226 46 65MB
German Pages 253 [256] Year 1991
Linguistische Arbeiten
255
Herausgegeben von Hans Altmann, Peter Blumenthal, Herbert E. Brekle, Hans Jürgen Heringer, Heinz Vater und Richard Wiese
Kang-Ho Lie
Verbale Aspektualität im Koreanischen und im Deutschen mit besonderer Berücksichtigung der aspektuellen Verbalperiphrasen
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1991
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Lie, Kang-Ho : Verbale Aspektualität im Koreanischen und im Deutschen : mit besonderer Berücksichtigung der aspektuellen Verbalperiphrasen / Kang-Ho Lie. — Tübingen : Niemeyer, 1991 (Linguistische Arbeiten ; 255) NE:GT ISBN 3-484-30255-0
ISSN 0344-6727
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1991 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt
v Vorwort Ziel dieser Arbeit ist es, Eugenio Coserius Ansatz in einem Bereich der semantischen Beschreibung aufzuarbeiten, der bei der Aufstellung der strukturell-semantischen Arbeitsprinzipien im Hintergrund geblieben ist, der aber einer Behandlung im Sinne der von Coseriu vertretenen funktioneilen Linguistik erschlossen werden kann. Deshalb habe ich den Ausdruck einer grammatischen Kategorie nicht auf der strukturellen Ebene des Wortes, sondern auf der Ebene der Wortgruppe untersucht und mich bemüht, im Vergleich zwischen zwei einander sehr unähnlichen Sprachen die jeweils einzelsprachlichen Gestaltungen beim Ausdruck dieser Kategorie zu zeigen. Ich glaube nicht, daß ich bei der Anwendung der Prinzipien von Coserius Linguistik auf diese Aufgabe mehr getan habe, als das in dieser Linguistik angelegte Potential von Problemlösungen zu entfalten und als den für mich wichtigen Hinweisen auf konkrete Lösungswege nachzugehen. Ich hoffe aber, daß aus meinen Darlegungen zugleich hinreichend deutlich wird, daß es mir nicht einfach darum ging, einige geläufige Rezepte anzuwenden, denn ich wollte auch zeigen, daß es weiterhin genug Probleme gibt, die in einer funktionellen Linguistik im Sinne Coserius ihrer Lösung näher gebracht werden können und daß die mit seinem Namen verbundene Linguistik nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat. Ich bin Eugenio Coseriu dankbar dafür, daß er mir die Gelegenheit geboten hat, dieses Buch zu schreiben. Heinrich Weber und Kennosuke Ezawa haben mir wertvolle sachliche Hinweise gegeben, die mir zum besseren Verständnis von Coserius Sprachtheorie geholfen haben. Manfred Ringmacher hat eine erste Version meiner Arbeit gelesen und mir seine Bemerkungen zu vielen dort behandelten Punkten mitgeteilt. Er hat mir freundlicherweise die Übersetzungen von zwei spanischen Texten (Abschnitte aus Sanchez 1954 und Coseriu 1977b), die er für eines seiner Seminare angefertigt hatte, zur Benutzung überlassen.
VI
Heidi Aschenberg und Wolfgang Kaufmann danke ich für die Mühe, die sie mit der Durchsicht des Textes auf sich genommen haben, und Liliana Popescu Ramirez für wichtige Literaturhinweise. Schließlich geht mein Dank auch an Sabine Schwarzl und Patrick Tröster, die für die sprachliche Richtigkeit meines deutschen Textes gesorgt haben. Vor allem aber möchte ich meiner Frau für Geduld und Beistand danken.
VII
Inhaltsverzeichnis .
Einleitung
l
1.
Terminologie, Grundannahmen, Methode
5
1.1.
Terminologie
5
1.1.1. 1.1.2.
5
1.1.3. 1.1.4. 1.1.5.
Grammatische Kategorie Periphrase, Verbalperiphrase, grammatische Verbalperiphrase Hilfsverb, verbum adiectum, Funktionsverb Arten grammatischer Verbalperiphrasen Das "Funktionsverb" als semantisches Problem
6 8 10 12
1.2.
Grundannahmen und Methode
17
1.2.1. 1.2.2. 1.2.3. 1.2.4. 1.2.5. 1.2.6.
Funktionelle Linguistik Arten von Inhalten und Arten von Bedeutungen Prinzipien der funktionellen Beschreibung Grammatik und Wortschatz Prinzipien des funktioneilen Sprachvergleichs Sprachvariation und Fragen des Korpus
17 17 20 23 25 27
2.
Bisherige Untersuchungen zur Bestimmung der Begriffe TEMPUS und ASPEKT
31
2.1.
TEMPUS und ASPEKT als allgemeine Kategorie
31
2.1.1. 2.1.1.1. 2.1.1.2. 2.1.1.3. 2.1.1.4.
Rechtfertigung der Fragestellung Koschmieder Renicke Heger Jakobson
31 32 35 39 41
2.1.2. 2.1.3.
Aspektualität Arten von Aspektualität
45 48
2.1.4.
Ergebnisse
55
2.2.
TEMPUS und ASPEKT im Koreanischen
57
2.2.1.
Vorbemerkungen
57
2.2.2. 2.2.2.1. 2.2.2.2. 2.2.2.3. 2.2.2.4. 2.2.2.5. 2.2.2.6.
Das koreanische Verb Wortarten Endungen Subjektlosigkeit DIATHESE HONORATIV TEMPUS
59 59 61 63 67 69 74
VIII 2.2.3.
TEMPUS und ASPEKT in der koreanischen Linguistik — 81
2.2.3.1. 2.2.3.2. 2.2.3.3. 2.2.3.4.
Choy Na Chang Nam
2.2.4.
ASPEKT und Verbalperiphrase im Koreanischen
81 84 89 96 104
2 . 2 . 4 . 1 . Pultr 2 . 2 . 4 . 2 . Lee
105 106
2.2.5.
Zusammenfassung
110
2.3.
TEMPUS und ASPEKT im Deutschen
112
2.3.1. 2.3.1.1. 2.3.1.2. 2.3.1.3.
TEMPUS Baumgärtner/Wunderlich Eisenberg Sacker
112 112 118 122
2.3.2. ASPEKT 2.3.2.1. Heibig 2 . 3 . 2 . 2 . Herrlitz
124 125 129
2 . 3 . 2 . 4 . Persson
137
2.4.
Zusammenfassung
140
3.
Erscheinungsweisen des ASPEKTS im Deutschen und im Koreanischen
142
3.1.
Vorbemerkung
142
3.2.
TEMPUS und ASPEKT im Deutschen
142
3.2.1.
Präsens
143
3.2.2.
Präteritum
145
3.2.3.
Perfekt
147
3.3.
TEMPUS und ASPEKT im Koreanischen
150
3.3.1. 3.3.2. 3.3.3.
Präsens Perfekt Zusammengesetzte Tempora
151 156 159
3.4.
Aspektuelle Verbalperiphrasen im Deutschen
161
3.4.1. 3.4.2.
Funktionsverbgefüge mit kommen (I) Funktionsverbgefüge mit sein, haben und kommen (II) Funktionsverbgef üge mit bringen Bemerkungen zur Belegbarkeit
163
2 . 3 . 2 . 3 . Heringer
3.4.3. 3.4.4.
131
168 171 173
IX
3.5.
Aspektuelle Verbalperiphrasen im Koreanischen
178
3.5.1. 3.5.2. 3.5.3. 3.5.4. 3.5.5.
VL—ko issta: Winkelschau 182 VL—e issta/e nohta; Resultat 188 VL—e kata/e ota; Prospektiv bzw. Retrospektiv.... 193 VL—e pelita: Globalschau 202 Zusammensetzungen von Periphrasen 207
4.
Vergleich des Aspektausdrucks im Deutschen und im Koreanischen
210
4.1.
Vergleich der ausgedrückten Bedeutungen
210
4.1.1. 4.1.2. 4.1.3.
210 213
4.1.4.
Perfekt und Resultativ kommen(I) und pelita Sein/haben-Periphrasen und partialisierende Periphrasen des Koreanischen Vergleich der Gesamtsysteme
4.2.
Das Verhältnis von System und Norm
221
4.2.1. 4.2.2. 4.2.3.
Vergleich des morphologischen Aufbaus der Periphrasen 221 Einschränkungen in Abhängigkeit von Textsorten.... 224 Lücken im System 227
4.3.
Vergleich der Semantik der Hilfsverben
231
4.3.1. 4.3.2.
Sein, haben, issta Kommen. bringen, kata, ota. nohta. pelita
231 233
4.4.
Konklusion
238
5.
Literaturverzeichnis
240
214 218
. Einleitung Die im folgenden vorzutragenden Überlegungen haben ihren Ausgangspunkt in der Lektüre der Nachschrift von Coserius Vorlesungen zum romanischen Verbalsystem durch einen Nichtromanisten. Da der Schwerpunkt von Coserius Diskussion des romanischen Verbalsystems auf dem Begriff des Aspekts liegt und da es sich zugleich als schwierig erwies, die semantischen Konfigurationen des romanischen Aspekts in den uns vertrauteren Sprachen nachzuvollziehen, lag es nahe, daß unsere Arbeit sich mit dem Verhältnis von Tempus und Aspekt im Deutschen und im Koreanischen beschäftigen sollte, und zwar in der zweifachen Hinsicht, daß im Sprachvergleich einerseits die Möglichkeiten des Ausdrucks einer Kategorie durch die andere, andererseits aber die Unterschiede im Ausdruck der Kategorie ASPEKT durch periphrastische Formen im Sprachvergleich festgestellt werden. Hauptsächlich untersucht werden sollen deshalb Verbalperiphrasen des Deutschen und des Koreanischen, in denen eine aspektuelle Bedeutung mithilfe von Hilfsverben ausgedrückt wird, die als selbständige Vollverben eine Bewegung oder Befindlichkeit im Raum bezeichnen (dt. kommen. bringen, kor. ota. kata. issta). Wir nehmen nämlich an, daß der semantisch beschreibbare Unterschied zwischen diesen Verben als Vollverben und als Hilfsverben in aspektuellen Periphrasen einen sinnvollen Zugang zum Phänomen des periphrastischen Ausdrucks grammatischer Kategorien überhaupt geben kann. Trotz zahlreicher bereits vorliegender Diskussionsbeiträge sind auch heute noch große Unklarheiten hinsichtlich der Definition des ASPEKTS und seiner Abgrenzung gegenüber anderen grammatischen Kategorien, wie TEMPUS, sowie im Verhältnis zu den übrigen sprachlichen Ausdrucksmitteln feststellbar. Angesichts der zum Teil ungenau definierten Voraussetzungen ist zur genaueren Bestimmung dessen, worum es bei der Kategorie ASPEKT geht, eine erneute Durcharbeitung des gesamten Gegenstandsgebiets auf der Grundlage der strukturell-funktionell orientierten Sprachtheorie von Coseriu gerechtfertigt. Die für
uns dabei wichtigste Begriffsunterscheidung ist die zwischen Sprachbedeutung, Normbedeutung und Redebedeutung. In der Perspektive einer derart differenzierten Semantik sind die zu behandelnden Konstruktionen besondere Fälle der Periphrase, bei der erstens das Verhältnis von System- und Normbedeutung der Bestandteile und zweitens die Systembedeutung des resultierenden Ganzen zu klären ist. Die Untersuchung dieses Verhältnisses wird dadurch erleichtert, daß bei den in Frage kommenden Hilfsverben der Unterschied zwischen der Normbedeutung, mit der sie in den Verbund der Periphrase treten, und ihrer Systembedeutung, die sie als Vollverben haben, sehr deutlich ist. Wir beginnen mit mit der Darstellung der Terminologie, die hier angewandt wird. Anschließend werden unsere Grundannahmen zu Gegenstandsbereich und Methoden dargelegt, wo wir Coseriu folgen, um sprachliche Fakten sinnvoll und kohärent als Fakten bestimmter Sprachen beschreiben zu können. Im Kapitel 2 werden in einem kurzen Forschungsüberblick mehrere Ansätze zu einer angemessenen Darstellung von TEMPUS und ASPEKT behandelt. Dies dient dazu, Bestimmungen des "ASPEKTS" als unseres eigentlichen Themas begrifflich von anderen Kategorien, besonders vom TEMPUS, abzugrenzen. Da wir nicht von der Identität der in den zu vergleichenden Sprachen ausgedrückten Inhalte ausgehen, werden wir erst diese beschreiben, bevor wir zum Vergleich der einzelsprachlichen Funktionen kommen. Deshalb umfaßt der Forschungsüberblick neben dem allgemeinen Teil (Kap. 2.1.) auch zwei Teile zu den untersuchten Kategorien im Koreanischen und im Deutschen (Kap. 2 . 2 . und 2 . 3 . ) . Das Kapitel 2 . 2 . enthält einige Bemerkungen zur Struktur des Koreanischen. Dies erschien uns in zweierlei Hinsicht unerläßlich: Erstens, weil wir diese Fakten nicht als bekannt voraussetzen wollten, und zweitens, um selber eine einheitliche und verständliche Terminologie für die weitere Diskussion zur Verfügung zu haben. Wir nehmen an, daß beide Sprachen keine eigene grammatische Kategorie ASPEKT mit einem stetigen Ausdruck in einer einfa-
chen Form aufweisen, sondern sie als Nebenbedeutung anderer Kategorien (vor allem TEMPUS) und als selbständige einzelsprachliche Kategorie vorzugsweise durch Verbalperiphrasen ausdrücken. Obwohl unser Hauptinteresse bei der Verbalperiphrase und den in Verbalperiphrasen ausgedrückten Funktionen liegt, denken wir, daß die Untersuchung der einzelnen Aspektfunktionen beider Sprachen ohne Feststellung der Tempussysteme als Grundsysteme auch für den Aspektausdruck nicht ergiebig ist. Weiter untersuchen wir für beide Sprachen das jeweilige System aspektueller Verbalperiphrasen und die darin ausgedrückten einheitlichen Bedeutungen unter Rückgriff auf unser Textkorpus . Wir gehen davon aus, daß die inhaltlichen Kategorien einer jeden Sprache anhand der Beobachtung der Ausdrucksmittel dieser Sprache festgestellt werden können. Zahl und Art der Einheiten des Sprachsystems und die Struktur der durch sie bestimmten Oppositionen werden als für jedes Sprachsystem verschieden angenommen, obwohl die Kategorien in verschiedenen Sprachen natürlich gleich bezeichnet werden können. Beim Vergleich der in den beiden Sprachen grammatisch ausgedrückten aspektuellen Bedeutungen beschäftigen wir uns einerseits mit den Gesamtbedeutungen der jeweils identifizierten aspektuellen Periphrasen, um die Eigenart des Systems von Periphrasen in jeder Sprache bestimmen zu können, und andererseits gehen wir der Frage nach, welchen Bedeutungsanteil das Hilfsverb an den aspektuellen Periphrasen hat. Im Fall von Hilfsverben, die wie die Hilfsverben eines großen Teils der aspektuellen Periphrasen in beiden Sprachen als Vollverben räumliche Bewegung bezeichnen, nimmt diese Frage die Form einer Frage nach dem Verhältnis von Systembedeutung und Normbedeutung im Zusammenhang der betreffenden Periphrase an. Wir haben deshalb der Erörterung der Semantik dieser Hilfsverben eine Diskussion anderer Aspekte des Verhältnisses von System und Norm im Sinne Coserius vorausgeschickt. Wir haben uns bemüht, zumindest in der Besprechung einzelner Beispiele zu zeigen, daß wir für die von uns aufgestellten systematischen
Zusammenhänge auch eine praktische Brauchbarkeit für Fragestellungen der angewandten Linguistik in Anspruch nehmen wollen und daß wir bereit sind, unsere Ergebnisse von dieser Seite einer Überprüfung auszusetzen. Koreanische Wörter, Sätze und Textfragmente werden in dieser Arbeit in Transliteration wiedergegeben. Wir folgen dabei dem sogenannten "Yale-System" (vgl. Märtin/Lee/Chang 1967, S.xxiv) , mit der einen Ausnahme, daß wir das koreanische Zeichen, das dort mit wu wiedergegeben ist, mit ü wiedergeben.
1.
Terminologie, Grundannahmen, Methode
1.1.
Terminologie
l.l.l.
Grammatische Kategorie
Gegenstand dieser Arbeit sind zwei einzelsprachliche Erscheinungsformen des ASPEKTS, d.h. einer grammatischen Kategorie des Verbs. Die Lexeme einer Sprache können nach ihrer Verwendungsweise in Sätzen als substantivisch, verbal, adjektivisch und adverbial klassifiziert werden. Dies sind die vier sogenannten Wortkategorien, die den Positionen Subjekt, Prädikat, Ergänzung eines subjekthaften oder eines prädikativen Elements im Satz entsprechen. Ihnen entsprechen im Wortschatz der Sprachen gewöhnlich spezialisierte Lexemarten, die Substantive, Verben, Adjektive und Adverbien, deren primäre Funktion neben der lexikalischen der Ausdruck der entsprechenden Wortkategorie ist. Wie B. Schlieben-Lange bemerkt, ist das Verb der Mittelpunkt des sprachlichen Vollzugs in der Situation. Personale und temporale Deixis sind untrennbar mit dem Verb verbunden. Wir betrachten also das Verb als "Kulminationspunkt" im Satz. Deshalb können wir uns L. Hjelmslev anschließen, wenn er sagt, daß die grammatischen Determinationen (Morpheme) des Verbs Morpheme des Satzes sind.1 Die Funktion eines Morphems ist es, eine bestimmte grammatische Kategorie auszudrücken bzw. an dem durch das Morphem determinierten Lexem auszudrücken, daß es in einer bestimmten grammatischen Kategorie steht. Für die grammatischen Kategorien einer Sprache können die Morpheme stehen, die sie ausdrücken. Wir gehen davon aus, daß jede grammatische Kategorie einer Einzelsprache ihren Wert ausschließlich in dem System dieser Einzelsprache hat und deswegen - streng genommen keiner grammatischen Kategorie einer anderen Einzelsprache wirklich entsprechen kann.
l Vgl. Schlieben-Lange 1971,
S.76
Die grammatische Kategorie ist durch die vom jeweiligen Sprachsystem bereitgestellten Möglichkeiten und nicht durch den Gebrauch der entsprechenden Verbalformen in den konkreten Redesituationen bedingt. Die grammatische Kategorie als sprachliche Kategorie zeigt sich also in Oppositionen, deren einheitliche Funktionen mit ihrem jeweils stetigen formellen Ausdruck einzelsprachlich festgestellt werden müssen. Wo auf systematische Weise semantische Gegebenheiten mit einheitlichen Formen korrelieren, können wir sagen, daß ein semantisches Phänomen der betreffenden Einzelsprache vorliegt, und in diesem Sinne schreiben wir dieser Einzelsprache auch grammatische Kategorien zu. 1.1.2. Periphrase, Verbalperiphrase, grammatische Verbalperiphrase Der Normalfall eines sprachlichen Zeichens, das einer Einzelsprache zugeordnet werden kann, ist der, daß ein bestimmter Inhalt ("Signifie") durch einen bestimmten Ausdruck ("Signifiant") vertreten wird. In diesem Sinne kann man vereinfachend auch sagen, daß eine grammatische Kategorie durch ein ihr entsprechendes Morphem vertreten wird und deshalb als zu der betreffenden Einzelsprache gehörig betrachtet werden kann. Unter "Periphrase" verstehen wir mit Coseriu (1976, S.119) ein sprachliches materiell mehrgliedriges Zeichen, das eine einheitliche, eingliedrige Bedeutung hat, d.h. ein gegliedertes "Signifiant", dem aber ein einfaches "Signifie" entspricht: Signifie Signifiant
Die Bedeutung der Periphrase steht zwar in Verbindung mit den Bedeutungen ihrer Teile, sie ist aber nicht bloß die Summe der Bedeutungen der Einzelteile. Die enge Verbindung zwischen den
Teilen der Periphrase ist mit der Verbindung von verschiedenen chemischen Elementen verglichen worden: Genauso verhält es sich in der Chemie, wo die Verbindung von Chlor (Cl) und Natrium ( N a ) etwas Neues ergibt, das Kochsalz oder Natriumchlorid ( N a C l ) , das ein ganz neuer Stoff mit völlig anderen Eigenschaften ist als Chlor einerseits und Natrium andererseits. (Tesniere 1980, S . 2 6 ) Was die ündeduzierbarkeit der Gesamtbedeutung aus den einzelnen Teilen angeht, kann man die Periphrase mit "wiederholter Rede" bzw. phraseologischen Verbindungen vergleichen: sowohl bei Verbalperiphrasen als auch bei den phraseologischen Ganzheiten handelt es sich um eine semantische Einheit, deren Bedeutung sich nicht völlig in die Teilbedeutungen der einzelnen Bestandteile auflösen läßt. Die grammatische Periphrase ist aber einem Lexem nicht bedeutungsähnlich und deshalb durch ein solches nicht zu ersetzen, ohne daß ein grammatischer Gegensatz im Spiel ist, während dies bei der phraseologischen Ganzheit möglich ist. Die Bedeutung einer grammatischen Periphrase muß aber immer von der Bedeutung des zugehörigen einfachen Lexems unterscheidbar sein, d.h. Periphrase und Lexem gehören semantischen Strukturen unterschiedlichen Ranges an. Periphrasen können wie Lexeme hinsichtlich ihrer Wortkategorie bzw. ihrer Wortart bestimmt werden. Die Verbalperiphrase ist eine Periphrase, die als Ganzes wie ein Verb funktioniert. Die grammatische Verbalperiphrase ersetzt ein Verb und ist aus diesem Grund selbst als verbal bestimmbar. Sie unterscheidet sich aber von einem verbalen Lexem dadurch, daß sie in einen lexematischen und einen kategorematischen Bereich zerfällt. 3 Sie unterscheidet sich von Wortbildungsprodukten, deren Ableitungsmorphem sich auf eine kategorematische "Konversion" bzw. kategoriale "Entwicklung" (Coseriu, in: Geckeier 1978, S.269) 2
Hinsichtlich der Ersetzbarkeit durch ein einzelnes Lexem verhalten sich lexikalische Periphrase und phraseologische Verbindung gleich, und es braucht zumindest in unserem Zusammenhang nicht zwischen ihnen unterschieden zu werden. 3 Vgl. Coseriu 1987, S.30
8
bezieht, durch ihre Eigenschaft als Periphrase. Deshalb kann als ihr praktisches Kennzeichen genannt werden, daß der kategorematische Teil an ihr durch ein sogenanntes "Hilfsverb" vertreten ist. 1.1.3. Hilfsverb, verbum adiectum, Funktionsverb Unter "Hilfsverb" verstehen wir also den nichtlexematischen Teil einer Verbalperiphrase, der selbst als verbal bestimmt ist und der die Wortartzugehörigkeit der ganzen Periphrase bestimmt. In wortsemantischer Hinsicht ist das Hilfsverb eine der Erscheinungsformen der Kategorie des "verbum adiectum". Dieser Terminus geht auf eine Überlegung von Coseriu zurück, der in einem Aufsatz "Zur Sprachtheorie von Juan Luis Vives" (Coseriu 1971b) eine Unterscheidung der Substantive in "nomina absolute" und "nomina adiecta" erwähnt und dann (Coseriu 1987, S.89-90) den Vorschlag macht, diese Unterscheidung auch auf die Verben zu übertragen und zwischen "verba absoluta" wie lesen, laufen und "verba adiecta" wie anfangen, fortsetzen zu unterscheiden. Wir folgen diesem Vorschlag, wie es schon W. Dietrich (1973, S . S l f . ) und W. Busse (1974, S . l S O f . ) getan haben. Die "verba adiecta", die zuerst beachtet wurden, sind die Modalverben und die Phasenbezeichnungen, d.h. Verben, die in Konstruktion mit einem folgenden Infinitiv (eventuell mit Präposition) vorkommen. Dietrich (S.52) sagt: Es gibt nämlich auch hier Einheiten, die nicht mit einer primär realen, sondern mit einer auf ein anderes Verbum bezogenen Bedeutung auftreten: 'können 1 , 'wollen', 'müssen 1 usw., 'anfangen', 'fortfahren', 'aufhören 1 sind im allgemeinen keine selbständigen Einheiten der Realität, sondern sie funktionieren lediglich in Bezug auf solche, nämlich auf andere Handlungen (Verben über Verben). Ihre lexikalische Be4 Nach Vives klassifizieren die "rerum nomina" bzw. "nomina absoluta", z . B . Stein. Löwe. Bach, direkt die außersprachliche Wirklichkeit, während die "appellationes" bzw. "nomina adiecta" ein Ergebnis der primären Klassifikation voraussetzen und es weiter bestimmen, derart, daß z . B . Greis, Magister. Vater, ein Reicher das "nomen absolutum" Mensch voraussetzen. Vgl. auch die Unterscheidung von "first-order" und "second-order nominals" bei Lyons (1968, S . 3 4 7 ) .
deutung existiert dann nur, insofern sie sich auf ein anderes Verbum beziehen und es modifizieren. In dieser Funktion bedeuten sie nichts im Hinblick auf die primäre Erfassung der außersprachlichen Wirklichkeit, sondern nur etwas im Hinblick auf das Wie dieser Erfassung, d.h. sie stellen wie die "substantiva adiecta" in Bezug auf die Substantiva eine Funktionsmöglichkeit innerhalb der Wortkategorie "Verb" dar, durch die die Art der Erfassung der außersprachlichen Wirklichkeit bestimmt wird, nicht deren primäre Erfassung selbst. Die entscheidende Beobachtung ist dann die, daß bei diesen Verben, wenn sie dennnoch allein vorkommen, ein Lexeminhalt mitverstanden wird. Die Beispiele für Modalverben in dieser Verwendung sind bekannt und müssen hier nicht noch einmal vorgeführt werden. Und wer einem anderen sagt: Hör auf!. weiß auch, womit der andere aufhören soll, denn wenn dieser nicht z . B . Unsinn reden, sondern gar nichts tun würde, könnte er auch nicht aufhören. Das "verbum adiectum" setzt also ein Lexem voraus, und zwar ganz so, wie ein grammatisches Instrument ein Lexem voraussetzt, auf das es angewandt werden kann. der soll
(Lexem) « » (Lexem) » (Lexem)
-t
z . B . in sieht z . B . in der Zuschauer z . B . in soll hersehen
Während das "nomen adiectum" nur eine bestimmte Art von Inhalt bzw. ein bestimmtes Lexem impliziert und eine Kategorie der Lexematik ist, impliziert das "verbum adiectum" nicht nur ein verbales Lexem als Inhalt, sondern auch eine syntagmatische Beziehung zu ihm und gehört deshalb der grammatischen Semantik an. Wir bestimmen das Hilfsverb als ein "verbum adiectum", dessen instrumentale Leistung sich auf die Herstellung einer kategorialen Bedeutung, d . h . , vereinfacht gesagt, einer Wortartbedeutung bezieht. In einer Periphrase wie ist gewesen etwa ist der Beitrag des Hilfsverbs nur der, die Verbalität auszudrücken. Wenn man aber die jeweiligen Wortbedeutungen (und die aus ihnen folgenden Verwendungsmöglichkeiten) berücksichtigt, muß unterschieden werden zwischen den immer nur instrumental auf-
10
tretenden Verben, die wir "morphematische Verben" nennen können, und den Verben, die nicht nur in Periphrasen instrumental verwendet werden, sondern auch selbständig als "Vollverben" vorkommen. Da solche Verben in den sogenannten "Funktionsverbgefügen" des Deutschen vorkommen (kommen, bringen) und hier "Funktionsverben" genannt worden sind (v.Polenz 1963, S.11), könnte unter Umständen dieser Terminus für die in Frage stehende Klasse von Verben übernommen werden. Dagegen spricht aber, daß es auch Funktionsverbgefüge gibt, die "morphematische" Hilfsverben enthalten. Über haben als Lexem ließe sich streiten, aber es wäre nicht sinnvoll, sein (das ebenfalls in deutschen Funktionsverbgefügen vorkommt) als Vollverb zu klassifizieren. Um genau zu sein, müßten wir also von "nichtlexematischen Hilfsverben" sprechen und hoffen, damit nicht mißverstanden zu werden. Wir werden zur Vereinfachung der Beschreibungsarbeit und nur in Kontexten, die genügend klar sind, von "Funktionsverben" und "Funktionsverbgefügen" reden, obwohl wir den Terminus für wenig brauchbar und auch die bisher mit ihm erfaßte Gruppe von Verben für noch nicht präzis genug abgegrenzt halten. 1.1.4. Arten grammatischer Verbalperiphrasen Im Grunde geht es darum, daß die Hilfsverben immer nach der Art der Periphrasen zu beurteilen sind, in denen sie stehen. Wenn man im Deutschen einen deutlichen Unterschied zwischen einerseits Periphrasen wie in Anrechnung kommen oder zum Schwitzen bringen und andererseits Periphrasen wie gegeben sein, gegeben werden, gegeben haben wahrnimmt, so ist das eine Frage der ausgedrückten Gesamtinhalte. Die Inhalte der zweiten Gruppe sind anscheinend von zentralerer Bedeutung für die Sprache, und sie gehören zu Inhaltsbereichen, die nicht ausschließlich durch Periphrase ausgedrückt werden. Eine Periphrase hat gegeben ist ein Tempusausdruck und steht in enger Beziehung zu einer nichtperiphrastischen Form gab. Die Periphrasen ist gegeben und wird gegeben sind Passivausdrücke, und sie stehen ihrerseits in enger formaler Beziehung mit hat ge-
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geben. Es geht also nicht nur um den Inhalt allein, sondern um den Inhalt und seinen besonderen Ausdruck. Sowohl ist/wird gegeben als auch bringt zum Schwitzen könnten als diathetische Ausdrücke zusammengefaßt werden, aber man sieht an den Ausdrucksweisen der deutschen Sprache, daß ist/wird/hat gegeben und kommt/bringt zum Schwitzten jeweils gemeinsam erfaßt werden, ohne daß man auf Anhieb über die gemeinsam ausgedrückten Inhalte mehr sagen könnte, als daß sie vorhanden sein müssen. Eine rein syntaktische Untergliederung der grammatischen Verbalperiphrasen schlägt Dietrich vor: Er unterscheidet die eigentlich "grammatischen Periphrasen", zu denen etwa ist gekommen . hat gegeben usw. gehört, von den Periphrasen mit einem "verbum adiectum", das "bis zu einem gewissen Grad unabhängig vom Bezugsverb weiter modifiziert werden kann, und zwar im allgemeinen adverbial" (S.153). Auf dieser Grundlage und unter Verwendung eines unserer Meinung nach viel zu eng gefaßten Begriffs von "verbum adiectum" stellt er folgende Unterscheidung auf: 'Intensive Periphrase1 wollen wir diejenigen nennen, die mit 'verba denominativa 1 als Modifikatoren konstruiert werden und deren Modifikatoren in keiner Weise autonom modifiziert werden können. 'Extensive Periphrasen" wollen wir dagegen diejenigen Periphrasen nennen, die vor allem mit 'verba adiecta1 und den ihnen im Hinblick auf die Bezeichnug synonymen 'verba denominativa' gebildet werden und deren Modifikatoren in beschränktem Umfang autonom modifiziert werden können, und zwar unter Beibehaltung ihrer instrumentalen Funktion. (S.155) Dabei unterscheidet er bei den "extensiven Periphrasen" unterschiedliche Grade der Modifizierbarkeit. Bei den phasenbezeichnenden Verben nimmt er an, daß nur die ganze Gruppe aus "verbum adiectum" und "Bezugsverb" adverbial modifiziert wird, z.B. in er beginnt hastig zu erklären, daß ... Bei den Modalverben wird einer der Bestandteile der Gruppe modifiziert, so etwa in er will unbedingt kommen das "verbum adiectum", in er will bald wiederkommen das "Bezugverb". Diese Unterscheidung
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von Sachgruppen bedürfte aber natürlich einer weiter ausgreifenden Diskussion, die wir hier nicht nachholen können. Dagegen scheint die Unterscheidung der Periphrasen in adverbial modifizierbar und nicht modifizierbar einen brauchbaren Test für die Unterscheidung von zwei unterschiedlich festen Arten von grammatischen Periphrasen zu entsprechen. Allerdings muß festgestellt werden, daß es sich um eine Grenze handelt, die je nach Sprache ganz unterschiedlich verlaufen kann. Im Deutschen ist es ohne weiteres akzeptabel zu sagen Es fängt langsam an zu regnen, und es ist dabei unwichtig, ob das Adverb das Phasenverb und den Infinitiv zusammen modifiziert und ausdrückt, daß nicht etwa ein plötzlicher Wolkenbruch einsetzt, oder ob es nur das Phasenverb modifiziert und eine Phase vor dem eigentlichem Anfang bezeichnet. Im Koreanischen dagegen kann die entsprechende Periphrase aus Verballexem + ki + sicak ha ("anfangen") auf keine der beiden Weisen adverbial modifiziert werden. Man müßte also sagen, daß im Koreanischen alle grammatischen Verbalperiphrasen "intensive" Periphrasen sind, aber das würde nichts weiter bedeuten, als daß der Test auf diese Sprache nicht anwendbar ist. Wir werden ihn deshalb auch bei der Beschreibung der deutschen Periphrasen nicht verwenden und begnügen uns mit einer inhaltlichen Unterscheidung von verschiedenen Arten von Periphrasen. 1.1.5. Das "Funktionsverb" als semantisches Problem In einer Semantik, deren erstes Ziel die Feststellung von Invarianten der sprachlichen Bedeutung ist, stellen die Hilfsverben von "Funktionsverbgefügen" ein gewisses Problem dar, wenn sie auch außerhalb von Periphrasen, als "Vollverben" vorkommen. Dann muß eine semantische Grundkonstellation erschlossen werden, die sowohl den Verwendungen als Lexem als auch den instrumentalen Verwendungen im Rahmen der Periphrasen gerecht wird. Es wäre keine annehmbare Lösung, etwa im Fall des Verbs kommen in zur Versteigerung kommen (wo es nicht um Menschen geht, die eine Veranstaltung besuchen, sondern um die versteigerten Gegenstände) von einer mehr oder weniger zufäl-
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ligen und womöglich nur historisch gerechtfertigten Homonymie mit dem Bewegungsverb kommen zu reden. Vielmehr stehen die beiden Verben offensichtlich in einem engen Zusammenhang, den man sinnvollerweise so auffaßt, daß das Lexem unter bestimmten Umständen Relevanz für die Grammatik der Sprache erhält, d.h. grammatikalisiert wird. Wie Coseriu feststellt, ist in einem solchen Fall die Grainmatikalisierung der lexikalischen Elemente [ . . . ] jedoch nicht willkürlich: die grammatische Kraft eines Hilfselements entspricht noch immer seiner lexikalischen Bedeutung. (Coseriu 1976, S.121) Das semantische Problem dieser Verben stellt sich also auf die Weise dar, daß gefragt werden muß, wie eine lexikalische Bedeutung beschaffen sein muß, damit sie zur Übernahme instrumentaler Funktionen in einer Periphrase geeignet ist. In unserem Zusammenhang kann lediglich die Frage gestellt und eine nur sehr partikulär gültige Antwort versucht werden. Worum es geht, läßt sich an der Semantik des Verbs kommen andeuten. Nach dem Grimmschen Wörterbuch (Bd.11, Sp.1630) bezeichnet kommen eine bewegung mit hinsieht auf ihr ziel oder ende, insofern sie es erreicht oder doch danach strebt, aber angesehen eben von diesem endpunkte aus; darin liegt der unterschied von gehen. das die bewegung überhaupt, ohne rücksicht aufs ziel, oder bestimmter ihren ausgang und beginn bezeichnet, angesehen vom ausgangspunkte. Da es also um ein Bewegungsverb mit einer Spezifizierung hinsichtlich seines Ziels geht, steht bei kommen gewöhnlich eine adverbiale oder mit einer Präposition gebildete Ortsangabe, die das Ziel oder einen mit dem Verlauf des Weges und damit indirekt mit dem Ziel zusammenhängenden Bezugspunkt angibt (nach Tübingen kommen, aus der Stadt kommen, durch Stuttgart kommen, über die Grenze kommen, herkommen f herüberkommen. gelaufen kommen). Das Ziel kann auch eine Handlung sein und durch ein Verballexem ausgedrückt werden (suchen kommen. zum Suchen kommen
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oder kommen, um zu suchen). Zu diesem Gebrauch von kommen wird gesagt (Sp.1638): Kommen mit zu und infin. drückt aber noch etwas anderes aus, nicht eine absieht, sondern einen erfolg, der aber vom zufall oder von der gewalt der umstände abhängt; kommen selbst ist dabei bildlich und erscheint wieder gleich einem hilfszeitworte im dienste des zweiten Zeitwortes. Dies gilt etwa für (so) zu liegen kommen, das "zufällig (so) liegen" bedeutet. Hiermit wird auch die Redewendung zu stehen kommen verglichen, die "kosten" bedeutet, aber in dem Sinne, in dem man von etwas sagt, daß es einen viel oder wenig kostet. Eine verhältnismäßig feste Prägung ist das wird ihn teuer zu stehen kommen, wo es um einen Preis geht, den zu bezahlen der Betreffende vermutlich nicht die Absicht hat. Das Wörterbuch betont den "begriff des zufälligen, ungewollten, unerwarteten" (Sp.1645) und glossiert wir kamen durch einen wald mit den Worten "der weg brachte es so mit sich, ohne unsern willen". Ein weiteres Beispiel hierzu ist unter den Schlitten kommen, in Bezug auf jemand gesagt, der von einem Schlitten überfahren wird und dies sicherlich nicht wollte. Auf gleiche oder ähnliche Weise lassen sich auch folgende Beispiele interpretieren: Der Beamte kommt nach B. ( d . h . , er wird dorthin "versetzt") , Zu Ostern kommt meine Tochter in die Schule, der Verbrecher kommt in Haft, ins Gefängnis, ins Verhör, vor den Richter. Zu diesen Sätzen meint der Verfasser des Wörterbuchartikels: Oft ist der begriff am besten als passivisch zu fassen, gleich gebraucht werden, gethan, genommen, gegeben, gestellt, gesetzt, versetzt werden u.dgl. (Sp.1647; Sp.1645 wurde schon eine Ersetzung durch geraten empfohlen). Weitere Beispiele sind zur Welt kommen (von einem Kind gesagt) , zu sich kommen (von einem Bewußtlosen gesagt), in den Himmel kommen, ins Gerede kommen. und man kann sicherlich hier auch die Ausdrücke drankommen und an die Reihe kommen einordnen. Für andere Bezeichnungen einer Reihenfolge wie z . B . erst kam ein Wald, dann eine Wiese im Zusammenhang einer Wegbe-
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Schreibung oder ich komme zum Schluß im Zusammenhang eines Vertrags gilt das natürlich nicht. Ein Ausdruck wie "dahin kommen, daß" wird nicht "überhaupt von allem menschlichen streben, thun und treiben" ( a . a . O . , Sp.1660) gesagt, sondern zum Ausdruck des Erreichens eines Ziels gebraucht, und es wird häufig von jemand gesagt, daß er "nicht dazu kommt", etwas Bestimmtes zu tun, was so verstanden wird, daß er keine Zeit dazu hat. Dieser Ausdruck steht im Vergleich zu dem vorher beschriebenen "unfreiwilligen" kommen also näher bei der Grundbedeutung des Bewegungsverbs, und im folgenden Beispiel wird geradezu mit der Bedeutung von kommen als (auch) Bewegungsverb gespielt: Wenn er einmal ins Witzemachen kommt, kommt er nicht wieder heraus. Auf solche Beispiele t r i f f t zweifellos die Paraphrase "in einen zustand, eine läge, Stellung, Verhältnisse kommen" (Sp.1662) zu, aber es wird hier auch eine "von dingen (eig. als belebt gedacht)" ( a . a . O . , Sp.1664) gesagte Gruppe untergebracht, die nicht mehr als ungewolltes Erreichen eines Ziels verstanden werden kann. Es geht um Ausdrücke wie die Maschine kam endlich zum Stehen, zum Stillstand, die Arznei kam nicht zur Wirkung, die besten Kräfte kommen nicht zur Äußerung, die Masern sind zum Ausbruch gekommen, die Einsicht kam zum Durchbruch, die Folgen werden bald zum Vorschein kommen. Es geht hier um Funktionsverbgefüge der uns interessierenden Art. Der Vorschlag, sie als "eigentlich als belebt gedacht" zu interpretieren, muß abgelehnt werden, denn es gibt keinerlei Anzeichen dafür, daß es sich um eine Metapher handelt. Sollte es sich früher einmal um eine Metapher gehandelt haben (was uns aber auch unwahrscheinlich erscheint) , dann würde das außerhalb unseres Untersuchungsbereiches liegen. Ein vorläufiges Fazit könnte sein, daß den verschiedenen Verwendungen von kommen in Periphrasen ( d . h . nicht nur grammatischen, sondern auch lexikalischen Periphrasen) nur ein allgemeines Schema gerecht wird, das mit den zwei für das Bewegungsverb wichtigsten Bezügen, nämlich zu seinem Subjekt und zu der Ortsangabe, in Zusammenhang gesetzt werden kann. Es
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geht aber eigentlich nirgends wie beim Bewegungsverb um die planvoll eingeleitete Bewegung von einem Ausgangspunkt zu einem Zielpunkt in einem Raum. Es kommt überall nur auf das Erreichen oder Anstreben eines externen Zielpunktes an, und zum Teil kann die gemeinte Relation so allgemein aufgefaßt sein, daß sie überhaupt nur den Zielpunkt und einen vorhergehenden Wechsel betrifft, ohne daß es sich um einen Ortswechsel handeln müßte. Mit einer solchen allgemeinen Bedeutung haben wir für die instrumentale Verwendung von kommen zu rechnen. Was den Ausdruck von Unfreiwilligkeit beim Subjekt betrifft (der für das Verständnis der Semantik eines Teils der Funktionsverbgefüge mit kommen von entscheidender Bedeutung ist) , so hängt beides damit zusammen, daß es bei dem genannten allgemeinen Relationsschema gerade auf das Subjekt überhaupt nicht ankommt, sondern nur auf das lokativische Ziel. Am Subjekt könnte also Freiwilligkeit oder Unfreiwilligkeit, Personalität oder Nichtpersonalität ausgedrückt werden, und was tatsächlich ausgedrückt wird, hängt nur davon ab, welche Inhalte nicht schon anderswo (und nichtperiphrastisch) ausgedrückt sind. Zu diesem kommen. das nur die Orientierung auf ein lokativisches Ziel ausdrückt, gibt es eine Ableitung, in der das Ziel ein akkusativisches ist. Es geht um bekommen. das sich zu einem (zu etwas) kommen so verhält wie (einen Berg) besteigen zu (auf einen Berg) steigen oder (etwas) berühren zu (an etwas) rühren usw. Die Verbindung zwischen bekommen und kommen ist den Sprechern gewöhnlich gar nicht bewußt, und das kommt wahrscheinlich daher, daß bekommen mit dem Bewegungsverb kommen verglichen wird, mit dem es tatsächlich nicht viel zu tun hat, während die semantische Nähe von bekommen zu dem kommen der Periphrasen viel deutlicher ist. Wenn man alle diese semantischen Beziehungen im Auge behält, kann man auf dem Weg zum Verständnis der instrumentalen Verwendung des Lexems kommen ein wichtiges und vielleicht das entscheidende Stück weiterkommen. Man kann außerdem davon ausgehen, daß der Fall dieses Verbs nicht isoliert ist und daß sich von hier aus ein ganzes Arbeitsfeld der semantischen Beschreibung erschließt.
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1.2.
Grundannahmen und Methode
1.2.1.
Funktionelle Linguistik
Unter "Funktion" verstehen wir die einzelsprachliche inhaltliche Funktion, die bei Coseriu auch "Bedeutung" genannt wird. Die "Bedeutung" ist notwendiger Bestandteil sprachlicher Inhalte, insofern als sie verstehbar sind, und sie gehört immer einer bestimmten Sprache an. Die erste Aufgabe der funktioneilen Linguistik ist deshalb die Feststellung der einzelsprachlichen, "Bedeutung" tragenden Einheiten und, soweit es sich um Zusammengesetztes handelt, die Feststellung ihres systematischen Aufbaus. Der Gegenstand, von dem sie ausgeht, sind sinnvolle Äußerungen, die normalerweise nicht nur direkt beobachtet, sondern bereits als auf irgendeine Weise fixierte Texte untersucht werden. Man hat davon auszugehen, daß TextInhalt und Inhalt der sprachlichen "Bausteine", aus denen der Text besteht, nicht direkt übereinstimmen. Andererseits muß aber angenommen werden, daß ein Zusammenhang doch besteht und daß Texte als Einzelfälle der Anwendung einzelsprachlicher Techniken interpretiert werden können. 1.2.2. Arten von Inhalten und Arten von Bedeutungen Texte als Ergebnisse sinnvoller Äußerungen haben einen "Sinn", der nicht mit den Inhalten ihrer sprachlichen Bestandteile identisch ist. Das zeigt sich darin, daß ein Text unter Umständen "wörtlich", in seinen Bestandteilen verstanden werden kann, noch bevor auch sein "Sinn" angeben werden könnte. "Bedeutung" im strengen terminologischen Sinn wird Äußerungen nicht direkt zugeschrieben, sondern ausgehend von einzelnen sprachlichen Formen in ihnen indirekt erschlossen: Sie ist die Menge an Inhalt, die vorauszusetzen ist, wenn eine bestimmte Form einer Sprache verwendet wird und bestimmte andere Formen dieser Sprache deshalb an der betreffenden Stelle der Äußerung nicht verwendet werden. Der "Sinn" kann dann als das aufgefaßt
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werden, was diese "Bedeutungen" im Rahmen der Äußerung "bedeuten" . "Bezeichnung" ist der bei der Anwendung von Bedeutungen einer Sprache vorauszusetzende Bezug mit Mitteln der Sprache auf etwas, das außerhalb ihrer steht, auf etwas Vorzeigbares in der Erfahrungswelt oder auf einen bloßen "Denkinhalt". Mit der Bezeichnung tritt zur Sprache eine "Welt" hinzu, die als gestaltete Welt gerade erst durch Sprache erreichbar ist. Wenn die Bezeichnung als gegenständlich zu verstehen ist, so ist die Bedeutung begrifflich und entspricht der Möglichkeit von Bezeichnung. Coseriu geht vom Verhältnis zwischen Einzelsprache und Einzelanwendung aus und unterscheidet dabei nicht nur zwei, sondern drei für die funktioneile Betrachtung von Sprachen relevante Einheiten oder, wie er sagt, "Ebenen" der sprachlichen Strukturierung. Die "Ebene" der Rede entspricht dem einzelnen Anwendungsfall des Sprachsystems und andererseits der Herstellung eines bestimmten Textes, der sich mit einer bestimmten Äußerungsabsicht auf die "Welt" bezieht. Auf dieser "Ebene" hat man es also mit Inhalten zu tun, die als "Sinn", "Bezeichnung" und "Bedeutung" klassifiziert werden können. Die "Ebene" der Norm wird von Coseriu (1977b, S. 177) als "Gefüge von schon gegebenen Fakten" vom System als der "dynamischen Technik des freien sprachlichen Schaffens" und als der Ebene der funktioneilen Gegensätze unterschieden. Auf der Ebene der Norm kann man keine Inhalte erwarten, die als "Sinn" aufzufassen sind, da es nicht mehr um die einzelne Äußerung geht; dagegen können einzelne Bezeichnungsfälle sehr wohl zu Bezeichnungsklassen zusammengefaßt werden, so daß man sagen kann, daß auf der Ebene der Norm nur Inhalte vorliegen, die als "Bezeichnung" und "Bedeutung" klassifiziert werden können. Das System ist dagegen diejenige Ebene, deren Inhalte ausschließlich als "Bedeutung" zu klassifizieren sind. Die funktionelle Linguistik als die Untersuchung der einzelsprachlichen inhaltlichen Funktionen oder "Bedeutungen" hat nur das einzelsprachliche System als ausschließlich eigenen Gegenstand, während sie die Ebene des Textes gemeinsam mit
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Textlinguistik und "Linguistik der Rede" untersucht. Die Wirklichkeit der Sprache ist immer nur eine, aber eben eine vielschichtige, das Sprechen der Sprechenden. Wir können in jedem konkreten Sprechen Elemente finden, die nur individuell und an den individuellen Anlaß gebunden sind, Elemente, die nur "normal" sind, und schließlich Elemente, die im Rahmen einer im Sprechen angewandten Einzelsprache funktionell notwendig sind, und eben deshalb ist es auch möglich, aufgrund der Beobachtung von Texten Aussagen über Sprachsysteme zu machen. Man trennt dabei in jedem Fall das Übliche, die Norm, vom nur Individuellen und weiter das zur Begründung der funktionellen Oppositionen Notwendige vom nur Üblichen. Umgekehrt kann man den Standpunkt der funktioneilen Linguistik einnehmen und die Norm als (eine) Realisierung des Systems betrachten und die Rede als (eine) Realisierung der Norm. Norm und Rede werden also direkt und indirekt als Anwendungsfälle auf das einzelsprachliche System bezogen. Wenn man unter diesem Gesichtspunkt an den Inhalt eines Textes herangeht, hat man es nur insofern mit seinem Sinn zu tun, als er zur Feststellung der Bedeutungskomponente des Textes notwendig ist. Ebenso geht es nicht unmittelbar um die konkrete Bezeichnung oder um die Einbeziehung in eine Bezeichnungsklasse, sondern um das Verhältnis zwischen den Bezeichnungsfällen und den Formen einer Sprache, denn das erste Ziel dieser Linguistik ist es, Formen einer Sprache festzustellen, ihnen Systembedeutungen zuzuordnen und so die semantische Seite dieser Sprache zu erfassen. Unter dem Gesichtspunkt der Anwendung kann man also sagen, daß "Bedeutungen" individuelle und "normale" Determinationen erhalten können. Wir wollen Situationen in der "Welt" als schlechthin einmalig und individuell ansehen, sprachliche Kontexte dagegen als immer schon überindividuell und auf eine Klassifikation von Situationen bezogen. Dann können wir nämlich von situationellen und kontextuellen Determinationen sprechen. Was dem konkreten Vorkommen einer einzelsprachlichen Form in einem Text inhaltlich entspricht, läßt sich dann als die Systembedeutung mit den kontextuellen und situationeilen
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Determinationen des Einzelfalls bestimmen. Dies werden wir "Redebedeutung1' nennen. Wenn von den Situationellen Determinationen abgesehen wird, werden wir von "Normbedeutung" sprechen. Diese entspricht den Anteilen des Inhalts, an denen die Verwendung einer Form in unterschiedlichen Situationen wiedererkannt wird. Von der Systembedeutung unterscheidet sie sich dadurch, daß sie noch Determinationen durch bestimmte Kontexttypen (und dazugehörige Bezeichnungstypen) enthält. Die Unterscheidung von Normbedeutung und Systembedeutung erlaubt es, das sprachliche Wissen der Sprecher nachzukonstruieren, indem man eine kontextuell determinierte Variation von Inhalten einer Form als Erscheinung von Normbedeutungen erfaßt und auf eine gemeinsame Einheit des Sprachsystems bezieht. Diese Unterscheidung und überhaupt die Feststellung der Systembedeutung ist im Bereich der grammatischen Kategorien des Verbs besonders schwer, aber gerade deshalb auch besonders wichtig. Als Fakten der Norm betrachtet, zeigen sie häufig eine Überlagerung inhaltlicher Werte, so daß man nicht leicht sagen könnte, ob eine bestimmte Verbalform nun etwa primär aspektuelle und sekundär temporale (Norm-)Bedeutung hat oder umgekehrt. Je nach der Genauigkeit der Analyse ergibt sich so eine verhältnismäßig große Menge von "Polysemien", aber eben immer nur auf der Ebene der Norm. Wenn man die der Verbalform entsprechende Systembedeutung feststellen kann, läßt sich die Variation auf Normebene als Detailverschiedenheit auf einer gemeinsamen Grundlage auffassen, und dies scheint weitgehend den Intuitionen der Sprecher entgegenzukommen. Tatsächlich ist diese Verfahrensweise ihrem Anspruch nach nur die explizite Formulierung des Inhalts solcher Intuitionen. 1.2.3. Prinzipien der funktioneilen Beschreibung Unter dem Gesichtpunkt der Methode stellt sich der funktionellen Linguistik vor allem das Problem der Beschreibung des einzelsprachlichen Systems, während das Problem des Zugangs zu Redebedeutungen als grundsätzlich gelöst angesehen wird und für die Feststellung von Normbedeutungen das Akzeptabilitäts-
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urteil des kompetenten Sprechers und dessen eventuelle Erweiterung zu Beschreibungen des Sprachgebrauchs herangezogen werden kann. Für die funktionelle Linguistik ist nämlich alle bereits geleistete Arbeit der Beschreibung von Sprachen als Beschreibung von Sprachnormen und noch nicht von Sprachsystemen einerseits unvollständig und andererseits in unterschiedlichem Umfang in Richtung auf die Bestimmung der Sprachsysteme fortsetzbar. Grundlage der funktioneilen Methode bei der Bestimmung einzelsprachlicher Systeme ist das korrelative Begriffspaar von "Form" (oder Ausdruck) und "Funktion" (oder Inhalt), beides dem Beschreibungsziel der funktioneilen Linguistik entsprechend als einzelsprachlich verstanden. Es wird dabei angenommen, daß zwischen Formen einer Sprache und einzelsprachlichen Funktionen genaue Entsprechungen feststellbar sind, und zwar im Regelfall Eins-zu-Eins-Entsprechungen. Es ist grundsätzlich eine leicht zu bewältigende Aufgabe, auch unter den Bedingungen der Rede Formen einer Sprache zu identifizieren, und die einzelsprachliche "Funktion" ist in dem Sinne von der Form abhängig, daß sie, als Systembedeutung, keiner der in Redezusammenhängen beobachtbaren Bedeutungen genau entspricht, weil sie die Gesamtheit der Rede- und Normbedeutungen umfassen soll, und daß sie aufgrund der Annahme einer Eins-zu-Eins-Entsprechung von der einzelsprachlichen Form her erschlossen werden muß. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der "Polysemie", die nur auf Normebene vorliegt und deshalb für eine vollständig durchgeführte funktioneile Sprachbetrachtung als selbständiges Faktum gar nicht mehr vorkommt, und der "Homonymie", die sich auf Systemebene nicht auflösen läßt. Im letzteren Fall geht es um zufällige Formgleichheiten, die sich im Kontext schnell als verschieden zu erkennen geben. Das ist so bei einfachen Einheiten des Wortschatzes (vgl. der Tor und das Tor) wie auch bei Zusammensetzungen (vgl. die Arbeit kommt zur Erledigung. eine Periphrase, und die Putzfrau kommt zum Putzen und geht wieder, wenn sie damit fertig ist, eine nichtperiphrastische Verbindung).
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Die Methode, Form und Funktion in einer Eins-zu-Eins-Entsprechung zu betrachten, ist Grundlage der Oppositonsmethode, bei der Geltungsfelder für Formen und Funktionen erschlossen werden, die jeweils so weit reichen, bis man in den Geltungsbereich eines anderen Form-Funktions-Paars kommt. Das bedeutet, daß auf beiden Zeichenebenen die funktioneilen Einheiten von dem her bestimmt werden, was sie gerade nicht sind. Da es dabei nur auf die Unterschiede gegenüber den Einheiten ankommt, mit denen "Opposition besteht", lassen sich die funktionellen Einheiten des Ausdrucks und des Inhalts aus "unterscheidenden Zügen" konstruieren. Es hat sich als fruchtbar erwiesen, zwischen "direkten" und "indirekten" Oppositionen zu unterscheiden. Die "direkten" Oppositionen sind Gegensätze, die in der Anwesenheit eines einzigen minimalen unterscheidenden Zuges bei dem einen Oppositionspartner und seiner Abwesenheit bei dem anderen bestehen. Alle anderen Arten von Opposition sind als "indirekte" Oppositionen aufzufassen, und es wird angenommen, daß sie als eine in bestimmter Abfolge stehende Reihe von "direkten" Oppositionen zu verstehen sind. Das heißt, daß die "direkten" Oppositionen eine besonders einfache Art der einzelsprachlichen Struktur darstellen, daß aber auch den "indirekten" Oppositionen grundsätzlich eine Regelmäßigkeit im Aufbau, d.h. eine Struktur entspricht. "Direkte" Oppositionen sind neutralisierbar, und unter bestimmten kontextuellen Bedingungen kann das einfachere Glied das komplexere (das den minimalen unterscheidenden Zug mitenthält) ersetzen. Die Feststellung von Neutralisationen gibt deshalb wichtigen Aufschluß über die innere Struktur der einzelsprachlichen Einheiten, wie er sonst nicht möglich wäre. Unterschiedliche Häufigkeit auf Textebene kann ein Hinweis darauf sein, daß eine der verglichenen Einheiten auch Fälle von Neutralisation mitvertritt. Aber es ist klar, daß das nicht der einzige mögliche Grund ist und daß das Frequenzkriterium allein nicht sehr aussagekräftig ist. Die Feststellung von Neutralisationen bleibt deshalb auf die Beobachtung der Normbedeutungen angewiesen.
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Die Erscheinung, daß distinktive Züge unter den Einheiten einer Sprache sehr häufig mehr als einmal festgestellt werden können, ist terminologisch so gefaßt worden, daß man sagte, die betreffenden sprachlichen Fakten stehen in Korrelation, oder auch, sie bilden ein System. Letztere Ausdrucksweise hat den Nachteil, daß sie sich mit derjenigen für das System als "Ebene" der sprachlichen Strukturierung überschneidet. Aber es leuchtet ein, daß das Vorkommen von Korrelationen in Sprachsystemen davon abhängig ist, daß diese tatsächlich die Eigenschaften von Systemen haben: Ein System ist ein geordnetes Ganzes, dessen Teile nach ihrem Verhältnis zu den anderen Teilen beschrieben werden können, und ein sprachliches System ist ein geordnetes Ganzes, das aus sprachlichen Fakten und ihren gegenseitigen Relationen besteht. Wenn man sagt, daß eine Einzelsprache ein sprachliches System bildet, ist das in diesem Sinne gemeint, weil das Einzelsprachliche als die Gesamtheit der für eine Sprache möglichen Oppositionen festgestellt wird.
1.2.4.
Grammatik und Wortschatz
Die einfachen Fälle von Bedeutungen können als Bestandteile des Wortschatzes (Lexikon) einer Sprache aufgefaßt werden. In ihm sind dann alle Wörter dieser Sprache zusammengestellt, "die der unmittelbaren Gestaltung der außersprachlichen Wirklichkeit entsprechen" (Coseriu 1987, S.87). Das sind grundsätzlich die "Lexeme". Bei Coseriu entspricht ihnen die "lexikalische Bedeutung, die dem Was der Erfassung der außersprachlichen Welt entspricht" ( S . 8 9 ) . Von der lexikalischen Bedeutung wird noch unterschieden: 1) "die kategorielle Bedeutung, die dem Wie der Erfassung der außersprachlichen Welt entspricht" und die in den Lexemen mitgegeben ist oder selbständig in "Kategoremwörtern" auftritt, 2) die instrumentale Bedeutung der grammatischen Morpheme, die nur zusammen mit Lexemen oder kategoriellen Einheiten auftreten und mit ihnen zusammen die "innerstrukturelle Bedeutung (oder syntaktische Bedeutung im engeren Sinne)" tragen ( S . 9 0 ) .
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Die grammatischen Kategorien des Verbs entsprechen also der "innerstrukturellen Bedeutung", die sich erst aus einer Verbindung ergibt. Bei der Würdigung des Verhältnisses von Form und Funktion muß beachtet werden, daß als Funktion hier nur die "innerStruktureile Bedeutung" in Frage kommt, die aber auf der Seite der Form nicht direkt einem Morphem zugeordnet werden kann, sondern der Verbindung dieses Morphems mit einem (grundsätzlich irgendeinem) Lexem entspricht. Auf der Formseite stellt man nur das Morphem fest. Man kann z . B . eine koreanische Verbalform cü+ess—upnita nicht so analysieren, daß die Bedeutung "Vergangenheit" dem Morphem -ess- zugeschrieben wird, so wie die Bedeutung "geben" dem Lexem cü zugeschrieben werden kann; sondern erst die Verbindung von Lexem und Morphem ergibt eine "innerStruktureile Bedeutung", die in diesem Fall aber noch nicht "Vergangenheit" ist, sondern eine "Vorzeitigkeit" , und diese in Verbindung mit dem Assertivmorphem der Endung -upnita (die außerdem noch den "Honorativ" ausdrückt) die innerstrukturelle Bedeutung "Präteritum": cü + ess— upnita "geben" (TAXISMorphem) (assertive V y— ) Endung) "Vorzeitigkeit" v^_ / , v
"Vergangenheit" und "hörerbezogener Honorativ" Es geht auch bei der Zugehörigkeit zu einer der verschiedenen Bedeutungsarten um eine Leistung der jeweiligen Sprache und nicht um etwas, das den Sprachen von den auszudrückenden begrifflichen Inhalten aus vorgegeben wäre und nur noch abgebildet würde. Ein Inhalt kann nämlich in einer Sprache durch ein Lexem oder, als "innerstrukturelle Bedeutung", mittelbar durch ein grammatisches Instrument ausgedrückt sein, und außerdem gibt es die Möglichkeit, daß er überhaupt nicht mit den Mitteln der Einzelsprache ausgedrückt ist und sich nur auf der Ebene der Norm oder der Rede durch kontextuelle und situationeile Determination ergibt. Wenn man eine bestimmte Kategorie dem grammatischen System einer Sprache zuschreiben will, muß
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man zeigen können, daß die betreffende Sprache spezialisierte Instrumente zur Herstellung der entsprechenden innerstrukturellen Bedeutung hat. Es macht keinen grundsätzlichen Unterschied, ob die Verbindung von Lexem und grammatischem Instrument innerhalb eines Wortes stattfindet oder ob zwischen den Elementen der Verbindung eine Wortgrenze liegt. In beiden Fällen geht es um eine Verbindung von zwei Elementen und damit auch um die Möglichkeit kontextueller Determination eines Elements durch das andere. Deshalb können einfache und periphrastische Ausdrücke grammatischer Kategorien auch miteinander verglichen werden. Sie sind sich gleich als Kombinationen von Elementen, aber sie unterscheiden sich in der Art des Zusammenhalts zwischen den kombinierten Elementen, und man kann davon ausgehen, daß bestimmte innerstrukturelle Bedeutungen eher im Zusammenhang von Einzelwörtern und andere eher periphrastisch ausgedrückt festzustellen sein werden. 1.2.5. Prinzipien des funktioneilen Sprachvergleichs Die funktionelle Linguistik ist zwar auf die Einzelsprachen hin orientiert, aber sie ist eben dadurch implizit immer schon auf eine Art des Vergleichs, nämlich auf den Kontrast einer Sprache mit allen anderen Sprachen hin angelegt. Es kann aber neben diesem Grundmuster auch eine übereinzelsprachliche funktionelle Linguistik geben, die zwei Einzelsprachen miteinander kontrastiert, nachdem sie sie durch die Miteinbeziehung eines Bezeichnungsrahmens vergleichbar gemacht hat. Die Lexematik als die Untersuchung von Bedeutungsbeziehungen steht im Gegensatz zu zwei älteren Formen von Semantik, die Bezeichnungsbeziehungen untersuchen. Dabei geht die sogenannte Semasiologie von der Invariante der sprachlichen Zeichen aus und die sogenannte Onomasiologie umgekehrt von den Bezeichnungsaufgaben als Invariante. Die übereinzelsprachliche funktionelle Linguistik verwendet die Ergebnisse von einzelsprachlichen Anwendungen der funktionellen Arbeitsprinzipien und fügt ihnen einen onomasiologischen Rahmen hinzu. Dabei
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stützt sie sich auf eine Grundannahme zum Verhältnis der Sprachen zur Bezeichnung als universeller Aufgabe, daß nämlich grundsätzlich mit jeder Sprache alles gesagt werden kann. Diese Art des Sprachvergleichs entspricht den methodischen Voraussetzungen, die für eine kontrastive Linguistik erfüllt sein müssen. Die kontrastive Linguistik als einer der Zweige der angewandten Linguistik steht sehr häufig im Dienst der Fremdsprachendidaktik, und es muß deshalb in ihr um den Vergleich einzelsprachlicher Strukturen gehen. Die Ergebnisse der funktionell-linguistischen Beschreibung auf Systemebene reichen dazu noch nicht aus, weil es auf der Ebene der Systembedeutungen nur Unterschiede zwischen Sprachen geben kann. Übereinstimmungen zwischen Sprachen zeigen sich erst, wenn die Normebene in die Betrachtung einbezogen wird, und sie erlauben es, Bedeutungen verschiedener Sprachen als ähnlich, d.h. als auf vergleichbare Bezeichnungsaufgaben hin angelegt zu bestimmen. Dies ist auch das Verfahren, nach dem die Übersetzung als sprachliche Technik funktioniert. Wenn gesagt wird, daß man nicht Bedeutungen übersetzt, sondern - zunächst einmal - Bezeichnungen, so ist damit gemeint, daß der Weg nicht von einer Bedeutung direkt zur passenden Bedeutung in der anderen Sprache führt. Er muß über die Anwendung der Bedeutungen auf bestimmte Situationen führen. Da man in der kontrastiven Linguistik Einzelsprachen vergleicht und nicht nach den notwendigen Eigenschaften von Sprache überhaupt fragt, die in allen Sprachen als Universalien vorhanden sein müssen, kann man sagen, daß die zwei Einzelsprachen überhaupt nichts miteinander gemeinsam zu haben brauchen. In diesem Sinne gehören die Gemeinsamkeiten, die man doch zwischen ihnen feststellt, in den Bereich der nur empirischen "Allgemeinheit". Das bedeutet keinen geringeren Wert im Vergleich zu dem, was als notwendig und deshalb "universell" bestimmt wird, denn es ist gerade deshalb ein lohnendes Ergebnis des Sprachvergleichs, weil es nicht vorhersagbar ist.
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1 . 2 . 6 . Sprachvariation und Fragen des Korpus An die sprachlichen Daten, aufgrund deren ein Sprachsystem möglichst eindeutig erschlossen werden soll, sind gewisse Anforderungen hinsichtlich ihrer Homogenität zu stellen, die jedoch mit der in allen Sprachen beobachtbaren inneren Variation in einem Spannungsverhältnis steht. Es muß deshalb eine Unterscheidung gemacht werden zwischen der "historischen Sprache", d.h. einer Sprache, für die ihre eigenen Sprecher und die anderer Sprachen einen besonderen Namen haben ( z . B . deutsch, koreanisch, kor. hankul. "koreanische Sprache", tokile. "deutsche Sprache"), womit sie sie als besondere Einheit anerkennen, und andererseits der "funktioneilen Sprache", nämlich dem kohärenten Sprachsystem, das einem bestimmten Stück Rede zugrundeliegt. Sie ist als völlig homogenes System einer Einzelsprache zu verstehen, während umgekehrt eine "historische Sprache" immer Variation zwischen mehreren "funktionellen Sprachen" aufweist. Coseriu empfiehlt die Unterscheidung folgender Arten von innereinzelsprachlicher Variation: die diatopische zwischen regionalen dialektalen Erscheinungsformen einer Sprache, die diastratische zwischen gesellschaftlichen Gruppen ohne räumliche Ausgrenzung und die diaphasische. d.h. die stilistische Variation, insofern als sie Übergänge zwischen unterschiedlichen "funktionellen Sprachen" begründet. Für diese Arten von Variation hat Coseriu vorgeschlagen, von der "Architektur" einer Sprache (im Gegensatz zu ihrer Struktur) zu reden. Hinzu kommt noch die Erscheinung der von ihm so genannten "wiederholten Rede", also der Gesamtheit derjenigen sprachlichen Elemente, die nicht in der freien Technik der Anwendung eines einzelsprachlichen Systems entstehen, sondern in einer Gemeinschaft von Sprechern als fertig vorliegende phraseologische Bildungen bekannt sind. Hier besteht für die funktionelle Linguistik nicht so sehr die Gefahr von Verwechslungen zwischen "funktionellen Sprachen" als vielmehr die Gefahr unbegründeter Verallgemeinerungen, wenn man solche Einheiten doch
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ihrem Aufbau nach zu analysieren versucht, als ob sie Produkte einer freien Sprachtechnik wären. Der funktioneilen Linguistik muß daran gelegen sein, solche Fehlerquellen nach Möglichkeit zu umgehen, aber sie hat es nie mit einem völlig homogenen Ausgangsmaterial zu tun. Eine Sprache, die nicht wenigstens diaphasische Variation zuließe und in der man also nur mit bestimmten Gesprächspartnern in ganz bestimmten Redesituationen über bestimmte Dinge reden könnte, wäre eigentlich keine funktionierende Sprache mehr. Jedoch weisen beide Sprachen, die wir untersuchen, eine wichtige Eigenschaft moderner Gemeinsprachen mit schriftlicher Tradition auf, nämlich Standardvarianten, die gewissermaßen für die ganze "historische Sprache" stehen und es erlauben, diatopische und diastratische Variation weitgehend außer acht zu lassen. Das würde bedeuten, daß sowohl im Deutschen als auch im Koreanischen mit keinen besonderen Schwierigkeiten für die Erstellung eines brauchbaren Textkorpus zu rechnen ist. Wir haben auf jeden Fall nach einer nur durch ihre "Normalität" ausgezeichneten Sprachform gesucht und deshalb ein Korpus gewählt, das aus modernen koreanischen Romanen und ihren deutschen Übersetzungen sowie modernen deutschen Romanen und ihren koreanischen Übersetzungen besteht. Bei der Untersuchung der deutschen aspektuellen Periphrasen stellte sich aber schnell heraus, daß das Korpus nicht umfangreich genug war. Wir haben deshalb noch einige ältere nichtfiktionale Texte hinzugezogen. Es war aber nicht zu übersehen, daß auch so das Korpus noch viel zu klein war, um nach dem Zufallsprinzip, das der Arbeit mit einem Textkorpus ja zugrundeliegt, zu repräsentativen Ergebnissen zu führen. Wir ordnen aber der Arbeit am Textkorpus ohnehin nicht die Rolle zu, die sie etwa im nordamerikanischen Strukturalismus hatte, nämlich eine unanfechtbare Objektivität der Analyse zu gewährleisten, und betrachten überhaupt eine solche Objektivitätsforderung bei der Beschreibung des sprachlichen Wissens von Sprechern als gegenstandlos. Wir betrachten die Arbeit am Textkorpus als bloße technische Erleichterung gegenüber der direkten Befragung der Sprecher. Der Unterschied ist dabei nur der, daß man sich nicht auf das
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zufällige Zustandekommen von Belegen verläßt, sondern die Sprecher auf eine methodisch möglichst einwandfreie Weise dazu veranlaßt, Belege gezielt zu schaffen. Die beiden Methoden der Datenerhebung können aber zur gegenseitigen Kontrolle der Ergebnisse genutzt werden, und vor allem erlaubt erst der direkte Zugriff auf das sprachliche Wissen von Sprechern den Nachweis, daß das Ausbleiben der deutschen aspektuellen Periphrasen in den Texten auf andere als sprachsystematische Gründe zurückzuführen ist. Als Korpus haben wir eine Reihe von Texten ausgewählt, die sowohl in deutscher als auch in koreanischer Fassung vorliegen, und da uns im Fall der Übersetzung aus dem Koreanischen ins Deutsche die Gefahr von Fehlübersetzungen geringer schien als umgekehrt im Fall der Übersetzung aus dem Deutschen ins Koreanische die Gefahr nicht nur von zufälligen Fehlübersetzungen, sondern von mehr oder weniger bewußter Anlehnung an sprachliche Strukturen der Vorlage, haben wir aus dem von K.S. Kuh herausgegebenen Band Koreanische Erzählungen. Dritter Band, Gegenwart. Bonn 1986, sechs Erzählungen ausgewählt. Es handelt sich um: a: b: c: d: e: f:
Han Mal-Suk: "Regenzeit" (Kuh 1986, S.49-60), Kim Sung-Ok: "Seoul, Winter 1964" (S.61-82), Lee Mun-Yel: "Der Vogel mit goldenen Flügeln" (S.83-148), O Ceng-Hi: "Kupferspiegel" (S.149-180), Pak Kyeng-Li: "Ein Tag" (S.181-206), Lee Pem-Sen: "Sterben vorbehalten" (S.207-224).
Die koreanischen Vorlagen dieser Texte (vgl. die Quellenangaben in Kuh 1986, S.227-229) sind uns vom Herausgeber freundlicherweise zur Verfügung gestellt worden. Bei Zitaten aus diesem Korpus bezeichnet ein Kleinbuchstabe von a bis f die Erzählung und eine Zahl die Seite in Kuh (1986) oder aber ein Großbuchstabe von A bis F einen der in Kuh (1986) übersetzten koreanischen Texte und eine Zahl die Seite in den uns zugänglich gemachten Ausgaben. Außerdem haben wir Martin Waiser "Ein fliehendes Pferd. Novelle" (Frankfurt am Main, 1978), Peter Weiss "Abschied von den Eltern" (Frankfurt am Main, 1964), Heinrich Böll "Die ver-
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lorene Ehre der Katharina Blum" (Gütersloh, 1974) auf aspektuelle Verbalperiphrasen hin durchgesehen. Schließlich haben wir noch Heinrich Wölfflin, "Kunstgeschichtliche Grundbegriffe" (München 1918), Hans Carossa, "Führung und Geleit" (Leipzig 1933) und Hans Blumenberg, "Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie", in Wirklichkeiten in denen wir leben. Stuttgart 1981 (zuerst 1963 veröffentlicht) durchgesehen. Wir haben aber auf die statistische Auswertung der Ergebnisse verzichtet, da uns die Ergebnisse nicht repräsentativ genug erschienen und wir einerseits nicht die (zeitliche) Möglichkeit hatten, das Korpus sinnvoll zu erweitern, andererseits bei der Beschreibung von Sprachsystemen über eine grobe Orientierung hinaus von statistischen Erhebungen auch keinen wesentlichen Aufschluß für die tatsächlich interessanten Zusammenhänge erwarten.
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2.
Bisherige Untersuchungen zur Bestimmung der Begriffe TEMPUS und ASPEKT
2.1.
TEMPUS und ASPEKT als allgemeine Kategorie
2.1.1.
Rechtfertigung der Fragestellung
Es muß angenommen werden können, daß an den Geschehnissen, die in den Sprachen bezeichnet werden, etwas ablesbar ist, das jeweils durch die Kategorie ASPEKT des Verbs ausgedrückt werden kann, oft so ausgedrückt wird, aber offensichtlich nicht ausgedrückt werden muß. In dieser Sichtweise beginnt B. Comrie sein Buch über "Aspect" (1976) damit, daß er einfach charakteristische Beispiele aus Sprachen anführt, in denen der ASPEKT als Kategorie des Verbs vorkommt. Er verweist auf die slawischen Sprachen ("in view of the importance of data from these languages in the development of the study of aspect"), Englisch, die romanischen Sprachen und andere, "ranging from Greek to Chinese" (Comrie 1976, S.vii). Er vergleicht z . B . eine französische einfache Verbalform (il) lisait und eine englische Verb-Hilfsverb-Verbindung (he) was reading (Comrie 1976, S . 3 ) , und man kann noch eine deutsche Verb-Adverb-Verbindung (er) las gerade daneben stellen. In diesen drei Fällen wird anscheinend ungefähr der gleiche nicht nur temporale, sondern auch aspektuelle Wert ausgedrückt. Die strukturelle Semantik wehrt sich völlig zu Recht dagegen, diese drei Formen als einfach "gleichbedeutend" zu behandeln, aber es geht auch nur darum, daß sie zum Ausdruck bestimmter Situationsschemata gleich geeignet sind und ihre Stelle in einem Zusammenhang wie z.B. er las gerade, als das Telefon läutete haben können. Es ist sehr fraglich, ob es überhaupt Sprachen gibt, die ganz auf den Ausdruck des Aspektuellen an einer bezeichneten Situation verzichten. Dabei ist nicht nur an die Grammatik des Verbs zu denken, sondern auch an Wortpaare wie "suchen" und "finden", und es könnten auch andere Erscheinungen des Wortschatzes oder andere Teile der Grammatik beteiligt sein. Wenn
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man sich an die Redeweise hält, daß eine Kategorie in einer Sprache dann nicht vorkommt, wenn sie in dieser Sprache keine eigenen Ausdrucksmittel hat, bleibt von der Gemeinsamkeit der bezeichneten Aspektualität nicht viel übrig. Es ist deshalb notwendig, die zur Verfügung stehenden Bestimmungen der Kategorie ASPEKT zu betrachten, nicht um eine Forschungsgeschichte in diesem Bereich nachzuerzählen, sondern um die zugrundeliegenden Positionen festzustellen, in deren Zusammenhang der von uns verwendete ASPEKT-Begriff zu verstehen ist. Bei den betrachteten Diskussionen des Begriffs ASPEKT zeigt sich als generelle Linie, daß der ASPEKT unter den Kategorien des Verbs mit dem TEMPUS verglichen und in bezug auf die Kategorie TEMPUS beschrieben wird. So sagt Yu.S. Maslov ausdrücklich: In order to define the category of aspect we must separate it firstly from other related grammatical categories, and secondarily from non-grammatical or 'not wholy grammatical' linguistic features which express meanings identical or analogous to those expressed by the category of aspect, und The distinction between aspect and tense must be a distinction of meanings. We must therefore establish in what respects aspectual meanings resemble those of tense and how they differ from them. (Maslov 1985, S . 2 ) 2.1.1.1. Koschmieder E. Koschmieder hat ein Modell des Zusammenhangs von TEMPUS und ASPEKT vorgestellt, das den slawischen Verbalaspekt mit seinem Gegensatz von "Perfektiv" und "Imperfektiv" beschreiben und den Vergleich mit anderen Sprachen ermöglichen soll. Der zentrale Begriff seiner Aspekttheorie ist der 'Zeitrichtungsbezug ' : Die Art der Beziehung also, in die ein Tatbestand zur Zeit gesetzt wird, wenn der Sprecher durch den Sinngehalt der Aussage zwischen dem Ich und dem Tatbestand hinsichtlich der Richtung eine der beiden genannten Beziehungen herstellt, nenne ich Zeitrichtungsbezug. Dabei ist wesentlich, daß der Tatbestand als "geschehend" oder "geschehen" für das "Ich"
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("Es") S.12)
des
Subjektes
bezeichnet
wird.
(Koschmieder 1929,
Es geht also um zwei verschiedene Dinge: einerseits das objektive Faktum der von der Vergangenheit in die Zukunft verlaufenden Zeit, auf die der Sprecher sich bezieht, andererseits die subjektive Orientierung des Sprechers, entweder von der Vergangenheit in die Zukunft, d . h . , paralell zum objektiven Faktum (wenn etwas als "geschehend" dargestellt wird) oder von der Zukunft in die Vergangenheit (wenn etwas als "geschehen" dargestellt wird). Nach Koschmieder ist der ASPEKT die grammatische Kategorie zum Ausdruck dieses Bezugs, und zwar der perfektive ASPEKT für den Richtungsbezug Zukunft —> Vergangenheit und der imperfektive ASPEKT für den Richtungsbezug Vergangenheit —> Zukunft. Koschmieder sagt, daß TEMPUS auch mit Zeitlichem zu tun hat, aber auf andere Art als ASPEKT: Wird ein Tatbestand nach dem Lageverhältnis seines Zeitstellenwertes zum Sprecher als Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft bezeichnet, so wird dadurch der Tatbestand durch die Aussage zum Ich des Sprechers in Beziehung gesetzt. Es wird also der Tatbestand, zunächst ganz ohne Rücksicht auf seine Beziehung zum Subjekt, danach charakterisiert, ob sein Zeitstellenwert zum Sprecher in der Vergangenheit oder Zukunft liegt oder die Gegenwart des Sprechers in den Zeitstellenwert hineinfällt. [ . . . ] Ich nenne diese Art des Zeitbezugs also den Zeitstufenbezug. (S.14) Beide Kategorien, TEMPUS und ASPEKT, sind für Koschmieder in Beziehung auf den Zeitverlauf auf das engste miteinander verbunden: z.B. wird der perfektische Zeitbezug dabei als eine Verknüpfung des Richtungsbezugs mit dem Zeitstufenbezug angesehen.1 Worum es bei Koschmieders Aspektbegriff geht, ist also letzten Endes nur l Vgl. (S.84-85): "In einer zeitbezogenen Aussage stellt das Ich des Sprechers zwischen sich und dem Tatbestand von sich aus eine zeitliche Beziehung her, indem es den Tatbestand entweder nach der Richtung oder nach dem Lageverhältnis oder nach beidem von sich aus charakterisiert".
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ein Faktor, der eigentlich das Wesen des Zeitbegriffes ausmacht: die Bewegung, das Fortschreiten der Zeit. Hat man sich viel bemüht, die Natur der Aspekte und Aktionsarten durch graphische Darstellung ins Räumliche übertragen zu erläutern, so fehlt doch diesen Darstellungen zumeist das Wichtigste: die Verschiebung des Ich in der Zeit und die Konsequenzen, die aus dieser Bewegung zu ziehen sind. (Koschmieder 1929, Vorwort) Er verwendet dabei den Vergleich mit einer Bahnfahrt von Liegnitz nach Breslau und sagt: Wie also der (in einer Richtung) "dahinbrausende" Zug und die (in entgegengesetzter Richtung) "vorbeieilenden" Wälder, Häuser, Stationen usw. in dieser ihrer Richtungsbezogenheit zu den ständigen Requisten des Reiseerlebnisses gehören, so gehört eben diese doppelte Richtungsbezogenheit zum Zeiterlebnis des Ich, nur daß der Reisende in der Lage ist, sich an die Stelle eines unbewegten Beobachters zu versetzen und festzustellen, welche Größe bei dem Verschiebungsverhältnis die "in Wirklichkeit" in Bewegung befindlich ist, während dem Ich eine analoge Feststellung des "wirklichen" Sachverhalts unmöglich ist. (S.13-14) Wie Heger kritisiert hat, geht Koschmieder dabei von einem als rein objektiv verstandenen eindimensionalen gerichteten Zeitverlauf aus und übersieht, "daß die aus der eindimensionalen Zeitvorstellung abgeleitete Zeitlinie selbst schon geometrische Metapher der relativen »Bewegung« der Zeit gegenüber dem Zeit erfahrenden Ich ist" (Heger 1963, S . 2 4 ) . Der grundlegende Mangel bei Koschmieder ist, daß er ASPEKT und TEMPUS nicht klar unterscheiden kann: Nach Koschmieder bewegt sich das "Ich" in seinem Gegenwartsbewußtsein auf der Zeitlinie in Richtung von der Vergangenheit in die Zukunft: Was hinter dem "Ich" liegt, ist Vergangenheit, d.h. temporal und nicht aspektuell Vollendetes. Hier haben wir also eher eine weitere Definition für das TEMPUS als für den ASPEKT. Wenn auch die Berührungen beider Kategorien, TEMPUS und ASPEKT, sehr eng sind, so muß doch der prinzipielle Unterschied zwischen ihnen, der eben den ASPEKT zum ASPEKT macht, klar erkannt werden. Allerdings fehlt bei ihm eine brauchbare Definition der beiden Kategorien, auch wenn er dies durch Einführung
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der Begriffe "Zeitrichtungsbezug" und "Richtungsbezug" versucht hat. Der dahinter stehende Gegensatz von "objektiver" und "subjektiver" Kategorie ist nämlich unhaltbar. Koschmieder hat seine Theorie nicht nur auf die slawischen Sprachen, sondern auch auf das Deutsche, Englische, Lateinische, Griechische und semitische Sprachen angewandt (zur Kritik vgl. Heger 1963, S . 5 2 f ) . Aber das besagt jeweils nur, daß die beschriebenen Fakten als temporal beschrieben werden können. 2.1.1.2. Renicke Koschmieders Auffassung des ASPEKTS als Zusammenspiel von bestimmten Sachverhalten und dem psychologischen Phänomen, daß sie auf eine bestimmte Weise "gesehen" werden, hat in dem von Deutschbein und seinem Schüler Renicke vertretenen Aspektmodell eine vereinfachende und teilweise verdeutlichende Fortsetzung gefunden. Renicke sagt in seiner auf englisches und deutsches Material gestützten Arbeit "Die Theorie der Aspekte und Aktionsarten": Das Ich als das maßgebende Element beim Aspekt wird des Mitseins mit der 'Zeitlinie' entbunden und im Sinne einer Gegenüberstellung zum Tatbestand in den Status des anschauenden Alleinseins gesetzt. Und zwar liegt dieses distanzierte Gegenüber von Ich und Tatbestand, diese Stellung des Ich außerhalb der 'Zeitlinie 1 und des Geschehens, bei jedem Aspekt vor, nur im anschauenden Abstand des Ich vom Geschehen ist ein Aspekt möglich. (Renicke 1950, S.178) Allerdings zeigt es sich dann, daß die Distanzierung des "Ich" gegenüber dem Geschehen immer noch in einem temporalen Rahmen verbleibt. Denn in dem Schema, mit dem Deutschbein seine Auffassung von den Aspekten verdeutlichen will, liegt das Geschehen bzw. der "Vorgang" auf einer "Vergangenheitsebene" und das "Ich" auf einer "Gegenwartsebene11:
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E ' = Gegenwartsebene
E = Vergangenheitsebene Vorgang Die Distanz A-E entspricht dem Umfang des vergangenen Geschehens in seinem realen Verlauf, und die Distanz A '-E 1 bezeichnet offensichtlich einen Bereich, den das "Ich" beim inneren Nachvollzug von A-E einnehmen kann. Der Vorgang A-E liegt in der Vergangenheit abgeschlossen da. Von der Gegenwart aus, die in einer anderen zeitlichen Ebene liegt als die Vergangenheit, kann ich diesen Vorgang von einem Punkte E 1 betrachten, der dem Punkte E in der Vergangenheitsebene entspricht. Daraus ergibt sich der perfektive Aspekt. Ich kann aber auch den gleichen Vorgang von einem anderen Orientierungspunkt A 1 der Gegenwartsebene aus betrachten; und zwar von einem Punkte aus, der sich auf den Anfang oder die Mitte des vergangenen Vorgangs bezieht. (Deutschbein 1940, S. 76) Je nach dem auf der "Gegenwartsebene" eingenommenen Standpunkt ergibt sich für Deutschbein die Unterscheidung von drei Aspekten, einem "retrospektiven" von E 1 aus gesehen (I do not know what has happened) , einem "introspektiven" von M' (=zwischen A 'und E ' ) aus gesehen ( . . . w h a t is happening) und einem "Prospekt i ven" von A 1 aus gesehen ( . . . w h a t is going to hapRenicke übernimmt dieses Schema, nur zieht er es vor, mit den von E. Hermann 1927 eingeführten Termini den "introspektiven" imperfektiven Aspekt "kursiv" und den "retrospektiven" perfektiven Aspekt "komplexiv" zu nennen. Der Sinn dieser Zusammenstellung ist es, daß der ASPEKT, als "subjektiv", der "Aktionsart", als den möglichen "objektiven" Bezeichnungen von Phasen im Bereich von A und E, gegenübergestellt werden kann: Wir müssen uns stets im klaren darüber sein, daß es sich bei beiden Kategorien um ein Beziehungsverhältnis (im Sinne eines distanzierten Gegenüber) des, ich möchte sagen, eigenzeitlichen Phänomens 'Subjekt' zum eigenzeitlichen Phänomen Objekt 1 handelt, wobei beim Aspekt das Subjekt (=der
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Sprechende, Beobachtende, Berichtende) spontan ist, das Objekt (=objektiver Tatbestand, Handlung) aber rezeptiv, bei der Aktionsart umgekehrt. (Renicke 1950, S.183-84) Renicke macht eine merkwürdige Rechnung mit den Anteilen von Subjektivität und Objektivität a u f , in die er auch die Kategorie TEMPUS einbezieht: Um es ganz zu schematisieren, drücken wir das Quantitätsverhältnis Subjekt-Objekt in Zahlen aus, wobei sich für den Aspekt das Verhältnis 3:1 ergibt, d.h. das subjektive Element ist zu drei Vierteln beteiligt, das objektive zu einem Viertel, für das Tempus das Verhältnis 2 : 2 , d.h. das subjektve Element ist zu zwei Vierteln wirksam, die objektive Handlung ebenfalls zu zwei Vierteln, für die Aktionsart das Verhältnis 1:3, d.h. das subjektive Element ist zu einem Viertel wirksam, das objektive zu drei Vierteln. (S.188) Die Zahlenwerte für das TEMPUS ergeben sich aus folgender philosophisch gefärbten Überlegung Renickes: Das Ereignis kommt in konstant-temporaler Bewegung auf mich zu (=das temporal-objektive Element, das nur ein Teil der •Zeit 1 ist), aber es kommt gleichzeitig auf mich zu, der ich mich in 'geworfener 1 Situation zu diesem objektiv-temporalen Element befinde. Diese gleichgradige Beziehung von Ereignis und Ich ist das Tempus. (S.189) Man kann das als Beschreibung der einfachen Tempora akzeptieren, muß aber daneben auch feststellen, daß das, was Deutschbein und Renicke (und ebenso Koschmieder) als "Aspekt" beschreiben, nicht auf den ASPEKT zutrifft, sondern auf zusammengesetzte Tempora wie insbesondere das Perfekt in Sprachen wie dem Deutschen. Man kann feststellen, daß solche Formen im Vergleich zu einfachen Tempora auch semantisch komplex sind, und man kann annehmen, daß sie neben einem temporalen auch einen aspektuellen Bestandteil haben. Eine andere Lösung für die Beschreibung der zusammengesetzten Tempora ist Coserius Begriff der "Perspektive" : Je nach dem Verhältnis des Sprechers zur Handlung ist "parallele", "retrospektive" und "prospektive" Sicht möglich, und den so bestimmten Zeiträumen können (in den romanischen Sprachen) einfache Tempusformen entsprechen. Diese "primäre
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Perspektive" ist mit einer aspektuellen Nebenfunktion verbunden, und zwar die paralle Perspektive mit der eines "kursiven" Aspekts und die beiden nicht-parallelen Perspektiven mit der eines "komplexiven" Aspekts (Coseriu 1976, S . 9 4 ) . "Sekundäre Perspektive" bedeutet, daß in den durch "primäre Perspektive" bestimmten Zeiträumen noch einmal dasselbe Prinzip angewandt werden kann ( S . 9 5 ) , und eine Form wie das deutsche Perfekt läßt sich "primärperspektivisch" als "parallel" und "sekundärperspektivisch" als "retrospektiv" beschreiben. Dies hat den Vorzug, daß der ASPEKT nicht aus seinem Vorkommen in Verbindung mit dem TEMPUS bestimmt wird. 2 Zu den Aspektmodellen, die den Aspekt mit dem Tempus zusammen behandeln und drei Aspekte unterscheiden, gehört in gewissem Sinne auch das Modell des polnischen Linguisten Kurylowicz, das auch eine mögliche Überlagerung von Aspekten berücksichtigt und so zu einem viergliedrigen Bezeichnungsrahmen kommt. Auf das Englische angewandt ergibt sich folgendes Bild: I write/wrote (C)
I am/was writing (B)
I have/had written (b)
I have been/had been writing (c) (zitiert nach Dietrich 1973, S.125, mit Ersetzung der griechischen Kennbuchstaben durch lateinische) Dabei sind C als aspektneutrale Grundform, B und b als aktuelles Präsens und als Perfekt im imperfektiven und perfektiven Aspekt zu verstehen. Für c, den "indetermined aspect", wird die Bedeutung "state" genannt. Auf dieses System werden indogermanische und semitische Verbalsysteme projiziert, die oft in einer Verbalform mehrere Positionen des Systems ausdrücken (Kurylowicz 1964, S.95). Dieses System ist offensichtlich übereinzelsprachlich gemeint, aber Coseriu (1976, S.83) hält es für dem Englischen, nicht aber den romanischen Sprachen angemessen. Es ist nicht weiter entwikkelt worden, wohl weil sein Autor der Meinung war, "daß der Aspekt nicht, wie öfters behauptet worden ist, etwas für das Verbalsystem grundlegendes und elementares ist, sondern als
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2 . 1 . 1 . 3 . Heger
In seiner onomasiologisch ausgerichteten Arbeit "Die Bezeichnung temporal-deiktischer Begriffskategorien im französischen und spanischen Konjugationssystem11 (1963) geht K. Heger von der Opposition "jetzt" und "nicht-jetzt" aus, um sowohl "Zeitstufe" als auch ASPEKT als "temporal-deiktische Kategorien" zu bestimmen. Wenn [ . . . ] der Sprechende einen durch ein Verb definitorisch fixierten Vorgang auch temporal-deiktisch bestimmen will, kann er dies auf zweierlei Weise tun. Entweder wird er die Opposition von "jetzt" und "nicht-jetzt" auf sich selbst beziehen, wobei aus dem "jetzt" seine Gegenwart und aus dem "nicht-jetzt" seine Nicht-Gegenwart werden. Diese Kategorien bezeichnen wir als Zeitstufen. Oder aber, im anderen Fall, bezieht er die fundamentale Opposition auf den ausgesagten Vorgang. Das "jetzt" wird dabei zum "jetzt" des Vorgangs, der somit von innen her, das heißt von einem sich innerhalb seines Ablaufs befindenden Bezugspunkt aus dargestellt wird, und entsprechend führt das "nicht-jetzt" zu einer Darstellung des Vorgangs von einem Bezugspunkt aus, der sich außerhalb seines Ablaufs befindet. Diese Kategorien bezeichnen wir als Aspekte, und zur Benennung der in ihnen gegebenen fundamentalen Opposition benutzen wir die Termini imperfektiv und perfektiv. (Heger 1963, S.22-23) Heger nennt die beiden Aspekte, mit denen er operiert, also "imperfektiv" und "perfektiv" und beruft sich, was die Terminologie und die "bildliche Veranschaulichung der Aspektopposition" durch den Gegensatz von Innensicht und Außensicht angeht, auf das Vorbild von E. Hermann ( S . 2 3 , F n . 4 3 ) . Er sagt ausdrücklich: Die Zweizahl der Aspekte ist prinzipiell unveränderlich und kann lediglich durch die [. .. ] Interferenzen von Aspekten und Zeitstufen modifiziert werden. (S.35) Die für sich betrachtet nicht sehr einleuchtende Bestimmung des ASPEKTS als "deiktisch" ist aber offensichtlich gerade auf diese "Interferenzen" hin angelegt. D . h . , es geht wieder nicht um ASPEKT allein, sondern um ASPEKT in Verbindung mit TEMPUS: eine Verquickung der ursprünglichen Deixis mit semantischen Elementen angesehen werden muß" (Kurylowicz 1975, S.134).
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Die Zuordnung des perfektiven Aspekts auf die Zeitstufen erhält [ . . . ] einen doppelten Charakter: sie umfaßt einerseits, genau wie bei dem imperfektiven Aspekt, die zeitstufenmäßige Fixierung des bezeichneten Vorgangs und andererseits, darüberhinaus, die zeitstufenmäßige Fixierung des Standpunktes, von dem aus der bezeichnete Vorgang als perfektiv - und das heißt auf die in diesem Fall als gerichtet [. . . ] aufzufassende Zeitlinie bezogen: als abgeschlossen - gesehen ist. (S.39) Damit ergibt sich ein Schema von 3 imperfektiven und 9 perfektiven Zeitstufen. Der perfektive Bereich mit den Sichtweisen P z , Pg und Pv wird umgeordnet durch die Einführung des Begriffs der Nachzeitigkeit, d . h . , es "wird ein in die Zeitstufe X verlegter Vorgang von einer ihr gegenüber nachzeitigen Zeitstufe her als abgeschlossen gesehen (Typ Xp n x )" (S.41). Daraus wird folgendes Schema ( S . 4 3 ) gewonnen: imperfektiv
perfektiv
Zukunft
Zi
Zp nz
ZPZ
Gegenwart
Gi
Gpn