Grammatik und Höflichkeit im Sprachvergleich: Direktive Handlungsspiele des Bittens, Aufforderns und Anweisens im Deutschen und Koreanischen 9783110935028, 9783484750326


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German Pages 309 [316] Year 2005

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Grammatik und Höflichkeit im Sprachvergleich: Direktive Handlungsspiele des Bittens, Aufforderns und Anweisens im Deutschen und Koreanischen
 9783110935028, 9783484750326

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Beiträge zur Dialogforschung

Band 32

Herausgegeben von Franz Hundsnurscher und Edda Weigand

Yongkil Cho

Grammatik und Höflichkeit im Sprachvergleich Direktive Handlungsspiele des Bittens, Aufforderns und Anweisens im Deutschen und Koreanischen

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2005

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-75032-4

ISSN 0940-5992

© Max Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2005 http://www. niemeyer. de D a s Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere f ü r Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Einband: Digital PS Druck AG, Birkach

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

IX

Liste der Abkürzungen

XI

Einleitung

1

Forschungsüberblick

3

1.

Das Problem einer kommunikativen Grammatik

3

2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4.

Das Problem einer Höflichkeitskonzeption Konzeption der sozialen Norm Indirektheitskonzeption Interaktive Konzeption Routinekonzeption

8 8 10 12 15

3. 3.1. 3.2. 3.2.1. 3.2.2.

Das Problem des Sprachvergleichs Systemorientierte Vergleiche Pragmatisch-handlungsorientierte Vergleiche Vergleiche, die sich an der Form orientieren Vergleiche, die sich an Funktion und Form orientieren

17 18 19 19 21

Theoretische Grundlegung

23

1. 1.1. 1.2. 1.3.

Das Modell des dialogischen Handlungsspiels Grammatik im Handlungsspiel Höflichkeit im Handlungsspiel Grammatik und Höflichkeit

23 27 30 34

2. 2.1. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.2.3. 2.2.4. 2.2.5. 2.2.6. 2.2.7.

Prinzipien höflichen Verhaltens Generei les Prinzip Kulturspezifische Prinzipien Distanzwahrung Ehrerbietung / Bescheidenheit Konfliktvermeidung Solidarität Relativierung Floskel Effektivität

35 35 39 40 42 42 44 44 45 45

3.

Sprachvergleich

47

4. 4.1.

Besonderheiten des Koreanischen Die Kategorie Honorifica

48 48

VI 4.1.1.

4.1.3. 4.1.4. 4.1.5. 4.2. 4.2.1. 4.2.2. 4.2.3. 4.2.4. 4.3.

Die grammatische Kategorie als Klassifikation von Ausdruckselementen und Funktionen Unterschiedliche Ausdrucksmittel für Honorifica 4.1.2.1. Anredeformen 4.1.2.2. Die Bescheidenheitsform ce 4.1.2.3. Lexikalische Alternativen 4.1.2.4. Die Partikel -si in der Verbalphrase 4.1.2.5. Modusformen der Ehrerbietung am Satzende 4.1.2.6. Antwortpartikeln Funktionen der Honorifica im obligatorischen Gebrauch Funktionen der Honorifica im fakultativen Gebrauch Höflichkeit und Honorifica Nicht zu den Honorifica gehörende Höflichkeitsformen und ihre Funktionen Distanzwahrung Konfliktvermeidung Effektivität Floskel Zusammenfassung

49 50 50 51 51 51 52 56 57 61 62 65 65 66 68 68 69

5. 5.1. 5.2. 5.3

Direktive Handlungsspiele als Analysegegenstand Definition Untertypen Situationstypen

70 70 73 75

4.1.2.

Methodologische Grundlegung: Erhebungsmethode des Analysekorpus

77

Analyse

79

1. 1.1. 1.1.1. 1.1.2. 1.1.3. 1.1.4. 1.2. 1.2.1. 1.2.2. 1.2.3. 1.2.4. 1.3. 1.3.1. 1.3.2. 1.3.3. 1.3.4. 1.4. 1.4.1. 1.4.2. 1.4.3. 1.4.4.

Höflichkeit im Deutschen Direktive Handlungsspiele Die Weisung Die Aufforderung Die kleine Bitte Die große Bitte Direktive Handlungsspiele Die Weisung Die Aufforderung Die kleine Bitte Die große Bitte Direktive Handlungsspiele Die Weisung Die Aufforderung Die kleine Bitte Die große Bitte Direktive Handlungsspiele Die Weisung Die Aufforderung Die kleine Bitte Die große Bitte

in der Familie

am Arbeitsplatz

in der Öffentlichkeit

im Bekanntenkreis

81 81 82 85 89 90 93 93 96 99 102 105 106 108 110 112 114 115 117 118 119

VII 1.5.

Zusammenfassung

122

2. 2.1. 2.1.1. 2.1.2. 2.1.3. 2.1.4. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.2.3. 2.2.4. 2.3. 2.3.1. 2.3.2. 2.3.3. 2.3.4. 2.4. 2.4.1. 2.4.2. 2.4.3. 2.4.4. 2.5.

Höflichkeit im Koreanischen Direktive Handlungsspiele in der Familie Die Weisung Die Aufforderung Die kleine Bitte Die große Bitte Direktive Handlungsspiele am Arbeitsplatz Die Weisung Die Aufforderung Die kleine Bitte Die große Bitte Direktive Handlungsspiele in der Öffentlichkeit Die Weisung Die Aufforderung Die kleine Bitte Die große Bitte Direktive Handlungsspiele im Bekanntenkreis Die Weisung Die Aufforderung Die kleine Bitte Die große Bitte Zusammenfassung

125 125 125 131 134 136 139 140 144 149 153 156 156 159 162 164 168 169 171 174 177 180

3.

Vergleich des Phänomens Höflichkeit im Deutschen und Koreanischen

186

Schlussbemerkungen

191

Literatur

193

Anhang

205

1.

Direktive Handlungsspiele mit einer Weisung

205

2.

Direktive Handlungsspiele mit einer Aufforderung

230

3.

Direktive Handlungsspiele mit einer kleinen Bitte

253

4.

Direktive Handlungsspiele mit einer großen Bitte

273

Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2004/05 von der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster angenommen wurde. Entstanden ist sie aus einem langjährigen Interesse am Phänomen der Höflichkeit, das sich bereits während meines Germanistikstudiums in Korea entwickelt hatte. Die Lektüre einiger Arbeiten von Frau Prof. Dr. Edda Weigand brachte mich damals auf die Idee, Höflichkeit als ein grammatisch-pragmatisches Phänomen auf der Basis einer Theorie des Sprachgebrauchs zu beschreiben. Daher begann ich nach meinem Studium in Korea ein Promotionsstudium an der Universität Münster, wo Frau Prof. Dr. Weigand die Betreuung meiner Arbeit übernahm. Für die vielen Jahre der intensiven und für mich sehr hilfreichen Zusammenarbeit möchte ich mich herzlich bedanken. Mein Dank gilt ebenso meinem Zweitgutachter, Herrn Prof. Dr. Walter Bisang. Auch er stand mir in Gesprächen stets mit wichtigen Ratschlägen, insbesondere zum Koreanischen, zur Seite. Darüber hinaus bin ich Jörn Bollow und Stefanie Schnöring zu Dank verpflichtet. Ihnen beiden danke ich herzlich für die zeitaufwendige formale und stilistische Überarbeitung. Mein besonderer Dank gilt Jörn Bollow, der mich mit fachkundiger Kritik in vielen Gesprächen unterstützt hat. Weiterhin möchte ich allen danken, die mir bei der Durchführung meiner empirischen Erhebungen geholfen haben. Schließlich gilt mein ganz besonderer Dank meiner Familie, die mir während des langjährigen Promotionsstudiums mit viel Verständnis und Unterstützung zur Seite stand. Nicht in Worte zu fassen ist die Zuwendung und Aufopferung, die ich von meinen Eltern erfahren habe. Gleiches gilt für meine Frau Hyo-Kyoung und meinen Sohn Choon-Seo. Ohne ihre Liebe, Vertrauen und Geduld hätte ich meine Arbeit nicht fertigstellen können. Ihnen sei diese Arbeit gewidmet.

Seoul, im März 2005

Yongkil Cho

Liste der Abkürzungen

Advers.

Adversativpartikel

Akk.

Akkusativpartikel

Begründ.

Begründungsform als begleitende Äußerungssequenz einer Handlung

Begrüß.

Begrüßungsform

Dat.

Dativpartikel

Direkt.

Direkter Sprechakt

Entschuld.

Entschuldigungsform

Gen.

Genitivpartikel

Hon.

Honorifica bezogene Höflichkeitsform

Hort.

Hortativform

Imp.

Imperativform

Ind.

Indikativform

Indirekt.

Indirekter Sprechakt

Int.

Interrogativform

Lok.

Lokativpartikel

Modal.

Modalpartikel

Nom.

Nominativpartikel

NN

Nachname

kaus.

Kausale Partikel

Kond.

Konditionale Partikel

Konj.

Konjunktivform

Konz.

Konzessivpartikel

Prät.

Präteritum

TB

Titelbezeichnung

VN

Vorname

Vok.

Vokativpartikel

Einleitung

Das Phänomen Höflichkeit ist in den letzten Jahren in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen sowie des wissenschaftlichen Interesses gerückt. Verstärkte Kontakte zu anderen Kulturen fordern und fordern eine intensivere Auseinandersetzung mit fremden Verhaltensweisen und Umgangs formen, zu denen auch die Höflichkeit zählt. Vielfach existieren hier aber noch stereotype Verhaltensannahmen, die bisweilen ins Klischeehafte reichen. So wird z.B. in westlichen Kulturen im Allgemeinen die Ansicht vertreten, Mitglieder des östlichen (asiatischen) Kulturkreises seien ausgesprochen höflich und besorgt, ihr „Gesicht zu verlieren". Es muss wohl davon ausgegangen werden, dass unterschiedliche Funktionen von Höflichkeit im Menschenbild begründet liegen, das im westlichen und östlichen Kulturkreis variiert. Durch Stereotypen ist das komplexe Phänomen Höflichkeit aber nicht angemessen zu erfassen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es daher, ein Konzept vorzulegen, das Höflichkeit als ein Phänomen mit Ausdruck und Inhalt in seinen vielfältigen Funktionen in den Blick nimmt. Im Rahmen anthropologisch-verhaltenswissenschaftlicher Arbeiten wurde bislang ein eher negatives Bild von Höflichkeit gezeichnet. In Anlehnung an das Konzept „facework" von Goffman (1955, 1967) dient Höflichkeit diesen Ansätzen zufolge primär der Gesichtswahrung. Als ein Beispiel sind die Untersuchungen von Brown/Levinson (1978 und 1987) zu nennen, die sich mit gesichtsbedrohenden Sprechakten in Gruppen befassen. Höfliches Sprachverhalten wird dabei mit Indirektheit gleichgesetzt, was allerdings nur eine Möglichkeit unter anderen zum Ausdruck von Höflichkeit darstellt. Andere Paradigmen in den Sprachwissenschaften behandeln das Thema Höflichkeit im Rahmen der Grammatik. Traditionelle system linguistische und dialoggrammatische Ansätze fuhren eine strenge Trennung zwischen Grammatik und Höflichkeit durch und rechnen letztere dem Bereich der Rhetorik zu (vgl. Hindelang 1978). Diese Trennung wird von Weigand (1992c) problematisiert. Die Differenzierung von Äußerungsvarianten gehört ihres Erachtens nach in eine kommunikative Grammatik. Im Vordergrund der kommunikativen Grammatik steht die Frage, wie Handlungsfunktionen in einer Einzelsprache realisiert werden, also die Frage, welche Äußerungsformen einer Handlungsfunktion zugeordnet werden. Träger der Handlung ist dabei die ganze Äußerung, die sich nicht auf sprachliche Mittel reduzieren lässt, sondern einen integrierten Komplex aus sprachlichen, kognitiven und perzeptiven Mitteln darstellt. Die Menge der Äußerungsformen, die eine Handlungsfunktion realisieren, ist vielfaltig und nicht abzugrenzen. Somit ist die Zuordnung von Handlungsfunktion und Äußerungsform nicht durch den Rekurs auf absolute Regeln, sondern durch Prinzipien, die dem offenen Charakter des

2 Sprachgebrauchs entsprechen und daher auf Wahrscheinlichkeiten beruhen, zu begründen. Ausdrucksseitige Varianten des Phänomens Höflichkeit sind unter Berücksichtigung dieser Prinzipien zu beschreiben. Die Differenzierung von Form und Funktion ist vor allem aus sprachvergleichender Sicht von Interesse. Ausgehend von einer positiven Grundfunktion der Höflichkeit, RESPEKT, soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit die Frage gestellt werden, wie diese Grundfunktion kulturabhängig modifiziert wird. Auf der Ausdrucksseite werden unterschiedliche kulturspezifische Formen zum Ausdruck von Höflichkeit, z.B. indirekte Sprechakte, Modalpartikeln und Begründungen, analysiert. Beispielhaft geschieht dies für direktive 1 Sprechakte im Deutschen und im Koreanischen. Die Arbeit beginnt mit einer Diskussion zur Konzeption einer kommunikativen Grammatik. Anschließend werden verschiedene linguistische Arbeiten zum Thema Höflichkeit dargestellt. Ein gesondertes Kapitel ist dem Sprachvergleich gewidmet. Im Kapitel „Theoretische Grundlegung" grenze ich mich mit einem eigenen Modell von Höflichkeit, das auf Weigand (1992c) beruht, von anderen Ansätzen ab. Darüber hinaus soll durch das Kapitel „Besonderheiten des Koreanischen" ein besseres Verständnis für die koreanische Höflichkeit geschaffen werden. Im Anschluss daran dient das Kapitel „Direktive Handlungsspiele als Analysegegenstand" der Darstellung eines konkreten Analyseschemas für das Phänomen Höflichkeit. Hier ist darauf einzugehen, was unter direktiven Handlungsspielen verstanden werden soll und welche Untertypen bzw. Situationstypen direktive Handlungsspiele aufweisen. Im Rahmen der Analyse in Kapitel 5 werden die Materialkorpora der direktiven Handlungsspiele sowohl nach formalen als auch nach funktionalen Kriterien untersucht. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Identifikation von Realisierungs- und Funktionsmustern, die in der jeweiligen Situation bevorzugt verwendet werden. Die Ergebnisse dieser Analyse ermöglichen es, höfliches Sprachverhalten in beiden Sprachen hinsichtlich der kulturspezifischen Inhalte und Formen zusammenzufassen und zu vergleichen. Im Rahmen dieser Arbeit kann keine vollständige Klärung des komplexen Phänomens Höflichkeit vorgenommen werden. Vielmehr soll ein Einblick in wesentliche Zusammenhänge vermittelt werden, indem das Konzept Höflichkeit und seine kulturspezifischen Eigenschaften im Sprachgebrauch erläutert werden. Das Hinterfragen von Stereotypen und Klischees und ein Problematisieren traditioneller Vorstellungen eröffnen den Raum für weitere Studien zum Thema Höflichkeit. 1

Der Begriff „Direktiv" geht auf Searle (1973, 1977) zurück. Die illokutionäre Kraft der Direktive besteht darin, dass der Sprecher versucht, den Hörer zu bewegen, etwas zu tun.

Forschungsüberblick

1.

Das Problem einer kommunikativen Grammatik

In der Literatur finden sich vielfältige Ansätze fiir eine Grammatik der Sprachverwendung oder eine kommunikative Grammatik.' Die meisten konzentrieren sich darauf, Sprechakte nach verschiedenen lllokutionen (Handlungsfunktionen) zu klassifizieren und konventionelle Äußerungsformen dafür aufzuzeigen. Kaum berücksichtigt wird dabei die Frage, ob und wie ein Phänomen wie Höflichkeit in die Beschreibung einbezogen werden kann. So hat z.B. die Dialoggrammatik den Bereich der Höflichkeit einer pragmatischen Stilistik oder Rhetorik zugeordnet (vgl. Hindelang 1978). Tiefere Einsichten in die Sprachverwendung sind m.E. jedoch zu gewinnen, wenn die vielfältigen, auf den ersten Blick kommunikativ-äquivalenten Äußerungen nach dem Kriterium der Höflichkeit differenziert werden. In diesem Kapitel will ich mich daher auf das Problem des Verhältnisses von Grammatik und Höflichkeit konzentrieren. Ich beziehe mich dabei auf Ansätze im Rahmen der kommunikativen Grammatik, die von unterschiedlichen Prämissen ausgehen. Die daraus resultierenden Konsequenzen fur eine Höflichkeitsbeschreibung sind aufzuzeigen, um so den Boden für eine eigene Konzeption zu bereiten. Zu erwähnen ist zunächst Grice (1975), der fiir die Beschreibung des Sprachgebrauchs vom sog. Kooperationsprinzip2 ausgeht und daraus Konversationsmaximen ableitet. Dem Phänomen Höflichkeit wird dabei jedoch nicht Rechnung getragen. So kann z.B. eine umständliche und weitschweifige Formulierung als Verstoß gegen die Maxime von „manner" (Be brief, avoid unnecessary prolixity) verstanden werden, obwohl dadurch häufig besondere Höflichkeit angezeigt wird. Die auf den ersten Blick überflüssigen Informationen erweisen sich in einer bestimmten Situation evtl. als wichtiger Kommunikationsbeitrag. Im Rahmen seiner Konzeption der Pragmatik weist Wunderlich (1976: 19) daraufhin, dass die Gliederung in Pragmatik, Semantik und Syntax auf unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen beruht. Das heißt zum einen, dass Pragmatik auch Semantik und Syntax umfasst, mindestens aber voraussetzt, zum anderen nur dann Aussagen zur Syntax oder Semantik getroffen werden können, wenn pragmatische Informationen, Fakten oder Erklärungen Berücksichtigung finden. Wunderlich nimmt also an, dass die Pragmatik in Wechselwirkung mit Semantik und Syntax steht und pragmatische und grammatische Analyse sich ergänzen (vgl. Wunderlich 1984a: 92-117). Gegenstand der Beschreibung sind 1 2

Zu den unterschiedlichen theoretischen Positionen vgl. auch Weigand (2003: 5 6 - 7 1 ) . „Make your conversational contribution such as is required, at the stage at which it occurs, by the accepted purpose or direction of talk exchange in which you are engaged" (Grice 1975: 45).

4 für ihn jedoch nach wie vor Sätze. Wir handeln aber nicht mit Sätzen, sondern mit Äußerungen. Gegenstand einer pragmatischen Grammatik sollten daher Äußerungen sein. Dies gilt auch für die Höflichkeitsbeschreibung. Höflichkeit ist nicht in der grammatischen Struktur eines Satzes zu begründen, sondern in dialogisch orientierten Äußerungen, die verschiedene Mittel wie sprachliche Ausdrücke, Gestik und Mimik, integrieren. Höflichkeit ist also nicht unter Bezug auf eine abstrakte Satzgrammatik zu beschreiben, sondern benötigt eine Äußerungsgrammatik, die die Zuordnung von Form und Funktion fasst. Zifonun (1987) unterscheidet drei Systeme, das morphologisch-syntaktische System, das semantische System und das System der sozialen Interaktion. Für sie stellt die Pragmatik eine systembezogene Theorie dar, die sich auf das System der sozialen Interaktion unter Berücksichtigung des Systems von Sprachmitteln bezieht. Im Hinblick auf ein funktionales Phänomen wie die Höflichkeit bietet es sich jedoch nicht an, von einem Systembegriff auszugehen, der primär auf Syntax und Semantik beruht. Syntaktische Strukturen und semantische Bedeutungen sind nicht der Träger von Höflichkeit, sondern liefern lediglich Beiträge zu diesem komplexen Phänomen. Liedtke (1998) tritt gegen deterministische Ansätze an, die einen festen, grammatisch definierten Bezug zwischen Satztypen und Sprechakttypen voraussetzen. Er fordert, dass das Verhältnis von Form und Funktion auf einer nicht-deterministischen Basis beschrieben werden sollte. Jedoch beruht dieser Ansatz auf einer idealistischen Auffassung vom Sprachgebrauch, da hier nur der rationale Sprecher berücksichtigt wird. Rationalität ist jedoch nicht das primäre Kriterium für die Sprachbeschreibung, sondern nur ein Prinzip, an dem sich die Sprecher orientieren. Dies gilt auch für Höflichkeit. Sie ist nicht auf die Sprachverwendungen rationaler Sprecher zu reduzieren, sondern ist bezogen auf Interagierende, die sich hinsichtlich ihrer kommunikativen Fähigkeiten unterscheiden und ihr Verhalten an verschiedenen Kriterien, wie z.B. Gewohnheiten oder Präferenzen, ausrichten. Brandt/Reis/Rosengren/Zimmermann (1992) entwickeln ein Modell, das die Beziehungen zwischen Satztyp, Satzmodus und Handlungsfunktion konsistent zu fassen versucht. Dieses Modell basiert auf einer modularen Sichtweise, die strikt zwischen Grammatik und Pragmatik unterscheidet. Die Darstellung geht von der Syntax über die Semantik zur Pragmatik. Dabei wird vorausgesetzt, dass Satztyp, Satzmodus und Handlungsfunktion in einem systematischen Zusammenhang stehen, wobei der Satztyp als illokutiv einstellungsfrei beschrieben wird und die Kategorie Satzmodus die Vermittlungsinstanz zwischen Satztyp und Handlungsfunktion bildet. Damit ist der Ausgangspunkt der Sprachbeschreibung noch immer die grammatische Struktur, die jedoch, wie bereits mehrfach erwähnt, nicht den entscheidenden Indikator für Höflichkeit darstellt. Während die genannten Ansätze auf einer grammatischen Beschreibung basieren und diese quasi mit pragmatischen Faktoren anreichern, gehen die in der Sprechakttheorie begründeten Arbeiten von der Handlungsfunktion aus und setzen diese in Beziehung zur Grammatik. Zu diesen Ansätzen zählen u.a. Hindelang (1978) und Weigand (1989a).

5 Hindelang (1978) fokussiert den kommunikativen Handlungstyp des Aufforderns, um diesen hinsichtlich seiner Realisierungsmöglichkeiten systematisch zu beschreiben. Dazu differenziert er zunächst die Handlung des Aufforderns nach sozialen und situativen Kriterien in verschiedene Untertypen wie Weisung und Anordnung, um dann Realisierungsformen für die einzelnen Untertypen aufzuführen. In Anlehnung an Halliday (1973) geht er davon aus, dass die Semantik als Bindeglied zwischen einzelnen Untertypen des Aufforderns und entsprechenden Realisierungsformen fungiert. Nach Hindelangs Auffassung ist es also möglich, einem Handlungstyp, der nach sozialen und situativen Kriterien definiert wird, semantisch differenzierte Äußerungsformen zuzuordnen. Das Problem besteht m.E. darin, dass Sprachverwendungen hier ausschließlich semantisch gefasst und beschrieben werden. Betrachten wir Sprachverwendungen als Phänomene im dialogischen Handlungsspiel, dann ist eine komplexe Zuordnung von Äußerungsformen und Handlungsfunktionen anzunehmen. Daher kann der Semantik nicht die entscheidende Rolle bei der Zuordnung zukommen. Kritisch zu werten ist weiterhin, dass hier nur einzelne Äußerungen Gegenstand der Beschreibung sind. Wie im Folgenden gezeigt wird, ist Höflichkeit nicht durch Bezugnahme auf einzelne isolierte Sprechakte, sondern nur auf der Basis dialogischer Sequenzen adäquat zu erfassen. Die Integration von Grammatik und Höflichkeit sollte daher dialogische Interdependenzen berücksichtigen. Das heißt, dass nicht nur initiative, sondern auch reaktive Sprechakte Gegenstand einer „Höflichkeitsgrammatik" sein sollten. Für Weigand (1989a) ist die Basis der Sprachbeschreibung eine nach universellen, funktionalen Kriterien begründete Sprechakttaxonomie. Ausgehend von einer systematischen Begründung der funktionalen Möglichkeiten sprachlichen Handelns wird gefragt, welche Äußerungen zur Realisierung eines Sprechakts zählen und wie ihre Struktur zu beschreiben ist. Der Ansatz von Weigand stellt so eine Theorie der Zuordnung zwischen der kommunikativen Funktion eines Sprechakts und ihren Realisierungen dar. Zunächst folgt die Zuordnung bestimmten Regeln im Rahmen einer kommunikativen Kompetenz, die Verständigung gewährleisten und in Konventionen des Sprachgebrauchs fassbar sein soll. Dementsprechend sind verschiedene konventionelle Äußerungsformen einer Handlungsfunktion zusammenzustellen und nach Äußerungstypen zu differenzieren (vgl. Weigand 1984a). Das Problem besteht darin, dass Sprachverwendungen nur in der konventionellen Zuordnung zwischen der Handlungsfunktion und ihren Realisierungen erfasst und beschrieben werden, obgleich sich unser Sprachgebrauch nicht rein konventionell vollzieht. Aus diesem Grund liegt hier keine adäquate Grundlage für eine Höflichkeitsbeschreibung vor. Wir können darüber hinaus auch höfliche Ausdrücke, die durch individuelle Gewohnheiten oder Präferenzen begründet sind, verwenden. Die Zuordnung zwischen Höflichkeit und ihren Realisierungsformen gestaltet sich äußerst komplex. In der Literatur gibt es weitere Ansätze einer kommunikativen Grammatik, die auf ihre Eignung fur eine Höflichkeitsbeschreibung geprüft werden sollen. Zunächst möchte ich

6 auf Ansätze der Funktionalen Grammatik eingehen, um dann auf Arbeiten zu verweisen, die sich auf verschiedene Diskurse, u.a. auch auf authentischen Sprachgebrauch, stützen. Die Funktionale Grammatik nach Halliday (1994) ist als „study of wordings" eine Theorie der lexiko-grammatischen

Erscheinungen (Sätze) unter Berücksichtigung

ihrer

Funktion. Sätze sind für Halliday Realisierungsformen unterschiedlicher Funktionen, die miteinander systematisch verbunden sind, wobei Ausdrucksformen jeder Funktion als Ergebnis von „linguistic choices", die von sozio-kulturellen Bedingungen abhängen, betrachtet werden. Eine Funktionale Grammatik sollte sich dementsprechend darauf konzentrieren, die Systematik dieser „choices" darzustellen. Ein solcher Versuch wäre jedoch nur dann möglich und sinnvoll, wenn die sprachlichen Mittel aufzählbar wären und in definiter Relation zu sozio-kulturellen Faktoren stünden. Außerdem ist die Wahl eines sprachlichen Mittels nicht allein auf sozio-kulturelle Faktoren zurückzufuhren, sondern auch von individuellen Faktoren, z.B. der Einschätzung der Situation, abhängig. Eine Beschreibung der Sprachverwendungen kann also nicht allein von sprachlichen Mitteln ausgehen. Dies gilt auch für die Beschreibung des Phänomens Höflichkeit. Wie bereits dargelegt, erschöpft sich Höflichkeit nicht in lexikalisch-grammatischen Erscheinungen. Die Beschreibung muss vielmehr an den Funktionen höflichen Sprachverhaltens ansetzen und fragen, durch welche Äußerungsformen diese Funktionen realisiert werden können. Für Dik (1997) ist Sprache Teil der kommunikativen Kompetenz. Sie ist in Module unterteilt, die zueinander in instrumentaler Relation stehen. So nimmt Dik an, dass die Syntax instrumental für die Semantik und die Semantik instrumental für die Pragmatik ist (Dik 1997.1: 8). Der Ausgangspunkt in Diks Funktionaler Grammatik sind wiederum sprachliche Mittel, was aus den dargelegten Gründen dem Phänomen Höflichkeit im Sprachgebrauch nicht voll gerecht wird. Diskursbasierte Grammatiken sind ebenfalls keine adäquate Grundlage für eine Höflichkeitsbeschreibung, da hier die oberflächlich-formale Struktur einer Äußerung Ausgangspunkt und Gegenstand der Beschreibung bildet. So charakterisiert Bybee (2001: 1) die Beziehung zwischen Grammatik und Sprachgebrauch folgendermaßen: „language use plays a role in shaping the form and content of sound systems". Die systemlinguistische Grammatik erfährt also für sie im Diskurs, d.h. in der Sprachverwendung, Veränderungen, wobei angenommen wird, dass diese Veränderungen von der Frequenz im Sprachgebrauch abhängen. Der Handlungscharakter wird in diesem Rahmen allerdings nicht berücksichtigt. Auch Hopper (1987) vernachlässigt den Handlungscharakter und konzentriert sich lediglich darauf, formale Strukturen des Sprachgebrauchs darzustellen. Hopper berücksichtigt in seinem Ansatz der „emergent grammar" keine satzgrammatischen Konstruktionen, sondern nur den Diskurs. Damit entsteht keine Grammatik in einem strengen Sinne, die Grammatikalisierung beruht auf der Frequenz im Sprachgebrauch. Im Gegensatz zu den diskursbasierten Ansätzen basieren korpusbasierte Grammatiken auf authentischen Texten, die als repräsentative Korpora einer Einzelsprache verstanden

7 werden. Im Vordergrund einer korpusbasierten Grammatik steht das Konzept von „pattern", das nicht durch die Introspektion des „native speaker", sondern durch die Frequenz im authentischen Sprachgebrauch begründet ist. Hunston/Francis (2000: 3) definieren ein solches „pattern" wie folgt: „a pattern is a phraseology frequently associated with (a sense of) a word, particularly in terms of the prepositions, groups, and clauses that follow the word". Die Annahme, dass Bedeutungen aus einem solchen „pattern" ableitbar sind, findet sich auch bei Sinclair (1991: 6), wenn er darauf verweist: „So regular is this that in due course we may see formal patterns being used overtly as criteria for analysing meaning".Korpuslinguistisches Methoden haben jedoch Grenzen, wenn es darum geht, den Sprachgebrauch zu beschreiben. Die formalen Kriterien, die als maßgeblich für die Bestimmung eines „pattern" gelten, reichen z.B. für die Beschreibung von Höflichkeit nicht aus, da Höflichkeit nicht allein formal erfasst werden kann. Ich habe bereits erwähnt, dass zur Realisierung von Höflichkeit situationsangemessene Äußerungsformen, begleitende perzeptive Mittel (z.B. Gestik und Mimik) und kognitive Mittel integriert werden. Wir sollten uns daher nicht auf eine korpuslinguistische Methodologie der Sprachbeschreibung beziehen, um Höflichkeit zu erklären. Nötig ist vielmehr ein grammatisches Modell, das dem Sprachgebrauch gilt, und das Höflichkeit nicht formal, sondern im komplexen Zusammenhang von Form und Funktion zu fassen versucht. Die Frage der Integration von Grammatik und Höflichkeit ist die Frage, mit welcher Grammatik Höflichkeit adäquat zu beschreiben ist. Nachdem wir einige Ansätze der kommunikativen Grammatik einer kritischen Betrachtung unterzogen haben, ist diese Frage klar zu beantworten. Träger von Höflichkeit ist die dialogisch orientierte ganze Äußerung, die verschiedene Mittel der Höflichkeit integriert. Eine Höflichkeitsbeschreibung sollte daher auf einer Äußerungsgrammatik beruhen. Da Höflichkeitsfunktionen nur zum Teil aus der Äußerungsform ableitbar sind, hat die Äußerungsgrammatik bei den funktionalen Möglichkeiten höflichen Kommunikationsverhaltens anzusetzen, um dann entsprechende Realisierungsformen darzustellen. Außerdem sollte die Äußerungsgrammatik - dies ist eine wesentliche Voraussetzung - die Komplexität höflichen Verhaltens berücksichtigen, da Höflichkeit als ein wesentliches Phänomen des Sprachgebrauchs betrachtet wird, das zur zum Teil durch Konventionen, zum Teil aber auch durch individuelle Verhaltensweisen zu erklären ist. Indem wir Höflichkeit als ein Phänomen der kommunikativen Interaktion definieren, ist die Äußerungsgrammatik zugleich eine dialogische Grammatik. Das heißt, dass nicht isolierte Sprechakte, sondern dialogische Sequenzen in die Überlegung einzubeziehen sind.

8

2. Das Problem einer Höflichkeitskonzeption

Mittlerweile befassen sich zahlreiche Arbeiten mit dem Phänomen der Höflichkeit. Neben den linguistischen Ansätzen einer kommunikativen Grammatik sind sie vor allem soziologischer und anthropologischer Art. M.E. lassen sich die Versuche, Höflichkeit zu beschreiben und zu erklären, in vier Konzeptionen einteilen. Zur ersten zählen Positionen, die Höflichkeit quasi grammatikalisieren, indem sie höfliches Verhalten an bestimmten, als verbindlich geltenden Sprachformen festmachen. Die zweite Konzeption umfasst vor allem Arbeiten anthropologischer Prägung, fur die das Kriterium der Indirektheit von zentraler Bedeutung ist. Drittens liegen Ansätze vor, die Höflichkeit im Rahmen einer interaktiven Konzeption beschreiben. Schließlich sei noch auf Arbeiten verwiesen, die einen engen Zusammenhang zwischen Höflichkeit und routinisiertem Verhalten annehmen. Ich will im Folgenden zunächst die Grundlinien dieser Konzeptionen schildern, um sie dann hinsichtlich ihrer Konsequenzen für die Beschreibung von Höflichkeit zu diskutieren.

2.1. Konzeption der sozialen Norm Im Rahmen der Konzeption der sozialen Norm wird angenommen, dass jede Gesellschaft über ihre eigenen sozialen Normen verfugt, durch die höfliches Verhalten vorgeschrieben werden kann. Eine Handlung ist also als höflich aufzufassen, wenn sie diesen Normen entspricht. Höflichkeit bezieht sich hier auf obligatorische Verhaltensmuster der Gesellschaftsmitglieder, die sich in der Verwendung bestimmter Sprachformen widerspiegeln (z.B. Pronomina, Höflichkeitsformen in der Flexion u.a.m.). In der Literatur gibt es vielfaltige Ansätze, die dieser Höflichkeitskonzeption entsprechen, wobei die meisten sich mit dem Anrede- bzw. Modussystem auseinandersetzen. So untersucht Simon (2003) das Anredesystem im Deutschen mit dem Ziel, die historische Entwicklung hin zu den Formen du/Sie im „Modern Standard German (MSG)" zu rekonstruieren. Nach seiner Auffassung ist das System du/Sie auf das System du/ir im „Middle High German (MHG)" zurückzuführen, wobei die Differenzen nach Simon (2003: 30) verschiedene methodologische Zugangsweisen implizieren: „Whereas the Middle High German contrast between du and ihr can be attributed to number-related politeness strategies and thus falls into the realm of pragmatics, the Modern Standard German contrast between du and Sie is rooted in the paradigmatic system and must therefore be handled by grammar." Simon zitiert Faarlund (1989: 71), um den Übergang von ir zu Sie zu charakterisieren: "Thus today's syntax may be the product of yesterday's discourse pragmatics." Zum Schluß bemerkt er, dass die Entwicklung des Höflichkeitspronomens Sie auf dem Prozess der „exaptation" beruht, den Gould/Vrba (1982: 6) wie folgt

9 erläutern: „We suggest that such characters, evolved for other usages (or for no function at all), and later ,coopted' for their current role, be called e:captations [...]." Damit richtet Simon den Fokus auf die diachrone Entwicklung des Sprachsystems. Nicht berücksichtigt wird Höflichkeit in der pragmatischen Bedeutung, also als eine funktionale Erscheinung im Sprachgebrauch. Ähnliche Zugangsweisen finden sich bei Besch (1996) und Schubert (1984). Besch (1996) untersucht das deutsche Anredesystem ebenfalls unter diachroner Perspektive. Er betrachtet es als im Grunde dynamisch und abhängig von vielfaltigen gesellschaftlichen Entwicklungen. Die Anredeformen du und Sie werden dabei im Hinblick auf ihren Anwendungsspielraum in früheren Zeiten und heute beschrieben. Schubert (1984) analysiert das Anredeverhalten im modernen Russisch anhand eines detaillierten Fragebogens. Die Informanten wurden gefragt, wie sie andere Menschen in unterschiedlichen Situationen anreden und wie sie von ihnen angeredet werden. Ebenso wie Besch sieht Schubert enge Verbindungen zu historisch-sozialen Verhältnissen und schenkt daher auch der historischen Entwicklung des Anredesystems besondere Beachtung. Neben dem Anredesystem ist das Modussystem ein beliebter Untersuchungsgegenstand im Rahmen der Konzeption der sozialen Norm. Dies gilt insbesondere für die Untersuchung des Koreanischen. Lee (1975) bezieht sich in seiner Arbeit auf das koreanische Modussystem, wobei es darum geht, Korrelationen zwischen der Modusform am Satzende und der Partnerkonstellation zu rekonstruieren. Aufgrund von Daten, die er mit einem Fragebogen gewonnen hat, analysiert Seo (1978) jüngste Veränderungen des koreanischen Höflichkeitssystems3, besonders des koreanischen Modus. Folgende Veränderungen werden abgeleitet: eingeschränkte Verwendung der Bescheidenheitsformen, zunehmende Verwendung der informellen Modusform und seltene Verwendung der honorifizierenden Modusform (besonders in der Familie). Bei Wangs Arbeit (1990) handelt es sich um eine ethnographische Untersuchung des koreanischen Modussystems. Er analysiert aktuell verwendete Modusformen der Dorfbewohner, die in „Cihwali" (Pseudonymname) leben. Mit Hilfe der empirischen Daten kann er zeigen, dass in diesem Dorf verschiedene Variationen hinsichtlich der Verwendung der Modusform existieren, die in der bisherigen Literatur wenig beachtet wurden. Diese Variationen hängen vor allem mit dem Alter der Dorfbewohner zusammen. Zu den außerhalb von Korea veröffentlichten Untersuchungen zum koreanischen Modussystem gehören Martin (1964) und Lewin (1971). Martin (1964) vergleicht das Modussystem im Koreanischen und im Japanischen und stellt kulturelle Besonderheiten der beiden Sprachen heraus. Lewin (1971) konzentriert sich auf interpersonale Beziehungen, indem er Modusformen am Satzende, die zum Ausdruck des Verhältnisses zwischen

3

Das koreanische Höflichkeitssystem ist eng mit den sog. Honorifica verbunden. Zur ausführlichen Darstellung dieses Phänomens siehe Kapitel 4.

10 den Gesprächspartnern dienen, analysiert. Er differenziert die Modusformen in fünf Ausdrucksweisen: die „formlose Sprechweise", die „sehr niedrige Sprechweise", die „niedrige Sprechweise", die „hohe Sprechweise" und die „sehr hohe Sprechweise", wobei für jede Stufe Partnerkonstellationen und mögliche Modusformen erläutert werden. Nachdem einige Höflichkeitsansätze, die von der Annahme sozial verbindlicher Sprachformen ausgehen, skizziert wurden, können wir diese nun abschließend einer kritischen Betrachtung unterziehen: Höflichkeit ist m.E. nicht in Einzelaspekten von Sprachsystemen, im Lexikon oder in der Morphosyntax, zu finden bzw. mit Anrede- oder Modusformen gleichzusetzen. Es handelt sich vielmehr um ein Phänomen im Sprachgebrauch, im dialogischen Handlungsspiel. Gegenstand der Beschreibung sollten daher nicht einzelne Komponenten des Sprachsystems, sondern dialogisch orientierte Sprechakte sein.

2.2. Indirektheitskonzeption Die deterministische Beziehung zwischen Höflichkeit und Sprache, die der Konzeption der sozialen Norm unterliegt, trifft auch auf die Indirektheitskonzeption zu, da Indirektheit hier als das zentrale Element von Höflichkeit gilt. Zu nennen sind in diesem Rahmen vor allem anthropologische Ansätze, an erster Stelle die Arbeiten von Brown/Levinson (1978 u. 1987), die weitere Forschungen zur Höflichkeit beeinflusst haben. Ausgehend von den Griceschen Annahmen zur Rationalität und vom „Face"-Konzept Goffmans begründen Brown/Levinson ihr Konzept der „face-threatening -acts" (FTA) am aggressiven Verhalten in Kleingruppen. Danach können rational handelnde Individuen verschiedene Strategien wählen, um gesichtsbedrohende Handlungen sprachlich zu relativieren. Bei der Wahl seiner Strategie orientiert sich der Sprecher an folgenden Kriterien: the social distance (D) of S and Η (a symmetric relation) the relative power (P) of S and Η (an asymmetric relation) the absolute ranking (R) of impositions in the particular culture. Dadurch wägt er ab, wie schwerwiegend der FTA ist und bestimmt die „weightiness" W des FTA x, die im Schema „Wx = D (S,H) + Ρ (H,S) + Rx" formalisiert wird (ebd. 81).4 Aus dieser Formel ergibt sich die Konsequenz: Je größer W wird, desto impliziter, also indirekter, formuliert der Sprecher einen FTA. Ein Problem besteht darin, dass Brown/Levinson Höflichkeit mit Indirektheit gleichsetzen, obwohl Indirektheit nur eine Realisierungsform von Höflichkeit darstellt. Außerdem kann Höflichkeit nicht allein mit dem Konzept der Strategie beschrieben werden, da Höf4

Die Abkürzung „D (S,H)" steht fur eine horizontale Beziehung, die ein Sprecher zu seinem Kommunikationspartner hat, die Abkürzung ,,P(H,S)" dagegen für eine vertikale Beziehung, die der Sprecher relativ zum Kommunikationspartner einnimmt.

11 lichkeit nicht ausschließlich strategischem, sondern auch normativem Sprachgebrauch entspricht, wie es z.B. bei den Honorifica im Koreanischen der Fall ist. Als größtes Problem sehe ich die Reduktion der Höflichkeit auf die Funktion der Konfliktvermeidung. Im dialogischen Handlungsspiel ist Höflichkeit durch vielfältige Funktionen gekennzeichnet, von denen Konfliktvermeidung nur eine ist. M.E. ist Höflichkeit nicht in negativen Annahmen über menschliches Verhalten begründet, sondern ist vielmehr ein positives Konzept, das eng mit Respekt vor dem Anderen und seiner Position zusammenhängt. R. Lakoff (1973, 1977) übernimmt das Konzept des Kooperationsprinzips von Grice und entwickelt daraus folgende Höflichkeitsmaximen (1977: 88): Formality: Don't impose/ remain aloof. Hesitancy: Allow the addressee his options. Equality or camaraderie: Act as though you and addressee were equal/ make him feel good.

Mit diesen drei Verhaltenmaximen bringt Lakoff inhaltliche Aspekte von Höflichkeit zum Ausdruck, wobei die ersten beiden Maximen sich von der dritten inhaltlich unterscheiden, weil mit ihnen eine Abschwächung der Handlungsintensität, mit der dritten dagegen Solidarität angestrebt wird. Damit werden verschiedene Aspekte höflichen Umgangs angenommen. Das Problem ist jedoch, dass Lakoff trotz dieser Differenzierung nur eine Realisierungsform von Höflichkeit in Erwägung zieht, nämlich die der indirekten Äußerung. Ein weiteres Problem resultiert aus dem Versuch, die grammatischen Regeln aus dem Kontext der generativen Semantik in einen Bereich der Pragmatik, nämlich den Bereich der Höflichkeit, zu transferieren und Höflichkeit nur als semantische Bedeutung der Äußerungsformen aufzufassen. Damit gelangt Lakoff zur irreführenden Annahme, dass Höflichkeit ausschließlich aufgrund der Struktur der Äußerungsformen zu identifizieren sei. (Zu dieser Einschätzung vgl. auch Held 1992: 41.) Im Handlungsspiel kann der Höflichkeitsträger aber nur eine vollständige Äußerung als integrierter Komplex von kognitiven, perzeptiven und sprachlichen Mitteln sein. Auch bei Searle (1975) wird Indirektheit als entscheidendes Kriterium für Höflichkeit betrachtet. Demzufolge sollte für eine Aufforderung eine indirekte Äußerungsform gewählt werden, um dem Kommunikationspartner einen größeren Handlungsspielraum zu gewähren. Die Korrelation von Indirektheit und Höflichkeit gelte für alle Kulturen, wobei sich unterschiedliche Kulturen nur im Hinblick auf die Formen der Indirektheit unterschieden (vgl. Searle 1975: 76). Damit sieht auch Searle nicht, dass Höflichkeit im Handlungsspiel durch vielfaltige Formen, also nicht nur indirekt, realisierbar ist. Außerdem wird die Tatsache vernachlässigt, dass das Kriterium der Indirektheit kulturell unterschiedlich gewichtet wird. Es findet z.B. in der koreanischen Kultur grundsätzlich weniger Beachtung als in der deutschen. 5

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Im Prinzip geht auch Franck (1975: 228) einen ähnlichen Weg, wenn sie feststellt: „Bestimmte indirekte Sprechakte schaffen Möglichkeiten in der sprachlichen Interaktion, Widersprüche zwi-

12 Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang noch auf die Ansätze von Haverkate (1984 u. 1988) und House/Vollmer (1988). Haverkate (1984 u. 1988) benennt Strategien von „defocalization", durch die der Sprecher im Rahmen direktiver Sprechakte auf eine Referenz auf die eigene Person oder den Partner als Handelnden verzichtet. Es geht also um eine Abschwächung der Handlungsintensität durch Konstruktionen, die eine unbestimmte oder implizite Referenz enthalten (z.B. Es ist kalt hier als indirekte Bitte). Eine solche Strategie entspricht aber nicht in jeder Situation höflichem Sprachverhalten; sie kann im Gegenteil sogar als unhöflich beurteilt werden. 6 House/Vollmer (1988) analysieren die Aufforderungshandlung anhand eines Korpus, das auf einem Fragebogen basiert. Sie gliedern Strategien höflichen Sprachverhaltens in neun Substrategien: „mood derivable" (Mach' die Küche sauber.), „explicit performative" {Ich bitte Sie, den Platz freizumachen.), Platz freizuhalten.),

„hedged performative" (Ich möchte Sie bitten, den

„locution derivable" (Sie müssen diesen Platz freihalten.),

„scope

stating" (Ich möchte, dass du die Küche saubermachst.), „language specific suggestory formula" (Wie wär's, wenn du die Küche aufräumen würdest?), „reference to preparatory conditions" (Kannst du die Küche vorher noch saubermachen?), die Küche ja in einem unmöglichen Zustand hinterlassenl)

„strong hints" (Du hast

und „mild hints" (Ich bin

verheiratet und habe zwei kleine Kinder. (Um einen zudringlichen Mann abzuwehren.)) (House / Vollmer 1988: 118). Diese Differenzierung ist am Grad der Explizität oder illokutiven

Transparenz,

mit

der

die

Aufforderung

vollzogen

wird,

orientiert.

House/Vollmer gehen davon aus, dass durch eine indirekte Formulierung die der Sprechhandlung implizite Gesichtsbedrohung abgeschwächt werden kann. Wiederum ist einzig die Funktion der Konfliktvermeidung ausschlaggebend (s.o.). Die Analyse einzelner Sprechakte ist darüber hinaus m.E. nicht ausreichend, um Höflichkeit im Handlungsspiel zu beschreiben. Nötig ist vielmehr eine theoretische Perspektive, die Höflichkeit im interaktiven Zusammenhang zu fassen versucht.

2.3. Interaktive Konzeption In Bezug auf eine Konzeption von Höflichkeit, die das interaktive Verhältnis der Kommunikationspartner betont, ist zunächst Leech (1983) zu erwähnen. Er übernimmt in

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sehen individuellen und gesellschaftlichen Präferenzen handlungsmäßig befriedigend zu bewältigen. In höflicher Interaktion muß der einzelne Interaktant nicht nur seinen eigenen Beitrag gemäß den Konventionen gestalten, er muß auch für akzeptable, nicht-riskante Fortsetzungsalternativen des Partners sorgen, wenn er den positiven Verlauf der Interaktion nicht aufs Spiel setzen will." So bemerkt Blum-Kulka (1987 u. 1989), dass Höflichkeit nicht allein von der Indirektheit, sondern auch von der pragmatischen Klarheit abhängt und nur Formen konventioneller Indirektheit als höflich gelten können.

13 seinem Buch „Principles of Pragmatics" das Konzept des Griceschen Kooperationsprinzips und entwickelt folgende Höflichkeitsmaximen (1983: 132): I.

TACT MAXIM (in impositives and commissives) (a) Minimize cost to other ((b) Maximize benefit to other)

II.

GENEROSITY MAXIM (in impositives and commissives)

III.

APPROBATION MAXIM (in expressives and assertives)

(a) Minimize benefit to self ((b) Maximize cost to self)

(a) Minimize dispraise of other ((b) Maximize praise of other) IV.

MODESTY MAXIM (in expressives and assertives) (a) Minimize praise of self ((b) Maximize dispraise of self)

V.

AGREEMENT MAXIM (in assertives) (a) Minimize disagreement between self and other ((b) Maximize agreement between self and other)

VI.

SYMPATHY MAXIM (in assertives) (a) Minimize antipathy between self and other ((b) Maximize sympathy between self and other)

Kennzeichnend ist hier, dass Relationen zwischen den Kommunikationspartnern als bipolarer Gegensatz gefasst werden. Im Zentrum der Höflichkeitstheorie steht das „Tact Maxim". Demnach sind Vorteile für den Interaktionspartner Resultat einer bestimmten Verhaltensstrategie: der Erhöhung von „optionality", die auf der Äußerungsseite durch Indirektheit bewirkt werde (vgl. 1983: 126-127). Damit rekurriert auch Leech primär auf das Konzept der Indirektheit (vgl. 2.2.2). Seine Höflichkeitstheorie kann darüber hinaus nicht als interaktives Modell im engeren Sinne betrachtet werden, da reaktive Sprechakte keine Berücksichtigung finden. Ein interaktives Modell sollte - wie oben erwähnt - den dialogischen Zusammenhang mit vorausgehenden und/oder nachfolgenden Sprechakten in Betracht ziehen. Lange (1984) versucht, Höflichkeit auf Grundlage des dialogischen Zusammenhangs zu beschreiben, indem er als entscheidendes Merkmal die wechselseitige Anerkennung des „Gesichts" begreift. Am Beispiel von Entschuldigung und Entgegenkommen wird dargestellt, wie sich dieses Prinzip in der Sprachverwendung zeigt, wobei methodisch der Weg von der Funktion zur sprachlichen Form gewählt wird. Das Problem ist jedoch, dass die Beschreibung von Höflichkeit in einem sehr reduzierten dialogischen Zusammenhang steht, da nur Entschuldigung als konfliktvermeidende Handlung und Entgegenkommen als bestätigende Handlung untersucht werden. Als interaktive Konzeption ist auch Holtgräves (1992) zu werten, der eine Aufforderungshandlung im dialogischen Zusammenhang analysiert. Er übernimmt ebenfalls den Begriff „face-work" von Goffman und wendet ihn auf seine Höflichkeitsbeschreibung an, die den sequentiellen Charakter von Äußerungen betont. Nach seiner Auffassung ist z.B.

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eine Form von „pre-request" (z.B. „Bist du jetzt beschäftigt?") als höflich zu beurteilen, wenn sie vor einer zentralen Aufforderung gebraucht wird. Man könne demgegenüber kaum von Höflichkeit sprechen, wenn diese Form nur als einzelner Sprechakt betrachtet werde. In diesem Zusammenhang merkt Holtgräves (1992: 151) an: „linguistic realization of face-work can be seen most clearly over a stretch of talk than within a single turn". Jedoch hat er hinsichtlich der Funktion lediglich an Gesichtswahrung im Sinne der Konfliktvermeidung festgehalten. Gibbs/Mueller (1988) analysieren eine Aufforderungshandlung ebenfalls unter Berücksichtigung des dialogischen Zusammenhangs. Es geht um die Frage, welchen Einfluss die dialogischen Abläufe auf das Verhalten der Kommunikationsteilnehmer nehmen. Aus verschiedenen Experimenten wird die Schlussfolgerung gezogen, dass „pre-requests" eine wichtige Rolle spielen, da sie zum einen eine gute Ausgangsbasis fiir nachfolgende direkte Aufforderungen schafften, zum anderen Ablehnungen leichter, d.h. mit geringerem Gesichtsverlust für den Auffordernden, zu realisieren wären. Die Strategie von „pre-request" ist m.E. aber nicht immer mit der Gesichtswahrung verbunden. Sie kann auch zur effektiven Verfolgung des eigenen Ziels dienen, wenn es z.B. um eine dienstliche Weisung geht. Wir müssen daher vielfaltige funktionale Möglichkeiten, die mit „pre-request" im Handlungsspiel verbunden sind, berücksichtigen. Kienpointner (1997) untersucht das Phänomen von „rudeness", wobei er davon ausgeht, dass „rudeness" nicht als Gegenbegriff von Höflichkeit zu betrachten ist, sondern Höflichkeit und „rudeness" in einem Kontinuum beschreibbar sind, also beide als graduelle Phänomene verstanden werden können (vgl. auch Raible 1987: 148). Im Rahmen der Erklärung dieser beiden Phänomene geht Kienpointner (1997: 253) von dialogischen Sequenzen aus. Zwar ist die Annahme, dass Höflichkeit erst im Diskurs, im Handlungsspiel, zu bestimmen ist, prinzipiell richtig, dennoch lässt sie sich funktional nicht allein auf „Face-Saving-Acts" bzw. „Face-Enhancing-Acts" beziehen. Wir können im Handlungsspiel auch solche Höflichkeitsformen finden, die als Floskeln oder als effektive Mittel zur Verfolgung des eigenen Interesses dienen, wobei die inhaltliche Orientierung an „Face-Saving" oder „Face-Enhancing" keine Rolle spielt. In diesem Zusammenhang geht Danes (2000: 4) einen richtigen Weg, wenn er darauf hinweist: „We have to assume a rich set of qualities that dominate the whole behavior of participants in interaction. In this context, politeness appears as a bundle or a fuzzy complex of qualities rather than one simple quality item." Damit unterstützt er die Auffassung, dass das Phänomen der Höflichkeit in seiner funktionalen Komplexität gefasst werden sollte. Zwar ist sein Ansatz grundsätzlich zu befürworten, es fehlt aber noch ein konkretes Modell, das dieser Anforderung entspricht. Insgesamt ist festzustellen, dass die interaktive Konzeption zwar den richtigen Ausgangspunkt wählt, indem angenommen wird, dass Höflichkeit erst im dialogischen Handlungsspiel beschreibbar ist; gleichwohl werden aber vielfältige funktionale bzw.

15 formale Variationen von Höflichkeit im Handlungsspiel nicht ausreichend berücksichtigt. In diesem Sinne bleiben Ansätze der interaktiven Konzeption immer noch in einer methodologischen Eingeschränktheit, wenn es darum geht, Höflichkeit im Handlungsspiel zu beschreiben.

2.4. Routinekonzeption7

Entscheidend für die Routinekonzeption ist die Annahme, dass Kommunikationspartner ihr Verhalten an bestimmten sozialen Erwartungen ausrichten. Höflichkeit bezieht sich also auf die Erfüllung der sozialen Erwartung. Dieses Höflichkeitskonzept findet sich zunächst bei Coulmas (1981), der Höflichkeit auf der Basis einer Untersuchung von Routineformeln beschreibt. Coulmas (1981: 68) versteht unter Höflichkeit das „sprachliche Gewand kollektiver Strategien zielorientierten Handelns und Reagierens, welche aufgrund ihrer Rekurrenz die Antizipierbarkeit sozialer Ereignisse gewährleisten und so die Kooperation zwischen den Interaktanten fordern". Im Rahmen einer vergleichenden Untersuchung zwischen japanischen und deutschen Routineformeln weist er auf die dialogische Organisation, auf vielfaltige Verwendungssituationen und auf kulturelle Unterschiede hin. Zur ausführlichen Veranschaulichung greift er außerdem auf die Benimm- und die Etikettenbücher zurück, so dass sprachliche Aktivitäten des Grüßens und Vorstellens, Dankens und Entschuldigens, Glückwünschens und der Gesprächseröffnung Berücksichtigung finden. Coulmas sieht aber nicht, dass Höflichkeit nur zu einem kleinen Teil durch Routineformeln realisierbar ist. Auch Fräser (1981 u. 1990) versteht unter Höflichkeit die Verwendung sozial erwartbarer Äußerungsformen, wenn er bemerkt: Rational participants are aware that they are to act within the negotiated constraints and generally do so. When they do not, however, they are then perceived as being impolite or rude. Politeness is a state that one expects to exist in every conversation; participants note not that someone is being polite (1990: 223).

In diesem Rahmen wird auch der Kontextgebundenheit Rechnung getragen: 7

Die Routinekonzeption ist insofern mit der oben dargestellten Konzeption der sozialen Norm identisch, als man Höflichkeit als Erfüllung sozialer Erwartungen betrachtet. Beide unterscheiden sich jedoch in einem wesentlichen Punkt voneinander: Bei der Konzeption der sozialen Norm wird Höflichkeit als Teil der Grammatik betrachtet und so nur im einzelnen Sprachsystem beschrieben. Demgegenüber geht die Routinekonzeption davon aus, dass Höflichkeit in einem pragmatisch-handlungsorientierten Rahmen untersucht und beschrieben werden sollte. Untersuchungsgegenstand sind daher nicht einzelne Sprachsysteme, sondern Sprachverwendungen im situativen Kontext.

16 We often take certain expressions to be impolite, but it is not the expressions themselves but the conditions under which they are used that determines the judgement of politeness (1981: 96).

Für Fräser spielt also z.B. eine indirekte Äußerungsform selbst nicht die entscheidende Rolle, um das Phänomen Höflichkeit zu fassen. Wesentlich ist vielmehr die konventionelle Verwendung dieser Äußerungsform unter bestimmten situativen Gegebenheiten. 8 Anzuschließen ist hier der Ansatz Werlens (1978), der Höflichkeit als „interpersonales Vermeidungsritual" versteht, das darauf zielt, die Intensität möglicher „gesichtsbedrohender Akte" durch bestimmte sprachliche Mittel abzuschwächen. Dabei wird angenommen, dass Höflichkeit durch konventionalisierte indirekte Sprechakte, denen der Charakter des Nicht-Spontanen, Festgelegten und Erwartbaren zukommt, realisiert wird. In meinen Augen ist Höflichkeit aber nicht allein durch den Begriff des Rituals zu fassen. Außerdem ist unklar, was unter „gesichtbedrohenden Akten" zu verstehen ist. Das Konzept „Gesichtsbedrohung" ist m.E. kulturspezifisch und nicht durch einzelne Sprechakte, sondern erst im Handlungsspiel beschreibbar. Entsprechend widmen sich auch einige Untersuchungen dem konkreten Vergleich des Sprachgebrauchs in unterschiedlichen Kulturen. House/Kasper (1981) untersuchen Äußerungsformen von „request" und „complaint" im Deutschen und im Englischen. Aufgrund der Kriterien „levels of directness" und „modality markers" stellen sie fest, dass Deutsche in vielen Situationen direkter sind als Engländer. Sie beziehen dies auf die unterschiedlichen Konventionen des Sprachgebrauchs in den jeweiligen Kulturen, wobei Höflichkeit als kulturspezifisches konventionalisiertes Phänomen betrachtet wird. Im Prinzip geht auch Günthner (2000) diesen Weg, wenn sie in ihrer Untersuchung kulturspezifischer Höflichkeitspraktiken in interkulturellen Begegnungen zwischen Deutschen und Chinesen vom Höflichkeitskonzept als konventioneller Strategie ausgeht. Höflichkeit ist aber nicht auf die Einhaltung bestimmter sozialer Erwartungen reduzierbar, da sie nicht nur durch konventionelle Formeln, die sich stereotypisch wiederholen, sondern auch durch spontane, individuelle Mittel immer wieder neu und pragmatisch effektiv realisiert werden kann. Zum Abschluss seien zwei Ansätze genannt, die sich auf die höfliche Realisierung spezifischer Sprechakte konzentrieren. Ervin-Tripp (1976) betont die Konventionalität der Aufforderungsäußerung, die gewährleiste, dass ein Sprechakt ohne komplexe Schlussfolgerungen zu verstehen sei. Weiche man von den erwartbaren sprachlichen Formen für höfliches Verhalten ab, so sei für den Kommunikationspartner eine komplexe Schlussfolgerung erforderlich, was bei ihm den Eindruck unhöflichen Verhaltens des Sprechers hinterlasse. In diesem Zusammenhang weist Ervin-Tripp auf die Möglichkeit hin, dass

8

Ähnliches gilt auch für Gu (1990), Meier (1995) und Escandell (1996), die Höflichkeit in der Erfüllung sozialer Erwartungen sehen.

17 eine extrem höfliche Äußerung beleidigend wirkt. Über übliche Konventionen sei hinauszugehen, wenn man z.B. danach strebe, den Höflichkeitsgrad einer Äußerung zu erhöhen. House (1989) analysiert spezifische Funktionen von please

und bitte in direktiven

Sprechakten, wobei sie darauf hinweist, dass diese Partikeln eine pragmatische Bedeutung hätten, die auf den Grad von Höflichkeit oder Direktheit eines direktiven Sprechakts Einfluss nehme. Die konventionelle Verwendung von please und bitte in Imperativ

oder

Interrogativformen, die als Weisung oder Aufforderung gelten, diene zur Abschwächung der illokutionären Kraft. Würden diese Partikeln aber in Interrogativformen, die zur Realisierung einer „großen" Bitte dienen, gebraucht, so werde dadurch die illokutive Absicht verstärkt. Eine höfliche Wirkung hätten aus diesen Gründen nur die konventionellen Verwendungen von bitte oder please.

Im dialogischen Handlungsspiel können diese

Partikeln aber nicht nur zur Abschwächung oder Verstärkung einer illokutiven Absicht, sondern auch als Floskeln verwendet werden. Nach diesem kursorischen Überblick über einzelne Arbeiten kann festgehalten werden, dass auch die Routinekonzeption im Hinblick auf die Höflichkeitsbeschreibung ein reduziertes Konzept darstellt. Zwar wird Sprache als kontextuelles Phänomen begriffen; die sprachliche Realisierung von Höflichkeit wird aber weiterhin mit bestimmten konventionellen Formen erklärt. Betrachtet man demgegenüber Höflichkeit als ein Phänomen im Handlungsspiel, so sollte man annehmen, dass Höflichkeit prinzipiell mit vielfaltigen, keineswegs nur konventionellen Formen, realisierbar ist. Auch hinsichtlich der Funktion sollte der Komplexität Rechnung getragen werden, da handelnde Menschen nach ihren jeweiligen Interessen mit einer Höflichkeitsform vielfaltige Zwecke verfolgen können. Problematisch ist in diesem Sinne die Beschränkung auf die Funktion der Konfliktvermeidung, die von vielen Forschern postuliert wird.

3. Das Problem des Sprachvergleichs

In den letzten Jahren wurden vielfältige Ansätze entwickelt, die Höflichkeit zum Gegenstand eines Sprachvergleichs machen. Ich muss mich hier auf einige mir wesentlich erscheinende Positionen beschränken. Dies sind erstens Ansätze, die Höflichkeit im Rahmen eines Vergleichs einzelner Sprachsysteme untersuchen und zweitens pragmatisch orientierte Arbeiten, die sich auf Höflichkeit im Sprachgebrauch beziehen. Innerhalb der letztgenannten Position lassen sich wiederum zwei Richtungen differenzieren: während die eine sich auf bestimmte pragmatisch Faktoren konzentriert, fragt die zweite nach grundsätzlichen Charakteristika kommunikativen Handelns.

18 Ich werde im Folgenden entsprechende Arbeiten diskutieren, wobei vorwiegend vergleichende Untersuchungen Japanisch - Deutsch/Englisch Berücksichtigung finden. Hinsichtlich des Phänomens Höflichkeit zeigt das Japanische durchaus Ähnlichkeiten mit dem Koreanischen, wobei es wenige vergleichende Untersuchungen zur Höflichkeit im Deutschen und im Koreanischen gibt.

3.1. Systemorientierte Vergleiche Das Problem der systemorientierten Vergleiche besteht darin, Höflichkeit ausschließlich in einzelnen Sprachsystemen zu fassen, obwohl es sich um ein Phänomen im Sprachgebrauch handelt. Ein Beispiel stellt die Arbeit von Marui/Matsubara/Takeuchi (1987) dar, die Honorifica-Ausdrücke im Japanischen und ihre Äquivalente im Deutschen untersuchen. Die Autoren behandeln also die Frage, welche sprachlichen Mittel im Deutschen der Bedeutung der japanischen Honorifica entsprechen und welchen grammatischen Status diese sprachlichen Mittel im Deutschen haben. Zum Vergleich werden dabei semantische Kriterien, die nur im japanischen Honorativsystem zu finden sind, angeführt. Höflichkeit ist m.E. jedoch nicht aufgrund einzelsprachlicher Besonderheiten zu vergleichen. Außerdem ist Höflichkeit nicht mit semantischen Kriterien zu begründen, weil sie abhängig von konkreten pragmatischen Faktoren, z.B. der sozialen Beziehung der Kommunikationspartner, realisiert wird. Ein sinnvoller Vergleich sollte daher von der gemeinsamen pragmatischen Funktion ausgehen und fragen, wie diese Funktion in unterschiedlichen Sprachen ausgedrückt werden kann. Vorderwülbecke (1976) untersucht und vergleicht den interpersonalen Beziehungsaufbau anhand der Anrede- und Selbstbezeichnungsformen im Deutschen und Japanischen. Diskutiert wird hauptsächlich die Frage, wie sich einzelne Anrede- und Selbstbezeichnungsformen beider Sprachen in ihren Verwendungsbedingungen unterscheiden. Das zentrale Anliegen besteht also darin, einzelne Sprachsysteme unter pragmatischen Gesichtspunkten zu vergleichen. Vernachlässigt wird dabei jedoch, dass die japanische Anrede- und Selbstbezeichnungsformen wesentlich ausdifferenzierter sind als die deutschen. Ausgehend von primär didaktischen Interessen untersucht Werner (2001) deutsche Modalpartikeln {mal, vielleicht etc.), die der Abschwächung der Handlungsintensität dienen, um im Anschluss Entsprechungen im Japanischen herauszuarbeiten. Ihre Arbeit bezieht sich also nur auf den Vergleich der Höflichkeitsformen, der nicht mit einem Vergleich des komplexen Phänomens Höflichkeit verwechselt werden darf. Das gleiche gilt auch für die weiteren systemorientierten Ansätze. So beschäftigt sich Kishitani (1985) mit Verbalformen im Deutschen und im Japanischen, die zum Ausdruck personaler Beziehungen dienen. Naka (1988) vergleicht das deutsche Pronomen ich und

19 seine äquivalenten Bezeichnungen im Japanischen ebenfalls vor dem Hintergrund von Beziehungskonstellationen. Im Rahmen eines Höflichkeitsvergleichs genügt es aber nicht, daraufhinzuweisen, dass der Unterschied der verbalen und der pronominalen Formen im Deutschen und im Japanischen auf unterschiedliche Auffassungen über personale Beziehungen zurückzufuhren ist. Wesentlicher ist die Frage, welche unterschiedlichen verbalen und pronominalen Formen in einer bestimmten Situation gebraucht werden und welche kulturelle Werthaltung diesen Gebrauch lenkt. Zu kritisieren ist in diesem Zusammenhang auch Nagatomo (1986), der die japanischen Höflichkeitssysteme mit Bezug auf ihre sozio-kulturellen Hintergründe (den Konfuzianismus) analysiert und mit den deutschen Höflichkeitssystemen kontrastiert. Er vertritt die Ansicht, dass die Verschiedenheit der Höflichkeitssysteme beider Sprachen nicht nur die Sprachgewohnheiten prägt, sondern auch das Bewusstsein und die Empfindungen des einzelnen Sprechers, kurz sein Weltbild. Indem er Höflichkeitssysteme in Korrelation zum kulturgeprägten Weltbild beschreibt, leistet er mehr als eine rein systemlinguistische Beschreibung. Darüber hinaus versucht er, Merkmale des Höflichkeitsbewusstseins durch Interviews zu ermitteln. Dies geschieht jedoch nur für das Deutsche. Problematisch scheinen mir hier vor allem Aufforderungen der Art: „Bitte nennen Sie die Wörter, die Sie unter dem Begriff Höflichkeit verstehen!" (1986: 410). Das Phänomen Höflichkeit ist nicht an bestimmte Wörter, sondern an ihren Gebrauch in einer bestimmten Situation gebunden. Der Ansatz von Nagatomo stellt zwar einen Versuch dar, kulturgeprägte Sprachsysteme in Bezug auf das Phänomen der Höflichkeit zu vergleichen. Wie bereits mehrfach erwähnt, kann Höflichkeit aber nicht aufgrund von Merkmalen einzelner Sprachsysteme beschrieben werden, sondern nur aufgrund des Gebrauchs im Handlungsspiel. Nötig ist daher ein Ansatz, der Höflichkeit in einem pragmatisch-handlungsorientierten Rahmen abbildet.

3.2.

P r a g m a t i s c h - h a n d l u n g s o r i e n t i e r t e Vergleiche

Auch pragmatisch handlungsorientierte Ansätze sind kritisch zu diskutieren, obwohl sie m.E. den richtigen Weg gehen, indem sie Sprachen anhand ihrer Verwendung vergleichen. Ich will zunächst die Ansätze darstellen, die einen Sprachvergleich aufgrund der Äußerungsformen vornehmen. Im Anschluss daran geht es um Arbeiten, die sich vom Zusammenspiel von Form und Funktion leiten lassen.

3.2.1. Vergleiche, die sich an der Form orientieren Schilling (1999) betrachtet Aufforderungshandlungen im Deutschen und Japanischen hinsichtlich der Kontingenz sprachlicher Realisierungen. Zur Erhebung der Daten wird die Methode der schriftlichen Befragung gewählt, wobei sich die Fragen auf Alltagssituati-

20 onen beziehen, die beiden Kulturen gemeinsam sind. Die Informanten werden in die jeweilige Situation eingeführt und müssen dann angeben, wie sie unter diesen Umständen eine Aufforderung realisieren würden. Bei der Analyse der Realisierungsformen stellt Schilling fest, dass beide Kulturen anhand des Verhältnisses von obligatorisch und fakultativ markierten Aspekten der Aufforderungen zu unterscheiden sind. Damit wird der Sprachvergleich nur mit Bezug auf Differenzen auf der Äußerungsebene durchgeführt. Nicht berücksichtigt wird die Frage, aus welchen kulturellen Werthaltungen diese Differenzen resultieren, obwohl Schilling (1999: 2) daraufhinweist, dass das Deutsche und das Japanische unterschiedlichen Kulturkreisen mit jeweils anderen Werthaltungen angehören. Hill et al. (1986) gehen davon aus, dass die zwei Faktoren „Discernment" und „Volition" allen Kulturen im Hinblick auf Höflichkeit gemein sind. Sie untersuchen im Japanischen und Englischen, welches Gewicht diese Faktoren bei der Realisierung eines „request for a pen" haben. Dabei kommen sie zu dem Schluss, dass im Japanischen „Discernment", im Englischen dagegen „Volition" die dominante Einstellung darstellt. Ähnlich verfährt Yeung (1997). Er widmet sich der Frage, inwieweit die pragmatischen Faktoren „Power", „Social distance" und „Imposition" die Wahl der Realisierungsformen von „Request" in der anglo-amerikanischen und in der chinesischen Kultur beeinflussen und wie sich beide Kulturen in dieser Hinsicht unterscheiden. Verglichen werden damit nur äußerungsseitige Eigenschaften, die mit bestimmten pragmatischen Faktoren korrelieren, was für einen Höflichkeitsvergleich m.E. nicht ausreicht. Dasselbe gilt für Fukushima (2000), der die drei Faktoren „Power", „Social distance" und „Imposition" verwendet, um kulturell geprägte Sprachverwendungen von Höflichkeit im Englischen und im Japanischen zu vergleichen. Die zentrale Frage lautet, welche Einflüsse diese pragmatischen Faktoren bei der Wahl der „Requesting Strategies" und der „Responding Strategies to Off-record Requests" 9 haben und worin wesentliche Unterschiede zwischen beiden Kulturen bestehen. Obwohl Fukushima damit nicht nur initiative, sondern auch reaktive Sprechakte berücksichtigt, wird er der Komplexität des Sprachgebrauchs nicht gerecht, weil der Vergleich auf der Äußerungsebene bleibt. Kulturen sind aber nicht allein hinsichtlich von Differenzen der Äußerungsformen, die mit bestimmten pragmatischen Faktoren korrelieren, zu vergleichen. Wesentlicher ist für mich die Frage, welche Funktion bei der Realisierung einer Handlung im Vordergrund steht und wie dies ausgedrückt wird. Ein Sprachvergleich sollte daher grundsätzlich in einem Rahmen stattfinden, der den Sprachgebrauch als interdependenten Zusammenhang von Funktion und Mitteln fasst.

9

Der Terminus „Off-record" wurde von Brown/Levinson (1978) eingeführt und bezieht sich auf die implizite Darstellungsweise einer Handlung.

21 3.2.2. Vergleiche, die sich an Funktion und Form orientieren In der Literatur gibt es sehr wohl Versuche, Höflichkeit anhand ihrer formalen wie auch funktionalen Eigenschaften zu fassen und zu vergleichen. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang Rathmayr (1996), der den Sprachgebrauch nicht nur aufgrund der Unterschiede auf der Äußerungsebene, sondern auch mit Bezug auf die Unterschiede in den zugrunde liegenden Werthaltungen vergleicht. Dies geschieht am Beispiel von Entschuldigungen im Russischen und im Deutschen, wobei die Sprechhandlung der Entschuldigung als Strategie der negativen Höflichkeit im Sinne von Brown/Levinson (1987) verstanden wird. In ihrer Funktion, das Bedürftiis des Kommunikationspartners nach einem Maximum an Handlungsfreiheit zu erfüllen, komme diese Strategie in der russischen Kultur wesentlich seltener zum Einsatz als in der deutschen. Rathmayr erklärt diesen Unterschied damit, dass im Russischen auf die Achtung der Privatsphäre weniger Wert gelegt werde als im Deutschen. Ein Sprachvergleich kann sich aber nicht allein auf das Kriterium „Werthaltung der individuellen Autonomie" stützen. Es ist vielmehr ein Spektrum an unterschiedlichen Werthaltungen anzunehmen, das dem Sprachgebrauch zugrunde liegt und kulturelle Unterschiede begründet. Suszczynska (1999) vergleicht das Englische und das Polnische (bzw. das Ungarische), indem er sich auf kulturell unterschiedliche Werthaltungen, die Entschuldigungen als reaktiven Handlungen unterliegen, bezieht. Durch die Methode der Befragung versucht er zunächst, eine Entschuldigungsform zu identifizieren, die in den jeweiligen Sprachen am häufigsten verwendet wird. Er erhält auf diese Weise „I'm sorry" für das Englische, ,J\re haragudjon" ('Dont be angry') fur das Ungarische und „Prepraszam" ( Ί apologize') für das Polnische. Er erklärt diese Unterschiede auf der Äußerungsebene durch divergierende Werthaltungen (Funktionen), wenn er darauf hinweist: „an expression of regret (I'm sorry) does not seem to threaten distance between individuals [...] in Anglo-Saxon culture, distance is a positive cultural value, associated with respect for the autonomy of the individual. By contrast, in Polish culture it is associated with emotional coolness and indifference. As for requests to withhold anger (in Hungarian) and pleas for forgiveness (in Polish), they do embody some kind of deference and indebtedness, but do not distance participants from each other" (1999: 1055). Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf Chen (1993), der reaktive Handlungen auf Komplimente im US-Englischen und im Chinesischen untersucht. Ihm geht es vor allem darum, Unterschiede in den Äußerungsformen mit unterschiedlichen Werthaltungen in den beiden Kulturen zu verbinden. Im Rahmen einer Befragung wird herausgestellt, dass im US-Englischen auf Komplimente Äußerungsformen wie „Thank you", „Appreciate it", oder „Thanks. You made my day", im Chinesischen dagegen Äußerungsformen wie „no", „I'm older and uglier" oder „It's not that nice at all" gebraucht werden. Chen erklärt diesen Unterschied auf Basis der Annahmen von Leech damit, dass in der

22 amerikanischen Kultur auf das „Agreement Maxim" (Agree with the complimenter), in der Chinesischen auf das „Modesty Maxim" (Avoid self-praise) besonderer Wert gelegt werde. Er berücksichtigt aber nicht die Frage, was eine übergeordnete gemeinsame Funktion der Höflichkeit, die sowohl für das US-Englische als auch für das Chinesische gilt, sein könnte, obwohl ausgehend von einer solchen Funktion auch ein Sprachvergleich durchführbar wäre. Außerdem bleibt der Ansatz - wie auch der von Suszczynska (1999) und von Rathmayr (1996) - einer methodologischen Enge verhaftet, weil er die Untersuchung auf einen einzelnen Sprechakt reduziert. Die Untersuchung einzelner Sprechakte reicht aber nicht aus, um Sprachverwendungen im Handlungsspiel zu vergleichen. Nötig ist vielmehr ein Ansatz, der kulturelle Werte identifiziert, die sich in Sprechaktsequenzen widerspiegeln. Gegenstand des Sprachvergleichs sollten also dialogische Handlungsspiele als kulturelle Phänomene sein.

Theoretische Grundlegung

1.

Das Modell des dialogischen Handlungsspiels

U m Höflichkeit nicht losgelöst v o m Sprachgebrauch zu begreifen, ist ein Modell erforderlich, das den Gebrauch der Sprache in seiner ganzen Komplexität zu erfassen versucht. Für m e i n e Analysen habe ich daher das von Weigand entwickelte Modell des dialogischen Handlungsspiels gewählt. Zur Beschreibung d e s k o m p l e x e n Sprachgebrauchs geht Weigand ( 2 0 0 2 a ) von den folgenden grundlegenden Prämissen aus: Sprache wird von Menschen gebraucht und ist somit nicht getrennt von ihnen zu beschreiben. Menschen sind soziale, zweckorientierte Wesen, die sich an Kommunikationspartner richten, um ihre jeweiligen kommunikativen Zwecke zu verfolgen. Die minimale kommunikativ autonome Einheit des Sprachgebrauchs ist das dialogische Handlungsspiel, das als eine kulturelle Einheit konzipiert ist. Im Zentrum des Handlungsspiels stehen Menschen mit unterschiedlichen kognitiven Hintergründen und persönlichen Erfahrungen. Als Konsequenz sind Meinen und Verstehen nicht durch die Äußerungsform determiniert, sondern letztendlich vom Sprecher abhängig. Zu berücksichtigen sind auch Missverständnisse. die u.a. auf unterschiedlichen Wahrnehmungen der Realität beruhen.' Das dialogische Handlungsspiel ist durch seinen interaktiven sozialen Zweck bestimmt. Der generelle kommunikative Zweck des Handlungsspiels ist in der Verständigung zu sehen. Die Kommunikationspartner versuchen also, ihre Positionen auszuhandeln und klarzustellen. Im Aushandeln der jeweiligen Position werden verschiedene Fähigkeiten, nämlich sprachliche, perzeptive und kognitive Fähigkeiten, als kommunikative Mittel eingesetzt. Kommunikative Zwecke beziehen sich auf Weltausschnitte, wobei Konzepte der Wahrscheinlichkeit wie Präferenzen und Gewohnheiten einen integrierten Teil dieser Weltausschnitte bilden. Bedeutungen im Handlungsspiel sind komplex, da im Text nicht alles explizit geäußert werden kann und man vieles der kognitiven Fähigkeit des Kommunikationspartners überlässt. Daraus folgt, dass letztendlich der Sprecher allein weiß, was er mit einer Äußerung meint. D i e s e Prämissen verlangen neue m e t h o d o l o g i s c h e Techniken zur Beschreibung und Erklärung des k o m p l e x e n Sprachgebrauchs. D i e s e Techniken lassen sich nach Weigand als Wahrscheinlichkeitsprinzipien

charakterisieren. Dieser Terminus ist in Abgrenzung zu

Entsprechend wird von Taylor/Cameron (1987) auch das Wohlgeformtheitskonzept von Dialogen in Frage gestellt.

24 Regeln und Konventionen zu verstehen. Regeln, Konventionen und Prinzipien dienen der Orientierung der Sprecher im Dialog. Dabei ist die Besonderheit der Regel ihre Sprecherunabhängigkeit. So gelten z.B. Flexionsregeln unabhängig vom Sprecher. Für Konventionen gilt diese Unabhängigkeit nur noch eingeschränkt, da Konventionen nur innerhalb einer Sprechergruppe gelten (vgl. Weigand 1998a: 26, 2000a: 7), die diese anerkennt bzw. sich ihnen (freiwillig) unterwirft. Eine Eigenschaft der menschlichen Wahrnehmung ist es nun, die Komplexität der Umwelt so zu reduzieren, dass der Mensch sie erfassen, sie bewältigen und in ihr agieren kann. Regeln und Konventionen sind hier wichtige Orientierungsmaßstäbe. Mit ihnen versucht der Mensch, sich seine Umwelt zu erklären. Häufig jedoch - und insbesondere in der Kommunikation - stoßen Regeln und Konventionen an Grenzen. An diesem Punkt werden Prinzipien relevant. Nach Weigand (2000a) sie den Kommunikationspartnern in komplexen Umgebungen Orientierungsmöglichkeiten, um ihre jeweiligen Positionen aushandeln. Prinzipien der Wahrscheinlichkeit lassen sich als Techniken verstehen, mit denen die Kommunikationspartner sich in ständig wechselnden kommunikativen Zusammenhängen zurechtfinden. Wahrscheinlichkeiten treten an die Stelle von regelhaften Zuordnungen im klassisch grammatischen Sinn. Die Fähigkeit, mit dem Verlust an verbindlichen Zuordnungen umzugehen und sein Verhalten an einer nur mit gewisser Wahrscheinlichkeit intersubjektiv

wahrgenommenen Realität

auszurichten, bezeichnet die sprecherindividuelle Kompetenz-in-der-Performanz. Die Prinzipien dialogischen Handelns sind zunächst in drei universelle Grundprinzipien zu differenzieren: das Handlungsprinzip, das Dialogprinzip und das Kohärenzprinzip. Das Handlungsprinzip beschreibt das Verhältnis von kommunikativen Zwecken und Mitteln, die in ihrer Zuordnung eine Handlung konstituieren. Diese Zuordnung kann jedoch nicht allein mit den Konzepten der Regel bzw. Konvention beschrieben werden, denn Sprachverwendungen im Handlungsspiel sind nicht nur regelgeleitet, sondern auch von individuellen Kriterien, wie Präferenzen oder Gewohnheiten, bestimmt. Um z.B. einen Freund zu bitten, die Tür zu schließen, verwendet man nicht allein konventionelle Äußerungsformen (z.B. Kannst du bitte die Tür schließen? oder Mach mal die Tür zu.). In Frage kommen auch Äußerungsformen, die auf alltäglichen Gewohnheiten des Sprechers beruhen, z.B. Es zieht, oder Die Tür! (mit dem Finger auf die Tür deutend). Die Komplexität des Sprachgebrauchs spiegelt sich auch im kommunikativen Zweck wider. So ist die Äußerung Wann machst du die Toilette sauber? nicht allein als Frage anzusehen; sie kann auch als Vorwurf gelten. Um zu wissen, welcher kommunikative Zweck damit tatsächlich verfolgt wird, können wir auf perzeptive Mittel, wie Mimik oder Gestik angewiesen sein. Letztendlich weiß aber nur der Sprecher, was mit der Äußerung gemeint ist. Deshalb können wir das Verhältnis von kommunikativen Zwecken und Mitteln nicht als grammatisch oder konventionell definierte Zuordnung fassen. Es geht vielmehr um Orientierungstechniken, die auf Wahrscheinlichkeiten gründen und die individuellem Verhalten sowie der konkreten Situation Rechnung tragen.

25 Indem Menschen mit Sprache handeln, orientieren sie sich immer an einem Kommunikationspartner. Sprachliches Handeln ist daher als dialogisch orientiert zu charakterisieren. 2 Daraus folgt, dass einzelne Äußerungen keine kommunikativ autonomen Einheiten sind, sondern nur Komponenten innerhalb einer dialogischen Sequenz. Sie werden entweder initiativ oder reaktiv verwendet, was als unterschiedliche Handlungsfunktion, nicht nur als formale Position in der Sequenz zu verstehen ist. Die initiative Handlung richtet sich mit einem pragmatischen Anspruch (einem Wollens- oder einem Wahrheitsanspruch) auf die reagierende Handlung, die diesen Anspruch erfüllt, sei es positiv oder negativ. Die reagierende Handlung orientiert sich an der initiativen und weist auf diese zurück. In dieser Weise sind die initiative und die reagierende Handlung funktional voneinander abhängig. Diese funktionale Interdependenz bildet das Dialogprinzip, das für alle Handlungstypen gilt (Weigand 2002a: 18): minimal dialogues

(Fig.l):

[action

reaction]

[separate reaction necessary] [claim to truth]

[separate reaction not necessary]

[claim to volition] DECL (