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German Pages 370 [368] Year 2003
HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN N E U E FOLGE HERAUSGEGEBEN VON JOACHIM HEINZLE UND KLAUS-DETLEF MÜLLER
BAND 100
SONJA EMMERLING
Geschlechterbeziehungen in den Gawan-Büchern des »Parzival« Wolframs Arbeit an einem literarischen Modell
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 2003
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Für Mark
Bibhografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibhothek verzeichnet diese Pubhkation in der Deutschen Nationalbibhografie; detailherte bibhografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-15100-5
ISSN 0440-7164
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2003 http.//www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Buchbinder: Geiger, Ammerbuch
Vorbemerkung
Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2000/2001 von der Philosophischen Fakultät II der Universität Augsburg als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung wurde sie geringfügig überarbeitet, aktualisiert und gekürzt. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Johannes Janota, einem hervorragenden Lehrer und Betreuer, der das Entstehen dieser Arbeit mit großem Interesse und Engagement begleitet hat. Danken möchte ich auch Prof. Dr. Edith Feistner, die vor allem während der Schlussphase meiner Dissertation eine stets interessierte und hilfreich-kritische Zuhörerin war. Prof. Dr. Werner Williams danke ich für die Übernahme des Koreferats, Dr. Gisela Vollmann-Profe für wertvolle fachliche und freundschaftliche Gespräche. Nicht zuletzt gilt mein Dank Hanno Ritter, der mir eine unschätzbare Hilfe beim Korrekturlesen war. Regensburg, im Oktober 2001
Sonja Emmerling
V
Inhalt
I.
II.
Geschlechterbeziehungen in den Gawan-Büchern: Wolframs Arbeit an einem literarischen Modell
i
Buch VII: Minne als Ursache und Lösung gesellschaftlicher Konflikte
7
1. Quellenabweichung mit System
8
2. Bearosche: eine aus den Fugen geratene Gesellschaft
III.
IV.
...
9
3. Obie und Meljanz: herzminne und ihre Folgen
12
4. Obilot als Minnedame
18
5. Kontrast als Programm
21
6. Fazit
24
Buch VIII: Antikonie und Gawan
33
1. Quellenabweichung mit System
34
2. Wolframs Figurenzeichnung vor dem Hintergrund seiner französischen Vorlage 2.1. König Vergulaht 2.2. Antikonie
36 36 41
3. Gawan als Antiheld?
50
4. Wolframs Spiel mit seinen Rezipienten: Didaxe auf Raten
56
Bücher X - X I V : Gawan und Orgeluse
65
1. Die Figur Gawans in der literarischen Tradition
66
2. Wolframs Gawan 2.1. Gawan als Ritter 2.1.1. Kampfvermeidung als Strategie 2.1.2. Kampf für die Minne 2.2. Gawan als Minnediener und Liebender 2.3. Gawan als Arzt und Heiler der Gesellschaft 2.3.1. Urjans
69 71 71 75 88 97 97 VII
2.3.2. Die Heilung Orgeluses 2.3.3. Schastel Marveile 2.4. Gawan als Landesherr 3. Orgeluse 3 . 1 . Chrétiens Orgueilleuse 3.2. Ein letztes Vorspiel: Veldekes Camilla 3.3. Orgeluse in Person 3.3.1. Widersprüchlichkeit als Ganzheitlichkeit . . . 3.3.2. Widerstand gegen patriarchale Verhaltensnormen 3.3.3. Orgeluse als Herrscherin 3.3.4. Orgeluse als Minneherrin 3.3.5. Oit triuwe Otgeiuses 3.3.6. Metamorphose: Der Wandlungsprozess Orgeluses 3.4. Orgeluses Einbindung in die Handlungsstruktur des Romans 3.4.1. Schastel Marveile 3.4.2. Orgeluses Verbindung zur Welt des Grals . . 3.4.3. Orgeluse und Parzival V.
VI.
103 110 126 129 131 133 135 135 139 142 143 148 150 153 153 154 155
Fazit: Wolframs Modell einer neuen Geschlechterbeziehung
157
1. Wolframs neue Konzeption von Weiblichkeit
157
2. Wolframs neue Heldenkonzeption
177
3. Wolframs neue Minnekonzeption
187
4. Wolframs neue Ritterethik
199
Bücher I - I I I : Provokation als Programm
209
1. Gahmuret: Held mit Leib und Seele
211
2. Frauen in den Gahmuret-Büchern: Landesherrinnen, Geliebte, Mütter
225
3. Minne: Von Freude und Leid
244
4. Gahmurets Ritterethik: Streben nach pris und ère
255
VIL Parzival-Bücher: Parzivals Weg in der Welt I. Parzival auf dem Weg zum Ritter I. I. Jeschute: Erste Schritte Parzivals in der höfischritterlichen Welt VIII
263 264 264
1.2. Die Tötung Ithers 1.3. Gurnemanz: Integration in die höfisch-ritterliche Welt 2. Von Pelrapeire nach Munsalvaesche: Vom Artusritter zum Gralkönig 2.1. Parzivals ritterlicher Kampf: Schuld und Schulderkenntnis 2.2. Parzival: Schuld und Gnade als Lebensraum des Helden
274 278 285 285 293
3. Die Minne Parzivals zu Condwiramurs: Halt in einer haltlosen Welt
298
4. Frauen in den Parzival-Büchern: Zu den Funktionen eines Ideals
311
VIII. Wolframs >Parzival< - ein Gawan-Roman?
321
Abkürzungsverzeichnis
343
Literaturverzeichnis
345
IX
I. Geschlechterbeziehungen in den Gawan-Büchern: Wolframs Arbeit an einem literarischen Modell
Seinen 2001 erschienenen Band zur Blutstropfen-Szene in Wolframs >Parzival< schließt Joachim Bumke mit der Feststellung, dass neue Fragestellungen und neue methodische Gesichtspunkte stets an der Geschichte Parzivals erprobt wurden. Dagegen seien bei der Interpretation der GawanErzählung seit fast einem halben Jahrhundert - also seit den richtungsweisenden Beiträgen von Wolfgang Mohr' - keine nennenswerten Vorstöße mehr zu verzeichnen." Und tatsächlich fand in der Folge Möhrs nur eine allmähliche Annäherung der Forschung an die Gawan-Erzählung statt:^ Inhaltlich dominierten in den 60er Jahren zunächst Beiträge, in denen die beiden Protagonisten Parzival und Gawan einander gegenüber gestellt wurden,4 seit den 70er Jahren beschäftigte sich die Forschung vor allem mit Detailfragen sowie mit einzelnen Romanfiguren.' In den 80er und 90er Jahren fiel das Interesse der mediävistischen Literaturwissenschaft unter anderem auf Fragen der beiden im >Parzival< skizzierten Gesellschaftsordnungen.^ Daneben gewinnt seit einigen Jahren ein Themenkomplex an Bedeutung, der erstmals seit den Beiträgen Wolfgang Möhrs eine völlig neue Perspektive für die Interpretation der Gawan-Bücher er-
' Mohr: Parzival und Gawan. Ders.: Obie und Meljanz. Ders.; Landgraf Kingrimursel. Ders.: Z u den epischen Hintergründen in Wolframs >ParzivalRider< and as >KnightEneasroman< Heinrichs von Veldeke sowie die Artusromane Hartmanns von Aue können hier - zusammen mit ihren französischen Vorlagen - als wichtige Vorreiter gelten. Wolfram von Eschenbach geht noch einen Schritt weiter: In seinem >Parzival< avanciert das Experimentieren mit unterschiedlichen Konzepten von Weiblichkeit und Männlichkeit sowie deren Zusammenwirken zum dominierenden Thema einer Erzählsequenz, die fast die Hälfte des Romans umfasst: der Gawan-Bücher.
^ V g l . dazu Bumke: Geschlechterbeziehungen in den Gawan-Büchern. Ders.: Wolfram von Eschenbach, S. 1 1 3 - 1 1 8 . Bemerkenswert ist dabei, dass B u m k e dem Themenbereich >Geschlechterverhältnis< erst in der 7. A u f l a g e ( 1 9 9 7 ) seiner Einführung in Wolframs Werk ein eigenes Kapitel widmet (ebenso wie er in die 5. A u f l a g e von 1 9 8 1 ein Kapitel mit gesellschaftsorientierten Fragestellungen aufgenommen hatte); hierin zeigt sich erneut, dass die regelmäßigen Neuauflagen des Einführungs-Bandes selbst ein Stück Wissenschaftsgeschichte darstellen. Ebenfalls zum T h e m a Geschlechterbeziehungen im >Parzival< erschien 1 9 9 2 die Dissertation von Kleber: »Die Frucht der Eva und die Liebe in der Zivilisation. Das Geschlechterverhältnis im Gralsroman Wolframs von Eschenbach«. Klebers N e i g u n g zur »nachdichtenden Interpretation« (S. 9) liefert allerdings kaum verwertbare Ergebnisse. J ü n g s t erschien ein Beitrag von Dimpel: Orgeluse-Gawan-Handlung. Dimpels These ist vielversprechend: Er argumentiert, dass die verstärkte Handlungskompetenz der Minneherrin in den Gawan-Büchern den Widerstreit löse, den die Ansprüche von Minne und Rittertum an den Ritter stellen. Leider hat D i m p e l in dem kurzen Beitrag nicht den R a u m , seine These überzeugend zu belegen. ® V g l . dazu Gaunt: Gender and Genre in medieval French literature. Gaunt konkretisiert die Tatsache, dass die Konstruktion von Gender ausschlaggebend für die Zuordnung von Texten zu bestimmten Gattungen ist, indem er belegt, dass in den chansons de geste Männlichkeit »monologisch« konstruiert ist, also in Relation zum gleichgeschlechtlichen Gegenüber, im höfischen Roman dagegen »dialogisch«, d . h . Männlichkeit wird in Relation zu Weiblichkeit konstruiert.
Obwohl die Gender-Forschung^ in den letzten Jahren den Blick verstärkt auf die literarische Konstruktion von Geschlechterverhältnissen gerichtet und damit die Notwendigkeit einer integrativen Erforschung der Geschlechterrollen betont hat, fielen die Impulse dieser neuen Forschungsrichtung auf die mediävistische Germanistik eher gering aus.'° Dem häufig vorgebrachten Einwand, Gender als eine »moderne« Analysekategorie könne auf die Gefahr der Projektion hin auf mittelalterliche Texte nur schwer angewendet werden, widerspricht jedoch - das zeigen die GawanBücher des >Parzival< par excellence - gerade die starke inhaltliche Präsenz des Themas in den Texten selbst." Hinzu kommt, dass die Auseinandersetzung mit der zwischengeschlechtlichen Liebe und dem Verhältnis der Geschlechter zueinander nicht nur auf der Ebene der Literatur stattfand, sondern sich auf alle Denkund Lebensbereiche erstreckte. Walter Haug hat unter Verwendung des Diskursbegriffsversucht, die »spezifischen Denkformen und Sprechweis e n « ü b e r die geschlechtliche Liebe im Mittelalter und in der frühen ® D i e Gender-Forschung hat sich aus der literaturwissenschaftlichen Frauenforschung entwickelt beziehungsweise diese abgelöst (vgl. dazu Osinski: Einfuhrung in die feministische Literaturwissenschaft, S. 1 2 5 - 1 3 7 sowie Hof: Die Entwicklung der Gender Studies). Z u den methodischen Prämissen der Gender-Forschung gehört unter anderem, dass sie sich - ausgehend von der kulturellen Konstruiertheit von Geschlechterrollen - nicht nur mit Frauenbildern beschäftigt, sondern auch mit Konzepten von Männlichkeit und vor allem mit dem Verhältnis der Geschlechter zueinander. In der feminstisch orientierten mediävistischen Literaturwissenschaft beschränkt man sich nach wie vor hauptsächlich auf die Erforschung mittelalterlicher Frauenbilder. V g l . dazu auch die Beiträge von Bennewitz: Mediävistische Germanistik und feminisitische Literaturwissenschaft. Versuch einer Positionsbestimmung. Sowie: Vrowelmagetlubeles wtp. Alterität und Modernität mittelalterlicher Frauenbilder in der zeitgenössischen Rezeption. Und: Der К о ф е г der Dame. Zur Konstruktion von >Weiblichkeit< in der deutschen Literatur des Mittelalters. ' ' V g l . dazu Gaunt: Gender and Genre in theoretical idea is firmly lodged in the a desire to negotiate and to renegotiate many texts. Without having a theory through their practice.« "
medieval French literature, S. 288: »Gender as a political unconscious of medieval culture in that what masculinity and femininity are underscores of gender, the texts themselves theorize gender
Haug verwendet den Begriff >Diskurs< sehr weit gefasst »im Sinne einer je spezifischen Argumentationstradition, in der sich die Behandlung eines thematischen Komplexes über eine bestimmte Zeit hin ausfaltet.« (Haug: Der Tristanroman im Horizont der erotischen Diskurse des Mittelalters und der frühen Neuzeit) Haug lehnt sich damit an den Diskursbegriff Foucaults an (vgl. Foucault: Archälogie des Wissens, S. 156. Außerdem: Frank: Z u m Diskursbegriff bei Foucault. Link / Link-Heer: Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse. Kammler: Historische Diskursanalyse), ohne jedoch den gesamten theoretischen Uberbau der historischen Diskursanalyse für seine Untersuchung zu beanspruchen. Im Folgenden wird der Diskursbegriff nach der Definition Haugs verwendet.
' ' Haug: Der Tristanroman im Horizont der erotischen Diskurse des Mittelalters und der frühen Neuzeit, S. 1 1 .
Neuzeit zu systematisieren. Er unterscheidet sieben Diskurse: den kirchlich-kanonistischen, den medizinischen, den feudalen, den philosophischtheologischen, den höfisch-literarischen, den burlesk-komischen und den theoretisch-didaktischen Diskurs. Was den höfisch-literarischen Diskurs neben inhaltlichen Spezifika von den anderen Liebesdiskursen unterscheidet, lässt sich unter zwei Aspekten zusammenfassen, denen in der Forschung bisher kaum Beachtung geschenkt wurde: dies ist zum einen die Heterogenität und zum anderen der experimentelle Charakter der in den Texten skizzierten Argumentationsmuster. Die Heterogenität ist auf die Vielfalt der Gattungen zurückzuführen, die der höfisch-literarische Diskurs nach der Definition Haugs umf a s s t . D e r experimentelle Charakter der Entwürfe wiederum hängt eng mit der Entdeckung der Fiktionalität im 1 2 . Jahrhundert zusammen:'' Die höfische Literatur schafft sich den Freiraum, Entwürfe zwischengeschlechlicher Liebe durchzuspielen, die sich kaum mit den lebensweltlichen Konzepten des 1 2 . und 1 3 . Jahrhunderts berühren, wie sie beispielsweise im kirchlichen und im feudalen Diskurs thematisiert werden. Die Literatur wird also zum »Medium für ein Durchspielen bloß denkbarer Möglichkeiten«,'^ und das fuhrt neben der inhaltlichen Relevanz von Geschlechterbeziehungen im Rahmen höfischen Erzählens zu einem zweiten Aspekt, der aufschlussreich für eine Neuinterpretation der Gawan-Bücher in Wolframs >Parzival< ist: Es handelt sich bei der höfischen Literatur, das legt bereits die Diskursdefinition Haugs nahe, nicht um poetische Entwürfe individualistischer Dichter für einen individualistischen Rezipienten, sondern um eine »öffentliche« Auseinandersetzung mit variierenden Denk- und Argumentationsschemata, und zwar sowohl mit denen »benachbarter« Geschlechterdiskurse als auch mit denen der unmittelbaren literarischen Tradition. Nachdem sich der höfische Roman mit den Werken Chrétiens de Troyes, Heinrichs von Veldeke und Hartmanns von Aue als Textsorte und Die Minnelyrik wird von Haug hierunter ebenso subsumiert wie der Artusroman und der Minneroman. An diesem Spektrum wird deutlich, dass sich nicht nur die Geschlechterkonzeptionen der verschiedenen Diskurse erheblich voneinander unterscheiden, sondern auch die Geschlechterkonzepte, die innerhalb des höfisch-literarischen Diskurses in verschiedenen Gattungen aufgerufen werden. Eine Auseinandersetzung mit Geschlechteroder Liebeskonzeptionen der höfischen Dichtung muss somit stets unter Berücksichtigung des jeweils gattungsspezifischen Kontextes stattfinden. ' ' Vgl. dazu vor allem zwei Beiträge von Haug: Die Entdeckung der personalen Liebe und der Beginn der fiktionalen Literatur. Sowie: Tristan und Lancelot. Das Experiment mit der personalen Liebe im 1 2 . / 1 3 . Jahrhundert. Haug: Die Endeckung der personalen Liebe und der Beginn der fiktionalen Literatur, S. 239.
damit als Redemodus über Geschlechterbeziehungen etabliert hatte'^ mit der nunmehr natürlich auch gewisse Rezeptionserwartungen verbunden waren - , stellte fur Wolfram das Thema Geschlechterbeziehungen als textuelles Konstrukt das Medium dar, anhand dessen er sich mit den Konzepten seiner Zeitgenossen auseinandersetzt. Eine Analyse der von Wolfram dargestellten Geschlechterverhältnisse verspricht also nicht nur auf thematischer Ebene ein tieferes Textverständnis, sondern ermöglicht darüber hinaus einen Blick darauf, wie Wolfram am höfisch-literarischen Diskurs seiner Zeit teilnimmt und ihn entscheidend mitprägt. Vor diesem Hintergrund können die Männlichkeits- und Weiblichkeitskonzeptionen in der Gawan-Erzählung zum Teil als diskursiv erzeugt, zum Teil als Ergebnis einer bewussten und produktiven Auseinandersetzung Wolframs mit der unmittelbaren literarischen Tradition angesehen werden. Die vorliegende Untersuchung legt ihr Hauptaugenmerk auf den zuletzt genannten Aspekt. Dabei ist maßgeblich, dass Wolfram sich von den Geschlechterkonzepten der Romane Heinrichs von Veldeke, Chrétiens de Troyes und Hartmanns von Aue nicht abgrenzt, indem er schlicht einen Gegenentwurf gestaltet. Vielmehr inszeniert Wolfram eine weit ausgreifende Diskussion über die Beziehung zwischen Ritter und höfischer Dame und deren Funktion fur die höfische Gesellschaft, in welcher er immer wieder die literarischen Modelle seiner Zeitgenossen zitiert, um sie schließlich an einigen, meist zentralen Punkten zu verändern und neue Akzente zu setzen. Charakteristisch für Wolframs Entwurf einer Geschlechterbeziehung ist das Zusammenwirken von vier Konstituenten höfischer Geschlechterliebe, die der >ParzivalEneasroman< Heinrichs von Veldeke werden dabei als intertextuelle Vergleichsfolie in die Analyse miteinbezogen. Im Zuge eines detaillierten interpretatorischen Durchgangs durch die Gawan-Erzählung wird über die Interpretation einzelner Figuren- und Interaktionskonzeptionen hinaus auch die Frage nach Bedeutung und Funktion von Wolframs Gestaltung der Geschlechterbeziehungen für eine umfassende Neuinterpretation der Gawan-Erzählung gestellt werden. In einem zweiten Schritt wird schließlich Wolframs Modell einer neuen Geschlechterbeziehung, das sich aus der Analyse der Gawan-Erzählung bestimmen ließ, an den Gahmuret- und an den Parzival-Büchern überprüft: Wie gestaltet Wolfram die zwischengeschlechtlichen Beziehungen in diesen beiden Erzählsequenzen und in welchem Zusammenhang stehen die Entwürfe dort mit dem Modell der Gawan-Bücher? Abschließend wird die Bedeutung der gewonnenen Ergebnisse für eine Gesamtinteφretation des >Parzival< geklärt, wobei speziell der bislang in der Forschung unterschätzte Stellenwert der Gawan-Erzählung Anlass zu einer Neubewertung des Gesamtromans liefert.
Hier hat es sich in der Forschung eingebürgert, für den Artusroman Chretien-Hartmann'scher Prägung den Begriff des >klassischen Artusromans< zu verwenden. In diesem Sinn wird der Begriff auch in der vorliegenden Arbeit Anwendung finden.
п . Buch VII: Minne als Ursache und Lösung gesellschaftlicher Konflikte
In Wolframs von Eschenbach >Par2Ìval< finden sich auffallend viele Minnebeziehungen. Wolfram lässt dabei Mann und Frau in den unterschiedlichsten Konstellationen aufeinander treffen. Enttäuschung, Trauer, Wut und Zorn haben dort ebenso ihren Platz wie Liebe, Hingabe, unwandelbare triuwe und Freude. Während jedoch in den Parzival-Büchern die Geschlechterbeziehungen eine Art Hintergrund bilden, vor dem sich der Weg Parzivals mit seinen eigenen Motiven und Schwerpunkten abzeichnet, bildet das Mit- und Gegeneinander von Ritter und höfischer Dame das Hauptthema der GawanBücher.' Hier schafft Wolfram sich den Raum, mit unterschiedlichen Entwürfen von Geschlechterbeziehungen zu experimentieren, und leistet damit einen bedeutenden Beitrag zum höfisch-literarischen Minnediskurs seiner Zeit. Das zentrale Element innerhalb der von Wolfram dargestellten Beziehungen ist die Minne als gesellschaftlich orientiertes Konzept der Geschlechterbeziehung, die - isoliert betrachtet - eher als feindliche Macht gezeichnet wird. Vor allem in der Erzählung um den Artusritter Gawan verdeutlicht der Dichter, welche Handlungsspielräume der Mensch in der Auseinandersetzung mit der Minne hat. J e nachdem, wie Mann und Frau diesen Freiraum nutzen, kommt es zur Stabilisierung oder zur Zerstörung gesellschaftlicher Strukturen und Lebensräume. Wolframs Hauptaugenmerk liegt also auf der gesellschaftlichen Relevanz von Geschlechterverhältnissen. Bereits mit dem Auftakt der Gawan-Erzählung in Buch VII stehen zwei Minnebeziehungen im Mittelpunkt, die sämtliche Motive und Konstellationen der folgenden Gawan-Bücher präfigurieren. Anhand dieser beiden Minnepaare spielt Wolfram einmal exemplarisch das Aufkeimen gesellschaftlicher Konflikte durch Minne, die Wurzeln, die Konsequenzen und mögliche Lösungen dieser Konflikte vor. Hierbei fällt auf, dass Wolf-
Der hohe Stellenwert, den das Thema Geschlechterbeziehungen innerhalb der GahmuretBücher einnimmt, ist - wie zu zeigen sein wird - in engem Zusammenhang mit den Gawan-Büchern zu sehen.
ram im Vergleich zu Chrétien völlig andere Akzente setzt. Wolfram fugt hinzu, ändert ab, wertet um. Er tut das nicht etwa willkürlich, sondern wie sich zeigen wird - streng funktional.
I. Q u e l l e n a b w e i c h u n g m i t System Bei Chrétien de Troyes ist Gauvains Aufenthalt in Tintaguel (bei Wolfram Bearosche) mit der Episode um Meliant, Tibaut und seine beiden Töchter eine locker erzählte Zwischenepisode, deren Funktion vor allem in der Einfuhrung Gauvains als eines vorbildlichen und kampftüchtigen Ritters liegt. Chrétien gestaltet weder den Minnekonflikt zwischen Meliant und Tibauts älterer Tochter, noch den politisch-lehnsrechtlichen Konflikt zwischen Lehnsherr und Vasall aus. Er lässt zwar beide Themen anklingen, doch sobald sich das Geschehen vom Haupthelden der Episode, Gauvain, wegbewegt, wendet Chrétien seinen Blick von den übrigen beteiligten Figuren ab. Sein Interesse gilt allein dem Artusritter." An einer Darstellung von gesellschaftlichen Konflikten sowie der Kritik am traditionellen höfischen Minne-Aventiure-System war dem > Perceval·-Dichter nicht viel gelegen. Wolfram verfährt anders. Er greift das Grundgerüst Chrétiens zwar auf, gestaltet aber eine filigrane Welt, die lebt und sich entfaltet. Dabei gilt sein Interesse nicht nur dem Artusritter Gawan; Figuren, die in Tintaguel als Statisten im Hintergrund bleiben, werden in Bearosche zu Protagonisten. Wolfram beschreibt Einzelschicksale und nährt seinen Roman aus dem Handlungsspielraum jeder seiner Figuren. Insgesamt lassen sich die Abweichungen Wolframs von seiner französischen Vorlage unter zwei sowohl inhaltlich als auch funktional bedeutenden Gesichtspunkten zusammenfassen: Zum einen reichert Wolfram die von Chrétien leichthin erzählte Episode mit Konfliktstoff an. Mit sicherem Gespür fur die funktionale Wertigkeit der im Keim angelegten Konflikte schöpft Wolfram dieses Potenzial bis zum Letzten aus und macht es sich nutzbar. Zum anderen rückt er das Thema Minne in den Mittelpunkt der Erzählung und akzentuiert beide Minnebeziehungen der Episode von Grund auf um. Im Fall Gawan-Obilot weitet er sie sogar entschieden aus. Mohr: Obie und Meljanz, S. 265, stellte seinerzeit humorvoll fest: »Alles, was erzählt wird, bezieht sich streng funktional auf den Helden. Das führt in dieser Geschichte so weit, daß Meliant, nachdem er von Gauvain beinüber vom Pferde geworfen wurde, auf dem Turnierplan liegen bleibt, und wenn er nicht aufgestanden ist, so liegt er da noch heute.«
Wolfram arbeitet dabei mit Analogien und Kontrasten und bereitet so seine Vorstellung von Minne vor, die er im Verlauf der Gawan-Bücher entfalten wird.
2. Bearosche: eine aus den Fugen geratene Gesellschaft Z u Beginn des VII. Buches reitet Gawan, ohne es zu wissen, mitten in eine entzweite Welt hinein. Wolfram macht noch vor Einsetzen der Handlung anhand mehrerer Details auf die angespannte Situation vor Bearosche aufmerksam.' In den schillerndsten Farben beschreibt er als Auftakt die Heereszüge von Poydiconjunz und Meljanz ( 3 4 1 , 1 6 - 3 0 ) . Besonders auffällig ist allerdings, dass der Erzähler sein Augenmerk nicht auf den Prunk und die repräsentativen Seiten des Heeres lenkt, sondern Soldatendirnen und Landstreicher in den Mittelpunkt seiner Beschreibung stellt. Ohne Zweifel verleitet er damit seine Rezipienten zu einer Wertung über die Heereszüge des Poydiconjunz und des Meljanz, ohne selbst die Situation wertend zu kommentieren. Verstärkt wird dieser Effekt durch die Beteiligung des Frauenschänders Meljakanz an der Schlacht: Er kämpft auf der Seite des Meljanz. Zimmermann"* sieht in der Beschreibung des Heeres wie auch in der Beteiligung des Meljakanz ein Symptom für die sich erst später erschließende Unordnung, Disziplinlosigkeit und Rücksichtslosigkeit sowohl des Heeres als auch der Gesellschaft, auf die Gawan treffen wird. Auch an einer zweiten Stelle des VII. Buches zeigt sich, dass die gesellschaftliche Ordnung in Bearosche aus den Fugen geraten ist: Während der Knappe bei Chrétien die Fragen Gauvains ohne Zögern beantwortet, muss Gawan erst seine Aufrichtigkeit beteuern, bevor er Auskunft bekommt. Der stockende Beginn des Gesprächs zwischen Gawan und dem dienstfertigen Knappen zeugt davon, »wie stark das Zusammenleben von Menschen, die in das von dem Konflikt zwischen Meljanz und Lippaut geprägte Geschehen hineingezogen werden, >gestört< ist. Die Menschen begegnen einander nicht aufgeschlossen und unvoreingenommen, sondern mit Mißtrauen.«' Auch das Motiv des Zwistes unter denen, die eigentlich ' Natürlich ist allein der Aufzug eines Heeres ein unmissverständliches Zeichen fur eine bevorstehende Auseinandersetzung. Doch dieser Hinweis scheint Wolfram - anders als Chrétien, der das Auftreten des Heeres mit einem Satz abhandelt (Pere. 4 8 1 6 - 4 8 1 8 ) - nicht zu genügen. Er will auf mehr hinweisen als nur auf eine alltägliche Auseinandersetzung, die mit Waffengewalt ausgetragen wird. Ihm kommt es darauf an, die Wahrnehmung seiner Rezipienten für eine tiefer gehende Störung der höfisch-ritterlichen Welt zu schärfen. Zimmermann: Kommentar, S. 46. ' Zimmermann: Kommentar, S. 50.
zusammenhalten sollten, klingt bereits in den Äußerungen des Knappen an, der - obwohl sehr dienstbeflissen und seinem Herrn aufs Treuste ergeben - die Anführer des eigenen Heereszuges kritisiert: >des vordem hers pfligt ein man der wol mit scharpfen strîten kan, der künec Poydiconjunz von G ors: der füert mane wol gewâpent ors. Meljanz ist stns hruoder suon: si kunnen bêde hkhvart tuon, der junge und ouch der aide. daz es unfuoge walde! Sus hât der zorn sich für genomen, daz bêde künege wellent komn für Bêârosche, dà man muoz gedienn mit arbeit wtbe gruoz. vil sper muoz man da brechen, bediu hurtn und stechen. < (348,23-349,6) In diesem Zusammenhang ist wichtig zu erwähnen, dass die jungen Ritter im Heer des Meljanz auf der Seite Lippauts stehen und vom K ö n i g , offensichtlich als Preis fur die Schwertleite, zum K a m p f gegen ihren Fürsten verpflichtet wurden ( 3 4 8 , 7 - 2 2 ) . A l l das wirft nicht nur ein denkbar schlechtes Licht auf Meljanz und seine Verbündeten, sondern unterstreicht die Konfliktgeladenheit der Situation vor Bearosche. Die Auslösung dieser Störung des gesellschaftlichen Gleichgewichts wird durch den Bericht des Knappen in analytischer Manier beschrieben: Obie wies das Minne-Gesuch von Meljanz mit der Bemerkung ab, er müsse erst noch fünf Jahre ritterliche Ruhmestaten vollbringen, bevor sie ihm Ion in Aussicht stellen würde ( 3 4 5 , 2 9 - 3 4 6 , 1 4 ) . Wolfram wandelt nun die Reaktion des französischen Meliant entscheidend ab: Meljanz ist der Meinung, seine Dienstpflicht bereits erfüllt zu haben ( 3 4 5 , 2 7 - 2 9 ) und hält Obies Forderungen für übertrieben. Er fühlt sich in seinem Stolz verletzt und pocht auf seine ihr übergeordnete soziale Stellung. Das lässt Obie - die auf ihrer vrtheit ( 3 4 7 , 2 - 6 ) besteht - nur noch mehr erzürnen. So führen hochvart und unfuoge auf beiden Seiten zu einem K o n f l i k t , der mit Waffen ausgetragen wird. Chrétiens Meliant dagegen erscheint ganz und gar als Dienender und nicht als Fordernder:^ Wortlos folgt er den ^ Während also bei Chrétien die Geliebte Meliants allein für alle Geschehnisse in Tintaguel verantwortlich ist, betont Wolfram durch die aufbrausende Reaktion von Meljanz, dass beide Liebende für die Eskalation der Lage zur Verantwortung zu ziehen sind. Auch der Knappe hebt gleich zu Beginn hervor, dass Meljanz so auf dem falschen Weg ist ( 3 4 4 , 1 4 18). Neben der unterschwelligen Kritik, die der Erzähler fur den Zorn beider hat, fällt auf, dass ihm sehr daran gelegen ist, Obie in Schutz zu nehmen. Er verurteilt zwar auch
10
Wünschen seiner Geliebten nach ritterlicher Bewährung und macht sich, frisch zum Ritter geschlagen, an die Turniervorbereitungen (Pere. 4850— 4870). Dementsprechend kommt es bei Chrétien nicht zur Auseinandersetzung zwischen Meliant und Tibaut, womit dort auch der Konflikt zwischen Lehnsherr und Vasall ausgespart bleibt. Bei Wolfram kann nach einer solchen Zuspitzung der Situation allein ein Turnier keine Lösung herbeifuhren. Die Ausgangslage zwingt die Beteiligten geradezu, sich auf einen Ernstkampf vorzubereiten, auch wenn Meljanz selbst die Form der Auseinandersetzung zunächst offen lässt: >ez SÎ strîten oder tumei< (347,13). In den anschließenden Kampfhandlungen versäumt es der Autor allerdings, für Eindeutigkeit zu sorgen. Der Text bietet sowohl Anhaltspunkte für eine kriegerische Belagerung der Stadt als auch für ein Turnier.'' Dies lediglich als Überreste der chrétienschen Dichtung zu sehen,® in der es sich eindeutig um ein Turnier handelt,® ist anhand der sonst so gezielt eingesetzten Umgestaltung von Details durch Wolfram äußerst unwahrscheinlich. Plausibler ist die These Zimmermanns, dass Wolfram diese Widersprüchlichkeit bewusst einsetzt: Er gebe einer Auseinandersetzung, die seiner Meinung nach kriegerisch ist, einen turniergemäßen Anstrich, um Parzival, der auf der Seite von Meljanz und Meljakanz kämpft, in keinem schlechten Licht erscheinen zu lassen. Denn bei einem Turnier handelt es sich um unparteiische Kämpfe, bei denen Recht und Unrecht keine Rolle spielen.'° Es bleibt die Frage, warum Wolfram dann in diesem Punkt überhaupt von seiner Vorlage abweicht und den Konflikt in einem Ernstkampf ausgetragen haben will. Betrachtet man die bisher angesprochenen Abweichungen und Erweiterungen Wolframs in ihrer Gesamtheit, so liegt die Beantwortung dieser Frage auf der Hand: Der Dichter setzt alles daran, eine Meljanz nicht, doch setzt et sich nicht dafür ein, dessen Motive deutlich zu machen. Allein durch seine Nähe zu Meljakanz (vgl. dazu Anmerkung 37) bleibt Meljanz bis zum Schluss ein eher ambivalenter Charakter. Gibbs: Wtpltchez wthes reht, S. 1 7 3 , weist ferner darauf hin, dass die Ähnlichkeit der Namen >Obie< und >Obilot< auf die Ähnlichkeit der Charaktere schließen lässt. Obies Charakter sei nur durch die Macht der Liebe vorübergehend entstellt. Obilots Charakter antizipiere demnach die Wendung, die auch Obies Verhalten am Schluss nehmen wird. ^ Vgl. Zimmermann: Kommentar, S. 1 3 1 - 1 3 9 . ® Bumke: Wolfram von Eschenbach, S. 65. ® Chrétien betitelt die Auseinandersetzung ausschließlich als Turnier (Pere. 4833, 4864, 4870, 4893, 4 9 2 1 , 4939, 4945, 4985, 5 0 1 7 , 5037, 5 1 0 6 , 5 1 1 1 , 5 1 5 7 , 5164, 5 1 7 3 , 5 1 8 9 , 5368, 5460, 5570). Allerdings ist auch vor Tintaguel von toten Pferden und Gefangenen die Rede (Pere, j i j g f . ) . Sind dies lediglich Hinweise, dass auch dort hart gekämpft wird, oder deutet bereits Chrétien an, dass ein Umschlagen des Turniers in einen Ernstkampf nicht abwegig wäre? Zimmermann: Kommentar, S. I 3 7 f
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empfindliche Störung des gesellschaftlichen Gleichgewichts darzustellen. Ein bloßes Turnier wäre kein eindeutiges Zeichen für eine in ihrer Ordnung erschütterten Gesellschaft - wohl eher das Gegenteil. Und somit muss Wolfram Konflikte verschärfen, andere neu einführen, Details ausgestalten. Er tut dies streng funktional: U m das zu vermitteln, was er zu vermitteln vorhat, muss die Gesellschaft in Bearosche aus den Fugen sein.
3. Obie und Meljanz: herzeminne und ihre Folgen Der zweite übergreifende Gesichtspunkt, unter dem Wolfram sich von seiner Hauptquelle entfernt, ist der Bereich Minne. Er rückt diese Thematik unmissverständlich in den Mittelpunkt des VII. Buches und bereitet damit die Entfaltung seiner Minnekonzeption vor, welcher er die weiteren Gawan-Bücher widmen wird. Der Dichter führt dazu nicht einfach ein Modell für eine vorbildliche Minnebeziehung vor, sondern spielt zwei defizitäre Beziehungen durch und macht auf diese Weise um so eindringlicher deutlich, worauf es ihm ankommt. Auf die Motive und Konstellationen dieser beiden Minne-Kasus wird er später, analog oder kontrastiv, immer wieder zurückgreifen. Die Ausgangssituation vor Bearosche ähnelt derjenigen vor Tintaguel: eine Meinungsverschiedenheit unter Liebenden stiftet Unruhe. Doch dies scheint beinahe die einzige Gemeinsamkeit in dieser Episode der beiden Dichtungen zu sein. Wolfram akzentuiert die Minnebeziehung zwischen Obie und Meljanz grundlegend um. Dazu setzt er bei der psychischen Verfasstheit Obies an. Zwar erscheint auch sie als arrogant und schnippisch, doch unterstreicht Wolfram mit jedem Detail ihres Verhaltens, dass Obie kein schlechter Mensch ist, sondern dass die Minne ihre Sinne völlig verwirrt h a t . " Dabei legt Wolfram großen Wert auf die psychologische Motivierung von Obies Verhalten. Wo Meliants namenlose Geliebte zänkisch meint >Que les choses c'on a en hades / Ne sont si dolces ne si sades / Come celes que l'en compereParzivalgert ir miner minne, / wie habt ir minne an mich erholt?< (509,3of). Gawan allerdings ist sich im Gegensatz zu Meljanz seiner Pflicht bewusst. Er antwortet: >wer mac minne ungedienet hân? /[.•.]/ swem ist ze werder minne gäch, / dà hoeret dienst vor unde nach' ( 5 1 1 , 1 2 , i j f ) . Zimmerman: Kommentar, S. 6 5 - 6 7 , fuhrt den Konflikt darauf zurück, dass die beiden die Prinzipien des höfischen Minnedienstes noch nicht richtig anwenden können und obendrein auch noch ein unterschiedliches Verständnis von Dienst haben. Das Problem der Kommunikation spielt also bei der Auslösung des Konflikts eine erhebliche Rolle. Er hatte bei seinem Aufbruch am Plimizöl mehrere Schilde und Pferde mitgenommen, um für seinen Gerichtskampf ideal gerüstet zu sein. Von weitem betrachtet ist es nicht weiter verwunderlich, dass man ihn mit einem Kaufmann verwechselt. Wolfram selbst führt das später als Grund fur die Missverständnisse an ( 3 6 3 , 1 7 - 1 9 ) . Gawans lieht antlütze und höhe brüst (361,22) sind als Kennzeichen eines Helden zu werten. Vgl. Zimmermann: Kommentar, S. 146: »Sie [die höhe brust^ verspricht höhen muot, ein grazes (d.h. tapferes) Herz [...] sowie physische Stärke.« Vgl. auch 9 , 2 3 - 2 5 ; 3 5 , 2 7 - 3 6 , 1 ; 1 1 8 , 1 7 und 2 6 f , 3 1 7 , 2 6 ; 384,24; 740,8. Allein Obie ist durch ihre Liebe zu Meljanz so verblendet, dass sie den Artus-Neffen nicht sofort richtig einschätzen kann. Alle anderen sehen auf den ersten Blick, dass er ein stattlicher Ritter und tapferer Kämpfer ist:
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Herzogin Obilots Einschätzung bestätigt ( 3 5 3 , 1 3 - 1 6 ) , wird Obie unsicher. Zu deutlich tritt Gawans Stattiichkeit zu Tage. Wird dieser Ritter ihrem Geliebten etwa Konkurrenz machen und womöglich dessen Sieg verhindern? Dass ihre kleine Schwester sie jetzt auch noch auf ihre grobe Behandlung des Meljanz hinweist ( 3 5 3 , 1 7 - 2 2 ) , lässt Obie sämtliche Beherrschung verlieren: dò sprach Ohte, vor Zorne niht diu vrte, >5tn fuore ist mir unmxre. dort sitzt ein tvehselare: des market muoz hie werden guot. stn soumschrtn sint so behuot, dtns ritters, toerschiu swester mtn: er wil ir selbe goumel sîn.< ( 3 5 3 , 2 3 - 3 0 )
Durch die gezielte Dialogführung macht Wolfram die Reaktion der älteren Schwester psychologisch nachvollziehbar. Angst und Eifersucht''' verbinden sich mit einem ersten Funken Einsicht, dass ihre Rechnung nicht aufgehen und sie Meljanz unter Umständen fur immer verlieren könnte. Wut und Verzweiflung bestimmen von nun an Obies Verhalten. Sie muss Gawans Position schwächen oder ihn gar loswerden, um die Überlegenheit ihres Geliebten zu sichern. Doch zuvor verwöhnt noch einmal ein Tropfen Balsam ihre gequälte Seele: Im Verlauf der vesprte wird dem jungen Meljanz das höchste Lob zuteil ( 3 5 7 , 1 8 - 2 7 ) . Der Erzähler vergisst nicht zu erwähnen: al stn tjost in ir ougen vant / Obt dort üf dem palas (357,28-29). Angesichts des heldenhaften Auftretens ihres Geliebten und dem untätigen Herumliegen Gawans wiegt sich Obie zunächst wieder in Sicherheit und neckt die Schwester, die sich offensichtlich einen Nichtsnützigen zum Ritter erkoren hat: >nu sichswester mtn. deiswâr mtn ritter unt der dm begênt hie ungeltchiu were. der dîne wcent das wir den bere unt die bure sülen Verliesen. ander wer wir müezen kiesen.
[...] ne vos en caille onques, / Fait li sires, de sa parole. / Enfes est, niche chose fole.n'en aiez soing, / Failt li sire, que qu'ele die; / N'entendez pas a se folie. (Pere. 5 3 7 2 - 5 3 7 4 ) . Auch der Gedanke, dem fremden Ritter ein Liebespfand zu überbringen, kommt nicht von dem Kind selbst, sondern vom Vater, welcher schließlich veranlasst, dass ein Ärmel geschneidert wird. Wolframs Obilot dagegen wird von ihrem Vater mit den Worten >kum miner bete anz ende nâch< (368,21) vertrauensvoll zu dem fremden Ritter entlassen.^® Lediglich ihre Freundin Clauditte ist bei dem Gespräch anwesend. Kurz darauf ist die Freude des Vaters über den Erfolg Obilots bei Mohr: Obie und Meljanz, S. 2 8 1 . Von ErtzdorfF: Fräulein Obilot, S. 129. Zum Alter Obilots vgl. Zimmermann: Kommentar, S. 2 0 1 . ^^ »>[...] schert Euch nicht um ihr Gerede; ein Kind ist sie, ein einfältiges, dummes Ding.Kümmert Euch nicht um ihr Geplapper! < wirft da der Edelmann wieder ein; >hört nicht auf ihre Kindereien!ich wil in zeime ritter hân.< (352,24) Sie ist sich auch durchaus bewusst, was das bedeutet: >sin dienst mac hie Iones gern: / des wil ich in durch liebe wem.< ( 3 5 2 , 2 5 f ) Die Diskrepanz zum Verhalten ihrer älteren Schwester sticht sofort ins Auge. Während der Konflikt zwischen Obie und Meljanz aus einer Verweigerung sowohl von Dienst als auch von Lohn entsteht, geht Obilot von Anfang an mit einer frappierenden Selbstverständlichkeit mit den Prinzipien des höfischen Minnedienstes um. Das Verhalten ihrer Schwester kann sie nur tadeln ( 3 5 3 , 1 8 - 2 2 ) . Selbst als diese sie wenig später mit der Passivität Gawans zu necken versucht, bleibt Obilot ihrer Rolle treu und wiederholt, wie sie eine Minnebeziehung versteht: >er sol dienst gein mir kêren, / unde ich wil im freude mêren.< (358,1 if.) Was bei Chrétien nichts als ein typisches Gezänk unter Schwestern ist, ist bei Wolfram von Anfang an durch die aufrichtige Zuneigung Obilots und durch höfische Minne motiviert. Als das Mädchen sich aufmacht, um den fremden Ritter zu besuchen, ist sie sich voll und ganz im Klaren darüber, was sie will: nicht Genugtuung für die Schelte, die sie von ihrer Schwester empfangen hat,^° sondern Lohn für Dienst bieten. Die Offenheit, mit der sie alle an ihrem Vorhaben teilhaben lässt, verdeutlicht, wie sicher sie sich
^^ Mergell: Wolfram von Eschenbach und seine französischen Quellen, S. 258. Chrétiens petite damoiselle sucht Gauvain einzig aus dem Grund auf, Klage gegen ihre Schwester zu erheben. Sie verlangt Genugtuung, indem der Artusritter fflr sie auf dem Turnier antritt (Pere. 5 3 3 6 - 5 3 3 9 und 5 3 4 4 - 5 3 4 7 ) . Indem Gauvain zusagt, kommt er einzig und allein seiner ritterlichen Schutzpflicht gegenüber Schwachen und Verfolgten nach. Vgl. dazu von Ertzdorff: Fräulein Obilot, S. 129.
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ihrer Sache ist: >ich wil den fremden ritter hiten / dienstes nach Iones siten. < (368,lyf.) antwortet sie ihrem Vater auf die Frage, wohin sie gehe. Gawan empfängt die junge Dame freundlich und eröffnet sogleich das Gespräch. Er weiß, wen er vor sich hat, und seine Rede ist nichts anderes als die Fortsetzung des Dialoges, den Obilot auf den Burgzinnen begann. Nicht umsonst betont der Dichter zweimal, dass Gawan das Gespräch zwischen den Damen mit angehört hat ( 3 5 2 , 1 1 ; 3 5 8 , 1 5 f ) . Der MinneDialog zwischen Gawan und Obilot wird also bereits vor ihrem ersten Zusammentreffen eingeleitet. Somit ist es für Gawan auch nicht schwer, sofort den richtigen Ton zu treffen. Allerdings - das wird an seinen ersten Worten deutlich — »ist Gawan sich des fingierten Charakters des Minnegesprächs bewußt. Minne wird hier - von Gawan aus gesehen - zu höfischer Konvention und zu höfischem Spiel, [ . . . ] fern von der Möglichkeit echter L i e b e s e r f ü l l u n g F ü r Obilot dagegen beginnt mit diesem Gespräch der Ernst ihres jungen Lebens. Sie meint, was sie sagt: diu junge siieze clare / sprach an alle vare (369,if.). In ihren anschließenden Ausführungen wendet die junge Dame an, was sie bei ihrer meisterin gelernt hat. Anhand einer durchaus kunstvollen Personentauschmetaphorik bittet sie Gawan ûf der maze pfat um seine Dienste.^^ Sie apelliert an seinen pris, seine zuht und seine manltche site und bietet ihm schließlich für seine Hilfeleistung ihre Minne (369,29f). Die Motivation für ihre Bitte an den Artusritter ist eine ethische: ihr Vater brauche dringend Hilfe (370,4).'^ Dennoch versagt Gawan ihr seinen Dienst. Der bevorstehende Gerichtskampf in Schanpfanzun ist ihm wichtiger. U m aber auch ein Gegenargument aus Obilots eigenem Denkgebäude anzuführen, weist er sie darauf hin, dass sie ihm für seine Dienste ohnehin keinen Lohn gewähren könnte: >e daz ir minne megt gegebn, ! ir müezet fünf jär e lebn< (370,1 jf.). Somit könne überhaupt kein »Minnevertrag« zustande kommen.
Mergeil; Wolfram von Eschenbach und seine französischen Quellen, S. 257. Nellmann: Kommentar, S. 6 3 4 f , weist darauf hin, dass die Personenidentität bzw. der Personentausch »die geläufige Metapher vom Herzenstausch [überbietet].« Er fügt hinzu, dass in der Minnediskussion Vergleichbares erst im >Tristan< Gottfrieds gestaltet wird. " Anders interpretiert Zimmermann: Kommentar, S. 207: Obilot wolle mit ihrer Werberede lediglich einen Geliebten gewinnen, der ihr dient. Die Bitte um Hilfe für die Familienpartei sei »von sekundärer Bedeutung«. Diese Ansicht Zimmermanns kann ich nicht teilen. Gerade im Vergleich mit der französischen Vorlage stellt Wolfram klar die ethische Motivierung von Obilots Verhalten heraus. Natürlich genießt das Mädchen es, endlich zur Welt der Erwachsenen zu gehören und auch einen Minnediener wie ihre Schwester zu haben. Doch sie stellt diesen Dienst eindeutig unter die Funktion der Hilfe für ihren Vater und dessen Leute. Der französische Gauvain dagegen soll lediglich Meliant vom Pferd stoßen und dadurch die ältere Schwester brüskieren (Pere. 5 4 0 7 - 5 4 1 2 ) .
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Der plötzliche Umschwung Gawans durch die Erinnerung an Parzivals Abschiedsworte ( 3 7 0 , 1 8 - 2 1 ) scheint in erster Linie durch die erzähllogische Notwendigkeit einer vorherigen Ablehnung von Obilots Bitte motiviert zu sein. Nur so vermeidet Wolfram den Eindruck, Gawan warte nur auf einen Grund, sich ins Kampfgetümmel zu stürzen, wie dies bei Chrétien der Fall ist. Auch Gawans Zusage soll rein ethisch motiviert sein und außerdem unmissverständlich nicht auf einer auch noch so unterschwelligen Lohnerwartung basieren. Die Worte Parzivals und ihr Einfluss auf die endgültige Entscheidung Gawans sind deswegen sekundär motiviert und dienen dazu, den Erzählfortgang zu sichern. Rein inhaltlich betrachtet ist der Bezug zwischen Parzivals Worten und Gawans Entscheidungsnot eher unstimmig.''^ Auf dieselbe formvollendete Art wie das Gespräch begann, wird es nun von den beiden beendet. Obilot verspricht Gawan, für ihn im Kampf Schutz und Schild zu sein, woraufhin dieser sie nochmals seiner Dienstbereitschaft versichert. Mit dem Versprechen, ein kleinœte zu beschaffen, besiegelt die junge Dame den »Vertrag« und nimmt Abschied.
5. Kontrast als Programm Das Augenscheinlichste an der Beziehung zwischen Obilot und Gawan ist das formelhafte Minne-Zeremoniell, mit dem die beiden einander begegnen. Gekonnt benutzt Obilot Formeln und Bilder der höfischen Minne und geht sogar so weit, ihre Identität mit der Gawans verschmelzen zu lassen ( 3 6 9 , 1 7 - 2 6 ) . Was im Zeichen jugendlicher Unreife als unwesentliche Übertreibung interpretiert werden könnte, gewinnt vor dem Hintergrund von Gurnemanz' Ausspruch >man und wîp diu sint al ein< ( 1 7 3 , 1 ) im III. Buch an Tiefgründigkeit, lehnt Obilot sich doch an die Liebesterminologie der Minne-Ehe an.^' Auch Zimmermann: Kommentar, S. I93f., betont, dass sich die Worte Parzivals und der Gedankengang Gawans nicht entsprechen, denn dass Obilots beschützende Minne ihn in diesem ersten Kampf bestärken wird, kann er zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wissen. Auch der Ersatz Gottes durch die Liebe zu einer Frau spielen für Gawan keine Rolle, da er sein Verhältnis zu Gott an keinem Punkt der Erzählung in Frage stellt. Das Einzige, was am Ratschlag Parzivals hier für Gawan eine Rolle spielt, ist das unbändige Vertrauen, das Parzival den Frauen schenkt. Und selbst dieser Bezug hinkt, da Gawans Absage ja nicht aufgrund mangelnden Vertrauens geschah. Vgl. dazu auch von Ertzdorff: Fräulein Obilot, S. 139. ' ' Vgl. dazu auch die Fortführung von Gurnemanz' Rede: >man und wîp diu sint al ein: / als diu sunn diu biute schein / und auch der name der heizet tac. i der enwederz sich gescheiden mac: / si blüent ÛZ eime kerne gar< ( 1 7 3 , 1 - 5 ) .
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Wolfram schafft mit der Beziehung zwischen Obilot und Gawan einen spiegelbildlichen Kontrast zu dem Verhältnis zwischen Obie und Meljanz. Dieser Kontrast manifestiert sich zum einen darin, dass Gawans Verhalten unter dem Aspekt des í¿'e«jí-/ó»-Konnexes eine exakte Umkehrung von Meljanz' Verhalten darstellt: »Während dieser Idn ohne dienst wollte, kann Gawan die durch dieses Begehren entstandene problematische Situation auflösen, indem er dient, ohne Lohn zu e r w a r t e n . D i e s e Spiegelbildlichkeit wird sich im Rahmen der Gawan-Erzählung wiederholen: Bei Antikonie wird Gawan Ion erhalten, ohne ihr zu dienen, bei Orgeluse wiederum wird er lange Zeit dienen, ohne Aussicht auf Ion zu haben. Im Zusammenhang mit der Dienst-Lohn-Problematik spielt das Thema Gewalt gegen Frauen im gesamten Roman eine nicht unwesentliche Rolle. In der Gawan-Erzählung und auch im Rahmen der Episode um Bearosche ist diese Gewalt stets an eine vom Mann erzwungene Disjunktion von dienst und Idn gekoppelt. Meljanz will Obie an sich binden, ohne ihr vorher - nach Obies Einschätzung - Dienst geleistet zu haben. Als sie ihm die Erfüllung seines Minnebegehrens versagt, greift er zu den Waffen. Der Gewaltaspekt wird durch die Nähe Meljanz' zu Meljakanz^'' noch unterstrichen. Meljakanz ist den Zuhörern bereits aus dem III. Buch als Frauenentführer und Vergewaltiger bekannt. Gleich zu Beginn des VII. Buches frischt der von Gawan befragte Knappe diese Erinnerung wieder auf, indem er eine Kurzcharakteristik von Meljakanz' Minneethik gibt (343,22-26). Ohne Frage stellt die Vergewaltigung einer Frau die völlige Perversion eines nicht eingehaltenen Vertrages im Minnebereich dar. Da ein Minneverhältnis immer auf der Zustimmung beider Beteiligter basiert, muss sich allerdings auch die Frau an gewisse Regeln halten. Diesen Aspekt der höfischen Liebe hebt Wolfram am Verhalten der jungen Obilot hervor. Sie erkennt den Fehler ihrer älteren Schwester ( 3 5 3 , 1 8 - 2 2 ) und verhält sich von Anfang an genau entgegengesetzt. In all ihren Reden geht es stets darum, dass sie dem fremden Ritter Lohn für eventuelle Dienste gewähren wird (352,25f und 358,1 if.). Obie dagegen zeigt allein mit ihrer Berufung auf Galoes und Annore, dass sie Sinn und Problematik des höfischen Minnedienstes noch nicht durchschaut hat: Draesner: Wege durch erzählte Welten, S. 305. Die Nähe zwischen den beiden erschöpft sich nicht in der Ähnlichkeit ihrer Namen und der Tatsache, dass sie auf derselben Seite kämpfen. Meljanz reitet voller Stolz ein Pferd, das ihm Meljakanz schenkte. Dieser hatte es zuvor von Keye erbeutet, was ihn von vorneherein als Gegner des Artushofes kenntlich macht (als solcher ist er einem literarisch gebildeten Publikum ohnehin als Entfuhrer Ginovers aus dem >Iwein< Hartmanns von Aue bekannt; vgl. Iw. 5 6 7 8 - 5 6 8 1 ) .
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>ir Sit mir Hep (wer longent des?)
als Annôren Galbes, diu sît den tôt durch in erkôs, do sin von einer tjost verlos. < (346,15-18) Obie mag diese Anspielung als Liebeserklärung gemeint haben: Sie würde vor Kummer sterben, wenn Meljanz im Kampf sein Leben lassen müsste. »Da aber in Obies Worten und Verhalten nichts darauf hindeutet, daß sie bereit ist, alles daran zu setzen, um Meljanz vor dem Galoes-Schicksal zu bewahren, kann Meljanz nur den Eindruck gewinnen, daß Obie ihm ihre Liebesgunst ebensolange vorenthalten will wie Annera dem Galoes, d.h. daß er sie nie erhalten soll. [ . . . ] [Obie] ist offensichtlich noch nicht zu der Erkenntnis gekommen, daß sie, wenn sie Meljanz liebt wie Annore den Galoes, dabei ihn aber nicht in der gleichen Weise gefährden will wie Annore den Galoes, sich bezüglich ihrer Dienstforderungen anders verhalten muß als Annore.«^® Martin deutet Obies Anspielung als puren Hohn: »Sterbt erst für mich, dann sterbe ich auch für Euch.«^® Scheint es nicht eher so, als ob Obie in ihrer jugendlichen Unerfahrenheit den Tod des Meljanz gar nicht in Erwägung zieht? Auch Sigune hatte es mit ihrer Dienstforderung sicher nicht auf Schianatulanders Tod abgesehen. Wolfram setzt das Galoes-AnnoreSchicksal als warnendes Hintergrundmotiv ein. Indem er die Anspielung Obie in den Mund legt, betont er, auf welch gefährlichem Pflaster sie sich bewegt, ohne es zu wissen. Obilot dagegen unterstreicht ihre Schutzfunktion gegenüber ihrem Ritter: Ein Dach gegen ungelückes schär will sie ihm sein. Vor allem aber soll ihre Liebe Frieden stiften: mtn minne sol tu fride bern< (371,9)."^° Hiermit steht auch die bereits erwähnte ethische Grundlegung ihrer Bitte im Einklang. Gawans Minnedienst fur sie soll also nicht Selbstzweck sein, sondern im Dienst der Gesellschaft von Bearosche stattfinden. Ein stärkerer Kontrast zu dem Minne-Egoismus Obies ist wohl kaum möglich. Was sie und Meljanz durch ihren Jähzorn an Leid verursacht haben, soll Gawan im Dienste Obilots wieder ausbügeln. Z u diesem Zweck ist ein Kampf nicht mehr zu umgehen, allerdings stellt er nicht die endgültige Lösung des Konflikts dar. Zimmermann: Kommentar, S. 67. ^^ Martin: Kommentar, S. 289. Natürlich wird die kleine Obilot die Tragweite und Tiefe ihrer Äußerung selbst so nicht verstehen. Doch auch wenn ihr so manches Mal das genaue Verständnis dessen, was sie sagt, fehlt, so sagt sie doch Richtiges, Wahres und Gutes. Wolfram kommentiert diese Tatsache am Ende des VII. Buches mit der Bemerkung: got ûz ir jungen munde sprach (396,19). Vgl. Zimmermann: Kommentar, S.
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Ein weiterer Kontrast zwischen den beiden Paaren zeigt sich darin, wie sie miteinander umgehen. Während Obie und Meljanz ihren durchaus unhöfischen Gefühlen - Hochmut, Jähzorn und Trotz - freien Lauf lassen und dadurch das höfische Leben gefährden ,4 ' handeln Obilot und Gawan ganz betont anders. In fast übertriebener Korrektheit wahren sie die höfischen Umgangsformen. In einem ausgedehnten Zwiegespräch legen sie ihre Positionen dar, hören den jeweils anderen an und finden schließlich auch eine Lösung - nicht im Kampf, sondern im Gespräch. In Gawans Art, mit der kleinen Obilot umzugehen, ihr Verhalten nicht als kindlichen Spieltrieb abzutun, zeigt sich darüber hinaus »das erstaunlich hohe Maß an psychologischem Einfühlungsvermögen und an persönlicher Erfahrungs- und Hingabefähigkeit Herrn G a w a n s . I n Obilots Verhalten wiederum offenbart sich ihre künftige Vollkommenheit als höfische Minnedame und ihre schon in kindlichem Alter ausgeprägte wîplîche gUete
(394,12-13). Die Krönung der Obilot-Episode stellt die Versöhnung von Obie und Meljanz am Ende des VII. Buches dar. Unter der Regie der kleinen Obilot ist es ihr und Gawan möglich, den Trotz der beiden sich feindlich Liebenden zu brechen und sie wieder zusammenzuführen. Es zeigt sich, welches Verhaltensschema zum Erfolg führt: es ist dasjenige von Gawan und Obilot.^^
6. Fazit Wie aus der Analyse des VIL Buches deutlich geworden ist, setzt Wolfram in der Episode um Bearosche völlig andere Akzente als Chrétien. Während für den > Perceval