: Bei singularischen N2 ist die Genitivkonstruktion nicht normentsprechend (*zwei Liter Weines), mit adjektivischer Erweiterung allerdings akzeptabler, obwohl sie wie erwähnt als stilistisch markiert gilt (zwei Flaschen frischen Biers) – vgl. das Prinzip der Genitivmarkierung (→ C6.7.2) bzw. die „Genitiv-Regel“ (Duden-Grammatik 2009: 968). Ist N2 Plural, so kann bei alleinstehendem N2  











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D5 Numerativkonstruktionen

zwischen Nominativ und Genitiv nicht unterschieden werden (zwei Körbe Äpfel), da der Genitiv keine zusätzliche Markierung erhält – außer bei adjektivischer Flexion von N2, z. B. zwei Gruppen Jugendlicher. Wird ein Adjektiv zu N2 hinzugesetzt, so ist der Genitiv deutlich gekennzeichnet und ohne Weiteres zulässig (z. B. zwei Körbe roter Äpfel ist nicht stilistisch markiert). Dies entspricht auch den Ergebnissen von Hentschels empirischer Studie, nach der die Genitivbindung im Plural vier- bis sechsmal häufiger als im Singular benutzt wird (Hentschel 1993: 327). Tabelle 2 – die auf Löbel (1986: 120) basiert – fasst die Lage im Deutschen zusammen. Wir können festhalten, dass die juxtapositive Bindungsart im Deutschen den Default-Fall bei der N1-N2-Bindung darstellt, da sie auf die meisten Subtypen anwendbar ist.  









Tab. 2: Die Variation in der N1-N2-Bindung im Deutschen  

Konstruktionstyp

Juxtaposition

Genitiv

Präpositional

Klassifikator-

+





Mess-

+





Kollektiv- (Dutzend)

+

+



Zähl- (Scheibe)

+

+/–



Sorten-

+

+/–

+

Behälter-

+

+/–

+

Zähl-

+

+/–

+

Kollektiv-

+/–

+

+

Auch im Griechischen stehen wie im Deutschen die drei Bindungsarten zur Verfügung – und auch hier kann beobachtet werden, dass sie nicht in freier Variation stehen: Juxtaposition stellt dabei den Normalfall dar, besonders wenn N1 und N2 nicht erweitert bzw. determiniert sind. Präpositionale Bindung ist hier ausgeschlossen (ena bukali (*apo) krasi ‚eine Flasche (*von) Wein‘, Alexiadou/Haegeman/Stavrou 2007: 401), Genitiv wird hier generell als genitive of purpose interpretiert, was im Deutschen einem Kompositum entspricht (éna potḗri tou chrasioú wörtl. ‚ein Glas des Weines‘, d. h. ‚ein Weinglas‘, to koutí tōn tsigárōn wörtl. ‚die Schachtel der Zigaretten‘, d. h. ‚die Zigarettenschachtel‘, Holton/Mackridge/Philippaki-Warburton 2012: 341). Ist N1 erweitert, so tritt Genitiv auf, wie in (15a); ist N2 erweitert, so tritt eine Präposition auf, besonders bei qualitativer Modifikation, wie in (15b) (Holton/Mackridge/Philippaki-Warburton 2012: 435; Alexiadou/Haegeman/Stavrou 2007: 417); vgl. auch → D5.3.2.  





(15) GRI

ōraía seirá mathēmátōn nett Reihe Lektion.GEN . PL ‚eine nette Reihe Lektionen‘ b. mia seirá apó terástia pēdḗmata INDEF Reihe von riesig.AKK . PL Sprung.AKK . PL ‚eine Reihe von Riesensprüngen‘

a. mia

INDEF

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D Nominale Syntagmen

Genitiv- bzw. Präpositionalkonstruktionen können auch eingesetzt werden, wenn die Numerativkonstruktion determiniert ist (ta duo kilá tou kafé wörtl. ‚die zwei Kilo des Kaffees‘, d. h. ‚die zwei Kilo Kaffee‘, ta duo sakoúlia me tis patatés wörtl. ‚die zwei Säcke mit den Kartoffeln‘, d. h. ‚die zwei Säcke Kartoffeln‘). Hier sowie speziell bei Kollektivkonstruktionen alterniert die genitivische Bindung mit der präpositionalen, wobei die erstere als stilistisch höher gilt.  



Anzumerken ist schließlich, dass bei der Präpositionalbindung nicht alle in Frage kommenden Präpositionen als gleichrangig einzustufen sind. In den Vergleichssprachen, die über eine solche Bindungsart verfügen, gibt es immer eine, die in Numerativkontexten als unmarkiert gilt – im Englischen ist es of, im Französischen de, im Deutschen von. Andere Präpositionen – typischerweise die Entsprechungen von ‚mit‘ – können in diesen Sprachen zur Bindung von N1 an N2 vorkommen: Vgl. ENG a glass with water, DEU ein Glas mit Wasser. Solche Konstruktionen werden hier nicht als Numerativkonstruktionen angesehen, da hierbei nicht die quantitative, sondern eher die qualitative Komponente im Vordergrund steht: with water charakterisiert den Gegenstand glass, es wird hier keine Menge Wasser angegeben. Präpositionen können somit auch funktionsunterscheidend sein – z. B. FRA verre d’eau vs. verre à eau vs. verre avec de l’eau ‚Glas Wasser‘ (quantifizierend) vs. ‚Wasserglas‘ (klassifikatorisch) vs. ‚Glas mit Wasser‘ (qualitativ); s. auch → D5.6.1. Andererseits ist es nicht ausgeschlossen, dass ein und dieselbe Präposition mehrere Lesarten zulässt – so im Englischen: z. B. a cup of sugar was strewn on the floor vs. a cup of sugar smashed on the floor (Alexiadou/Haegeman/Stavrou 2007: 462). Nur im ersteren Fall ist die Subjekt-NP als Numerativkonstruktion anzusehen, im letzteren dagegen hat of sugar eher klassifikatorische Funktion (cup of sugar und nicht a cup of tea / a cup of coffee). Hier hilft nur der Kontext, im vorliegenden Beispiel das Verbalprädikat, die Bedeutung – und die Funktion – der Konstruktion zu disambiguieren. Dies hat auch Folgen in Bezug auf die Bestimmung des Kopfes der ganzen Konstruktion, s. hierzu ausführlich → D5.5.  

















D5.3.2 Erweiterbarkeit von N1 und N2 durch Adjektive Ein weiterer syntaktischer Parameter ist die Erweiterbarkeit von N1 und N2. Wie in → D5.1 ausgeführt, können N1 und N2 sowohl als simple Substantive vorkommen als auch zu NOM-Konstituenten erweitert werden. Wir nehmen hier den Fall unter die Lupe, wenn sie durch Adjektive erweitert werden. Zur Erweiterung durch andere Attribute (etwa: Relativsätze) vgl. Löbel (1986: 98 f.) für das Deutsche und Keizer (2007: 143–146) für das Englische. Es liegt zunächst nahe, Adjektive je nach Funktion in drei Gruppen zu unterteilen: qualitative (drei Flaschen frisches Bier), klassifikatorische (drei Schachteln amerikanische Zigaretten) und quantifizierende (drei gute Stunden Arbeit). Der dritten Gruppe können Adjektive zugeordnet werden, die in ihrer „primären“ Bedeutung Qualitätsoder Relationsadjektive sind, im Kontext einer Numerativkonstruktion jedoch quanti 



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D5 Numerativkonstruktionen

fikative Funktion haben (Löbel 1986: 58): Z. B. bedeutet gut im Beispiel drei gute Stunden Arbeit nicht, dass die Stunden gut, d. h. angenehm sind, sondern dass der Zeitraum von drei Stunden voll ausgeschöpft wird. Die Position N2 ist im Prinzip sowohl durch qualitativ als auch durch klassifikatorisch gebrauchte Adjektive erweiterbar, die mit dem N2 selbst lexikalisch-semantisch kompatibel sind (z. B. eine Tasse guter/warmer/kalter/*blonder/*tragfähiger Kaffee, eine Tasse italienischer/amerikanischer/*medizinischer/*mittelalterlicher Kaffee). Adjektive, die vor N1 eine quantifizierende Lesart erhalten, sind vor N2 nur in ihrer ‚primären‘ Lesart interpretierbar: Z. B. kann gut in eine Stunde gute Arbeit nur bedeuten, dass die Arbeit angenehm, erfolgreich, zufriedenstellend war, nicht aber dass sie voll ausgeschöpft war. In unseren Vergleichssprachen sind also für die Erweiterung von N2 durch Adjektive nur lexikalisch bedingte Restriktionen zu verzeichnen.  







Im Griechischen dagegen ist bei der juxtapositiven Bindungsart die Position N2 nur für Adjektive offen, die klassifikatorische Funktion haben; wird N2 durch qualifizierende Adjektive erweitert, so wird auf die präpositionale Bindungsart ausgewichen (Alexiadou/Haegeman/Stavrou 2007: 417), wie in (16) zu sehen ist. (16) GRI

a. ena

paketa elafria/amerikanika/afiltra tsighara Paket leicht/amerikanisch/filterlos Zigaretten ‚eine Schachtel leichte/amerikanische/filterlose Zigaretten‘ b. *ena paketa frixta tsighara INDEF Paket furchtbar Zigaretten c. ena paketa me frixta tsighara INDEF Paket mit furchtbar Zigaretten ‚eine Schachtel furchtbare Zigaretten‘ INDEF

Etwas anders liegen die Verhältnisse bei der N1-Position. Sprachübergreifend lässt sich die Tendenz feststellen, dass sich N1 durch Adjektive zu einer NOM-Konstituente erweitern lässt, und zwar umso eher, je lexikalischer – und daher referenzfähiger – N1 selbst ist (Alexiadou/Haegeman/Stavrou 2007: 418). Hier kommt also das Merkmal [± Gegenstandscharakter] wieder zum Tragen: Klassifikator-, Singulativ- und Messkonstruktion vertragen so gut wie keine Adjektive, bei Zähl-, Behälter- und Kollektivkonstruktionen können – wenn auch beschränkt – Adjektive vorkommen. Hierbei handelt es sich um Adjektive, die quantifikative oder qualitative Funktion haben. Adjektive mit klassifikatorischer Funktion sind dagegen ausgeschlossen. Siehe folgende Beispiele aus dem Deutschen.  







(17)



zwei ?große/*amerikanische Stück Vieh, zwei ?dünne/*druckergeeignete Blatt Papier, zwei *schwere/*quadratische/volle/kleine/neue Glas Wein, zwei dünne/ ?appetitliche Scheiben Brot, zwei ??grüne/*französische Schachteln Zigaretten, zwei große/interessante/?/*religiöse Sammlungen Bücher, zwei kleine/fröhliche/ ?religiöse Gruppen Touristen.

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D Nominale Syntagmen

Quantifizierend können etwa gut, voll, ganz, knapp, neu sowie die Ordinalnumeralia benutzt werden: ein gutes/knappes/ganzes Kilo Äpfel, eine volle/ganze/neue/dritte/ vierte Flasche Wein). Bei Mengen > 1 können diese Adjektive sowohl vor N1 als auch vor der ganzen Konstruktion erscheinen: gute/knappe/volle/ganze zwei Kilo Äpfel – zwei gute/knappe/volle/ganze Kilo Äpfel. Die Akzeptabilitätsurteile von Muttersprachlern sind hier unterschiedlich, es herrscht allerdings Einigkeit darüber, dass zumindest bei knapp und ganz beide Stellungen zulässig sind. Manche von diesen Adjektiven können im Deutschen auch adverbial vor der Numerativkonstruktion erscheinen: gut/knapp/rund/*ganz/*voll ein Kilo Äpfel. Sie sind hier als „adnumerative Operatoren“ (Grochowski 1998) zu analysieren, die die in der NP angegebene Mengenangabe auf- oder abrunden. Sie bilden eine Konstituente mit dem Numerale: [gut zwei] Kilo Äpfel wie [mindestens zwei] Kilo Äpfel.  

Eine im August 2012 in D E R E K O durchgeführte Suche zur Verteilung von gut und knapp mit quantifizierender Funktion bzw. als adnominale Operatoren lieferte folgende Ergebnisse: Der Gebrauch als adnumerativer Operator überwiegt deutlich (gut 936 Okkurrenzen, knapp 884), gefolgt vom quantifizierenden Gebrauch mit ‚normaler‘ Stellung des Adjektivs, wie in zwei gute/ knappe Kilo Äpfel (gut 462, knapp 287); am seltensten ist die Voranstellung des Adjektivs, wie in gute/knappe zwei Kilo Äpfel (gut 19, knapp 16).

In den Kontrastsprachen kommen als adnumerative Operatoren allerdings keine Adjektive, sondern Adverbien, adverbiale Fügungen oder Präpositionen vor. Z. B. werden rund, gut, knapp in adverbialem Gebrauch durch ENG about/around, just over, just under/almost, FRA environ, peu plus de, peu moins de, POL około/blisko, (nieco) ponad/z górą, prawie/niecały, UNG körülbelül, alig több mint, alig wiedergegeben. Adnumerative Operatoren können also verschiedenen Wortklassen entstammen – im Deutschen eben verstärkt der Klasse der Adjektive.  



Im Polnischen wird knapp u. a. durch das vorangestellte (allerdings flektierte) Adjektiv niecały, wörtl. ‚nicht-ganz‘, wiedergegeben (z. B. niecałe trzy szklanki wody ‚knapp drei Glas Wasser‘). około, blisko und ponad sind in adnumerativem Gebrauch als Adverbien – und nicht als Präpositionen, was sie auch sein können – ausgewiesen. Dies sieht man darin, dass das N1 der Numerativkonstruktion, der sie vorangehen, nicht konsequent im Genitiv steht – dem Kasus, den sie als Präposition regieren würden. Zu Schwankungen zwischen dem Gebrauch als Adverb (in indirekten Kasus) und Präposition (in direkten Kasus) bei około s. ausführlich Grochowski (1998).  









Qualitativ gebrauchte Adjektive begleiten, wie oben erwähnt, präferiert N1 mit dem Merkmal [+ Gegenstandscharakter]. Diese haben einen lexikalischen Eigengehalt, der es ihnen erlaubt, semantisch mit Attributen zu kombinieren. Hier kommen Adjektive in Frage, die sich auf eine Eigenschaft des vom Numerativsubstantiv Bezeichneten (Umfang, Gewicht usw.) beziehen, wie z. B. klein/groß, dick/dünn in ein großes Glas Bier oder ein dickes Bündel Kleider (Löbel 1986: 61). Löbel spricht hier von ‚limitierenden‘ Adjektiven; zutreffender wäre wohl die Bezeichnung ,skalierend‘. Dass sich die Eigenschaft auf N1 bezieht, wird deutlich, wenn man dasselbe Adjektiv bei N2 attribuiert, was eine andere Bedeutung ergibt (z. B. ein Bündel dicke Kleider). Andere Adjektive, etwa Farbadjektive, können dagegen nicht mit N1 kom 





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D5 Numerativkonstruktionen

binieren (z. B. *ein rotes Glas Bier). Dass dem nicht nur im Deutschen so ist, sondern auch in anderen europäischen Sprachen – darunter Englisch und Griechisch – zeigen Alexiadou/Haegeman/Stavrou (2007: 418 f.). Adjektive, die die subjektive Einstellung des Sprechers wiedergeben, sind auch möglich: In diesem Fall sollte allerdings davon ausgegangen werden, dass die betroffenen N1 einen klaren semantischen Eigengehalt haben – z. B. an interesting collection of LPs vs. a collection of interesting LPs (ebd.: 421), wo im ersteren Fall die Sammlung, nicht unbedingt die Platten, interessant ist. Andererseits sind im Deutschen und den Kontrastsprachen Konstruktionen wie drei leckere Packungen Pralinen, ein herrliches Glas Wein vertreten, in denen sich das Adjektiv deutlich auf N2 bezieht, obwohl es zu NOM1 gehört. N2 kann seinerseits auch Attribute zu sich nehmen. Man siehe das Beispiel (18).  









(18) FRA ENG POL UNG DEU



trois délicieuses boîtes de chocolats suisses three delicious boxes of Swiss chocolates trzy pyszne pudełka szwajcarskich czekoladek három finom doboz svájci bonbon drei leckere Packungen Schweizer Pralinen

Hier zeigt also N1 eine gewisse „semantische Durchlässigkeit“, die es erlaubt, N1 eine Eigenschaft von N2 zu attribuieren. Dies betrifft allerdings nur qualitativ gebrauchte Adjektive; Adjektive mit klassifikatorischer Funktion können nicht in NOM1 erscheinen. So ist es z. B. nicht möglich, die Position der Adjektivattribute in (18) zu tauschen (*drei Schweizer Packungen leckere Pralinen) oder beide in NOM1 zu verschieben (*drei leckere Schweizer Packungen Pralinen), wohl aber beide in NOM2 zu haben (drei Packungen leckere Schweizer Pralinen). Diese Besonderheit ist wohl durch die halbsubstantivische-halb-quantifikatorische Natur von N1 zu erklären und ist unabhängig von der in der jeweiligen Sprache benutzten Bindungsart, solange es sich um eine Numerativkonstruktion im engeren Sinne handelt. So ist es z. B. im Deutschen nicht möglich, bei präpositionaler Bindung ein Adjektiv in NOM1 auf N2 zu beziehen: In ein herrliches Glas mit Wein kann sich herrlich ausschließlich auf Glas beziehen. Nur beim von-Anschluss scheint dies – zumindest bei Kollektivkonstruktionen – teilweise möglich, vgl. ein zerlesener Stapel von Büchern (die Bücher, nicht der Stapel, sind zerlesen). Ähnlich ist es im Englischen: Nur die Default-Bindung mit of lässt Adjektivverschiebung zu, z. B. a steaming bowl of/??with food ‚eine dampfende Schüssel (??mit) Essen‘ (Keizer 2007: 141). Wir können zum Schluss festhalten, dass die N2-Position offen ist sowohl für qualitativ als auch für klassifikatorisch gebrauchte Adjektive; die N1-Position ist dagegen nur für erstere offen, wobei hier nur eine geringe Anzahl Adjektive sich direkt auf N1 beziehen kann – es ist oft der Fall, dass Qualitätsadjektive in NOM1 sich eigentlich auf N2 beziehen. Quantifikative Adjektive, die den „Grad der Fülle“ wie 











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D Nominale Syntagmen

dergeben, sind eher als adnumerative Operatoren zu interpretieren und kommen besonders im Deutschen vor N1 vor.

D5.3.3 Zur Determinierbarkeit von Numerativkonstruktionen Wirft man erneut einen Blick auf die allgemeine Struktur der Numerativkonstruktionen in → D5.1, so sieht man, dass sie optional durch einen Determinator erweitert werden können. Determinatoren, die hierfür in Frage kommen, sind definite Artikel, Demonstrativa, Possessiva sowie das Quantifikativum all-. Dieses kann logischerweise nur mit Kardinalnumeralia kombinieren (alle zwei/*vielen Flaschen Bier), während alle anderen Determinatoren sowohl mit Kardinalia als auch mit den meisten Quantifikativa kombinieren können (die drei/vielen Flaschen Bier). In allen Vergleichssprachen können diese Elemente vor dem Quantifikator der Numerativkonstruktion erscheinen, wie in (19) und (20) gezeigt. Da das Polnische keinen (definiten) Artikel hat, entfällt hier diese Art der Determination. Das Quantifikativum für ,alle‘ erscheint in (20) im Französischen und Ungarischen noch zusätzlich zum definiten Artikel (→ B1.5.5.4.4). Ungarisch hat keine selbstständigen Possessivpronomina, sondern Possessorsuffixe, die an das Substantiv angehängt werden (→ B1.5.4.5): In Numerativkonstruktionen werden sie an N2 angefügt (két szelet sonká-jaPOSS.3SG ‚seine/ihre zwei Scheiben Schinken‘). (19) FRA ENG POL UNG DEU

Les/Ces/Ses deux tranches de jambon (qu’il mange tous les soirs). The/Those/His two slices of ham (he eats every evening). Te/Jego dwa plasterki szynki (które je co wieczór). Az/Ez a két szelet sonka // A két szelet sonkája (amelyiket eszi minden este). Die/Diese/Seine zwei Scheiben Schinken (die er jeden Abend isst).

(20) FRA ENG POL UNG DEU

Toutes les cinq caisses de pommes (qu’on a achetées). All five crates of apples (we bought). Wszystkie pięć skrzynek jabłek (które kupiliśmy). Mind az öt láda alma (amelyiket vettük). Alle fünf Kisten Äpfel (die wir gekauft haben).

Alexiadou/Haegeman/Stavrou (2007: 413) vertreten die These, determinierte Numerativkonstruktionen seien nicht mehr quantifizierend; das Zahlwort sei „like any prenominal adjective that happens to have a meaning referring to quantity (like other adjectives have a meaning referring to a property, etc.)“. Dies wird im Hinblick auf ihre Ansicht behauptet, dass Numerativkonstruktionen indefinite DPs und daher nicht mit definiten Determinatoren kompatibel sind. Wir schließen uns dieser Position nicht an und betrachten weiterhin solche Strukturen als quantifizierend: Selbst wenn sie durch einen definiten Artikel oder ein anderes Determinativ determiniert werden, erfüllen sie ihre Grundfunktion, Unzählbares zählbar zu machen.

D5 Numerativkonstruktionen

1719

Restriktionen in der Möglichkeit, Numerativkonstruktionen durch Determinatoren zu ergänzen, ergeben sich im Fall der Einermenge. In diesem Fall erübrigt sich im Prinzip das Zahlwort 1 (1: ich trinke die/meine Flasche Bier; 2: ich trinke die/meine zwei Flaschen Bier), da durch den Determinator im Singular die Einermenge bereits angegeben ist. Im Ungarischen ist im Fall von Klassifikatorkonstruktionen die Determination durch den definiten Artikel ausgeschlossen (*a fej saláta ‚der Kopf Salat‘, Dékány 2010: 1); erscheint dagegen ein Demonstrativum vor der Konstruktion, so ist sie akzeptabel (ez a fej saláta ‚dieser Kopf Salat‘). Eine ähnliche Restriktion gibt es im Griechischen: Bei der juxtapositiven Bindungsart ist die Konstruktion nur dann grammatisch, wenn sowohl vor N1 als auch vor N2 der definite Artikel erscheint. Vgl. (21a) vs. (21b). (21) GRI

a. *Thelo to potiri nero. Wasser woll.1SG DEF Glas (gemeint): ‚Ich will das Glas Wasser.‘ b. Efera to bukali to krasi. Flasche DEF Wein bring.PRT . 1SG DEF ‚Ich brachte die Flasche Wein.‘ (Alexiadou/Haegeman/Stavrou 2007: 427 f.)  

Soll die Einermenge in einer determinierten Konstruktion besonders hervorgehoben werden, kann das Zahlwort 1 hinzugefügt werden – nur im Französischen scheint dies nicht möglich zu sein.  

(22) ENG FRA POL UNG DEU

I drink (only) this one glass of water. *Je bois (seulement) cet un verre d’eau. Piję (tylko) tę jedną szklankę wody. (Csak) ezt az egy pohár vizet iszom. Ich trinke (nur) dieses eine Glas Wasser

Auf die Frage, ob im Fall der Einermenge (ein Glas Wasser) vor N1 – bei einer nicht determinierten Konstruktion – das Zahlwort 1 oder der indefinite Artikel steht, kann aus Platzgründen nicht eingegangen werden.  



Zu betonen ist, dass die Determination nur die von N1 erwähnten Entitäten betrifft; N2 bleibt davon unberührt. Dies wird u. a. daraus deutlich, dass bei determinierten Numerativkonstruktionen nur N1, und nicht N2, zugänglich für Relativierung ist, s. (23). Zusätzlich beeinflusst im Deutschen die Setzung eines Determinators vor N1 das Deklinationsmuster eines vor N2 auftretenden Adjektivs nicht: Z. B. Ein Glas kühler Wein ist erfrischend vs. Das eine Glas kühler/*kühle Wein ist erfrischend (Löbel 1986: 81 f.).  







1720

(23)

D Nominale Syntagmen

Die 5 Barren Gold, die/*das Herr Meier gekauft hat, sind eine gute Kapitalanlage. (Löbel 1986: 99)

Wird dagegen N2 determiniert, so haben wir es nicht mehr mit einer Numerativ-, sondern mit einer Partitivkonstruktion (→ D5.1) zu tun. Numerativ- und Partitivkonstruktionen sind strukturell gleich in den Vergleichssprachen, die genitivische bzw. präpositionale Bindungsart zeigen, vgl. (24); in denen, die bei Numerativkonstruktionen N1 und N2 juxtapositiv binden, werden dagegen andere Fügungen eingesetzt – im Deutschen etwa die von-Konstruktion, im Ungarischen der Elativ, s. (25) und dessen Übersetzung. Zur strukturellen (Nicht-)Unterscheidung von Numerativ- und Partitivkonstruktionen vgl. ausführlich Koptjevskaja-Tamm (2001a).  

(24) ENG FRA POL

(25) UNG

I ate three pieces of this (delicious) cake. J’ai mangé trois morceaux de cette tarte (délicieuse). Zjadłem trzy kawałki tego (smacznego) ciasta. ‚Ich aß drei Stück von diesem (leckeren) Kuchen.‘ fél halb amit

csésze abból a balzsamból, EL A Tasse DEM .ELA DEF Balsam.ELA egyébként használsz RPRO . AKK . SG sonst benutz.2SG ‚eine halbe Tasse von dem (=jenem) Balsam, den du sonst auch benutzt‘ (Internet)

D5.4 Morphologische Eigenschaften D5.4.1 Numerusmarkierung Der kontrastive Vergleich von Numerativkonstruktionen in unseren Sprachen zeigt, dass es Variation in der morphologischen Markierung von N1 und N2 gibt. Diese betrifft zuerst die Numerusmarkierung. Für die Position N1 gilt im Prinzip dasselbe, was über die Numerusmarkierung von Substantiven in NPs mit Kardinalnumeralia bzw. Quantifikatoren gesagt wurde (→ B2.3.4.1): Kardinalnumeralia ab zwei sowie Quantifikativa, die diese substituieren können, verlangen in allen Sprachen außer Ungarisch den Plural – im Polnischen gelten außerdem bestimmte Kasusverhältnisse (Genitivregierung ab fünf, ggf. ab zwei für maskulin-personale Substantive). Vgl. (2) und (3) oben und folgende Beispiele aus dem Französischen und Polnischen.  

D5 Numerativkonstruktionen

(26) FRA POL

1721

deux kilos de haricots, trois douzaines d’oeufs, deux verres de bierre, deux tranches de pain, deux bottes de carottes, deux sortes de légume dwa kilo fasoli, dwa tuziny jaj(ek), dwie szklanki piwa, dwie kromki chleba, dwa pęczki marchwi, dwa rodzaje warzyw ‚zwei Kilo Bohnen, drei Dutzend Eier, zwei Glas Bier, zwei Scheiben Brot, zwei Bund Karotten, zwei Sorten Gemüse‘

Für das Englische und das Deutsche sind allerdings manche Besonderheiten zu verzeichnen: Im Englischen wird bei dem Numerativsubstantiv pound fakultativ, bei brace ‚Paar (von Vögeln)‘, gross ‚zwölf Dutzend‘ und head ‚Stück‘ obligatorisch kein Pluralmarker gesetzt; alle anderen als Numerativsubstantiv verwendeten Ausdrücke werden in der Regel pluralisiert (Quirk et al. 1985: 309), vgl. (27). (27)

two pound(s) of beans, two brace of pheasants, ten gross of nails, two head of cattle/cabbage; two kilos of beans, two glasses of beer, two slices of bread, two bunches of carrots, two sorts of beans

Auch im Deutschen wird gegebenenfalls der Pluralmarker bei N1 weggelassen. Dies betrifft ausschließlich maskuline und neutrale Substantive (Ausnahmen: (die) Faust, (die) Maß, Duden-Grammatik 2009: 175–177). So steht N1 in Messkonstruktionen sowie bei der Zähleinheit Dutzend grundsätzlich im Singular, wie in (28) und (29), in Klassifikatorkonstruktionen überwiegt auch bei einem Numerale > 1 der Singular. Bei Sortenkonstruktionen steht Plural, bei den anderen Subtypen ist für bestimmte Numerativsubstantive lexemabhängig der Singular mehr oder weniger usuell. Dies gilt insbesondere für Blatt, Bund, Laib, Schluck, während bei Glas, Sack oder Fass beide Numeri in etwa ausgewogen vorkommen. Vgl. (29) und (30). Keines weiteren Kommentars bedürfen Fälle, wo Singular und Plural identisch sind (Barren, Tropfen usw.). (28)

zwei Pfund/*Pfunde Bohnen, drei Dutzend/*Dutzende Eier

(29)

Thabani Nyoka macht sich am Grill zu schaffen, ein Metallrost auf einer zersägten Blechtonne. Er hat ihn aus einem Schuppen ins Gras gewuchtet, die Kohle mühsam entflammt. Versöhnung, das sind heute sieben Hühnchen, sechseinhalb Kilo Lammkoteletts, zwei Kilo Rinderwurst, ein Sack Maismehl, drei Köpfe Salat, zwei Gurken, eine Tüte Tomaten, zwei Dutzend Brötchen, drei Kilo Weintrauben, fünf Liter Orangenlimonade, eine Großpackung Konfekt. (Die Zeit, Online-Ausgabe, 07.04.2004)

(30)

Doch dann werden Erich Honecker auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft zwei Blatt Papier vorgelegt, die über Flughafen-Polizei-Fax eingegangen sind. (Der Spiegel, 18.01.1993)

1722

D Nominale Syntagmen

Der Gebrauch des Singulars bei Behälterausdrücken wie Glas, Fass ist tendenziell auf kulturell wie sprachlich besonders konventionalisierte Verbindungen beschränkt; insbesondere Oberbegriffe wie Flüssigkeit, Nahrungsmittel verbinden sich nicht mit dem Singular, wie in (31a) vs. (31b) zu sehen ist. (31)

a. zwei Glas Wasser/Bier/Wein, zwei Fass Bier b. zwei Gläser/??Glas Marmelade/Flüssigkeit, zwei Fässer/??Fass Hering /Nahrungsmittel

In der Duden-Grammatik (2009: 176) wird ohne eingehendere Erklärungen behauptet, dass Singularformen auftreten, „wenn die Funktion einer Maßbezeichnung im Vordergrund steht“, wobei es hier nicht unmittelbar einleuchtend ist, was unter ‚Funktion‘ zu verstehen ist. Möglicherweise ist dies in Verbindung zu setzen mit Löbels (1986: 46–51) „fakultativer Markierung des Plurals“. Diese gehe mit einem semantischen Unterschied einher: N1-Substantive werden, wenn sie nicht pluralmarkiert sind, als abstrakte Maßbezeichnungen (mit dem Merkmal [–Gegenstandscharakter]) aufgefasst; sind sie pluralmarkiert, so werden sie eher als konkrete Gegenstände aufgefasst. Beispiele: Drei Glas Bier bezeichnet eine Menge Bier, wobei jedes Glas (abstrakt) gleich groß ist; drei Gläser Bier bezeichnet auch eine Menge Bier, wobei jedes Glas (konkret) unterschiedlich groß sein kann (nicht muss) (vgl. auch IDSGrammatik 1997: 1986 f.). Mit zehn Blatt Papier wird auf eine Menge Papier referiert, wobei jedes Blatt (abstrakt) gleich groß ist; in zehn Blätter Papier können die Blätter im Prinzip auch unterschiedlich groß sein und/oder als einzelne Individuen aufgefasst werden. Vgl. hierzu auch Löbel (1986: 48).  

Ähnlich bleiben auch in skandinavischen Sprachen sowie im Niederländischen maskuline und neutrale N1 im Singular (z. B. DÄN fem kilo kartofler ‚fünf Kilo Kartoffeln‘). Der Pluralmarker bei N1 gilt als veraltet (z. B. SWE två skäppor havre ‚zwei Scheffel Hafer‘) und wird im aktuellen Sprachgebrauch etwa dann verwendet, wenn die Maßbezeichnung besonders hervorgehoben werden soll, z. B. SWE de extra fem kilona smör ‚die extra fünf Kilo Butter‘, mit kilo-na Kilo-PL.DEF (Beispiele aus Holmes/Hinchliffe 1994: 39). Dies betrifft, wie im Deutschen, nicht-feminine N1: Obwohl Maskulinum und Femininum zum Genus Utrum zusammengeschmolzen sind (→ B2.2.2.2), werden ursprünglich feminine N1 ggf. pluralisiert: Vgl. SWE två flask-or mjölk ‚zwei Flaschen Milch‘, NDL twee vless-en wijn ‚zwei Flaschen Wein‘. In den romanischen und slawischen Sprachen wird N1 konsequent pluralisiert (zu den wenigen Ausnahmen im Sorbischen s. unten →D5.4.2). Es zeichnet sich die Tendenz ab, dass Nicht-Pluralisierung eher in Sprachen vorkommt, die N1 und N2 juxtapositiv binden (germanische Sprachen, auch Türkisch, Baskisch) – Gegenbeispiele hierzu wären die Balkansprachen Griechisch, Bulgarisch und Mazedonisch, wo N1 trotz juxtapositiver Bindung pluralisiert wird (GRI déka tónoiPL tsiménto ‚zehn Tonnen Zement‘, BUL dve čašiPL voda ‚zwei Tassen Wasser‘).  









Was die Position N2 betrifft, so steht im Ungarischen der substantivische Kern immer im Singular, s. (2) und (3) oben. In den anderen Sprachen hängt die Numerusmarkierung mit dem Nominalaspekt des Substantivs zusammen: Kontinuativa erscheinen im Singular, Individuativa im Plural (→ B1.4.2.4). Ausnahmen sind in der Regel lexem-

1723

D5 Numerativkonstruktionen

abhängig: So kann im Polnischen bei zählbaren Lebensmitteln, die gefangen/geerntet werden, N2 sowohl im Singular als auch im Plural stehen, wie in dziesięć ton śledzia/ buraka cukrowego gegenüber dziesięć ton śledzi/buraków cukrowych ‚zehn Tonnen Hering(e)/Zuckerrübe(n)‘ (Swan 2002: 332); diese Besonderheit findet sich auch in den anderen Vergleichssprachen und hängt wohl damit zusammen, dass nicht auf einzelne Fische bzw. Rüben, sondern Fisch- bzw. Gemüsequanten Bezug genommen wird.

D5.4.2 Kasusmarkierung Steht die Numerativkonstruktion nicht im Nominativ bzw. in einem direkten Kasus, so variieren die Vergleichssprachen darin, wie Kasus an der Numerativkonstruktion markiert wird. In den Sprachen, die N1 und N2 durch eine Präposition binden, bleibt die morphologische Markierung der Numerativkonstruktion unverändert: z. B. ENG on three slices of bread ‚auf drei Scheiben Brot‘, FRA avec cent grammes de fromage ‚mit hundert Gramm Käse‘, DEU mit drei Gruppen von Studenten. Im Deutschen wird, wenn nötig, an N1 das Dativ-n hinzugefügt: er kam mit drei Stapeln von Büchern. Ähnlich verhält es sich in Sprachen, die eine genitivische Bindungsart zeigen: N1 steht im vom Quantifikator bzw. vom Verb/von der Präposition verlangten Kasus, N2 bleibt im Genitiv, z. B. POL ugotować ryż w trzechL O K szklankachL O K . P L wodyG E N . S G ‚den Reis in drei Glas Wasser zubereiten‘, DEU er kam mit drei StapelnD A T . P L [neuer Bücher]G E N . P L / mit drei TassenD A T . P L [frisch gebrühten Tees]G E N . S G .  



Ausnahmen hierzu sind rar: Im Polnischen und im umgangssprachlichen Sorbischen kann eine Art Kasusattraktion stattfinden, die bewirkt, dass auch N2 im selben Kasus wie N1 steht. Vgl. folgende Beispiele. Diese Kasusangleichung findet allerdings nur statt, wenn N1 Singular ist und die quantifizierte Menge gleich eins ist (d. h., kein Zahlwort erscheint vor N1). Wohl unter dem Einfluss des Deutschen können im Sorbischen unter denselben Bedingungen die N1 kus ‚Stück‘ und kusk ‚Stückchen‘ unflektiert bleiben (Faßke 2001: 155 f.) – dann steht aber N2 im erforderten Kasus, vgl. (34).  





(32) POL

a. w szeregu miast in Reihe.LOK . SG Stadt.GEN . PL b. w szeregu miastach in Reihe.LOK . SG Stadt.LOK . PL ‚in einer Reihe von Städten‘ (Comrie/Corbett 1993: 750)

(33) OSO

a. z měchom běrnami Kartoffel.INS . PL mit Sack.INS . SG ‚mit einem Sack Kartoffeln‘ b. w karanje piwje in Krug.LOK . SG Bier.LOK . SG ‚in einem Krug Bier‘ (Comrie/Corbett 1993: 673) c. na třoch kobjelach jejow auf drei.LOK Korb.LOK . PL Ei.GEN . PL ‚auf drei Körben Eier‘

1724

D Nominale Syntagmen

(34) OSO

a. na kus papjerje auf Stück Papier.LOK . SG b. na kusu papiery auf Stück.LOK . SG Papier.GEN . SG ‚auf einem Stück Papier‘ (Faßke 2001: 155)

In den Sprachen, in denen die N1-N2-Bindung juxtapositiv erfolgt, wird Kasus unterschiedlich markiert. Im Ungarischen erhält nur N2 den Kasusmarker, vgl. (2) und (3) oben, wo nur die N2 sonka ‚Schinken‘ und alma ‚Apfel‘ den Akkusativmarker -t aufweisen. Dies steht im Einklang mit der Markierungspraxis in der ungarischen Nominalphrase: Morphologisch markiert wird nur einmal, und zwar am rechten Ende der Phrase – ausgenommen NPs, die ein Demonstrativpronomen enthalten. Im Deutschen variiert die Markierung je nach Kasus und danach, ob N2 durch ein Adjektiv erweitert wird. N1 steht bis auf wenige Ausnahmen (kein Dativ-Plural-n bei N1, die auf -er/-el enden, Duden-Grammatik 2009: 176) im vom Kontext erforderten Kasus. Ist N2 Singular und unbegleitet, so steht es in allen Kasus im unmarkierten Nominativ; bei Erweiterung durch ein Adjektiv steht NOM2 im selben Kasus wie N1 (Parallelflexion) – natürlich nur bei der juxtapositiven Bindungsart (35a), (36a); bei genitivischer und präpositionaler Bindung steht N2/NOM2 im Genitiv bzw. im von der Präposition erforderten Kasus (35b, c), (36b, c). Die Kasusidentität zwischen N1 und N2/NOM2 bei juxtapositiver Bindungsart ist in der Regel nur am Adjektiv erkennbar (bzw. am nominal gebrauchten Adjektiv, falls dieses N2 darstellt). Ist N2 Plural und unbegleitet, so steht es im unmarkierten Kasus Nominativ – im Dativ alterniert diese Form mit der Plural-Dativ-Form auf -n (Duden-Grammatik 2009: 986). Bei Erweiterung durch ein Adjektiv steht die NOM2-Konstituente bei juxtapositiver Bindungsart wieder im selben Kasus wie N1; der Dativ zeigt wieder Schwankungen zwischen der n-haltigen und der n-losen Form.  





(35)

a. Er kam mit einer Tasse (frisch gebrühtem) Tee. b. Er kam mit einer Tasse ?(frisch gebrühten) Tees. c. Er kam mit einer Tasse mit (frisch gebrühtem) Tee.

(36)

a. Er kam mit einem Korb (frisch gepflückte) Äpfel/(frisch gepflückten) Äpfeln. b. Er kam mit einem Korb (frisch gepflückter) Äpfel. c. Er kam mit einem Korb mit (frisch gepflückten) Äpfeln.

Wir können somit festhalten, dass auch bei der Kasusmarkierung das Deutsche unter den Vergleichssprachen diejenige mit der breitesten Palette an Varianten ist. Diese Palette wird noch breiter, wenn der aktuelle Sprachgebrauch getestet wird, wie es in Hentschels (1993) empirischer Studie der Fall ist. Die Studie berücksichtigt Mess-, Behälter-, Zählund Kollektivkonstruktionen; alle benutzten Testsätze enthalten Numerativkonstruktionen, in denen N2 durch ein Adjektiv zu NOM2 erweitert wird. Es zeigt sich, dass die Informanten manchmal auch „Zwischenlösungen“ liefern, die von den oben besprochenen abweichen und

D5 Numerativkonstruktionen

1725

von der Unsicherheit der Sprecher beim Gebrauch von Numerativkonstruktionen in nicht-nominativischen Kasus zeugen – vgl. etwa (37), wo die Gesamtphrase, erkennbar an der Form einer, im von der Präposition mit verlangten Dativ, NOM2 dagegen im Akkusativ steht (alternativ könnte man hier auch behaupten, NOM2 stehe auch im Dativ, das Adjektiv sei aber schwach flektiert).  

(37)

Ich habe ihn mit einer Flasche billigen Fusel im Park sitzen sehen. (Hentschel 1993: 325)

Solche Schwankungen ergeben sich nach Hentschel (1993: 328) hauptsächlich, wenn Numerativkonstruktionen als präpositionale Attribute im Dativ auftreten und N2 maskulin ist. (Der Fall einer Numerativkonstruktion als possessives Attribut wurde nicht getestet.) Ansonsten zeichnen sich ziemlich klare Tendenzen ab: Die Genitivbindung ist de facto pluralischen N2 vorenthalten; bei singularischen N2 tritt sie auf, wenn sie feminin sind – wobei die Identität der Genitiv- und Dativ-Endung diesen Gebrauch gerade bei NOM1 im Dativ begünstigt. Parallelflexion zeigt sich durchwegs bei singularischen maskulinen N2, wenn die Konstruktion als direktes Objekt dient (ebd.: 331 f.). Somit ist nach Hentschel die Kasusselektion seitens der Sprecher von verschiedenen, teils konkurrierenden Faktoren gesteuert; Numerativkonstruktionen im Deutschen erweisen sich somit – insbesondere wenn sie nicht als Subjekte auftreten – als ein Teil des Sprachsystems, der sich gerade im Umbau befindet, wie im nächsten Abschnitt ausführlicher erörtert wird.  







D5.5 Zur Frage der Köpfigkeit Eine in der einschlägigen Literatur wiederholt debattierte Frage ist, ob es möglich ist, festzustellen, ob N1 oder N2 der Kopf der Numerativkonstruktion ist. Eine rein an der Oberflächenstruktur orientierte syntaktische Analyse, die nur die Art der N1-N2-Bindung in Betracht ziehen würde, würde zum Schluss führen, dass im Französischen, Englischen und Polnischen – sowie teilweise im Deutschen – N1 der Kopf ist, da N2 durch ein Präpositional- bzw. Genitivattribut realisiert wird, d. h. durch Strukturen, die in der Regel als subordinativ eingestuft werden; im Ungarischen und – teilweise – Deutschen wären dagegen beide Konstruktionsglieder gleichberechtigt, da sie juxtapositiv gebunden sind. Eine solche Analyse kann aber nicht ganz überzeugen, und zwar weil die Semantik nicht einbezogen wird. Es erscheint daher sinnvoll, beide Ebenen – die syntaktische und die semantische – zu berücksichtigen, um zu bestimmen, ob für N1 oder N2 – oder beide – syntaktische bzw. semantische Kopfeigenschaften innerhalb der Numerativkonstruktion nachgewiesen werden können. Zu diesem Zweck kann eine Reihe syntaktischer und semantischer Tests angewendet werden – vgl. Löbel (1986: 98–103) für das Deutsche und Keizer (2007: 117–149) für das Englische. Syntaktische Tests beziehen sich auf die Kongruenz (kongruiert das Verb mit N1 oder mit N2?) sowie auf die textuelle Wiederaufnahme (kongruiert ein Relativ- oder Personalpronomen mit N1 oder mit N2?). Semantische Tests berücksichtigen dagegen die Weglassbarkeit von N1 und N2 sowie die semantische Selektion des Prädikats. Aus Platzgründen kann hier nicht ausführlich auf die einzelnen Tests eingegangen, sondern es können lediglich deren Ergebnisse besprochen werden.  



















1726

D Nominale Syntagmen

Semantische Tests zeigen deutlich, dass in Numerativkonstruktionen i. e. S., also in Konstruktionen, die zum Zählen von Entitäten eingesetzt werden, N2 immer das „semantische Profil“ der Konstruktion bestimmt (vgl. Croft 2001: Kap. 7, → D1.1.2). N2 ist nämlich nicht weglassbar – außer wenn es aus dem Kontext inferiert werden kann – und steuert die Verbselektion – bzw. umgekehrt: N2 entspricht den semantischen Selektionseigenschaften des Verbs –, wenn die Konstruktion als Argument dient. N2 stellt somit den Hauptinformationsträger der Konstruktion dar; wir bezeichnen N2 als ,Kern‘ der Konstruktion.  













So kann man in den Beispielen (2) und (3) oben N2 nicht ohne Weiteres weglassen (Er isst jeden Abend zwei Scheiben), wohl aber N1 (Er isst jeden Abend Schinken) – wobei das Weglassen von N1 im Französischen syntaktisch die Setzung eines Partitivartikels erfordert (Tous les soirs il mange du jambon). In jedem Fall wird durch das Weglassen von N1 auf dieselbe (Art von) Entität referiert, nicht aber beim Weglassen von N2. Das Kriterium der Verbselektion gilt besonders für die Sprachen, in denen mehrere Konstruktionen möglich sind – etwa für das Deutsche, wo die Numerativkonstruktion mit dem Kompositum konkurriert. So ergibt eine Internet-Suche (09.07.12) nach „milchglas verschüttet“/„glas milch verschüttet“ deutlich mehr Ergebnisse für die letztere, eine Suche nach „bierflaschen kaputt“/„flaschen bier kaputt“ viel mehr Ergebnisse für die erstere Konstruktion. Es ist nämlich (eine bestimmte Menge) Milch (N2), nicht Gläser (N1), die verschüttet werden kann; andererseits kann nicht Bier (N2), wohl aber eine Flasche (N2) kaputt gehen. In der jeweils ersteren Struktur ist also N1 der Kern – dadurch kann die Konstruktion aber nicht als Numerativkonstruktion angesehen werden (zur Komposition s. weiter unten → D5.6.1). Im Englischen sowie im Französischen und Polnischen, wo jeweils nur eine Art der Bindung zur Verfügung steht, kann trotzdem beobachtet werden, dass die Verbselektion über N2 erfolgt. Bei He spilled two bottles of wine vs. He broke two bottles of wine liegt nur im ersteren Satz eine Numerativkonstruktion vor, denn dort kann N2 – das die Verbselektion steuert – nicht weggelassen werden; der letztere Satz ist dagegen auch ohne N2 vollständig, was darauf hinweist, dass hier N1 der Kern der Konstruktion ist.  









Syntaktische Tests (wie Subjekt-Prädikat-Kongruenz und pronominale Wiederaufnahme) ermöglichen die Identifikation des Ausdrucks, der das „syntaktische Profil“ der Phrase bestimmt. Hier wollen wir vom ,Kopf‘ der Numerativkonstruktion sprechen. Die Tests führen nicht in jedem Fall zu klaren Ergebnissen. Was die Verbkongruenz betrifft, ist sie im Ungarischen nicht ausschlaggebend, da das Prädikat bei quantifizierten NPs immer im Singular steht; ebenso im Polnischen, wo der Quantifikator den Numerus (bzw. das Genus) des Verbalprädikats bestimmt (→ B2.3.4.1). In den anderen Vergleichssprachen kongruiert das Verb mit N1, nur gelegentlich sind Schwankungen zu verzeichnen, wie bei Messkonstruktionen im Deutschen (z. B. Drei Liter Wasser reichen/(ugs.) reicht, Ein Kilogramm Bohnen reicht/reichen, Duden-Grammatik 2009: 984) oder generell bei Kollektivkonstruktionen der Fall – hierzu siehe Keizer (2007: 123) für das Englische und die Duden-Grammatik (2009: 1014 f.) für das Deutsche. Bei anderen syntaktischen Tests (z. B. pronominale Wiederaufnahme) werden diese Kongruenz-Schwankungen größer, d. h., neben syntaktischer tritt auch semantische Kongruenz auf, wie in (38).  









1727

D5 Numerativkonstruktionen

(38) ENG FRA POL UNG DEU

I bought my mother a bunch of flowers. It/They had a marvellous scent. J’achetai un bouquet de fleurs pour maman. Il/Elles sentait/sentaient très bon. Kupiłem bukiet kwiatów dla mojej matki. (On/One) pachniał/y cudownie. Vettem egy csokor virágot anyámnak. Nagy jó illata/illatuk van. Ich kaufte meiner Mutter einen Strauß Blumen. Er/Sie duftete/n wunderbar.



In dieser Hinsicht scheinen auch bei Numerativkonstruktionen die Kongruenzverhältnisse der agreement hierarchy zu entsprechen (attributiv > prädikativ > Relativpronomen > Personalpronomen, Corbett 2000: 190): Wo mehrere Kongruenzformen möglich sind, wird die Möglichkeit, dass semantische Kongruenz vorliegt, umso größer, je mehr man sich nach rechts auf der Hierarchie bewegt. In unserem Fall bedeutet dies, dass semantische Kongruenz mit N2 neben der syntaktischen Kongruenz mit N1 vorkommen kann. Wir können also festhalten, dass bei Numerativkonstruktionen i. e. S. ein Semantik-Syntax-Mismatch, d. h. eine Dependenzumkehrung (Zifonun 2010a: 145 f.) vorliegt: N2 ist der Kern, N1 der Kopf. Dieser Mismatch nimmt desto mehr ab, je prädikativer (= lexikalischer, mit reicherem semantischen Gehalt) N1 wird. Die Skala reicht von N1 ohne Gegenstandscharakter über nicht-kollektivische N1 mit Gegenstandscharakter bis zu kollektivischen N1 mit Gegenstandscharakter (vgl. für das Deutsche Löbel 1986: 125). So sind gerade bei Kollektivkonstruktionen die meisten Kongruenzschwankungen zu verzeichnen. Es kann nun gefragt werden, wo die Dependenzumkehrung, die die Numerativkonstruktionen charakterisiert, ihren Ursprung hat. In Anlehnung an Krifka (1989: 14) und Koptjevskaja-Tamm (2001a: 538 f., 559) kann die Hypothese der Grammatikalisierung in Erwägung gezogen werden: N1 in Numerativkonstruktionen befinden sich auf dem Weg zwischen durch ein Genitiv- bzw. präpositionales Attribut erweiterten NPs – wo das erste Substantiv den Kopf (mit syntaktischen und semantischen Kopfeigenschaften), das Attribut das Dependens darstellt – und NPs, in denen das einzige Substantiv den syntaktischen und semantischen Kopf darstellt und von einem (komplexen) Quantifikator, dem Dependens, determiniert wird. Der Grad an Grammatikalisierung würde sich in erster Linie dadurch messen lassen, wie fortgeschritten der Abbau an Prädikativität von N1 ist. N1 verliert einen Teil seines semantischen Gehalts und wird durch einen metonymischen Prozess (vgl. Borschev/Partee 2004: 32 sowie → D5.2.2) zu einer Art Quantifikator – ggf. mit spezifischen semantischen Merkmalen, die seine Kombinationsmöglichkeiten mit N2-Substantiven beschränken (z. B. Messquantifikator, Numeralklassifikator, Singulativquantifikator). Das syntaktische Pendant dafür wäre etwa die Unmöglichkeit, N1 durch Adjektive bzw. andere Attribute zu erweitern. Weitere Schritte, die die meisten der hier besprochenen N1 noch nicht vollzogen haben, wären der Verlust der kongruenzauslösenden Kraft von N1 (das Verb kongruiert dann mit N2) sowie die morphologische Starre (N1 nimmt kein Pluralzei 



















1728

D Nominale Syntagmen

chen). Als Folge würde sich die Dependenzumkehrung lösen, die Numerativkonstruktionen charakterisiert: N2 würde dann zum prototypischen Kopf, der gleichzeitig semantisch und syntaktisch das Profil der Phrase bestimmt. Löbel (1986: 196) sieht einen solchen Prozess im Gange z. B. im Nebeneinanderbestehen der beiden Strukturen in (36a) – mit NOM2 jeweils im Nominativ und im Dativ: Steht NOM2 im Nominativ, so stellt N1 den Kopf und N2 den Kern der Konstruktion dar (NOM2 bleibt von der von der Präposition mit verlangten Rektion unberührt). Wir hätten es also hier mit der für Numerativkonstruktionen typischen Dependenzumkehrung zu tun. Diese ist dagegen aufgelöst, wenn NOM2 im Dativ steht, denn dann bestimmt N2 sowohl das semantische als auch das syntaktische Profil. Die Struktur mit einem Korb frisch gepflückten Äpfeln stünde Konstruktionen mit reinen Zahlangaben (mit 10 frisch gepflückten Äpfeln), in dem N2, wie in der prototypischen NP Kopf mit syntaktischen und semantischen Kopfeigenschaften ist, am nächsten. Ähnlich wären Fälle von Messkonstruktionen zu analysieren, in denen das Zahlwort vor N1 oder N1 selbst nicht kasusmarkiert ist, während N2 kasusmarkiert ist. Im Deutschen ist dies der Fall mit N1 auf -el/-er: Hier bleibt im Dativ Plural das -n manchmal aus (mit zehn Liter Wasser, Duden-Grammatik 2009: 176, 219); das Zahlwort ein bleibt gelegentlich in nicht-nominativischen Kasus unflektiert (Wir ernährten uns von ein Kilo (alten) Bohnen), Verbkongruenz erfolgt manchmal mit N2 anstatt N1 (Ein Kilo Bohnen reichen nicht aus, s. auch oben). Dies deutet nach der Duden-Grammatik (2009: 1011) darauf hin, dass „als Kern der Fügung […] das Gemessene (=N2, A.M.) und nicht die Maßbezeichnung (=N1, A.M.) aufgefasst“ wird – was in unseren Termini bedeutet, dass die Dependenzumkehrung hier aufgehoben ist. Selbst bei festen Fügungen wie Tasse Tee kann vermutet werden, dass „sich die Relation zwischen beiden Begriffen für viele Sprecherinnen (sic!) möglicherweise bereits umgekehrt [hat], so dass subjektiv Tee als das eigentliche Objekt und Tasse als Attribut empfunden wird“ (Hentschel 1993: 328). Einen ähnlichen Weg sind wohl auch die Quantifikativa ein bisschen und ein paar gegangen, wo der ein-Teil ungeachtet des syntaktischen Kontexts unflektiert bleibt (z. B. mit ein bisschen Geld) und manchmal ganz entfallen kann, etwa wenn die NP durch den definiten Artikel determiniert wird (z. B. das (*ein) bisschen Geld, das übrig bleibt; die (*ein) paar Tage, an denen wir verreist waren). Morphologische Starre und Unmöglichkeit, durch Adjektive erweitert zu werden, charakterisieren auch Klassifikatorkonstruktionen im Deutschen (Zifonun 2012a: 109). Gerade durch diese Tendenz, das Verhalten von N1 in Numerativkonstruktionen dem von Quantifikativa und Kardinalia anzugleichen, könnte man nach Koptjevskaja-Tamm (2001a: 553, 560) den Ursprung der juxtapositiven Bindungsart im Deutschen und den zirkumbaltischen Sprachen erklären.  









Im aktuellen, „unvollendeten“ Grammatikalisierungszustand haben wir es mit zweierlei Variation zu tun – einer internen Variation (bestimmte Subtypen von Numerativkonstruktionen sind mehr oder weniger grammatikalisiert im Vergleich zu anderen innerhalb einer Sprache; z. B. sind Klassifikator- und Singulativkonstruktionen stärker grammatikalisiert als Kollektivkonstruktionen) und einer übereinzelsprachlichen Variation (verschiedene Subtypen von Numerativkonstruktionen sind mehr oder weniger grammatikalisiert im Vergleich zu anderen im Sprachvergleich). Eine tiefergehende Analyse dieser beiden Arten von Variation sollte in weiteren Studien fortgeführt werden.  



D5 Numerativkonstruktionen

1729

D5.6 Ausblick D5.6.1 Numerativkonstruktionen und Komposita Es soll hier nun kurz auf das Verhältnis zwischen Numerativkonstruktionen und Nominalkomposita bzw. kompositaähnlichen Strukturen in den Vergleichssprachen eingegangen werden. Nominalkomposition im Sinne von Zusammensetzung zweier lexikalischer Stämme ist im Deutschen, Englischen und Ungarischen stärker vertreten. Im Französischen und Polnischen stellt sie dagegen ein weniger häufiges Wortbildungsverfahren dar: Hier werden syntaktische Fügungen aus (klassifikatorisch gebrauchtem) Adjektiv + Substantiv oder Substantiv + präpositionalem Attribut gegenüber Komposita präferiert. Die Fragen, die es hier zu beantworten gilt, sind: Kann aus den Bestandteilen einer Numerativkonstruktion, N1 und N2, ein Kompositum gemacht werden? Und, wenn ja, wie stehen Numerativkonstruktion und Kompositum funktional zueinander? Zuerst kann beobachtet werden, dass die Bildung von Komposita aus Numerativkonstruktionen, in denen N1 keinen Gegenstandscharakter hat, beschränkt ist. Dies betrifft insbesondere Messkonstruktionen: Komposita wie DEU Weinliter, ENG beer pint ‚Bierpint‘, UNG almakilogramm ‚Apfelkilogramm‘ sind nicht bildbar, solange das darin enthaltene N1 (Liter, pint, kilogramm) als abstraktes Maß betrachtet wird. Dasselbe gilt nach Löbel (1986: 26, 71) auch für Klassifikatorkonstruktionen, da hier N1 semantisch leer ist. So ist ENG cattle head nur konkret als ‚Viehkopf‘ zu interpretieren; in DEU Viehstück, Obststück kann dagegen für manche Sprecher konkrete Referenz auf einen bestimmten Gegenstand (ein Rind, eine Frucht) vorliegen. Je größer der Gegenstandscharakter von N1, desto unproblematischer wird die Kompositabildung. Am Beispiel des Deutschen: zwei Flaschen Wein – zwei Weinflaschen, zwei Barren Gold – zwei Goldbarren, zwei Herden Kühe – zwei Kuhherden, zwei Sorten Bier – zwei Biersorten. Der Unterschied zwischen diesen beiden Strukturen liegt im jeweils im Vordergrund stehenden semantischen Aspekt: Numerativkonstruktionen geben in erster Linie eine Menge an, Komposita dagegen bezeichnen einzelne Gegenstände (Löbel 1986: 132; Zifonun 2012a: 109). Dies zeigt sich auch darin, dass in der Numerativkonstruktion N2, im Kompositum N1 der Kern ist. Dieser semantische Unterschied hat auch ein funktionales Pendant: Numerativkonstruktionen realisieren primär die funktionale Domäne der Quantifikation, Komposita die der (klassifikatorischen) Modifikation. Eine gewisse Überschneidung im Gebrauch beider Strukturen ist freilich nicht ausgeschlossen (Zifonun 2012a: 111) – es sind aber Gebrauchskontexte nachweisbar, in denen deutlich mal die eine, mal die andere Struktur präferiert ist. Siehe folgende Beispiele:  









(39)

a. Wie viele Stapel sind noch da? – ?2 Stapel Bücher und 3 Stapel Zeitschriften / 2 Bücher- und 3 Zeitschriftenstapel. b. Wie viele Bücher und Zeitschriften sind noch da? – 2 Stapel Bücher und 3 Stapel Zeitschriften / ?2 Bücher- und 3 Zeitschriftenstapel.  







1730

D Nominale Syntagmen

(40) a. Wie viele Flaschen sind übrig? – ?2 Flaschen Bier und 3 Flaschen Wein/ 2 Bierund 3 Weinflaschen. b. Wie viel Bier und Wein ist übrig? – 2 Flaschen Bier und 3 Flaschen Wein / ?2 Bier- und 3 Weinflaschen.  





viel Stück sind übrig? – ?2 Stück Obst und 3 Stück Gemüse / ?2 Obst- und 3 Gemüsestücke. b. Wie viel Obst und Gemüse ist übrig? – 2 Stück Obst und 3 Stück Gemüse / ?2 Obst- und 3 Gemüsestücke.

(41)

a.

?Wie







Die Beispiele zeigen jeweils eine Kollektiv-, eine Behälter- und eine Klassifikatorkonstruktion. Bei den Fragen in (39) und (40) scheint die passendere Antwort die Numerativkonstruktion zu sein, wenn nach der Menge eines bestimmten Stoffes / bestimmter Entitäten gefragt wird, s. (39b), (40b); das Kompositum scheint sich dagegen besser als Antwort auf Fragen nach einzelnen Gegenständen zu eignen, s. (39a), (40a), wobei hier das Kompositum wie eben erwähnt klassifikatorische Funktion hat und dazu dient, zwischen Wein- und Bierflaschen zu unterscheiden. In (41a) mutet bereits die Frage – zumindest ohne einen passenden Kontext, in dem N2 bereits erwähnt worden wäre – etwas seltsam an, was dafür sprechen würde, dass Stück als Klassifikator nicht genügend semantischen Inhalt zeigt, um prädiziert zu werden (vgl. hierzu auch Zifonun 2012a: 112–114, 116).  



Besonders bei Behälterkonstruktionen scheint sich der Unterschied zwischen Komposita und Numerativkonstruktionen auch strukturell besonders klar zu profilieren. Um den Gegenstand N1 eindeutig zu bezeichnen, weichen z. B. das Französische und Polnische auf andere Konstruktionen aus: FRA deux verres d’eau ‚zwei Glas Wasser‘ vs. deux verres à eau ‚zwei Wassergläser‘, POL dwie szklanki kawy ‚zwei Gläschen Kaffee‘ vs. dwie szklanki do kawy ‚zwei Kaffeegläschen‘. Wie Grevisse/Goosse (2011: 463 f.) feststellen, wird diese Unterscheidung zumindest im Französischen aber nicht immer beachtet, wobei die erstere (Numerativ-)Konstruktion auch zur Bezeichnung des Gegenstands N1 benutzt wird.  



Ähnliche Kontraste sind auch in anderen europäischen Sprachen belegt: Z. B. GRI ena potiri krasiNOM ‚ein Glas Wein‘ vs. ena potiri krasiuGEN/ena krasopotivo ‚ein Weinglas‘ (Alexiadou/ Haegeman/Stavrou 2007: 456), RUS mešok muki ‚ein Sack Mehl‘ vs. mešok iz-pod muki ‚ein Mehlsack‘. Ob und unter welchen Bedingungen die Ersetzung der zweiten Konstruktion durch die erste zur Bezeichnung der Gegenstände in diesen Sprachen möglich ist, kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht weiter erforscht werden.  

Außerdem ist nur bei der Numerativkonstruktion die metonymische Verschiebung (shift) möglich, die aus einem konkreten Gegenstand ein abstraktes Maß macht (Borschev/Partee 2004; s. → D5.2.1): Dies spiegelt sich etwa im Deutschen auch darin, dass nur beim Gebrauch in einer Numerativkonstruktion N1 unflektiert bleiben kann (z. B. 3 Glas Bier vs. *3 Bierglas).  



D5 Numerativkonstruktionen

1731

D5.6.2 Numerativkonstruktionen und der Ausdruck von Numerus In → D5.1 wurde kurz erwähnt, dass eine Funktion von Numerativkonstruktionen ist, Entitäten in der Extension von kontinuativischen NP-Kernen zählbar zu machen. In dieser Funktion stehen außer Numerativkonstruktionen andere sprachliche Mittel zur Verfügung, die hier kurz kontrastiv besprochen werden sollen. Der gemeinsame Nenner, der diese Mittel funktional vereint, ist die Lösung eines morphosyntaktischen Problems: Durch welche Techniken kann der Numeruskontrast ausgedrückt werden auch für diejenigen Substantive, die aus semantischen oder formalen Gründen keinen zeigen? Manche Substantive zeigen durchaus eine Numerusmarkierung, d. h., sie können formal einem grammatischen Numerus zugeordnet werden; dieser ist aber semantisch leer. Z. B. drückt der Singular in Gold keine Einzahl aus, da Gold semantisch Kontinuativum ist, der Plural in ENG scissors ‚Schere‘ drückt keine Mehrzahl aus, da ein einziger Gegenstand bezeichnet wird, auch wenn hier der Form nach Plural vorliegt. Die Funktion der in der Folge besprochenen sprachlichen Mittel ist es also, diese Denotate für die Singular-Plural-Opposition (wieder) zugänglich zu machen. Das erste Mittel ist die Umkategorisierung (→ B2.3.3.1), die rein morphologisch verfährt: Ein singularisches Kontinuativum wird als singularisches Individuativum reinterpretiert und kann infolgedessen einen Pluralmarker erhalten und somit pluralisiert werden. Hierdurch werden allerdings Kontinuativa in eine Sortenlesart (für manche lexikalische Bereiche auch eine Portions- oder Instanzlesart) „gezwungen“. So sind FRA deux laits ‚zwei Milchsorten‘ oder ‚zwei Portionen Milch‘ oder ENG two mournings ‚zwei Instanzen von Trauer‘.  



Als rein morphologisch und ohne Umkategorisierung auskommend sind dagegen die Fälle zu betrachten, in denen individuativische Pluraliatantum einen Singularmarker erhalten, der dann für die Einzahl steht, während die ursprüngliche Pluralform als Ausdruck von Mehrzahl gilt (z. B. FRA tenailles ‚(eine) Zange‘ → tenaille – tenailles ‚Zange – Zangen‘, BUL nožici ‚(eine) Schere‘ → nožica – nožici ‚Schere – Scheren‘).  











Numerativkonstruktionen erlauben dagegen eine breitere Palette von Lesarten, je nach Subtypen, von denen die Sortenlesart nur eine ist. Das wird durch wenig ökonomische Mittel erreicht, und zwar nicht rein morphologische, sondern (morpho-)syntaktische: Es wird nicht dieselbe lexikalische Form benutzt bzw. bei Pluralisierung einfach ein Pluralmarker an das Substantiv angehängt, sondern das betroffene Substantiv (N2) bildet mit dem Numerativsubstantiv eine syntaktische Fügung. Dazu hat man aber einen Gewinn an semantischer Genauigkeit: zwei Liter/Glas/Flaschen/Sorten Milch bezeichnen jeweils Milch unter verschiedenen (quantitativen) Perspektiven. In manchen Fällen – wie etwa bei DEU Fleisch – stellt die Numerativkonstruktion das einzige standardsprachlich akzeptable Mittel dar, um Kontinuatives zu zählen (?/*zwei Fleische vs. zwei Stück/Kilo/Scheiben/Sorten Fleisch). In manchen Fällen können Umkategorisierung und Numerativkonstruktionen also als komplementär angesehen werden.  



1732

D Nominale Syntagmen

Unter den Numerativkonstruktionen soll allerdings eine weitere Unterscheidung getroffen werden, und zwar zwischen solchen, durch die ein reiner Numeruskontrast ausgedrückt wird, und solchen, die eine weitere semantische Charakterisierung hinzufügen. Zur ersten Gruppe gehören die in unseren Sprachen (außer Ungarisch, das eine ganze Reihe Klassifikatoren aufweist, vgl. → D5.2.2) relativ spärlich vertretenen Klassifikator- und ggf. Singulativkonstruktionen, die eine natürliche Einheit bezeichnen (Löbel 1986: 22). Diese dienen dazu, das Denotat für die Singular-Plural-Opposition zugänglich zu machen und können als funktional parallel zu den Klassifikatoren in Klassifikatorsprachen betrachtet werden; Plural ist hier als reiner Summenplural (→ B2.3.3.1) zu interpretieren. Alle anderen Numerativsubstantive enthalten eine mehr oder weniger ausgeprägte semantische Komponente, die die Mengenangabe spezifiziert – sei es nach dem Umfang (Gewicht, Länge, Volumen), wie in Messkonstruktionen, nach der Form, wie in manchen Behälter- und Zählkonstruktionen, oder nach der Sorte, wie in Sortenkonstruktionen.  

Auch im Fall von Pluraliatantum kommen Numerativkonstruktionen manchmal zum Einsatz. Eine Numerativkonstruktion mit N1 in der Bedeutung ‚Paar‘ kann bei (paarigen) individuativischen Pluraliatantum eingesetzt werden, um die fehlende Markierung nach der Mehrzahl zu kompensieren: ENG two pairs of scissors ‚zwei Scheren‘, FRA deux paires de lunettes ‚zwei Brillen‘; im Polnischen existiert diese Option neben den Kollektivnumeralia: dwoje okularów oder dwie pary okularów ‚zwei Brillen‘ (auch → B1.4.2.3). Auch im Fall von kontinuativischen Pluraliatantum wird auf Numerativkonstruktionen zurückgegriffen: Z. B. ENG two grains/bushels/cups of oats, POL dwie łyżki/filiżanki fusów ‚zwei Löffel/Tassen Kaffeesatz‘, RUS desjat’ rulonov oboev ‚zehn Rollen Tapete(n)‘ – wo jeweils oats, fusy, oboi kontinuativische Pluraliatantum sind.  



In den Sprachen, in denen Nominalkomposition i. e. S. möglich ist, kommen manchmal Nominalkomposita zum Ausdruck der Singular-Plural-Opposition vor. Dies gilt für das Deutsche und das Ungarische (auch → B1.4.2.4 und → B1.4.2.5.1), wo neben einer Numerativkonstruktion auch ein Kompositum vorliegt, vgl. (42). Obwohl beide Strukturen semantisch als unterschiedlich zu betrachten sind (oben → D5.6.1), sind sie zum Zwecke der Herstellung der Singular-Plural-Opposition funktional ähnlich. Mittels Komposita können durch entsprechende Zweitglieder sowohl reine Summenplurale, wie in (42), als auch z. B. Sortenplurale (zwei Weinsorten) gebildet werden. Zur Singulativbildung durch Komposita im Deutschen siehe ausführlich Zifonun (2012a).  





(42) UNG DEU

két szem rízs – két rízs|szem, két darab hús – két hús|darab zwei Körner Reis – zwei Reiskörner, zwei Stück Fleisch – zwei Fleischstücke  







Löbel (1986: 26) vertritt die Ansicht, im Fall von Singulativkonstruktionen sei beim Numerus Singular das Kompositum viel üblicher als die Numerativkonstruktion (ein Reiskorn, ein Korn Reis), da die letztere so gut wie nie beim Zählen gebraucht wird, sondern Randfällen vorbehalten ist, wie etwa Negativsätzen (z. B. Er hat alles aufgegessen – nicht ein (einziges) Korn Reis hat er übrig gelassen; vgl. auch Greenberg 1972: 23). Eine im August 2012 in D E R E K O durchgeführte Suche bestätigt diese Ansicht: Es fanden sich für Korn Sand 1 Okkurrenz, für Halm Gras 0, für  



D5 Numerativkonstruktionen

1733

Korn Reis 3, davon 2 in Negativsätzen. Diese stehen 652 Okkurrenzen für Sandkorn, 1028 für Grashalm und 227 für Reiskorn gegenüber.

Zum Schluss ist ein weiteres sprachliches Mittel zu erwähnen, das allerdings in unseren Vergleichssprachen nicht vertreten ist. Es handelt sich um das Singulativaffix (bzw. -suffix), das zum Beispiel im Russischen (-in(k)-a, -ic-a), Bulgarischen, Arabischen (-ah) oder in den keltischen Sprachen (Bretonisch, Walisisch) vorkommt. Es handelt sich um ein Derivationsmittel, durch das aus einem (Kollektiv-)Kontinuativum ein neues Lexem zur Referenz auf zählbare Einzelentitäten entsteht, so etwa RUS kartofel’ ‚Kartoffel(n)‘ → kartofelina ‚(einzelne) Kartoffel‘ (→ B2.3.3.1). Aus der Einzelbeschreibung der sprachlichen Mittel zur Herstellung der SingularPlural-Opposition geht eine Tatsache hervor, die es nochmals ausdrücklich zu betonen gilt: Wie bereits in Greenberg (1972: 26–28) oder Löbel (1986: 24–26) beobachtet, schließen sich diese Mittel gegenseitig nicht aus; sie können einander ergänzen oder auch als Varianten zur Wahl stehen. Ob Variation in diesem Fall frei ist oder gewissen Restriktionen unterliegt, kann erst anhand einer umfangreicheren Datenlage bzw. einer eingehenderen Analyse jeder Einzelsprache bestimmt werden. Fest steht, wie Greenberg beobachtet, dass sie in der Regel einzelsprachlich lexikalisch basiert ist und nicht alle Lexeme gleich betreffen muss. Hier kann zuerst angemerkt werden, dass verschiedene Mittel verschiedene semantische Möglichkeiten an den Tag legen: Während die Umkategorisierung dem Substantiv eine Sorten-/Portion-/Instanzenlesart aufzwingt, lassen sich durch Klassifikator-/Singulativkonstruktionen sowie das Singulativaffix ‚reine‘ Summenplurale bilden. Am breitesten ist die semantische Palette bei den Zählkonstruktionen. Was alle diese Mittel vereint, ist die funktionale Domäne, denen sie zuzuordnen sind, d. h. die (nominale) Quantifikation.  

Zwei Beispiele: Um im Russischen ‚zwei Kartoffeln‘ wiederzugeben, stehen die in (43) aufgelisteten Konstruktionen zur Verfügung: kartofel’ (M) ist ein Kontinuativum, die Diminutivform kartoška (F) kann dagegen sowohl als Individuativum als auch als Kontinuativum kategorisiert werden. Im Bulgarischen kann ‚zwei Bohnen‘ auf dreierlei Art und Weise wiedergegeben werden, wie in (44) zu sehen ist. Die funktionale Äquivalenz zwischen den Konstruktionen scheint Greenbergs Beobachtung zu bestätigen, dass „the classifier is an individualizer which performs the same function as a singulative derivational affix in languages with the collective/singulative opposition“ (Greenberg 1972: 30 f.).  

(43) RUS

a. *dva kartofelja Kartoffel.GEN . SG zwei.M . NOM ‚zwei Kartoffeln‘ (Kontinuativum nicht mit Kardinalnumeralia verbindbar) b. dva klubnja kartofelja Knolle.GEN . SG Kartoffel.GEN . SG zwei.M . NOM ‚zwei Kartoffeln‘ (Singulativkonstruktion) c. dve kartofeliny einzelne.Kartoffel.GEN . SG zwei.F . NOM ‚zwei Kartoffeln‘ (Singulativderivat)

1734

D Nominale Syntagmen

d. dve kartoški Kartoffel.GEN . SG zwei.F . NOM ‚zwei Kartoffeln‘ (Diminutivform als Individuativum) e. dva klubnja kartoški Knolle.GEN . SG Kartoffel.GEN . SG zwei.M . NOM ‚zwei Kartoffeln‘ (Singulativkonstruktion) (44) BUL

a. dve bobčeta einzelne.Bohne.PL zwei.N ‚zwei Bohnen‘ (Diminutivform als Singulativum) b. dve zărna bob Korn.PL Bohne.SG zwei.N ‚zwei Bohnen‘ (Singulativkonstruktion) c. dve bobena zărna Bohne.ADJ Korn.PL zwei.N ‚zwei Bohnen‘ (Relationsadjektiv, entspricht Kompositum im Deutschen)

D5.7 Zusammenfassung Numerativkonstruktionen bestehen aus einem Quantifikator, einem Numerativ- und einem Kernsubstantiv und dienen zum Zählen oder Messen von Quanten von als solchen nicht zählbaren Entitäten bzw. zur Bündelung distinkter Entitäten. Semantisch lassen sie sich in eine Reihe Subtypen klassifizieren, die sich hauptsächlich in der Natur des Numerativsubstantivs sowie seiner Kombinationsmöglichkeiten mit dem Kernsubstantiv unterscheiden. Das Deutsche verfügt unter den Vergleichssprachen über drei verschiedene syntaktische Muster von Numerativkonstruktionen: das juxtapositive, das genitivische und das präpositionale. Zum Zählen und Messen von Quanten wird hauptsächlich das erste, viel seltener das zweite Muster verwendet; zur Bündelung distinkter Entitäten werden das dritte oder das zweite Muster benutzt. Somit zeigt das Deutsche eine Form-Funktion-Unterscheidung, die in den Kontrastsprachen in der Regel nicht getroffen wird, da diese hauptsächlich von nur einem der belegten Muster Gebrauch machen. Auch morphologisch zeigt das Deutsche unter den Vergleichssprachen die größte Vielfalt, besonders bei der Kasusmarkierung. Numerativkonstruktionen zählen zusammen mit Umkategorisierung, Nominalkomposita und Singulativaffixen zu den sprachlichen Mitteln, die in den europäischen Sprachen eingesetzt werden können, um nicht-zählbare Substantiv-Denotate zählbar zu machen.

D6

Relativsyntagmen

D6.1

Funktionale und typologische Charakterisierung  1736

D6.2

Relativsatz und Relativinfinit bzw. Partizipialattribut  1743

D6.3

Subordination  1747

D6.4

Pronominalisierung oder Lückenbildung  1766

D6.5 Zugänglichkeitshierarchie für syntaktische Funktionen  1768 D6.5.1 Sprachspezifisches Segment der Hierarchie  1770 D6.5.2 Hierarchieabhängiges Vorkommen resumptiver Pronomina  1775 D6.5.3 Hierarchieabhängiger Übergang zu expliziterer Relativstrategie  1777 D6.6 Relativierbarkeit mittelbarer NP/PP-Konstituenten  1779 D6.6.1 ‚Rattenfängerkonstruktion‘  1779 D6.6.1.1 Rattenfängerkonstruktion bei Präpositionalphrasen  1780 D6.6.1.2 Rattenfängerkonstruktion bei adnominalen (adpositionslosen) Possessorkonstruktionen  1781 D6.6.2 ,Präpositionsstranden‘ / Konstituentenaufspaltung  1782 D6.6.2.1 Präpositionsstranden  1782 D6.6.2.2 Konstituentenaufspaltung bei Possessor- und Adpositionalattributen  1783 D6.7

Lange Relativierung  1785

D6.8

Freier Relativsatz  1789

D6.9

Restriktives und nicht-restriktives Relativsyntagma  1797

D6.10

Weiterführendes Relativsyntagma  1800

D6.11

Zusammenfassung  1804

Gisela Zifonun

D6 Relativsyntagmen D6.1 Funktionale und typologische Charakterisierung Zum Zweck der referentiellen Bezugnahme auf Gegenstände entsteht häufig der Bedarf nach der Einbindung sachverhaltsbezogener Information, die ein Nomendenotat näher bestimmen kann. So wird in dem Beispiel Mann, der gerade hier arbeitet das Nomendenotat, nämlich der nominale Begriff ‚Mann‘, durch den Sachverhalt ‚der gerade hier arbeitet‘ näher bestimmt. Relativsyntagmen (RS) sind spezielle Konstruktionen, die Sachverhalte zur semantischen Verknüpfung mit Nomendenotaten bereitstellen. Im prototypischen Fall bedeutet die inhaltliche (intensionale) Verknüpfung gleichzeitig eine extensionale Einschränkung des Nomendenotats: Die Männer, die gerade hier arbeiten, sind nur eine Teilmenge aller Männer. In diesem Fall spricht man von restriktiven RS. Andernfalls läuft die intensionale Verknüpfung extensional ins Leere, weil schon der nominale Ausdruck allein das oder die gemeinten Referenzobjekte (hinreichend präzise) identifiziert. In diesem Fall spricht man von nicht-restriktiven RS. Wir unterscheiden zwischen notwendiger (Nicht-)Restriktivität und kontextuell bedingter bzw. pragmatischer (Nicht-)Restriktivität. Bei notwendiger Nicht-Restriktivität sprechen wir von appositiven Erweiterungen des Nominalsyntagmas, hier also von appositiven Relativsyntagmen. Dieser Fall ist dann gegeben, wenn aus semantischen oder syntaktisch-konstruktionellen Gründen nur eine Analyse des RS als zusätzliche Prädikation über das unabhängig vom Relativsyntagma identifizierte Referenzobjekt in Frage kommt, nicht als Modifikation bezüglich des nominalen Begriffs. Ein typischer Fall für semantisch bedingte notwendige Nicht-Restriktivität ist hier der Relativsatz zum Eigennamen: Karl der Große, der (übrigens) in Rom zum Kaiser gekrönt wurde. Syntaktisch-konstruktionell bedingte (Nicht-)Restriktivität liegt dann vor, wenn durch formale Auszeichnung ein RS entweder auf eine restriktive oder eine nicht-restriktive Lesart festgelegt wird. So können im Englischen Relativsätze ohne Subordinator nur restriktiv interpretiert werden. Nicht alle Sprachen, die restriktive Relativsyntagmen kennen, verfügen auch über nicht-restriktive (vgl. Parameter ‚restriktives und nicht-restriktives RS‘). Wir betrachten daher das restriktive, bzw. das nicht notwendig nicht-restriktive RS als den unmarkierten Fall. Die semantische Beziehung zwischen dem nominalen Ausdruck und dem Relativsyntagma ist in diesem unmarkierten Fall asymmetrisch: Der nominale Ausdruck ist semantischer Kern (Nukleus) der Relation, das Relativsyntagma ist dessen Modifikator. Relativsyntagma und Nukleus bilden eine Relativkonstruktion, in der das Nukleusnominal als Antezedens syntagmatischer Beziehungen fungiert (Lehmann 1984: 44).

D6 Relativsyntagmen

1737

Wir sprechen hier im Anschluss an Lehmann (1984) von ,Nukleus‘ oder auch ,semantischem Kern‘, um den Bezug auf die semantische Struktur deutlich zu machen. Syntaktisch handelt es sich bei den Vergleichssprachen in der Regel um das (ggf. bereits durch andere Attribute erweiterte) Kopfnomen, also einen Ausdruck der Kategorie N bzw. NOM. Wir lassen jedoch an dieser Stelle offen, ob diese syntaktische Strukturierung auch für beliebige andere Sprachen anzunehmen ist und ob für appositive Relativsyntagmen, auch in den Vergleichssprachen, ggf. eine andere syntaktische Strukturierung als für restriktive anzunehmen ist. So könnte angenommen werden, dass appositive RS ihrem semantischen Status entsprechend nicht an den (erweiterten Kopf) attribuiert werden, sondern sich an den gesamten Rest des zugehörigen Nominals, also einen Ausdruck der Kategorie NP, anschließen. Zur Diskussion vgl. IDS-Grammatik (1997: 2007– 2017) sowie → D1.1.3.3.2. Auch bei Partizipialattributen sind entsprechend restriktive und nichtrestriktive Verhältnisse zu unterscheiden, dazu → D7.1.

Die funktionale Subdomäne für das RS innerhalb der Modifikation ist die assertorische Modifikation: Der Nukleus-Begriff wird mit einem Sachverhalt, dessen Wahrheit (in der wirklichen oder einer modal zugänglichen Welt) behauptet wird, zu dem von der Relativkonstruktion denotierten komplexen Begriff verknüpft. Bedingung für das Zutreffen des komplexen Begriffs auf ein Referenzobjekt ist die Wahrheit des von RS denotierten Sachverhalts. Die Funktion von RS besteht darin, dass über den Referenten, der unter das (ggf. erweiterte) Gegenstandskonzept fällt, gleichzeitig eine Beteiligung an dem oder eine kontextuelle Bezogenheit auf diesen als faktisch gesetzten Sachverhalt prädiziert wird. Ähnlich wie nicht-valenzgebundene referentielle Modifikatoren haben Relativsyntagmen eine ,verankernde‘ Funktion (→ A4.3.2). Man kann daher auch expliziter von RS als ,assertorisch-verankernden‘ Modifikatoren sprechen. Zu Argumenten für eine Einordnung als assertorisch-verankernde Modifikatoren vgl. Zifonun (2007c: 196–199). RS enthalten als Zentrum des Sachverhaltsausdrucks grundsätzlich verbale Ausdrücke (im ersten oben erwähnten Beispiel arbeitet). Wenn der verbale Ausdruck eines RS finit ist, sprechen wir von Relativsätzen. Viele Sprachen kennen jedoch nur Konstruktionen mit infinitem Verb, etwa einem Partizip, in dieser Funktion. Beim typologischen Vergleich ist daher von der allgemeineren Kategorie des Relativsyntagmas mit den spezielleren Formen des Relativsatzes oder des Relativinfinits auszugehen (vgl. Parameter ‚Relativsatz und Relativinfinit‘). Stets ist aber der Fall, dass das Relativsyntagma keinen selbstständigen Satz darstellt, sondern subordiniert ist. Dabei sind unterschiedliche Grade von Subordination zu unterscheiden. Im Deutschen ist die Verbletztstellung das zentrale ausdrucksseitige Merkmal der Subordination. Subordination (im Bereich der Relativsyntagmen) kann generell in Sprachen morphosyntaktisch durch ein Verbaffix oder durch die Verwendung eines freien Subordinators, und zwar eines Relativpronomens (the house in which I live), eines Relativadverbs (the house where I live) oder einer Relativpartikel (the man that I love), realisiert werden: Entsprechend setzen wir einen Parameter ,Subordination‘ an. In Sprachen wie dem Japanischen wird kein Subordinator verwendet; im Englischen kann in bestimmten Fällen die Setzung des Subordinators unterbleiben (the man I love). Beim Gebrauch von Relativpronomina stellen persondeiktische Nuklei (Per-

1738

D Nominale Syntagmen

sonalpronomina der 1. und 2. Person) ein Problem dar: Die Relativpronomina können in der Person nicht mit einem solchen Antezedens kongruieren. Wenn Subjekt-Prädikat-Kongruenz bezüglich der Person in einer Sprache also gefordert ist, entsteht für die Verbform im RS ein Konflikt zwischen der Kongruenz mit der 1. bzw. 2. Person des Nukleus und der Setzung der unmarkierten 3. Person (regiert vom Relativpronomen), wie in (1) zu sehen ist.  





(1)

a. ich, der (*ich) den ganzen Tag hier arbeitet b. ich, der *(ich) den ganzen Tag hier arbeite

Dieser Konflikt wird in den Vergleichssprachen in unterschiedlicher Weise gelöst. Die geschilderte Form der semantischen Verknüpfung kann durch syntaktische Relationen unterschiedlicher Natur realisiert sein. Zu unterscheiden sind dabei (a) die syntaktische Relation zwischen dem Nukleus und dem Relativsyntagma und (b) die zwischen Relativsyntagma und übergeordnetem Satz. Was Dimension (a) angeht, so sind in den Vergleichssprachen überwiegend nur Relativsyntagmen mit externem Nukleus vertreten – der Bezugsausdruck befindet sich also außerhalb von RS. Im Englischen allerdings finden sich Konstruktionen wie I gave him what money I have ,Ich gab ihm, was ich an Geld habe‘ (wörtl.: ,*Ich gab ihm, welches Geld ich habe‘). Hier kann money ggf. als interner Nukleus betrachtet werden. In der englischen Grammatikographie wird hier allerdings von einer Variante des freien Relativsatzes ausgegangen. Wir behandeln diese Form daher unter diesem Parameter mit. Bezüglich Dimension (b) gilt für die Vergleichssprachen, dass Relativsyntagmen in der Regel in den übergeordneten Satz syntaktisch integriert sind, wobei sprachübergreifend, wie etwa im Althochdeutschen, zunächst desintegrierte Formen in dieser Funktion auftraten. Solche syntaktisch integrierten Relativsyntagmen mit externem Nukleus können auch als ‚adnominale‘ Relativsyntagmen bezeichnet werden. Bei ihnen steht das RS in Attributbeziehung zum Nukleus. Adnominale RS sind entweder postnominal wie im Deutschen oder pränominal wie z. B. im Japanischen oder im Mandarin. Zu den jeweils anderen Möglichkeiten vgl. Lehmann (1984: Kap. III) und die Ausführungen in Zifonun (2001b: 11 f., 14 f.). Zu den Relativstrategien im typologischen Vergleich und ihrer arealen Verteilung vgl. auch Dryer (2013a). Die Verknüpfung zwischen Nukleus-Begriff und RS-Denotat läuft notwendig über eine ‚semantische Leerstelle‘, die die Position des Referenten in der Struktur des Sachverhalts markiert. Relativpronomina, wie der in Ich habe den Mann getroffen, der gerade hier arbeitet, sind die syntaktischen Repräsentanten der semantischen Leerstelle (vgl. zu diesem Konzept Lehmann 1984: 45, 223–240). Dies kann so veranschaulicht werden  









D6 Relativsyntagmen

1739

Der Referent, für den die Variable x steht, ist an zwei Sachverhalten – dem Sachverhalt des übergeordneten Satzes und dem Sachverhalt des Relativsyntagmas – (direkt oder indirekt) beteiligt; die Art der Beteiligung und damit die jeweilige syntaktische Funktion der entsprechenden Ausdrücke sind voneinander unabhängig. In Ich habe den Mann getroffen, der gerade hier arbeitet ist der syntaktische Repräsentant von x – hinfort x' – im übergeordneten Satz Akkusativkomplement, im RS dagegen Subjekt. Den syntaktischen Repräsentanten der semantischen Leerstelle im Relativsyntagma, also x' in RS, bezeichnen wir auch als ‚relativierte Stelle‘. Dabei ist x' exakter ‚der Ausdruck, der bei einer ausdrucksseitigen Belegung der Leerstelle x im Satz in einer bestimmten syntaktischen Funktion erscheinen würde‘, unabhängig davon, ob syntaktische Leerstellenfüllung in RS in dieser Sprache überhaupt vorgesehen ist. Die generative Theorie spricht hier von ‚relativized item‘. Sie hat damit eine einfache Ausdrucksweise zur Verfügung. Dabei wird jedoch ein hier nicht vorgesehener theoretischer Rahmen vorausgesetzt, bei dem oberflächensyntaktisch nicht vorhandene Einheiten Objekte der Syntax sein können. Wir sprechen hier allgemeiner auch von ‚relativierter Stelle‘ oder ‚relativierter Funktion‘, nicht jedoch von relativiertem Ausdruck bzw. relativierter Einheit. Bei RS mit externem Nukleus wird die syntaktische Funktion von x' in Form des Nukleusnominals im übergeordneten Satz notwendigerweise manifest, in dem Relativsyntagma selbst hingegen ist trotz der Wiederaufnahme einer Leerstelle in möglicherweise abweichender syntaktischer Funktion die Setzung eines syntaktischen Repräsentanten für x nicht zwingend notwendig. Sie kann durch pronominale Wiederaufnahme geschehen. Dabei sind wiederum zwei Formen zu unterscheiden: Hat das Pronomen in RS gleichzeitig die Aufgabe der Subordination, so liegt ein Relativpronomen vor, wie im deutschen Beispiel. Fehlt diese Subordinatorfunktion bei dem pronominalen Repräsentanten von x, so handelt es sich um ein ‚resumptives‘ Pronomen, also ein Personal- oder Demonstrativpronomen wie bei gli, der Dativform  







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D Nominale Syntagmen

des klitischen Personalpronomens in (2). Die Subordinatorfunktion wird hier von der Relativpartikel (RPTL) che wahrgenommen; diese ist nicht als syntaktischer Repräsentant von x zu betrachten. (2) ITA

Quello che gli stanno facendo cenno è Carlo. DEM . M . SG RPTL RPT L 3SG . M . DAT sie.sind machend Zeichen ist Carlo ‚Derjenige, dem man Zeichen macht, ist Carlo.‘ (vgl. Renzi/Salvi/Cardinaletti 2001: 512)

In anderen Fällen können Referenz und syntaktische Funktion auch implizit bleiben, und zwar dann, wenn ein syntaktischer Repräsentant für x fehlt; man kann in diesem Fall (wie es die generative Theorie tut) von Lückenbildung (‚gapping‘, die Lücke ist gekennzeichnet durch ‚[ ]‘) anstelle von Pronominalisierung ausgehen oder von ‚Nullanapher‘ sprechen (so etwa in Comrie 1996: 26). Dieser Fall liegt vor in englischen Beispielen wie (3). (3) ENG

Yesterday I met the girl that you know [ ] ‚Gestern traf ich das Mädchen, das du kennst.‘   

Wir fassen die Zusammenhänge zwischen dem Ausdruck der Subordination und der pronominalen Wiederaufnahme in Tabelle 1 zusammen. Tab. 1: Subordination und pronominale Wiederaufnahme  

Relativpronomen

Relativpartikel

resumptives Pronomen

Lücke

subordinierend

+

+





wieder aufnehmend

+



+



Diese Zusammenhänge werden im Einzelnen zum Parameter ‚Pronominalisierung oder Lückenbildung‘ ausgeführt. Modifikative Relativsyntagmen sind somit syntaktisch durch drei Operationen gekennzeichnet: syntaktische Unterordnung (Subordination), Attribuierung bzw. Nukleus-Konstituentenbildung sowie Pronominalisierung bzw. Lückenbildung (Lehmann 1984: 246). Wo alle drei Operationen verwirklicht sind, ist das RS hochgradig grammatikalisiert. Aber auch die Realisierung von nur zweien oder gar nur einer der Operationen kann als hinreichend für das Vorliegen eines RS gelten, sofern assertorische Modifikation gegeben ist. Je nachdem, wie viele der Operationen durch eine RS-Strategie erfüllt werden, und ggf. je nach dem Maße, in dem sie erfüllt werden, wollen wir auch von mehr oder weniger ‚expliziten‘ Verfahren der RS-Bildung sprechen.

D6 Relativsyntagmen

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Die syntaktischen Funktionen von x', also des (möglichen) syntaktischen Repräsentanten der semantischen Leerstelle in RS, umfassen in manchen Sprachen alle überhaupt verfügbaren syntaktischen Funktionen sowohl auf der Satzebene als auch auf der adnominalen Ebene, sie reichen also z. B. von der Funktion des Subjekts über die des direkten und indirekten Objekts sowie die Supplemente bis zum Komplement in Vergleichskonstruktionen (ENG the woman that Mary is taller than ,*die Frau, als die Mary größer ist‘). In anderen Sprachen sind nur bestimmte syntaktische Funktionen zugelassen; im extremsten Fall kann nur die Subjektfunktion möglich sein, etwa im Madagassischen (Austronesisch, Lehmann 1984: 242). Wir sprechen dann auch von der Relativierung oder Relativierbarkeit von x' ‚nur in bestimmten Funktionen‘. Die für x' zugänglichen Funktionen können in einer universal gültigen Hierarchie angeordnet werden und für jede Sprache kann der einschlägige Ausschnitt aus dieser Hierarchie angegeben werden (Parameter ‚Zugänglichkeitshierarchie für syntaktische Funktionen‘). Eine wichtige Rolle spielt dabei, ob x' eine unmittelbare Konstituente von RS ist, also eine selbstständige Satzgliedfunktion innerhalb von RS hat, oder nur Teil einer unmittelbaren Konstituente ist, also etwa Teil einer NP wie in der Mann, [dessen Mutter]NP ich getroffen habe oder Teil einer PP wie in der Tag [an dem]PP der Regen kam. Auch dieser Faktor kann die Relativierbarkeit von x' beeinflussen. Wir rufen hier den Parameter ‚Relativierbarkeit mittelbarer NP/PP-Konstituenten‘ auf. Vor allem, wenn x' Teil eines nur mittelbar subordinierten Satzes ist, ist Relativierung häufig ausgeschlossen wie etwa in DEU *der Mann, den ich denke, dass du getroffen hast. Im Englischen dagegen sind solche Fälle der ‚langen Relativierung‘ (Smits 1989: 82) möglich: ENG the man [that I think [you met [ ] yesterday]S]S. Der entsprechende Parameter lautet ‚Lange Relativierung‘. In vielen Sprachen, deren Relativkonstruktionen einen externen Nukleus vorsehen, gibt es auch einen mit RS vergleichbaren Typ ohne ein Nukleusnominal im übergeordneten Satz. Man spricht hier häufig von freien Relativsyntagmen bzw. freien Relativsätzen. Semantisch wird hier der nominale Begriff eingespart und die Referenz beruht einzig auf der propositionalen Charakterisierung. Im Deutschen wird dieser Typ in der Regel durch w-Sätze vertreten wie in wer hier gerade arbeitet. Obwohl die o. g. Kriterien für RS hier nicht durchweg vorliegen, beziehen wir – der Tradition folgend – freie Relativsätze – mit einem entsprechenden Parameter – in die Betrachtung ein. Dies ist mit den übereinzelsprachlich geltenden ausdrucks- und inhaltsseitigen Parallelen zu den Relativsyntagmen zu rechtfertigen. Wir schließen uns nicht der Annahme an, dass das Nukleusnominal hier nur syntaktisch eingespart ist. Diese Annahme wird in der generativen Theorie vertreten und scheint auch dem traditionellen Terminus ‚freier Relativsatz‘ zugrunde zu liegen. Wir verwenden den eingeführten Terminus hier als nicht wörtlich zu interpretierenden Namen, also ohne zu implizieren, freie Relativsyntagmen seien Relativsyntagmen. In der IDS-Grammatik (1997: 2270–2275) wird mit ‚gegenstandsfundierter w-Satz‘ eine andere Begrifflichkeit gewählt. Diese verbietet sich hier aufgrund ihres rein einzelsprachlichen Bezugs auf das Deutsche.  

  











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D Nominale Syntagmen

Auch freie Relativsyntagmen sind über eine semantische Leerstelle mit der übergeordneten Konstruktion, hier direkt mit dem Obersatz (ohne Zwischenstufe einer Leerstelle bei einem Nukleus), verknüpft. Man vergleiche für Wer hier gerade arbeitet, sollte sich warm anziehen: ‚derjenige x, so dass gilt: x arbeitet gerade hier, sollte sich warm anziehen‘. Auch bei den ‚weiterführenden Relativsätzen‘ sind die angegebenen Kriterien für Relativsyntagmen nicht voll erfüllt. Sie haben als Antezedens keinen nominalen Ausdruck, mit dem sie eine Relativkonstruktion bilden, sondern einen Satz (4a) oder einen Prädikatsausdruck (4b). (4)

a. Eva war unpünktlich, was Hans nicht erstaunte. b. Er war diplomatisch, was schon sein Vater gewesen war.

Die semantische Gemeinsamkeit mit den prototypischen Relativsätzen besteht hier darin, dass eine Variable in zwei Strukturen gebunden wird, wie die Paraphrase für (4a) zeigt: ‚Es gibt ein Ereignis e, für das gilt: e besteht darin, dass Eva unpünktlich war, und e erstaunte Hans nicht.‘ Diese semantische Gemeinsamkeit drückt sich in der Verwendung des ‚bezüglichen‘ Pronomens, also des Relativpronomens, aus. Anders als freie Relativsätze haben weiterführende Relativsätze keine syntaktische Funktion (im engeren Sinne) im übergeordneten Satz. Weiterführende Relativsätze drücken wie (notwendig) nichtrestriktive (= appositive) adnominale Relativsätze eine zusätzliche Prädikation aus, die den Bezugsausdruck semantisch nicht beschränkt. Sie sind somit nicht-modifikativ und a fortiori nicht-restriktiv. Wir handeln sie unter dem speziellen Parameter ‚weiterführende Relativsätze‘ ab. Das Relativsyntagma erweist sich somit als ein in sich gestuftes Konzept, für das folgendes Bündel von Kriterien angegeben werden kann: 1.

Relativsyntagmen sind subordinierte Strukturen, die eine finite oder nichtfinite Verbform als Kopf enthalten und die einen Gegenstand beliebiger Art im Rahmen eines Sachverhaltsentwurfes charakterisieren. 2. Relativsyntagmen sind über eine semantische Leerstelle mit einer anderen Konstruktion verknüpft. 3. Die Konstruktion, mit der die subordinierte Struktur semantisch verknüpft ist, hat einen nominalen Nukleus. 4. Relativsyntagmen sind assertorische Modifikatoren. Prototypische Relativsyntagmen (mit der Funktion der assertorischen Modifikation) erfüllen alle vier Kriterien, ‚appositive Relativsätze‘ erfüllen Kriterium 4. nicht, ‚freie Relativsätze‘ und ‚weiterführende Relativsätze‘ nur Kriterium 1. und 2. Anzumerken im Hinblick auf Kriterium 3. ist noch, dass RS in assertorischer Funktion auch zu pronominalen Nuklei gesetzt werden können, die nur sehr all-

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D6 Relativsyntagmen

gemeine begriffliche Differenzierungen in Form von konzeptuellen Sorten von Denotaten ausdrücken wie bei ‚jemand, der‘, ‚etwas, was‘. Folgende Varianzparameter sind für den Vergleich festzuhalten: 1.

Relativsatz und Relativinfinit bzw. Partizipialattribut: Verfügt eine Sprache über Relativsätze oder Relativinfinite? Wenn sie beide Formen kennt, welche ist dominant? Wie ist das Verhältnis zu Partizipialattributen? 2. Subordination: Wird Subordination überhaupt syntaktisch ausgedrückt? Wenn ja, wird sie durch einen Subordinator oder affixal ausgedrückt? Ist der Subordinator ein Relativpronomen/Relativadverb oder eine Relativpartikel? Von welchen weiteren Mitteln der Subordination, z. B. Nebensatzstellung, wird Gebrauch gemacht? 3. Pronominalisierung oder Lückenbildung: Wird – bei externem Nukleus – die semantische Leerstelle in RS durch ein Pronomen aufgenommen? Oder liegt Lückenbildung vor? 4. Zugänglichkeitshierarchie für syntaktische Funktionen: Welche syntaktischen Funktionen sind in einer Sprache für den syntaktischen Repräsentanten x' der semantischen Leerstelle in RS zugelassen? 5. Relativierbarkeit mittelbarer NP/PP-Konstituenten: Sind auch Teile von NP- oder PP-Konstituenten relativierbar? 6. Lange Relativierung: Kann auch aus mittelbar untergeordneten Sätzen oder Infinitivkonstruktionen heraus relativiert werden? 7. Freies Relativsyntagma: Gibt es in einer Sprache freie Relativsyntagmen? Unterscheiden sie sich morphosyntaktisch von Relativsyntagmen? 8. Restriktives und nicht-restriktives Relativsyntagma: Kennt eine Sprache neben dem restriktiven Typ auch den nicht-restriktiven? Sind die Ausdrucksformen beider Typen identisch oder nicht? 9. Weiterführendes Relativsyntagma: Welche Spezifika zeichnen satz- und prädikatsbezogene Relativsyntagmen aus?  





D6.2 Relativsatz und Relativinfinit bzw. Partizipialattribut Zu unterscheiden ist hier zwischen Sprachen, bei denen ausschließlich oder dominant infinite Konstruktionen RS bilden können, und solchen, bei denen sie sekundär neben Relativsätzen gebraucht werden. Der erste Sprachtyp, Sprachen mit dominantem Relativinfinit, ist z. B. vertreten durch die dravidischen Sprachen, z. B. Tamil, die Andensprache Quechua sowie eine Reihe von uralischen und altaischen Sprachen. Das Türkische (als altaische Sprache) ist im Bereich der europäischen Sprachen der wichtigste Vertreter dieses Typs.  



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D Nominale Syntagmen

Im Türkischen wird RS-Bildung wie überhaupt die Bildung untergeordneter Sätze durch eine Reihe von Nominalisierungssuffixen (NR) am Verb ausgedrückt. Zu unterscheiden sind im Wesentlichen zwei Typen: 1.

RS, in denen x' als Subjekt oder Teil des Subjekts fungiert. Hier wird das Partizipialsuffix -An (als Repräsentant unterschiedlicher Allomorphe unter Vokalharmonie) gebraucht:

(5) TÜR

[okul-a gid-en] çocuk PT ZP Kind Schule-DAT geh-PTZP ‚das Kind, das zur Schule geht‘ wörtlich: ,das zur Schule gehende Kind‘

(6) TÜR

[oğl-u okul-a gid-en] adam geh-PTZP PT ZP Mann Sohn-POSS 3SG Schul-DAT ,der Mann, dessen Sohn zur Schule geht‘ (Kornfilt 1990: 250)

2.

RS, in denen x' eine andere syntaktische Funktion hat. Hier wird das Nominalisierungssuffix DIK (als Repräsentant unterschiedlicher Allomorphe) verwendet, das Subjekt-Argument von RS erscheint im Genitiv und an die durch DIK nominalisierte Verbform wird noch ein mit dem Subjekt in Person und Numerus kongruierendes Possessiv-/Personalsuffix angefügt. Die Setzung des Genitivs für das Subjekt-Argument von RS zeigt den hohen Nominalisierungsgrad der Konstruktion an; vgl. etwa nominalisierte Infinitive im Deutschen gegenüber Verbalsätzen (das Lachen der Leute – die Leute lachen):  

(7) TÜR

[Ahmed-in git-tiğ-i] okul geh-NR - POSS 3SG Schule Ahmed-GEN ,die Schule, in die Ahmed geht‘ (Kornfilt 1990: 250)

Ein Relativinfinit im engeren Sinne liegt nur beim zweiten Typus vor: Dieser erlaubt eine ganze Reihe von syntaktischen Funktionen für x', während der erste Typ aufgrund seiner Subjektzentriertheit, also der Beschränkung auf die Subjektfunktion (bzw. auf direkt mit dieser assoziierte Funktionen) als Partizipialattribut (PA) (→ D7) zu fassen ist. Das Relativinfinit im engeren Sinne ist außer in uralischen Sprachen, wie dem Mari (Tscheremissischen), in den europäischen Sprachen nicht in nennenswertem Umfang vertreten (vgl. Lehmann 1984: 58). Am Rande zu erwähnen sind allerdings postnominale Infinitivkonstruktionen im Englischen und in romanischen Sprachen, und zwar solche mit modaler (gerundivischer) Interpretation, bei denen x' in unterschiedlicher syntaktischer Funktion gebraucht werden kann.

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D6 Relativsyntagmen

Dabei kann im Englischen fakultativ das logische Subjekt des Infinitivs durch eine for-Phrase genannt werden, wie in (8b). Ist x' ein präpositionales Satzglied, so kann auch Präposition + Relativpronomen gesetzt werden, wie in (8c); vgl. Huddleston/Pullum (2002: 1067). (8) a. The man to help you is Mr. Johnson. ENG ‚Der Mann, der dir helfen kann, ist Mr. Johnson.‘ b. The man (for you) to see is Mr. Johnson. ‚Der Mann, den du sehen solltest, ist Mr. Johnson.‘ c. The time (at which) to go is July. ‚Die Zeit, in der man fahren sollte, ist Juli.‘ Auch im Italienischen sind neben Infinitiven ohne Relativelement (bei Relativierung über das direkte Objekt) solche mit Präposition + Relativpartikel möglich, im Französischen nur ersteres. (9) ITA

a. Cerco una ragazza da fotografare. INDEF Mädchen von fotografier.INF such.1SG ‚Ich suche ein Mädchen, das ich fotografieren kann.‘ b. Cerco una ragazza con cui ballare. INDEF Mädchen mit RPRO . OBL tanz.INF such.1SG ‚Ich suche ein Mädchen, mit dem ich tanzen kann.‘

(10) FRA

Je cherche une fille à inviter à la 1SG such.1SG INDEF Mädchen zu einlad.INF zu DEF ‚Ich suche ein Mädchen, das ich zu dem Fest einladen kann.‘

fête. Fest

Im Spanischen können bei Verben wie tener, haber, encontrar durch die Partikel que eingeleitete Sätze mit Infinitiv konstruiert werden: (11) SPA

No

tengo que poner-me. hab.1SG RPTL RPT L anzieh.INF - 1SG ‚Ich habe nichts zum Anziehen.‘ NEG

Im Deutschen ist der Relativsatz die einzige mögliche Form des Relativsyntagmas. Infinite Relativkonstruktionen gibt es nicht, auch nicht regelmäßig in der Form von Infinitivkonstruktionen mit modaler (gerundivischer) Interpretation, wie sie sich in anderen europäischen Sprachen finden. Nur in mehr oder weniger festen Verbindungen mit dem Verb haben bzw. Transaktionsverben wie geben, schicken, bekommen usw. sowie mit finden haben sich solche Konstruktionen im Deutschen erhalten. Die Beispiele unten sind der IDS-Grammatik (1997: 1280 f.) entnommen.  

(12)

a. Ich habe [etwas zu essen]. b. Er hat [nichts zu tun].

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D Nominale Syntagmen

c. Ich habe [nichts zu verlieren] / [keine Zeit zu verlieren]. d. Die Wirtin hat [ein Zimmer zu vermieten].    

(13)

Ich gebe dir / schicke dir / bekomme / finde etwas zu essen.

Relativierte Stelle ist hier das direkte Objekt, also z. B. für Ich habe keine Zeit zu verlieren: ‚Ich habe keine Zeit, die ich verlieren könnte/möchte‘. Die in diesem Sinne relativische Konstruktion ist zu unterscheiden von finalen Konstruktionen ohne Relativierung wie in Ich habe keine Zeit zu arbeiten im Sinne von ‚Ich habe keine Zeit, um zu arbeiten‘. Im Unterschied zu den Konstruktionen im Englischen, Italienischen, Französischen oder Spanischen kann der Infinitiv nicht erweitert werden:  

(14)

a. *Ich habe [etwas [mit dir heute Abend zu essen]]. b. *Die Wirtin hat [ein Zimmer [an eine nette junge Dame zu vermieten]]. c. Ich habe heute Abend etwas mit dir zu besprechen.

Man beachte, dass haben zu auch als Modalverb im Sinne von ‚müssen‘ verwendet wird. In dieser Lesart sind Erweiterungen möglich; man vgl. (14c), ‚Ich muss heute Abend etwas mit dir besprechen‘.

Dem eingeschränkten Vorkommen des Relativinfinits im engeren Sinne in den europäischen Sprachen steht die ausgedehntere Verwendung von Partizipialattributen gegenüber (vgl. den ersten Typ von Relativinfinit im Türkischen). Sie werden in vielen europäischen Sprachen sekundär neben Relativsätzen gebraucht. Während Partizipialattribute im Türkischen komplementär zum Relativinfinit im engeren Sinne sind, können sie in den Sprachen, die über Relativsätze verfügen, mit letzteren bei entsprechender Funktion von x' (z. B. als Aktiv- und Passivsubjekt) ausgetauscht werden. Dominante Konstruktionsform in den europäischen Sprachen ist insgesamt der Relativsatz, also das finite RS. Die Konkurrenz zwischen finitem RS und Partizipialattribut bedeutet auch eine funktionale (Teil-)Äquivalenz. Partizipialattribute sind wie Relativsyntagmen im prototypischen Fall assertorische Modifikatoren. Beide Konstruktionstypen können aber auch kontextabhängig qualitative Modifikation ausdrücken. Bei RS tritt dies u. U. dann ein, wenn das Prädikat von RS eine Kopulakonstruktion aus prädikativem Adjektiv + Kopulaverb ist und wenn damit im jeweiligen Kontext keine Zustandsprädikation, sondern eine permanente Eigenschaft oder Disposition ausgedrückt wird, wie etwa in folgendem Beleg.  



(15)

Inzwischen hatte sich der Hirsch mit seinem Geweih, das viel zu imposant war, zwischen den Bäumen verhangen, er lief nicht weg, stand, ein einzigartiger Verstoß gegen das Naturgesetz. (Kleine Zeitung, 28.04.1998)

Wie in → D7.3.1 gezeigt, können adnominale Partizipien sich ggf. auch morphosyntaktisch als Adjektive erweisen (etwa erkennbar an Komparationsformen oder Intensitätspartikeln wie in die faszinierendere Frau / die höchst überzeugende Darbietung). Damit ist kontextunabhängig eine Einordnung als qualitativer Modifikator gegeben. Bei RS sind solche eindeutigen ausdrucksseitigen Indizien für eine qualitative Lesart

D6 Relativsyntagmen

1747

nicht möglich. Dennoch ist auch hier mit Überschneidungsbereichen zwischen funktionalen Domänen zu rechnen, in der Weise, dass unter bestimmten Bedingungen die prototypische Domäne einer bestimmten Ausdrucksklasse (hier des Adjektivs) auch durch andere Konstruktionstypen (hier PA und RS) realisiert werden kann. Anders als bei PA (mit Beispielen wie DEU fließendes Wasser, ENG rocking chair) ist jedoch nicht anzunehmen, dass das Relativsyntagma in unseren Vergleichssprachen auch klassifikatorisch gebraucht wird. Die Wahl zwischen den Alternativen (wo es um subjektzentrierte Konstruktionen geht) wird im Deutschen primär über das Medium und die Textsorte gesteuert. Partizipialattribute, die durch Komplemente und Supplemente ausgebaut sind, werden in gesprochener Sprache und in informellen Texten gemieden. Sie sind ein Mittel der geschriebenen Sprache (primär Fachtexte, nicht-fiktionale Prosa). Partizipialattribute tragen dabei in besonders hohem Maße zu der hohen Informationsdichte solcher Texte bei. Während im Deutschen diese Informationsverdichtung (bis zu einem gewissen Grad) zum Textsortenstil gehört, wird in anderen Sprachen (etwa Norwegisch, auch Englisch) in vergleichbaren Texten ein weniger verdichteter, ‚inkrementeller‘ Stil bevorzugt. Auch durch Relativsätze wird Information, die in vielen Fällen in einen eigenen Satz auslagerbar wäre, in einen anderen Satz hierarchisch eingebettet und somit verdichtet. Gegenüber dem Partizipialattribut handelt es sich jedoch um eine explizitere Form, die ggf. syntaktische Bezüge, vor allem aber Tempus und Modus formal repräsentiert. Vgl. dazu FabriciusHansen (1996, 1998, 2010), die anhand des Übersetzungsvergleichs deutscher, norwegischer und englischer Texte solche Unterschiede in der sprach- und stilabhängigen Informationsverdichtung aufzeigt.

D6.3 Subordination Die Subordination des RS kann ohne syntaktischen Ausdruck bleiben. In diesem Fall wird ein Hauptsatz (ein Satz ohne Merkmale der Subordiniertheit) dem Nukleusnomen voran- oder nachgestellt. Ein wichtiger Vertreter des seltenen pränominalen Typs ist das Japanische (Lehmann 1984: 70–72). Postnominale RS ohne Subordinator kommen als sekundäre Strategie in europäischen Sprachen vor, und zwar im Englischen und in den festlandskandinavischen Sprachen sowie im umgangssprachlichen Walisischen (vgl. Lehmann 1984: 89 f.).  

(16) a. the man [we met [ ] yesterday]RS ENG ‚der Mann, den wir gestern trafen‘ b. the man [we were talking about [ ]]RS ,der Mann, über den wir sprachen‘   

  

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D Nominale Syntagmen

(17) a. den maten [Tor hadde laget [ ]]RS NOR DEM / DEF Essen.DEF Tor hatte zubereitet ,das Essen, das Tor zubereitet hatte‘ b. sengen [du sover i [ ]]RS Bett.DEF 2SG schlaf.2SG in ,das Bett, in dem du schläfst‘ (Strandskogen/Strandskogen 1998: 121)   

  

In RS, bei denen die Subjektfunktion relativiert ist, darf der Subordinator jedoch in der Standardsprache nicht fehlen. (18) ENG

*The man [ ] came yesterday was my friend. ‚*Der Mann, [ ] gestern kam, war mein Freund.‘   

  

In einer solchen Konstruktion wäre die Satzgrenze zum RS nicht erkennbar, die Setzung eines Subordinators ist also funktional. Auch bei einer Relativierung des Possessors (nominales Attribut) ist ein Subordinator obligatorisch. Subordination generell und speziell die relativische kann auch affixal am Verb (meist als Suffix) markiert werden, etwa in verschiedenen akkusativischen uto-aztekischen Sprachen Mittelamerikas sowie in ergativischen Sprachen wie dem australischen Dyirbal, dem tibeto-birmanischen Lushai, dem Grönländischen und – als europäische Sprache – dem Baskischen (Lehmann 1984: 59–69, 73–80). Die türkischen Verbformen auf -An bzw. -DIK hingegen sind nicht notwendigerweise subordiniert. Wir gehen daher von RS ohne Subordinator aus.  



Frei vorkommende Subordinatoren können entweder das RS einleiten oder es „ausleiten“, also die letzte Stelle des RS einnehmen. Dabei markieren die Subordinatoren – bei externem Nukleus – typischerweise die Nahtstelle zum Nukleusnominal; sie haben also u. a. die Funktion, die kritische Grenze zum übergeordneten Satz zu verdeutlichen. Das bedeutet, in pränominalen RS wird der Subordinator die letzte Position einnehmen, in postnominalen RS die erste, einleitende. Der erstgenannte Typ, pränominale RS mit ausleitendem Subordinator, ist in den europäischen Sprachen nicht zu verzeichnen; ein Beispiel ist das Chinesische (Mandarin). In Europa einschließlich des Deutschen stark vertreten hingegen sind postnominale RS mit einleitendem Subordinator. Alle indoeuropäischen Sprachen, das Ungarische, das Finnische kennen diese Konstruktion zumindest als eine unter mehreren. Daneben ist sie z. B. auch in semitischen Sprachen vertreten.  







D6 Relativsyntagmen

1749

Tab. 2: Formen der Subordination von RS in den europäischen Sprachen  

ohne Subordinator

affixaler Subordinator

als dominante Strategie

Türkisch

Baskisch

als mögliche Strategie

Englisch, festland- – skandinavische Sprachen, Walisisch

freier Subordinator

ausleitend pränominal

einleitend postnominal



Mehrzahl europäischer Sprachen, Deutsch





Im Deutschen wie in weiteren germanischen Sprachen außer dem Englischen (und Isländischen) findet sich als weiteres Subordinationsmerkmal eine von der Stellung in nicht-subordinierten (Aussage-)Sätzen abweichende Stellungsfolge der Satzkonstituenten: Dem Niederländischen, den festlandskandinavischen Sprachen und dem Deutschen ist gemeinsam, dass in subordinierten Sätzen das finite Verb nicht an der zweiten Satzposition (Verbzweit) erscheint, sondern an einer späteren. Diese ist im Deutschen und Niederländischen satzfinal (Verbletzt), in den festlandskandinavischen Sprachen die dritte Satzposition (nach Subjekt und Negationspartikel). Deutlich erkennbar ist die Differenz zwischen beiden Stellungsfolgen bei mehrteiligem Verbalkomplex: Während die Teile im Aussagesatz getrennt sind, sind sie im subordinierten Satz adjazent – vgl. (19a)–(21a) gegenüber (19b)–(21b).  

(19)

a. Der Junge hat meinen Wein nicht getrunken. b. der Junge, der meinen Wein nicht getrunken hat

(20) a. De jongen heeft mijn wijn niet gedronken. NDL DEF Junge hab.3SG POSS . 1SG Wein NEG getrunken ‚Der Junge hat meinen Wein nicht getrunken.‘ b. de jongen, die mijn wijn niet gedronken heeft DEF Junge RPRO POSS . 1SG Wein NEG getrunken hab.3SG ‚der Junge, der meinen Wein nicht getrunken hat‘ (21) a. Han har ikke tenkt på NOR 3SG . M hab.3SG NEG gedacht an ‚Er hat nicht an diese Frau gedacht.‘

den DEM

kvinnen. Frau.DEF

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D Nominale Syntagmen

b. den

kvinnen som han ikke har Frau.DEF RPT RPTL L 3SG . M NEG hab.3SG ,die Frau, an die er nicht gedacht hat‘ DEF

tenkt gedacht

på an

RS – vor allem restriktiver Art – können im Deutschen von ihrem Bezugsnomen getrennt im Nachfeld erscheinen. Je größer die topologische Distanz zum Antezedens ist, desto weniger akzeptabel wird jedoch – zumindest im geschriebenen Deutsch, wo die Stützung durch die Intonation fehlt – die Extraposition des RS. Gegebenenfalls entstehende Bezugsambiguitäten werden daher zugunsten des nächstmöglichen Antezedens aufgelöst (vgl. (22a) versus (22b)). Ein Antezedens im Vorfeld ist in der Regel nicht akzeptabel (23) (vgl. IDS-Grammatik 1997: 1652–1654).  







(22)

a. Natürlich haben die Menschen die Kandidaten gewählt, die Änderungen wollen. b. Natürlich haben die Menschen die Kandidaten gewählt, die Änderungen wollen. ??Die

(23)

Wähler haben sich auf diesen Kandidaten geeinigt, die Änderungen wollen.

Murelli (2011a: 77 f.) zeigt, dass die Extraposition von RS auch in anderen europäischen Sprachen, darunter Englisch und Ungarisch, in vergleichbarer Weise möglich ist. Auch er plädiert dafür, hier nicht von einem eigenen Typ des RS auszugehen, sondern von einer Variante des adnominalen, im Deutschen postnominalen Typs. Sein syntaktischer Test, der die wechselseitige Abhängigkeit der Position von Nukleus und RS abprüft, führt im Deutschen zumindest für die Vorfeldposition des Nukleusnominals zum Erfolg.  

Für das Deutsche wird diskutiert, ob auch gewisse durch das Demonstrativum der eingeleitete Verbzweitsätze wie (24), (25) als Relativsätze zu betrachten sind. Das Symbol ‚→‘ steht für progredientes (nicht-finales) Tonmuster, Unterstreichung für Hauptakzent, vgl. IDS-Grammatik (1997: IX). (24)

Das Blatt hat eine Seite → die ist ganz schwarz. (H.-M. Gärtner 1998: 2)

(25)

Es war einmal ein König → der hatte drei Töchter.

In Zifonun (2001b: 79–83) wird argumentiert, dass solche d-V2-Sätze (Terminus von Ravetto 2007) notwendig nicht-restriktiv und damit semantisch wie selbstständige Aussagesätze zu interpretieren sind. Da auch kein syntaktisches Indiz für Subordination vorliegt, werden d-V2-Sätze nicht als Relativsyntagmen aufgefasst. Diese Position wird weiterhin aufrechterhalten (vgl. auch zu einer syn- und diachronen Analyse Ravetto 2007).

Was die Funktion des Subordinators angeht, so steht die Relativpartikel dem Relativpronomen gegenüber. Während die Relativpartikel nur die Funktion der Subordination übernimmt, erfüllt das Relativpronomen neben der Subordination mindes-

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tens eine weitere der insgesamt drei für RS konstitutiven Funktionen. Im prototypischen Fall (etwa bei POL który) nimmt es alle drei Funktionen wahr, das heißt, das Relativpronomen subordiniert, es attribuiert das RS durch Kongruenz (z. B. in Genus und Numerus) an das Nukleusnominal und es füllt als syntaktischer Repräsentant x' die Leerstelle in RS. Relativpartikeln (wie etwa DÄN/NOR/SWE som) sind morphologisch unveränderlich. Relativpronomina hingegen erfordern morphologische Variabilität; die Kumulation mehrerer Funktionen in einem Trägerelement setzt einen gewissen Grad von Fusion voraus. Bei attribuierenden Relativpronomina kann die Formabstimmung mit dem Antezedens in Koordinationen ein Problem darstellen. Sind bei einer ‚oder‘-Verknüpfung die einzelnen Teile der Koordination etwa genusverschieden, so kann ein Abstimmungskonflikt entstehen (vgl. zum Deutschen Zifonun 2001b: 77). Relativpartikeln finden sich als ausschließliche bzw. dominante Strategie in indoeuropäischen Sprachen wie den skandinavischen Sprachen, dem Persischen und Neugriechischen, außerdem u. a. im Indonesischen und in semitischen Sprachen (Hebräisch, moderne arabische Dialekte) (vgl. Lehmann 1984: 85–97). Als eine Strategie neben anderen findet die Relativpartikel im Rahmen der europäischen Sprachen Anwendung im Englischen. In den romanischen Sprachen ist eine Tendenz zur Entwicklung der Pronomina in Richtung auf Relativpartikeln zu beobachten (vgl. unten). Relativpartikeln, so zeigen die Befunde aus den europäischen Sprachen mit Partikelgebrauch, sind für den Ausdruck der Funktion als adnominales Attribut, für die Verwendung in freien Relativsätzen und bei Satz- und Prädikatsbezug wenig geeignet (vgl. auch zum Englischen unten). Askedal (1993: 250) spricht mit Bezug auf NOR som, das nicht als adnominales Attribut auftreten kann, von einem „funktionale(n) Loch in der norwegischen RS-Bildung“. Relativpronomina haben neben der Funktion der Subordination auch die der Attribution (attribuierende Relativpronomina) oder die der Leerstellenfüllung (leerstellenfüllende Relativpronomina). Rein attribuierende Relativpronomina, die nicht leerstellenfüllend sind, finden sich z. B. im klassischen Arabisch und im Swahili (Lehmann 1984: 97–102). Kennzeichnend ist hier, dass die Leerstellenfüllung von einem anderen Pronomen (z. B. einem Demonstrativum) übernommen wird. Leerstellenfüllende Relativpronomina hingegen finden sich nur in Europa; es handelt sich also um eine areale Besonderheit der europäischen Sprachen. Leerstellenfüllende Relativa erfüllen im Gegensatz zu Relativpartikeln primäre oder sekundäre syntaktische Funktionen in den von ihnen subordinierten Sätzen. Dies setzt voraus, dass an ihnen, etwa durch Flexion, die syntaktische Funktion in RS erkennbar ist. Im Gegensatz zu diesem charakteristischen Zug der europäischen Relativpronomina als Leerstellenfüller gibt es Unterschiede, was die Fähigkeit zur Attribuierung angeht. So ist bei den französischen Relativa qui/que, den italienischen che/cui keine Genus-Numerus-Kongruenz mit dem Kopf-Nomen gegeben. In manchen Fällen ist auch der Status als Pronomen oder Partikel nicht ganz eindeutig. Gerade FRA que, ITA che können jeweils als Objektivusform (que) bzw. Form im direkten Kasus (che) des Relativpro 







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nomens aufgefasst werden oder als Relativpartikel, die ihrerseits mit dem Komplementierer (Subjunktor für sachverhaltsbezeichnende Nebensätze, ,dass‘) zusammenfällt. Grund für diese Uneindeutigkeit ist, dass es sprachhistorisch und systematisch eine ganze Reihe von Überschneidungen zwischen dem Komplementierer, dem neutralen bzw. sachbezogenen Interrogativum und dem Relativpronomen gibt (vgl. dazu unten genauer). Es sollte außerdem festgehalten werden, dass leerstellenfüllende Relativa auch in den europäischen Sprachen, die über sie verfügen, häufig nicht das einzige Mittel der Relativierung sind. Sie sind jeweils charakteristisch für die geschriebenen Standardsprachen (vgl. Murelli 2011a: 44), während substandardsprachliche Varietäten, auch in den Kern-Vergleichssprachen, daneben andere Strategien aufweisen. Wie die Untersuchungen von Murelli (2011a: Kap. 5), aber auch von Fleischer (2004a, 2004b) für das Deutsche zeigen, reflektieren die Relativpronomina einen wohl durch normierende Einflüsse zustande gekommenen Sprachstand, oder gar einen, der „nicht natürlich“ ist (Fleischer 2004b: 81).  

Die Relativelemente, die in den europäischen Sprachen zu finden sind, sind in Tabelle 3 aufgelistet. Es bleibt dabei offen, ob die Leerstellen füllenden Pronomina außerdem attribuierend sind.  

Tab. 3: Relativpartikel und Relativpronomen in den europäischen Sprachen  

Relativpartikel

Relativpronomen

rein attribuierend

Leerstellen füllend

als ausschließliche / dominante Strategie

skandinavische Sprachen, Neugriechisch



nur europäische Sprachen

als mögliche / sekundäre Strategie

Englisch, romanische Sprachen (Substandard)





Relativadverbien konkurrieren nicht mit Relativpronomina und -partikeln, sondern sind komplementär zu ihnen. Sie werden bei adverbialer Funktion der relativierten Stelle verwendet. Varianz ergibt sich (a) über die Menge der adverbialen Funktionen, für die Relativadverbien als Worteinheiten zur Verfügung stehen, und (b) über die morphologische Struktur der Adverbien selbst. Relativadverbien stimmen in den europäischen Sprachen meistens als indefinite Formen mit Interrogativadverbien überein. Damit ergibt sich, dass für die adverbialen Funktionen derjenigen konzeptuellen Kategorien Relativadverbien zur Verfügung stehen, die auch durch Worteinheiten erfragt werden können. Diese Menge muss jedoch nicht voll ausgeschöpft werden. Vielmehr liegt diese hierarchisch geordnete Kategorienmenge vor: Ort > Zeit > Art und Weise > Grund > andere

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Diese Hierarchie gründet auf folgenden Fakten: In einigen romanischen Sprachen gibt es nur einen begrenzten Vorrat an Relativadverbien, ein lokales ist dabei stets vertreten. Im Französischen wird aber kein weiteres Interrogativadverb in RS verwendet. Auch das Italienische kennt die adverbiale Relativierung des Ortes (dove, auch mit Präpositionen wie da dove, di dove) sowie der Zeit (quando), die iberoromanischen Sprachen von Ort, Zeit, Art und Weise. Über kausale Relativadverbien verfügen z. B. Englisch und Deutsch. Wo keine Relativadverbien für eine adverbiale Funktion vorhanden sind, aber auch als Alternative zum Adverb, wird auf entsprechende Präpositionalphrasen zurückgegriffen.  

(26) ENG

the days when / on which he was working ‚die Tage, an denen er arbeitete‘

Außerdem können in verschiedenen Sprachen (Englisch, Französisch, Italienisch) Relativpartikeln zur Relativierung der gängigsten adverbialen Funktionen eingesetzt werden, wobei dies im Französischen gegenüber der Einleitung durch das Relativadverb où (vgl. (28) versus (44)) eher weniger üblich ist: (27) ENG

the days / the places / the manner (that) he was working ‚die Tage / die Orte, an denen er arbeitete / die Art und Weise, wie er arbeitete‘

(28) FRA

un

jour qu’ il travaillait INDEF Tag RPTL 3SG . M arbeit.IPRF . 3SG ‚ein Tag, an dem er arbeitete‘

(29) ITA

un

giorno che ha lavorato INDEF Tag RPTL hab.3SG gearbeitet ‚Ein Tag, an dem er gearbeitet hat ‘

Relativadverbien sind „specialized relative elements“ (Murelli 2011a: 90), insofern als sie im Gegensatz zu Relativpronomina auf eine bestimmte syntaktische Funktion, z. B. die des Lokaladverbiales, eingeschränkt sind. Relativadverbien können aber auch generalisiert werden, etwa um weitere adverbiale Funktionen wahrzunehmen oder letztlich den Status einer Relativpartikel zu gewinnen (wie substandardsprachlich wo im Deutschen). Es gibt weitere „specialized relative elements“, etwa FRA dont (für die syntaktischen Funktion von de + Relativierer) und SPA cuyo, POR cujo, die nur den Possessor relativieren. Die iberoromanischen Formen cuyo, cuya (PL cuyos, cuyas) bzw. cujo, cuja (PL cujos, cujas) ‚dessen, deren‘, die zur Relativierung eines adnominalen Genitivs gebraucht werden, kongruieren in Genus und Numerus mit dem darauffolgenden Kopfnomen – nicht etwa mit dem  



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Nukleusnominal. Sie leisten also keine Attribuierung zum Nukleus im o. g. Sinne (Murelli 2011a: 90–93).  

(30) SPA

mi hermana, cuyo marido / cuya hija vive / REL . F Tochter.F leb.3SG mein Schwester REL . M Mann.M en América in Amerika ,meine Schwester, deren Mann / deren Tochter in Amerika lebt‘ (De Bruyne 1995: 190)

Es folgt eine Übersicht über die Verteilung von Relativpartikel, -pronomen und -adverb in den Vergleichssprachen. Im Englischen ist die Relativpartikel that, die mit dem distalen Demonstrativum und dem Subjunktor (DEU dass) übereinstimmt, bei allen syntaktischen Funktionen auf der Satzebene für die relativierte Stelle möglich, nicht jedoch bei adnominalen Funktionen. Bei relativiertem Subjekt ist that eher marginal (Smits 1989: 289). Die Relativpartikel ist – das gilt nur im Englischen – auf restriktive RS eingeschränkt; von daher erklärt sich ihre starke Präferenz bei Indefinitpronomen als Nukleus und bei Superlativen wie first, last, next sowie only als Nukleus-Modifikatoren, wie in (31).  

(31) ENG



Nothing that you could tell me [_] would change my mind. ‚Nichts, das du mir sagen könntest, würde meine Meinung ändern.‘

Die Relativpronomina des Englischen kongruieren mit dem Nukleusnominal im (konkreten) Genus hinsichtlich der Unterscheidung [+personal] (who) versus [–personal] (which). Bei der Possessivform whose allerdings gilt die Beschränkung auf personalen Bezug nicht. Zwar sollte nach Volksmeinung („folk belief“, vgl. Biber 2006: 619) auch relatives whose auf personale Antezedentien beschränkt sein; abhängig von Registern und Textsorten ist jedoch auch der Bezug auf Personenkollektive und unbelebte Entitäten in unterschiedlichem Maße usuell. Numerusdifferenzierung kann wie beim Interrogativum, mit dem das Relativum homonym ist, nicht vorliegen, zu weiteren morphologischen Eigenschaften → B1.5.5.2.2. Die Relativpronomina fungieren als Leerstellenfüller in allen syntaktischen Funktionen auf der Satz- und der adnominalen Ebene. Insbesondere kann das Relativpronomen auch von einer Präposition regiert auftreten. Die Relativpartikel that hingegen kann zwar Sätze einleiten, in denen das Komplement einer Präposition relativiert ist, die Präposition muss jedoch unter Lückenbildung in der entsprechenden Satzposition zurückbleiben, wie in (34); man spricht hier von ‚Präpositionsstranden‘. Analoges gilt auch für die skandinavischen Sprachen. Der Ausschluss der Rektion durch eine Präposition kann in anderen strittigen Fällen als Kriterium für die Einstufung als Relativpartikel herangezogen werden, siehe zum Französischen weiter unten.

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(32) ENG

the idea for which he is fighting / the idea which he is fighting for ___ ,die Idee, für die er kämpft‘

(33) ENG

the people for whom he is fighting / the people who he is fighting for ___ ,die Leute, für die er kämpft‘

(34) ENG

the idea that he is fighting for [ ] / *the idea for that he is fighting ,die Idee, für die er kämpft‘

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Bei RS mit einem Personalpronomen als Antezedens kongruiert das Finitum in der Person mit dem Antezedens. Bei persondeiktischem Antezedens kann in RS die Persondeixis wieder aufgegriffen werden. Das Finitum steht (mit oder ohne wiederholte Persondeixis) in der Standardform, ist also nicht als 3. Person Singular markiert – siehe (35) und (36).  

(35) ENG

I, who have always supported you ‚ich, der ich dir immer geholfen habe‘

(36) ENG

You, who (you) don’t mean to cheat us ‚du, der du uns nicht betrügen willst‘



Nach Quirk et al. (1985: 1247) sind it und they/them als Antezedens ausgeschlossen; allerdings finden sich im BNC zahlreiche Belege mit they, nicht nur in Spaltsätzen (it was they, who …), sondern auch im Sinne von ,diejenigen, die‘, wie in (37). Auch die entsprechende Verwendung von he wie in (38) wird als „rare (though familiar from proverbs and the Bible)“ charakterisiert (Huddleston/Pullum 2002: 1471). Man beachte, dass diese Verwendungen restriktiv, nicht appositiv sind. (37) ENG

And they who were in the ships, fled to Denia. ‚Und diejenigen, die auf den Schiffen waren, flohen nach Denia.‘ (BNC: ASW)

(38) ENG

He who wants to jump out should jump out now. ‚Derjenige, der / Wer abspringen will, sollte jetzt abspringen. ‘ (BNC: AA4)

Die Relativadverbien umfassen die Kategorien ‚Ort‘ (where), ‚Zeit‘ (when, while) und ‚Grund‘ (why), während ‚Art und Weise‘ nicht durch das Adverb how relativierbar ist (*the manner how ,die Art und Weise, wie‘), vgl. Huddleston/Pullum (2002: 1050 f.). When ist mit einer Präposition kombinierbar (the time since / from / until when ‚die Zeit, seit der / von der an / bis zu der‘). Demgegenüber sind die für die germanischen Sprachen sonst typischen pronominaladverbialen Verbindungen, die noch für where existieren, wie whereupon, whereafter, whence, whereat, wherefore, wherewith ,wo 

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rauf, wonach, woher, woran, wofür, womit‘ nur formell üblich bzw. archaisch und ungebräuchlich. Im Französischen existiert neben den morphologisch einfachen die zusammengesetzte Form lequel, die nach Genus und Numerus flektiert. Letztere – formal übereinstimmend mit dem adjektivischen Interrogativpronomen und somit Form mit adnominalem Grundcharakter – ist eindeutig ein Relativpronomen; sie kongruiert in Genus und Numerus und füllt eine syntaktische Leerstelle. Präferiert ist der Gebrauch bei Rektion durch eine Präposition oder bei einem Nukleusnominal unter präpositionaler Rektion; in anderen syntaktischen Funktionen kommt sie allenfalls in nichtrestriktiven Relativsätzen vor; vgl. Riegel/Pellat/Rioul (2014: 387). Entsprechende zusammengesetzte Formen gibt es auch in anderen romanischen Sprachen, etwa SPA el que/la que/lo que sowie el cual/la cual/lo cual und ITA il quale/la quale. Bei den französischen morphologisch einfachen Relativierern gibt es eine auffällige Korrelation zwischen s