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German Pages 174 [176] Year 2004
Linguistische Arbeiten
484
Herausgegeben von Hans Altmann, Peter Blumenthal, Klaus von Heusinger, Ingo Plag, Beatrice Primus und Richard Wiese
Maníred
Consten
Anaphorisch oder deiktisch? Zu einem integrativen Modell domänengebundener Referenz
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-30484-7
ISSN 0344-6727
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2004 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. DTP: Jeanette Störtte, Köln Druck und Einband: Digital PS Druck AG, Birkach
Inhaltsverzeichnis
0 Zur Einführung
1
1 Anaphora versus Deixis: Definitions-Versuche
4
1.1 Antike Definitionen (Apollonius Dyskolus) 1.1.1 Anaphora und Deixis als Eigenschaften der Sprachverwendung 1.1.2 Zwei verschiedene Definitionslinien 1.1.3 Problemein 1.1.2
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1.2 Neuzeitliche Anaphora- und Deixis-Konzeptionen vor Bühler (1934) 10 1.2.1 Für eine graduelle Anaphora-Deixis-Unterscheidung - Windisch (1869) ...10 1.2.2 Diskursorientierte Definitionen 12 1.2.2.1 Wahrnehmungsbild - Brugmann (1904) 12 1.2.2.2 Moderne Ansätze: Kontinuität vs. Neufokussierung 16 1.3 Verweisdomänen - Bühler ( 1934) 1.3.1 Klassifizierung nach Modi des Zeigens 1.3.2 Anaphora versus Deixis 1.3.3 Problemein 1.3.2
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1.4 Deiktische Referenz und Diskursdeixis 1.4.1 Deiktische Referenz als Verwendungsweise 1.4.2 Diskursdeixis 1.4.3 Exkurs: Anaphora und Deixis als erzähltheoretisches Konzept
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1.5 Überlegungen zur Referenzdefinition 1.5.1 Statische versus dynamische Referenz 1.5.2 Referenz als Prozess im Diskurs 1.5.3 Referenz und Bedeutung - semantisch oder pragmatisch? 1.5.4 Referenz und Definitheit 1.5.4.1 Determination, Identifizierbarkeit und common ground 1.5.4.2 Identifizierbarkeit und Unikalität 1.5.4.3 Domänen-Selektion - ein einheitliches Konzept von Definitheit? 1.5.5 Definitheit, Anaphora und Deixis 1.5.6 Hörer-Referenz und Referenz-Situation
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2 Zu einem einheitlichen Modell anaphorischer und deiktischer Referenz 2.1 Formal-semantische Ansätze 2.1.1 Diskursrepräsentationstheorie (DRT) 2.1.2 Der ,Epsilon-Operator'
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VI 2.2 Indirekte Anaphora 67 2.2.1 Eigenschaften indirekter Anaphora 68 2.2.2 Mittelbare Anaphora - Behaghel (1923) 73 2.2.3 Kontiguität 76 2.2.4 „Exophora" - deiktisch oder anaphorisch? 79 2.2.5 Typen anaphorischer Verankerung 83 2.2.5.1 Graduelle Kategorisierung direkter und indirekter Anaphora 84 2.2.5.2 Zur textuellen Funktion indirekter Anaphern 101 2.2.5.3 Kurzes Fazit zur Klassifikation anaphorischer Verankerungen.... 106 2.3 Indirekte Deixis und Text-Bild-Relationen 107 2.3.1 Indirekte Deixis 108 2.3.2 Text-Bild-Relationen 113 2.3.3 Ein Wettbewerbsmodell der Interaktion zwischen Text und Nicht-Text.... 117 2.4 Das Zwei-Achsen-Modell
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3 Ausblick: Ein Experimentdesign zur Verarbeitung domänengebundener Referenz ....136 3.1 Weltwissen gegen Grammatik: Experiment zur Verarbeitung anaphorischer Personalpronomina
136
3.2 Ein Experimentdesign zum Zwei-Achsen-Modell
145
4 Zusammenfassung und Schlusswort
156
5 Literaturverzeichnis
159
0
Zur Einführung
In Köln gibt es einen Teppich-Discounter namens Teppich-Domäne und eine Kneipe namens Bierdomäne. Dies entspricht einem Domänenbegriff, demzufolge eine Domäne ein Ort ist, an dem Objekte eines bestimmten Typs zu finden sind. In der Soziologie und Soziolinguistik versteht man unter Domäne einen Ort, an dem typischerweise Situationen auftreten, die durch ein Bündel domänenspezifischer Normen geprägt sind1 (Fishman 1964, 1970; Mioni 1987). Eine treffende Übersetzung von Domäne (engl, domain) ist „Bereich", denn der jeweilige Ort wird über die Reichweite von spezifischen Regeln und Prozessen definiert.2 In die linguistische Referenzforschung wird der Domänenbegriff von Langacker (1987) in seiner „Cognitive Grammar" eingeführt als kognitive Einheit, die einen „context for the characterization of a semantic unit" darstellt (: 147). Bei Schwarz (2000a) wird der Terminus erstmals für eine Anapherntheorie verwendet. Er steht im Zusammenhang mit der schwer zu beschreibenden Schnittstelle zwischen semantischer und konzeptueller Struktur. „Kognitive Domäne" wird definiert als Verbindung von lexikalischer und daran „angekoppelter" konzeptueller Information (Schwarz 2000a: 38). „Die Bedeutung [eines Ausdrucks] stellt dabei den sprachlich relevanten Ausschnitt aus der kognitiven Domäne dar" (ebd.). Dieser Domänenbegriff ist konzipiert für die Beschreibung (direkter und indirekter) Anaphora, bei deren Verarbeitung der Hörer auf konzeptuelles Wissen zurückgreift, das durch den lexikalischen Gehalt eines Ausdrucks im Vortext aktiviert wird. Anaphorik wird daher als „domänengebundene Referenz" (Untertitel Schwarz 2000a) beschrieben. Die Anaphernforschung 3 sieht den Rezipienten anaphorischer Referenz somit in der Position des Biersuchenden, der von vornherein weiß, dass er in der Bierdomäne und nicht in der Teppichdomäne fündig werden wird (der Anaphern-Rezipient sucht nur in derjenigen Domäne nach referenz-relevanter Information, die durch einen Bezugsausdruck im Vortext definiert wird). Die sprachliche Wirklichkeit ist aber komplizierter, denn Ausdrücke domänengebundener Referenz können fast immer sowohl anaphorisch als auch deiktisch verwendet sein - der Hörer weiß also nicht von vornherein, nach welcher Art von Referenten er zu suchen hat.4 Bei deiktischer Verwendung ist die Wissensdomäne, in der referenzrelevante Information zu finden ist, nicht durch ein Element des Vortextes definiert, sondern durch außersprachliche Bestandteile der Situation; es handelt sich also um eine andere Domäne als die der anaphorischen Referenz. Während Modelle zur Rezeption anaphorischer Referenz davon ausgehen, dass der Hörer schon von Beginn des Rezeptions-Prozesses an auf eine der beiden Referenzarten beschränkt ist, muss sich der Hörer in vielen
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Z. B. der Arbeitsplatz als Domäne des Erwerbsverhältnisses, die Wohnung als Domäne der Familie, die Kneipe als Domäne des Freizeitverhaltens, sofern dieses im Biertrinken besteht. Die Anforderungen, die der Chef an den Arbeitnehmer stellt, reichen legitimerweise nicht in die Domäne der Familie hinein; die Verhaltensregeln innerhalb der Familie gelten nicht in der Kneipe. Für einen Überblick über die neuere Forschung s. 2.2.1. Ich gehe in 2.2.4 auf Ansätze ein, die (für Pronomina) eine Unterscheidung zwischen anaphorischer und deiktischer Verwendung aufgrund von Akzent für möglich (und damit für unproblematisch) halten (akzentuiert = deiktisch, nicht-akzentuiert = anaphorisch).
2 alltagssprachlichen Situationen zwischen anaphorischen und deiktischen Lesarten (und damit zwischen verschiedenen referenz-relevanten Domänen) entscheiden. Dies ist der Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Sie hat eine (überwiegend theoretische) Diskussion um die Abgrenzung von Deixis und Anaphora zum Ziel, die die Anforderungen eines Rezeptionsmodells domänengebundener Referenz nicht aus den Augen verliert. In Erweiterung von Schwarz (2000a: 37-39) verstehe ich domänengebundene Referenz als Referenz, für die - abhängig vom Situations-Typ - ein Rückgriff auf eine von mehreren Domänen erforderlich ist.5 Eine Domäne ist dann ein mentaler Bereich, der durch (sprachliche oder nicht-sprachliche) Bestandteile einer Situation aktiviert wird. Referenz-relevante Domänen konstituieren (im Verlauf des Diskurses) ein mentales Modell (bei Schwarz 2000a „Textweltmodell"), das Referenzkonzepte (oder Hinweise auf sie) enthält und so domänengebundene Referenz ermöglicht. Es wird angestrebt, Anaphora und Deixis in einem einheitlichen Modell domänengebundener Referenz zu beschreiben, weil dies die Voraussetzung für ein psychologisch adäquates Rezeptionsmodell ist, das nicht auf eine der beiden Referenzarten festgelegt ist. Die vorliegende Arbeit ist wie folgt aufgebaut: Das erste Kapitel beschäftigt sich mit Definitionen von Anaphorik6 und Deixis und Versuchen, diese voneinander abzugrenzen. Abschnitt 1.1 zeigt, dass schon antike Grammatiken die wesentlichen Defmitions-Elemente enthalten, die heute noch verwendet werden. Dabei zeichnen sich zwei (nicht völlig kompatible) Definitionslinien ab, nämlich eine, die auf dem Status des Referenten in einer Diskursrepräsentation beruht (Abschnitt 1.2) und eine, die auf der Unterscheidung von Verweisdomänen beruht (Abschnitt 1.3). In 1.4 wird auf Deixis und insbesondere Diskursdeixis eingegangen, weil in letzterem Bereich die Abgrenzung zur Anaphora besonders schwer ist. Der Abschnitt 1.5 stellt Anaphora und Deixis in den Zusammenhang der Referenz- und Definitheitsforschung. Als Fazit gelange ich zu einem hörerzentrierten Referenzbegriff, der einen notwendigen Bezug auf situatives Wissen einschließt, soweit es dem Hörer zur Verfügung steht. Dieses konstituiert die „Referenzsituation", die texuelles und nicht-textuelles Domänenwissen umfasst. Die Unterscheidung zwischen anaphorischer und deiktischer Referenz wird als Frage der Domänenselektion aufgefasst. Somit besteht ein definitorischer Rahmen für ein integratives Modell domänengebundener Referenz, dem ich mich im Kapitel 2 nähern will. In 2.1 werden zwei Ansätze aus der formalen Semantik besprochen, die eine Integration von Anaphora und Deixis für sich in Anspruch nehmen. Sodann komme ich in 2.2 zur indirekten Anaphora, einem für das Thema zentralen Konzept, das ich in 2.3 zur „indirekten Deixis" ausdehne. Bei beiden Formen indirekter Referenz ist zum einen ein Kontinuum zwischen ,Direktheit' und ,Indirektheit' auszumachen; zum anderen zeigt sich, dass Wissen aus unterschiedlichen Domänen mit wechselnden und nur graduell beschreibbaren Gewichtungen interagiert, was sich
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Ich werde im Ergebnis zwischen textueller und nicht-textueller Domäne unterscheiden (vgl. 1.5.6, 2.3.3 und 2.4). Ein Rezeptionsmodell sollte bezüglich der Auswahl der Referenzdomäne die Möglichkeit der Interaktion von Wissen aus den verschiedenen Domänen berücksichtigen, vgl. 2.3.3. Im folgenden verwende ich für „Anaphorik" zumeist den Ausdruck Anaphora, der dem griechischen Original entspricht (vgl. 1.1), dort allerdings die sprachliche Form (die Anapher) oder das Phänomen (Anaphorik) meinen kann. Für das Phänomen wird der Term schon von Windisch (1869 a,b) und - über das englische anaphora - auch in der neueren Forschung verwendet.
3 in einem Wettbewerbsmodell darstellen lässt. Der Abschnitt 2.4 fasst dies in einem Klassifikationsmodell zusammen, in dem domänengebundene Referenz als ein Kontinuum beschrieben wird, das durch die Achsen ,direkt/indirekt' und ,textuell/nicht-textuell' gebildet wird. Das dritte Kapitel gibt einen Ausblick auf die Möglichkeiten, aus dem Modell in 2.4 empirische, experimentelle Fragestellung flir die Rezeption domänengebundener Referenz zu gewinnen. Die vorliegende Arbeit will auf diese Weise (und, anders als Schwarz 2000a, nur am Rande mit der Erarbeitung von Aktivierungsmodellen) einige Voraussetzungen für ein empirisch adäquates Verarbeitungsmodell schaffen. Bei der Diskussion und Illustration konzentriere ich mich auf Pronomina als ,typische' domänengebundene Ausdrücke. Dies wird in 2.2.5.1 näher begründet. Prinzipiell sind meine Aussagen aber nicht auf bestimmte Wortklassen beschränkt, sondern es geht um bestimmte Verwendungsweisen (siehe hierzu den folgenden Abschnitt 1.1.1). Für die Unterstützung in den verschiedensten dissertationsrelevanten Domänen danke ich (in alphabetischer Reihenfolge): Francis Cornish (Uni Toulouse), Sonja Eisenbeiß ( M P I Nijmegen), Annegret Loll (o. O.), Konstanze Marx (Uni Jena), Doris Mücke (Uni Köln), Karl Heinz Ramers (Uni Köln), Christine Römer (Uni Jena), Simone Schmitz ( M P I Nijmegen), Monika Schwarz-Friesel (Uni Jena) - dieser als Betreuerin und Ernährerin ganz besonders, Heinz Vater (Uni Köln), Melani Wratil (Uni Frankfurt/M) und Ulrike Wrobel (Uni München).
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Anaphora versus Deixis: Definitions-Versuche
1.1
Antike Definitionen (Apollonius Dyskolus)
Das Konzept anaphorischer Pronomina hat - laut Windisch (1869a: 54) - seinen Anfang bei dem Sanskrit-Grammatiker Panini. Dem griechischen Ausdruck Anaphora entspricht der alt-indische Ausdruck anvâdêça, was „nochmalige Erwähnung" bedeutet (ebd.). Der vor-antike Ansatz ist nicht darauf aus, eine eigene anaphorische Wortklasse zu etablieren: Dieselben Pronominalformen seien sowohl anaphorisch als auch demonstrativ zu verwenden; in anaphorischer Verwendung seien sie unbetont, sonst betont (Windisch 1869a: 54). Wie wir noch sehen werden, gehört diese mehr als 2000 Jahre alte Theorie damit eigentlich zu den moderneren. Stärker als Panini sind die Arbeiten antiker griechischer Grammatiker, insbes. Appolonius Dyskolus, von neuzeitlichen Linguisten berücksichtigt worden.1 Lenz (1997: 17) kritisiert, dass einige Forscher - z. B. Ehlich (1982) - die Vorstellungen des Apollonius als eigene Schöpfung ausgeben. Der Abschnitt 1.1 soll zeigen, dass Apollonius in seiner Arbeit über Pronomina2 bereits alle Kriterien findet, die in der modernen Forschungsliteratur zur Unterscheidung von Anaphora und Deixis gehandelt werden, und dass sich hier bereits eine Aufspaltung in eine ,diskursorientierte' und eine ,phorische' (verweisorientierte) Definitionslinie anbahnt.
1.1.1
Anaphora und Deixis als Eigenschaften der Sprachverwendung
Die antike Wortartenlehre befasste sich (neben der Kasusflexion) mit dem Verhältnis bestimmter Wörter zu anderen Redeteilen, so dass - neben einer Substitutionstheorie der Anaphora - Anaphora als textuelle Funktion von Wörtern, insbes. Personalpronomina, ins Blickfeld rückte (Dionysius Thrax, vgl. Bosch 1980: 3). Wie auch Panini stützt Apollonius sich in seiner Untersuchung von Pronomina weniger auf eine grammatische Unterscheidung von Wortformen, sondern auf Funktionen (vgl. Bosch 1980: 68). In Anlehnung an Apollonius Dyskolus stellt Priscian {inst, gramm. XVII: 149) fest, dass Pronomina ohne Demonstratio- oder Relatio-Rolle, also ohne Verweisfunktion oder Relation zu einem anderen Redeteil, - laut Hülsen (1994: 49f) somit ohne Kontext - sinnlos seien. Dieser funktionsorientierte Ansatz findet sich bei Bühler (1934) und in der neueren Literatur wieder. So wendet sich Wiemer (1997: 142, passim) gegen die Annahme anaphorischer oder deiktischer Lexeme und spricht von verschiedenen „Funktionsbereichen" derselben Ausdrücke. Nicht ganz so konsequent spricht Blühdorn (1995: 116-118) zwar von „Deiktika", relativiert aber den Aspekt der Eigenbedeutung von Zeichen und definiert Dei1 Insbes. Windisch (1869a, b). Zur Übersicht vgl. Lenz (1997: 7-22), Bosch (1980: 64-68; 1983: 1-9) und Wrobel (1999), ausführlicher (aber stark formal-semantisch orientiert) Egli (1978, 1988,2000). 2 Der behandelten Literatur folgend, werde ich zunächst die Definitionen von Anaphora und Deixis hauptsächlich anhand von Personalpronomina behandeln, was aber nicht heißen soll, dass nicht auch andere Formen anaphorisch bzw. deiktisch gebraucht werden können.
5 xis über die Art des bei Produktion und Rezeption involvierten Wissens, d. h. über Aspekte der Sprachverwendung. Ich werde in 1.4.1 in der Auseinandersetzung mit Deixis-Definitionen für Deixis als Merkmal der Sprachverwendung plädieren.
1.1.2
Zwei verschiedene Definitionslinien
Apollonius sieht die Funktion von Pronomina in der „Rückweisung" und „Hinweisung". Pronomina der 1. und 2. Person sind deiktisch, die der 3. Person anaphorisch oder deiktisch. Anaphora setze voraus, dass der Referent bekannt ist; Deixis, dass der Referent anwesend ist (vgl. Lenz 1997: 14f). Windisch (1869a, b), der wohl als erster neuzeitlicher Indogermanist das Werk des Appolonius wieder, ausgegraben' hat, interpretiert diesen wie folgt: Deixis ist „das unmittelbare (erste) Hinweisen auf das in der Aussenwelt wirklich gegenwärtige oder als gegenwärtig zu denkende Object", Anaphora „dagegen die Rückbeziehung auf ein in der Rede schon genanntes Object". (Windisch 1869b: 394) Die echte Deixis unterscheidet sich aber von der Anaphora dadurch, dass sie sich direct auf das wirkliche Object in der Aussenwelt bezieht, das bisher unbekannt oder wenigstens bisher noch nicht in die Rede eingeführt war, während Anaphora stattfindet, wenn ein in der Rede vorher schon erwähntes Object nochmals durch ein Pronomen aufgenommen wird. (Windisch 1869a: 52)
Es ist nicht ganz klar, ob Appolonius so zu verstehen ist, dass Anaphora Identität mit sprachlich Vorerwähntem sein muss, oder nur eine losere Anknüpfung daran. Unter Umständen lässt sich Apollonius' Anaphora-Definition im letzteren Sinne, also weiter auslegen, ζ. B. im Sinne assoziativer oder indirekter Anaphora, was sie für meine Arbeit interessant macht: „Im Falle der Anaphora [wird bei Appolonius auf] Objekte in dem Vorstellungsraum [verwiesen], der durch den bisherigen Diskurs umrissen ist" (Lenz 1997: 16). Koreferenz, also eine Vorerwähnung desselben Referenten, ist hiernach keine Bedingung für Anaphora, was modernsten Anaphora-Definitionen (vgl. Schwarz 2000a, s. 2.2) entspricht. Wie auch immer, durch die Einführung eines Diskursbegriffs werden in den Definitionen der Anaphora und der Deixis zwei Kriterienpaare vermischt, nämlich der Status eines Referenten im Diskurs (siehe Definition 1) und die Verweisdomäne, in der ein Referent identifiziert wird (siehe Definition 2). Definition 1 richtet sich nach dem Stand des Diskurses: Anknüpfung an Bekanntes entspricht Anaphora; Neueinführung entspricht Deixis3 Appolonius unterscheidet .Anwesenheit' als ,Identifizierbarkeit in einer physischen Welt' von einer Identifizierbarkeit innerhalb einer,Diskurswelt', die er wie folgt umschreibt: Wenn aber die [ansonsten deiktischen Demonstrativpronomina ...] nicht auf das mit den Augen wahrnehmbare hinweisen, sondern nur in die Anschauung zurückführen, so muss man denken, dass eine solche Hinweisung an die Vorstellung gerichtet ist, so dass die Hinweisung in einem Falle körperlich, im anderen dem geistigen Auge gilt. (zit. n. Lenz 1997: 16)
3
Ausführlicher in 1.2.2.
6 Zwar fehlt Appolonius ein expliziter Diskurs-Begriff, doch verfolgt er implizit die moderne Vorstellung einer Repräsentationsebene, auf der Referenten eingeführt und abgerufen werden können (vgl. hierzu 1.2.2). Die Diskurswelt ist zwar nicht ganz unabhängig von einer ,physischen Welt' 4 , aber muss doch getrennt von ihr betrachtet werden: Ich kann während eines Gesprächs Menschen, Bäume, Autos usw. sehen, ohne dass diese irgendeine Rolle für den Diskurs spielen. Sie können aber mittels eines deiktischen Verweises jederzeit in die Diskurswelt hineingeholt werden.5 Eine ,Diskurswelt' stellt also einerseits eine Auswahl der diskursrelevanten Dinge aus der ,physischen Welt' dar. Andererseits können in die Diskurswelt auch Dinge (wieder-) eingeführt werden, die nicht (mehr) physisch wahrnehmbar sind, sondern in der bloßen Erinnerung des Sprechers und/oder Hörers liegen. Letzterer Vorgang ist für Appolonius anaphorisch; ein Verweis auf Dinge der physischen Welt, die bislang noch nicht Teil der Diskurswelt waren, ist deiktisch.6 Ansätze, die so vorgehen, nenne ich ,diskursorientiert'. Darunter fallen auch einige sprachgeschichtliche oder an Wortklassen interessierte Ansätze vor Bühler (1934) (s. 1.2), desweiteren besonders Ehlich (1982), textlinguistische Arbeiten (ζ. B. Noordman/Vonk 1998: 237, 244) ebenso wie die DRT (siehe 2.1.1). Diese Ansätze stützen sich also, grob gesagt, auf das Kriterienpaar , Anknüpfung vs. Neuerwähnung'. Im Gegensatz dazu steht das zweite Definitionspaar: Definition 2 richtet sich nach der Verweisdomäne, in der ein Referent zugänglich ist: Referenz auf einen textuell präsenten, also im Kotext vorerwähnten Referenten entspricht Anaphora; Referenz auf einen physisch präsenten, somit sinnlich wahrnehmbaren Referenten entspricht Deixis.7 Ich nenne diese Definitionen ,phorisch' (verweis-orientiert), weil Anaphora und Deixis danach differenziert werden, in welchem Verweisraum (ich nehme den Bühlerschen Terminus vorweg) der Referent zu finden ist, im textuellen oder im außertextuellen. Der Terminus phorisch leitet sich ab aus griech./ere/« „tragen, sich beziehen, verweisen". In diesem Ansatz sind Anaphora und Deixis gleichermaßen eine „Anweisung, einen Referenten zu identifizieren",8 anaphorische Referenten sollen im textuellen Raum, deiktische im nicht-textuellen physischen Raum gesucht und gefunden werden.9 4
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Ob man diese erkenntniskritisch „projizierte Welt" o. ä. nennt, macht für meine Argumentation keinen Unterschied. Zur Unterscheidung von Einheiten der Diskurswelt vs. realer Welt vgl. auch Cornish (1999: 153f). Selbstverständlich muss man auch bei Konzepten ohne physische Entsprechung, wie LIEBE oder GEISTER, zwischen ihrer generellen Etablierung als Teil einer Kulturgemeinschaft und ihrer Einführung in einen konkreten Diskurs unterscheiden. Ich stelle hier Appolonius klarer und deutlicher als Vertreter einer diskurs-orientierten Definiton dar, als er wirklich ist; dies wird im Folgenden relativiert. Vgl. auch Ehlich (1979: 913), Bosch (1980: 68) und Bosch (1983: 6). Dies kennzeichnet Anaphora und Deixis als die wichtigsten Mittel definiter Referenz; vgl. Abschnitt 1.5.5 sowie Hawkins (1978), Vater (1984) und (Lenz 1997: 15). Bühler greift diesen Anaphora- und Deixisbegriff ζ. T. auf, löst jedoch die Beschränkung auf Pronomina und spricht stattdessen von „Zeigwörtern" (siehe Abschnitt 1.3). Phänomene, die in den Bereich ,assoziativ-anaphorisch', ,common ground' u. ä. fallen, werden mit dieser Definition nicht erfasst.
7 Dieses Definitionspaar setzt eine klare Definition von „Text" voraus.10 Geeignet erscheint mir eine ,enge', struktur-orientierte Text-Definition, die sich auf sprachliche Elemente einer Äußerung beschränkt, also keine parasprachlichen (kommunikativ relevanten nicht-sprachlichen) Elemente umfasst. Wenn man (wie Cornish (1999: 33), der eine Definition von Lyons (1977: 631) erweitert) auch Zeigegesten und Blickrichtung zum Text zählt, erledigt sich die Definition 2), weil danach ein Verweis mittels Zeigegeste - ein prototypisch deiktischer Referenzakt - anaphorisch wäre.11 Die Definitionen 1 und 2 stellen die beiden Kriterienpaare dar, mit denen Anaphora und Deixis bis heute unterschieden werden; so auch Lenz (1997: 16): Diese beiden Gegensatzpaare, Neueinführung vs. Aufnahme von bereits Bekanntem einerseits sowie sinnlich wahrnehmbar vs. im sprachlichen Kontext enthalten andererseits, tauchen als Unterscheidungskriterien in der Deixis-Anaphora-Diskussion in unterschiedlicher Gewichtung bis heute immer wieder auf.
Die Frage ist nun, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Ich werde in 1.1.3 deutlich machen, dass es sich tatsächlich um verschiedene Definitionen und nicht etwa um Aspekte derselben Definition handelt. Zunächst wurden beide Definitionslinien innerhalb derselben Ansätze weiterverfolgt. In der Nachfolge des Appolonius unterschied der Scholastiker Priscian „zwei grundlegende Rollen des Pronomens: demonstratio und relatio." (Hülsen 1994: 34; 2000).12 Wie im Folgenden deutlich wird, entsprechen diese Kategorien Priscians - soweit hier von Interesse der Distinktion zwischen Deixis und Anaphora.13 Priscian definiert - im Sinne der diskursorientierten Definition 1 - die Demonstration als eine .erste Vorstellung („cognitio")' und die Relation als ,zweite Vorstellung': „(d)er, von dem ich schon gesprochen habe." (Priscian inst, gramm XII: 579, übers, von und zit. n. Hülsen 1994: 37, vgl. Hülsen 2000).1'· Gleichzeitig, im Sinne der ,phorischen' Definition 2, 10
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Eine Diskussion im Sinne von Textualitätskriterien strebe ich hier aber nicht an, vgl. für einen Überblick Vater (21996, Kap. 1-2). Die hieraus resultierenden Definitionen sind in der Regel zu eng oder vage. Ich greife dies in 2.3.1 nochmals auf, wo es ζ. B. um einen Bezug auf eine (parasprachliche) Grimasse geht; desweiteren in 2.3.2 zu engen Text-Bild-Relationen, die (beinahe) text-internen Charakter haben. Hülsen (1994: 34) diskutiert, dass Demonstration vs. Relation nicht gleich Demonstrativ- vs. Relativpronomen ist. „Es ist verlockend, beide Begriffe [relativum grammaticale und anaphorische Pronomina ...] miteinander zu identifizieren, denn beide werden erklärt als Ausdrücke, die sich auf andere Ausdrücke ,zurückbeziehen', beide werden an strukturell ähnlichen Beispielen diskutiert [...]. Dennoch ist Vorsicht geboten." (Hülsen 1994: 70). Der Autor kommt dann nach ausführlicher Diskussion zu Unterschieden, die für meine Fragestellung vernachlässigt werden können: „Die Übereinstimmung geht weit, ist aber nicht vollständig: Relativa des Akzidens [vs. Substanz] und Relativa der Verschiedenheit wie das Pronomen ander(-er, -es) stehen offenbar außerhalb der Klasse der anaphorischen Pronomina. Andererseits überschneiden sich die Klassen der Ausdrücke und einige der Erklärungen und der Fragestellungen so weit, daß es berechtigt ist, von einem gemeinsamen Kern der beiden Begriffe zu sprechen." (Hülsen 1994: 126). Erst in der späteren Rezeption wurde dies problematisiert. Der Unterschied zwischen erster und zweiter Vorstellung (cognitio) sei „nicht als einer bloßer Reihenfolge zu verstehen", sondern die zweite Vorstellung sei eine abhängige, „parasitäre". Damit deute sich an, „daß die Beziehung zwi-
8 scheint physische Anwesenheit des Referenten ein Kriterium für Demonstration und Abwesenheit für Relation zu sein. Martinus Dacus (gest. 1274) schreibt kommentierend zu Priscian: Zeigen ist die Weise des mit größtmöglicher Sicherheit Vorstellens oder Zeigens, nämlich als gegenwärtig. Die Relation ist immer die Weise des Vorstellens der Sache als abwesend. (Übers, v. u. zit. n. Hülsen 1994: 52)
1.1.3
Problemein 1.1.2
Dass Anaphora und Deixis jeweils doppelt, über zwei Kriterienpaare, definiert werden, scheint nahezulegen, dass diese Kriterienpaare auseinander ableitbar sind oder zumindest miteinander korrelieren: Dieses Unterscheidungsmerkmal [Neueinfuhrung vs. Bekanntheit] geht aber mit einem zweiten einher, das bei späteren Definitionsversuchen häufig im Vordergrund stand. Dabei könnte man es als eine andere Sichtweise desselben Phänomens betrachten. Man kann nämlich aus der Bestimmung, daß bei der Deixis das Referenzobjekt unmittelbar gegenwärtig sei, auch folgern, daß es an die Wahrnehmbarkeit, d. h. die Äußerungssituation gebunden ist. Die Anaphora mit der Rückbeziehung auf Bekanntes ist dagegen - vor allem in Verbindung mit dem Substitutionskonzept auch so zu verstehen, daß hier das Referenzobjekt mit vorher Erwähntem, also mit dem sprachlichen Kontext im engeren Sinne verknüpft sein muß. (Lenz 1997: 16) Die doppelte Definition des Appolonius ergibt sich aus der Überlegung, dass etwas, das noch nicht aus dem Diskurs bekannt ist, wohl physisch präsent sein müsse, um in den Diskurs (die Vorstellungswelt von Sprecher und Hörer) eingeführt werden zu können. Dies Neueinführung und Kopräsenz - entspricht den beiden Deixis-Definitionen. Neuzeitliche Komplikationen wie die Einführung fiktiver Referenten mussten Appolonius nicht interessieren, weil er eigentlich ein grammatisches Interesse, die Wortartenlehre, hatte. Etwas, das in der Vorstel lungs weit oder Erinnerung von Sprecher und Hörer vorhanden - „bekannt" - ist, kann nach Appolonius' Vorstellung nur durch den vorausgehenden Text dort hineingekommen sein. Dies - Bekanntheit und Kotextualität - entspricht den beiden Anaphora-Definitionen. Phänomene wie Bekanntheit durch .common ground' oder Unikalität werden hierdurch
sehen anaphorischem Pronomen und Antezedens durch den Begriff der Koreferenz nicht hinreichend erfasst wird." (Hülsen 1994: 109). Danach wäre ein eingeführter Referent keine diskursive oder sonstige konzeptuelle Einheit, auf die mit anaphorischen Mitteln mehrmals referiert werden kann. Vielmehr sei anaphorische Referenz der Bezug auf ein Abbild der ursprünglichen, durch die demonstratio eingeführten Vorstellung. Das klingt so, als würde die sprachliche Struktur anaphorischer Beziehungen eins zu eins auf eine konzeptuelle Struktur übertragen, so dass bei mehrfacher Erwähnung sich auch das Referenzkonzept vervielfacht. Die Diskussion der Quellen ist hier - aufgrund meist unklarer terminologischer Unterscheidung von sprachlicher, physischer und konzeptueller Ebene - aber nicht sehr fruchtbar. Die Frage, ob „Koreferenz" tatsächlich immer den Bezug auf ,ein Abbild' desselben Referenten meint, wird wieder spannend, wenn eine anaphorische Wiederaufnahme gleichzeitig eine ontologische Veränderung bezeichnet wie in: Ich fuhr mein Auto zur Schrottpresse. Das Blechpaket konnte ich unterm Arm nach Hause tragen. (Beispiel ähnlich Schwarz 2000a: 148).
9 nicht erfasst, so dass definite unikale Referenz wie die Sonne, der Papst anaphorisch sein müsste, wenn der Referent nicht anwesend ist. 15
Wenn man anaphorisch definiert als „bekannt, weil textuell vorerwähnt" und deiktisch als „in den Diskurs neu eingeführt aus der physischen Welt", decken sich die Definitionen 1 und 2 also. Dennoch können diese Teilkriterien unabhängig voneinander auftreten und führen in manchen Fällen zu widersprüchlichen Ergebnissen. Daher ist es mein Anliegen, die Definitionskriterien 1 (Bekanntheit im Diskurs) und 2 (Verweisdomäne) zu isolieren und zu zeigen, dass sie unabhängig voneinander auftreten können. Im Folgenden wende ich mich also gegen den Standpunkt, hier handle es sich um „Sichtweisen desselben Phänomens" (Lenz 1997: 16). Die jeweiligen Kriterien müssen nicht immer beide gleichzeitig erfüllt sein, sie können sich sogar widersprechen.16 Ein definitorischer Problemfall ist z. B. folgender, sehr einfacher und alltäglicher Fall: Referenz auf physisch präsente Referenten (also deiktische Referenz nach Definition 2) muss nicht immer neueinführend sein - man kann ja auch mehrmals auf einen physisch Anwesenden referieren. Stellen wir uns eine Szene vor Gericht vor, in der ein Staatsanwalt sein Plädoyer über die anwesende Angeklagte hält. Er könnte sagen: (1)
Diese Frau hat ihren Mann, der sie liebte, grausam ermordet. Sie hat ihn zunächst in die Garage gelockt, dort hat sie ihn erwürgt und zerstückelt. Die Teile hat sie im Garten vergraben. Diese Frau hat einen Mord begangen, damit sie an das Vermögen ihres Gatten kommen konnte.
Nach der diskursorientierten Definition 1 wären alle Wiederaufnahmen der Referentin sowohl mit sie als auch mit diese Frau anaphorisch, weil an Bekanntes, Vorerwähntes angeknüpft wird. Dies erfüllt auch den ersten Teil der oben zitierten relatio-Definition von Priscian (,,(d)er, von dem ich schon gesprochen habe"). Nach der phorischen Definition 2 wäre die Referenz gleichzeitig deiktisch und anaphorisch, weil die Referentin sowohl physisch präsent (also sinnlich wahrnehmbar) als auch textuell präsent (also im Kotext vorerwähnt) ist. Nach dem zweiten Teil von Priscians Definition kann es sich nicht um relatio handeln („Die Relation ist immer die Weise des Vorstellens der Sache als abwesend"). Es müsste sich also um demonstratio, Deixis, handeln. Auch Windisch (1869b: 252) sieht offenbar das Problem, die Kriterien ,Neueinführung/ Anknüpfung' und ,anwesend/abwesend' zu kombinieren. Er definiert Deixis so, dass ein Referent nicht nur sinnlich wahrnehmbar sein muss, sondern auch nicht sprachlich vorerwähnt sein darf. Anders als bei Priscian kann der hier genannte Konfliktfall, dass ein Referent anwesend und vorerwähnt ist, danach nicht deiktisch sein. Dies ist zwar eine klare Lösung, aber doch eine völlig willkürliche. 15
16
Die Diskussion solcher Fälle ist insbes. durch Hawkins (1978) geführt worden. Sein terminus „larger situation use" verdeutlicht, dass er das diskursrelevante Wissen von Sprecher und Hörer als Teil der Referenz-Situation ansieht. Ihm steht die „associative anaphora" gegenüber, die ebenfalls auf Sprecher-Hörer-Wissen beruht, aber einen Anknüpfungspunkt im Vortext benutzt (the village... the church) und insofern ,indirekt anaphorisch' ist; vgl. 1.5.4.2 und 2.2. Eine weitere Schwierigkeit, nämlich die Abgrenzung zwischen Anaphora und Priscians „demonstration ad intellectum" - ein Pendant zu Bühlers „Deixis am Phantasma" - wird unten in 1.3.3 diskutiert.
10 Freilich ist man intuitiv versucht, in (1) die Referenzen mit Personalpronomina (die vermutlich unbetont, ζ. T. unbetonbar sind) für anaphorisch und die Wiederaufnahme der betonten NP diese Frau für deiktisch zu halten. Aber die bloße Betonung ist ein zu dürftiges Kriterium für die Unterscheidung zwischen Anaphora und Deixis (vgl. auch die Diskussion von Cornish (1996, 1999) und dessen Beispielen in 2.2.3), zumal auch Anaphern häufig betonbar sind. Wenn man auf den Wortarten-Unterschied zwischen Personalpronomen und demonstrativer NP abzielt, nimmt man zudem eine inadäquate Gleichsetzung von Wortart und Verwendungsweise vor, die ich gerade vermeiden wollte. Schließlich ist derselbe Text (1) - bis auf die einführende NP, die dann nicht demonstrativ sein dürfte - genauso und mit denselben Betonungsverhältnissen denkbar, wenn die Referentin nicht anwesend wäre. Im Folgenden stelle ich Anaphora- und Deixis-Konzeptionen v. a. im Hinblick darauf vor, wie sie mit solchen Grenz- und Zweifelsfällen umgehen. Eine mögliche Konsequenz ist die Auflösung der starren Anaphora- und Deixis-Definitionen zugunsten eines Kontinuums von Verwendungsweisen. Diese (für mein Modell in 2.4 wesentliche) Idee ist der Leitgedanke in 1.2.1 und 1.2.2.1.
1.2
Neuzeitliche Anaphora- und Deixis-Konzeptionen vor Bühler ( 1934)
In diesem Abschnitt stehen zunächst die Arbeiten von Windisch (1869a, b) in 1.2.1 sowie Brugmann (1904) in 1.2.2.1 im Vordergrund. Windisch leistet eine kritische Auseinandersetzung mit der Anaphora/Deixis-Distinktion des Apollonius Dyskolus (1.1.2) und rückt erstmals von einer starren Abgrenzung ab. Brugmann baut diesen Gedanken weiter aus und betont die Gleichartigkeit beider Referenzarten durch sein Konzept des Wahrnehmungsbildes. Dieses wird (implizit) von allen modernen diskurs-orientierten Ansätzen (1.2.2.2) aufgegriffen.
1.2.1
Für eine graduelle Anaphora-Deixis-Unterscheidung - Windisch ( 1869)
Windisch (1869a,b) schöpft seine Erkenntnisse aus einer Untersuchung altgriechischer Proformen, die er als idealtypische Vertreter von Anaphora oder Deixis ansieht. Methodisch ist dies ein Rückschritt gegenüber dem verwendungsorientierten Ansatz, der in 1.1 referiert wurde. Windisch wurde wenig rezipiert; ein Überblick findet sich jedoch bei Bosch (1983: 5-9) und Lenz (1997: 18-21). Windischs Arbeit stützt sich auf die Anaphora Deixis-Einteilung des Appolonius Dyskolus (s. 1.1), die er in einen sprachgeschichtlichen Zusammenhang stellt: ...legen wir auf die Eintheilung der Pronomina in deiktische und anaphorische deshalb soviel Gewicht, w e i l s i e a u f d e m n a t ü r l i c h e n E n t w i c k l u n g s g a n g e d e s E i n z e l p r o n o m e n s b e r u h t . (Windisch 1869b: 401, Herv. dort)
Am Anfang der Entwicklung - nicht nur der Pronomen, sondern der sprachlichen Benennungen überhaupt - habe die Deixis gestanden, da es noch keine situations-unabhängigen
11 nominalen Bezeichnungen gegeben habe. 17 Dann seien Nomina mit kontext-invariantem Bedeutungsgehalt entstanden, die auch Referenz auf abwesende Objekte zuließen. 18 Dies war wiederum Bedingung für strukturierte Texte, 19 in denen Pronomen - in Abschwächung oder besser: Abstraktion ihrer ursprünglichen deiktischen Funktion - Bezüge innerhalb des Textes markieren: Im besonderen aber konnte jetzt das selbständige Pronomen, das seine Mittlerrolle zwischen Rede und Aussenwelt nach wie vor beibehielt, nicht b l o s s auf das wirkliche Object in der Aussenwelt hinweisen, sondern ausserdem auf das Abbild desselben, das a u s g e s p r o c h e n e Wort. So betrachtet erscheint Anaphora allerdings auch als eine Deixis, aber nicht als Deixis der Wahrnehmung20 sondern als Deixis des Geistes. Das Wesen der letztern ist aber weit deutlicher in dem Wort Anaphora ausgedrückt; Deixis im Gegensatz zu Anaphora bezeichnet stets die Deixis der Anschauung. [...] Aus dem Gesagten geht aber hervor, dass echte Deixis und Anaphora ursprünglich nicht durch besondere Pronomina auseinandergehalten wurden, sondern dass die Pronomina, welche der echten Deixis, solange es keine Anaphora gab, ausschliesslich dienten, diese mit übernahmen. (Windisch 1869b: 404, Herv. dort) Eine solche Abschwächung in der anaphorischen Verwendung von Pronomina („Verschiedenheit der Energie" von Anaphora und Deixis, Windisch 1869b: 404; Brugmann 1904: 9)21 drückt sich in einer Hierarchie der Verwendbarkeit aus: So seien alle indogermanischen deiktischen Pronomen auch anaphorisch verwendbar, die schwächsten anaphorischen aber nicht deiktisch (Windisch 1869b: 405). Mit der Idee, dass Deixis und Anaphora auseinander ableitbar sind und sich (nur) in ihrer Verweis-„Energie" unterscheiden, ist bereits der Ansatz für deren graduelle Abgrenzung gegeben, für die ich in dieser Arbeit plädieren 17
Da diese Überlegungen in ihrem spekulativen Charakter, den heutige Linguisten nicht mehr wagen, recht unterhaltsam sind, gebe ich sie hier wieder: „Die ursprüngliche und erste Bestimmung des Pronomens ist keineswegs gewesen, ein zuvor genanntes Nomen zu vertreten, damit man dasselbe nicht zweimal hinter einander zu sagen brauche. Die Pronomina - wir müssen den unpassenden Namen beibehalten - sind älter als das Sprechen in zusammenhängenden Sätzen, sie gehören überhaupt zu den ältesten Bestandteilen der Sprache. A l l e Pronomina deuteten einst auf die Objecte in der Aussenwelt hin, und ihre ursprüngliche Function war es, das in der Aussenwelt befindliche Object, fìlr das sich noch nicht der bestimmte Name festgesetzt hatte, der menschlichen Rede einzuverleiben. [...] Da es in dem einen Augenblicke dieses, in einem anderen jenes Object bezeichnet, so konnte sich mit ihm nie die Vorstellung eines bestimmten Objectes verbinden: das Object, auf welches das Pronomen hinwies, wurde nur m o m e n t a n der Sprache einverleibt. [... ] Die directe Beziehung zur Aussenwelt, welche in den Urzeiten alle Pronominalstämme gehabt haben müssen, ist in den ausgebildeten idg. Sprachen bei verhältnismässig wenigen erhalten: es sind dies die von uns „ e c h t d e i k t i s c h " genannten Pronomina." (Windisch 1869b: 401f, Herv. dort)
18
So auch schon Adelung (1782: 541) „Jetzt erst, nachdem das Sein der Aussenwelt im Nomen, das Leben derselben im Verbum sein getreues Abbild erhalten hatte, konnte die menschliche Rede Sein und Leben der Aussenwelt in ununterbrochenem Strome begleiten, und konnte sie auch darstellen, ohne dass der Redende es leibhaftig vor sich hatte." (Windisch 1869b: 404) Deixis und Anaphora und daraus zusammengesetzte Termini werden bei Windisch immer griechisch wiedergegeben, Übersetzung von mir. „Die Tatsache, daß es auch eine Skalierung der deiktischen Intensität gibt, die zunächst ebenfalls zur Identifizierung des Referenten eingesetzt wird, findet in der einschlägigen Literatur wenig Beachtung." (Bellmann 1990: 159)
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12 möchte. Während Windisch (1869) in seiner Analyse altgriechischer Pronominalformen die Anaphora/Deixis-Unterscheidung des Appolonius bestätigt, macht er eine Einschränkung für die übrigen indogermanischen Sprachen: Das was den meisten idg. Sprachen fehlt, ist die scharfe Scheidung zwischen echtem Demonstrativpronomen und anaphorischem Demonstrativpronomen. [...] In den [...] älteren deutschen Dialecten - vom Nhd. sehen wir ab, weil im Laufe der Zeit wieder Schwächungen eingetreten sind ist offenbar dieser diese dieses das scharf deiktische Pronomen, dessen wichtigste Function also ist, direct die Objecte in der Aussenwelt bezeichnen zu können. (Windisch 1869b: 280) 2 2
Um dennoch an einer Anaphora/Deixis-Unterscheidung festhalten zu können, entwickelt Windisch (1869) die Vorstellung, dass sich die Pronomina einer Sprache auf einer Skala deiktischer oder anaphorischer Verwendbarkeit einordnen lassen: Bereits Apollonius hat zugestanden, dass sich sein Princip [Anaphora vs. Deixis] nicht mit mathematischer Schärfe durchführen lässt, und dies Zugeständnis muss auch für alle andern Sprachen wiederholt werden. Aber es muss genügen, dass nicht ein Pronomen wie das andere unterschiedlos bald deiktisch bald anaphorisch gebraucht wird, sondern dass ein jedes eine entschiedene Neigung besitzt entweder in dieser oder in jener Weise zu fungieren. (Windisch 1869b: 400).
Windisch postuliert ein zwischen einem anaphorischen und einem deiktischen Pol angesiedeltes Kontinuum, auf der jede Pronominalform einen bestimmten VerwendbarkeitsBereich abdeckt: Dieser Unterschied zwischen Deixis und Anaphora hat insofern einen praktischen Werth, als keineswegs ein und dasselbe Pronomen je nach Belieben zur Deixis und zur Anaphora verwendet wird, sondern es hat eine jede Sprache wenigstens die Extreme durch zwei verschiedene Pronomina vertreten. (Windisch 1869b: 394)
Dieser Kontinuitäts-Ansatz ist die Basis meines Modells in 2.4. Windisch geht es aber um das Potenzial von Wortarten zur anaphorischen vs. deiktischen Verwendbarkeit. Im Unterschied dazu ist es meine Zielsetzung, Fälle domänengebundener definiter Referenz auf einer solchen Skala anzusiedeln, was auch eine Voraussetzung für ein einheitliches Verarbeitungsmodell ist. Bei Windisch ist es also eine Skala von Verwendungsweisen, auf denen Wörter angesiedelt werden, in der vorliegenden Arbeit eine Skala von Anaphorizität und Deiktizität, auf denen die Verwendungsweisen angesiedelt werden.
1.2.2
Diskursorientierte Definitionen
1.2.2.1 Wahrnehmungsbild-Brugmann (1904) Auch innerhalb der Deixis nimmt Windisch (1869b: 258) verschwimmende Grenzen an: Sinnliche Deixis, also Referenz auf physisch Anwesende(s), sei eine besonders starke Form der Deixis. Dies ist der Ausgangspunkt für Brugmann (1904). In Brugmanns Arbeit über Demonstrativ-Pronomina ist der Gedanke verschwimmender Grenzen innerhalb der Deixis22
Dies stützt er durch den etymologischen Nachweis lautlicher ,deiktischer Elemente' in dieser, überhaupt ist es Windischs Vorgehensweise, zunächst die Verwendung von Formen nachzuweisen und diese dann etymologisch abzuleiten.
13 Arten und zwischen Deixis und Anaphora ebenfalls deutlich ausgeprägt. Der Ansatz ist formal zwar wortklassen-orientiert, teilt aber mit Windisch (1869) den Gedanken eines Kontinuums zwischen den domänengebundenen Referenzarten (die er unter ,Deixis' als Oberbegriff für Deixis und Anaphora fasst). Wesentliche Punkte sind: 1) Integration von sinnlicher Deixis und Deixis am Phantasma (Bühlers Term) auf einer abstrakten Repräsentations-Ebene. 2) Gleichartigkeit von Anaphora und Deixis aufgrund der Vorstellung, dass Referenten sowohl sprachlich als auch physisch in diese Repräsentations-Ebene eingeführt werden können. Die Repräsentation wird in Bezug auf Eigenschaften des Diskurses (der ,Rede') definiert. Dies will ich im Folgenden mit einigen Zitaten belegen, wobei deutlich werden soll, dass sich aus der von Brugmann verwendeten Terminologie die moderne Vorstellung einer Diskursrepräsentation oder eines Textweltmodells ableiten lässt. Die prototypische Verwendung der von Brugmann (1904) untersuchten Wortklasse, der Demonstrativpronomina, ist die deiktische, bei der sich die sprachliche Information komplementär zu einer sinnlich vermittelten Information, dem „Wahrnehmungsbild", verhalte. Es handele sich um „elliptisches Sprechen" mithilfe von „Geberden" ((Zeige-) Gesten) und Situation: Sie geben zusammen das A η s c h a u u η g s b i 1 d ab, aus welchem und durch welches die gehörte Rede im Hinblick auf ihren Zweck ihre mehr oder weniger notwendige Ergänzung erfährt. Oder besser das W a h r n e h m u n g s b i l d ,
denn die Ergänzung ist nicht immer visuell. Sie ist auditiv, wenn jemand seinen Standort mit der Stimme identifiziert ( Wo bist du? - hier), oder taktil: Und hat ζ. B. jemand einen Schmutzflecken auf der Stirn, und ich berühre, um ihm den genaueren Sitz des Fleckens mitzuteilen, bei den Worten hier ist er mit meinem Finger die Stelle, so ist es eine Druckempfindung, welche die Erreichung des Mitteilungszwecks sichern hilft. [...] Je reicher und klarer das Wahrnehmungsbild ist, das dem Angeredeten teils durch die Situation teils durch Geberden [Gesten] des Sprechenden geboten wird, um so weniger Worte bedarf es. (Brugmann 1904: 3f, Herv. dort)
In diese Vorstellung der physischen Deixis (Deixis ad oculos in BUhlers Terminologie) integriert Brugmann das Phänomen, das Bühler (1934) Deixis am Phantasma nennt (s. 1.3). Man darf aber [...] auch diesen Fall [Anaphora oder Diskursdeixis] getrost in den Begriff Anschauungsbild einbeziehen. Denn dieses kann vom Sprechenden nach Belieben erweitert werden, indem er die von früheren Sinneswahrnehmungen und deren Assoziationen herstammenden Erinnerungsbilder nach Analogie der gegenwärtigen sinnlichen Anschauung behandelt. (Brugmann 1904: 6)
Ein sehr praktisches, prozess-orientiertes Argument legt eine graduelle Abgrenzung zwischen Deixis ad oculos und Deixis am Phantasma nahe: Ist der Gegenstand der Deixis während des Gesprächs wahrnehmbar gegenwärtig und anwesend, so kann die Wahrnehmung den Moment des Aussprechens des Pronomens überdauern oder sie überdauert ihn nicht. Ersteres ist ζ. B. der Fall, wenn ich sage dieser mann hier ist mein freund oder während eines starken Donners ausrufe [...] dás ist kräftig!. Kommt das Demonstradvum erst hinterdrein, so geht es auf ein Erinnerungsbild. So ist es, wenn ich ohne eine das Pronomen begleitende Geberde zu jemandem sage dies war herr N., nachdem ein Herr an uns vorübergegangen
14 ist, oder wenn ich nach dem Donnern sage dás war kräftig\ [...]. Dabei lässt sich aber, namentlich wenn es sich um Gesichtswahrnehmungen handelt, eine feste Grenze zwischen beidem nicht ziehen. Denn wenn ich bei den Worten dies war herr N. nur etwa den Kopf nach der Seite wende, an der die Person vorübergegangen ist, so gibt diese Geberde dem Pronomen den Charakter einer sinnlichen Deixis. (Brugmann 1904: 14)
Somit ist ein Deixisbegriff gegeben, der sich nicht auf physische Präsenz eines Referenten stützt, sondern auf den Verweis auf ein abstrakteres Wahrnehmungsbild, zu dem auch erinnerte Einheiten gerechnet werden. Darüber hinaus scheint Brugmann - ähnlich den modernen Vorstellungen einer Diskursrepräsentation oder eines mentalen Textweltmodells anzunehmen, dass sprachliche Erwähnungen dazu führen, dass ein Referent in diesem Wahrnehmungsbild verankert wird: Aber dazu [zum Hinweis auf ein Wahrnehmungsbild] gehört auch der Fall, dass ein nicht gegenwärtiger Gegenstand kurz vorher erwähnt war und auf ihn mittels eines Demonstrativums hingewiesen wird, wie: es begegnete uns ein weib, das bettelte uns an. Denn wenn der Gegenstand auch in dem Moment, wo das Pronomen auf ihn hindeutet, nicht sinnlich wahrgenommen wird, so ist er doch eben erst vor das geistige Auge des Angesprochenen gerückt worden; er ist daher in der Vorstellung des Sprechenden und des Angeredeten noch so lebendig, dass er wie ein Element des gegenwärtigen Anschauungsbildes behandelt wird. (Brugmann 1904: 5)
Demzufolge betont er - anders als Btlhler (1934), der einen Referenzialtätsunterschied zwischen Deixis und Anaphora macht (s. 1.3.3) - die Gleichartigkeit von deiktischer und anaphorischer Verwendung.23 Brugmann (1904: 13) wendet sich damit ausdrücklich gegen die Anaphora/Deixis-Distinktion des Apollonius Dyskolus: „Diese Einteilung trifft [...] nicht das Wesen unserer Pronominalklasse." Ebenfalls im Sinne einer graduellen Abgrenzung bespricht Brugmann (1904: 14) einen Fall, der sich zwischen Anaphora und Deixis zu bewegen scheint. Brugmann selbst nennt ihn sowohl anaphorisch als auch deiktisch: (2)
[Jemand setzt ein von ihm leergetrunkenes Weinglas vom Mund und sagt:] Der (oder dieser Wein) war recht sauer.
Das Demonstrativum der sei anaphorisch verwendet (warum, ist mir nicht ganz klar), zugleich aber auch sinnlich deiktisch, falls der Sprecher mit Augen oder Gesten auf das Glas weise (vgl. Cheang 1990: 77). Ich nenne solche Fälle ,indirekte Deixis', da der Referent 23
Brugmann (1904: 5) belegt die Behauptung der „Gleichartigkeit" solcher anaphorischen und deiktischen Verwendungen am Beisp. dieser/jener, die sowohl räumlich als auch in der Diskursstruktur für Bezüge auf Nähe/Ferne verwendet werden. Eine weitere Gemeinsamkeit ist eine unterschiedliche Betonung je nachdem, ob der Sprecher einen aus mehreren möglichen Referenten spezifizieren muss oder nicht: „Auch kehren in beiden Fällen [Anaphora und Deixis] die verschiedenen Grade in der Schärfe der Deixis wieder. Ein Förster, der täglich mit der Flinte in den Wald geht, sagt zu seinem Sohn beim Weggehen heute reich mir die (diese, jene) flinte, weil unter mehreren Flinten eine gewählt wird, morgen aber, wo nur éine in Betracht kommt, reich mir die flinte [...] [deiktisches Beispiel]. Derselbe Unterschied des Pronomens ist [im anaphorischen Beispiel] vorhanden, wenn ich einesteils z. B. sage ich war gestern mit dem A zusammen; vor dem (diesem) menschen nimm dich in acht, andernteils ich war gestern mit dem A zusammen; ich mäg den kerl nicht. (Brugmann 1904: 14f)
15 indirekt aus einem wahrnehmbaren Situationsmerkmal (oder in Brugmanns Terminologie: einem Bestandteil des Anschauungsraums; hier: dem Weinglas) erschlossen werden muss. Dass aber ein solches Situationsmerkmal als ,referenzieller Anker' physisch vorhanden ist, unterscheidet den Fall von BUhlers Deixis am Phantasma oder macht ihn wenigstens zu einem Spezialfall davon.24 Auf die Analogie zwischen »indirekter Deixis' und ,indirekten Anaphora' werde ich in 2.3 eingehen. Ich habe versucht zu zeigen, dass die Erweiterung des „Anschauungsbildes" zum „Wahrnehmungsbild" dem modernen Diskurs-Konzept entspricht. Das Wahrnehmungsbild wird in Bezug auf „die gehörte Rede im Hinblick auf ihren Zweck" definiert, die durch dieses „ihre mehr oder weniger notwendige Ergänzung erfährt" (Brugmann 1904: 3). Textuelle und nicht-textuelle Elemente werden auf einer mentalen Diskursebene integriert. Als Konsequenz rückt Brugmann ganz von einer Einteilung ab, die an den Status eines Referenten als ,sinnlich oder textuell eingeführt' geknüpft ist. Er gibt die phorische Anaphora/ Deixis-Definition (Definition 2 in 1.1.2) zugunsten der diskursorientierten (Definition 1 in 1.1.2) auf. Auch Windisch (1869) scheint mit der Einführung einer Art Textdeixis von den phorischen Kriterien abzurücken zugunsten der diskursorientierten Definition (Windisch 1869: 258f, vgl. Bosch 1983: 7f und Lenz 1997: 20). Der diskursorientierte Ansatz wird ausgebaut,25 bis Bühler (1934) die terminologischen Grundlagen für eine Explikation des konkurrierenden' phorischen Ansatzes schafft. Brugmann (1904) sieht beide Definitionen noch nicht in Konkurrenz zueinander. Vielmehr will er die diskursorientierte Definition aus der phorischen sprachgeschichtlich ableiten: Ursprünglich scheinen die Demonstrativa [als typisch deiktische Elemente] nur auf Elemente der unmittelbaren Sinneswahmehmung bezogen worden zu sein. Der Sprechende behandelte dann aber seine gesamte Vorstellungswelt nach Analogie der gegenwärtigen Anschauung, und das Wesen dieser Klasse von Pronomina, wie sie in geschichtlichen Zeiten allenthalben gebraucht werden, bestimmt man am besten so: sie sind die sprachliche Hinweisung auf etwas, dem der Sprechende seine Aufmerksamkeit zugewendet hat, und fordern den Angesprochenen auf, den Gegenstand ebenfalls ins Auge zu fassen. Will man alsdann eine Einteilung der sämtlichen einschlägigen Fälle in der Richtung vornehmen, in der die Unterscheidung nach Deixis und Anaphora liegt, so wäre die einzige mit dem Wesen der Sache in Übereinstimmung befindliche Scheidung darnach zu machen, ob es etwas ohne Weiters Bekanntes, nicht erst durch die augenblickliche Situation bekannt Werdendes ist, worauf hingewiesen wird, oder etwas, dem diese Eigenschaft nicht zukommt. (Brugmann 1904: 15)
Das diskursorientierte Definitionsmerkmal ,Bekanntheit' vs. ,Neueinfiihrung' („durch die augenblickliche Situation bekannt Werdendes") werde ich als Kennzeichen vieler moderner Ansätze nun weiter verfolgen. Ich verlasse hierzu die forschungsgeschichtlich geordnete Darstellung und verfolge zunächst die Entwicklung des diskursorientierten Ansatzes in der modernen Textlinguistik weiter.
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Als Deixis am Phantasma ordnet Cheang (1990: 77) das Beispiel ein, da Deixis ohne gegenwärtige Anschauung vorliegt. Brugmann/Dellbrück (1911: 310); vgl. Bosch (1983: 8); Lenz (1997: 21) und Ehrich (1992: 8).
16
1.2.2.2 Moderne Ansätze: Kontinuität vs. Neufokussierung In die neuere Linguistik wurde dieser Ansatz eingeführt von Halliday/Hasan (1976) und insbesondere Ehlich (1979, 1982, 1983)> Die Definition der Anaphora als Beibehaltung' eines fokussierten27 Referenten (,Kontinuität') leitet sich dort (verblüffend einfach!) ab aus der Annahme einer Identitätsrelation zwischen Anapher und Antezedens, wie sie die Transformationsgrammatik in der Substitutionstheorie der Anaphora geprägt hat. Obwohl sich Ehlich (1979: 718fi) von dieser abgrenzen will, übernimmt er doch deren Grundgedanken: , Kontinuität' entstehe dadurch, dass es beim selben Referenten bleibt, da Anapher und Antezedens ,identisch' und damit austauschbar seien (vgl. Lenz 1997: 70). Der Ansatz wurde später durch explizite Konzepte von ,Aktivierung' oder ,Fokus' in einen kognitiven Rahmen gestellt.28 Webber (1979) expliziert eine solche Anaphora-Definition im Rahmen eines Diskursmodell-Ansatzes. Die Verwendung der sogenannten ,Diskurs-Anaphora' „cannot be understood in purely linguistic terms, but must be conceived of in terms of its contribution to the establishment and maintenance of the addressee's discourse model" im Rahmen eines „set of tacit instructions to the addressee for synthesizing a discourse model which matches as closely as possible that of the speaker." (Cornish 1986: 141); ebenso Bosch (1983: 202): „Anaphorically used expressions [...] relate only to terms already introduced into discourse before the anapher is used.", dann (:203) jedoch allgemeiner: The intended referent for an anaphoric pronoun [...] must already be the most salient object in the domain of discourse at the moment of utterance, more salient at least than any other object that could possibly be referred to by the same form.
Cornish (1999: 25f, passim) bezeichnet den diskursorientierten Ansatz explizit als „cognitive approach", da er auf die kognitive Aktivierung und Fokussierung von Referenten abzielt (,„memory-managment' conception of deixis and anaphora", :26).29
26 Vgl. auch Chafe (1976), Clark (1977) und Pause (1991). Der Terminus ,Fokus' ist mehrdeutig; er kann (wie hier) pragmatisch (d. h. auf Diskursstrukturen bezogen) sein, oder syntaktisch (auf Satzstruktur). Die beiden Fokus-Begriffe sind zwar nicht unabhängig voneinander, aber auch nicht identisch. In der sog. Center-Theorie (ζ. B. Sidner 1983, 1986) werden daher relevante Diskurseinheiten nicht als fokussiert, sondern als „Centef bezeichnet. Da diese Theorie in der Regel auf satzinterne Anaphora beschränkt ist, wird sie hier nicht weiter dargestellt. Für eine kritische Übersicht s. Cornish (1999: Kap. 5.3.2). 28 Vgl. Sidner (1983); Cornish (1986, 1996, 1999); Dahl/Hellmann (1995); Gundel e. a. (1993, 1996); Gundel (1996); Zusammenfassung bei Schwarz (2000a, Kap. 3.2.4), und Cornish (1999, Kap. 2.2.2). Bourstin (1996) spricht von einem rein kognitiven (im Gegensatz zu einem grammatischen) Anaphernbegriff, da die Referenzialisierung der Anapher nicht als Suche im Text (im Sinne einer Antezedenssuche, vgl. 3.1), sondern als Suche im Diskursgedächtnis beschrieben wird. 29 Im Gegensatz dazu bezeichnet er den ,phorischen' Ansatz als .pragmatisch'. Dieses Gegensatzpaar - phorisch = pragmatisch/diskurs-orientiert = kognitiv - trifft die Sache meiner Meinung nach nicht exakt. Ich werde in diesem Abschnitt versuchen zu zeigen, dass allein das diskursorientierte Kriterium ,nicht-vorerwähnt/vorerwähnt' für eine kognitiv orientierte Definition der Deixis vs. Anaphora nicht ausreicht, und dass auch das ,phorische' Kriterium ,nicht-textuelle/textuelle Domäne' als kognitive Größe berücksichtigt werden muss. Umgekehrt kann man den textuellen Status von Referenten (,nicht-vorerwähnt/vorerwähnt') genau so gut .pragmatisch' nennen. Zu Cornish (1999) vgl. auch 2.2.3. 27
17 An Fällen ,antezedensloser Anaphora' (indirekter Anaphora, vgl. 2.2) macht Cornish (1986, 1996, 1999) deutlich, dass Erreichbarkeit („accessibility") und Salienz des Referenten notwendige und hinreichende Voraussetzungen für anaphorische Referenz seien. Wodurch aber wird ein Referent salient? Wie so oft bei Definitionen von Anaphora und Deixis wird theoretisch vorausgesetzt, was im natürlichen Referenzprozess nicht vorausgesetzt werden kann: Es wird offen gelassen, weshalb der Referent der salienteste im Diskurs ist er kann ζ. B. vom Sprecher textuell .salient gemacht' werden; er kann aber auch plötzlich physisch präsent werden wie in Brugmanns das ist kräftig! nach einem Donner, wo der Referent sich über die physische Domäne quasi selbst salient macht. In diesem Falle wird er mittels einer deiktischen Äußerung in den Diskurs eingeführt, was - wie das Beispiel zeigt - auch mit einem (betonten) Pronomen möglich ist.30 Dementsprechend werden deiktisch verwendete Pronomina und ein Teil der anaphorisch verwendeten Pronomina (nämlich diejenigen, die keine gebundenen Variablen und keine Ε-Types sind) in semantischen Klassifizierungen häufig als Varianten salienzbedingter definiter Verwendung aufgefasst. 31 Cornish (1986, 1996, 1999) verzichtet auf eine Unterscheidung deiktischer und anaphorischer Salienz. Er erklärt im Rahmen seines diskursorientierten Ansatzes für irrelevant, über welche Domäne die Repräsentation eines salienten Diskursobjektes eingeführt wurde. Ferner kann man das folgende Zitat so deuten, dass die Annahme einer konzeptuellen Diskursrepräsentation eine Unterscheidung von Referenzdomänen, wie sie in der phorischen Abgrenzung von Anaphora und Deixis vorgenommen wird, ausschließt:32 The saliency of the referent concerned may have been induced by explicit prior mention in the cotext, by an inference triggered by a given mention, or by inference from, or direct mutual perception of, a feature of the shared situational or wider cultural context. Minimally, a gesture (including gaze direction) towards a physically present feature of the situational context is enough to make that feature salient [...]. In all cases, it is within a conceptual representation in the mind of speaker and addressee that the referent is located and accessed - and not in either the co-text or the physical situational context. (Cornish 1999: 147)
Ich meine, dass Cornish so das Kind mit dem Bade ausschüttet: Zwar können die verschiedenen Referenzdomänen gleichermaßen zur mentalen Etablierung eines salienten Diskursobjektes beitragen, dennoch müssen sie unterschieden werden, da sie in vielfältiger Weise interagieren können - sowohl koalierend als auch konfligierend, wie ich unten in 2.3.3 mit Beispielen belegen werde. Dass auch mit Cornishs Ansatz, der eine Domänenunterscheidung ganz außer acht lassen will, keine klare Abgrenzung von Anaphora und Deixis möglich ist, zeige ich in 2.2.4. Anders als Cornish trifft Lewis (1979: 179) eine Unterscheidung zwischen textuell und nicht-textueller erzeugter Salienz: „There are various ways for something to gain salience. 30
Für Cornish (1996, 1999) können solche Fälle anaphorisch sein, wenn das Pronomen unbetont ist. Ein Beispiel hierzu diskutiere ich unten in 2.2.4. 3 1 Geach (1962), Lasnik (1976), Cooper (1979), Evans (1980), vgl. von Heusinger (1997: 151-160) sowie hier Kap. 2.1. 32 Dabei kommt ihm eine Auseinandersetzung mit dem Konzept des .abwesenden Antezedens' gelegen, vgl. Tasmowski-de Ryck/Verluyten (1982, 1985), für die indirekte Anaphora nicht antezedenslos ist, sondern sprachintern Uber eine Anapher-Antezedens-Relation erklärbar. Cornish (1996: 36f, 1999: 144) kann dagegen zeigen, dass die Herleitung eines abwesenden Antezedens (ζ. B. Fahrer aus dem vorerwähnten Auto) die Annahme einer Diskursrepräsentation impliziert.
18 Some have to do with the course of conversation, others do not." Die Arten von Salienz ordnet Lewis (1979: 178) in einer Hierarchie an, die er zur Erklärung von Definitheit verwendet: ,„the F (eine definite NP) denotes χ if and only if χ is the most salient F in the domain of discourse, according to some contextually determined salience ranking."33 Von Heusinger (1995, 1996, 1997) integriert Salienzhierarchien in eine formal-semantische Beschreibung defmiter Referenz. Der sog. Epsilon-Operator ist eine Auswahl-Funktion, die entsprechend einer gegebenen Salienzhierarchie den ,salientesten' Referenten bestimmt. Von Heusinger sagt wenig über die Salienzhierarchie selbst und beschränkt sich explizit auf deren Formalisierung: „The theory does not claim anything about the derivation of such salience hierarchies, but it integrates a given hierarchy into the semantic representation" (1995: 83; vgl. 2.1.2). Für empirische Vorhersagen bleibt man also auf Lewis' (1979) Ergebnisse angewiesen. Diese sind leider in den hier interessierenden Punkten recht dürftig: So wird die angesprochene Unterscheidung textuell versus nicht-textuell erzeugter Salienz nicht wirklich weiter verfolgt. Auch von Heusinger (1997: 83) sagt lediglich: „Eine Salienzhierarchie ist eine Eigenschaft des sprachlichen und außersprachlichen (Contexts, bezüglich dessen eine definite NP gedeutet wird." Wie beide , Kontexte' interagieren, wird nicht untersucht. Lewis (1979) stellt jedoch , Akkomodations-Regeln' zur Zuweisung von Salienz bei konkurrierenden Referenten auf, die ζ. B. so aussehen: If at time t something is said that requires, if it is to be acceptable, that χ be more salient than y; and if, just before t, χ is no more salient than y; then - ceteris paribus and within certain limits - at t, χ becomes more salient than y. (Lewis 1979: 179)
Man muss dies wohl zirkulär nennen, denn während sich hier die Salienzhierarchie aus der Akzeptabilität der defmiten Verwendung ergibt, wurde Definitheit zuvor als Bezug auf das salienteste Diskursobjekt definiert. Also: Ein Referent ist salient, weil auf ihn définit referiert wird, und diese definite Referenz ist möglich, weil er salient ist. Somit können weder Vorhersagen über Lesarten bei konkurrierenden anaphorischen Lesarten (Beispiele bei Lewis 1979: 178-180), noch über anaphorische versus deiktische Lesarten (wie unten in (3) notwendig) gemacht werden. Das Kriterium der Salienz scheint mir also für (phorische) Definitionen von Anaphora versus Deixis nicht zu taugen. Klarer ist Lyons (1977: 673): „Anaphora presupposes that the referent should already have its place in the universe-of-discourse, [...] deixis does not; indeed, deixis is one of the principal means open to us of puting entities into the universeof-discourse so that we can refer to them subsequently." (vgl. Cornish 1986: 153f). Dies ist wieder das ,Bekanntheits'-Kriterium Brugmanns, mit dem Unterschied, dass Deixis explizit als sprecher-initiierter Prozess des Neueinführens dargestellt wird. Damit scheint beliebig zu sein, aufgrund welcher Eigenschaften des Referenten diese Neueinführung geschehen kann - Salienz, Unikalität, Zugehörigkeit zum Common Ground, oder was auch immer (vgl. 1.5.4.1). 33
Damit gehört Lewis (1979) von seinem Anspruch her in mein Kapitel über Definitheit (1.5.4). Sein Ergebnis, wonach Anaphora ein Bezug auf den salientesten Referenten ist - bzw. bei von Heusinger (1995, 1996, 1997) ein Bezug aufgrund einer schon etablierten Salienz-Auswahlfunktion scheint aber stark mit den hier diskutierten Kriterien zur Definition von Anaphora und Deixis zu kongruieren. Dies mag daran liegen, dass unterschwellig Anaphora als der Normalfall definiter Referenz angesehen wird (vgl. 1.5.5).
19 Wie Lyons (1977) kommt auch Garcia (1977) in ihrer Definition ohne Eigenschaften des Referenten aus. Anders als Lyons (1977) verwendet sie explizit hörerbezogene Kriterien und unterscheidet „low-deixis-" von „high-deixis-"Ausdrticken (Garcia 1977: 153).34 Erstere - die anaphorischen Verwendungen entsprechen - zeigen an, dass „a low degree of attention is needed to identify the entity referred to"; während ,starkdeiktische' Ausdrücke signalisieren, dass ein hohes Maß an Aufmerksamkeit notwendig ist, um den Referenten zu identifizieren. Dieser Ansatz ist mit Lyons' Definitionslinie kompatibel, nach der Deixis die Neueinführung eines Diskursreferenten ist, denn intuitiv ist klar, dass diese mehr Aktivität verlangt als die Beibehaltung eines Diskursreferenten. Darüber hinaus hat er möglicherweise den Vorteil, das Maß an ,Deiktizität' graduell beschreiben zu können, also Verwendungen domänengebundener Ausdrücke auf einer Skala zwischen schwach- und starkdeiktisch anordnen zu können. Das setzt voraus, dass man entsprechend graduelle Diskursfunktionen findet, während Lyons' Distinktion ,Neueinführung' versus .Beibehaltung' ja binär zu sein scheint (entweder ist ein Element schon in der Diskurswelt oder nicht). Graduell wird das Konzept erst dann, wenn man verschiedene Aktivierungsstufen für Einheiten in der Diskurswelt unterscheidet. Dergleichen lässt sich ζ. B. im Bereich indirekter Anaphora feststellen, wo das aktuelle Referenzkonzept nicht identisch, aber konzeptuell mehr oder weniger eng verknüpft mit einem eingeführten Diskursreferenten und durch diesen mehr oder weniger stark aktiviert ist (vgl. Schwarz 2000a). Ich werde hierauf in 2.2 eingehen. Die Konzeption von Anaphora als Reaktivierung oder Aktivierung eines Referenten ist - im Hinblick auf indirekte Anaphora und Komplex-Anaphora - plausibler als die Konzeption einer simplen Beibehaltung eines Referenten. So verweist Schwarz (2000a: 62-65) darauf, dass Anaphern neue Referenten etablieren können.35 Es bleibt für ein Modell anaphorischer und deiktischer Referenz dennoch die Frage, wodurch ein Referenzkonzept so aktiviert wird, dass es durch anaphorische bzw. deiktische Verweise erreicht wird. Trotz der Kritik an Salienztheorien erscheint es daher nicht befriedigend, Eigenschaften des Referenten ganz aus den Definitionen zu eliminieren. Dass in Brugmanns Donner-Beispiel ohne weiteres der Donner als Referent für das Pronomen das erkannt wird (und nicht etwa ein am Wegesrand kriechendes Insekt, oder was die Situation sonst noch so bietet), hängt selbstverständlich mit der Salienz dieses Referenten zusammen. Ich verkompliziere dieses Beispiel wie folgt: (3)
Situation: A und Β gehen während eines Gewitters spazieren und unterhalten sich über Lebensmittel. A: Kennst du das neue Tomaten-Ketchup von Kraft? In diesem Moment donnert es, und B: dás ist kräftig!
Das Pronomen dás ist - auch in seiner betonten Form - ambig; es hat eine deiktische Lesart („Donner", wie bei Brugmann intendiert) und eine anaphorische („Ketchup"). Welcher der
34
35
Sie scheint dies in ihrer Untersuchung des Spanischen an Wortklassen und Kriterien wie Betonung (starkdeiktisch) und Klitisierung (schwachdeiktisch) festzumachen, was Cornish (1986: 156) kritisiert. Er geht zurecht davon aus, dass es sich um unterschiedliche Diskursfunktionen handelt; der Kontrast ergebe sich erst innerhalb eines Kontextes. Beispiele und Diskussion zu Komplex-Anaphern siehe unter 1.4.2; zur textuellen Funktion indirekter Anaphern siehe 2.2.5.2.
20 beiden Referenten ist in dieser Situation salienter - der Donner, der Sprecher und Hörer vielleicht so erschreckt hat, dass sie den Diskurs an dieser Stelle abgebrochen und den Diskursreferenten deaktiviert haben, oder der Diskursreferent „Ketchup", weil er gerade eingefllhrt wurde und, dem Donner zum Trotze, diesbezüglich noch eine Antworterwartung an Β besteht?36 Das Salienzkonzept hilft uns hier ebenso wenig weiter wie die - wenig plausible - Klassifizierung Garcías (1977), wonach für die „starkdeiktische" Lesart („Donner") mehr Aufmerksamkeit erforderlich sei als fiir die „schwachdeiktische". Die diskutierten Ansätze können zwar mit müheloser Beliebigkeit erklären, warum ein Referent ftlr domänengebundene Referenz zugänglich ist, nicht aber, unter welchen Umständen welche Referenzdomäne gewählt wird. Um diesen Unterschied überhaupt terminologisch zu erfassen, muss man zunächst, angelehnt an ,phorische' Ansätze, physische und diskursive Salienz unterscheiden. Diskursreferenten sind innerhalb der textuellen Domäne salient (oder „aktiviert" oder „fokussiert") und daher mit wenig Aufwand zu erreichen; deiktisch bezogene Referenten sind in der nicht-textuellen Domäne salient oder aktiviert (wie Brugmanns Donner von sich aus, oder sie werden salient gemacht, ζ. B. per Zeigegeste) und können daher in die textuelle Ebene eingefllhrt werden. Somit kann die Unterscheidung textueller und nicht-textueller Verweisdomänen - trotz aller Schwierigkeiten und der Annahme eines Kontinuums von Verwendungsweisen - nicht aufgegeben werden, wenn man ein psychologisch adäquates Modell anstrebt. Damit sind wir wieder bei den ,phorischen' Definitionen angelangt, die durch Bühler (1934) mit seiner Unterscheidung von textuellen und physischen Verweisdomänen expliziert wurden. Hiermit befasst sich der nächste Abschnitt.
1.3
Verweisdomänen - Bühler (1934)
Obwohl bereits vor Bühler (1934) die wesentlichen Konzeptionen zur Definition der Deixis und Anaphora existierten (wie in 1.1 und 1.2.1 gezeigt), steht Bühlers Arbeit im Mittelpunkt umfangreicher Forschungsliteratur, z. B. Diewald (1991, Kap. 1 u. 7). Kurze Überblicke finden sich bei Bosch (1983: 9-12), Buhl (1997: 54f), Lenz (1997: 23-32) und Vater (31996: 14—16). Wissenschaftshistorische und philosophische Aspekte werden in Eschbach (1988) untersucht. Den Bereich Diskursdeixis und seine Abgrenzung zur Anaphora (Fillmore 1971/72, 1975; Diewald 1991: 112-127; Lenz 1997: 61-76; Herbermann 1988, 1994) behandle ich später in einem eigenen Abschnitt (1.4.2).
36
In beiden Lesarten kann das Pronomen betont sein. Dies spricht gegen die Annahme, betonte Pronomina seien deiktisch, unbetonte anaphorisch (so Comish 1996: 24, 32, sowie ftlr das Englische 1999: 31, 122f): Die Betonung eines Pronomens zeige an, dass sein Referent noch nicht im Fokus, aber aktiviert sei ( vgl. Gundel e. a. 1993, 1996).
21 1.3.1
Klassifizierung nach Modi des Zeigens
Bühler (1934) vertritt einen sprachpsychologischen Ansatz und kritisiert wortklassenorientierte Ansätze, bei denen es um die syntaktische Äquivalenz von Ausdrücken mit Nomina geht. Er klassifiziert syntax-unabhängig in Zeigwörter (diese sind deiktisch, was bei ihm anaphorisch einschließt, s. 1.3.2) und Nennwörter. Bühlers Klassifikation beruht auf unterschiedlichen Arten der Identifizierung von Referenzobjekten in zwei verschiedenen „Feldern" (daher „Zweifeldertheorie"; in meiner Terminologie „Domänen"): - Nennwörter konstituieren Bedeutung situationsunabhängig im Symbolfeld - es sind Symbole (Bühler 1934: 104, 149). - Zeigwörter sind Rezeptionssignale,37 die im Zeigfeld von Fall zu Fall Bedeutungswerte erhalten (Bühler 1934: 149). Zeigwörter steuern die Wahrnehmung des Rezipienten (:106). Dies betrifft nicht nur lokale Orientierung, sondern auch personale und temporale Referenz. Die Orientierung im Zeigfeld wird bestimmt durch die Origo ich - hier - jetzt (:149). Der Zeigecharakter muss nicht unbedingt - wie in vielen Fällen der Deixis durch zusätzliche Hilfen (Zeigegesten...) erzeugt werden,38 sondern ist „in den Zeigwörtern selbst angelegt" (Lenz 1997: 26), so dass Anaphora ohne solche Hilfen auskommt. Deixis und Anaphora unterscheiden sich nur im Zeigfeld. Es sind ,Modi des Zeigens' (Bühler 1934: 80; vgl. Ehrich 1992: 8; Lenz 1997: 26f), nicht verschiedene Wortarten (Lenz 1997: 31). Damit gehört Bühler zu den Autoren, die Anaphora und Deixis nicht als lexikalische Eigenschaften, sondern als Aspekte der Sprachverwendung auffassen (vgl. 1.1). Bühler unterscheidet die folgenden Deixisarten: - Deixis ad oculos et aures (Referent im Wahrnehmungsraum von Sprecher und Hörer) 39 - Deixis am Phantasma40 („Erinnerungs- und Phantasiesituationen von wahrnehmungsähnlichem Charakter", Bühler 1934: 133) 37 38
39
40
Ob es sich in Bühlers Verständnis um Symbole handelt, ist nicht ganz klar (vgl. Lenz 1997: 24f). Die „Kopplung" von deiktischen Ausdrücken und Gesten beschreibt vor Bühler (1934) bereits Wegener (1885), vgl. Cheang (1990: 76). Ehrich (1982: 43) spricht von „objective deictic pointing" und versteht darunter offenbar jedwede Referenz auf „individuals in their [des Sprechers/Hörers] extralinguistic environment". Ich halte dies für eine wenig hilfreiche Ausweitung des BUhlerschen Konzepts, denn es läuft darauf hinaus, (Gegenstands-)Referenz und Deixis gleichzusetzen. Vater ( 3 1996: 16) glaubt, „dass die Deixis am Phantasma zu einer überflüssigen Annahme wird, wenn man annimmt, dass die Welt der Referenten ohnehin eine projizierte Welt ist", sofern man Verschiebungen des Bezugspunktes zulässt. Dies bezweifle ich: Bei aller Liebe zur Erkenntniskritik bleibt es ein Unterschied, ob man einen sinnlich wahrnehmbaren Referenten zu identifizieren hat, der aufgrund des Wahrnehmungsvorgangs konzeptualisiert wird, oder einen, der als mentales Konzept ohne Äquivalent im Wahrnehmungsraum vorliegt. Für sinnvoll halte ich den prototypischen Deixis-Begriff, der wohl auch Bühlers Vorstellung entspricht: Danach ist Deixis ad oculos die ,ursprüngliche', prototypische Deixis-Art; die übrigen kommen durch Origo-Verschiebung zustande; vgl. Herbermann (1988: 55): „In ihrer Grundfigur oder prototypischen Beschaffenheit" geht Deixis vom Sprecher aus (egozentrisch), es gibt aber auch aliozentrische Deixis = „Versetzung" der Origo in andere Personen (:57f); Ehrich (1992: 8) spricht von Deixis ad oculos als dem „paradigmatischen Fall".
22 -
anaphorisches Zeigen „auf etwas, was an Plätzen im Ganzen der Rede aufgesucht und vorgefunden werden soll" (Bühler 1934: 121). Das anaphorische Zeigfeld ist die Rede (modern: Diskurs).
1.3.2
Anaphora versus Deixis
Zwei Punkte an Bühlers Anaphora-Auffassung sind hier interessant: 1) Dass Anaphora als Spezialfall der Deixis aufgefasst wird, kennzeichnet eine Gemeinsamkeit von Anaphora und Deixis, die in allen phorischen Ansätzen beschrieben wird, nämlich die, durch Verweise in bestimmte Verweisdomänen einen Referenten zu identifizieren.41 Ich rechne Bühler somit den ,phorischen' Ansätzen zu, denn das Kriterium der Bekanntheit taucht bei ihm nicht explizit auf. Deixis als Neueinführung in eine Diskurswelt zu definieren, passt nicht in seine Terminologie, denn eine Diskurswelt spielt für ihn nur im anaphorischen Bereich eine Rolle. Innerhalb der phorischen Ansätze muss man somit einen weiten Deixisbegriff 4 2 (Deixis einschließlich Anaphora, wie bei Bühler und auch bei Ehrich 1992: 9) von einem engen Deixisbegriff (Deixis vs. Anaphora) unterscheiden. 43 2) Obwohl Bühler somit die enge Verwandtschaft von Anaphora und Deixis betont, macht er eine fundamentale Unterscheidung - oder sie unterläuft ihm, weil ihm kein moderner 41
42
43
Ebert (1971: 107) wendet sich in einer Untersuchung über definite Artikel in nordfriesischen Dialekten gegen BUhlers Auffassung (1934: 390), wonach Zeigen auf die physische Umgebung und Zeigen auf vorangegangene Textteile analoge Fälle sind - obwohl sie den Terminus „Textdeixis" verwendet: „Nur in der linguistischen Analyse wird ein vorangegangenes Textstück als Gegenstand behandelt, auf den ein anaphorisches Zeichen direkt hinweist. In kommunikativer Funktion signalisiert der bestimmte Artikel [der anaphorischen NP] lediglich die Bekanntheit des Referenten. [...] Während in der situativen Deixis das Demonstrativum [der nordfries. D-Artikel] selber spezifizierende Funktion hat, setzt der [formgleiche] anaphorische Artikel die Spezifikation des Referenten bereits voraus. Daher erscheint es mir notwendig, die anaphorische bzw. kataphorische Funktion des D-Artikels von seiner demonstrativen Funktion in der situativen Deixis zu unterscheiden." Gegen diese Kritik spricht, dass in der untersuchten nordfries. Sprache für beides derselbe Artikel verwendet wird, obwohl dort ein weiterer definiter Artikel zur Verfügung steht (mehr dazu in einer Fußnote in 2.4). Bühler (1934: 12 lf) stützt seine Auffassung mit dem Hinweis, dass in idg. Sprachen viele Lexeme deiktisch und anaphorisch verwendbar sind (ζ. B. da als Raumausdruck, anaphorisch in da-rum und da „weil"). Ähnlich argumentiert Ahlgren (1990: 169f) für das Schwedische, dass die anaphorische Verwendung von Pronomina als stärkere Abstraktion von der deiktischen abgeleitet sei, analog zu anaphorisch verwendeten Lokaldeiktika. Vater (31996: 15) stellt den sprachhistorischen Aspekt als Hauptargument für Bühlers weiten Deixisbegriff heraus. Ich glaube dagegen, dass sich Bühlers Einteilung auch ohne sprachhistorisches Argument aus den Kriterien des phorischen Ansatzes ergibt. Das sprachhistorische Argument halte ich ohnehin nicht für besonders überzeugend, denn die von BUhler genannten Beispiele für deiktische Ausdrücke in anaphorischer Verwendung würden von solchen Autoren, die Diskursdeixis von Anaphora unterscheiden (ζ. B. Fillmore 1975, Harweg 1978, Canisius/Sitta 1991, Näheres s. 1.4.2) der Diskursdeixis und nicht der Anaphora zugerechnet. Ich verwende in der Regel die letztere Definition.
23
Referenzbegriff zur Verfügung steht: Bühlers Anaphora ist Zeigen auf eine Redestelle, nicht auf ein außersprachliches Objekt (Bühler: 1934: 388-390, vgl. Ehrich 1992: Ç44 und Lenz 1997: 29) - anaphorisch verwendete Ausdrücke sind demnach nicht referenziell,45 im Gegensatz zu deiktischen, mit denen man ja ,auf Referenten zeigt'. Auch Bühlers Terminus „syntaktisches Zeigen" (1934: 388) drückt die Vorstellung einer rein textinternen anaphorischen Beziehung aus. Somit liegen für Bühler Deixis ad oculos und Deixis am Phantasma aufgrund ihres referenziellen Charakters enger beieinander als Deixis am Phantasma und die nicht-referenzielle Anaphora. Diese letzteren haben aber das Fehlen eines physisch präsenten Referenten gemeinsam.46 Somit ist nach Bühler (1934) Referenzialität ein klares Kriterium, um Deixis von Anaphora abzugrenzen. Dies sollte eine graduelle Differenzierung, wie sie durch Konzeptionen vor Bühler vorgeschlagen wurde (s. 1.2.1), verbieten. Diesen Umstand übersieht A. Bühler (1988: 291), wenn er K. Bühler (1934) wie folgt zusammenfasst: Diese Klassifikation von Zeigarten beruht auf Graden [!] der sinnlichen Präsenz des Gezeigten: Im ersten Fall [Deixis ad oculos et aures] befindet sich das Gezeigte im Feld der akustischen oder visuellen Wahrnehmung, im zweiten Fall [Anaphora] im Bereich der verständigen Wahrnehmung von Rede und Text, im dritten Fall [Deixis am Phantasma] schließlich ist das Gezeigte allein in Erinnerung oder Vorstellung präsent. 47
Bemerkenswert ist, dass eine konsequente Einteilung nach „Graden der sinnlichen Präsenz" Anaphora bei A. Bühler als die ,Mitte' zwischen physischer Deixis und Deixis am Phantasma erscheinen lässt. Das ergibt sich daraus, dass er den physischen Verweisraum per se für leichter zugänglich hält als den textuellen, und diesen wiederum für leichter zugänglich als den konzeptuellen. Eine solche Hierarchie ist empirisch fragwürdig: Warum sollten anaphorische vermittelte Referenten - ζ. B. in lokalen Koreferenz-Relationen wie Frau Meyer¡ ist nicht gekommen, weil sie¡ krank ist - weniger leicht zugänglich sein als deiktisch
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„Die anaphorischen Sprachmittel [...] zeigen auf Ausdrücke, die in der Rede für Einheiten der außersprachlichen Umwelt stehen" (Hervorhebungen dort). Deutlich wird diese Auffassung in der Terminologie „endophora" (entspricht Anaphora) versus „exophora" (entspricht Deixis) von Halliday/Hasan (1976: 33). Diese drückt zwar die Gemeinsamkeit ,phorischer' Referenz aus, unterscheidet durch die Vorsilben aber zwischen Verweisen innerhalb' und ,nach außerhalb' der Textebene (vgl. die Kritik bei Vater (31996: 15) und bei Cornish (1999: 116), dessen Exophora-Konzept unten in 2.2.4 diskutiert wird). Diese Vorstellung wird immer noch vertreten, vgl. Herbermann (1988: 78): Anaphora ist „textinterne Referenz" auf Antezedenten mit „textexterner Referenz" (mehr dazu in 1.4.2). Dagegen nimmt Thrane (1980: 10) ein Dreiecksverhältnis zwischen Anapher, Antezedens und Referent an, bei dem zwischen Anapher und Antezedens ein sprachinternes Verhältnis der Koreferenz besteht, aber gleichzeitig zwischen Antezedens und Referent und zwischen Anapher und Referent jeweils ein Referenzverhältnis. In Thranes Terminologie besteht also eine Interlevel-Beziehung zwischen "Level 0", der außersprachlichen Ebene, und "Level 1", der sprachlichen Ebene, sowie gleichzeitig eine Intralevel-Beziehung auf Level 1. Diewald (1991: 117) betont ebenfalls die Gemeinsamkeit von ,Realdeixis' und Deixis am Phantasma, da beide „auf den außersprachlichen Kontext bezogen" seien (vgl. :126). Allerdings verwischt sich die Referenzialitäts-Unterscheidung Deixis vs. Anaphora auch in Passagen K.Bühlers selbst (wie 1934: 80), die eine gleichstufige Dreier-Einteilung in Deixis ad oculos et aures, Anaphora und Deixis am Phantasma nahelegen (so auch bei Ehrich 1982: 43f; 1992: 8f).
24 vermittelte? Die Frage einer Zugänglichkeits-Hierarchie der Verweisdomänen wird auch durch die modernen Salienz- und Accessibility-Theorien (s. 1.2.2 bzw. 2.4) nicht befriedigend geklärt;48 von klassischen phorischen Klassifikationen wie Bühler (1934) wird sie gar nicht gestellt. Es bleibt also dabei, Anaphora und Deixis über die textuelle versus nicht-textuelle Verweisdomäne zu unterscheiden. Dieses Kriterium sagt noch nichts über leichte oder erschwerte Zugänglichkeit eines Referenzobjektes aus und darf daher nicht mit dem Kriterium .direkte versus indirekte Referenz' vermischt werden. Ich werde in 2.2 und 2.3 darauf eingehen und zeigen, dass sowohl Anaphora als auch Deixis direkt oder indirekt sein können, d. h. sowohl innerhalb der textuellen als auch innerhalb der physischen Verweisdomäne existieren Referenzobjekte von unterschiedlicher Salienz und Zugänglichkeit. Auf diesen Überlegungen beruht dann mein Modell in 2.4. Zunächst sind aber einige Probleme der Bühlerschen Auffassung zu besprechen.
1.3.3
Problemein 1.3.2
In BUhlers Anaphora-Definition haben sich Aspekte der Wortklassen-Auffassung eingeschlichen, die Bühler selbst kritisiert (vgl. 1.3.1), nämlich Anaphora als rein text-internes Verweisen und somit als bloße Substitution von Nomina. Im Widerspruch zu Bühlers offensichtlicher Absicht, mit seiner Unterscheidung nach Modi des Zeigens die Verarbeitung verschiedener Referenzmittel möglichst gleichartig zu beschreiben, postuliert er damit für anaphorische und deiktische Referenz unterschiedliche Prozesse. Zunächst gehe ich auf Deixis ein. Aus Bühlers Deixis-Kategorien ergibt sich eine kategoriale Unterscheidung zwischen Referenz auf anwesende und solche auf abwesende Personen oder Dinge. Erstere fällt in den Bereich der Deixis ad oculos, weshalb Bellmann (1990: 158) kritisch feststellt: Die Grenze zwischen personaler und lokaler Deixis scheint im übrigen in der Praxis des deiktischen Referierens nur verwischt und unklar zu existieren, vor allem, wenn man berücksichtigt, daß adverbiale Lokaldeiktika zu den auf Personen referierenden Pronomina hinzutreten (der da).
Referenz auf Abwesende kann hingegen Deixis am Phantasma oder eine anaphorische Wiederaufnahme sein, die jeweils keine lokaldeiktischen Merkmale aufzuweisen scheinen. Was ist aber, wenn ein zunächst anwesender Referent sich im Diskursverlauf aus der physischen Verweisdomäne entfernt?49 Dieser Fall, den man vielleicht arg spitzfindig finden mag, spielt in der Gebärdensprachforschung eine wichtige Rolle. Dort ist die Definition von Verweisdomänen verknüpft mit der Unterscheidung von syntaktischem und topographischem Raum. Wegen des räumlich-visuellen Charakters von Gebärdensprachen ist oft nur anhand theoretischer Kriterien entscheidbar, ob anaphorisch auf einen sprachlich verorteten Index oder deiktisch auf einen Referenten gezeigt wird, denn Index und Referent können
48 49
Für einen eigenen Ansatz hierzu vgl. 2.3.3 sowie für eine experimentelle Überprüfung 3.2. Bellmann (1990: 242) zitiert hierzu einen literarischen Beleg aus Iffland: „Oberförsterin: Ei was. Wer sich um jedes Gesicht bekümmern wollte, das einem die Männer machen - und vollends Der! [Herv. und Großschreibung dort]. Der ist noch eben so, wie er sonst war." Referent ist der Ehemann der Sprecherin, der kurz vorher die Bühne verlassen hat.
25 räumlich zusammenfallen. Dies wird kontrovers diskutiert (vgl. insbes. Lillo-Martin/Klima 1990, Liddell 1990, Keller 1999; Wrobel 1999 u. 2002; sowie 2.1.1). Solche Probleme machen deutlich, dass - unabhängig von der An- oder Abwesenheit eines Referenten in einer bestimmten Verweisdomäne - eine mentale Repräsentation angenommen werden sollte, in der ein Referent ,verortet' wird. Für die Referenz auf einen Bestandteil dieser Repräsentation sollte es keinen kategorialen Unterschied machen, ob der Referent außerdem physisch kopräsent, textuell oder gar nicht vorhanden ist. Die Annahme einer solchen Repräsentationsebene ist der Grundgedanke moderner Diskursrepräsentationstheorien, 50 seien es DRT als formale Theorie, in denen diese Ebene als semantisch und quasi als Projektion der syntaktischen Ebene angenommen wird, 51 oder kognitiv orientierte Theorien, ζ. B. „Diskursrepräsentation" bei Strohner (1990), „mentales Modell" oder „Textweltmodell" (Johnson-Laird 1983 und Schwarz 2000a)52 oder „Diskursuniversum" bei Lyons (1977: 570ff). Ansätze zur Vorstellung einer Diskursrepräsentation finden sich auch schon bei Bühler (1934) - im Widerspruch zu seiner Annahme, nur Deixis sei referenziell und Anaphora rein stellvertretend. So schließt Bühler (1934: 121f) aus der anaphorischen und deiktischen Verwendbarkeit derselben Ausdrücke auf eine mentale Repräsentation, die analog zur sichtbaren Umwelt von Sprecher und Hörer strukturiert sei. Dies macht einen graduellen Übergang zwischen Anaphora und Deixis am Phantasma plausibel, denn in beiden Fällen ist der Referent nicht physisch kopräsent, sondern ausschließlich in einer mentalen Repräsentation zu finden, in der sprachliches und außersprachliches Wissen mit unterschiedlicher Gewichtung zusammenspielen können. Aber auch physische Deixis schließt eine gleichzeitige mentale Repräsentation des Referenten nicht aus, im Gegenteil ist physische Präsenz ebenso wie textuelle eine Möglichkeit, wie ein Referent in eine Diskursrepräsentation gelangen kann. Es zeichnet sich ab, dass eine konsequente Abgrenzung von Anaphora und Deixis im Sinne ,phorischer' Definitionen - also nach unterschiedlichen Verweisdomänen - problematisch ist, weil sich textuelle und nicht-textuelle Domäne wohl doch nicht sauber trennen lassen. Man muss berücksichtigen, dass Referenten in einer mentalen Repräsentation zugänglich sein müssen, und diese Repräsentation wird durch Informationen aus textueller, physischer und konzeptueller Domäne beeinflusst. 53 Desweiteren gibt es knifflige Fälle, die man in Bühlers System als Mischfall zwischen Deixis ad oculos und Anaphora einordnen muss - oder die beides auf einmal sind, nämlich „wenn vermittels Sprache ein Ort eingeführt wird, der dann als neue Origo benutzt wird, ζ. B. Nach 100 Metern kommst Du an 50 51
52
53
Vgl. aber einschränkend Bosch (1983: 12). Siehe 2.1.1. Die Diskursrepräsentation in der DRT entspricht eben wegen ihres semantischen und eng mit der Syntax verknüpften Charakters nicht wirklich einer mentalen Repräsentation im Sinne kognitiver Theorien, sondern ist eine formale Nachbildung der Sprachstruktur. „Das im Rezeptionsvorgang entstehende Textweltmodell bildet eine kognitive Zwischenebene [...] zwischen sprachlicher Textstruktur und außersprachlicher Welt. [...] Das Textweltmodell ist nicht nur als Produkt des Textverstehens zu betrachten. Es hat eine wichtige Funktion bei der sukzessiven Verarbeitung aller weiteren Textbestandteile und determiniert on-line deren Interpretation." (Schwarz 2000a: 41) Ich will mit dieser Bemerkung nicht sagen, dass ich nun doch (anders als in 1.2.2.2 argumentiert) eine diskurs-basierte Anaphora/Deixis-Definition der phorischen vorziehe. Vielmehr muss eine phorische (an unterschiedlichen Verweisdomänen orientierte) Definition die Existenz einer Diskursrepräsentation berücksichtigen. Vgl. auch 2.2.4.
26 eine Kreuzung. Hier siehst Du schon das Theater." (Buhl 1997: 55, Unterstr. von mir). Ehrich (1992: Kap. 2.3) behandelt solche Fälle ausführlich als „positionale Diskursdeixis". Es wird rein textuell eine mentale Repräsentation des Referenten KREUZUNG aufgebaut, deren räumliche Eigenschaften dann so genutzt werden, als wäre der Referent kopräsent. In der Forschung nach Bühler wurden Anaphora und Deixis innerhalb phorischer Ansätze nur noch selten in einer gemeinsamen Theorie behandelt (vgl. Lenz 1997: 33).54 Deixis wird in Anlehnung an Bühlers Deixis ad oculos definiert; in der Anaphern-Forschung treten zunächst wieder syntaktische Aspekte in den Vordergrund, die auf eine Substitutionstheorie hinauslaufen (ebd.). Bellmann (1990: 244) bemerkt kritisch: Pronomina sollen nach der Theorie entweder anaphorisch oder deiktisch sein. Ein solcher Gegensatz wird auch durch die Auffassung der älteren Generativen Grammatik nahegelegt: Während die anaphorischen auf dem Transformationswege durch Pronominalisierung entstünden, würden die deiktischen schon in der Tiefenstruktur erzeugt (vgl. Boeder 1968: 244f). [...] Es dürfte sich allerdings zeigen, daß für die gesprochene Sprache eine solche Differenzierung auf Ebene der Kommunikation und der Verwendung in so strikter Form durchaus nicht besteht und daß gerade das potentielle Zusammentreten von Anaphorikum und Deiktikum die gesprochene Sprache charakterisiert [...].
Am ehesten werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Anaphora und Deixis in Ansätzen diskutiert, die von Bühlers Deixis ad oculos abrücken und den Begriff der Deixis zur sog. Text- oder Diskursdeixis ausdehnen. Weil hier - wie auch bei der Anaphora - die deiktische Verweisdomäne der Text ist, der ja sonst als anaphorische Domäne gehandelt wird, treten interessante Abgrenzungsprobleme auf, die im folgenden Abschnitt besprochen werden.
1.4
Deiktische Referenz und Diskursdeixis
Ich komme zunächst auf die Frage aus 1.1.1 zurück, ob Deixis (und Anaphora) als Wortartenphänomen oder als Verwendungsweisen aufzufassen sind und plädiere für letzteres. In 1.4.2 geht es um die Abgrenzung zwischen Diskursdeixis und Anaphora. Der Abschnitt soll, ebenso wie ein literatur- und filmwissenschaftlicher Exkurs in 1.4.3, die generellen Probleme nach-Bühlerscher Ansätze zeigen, Anaphora und Deixis zu unterscheiden.
1.4.1
Deiktische Referenz als Verwendungsweise
Deiktische Referenz ist eine Unterart definiter Referenz, die nach traditioneller Auffassung an einen bestimmten Typ von Ausdrücken gebunden ist (vgl. Lenz 1997: 45^17; Harweg 1978, 1990; Herbermann 1988). Herbermann (1988) definiert Deixis als Referenz auf be54
Explizite Kritik an Bühlers Anaphora-Konzeption äußert Tschauder (1990: 731f). Halliday/Hasan (1976) versuchen mit ihren Termini Endo-/Exophora zu markieren, dass sie Anaphora und Deixis als gleichberechtigte Größen verstehen; sie bestätigen damit aber Bühlers Konzept der Anaphora als „Zeigen", das Tschauder kritisiert.
27 stimmte lokale, temporale oder personale55 Gegebenheiten in Abhängigkeit von der Befindlichkeit des Sprechers zum Zeitpunkt der Äußerung, genauer: Deixis ist die definite und Identifizierbarkeit [für Sprecher und Hörer 56 ] gewährende Referenz auf bestimmte (lokale, temporale, personale o.a. 57 ) Gegebenheiten vermittels solcher (z. T. durch Gesten unterstützten) sprachlichen Ausdrücke, die die betreffenden Gegebenheiten in (ausschließlicher) Abhängigkeit von den jeweils entsprechenden Faktoren der Befindlichkeit des Äußerungsträgers58 zum Zeitpunkt der Äußerung bezeichnen.
Deiktische Referenz sei somit eine „Doppelrelation" zwischen Ausdruck und Referent sowie zwischen dem Ort des Sprechers und dem Ort des Referenten (Lenz 1997: 5559), wobei die zweite Relation entscheidend für die Identifizierbarkeit des Referenten sei. Unter „Ort" seien (nach Harweg 1978: 138) nicht nur der lokale Ort, sondern auch Zeit und Person zu verstehen.60 Herbermann (1988) weist auf die Ähnlichkeit seiner Konzeption mit Harweg (1975: 379f und 1976a: 329) hin. Ihnen gemeinsam ist die Vorstellung einer Klasse deiktischer Ausdrücke. Nach Harweg ist in der Struktur des deiktischen Ausdrucks eine Zeigegeste oder ein Äquivalent dazu verankert. Es handelt sich also - in Bezug auf die in 1.1.1 gemachte Unterscheidung zwischen Wortklassen- und verwendungsbasierten Ansätzen - um eine Definition, die auf Deiktika als eigener Wortklasse beruht. Auch Fillmore (1975) und Lyons (1977) gehen von einer deiktischen Relation zwischen Ausdruck (nicht Äußerung) und Referent aus (z. B. bei Demonstrativpronomina), im Gegensatz zur Auffassung, dass sich eine deiktische Qualität erst beim Referenzakt zeigt (vgl. Lenz 1997: 62). Zutreffender scheint mir zu sein, dass eine Klasse strukturell domänengebundener Ausdrücke existiert, in deren semantischer Struktur es eine offene Stelle gibt, die eine Verankerung von Bestandteilen der Referenzsituation (vgl. 1.5.6) ermöglicht und fordert. Diese Bestandteile müssen aber nicht deiktisch sein, so sind selbst ,starke Deiktika' (vgl. 1.2.1) wie dort anaphorisch verwendbar. Lexemspezifisch ist also allenfalls, wie bei Pronomina, eine strukturelle (nicht nur situationsspezifische) Bindung an ein Situationsmerkmal. Ob
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59 60
Dies ist als Kritik an Bühler (1934: 93) zu verstehen, der von sinnlich wahrnehmbarer gestischer Begleitung deiktischer Ausdrücke ausging. Damit kann man temporale Gegebenheiten und manche personalen nicht erfassen (Herbermann 1988: 53). Merkwürdiger Weise nimmt Herbermann (1988: 50f) an, bei anderen definiten NPs sei der Referent nur für den Sprecher identifizierbar. Neben diesen Dimensionen hat Herbermann (1988: 71f) noch „modale Deixis" (Man macht das so mit Handbewegung, Er ist só groß), sowie textuale Deixis. Auch von Lenz (1997) verwendeter Terminus von Harweg (1968, 1975), der Sprecherin) u. Schreiber(in) umfassen soll. In Verbesserung einer Formulierung von Tschauder (1990: 733). Je nach Referent existieren unterschiedliche Relationen zwischen (Sprecher-)Origo und Referent. Lyons (1977: 442f) unterscheidet 1) first order entities (physikalische Objekte, bei denen eine Relationen zwischen Äußerungsort und Ort des Referenten besteht, bei Personaldeixis auch zwischen Sprecher- und Hörer-Rolle, ich vs. du), 2) second order entities (zeitliche Ereignisse, bei denen eine Relation zwischen Äußerungs- und Situationszeit besteht) und 3) third order entities (zeitlose Propositionen). Auf letztere kann laut Lenz (1997: 58, 61) nicht deiktisch referiert werden. Herbermann (1988) dagegen will weitere deiktische Dimensionen einführen (z. B. „Sozialdeixis"), was Lenz (1997:60) kritisiert.
28 dieses in der textuellen oder einer anderen Domäne zu finden ist, ist eine Sache der Verwendung. Für eine verwendungsbasierte Definition spricht ebenfalls, dass auch Ausdrücke, die nicht strukturell domänengebunden sind, deiktisch verwendet werden können. Z. B. kann die ,offene Stelle', die einen deiktischen Verweis verankert, auch durch eine lückenhafte syntaktische Struktur gegeben werden, nämlich in Äußerungen wie die Jugend von heute! oder total verkommen! oder ausrotten/, jeweils mit visuellem Verweis auf eine Gruppe Dosenbier trinkender Punks auf der Straße, der die Realisierung des Subjekts der Prädikation („Dies ist die Jugend von heute", „Die sind total verkommen") bzw. des Objekts der Proposition („Die sollte man ausrotten!") ersetzt. Man kann hier einwenden, die deiktischen Ausdrücke seien eben nur einer Ellipse zum Opfer gefallen, aber rekonstruierbar. Der Bereich der deiktischen Verwendungen geht aber noch weiter: Wenn ich auf der Straße eine schwarze Katze sehe, kann ich darauf verweisend sagen: Meine ist getigert. Dies ist auch den obigen Definitionen zufolge eine klar deiktische Äußerung, die aber keinen Ausdruck gestattet, der explizit deiktisch auf die schwarze Katze im Zeigfeld verweist (* Meine diese ist getigert) - auf sie wird ja auch gar nicht referiert, sondern auf die durch sie repräsentierte Gattung. Die explizit deiktische Ausformulierung - Mein Exemplar der durch dieses Exemplar vetretenen Gattung ist getigert - wäre auch in einer salopperen Version kommunikativ inadäquat. Ich stütze mich aus diesen Gründen im Folgenden auf Ansätze, die Deixis als Verwendungsmerkmal betrachten. So stellen Klein/Rieck (1982) heraus, dass Personalpronomina der dritten Person sowohl deiktisch als auch anaphorisch verwendbar sind. Nach Klein/ Rieck (1982: 40; vgl. Klein 1978) ist die anaphorische Verwendung eines Pronomens dadurch gekennzeichnet [...], daß es im unmittelbaren Kontext einen Ausdruck gibt, der jene Information eingeführt hat, mit der die allgemeine Bedeutung des Personalpronomens in der betreffenden Äußerung spezifiziert wird, bei deiktischem Gebrauch ist diese Information situativ - oder genauer gesagt: durch die Perzeption in der Sprechsituation gegeben.
Differenzierter unterscheidet Fillmore (1975: 40) drei Gebrauchsweisen der Deixis, wobei er zu den Forschern gehört, die Anaphora als Teil der Deixis rechnen, nämlich „gestural, symbolic, and anaphoric": By the gestural use of a deictic expression I mean that use by which it can be properly interpreted only by somebody who is monitoring some physical aspect of the communication situation; by the symbolic use of a deictic expression I mean that use whose interpretation involves merely knowing certain aspects of the speech communication situation, wether this knwoledge comes by current perception or not; and by anaphoric use of an expression I mean that use which can be correctly interpreted by knowing what other portion oft the same discourse the expression is coreferential with. (Herv. dort)
Während perzeptive Aspekte der Information also für den ,gestischen' Gebrauch wesentlich sind, gehören sie nicht notwendig zur Definition des symbolischen' Gebrauchs; der Begriff der Äußerungssituation wird weiter gefasst. Die Deixis-Definition öffnet sich somit für Grenzfälle zwischen (indirekter) Anaphora und Deixis. Auch Lenz (1997: 55) wendet sich gegen eine Beschränkung des Deixisbegriffs auf eine Wortklasse. Bei temporalen und lokalen Pronomina lasse sich ohne Situationskenntnis nicht
29 entscheiden, ob sie deiktisch oder anaphorisch oder beides seien, wie er mit einem Beispiel aus Lyons (1977) zeigt: (4)
We arrived in Edinburgh. It was nice here.
Wenn sich der Sprecher in Edinburgh befindet, ist here gleichzeitig deiktisch und anaphorisch; wenn nicht, nur anaphorisch.
1.4.2
Diskursdeixis
- Diskursdeixis als temporale Deixis Nach den bisherigen Deixis-Definitionen, die auf eine (verwendungsspezifische) Relation zwischen Sprecher-Ort oder -Zeit und Ort oder Zeit des Referenten abzielen, muss man sich fragen, inwiefern .Diskursdeixis' Uberhaupt eine Dimension der Deixis ist. Lyons (1977: 670) stellt den deiktischen Ursprung der Anaphora (und der Diskursdeixis) heraus (vgl. bereits Windisch 1869 in 1.2.1) und sieht in den Verweisen innerhalb des Diskurses einen temporalen Charakter: Anaphora involves the transference of what are basically notions to the temporal dimension of the context-of-utterance and the reinterpretation of deictic location in terms of what may be called location in the universe-of-discourse. [...] The basically deictic component in an anaphoric expression directs the attention of the addressee to a certain part of the text [...] and tells him, as it were, that he will find the referent there. [...] It is not of course the referent itself that is in the text or cotext. The referent is in the universe-of-discourse, which is created by the text and has a temporal structure impodes on it by the text.
Referenzpunkte der Diskursdeixis sind also Zeitpunkte im Diskurs (vgl. Lenz 1997: 62f, 65, sowie Harweg 1968: 168), somit ist Diskursdeixis eine Art Temporaldeixis. Dem entspricht das temporaldeiktische Vokabular für Diskursdeixis ( Wie vorhin gesagt). Diskursdeixis in schriftlichen Texten könnte auch als Raumdeixis aufgefasst werden, wie entsprechende vertikale Raumausdrücke zeigen (Wie oben gesagt). Im Diskurs als Verweisdomäne sind Raum- und Zeitausdrücke offensichtlich Metaphern, die gegen einander austauschbar sind (Ich rede hier über... = Ich rede jetzt über... ; vgl. Lenz 1997: 63f). Conte (1988: 240) stellt fest: Man verweist bei der Textdeixis mit einem topodeiktischen Terminus, z. B. oben („Wie ich oben gezeigt habe") oder mit einem chronodeiktischen Terminus, z. B. später („Auf diese These werde ich später noch zurückkommen") auf ein Segment oder einen Moment des Ko-Textes.
Es handelt sich also um ein Verweisen mit deiktischem Charakter, indem auf die Diskursteile analog zu zeitlicher bzw. räumlicher Deixis .gezeigt' wird (der Diskurs in seinem zeitlichen Verlauf bzw. der schriftliche Text als räumliches, horizontal gegliedertes Gebilde). Dennoch fassen die genannten Autoren Diskursdeixis nicht als einen Spezialfall der Temporal- oder Raumdeixis auf,61 sondern als eigene Dimension, vgl. Diskurs /Textdeixis vs. „Weltdeixis" oder „Realdeixis" bei Harweg (1990). Diese Konzeptionen machen den 61
Wenn auch Lenz (1997) den temporalen Charakter der Diskursdeixis besonders herausstellt. Seine Abgrenzung der Diskursdeixis von Temporaldeixis begründet er mit deren Metadiskursivität, s. u.
30 deiktischen Charakter der Diskursdeixis undurchsichtiger und werfen Probleme der Abgrenzung zur Anaphora auf. - Anaphora versus Diskursdeixis: Referenz-Identität? Der von Fillmore (1972) geprägte Terminus Diskursdeixis entspricht im Wesentlichen der Anaphora bei Bühler (1934; vgl. Lenz 1997: 34). Sowohl Diskursdeixis als auch Anaphora ist Referenz auf vorausgegangene Textteile; Anaphora liegt laut Fillmore (1975: 40) aber nur dann vor, wenn Ausdrücke koreferent sind (während Bühler (1934) keinen Begriff von Koreferenzialität hat). Eine solche Abgrenzung leitet auch Conte (1988: 240f) aus ihrer Kritik an Bühlers Anaphernbegriff ab: Von der Charakterisierung der drei Modi des Zeigens bei Bühler scheint mir die Charakterisierung der Anapher nicht in allen Formulierungen adäquat zu sein. Daß ,der werdende Kontext einer Rede selbst zum Zeigfeld erhoben wird', ist eine Formulierung, die mehr als auf die Anapher auf eine andere Art des Zeigens zutrifft, die von BUhler nicht erwähnt wird: die Textdeixis oder Rededeixis (discourse deixis). Bei der Textdeixis wird nämlich der sprachliche Kontext (Ko-Text im Sprachgebrauch von Petöfi und allgemein in der heutigen Textlinguistik und Pragmatik) zum Zeigfeld. [...] Ich schlage vor, Bühlers Schema der drei Modi des Zeigens durch einen vierten Modus zu ergänzen: durch die Textdeixis. Die Textdeixis ist häufig mit der Anapher verwechselt worden, weil man akritisch angenommen hat, das anaphorische Pronomen bezöge sich auf seinen Vorgänger im Text. Ein anaphorisches Pronomen verweist dagegen auf einen Referenten, auf den man schon im Kotext durch einen Vorgänger referiert hat. Die Anapher basiert auf einer Identitätsrelation. Bei der Textdeixis liegt dagegen keine Identitätsrelation vor: Der textdeiktische Verweis erfolgt innerhalb des Textes auf ein Stück des verlaufenden Textes.
Auch die meisten pragmatisch-textlinguistischen Ansätze (vgl. Lenz 1997) gehen von Referenzidentität als exklusivem Merkmal der Anaphora aus, sehen Anaphora aber als Unterart der Text- oder Diskursdeixis, bei der Referenzidentität als zusätzliches Merkmal hinzukommt. Wie von Conte (1988) kritisiert, findet sich häufig die fragwürdige Auffassung, dass Anaphern selbst nicht referenziell sind (vgl. 1.3.3); so bei Herbermanns (1988: 73-81) Definition der „textualen Deixis" als metakommunikative Referenz:62 Anaphora sei „textinterne Referenz" auf Antezedenten mit „textexterner Referenz" (Herbermann 1988: 78). Wie auch bei Lenz (1997: 67) und Canisius/Sitta (1991: 144) lässt sich Herbermanns Abgrenzung von Textdeixis und Anaphora auf die Formel bringen: Textdeixis + Referenzidentität = Anaphorizität (1998: 77). Levinson (1983: 86) fasst (für Pronomina) zusammen: Where an pronoun refers to a linguistic expression (or chunk of discourse) itself, it is discourse deictic; where a pronoun refers to the same entity as a prior linguistic expression refers to, it is anaphoric.
Danach wäre das Pronomen it im folgenden Text sowohl diskursdeiktisch als auch anaphorisch, denn es ist referenzidentisch mit einem diskursdeiktischen Ausdruck: (5)
62
The preceding discussion has given me new insides. It has also raised new problems (Lenz 1997: 69)
Vgl. hierzu ausführlich den Punkt „Metadiskursivität".
31
Ähnlich spricht Harweg (1978: 135) im Falle der Anaphora von einer Identität zwischen den Referenten zweier Ausdrücke, die unabhängig von der Äußerungssituation verarbeitet würde. Dies erklärt sich dadurch, dass er den Kotext nicht als Teil der Äußerungssituation betrachtet (also nicht Kotext vs. Kontext) und annimmt, anaphorische Bezüge ließen sich ohne kontextuelles Wissen verstehen. Dies trifft zuverlässig nur für Anaphern zu, die von ihrem Antezedens c-kommandiert werden (wie Reflexiva, „Bindungsprinzip A" bei Chomsky 1980), bei freien Pronomina („Bindungsprinzip B") aber nicht. Empirisch zeigen dies die häufigen Fälle ambiger Personalpronomina (vgl. 3.1). Conte (1988) und Lenz (1997: 68f) kritisieren die Festlegung auf Referenzidentität, wozu insbesondere Beispiele für sog. laziness-pronouns geeignet sind:63 Dort gebe es keine identischen Referenten, jedoch „Sinnidentität". Zwar rückt dadurch das Anaphora-Konzept von Koreferenz als notwendiger Bedingung ab, es bleibt aber bei dem Definitionskriterium „Identität" zwischen zwei Ausdrücken. Zur Abgrenzung [der Anaphora] von der Diskursdeixis scheint lediglich bedeutsam zu sein, daß die Anaphora in jedem Fall auf einer Identitätsrelation beruht. (Lenz 1997: 69)
Die Referenz-Identität wird durch eine andersartige Identität ersetzt, deren Definition mir nicht klar ist, denn Synonymie, also Bedeutungsidentität zwischen einer Antezedens-NP und einem Pronomen wird man ja wohl nicht annehmen wollen. Im Rahmen eines erweiterten Anaphernbegriffs, der auch , indirekte Anaphora' berücksichtigt, ist solch ein Kriterium generell untauglich für eine Definition der Anaphora, somit auch für die Abgrenzung der Anaphora von der Diskursdeixis. - Diskursdeixis versus Anaphora: Metadiskursivität Ein weiterer Vorschlag zur Bestimmung der Diskursdeixis in Abgrenzung von Anaphora ist die „Meta-Kommunikativität" (Lenz 1997: Kap. 3). Was hiermit gemeint ist, zeigt sich etwas undeutlich schon bei Fillmore (1975: 70): Discourse deixis has to do with the choice of lexical or grammatical elements which indicate or otherwise refer to some portion or aspect of the ongoing discourse - something like, for example, ,the former'.
Für eine Abgrenzung zur Anaphora muss spezifiziert werden, welche Teile oder Aspekte des Diskurses die Bezugspunkte der Diskursdeixis sind. Dies gelingt Koeppel (1993: 94f) nicht, wenn er schreibt: „Textdeixis (textual deixis, Textverweis, referierende Rededeixis) setzt eine materielle Gestalt des Textes voraus, auf die als Ganzes oder in ihren Teilen referiert werden kann." - Schließlich gehört eine materielle Gestalt als Schrift oder Laut notwendig zum Textbegriff. Daher ist die Beschreibung nicht geeignet zur Abgrenzung von Anaphora, denn auch diese setzt Text voraus.64 Eine plausible Möglichkeit, den Begriff der materiellen Textgestalt' zu interpretieren, ist folgendes Beispiel:
63
64
Auch „sloppy identity", bekannt durch den Satz The man who gave his paycheque to his wife was wiser than the man who gave it to his mistress, (Karttunen 1969). Der Referent von paycheque kann nicht derselbe sein wie der von it. Siehe auch unter 2.1.2. Auch der Umstand, dass mit Diskursdeiktika auf größere Einheiten als nominale Referenzobjekte referiert wird, ist kein taugliches Kriterium, denn dies trifft auch auf die sog. Komplex-Anaphora zu (s. u. in diesem Abschnitt).
32 (6)
A: This is a rhinoceros. B: A what? Spell it for me.
In der Tat liegt hier keine Koreferenz vor, aber laut Lyons (1977: 667f) Diskursdeixis (vgl. Koeppel 1993: 94f), in dem B. sich explizit metatextuell auf das Schriftbild und nicht auf die Referenz von rhinoceros bezieht. Es wäre aber sicher zu eng, den Terminus Diskursdeixis auf solche Verwendungen zu beschränken. Bereits bei Ehlich (1983) ist die Anlehnung der „Diskursdeixis" an die „Deixis" stark ausgeprägt. Deixis ist die „Orientierung auf bisher nicht fokussierte Elemente der Sprechsituation oder eines anderen Verweisraumes", wozu auch der „Rederaum" als Verweisraum gehört (1983: 88). In diesem Sinne ,metatextuell' sind auch Beispiele von Koeppel (1993), so wie in diesem Aufsatz, der vorliegende Beitrag, an dieser Stelle. Diese Beispiele zeichnen sich dadurch aus, dass sie ,Orte' (oder,Zeitpunkte') des Textes in seiner raumzeitlichen Gliederung explizit benennen. Zu dem Kriterium ,Neueinführung', das bei Ehlich (1979) Definitionsmerkmal der Deixis ist (vgl. 1.2.2), tritt also für die Diskursdeixis als Spezialfall der Deixis eine metakommunikative Funktion, die die Anaphora nicht hat. Ist es nun ein Widerspruch, dass die Diskursdeixis etwas „neu einführt", aber gleichzeitig auf eine bekannte Diskursstelle verweist? Dieses Problem löst Ehlich (1983) mit der Annahme unterschiedlicher Referenzialität. Bei der Deixis findet wie bei der Anaphora eine Verknüpfung eines Ausdrucks mit einem anderen Ausdruck statt.65 Anders als Antezedenten von Anaphern habe bei der Diskursdeixis der erste Ausdruck aber noch keinen referenziellen Bezug gehabt, er war gar kein referenziell gebrauchter Ausdruck. Der Diskursteil als Referent sei ein Objekt, das sich gerade erst konstituiert. Dies ist wohl eine sehr stipuliate Annahme. Warum soll z. B. oben in (5) The preceding discussion nicht referenziell sein und erst Referenzialität ausbilden, wenn mit it darauf rückverwiesen wird?66 Auch hier (wie schon zu Bühler (1934) in 1.3.3 und Herbermann (1988) in 1.4.1 kritisiert) erweisen sich Referenzialitätsunterschiede als schlechtes Kriterium, um Deixis und Anaphora voneinander abzugrenzen. Lenz (1997: 108) stellt als Charakteristikum der Diskursdeixis (im Unterschied zur temporalen oder lokalen Deixis) deren „notwendige Metaierung" der Referenzobjekte heraus. Referenzobjekte seien kommunikative Ereignisse, und „die diskursdeiktische Referenz richtet sich nicht auf sprachliche Einheiten an sich, sondern auf ihren Gebrauch im Rahmen der Konstitution dieser Ereignisse" (ebd.). Völlig befriedigend ist auch dies nicht, wenn man eine Abgrenzung von Diskursdeixis und Anaphora anstrebt, denn auch anaphorische Koreferenz ist keine Sache einer sprachlichen Einheit ,an sich', sondern ergibt sich, wie alle Referenzphänomene, erst im Diskurs. Es bleibt also schwierig, Diskursdeixis von Anaphora abzugrenzen, was in der Forschungsliteratur auch gar nicht immer geschieht. So kennzeichnet Greber (1993 : 402f) diskursdeiktische Verwendungen als „Anaphorik mit metatextueller Implikation".
65 66
Diese Gemeinsamkeit sei der Grund für Bühler u. a., Anaphora als Teil der Deixis zu betrachten. Richtig ist aber, dass in manchen Fälle komplexe Referenzkonzepte erst durch sog. Komplex-Anaphern gebildet werden, vgl. den folgenden Punkt „Komplex-Anaphern und anaphorische Evaluation".
33 - Komplex-Anaphern und anaphorische Evaluation 67 Komplex-Anaphern haben insofern eine Nähe zur Diskursdeixis, als beide auf eine komplexe Textstruktur, nicht auf einfache nominale Referenzkonzepte, Bezug nehmen. Sie sind Sonderfälle der Anaphora, die ein komplexes Referenzobjekt zu einem einheitlichen Referenten zusammenfassen und evt. evaluieren (der Dopingtest war positiv... dieses Ergebnis/ dies!diese Katastrophe). Obwohl Komplex-Anaphern ein wesentliches Mittel für die Konstruktion von Kohärenz und Ökonomie in Texten jeder Art sind, wurden sie bislang kaum untersucht. Der Terminus Komplex-Anaphora wird daher häufig mit Diskursdeixis vermischt. Koeppel (1993) liefert lediglich ein formales Definitionskriterium, nämlich dass der Antezedent mindestens ein Satz zu sein habe, und spricht demzufolge von „satzbezogenen Verweisformen" als eigener anaphorischer Klasse. Er räumt „Überlappungen" zwischen „satzbezogenen Verweisformen" und Textdeixis ein (:93). Halliday/Hasan (1976) prägen das Begriffspaar „extended reference", deren Unterscheidung von „textual reference" undurchsichtig bleibt. Bei Krenn (1985) fallen beide - und weitere - Phänomene unter „erweiterte Verweise"; Greber (1993: 393f) spricht von „propositionsbezogener Anaphorik". 68
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Zu diesem Gegenstand sind Ergebnisse aus einem seit Februar 2003 an der FSU Jena bestehenden DFG-Projekt zur textuellen Funktion von Komplexanaphern zu erwarten, an dem neben dem Verf. Monika Schwarz-Friesel und Konstanze Marx beteiligt sind. In den dort diskutierten Fälle wird auf komplexe - genauer gesagt: propositionale - Konzepte referiert. Eschenbach/Habel/Herweg/Rehkämper (1990) verwenden dagegen den Terminus Komplex für plurale Referenzobjekte, d. h. solche, die aus mehreren natürlichen Einzelobjekten bestehen. Sie untersuchen insbes. plurale Anaphern ohne plurales Antezedens; d. h. solche, bei denen das Antezedens aus kleineren Teilen konstruiert werden muss {Hans und Maria ... sie) (vgl. auch die DRT-Operation „PSUM" zur Bildung solcher Referenzobjekte, Asher 1993: 91ff). Einen solchen Prozess verstehen sie unter Komplexbildung. Eine Unterscheidung von ,plural' vs.,komplex' wird nicht vorgenommen, erscheint mir aber aus folgendem Grund notwendig: Zwar gestattet die Bildung von pluralen Anaphern eine Art zusammenfassender anaphorischen Spezifizierung (Hans und Maria... die Geschwister!das Liebespaar), aber es handelt sich insofern um gewöhnliche nominale Anaphora, als es sich sowohl bei Antezedens wie bei Anapher um nominale Konzepte handelt, nicht um propositionale. Ähnliches gilt für „Kombinationsanaphern", die aus zwei oder mehreren nominalen Referenten durch eine Kombination (die meist im Antezedens-Satz verbal spezifiziert wird) ein neues Referenzkonzept bilden (Schwarz 2000b: 122): Das Pulver in das Wasser einrühren. Die Lösung in einem Zug trinken. Das neue Referenzkonzept ist nominal und gegenständlich-konkret, im Gegensatz zu Komplex-Anaphern, bei denen ein abstraktes Referenzkonzept (wie UNFALL) entsteht, das in stärkerem Maße ein Szenario eröffnet, dessen Elemente im Diskurs zugänglich und daher définit ausdrückbar sind (Unfall - der Schuldige, die Opfer, der Schaden; dagegen wird Lösung - ?der Laborant!der Koch nur durch situationsspezifische Inferenz verstanden). Allerdings könnte man - anders als bei pluralen Anaphern - argumentieren, hier sei doch ein propositional strukturiertes Handlungselement vorhanden. „Die Lösung" ist nämlich nicht die bloße Addition beider Referenten (Pulver + Wasser) wie bei „Hans + Maria = Geschwister", sondern entsteht durch die Handlung des Verrührens. So gesehen ist der gesamte Satz Das Pulver in das Wasser einrühren, nicht nur die beiden NPs darin, Antezedens der Kombinations-Anapher Lösung. Kombinationsanaphern verweisen also auf ein nominales Referenzkonzept, ihr Antezedens ist dennoch propositional strukturiert. Dies trifft auch auf einige Fälle zu, die Greber (1993) „konzeptintegrierende Anaphorik" nennt: Sie hatte sich in der Nacht vergiftet. Morgens wurde die Leiche
34 Metadiskursivität ist bei Komplex-Anaphern zwar möglich, aber nicht notwendig. So sind Ausdrücke wie (7)
zu Beginn meines Vertrags, wie oben gesagt
diskursdeiktische Verweise, aber keine Komplex-Anaphern: Es wird zwar auf eine größere textuelle Einheit verwiesen, aber kein Komplex gebildet. Im Gegensatz dazu wird in (8) sowohl metadiskursiv verwiesen, als auch ein Komplex gebildet: (8)
Die zu Beginn meines Vertrags entwickelte These; mein Scherz von vorhin
Was ist der Unterschied zu den diskursdeiktischen Verwendungen in (7)? Es handelt sich in (8) nicht um einen bloßen Verweis auf einen ,Ort' oder .Zeitpunkt' im Diskurs, sondern die Anapher liefert neue Information; sie leistet gleichzeitig eine Klassifizierung und/oder Bewertung. Die Möglichkeit einer solchen semantischen Spezifizierung bzw. Evaluation die ich, wenn sie durch Anaphernbildung entsteht, ,anaphorische Spezifizierung' bzw. ,anaphorische Evaluation' nenne69 - ist auch bei nominalbezogenen Anaphern gegeben, wenn es sich nicht um Pronomina oder Wiederholungen derselben NP handelt, vgl.: (9) (10)
Gestern war ein Kätzchen im Garten. Das Tier wollte aber nicht näherkommen. (Semantische Klassifizierung durch Hyperonymie) Ich habe Herrn Mayer getroffen. Der alte Herr ¡Der Schwachkopfjammerte über die Hitze. (Hinzufügung von spezifizierenden bzw. evaluierenden Bedeutungsmerkmalen).
In (8) geschieht ähnliches - eine längerer Textteil wird als These bzw. Scherz klassifiziert, ohne dass dies schon vorher geschehen sein muss 70 - möglicherweise wird dem Hörer erst aufgrund dieser Anaphernbildung klar, dass der wieder aufgegriffene Diskursteil eine These sein sollte bzw. als Scherz gemeint war; die Anapher liefert also - anders als der deiktische Verweis in (7) - neue semantische Information. Komplex-Anaphern „prädizieren und klassifizieren (in der Art (X