Zurechnung und »Vorverschulden«: Vorstudien zu einem dialogischen Modell strafrechtlicher Zurechnung [1 ed.] 9783428457649, 9783428057641


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Zurechnung und »Vorverschulden«: Vorstudien zu einem dialogischen Modell strafrechtlicher Zurechnung [1 ed.]
 9783428457649, 9783428057641

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ULFRID NEUMANN

Zurechnung und "Vorverschulden"

Schriften zum Strafrecht Band 61

Zurechnung und "Vorverschulden" Vorstudien zu einem dialogischen Modell strafrechtlicher Zurechnung

Von

Prof. Dr. Ulfrid Neumann

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Juristischen Fakultät der Universität München gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Neumann, Ulfrid: Zurechnung und "Vorverschulden": Vorstudien zu e. dialog. Modell strafrecht!. Zurechnung / von Ulfrid Neumann. - Berlin: Duncker und Humblot, 1985. (Schriften zum Strafrecht; Bd. 61) ISBN 3-428-05764-3

NE:GT

Alle Rechte vorbehalten (CI 1985 Duncker & Humblot, Berl1n 41

Gedruckt 1985 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berl1n 61 Printed in Germany ISBN 3-428-05764-3

Vorwort Die Arbeit hat im Herbst 1982 der Juristischen Fakultät der LudwigMaximilians-Universität München als Habilitationsschrift vorgelegen. Das Manuskript wurde Ende August 1982 abgeschlossen; bis Mai 1984 erschienene Rechtsprechung und Literatur konnte in den Anmerkungen berücksichtigt werden. Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Arthur Kaufmann danke ich für die Betreuung der Arbeit sowie für die vielfältigen Anregungen, die ich in den Jahren meiner Assistentenzeit in München von ihm erhalten habe. Danken möchte ich auch dem Zweitberichterstatter, Herrn Prof Dr. Claus Roxin, für weiterführende Anregungen. Schließlich schulde ich Dank Herrn Prof. Dr. Broermann (t) für die Aufnahme der Arbeit in die Schriftenreihe, dem Verlag Duncker & Humblot für die reibungslose Zusammenarbeit und der Deutschen Forschungsgemeinschaft für einen großzügigen Druckkostenzuschuß. Frankfurt/Main, im März 1985 Ulfrid Neumann

Inhaltsverzeichnis

A. Einleitung ........................................................

13

B. Zurechnungsstrukturen in Fällen strafbarkeitsrelevanten Vorverschuldens .........................................................

24

I. Das Tatbestandsmodell ............................................

24

1. Das Tatbestandsmodell als Deutungsmuster in der Rechtsdogma-

tik: Die actio libera in causa ..................................

24

a) Das Problem ................................................

24

b) Der Standpunkt der h. M.; dogmatische Inkonsequenzen......

25

c) Abweichende Deutungen ....................................

41

aa) Das Ausnahmemodell ..................................

41

bb) Das Pflichtmodell

45

2. Das Tatbestandsmodell im Gesetz: Der Vollrauschtatbestand (§ 323 a StGB) ..................................................

50

a) Die Problematik der herrschenden Meinung zur Struktur des § 323 a StGB ................................................

50

aa) Das Unrecht des Vollrauschdelikts ......................

51

1) Die angebliche Unrechtsindifferenz der Rauschtat . . . . .. 2) Das Sichberauschen als tatbestandsmäßiges Unrecht .. 3) Die Gleichbewertung des vorsätzlichen und des fahrlässigen Sichbetrinkens .................................

51 56 72

bb) Dogmatische Inkonsequenzen der herrschenden Meinung 74 1) Die Kausalität des Rausches für die Rauschtat ........

75

2) Die Bedeutung der rauschbedingten Handlungsunfähigkeit ..................................................

78

3) Der subjektive Tatbestand bei § 323 a StGB ..........

79

4) Probleme der Teilnahmedogmatik beim Vollrauschtatbestand (§ 323 a StGB) ................................

83

8

Inhaltsverzeichnis 5) Rücktritt 6) Strafprozessuale Probleme des § 323 a StGB .......... ~) Der Urteilstenor .................................. ß) Die Privatklage ................................... y) Die Nebenklage ................................... 13) Berauschung und Rauschtat als dieselbe Tat i. S. des § 264 StPO ........................................ s) Die Rauschtat als Haftgrund nach § 112 a StPO .... cc) Kriminalpolitische Probleme und die Versuche ihrer Bewältigung ............................................... 1) Die Trennung des Rauschbegriffs von dem Gesichtspunkt der Schuldfähigkeit ............................ 2) Das Problem einer Wahlfeststellung zwischen § 323 a StGB und dem Rauschdelikt ....................... . .. 3) Der Rückgriff auf das in dubio-Prinzip ..............

91 93 93 94 95 96 99 100 101 109 115

b) Die Idee der Risikohaftung .................................. 118 aal Die Theorie Schweikerts ................................ 119 bb) Die Theorie Hardwigs ................................... 122 cc) Das Risiko eines rückwirkenden Verbots des Sich-Berauschens (Jakobs) ......................................... 124 c) § 323 a StGB als Ausnahmeregelung zu § 20 StGB ............ 125 3. Dogmatische Grenzen des Tatbestandsmodells: Die Behandlung der selbstverschuldeten Trunkenheit bei der Strafzumessung .... 128 a) Die Bedeutung der Strafzumessungsdogmatik für die Frage der Zurechnungsstruktur; mögliche Bedenken ................ 128 aa) Die Eigenständigkeit der Strafzumessungsschuld ......... 129 bb) Der fakultative Charakter der Strafrahmenmilderung nach § 21 StGB ............................................... 131 b) Die Behandlung der selbstverschuldeten Trunkenheit bei der Strafzumessung in Rechtsprechung und Lehre ................ 131 c) Mögliche Zurechnungsstrukturen ............................ 134 aal Das Kompensationsmodell ............................... 134 bb) Das Ausnahmemodell ................................... 140 TI. Alternative von Tatbestandsmodell und Ausnahmemodell: Die vor-

sätzliche Notwehrprovokation ..................................... 142

1. Die Problemstruktur ........................................... 142

2. Verschiedene Lösungsversuche ................................. 143

Inhaltsverzeichnis

9

a) Fehlen des Verteidigungswillens ............................ 143 b) Einwilligung des Provokateurs .............................. 143 c) Die fehlende .. Gebotenheit" der Verteidigung ................ 144 d) Die Idee der Garantenstellung .............................. 144 e) Die Verneinung eines Angriffs des Provozierten

148

3. Die actio illicita in causa ....................................... 148 a) Der Grundgedanke der actio illicita in causa ................ 148 b) Bedenken gegen die Lösung über die actio illicita in causa

149

aal Die Schwierigkeiten einer kausalen Deutung der Verletzungshandlung .......................................... 149 bb) Die Überlastung des Tatbestands ........................ 150 ce) Das Problem der Rechtswidrigkeit der Provokation ...... 151 dd) Notwehr gegen die Provokation? ........................ 152 4. Der Rückgriff auf das Rechtsmißbrauchsprinzip ................. 154 a) Der Grundgedanke der Anwendung des Rechtsmißbrauchsprinzips auf die Provokationsfälle ........................... 154 b) Bedenken gegen die Heranziehung des Rechtsmißbrauchsprinzips .................................................... 154 aal Das Verdikt der .. Leerformel" .......................... 156 bb) Die Voraussetzungen des Rechtsmißbrauchsprinzips ...... 156 ce) Grundsätzliche Vorbehalte gegen die Anwendung des Rechtsmißbrauchsprinzips auf die strafrechtlichen Rechtfertigungsgrunde ........................................ 159 5. Die Befugnis zur Verteidigung der Rechtsordnung .............. 161 a) .. Schutzprinzip" und .. Rechtsbewährungsprinzip" als Grundprinzipien des Notwehrrechts ................................ 161 b) Kritik ...................................................... 162 aal Das Problem der Verteidigung der Rechtsordnung als solcher .................................................... 162 bb) Die Mehrdeutigkeit des Begriffs der Rechtsbewährung

168

6. Lösungsvorschlag .............................................. 176

10

Inhaltsverzeichnis a) Die grundsätzlichen Möglichkeiten ........................... 176 b) Die Anerkennung dogmatischer Regeln zweiter Stufe ........ 177 aal Die Struktur dieser Regeln .............................. 177 bb) Die latente Anerkennung von Metaregeln in der bisherigen Diskussion .......................................... 179 cc) Die Notwendigkeit der Anerkennung von Argumentationsregeln .................................................. 182

UI. Tatbestandsmodell oder Pflichtmodell? Die Zurechnungsstruktur in den Fällen des Obernahmeverschuldens ............................ 186 1. Die Lösung auf der Ebene der Schuld .......................... 187

2. Die Lösung auf der Ebene des Unrechts: Die Tatbestandsmäßigkeit der "Übernahmehandlung" ................................ 190 3. Das Vorverhalten als Verletzung einer selbständigen Pflicht .... 197 a) Die Pflicht zum Unterlassen der Tätigkeitsübernahme ........ 198 b) Die Informations- und Prüfungspflichten .................... 200 4. Das Übernahmeverschulden als materieller Grund für die Nichtberücksichtigung der mangelnden subjektiven Fähigkeiten ...... 203

IV. Das Kompensationsmodell: Die vom Täter verursachte Gefahr im entschuldigenden Notstand (§ 35 Abs. 1 Satz 2 StGB) ................ 207 1. Die formale Struktur der Zurechnung .......................... 207

2. Die materiale Struktur der Zurechnung ........................ 208 a) Die Idee der Kompensation der Unrechtsminderung .......... 209 aal Das Problem der Unrechtsminderung bei § 35 StGB ...... 209 bb) Der Wegfall einer relevanten Unrechtsminderung in den Fällen einer besonderen Gefahrtragungspflicht des Notstandstäters ............................................. 218 b) Der Rückgriff auf die actio libera in causa .................. 224 c) Die kriminalpolitische Deutung .............................. 226 d) Lösungsvorschlag: Die Interpretation im Rahmen des "Stufenmodells" .................................................... 231

Inhaltsverzeichnis

11

V. Verschiedene Zurechnungsmodelle: Der verschuldete Affekt

240

1. Die Schuldrelevanz des "normalpsychologischen" Affekts

240

2. Begründungen für die Irrelevanz des verschuldeten Affekts .... 241 a) Der Rückgriff auf die Regelung des Verbotsirrtums .......... 241 b) Die Parallele zum entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB)

246

c) Die Lösung über die actio libera in causa .................... 246 d) Der auf die Affektgenese gegründete Vorwurf als "mittelbarer" Tatschuldvorwurf (Rudolphi) ........................ 248 e) Die Bedeutung des § 213 StGB für das Problem des "verschuldeten" Affekts .............................................. 250 aal Die Parallele zu § 213 StGB .............................. 250 bb) Die kriminalpolitische Deutung des § 213 StGB .......... 255

VI. Abgrenzung zum Zurechnungsmodell Hruschkas ................... 260

C. Lösungsvorschlag: Die Regeln eines fairen Verantwortungsdialogs als dogmatische Regeln zweiter Stufe .............................. 269 I. Die Notwendigkeit der Berücksichtigung von gesellschaftlichen Zurechnungsregeln

.................................................. 269

1. Generalprävention und gerechte Zurechnung ................... 269

a) Die Notwendigkeit einer normativen Kontrolle präventiver Zurechnungskriterien ................. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 269 b) Die generalpräventive Bedeutung der Regeln gerechter Zurechnung .................................................... 272 2. Soziale Zurechnungsregeln und "gerechte" strafrechtliche Zurechnung .......................................................... 274 a) Die sozialen (alltagsmoralischen) Zurechnungsregeln als Maßstab gerechter strafrechtlicher Zurechnung .................. 274 b) Der Begriff der sozialen (aIItagsmoralischen) Zurechnungsregeln ...................................................... 275

H. Die Möglichkeit einer Berücksichtigung von gesellschaftlichen Regeln

des Sich-Verantwortens: Der strafrechtliche Verantwortungsdialog .. 276

12

Inhaltsverzeichnis 1. Die dialogische Struktur des strafrechtlichen Verantwortlich-

machens ....................................................... 276

2. Das Verhältnis gesellschaftlicher und rechtlicher Rechtfertigungsund Entschuldigungsgrunde .................................... 284 3. Abgrenzung zu Hafts Theorie des Schulddialogs ................ 291

111. Ausblick .......................................................... 294

Literaturverzeichnis ................................................... 296

A. Einleitung Die vorliegende Arbeit befaßt sich mit Problemen der Struktur strafrechtlicher Zurechnung. Dabei meint der Begriff der Zurechnung ganz allgemein die mit der Auferlegung von Sanktionen verbundene Zuerkennung von Verantwortlichkeit für bestimmte (notwendig negativ bewertete) Handlungen oder Ereignisse. Die Unterscheidung zwischen "objektiver" und "subjektiver" Zurechnung1 markiert keine Orientierungslinie der Arbeit; wollte man sie gleichwohl zur Einordnung der behandelten Probleme heranziehen, so wären diese ganz überwiegend als Probleme subjektiver Zurechnung zu klassifizieren. Unter der Struktur strafrechtlicher Zurechnung verstehe ich die Gesamtheit der Regeln, auf denen die Zurechnung der Tat als strafbar in einem konkreten Fall bzw. einer bestimmten Fallgruppe beruht. Die damit erfolgte Relativierung der Zurechnungsstruktur auf spezifische Fallkonstellationen macht bereits deutlich, worum es sich im folgenden nicht handelt und nicht handeln kann; es geht nicht um die Entwicklung einer allgemeinen Theorie strafrechtlicher Zurechnung - ein Unternehmen, das an dieser Stelle aus verschiedenen Gründen vermessen erschiene. Das hier gesetzte Ziel ist wesentlich bescheidener. Es sollen die spezifischen Regeln herausgearbeitet werden, die der strafrechtlichen Zurechnung in bestimmten, durch eine besondere Zeitstruktur der Zurechnungsvoraussetzungen ausgezeichneten Fallgruppen zugrundeliegen. Freilich wird sich herausstellen, daß die dabei zutage tretenden Zurechnungsstrukturen Konsequenzen für das Verständnis strafrechtlicher Zurechnung überhaupt zeitigen; in diesem Sinne verstehen sich die folgenden überlegungen als Vorstudien zu einem Modell strafrechtlicher Zurechnung. Analysiert werden soll die Struktur der Zurechnung in Fällen, in denen die Zurechnung eines tatbestandsmäßigen Erfolgs jedenfalls auch an ein Verhalten anknüpft, das der tatbestandsmäßigen Handlung, die diesen Erfolg unmittelbar bewirkt, zeitlich voraus liegt. Hierzu rechnen einerseits gesetzlich geregelte Fallgruppen wie die der vom Täter "verursachten" Notlage in § 35 Abs.1 Satz 2 StGB oder der von ihm verschuldeten Provokation bei § 213 StGB, andererseits Konstellationen, deren Lösung der Strafrechts dogmatik überlassen bleibt; man denke 1 Zu der Unterscheidung vgl. Larenz, Hegels Zurechnungslehre und der Begriff der objektiven Zurechnung, S. 50 ff., 89 ff.

A. Einleitung

14

an die Fälle der sog. actio libera in causa, der Notwehrprovokation, des vom Täter verschuldeten hochgradigen Affekts oder des sog. "übernahmeverschuldens" . Diese Fälle, die sich als Fälle eines strafbarkeitsrelevanten Vorverhaltens oder Vorverschuldens kennzeichnen lassen, bereiten der Strafrechtsdogmatik eigentümliche Schwierigkeiten. Eine befriedigende dogmatische Rekonstruktion des der sog. actio libera in causa zugrundeliegenden Zurechnungsprinzips ist bis heute nicht gelungen2 , das Problem der provozierten Notwehrlage gerade in jüngster Zeit wieder Gegenstand heftiger Kontroversen3• Ebenso umstritten sind Zulässigkeit und Begründung einer Beschränkung der Exkulpation (§ 20 StGB) auf den "unverschuldeten" Affekt4, und die relative Ruhe, die hinsichtlich der Rechtsfigur des übernahmeverschuldenss herrscht, ist trügerisch; sie resultiert eher aus der Randständigkeit dieser Figur als aus ihrer dogmatischen Unbedenklichkeit. Nur scheinbar von geringerem Gewicht sind die Probleme, die bei den gesetzlich geregelten Fallgruppen auftreten. Zwar wird hier die Frage nach der zugrundeliegenden Zurechnungsstruktur von der Unbezweifelbarkeit der positiv-rechtlichen Regelung überdeckt; sucht man indes das diese Regelung tragende Zurechnungsprinzip herauszuarbeiten, so stößt man auf strukturell identische Schwierigkeiten. Wie wenig die gesetzliche Regelung die Zurechnungsprobleme wirklich zu lösen vermag, zeigen die heillosen Verwicklungen, zu denen die Fixierung eines bestimmten Zurechnungsmodells in der Bestimmung des Vollrauschtatbestands (§ 323 a StGB) führt 6 • Diese Schwierigkeiten resultieren aus den Anforderungen, die durch das Prinzip der Koinzidenz von Schuld und Tat (Koinzidenzprinzip) bzw. der Gleichzeitigkeit aller Elemente der strafbaren Handlung ("Simultaneitätsprinzip")1 an die Zeitstruktur der strafrechtlichen Zurechnungsbedingungen gestellt werden; diese Anforderungen verbieten die schlichte "additive" Einbeziehung eines der Straftat zeitlich vorausliegenden Faktors. Andererseits lassen sich beide Prinzipien nicht um eines gewünschten Ergebnisses willen einfach suspendieren. Man hat das Erfordernis der zeitlichen Koinzidenz von Tat und Schuld als eine der Säulen des Schuldprinzips bezeichnet8 ; in der Tat liegt es nahe, das Dazu unten Kap. B I l. Dazu unten Kap. B 11. 4 Dazu unten Kap. B V. 5 Dazu unten Kap. B IU. 6 Dazu unten Kap. B 12. 7 Den Begriff verwendet Hruschka, GA 1981, S.248 Fn. 16; vgl. auch ders., Die Herbeiführung eines Erfolgs durch einen von zwei Akten bei eindeutigen und mehrdeutigen Tatsachenfeststellungen, JuS 1982, 317 ff., Fn.2. 8 KTÜmpeZmann, ZStW 88 (1976), S. 13: Es handele sich, neben dem intellek2 3

A. Einleitung

15

Koinzidenzpostulat im Rahmen eines Schuldstrafrechts für unabdingbar und die Zeitstruktur der angeführten Bestimmungen demzufolge für selbstverständlich zu halten. Der zeitliche Zusammenhang von Schuld und Tat ist, jedenfalls soweit es um die Voraussetzung der Schuldfähigkeit geht, nur ein Moment des funktionalen Zusammenhangs; das setzt der Möglichkeit einer "Auflockerung" des "Dogmas" der Koinzidenz von Schuld und Tat 9 enge Grenzen. Das gilt mutatis mutandis auch für die anderen Schuld- und sonstigen Verbrechenselemente. Die Strafrechtsdogmatik steht damit vor der Aufgabe, die zeitliche Distanz zwischen Vorverhalten und tatbestandsmäßiger Handlung in den Fällen des zurechnungsrelevanten Vorverschuldens zu überbrücken. Dafür bieten sich verschiedene Wege an. Zunächst besteht die Möglichkeit, die Vorhandlung als selbst tatbestandsmäßige Handlung zu interpretieren. Die daraus resultierende Zurechnungsstruktur soll hier als "Modell der tatbestandsmäßigen Vorhandlung" oder kurz als "Tatbestandsmodell" bezeichnet werden. Sie liegt etwa den Rechtsfiguren der actio libera in causa und der actio illicita in causa zugrunde. Der zweite Weg führt über die Annahme einer abgeleiteten Pflicht oder Norm, die durch die Vorhandlung verletzt wird, und die Zurechnung dieser Norm- bzw. Pflichtverletzung als Verstoß gegen die von der tatbestandsmäßigen Handlung verletzte Norm. Hinsichtlich dieser Zurechnungsstruktur, die sich in den Fällen der "omissio libera in causa" findet 10 und die bei der Figur des sog. "Übernahmeverschuldens"l1 eine wesentliche Rolle spielt, werde ich von dem "Modell der abgeleiteten Pflicht" oder kurz dem "Pflichtmodell" sprechen. Dort, wo die Relevanz des Vorverhaltens für die Beurteilung der Normverletzung nicht mehr begründet, sondern nur noch erklärt werden muß, weil sie - wie in § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB - gesetzlich festgeschrieben ist, bietet sich darüber hinaus das "Kompensationsmodell" an: Die aus einer bestimmten Situation "an sich" resultierende Schuldbzw. Unrechtsminderung wird durch Schuld bzw. Unrecht der Vorhandlung kompensiert. Auf dieses Modell wird ferner zurückgegriffen, tuellen und dem voluntativen Moment, um die "dritte Säule des Schuldprinzips". Die Bedeutung des Koinzidenzprinzips wird auch hervorgehoben von Arthur Kaufmann, Unrecht und Schuld beim Delikt der Volltrunkenheit, S.324; Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 166; Horn, GA 1969, S. 290 ff.; Androulakis, Unterlassungsdelikte, S. 18. Nach Hruschka hat das Simultaneitätsprinzip als "Bedingung der Möglichkeit der Rationalität von Recht ... vorrechtlichen Charakter" (a.a.O., Fn.2). v Rudolphi, Affekt und Schuld, S. 207. 10 Dazu unten S. 45 ff. 11 Dazu unten Kap. BIll.

16

A. Einleitung

wo eine "Verrechnung" von Zurechnungsvoraussetzungen zulässig erscheint, weil es nicht um die Qualität, sondern um die Quantität von Zurechnungsfaktoren geht; so bei der Frage der Berücksichtigungsfähigkeit selbstverschuldeter Trunkenheit im Rahmen der Strafzumessung, insbesondere hinsichtlich der Bestimmung des § 21 StGB. Schließlich bleibt die Möglichkeit, zu begründen, daß der fragliche Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund (i. w. S.), der die strafrechtliche Sanktionierung der tatbestands mäßigen Handlung zu blockieren scheint, infolge der fraglichen Vorhandlung nicht eingreift. Dieses Modell, für das sich die Bezeichnung "Ausnahmemodell" anbietet, findet sich etwa in dem Versuch, die Fälle der Notwehrprovokation über den Gedanken des Rechtsrnißbrauchs zu lösen. Der kritischen Prüfung der Tragfähigkeit dieser Modelle ist der Hauptteil der Arbeit gewidmet. Die erforderliche Auswahl des dogmatischen Materials aus den zahlreichen Fallgruppen eines zurechnungsrelevanten Vorverschuldens (zu denen neben dem provozierten strafrechtlichen [§ 34 StGB] und zivilrechtlichen [§ 228 BGB] Notstand auch die Problemkomplexe des vor dem Tatzeitpunkt vermeidbaren Verbotsirrtums [§ 17 StGB] und der GarantensteIlung aus Ingerenz zu rechnen wären), orientiert sich an dem Gesichtspunkt einer möglichst repräsentativen "Belegung" der einzelnen Zurechnungsmodelle. Es bedarf keiner Hervorhebung, daß die Begrenzung dieses Materials auch die Reichweite der anhand dieses Materials gewonnenen Ergebnisse begrenzt: ein Analogieschluß auf die Zurechnungsstruktur in den hier nicht analysierten Fallgruppen wäre jedenfalls voreilig. Das gilt erst recht für die weitgehende Beschränkung auf Fälle, in denen die Verhängung einer VOTsatzstraje begründet werden soll: unter dem Aspekt einer Fahrlässigkeitshaftung wirft die Berücksichtigung eines schuldhaften Vorverhaltens andere (und wie es scheint, geringere 12) Probleme auf. Wenn die Prüfung der Tragfähigkeit der verschiedenen von der Strafrechtsdogmatik zur Verfügung gestellten Zurechnungsmodelle überwiegend zu einem negativen Ergebnis führt, so liegt das beileibe nicht an der mangelnden dogmatischen Qualität der entsprechenden Begründungsversuche. Es scheint vielmehr, als sei die Strafrechtsdogmatik überfordert, wenn ihr Begründungen für die Berücksichtigung nicht tatbestandsmäßigen Vorverhaltens abgerungen werden sollen. Das gilt nicht nur für die Fälle, in denen das Koinzidenzprinzip und 12 Vgl. Horn, GA 1969, S. 289 ff. zur fahrlässigen actio libera in causa. Daß gleichwohl auch die Fälle einer Fahrlässigkeitshaftung dogmatisch nicht "glatt" zu lösen sind, ergibt die Analyse der Fälle des "übernahmeverschuldens" (vgl. unten Kap. B III).

A. Einleitung

17

damit die Schuldfrage tangiert ist; auch im Bereich der Rechtswidrigkeit ist jedenfalls bei bestimmten Fallkonstellationen die Berücksichtigung des "Vorverschuldens" dogmatisch nicht zu begründen. Es hat den Anschein, als sei der Strafrechtsdogmatik der Zugang zu der "Wertstruktur" der Zurechnung in den Fällen des Vorverschuldens verschlossen. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man die Ergebnisse der verschiedenen zu den einzelnen Fallgruppen angebotenen Lösungen vergleicht. Der Vielzahl unterschiedlicher und weitgehend schon im Ansatz differierender Lösungsvorschläge, die beispielsweise hinsichtlich der Fälle vorsätzlicher Notwehrprovokation zu registrieren ist, entspricht keineswegs eine auch nur annähernde Vielfalt von Ergebnissen. Zumindest hinsichtlich der vorsätzlichen Provokation einer Notwehrlage besteht insof.ern weitgehend Einigkeit: Der Täter ist, ungeachtet der Regelung des § 32 StGB, aus dem durch die "Verteidigungshandlung" verwirklichten Tatbestand zu bestrafen13 • Ähnliches gilt für die Fallgruppe der sog. actio libera in causa14• Auch hier geht der Streit weniger um die richtigen Ergebnisse als um die Tragfähigkeit der Begründung; kennzeichnend für diese Sachlage ist, daß in der neu esten Auflage eines Standardkommentars zum Strafgesetzbuch15 die bisher vertretene "Konstruktion" der actio libera in causa aufgegeben werden konnte, ohne daß sich der Bearbeiter genötigt gesehen hätte, die Ergebnisse auch nur in einem Punkt zu korrigieren. In derartigen Fällen einer weitgehenden Stabilität, man könnte auch sagen: Indifferenz der Ergebnisse gegenüber den sie - angeblich - tragenden Begründungen liegt der Verdacht nahe, daß der dogmatische Streit auf einer Ebene geführt wird, die für die zugrundeliegenden und die Ergebnisse "in Wirklichkeit" tragenden Wertungen nicht oder nicht mehr durchlässig ist. Ich werde zu zeigen versuchen, daß dieser Verdacht im wesentlichen zutrifft, daß die "wirkliche" Struktur der Zurechnung in diesen Fällen, ihre "Tiefenstruktur", von den zur Verfügung stehenden Zurechnungsmodellen verfehlt oder, bestenfalls, nur unvollkommen erfaßt wird. Dabei meint der Begriff der "wirklichen" Struktur zunächst die Wertstruktur der Zurechnung, also die Gesamtheit der Gesichtspunkte, die eine Zurechnung der Tat als richtig, als gerecht erscheinen lassen. Es kann darüber hinaus aber auch wörtlich, im Sinne der "wirkenden" Struktur, verstanden werden; denn es wird sich zeigen, daß die zu den einzelnen Fallgruppen entwickelte Dogmatik in wesentlichen Punkten (Kausalität, Versuch, Teilnahme) nur dann konsistent ist, wenn man die bei Annahme dieser Wertstruktur resultierende formale Zurech18

14 16

Zur abweichenden Auffassung vgl. unten B 11 bei Fn. 2. Dazu unten Kap. B I 1. Schönke/Schröder/Lenckner, 21. Aufl., § 20 Rdnr.34.

2 Neumann

18

A. Einleitung

nungsstruktur zugrundelegt. Der in bewußter Anlehnung an die Terminologie Chomskys16 verwendete Begriff der "Tiefenstruktur" soll die Distanz der in diesem Sinne "wirklichen" Zurechnungs struktur zu den ihnen korrespondierenden unterschiedlichen Konstruktionen an der dogmatischen "Oberfläche" verdeutlichen. Einen Hinweis auf diese Tiefenstruktur und zugleich auf die möglichen Ursachen der Schwierigkeit, sie in der Form dogmatischer Regeln zu reproduzieren, liefert die Sprache. Die Rechtsdogmatik bedient sich üblicherweise einer theoretischen, aussagenden Ist-Sprache: § 211 StGB ist eine Qualifikation des § 212 StGB, die Tat des in Notwehr Handelnden ist gerechtfertigt, die Einwilligung des Opfers (in einem konkreten Falle) ist unwirksam. Diese Sprachebene wird bei der Erörterung der Fälle eines "Vorverschuldens" ungewöhnlich häufig verlassen. An der Stelle von Ist-Aussagen finden sich Formulierungen wie: "Der Täter kann sich auf ... nicht berufen", oder: "Er wird mit ... nicht gehört"17. Es wird sich zeigen, daß es dabei nicht nur um eine fa~on de parler geht; die Formulierungen sind wörtlich zu nehmen und verweisen auf einen Satz von Regeln, die nicht darüber entscheiden, was im dogmatischen Sinne der Fall ist, sondern darüber, womit argumentiert werden darf. Es sind dies die Regeln eines faiTen VerantwoTtungs- odeT RechtfeTtigungsdialogs, die bestimmen, unter welchen Voraussetzungen sich die eine Seite auf bestimmte, ihr "an sich" günstige Umstände berufen bzw. nicht berufen kann. Eine solche Regel formuliert etwa der Satz: "Auf Notwehr kann sich nicht berufen, wer die Notwehrsituation arglistig herbeigeführt hat, um den Angreifer straflos verletzen zu können." Die durch derartige ZUTechnungsTegeln zweiteT Stufe festgelegte formale Struktur ist die des Regel-Ausnahme-Verhältnisses; normtheoretisch betrachtet handelt es sich um AusnahmeTegeln im Bereich der Rechtfertigungs- und der Entschuldigungsgründe: Wer einen rechtswidrigen Angriff vorsätzlich provoziert hat, um den Angreifer unter dem Schutz des § 32 StGB verletzen zu können, wird in Abweichung von der Regel, daß straflos bleibt, wer die Tat zur Verteidigung gegen einen rechtswidrigen Angriff begeht, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen. Entsprechendes gilt für die vorsätzliche Herbeiführung der eigenen Schuldunfähigkeit in den Fällen der vorsätzlichen actio libera in causa. Damit erweist sich von den verschiedenen Modellen, mit deren Hilfe der Zugriff auf das "Vorverschulden" ermöglicht werden soll, allenfalls das Ausnahmemodell als geeignet, die "wirklichen" Zurechnungsstruk16 Chomsky, Aspekte der Syntax-Theorie, 1969, S. 88 ff., ders., Regeln und Repräsentation, 1981, S. 148 ff. 17 Vgl. die Zitate unten S. 179.

A. Einleitung

19

turen in den fraglichen Fällen eines zurechnungs relevanten Vorverhaltens zu erfassen. Während die anderen Modelle die Zurechnung als regelkonform behaupten und damit die Frage nach der Existenz spezifischer Zurechnungsregeln abweisen, bleibt die Deutung nach dem Regel-Ausnahme-Muster für die Frage der inhaltlichen Begründung der Ausnahme und damit prinzipiell für die Einführung von "Dialogregeln" offen. Das gilt freilich nur, soweit eine echte Ausnahme und nicht nur eine Modifizierung der Regel behauptet wird. Entscheidend dafür ist, ob sich die fragliche Bedingung auf die der Regel zugrundeliegende Wertung zurückführen läßt oder nicht. In diesem Sinne bedeutet der Rückgriff auf die "Grundprinzipien" des Notwehrrechts eine Inhaltsbestimmung der Regel, die Heranziehung eines anderen Prinzips (des Rechtsmißbrauchsprinzips) die Festlegung einer Ausnahme 18 • Die Hoffnung, mit Hilfe des "Ausnahmemodells" die Integration der Zurechnungs regeln zweiter Stufe in den Regelbestand der Strafrechtsdogmatik zu erreichen, ist trügerisch. Denn zum einen könnte das dogmatische Regelsystem lediglich die formale Struktur dieser Regeln reproduzieren, nicht aber ihre Funktion als Regeln eines "Verantwortungsdialogs" erfassen. Zum andern aber ist der Rückgriff auf das "Ausnahmemodell" mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, weil die Strafrechtsdogmatik über entsprechende Ausnahmeregeln nicht verfügt; es ist bezeichnend, daß zur Konstruktion des "Ausnahmemodells" in den Fällen vorsätzlicher Notwehrprovokation auf das "allgemeine Rechtsprinzip" des Rechtsmißbrauchs zurückgegriffen werden muß (und daß dieser Rückgriff allenfalls teilweise von Erfolg gekrönt ist)19. Die Schwierigkeiten, die Fälle eines zurechnungsrelevanten Vorverschuldens mit Hilfe des Instrumentariums der Strafrechts dogmatik zu bewältigen, resultieren aus deren Beschränkung auf Wertungen, die in den Kategorien von Tatunrecht und Tatschuld formulierbar sind20 • 18 Das Problem, ob zwischen Einschränkung des Regelgehalts und Festlegung einer Ausnahme unterschieden werden kann, gewinnt unmittelbare strafrechtsdogmatische Relevanz bei der Frage, ob Rechtfertigungsgründe als negative Tatbestandsmerkmale verstanden werden können. Grundlegend zum Problem der negativen Tatbestandsmerkmale Arthur Kaufmann, Zur Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen; kritisch Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, 1960. Zum normlogischen Aspekt des Problems Philipps, Rechtliche Regelung und formale Logik, ARSP 50 (1964), S.317; E. v. Savigny, Die Phausnahme und die Phregel oder was die Logik im Recht nicht leisten will, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1972), S. 231 ff.; Minas-v. Savigny, Negative Tatbestandsmerkmale, 1972. 19 Dazu unten S. 154 ff. 20 Zu strukturell gleichartigen Problemen führt diese Beschränkung in den Fällen des zurechnungsrelevanten "Nachverhaltens"; dazu Burkhardt, Der "Rücktritt" als Rechtsfolgebestimmung, 1975, passim; vgl. auch Bottke, Straf-



20

A. Einleitung

Diese Beschränkung zwingt dazu, das zurechnungsrelevante Vorverhalten als schuldhaft und, da "schuldhaft" im technischen Sinne nur ein rechtswidriges Verhalten sein kann, auch als rechtswidrig zu klassifizieren. Paradigmatisch dafür ist die Interpretation, die der actio libera in causa überwiegend zuteil wird: Die actio praecedens wird zur tatbestandsmäßigen, rechtswidrigen und schuldhaften Handlung erhoben und damit Gegenstand der Zurechnung. Die Alternative, die actio libera in causa als wirkliche Ausnahme zu § 20 StGB zu verstehen21 und damit das Vorverhalten als materiellen Grund, nicht als Objekt der Zurechnung zu interpretieren, erscheint vor diesem Hintergrund als inkonsequent, ihre Ablehnung durch die h. M. als folgerichtig. Diese "Tiefenstruktur" der actio libera in causa ist im Rahmen des zur Verfügung stehenden dogmatischen Systems nicht zu begründen; denn ihr liegt keine Wertung des Vorverhaltens unter dem für die Strafrechtsdogmatik verbindlichen Aspekt von Tatunrecht und -schuld zugrunde, sondern (u. a.) die Regel, daß sich auf seine Trunkenheit nicht berufen kann, wer sie arglistig herbeigeführt hat, um die Tat straflos begehen zu können. Dieser Gesichtspunkt aber ist mit den verfügbaren dogmatischen Regeln nicht zu erfassen. Wenn das richtig ist, dann drohen infolge der Versuche, die widerspenstigen Fälle der Berücksichtigung eines "Vorverschuldens" in das dogmatische Regelsystem zu integrieren, erhebliche Belastungen der Strafrechtsdogmatik. Denn als hochgradig interdependentes System tendiert die Strafrechtsdogmatik dazu, sich für Gewaltsamkeiten an einem Punkt an anderen Stellen zu rächen; man könnte hier von einer "Fernwirkung" dogmatischer Konstruktionen sprechen. Versucht man, das Koinzidenzprinzip in den Fällen der actio libera in causa formal dadurch zu retten, daß man die actio praecedens zur tatbestandsmäßigen Handlung erhebt, dann ergeben sich unweigerlich Schwierigkeiten im Bereich der Versuchsdogmatik, die nur durch Suspendierung des dogmatischen Instrumentariums bewältigt werden können. Zerschneidet man derart die Interdependenzen des dogmatischen Regelsystems, dann wird dessen Problemlösungskapazität aber prinzipiell in Frage gestellt; denn hilfreich ist Dogmatik gerade als System von Wenn-dannVerbindungen, deren sachliche Stimmigkeit im Einzelfall nicht überprüft zu werden braucht. Die Behauptung der Existenz spezifischer strafrechtlicher Zurechnungsregeln, die von der Strafrechtsdogmatik nicht erfaßt werden, führt zu erheblichen Legitimationsproblemen. Die Formulierung strafrechtswissenschaftliche Methodik und Systematik bei der Lehre vom strafbefreienden und strafmildernden Täterverhalten, S. 343 ff., 613 ff. 21 So Hruschka, JuS 1968, 559; ders., SchwZStr 90 (1974), S. 62 ff.; Jescheck, AT, S.360.

A. Einleitung

21

rechtlicher Zurechnungsregeln gilt als Domäne von Strafgesetzgebung und Strafrechtsprechung, wenn man nach institutionellen, von Strafgesetzgebung und Strafrechtsdogmatik, wenn man nach rechtstheoretischen Gesichtspunkten gliedert. Von daher erscheint die Existenz von Zurechnungsregeln, die weder vom Strafgesetz noch von der Strafrechtsdogmatik bereitgestellt werden (und von der Strafrechtsdogmatik wegen deren Bindung an Tatunrecht und -schuld auch nicht bereitgestellt werden können), als irregulär. Die Konsequenz wäre, solche Regeln aus dem Handlungssystem "Strafrecht" zu verbannen. Eine solche Reaktion wäre freilich voreilig. Als soziales Handlungssystem mit einer spezifischen gesellschaftlichen Aufgabe ist das Strafrecht an bestimmte soziale Vorgaben gebunden, die der "reinen" Verwirklichung normativer Prinzipien Widerstand leisten können. Derartige Prinzipien müssen kompromißfähig gehalten werden, sollen sie nicht Gefahr laufen, entweder als utopisch abgewiesen oder unter Verlust ihrer kritischen Potenz nach den Realitäten umgeformt zu werden; Arthur Kaufmann hat das für das zentrale normative Prinzip des Strafrechts, das Schuldprinzip, eindrucksvoll aufgezeigt22 • Zu diesen für das Strafrecht verbindlichen Vorgaben rechnen, das ist der Ausgangspunkt dieser Arbeit, bestimmte Regeln, nach denen die Gesellschaft Personen für Handlungen und Ereignisse verantwortlich macht. Als Beispiel kann die bereits genannte Regel dienen, daß sich auf Notwehr nicht berufen kann, wer die Notwehrsituation arglistig herbeigeführt hat, um die Tat straflos begehen zu können. Ein Strafrecht, das im Widerspruch zu dieser Regel in den Fällen arglistig herbeigeführter Angriffe den Täter rechtfertigen wollte, würde auf allgemeines Unverständnis stoßen. Dieses Unverständnis aber würde, anders als in anderen Bereichen des Rechts, die Tauglichkeit der Regelung unmittelbar in Frage stellen. Bestimmte zivilrechtliche Grundsätze wie das "Abstraktionsprinzip" mögen für den Laien schwer nachvollziehbar sein; über den Wert dieses Prinzips ist damit noch nichts oder nur wenig ausgesagt, weil die Zwecke privatrechtlicher Rechtssetzung an die allgemeine Einsehbarkeit der Regelung nicht gebunden sind. Die general präventive Wirkung des Strafrechts, im Sinne der positiven Generalprävention als Stabilisierung gesellschaftlicher Normen verstanden, hängt dagegen davon ab, daß die verhängte Strafsanktion als gerecht erlebt wird; das Strafrecht ist an die "normative gesellschaftliche Verständigung" gebunden23 • überspitzt !2 ArthuT Kaufmann, Schuldprinzip, S. 212 ff. Die Kritik von Lang-Hinrichsen (Civitas 1963, S.213) und Horn (Verbotsirrtum und Vorwerfbarkeit, S. 83) verkennt diesen Zusammenhang zwischen Kompromißfähigkeit und praktischer kritischer Potenz des Schuldprinzips. 23 Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, S. 151 ff., 221 ff.

22

A. Einleitung

könnte man sagen: Die general präventive Wirkung des Strafrechts reicht soweit wie die Übereinstimmung der strafrechtlichen Zurechnungsstrukturen mit den gesellschaftlichen Regeln der Zuschreibung von Verantwortlichkeit. Die Regeln, nach denen im Handlungssystem "Strafrecht" in Übereinstimmung mit allgemeinen gesellschaftlichen Regeln Handlungen oder Erfolge zugerechnet werden, können nicht ohne weiteres aufgegeben werden, wenn und weil sie in das Regelsystem der Strafrechtsdogmatik infolge von dessen Bindung an Tatunrecht und -schuld nicht eingestellt werden können. Andererseits könnte nicht nachdrücklich genug vor dem Versuch, oder besser: der Versuchung gewarnt werden, wirkliche oder vermeintliche präventive Bedürfnisse ohne Zwischenschaltung einer normativen Kontrollstation nicht nur zur Erklärung, sondern auch zur Begründung strafrechtlicher Zurechnungsprinzipien heranzuziehen. Die hier bestehende Spannung, die durch die Orientierung präventiver Notwendigkeiten an gesellschaftlichen Regeln der Zu schreibung von Verantwortung (statt an der Funktion der Normstabilisierung) nur gemildert, nicht aber aufgehoben wird, verdichtet sich für die hier thematisierten Fallgruppen zu folgendem Dilemma: Einerseits erscheint die Möglichkeit, in den Fällen eines (nach allgemeiner Auffassung) zurechnungsrelevanten Vorverschuldens generell die Strafbarkeit zu verneinen, nicht realistisch; andererseits ist die Existenz eines Satzes effektiver, aber normativ nicht ausweisbarer und dogmatisch nicht kontrollierbarer Zurechnungs regeln rechtsstaatlich unerträglich. Der einzige Ausweg scheint mir darin zu liegen, diese Regeln, sofern sie sich als Regeln gerechter Zurechnung erweisen lassen, als dogmatische Regeln zweiter Stufe anzuerkennen - "zweiter Stufe" deshalb, weil es sich bei den fraglichen Ausnahmeregeln um Metaregeln handelt, die das Regelsystem inhaltlich nicht antasten, es in bestimmten Fällen aber partiell suspendieren. Der Vorbehalt der normativen Kontrolle dieser Regeln bedeutet, daß es nicht darum gehen kann, sämtliche in ihrem Gehalt höchst unterschiedliche Argumentationsregeln, die dem Täter die Berufung auf einen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund versagen, unbesehen dem dogmatischen Regelsystem hinzuzufügen. So einsichtig es ist, daß in den Fällen der Absichtsprovokation oder der vorsätzlichen actio libera in causa dem Täter die Berufung auf den "an sich" gegebenen Rechtfertigungs- bzw. Schuldausschließungsgrund versagt wird, so problematisch ist die pauschale Nichtberücksichtigung des "verschuldeten" Affekts. Der Versuch, hier "gerechte" von "ungerechten" Zurechnungsprinzipien abzusetzen, würde eine eigene Arbeit erfordern. Das hier gesetzte Ziel ist wesentlich begrenzter: Es geht darum, die Existenz von verdeckten Zurechnungsregeln nachzuweisen und diese als Regeln eines sozialen und rechtlichen Verantwortungsdialogs zu

A. Einleitung

23

identifizieren. Der Anspruch der Arbeit ist damit in erster Linie ein analytischer. Freilich soll und darf nicht verkannt werden, daß im Bereich der Rechtsdogmatik auch eine derartige Strukturanalyse zu normativer Auswertung hindrängt; die Arbeit selbst zieht dogmatische Konsequenzen aus den behaupteten "wirklichen" Zurechnungsstrukturen. Um so wichtiger ist die Feststellung, daß diese Strukturen normativ gerechtfertigt werden müssen; insbesondere ist jede Regel am Maßstab des als Prinzip gerechter Zurechnung verstandenen Schuldprinzips zu beurteilen24 •

24 Dieses Verständnis des Schuldprinzips basiert auf einem Schuldbegriff, der sich von dem Kriterium des aktualen Anders-Handeln-Könnens gelöst hat, aber gegenüber den Versuchen einer "Funktionalisierung" des Schuldbegriffs (vgl. Jakobs, AT, S. 392 ff.; Streng, Richter und Sachverständiger, v. a. S. 408 f.) auf dem normativen Bezug von Schuld und damit auf der kritischen Potenz der Idee (nur) schuldangemessener Strafe insistiert. Zur These, daß (nach sozialethischen Maßstäben) gerechte und generalpräventiv wirksame Zurechnung konvergieren vgl. unten S. 269 ff.

B. Zurechnungsstrukturen in den Fällen strafbarkeitsrelevanten Vorverschuldens

J. Das Tatbestandsmodell 1. Das Tatbestandsmodell als Deutungsmuster in der Rechtsdogmatik: Die actio libera in causa a) Das Problem

Die wichtigsten Interpretationsmöglichkeiten der "Rechtsfigur" der actio libera in causa werden durch die grundsätzliche Alternative von Tatbestandsmodell und Ausnahmemodell vorgegeben. Dementsprechend steht die neue re Diskussion um die Zurechnungsstruktur in den Fällen der actio libera in causa im Zeichen der Frage, ob es sich bei dieser Figur um eine wirklichelader nur um eine scheinbare2 Ausnahme von dem Grundsatz handelt, daß die Schuldjähigkeit 3 zum Zeitpunkt der Begehung der Tat vorliegen muß. Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, welche Handlung dem Täter als tatbestandsmäßig zugerechnet wird: Die Herbeiführung des Defekts oder die im Zustand der Schuldunfähigkeit vorgenommene, unmittelbar rechtsgutsverletzende Handlung4 • 1 Für die Annahme einer echten Ausnahme Hruschka, JuS 1968, 559; ders., SchwZStr 90 (1974), S. 62 ff.; ihm folgend Jescheck, AT, S.360 (anders noch die 1. Auflage); ebenso Kienapfel, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 212; Welp, Vorangegangenes Tun, S.136; neuestens Schönke/Schröder/Lenckner, 21. Aufl., § 20 Rdnr. 34 (in Abweichung von den Vorauflagen). I So die h. M.; vgI. LK/Lange, § 21 Rdnr.72; Maurach/Zipf, AT/I, S.521; Lackner, § 20 Anm.8; Schmidhäuser, AT, S.386; ders., Studienbuch, S.101; Krause, Jura 1980, S. 172. 3 Die Fälle der vom Täter herbeigeführten Handlungsunfähigkeit, deren Zuordnung zum Anwendungsbereich der actio libera in causa streitig ist, werden im folgenden nicht erörtert. 4 Es macht sachlich keinen Unterschied, wenn man statt von zwei verschiedenen Handlungen von zwei Akten einer Handlung spricht (so Bockelmann, AT, S. 121: Bei der actio libera in causa gehe es um "eine Handlung, die ,frei' begonnen, wenn auch ,unfrei' beendet wird"); denn für die Kennzeichnung des Problems wird der Handlungsbegriff in einem untechnischen, vorrechtlichen Sinne verwendet.

I. Das Tatbestandsmodell

25

Die Schärfe dieser Alternative geht bei den Darstellungen der Problemstruktur der actio libera in causa verloren, wenn an die Stelle der Unterscheidung zweier Handlungen die zwischen der "entscheidenden" Ursache einer Handlung einerseits und deren Auswirkungen andererseits gesetzt wird; so in der Formulierung, unter einer actio libera in causa sei "eine Handlung zu verstehen, deren entscheidende Ursache vom Täter in ,freiem' Zustand gesetzt wird, die sich jedoch in der Verwirklichung eines Tatbestands erst in einem Zeitpunkt auswirkt, in dem der Täter nicht mehr (voll) verantwortlich ist"5. Bedenklich ist diese Ungenauigkeit vor allem deshalb, weil die Problematik der actio libera in causa durch die Einbeziehung des tatbestandsmäßigen Erfolgs in die Konstellation der relevanten Parameter der actio libera in causa verdunkelt wird; denn daß es auf die Schuldfähigkeit zum Zeitpunkt des ErjolgseintTitts nicht ankommen kann, steht außer Streit6 • Fraglich ist hingegen, ob auf die Schuldfähigkeit zum Zeitpunkt der unmittelbaren Verletzungshandlung verzichtet werden kann. b) Der Standpunkt der h. M.; dogmatische Inkonsequenzen

Diese Frage wird von der ganz herrschenden Meinung bejaht. Die Struktur des die fehlende Schuldfähigkeit kompensierenden Zurechnungsmechanismus bleibt freilich unklar, wenn formuliert wird, bei der actio libera in causa werde die Begehung der Tat durch den Täter "auf einen Zeitpunkt bezogen, in dem seine Verantwortlichkeit noch vorhanden war"7. Wie die Begehung der Tat, also ein tatsächliches Geschehen, auf einen anderen Zeitpunkt "bezogen" werden kann, bleibt problematisch; die schlichte Fiktion einer anderen Tatzeit dürfte ja kaum gemeint sein. Man mag den Zurechnungsmodus mit Fiktionen aller Art beladen: Die tatbestandsmäßige Handlung als räumlich-zeitliches Substrat der Zurechnung sperrt sich gegen konstruktive Verflüchtigungen. Sieht man in der Figur der actio libera in causa eine nur scheinbare Ausnahme von dem Grundsatz, daß die Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt gegeben sein muß8, so kommt man nicht umhin, eine ac Ho prae5 Schönke/Schröder/Lenckner, 20. Aufl., § 20 Rdnr.33 (anders jetzt die 21. Aufl.). Das ist - mit unwesentlichen Abweichungen - die ganz überwiegend verwendete Formulierung: vgl. Lackner, § 20, Anm. 8; SK/Rudolphi, § 20, Rdnr. 28; Maurach/Zip!, AT/I, S. 521. 8 VgI. Horn, GA 1969, 292; Maurach, JuS 1961, 374; präzise erfaßt wird die Alternative bei Binding, Normen Bd.lI, S. 614 f.; klar auch Samson, Strafrecht I, S. 148 und Küper, Aspekte der .. actio libera in causa", S. 577. 7 Schönke/Schröder/Lenckner, 20. Aufl., § 20 Rdnr.33 (anders die 21. Aufl.). 8 Dieser Grundsatz wird in Zweifel gezogen von Hardwig, demzufolge es bei § 20 nicht auf den Tatzeitpunkt, sondern auf den Zeitpunkt der Vermeidbarkeit" der Tat ankommt; § 20 sei insofern .. falsch gefaßt" 'CHardwig Studien, S.475). '

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

26

cedens als tatbestandsmäßige Handlung zuzurechnen. Die Annahme der Tatbestandsmäßigkeit der actio praecedens liegt denn auch, wenngleich nur selten so klar formuliert wie von Baumann 9 , der h. M. zugrunde. Die h. M. phrasiert den Begriff der actio libera in causa also in der Weise, daß die Bestimmung "in causa" den Zeitpunkt der "actio libera" fixiert und ihren Funktionszusammenhang mit dem tatbestandsmäßigen Erfolg benennt; es handelt sich um eine actio libera' in causa, nicht, wie nach der Deutung Hruschkas lo , um eine actio' libera in causa. Demgemäß steht nicht eine culpa praecedens, sondern eine actio praecedeus in Frage. Erste Voraussetzung für die Anwendbarkeit der actio libera in causa ist damit das Vorliegen einer der unmittelbaren Tatbestandsverwirklichung vorausliegenden tatbestandsmäßigen Handlung; nicht ausreichend ist, daß der Täter den Vorsatz zur Tatbegehung in nüchternem Zustand gefaßt hatl l . Eine "nuda cogitatio" könnte die Anforderungen einer culpa praecedens, nicht aber die einer actio praecedens erfüllen. Erste und unabdingbare Voraussetzung für die Tatbestandsmäßigkeit der actio praecedens ist deren Kausalität für den tatbestandsmäßigen Erfolg l2 . Sieht man die fragliche actio praecedens in der den Zustand der Schuldunfähigkeitl 3 herbeiführenden Handlung (im Regelfall: dem Sichbetrinken), wäre nachzuweisen, daß auch in den Fällen der vorsätzlichen actio libera in causa die Herbeiführung des Defektzustandes kausal für den tatbestandsmäßigen Erfolg ist. Dieser Nachweis ist indes weder generell noch für den Einzelfall zu erbringen. Das erscheint unproblematisch, wenn man die Frage der Kausalität nach der conditio-sine-qua-non-Formel entscheidet. Daß der Täter die Tat in nüchternem Zustand nicht begangen hätte, wird sich allenfalls in Ausnahmefällen der extremen "Persönlichkeitsfremdheit" der Tat mit der für den Beweis der Tathandlung erforderlichen Sicherheit o

Baumann, Strafrecht AT, S. 373.

Dazu unten S. 41 ff. In der älteren Literatur wurde dagegen häufig auf die Kausalität des Tatentschlusses für die Rechtsverletzung abgestellt; so Grolmann, Grundsätze der Kriminalrechtswissenschaft, 3. Auf!., 1818, S.48; H. E. Geyel", in: v. Holtzendorff, Encyklopädie der Rechtswissenschaft, 5. Auf!., 1890, S. 925 f.; dementsprechend wurde die actio libera in causa teilweise mit der Begründung abgelehnt, ein Kausalzusammenhang zwischen nüchtern gefaßtem Entschluß und trunken begangenem Verbrechen sei nur schwer nachzuweisen bzw. generell zu verneinen (so Teichmann, über Zurechnungsfähigkeit, in: Strafrechtszeitung 10 [1870], S. 215). 12 Puppe, JuS 1980, S.348 mit berechtigter Kritik an dem Verzicht auf die Kausalität der Selbstberauschung für die im Rausch begangene Tat bei eramer, Vollrauschtatbestand, S. 117 f., 131. 18 Genauer wäre die Formulierung: in der den Zustand, der zur Annahme der Schuldunfähigkeit führt, herbeiführenden Handlung. Die im Text verwendete Formulierung hat jedoch den Vorteil der Geläufigkeit für sich. 10 U

I. Das TatbestandsmodE:ll

27

nachweisen lassen. Auch das Kriterium der gesetzmäßigen Bedingung14 hilft nicht weiter, weil wir über entsprechende Gesetze psychischer Kausalität nicht verfügen. Aus diesem Grund hat Puppe vorgeschlagen, "die Kausalität eines Zustandes, von dem wir annehmen, daß er die sonst gegebene Schuldfähigkeit ausschließt, für in diesem Zustand getroffene oder ausgeführte rechtswidrige Entscheidungen einfach zu postulieren" 15. Das erscheint zunächst überraschend, weil die Voraussetzungen der Tatbestandsmäßigkeit einer Handlung nicht schlichtweg postuliert werden dürfen. Puppe macht aber geltend, daß auf diesem Postulat auch die Entschuldigung durch den Rauschzustand beruhe. "Wir stellen uns eine Entscheidung, die ein Mensch im Vollbesitz seiner Kräfte trifft, als frei vor, was immer das sein mag, und eine in schuldunfähigem Zustand getroffene als unfrei, mithin anderen Gesetzen gehorchend. Wer bewirkt, daß sein späteres Verhalten anderen Gesetzen folgt, setzt damit eine Ursache des späteren Verhaltens"16. Diese Argumentation hat in der Tat etwas Verführerisches. Gleichwohl scheint sie mir Puppes Schlußfolgerung, eine Selbstberauschung sei "kausal für jede Tat, die in dem Rausch begangen wird"17, nicht zu tragen, und zwar hauptsächlich aus zwei Gründen: Zum einen kann ein Postulat, das eine Entschuldigung des Täters trägt, nicht ohne weiteres zur Begründung eines Tatvorwurfs herangezogen werden. Auch wenn es sich bei dem fraglichen Postulat nicht um eine ad hoc erstellte Fiktion handelt, sondern eher um eine soziale Deutung, die dem Verhalten des als schuldunfähig Betrachteten konventionell zuteil wird, bleibt diese übertragung problematisch. Zum anderen aber scheint mir die von Puppe errichtete schroffe Alternative zweier voneinander getrennter Gesetzmäßigkeiten der Verhaltenssteuerung die ratio der Regelung der Schuldunfähigkeit nicht zu treffen. Das Verhalten dessen, der infolge seiner Trunkenheit das Unrecht einer in diesem Zustand begangenen Sachbeschädigung nicht einzusehen vermag, folgt nicht prinzipiell anderen Gesetzen als das Tun desjenigen, der die gleiche Tat nüchtern, aus übermut begeht. Puppes Argumentation dürfte hier noch dem Gesichtspunkt der "Aufhebung des Sinnzusammenhangs"18 als Kriterium der Exkulpation verpflichtet sein. Daß die Rubrizierung der im Zustand schuld ausschließender Trunkenheit vorgenommenen Handlungen als "Verhalten, das anderen Gesetzen 14 Dazu auch unten S. 76 f. 15 JuS 1980, S. 348. 16 a.a.O. 17 a.a.O. 18 Vgl. etwa Witter, Grundriß der gerichtlichen Psychologie und Psychiatrie,

1970, S.6 ff.

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

28

folgt", nicht der Betrachtungsweise der Strafrechtsdogmatik entspricht, zeigt im übrigen die Anerkennung der Möglichkeit eines freiwilligen Rücktritts im Zustand der Volltrunkenheit1U • Sieht man in den Fällen der vorsätzlichen actio libera in causa die tatbestandsmäßige Handlung im Sichbetrinken, dann liegt es nahe, für

die Annahme einer vorsätzlichen actio libera in causa vorsätzliches Handeln nicht nur hinsichtlich der Verwirklichung des Tatbestandes, sondern auch hinsichtlich der Herbeiführung des Defektzustandes zu fordern. "Daß auch die Herbeiführung des Defektzustandes vorsätzlich geschehen muß, ist selbstverständlich, wenn darin bereits die Tathandlung oder deren Beginn gesehen wird"20. In der Tat ist kaum zu bestreiten, daß der Vorsatz sich nicht nur auf den Erfolg, sondern auch auf die tatbestandsmäßige Handlung beziehen muß. Gleichwohl wird die Auffassung vertreten, für eine Bestrafung wegen vorsätzlicher actio libera in causa genüge die fahrlässige Herbeiführung der Trunkenheit21 . Der darin liegende Verzicht auf das vorsätzliche Herbeiführen des Defektzustandes ist folgerichtig auf der Basis der Auffassung, tatbestandsmäßige Handlung sei nicht die actio praecedens, sondern der unmittelbar rechtsgutsverletzende Akt22 • Sieht man mit Hruschka in der actio libera in causa eine wirkliche Ausnahme vom Prinzip der Koinzidenz von Schuld und Tat, dann ist der Verzicht auf das Erfordernis des vorsätzlichen Sichbetrinkens konsequent. Dagegen scheint sie mit der herrschenden Deutung der actio libera in causa nicht vereinbar zu sein. Indes ist fraglich, ob das Erfordernis vorsätzlicher Herbeiführung des Defektzustands auf der Basis der herrschenden Meinung wirklich zwingend ist. Gegen die obige Argumentation, der Vorsatz müsse sich auf das Sichbetrinken beziehen, weil dieses nach dem Tatbestandsmodell die tatbestandsmäßige Handlung darstelle, ließe sich einwenden, daß als Handlung des Täters nur das Trinken, nicht aber das Sichbetrinken in Betracht komme; denn der Begriff des "Sichbetrinkens" bezeichnet nicht nur eine Tätigkeit, sondern darüber hinaus deren Erfolg 23 • Es genüge also, daß der Täter hinsichtlich des Trinkens von 10

BGH, MDR 1971, 362; RG, HRR 1936 Nr. 1149.

Schönke/Schröder/Lenckner, § 20 Rdnr.35, im gleichen Sinne Jescheck, AT, S. 362; SK/Rudolphi, § 20 Rdnr. 30; Stratenwerth, AT, Rdnr. 549; Schmidhäuser, AT, S. 386 f. Puppe, JuS 1980, S.348, Oehler, JZ 1970, S. 380 ff.; Jakobs, Strafrecht AT, S. 416; BGHSt 2,17; 17,262; 17,335. !1 Cramer, Vollrauschtatbestand, S. 132; ders., JZ 1968, S. 273; Maurach, JuS 1961, S.376; Maurach/Zipf, AT/I, S.522; Hroschka, JuS 1968, S.558. Nach Cramer schließt selbst eine schuldlose Herbeiführung des Vollrauschs eine 10

actio libera in causa nicht schlechthin aus (JZ 1968, S. 274). I! Anders Schönke/Schröder/Lenckner, § 20 Rdnr.35. 23 Es handelt sich um sog. "Erfolgswörter" ; vgl. Ryle, Der Begriff des Geistes, 1969, S. 199 ff.

I. Das Tatbestandsmodell

29

Alkohol vorsätzlich handele; auf den daraus resultierenden Zustand der Trunkenheit oder der Schuldunfähigkeit müsse sich der Vorsatz dagegen nicht beziehen. Dieser Einwand scheint mir in der Tat überzeugend zu sein. Mit dem Argument, der Vorsatz müsse sich auch auf die tatbestandsmäßige Handlung beziehen, ist das Erfordernis des "Doppelvorsatzes" (i. S. der Notwendigkeit der vorsätzlichen Herbeiführung auch des Defektzustands) nicht zu begründen. Nun könnte man versuchen, die Notwendigkeit eines Doppelvorsatzes mit der Begründung zu verteidigen, die Konstruktion der actio libera in causa verlange ein hinsichtlich der Tatbegehung ..finales" Trinken und aus diesem Grund eben doch ein vorsätzliches Sichbetrinken. Dieser Versuch führt jedoch nicht zum Erfolg. Zunächst ist nach der - insofern freilich angreifbaren - h. M. ein Sichbetrinken bzw. Trinken zum Zwecke der Tatbegehung nicht erforderlich24• Zweitens kann ein "Doppelvorsatz" vorliegen, wenn es an einem hinsichtlich der Tatbegehung finalen Sichbetrinken fehlt. Das ist etwa der Fall, wenn der eifersüchtige Ehemann, der gerade von der Untreue seiner Frau erfahren hat, sich mittags entschließt, seinen Schmerz mit Alkohol zu betäuben - und zwar mit einem Quantum, das, wie er weiß, erfahrungsgemäß zur Aufhebung seiner Steuerungsfähigkeit i. S. des § 20 StGB führt - und am Abend den von der Arbeit heimkehrenden Rivalen zu erschießen. Hier handelt der Täter mit Doppelvorsatz; gleichwohl liegt ein hinsichtlich der Tatbegehung finales Sichbetrinken nicht vor. Schließlich kann umgekehrt ein hinsichtlich der Tatbegehung finales Trinken zu bejahen sein, obgleich es an einer vorsätzlichen Herbeiführung des Defektzustands fehlt. Denn Voraussetzung ist lediglich, daß das Trinken auch nach der Vorstellung des Täters eine Ursache der späteren Tat darstellt25 ; dagegen ist, entgegen der Auffassung Puppes26 , eine vorsätzliche Herbeiführung der Schuldunfähigkeit nicht erforderlich. Auch der Täter, der sich lediglich Mut antrinken will, glaubt, mit dem Alkoholkonsum die Begehung der Tat zu fördern. Entscheidend ist der Vorsatz hinsichtlich der Tatrelevanz, nicht hinsichtlich der schuldausschließenden Wirkung des Alkoholkonsums 27 • Die Kritik, die die Verfechter des "Doppelvorsatzes" an der Meinung üben, die ausdrücklich Vorsatz hinsichtlich der Herbeiführung des Taterfolgs und des Defektzustandes genügen läßt28 , erscheint nach alledem !4 l!5

26 27 28

Schönke/Schröder/Lenckner, § 20 Rdnr. 36 m. Nachw. Puppe, JuS 1980, S. 348.

a.a.O. BGH, NJW 1955, 1037; Schönke/Schröder/Lenckner, § 20 Rdnr.36. SK/Rudolphi, § 20 Rdnr. 30 und die in Fn. 20 genannten Autoren.

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

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nicht zwingend. Wenn Rudolphi dieser Meinung vorwirft, sie verkenne, "daß ein auf Tatbestandsverwirklichung gerichteter ,Vorsatz' solange ohne strafrechtliche Relevanz ist, solange sich der Täter nicht auch zur Realisierung seines ,Vorsatzes' entschlossen und diesen Entschluß auch betätigt hat"29, dann wird damit implizit verlangt, daß das Sichbetrinken nach dem Täterplan zumindest Bestandteil des zum Erfolg führenden Geschehensablaufs sein muß30. Gerade auf diese Voraussetzung aber wird von der h. M. ausdrücklich verzichtet. Richtig ist allerdings, daß dieser Verzicht auf der Grundlage des Tatbestandsmodells nicht zu begründen ist. Vorsätzliche Tatbegehung setzt voraus, daß der Täter die Tathandlung als (mögliches) Mittel der Herbeiführung des tatbestandsmäßigen Erfolgs erkennt. Nun dürfte die Fallgestaltung, daß der potentielle Täter beim Trinken über die Auswirkungen des Alkohols auf sein Einsichts- und Hemmungsvermögen nachdenkt und dessen Verminderung bzw. Aufhebung gar als Mittel der Tatbegehung einsetzt, mehr theoretische Bedeutung haben31 • Das bedeutet: Zieht man die Konsequenzen aus dem Standpunkt der h. M., die in den Fällen der actio libera in causa als Tathandlung die actio praecedens zurechnet, dann ist eine Bestrafung des Täters, der einen nüchtern gefaßten Tatentschluß im Zustand der selbstverschuldeten Trunkenheit ausführt, praktisch ausgeschlossen. Diese Konsequenz sucht Puppe dadurch zu vermeiden, daß sie es genügen läßt, wenn sich der Täter der Kausalität des Trinkens für die spätere Tatausführung im Sinne des von ihr postulierten Kausalzusammenhangs "wenigstens laienhaft bewußt ist"32. Das werde sehr oft der Fall sein, "wenn er mit einem Verlust von Hemmungs- und Kontrollfähigkeit rechnet"33. Aber daß er überhaupt mit einem Verlust von Hemmungs- und Kontrollfähigkeit, also mit einer Verminderung dieser Fähigkeiten rechnet, kann nicht genügen, wenn man mit Puppe die Kausalität des Sichbetrinkens darin sieht, daß damit die Handlungen des Täters einer anderen Gesetzmäßigkeit unterstellt würden 34• Erforderlich ist dann vielmehr, daß er erkennt, daß sein Verhalten diesen anderen Gesetzmäßigkeiten folgen werde. Daran vermag auch das Aba.a.O. 80 Das gleiche Erfordernis ergibt sich aus der Formulierung, zwischen "in actu unfreien Tat" und dem "freien Sichversetzen in den Zustand § 20" müsse ein "vorwerfbarer innerer Zusammenhang bestehen"; Schönke/Schröder/Lenckner, 20. Auf!., § 20 Rdnr.34 (anders die 21. Auf!.). 31 So auch emmer, JZ 1968, S. 274; ähnlich Krause, Betrachtungen actio libera in causa, S. 308. 32 Puppe, JuS 1980, 349. 33 a.a.O. 34 a.a.O., S. 348. 29

der des so zur

I. Das Tatbestandsmodell

31

stellen auf das "laienhafte" Bewußtsein nichts zu ändern. Denn der Annahme einer Ablösung der Sinngesetzlichkeit durch eine andere Gesetzmäßigkeit korrespondiert in der Laiensphäre - wenn man hier eine solche Abschichtung der Sphären überhaupt für erforderlich hältdie Vorstellung einer Aufhebung, nicht die einer Verminderung der Hemmungs- und Kontrollfähigkeiten. Zu fordern ist also - und die Formulierung Puppes schließt nicht aus, daß eben dies gemeint ist - , daß der Täter sich des völligen Verlusts dieser Fähigkeiten bewußt ist. Das aber dürfte wiederum nur äußerst selten der Fall sein. Der Täter, der einen bestimmten Tatplan auszuführen gedenkt, müßte von allen guten Geistern verlassen sein, wenn er sich zuvor bewußt in einen Zustand völliger Hemmungs- und Kontrollunfähigkeit versetzen würde. Diese Schwierigkeiten treten nicht auf, sofern man nicht die Herbeiführung des Defektzustands, sondern eine andere Handlung im Vorfeld der unmittelbaren Tatbestandsverwirklichung als tatbestandsmäßige Handlung betrachtet. Die Notwendigkeit dazu ergibt sich, wenn man mit Krause auf die Herbeiführung des Defektzustandes durch den Täter verzichtet und es genügen läßt, daß dieser um den Defekt weiß35. Aber die übertragung dieser von Krause vor allem für die Fälle sexueller Abartigkeiten entwickelten Möglichkeit auf die Fälle trunkenheitsbedingter Schuldunfähigkeit bereitet schon deshalb Schwierigkeiten, weil es in den letzteren Fällen häufig an im Zustand der Nüchternheit vorgenommenen Vorbereitungshandlungen fehlen dürfte, denen man die Rolle einer tatbestandsmäßigen Handlung zuerkennen könnte. Ganz abgesehen davon aber stellt sich die Frage, was uns dazu berechtigt, eine Handlung, die ansonsten allenfalls als Vorbereitungshandlung zu klassifizieren wäre - der Weg des Kaufmanns in sein Geschäft, in dessen Räumen er sich an einem noch nicht 16-jährigen weiblichen Lehrling vergehen will bzw. wird36 - zu einer nach § 174 I Nr. 1 StGB tatbestandsmäßigen Handlung zu erheben. (Das damit angesprochene Problem der Interpretation der actio praecendes als tatbestandsmäßige Handlung stellt sich freilich auch für die Handlung, durch die der Defekt herbeigeführt wird.) Selbst in dem theoretischen Fall, daß der von Skrupeln geplagte Täter sich betrinkt, um sich einsichts- und steuerungsunfähig zu machen und dadurch seine Hemmungen zu überwinden, ist eine Bestrafung wegen vorsätzlicher Tatbegehung - auch wenn es zur Tatausführung 35 Krause, Betrachtungen zur actio libera in causa, S. 312 ff. (vgl. auch Maurach/Zipf, AT/1, S. 521 f.: "Die ,freie' Handlung besteht darin, daß der Täter seine Unzurechnungsfähigkeit selbst herbeiführt ... oder eine gefahrbegründende Handlung vornimmt" (Hervorhebung von mir, U. N.). 36 So das Beispiel von Krause, a.a.O.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

kommt - problematisch. Denn die kausale und finale Verknüpfung mit dem tatbestandsmäßigen Erfolg macht das Trinken noch nicht ohne weiteres zu einer tatbestandsmäßigen Tötungshandlung 37 • Umstritten ist allerdings, welche weiteren Voraussetzungen hinzukommen müssen. Nach Hruschka ist erforderlich, daß die actio praecedens als Ausführung der tatbestandsmäßigen Handlung beschrieben werden kann38 ; das führt bei der Gruppe der Tätigkeitsdelikte zu einer weitgehenden Zurückdrängung der actio libera in causa, weil das Sichbetrinken als solches keine Beleidigung, Vergewaltigung etc. darstellt. Demgegenüber läßt es die wohl h. M. bei den Tätigkeits- wie bei den Erfolgsdelikten genügen, daß die Selbstberauschung einen Anfang der Ausführung der tatbestandsmäßigen Handlung darstellt, daß sie also die Schwelle von der Vorbereitungs- zur Versuchshandlung überschritten hat39 • Wolter schließlich verlangt für die Fälle der "Schuldunfähigkeit nach Beginn der Ausführungshandlung" , daß der Täter im Zustand der Schuldfähigkeit einen beendeten Versuch begangen hat4°; das würde, da die vorsätzliche actio libera in causa nach der herrschenden Deutung zu dieser Fallgruppe zu rechnen ist 41 , den Anwendungsbereich der vorsätzlichen actio libera in causa ganz erheblich einschränken, falls man nicht bereit ist, eine "heroische" Position zu beziehen und im Sichbetrinken bereits einen beendeten Versuch des geplanten Delikts zu erblicken42 • Ich halte die von Hruschka vorgetragenen wie die aus den überlegungen Wolters resultierenden Bedenken gegen die herrschende Meinung für überzeugend. Wenn Puppe gegen Hruschka einwendet, es sei "nicht der Sinn der Beschränkung der Strafbarkeit von Rechtsgutsverletzungen auf bestimmte Angriffsmittel, eine vollkommenere Kontrolle des Täters über den Kausalverkauf zu fordern als bei den reinen Erfolgsdelikten" und folglich sei das Angriffsmittel "vor allem ein Teil des Erfolges und des Erfolgsunrechts"43, so ist das jedenfalls für die reinen Tätigkeitsdelikte nicht überzeugend; denn hier geht es nicht um die Kontrolle eines Kausalverlaufs, sondern um die Verwirklichung des die Strafbarkeit bedingenden Handlungsunrechts. Das Unrecht der 37 Vgl. Hruschka, JuS 1968, S. 556; ders., SchwZStr 90 (1974), S. 54; insoweit zustimmend Horn, GA 1969, S. 298. 38 Hruschka, JuS 1968, S. 556 f.; ders., SchwZStr 90 (1974), S. 69 f. S8 Puppe, JuS 1980, S.347. 40 Wolter, Irrtum über den Kausalverlauf, S. 700 ff. 41 Auf die Strukturgleichheit der "Blutrauschfälle" (BGHSt 7, 329) mit den Fällen der actio libera in causa ist verschiedentlich hingewiesen worden; teilweise werden sie geradezu als Anwendungsfälle der actio libera in causa gesehen (so Maurach, JuS 1961, S. 377 ff.; Cramer, JZ 1968, S. 274 f., Fn. 17). 42 Dafür Jakobs, Strafrecht AT, S. 417. U Puppe, JuS 1980, 347.

I. Das Tatbestandsmodell

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Nötigung zum Beischlaf im Tatbestand des § 177 StGB erschöpft sich nicht in einem Teil des Erfolgsunrechts "Verletzung der freien geschlechtlichen Selbstbestimmung". Das Argument Wolters, bei Vorliegen eines unbeendeten Versuchs sei prinzipiell nur ein "verkürztes Handlungsunrecht" gegeben 44, macht deutlich, daß sich das Problem nicht auf die Tätigkeitsdelikte beschränkt. Auch bei Erfolgsdelikten wäre die Unrechts- bzw. Schulddifferenz zwischen beendetem und unbeendetem Versuch zu berücksichtigen. Gleichwohl soll im folgenden davon ausgegangen werden, daß für die Bestrafung wegen vorsätzlicher actio libera in causa die Vornahme einer Versuchshandlung im Zustand der Schuldfähigkeit genügt. Denn auch mit dieser Vorgabe führt die herrschende Deutung der actio libera in causa nicht zu den behaupteten Konsequenzen. Die "eigentliche crux der actio libera in causa"45, die Frage, ob bzw. wann das Sichbetrinken als Versuch der geplanten Tat angesehen werden kann, bereitet unüberwindliche Schwierigkeiten. Das gilt selbst in dem für die h. M. günstigsten Fall, daß der Täter sich planmäßig betrinkt, weil er nüchtern den Mut zur Tat nicht aufbringt 46. Wenn in unserem Beispiel der eifersüchtige Ehemann mittags anfängt, sich zu betrinken, um abends in der Lage zu sein, die einer tödlichen Verletzung seines Rivalen entgegenstehenden Hemmungen zu überwinden, dann hat sein Tatentschluß damit - entgegen Rudolphi 47 die "Feuerprobe der kritischen Situation" noch nicht bestanden. Rudolphi müßte begründen, warum das Instandsetzen und Durchladen des Gewehrs zur Mittagszeit noch - was unstreitig sein dürfte - straflose Vorbereitungshandlung ist, das finale Sichbetrinken zum gleichen Zeitpunkt aber bereits einen Tötungsversuch darstellen soll. Nun bietet sich an dieser Stelle die überlegung an, daß in ersterem Fall die fragliche Handlung - Durchladen des Gewehrs - die Entscheidung über das Festhalten bzw. die Aufgabe des Tatentschlusses in keiner Weise präjudiziere, während durch das Sichbetrinken die " Wolter, ZStW 89 (1977), S.701. Zur Konsequenz der Strafbarkeit lediglich wegen Versuchs vgl. Wolter, Vorsätzliche Vollendung ohne Vollendungsvorsatz und Vollendungsschuld?, S. 567 ff.; dazu Küper, Aspekte der "actio libera in causa", S. 586 m. Fn. 29. 45 Puppe, JuS 1980, S. 348. 46 In diesem Fall wird ganz überwiegend Versuch bejaht; vgl. Maurach, JuS 1961, S. 377; Puppe, JuS 1980, S.348; SK/Rudolphi, § 22 Rdnr.21. Zur Einbeziehung der früheren Setzung von Ursachen in den Handlungsbegriff ("Akkordeon-Effekt") aus der Sicht der Handlungstheorie vgl. Feinberg, Handlung und Verantwortung, in: Meggle (Hrsg.), Analytische Handlungstheorie, Bd.l, Handlungsbeschreibungen, 1977, S. 186 ff.; dazu Kindhäuser Intentionale Handlung, S. 160 ff., 183. ' 47 SK/Rudolphi, § 22 Rdnr.21. 3 Neumann

B. ZurechnungsmodeUe bei "Vorverschulden"

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Freiheit, den Tatplan aufzugeben, infolge einer "Fixierung des Vorsatzes" durch den Eintritt des Defektzustandes aufgehoben oder zumindest eingeschränkt werde. Dazu ist zunächst zu bemerken, daß für die angebliche "Fixierung" des Vorsatzes durch das Sichbetrinken bisher jeglicher Beleg mangelt. Von einer derartigen "Fixierung" könnte man berechtigterweise nur dann reden, wenn sich zeigen ließe, daß ein nüchtern gefaßter Tatvorsatz innerhalb des gleichen Zeitraumes in nüchternem Zustand erheblich häufiger aufgehoben wird als im Zustand der Trunkenheit. Für einen solchen Nachweis fehlt es bisher an jeglichem Versuch. Man kann sich auch kaum darauf berufen, daß der behauptete psychologische Effekt von einer so aufdringlichen Offenkundigkeit sei, daß es eines besonderen Nachweises nicht bedürfe. Denn der umgekehrte Effekt - der Täter gibt den Vorsatz unter dem Einfluß der antriebsreduzierenden Wirkung der hochgradigen Alkoholisierung auf - ist mindestens ebenso plausibel 48 • Selbst wenn man die psychologisch fragwürdige Idee einer Fixierung des Vorsatzes durch Sichbetrinken akzeptieren wollte: Dogmatisch relevant würde diese nur dann, wenn das unmittelbar den tatbestandsmäßigen Erfolg herbeiführende Geschehen quasi mechanisch ablaufen, sich nicht mehr als Handlung des Täters darstellen würde 49 • In diesem Fall wäre an der Tatbestandsmäßigkeit der Herbeiführung des Defektzustandes ebensowenig zu zweifeln wie an der Tatbestandsmäßigkeit des Auslösens eines physikalischen Prozesses, der den tatbestandsmäßigen Erfolg unmittelbar herbeiführt. Ein derartiger mechanischer Ablauf wird von Binding behauptet: "Das in der Trunkenheit oder im Schlaf Vollführte" sei "nicht Handlung"50; "die Brandstiftung oder die Tötung verübt während der Trunkenheit sind Ereignisse der äußeren Natur ... "51. Seit anerkannt ist, daß die Aufhebung der Schuld fähigkeit von der Aufhebung der Handlungsfähigkeit zu trennen ist, kann diese Argumentation jedoch nicht mehr überzeugen. An der fortbestehenden Handlungsfähigkeit des Täters scheitert auch die Deutung der vorsätzlichen actio libera in causa als Sonder- oder Parallelfall der mittelbaren Täterschaft 52 • Denn anders als bei der In diesem Sinne auch Küper, Aspekte der "actio libera in causa", S. 591. Ebenso Welp, Vorangegangenes Tun, S. 136 f. 50 Binding, Normen II, S. 616 f. 51 Binding, Normen II, S. 617. 52 Dafür aber etwa Jescheck, AT, S. 362: "Der Täter benützt sich hier gewissermaßen selbst als schuldlos handelndes Werkzeug." Diese Konstruktion scheint freilich unvereinbar mit der Annahme Jeschecks, die tatbestandsmäßige Handlung werde im Falle der actio libera in causa im Zustand der 48 49

I. Das Tatbestandsmodell

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mittelbaren Täterschaft gibt der Täter den Geschehensablauf im Fall der actio libera in causa nicht aus der Hand; der unmittelbar den tatbestandsmäßigen Erfolg herbeiführende Akt ist seine Handlung. Es kann auch keine Rede davon sein, daß nach Eintritt des Defektzustands die weiteren Handlungen des Täters ein "Produkt blinder Kausalität" wären 53 • Ebensowenig wie in anderen Fällen des § 20 StGB ist die Vorstellung berechtigt, die Tat sei durch den Defekt des Täters determiniert 54 • Daß der Betrunkene sich gegen die Durchführung des nüchtern ge faßten Tatplans entscheiden kann, dürfte nicht zu bestreiten sein. In diesem Sinne meint Lenckner, auch der Vollrausch habe "im allgemeinen nicht zur Folge, daß sich der Täter in einem bestimmten Sinn verhalten muß"; es sei durchaus denkbar, daß er sich in einem euphorischen Rausch - der die häufigste Form des Rausches sei - mit seinem Todfeind verbrüdere, statt ihn zu töten55 • Die hier gegen die Deutung des Sichbetrinkens als Versuchshandlung vorgebrachten Bedenken potenzieren sich, wenn, wie im Regelfall, der Täter sich nicht zum Zweck der Tatbegehung betrinkt; denn in diesem Fall fehlt es nicht nur an einem unmittelbaren Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung, sondern bereits an einem Zusammenhang mit dem Tatplan des Täters. Der scharfsinnige Versuch Puppes, die bei dieser Fallkonstellation zusätzlich resultierenden Probleme auszuräumen, vermag letztlich nicht zu überzeugen. Nach Puppe genügt es "für den Versuchsbeginn und damit für die Strafbarkeit nach den Regeln der actio libera in causa, wenn der Täter sich im Bewußtsein seines strafbaren Vorhabens und des Einflusses des Rauschmittels auf sein Verhalten bis zur Schuldunfähigkeit berauscht"; es sei nicht erforderSchuldunfähigkeit vorgenommen (S. 361); denn anders als im Fall der mittelbaren Täterschaft wird ihm damit nicht die Einflußnahme auf das Werkzeug, sondern die unmittelbare Rechtsgutsverletzung als tatbestandsmäßige Handlung zugerechnet. Als Sonderfall der mittelbaren Täterschaft mit bestimmten Besonderheiten sieht auch Puppe die actio libera in causa (JuS 1980, S. 348 f.). Daß die Interpretation der actio libera in causa als Fall der mittelbaren Täterschaft dazu zwingt, bei eigenhändigen Delikten auf § 323 a StGB oder auf die Teilnahme-Regeln auszuweichen (vgl. Jakobs, AT, S.417), ist keine Empfehlung für diesen Lösungsvorschlag; insbes. die Konstruktion einer (ggf. auch nach § 28 StGB zu beurteilenden!) Teilnahme des Täters an seiner eigenen Tat (dafür Jakobs, a.a.O.) erscheint wenig erfreulich. 53 So auch Maurach, JuS 1961, S. 375. 54 Gegen das Abstellen auf die verhaltens determinierende Kraft psychischer Faktoren bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit mit Recht Bresser, Leferenz-Festschrift S. 435 ff.; Jakobs, Strafrecht, AT, S.428, der gleichwohl die actio libera in causa als Fall mittelbarer Täterschaft konstruiert und die Aufspaltung der Person des Täters in Werkzeug und Hintermann in der Annahme einer Teilnahme an der eigenen Tat (bei eigenhändigen Delikten) ins Extrem treibt (S.417); anders H. L. Schreiber, NStZ 1981, S.48; Venzlaff, ZStW 88 (1976), S. 60. 55 Lenckner, GA 1961, S. 304. 3'

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

lich, "daß er dies zum Zweck der Tatbegehung tut"58. Begründet wird diese Auffassung damit, daß auch in diesem Fall der Täter seine Freiheit, über das "Ob" der Tat zu entscheiden, aus der Hand gegeben habe. Zwar erlebe der Täter selbst das Trinken im allgemeinen nicht als Anfang der Ausführung; er habe aber, was entscheidend sei, die Möglichkeit zu diesem Erlebnis, wenn er um den Einfluß des Rauschmittels auf die Ausführung der Tat wisse 57 • Nun ist für den Versuchsbeginn sicher nicht erforderlich, daß der Täter seine Handlung rechtlich als solchen wertet; unabdingbar ist aber, daß diese nach dem Plan des Täters als unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung erscheint. Das ist hinsichtlich des Trinkens nicht der Fall, wenn der Alkoholeinwirkung ein Stellenwert im Täterplan nicht zukommt. Die Schwelle zum "jetzt geht's los", auf die auch Puppe für den Versuchsbeginn abstellt 58 , ist mit einer derartigen Handlung noch nicht überschritten. Zu Schwierigkeiten führt auch die Argumentation, der Täter habe mit dem Sichbetrinken die Freiheit, über das "ob" der Tat zu entscheiden, aus der Hand gegeben. Entsprechend der Korrelation von Freiheit und Schuldfähigkeit einerseits, Schuldunfähigkeit und Unfreiheit andererseits 59 ist dies erst im Augenblick des Eintritts der Schuldunfähigkeit der Fall. Das daraus resultierende Problem, daß für die zurechenbare tatbestandsmäßige (Versuchs-)Handlung allenfalls der Zeitraum einer logischen Sekunde bleibt, weil mit Eintritt der Schuldunfähigkeit zugleich die Verantwortlichkeit des Täters für das (als tatbestandsmäßige Handlung gedachte) Trinken endet, soll hier auf sich beruhen. Wichtiger scheint mir die Konsequenz, daß man auf der Basis dieser Argumentation zwangsläufig zur Annahme des § 21 StGB gelangen müßte; denn die in der Herbeiführung der Schuldunfähigkeit liegende Versuchshandlung (der "letzte Schluck" vor Eintritt der Schuldunfähigkeit) erfolgt in einem Stadium verminderter Schuldfähigkeit. Daß die Herbeiführung verminderter Schuldfähigkeit aber noch keinen Versuch des später begangenen Delikts darstellt, hebt Puppe zutreffend hervor60 • Die Schwierigkeiten, mit denen die herrschende Meinung zu kämpfen hat, resultieren aus dem Versuch, ein Problem, das sich auf der Ebene der Schuld stellt, auf der Ebene des Tatbestands zu lösen. Dieser VerPuppe, JuS 1980, S. 349. Puppe, JuS 1980, S. 349. 58 a.a.O., S. 347 in Anschluß an BGHSt 26, 201, 203, und Dreher (vgl. Dreher/ Tröndle, § 22 Rdnr. 11). 5. Puppe, JuS 1980, S. 348. 80 Puppe, JuS 1980, S. 349. 56

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1. Das Tatbestandsmodell

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such kann nicht gelingen, weil die Regeln der Schulddogmatik von denen der Tatbestandsdogmatik insofern abgekoppelt sind, als die Frage der "Schuldhaftigkeit" einer Handlung die nach ihrer Tatbestandsmäßigkeit negativ nicht präjudiziert. Insofern hat sich mit der Verlagerung des Problems von der Frage der Handlungsfähigkeit in die der Schuldfähigkeit die Situation entscheidend geändert. Die "Vorverlegung" der tatbestandsmäßigen Handlung war dogmatisch korrekt, solange man mit Binding&1 dem im Zustand der Schuldunfähigkeit vorgenommenen Akt die Handlungsqualität absprach62 • Bejaht man sie, ist die tatbestandsmäßige Handlung der unmittelbar rechtsgutsverletzende Akt; denn für die Frage nach der tatbestandsmäßigen Handlung sind Schuldgesichtspunkte irrelevant. Dann aber bestimmt sich die Tatbestandsmäßigkeit der actio praecedens ausschließlich nach ihrem Zusammenhang mit dieser Handlung. Dieser Zusammenhang wird für Vorsatztaten vermittelt durch § 23 StGB und die Dogmatik des Versuchs; ob eine der "eigentlichen" tatbestandsmäßigen Handlung vorausliegende Handlung dem fraglichen Straftatbestand unterfällt, bestimmt sich anhand der Abgrenzung von Vorbereitungs- und Versuchshandlung. Dabei ist entscheidend, daß die Abgrenzung von Versuch und Vorbereitungshandlung als Tatbestandsproblem (i. w. S.) von der Schuldfrage nicht beeinflußt werden kann. Ob der Alkoholkonsum des Täters zur Schuldunfähigkeit geführt hat oder nicht, ist folglich für diese Abgrenzung irrelevant. Das heißt: Die "Vorverlegung" der tatbestandsmäßigen Handlung ist durch eine bestimmte Konstellation im Schuldbereich motiviert, aber nicht begründbar. Entsprechende Korrekturversuche müssen zwangsläufig zu neuen dogmatischen Problemen führen 63 • Diese dogmatischen Erwägungen können ergänzt werden durch Plausibilitätsbetrachtungen. Wenn man im Beispielsfa1l64 den Versuchsbeginn auf den Zeitpunkt des Beginns des Trinkens mit Tatvorsatz legt: Setzt der Täter, wenn er abends die Waffe auf das Opfer richtet oder zum Schlag ausholt, nicht unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung an? Oder setzt er, mit einem Zeitabstand von mehreren Stunden, zu derselben Tat zweimal unmittelbar an (ohne daß ein Rücktritt oder ein fehlgeschlagener Versuch vorläge)? Und wie, wenn A und B Dazu oben S. 34. Demgemäß können für die hier nicht behandelten Fälle der Herbeiführung der Handlungsunfähigkeit andere Gesichtspunkte gelten. 63 Für problematisch halte ich deshalb auch den Vorschlag Horns, in den Fällen der - von ihm als dogmatische Figur abgelehnten - actio libera in causa einem "unabweisbaren Strafbedürfnis" durch eine - wenn auch "behutsame" - Korrektur der Grenze zwischen Vorbereitungshandlung und Versuch Rechnung zu tragen (GA iii69, S. 304). 64 Vgl. oben S. 33. 61

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

sich verabredet haben, den C gemeinsam zu verprügeln (was auch geschieht) und B im Gegensatz zu A bis dahin nüchtern bleibt? Setzt dann zu der gemeinsam verübten Körperverletzung der A um 13 Uhr, der B um 19 Uhr an? Oder müßte man gar auf der Grundlage der sog. "Gesamtlösung" den Versuchsbeginn bei Adern B mit dem Folge zurechnen, daß auch bei ihm ein Versuchsbeginn um 13 Uhr zu bejahen wäre? Besonders deutlich zeigt sich die Unhaltbarkeit der "Vorverlegungstheorie" der h. M. in den Fällen des § 21 StGB, auf den die Figur der actio libera in causa nach fast einhelliger Meinung ebenfalls Anwendung findet 65 • Hier wird die unmittelbar rechtsgutsverletzende Handlung im Zustand der Schuldfähigkeit vorgenommen; es kann also keine Rede davon sein, daß der Täter sich als blindes Werkzeug einsetzen würde. Damit ist der Begründung der actio libera in causa mit Hilfe des Tatbestandsmodells der Boden entzogen66 • Zu rechtfertigen ist die Einbeziehung der Fälle erheblich verminderter Schuldfähigkeit in den Anwendungsbereich der actio libera in causa nur auf der Grundlage des Ausnahmemodells. Die "wirkliche" Zurechnungsstruktur der actio libera in causa schimmert durch die Formulierungen hindurch, wenn bei der Diskussion zu § 21 StGB von dem "Gedanken" bzw. den "Grundsätzen" der actio libera in causa67 oder von einem "der actio libera in causa vergleichbaren Gedankengang"6S die Rede ist. Geht es um Grundsätze der Zurechnung, die auch im Rahmen des § 21 StGB und bei der Strafzumessung nach § 46 StGB Anwendung finden können, dann hat die Konstruktion der actio praecedens als tatbestandsmäßige Handlung ausgedient. Bei dem Versuch, diese Grundsätze explizit zu machen, kommt auch die Stufenstruktur der Zurechnung zum Ausdruck: "Ebenso wie der im Zeitpunkt der Tat unzurechnungsfähige Täter sich in den actio-libera-Fällen nicht auf § 51 I StGB berufen kann, soll dem ver65 Vg!. Schönke/Schröder/Lenckner, 21. Auf!., § 21 Rdnr.11 m. Nachw.; abweichend Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht, S. 184 Anm. 5; gegen ihn Moos, ZStW 89 (1977) S. 810 Fn.46. Gegen die Heranziehung der actio libera in causa im Rahmen des § 21 auch Puppe, JuS 1980, S. 349. 66 Aus diesem Grund greift Schröder (GA 1957, 302 f.) hier auf das Kompensationsmodell zurück: Habe sich der Täter in den Zustand des § 21 mit dem Vorsatz versetzt, eine bestimmte Tat zu begehen, dann werde "das verminderte Verschulden bei der Ausführung der Tat ... durch die volle vorsätzliche Schuld bei der Herbeiführung dieses Zustandes kompensiert" (S.302). Aber auch das ist nicht überzeugend. Wenn die Herbeiführung der verminderten Schuldfähigkeit nicht als tatbestandsmäßige Handlung verstanden werden kann, dann hängt der zu diesem Zeitpunkt gegebene Vorsatz in der Luft; als "nuda cogitatio" kann er in die Schuldrechnung nicht eingestellt werden. 67 BGH bei Dallinger, MDR 1967, 725; KG VRS 11,283; Bruns, Strafzumessungsrecht, S.531; LK/Hirsch, § 46 Rdnr.76; Schönke/Schröder/Lenckner, § 21 Rdnr: 11, 21. 6B Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 531.

I. Das Tatbestandsmodell

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mindert zurechnungsfähigen Täter in sonst vergleichbarer Situation die Berufung auf § 51 II StGB versagt werden"69. Das ist in der Tat die Zurechnungsstruktur der richtig verstandenen actio libera in causa: Wer seine Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit vorsätzlich herbeigeführt hat in der Absicht, in diesem Zustand eine Straftat zu begehen, kann sich auf Schuldunfähigkeit bzw. verminderte Schuldfähigkeit nicht berufen. Damit ist, wohlgemerkt, nicht das Ergebnis eines Rückgriffs auf die "Figur" der actio libera in causa formuliert, sondern deren Prinzip selbst. Die Begründung für diese Zurechnungsregel kann nicht im Wege dogmatischer Konstruktion, sondern allenfalls im Rahmen eines praktischen Diskurses gegeben werden70 • Nicht vereinbar mit der Vorverlegungstheorie ist auch die Behandlung der Fälle, in denen Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit nicht sicher festgestellt werden können. Nach h. M. kann in diesen Fällen die Frage, ob die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB vorliegen, offen bleiben, wenn die Grundsätze der actio libera in causa eingreifen71 • Nach der Vorverlegungstheorie entscheidet sich mit der Frage der Anwendbarkeit des § 20 StGB aber auch, welche von zwei verschiedenen Handlungen sanktioniert wird: das Sichbetrinken oder die unmittelbar rechtsgutsverletzende Handlung. Konsequenterweise müßten dann die Regeln der Wahlfeststellung zur Anwendung gelangen. Schließlich führt die Vorverlegungstheorie auch bei der Behandlung des strafbefreienden Rücktritts (§ 24 StGB) zu unvertretbaren Ergebnissen. Begründet man die Annahme, schon im Sichberauschen liege ein Versuch der Tatbestandserfüllung, mit der Behauptung, der berauschte Täter habe seine Freiheit, über das Ob und Wie der Tat zu entscheiden, schon aus der Hand gegeben72 , dann ist bei entsprechendem Bewußtsein des Täters die Annahme eines beendeten Versuchs mit Eintritt des Rauschzustands zwingend 73 • Dann aber käme ein strafbefreiender Rücktritt durch Aufgabe der Tatausführung nicht mehr in Betracht. Der betrunkene Täter, der aus Mitleid die schon erhobene Pistole sinken läßt, könnte nicht nach § 24 I StGB Straffreiheit erlangen. Diese Konsequenz ist absolut unbefriedigend. Sie ist auf dem Boden der Vor69 Bruns, a.a.O. (Hervorhebung von mir); gleichwohl hält Bruns am Gesichtspunkt des "verantwortlichen Ingangsetzens des Kausalverlaufs" , der auf die Tatbestandskonstruktion zugeschnitten ist, fest. Auf das Ausnahmemodell deutet dagegen die Formulierung hin: "In einem solchen Falle findet § 51 11 StGB keine Anwendung"; so BGH VRS 21, 264; BGH NJW 1955, 1037; RG JW 1930,909; Nachweise bei Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 531. 70 Grundlegend Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1977. 71 BGHSt 21, 382; Schönke/Schröder/Lenckner, § 20 Rdnr.38; SK/Rudolphi, § 20 Rdnr. 29. 72 Puppe, JuS 1980, S. 349. 73 Dafür in der Tat konsequent - Jakobs (vgl. o. Fn.42).

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

verlegungstheorie dogmatisch aber zwingend 74. Zwar sucht Puppe dieses Ergebnis zu vermeiden, indem sie darauf hinweist, daß der Täter "rein äußerlich" die Herrschaft über das Wie und Ob der Tat behalte und diese - anders als der mittelbare Täter - noch aufgeben könne 75 . Aber es ist nicht zu sehen, wie man die Abgrenzung zwischen Vorbereitungshandlung und Versuch nach dem Gesichtspunkt der Steuerungsfähigkeit des Täters, die zwischen beendetem und unbeendetem Versuch aber statt dessen nach dem Kriterium der rein äußerlichen Tatherrschaft bestimmen könnte. Wenn man schon die Spaltung des Täters in den "Täter als Hintermann" und den "Täter als Werkzeug" vollzieht, dann muß man sie auch durchhalten. Für den Hintermann ist der Versuch nicht deshalb unbeendet, weil das Werkzeug die Herrschaft über das Ob der Tat noch aufgeben kann. Wenn in dem Sichbetrinken ein Versuch des geplanten Delikts liegt, dann handelt es sich um einen beendeten Versuch. Angemessen erscheint freilich allein die Auffassung, die das Vorliegen eines Versuchs überhaupt verneint76. Zwar hat Puppe sicher recht mit der Feststellung, daß man damit "die ganze Rechtsfigur der actio libera in causa zu Fall" bringe77 - soweit man diese im Sinne der ganz überwiegenden Deutung verstehF8. Aber nach dem bisher Ausgeführten drängt sich die Frage auf, ob die Figur in der Form, die ihr die h. M. verleiht, es nicht verdient, zu Fall gebracht zu werden. Sicher kann man auch im Rahmen der Vorverlegungstheorie zu akzeptablen Ergebnissen gelangen, wenn man sich auf den Standpunkt stellt, "etwaige konstruktive Schwierigkeiten" sollten der fraglichen Lösung "nicht im Wege stehen"79. Umgekehrt aber müssen die unhaltbaren Konsequenzen einer dogmatischen Konstruktion deren Akzeptanz durchaus im Wege stehen. Das heißt nicht, daß einzelne Friktionen einer im übrigen konsistenten Theorie nicht hingenommen werden könnten. Aber die herrschende Vorverlegungstheorie führt, wie gezeigt, in ganz elementaren Bereichen zu Ergebnissen, die nicht akzeptiert 14 15

So mit Recht Welp, Vorangegangenes Tun, S. 195. Puppe, JuS 1980, S. 349 Fn. 18.

18 So Schönke/Schröder/Eser, § 22 Rdnr.55; anders und insofern konsequent - dagegen die h. M.; vgl. Maurach, JuS 1961,374; Roxin, Der Anfang des beendeten Versuchs, Maurach-Festschrift 1972, S. 213 ff., 230; SK/RudoZphi, § 22 Rdnr. 21. 17 JuS 1980, S.349 Fn.21. 18 Anders, wenn man mit Hruschka und Jescheck die tatbestandsmäßige Handlung erst in der unmittelbaren Tatausführung sieht; dementsprechend stellt sich für Jescheck das Sichbetrinken nur als Vorbereitungshandlung dar (AT, S. 360,362). 19 So Maurach, JuS 1961, 378 hinsichtlich der Frage, ob dem im Zustand der Schuldunfähigkeit zurücktretenden Täter der Schuldaufhebungsgrund des Rücktritts zugute kommen könne.

I. Das Tatbestandsmodell

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werden können und auch nicht akzeptiert werden. Es bleiben daher nur zwei Möglichkeiten: Entweder man verzichtet ganz auf die Rechtsfigur der actio libera in causa, oder man versucht ihr eine Deutung zu geben, die mit dem gesicherten Bestand an dogmatischen Ergebnissen in diesem Bereich besser vereinbar ist. c) Abweichende Deutungen

Ansätze zu einer solchen Deutung finden sich in einigen Formulierungen Maurachs: Bei der actio libera in causa komme "die Defektheit der tatbestandsmäßigen Handlung (I), weil vom Täter verschuldet, nicht in Betracht"80; das Wesen der actio libera in causa liege darin, "daß das vom Täter dolos begründete Manko in seinem deliktischen Verhalten ... nicht zu seinen Gunsten herangezogen werden darf"81; bei den Unterlassungsdelikten könne nach den Regeln der actio libera in causa "die dolos herbeigeführte Handlungsunfähigkeit ,weggedacht' werden"82. Diesen Aussagen, die an sich nur im Sinne des Ausnahmemodells gedeutet werden können, steht allerdings die ausdrückliche Feststellung Maurachs gegenüber, bei der vorsätzlichen actio libera in causa liege die "Willensbetätigung" , also doch wohl: die tatbestandsmäßige Handlung, in der "Herbeiführung des Defektzustandes"83.

aa) Das Ausnahmemodell Eine unmißverständliche Deutung der actio libera in causa nach dem Ausnahmeprinzip findet sich in der neueren Diskussion zuerst bei Hruschka 84 • Nach Hruschka kann die actio libera in causa sinnvoll nur als Einschränkung der Regeln über die Schuldunfähigkeit interpretiert werden; demgemäß verteidigt er nachdrücklich die Bestimmung des Art. 12 SchwStrGB, die eine entsprechende Regelung statuiert85 . 80 JuS 1961, S. 376. 81 JuS 1961, S. 378. 82 JuS 1961, S. 377. 88 Jus 1961, S.374; zur Widersprüchlichkeit der Ausführungen von Maurach treffend Horn (GA 1969, S. 294). 8' Hruschka, JuS 1968, S. 554 ff.; ders., SchwZStr 90 (1974), S. 48 ff.; ders., Strukturen der Zurechnung, S. 65 ff. 85 SchwZStr 90 (1974), S. 48 ff. Art. 12 SchwStrGB lautet: "Die Bestimmung der Art. 10 und 11 (über Schuldunfähigkeit und verminderte Schuldfähigkeit, U. N.) sind nicht anwendbar, wenn die schwere Störung oder die Beeinträchtigung des Bewußtseins vom Täter selbst in der Absicht herbeigeführt wurde, in diesem Zustande die strafbare Handlung zu verüben." Trotz dieser Formulierung und des Randtitels "Ausnahme" wird die actio

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

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Die Argumentation Hruschkas läßt sich systematisch in folgende Punkte aufgliedern: 1. Nachweis der Unhaltbarkeit der herrschenden "Vorverlegungs-

theorie"; 2. Nachweis, daß diese dem ursprünglichen Verständnis des Begriffs der actio libera in causa widerstreitet; 3. Begründung der Zulässigkeit einer "Reduktion" der §§ 20, 21 StGB, die deren Anwendung für die Fälle der sog. actio libera in causa ausschließt. Auf Hruschkas Kritik an der herrschenden Interpretation der actio libera in causa ist an dieser Stelle nicht einzugehen; insofern kann auf die vorstehenden Ausführungen verwiesen werden. Für überzeugend halte ich die historische Rekonstruktion der Rechtsfigur der actio libera in causa. Hruschka weist nach, daß die actio libera in causa, auch als "actio libera in causa sive ad libertatem relata" bezeichnet, ursprünglich als Gegenbegriff zu der "actio libera in actu" einerseits, der "actio nec actu libera nec ad libertatem relata" andererseits verstanden wird 86 • In dieser Gegenüberstellung meint der Begriff der actio libera in causa eindeutig eine Handlung, die hinsichtlich ihres Ursprungs frei ist, nicht eine freie Handlung als Setzung einer Ursache. Dieser Vergegenwärtigung des dogmengeschichtlichen Hintergrunds ist für das Verständnis der "eigentlichen" Zurechnungsstruktur der actio libera in causa wichtig; sie vermag deren positivrechtliche Begründung freilich nicht zu ersetzen. Schwierigkeiten bereitet hinsichtlich dieser Begründung zum einen die Forderung des Schuldprinzips, Strafe nur für schuldhaft begangenes Unrecht zu verhängen, zum anderen die Bestimmung des Art. 103 11 GG (entsprechend § 2 I StGB). Einen Verstoß gegen das Schuldprinzip sieht Hruschka in der die Strafbarkeit der actio libera-Fälle ermöglichenden "teleologischen Reduktion" der §§ 20, 21 StGB nicht. Die Forderung der Kongruenz von Unrecht und Schuld sei erfüllt, weil die Vorsatzstrafe an die Bedingung geknüpft sei, daß der Täter die Modalitäten der Tatausführung in seinen Vorsatz aufgenommen habe; eine "rein formale Forderung ... derart, daß der Täter ,zur Zeit der Tat' stets im Besitz seiner Geisteskräfte libera in causa auch in der schweizerischen Literatur überwiegend als nur scheinbare Ausnahme zu den allgemeinen Zurechnungsprinzipien verstanden; vgl. SchuZtz, Behandlung der Trunkenheit, S. 28, und die bei Hruschka, a.a.O., S. 62, zitierten Autoren. 86 a.a.O., S. 53 ff. unter Verweis auf Johaml Bernhard Müller, Abhandlungen über den Maasstab der Verbrechen und Strafen, 1789, und Grolmann, Grundsätze der Kriminalrechtswissenschaft, 2. Aufl., 1805.

I. Das Tatbestandsmodell

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sein müsse", stelle das Schuldprinzip nicht auf und könne es auch nicht aufstellen87 . Für problematischer hält Hruschka die Reduktion der §§ 20, 21 StGB im Hinblick: auf Art. 103 II GG. Insofern sei aber von der gewohnheitsrechtlichen Geltung eines Rechtssatzes auszugehen, der die actiones liberae in causa trotz der §§ 20, 21 StGB für uneingeschränkt strafbar erkläre88 . Die de facto schon immer vorgenommene Reduktion der §§ 20, 21 StGB könne "nicht einfach deshalb unzulässig werden, weil sie in ihrer methodologischen Struktur erkannt wird"89. Ob damit die gegen die Figur der actio libera bestehenden Bedenken wirklich ausgeräumt sind, erscheint fraglich; immerhin könnte die Erkenntnis der methodologischen Struktur der actio libera in causa deren Unhaltbarkeit zwar nicht herbeiführen, aber doch offenbaren; und ob die Bestimmungen des StGB zum Nachteil des Täters durch Gewohnheitsrecht suspendiert werden können, erscheint zumindest diskussionsbedürftig 9o . Indes braucht entsprechend dem nur analytischen Anspruch dieser Arbeit zu dieser Frage nicht abschließend Stellung genommen zu werden; der von Hruschka erstellte diagnostische Befund wird von den daraus resultierenden Legitimationsproblemen nicht berührt. Dieser Befund lautet: Die Strafbarkeit der actiones liberae in causa "beruht auf einer wirklichen, nicht nur .,. scheinbaren Ausnahme von dem Erfordernis der Schuldfähigkeit des Täters ,zur Zeit der Tat"'91. Damit ist die formale Struktur der Zurechnung in den actio libera-Fällen identifiziert: Der Rechtsfigur der actio libera in causa liegt das Ausnahmemodell, nicht das Tatbestandsmodell zugrunde. Noch nicht geklärt ist damit allerdings die materiale Zurechnungsstruktur. Es bleibt die Frage, woran die fragliche Ausnahmeregel zu den §§ 20, 21 StGB anknüpft. Wird im Falle der vorsätzlichen actio libera in causa dem Täter die Handlung zugerechnet, weil er den Vorsatz zur Tatbegehung in nüchternem Zustand gefaßt hat, oder weil er (mit Tatvorsatz) den Zustand der Schuldunfähigkeit zurechenbar herbeigeführt hat? Der Begriff der actio libera in causa spricht für die erste Alternative; er bezieht sich auf die Tathandlung und ihre (freie) Planung, nicht auf den verschuldeten Defektzustand. In diesem Sinne deutet denn auch 87 Jus 1968, 558; kritisch dazu Horn, GA 1969, S.290; Erwiderung bei Hruschka, SchwZStr 90 (1974), S. 73 Fn. 31. 88 JuS 1968, S. 558. 89 JuS 1968, S. 559. 90 Skeptisch Krause, Jura 1980, S.I72, der darüber hinaus auch die Voraussetzungen der Herausbildung eines entsprechenden Gewohnheitsrechts für zweifelhaft hält. 91 JuS 1968, S. 559.

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

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Hruschka die Rechtsfigur, wenn er meint, der Stl"afgrund liege bei der actio libera in causa "in erster Linie in der Vorsatz fassung im defektfreien Zustand" 92. Das der actio libera in causa zugrundeliegende Zurechnungspl'inzip würde dann lauten: Die Schuldunfähigkeit des Täters zum Tatzeitpunkt wird nicht berücksichtigt, wenn und weil er den Tatvorsatz im Zustand der Schuldfähigkeit ge faßt hat. In der Konsequenz dieser Deutung läge es, eine actio libera in causa auch bei nicht vorwerfbarem Eintritt der Schuld unfähigkeit anzunehmen93 ; aber diese Konsequenz wird von Hruschka ausdrücklich verworfen94 • Ihre Fragwürdigkeit indiziert indes die Problematik des zugrundeliegenden Prinzips, nach dem die als "nuda cogitatio" für sich straflose Tatplanung zur Nichtberücksichtigung der zum Tatzeitpunkt bestehenden Schuldunfähigkeit führen würde. Plausibel ist die Nichtberücksichtigung des Defektzustands nur dann, wenn dem Täter gerade auch dessen Herbeiführung zugerechnet werden kann. Das bedeutet: Die Haftung nach den Prinzipien der actio libera in causa beruht jedenfalls auch auf dem Gesichtspunkt, daß ein dem Täter zurechenbarer Defektzustand nicht (voll) in Ansatz zu bringen ist95 • Dogmatisch ist dieser Gesichtspunkt nur in der Form einer Fiktion 96 oder als Anknüpfungspunkt einer Meta-Regel zu erfassen: Der Täter kann sich auf die zurechenbar herbeigeführte Schuldunfähigk;eit nicht berufen. Damit ist freilich nur die Struktur der Regel festgelegt; über etwaige zusätzliche Voraussetzungen (Vorsatz oder Fahrlässigkeit im Zustand der Schuldfähigkeit oder bei Tatbegehung) ist damit nicht entschieden.

Der Kontext, in den Hruschka das Prinzip der Unbeachtlichkeit eines vom Täter zurechenbar verursachten Defektzustandes stellt, kommt dem hier zugrundegelegten Modell des "Verantwortungsdialogs" zumindest nahe97 • Nach Hruschka bedeutet die Anerkennung von Entschuldigungsmöglichkeiten eine Ausnahme von dem jedenfalls für "gemeinschaftskonstitutive" Regeln naheliegenden Prinzip der entschuldiJuS 1968, S. 558. In diesem Sinne wurde Hruschka denn auch von Lange (LK/Lange, 9. Aufl., § 51 Rdnr. 73) und Oehler (JZ 1970, S. 380 Fn. 3) verstanden. u, Hruschka, SchwZStr 90 (1974), s. 73 Fn. 30. U5 Neuerdings scheint auch Hruschka die actio libera in causa in diesen Zusammenhang zu stellen; vgl. Strukturen der Zurechnung, S. 44 ff. U8 ZU der Aufgabe von Fiktionen, verdeckte Ausnahmen zu scheinbar strengen Prinzipien zu ermöglichen, vgl. Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, 2. Aufl., 1969, S. 81 ff.; dazu Pfeifer, Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, 1980, S. 28 ff. Als Durchbrechung der Regel führt die Fiktion zur Gleichbehandlung des nach der Regel Ungleichen und umgekehrt; zu der darin liegenden analogischen Struktur der Fiktion vgl. Arthur Kaufmann, Analogie und Natur der Sache, S. 25 ff. 97 Ausführlich zum Verhältnis des hier vorgeschlagenen Modells zu Hruschkas Auffassung unten S. 260 ff. 92

98

I. Das Tatbestandsmodell

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gungslosen Zurechnung rechtswidriger Handlungen98 • Diese Ausnahme sei möglich, weil und soweit der fragliche Entschuldigungsgrund die indizielle Wirkung des regelwidrigen Verhaltens für eine normfeindliche Einstellung des Täters entkräfte. Ein derartiges "Gegenindiz" vermöge aber die zurechenbar herbeigeführte Unfreiheit, die ihrerseits "Ausdruck eines Mangels an Rechtlichkeit oder Moralität" sei 99 , nicht zu schaffen. übereinstimmung mit Hruschka besteht hier hinsichtlich der prinzipiellen Aufgliederung in Vorwurf ("Regelverletzung") und Entschuldigung sowie hinsichtlich der Möglichkeit, dem Täter die Entschuldigung trotz 'an sich gegebener entschuldigender Sachlage zu versagen. Skeptischer bin ich in bezug auf die Möglichkeit, pauschal auf die "Einstellung" des Täters zu rekurrieren; zumindest in den Fällen des Vollrauschs100 und der vom Täter "verursachten" Notstandslage dürfte die Herbeiführung der Defektlage den Schluß auf einen Mangel des Täters an Rechtlichkeit oder Moralität kaum tragen. bb) Das Pflichtmodell

Neben der Tatbestandslösung ("Vorverlegungstheorie") und dem Ausnahmemodell wird für bestimmte Fallkonstellationender actio libera in causa eine Lösung über die Annahme der Verletzung einer abgeleiteten Norm gesucht. Es geht dabei um die Fälle, in denen der handlungspflichtige Täter sich durch positives Tun vorsätzlich in einen Zustand der Handlungs- oder Schuldunfähigkeit versetzt hat101 • Diese Konstellation, für die teilweise der Begriff der "omissio libera in causa" verwendet wird 102 , weist eigentümliche Schwierigkeiten auf, die aus einer Verbindung von typischen Strukturmomenten der actio libera in causa mit solchen des "Unterlassens durch Begehen" resultieren. Als Schulbeispiel dient regelmäßig der Fall des Weichenwärters, der durch Nichtstellen der Weiche den Zusammenstoß zweier Züge herbeiführen will und sich Strukturen der Zurechnung, S. 52. Strukturen der Zurechnung, S. 55. 100 Dazu Hruschka, Strukturen der Zurechnung, S. 68 ff. 101 Gegen die Anwendung der actio libera in causa auf die Fälle der Handlungsunfähigkeit des Täters Schmidhäuser, AT, S.386; Hruschka, SchwZStr 90 (1974), S.76; dafür die überwiegende Meinung, vgl. Jescheck, AT, S.361; Baumann, AT, S.304, 373 f.; Krause, Betrachtungen zur actio libera in causa, S.315; ders., Jura 1980, S. 172 f. Nach Schönke!Schröder!Lenckner, § 20 Rdnr. 33 a, ist es unschädlich, von einer actio libera in causa auch in den Fällen des Fehlens der Handlungsfähigkeit (bzw. der Rechtswidrigkeit oder eines anderen Schuldmerkmals) zu sprechen, wenn man sich bewußt ist, daß die Sachfragen zum Teil verschieden liegen. 102 Androulakis, Unterlassungsdelikte, S.156; Blei, Strafrecht I, S.77; Schönke!Schröder!Stree, Vorbem. §§ 13 ff. Rdnr.144; gegen den Begriff (mit dem Argument, daß der zuerst aktiv handelnde und dann handlungsunfähige Täter überhaupt nichts unterlasse) Roxin, An der Grenze von Begehung und Unterlassung, Engisch-Festschrift 1969, S. 384. 98 99

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

zu diesem Zweck vollständig betrinkt, so daß er zum fraglichen Zeitpunkt zur Betätigung der Weiche nicht mehr in der Lage ist. Das Problem liegt hier darin, daß nach der "Vorverlegungstheorie" die tatbestandsmäßige Handlung das 8ichbetrinken wäre, also ein positives Tun. Damit droht die Konsequenz, daß auch der Nichtgarant, der sich mit Tötungs- oder Verletzungsvorsatz unfähig macht, für den Weichenwärter einzuspringen, nach den §§ 223 ff. 8tGB bzw. §§ 212 ff. 8tGB zu bestrafen wäre. Die offenkundige Unangemessenheit dieses Ergebnisses liefert für Maurach das entscheidende Argument dafür, in diesem Fall kein Begehungs-, sondern ein (unechtes) Unterlassungsdelikt anzunehmen: tauglicher Täter könne nur der Erfolgsabwendungspflichtige sein; nur in seiner Person, nicht in der des Unbeteiligten sei das Leeren der Flasche relevant lo3 : Folglich müse eine unechte Unterlassung "fingiert" werdenl04 • Die Frage ist aber, wie eine derartige Fiktion dogmatisch zu begründen ist. Maurach beruft sich dazu auf die "anerkannten Regeln" der actio libera in causa, denen zufolge "die dolos herbeigeführte Handlungsunfähigkeit des Handlungspflichtigen ... ,wegedacht' werden" könne 105 • Diese Konstruktion trägt in der Tat das gewünschte Ergebnis; aber BerteP06 weist zu Recht darauf hin, daß sie gerade nicht den anerkannten Regeln der actio libera in causa entspricht. Maurach löst sich hier von der Vorverlegungstheorie und damit von dem Tatbestandsmodell der h. M. und greift auf das Ausnahmemodell zurück: Der arglistig herbeigeführte Defektzustand wird nicht zu Gunsten des Täters herangezogen, freilich auch nicht zu seinen Ungunsten: Tatbestandsmäßige Handlung bleibt die Unterlassung zum Zeitpunkt der Handlungspflicht. Demgegenüber sieht die h. M. die tatbestandsmäßige Handlung in der actio praecedens, hier also in dem Trinken und damit in einem positiven Tun. Auf dem Boden der h. M. ist die von Maurach vorgeschlagene Fiktion in der Tat nicht zu rechtfertigen. Denkbar wäre freilich, hier auf die noch umstrittene, aber zunehmend anerkannte 107 Rechtsfigur des "Unterlassens durch Begehen" zurückzugreifen und das fragliche positive Tun einem Gebotstatbestand zu unterstellen l08 • Aber so unentbehrlich diese Figur etwa für die JuS 1968, S.377. JuS 1968, S. 378 bei Fn. 20. 105 JuS 1968, S.377. 106 BeTtel, JZ 1965, S. 53 f. 107 Ablehnend Annin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungs delikte, 1959, S.203; Engisch, JZ 1962, S.191; befürwortend AndToulakis, Unterlassungsdelikte, S. 152 ff.; Meyer-Bahlburg, GA 1968, S. 49 ff.; Ranft, JuS 1963, S. 340 ff.; Roxin, An der Grenze von Begehung und Unterlassung, EngischFestschrift 1969, S. 280 ff. 108 Dafür Roxin, Engisch-Festschrift 1969, S. 383 f. (vgl. auch unten S. 260 ff.). lOS

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I. Das Tatbestandsmodell

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Fälle eines Rücktritts von einem Gebotserfüllungsversuch ist (weil sie es erlaubt, auf die soziale Bedeutung des fraglichen Aktes statt auf seine äußere Gestalt abzustellen), so ergänzungsbedürftig ist sie in den Fällen der sog. "omissio libera in causa"109. Die dogmatische Leistung der Rechtsfigur des Unterlassens durch Tun liegt darin, daß sie es erlaubt, eine "an sich" den Tatbestand eines Begehungdelikts erfüllende Handlung dem Täter als Unterlassung zuzurechnen. Im Weichensteller-Fall geht es aber zusätzlich darum, dem Täter eine "an sich" nicht tatbestandsmäßige Handlung als tatbestandsmäßige Handlung (Begehung oder Unterlassung) zuzurechnen. Die Rechtsfigur der Unterlassung durch Tun überbrückt die Distanz zwischen positivem Tun und Unterlassungstatbestand, nicht die zwischen Tatbestand und actio praecedens. Zur Bewältigung dieser Distanz sind weitere überlegungen erforderlich. An diesem Punkt setzt die Konstruktion des abgeleiteten Verbots ein. Bertel llO geht davon aus, daß das Gebot, gefährdete Rechtsgüter zu retten, dogmatisch selbständig neben dem Verbot stehe, Rechtsgüter zu verletzen; den Unterlassungsdelikten liege ein Verstoß gegen ein Gebot zugrundelli. Aus diesem Gebot aber könne - teleologisch, nicht logisch _112 wiederum ein Verbot folgen: "Aus dem Gebot, ein bedrohtes Rechtsgut zu schützen, folgt das Verbot, sich die rettende Handlung unmöglich zu machen oder sich auf andere Weise dem Gebot zu entziehen ... "113. Dieses Verbot aber sei mit dem allgemeinen Verbot, Rechtsgüter zu verletzen, nicht identisch; beide hätten einen unterschiedlichen Adressatenkreis (da das Verbot, sich bestimmte Handlungen unmöglich zu machen, aus dem Rettungsgebot abgeleitet ist, ist sein Adressatenkreis notwendig durch dessen Adressatenkreis begrenzt). Nur der Garant, nicht aber der Außenstehende werde daher von diesem Verbot erfaßt.

Bertel greift zur Begründung der Straflosigkeit des Nichtgaranten in den Fällen der omissio libera in causa auf das auch in anderen Fällen des "Vorverschuldens" relevante Modell des Verstoßes gegen eine abgeleitete Norm zurück. Gegen dieses Modell bestehen zunächst grundsätzliche Bedenken. Wenn die abgeleitete Norm aus der Normprämisse 109 Der Begriff wird aus Gründen der Bequemlichkeit zur Kennzeichnung der fraglichen Fallgruppe verwendet, obgleich es problematisch ist, das NichtHandeln im Zustand der Handlungsunfähigkeit als "Unterlassen" zu bezeichnen (vgl. dazu oben Fn. 102). 110 JZ 1965, S. 53 ff. 111 JZ 1965, S. 54 unter Hinweis auf Armin Kaufmann und Welzel. 112 JZ 1965, S. 54 Fn. 17. 113 JZ 1965, S. 55. Nach Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S.211, umfaßt das Rettungsgebot auch die Verpflichtung, sich die Handlungsfähigkeit zu erhalten. Vgl. dazu auch Welp, Vorangegangenes Tun, S.138.

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

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nicht logisch folgt, dann handelt es sich nicht um eine Teilnorm, sondern um eine selbständige Norm; die abgeleitete Norm ist in der Normprämisse nicht enthalten. Das bedeutet aber: Der Verstoß gegen die abgeleitete Norm ist als solcher kein Verstoß gegen die Normprämisse. Ist, wie in den Fällen der actio bzw. omissio libera in causa, nur der Verstoß gegen die Normprämisse mit Strafe bedroht, dann liegt in der Sanktionierung der Übertretung der abgeleiteten Norm ein Verstoß gegen das Analogieverbot, das es untersagt, auf die Verletzung der Norm N1 mit Strafe zu reagieren, weil die von N1 verschiedene Norm N2 mit Strafe bedroht ist. Gleichgültig, ob auf seiten der Verhaltensnorm eine derartige teleologische Normableitung möglich ist oder nicht: Eine entsprechende Ableitung auf der Seite der Sanktionsnorm wird durch das Analogieverbot blockiert. Darüber hinaus erscheint aber auch die Ableitung der Verhaltensnorm als problematisch, obgleich die Argumentation, wenn eine Handlung geboten sei, müsse damit zugleich alles verboten sein, was die Vornahme dieser Handlung unmöglich mache, zunächst einleuchtet. In der Formulierung Bertels: "Wenn ... die Rechtsordnung jemand eine bestimmte Handlung gebietet, so muß sie ihm doch zugleich auch alle jene Handlungen verbieten, durch die der Handlungspflichtige sich die gebotene Handlung unmöglich machen oder sich in eine Lage versetzen kann, die ihm zur Rechtfertigung oder Entschuldigung seines Untätigbleibens dienen könnte. Dieses Verbot läßt sich ohne Schwierigkeit aus dem Gebot ableiten, denn es ist zum wirksamen Bestand des Gebotes unerläßlich"114. Lassen wir das Verbot, sich in eine die Unterlassung rechtfertigende oder entschuldigende Lage zu versetzen, zunächst außer Betracht und konzentrieren wir uns auf das - plausiblere - Verbot, sich die geforderte Handlung unmöglich zu machen. Die fragliche Ableitung hätte dann folgende Gestalt: Es ist geboten, daß A zum Zeitpunkt t1 die Handlung h1 vornimmt. Wenn A vor t1 die Handlung h2 vornimmt, nimmt er zum Zeitpunkt t1 die Handlung h1 nicht vor. Es ist geboten, daß A vor dem Zeitpunkt t1 die Handlung h2 nicht vornimmt. In symbolischer Schreibweise:

la

BeTtel, JZ 1965, S. 55.

1. Das Tatbestandsmodell

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Es handelt sich um einen Fall des sog. "praktischen Syllogismus", dessen Zulässigkeit umstritten ist115 , der aber jedenfalls im Rahmen der juristischen Logik keine universale Geltung beanspruchen kann. Wer zu der Handlung hl rechtlich verpflichtet ist, muß nicht notwendig zur Unterlassung von h2 rechtlich verpflichtet sein, wenn gilt: Wenn h2, dann nicht ht. Die Möglichkeit, einen Verstoß gegen die hl gebietende Norm zu sanktionieren, ist nicht an die Annahme einer Norm gebunden, die zur Unterlassung von h2 verpflichten würde. Das läßt sich an einer neueren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 118 zur Zulässigkeit bestimmter Bewährungsauflagen verdeutlichen. Es ging dabei um die Frage, ob dem Täter im Rahmen der Auflage, nach Kräften den durch die Tat verursachten Schaden wiedergutzumachen (§ 56 b Abs. 2 Nr.1 StGB), auch aufgegeben werden kann, zu diesem Zweck unverzüglich ein Arbeitsverhältnis zu begründen. Der Senat verneint diese Frage auch für den Fall, daß die Aufnahme einer Tätigkeit Voraussetzung für die Möglichkeit ist, den Schaden wiedergutzumachen; er sieht in der Auflage, ein Arbeitsverhältnis zu begründen, einen Verstoß gegen Art. 12 GG117. Die Anwendung des praktischen Syllogismus würde hier zu dem Ergebnis führen, daß der Verurteilte zur Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit rechtlich verpflichtet sei, wenn man davon ausgeht, daß die Auflage, den Schaden wiedergutzumachen, rechtswirksam ist und ihre Befolgung das Eingehen eines Arbeitsverhältnisses voraussetzt. Hält man diese Konsequenz im Hinblick auf Art. 12 GG für nicht akzeptabel, würde der praktische Syllogismus zur Annahme der Unverbindlichkeit auch der Auflage führen, den Schaden wiedergutzumachen. Demgegenüber betont der Senat, daß die Möglichkeit, bei Nichterfüllung dieser Auflage die Strafaussetzung gem. § 56 f Abs. 1 Satz 3 StGB zu widerrufen, unberührt bleibt; der davon ausgehende mittelbare Zwang zur Arbeit sei mit der Verfassung vereinbar. An der Verbindlichkeit der Auflage, den Schaden wiedergutzumachen, wird also festgehalten. Das bedeutet: Die rechtliche Verpflichtung zu einer bestimmten Handlung hat nicht notwendig die rechtliche Verpflichtung des Adressaten zu einer dafür notwendigen Vorhandlung zur Folge. Auch die Sanktionierung der Verletzung der Handlungspflicht ist an die Annahme einer Pflicht zu der Vorhandlung nicht gebunden; sofern der Betroffene die Sanktion 115 Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1977, S.118, 292; Kalinowski, Einführung in die Normenlogik, 1973, S. 15 ff.; Philipps, Handlungsspielraum, S. 59 ff. 118 BVerfG, NJW 1982, 323. Daß hier ein positives Tun, nicht eine Unterlassung Bedingung für die Vornahme der geforderten Handlung ist, macht für die normlogische Problematik keinen Unterschied. 117 Mit der Begründung, die fragliche Auflage sei nicht durch eine gesetzliche Regelung gedeckt (Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG).

4 Neumann

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

nur durch Vornahme der fraglichen Vorhandlung vermeiden kann, könnte man von einer entsprechenden Obliegenheit reden 118 • Derartige Obliegenheiten werden von der deontischen Logik nicht erfaßt, soweit diese sich auf die deontischen Modalitäten des Sollens und die mit Hilfe des Sollens bestimmbaren Modalitäten beschränkt; eine insofern begrenzte deontische Logik vermag den differenzierten Zurechnungsstrukturen der Rechtsordnung nicht gerecht zu werden. Selbst mit Hilfe des praktischen Syllogismus nicht zu begründen ist die Ableitung eines Verbots, sich in eine Lage zu versetzen, die zur Rechtfertigung oder Entschuldigung des Untätigbleibens dienen könnte 119 • Denn die Möglichkeit der Gebotserfüllung wird durch eine derartige Handlung nicht beeinträchtigt. Ein entsprechendes Verbot würde auf die Forderung an den Täter hinauslaufen, sich nicht handlungsfähig, sondern "bestrafungsfähig" zu halten. Eine derartige Forderung aber ist aus dem Gebot des Rechtsgüterschutzes schlechterdings nicht ableitbar. Spätestens an diesem Punkt zeigt es sich, daß die Herbeiführung des Defektzustandes im Grunde (was wörtlich zu verstehen ist) nicht als Verletzung einer abgeleiteten Norm, sondern als Verletzung einer Obliegenheit zugerechnet wird: Dem Täter wird es verwehrt, sich auf die dolos herbeigeführten Defekte in den Bereichen der Handlung, der Rechtswidrigkeit und der Schuld zu berufen. Die Konstruktion der abgeleiteten Norm vermag den Rückgriff auf die "Tiefenstruktur" der actio (omissio) libera in causa nicht zu ersetzen. 2. Das Tatbestandsmodell im Gesetz: Der Vollrauschtatbestand (§ 323 a 8tGB) a) Die Problematik der herrschenden Meinung zur Struktur des § 323 a StGB

Die herrschende Meinung sieht das tatbestandsmäßige Unrecht allein im Sichbetrinken als der "Herbeiführung des die freie Willensbestimmung ausschließenden und dadurch gemeingefährlichen Zustands"1. Demgemäß wird § 323 a StGB als abstraktes Gejährdungsdelikt2 und 118 Zum Begriff der Obliegenheit vgl. Larenz, Allgemeiner Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, 4. Aufl., 1977, 172 f. 119 Ein solches Verbot nimmt Bertel an, vgl. oben bei Fn. 114. 1 BGHSt 1, 277. 2 Vgl. statt aller Schönke/Schröder/Cramer, § 323 a Rdnr. 1. Zur Interpretation des § 323 a StGB als konkretes Gefährdungsdelikt vgl. Welzel, Das deutsche Strafrecht, S.467; Lange, JR 1957, S.244, 246; Kohlrausch/Lange, § 330 a, Anm. VIII 2; Hirsch, ZStW Beiheft 1981, S. 15 f.; Arzt/Weber, Strafrecht BT LH 2, S. 139; Ranft, JA 1983, S. 194, 198.

I. Das Tatbestandsmodell

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das Begehen der Rauschtat als objektive Bedingung der Strafbarkeit verstanden, deren Vorliegen zwar über das Strafbedürfnis entscheidet, aber das Unrecht der Tat nicht beeinflußt3 • Die Deutung der Bestimmung erfolgt also entsprechend der Gesetzestechnik nach dem Tatbestandsmodell; das Regel-Ausnahme-Muster wird der Interpretation des § 323 a StGB nur vereinzelt zugrundegelegt4 • Freilich vermag die technische Ausgestaltung der Vorschrift angesichts der dogmatischen Schwierigkeiten, in die das Tatbestandsmodell bei § 323 a StGB führt, das Festhalten an diesem Modell nicht zu erklären. Daß die h. M. trotz schlagender Kritik von Arthur Kaufmann 5 , Maurach 6, v. Weber 7 und anderen an dieser Auffassung festhält, wird nur aus dem V~rsuch verständlich, § 323 a StGB um jeden Preis mit dem Schuldprinzip in Einklang zu bringen. Sachlich ist diese Interpretation des § 323 a StGB nicht zu vertreten. Das soll im einzelnen begründet werden. aa) Das Unrecht des Vollrauschdelikts

1) Die angebliche Unrechtsindifferenz der Rauschtat Arthur Kaufmann hat bereits 1961 darauf hingewiesen, daß nach der herrschenden Interpretation des § 323 a StGB - wenn man von a So die herrschende Auffassung zu den objektiven Strafbarkeitsbedingungen. Daß dies nur der Idee nach richtig ist, daß die als objektive Strafbarkeitsbedingungen bezeichneten Merkmale überwiegend schuldindifferente Unrechtsmerkmale darstellen, hat Arthur Kaufmann nachgewiesen (Schuldprinzip, S. 247 fi.). Gegen die angebliche Unrechtsneutralität der objektiven Strafbarkeitsbedingungen Sax, JZ 1976, insbes. S. 15 ff.; hins. der Rauschtat ebenso Arzt/Weber, a.a.D. S. 140. Differenzierend Jescheck, AT, S. 448 ff.; neuestens Jakobs, Strafrecht AT, S. 274 ff. Zur Dogmengeschichte Haß, Wie entstehen Rechtsbegriffe? Dargestellt am Beispiel der objektiven Strafbarkeitsbedingung, 1973. 4 Hierher gehören vor allem die Arbeiten v. Webers (vg!. Fn.7), ferner die Deutung des § 323 a als Fall der Erfolgshaftung bei Baumann, ZStW 70 (1958), S. 227 ff. Auch Maurach, Deutsches Strafrecht, Besonderer Teil, 5. Auf!., 1969, S. 512 deutet den Vollrauschtatbestand nach dem Ausnahmemodell ("Aufgabe des § 330 a ist es .. ., dem Täter, der seine Zurechnungsfähigkeit schuldhaft ausschließt, die Möglichkeit einer Berufung auf die mögliche Folge der Unzurechnungsfähigkeit zu nehmen"). Ebenso Streng, JZ 1984, S. 118 (Einschränkung der in§ 20 StGB getroffenen Regelung); Maurach/Zipf, Strafrecht AT/I, S.473; Dito, Strafrecht BT, S.385; Hruschka, Strafrecht AT, S.292. Zu den auf dem Ausnahmemodell basierenden gesetzlichen Regelungen in ausländischen Rechtsordnungen vgl. Hirsch, Alkoholdelinquenz in der Bundesrepublik Deutschland, S. 5 Fn. 18. S Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 147, 247 ff.; ders., Unrecht und Schuld beim Delikt der Volltrunkenheit, passim. 6 Maurach, Schuld und Verantwortung, S. 109 f. 7 H. v. Weber, Grundriß des deutschen Strafrechts, 2. Auf!., 1948, S. 119; ders., MDR 1952, S. 641 ff.; ders., GA 1958, S. 257 ff.; ders., Die Strafrechtliche Verantwortlichkeit für die Rauschtat, S. 59 ff. 4'

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

der Unrechtsindifferenz der objektiven Strafbarkeitsbedingungen ausgeht - der Unrechtsgehalt eines im Vollrausch begangenen Lustmordes mit dem einer in diesem Zustand verübten Sachbeschädigung identisch wäre8 • Dieses Argument ist schlagend und kann auch nicht mit dem Einwand abgefangen werden, die Rauschtat bleibe eine nach § 211 StGB bzw. § 303 StGB tatbestandsmäßige (und rechtswidrige) Handlung und folglich werde die Differenz des Unrechtsgehaltes beider Taten, auch wenn sie im Vollrausch begangen würden, von der Rechtsordnung sehr wohl erfaßt. Denn entscheidend ist, daß das Tatunrecht des Vollrauschtatbestands in beiden Fällen identisch sein müßte. Das aber kann nicht zugegeben werden. Freilich zielt dieses Argument bei Kaufmann in erster Linie gegen die Behauptung der Unrechtsindifferenz der objektiven Strafbarkeitsbedingungen. Indes ist es für die hier interessierende Frage gleichgültig, ob man die Interpretation der Rauschtat als objektive Bedingung der Strafbarkeit oder die Unrechtsindifferenz der objektiven Strafbarkeitsbedingungen ablehnt. In jedem Falle zeigt das Argument von Kaufmann, daß der Charakter der jeweiligen Rauschtat den Unrechtsgehalt des Delikts des § 323 a StGB zumindest mitbestimmt. Daß er ihn darüber hinaus entscheidend bestimmt, ergibt sich aus der dogmatischen Bedeutung der Rauschtat bei § 323 a StGB. Dabei spielt das Erfordernis eines Strafantrags für den Fall, daß die Rauschtat ein Antragsdelikt ist (§ 323 a Abs.3 StGB) nur eine geringe Rolle; dieser Bezug auf die Rauschtat könnte damit erklärt werden, daß die Begehung einer Rauschtat als objektive Strafbarkeitsbedingung Voraussetzung eines Strafbedürfnisses und dieses bei Antragsdelikten eben an ein Strafverlangen des Verletzten gebunden seig • Entscheidend ist dagegen die Bindung des Strafrahmens des § 323 a StGB an den der Rauschtat in Abs.2 10 • Daß die Strafrahmen des Besonderen Teils an die Größe des (verschuldeten) Unrechts gebunden sind, ist unstreitig l l . Daraus folgt zwingend, daß die Höhe des Unrechts des § 323 a StGB eine Funktion des Unrechts der Rauschtat ist, mit anderen Worten: daß das Schwergewicht des Unrechtsvorwurfs in § 323 a StGB bei der Begehung der Rauschtat liegt. Die Versuche, die Regelung des § 323 a Abs.2 StGB mit der herrschenden Deutung des Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 249 f. • Auch hinsichtlich der weiteren Funktionen des Strafantragserfordernisses (Schutz des Tatopfers bzw. der persönlichen Lebensbeziehung der Beteiligten, dazu Jescheck, AT, S.722) liefert § 323 a Abs.3 kein zwingendes Argument gegen die herrschende Meinung; anders wohl Ranft, MDR 1972, S. 740; ders., JA 1983, S. 194. 10 Wie hier Ranft, JA 1983, S. 194; Arzt/Weber, Strafrecht BT, LH 2, S. 139. 11 LK/Hirsch, § 46 Rdnr.9. 8

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Vollrauschtatbestands zu versöhnen, sind zum Scheitern verurteilt. Sieht man in der von § 323 a Abs.2 StGB fixierten Grenze lediglich eine Konsequenz "der Natur der im Rausch verübten Handlung als Strafbarkeitsbedingung"12, dann wird damit der Begriff der objektiven Strafbarkeitsbedingung ad absurdum geführt. Denn eine Strafbarkeitsbedingung, die nicht nur über das "Ob", sondern auch über den Grad der Strafbarkeit entscheidet, ist ein Unding. Sie wäre von den das Tatunrecht bestimmenden Merkmalen nicht mehr zu unterscheiden. Nicht überzeugend ist auch die Argumentation, die nicht auf die formale Klassifikation der Rauschtat als objektive Bedingung der Strafbarkeit, sondern auf ihre Bedeutung als Indiz der Gefährlichkeit des Rausches abstellt und demgemäß aus der Schwere der Rauschtat auf den (unrechtsrelevanten) Grad der Gefährlichkeit des Rauschzustands schließt13 . Denn ganz abgesehen von der generellen Fragwürdigkeit eines solchen Schlusses ist dieser Argumentation seit der Änderung des § 323 a Abs.2 StGB durch das EGStGB vom 2.3. 1974 die Grundlage entzogen. Während nach § 330 a a. F. die Höhe der Strafdrohung generell durch das Höchstmaß der für die vorsätzliche Begehung der Rauschtat vorgesehenen Strafe begrenzt war, ist nach der Neufassung bei fahrlässiger Begehung der Rauschtat das Höchstmaß der für fahrlässige Tatbegehung angedrohten Strafe entscheidend. Mit dieser Regelung ist die Argumentation, § 323 a Abs.2 StGB berücksichtige die Schwere der Tat als Indiz für die Gefährlichkeit des Sichberauschens, nicht vereinbar; denn für das Ausmaß der Gefährlichkeit kann es auf die Vorsätzlichkeit der Tatbegehung nicht ankommen. Ein Vollrausch, der zu einer fahrlässigen Tötung führt, ist nicht weniger gefährlich als ein Rausch, in dem ein Totschlag begangen wird. Die Neufassung des § 323 a Abs. 2 StGB entzieht die Bestimmung der Integration in das Tatbestandsmodell. Durch die Gesetzgebung überholt ist auch der Versuch, die Strafrahmenrelevanz der Rauschtat über eine Interpretation des § 323 a StGB als erfolgsqualifiziertes Delikt zu begründen14 : Das seit Einführung des § 18 StGB (§ 56 a. F.) für die Zurechnung des besonderen Erfolgs geforderte Verschulden wird hinsichtlich der Rauschtat gerade nicht vorausgesetzt1 5 • 12 BGHSt 1, 277; BGH NJW 1952, 193. Ebenso LK/Lay, 9. Aufl., § 330 a Rdnrn. 11,35 f. 18 In diese Richtung weist die Argumentation bei LK/Lay, Rdnr.86. 14 Für eine solche Interpretation Hellmuth Mayer, ZStW 59 (1940), S. 307 ff.; dazu eramer, Vollrauscht~tbestand, S. 24 ff. 15 Auf die Probleme, die der Vorschlag Hellmuth Mayers im einzelnen aufwirft, braucht daher nicht eingegangen zu werden. Eine andere Frage ist, ob die Einführung des § 56 bei der Interpretation des § 323 a aus Gründen der Wertungskonsistenz berücksichtigt werden muß. Verneinend BGHSt 6, 89 mit der von Lange, JR 1957, S.244 zu Recht als "formal" gerügten Begrün-

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Nun wird die Unrechtsrelevanz der Rauschtat teilweise auch vom Standpunkt der h. M. aus zugestanden. So räumt Lackner ein, daß die Rauschtat einen unrechtserhöhenden Umstand darstelle, hält aber ihre Deutung als Strafbarkeitsbedingung mit dieser Feststellung für vereinbar, weil die These, daß nur unrechtsindifferente Merkmale außerhalb des Tatbestands stehen dürften, in dieser Allgemeinheit nicht zutreffe 16 • Zwingend sei die Aufnahme von Unrechtsmerkmalen in den Tatbestand nur dann, wenn sie die Aufgabe hätten, "den Strafrahmen voll mitzutragen" 17. Die entscheidende Frage sei, ob dieses Unrecht dem Täter im Rahmen der Strafzumessung zugerechnet werden dürfe, obgleich insofern weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit gegeben seien. Diese Frage wird von Lackner positiv beantwortet: Die von BGHSt 10, 259 entwickelten Grundsätze über die Zulässigkeit der Berücksichtigung von für den Täter nicht voraussehbaren Tatfolgen bei der Strafzumessung sei auf § 323 a StGB übertragbar, weil der Grundgedanke der Entscheidung, daß der Täter schuldhaft eine Gefahrenlage geschaffen habe, in der der Eintritt einer Rechtsgüterverletzung dem Zufall überlassen bleibe, auch für den Vollrauschtatbestand zutreffe18 • Diese Parallele ist in der Tat naheliegend; gleichwohl scheint mir die Argumentation Lackners nicht zwingend zu sein. Zum einen ist fraglich, ob nicht die Voraussetzung für eine Aufnahme der Rauschtat in den Tatbestand nach den von Lackner zugrundegelegten Kriterien gegeben ist; denn die Rauschtat bestimmt die Obergrenze des Strafrahmens innerhalb des ganz erheblichen Spielraums zwischen 6 Monaten und 5 Jahren. Damit bestimmt sie zugleich die konkrete Strafzumessung in jedem Einzelfall. Denn die Gewichtung von strafzumessungsrelevanten Tatsachen bei der Urteilsfindung ist nur unter Berücksichtigung des zur Verfügung stehenden Strafrahmens möglich. Das Maß des Verschuldens hinsichtlich des Sichbetrinkens ist bei § 284 a StGB innerhalb eines zur Verfügung stehenden Strafrahmens bis zu 6 Monaten, bei § 212 StGB innerhalb eines bis zu 5 Jahren reichenden Strafrahmens zu berücksichtigen. Derselbe Verschuldensgrad (hinsichtlich des Sichberauschens), der bei einer Rauschtat nach § 284 a StGB eine Freiheitsstrafe von 3 Monaten trägt, führt bei einem Totdung, die Rauschtat erhöhe die Strafbarkeit nicht, sondern begründe sie. Demgegenüber will Lange den § 56 (§ 18 n. F.) StGB im Wege eines argumentum a maiori auf § 323 a anwenden; dagegen Bruns, JZ 1958, S. 108. Auf der Basis der herrschenden Meinung ist die Ablehnung der Heranziehung des § 18 StGB konsequent, weil sich die Schuld des Täters nicht auf einen unrechtsindifferenten Umstand zu beziehen braucht; vgl. Schönke/Schröder/ eramer, § 323 a Rdnr. 13. 18 Lackner, JuS 1968, S. 220. 17 JuS 1968, S. 220. 18 JuS 1968, S. 221.

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schlag als Rauschtat zu einer Strafe von vielleicht 3 bis 4 Jahren. Das bedeutet: Die Regelung des § 323 a Abs.2 StGB hat nicht nur die Bedeutung, daß bestimmte Strafrahmen nicht überschritten werden dürfen; sie beeinflußt vielmehr bei jeder Verurteilung nach § 323 a StGB die Höhe der zu verhängenden Strafe. Das gilt jedenfalls insoweit, als die Höchststrafe der Rauschtat unter der des § 323 a Abs. 1 StGB liegt. Es muß aber auch für die Fälle gelten, in denen der Strafrahmen der Rauschtat darüber hinausreicht. Es wäre sinnwidrig, bei der Verurteilung nach § 323 a StGB den Unterschied im Unrechtsgehalt zwischen einem Diebstahl und der Beteiligung an einem unerlaubten Glücksspiel (§ 284 a StGB) zu berücksichtigen, den zwischen dem Unrechtsgehalt eines Diebstahls und eines Mordes dagegen nicht1g • Die bei § 323 a StGB im Einzelfall zu verhängende Strafe ist also in jedem Fall am Strafrahmen und - wegen der Korrespondenz von Unrecht und Strafdrohung - am Unrecht der Rauschtat zu orientieren. Der Meinung, daß, von den Schranken des Abs. 2 und 3 abgesehen, Art und Schwere der Rauschtat bei der Strafzumessung nicht berücksichtigt werden dürften20 , kann demnach nicht gefolgt werden; sie führt zu unauflösbaren Antinomien bei der Strafzumessung. Die Analyse der Rolle, die die Rauschtat bei der Anwendung des § 323 a StGB spielt, läßt nur eine Deutung zu: Das Unrecht des § 323 a StGB liegt schwerpunktmäßig nicht im Sichberauschen, sondern in der Begehung der Rauschtat. Wichtiger noch dürfte sein, daß nach der zutreffenden und von Lackner hypothetisch zugestandenen Auffassung von Arthur Kaufmann 21 , Welzel 22 u. a., die Rauschtat stelle den "eigentlich bedeutsamen Teil"

des von § 323 a StGB erfaßten Geschehens dar, die Rauschtat den Unrechtstypus des § 323 a StGB bestimmt23 • Es würde aber auf bloße Willkür und auf eine Verhöhnung des Schuldprinzips hinauslaufen, wollte man für den Unrechtstypus konstitutive Merkmale nicht in den Tatbestand aufnehmen. Am Unrechtstypus des § 323 a StGB scheitert auch die übertragung der von BGHSt 10,259 für die Strafzumessung entwickelten Grundsätze. Selbst wenn man glaubt, für außertatbestandsmäßige Auswirkungen der Tat auf eine Schuldbeziehung verzichZum Problem vgl. Sieg, MDR 1979, S. 549 ff. So Dreher/Tröndle, § 323 a Rdnr. 18. 21 Arthur Kaufmann, Unrecht und Schuld beim Delikt der Volltrunkenheit, S.238. 22 Welzel, ZStW 58 (1939), S.523; gegen die Deutung der Rauschtat als Strafbarkeitsbedingung ders., Das Deutsche Strafrecht, S. 476. 23 Zur Bedeutung des Unrechtstypus für die Strafrechtsdogmatik Arthur Kaufmann, Analogie und "Natur der Sache", S. 51 ff., 66 ff.; ders., Die Irrtumsregelung im Strafgesetz-Entwurf 1962, S. 179 f.; W. Hassemer, Tatbestand und Typus, passim. 19

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ten zu können: Soll das Schuldprinzip überhaupt eine Funktion haben, dann kann auf das Verschulden der für den Unrechtstypus konstitutiven Merkmale nicht verzichtet werden. Indes braucht dieses Problem hier nicht vertieft zu werden. Denn die Rechtsprechung des BGH, auf die Lackner sich stützt, ist in folge der Einführung des § 46 StGB durch das Erste Strafrechtsreformgesetz vom 25. 6. 196924 obsolet geworden, der bei der Strafzumessung nur die Berücksichtigung der verschuldeten Auswirkungen der Tat zuläßt. Mit dieser Bestimmung hat der Gesetzgeber der Auffassung, bei der Strafzumessung könne auf Prinzipien der Erfolgshaftung zurückgegriffen werden, eine deutliche Absage erteilt26 • Allerdings will Lackner für § 323 a StGB eine Ausnahme von der Regelung des § 46 StGB zulassen. Gerechtfertigt sei dies, weil sich in der Rauschtat gerade die Gefahr realisiere, um deretwillen das Gesetz das Sichberauschen als die tatbestandsmäßige Handlung des § 323 a StGB verbiete2 6 • Aber das überzeugt nicht. Denn für alle abstrakten Gefährdungsdelikte gilt, daß die aus der Gefährdung resultierende Rechtsgüterverletzung die Realisierung der Gefahr darstellt, um deretwillen die tatbestandsmäßige Handlung verboten ist. Lackner müßte konsequenterweise im Falle des § 164 StGB eine gegen das Opfer verhängte und vollzogene Haftstrafe auch dann bei der Strafzumessung berücksichtigen, wenn die Möglichkeit der Verhängung einer Freiheitsstrafe für den Täter nicht vorhersehbar war. Das aber wäre ein klarer Verstoß gegen § 46 StGB. Lackner überfordert den festgestellten Gefährdungszusammenhang, wenn er aus ihm die Verzichtbarkeit des "Verschuldens" der Auswirkungen der Tat herleiten will; denn dieser Gefährdungszusammenhang, der dem Rechtswidrigkeitszusammenhang bei den Fahrlässigkeitsdelikten entspricht27 , ist eine Voraussetzung der objektiven Zurechnung; er vermag die Voraussetzungen der subjektiven Zurechnung nicht zu ersetzen. 2) Das Sichberauschen als tatbestandsmäßiges Unrecht

Die Deutung des § 323 a StGB durch die h. M. wird nicht plausibler, wenn man die Frage, wo das Schwergewicht des Unrechts bei § 323 a StGB liegt, nicht von der Bedeutung des Unrechts der Rauschtat her, sondern unter dem Aspekt der Funktion eines möglichen Unrechts des Sichberauschens betrachtet. Daß die Unmäßigkeit als solche das Unrecht nicht begründen kann28 , sollte keiner Diskussion bedürfen; zur Mäßig24 26 26 !7 28

Die Bestimmung trat am 1. 4. 1970 in Kraft (als § 13 a. F.). LK/Hirsch, § 46 Rdnr. 56. Lackner, § 323 a Anm. 5 b; ebenso OLG Karlsruhe, NJW 1975, 1936. So richtig Puppe, GA 1974, S. 104. In diese Richtung aber Hellmuth Mayer, ZStW 59 (1940), S. 283 ff., S. 301;

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keit kann der einzelne allenfalls sich selbst gegenüber verpflichtet sein. Das angebliche Unrecht des Sichberauschens wird denn auch ganz überwiegend aus der Gefährlichkeit des Rausches hergeleitet; der Rauschzustand stelle eine "Gefahr für die Allgemeinheit" dar, die sich "in schädlichen Handlungen des Trunkenen aktualisieren" könne 29 • Die Gefährlichkeit resultiere einerseits aus der Reduzierung der Fähigkeit zur Normerkenntnis und zur normgemäßen Motivation,andererseitsausder Verminderung physischer und allgemeiner, d. h.: nicht auf die Normerkenntnis bezogener, intellektueller Fähigkeiten30 • Problematisch erscheint zunächst die Einbeziehung der aus der Beeinträchtigung physischer Fähigkeiten resultierenden Gefahren. Zu Recht weist Dencker darauf hin, daß sich insofern ein Widerspruch zu der ganz überwiegend behaupteten Straflosigkeit in den Fällen eines schon die Handlungsfähigkeit ausschließenden Vollrausches ergibt3 1 • Aber die von Dencker vorgeschlagene Ausgliederung dieser Gefahrengruppe berührt die Deutung des § 323 a StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt überhaupt. Denn es ist nicht zu sehen, warum § 323 a StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt das Sichberauschen nur um bestimmter (typischer) Rauschgefahren, nicht aber um anderer typischer Rauschgefahren willen verbieten sollte. Zwar macht Dencker geltend, daß die durch den Verlust physischer Fähigkeiten bedingte Rauschgefährlichkeit mit zunehmender Stärke des Rausches oft eher abnehme32 ; aber das ist keine Eigenheit gerade dieser Gefahrengruppe. Mit fortschreitendem Sichberauschen kann sich auch die Fähigkeit zu normwidriger Motivation vermindern33 • Sartor, Die Rauschtat und das Problem des "natürlichen Vergehens" in

§ 330 a StGB, Diss. Frankfurt/Main 1939, S. 12 ff.; dagegen sieht Grasmann,

dem von Lackner (JuS 1968, S.216 Fn.11) diese Auffassung zugeschrieben wird, das Unrecht des Sichbetrinkens in der Herbeiführung einer Gefahr für die Umwelt (Grasmann, Die mit Strafe bedrohte Handlung in § 330 a StGB mit einem Ausblick auf die §§ 42 b, 48, 49 StGB unter besonderer Berücksichtigung neuerer Lehrmeinungen zum Aufbau der Straftat, Diss. München, 1951, S. 20 f.); gegen die Deutung des § 323 a StGB als Vorschrift, die "ungehemmte Genußsucht mit sozialschädlichen Folgen" bestrafen solle, etwa Gerchow, Sogenannte berauschende Mittel und ihre medizinisch-rechtliche Problematik, S. 9; Schewe, Blutalkohol 13 (1976), S. 92. 28 SChönke/Schröder/Cramer, § 323 a Rdnr. 1; ausdrückliche Bewertung des schuldhaften Vollrauschs als "materielles Unrecht" bei Krey, Strafrecht BT 1, S.239. 30 So die überwiegende Meinung; vgl. Schönke/Schröder/Cramer, § 323 a Rdnr.1. 31 Dencker, NJW 1980, S.2164; gegen die Einbeziehung dieser Gefahrengruppe wohl auch Kohlrausch/Lange, § 330 a Anm. VI 3 (allerdings wird nicht ganz deutlich, ob nicht lediglich die Fälle der Handlungsunfähigkeit ausgeschlossen sein sollen). Zur Frage der Strafbarkeit in den Fällen der rauschbedingten Handlungsunfähigkeit vgl. unten S. 78 f. 32 Dencker, NJW 1980, S.2164. 33 Vgl. dazu das Beispiel von Lenckner, GA 1961, S. 304 f.

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Das weitere Argument Denckers, § 323 a StGB verlange als Rauschtat eine Tat, die nur wegen rauschbedingter Schuldmängel nicht bestraft werden könne, spricht, wenn man mit Dencker ausdrücklich den Charakter des § 323 a StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt voraussetzt 34 , in der Tat für die vorgeschlagene Begrenzung; denn im Falle der aus einer Beeinträchtigung der physischen oder (allgemein)-intellektuellen Fähigkeiten resultierenden Rechtsgutsverletzung scheitert die Bestrafung bereits am fehlenden Fahrlässigkeitsvorwurf oder (bei Unterlassungsdelikten) an der Unmöglichkeit der Vornahme der gebotenen Handlung. Aber dieses Argument spricht eher gegen die fragliche Voraussetzung. Denn das Erfordernis, daß die Rauschtat nur wegen der rauschbedingten (möglichen) Schuldunfähigkeit nicht strafbar ist, stellt eine inhaltliche Beziehung zwischen Straflosigkeit der Rauschtat und Strafbarkeit des Vollrausches her, die über die Subsidiaritätsfunktion hinausreicht und mit der Deutung des § 323 a StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt nicht vereinbar ist. Ist das Unrecht des § 323 a StGB die im Sichbetrinken liegende Schaffung von Gefahren und ist die Realisierung dieser Gefahren in der Rauschtat als objektive Bedingung der Strafbarkeit Voraussetzung eines Strafbedürfnisses, dann kann es auf die Frage, aus welchen Gründen dieses Strafbedürfnis nicht anderweitig (durch Bestrafung der Rauschtat) befriedigt werden kann, nicht ankommen. Die von Dencker - zu Recht - vorgenommene Spezifizierung der Gründe der Straflosigkeit der Rauschtat hat aber einen guten Sinn, wenn man § 323 a StGB sachlich als Ausnahme zu der Regelung der §§ 20, 21 StGB versteht. Sie schafft eine Beziehung zu dem Rausch in seiner exkulpierenden Funktion, nicht in seiner Bedeutung als mögliche Gefahrenquelle für Rechtsgüter. Hat § 323 a StGB die Aufgabe, die Exkulpation bzw. Dekulpation nach den Vorschriften über die Schuldunfähigkeit bzw. verminderte Schuldfähigkeit einzuschränken, dann kann sein Anwendungsbereich nicht weiter sein als der der §§ 20, 21 StGB. An dieser Alternative - ist auf den Rausch als Exkulpationsgrund oder als Gefahrenquelle abzustellen? - entscheidet sich die Interpretation des Vollrauschtatbestands35 • Wo die ganz überwiegende Meinung ansetzt, kann nicht zweifelhaft sein - ebensowenig aber, daß sich die Vernachlässigung der "wirklichen" Struktur des § 323 a StGB als einer Ausnahmeregel zu den §§ 20, 21 StGB in einer Unzahl dogmatischer Probleme rächt, zu denen auch die Schwierigkeiten einer befriedigenden Definition des Rauschbegriffs gehört3 6 • Legt man die hier vertretene NJW 1980, S. 2160. Wie auch der actio libera in causa; vgl. dazu oben S. 24 ff. 36 Vgl. dazu die unterschiedlichen Definitionsversuche bei Dencker, NJW 1980, S.2162 (Rausch als "Zustand, in dem der Täter infolge Rauschmittelkonsums hinsichtlich irgendeines [Straf-] Normverstoßes in irgendeiner Situa34 35

Dencker,

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Deutung zugrunde, so lösen sich diese Schwierigkeiten auf, weil der Rausch nur in seiner funktionalen Beziehung auf die (Möglichkeit der) Schuldunfähigkeit relevant wird. Die Frage heißt dann nicht mehr: "Was ist ein Rausch i. S. des § 323 a?"37, sondern: "Wann ist ein Zustand, in dem Schuldunfähigkeit nicht auszuschließen ist, ein Rausch?". Die Antwort ist schlicht und lautet: Wenn er ganz oder überwiegend durch Rauschmittel verursacht worden ist. 38 Der Deutung des § 323 a StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt stehen weitere, erhebliche Bedenken gegenüber. Fraglich ist bereits, ob das mit dem Gefahrbegriff verbundene kausale Deutungsschema auf Situationen paßt, in denen die "Gefahr" ausschließlich in der Möglichkeit der Vornahme einer rechtswidrigen Handlung von seiten des Täters besteht. Die Frage ist jedenfalls für die Fälle der lediglich verminderten Schuldfähigkeit zu verneinen. Hier wird die Rechtsgutsverletzung der Entscheidung des Täters zugerechnet, also in einer Person-HandlungSprache, nicht in einer Ding-Ereignis-Sprache beurteilt39 • Die Konstruktion des abstrakten Gefährdungsdelikts, der von vornherein die Tendenz zu einer "überdehnung des Verbotsbereichs"40 innewohnt und deren Vereinbarkeit mit dem Verschuldensgrundsatz nicht unproblematisch tion bereits nur noch vermindert schuldfähig wäre"); Horn, JR 1980, S.6 (Rausch als "Zustand, in dem - rauschmittelbedingt - die GesamtIeistungsfähigkeit so weit herabgesetzt ist, daß der Täter bei plötzlichem Auftreten auch schwieriger Entscheidungssituationen, wie sie jederzeit eintreten können, sich nicht mehr sicher zu steuern vermag"); Montenbruck, JR 1978, S. 210 (mit der absoluten Fahruntiichtigkeit i. S. der §§ 316, 315 c StGB sei zugleich das Merkmal "Rausch" bejaht; vgl. auch Montenbruck, GA 1978, S. 225 ff., 230 ff.). Der von Puppe (GA 1974, S. 115) formulierten Verhaltensnorm des § 323 a entspräche eine Definition des Rauschbegriffs als eines durch Rauschmittelmißbrauch verursachten Zustands, in dem die Fähigkeit, normale Anforderungen der Rechtsordnung zu erfüllen, nicht mehr vorhanden ist. Ausführlich zu den einzelnen Definitionsversuchen unten S. 101 ff. 37 über derartigen Fragestellungen droht regelmäßig der funktionale Bezug von Rechtsbegriffen verlorenzugehen; vgl. dazu Haft, JuS 1975, S. 477 ff., 482 ff. - Auch Schewe tendiert dazu, die Frage, "ob irgendein ,MindestIntoxikationsgrad' tatsächlich nach der ratio legis zu den sicher nachzuweisenden tatbestandlichen Voraussetzungen des § 323 a gehört", zu verneinen (Schewe, Alkoholdelinquenz aus medizinischer Sicht, S. 65 f.). Ausdrücklich gegen die Annahme eines selbständigen Tatbestandsmerkmals des Rausches in § 323 a neuestens ders., Blutalkohol 20 (1983), S. 369 ff. Vgl. auch unten Fn.258. 38 Im gleichen Sinne Jakobs, AT, S. 414, Rdnr. 62. 39 Zu dem aus der Alternativität beider Sprachspiele resultierenden Dualismus vgl. Landesman, The New Dualism in the Philosophy of Mind, in: Review of Metaphysics 19 (1965), S. 329 ff.; die Terminologie übernimmt Beckermann, Handeln und Handlungserklärungen, in: ders. (Hrsg.), Analytische Handlungstheorie, Bd.2, Handlungserklärungen, 1977, S. 7 ff., 19 ff. Zur rechtstheoretischen Bedeutung Neumann, Rechtswissenschaft zwischen Ontologie und Ideologiekritik - überlegungen zum Objektivitätsideal bei der Rechtsfindung, ARSP Beiheft n. F. Nr. 13, 1980, S. 215 ff. 40 So zu Recht Loos, Grenzen der Umsetzung der Strafrechtsdogmatik in die Praxis, S. 276.

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ist 41 , verliert aber jegliche Konturen, wenn man als "Gefahr" i. S. dieser Kategorie die Möglichkeit der Vornahme einer "freien", d. h.: verantwortlichen Handlung seitens des Täters versteht42 • Man darf die grundsätzliche Bedeutung, die einer derartigen Ausweitung des Gefahrbegriffs zukommt, nicht unterschätzen. Was hier droht, ist nicht weniger als die Erhebung angeblicher oder wirklicher kriminogener Faktoren zur Konstruktionsbasis für abstrakte Gefährdungsdelikte. Nach diesem Muster könnte auch ein Gefährdungstatbestand des "unstrukturierten Freizeitverhaltens bei fehlender Lebensplanung und Vernachlässigung familiärer und sonstiger sozialer Pflichten" geschaffen werden43 • Wendet man hier ein, ein solcher Tatbestand sei zu unbestimmt, um den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG zu genügen, so hat man dieses Muster bereits akzeptiert. Aufgabe des Strafrechts ist aber allenfalls 44 die Verhinderung von Straftaten, nicht jedoch die Verhinderung der Entstehung kriminovalenter Konstellationen. Die Kriminologie mag die Straftat als Funktion kriminogener Faktoren sehen; das Strafrecht muß sie, jedenfalls solange nicht nach seinen Maßstäben die Verantwortlichkeit des Täters zu verneinen ist, als dessen freie Handlung interpretieren. Verneint das Strafrecht, in Zuerkennung der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB), die Verantwortlichkeit des Täters, dann liegt freilich eine Umpolung des Deutungsschemas nahe: Die Tat wird den biologischen und psychischen Defekten zugerechnet und damit in einen Kausalzusammenhang gestellt. Aber diese kausale Deutung der Exkulpation ist jedenfalls in dem deterministischen Verständnis, das bei der Diskussion der actio libera in causa festzustellen ist 45 und das unterschwellig auch bei der Interpretation des § 323 a StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt ver41 Dazu Arthur Kaufmann, Unrecht und Schuld beim Delikt der Volltrunkenheit, S. 249 ff.; vgl. auch ders., Unrechtsbewußtsein, S. 196. 41 Zur rechtsstaatlichen Problematik eines zu vagen Gefährdungsbegriffs Müller-Dietz, Grenzen des Schuldgedankens im Strafrecht, S.80. Bedenken gegen die Kategorie der abstrakten Gefährdungsdelikte schon bei Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, Besonderer Teil, Bd. 11, Abt. 1, 2. Aufl., 1904, S 3 ff.; ders., Normen, Bd. IV, S.387. Bedenken unter dem Gesichtspunkt des Schuldprinzips auch bei Brehm, Zur Dogmatik des abstrakten Gefährdungsdelikts, 1973, S.38 ff.; eramer, Vollrauschtatbestand, S. 50 ff.; Rudolphi, Inhalt und Funktion des Handlungsunwertes im Rahmen der personalen Unrechtslehre, Maurach-Festschrift 1972, S. 51 ff., 59 f.; Schünemann, JA 1975, S. 797 f.; Schmidhäuser, AT, S.255 Rn. 74. Die Feststellung von Volk, das Problem; den Unrechtsgehalt der sog. abstrakten Gefährdungsdelikte zu begründen, werde "kaum noch als drückend empfunden werden" (GA 1976, 172), bezieht sich vor allem auf die Straßenverkehrsdelikte und kann für diesen Bereich sicher Gültigkeit beanspruchen. 43 Zur "kriminovalenten Konstellation" dieser Faktoren (zusammen mit einem fehlenden Verhältnis zu Geld und Eigentum) vgl. Göppinger, Kriminologie, 4. Aufl., 1980, S. 324. " Nämlich dann, wenn man die "klassischen" relativen Straftheorien zugrunde legt. 45 Vgl. dazu oben S. 33 ff.

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mutet werden darf, unzutreffend. Mit der Zuerkennung des § 20 StGB wird nicht festgestellt, daß der Täter, dem aus exkulpationsrelevanten Gründen die Fähigkeit der Unrechtseinsicht fehlt, so handeln mußte, wie er gehandelt hat; festgestellt wird lediglich, daß er für seine Handlung nicht verantwortlich ist. "Schuldunfähigkeit" und "Gefährlichkeit" gehen nicht Hand in Hand. Der Zusammenhang, der zwischen Exkulpation und der Feststellung der "Gefährlichkeit" der exkulpierenden Faktoren tatsächlich besteht, ist gesellschaftlicher Natur; er wird in der gesellschaftlichen Verständigung über Kriminalität hergestellt. Als gefährlich erscheinen die Faktoren der Exkulpation deshalb, weil bei ihrem Vorliegen die Stabilisierung des durch die Straftat erschütterten Normvertrauens im Wege der Verhängung einer Sanktion nicht möglich ist. Stimmt diese Behauptung, dann wird verständlich, warum zwar der kriminogene Faktor "Vollrausch", nicht aber der kriminogene Faktor "unproduktives Freizeitverhalten" einen Gefährdungstatbestand trägt: Es geht weder um unterschiedliche Grade der Gefährlichkeit noch um Probleme der Tatbestandsbestimmtheit, sondern um die unterschiedliche Strafbarkeitsrelevanz beider Faktoren. überspitzt formuliert: Als gefährlich in einem strafrechtsrelevanten Sinne wird der Vollrausch nicht deshalb erlebt, weil er zu Straftaten, sondern weil er zur Straflosigkeit führt4 6 • Ist das richtig, dann kann die gesellschaftliche Vorstellung von der (strafbarkeitsrelevanten) Gefährlichkeit von Zuständen sich als Folge von deren exkulpierender Funktion darstellen. Das bedeutet, daß die Schaffung neuer Exkulpationsgründe eine Tendenz zur Errichtung korrespondierender Gefährdungstatbestände zur Folge haben könnte. Die Möglichkeit der Errichtung eines Gefährdungstatbestands des "unproduktiven Freizeitverhaltens" erscheint nur solange abwegig, als die Einsicht in die kriminogene Valenz nicht in einen Exkulpationstatbestand ausgemünzt wird. Auf den hier bestehenden Zusammenhang hat kürzlich Jakobs hingewiesen47 • Jakobs bringt gegen den Vorschlag, gruppendynamische Zwänge als mögliche Exkulpationsvoraussetzungen anzuerkennen48 , unter anderem den Einwand vor, in diesem Falle würde eine präventive Kontrolle von Gruppen grundsätzlich legitim; denn die Gesellschaft müsse Risiken, die sie tragen muß, auch verhüten dürfen49 • 45 überspitzt ist die Formulierung deshalb, weil der präsumptive kriminogene Faktor Rausch im Gegensatz zu dem Faktor "unproduktives Freizeitverhalten" bei Tatbegehung manifest ist und deshalb unmittelbar als gefährlich erlebt werden kann. 47 Jakobs, Zum Verhältnis von psychischem Faktum und Norm bei der Schuld, S. 137. 48 Der Vorschlag findet sich bei Schumacher, NJW 1980, S. 1880 ff. U Jakobs, Zum Verhältnis von psychischem Faktum und Norm bei der Schuld, S. 137.

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Auch wenn hier ausdrücklich nur die Möglichkeit einer präventiven Kontrolle angesprochen wird: Die Schaffung abstrakter Gefährdungstatbestände liegt - als "repressive Kontrolle" - auf der gleichen Linie. Ist diese Interpretation richtig, dann handelt es sich bei der Deutung des § 323 a StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt um eine Rationalisierung, die die tatsächliche Funktion des Tatbestands - partielle Korrektur einer gesellschaftlich nicht akzeptablen Exkulpationsregel - verschleiert. Dafür spricht im übrigen auch die "Gesetzesgeschichte" des Vollrauschtatbestands. Nach den MotivenSO sollte es der Zweck der Regelung sein, eine Strafbarkeitslücke auszufüllen; auf diese im älteren Schrifttum unumstritteneS1 Stoß richtung der Bestimmung beruft sich noch der Große Senat des BGH in seinem Grundsatzbeschluß zu § 330 a a. F.s2. Dieser Zweck ist nur dann "völlig nichtssagend"S3, wenn man ihn vor dem Hintergrund der "klassischen" Straftheorien zu verstehen sucht. Im Rahmen einer Konzeption, die dem Strafrecht die Funktion der Kanalisierung von gesellschaftlicher Delinquenzreaktion zuerkennt, ist die mit dieser Zweckbestimmung getroffene Aussage klar: Die uneingeschränkte Exkulpation bei Tatbegehung im selbstverschuldeten Vollrausch ist gesellschaftlich nicht akzeptabel; die fragliche Lücke zeigt sich, wenn man die Bestimmungen der §§ 20, 21 StGB auf die gesellschaftlichen Regeln der Zuschreibung von Verantwortlichkeit projiziert. Der Sache nach ging es um eine Einschränkung des § 51 a. F. durch eine Ausnahmeregelung, die freilich der Rechtfertigung nach den "offiziellen" strafrechtlichen Zurechnungsregeln bedurfte. Diese Rechtfertigung schien der Gefährdungsgedanke zu liefern, der freilich nur schlecht zu dem Zwecke der "Lückenschließung" paßte; denn die "Lücke" wurde einheIlig nicht in der Straflosigkeit einer aus dem Sichbetrinken resultierenden Gefährdung, sondern in der Straflosigkeit des im Rausch begangenen Totschlags, Raubs oder Diebstahls etc. gesehen. So blieb nur die Möglichkeit, beides sprachlich miteinander zu verbinden, etwa in der Formulierung: "Die Bestimmung (des § 330 a, U. N.) sollte es ermöglichen, einen Täter, der für seine Rauschtat nach § 51 Abs.1 nicht verantwortlich ist, wegen eines andersartigen (I) Verschuldens, nämlich dem eines abstrakten Gefährdungsdelikts ... zu bestrafen, das mit der Rauschtat im Zusammenhang steht. Dadurch (I) sollten die Gefahren bekämpft werden, die der Allgemeinheit und dem einzelnen durch den E 1925, Begr. S. 174. Gerland, ZStW 55 (1936), S.786; v. Weber, GS 106, 329 ff.; Freisleben/ Kirchner/Niethammer, StGB, 1936, § 330 a Anm. 1; Schäfer/Wagner/Schafheutle, Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung, 1934, S. 209. 52 BGHSt 9, 390, 397. 53 So Lange, JR 1957, S. 242. 50

51

I. Das Tatbestandsmodell

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Rauschmittelmißbrauch drohen ... "54. Daß der Gefährdungsgedanke auch bei der Strafrechtsreform nur zur Legitimation der Bestimmung herangezogen wurde, zeigt die Äußerung Lackners bei den Beratungen der Großen Strafrechtskommission, man könne den in der Öffentlichkeit fest verwurzelten Gedanken der Erfolgshaftung "nur auf dem Umweg über die Anerkennung der Rechtswidrigkeit des Sichberauschens" zum Tragen bringen55 • Arthur Kaufmann hat darin zu Recht das Eingeständnis gesehen, daß es sich materiell um einen Fall von Erfolgshaftung handele 56 und die Entgegnung von Lackner57 wendet sich lediglich gegen den (wohl nicht erhobenen) möglichen Vorwurf der Manipulation. In der Sache bestätigt Lackner, daß es um das "Erfordernis der Übereinstimmung des Rechts mit den Überzeugungen in der Rechtsgemeinschaft" gehe, dem der Gesetzgeber nur durch eine Ausnahmeregelung zu den §§ 20, 21 StGB oder aber durch die Anerkennung der Rechtswidrigkeit des Sichberauschens Rechnung tragen könne58 • Die zweite Möglichkeit, für die der Gesetzgeber sich entschieden hat, entspricht den "Überzeugungen der Rechtsgemeinschaft" freilich nur im Ergebnis, in der Strafbarkeit des Rauschtäters. Die strafrechtliche Konstruktion, die dieses Ergebnis trägt, divergiert ganz erheblich von den gesellschaftlichen Zurechnungsregeln, nach denen jemand für die im selbstverschuldeten Rausch verübten Handlungen verantwortlich gemacht wird. Nach diesen Regeln kann das Sichberauschen nicht als Unrecht betrachtet werden. Lackner sieht darin einen Widerspruch zu der allgemeinen Überzeugung von der Strafwürdigkeit der Rauschtat, eine "geradezu merkwürdige Haltung" der Öffentlichkeit59 • Aber merkwürdig sind diese Zurechnungsregeln nur aus der Perspektive einer Strafrechtsdogmatik, die Schuldfähigkeit und -unfähigkeit substanziell versteht und demgemäß die Möglichkeit, die Exkulpation bei verantwortlicher Herbeiführung der "an sich" exkulpierenden Umstände durch den Täter zu versagen, nicht anzuerkennen vermag. Löst man sich von dieser Betrachtungsweise, dann bekommen die gesellschaftlichen Zurechnungsregeln einen guten Sinn. Sie besagen nämlich: Niemandem ist es verboten, sich zu betrinken; niemand kann sich aber zu seiner Entschuldigung auf seine Trunkenheit berufen, wenn er in diesem Zustand eine Straftat begeht. Der Überzeugung der Rechtsgemeinschaft entspricht von den Modellen,

55

LK/Lay, 9. Aufl., § 330 a Rdnr. 3. Niederschriften der Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, Bd. V,

56

Arthur Kaufmann, Unrecht und Schuld beim Delikt der Volltrunkenheit,

54

5.105. 5.241. 57

58 5g

Lackner, JuS 1968, S. 217 f. JuS 1968, S. 217 f. Niederschriften der Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, Bd. V,

S.105.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

die dem Strafrecht nach Lackner zur Auswahl stehen, allein das "Ausnahmemodell" 60. In diesem Zusammenhang scheint mir eine Bemerkung zu der in der Bevölkerung angeblich fest verwurzelten Idee der Erfolgshaftung vonnöten. Um einen Fall von Erfolgshaftung handelt es sich bei der Verantwortlichkeit nach den fraglichen gesellschaftlichen Zurechnungsregeln nur dann, wenn man jede Haftung, die nicht Schuldhaftung ist, als Erfolgshaftung betrachtet und wenn man darüber hinaus die Grenzen der Schuldhaftung an den gegenwärtig verbindlichen Regelungen über die Schuldfähigkeit mißt. Aber auch dann unterscheidet sich dieser Fall von Erfolgshaftung ganz wesentlich von den Fällen der "Erfolgshaftung" im Sinne einer Zufallshaftung, wie sie vor Einführung des § 18 StGB (§ 56 a. F.) in den erfolgsqualifizierten Delikten statuiert war und wie sie den Fahrlässigkeitsdelikten (einschließlich der erfolgsqualifizierten Delikte) zumindest 61 insofern zugrundeliegt, als die Strafbarkeit sich an dem für den Täter zufälligen Eintritt oder Nichteintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs entscheidet. Denn die Haftung für die Rauschtat ist Haftung für eine eigene Handlung des Täters und deren vorsätzlich oder fahrlässig herbeigeführten Erfolg. Die Haftung für die eigene, bewußte Handlung und deren gewollten Erfolg kann aber nicht als Zufallshaftung verstanden werden - es sei denn, man wollte den im Zustand der Einsichts- oder Steuerungsunfähigkeit befindlichen Täter nicht mehr als handelnde Person, sondern als nur verursachende Naturgewalt betrachten82 • Aber ein solches Verständnis der Schuldunfähigkeit verfehlt zumindest im Fall des alkoholbedingten Ausfalls der Einsichtsbzw. Steuerungsfähigkeit die gesellschaftliche Einschätzung der psychologischen Folgen der Trunkenheit. Mit der Auffassung, daß im Rausch "vielfach gerade persönlichkeitseigene, im Wesen des Täters begründete, durch den Alkohol nur geförderte Regungen" wirksam würden, gibt das Reichsgericht zweifellos einer verbreiteten Einschätzung Ausdruck 63 • Zwar mag der Begriff der "persönlichkeitsfremden" Rausch80 Interessanterweise läßt Lackner später ausdrücklich offen, ob der Vorschlag, an Stelle des § 323 a eine Ausnahmeregel zu den §§ 20, 21 zu formulieren, zu Recht der Ablehnung verfallen sei (JuS 1968, S.217). Dieser Vorschlag entspricht den gesellschaftlichen Zurechnungsregeln wohl eher als der jetzige § 323 a. 61 Verneint man den Schuldcharakter der unbewußten Fahrlässigkeit überhaupt (so Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 156 ff.), dann ist der Erfolg für den Täter nicht nur in dem Sinne zufällig, daß er bei identischem Verhalten des Täters hätte ausbleiben können, sondern auch in dem - weiteren - Sinne, daß eine Schuldbeziehung zu dem eingetretenen Erfolg nicht besteht. 82 So deutlich das ältere Schrifttum; vgl. etwa Binding, Normen H, S. 616 f.; dazu oben S. 34. 83 RGSt 67, 149. Vgl. auch TrechseZ, Das unbewußte Motiv im Strafrecht, ZStW 93 (1981), S. 397 ff. zu der weitgehend § 323 a StGB entsprechenden

I. Das Tatbestandsmodell

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tat medizinisch ungenauU bzw. das Kriterium der Persönlichkeitsfremdheit wissenschaftlich überhaupt "unbrauchbar"65 sein: Das Strafrecht hat, nach der treffenden Feststellung Bockelmanns66 , seine eigene Psychologie, die inhaltlich eher an die "Laienpsychologie" der Gesellschaft als an die Erkenntnisse der einschlägigen wissenschaftlichen Disziplinen gebunden ist6 7 • Tatsächlich spielt das Kriterium der Persönlichkeitsfremdheit bei der Frage der Exkulpation bis heute in der Rechtsprechung wie im juristischen Schrifttum eine wesentliche Rolle; als Belege aus neuerer Zeit seien genannt die Forderung Langes, den Begriff der "tiefgreifenden" Bewußtseinsstörungen nach dem Gesichtspunkt der PersönIichkeitsadäquanz zu bestimmen68 und die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, bei der Frage, ob Alkoholgenuß zu der Annahme verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) führt, komme der Frage wesentliche Bedeutung zu, "ob die Tat ihrer Art nach dem Angeklagten wesenseigen oder persönlichkeitsfremd ist"69. Die hier zutage tretende Tendenz, die Ex- bzw. Dekulpation auf persönlichkeitsfremde Handlungen zu beschränken, erklärt das Bedürfnis nach einer Regelung, die die weitgehend als persönlichkeitsadäquat angesehenen Rauschtaten zumindest partiell von der Regelung der §§ 20, 21 StGB ausnimmt7o • Der Rückgriff auf den Gefährdungsgedanken erweist sich damit als nachträglicher Versuch, den Vollrauschtatbestand in einer Weise umzudeuten, die ihn unter dem Aspekt des Schuldprinzips als unproblematisch erscheinen läßt. Der Einsatz des Gefährdungsgedankens zu solchem Regelung des Art. 263 SchwStGB: "Hat der Gesetzgeber berücksichtigt, daß - in vino veritas - unbewußte Regungen beim rauschbewirkten Wegfallen der vernunftgesteuerten bewußten Kontrolle an die Oberfläche dringen?" (S. 409; Hervorhebung im Original); vgl. auch Streng, JZ 1984, S. 119. •, So Ponsold, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, 2. Aufl., 1957, S.271, dazu eramer, Vollrauschtatbestand, S. 3. 65 Rasch, NJW 1980, 1312: Das Kriterium sei unbrauchbar, "weil es persönlichkeitsfremde Handlungen nicht gibt"; der Begriff basiere auf einem "statischen Persönlichkeitsmodell" . Auch der Versuch, den Begriff der Persönlichkeitsfremdheit durch den der "Inkonstanz des Verhaltens stils" zu ersetzen (dafür Thomae/Schmidt, in: Undeutsch (Hrsg.), Handbuch der Psychologie, Bd. 11, 1967, S. 355) sei nicht hilfreich. IM! Bockelmann, Bemerkungen über das Verhältnis des Strafrechts zur Moral und zur Psychologie, passim; vgl. auch Trechsel, Das unbewußte Motiv im Strafrecht, ZStW 93 (1981), S. 397 ff., 42l. 87 Dazu Haffke, Strafrechtsdogmatik und Tiefenpsychologie, S. 141 ff. es Lange, Ist Schuld möglich?, S. 277. 80 BGH NStZ 1981, S. 298. 70 Daß der Gesichtspunkt der Persönlichkeitsadäquanz der Rauschtat in § 323 a nicht "rein" zum Ausdruck kommt, zeigt sich in der Beschränkung auf den "verschuldeten" Rausch. Im Vollrauschtatbestand überlagern sich verschiedene soziale Wertungen; eine "eindimensionale" Erklärung greift zwangsläufig zu kurz. Allerdings dürften die Fälle eines unverschuldeten Vollrauschs zahlenmäßig kaum ins Gewicht fallen. 5 Neumann

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

Zwecke hat Tradition. Wie Schubarth71 nachgewiesen hat, kann auch bei den erfolgsqualifizierten Delikten die Berufung auf die in der Verwirklichung des Grundtatbestands liegende weitergehende Gefährdung nur als der (untaugliche) Versuch verstanden werden, "einer Deliktskonstruktion, deren historische Begründung heute nicht mehr haltbar ist, mit dem Gefährdungsgedanken neu es Leben einzuhauchen"72 Die Fälle liegen parallel: Strafbestimmungen, denen Prinzipien objektiver Haftung zugrundeliegen, werden bei Vordringen des Schuldgrundsatzes nicht aufgehoben73 , sondern unter Zuhilfenahme des Gefährdungsgedankens in Fälle scheinbarer Schuldhaftung umgedeutet. Parallel liegen auch die Unstimmigkeiten, die aus dieser Umdeutung resultieren. So ist in beiden Fällen nicht verständlich, daß die Gefährdung nur beim Eintritt des Erfolgs erfaßt wird 74 • Zwar mag die Deutung der Rauschtat als Strafbarkeitsbedingung (und ein entsprechendes Verständnis des schweren Erfolgs bei den erfolgsqualifizierten Delikten) den begrifflichen Anforderungen eines abstrakten Gefährdungsdelikts Genüge tun; kriminalpolitisch sinnvoll ist allein die Erfassung der Gefährdung vor Erfolgseintritt75 . Denn die Vorverlegung des Strafrechtsschutzes, die mit der Einführung abstrakter Gefährdungstatbestände gegenüber den Verletzungstatbeständen erreicht werden soll, ist nur zu gewährleisten, wenn die Strafdrohung bereits an die Gefährdung geknüpft wird. Dagegen kann nicht eingewandt werden, der Rauschtat komme bei § 323 a StGB die Funktion eines Indizes für die Gefährlichkeit des Rausches ZU 76 . Zunächst ist nicht zu sehen, inwiefern bei einem abstrakten Gefährdungsdelikt ein positives Indiz für die Gefährlichkeit des tatbestandsmäßigen HandeIns erforderlich sein soll; sind die abstrakten Gefährdungstatbestände doch gerade durch die typische Gefährlichkeit des von ihnen erfaßten Verhaltens gekennzeichnet. Mit 71 Schubarth, Das Problem der erfolgsqualifizierten Delikte, passim. Krit. dazu Küpper, Der "unmittelbare" Zusammenhang zwischen Grunddelikt und schwerer Folge beim erfolgsqualifizierten Delikt, S. 35 ff. 12 Schubarth, Das Problem der erfolgsqualifizierten Delikte, S. 770. 73 Dazu, daß die Einführung des § 18 StGB (§ 56 a. F. StGB) die schuldstrafrechtliche Problematik der erfolgsqualifizierten Delikte nicht beseitigt hat, vgl. Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 240 ff. Ebenso für das schweizerische Strafrecht, in dem der Sache nach die gleiche Regelung gilt, Schubarth, Das Problem der erfolgsqualifizierten Delikte, passim. 74 Zu § 323 a vgl. Hardwig, Studien zum Vollrausch tatbestand, S.460 Fn.3: Die Bezeichnung des § 323 a als abstraktes Gefährdungsdelikt sei "insofern abnorm, als es nur bei Eintritt der entsprechenden Verletzung strafbar ist"; zu den erfolgsqualifizierten Delikten Schubarth, Das Problem der erfolgsqualifizierten Delikte, S. 769. 75 So auch Schubarth, Das Problem der erfolgs qualifizierten Delikte, S. 768. 76 Zur Rauschtat als Indiz der Gefährlichkeit des Rausches vgl. nur Schönke/Schröder/Cramer, § 323 a Rdnr.13.

1. Das Tatbestandsmodell

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dem Charakter des § 323 a StGB als abstraktem Gefährdungsdelikt wäre allenfalls die Anerkennung eines Indizes für die konkrete Ungefährlichkeit des Sichbetrinkens vereinbar 77 • Als ein solches negatives Indiz aber kommt die Nichtrealisierung der Gefahr schon aus begriffslogischen Gründen nicht in Betracht. Die Argumentation, es habe keine Gefahr vorgelegen, weil die Gefahr sich nicht realisiert habe, ist widersprüchlich78 • Zwar mag sich die Vorstellung von der indiziellen Bedeutung der Rauschtat für die Gefährlichkeit des Rausches in einer "sozial vorgegebenen ,Beweisregel''' finden, die "Eingang in das Gesetz" gefunden hat7 9 ; aber die Ausgestaltung von Gefährdungsdelikten hat sich an den erreichbaren Einsichten in bestehende Gefährdungszusammenhänge, nicht an sozialen Beweisregeln zu orientieren. Keinesfalls dürfte der Gesetzgeber wider besseres Wissen gefährliche Handlungsweisen (nur) deshalb straflos lassen, weil sie im gesellschaftlichen Verständigungszusammenhang nicht als gefährlich beurteilt werden. Auch der umgekehrte Schluß von der Rauschtat auf die Gefährlichkeit des Rausches ist nicht zwingend - schon deshalb nicht, weil eine Kausalbeziehung zwischen Rausch und Rauschtat nicht vorausgesetzt wird 80 • Darüber hinaus - und das betrifft nicht nur die angebliche Indizfunktion der Rauschtat, sondern die empirische Basis eines Gefährdungstatbestands des Sichberauschens überhaupt - liegen gesicherte Er77 Das würde voraussetzen, daß man aus den abstrakten Gefährdungsdelikten die Fälle einer fehlenden konkreten Gefahr ausgliedern kann. Auf der Ebene der Gesetzgebung ist diese Möglichkeit nur durch die Grenze zwischen abstrakten und konkreten Gefährdungsdelikten beschränkt. Dagegen erfordert die Nichtanwendung der ohne ausdrückliche Einschränkung formulierten abstrakten Gefährdungstatbestände in den Fällen, in denen wegen der Besonderheit des Einzelfalls ein Schadenseintritt nach menschlichem Ermessen nicht in Betracht kommt, eine teleologische Reduktion der entsprechenden Strafbestimmungen. Zu diesem Problem, das vor allem anhand des § 306 diskutiert wird, vgl. Schönke/Schröder/Cramer vor §§ 306 ff. Rdnr.3; Cramer, Vollrauschtatbestand, S. 62; Brehm, JuS 1976, S. 22 ff.; BGHSt 26, 121. Läßt man eine derartige Einschränkung zu, so stellt sich die Frage, wer die Beweislast für das Fehlen einer konkreten Gefahr trägt. Nach dem Modell des "Verantwortungsdialogs" wäre es zumindest denkbar, den Angeklagten mit dem Gegenbeweis der Ungefährlichkeit zu belasten. (Dafür Schröder, ZStW 81 [19691, S. 16 f.; dagegen Schünemann, JA 1975, 797; zum Problem auch Horn, Konkrete Gefährdungsdelikte, 1973, S. 25 f.; Cramer, Vollrauschtatbestand, S. 56 f.; Schönke/Schröder/Cramer vor §§ 306 ff. Rdnr.4). 78 Daß das Vorliegen einer Gefahr nur ex ante, nicht ex post danach bestimmt werden kann, ob sie sich verwirklicht hat oder nicht, betont zu Recht Arthur Kaufmann, Unrecht und Schuld beim Delikt der Volltrunkenheit, S.246. So auch Bemmann, GA 1961, S.70; Brandenberger, Bemerkungen zu der Verübung einer Tat in selbstverschuldeter Zurechnungsunfähigkeit, S. 74. 79 Montenbruck, GA 1978, 237. 80 Vgl. unten S. 82 ff. Auf den Widerspruch, der zwischen diesem Schluß und dem Verzicht auf die Kausalität des Rausches für die Rauschtat besteht, macht Cramer aufmerksam (Vollrauschtatbestand, S. 48,82 ff.).

5'

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

gebnisse über eine allgemeine Gefährlichkeit des Sichberauschens bisher nicht vorB1 . Ob in dieser Hinsicht zuverlässige Aussagen überhaupt erreichbar sind, muß hier dahingestellt bleiben. Immerhin scheinen erhebliche methodische Schwierigkeiten zu bestehen. Einerseits ist es kaum möglich, aus statistischen Zusammenhängen einen "Gefährdungsfaktor" zu isolieren82 ; andererseits verbieten sich experimentelle Untersuchungen hinsichtlich des Zusammenhanges zwischen Alkoholkonsum und kriminellem Verhalten von selbst. Zwar wäre es denkbar, mittels geeigneter Testverfahren Zusammenhänge zwischen Alkoholkonsum und für kriminelles Verhalten mutmaßlich relevanten Merkmalen wie Aggressivität zu ermitteln; aber ganz abgesehen davon, daß gerade hinsichtlich der Aggressionstendenzen die Relevanz für kriminelles Verhalten aufgrund neuerer Untersuchungen zweifelhaft geworden ist83 : Es läßt sich vorhersagen, daß einheitliche Ergebnisse insofern nicht zu erzielen sein werden84 • Aber selbst wenn man im Rauschzustand eine Rechtsgütergefährdung von solcher Erheblichkeit sehen könnte, daß sie, für sich genommen, eine Vorverlegung des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes rechtfertigen würde, wäre die Deutung des § 323 a StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt im Hinblick auf die Gesamtheit der den Alkoholkonsum betreffenden rechtlichen Regelungen nicht haltbar. Denn dafür, daß § 323 a StGB ein völlig untaugliches Mittel zur Eindämmung derartiger Gefahren darstellt, spricht nicht nur die Kriminalstatistik85 , die jährlich etwa zehntausend Verurteilungen wegen Vollrausches aufweistS6 , sondern auch die alltägliche Erfahrung der geringen motivatorischen Kraft des § 323 a StGB. Während die Möglichkeit einer Verurteilung nach den §§ 315 c, 316 StGB oder nach § 24 a StVG durchaus ein wirk81 Vgl. die zurückhaltenden Ausführungen bei Göppinger, Kriminologie, S. 224 ff.; dagegen dürften die Auswirkungen des Alkohols auf die Verkehrstüchtigkeit und damit dessen bereichsspezifische Gefährlichkeit wohl als gesichert gelten (S. 227). 82 Zur Problematik Schroth, in: NeumannjSchroth, Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe, S. 75 ff. - Wie weit sich die Fähigkeit zu normgemäßer Motivation unter Alkoholeinfluß tatsächlich vermindert, ist kaum zu bestimmen; die statistische Feststellung, daß, variierend mit der Art des Delikts und dem Alter des Täters, zwischen 6 Ofo und 72 9/0 der Straftaten unter Alkoholeinfluß begangen werden (Göppinger, Kriminologie, S. 225 f.), ist für sich genommen wenig aussagekräftig, solange nicht andere, typischerweise mit Alkoholgenuß parallelgehende kriminovalente Situationsfaktoren isoliert werden. 83 Vgl. Göppinger, Kriminologie, S. 248 f. 84 Zur Bedeutung der "Ausgangspersönlichkeit" für die Auswirkungen des Alkoholkonsums vgl. Göppinger, Kriminologie, S. 186 f. 85 Freilich "beweist" die Kriminalstatistik nicht die Unwirksamkeit des § 323 a; denn nicht ihre Effizienz, sondern nur ihre Ineffizienz wird statistisch erfaßt. ae Vgl. Wolter, Vollrausch mit Januskopf, NStZ 1982, s. 54 ff., S. 55.

I. Das Tatbestandsmodell

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sames Motiv zur Begrenzung des Alkoholkonsums darstellen kann, dürfte der Fall, daß jemand sich mit Rücksicht auf die Existenz des § 323 a StGB den weiteren Alkoholkonsum versagt, unrealistisch sein. Die Annahme der Rechtswidrigkeit des Sichberauschens müßte, wenn sie mit dessen Gefährlichkeit begründet wird, in der Tat zur Prohibition führen 87 . Der gegen dieses Argument erhobene Einwand, verboten sei nicht das Trinken von Alkohol schlechthin, sondern nur das Sichbetrinken, also der Alkoholkonsum in einem die Einsichts- bzw. Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigenden Ausmaß88, schlägt nicht durch; denn ein effektiver Schutz gegen die angeblichen Gefahren des Sichberauschens könnte in der Tat nur durch Maßnahmen der Prohibition erreicht werden. Daß derartige Maßnahmen angesichts der eingefahrenen Trinkgewohnheiten und der wirtschaftlichen Bedeutung des Alkoholkonsums89 auf ganz erheblichen Widerstand stoßen würden, versteht sich von selbst. Aber man muß sich entscheiden: Solange die "Droge Alkohol ... in mannigfacher Weise legalisiert und umworben ist"90, solange kann das Sichberauschen nicht als verbotene Handlung deklariert werden. Und solange organisierte Massenbesäufnisse wie das Münchner Oktoberfest unter staatlicher Schirmherrschaft veranstaltet werden, solange kann derselbe Staat das Sichbetrinken nicht als rechtswidrig brandmarken, ohne die Autorität seiner Normen zu gefährden. Eine andere Frage ist, ob die Annahme der Rechtswidrigkeit des Sichbetrinkens, auch bei entsprechend konsequenter Haltung von staatlicher Seite, mit dem allgemeinen Rechtsbewußtsein vereinbar wäre. Leider fehlen bisher empirische Untersuchungen zur rechtlichen und moralischen Bewertung der Volltrunkenheit in den einzelnen Bevölkerungsschichten, und insofern sind alle Behauptungen über die gesellschaftliche Einschätzung des Vollrauschs mehr oder weniger spekulativ. Die wenigen vorhandenen soziologischen Untersuchungen91 sprechen lr7 So Haft, JA 1979, S. 656; Arthur Kaufmann, Unrecht und Schuld beim Delikt der Volltrunkenheit, S.237; Roeder, Das Schuld- und Irrtumsproblem beim Vollrausch, S.212; v. Weber, Grundriß des deutschen Strafrechts, 2. Aufl., 1948, S. 119 f.; ders., Blutalkohol, 1962, S.211. 88 Lackner, JuS 1968, S. 217; LK/Lay, 9. Aufl., § 330 a Rdnr. 7. 88 Die Gesamtausgaben der Bürger der Bundesrepublik für Alkohol betrugen 1978 55,69 Milliarden DM (Jahrbuch 1980 zu Fragen der Suchtgefahren, S.56; dazu Wolter, NStZ 1982, S. 54). 90 Wolter, NStZ 1982, S. 54. 81 Schmitt, Saarländisches Ärzteblatt, 1976, S. 446, konstatiert für die Bundesrepublik eine Annäherung an Kulturen mit "permissiver Einstellung und weitgehender Duldung dysfunktionalen, devianten Trinkverhaltens" (unter Verwendung der von Pitman entwickelten Klassifikation; vgI. Pitman, Gesellschaftliche und kulturelle Faktoren der Struktur des Trinkens, pathologischen und nichtpathologischen Ursprungs. In: Alkohol und Alkoholismus (Hrsg.: Deutsche HauptsteIle gegen die Suchtgefahren), 1964, S. 5 ff. Pitman unterscheidet weiter Kulturen mit genehmigender Einstellung zum Alkoholkonsum bei Ablehnung der Alkoholexzesse, Kulturen mit sozialer Ambivalenzeinstellung gegenüber dem Alkohol und alkoholgegnerische Kulturen.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

eher gegen als für die Behauptung, die Überzeugung von der Sozialadäquanz des Sichbetrinkens sei "heute längst nicht mehr so eindeutig wie früher"92. Die Feststellung, das bloße Sichberauschen sei nach allgemeiner Überzeugung kein strafwürdiges Unrecht93 , dürfte zutreffend sein94 . Auch das Zugeständnis der Rechtswidrigkeit des Sichbetrinkens würde aber die herrschende Deutung des § 323 a StGB nicht retten. Denn das eventuell im Sichberauschen liegende Unrecht trägt keinesfalls die hohe Strafdrohung des § 323 a Abs.l StGB95. Andernfalls müßte man annehmen, das Sichberauschen sei ein schwereres Unrecht als etwa die vorsätzliche körperliche Verletzung eines anderen (§ 223 StGB). Allerdings hat Puppe, die der herrschenden Meinung hinsichtlich der Deutung des Sichberauschens als tatbestandsmäßiger Handlung und der Rauschtat als objektiver Bedingung der Strafbarkeit folgt, bestritten, daß bei dieser Konstruktion die Verhaltensnorm des § 323 a StGB das gesamte Unrecht der Tat enthalten müsse96 . Sie hält eine Zurechnung der Rauschtat für möglich, weil die Rauschtat die Realisierung der Gefahr sei, um derentwillen die Selbstberauschung verboten sei97 ; als eine der tatsächlichen Möglichkeiten, die diese Gefahr ausmachen, sei "der realisierte Erfolg in diesem Verbot bereits enthalten"98. Aber in dem Verbot "enthalten" ist der Erfolg allenfalls in dem Sinne, daß die entsprechende Gefährdung, die im Sichberauschen liegt, verboten ist; insofern ist der (mögliche) Erfolg nur für die Höhe des Gefährdungsunrechts relevant. Für den Erfolg selbst kann der Täter, 92 So Hardwig, Studien zum Vollrauschtatbestand, S. 460. 93 BGHSt 9, 396. 9' Gegen die Annahme der Rechtswidrigkeit des Sichberauschens etwa Arthur Kaufmann, Unrecht und Schuld beim Delikt der Volltrunkenheit, S.237; Lange JR 1957, S.243; Welzel, ZStW 58 (1939), S. 523 Anm. 44; DiemerNicolaus, Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, Bd. V, S. 103; Neumayer, a.a.O., S. 104; Hirsch, Alkoholdelinquenz in der Bundesrepublik Deutschland, S. 12 f.; Streng, JZ 1984, S. 116. 95 So auch Bemmann, GA 1961, S. 65; emmer, Vollrauschtatbestand, S. 37 f.; Ranft, MDR 1972, S.739; Roeder, Das Schuld- und Irrtumsproblem beim Vollrausch, S.240; Welzel, Das deutsche Strafrecht, S.474. Als ,,~'llnder Punkt" bleibt die Strafdrohung des § 323 a auch für Schmidhäusers gegenläufige Kritik an der Interpretation des Tatbestands durch die h. M.: Nach Schmidhäuser resultieren die Verständnisschwierigkeiten bei § 323 a nicht aus der "Vertatbestandlichung" einer Ausnahmeregelung zu den Regelungen über die Schuldunfähigkeit, sondern umgekehrt daraus, daß man "noch allzu vorrangig auf die im Rausch begangene, aufgrund der Schuldlosigkeit straflose Tat (sieht) und meint, ihre Strafbarkeit sei nur durch einen gesetzestechnischen Winkelzug erreicht worden" (Schmidhäuser, Strafrecht BT, Kap. 15 Rdnr.20). 96 Puppe, GA 1974, S. 104. 97 GA 1974, S. 104; zu der ähnlichen Argumentation Lac1mers vgl. oben S.56. V8 Puppe, GA 1974, S. 104 Fn. 24.

I. Das Tatbestandsmodell

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wenn man am Schuldprinzip festhält, entgegen der Ansicht von Puppe nicht verantwortlich gemacht werden; der Gefährdungszusammenhang als Moment der objektiven Zurechenbarkeit ersetzt nicht die Voraussetzungen subjektiver Zurechnung. Die Einsicht, daß ein mögliches Unrecht des Sichbetrinkens jedenfalls eine bis zu 5 Jahren Freiheitsentzug reichende Strafdrohung nicht trägt, liegt den verschiedenen Varianten des "Stufenmodells" zugrunde, die für das Sichbetrinken als solches eine erheblich geringere Höchststrafe vorsehen und eine höhere Strafdrohung an weitere objektive99 oder subjektive Voraussetzungen hinsichtlich der Begehung der Rauschtat knüpfen. Dieses Stufenmodell, das der Gestaltung des Vollrauschtatbestands im E 1962 zugrundelag (§ 351), hat neuerdings durch einen Vorschlag Walters auch de lega lata Aktualität erhaltenlOO . Walter konstatiert das Ungenügen aller bisherigen Versuche, dem Vollrauschtatbestand eine befriedigende Deutung zuteil werden zu lassen; sie liefen entweder auf eine mehr oder weniger stark ausgeprägte versari-in-re-illicita-Haftung hinaus oder seien gegenüber der actio libera in causa nicht mehr abzugrenzen. Walters eigene Lösung geht von der Überlegung aus, daß zwar das Sichbetrinken "angesichts seiner generellen Gefährlichkeit im Rahmen unserer komplizierten Lebensbedingungen"lOl bereits für sich strafwürdig sei und insofern dem Erfordernis der Rauschtat eine strafbarkeitseinschränkende Funktion zukomme, daß aber andererseits im Hinblick auf Abs. 2 und den "beträchtlichen" Strafrahmen des § 323 a StGB die Unrechtsrelevanz der Rauschtat für das Delikt des Vollrauschs anerkannt werden müsse. Mit dem Schuldprinzip vereinbar sei die Bestimmung des § 323 a StGB im Hinblick auf diese Unrechtsrelevanz der Rauschtat nur, wenn eine entsprechende Schuldbeziehung gefordert werde, soweit das Unrecht der Rauschtat den anzuwendenden Strafrahmen mittrage. Erforderlich sei, daß der Täter sich Straftaten vorgestellt habe, die nach Art und Schwere mit der im Rausch begangenen Tat vergleichbar (gleichwertig) 99 An nur objektive Bedingungen wird die schwerere Strafdrohung in Art. 263 SchwStGB geknüpft. Die Bestimmung lautet: "Wer infolge selbstverschuldeter Trunkenheit oder Betäubung unzurechnungsfähig ist und in diesem Zustand eine als Verbrechen oder Vergehen bedrohte Tat verübt, wird mit Gefängnis bis zu sechs Monaten oder mit Buße bestraft. Hat der Täter in diesem selbstverschuldeten Zustand eine mit Zuchthaus als einziger Strafe bedrohte Tat verübt, so ist die Strafe Gefängnis." In der Abstufung des Absatzes 2 wird überwiegend ein Fall von Erfolgshaftung gesehen (so Hafter, Schweizerisches Strafrecht, BT 11, 1943, S.483; Arnold, Das Delikt der Trunkenheit, 1936, S. 54), der teilweise als Verstoß gegen das Schuldprinzip gewertet wird (so Schwander, Das Schweizerische Strafgesetzbuch, 2. Aufl., 1964, S. 110). 100 Wolter, Vollrausch mit Januskopf, NStZ 1982, s. 54 ff. lG1 NStZ 1982, s. 55.

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seien. Auf irgendeine Schuldbeziehung zur Rauschtat könne dagegen verzichtet werden, soweit ein Strafrahmen angenommen werde, der von dem Unrecht des Sichbetrinkens allein getragen werden könne. Einen solchen Strafrahmen biete der im Strafgesetzbuch verwendete minimale Strafrahmen (etwa) des § 184 a StGB, der auf das hinsichtlich der Begehung der Rauschtat schuldlose Sichbetrinken anzuwenden sei. Wolter gelangt damit im Wege einerseits der "teleogische(n) Reduktion der Straftatvoraussetzungen"102 (hinsichtlich des engen Vollrauschtatbestands), andererseits der "werthafte(n) Einschränkung der Straftatfolgen" (hinsichtlich des weiten Vollrauschtatbestands)103 zu einer Zweiteilung des § 323 a StGB: Dem Sichbetrinken ohne Schuldbeziehung zur Rauschtat wird die "Minimalstrafdrohung" zugeordnet, für den vollen Strafrahmen des § 323 a StGB ein Verschulden der Rauschtat in dem gekennzeichneten Sinne verlangt. Der Vorschlag Wolters zieht die Konsequenz aus der berechtigten Kritik an den bisherigen Deutungsversuchen zum Vollrauschtatbestand, läuft selbst aber eher auf eine Korrektur als auf eine Interpretation des Gesetzes hinaus. Die Tatsache, daß für den geschriebenen Tatbestand (mit einer Strafdrohung bis zu fünf Jahren) praktisch kein Anwendungsbereich mehr bleibt104, verdeutlicht die Distanz zwischen der von Wolter vorgeschlagenen Lösung und der dem § 323 a StGB "tatsächlich" zugrundeliegenden Z urechnungsstruktur105. 3) Die Gleichbewertung des vorsätzlichen und

des fahrlässigen Sichbetrinkens Als gewichtiges Argument gegen die schwerpunktmäßige Lokalisierung des Unrechts des Vollrauschtatbestands bei der Berauschung wird die Gleichstellung von vorsätzlicher und fahrlässiger Tatbestandsverwirklichung ins Feld geführtt0 6 • In der Tat wäre auf der Grundlage der herrschenden Deutung des § 323 a StGB zu erwarten, daß dem unterschiedlichen Handlungsunrecht der vorsätzlichen und der fahrlässigen Tatbegehung durch eine Abstufung des Strafrahmens Rechnung NStZ 1982, s. 54. NStZ 1982, s. 54. 104 NStZ 1982, s. 59. 105 Damit ist lediglich festgestellt, daß der Vorschlag Wallers nicht als Rekonstruktion des Zurechnungsmusters des § 323 a StGB verstanden werden kann. Als Versuch, die Bestimmung so weit wie möglich mit dem Schuldprinzip in Einklang zu bringen, ohne kriminalpolitische Notwendigkeiten zu vernachlässigen, verdient er Aufmerksamkeit - wenngleich sich voraussagen läßt, daß die "wirklichen" Zurechnungs strukturen des Vollrauschtatbestands der Durchsetzung dieses Modells erfolgreich Widerstand leisten werden. 108 v. Weber, MDR 1952, S.642; Roeder, Das Schuld- und Irrtumsproblem beim Vollrausch, S.240. 102

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getragen würde107 • Gleichwohl bedarf dieses Argument der überprüfung. Denkbar wäre auch, daß die Gleichbehandlung gerade als Konsequenz des Charakters des § 323 a StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt erklärt werden könnte. Ein Vergleich der Differenzen der Strafdrohungen für vorsätzliche und fahrlässige Tatbegehung bei den Verletzungsdelikten einerseits und den Gefährdungsdelikten andererseits zeigt nämlich bei letzteren eine deutliche Tendenz zur Nivellierung der Unterschiede in den Strafdrohungen. Während sich bei einem Vergleich zwischen der vorsätzlichen (§ 212 StGB) und der fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB) bei der Höchststrafe 15 und fünf Jahre und bei der Mindeststrafe gar fünf Jahre und ein Monat (§ 38 Abs.2 StGB) Freiheitsstrafe gegenüberstehen, ist das Verhältnis der Höchststrafen beim Gefährdungstatbestand des § 323 StGB fünf gegenüber drei Jahren (bei vorsätzlichem Handeln und fahrlässiger Gefahrverursachung, § 323 Abs.3) bzw. gegenüber zwei Jahren (bei fahrlässigem Handeln und fahrlässiger Gefahrverursachung, § 323 Abs.4); ein Unterschied in den Mindeststrafdrohungen besteht nicht. Ähnlich ist das Verhältnis zwischen den Strafdrohungen der vorsätzlichen und der fahrlässigen Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315 c Abs.1 bzw. Abs.3 StGB). Das abstrakte Gefährdungsdelikt des § 316 StGB schließlich setzt vorsätzliches und fahrlässiges Verhalten überhaupt gleich (§ 316 Abs.2 StGB)1°8. Die Beispiele lassen es immerhin als möglich erscheinen, dem Unterschied zwischen vorsätzlichem und fahrlässigem Verhalten bei den Gefährdungsdelikten einen geringeren Stellenwert als bei den Verletzungstatbeständen zuzuweisen109 und § 323 a StGB - wie auch § 316 StGB - als Grenzfall einer Reduzierung der Differenz auf Null zu verstehen. Der behauptete Unterschied zwischen Verletzungs- und Gefährdungstatbeständen wäre erklärungsbedürftig. Ausgangspunkt könnte dabei die von HassemerllO analysierte Bedeutung des Bedrohungsmoments 107 Eine solche Abstufung fordert de lege ferenda emmer, Vollrauschtatbestand, S. 105, 108. 108 Der Unterschied zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Tatbegehung kann allerdings bei der Strafzumessung Berücksichtigung finden; so OLG Schleswig bei Ernesti/ J ürgensen, SchlHA 77, 178. 108 Bei den im StGB geregelten Verletzungsdelikten wird der Unterschied zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Tatbegehung ausnahmslos mittels einer Stufung des Strafrahmens erfaßt. Kein Gegenbeispiel bildet die Identität der Strafdrohungen in den §§ 223 Abs. 1, 230, weil hinsichtlich der vorsätzlichen Köperverletzung auch die wesentlich höheren Strafdrohungen der §§ 224, 225 zu berücksichtigen sind. 110 W. Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, S. 158 ff., 221 ff. Zur Interpretation der unterschiedlichen Sanktionierung von vorsätzlicher und fahrlässiger Tatbegehung vgl. auch Ellscheid, Alternativen zur Strafmaßschuld, S.90 Fn.17; Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 202 ff.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

bei der Aufstellung von Straftatbeständen sein. Die These könnte dann etwa lauten: Die Furcht vor Verletzungen kann sich mehr auf die verletzende Handlung und mehr auf den Verletzungserfolg beziehen. Im ersteren Fall ist eine hohe, im zweiten eine niedrige Differenz zwischen dem für vorsätzliche bzw. fahrlässige Tatbegehung vorgesehenen Strafrahmen zu erwarten. Die Angst vor strafbaren Verletzungen des Rechtsguts Leben dürfte weitgehend auf das Bild des Mörders fixiert sein; obgleich die Gefahr, durch einen Unfall am Arbeitsplatz oder zu Hause ums Leben zu kommen, um ein Vielfaches höher ist als die, Opfer einer vorsätzlichen Tötung zu werden, ist die Angst vor dem Mörder ungleich größer als die vor der defekten Stehleiter; und die Zahl der Verkehrstoten würde die Gesellschaft aufs höchste alarmieren, würde es sich dabei um die der Opfer von Verbrechen handeln. Als bedrohlich wird der "Mörder" erlebt, nicht die Gefahr des Todes. Das ist anders bei den Gefährdungstatbeständen wie § 323 StGB. Hier steht eindeutig die Furcht vor der tatsächlichen Verletzung im Vordergrund. Das gleiche gilt für § 316 StGB. Allgemein kann man sagen: Je mehr die Straftat ihrem äußerlichen Ablauf nach als Unfall erscheint, desto mehr bezieht sich das Bedrohungsmoment auf den Verletzungserfolg und desto geringer ist die Tendenz, zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Tatbegehung im Strafmaß zu unterscheiden. Damit ist freilich nicht nachgewiesen, daß die Gleichsetzung von vorsätzlichem und fahrlässigem Sichberauschen in § 323 a nicht i. S. der hier vertretenen Deutung interpretiert werden kann; gezeigt wurde nur, daß sie nicht so verstanden werden muß. Immerhin könnte man geltend machen, daß dem einen Beispiel des § 316 StGB zahlreiche Gegenbeispiele von abstrakten Gefährdungsdelikten gegenübergestellt werden könnten, in denen für vorsätzliche und fahrlässige Tatbegehung sehr wohl unterschiedliche Strafdrohungen vorgesehen sind ll1 • Aber solange das Problem der Unrechtsrelevanz vorsätzlicher bzw. fahrlässiger Tatbegehung bei den abstrakten Gefährdungsdelikten noch nicht geklärt ist, muß das Argument der Gleichbewertung vorsätzlichen und fahrlässigen Sichbetrinkens in § 323 a StGB mit Vorsicht verwendet werden.

bb) Dogmatische Inkonsequenzen der herrschenden Meinung Die herrschende Deutung des § 323 a StGB ist in wesentlichen Punkten mit der Dogmatik des Vollrauschtatbestands nicht vereinbar. 111 Wegen der Ungleichbehandlung im Verhältnis zu den anderen Gefährdungstatbeständen sieht Lorenzen, Zur Rechtsnatur und verfassungsrechtlichen Problematik der erfolgsqualifizierten Delikte, 1981, S. 126, in der mangelnden Strafrahmendifferenzierung bei § 323 a einen Verstoß gegen das "rechtsstaatliche Gebot der Systemgerechtigkeit" .

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1) Die Kausalität des Rausches für die Rauschtat Das gilt zunächst für das Problem der Kausalität zwischen Rausch und Rauschtat. Versteht man mit der herrschenden Meinung § 323 a StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt und die Rauschtat als Indiz der Gefährlichkeit des Rausches, dann müßte für das Verhältnis Rausch Rauschtat Kausalität in dem Sinne verlangt werden, daß die Rauschtat im nüchternen Zustand nicht begangen worden wäre. Denn nur dann hat sich die Gefährlichkeit gerade des Rausches in der Tat realisiert 112 • Straflos bleiben müßte also derjenige, der im Vollrausch nach Provokation durch das Opfer einen Totschlag begeht, wenn er dieselbe Tat auch im nüchternen Zustand begangen hätte. Dieses Ergebnis ist zwingend, wenn man die "Indiz funktion" der Rauschtat ernst nimmt 113 • Gleichwohl wird es von der ganz herrschenden Meinung abgelehnt. Teilweise wird überhaupt das Erfordernis einer Kausalverbindung zwischen bei112 In diesem Zusammenhang vgl. Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, S. 67 ff.; dazu Roxin, Pflichtwidrigkeit und Erfolg bei fahrlässigen Delikten, ZStW 74 (1962), S. 411 ff. (hier zitiert nach ders., Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1972, S. 147 ff., S. 159 f.), der darauf aufmerksam macht, daß für Engischs Lösung des Novokainfalls der Gedanke der Gefahrenverwirklichung nicht entscheidend ist (S. 159). Wenn im Rahmen der von Roxin begründeten sog. "Risikoerhöhungslehre" (Roxin, Pflichtwidrigkeit und Erfolg bei fahrlässigen Delikten, passim; ders., Gedanken zur Problematik der Zurechnung im Strafrecht, S. 129 ff.; Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht, S. 135 ff.; SKIRudolphi, Rdnr.65 vor § 1; Stratenwerth, AT, Rdnr.1027) die Auffassung vertreten wird, von der Realisierung einer Gefahr könne u. U. auch dann gesprochen werden, wenn der Erfolg möglicherweise auch ohne diese Gefahr eingetreten wäre (vgl. SKIRudolphi, Rdnr.67 vor § 1: daß sich die aus der Verletzung eines Gefahrerhöhungsverbots resultierende erhöhte Gefährlichkeit in dem Erfolg realisiert habe, sei nur dann zu verneinen, "wenn auch bei einem rechtmäßigen Verhalten der Erfolg mit Sicherheit eingetreten wäre"; dagegen sei es "gerade die rechtswidrig geschaffene Gefahr, die sich in dem Erfolgseintritt realisiert hat", wenn der Erfolg "bei einem pflichtgemäßen Handeln des Täters möglicherweise oder gar wahrscheinlich ebenso eingetreten wäre"), so ergibt sich daraus kein Argument für die herrschende Meinung zu § 323 a. Denn die Argumentation beruht darauf, daß zwischen einem erlaubten und einem unerlaubten Teil der Gefährdung nicht getrennt werden kann (Rdnr. 68), setzt also die Konstellation voraus, daß eine erlaubte Gefährdung bis zu einem unerlaubten Grad gesteigert wird. Daran fehlt es im Falle des § 323 a; der Zustand der Nüchternheit ist kein erlaubter "gefährlicher" Zustand, der durch Alkoholgenuß ins Unerlaubte gesteigert würde. Die aus der Trunkenheit des Täters allenfalls resultierende Gefährlichkeit kann von der Möglichkeit, daß die Tat auch in nüchternem Zustand begangen worden wäre, sehr wohl getrennt werden. In der in Trunkenheit verübten Tat realisiert sich nicht eine aus erlaubter (Nüchternheit) und unerlaubter (Trunkenheit) Gefährdung resultierende "Gesamtgefahr" ; vielmehr ist es so, daß sich in ihr die - hier zu unterstellende - Gefährlichkeit der Trunkenheit entweder realisiert (wenn die Tat im nüchternen Zustand nicht begangen worden wäre) oder nicht realisiert. 113 So auch eramer, Vollrauschtatbestand, S.48, 82 ff.; vgl. schon oben Fn.80.

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den Merkmalen verneint114 , teilweise läßt man es genügen, daß der Rausch eine der Ursachen der konkreten Rauschtat war und verzichtet auf die Voraussetzung, daß diese in nüchternem Zustand nicht begangen worden wäre115 • Die für diesen Verzicht angeführten Argumente überzeugen nicht. Wenn Puppe die Behauptung, das Risiko der Berauschung realisiere sich in der Rauschtat auch dann, wenn der Täter dasselbe Delikt auch im nüchternen Zustand begangen hätte116 , damit begründet, daß es dann "strafrechtlich eine andere Tat mit anderen inneren Ursachen"117 gewesen wäre, so ist das ein Eiertanz. Denn für die Verletzung der betroffenen Rechtsgüter, in der sich das Risiko des Rausches realisiert, sind die Unterschiede zwischen den "inneren Ursachen" im Fall einerseits der nüchternen, andererseits der volltrunkenen Begehung der Tat ganz gleichgültig. Wenn § 323 a 8tGB als abstraktes Gefährdungsdelikt interpretiert wird, dann soll er potentielle Opfer vor Gefährdung und letztendlich vor Verletzung schützen, nicht aber vor einem bestimmten Motivationsprozeß des Täters118 . Man könnte gegen diese überlegungen einwenden, die Forderung, daß der Täter die Tat in nüchternem Zustand nicht begangen hätte, sei allzu einseitig der conditio sine qua non-Formel verhaftet; mit der Behauptung der Irrelevanz der hypothetischen Tatbegehung in nüchternem Zustand sei die Konstruktion der Rauschtat als Realisierung der Rauschgefahr sehr wohl vereinbar, wenn man die Frage, ob sich in einem bestimmten Erfolg eine spezifische Gefahr realisiert hat, unter Ausblendung des sich bei Wegfall der Gefahrenquelle ergebenden hypothetischen Kausalzusammenhangs nach dem Kriterium der gesetzmäßigen Bedingung beurteile. Für die Ablösung der Feststellung des "Gefährdungszusammenhangs" von der Frage des hypothetischen Kausalverlaufs spricht die sich all114 So etwa Gerland, ZStW 55 (1936), S. 784 ff., 800 f.; dagegen Gollner, MDR 1976, S. 187 Fn.47. 115 So Cramer, Vollrauschtatbestand, S. 116 ff.; Schönke/Schröder/Cramer, § 323 a Rdnr. 13. ue Puppe, GA 1974, S. 113. 117 In diesem Sinne auch Cramer, Vollrauschtatbestand, der hervorhebt, daß es auf die Ursächlichkeit für den konkreten Geschehensablauf ankomme (S. 117 f.); Hellmuth Mayer, ZStW 59 (1940), S.325. Zum parallel gelagerten Problem der Kausalität des Sichbetrinkens für die Begehung der Straftat bei der actio libera in causa vgl. oben S. 26 f. 118 Der Einwand trifft auch die Argumentation Maurachs, die konkrete Rauschtat sei auch dann durch den "Mißbrauch der Zurechnungsfähigkeit" bedingt, wenn der Täter die Tat auch nüchtern begangen hätte, weil der Rausch im Täter "die in ihm latenten Bereitschaften zur Aktivität entwickelt, die Tat ausgelöst" habe (Schuld und Veranwortung, S. 119). Wie hier jetzt Jakobs, AT, S.413: Ist der Täter zur Tat fest entschlossen, erhöht die (spätere) Berauschung nicht die Gefahr.

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mählich durchsetzende, wenn auch von der Geläufigkeit der conditio sine qua non-Formel noch verdunkelte Einsicht, daß es bei der Beurteilung der Kausalitätsfrage nicht um das geht, was geschehen wäre, sondern um das, was tatsächlich geschehen ist119 und daß demgemäß dem Gesichtspunkt der gesetzmäßigen Bedingung der Vorzug zu geben ist120 • Dabei ist es nur ein terminologisches Problem, ob man die Frage, ob sich in dem Erfolg eine bestimmte Gefahr realisiert hat, als Frage nach dem Bestehen eines Kausalzusammenhangs interpretiert oder ob man die für den Kausalzusammenhang gewonnenen Einsichten auf den "Gefährdungszusammenhang" überträgt. Aber auch die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung hilft der herrschenden Meinung bei § 323 a StGB letztendlich nicht weiter; denn der formulierbare gesetzmäßige Zusammenhang ist zu schwach, um die Feststellung zu tragen, daß die aus dem Rausch resultierende Gefahr sich in dem Erfolg realisiert hat. Der Verzicht auf einen Kausalzusammenhang zwischen Rausch und Rauschtat bei § 323 a StGB steht, wenn man die Vorschrift als Gefährdungsdelikt interpretiert, im übrigen auch im Widerspruch zu der Behandlung des Kausalitätsproblems bei § 315 c Abs. 1 Nr. 1 a StGB. Denn für diese Bestimmung ist anerkannt, daß eine Bestrafung nur in Betracht kommt, wenn der Alkoholkonsum für die konkrete Gefährdung ursächlich war; kann nicht ausgeschlossen werden, daß ein Unfall sich auch ohne die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit des Täters ereignet hätte, scheidet die Anwendung der Bestimmung aus121 • In gleicher Weise kollidiert die Behandlung der Kausalitätsfrage bei § 323 a StGB mit den Voraussetzungen der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB), zu denen der "Symptomwert (der Tat, U. N.) für den Rausch bzw. den Hang des Täters" gehört l22 • Auch hier werden die Fälle nicht erfaßt, in denen die Tat möglicherweise auch von einem nicht unter akutem oder chronischem Alkoholeinfluß stehenden Täter begangen worden wäre123 • Verneint man in diesem Fall bei § 64 StGB, daß die Gefährlichkeit sich in der Tat äußere, so kann man bei der gleichen Konstellation im Rahmen des § 323 a StGB nicht feststellen, daß sich hier die Gefährlichkeit des Rausches in der Tat realisiert habe. Die unterschiedlichen Funktionen der §§ 64 und 323 a StGB sind in 111 Grundlegend Arthur Kaufmann, Die Bedeutung hypothetischer Erfolgsursachen im Strafrecht, passim, v. a. S. 61. 100 Grundlegend Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S.21; so auch Jescheck, AT, S.227; ders., LK Rdnr.51 vor § 13; Arthur Kaufmann, Die Bedeutung hypothetischer Erfolgsursachen im Strafrecht, S. 57 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner, vor § 13 ff. Rdnr. 76; SK/Rudolphi, Rdnr. 41 vor § 1; Puppe, ZStW 92 (1980), S. 874. 1!1 Vgl. statt aller Schönke/Schröder/Cramer, § 315 c Rdnr. 30. 122 LK/Hanack, § 64 Rdnr. 38. 12' LK/Hanack, § 64 Rdnr. 38.

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diesem Zusammenhang, in dem es nur um die an den Gefährdungszusammenhang zu stellenden Anforderungen geht, nicht von Bedeutung. Richtig ist freilich, daß es unbefriedigend wäre, könnte sich der Täter im Falle des § 323 a 8tGB darauf berufen, daß er die Tat auch in nüchternem Zustand begangen hätte. Zunächst wäre schon die Argumentation als solche anstößig; eine derartige "Verteidigung"124 würde jedenfalls bei vorsätzlich begangener Rauschtat als frivol, ja geradezu als zynisch erlebt. Außerdem sprechen für die herrschende Meinung zweifellos gewichtige Gründe der Praktikabilität: Könnte sich der Täter bei § 323 a 8tGB auf ein "schuldhaftes Alternativverhalten" berufen, so würde die Vorschrift in der Praxis weitgehend leerlaufen; dies jedenfalls dann, wenn man insoweit - in Parallele zu Rechtsprechung und herrschender Lehre in den Fällen rechtmäßigen Alternativverhaltens125 - den Grundsatz "in dubio pro reo" in vollem Umfang anwenden würde. Aber ganz abgesehen davon, daß die Berücksichtigung von Beweisproblemen bei der Interpretation des materiellen Rechts problematisch ist: Wenn es um die angemessene Deutung des § 323 a 8tGB geht, muß die zu dieser Vorschrift entwickelte Dogmatik als Deutungsbasis Berücksichtigung finden, unabhängig von den praktischen Erwägungen, die im Einzelfall hinter den dogmatischen Lösungen stehen mögen. Und die dogmatische "Tatsache", daß eine Bestrafung aus § 323 a 8tGB auch dann möglich ist, wenn der Täter dieselbe Tat - die Identität nach den Kriterien des äußeren Handlungsablaufs beurteilt - auch im Zustand der Nüchternheit begangen hätte, spricht gegen die Interpretation der Rauschtat als Indiz der Gefährlichkeit des Rausches und gegen das Verständnis des § 323 a 8tGB als abstraktes Gefährdungsdelikt. 2. Die Bedeutung der rauschbedingten Handlungsunfähigkeit Das gleiche gilt für die Herausnahme der Fälle der Handlungsunfähigkeit des Täters aus dem Anwendungsbereich des § 323 a 8tGB. Der sinnlos Betrunkene, der gegen einen Passanten torkelt, ist nach der h. M. auch dann nicht nach § 323 a 8tGB strafbar, wenn das "Opfer" dadurch das Gleichgewicht verliert und sich beim 8turz schwere, vielleicht tödliche Verletzungen zuzieht126 • Hier hat sich unstreitig die 124 Der Begriff ist weder im rechts technischen Sinne noch so zu verstehen, daß dieses Argument von seiten des Angeklagten vorgebracht werden müßte. Es geht vielmehr um die Verteidigung als Station des Verantwortungsdialogs; dazu unten S. 276 ff. 125 Zum Streitstand Jescheck, AT, S. 473 f. 126 Daß § 323 a hinsichtlich der Rauschtat den sog. "natürlichen Handlungswillen" voraussetzt, ist heute ganz überwiegend anerkannt; vgl. Dreher-

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typische Gefahr des Rauschzustandes (mangelnde Körperbeherrschung) realisiert l27 ; gleichwohl kommt eine Bestrafung aus § 323 a StGB schon nach dessen Wortlaut nicht in Frage, weil erste Voraussetzung einer rechtswidrigen Tat das Vorliegen einer Handlung ist128 • Hier ist die Situation gleichsam umgekehrt wie bei der Kausalitätsproblematik: Dort sprach gegen die behauptete Indizfunktion die Tatsache, daß eine Bestrafung aus § 323 a StGB nicht voraussetzt, daß sich in der Rauschtat die typische Gefahr des Rausches realisiert hat; hier dagegen zeigt sich, daß Fälle, in denen sich die typische Gefahr eines Vollrausches verwirklicht, nicht von § 323 a StGB erfaßt werden129 • 3. Der subjektive Tatbestand bei § 323 a StGB Gegen die Deutung des § 323 a StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt spricht weiter die Notwendigkeit, hinsichtlich der Rauschtat auch Tröndle, § 323 a Rdnr. 11; Lackner, § 323 a Anm. 3 b; LK/Lay, 9. Auf!., § 330 a Rdnr. 9; Brons, JZ 1964, S. 473 ff.; Hirsch, Alkoholdelinquenz in der Bundesrepublik Deutschland, S. 20; Maurach, JuS 1961, 374. Zur Gegenmeinung vgl.

unten Fn. 128. 127 Es sei denn, man wollte als typische Gefahren des Rauschzustands i. S. des § 323 a mit Dencker (NJW 1980, S. 2164) und Lange (ZStW 59 [1940], S. 593) nur die aus der Aufhebung der Einsichts- bzw. Steuerungsfähigkeit resultierenden Gefahren anerkennen; dazu, daß diese Einschränkung ihrerseits mit der Deutung des § 323 a als abstraktes Gefährdungsdelikt kaum vereinbar ist, vgl. oben S. 58. 128 Der Vorschlag, § 323 a auf die Fälle der rauschbedingten Handlungsunfähigkeit auszudehnen, verstößt daher gegen das Analogieverbot (so auch GOllner, MDR 1976, S. 187 Fn. 42 a; Lenckner, JR 1975, S. 33). Für diese Ausdehnung aber Backmann, JuS 1975, S. 698 ff., 704; Cramer, Vollrauschtatbestand, S. 122 (gegen ihn Hardwig, GA 1964, S. 149); Schewe, Blutalkohol 1976, S. 87 ff., 92. In der älteren Literatur Domning, Mit Strafe bedrohte Handlungen Schuldunfähiger, 1939, S. 25 ff. (auf der Grundlage eines besonderen Handlungsbegriffs, der auf das Merkmal der Willkürlichkeit verzichtet; dazu Otter, Funktionen des Handlungsbegriffs im Verbrechensaufbau?, 1973, S. 61 f.); Hellmuth Mayer, ZStW 59 (1940), S. 313 f. Nach Schönke/Schröder/Cramer, § 323 a Rdnr. 14, sollen Nichthandlungen jedenfalls dann von § 323 a erfaßt werden, wenn "ein ,fahrlässiges' Verhalten schon darin zu sehen ist, daß sich der Täter im Zustand mangelnder Körperbeherrschung in eine Situation begeben hat, in der er wegen dieses Mangels gefährlich werden konnte" (im Anschluß an Schröder, DRiZ 1958, 221). Aber diese Kombination des § 323 a mit Gesichtspunkten des übernahmeverschuldens dürfte schon daran scheitern, daß der Täter zu dem Zeitpunkt, in dem er sich in die fragliche Situation begibt, nicht schuldfähig ist. Die Berücksichtigung eines im Zustand der Schuldunfähigkeit erfolgten "Vorverhaltens" ist jedenfalls auf der Basis der zum Problemkreis zurechnungsrelevanten Vorverhaltens bisher entwickelten Theorien nicht möglich. 129 So auch Backmann, JuS 1975, S. 704; GOllner, MDR 1976, S. 187 Fn. 42 a; v. Weber, MDR 1952, S. 642. Die "wirkliche" Struktur des Vollrauschtatbestands kommt auch in der Begründung der Straflosigkeit der Nichthandlungen zum Ausdruck: Die Bestrafung wegen Vollrauschs solle zwar die BessersteIlung des berauschten Täters verhindern, nicht aber seine SchlechtersteIlung herbeiführen (Roeder, Das Schuld- und Irrtumsproblem beim Vollrausch, S.233).

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den subjektiven Tatbestand zu berücksichtigen. Daß für die Rauschtat auch im Rahmen des § 323 a StGB Vorsatz erforderlich ist, wenn nur die vorsätzliche Begehung mit Strafe bedroht ist, läßt sich auf der Grundlage der herrschenden Meinung nicht erklären; denn die typische Gefahr des Rausches kann sich etwa auch in einer nicht vorsätzlichen Sachbeschädigung realisieren13o • Andererseits ist die Möglichkeit, der herrschenden Interpretation des § 323 a StGB durch den Verzicht auf den subjektiven Tatbestand der Rauschtat Rechnung zu tragen, spätestens seit der Neufassung durch das EGStGB vom 2. 3.1974 nicht mehr diskutabel; denn zum einen zwingt die Abhängigkeit der Straflimitierung von dem Deliktscharakter der Rauschtat in Abs. 2 (Begrenzung auf die Höhe der für die im Rausch begangene Tat angedrohten Strafe statt, wie bisher, auf die Höhe der für die vorsätzlich begangene Tat angedrohte Strafe) zur Feststellung, ob die Tat vorsätzlich oder fahrlässig begangen wurde131 • Zum anderen ist die fahrlässige Rauschtat nur dr.nn eine "rechtswidrige Tat" im Sinne der verbindlichen Festlegung des § 11 I Nr.5 StGB, wenn die fahrlässige Tatbegehung mit Strafe bedroht ist l32 ; auch die Voraussetzung der "rechtswidrigen Tat" in der Neufassung des § 323 a StGB erfordert die Entscheidung über vorsätzliche oder fahrlässige Begehung der Rauschtat133 • Der Nachweis des subjektiven Tatbestands der Rauschtat ist jedenfalls prinzipiell erforderlich 134 • Eine andere Frage ist, ob die Feststellung einer vorsätzlichen Begehung der Rauschtat nach Regeln vorgenommen werden darf, die von den für die Feststellung vorsätzlichen HandeIns ansonsten geltenden Regeln partiell abweichen. Angesprochen ist damit das Problem der Bedeutung eines rauschbedingten Irrtums. Dazu wird teilweise die Auffassung vertreten, auch dieses Problem habe sich, soweit es um den rauschbedingten Tatbestandsirrtum gehe, durch die Neufassung des Abs.2 erledigt; eine von den allgemeinen Regeln abweichende Behandlung des rauschbedingten Tatbestandsirrtums sei nicht mehr möglich, weil die Straflimitierung des Abs. 2 sich an dem konkreten Charakter der Rauschtat als Vorsatz- oder Fahrlässigkeitstat orientiere135 • Es erscheint aber fraglich, ob man das 130 Konsequent hält Klee, JW 1939, S. 548, die Unterscheidung zwischen vorsätzlich und fahrlässig begangener Rauschtat für "willkürlich und unfruchtbar". 131 So mit Recht Schönke/Schröder/Cramer, § 323 a Rdnr. 16. 132 Vgl. Dreher/Tröndle, § 11 Rdnr. 6. 133 So schon für den Begriff der "mit Strafe bedrohten Handlung" in § 330 a a. F., LK/Lay, 9. Aufl., § 330 a Rdnr. 57. 134 Das war auch schon zu § 330 a a. F. überwiegende Meinung; Nachweise bei Schönke/Schröder, 17. Auf!., § 330 a Rdnr. 16 ff. m So Schönke/Schröder/Cramer, § 323 a Rdnr. 18.

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Problem des rauschbedingten Tatbestandsirrtums damit nicht vorzeitig für tot erklärt; denn Abs. 2 zwingt zwar zu einer Berücksichtigung des subjektiven Tatbestands, d. h. zu einer Entscheidung über vorsätzliche oder fahrlässige Tatbegehung, sagt aber nicht, ob diese Entscheidung nach den allgemeinen oder nach modifizierten Regeln der Vorsatz bestimmung zu erfolgen hat. Eine entsprechende Modifizierung des Vorsatzbegriffs scheitert indes sowohl an der ausdrücklichen Bestimmung des § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB als auch an den "Sachgesetzlichkeiten" der Vorsatzdogmatik. Die Bestimmung des § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB läßt keinen Raum für eine Differenzierung nach den Ursachen der vorsatzausschließenden Unkenntnis von Tatbestandsmerkmalen. Daß es allein auf die tatsächliche Kenntnis ankommt, wird von der Regelung des § 16 Abs. 1 Satz 2 StGB bestätigt, die an die verschuldete Unkenntnis (lediglich) einen Fahrlässigkeitsvorwurf knüpft. Ein möglicher Versuch, die gesetzliche Regelung im Wege der "teleologischen Reduktion" in ihrem Anwendungsbereich zu beschneiden oder durch die Konstruktion von "Ausnahmeregeln" zu überspielen, wäre zum Scheitern verurteilt, weil § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB keine akzidentelle Regelung, sondern eine notwendige (partielle) Bestimmung dessen enthält, was sinnvollerweise als Vorsatz bezeichnet werden kann und weil ein solcher Versuch in der Konsequenz zur Auflösung einer auf die Unterscheidung von Vorsatz und Fahrlässigkeit gegründeten Dogmatik führen müßte. Man kann diesen Schwierigkeiten auch nicht dadurch entgehen, daß man zwischen den (unbeachtlichen) rauschbedingten Vorstellungen und der in jedem Fall beachtlichen Willensrichtung des Täters unterscheidet136 ; der Wille zur Tatbestandsverwirklichung setzt die Kenntnis (der Möglichkeit) des Vorliegens der den Tatbestandsmerkmalen korrespondierenden Tatumstände voraus. Die Regeln der Vorsatzdogmatik verweigern sich einer Modifikation, die den "Ausschluß" des rauschbedingten Tatbestandsirrtums begründen könnte137 • Mit der schlichten Feststellung, die angeblich notwendige Unbeachtlichkeit des rauschbedingten Irrtums sei dogmatisch unbefriedigend 138 , kann dieses Ergebnis nicht abgetan werden. Der Ausweg, den die Verfechter der Unbeachtlichkeit des rauschbedingten Irrtums hier suchen, ist bemerkenswert. Man verzichtet auf 136 Auf diese Unterscheidung läuft z. T. die Rechtsprechung des Reichsgerichts (vgl. RGSt 73, 11) und des Bundesgerichtshofs (BGH NJW 1953, 1442; BGHSt 18, 235) hinaus; ausführlich und kritisch zu dieser Rechtsprechung LK/Lay, 9. Aufl., § 330 a Rdnr. 54 ff.; vgl. auch Hirsch, Alkoholdelinquenz in der Bundesrepublik Deutschland, S. 18 ffi. Nachw. Fn. 56. 137 Gegen einen entsprechenden Eingriff in die Systematik des Vorsatzbegriffs etwa auch eramer, Vollrauschtatbestand, S. 88; LK/Lay, 9. Aufl., § 330 a Rdnr. 54. 138 So Traub, JZ 1959, S. 11.

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den Versuch, diese Unbeachtlichkeit mit Hilfe dogmatischer Regeln zu begründen oder sie auch nur in solchen Regeln zu formulieren; statt dessen werden die rauschbedingten Irrtümer einfach für bedeutungslos erklärt. Was hier geschieht, ist nichts anderes als eine partielle Suspendierung der Strafrechtsdogmatik; es werden Regeln formuliert, auf deren Integration in das Regelsystem der Strafrechtsdogmatik von vornherein verzichtet wird. So etwa, wenn der Bundesgerichtshof feststellt: "Vorstellungslücken und Irrtümer, die allein in der Volltrunkenheit des Täters ihre Ursache haben ... werden nicht zu seinen Gunsten berücksichtigt Cl). Sie stehen der Annahme einer mit Strafe bedrohten Handlung nicht entgegen"139. Der rauschbedingte Irrtum wird damit aus dem dogmatischen Regelzusammenhang herausgenommen, er wird nicht zu Gunsten des Täters berücksichtigt. Das heißt aber nichts anderes, als daß dem Täter die Berufung auf derartige Irrtümer versagt wird. Er wird mit dem Argument, er habe nicht gewußt, was er tat, nicht gehört, weil ihm dieses Nichtwissen zugerechnet werden kann. Bei der vom Bundesgerichtshof formulierten Regel handelt es sich um eine dogmatische Regel zweiter Stufe140 . Für die Annahme einer solchen Regel aber fehlt jeder Anhaltspunkt im Gesetz. Daß die typische Gefährlichkeit eines Berauschten gerade auch auf der Möglichkeit der Verkennung von Situationen beruhe141 , vermag die Ausdehnung der Bestimmung des § 323 a StGB nicht zu begründen. Die vom Bundesgerichtshof aufgestellte Regel formuliert auch nicht ein elementares Prinzip gerechter Zurechnung, über dessen vorpositive Geltung Konsens erzielt werden könnte. Die Frage, ob das Problem des rauschbedingten Irrtums im Modell des "Verantwortungsdialogs" die Station des Vorwurfs oder die der Verteidigung betrifft - eine Frag,e, an der sich die Zulässigkeit der Berücksichtigung von Argumentationsregeln zu Lasten des Beschuldigten entscheidet 142 braucht daher nicht aufgeworfen zu werden. Auch der rauschbedingte Tatbestandsirrtum ist bei der Rauschtat folglich zwingend zu berücksichtigen143 - ein weiteres Argument gegen die Deutung des § 323 a StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt. 139 BGH NJW 1953, 1442. Die gleiche Formulierung ("nicht zu seinen Gunsten zu berücksichtigen") findet sich in der Entscheidung des BGH vom 20. 10. 1967,4 StR 410/67; zit. nach LK/Lay, 9. Aufl., § 330 a, Rdnr. 56. 140 Die Unterscheidung zwischen dogmatischen Regeln erster und zweiter Stufe liegt auch der Darstellung bei LK/Lay, 9. Auf!., § 330 a Rdnr. 54, zugrunde: Von der Möglichkeit, den Vorsatzbegriff so zu modifizieren, daß der Vorsatz von einem rauschbedingten Tatbestandsirrtum nicht berührt werde, sei die Frage zu unterscheiden, "ob § 330 a ... dahin ausgelegt werden kann, daß ein rauschbedingter Tatbestandsirrtum bei der Beurteilung der Rauschtat ,nicht zu beachten ist' ... " (Hervorhebungen bei Lay). 141 So RGSt 73, 17; BGH NJW 1953, 1442. 142 Dazu unten S. 288 f. 143 So auch Schönke/Schröder/Cramer, § 323 a Rdnr. 18; SK/Horn, § 323 a

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Dagegen ist sowohl hinsichtlich des rauschbedingten Verbotsirrtums als auch hinsichtlich des rauschbedingten Erlaubnistatbestandsirrtums eine mit der herrschenden Deutung des § 323 a 8tGB harmonierende Lösung möglich, weil in beiden Fällen nach herrschender Meinung das Erfordernis vorsätzlicher Tatbegehung nicht berührt ist. Hinsichtlich des Erlaubnistatbestandsirrtums ist dieses Ergebnis freilich weder dogmatisch144 außer 8treit noch wertungsmäßig unproblematisch145 ; ein schwerwiegendes Argument gegen die herrschende Interpretation des Vollrauschtatbestands läßt sich auf der Basis der herrschenden Irrtumsdogmatik aus den verbleibenden Bedenken indes nicht gewinnen. 4) Probleme der Teilnahmedogmatik beim Vollrauschtatbestand (§ 323 a 8tGB) Entscheidend gegen die herrschende Interpretation des § 323 a 8tGB sprechen weiter die Konsequenzen, die sich aus ihr im Bereich der Teilnahmedogmatik146 ergeben und die mit den hier tatsächlich vertretenen Auffassungen nicht zur Deckung zu bringen sind. Das gilt in besonderem Maße für das Problem der "Eigenhändigkeit" des Vollrauschtatbestands. Die Frage, ob § 323 a 8tGB auch in mittelbarer Täterschaft verwirklicht werden könne, wird, soweit ersichtlich, ausnahmslos verneint147 ; auch Autoren, die der Konzeption eigenhändiger Delikte prinzipiell ablehnend gegenüberstehen, sehen sich hier zu einer Ausnahme gezwungen148 • In der Tat lassen sich für diese Auffassung gewichtige Argumente ins Feld führen. Zunächst spricht die reflexive Formulierung "wer sich .. . versetzt" gegen die Einbeziehung dessen, der einen anderen in diesen Zustand bringtt 49 • Freilich sollte man dieses Argument nicht überschätzen; denn es wäre zu fragen, ob Rdnr. 12; LK/Lay, 9. Aufl., § 330 a Rdnr. 56; Hardwig, Studien zum Vollrauschtatbestand, S. 478; ders., GA 1964, S. 150; Maurach/Schroeder, BT/2, S.305; Welzel, Das deutsche Strafrecht, S.475; Schüler-Springorum, Der "natürliche" Vorsatz, S. 366 ff. 144 Vgl. dazu Schultz, Die Behandlung der Trunkenheit im Strafrecht. S. 43. 145 Es bleibt die Frage, ob die unterschiedliche Behandlung des Tatbestandsirrtums einerseits, des Erlaubnistatbestandsirrtums andererseits in Abweichung von den für den Erlaubnistatbestandsirrtum allgemein geltenden Regeln gerechtfertigt werden kann. 148 Soweit die Teilnahme am Delikt des § 323 a in Frage steht. Demgegenüber wirft die Beteiligung an der Rauschtat keine Probleme auf, die für die Deutung des § 323 a relevant wären. 147 Vgl. Schönke/Schröder/Cramer, § 323 a Rdnr. 24; Nachw. der älteren Literatur bei LK/Lay, 9. Aufl., § 330 a Rdnr. 71. 148 Vgl. Roeder, Exklusiver Täterbegriff und Mitwirkung am Sonderdelikt, ZStW 69 (1957), S. 223 ff., 252. 149 Das Wortlaut argument steht im Vordergrund bei LK/Lay, 9. Aufl., § 330 a Rdnr. 71. 6'

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die in § 25 Abs.2 Alt. 2 StGB sanktionierte Rechtsfigur der mittelbaren Täterschaft nicht der Sache nach als Anweisung zur Bildung abgeleiteter Tatbestände zu verstehen ist, für die der Wortlaut der auf "unmittelbare" Begehung zugeschnittenen Bestimmungen des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs insofern nicht verbindlich sein könnte. Für eine solche Konzeption spricht einiges; insbesondere, daß der Versuch, das Verhalten des mittelbaren Täters unter den Wortlaut der Gesetzestatbestände zu subsumieren, auch bei als nicht eigenhändig anerkannten Delikten zu erheblichen Schwierigkeiten führt. Ob man sagen kann, der mittelbare Täter, der einen anderen durch Täuschung bestimmt, ihm die Sache eines Dritten zu "besorgen", habe diese Sache "weggenommen", erscheint durchaus problematisch; und die Frage wird wohl nur deshalb nicht mit einem klaren "nein" beantwortet, weil wir gewohnt sind, die Begriffe der Tatbestände vor dem Hintergrund der Möglichkeit der Tatbegehung in mittelbarer Täterschaft zu interpretieren. überspitzt könnte man sagen: Was der Wortlaut (genauer: der Wortsinn) besagt, hängt (auch) davon ab, ob der Tatbestand in mittelbarer Täterschaft verwirklicht werden kann, nicht umgekehrt. Dann aber ist die Berufung auf den Wortlaut zur Entscheidung über die Eigenhändigkeit eines Delikts von fraglichem Wert150 • Besteht man andererseits auf einer streng an den Regeln der Umgangssprache orientierten Auslegung, bleibt nur die Möglichkeit, den gesetzlichen Tatbeständen korrespondierende Tatbestände der mittelbaren Tatbegehung an die Seite zu stellen151 • In diesem Fall könnte der Wortlaut des Gesetzes die Möglichkeit der Tatbegehung in mittelbarer Täterschaft nicht einschränken. Aus diesen Gründen erscheint das Wortlautargument als solches nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Freilich kann man in der Formulierung des § 323 a StGB ein Indiz dafür sehen, daß nach dem Willen des Gesetzgebers nur der sich Berauschende selbst aus dem Tatbestand des § 323 a StGB strafbar sein sollte; in der Tat spielt der "Wille des Gesetzgebers" für die Begründung der Eigenhändigkeit des Vollrauschtatbestands eine wesentliche Rolle l52 • Ob zu Recht, ist allerdings fraglich; denn zum einen kann aus den Äußerungen einzelner Abgeordneter, die allein von den herangezogenen Gesetzesmaterialien belegt werden, nicht 150 Gegen die von Frühauf (Eigenhändige Delikte, 1959) sog. "Wortlauttheorie" überzeugend LK/Roxin, § 25 Rdnr. 32 f. 151 Zum parallel gelagerten Problem, ob die unechten Unterlassungsdelikte den Begehungstatbeständen unterfallen oder ob eigene Unterlassungstatbestände ~ngenommen werden müssen, vgl. einerseits Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S. 252 ff.; Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendung und Strafgesetz, 1974, S. 248 ff.; andererseits Baumann, AT, S. 244; SChönke/Schröder/Stree, Rdnr. 147 vor §§ 13 ff. 152 Vgl. LK/Lay, 9. Aufl., § 330 a Rdnr. 73.

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ohne weiteres auf den Willen des Gesetzgebers geschlossen werden; und zum anderen müßte begründet werden, warum der Wille des Gesetzgebers hier gegenüber teleologischen Erwägungen, die eher für eine Zulassung mittelbarer Täterschaft sprechen, den Vorrang haben soll. Daran, daß der Gesichtspunkt des Gesetzeszwecks bei Zugrundelegung der herrschenden Interpretation des § 323 a StGB tür die Möglichkeit der Tatbegehung in mittelbarer Täterschaft spricht, sind begründete Zweifel wohl nicht möglich. Zu Recht betont Herzberg, die Ausgestaltung des § 323 a als eigenhändiges Delikt sei "vom Gesetzeszweck her nicht sinnvoll, weil der bei Fremden erzeugte Rausch genauso böse Folgen haben kann wie bei einem selber"153. In der Tat: Versteht man den Vollrauschtatbestand als abstraktes Gefährdungsdelikt, dann ist die Beschränkung auf eigenhändige Tatbegehung nicht zu begründen. Der "fremderzeugte" Rausch ist um nichts weniger gefährlich als der selbsterzeugte, im Gegenteil: Wer nicht weiß, daß er Alkohol in einem erheblichen Maß zu sich nimmt (weil ihm ein Zechgenosse heimlich Schnaps ins Bier schüttet), der hat nicht die Möglichkeit, Vorsorge gegen etwaige gefährliche Konsequenzen des zu erwartenden Rauschzustands zu treffen. Die Gefährlichkeit des Rausches ist hier folglich höher zu veranschlagen als bei jemandem, der in der Lage ist, die Gefahren des Vollrausches durch bestimmte Vorkehrungen zu begrenzen. Die Deutung des Vollrauschtatbestandes als abstraktes Gefährdungsdelikt zwingt zur Einbeziehung der mittelbaren Täterschaft. Auch die weiteren, für die Eigenhändigkeit des Delikts vorgebrachten Argumente vermögen nicht zu überzeugen. Die Feststellung, das Gesetz lege nur dem einzelnen selbst die Pflicht zur Kontrolle über sich auf154 , enthält eher die Behauptung der Eigenhändigkeit als eine Begründung für diese und ist sachlich mit der Deutung des § 323 a StGB als Gefährdungsdelikt nicht vereinbar. Zutreffend (auf der Grundlage der herrschenden Deutung des § 323 a) betont Roxin, es gehe bei § 323 a StGB "um die jedermann treffende Pflicht, die Allgemeinheit nicht durch eine möglicherweise folgenschwere Trunkenheit zu gefährden"155; ähnlich 153 Herzberg, Täterschaft und Teilnahme, 1977, S. 11. Eine Bestrafung des mittelbaren Täters würde nach Herzberg de lege lata aber einen Verstoß gegen das Analogieverbot (Art. 103 11 GG, § 1 StGB) bedeuten (a.a.O.). 154 Schönke/Schröder/Cramer, § 323 a Rdnr. 24. 1SS Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 3. Aufl., S. 610 (Anhang). Neuerdings sieht Roxin in der Bestimmung des § 323 a StGB im Anschluß an Jakobs die Festlegung einer "Sonderpflicht" , "die Zurechenbarkeit nicht zu vernichten" (4. Aufl., 1984, S. 635). Diese Interpretation des § 323 a stimmt mit der hier vorgeschlagenen Deutung darin überein, daß § 323 a Zurechenbarkeit garantieren soll - nach der hier vertretenen Auffassung die Zurechenbarkeit der Rauschtat, nach Jakobs und Roxin die Zurechenbarkeit der Vernichtung der Zurechenbarkeit der Rauschtat. Daß die von Jakobs und Roxin angenommene (m. E. höchst fragwürdige) Pflicht eine Sonderpflicht sein soll, wird indes nicht überzeugend begründet. Wenn § 323 a StGB lediglich verbietet,

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hatte schon Herzberg festgestellt, es sei "nicht zu sehen, durch welche außerstrafrechtliche Sonderpflichtstellung der Kreis der Täter in § 330 a ... eingeschränkt sein sollte" 156. Nun zielen beide Argumente lediglich auf die Einordnung des § 323 a StGB bei den "Pflichtdelikten"157; sie richten sich damit nur gegen die systematische Begründung, nicht gegen die Annahme der Eigenhändigkeit. Aber dem Versuch, auf der Grundlage dieser Kritik zu einer befriedigenderen Einordnung des Vollrauschtatbestands zu gelangen, scheinen sich unüberwindliche Schwierigkeiten in den Weg zu stellen, soweit damit die Erwartung einer nicht formalen, sondern wertungsmäßig ausweisbaren, erklärenden Klassifikation verbunden wird. Diesen Erwartungen wird die formal durchaus korrekte Einordnung des Vollrauschtatbestands bei den "täterbezogenen" Delikten, die Herzberg als eine von drei Fallgruppen der eigenhändigen Delikte bildetl58 , nicht gerecht159 .

Roxin hält die von ihm gebildeten drei Fallgruppen im Hinblick auf den Vollrauschtatbestand nicht für erschöpfend und erwägt eine andere, dem § 323 a StGB Rechnung tragende Klassifikation. Vor einer solchen Konsequenz muß freilich gewarnt werden. Bevor eine ansonsten schlüssige dogmatische Kategorisierung im Hinblick auf die vorherrschende Deutung eines Tatbestands aufgegeben wird, sollte diese Deutung selbst einer Prüfung unterzogen werden. Das Ergebnis dieser Prüfung lautet: § 323 a StGB kann in der Tat nicht in mittelbarer Täterschaft begangen werden - einfach deshalb, weil das unrechtsbegründende Verhalten allein in der Rauschtat liegt und das (schuldhafte) Sichbetrinken lediglich als materieller Grund einer Einschränkung der Exkulpation in Betracht kommt. Die Frage, ob das "folgenschwere Sichbetrinken" ein eigenhändiges Delikt ist, stellt sich nicht, weil das Sichbetrinken gar keine deliktische Tätigkeit, sondern lediglich eine zu Exkulpationseinschränkungen führende Verletzung einer Obliegenheit ist. Die Dogmatik der eigenhändigen Delikte wird von § 323 a StGB nicht tangiert 160 . die Zurechnung einer rechtswidrigen Tat unmöglich zu machen, dann ist nicht zu sehen, warum dieses Verbot nicht für jedermann gelten soll. Das Problem der Eigenhändigkeit des § 323 a StGB läßt sich m. E. nur dann lösen, wenn man erkennt, daß die Bestimmung nicht verbietet, sondern verhindert, daß die Zurechnung der Rauschtat unmöglich gemacht wird. 158 Herzberg, Eigenhändige Delikte, ZStW 82 (1970), S. 896 ff., 910. 157 So früher Roxin, vgl. Täterschaft und Tatherrschaft, S. 430 ff. 158 Herzberg, ZStW 82 (1970), S. 921 ff. 159 In diese Richtung geht auch die Kritik von Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 3. Aufl., S. 610 (Anhang), (in die 4. Aufl. 1984 nicht übernommen). 160 Dieser Gedanke klingt schon bei Roxin an: "Sieht man das unrechtsbegründende Verhalten in der im Rausch begangenen Tat, hinsichtlich deren eine mittelbare Täterschaft ohne weiteres möglich ist, so wird die Frage nach Täterschaft und Teilnahme bei der Berauschung gegenstandslos" (Täterschl:ift und Teilnahme, S. 430 f.).

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Aber damit haben wir vorgegriffen. Denn neuerdings hat Haft den Versuch unternommen, Kriterien der "Eigenhändigkeit" von Delikten gerade auch anhand der Struktur des § 323 a StGB zu entwickeln. HaftlGl bestreitet zwar, daß es eine ontologische Struktur der Eigenhändigkeit gebe, daß also bestimmte Delikte ihrem Wesen nach zur Eigenhändigkeit verurteilt seienl62 , sieht aber einen tatsächlichen Zusammenhang zwischen der vom Gesetzgeber getroffenen Entscheidung, bestimmte Tatbestände als eigenhändige Delikte auszugestalten, und der Struktur dieser Delikte: Die Eigenhändigkeit sei ein, wenn auch subsidiäres, Mittel zur "Pflicht- und damit Tatbestandskonturierung"163; dementsprechend bestehe eine ursächliche Beziehung "zwischen Tatbeständen mit problematischer Rechtsguts- oder/und Pflichtstruktur und der Ausformung solcher Tatbestände zu eigenhändigen Delikten"lG4. Bei § 323 a StGB nun sei festzustellen, "daß sowohl die Pflichtseite als auch die Rechtsgutseite ... von nicht zu überbietender Vagheit sind"165. Da inhaltliche Mittel zur Eindämmung dieser Vagheiten nicht in Sicht seien, bleibe nur das "Instrument der Eigenhändigkeit"166. So treffend die Feststellungen Hafts zur Problematik der Rechtsgutsund Pflichtstruktur des § 323 a StGB sind, so diskussionsbedürftig scheint mir ihr Einsatz zur Erklärung der Eigenhändigkeit dieser Bestimmung zu sein. Bedenken erweckt schon die Deutung der Eigenhändigkeit als Mittel zur Konturierung von Tatbeständen mit vager Pflicht- und/oder Rechtsgutstruktur. Denn es ist nicht zu übersehen, daß die Ausformung eines Tatbestands zu einem eigenhändigen Delikt diesem nur in einer ganz bestimmten Richtung Konturen zu verleihen vermag; man könnte sogar weitergehend behaupten, diese Ausformung verleihe einem Tatbestand lediglich andere, nicht aber schärfere Konturen. Das läßt sich gerade am Beispiel des § 323 a StGB verdeutlichen. Die von Haft zu Recht hervorgehobenen Probleme hinsichtlich der Verhaltensnorm wie des geschützten Rechtsguts werden durch die Erhebung des Vollrauschtatbestands zum eigenhändigen Delikt nicht entschärft, die entsprechenden Vagheiten nicht gemildert. Das ist auch nicht zu erwarten, weil die Kategorie der Eigenhändigkeit zu problemspezifisch ansetzt, als daß mit ihrer Hilfe aus der Struktur des Tatbestands resultierende Schwierigkeiten ausgeräumt werden könnten. 161 Haft, JA 1979, S. 651 ff. (die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Arbeit). 162 S. 653 f. 163 S.655. 164 S.654. 165 S.657. 168 S.657.

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Weiter ist zu fragen, ob die Beziehung der Eigenhändigkeit auf eine problematische Pßichten- und/oder Rechtsgutstruktur des Tatbestands nicht auf mögliche Konkretisierungen des analysierten Zusammenhangs verzichtet. Es könnte sich lohnen, der Frage nachzugehen, weshalb Tatbestände mit extrem vager Pßichten- und Rechtsgutskomponente wie § 323 a StGB überhaupt gebildet werden und weshalb sie von Bestand sind. Haft erläutert, worin diese Vagheiten bestehen und weist damit in die richtige Richtung; aber er verzichtet auf das damit gewonnene Maß an Konkretisierung, wenn er diese Erläuterungen nur zum Nachweis der - für ihn entscheidenden - Vagheit der Bestimmung verwendet. Dabei führen die Feststellungen, daß eine Verhaltensnorm des § 323 a StGB nicht zu identifizieren ist167 und daß keine der zu der Frage des geschützten Rechtsguts vertretenen Theorien zu befriedigen vermag168 , gleichsam von selbst zu der richtigen Lösung: Ist eine Verhaltensnorm nicht auszumachen, dann kann § 323 a StGB nur als Formulierung einer Zurechnungsregel verstanden werden; läßt sich ein geschütztes Rechtsgut nicht identifizieren, dann kann das Sichberauschen nicht als rechtsgutsverletzende Handlung verstanden werden. Beides führt zu der richtigen Lösung des Eigenhändigkeitsproblems bei § 323 a StGB; das Problem löst sich, indem es sich auflöst. Die hinsichtlich der Eigenhändigkeit des § 323 a StGB festzustellenden Ungereimtheiten zeigen sich auch bei der Behandlung der Teilnahmeproblematik durch die h. M. Die Möglichkeit einer strafbaren Teilnahme am Delikt des § 323 a StGB wird überwiegend abgelehnt16D ; soweit sie zugelassen wird, geschieht das meistenteils vor dem Hintergrund einer einengenden Deutung des Vollrauschtatbestands 170 • Aber auch und gerade auf der Basis der Deutung des § 323 a als abstraktes Gefährdungsdelikt müßte die Strafbarkeit des Anstifters und des Gehilfen bejaht werden; warum straflos bleiben soll, wer einen anderen S.656. S.656. 169 Vgl. Schönke/Schröder/Cramer, § 323 a Rdnr. 25; Lackner, § 323 a Anm. 6; LK/Lay, 9. Aufl., § 330 a Rdnr. 73; Welzel, Das deutsche Strafrecht, S. 476. 170 Bejaht wird die Möglichkeit strafbarer Teilnahme von Lange (ZStW 59 [1940], S. 589; JZ 1953, S. 409), der § 323 a als konkretes Gefährdungsdelikt versteht; von Cramer (GA 1961, S. 104 ff.), der § 323 a auf die Fälle beschränkt, in denen das Sichberauschen nach der persönlichen Veranlagung des Täters und den Umständen der Berauschung geeignet war, zu strafbaren Handlungen zu führen (a.a.O., S. 105 und Vollrauschtatbestand S. 106), ferner von Maurach (Schuld und Verantwortung, S. 138; Deutsches Strafrecht BT, 5. Auf!., 1969, S. 514 f.). Auf dem Boden der herrschenden Interpretation des § 323 aals abstraktes Gefährdungsdelikt SK/Horn, § 323 a Rdnr. 9; Maurach-Schroeder, BT/2, S. 307; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 431 (zur Auffassung Roxins vgl. aber auch unten bei Fn. 178); Schmidhäuser, Strafrecht BT, Kap. 15 Rdnr.33. 167 168

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zu einem strafbaren gefährlichen Tun anstiftet, ist nicht zu sehenl7l • Die für die Straflosigkeit vorgebrachten Argumente sind nicht geeignet, eine Suspendierung der §§ 26, 27 StGB zu begründen. Soweit geltend gemacht wird, nach dem Gesetzeswillen solle nur dem sich Berauschenden selbst das Berauschen untersagt werden172 , fehlt dieser Argumentation, von allen anderen, oben geltend gemachten Bedenken abgesehen, hier schon die Schlüssigkeit, wenn man sie i. S. einer Kennzeichnung des § 323 a StGB als "Pflicht delikt" oder als eigenhändiges Delikt versteht; denn unstreitig scheidet bei diesen Deliktsgruppen (zwar mittelbarer Täterschaft, aber) nicht die Teilnahme im engeren Sinne aus 173 • Sollte damit aber gemeint sein, der Gesetzgeber habe die Teilnahme am Delikt des Vollrausches nicht unter Strafe stellen wollen, so wäre dazu festzustellen, daß dieser Wille jedenfalls im Gesetz keinen Ausdruck gefunden hat 174 und, soweit ersichtlich, auch nicht hinreichend belegt werden kann175 • Auch die Bedenken, die gegen eine bei Teilnehmerstrafbarkeit drohende "unerwünschte" Ausdehnung der strafrechtlichen Haftung, insbesondere auf Wirte und Zechgenossen, erhoben werden176 , können, so berechtigt sie im Hinblick auf das praktische Ergebnis auch sein mögen, den Widerspruch zwischen dem Verzicht auf Teilnahmebestrafung und der Konzipierung des § 323 a StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt nicht beseitigen. Denn wenn das Sichberauschen eine rechtswidrige und strafbare Tätigkeit ist, deren Gefährlichkeit ggfs. die Verhängung einer fünf jährigen Freiheitsstrafe rechtfertigt, dann ist nicht zu sehen, warum die strafrechtliche Haftung dessen, der zu diesem Tun anstiftet, hier zu einer "unerwünschten" Ausdehnung der 171 Daß nach der herrschenden Interpretation des § 323 a strafbare Teilnahme möglich sein müßte, erkennt Seier, JuS 1979, S. 735 Fn. 45. 172 LK/Lay, 9. Aufl., § 330 a Rdnr. 73; Schönke/Schröder/Cramer, § 323 a Rdnr.25. 173 So auch Cramer, GA 1961, S. 104; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 431; SK/Horn, § 323 a Rdnr. 9 (mit dem Hinweis, daß diese Interpretation lediglich zur Folge hätte, daß für den Teilnehmer § 28 Abs. 1 StGB gelten würde). 174 So auch Cramer, GA 1961, 104; anders LK/Lay, 9. Aufl., § 330 a Rdnr. 73. Die Formulierung "wer sich versetzt" kann - entgegen Lay - nicht für die Straflosigkeit des Teilnehmers in Anspruch genommen werden; denn die Sprachregeln erlauben es selbstverständlich, von einer Anstiftung oder einer Beihilfe zum Sich-in-den-Rausch-Versetzen zu reden. 175 Die Reichstagsprotokolle (4. Wahlperiode, 21. Ausschuß, 117. Sitzung, S. 4 ff.), auf die Hellmuth Mayer (ZStW 59 [1940], 334), Redelberger (NJW 1952, S. 922) und LK/Lay, 9. Aufl. § 330 a Rdnr. 73 verweisen, geben überwiegend nur Äußerungen einzelner Abgeordneter wieder. - Zur Möglichkeit einer sinnvollen Interpretation des Arguments auf der Basis der hier vertretenen Deutung des Vollrauschtatbestands vgl. unten S. 90 f. 178 So LK/Lay, a.a.O.; Hellmuth Mayer, a.a.O.; Haft, Strafrecht BT, S. 270.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

Strafbarkeit führen soll. "Unerwünscht" ist diese "Ausdehnung", die in Wirklichkeit nichts anderes darstellt als die Anwendung der Bestimmung nach den Regeln des Allgemeinen Teils (§ 26) des Strafgesetzbuches, doch allenfalls im Hinblick auf die tatsächlichen Trinkgewohnheiten und die zugehörigen sozialen bzw. wirtschaftlichen Institutionen. Aber Sitten, die von strafrechtlichen Verboten erfaßt werden, sind eben Unsitten, sofern diese Verbote eine Berechtigung haben. Man muß sich entscheiden: Entweder nimmt man die Interpretation des § 323 a StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt ernst, dann führt kein Weg an der Teilnehmerstrafbarkeit vorbei, mag das auch auf erhebliche soziale Widerstände stoßen. Oder man orientiert sich bei der Interpretation des § 323 a StGB an der sozialen Einschätzung des Alkoholgenusses, dann ist die herrschende Interpretation des § 323 a StGB nicht aufrechtzuerhalten. Welche der beiden Möglichkeiten m. E. den Vorzug verdient, kann nach dem bisher Ausgeführten nicht zweifelhaft sein. Wichtiger als die Frage der "richtigen" Lösung des Teilnahmeproblems ist die Einsicht, daß der Diskussion um die Strafbarkeit des Teilnehmers eine andere als die "offizielle" Interpretation des § 323 a StGB zugrundeliegt. Die Konsequenzen aus der Deutung der Bestimmung als abstraktes Gefährdungsdelikt, nämlich Strafbarkeit des Teilnehmers ohne Rücksicht auf ein "Verschulden" hinsichtlich der Rauschtat, wird nur selten gezogen177 • Roxin fordert darüber hinaus, daß der Teilnehmer mit der Möglichkeit rechnen mußte, der Berauschte werde irgendwelche rechtswidrige Handlungen vornehmen (was sich entgegen BGHSt 10, 247 auch im Regelfall nicht von selbst verstehe)l78, und gelangt damit zu einer Lösung, die eher der Auffassung des § 323 a StGB als konkretes Gefährdungsdelikt entspricht. Nicht nur die dogmatischen Ergebnisse, auch Argumente, die in der Diskussion eine zentrale Rolle spielen, erschließen sich dem Verständnis nur, wenn man sie vor dem Hintergrund der hier behaupteten "Tiefenstruktur" des Vollrauschtatbestands sieht. Das gilt etwa für das Argument, das Gesetz lege in § 323 a StGB nur dem einzelnen die Pflicht zur Kontrolle über sich selbst auf1 79 . Im Sinne der Dogmatik der Pflichtdelikte erscheint dieses Argument, sofern es gegen die Möglichkeit einer Teilnehmerstrafbarkeit ins Feld geführt wird, schlicht als fehlerhaft; und man hat sich bisher damit begnügt, diese Fehlerhaftigkeit - zu Recht - zu konstatieren. Aber man hat sich nicht zu Recht damit 177 SK/Horn, § 323 a Rdnr. 9; Maurach/Schroeder BT/2, S. 307; vgl. dazu schon oben Fn. 170. 178 Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 431. 179 Vgl. dazu oben S. 89.

I. Das Tatbestandsmodell

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begnügt. "Fehlerhaft" erscheinen dogmatische Argumentationen vor dem Hintergrund von Deutungen, die sich an bestimmten dogmatischen Begriffen und Theorien orientieren. Die Kritik an dem fraglichen Argument ist bestimmt durch die Dogmatik der Pflichtdelikte, derzufolge auch bei diesen Delikten strafbare Teilnahme möglich ist. Aber diese Relativität der Fehlerhaftigkeit dogmatischer Argumentationen auf eine bestimmte dogmatische Systematik muß Anlaß sein, bei gehäuftem Auftreten "fehlerhafter" Argumentationen die von dieser Systematik bereitgestellten Deutungsmuster zu überprüfen. Die Starrheit solcher Deutungsmuster vermag den Zugang zu dem vernünftigen Sinn der Argumentation zu verstellen. Ich meine, daß dies hier der Fall ist. Versteht man die "Pflicht" zur Selbstkontrolle als Rechtspflicht, dann ist freilich der Weg zur Dogmatik der Pflichtdelikte und damit zur Verwerfung des Arguments vorgezeichnet. Aber dieses Verständnis ist weder notwendig noch auch nur naheliegend. Rechtspflichten können sinnvoll nur als Pflichten gegenüber anderen gedacht werden; schon von daher ist die Annahme einer Rechtspflicht zur Selbstkontrolle problematisch. Natürlich muß man die Frage der Verpflichtungsstruktur von der des Pflichtinhalts trennen; man kann anderen gegenüber zu bestimmten Handlungen bzw. Unterlassungen sich selbst gegenüber, und sich selbst gegenüber zu bestimmten Handlungen bzw. Unterlassungen anderen gegenüber verpflichtet sein. Aber die "Pflicht zur Selbstkontrolle" scheint mir nicht nur hinsichtlich des Pflichtgehalts, sondern auch hinsichtlich der Pflichtstruktur reflexiv zu sein: Man kann anderen gegenüber zur Unterlassung von Gefährdungen verpflichtet sein, die sich aus mangelnder Selbstkontrolle ergeben; zur Selbstkontrolle als solcher ist man nur sich selbst gegenüber verpflichtet. Ist das richtig, dann handelt es sich bei der "Pflicht" zur Selbstkontrolle nicht um eine Rechtspflicht, sondern um eine Obliegenheit: Jedermann ist gehalten, sich beim Alkoholgenuß zu kontrollieren; tut er das nicht, so verletzt er damit zwar keine Rechtspflicht, aber er kann sich jedenfalls nicht uneingeschränkt auf seine Schuldunfähigkeit berufen. Eine solche Obliegenheit ist offensichtlich gemeint, wenn aus der Begrenzung der "Pflicht" zur Selbstkontrolle auf den Sichbetrinkenden der Schluß auf die Straflosigkeit der Teilnahme gezogen wird; denn eine strafbare Teilnahme an einer - notwendig straflosen - Obliegenheitsverletzung ist in der Tat nicht denkbar. Hinter dem vordergründig falschen Argument steht die Einsicht in die Tiefenstruktur des § 323 a StGB. 5) Rücktritt Nicht vereinbar mit der herrschenden Interpretation des § 323 a StGB ist schließlich auch die Anerkennung des Rücktritts von der Rauschtat

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

als Strafaufhebungsgrund180 für das Delikt des § 323 a StGB181; dies gilt unabhängig davon, ob man zu diesem Ergebnis aufgrund einer bestimmten Interpretation des Vollrauschtatbestands oder durch analoge Anwendung des § 24 StGB gelangt. Unmittelbar aus der Bestimmung des § 323 a StGB ergibt sich die Beachtlichkeit des Rücktritts von der Rauschtat nach der Interpretation von Horn 182 und Dencker183 , derzufolge § 323 a StGB nur dann eingreift, wenn die Rauschtat allein wegen rauschbedingter Schuldunfähigkeit des Täters straflos bleiben muß. Damit ist die von der h. M. vertretene Auffassung zwingend begründet; aber diese Interpretation des § 323 a StGB widerstreitet seiner Deutung als abstraktes Gefährdungsdelikt184 , weil sie dem Rausch in § 323 a StGB nicht als allgemeingefährlichem Zustand, sondern als strafausschließendem Umstand Bedeutung zumißt. Betrachtet man die Rauschtat dagegen mit der h. M. als Indiz der Gefährlichkeit des Rausches, dann kann es auf die Gründe der Straflosigkeit nicht ankommen - es sei denn, diese wären geeignet, die indizielle Bedeutung der Rauschtat für die Gefährlichkeit des Rausches zu entkräften. Damit ist die Auffassung angesprochen, die eine analoge Anwendung des § 24 StGB damit begründet, daß sich im Rücktritt letztlich die Ungefährlichkeit oder doch eine - verglichen mit der durch die Tatbegehung indizierten - wesentlich geringere Gefährlichkeit des Rausches erweist1 85 . Aber diese Argumentation erliegt dem bereits monierten188 Trugschluß von der Nicht-Realisierung einer Gefahr auf deren NichtVorliegen. Wenn ein Betrunkener, durch eine nichtige Bemerkung gereizt, sich mit geschwungenem Messer auf den Provokateur stürzt, dem Fliehenden nachsetzt, um ihn zu töten, kurz vor Erreichen seines Opfers zur Besinnung kommt und von seinem Verhalten abläßt, wird man kaum sagen können, daß sich letztlich die Ungefährlichkeit oder eine nur geringe Gefährlichkeit seines Rausches erwiesen habe. Das Beispiel mag extrem sein; aber es verdeutlicht einen wesentlichen Zusammenhang, der sich theoretisch so formulieren ließe: Ob der Täter von dem 180 Der Begriff wird hier im untechnischen Sinne verstanden; zur Frage des systematischen Standorts des Rücktritts innerhalb des Verbrechensbegriffs wird mit der Verwendung des Begriffs nicht Stellung genommen. 181 BGH bei Dallinger, MDR 1971, S. 362; Blei, Strafrecht 11, S. 366; Cramer, JuS 1964, S. 367; SChönke/Schröder/Cramer, § 323 a Rdnr. 21; SK/Horn, § 323 a Rdnr. 19; Dencker, NJW 1980, S. 2165; Ranft, MDR 1972, S. 743. 182 SK/Horn, § 323 a Rdnr. 19. 183 Dencker, NJW 1980, S. 2161. 18~ Dazu schon oben S. 58. 185 Ranft, MDR 1972, S. 743; Blei, Strafrecht 11, S. 366 (für den Rücktritt im Rauschzustand); vgl. auch Cramer, JuS 1964, S. 364. 186 Vgl. oben S. 67.

I. Das Tatbestandsmodell

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Versuch der Straftat zurücktritt oder nicht, liegt in seiner freien Entscheidung; es ist, vom Standpunkt der Umwelt und der betroffenen Dritten aus gesehen, zufällig. Daß ein Schaden zufällig nicht eintritt, widerlegt aber nicht die Annahme einer Gefahr. Man kann auch nicht argumentieren, der Rücktritt habe gezeigt, daß der Rausch nicht stark genug war, die Hemmungen des Täters zu überwinden; denn die Annahme der "Freiwilligkeit" des Rücktritts entzieht diesen der Deutung nach einem deterministischen psychodynamischen Modell von Hemmung und Antrieb. Erst recht unvereinbar mit dem Gefährdungsmodell ist die Zuerkennung von Straflosigkeit bei im nüchternen Zustand erfolgtem Rücktritt von der Rauschtat187 • Der Rücktritt im Zustand der Nüchternheit vermag die Ungefährlichkeit des Rausches nicht zu erweisen188 • 6) Strafprozessuale Probleme des § 323 a StGB Die Behandlung der von § 323 a StGB aufgeworfenen strafprozessualen Probleme ist überwiegend konsequent im Sinne der Deutung des Vollrauschtatbestands als abstraktes Gefährdungsdelikt; freilich ist diese Konsequenz nicht ohne Gewaltsamkeiten und auch nicht ohne Ausnahme durchzuhalten. Die "Tiefenstruktur" des § 323 a StGB drängt im Bereich des Prozessualen weniger nachdrücklich an die Oberfläche als bei den materiellrechtlichen Problemen; ganz verleugnen läßt sie sich auch hier nicht. C\) Der Urteilstenor

Folgerichtig ist die Beschränkung des Urteilstenors auf die Verurteilung wegen eines Vergehens des vorsätzlichen oder fahrlässigen Vollrauschs189• Ist es Aufgabe der Urteilsformel, das begangene Unrecht zu kennzeichnen190 , dann verbietet sich die Einbeziehung der "unrechtsindifferenten" Rauschtat. Freilich bleibt das Unbehagen, daß es für die Kennzeichnung des Unrechts bedeutsam sein soll, ob der Täter sich vorsätzlich oder fahrlässig betrunken hat191 , nicht aber, ob er im Zustand der Volltrunkenheit eine Sachbeschädigung oder einen Totschlag begangen hat. Aber es ergeben sich insofern keine neuen, über die gegen die angebliche Unrechtsindifferenz der Rauschtat erhobenen Bedenken hinDafür SChönke/Schröder/Cramer, § 323 a Rdnr. 2l. So Blei, Strafrecht 11, S. 366; Ranft, MDR 1972, S. 743; ders., JA 1983, S.243. 189 Ganz herrschende Meinung; vgl. Schönke/Schröder/Cramer, § 323 a Rdnr. 35; LR/GoZZwitzer, § 260 Rdnr. 59; Schlosky, JW 1936, S. 3428; RGSt 69, 188; BGH bei Spiegel, DAR 1977, 142. 190 BGHSt 27, 287. 181 BGH, NJW 1969, 1581. 187 188

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

ausreichende Einwände 192 • Da die Fassung der Urteilsformel keine Weichenstellung für das Verfahren bedeutet, resultieren aus der Diskrepanz zwischen Oberflächen- und Tiefenstruktur an diesem Punkt auch keine prozessualen Schwierigkeiten.

ß)

Die Privatklage

Anderes gilt für die Frage, ob der Charakter der Rauschtat als Privatklagedelikt auf den Tatbestand des § 323 a StGB durchschlägt oder ob dieser in jedem Fall als Offizialdelikt zu betrachten ist. An diesem Punkt führt ihre Bereitschaft, die Konsequenzen aus der Deutung des § 323 a StGB zu ziehen193 , die h. M. in Schwierigkeiten. Fraglich ist zunächst, wie man die sich aufdrängende Analogie zu § 323 a Abs.3 abweisen kann. Verneint diese Bestimmung ein von dem Genugtuungsinteresse des durch die Rauschtat Verletzten unabhängiges allgemeines Strafverfolgungsinteresse, dann müßte diese Wertung konsequent dazu führen, die allgemeinen Regeln über die Abgrenzung zwischen staatlicher und priv,ater Strafverfolgungsinitiative anzuwenden. Sachliche Gründe, die eine Ungleichbehandlung der Strafantragsund der Privatklagedelikte rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich. Darüber hinaus ergeben sich auch erhebliche praktische Schwierigkeiten. Stellt sich nach erhobener Privatklage im Strafverfahren heraus, daß die alkoholbedingte Schuldunfähigkeit des Angeklagten zum Tatzeitpunkt nicht ausgeschlossen werden kann, müßte das Verfahren nach § 389 I StPO eingestellt werden; der Privatkläger hätte in diesem Fall nach § 471 11 StPO die Verfahrenskosten und die notwendigen Auslagen des Beschuldigten zu tragen194• Zwar könnten diese Konsequenzen im Wege der übernahme der Verfolgung durch den Staatsanwalt (§ 37711 StPO) vermieden werden195 , da Vollrausch und Rauschtat nach herrschender Meinung als eine Tat im Sinne des § 264 StPO anzusehen sind; hält aber die Staatsanwaltschaft entgegen der Auffassung des Gerichts die (eventuell verminderte) Schuldfähigkeit des Angeklagten m Sieht man das "eigentliche" Unrecht des § 323 a in der Rauschtat, dann muß diese folgerichtig im Urteilstenor Erwähnung finden; dafür Hardwig, Studien zum Vollrauschtatbestand, S. 473; ders., GA 1964, 145. !DS Daß § 323 a unabhängig von dem Charakter der Rauschtat stets Offizialdelikt bleibe, wird ganz überwiegend vertreten. So Schönke/Schröder/Cramer, § 323 a Rdnr. 29; LK/Lay, 9. Aufl., § 330 a Rdnr. 114; Müller/Sax, § 374 Anm. 1 a; LR/Wendisch, § 374 Rdnr. 23; Eb. Schmidt, § 374 Rdnr. 7; Raschik, NJW

1952, 1045; a. M. Kurth, NJW 1952, S. 731. 194 BayObLG, NJW 1959, 2274; LR/Schäfer, § 471 Rdnr. 11; KK/Schikora, § 471 Rdnr. 3; krit. zur Anwendung des § 471 11 auf die Einstellung nach § 389 I StPO Traub, NJW 1960, S. 710. 195 Bei Unklarheit, ob aus § 323 a oder aus dem Tatbestand der Rauschtat zu verurteilen ist, empfiehlt LR/Wendisch, § 374 Rdnr. 23, Klageerhebung nach § 376 StPO oder übernahme der Verfolgung nach § 377 Abs. 2 StPO.

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für erwiesen, scheidet eine Übernahme mit dem Ziel einer auf § 323 a StGB gestützten Verurteilung aus. Andererseits kann das "öffentliche Interesse" im Sinne der §§ 376,377 StPO, das eine Übernahme mit dem Ziel einer Verurteilung aus dem Tatbestand des Privatklagedelikts rechtfertigen würde, nicht deshalb bejaht werden, weil dem Privatkläger die Kostenfolge des § 471 11 StPO droht. Es ergibt sich also ein sachlich ungerechtfertigtes Kostenrisiko des Privatklägers 19o • Weiter droht ein erheblicher Mehraufwand bei der Strafverfolgung. Denn die - häufig nicht ohne Einholung von Sachverständigengutachten zu beantwortende - Frage, ob die Schuldunfähigkeit des Angeklagten zum Tatzeitpunkt ausgeschlossen werden kann, müßte zunächst im Rahmen der staatsanwaltschaftlichen Entscheidung über das Vorliegen eines Offizialdelikts und außerdem in dem sich anschließenden Gerichtsverfahren geprüft werden197 • Der Verfahrensökonomie dient die Deutung des § 323 a StGB als Offizialdelikt jedenfalls nicht. y) Die Nebenklage

Konnte bisher der herrschenden Meinung eine, wenn auch gelegentlich unzuträgliche, Konsequenz bei der prozessualen Behandlung des Vollrauschtatbestands attestiert werden, so ändert sich das bei dem Problem der Nebenklage. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die bei den übrigen Gerichten Gefolgschaft 198 und in der Literatur Zustimmung gefunden hat1 99 , sind bei einer Verurteilung aus § 323 a StGB dem Nebenkläger die Kosten zu erstatten, wenn sich die Rauschtat gegen ihn gerichtet hatte2°o. Das ist mit der allgemeinen und von dem Urteil des BGH auch nicht in Frage gestellten Auffassung unvereinbar, daß die Erstattungspflicht nach §§ 397, 471 I StPO eine Verurteilung des Angeklagten nach einer Norm voraussetzt, die ein dem Nebenkläger persönlich zustehendes Rechtsgut unmittelbar schützt 201 ; denn nach der herrschenden Deutung schützt § 323 a 8tGB nicht speziell das durch die Rauschtat verletzte Einzelrechtsgut. Nun sieht der Bundesgerichtshof bei § 323 a 8tGB einen "Sonderfall" und in seiner Entscheidung deshalb lediglich eine Fortbildung, keine Änderung der bisherigen Rechtsprechung. Aber die Behandlung des § 323 a StGB als "Sonderfall" ist mit seiner Deutung als abstraktes Gefährdungsdelikt kaum vereinbar. Daß die Entscheidung sich in 188

197 198

S.75.

Kurth, NJW 1952, S. 731. Vgl. auch Kurth, NJW 1952, S. 731.

OLG Karlsruhe, Die Justiz, 1976, S. 213; OLG Oldenburg, MDR 1982,

189 LR/Schäfer, § 471 Rdnr. 43; Kleinknecht/Meyer § 471 Rdnr. L2; KK! Schikora, § 471 Rdnr. 9. 2~O BGHSt 20, 284. ~1 BGHSt 11, 195; 15, 60; 16, 168; LR/Schäfer, § 471 Rdnr. 43.

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

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Wirklichkeit an der Tiefenstruktur des § 323 a StGB orientiert, zeigt das Argument, auch bei einer Verurteilung des Angeklagten nach § 323 a StGB habe der Nebenkläger mit der Nebenklage Erfolg, weil er "die Ahndung des ihm zugefügten Unrechts" erreiche 202 ; denn das Unrecht der Rauschtat wird mit der Verurteilung aus § 323 a StGB nach der herrschenden Deutung gerade nicht geahndet. Zwar ist es richtig, daß auch bei einer auf § 323 a StGB gestützten Verurteilung der Nebenkläger als der Obsiegende und der Angeklagte als Unterlegener erscheint203 ; würde man das aber bei der vom Senat geforderten "kostenrechtIichen Betrachtungsweise" als Voraussetzung der Erstattungspflicht genügen lassen, so wäre damit die Einschränkung, die Verurteilung müsse auf einer Norm beruhen, die ein Rechtsgut des Nebenklägers unmittelbar schützt, obsolet. Schließlich ist die Ungleichbehandlung mit den Fällen einer Verurteilung wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323 c StGB)204 bei Interpretation des § 323 a StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt nicht zu begründen. ö) Berauschung und Rauschtat als dieselbe Tat

i. S. des § 264 StPO

Seit der Entscheidung des Reichsgerichts aus dem Jahre 1936205 ist praktisch unumstritten, daß Sichberauschen und Rauschtat eine Tat im prozessualen Sinne darstellen206 . Dementsprechend wird angenommen, daß bei angeklagter Rauschtat eine Verurteilung nach § 323 a StGB (und umgekehrt) ohne Erhebung einer Nachtr,agsanklage (§ 266 StPO) unter Beachtung der Bestimmung des § 265 StPO (Veränderung des rechtlichen Gesichtspunkts) zulässig ist. Soweit man mit der ganz herrschenden Meinung207 den Umfang der materiellen Rechtskraft nach der Identität der Tat i. S. des § 264 StPO bestimmt, ergibt sich weiter die Konsequenz, daß die Aburteilung der Rauschtat der Strafverfolgung nach § 323 a StGB entgegensteht und umgekehrt. Unter dem hier interessierenden Aspekt der Struktur des § 323 a StGB stellt sich zunächst die Frage, ob - unabhängig von der Angemessenheit der aus ihr resultierenden praktischen Konsequenzen - die Annahme der Identität der Tat auf der Grundlage der herrschenden Deutung des § 323 a StGB folgerichtig ist. BGHSt 20, 285. a.a.O. 204 Hier wird die Erstattungspflicht verneint; vgI. OLG Hamm, NJW 1962, 359; LR/Schäfer, § 471 Rdnr.44. 205 Re; JW 1936, 519. 206 Schönke/Schröder/Cramer, § 323 a Rdnr. 36; Dreher/Tröndle, § 323 a Rdnr. 19; Schlosky, JW 1936, S. 3423 ff., 3428; a. M. Fortlage, DJZ 1935, 480. 207 Anders v. a. Peters, Strafprozeß, 3. AufI., 1981, S. 263 ff., 482 ff. 202

203

I. Das Tatbestandsmodell

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Die Antwort auf diese Frage wird erschwert durch die Uneinigkeit, die hinsichtlich der für die Identität der Tat maßgeblichen KriterieI1 besteht 208 • Stellt man mit der überwiegenden Meinung darauf ab, ob es sich um einen geschichtlichen Vorgang handelt, der nach der Lebensauffassung eine Einheit bildet209 , so dürfte die Identität in einer Vielzahl von Fällen eher zu verneinen sein: Begeht der Täter mehrere Stunden nach Ende des Trinkens an einem anderen Ort einen Diebstahl, so wird man bei einer rein "tatsächlichen" Betrachtungsweise, wie sie der h. M. zugrundeliegt210 , kaum von einem einheitlichen geschichtlichen Vorgang sprechen können. Es ist nicht zu sehen, warum bei dieser Betrachtungsweise das Verhältnis zwischen dem Trinken und dem Diebstahl anders beurteilt werden sollte als das zwischen einer Beleidigung und einem ebenfalls mehrere Stunden später begangenen Diebstahl. Zumindest müßte man, wenn man die Tatidentität ohne Blick auf die rechtliche Bewertung bestimmen will, die Entscheidung von Fall zu Fall treffen; etwa nach den Gesichtspunkten des zeitlichen und räumlichen Zusammenhangs zwischen Rauschtat und Sichbetrinken. Folgerichtig erscheint die Annahme der generellen Identität von Sichberauschen und Rauschtat allenfalls dann, wenn sich die über Identität oder Verschiedenheit entscheidende Interpunktion auch an der rechtlichen Bewertung des Verhaltens orientiert211 • Diese Identität könnte dann über die Bestimmung des § 323 a StGB konstituiert werden. Auch das ist freilich nicht unproblematisch, will man nicht die formale Einbindung beider Akte in einen Straftatbestand genügen lassen. So führt die Orientierung an der Übereinstimmung der verletzten Rechtsgüter212 zu dem Ergebnis, daß bei Deutung des § 323 a StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt die prozessuale Identität zu verneinen ist213 • Auch der Gesichtspunkt der Übereinstimmung des Unwert20S Vgl. dazu Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 109 ff., 289 ff.; Schlüchter, Das Strafverfahren, Rdnr. 361 ff. 209 LR/Gollwitzer, § 264 Rdnr. 4 ff.; Roxin, Strafverfahrens recht, S.109; Schlüchter, Das Strafverfahren, Rdnr. 363. 210 Dazu Schlüchter, Das Strafverfahren, Rdnr. 362.1. 211 Für die Notwendigkeit einer Einbeziehung rechtlicher Wertungen Barthel, Der Begriff der Tat im Strafprozeßrecht, Diss. Saarbrücken 1972, S. 55 f.; Bertel, Die Identität der Tat, 1970, S. 35, 52 ff., 134 ff.; Geerds, Zur Lehre von der Konkurrenz im Strafrecht, 1961, S. 362; Hruschka, JZ 1966, S. 700 ff. 212 Dafür Bertel, Die Identität der Tat, 1970, passim. 213 So Bertel, Die Identität der Tat, S. 149 f., der selbst diese Deutung des dem § 323 a StGB entsprechenden § 523 ÖStG ('" § 237 ÖStGB) ablehnt. Dagegen bejaht Barthel die Identität des gefährdeten und des verletzten Rechtsguts, weil im konkreten Fall das verletzte Rechtsgut auch das durch das Sichbetrinken gefährdete sei (Barthel, Der Begriff der Tat im Strafprozeßrecht, S. 55 f.).

1 Neumann

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gehalts214 würde bei dieser Deutung eher die Annahme zweier auch prozessual selbständiger Taten nahelegen. Die herrschende Meinung ist somit auf der Grundlage der herrschenden Deutung des § 323 a StGB schwer zu begründen. Sie hat freilich Argumente der Praktikabilität für sich, soweit der Umfang des von der Anklage erfaßten Geschehens in Frage steht; sie vermeidet den Umweg über Freispruch und neue Anklage, wenn sich erst im Verfahren herausstellt, daß die Voraussetzungen des § 323 a StGB (nicht) gegeben sind. Andererseits führt sie zu unbefriedigenden Ergebnissen für den Fall, daß nach einer Verurteilung aus § 323 a StGB weitere, erheblich schwerere Rauschtaten bekannt werden; hier steht die Rechtskraft der Entscheidung einer neuen Strafverfolgung entgegen215 • Das muß konsequenterweise auch dann gelten, wenn der Täter nach § 323 a StGB freigesprochen wurde, weil die ihm ursprünglich vorgeworfene Rauschtat nicht nachweisbar war218 • Dieses Ergebnis ist unbefriedigend, weil auch bei sorgfältiger Erfüllung der Kognitionspflicht des Gerichts die Ermittlung weiterer Rauschtaten häufig schwierig sein wird; denn die kriminalistisch untersuchte Tat ist die Rauschtat, nicht das Sichbetrinken. Demgegenüber gelangt man aufgrund der hier vertretenen Deutung des § 323 a StGB in beiden Punkten zu praktikablen Konsequenzen. Hinsichtlich der Möglichkeit, bei angeklagter Rauschtat nach erfolgtem Hinweis auf die Änderung des rechtlichen Gesichtspunkts aus § 323 a StGB zu verurteilen, ergibt sich die von der herrschenden Meinung vertretene Auffassung. Dagegen bleiben verschiedene Rauschtaten prozessual selbständig, sofern sich ihre prozessuale Identität nicht nach allgemeinen Grundsätzen ergibt; als Ausnahmeregelung zu den §§ 20, 21 StGB vermag § 323 a StGB keine "Klammerwirkung" zu entfalten217 • 214 Dafür Baumann, Grundbegriffe und Verfahrensprinzipien des Strafprozeßrechts, 3. Aufl., 1979, S. 178; Hruschka, JZ 1966, S. 703; Schwinge, ZStW 52 (1933), S. 228 ff., 236. m Nach BGHSt 13, 223, 225; RGSt 73, 12 ist hier schon materiell rechtlich nur eine Tat nach § 323 a anzunehmen. 21e Man könnte freilich daran denken, hier auf die Rechtsprechung zum Umfang der Rechtskraft eines Freispruchs in den Fällen des Fortsetzungszusammenhangs (RGSt 47, 397 ff.; 54, 334 f.; zustimmend LR/GoZZwitzer, § 264 Rdnr. 37; Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 292; a. M. Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Teil I, 2. Aufl., 1964, Rdnr. 302 f.) zurückzugreifen und dementsprechend die Rechtskraft nur hinsichtlich der untersuchten Rauschtat bzw. Rauschtaten zu bejahen. Indes wäre diese Analogie trügerisch; denn mit dem Freispruch nach § 323 a ist über die Strafbarkeit des Sichbetrinkens ausdrücklich entschieden, während mit dem Freispruch hinsichtlich einzelner Teilakte über die Strafbarkeit anderer Teilakte nicht ausdrücklich entschieden wird. 217 Das bedeutet, daß man auch materiellrechtlich von mehreren Taten auszugehen hat.

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e) Die Rauschtat als Haftgrund nach § 112 a StPO Nicht mit der herrschenden Deutung des § 323 a StGB vereinbar ist die von der Rechtsprechung praktizierte218 und im Schrifttum ganz überwiegend gebilligte 219 Einbeziehung des § 323 a StGB in den Katalog des § 112 a StPO (unter der Voraussetzung, daß es sich bei der Rauschtat um eine Katalogtat handelt). Die dafür gegebene Begründung, § 112 a StPO diene dem Schutz der Allgemeinheit vor bestimmten schwerwiegenden Straftaten und dieser Schutz werde nur unvollkommen erreicht, wenn man den Haftgrund der Wiederholungsgefahr bei im Vollrausch begangenen "Katalogtaten" ausschließe 220 , ist verräterisch; denn ganz offensichtlich geht es der Sache nach nicht darum, das als gefährlich angesehene Sichbetrinken in den Anwendungsbereich des § 112 a StPO einzubeziehen, sondern darum, die Verhängung von Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr bei Katalogtaten auch auf die Fälle im Zustand rauschbedingter Schuldunfähigkeit begangener Straftaten auszudehnen. Dieses Bestreben ist insofern verständlich, als die Beschränkung der wegen Wiederholungsgefahr anzuordnenden Untersuchungshaft auf die Fälle verantwortlich begangener Straftaten nicht folgerichtig erscheint; aber diese Inkonsequenz resultiert aus der Einbeziehung des (verfahrensfremden) Gesichtspunkts der Wiederholungsgefahr in das System strafprozessualer Zwangsmaßnahmen, das sich an dem Verdacht schuldhafter Tatbegehung orientieren muß, soweit es sich um Maßnahmen im Vorfeld der Entscheidung über Schuld und Unschuld des Betroffenen handelt. Auf die Voraussetzungen der Schuldfähigkeit kann nur dort verzichtet werden, wo das Verfahren nicht auf eine Bestrafung, sondern auf die Anordnung einer Maßnahme der Besserung und Sicherung abzielt (einstweilige Unterbringung nach § 126 aStPO); gerade die Strafvorschrift des § 323 a StGB aber lenkt die staatliche Reaktion auf das Gleis der Strafe, nicht auf das der Maßregel. Unzulässig ist es freilich, die aus der systemwidrigen Einbeziehung des Haftgrunds der Wiederholungsgefahr in das Strafprozeßrecht resultierenden Ungereimtheiten durch eine Erweiterung der Haftgründe contra legern zu korrigieren221 • Darüber hinaus - und das ist für die 218

OLG Hamm, NJW 1974, S. 1667; OLG Frankfurt, NJW 1965, S. 1728.

Hengsberger, JZ 1966, 209, 211; Kleinknecht/Meyer, § 112 a Rdnr. 4; Schlüchter, Das Strafverfahren, Rdnr. 217; Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Nachtragsband I, 1967, § 112 Rdnr. 26; KK/Boujong, § 112 a Rdnr. 14. 210

OLG Frankfurt, NJW 1965, S. 1728. Gegen die Einbeziehung des § 323 a StGB in den Katalog des § 112 a StPO auch Blei, JA 1974, S. 756 ff.; LR/Dünnebier, 22. Aufl., Anm. 15 c zu § 112 (vermittelnd 23. Aufl., a.a.O., Rdnr.37, 38 zu § 112 a); Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 172. 220

221

7'

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Frage der Zurechnungsstruktur des § 323 a StGB das Entscheidende ist die partielle Einbeziehung des Vollrauschtatbestandes in den Katalog des § 112 a StPO mit der behaupteten Struktur des § 323 a StGB unvereinbar. Fügt man den § 323 a StGB als weiteren, selbständigen Tatbestand in den Kreis der von § 112 a StPO erfaßten Straftaten ein, dann ist die Beschränkung auf die Verwirklichung einer der anderen Katalogtaten als Rauschtat nicht zu begründen. In diesem Falle käme als "weitere erhebliche Straftat gleicher Art" im Sinne des § 112 a Abs. 1 Satz 1 StPO nur das Sichbetrinken in Betracht; auch dann, wenn man die "Erheblichkeit" des Sichberauschens nach der Schwere der Rauschtat beurteilen wollte, müßten zumindest die Verbrechen der §§ 211, 212 StGB einbezogen werden. Darüber hinaus müßte die Gefahr der Begehung einer anderen Katalogtat genügen; denn um eine Straftat "gleicher Art" würde es sich bei dem Sichberauschen immer handeln. Verständlich, wenn auch de lege lata nicht haltbar, ist die herrschende Meinung nur bei Interpretation des § 323 a StGB als Ausnahmeregel zu den §§ 20, 21 StGB.

cc) Kriminalpolitische Probleme und die Versuche ihrer Bewältigung Die herrschende Interpretation des § 323 a StGB führt zu einer Strafbarkeitslücke 222 bei der Fallkonstellation, daß weder die volle oder verminderte Schuldfähigkeit noch die Schuldunfähigkeit des Täters ausgeschlossen werden kann223 • Nach dem Grundsatz in dubio pro reo muß bei der Prüfung des § 323 a StGB von der vollen Schuldfähigkeit, bei der des verwirklichten Tatbestands von der Schuldunfähigkeit des Täters ausgegangen werden. Eine Wahlfeststellung zwischen § 323 a StGB und der "Rauschtat" kommt nach h. M. nicht in Betracht, weil es insofern an der rechtsethischen und psychologischen Vergleichbarkeit fehle 224 • Bevor diese Lücke als kriminal politisches Argument gegen die herrschende Deutung des § 323 a StGB verbucht wird, 222 Der Begriff der "Strafbarkeitslücke" ist hier relativ zu verstehen, d. h. bezogen auf die Strafbarkeit der nach beiden Richtungen angrenzenden Fälle, nicht absolut i. S. der Straflosigkeit eines "an sich" strafwürdigen und -bedürftigen Verhaltens. Das kriminalpolitische Problem liegt demgemäß nicht in der Notwendigkeit, in den fraglichen Fallkonstellationen zu einem Freispruch zu gelangen, sondern in der daraus resultierenden Ungleichbehandlung gegenüber den Fällen ausschließbarer (voller) Schuldfähigkeit. 228 BayObLG JR 1980, 27; BayObLG NJW 1978, S. 957; OLG Hamm, NJW 1977, S. 344; OLG Schleswig, MDR 1977, 247; Blei, JA 1977, 192; Schönke/ Schröder/Cramer, § 323 a Rdnr. 8, 28. Zu den Auffassungen, die auch in diesen Fällen zu einer Strafbarkeit nach § 323 a gelangen (z. B. SK/Horn, § 323 a Rdnr. 16; Dreher/Tröndle, § 323 a Rdnr. 5; LK/Tröndle, § 1 Rdnr. 99; Montenbruck, GA 1978, S. 225), vgl. unten. 224 BGHSt 9, 394.

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ist freilich zu prüfen, ob die von der h. M. für die fragliche Fallkonstellation gezogenen Konsequenzen zwingend sind. Es bieten sich drei Wege an, diese Konsequenzen zu vermeiden: Einmal könnte eine Interpretation des Tatbestandsmerkmales des Rausches vorgeschlagen werden, die dieses Merkmal von dem Erfordernis der zumindest erheblich verminderten Schuldfähigkeit abkoppelt; zum zweiten wäre zu prüfen, ob eine Wahlfeststellung zwischen § 323 a StGB und dem Tatbestand der Rauschtat tatsächlich (kraft gesetzgeberischer Entscheidung oder dogmatischer überlegungen) ausgeschlossen ist; schließlich ist der Vorschlag zu erörtern, für das Verhältnis von § 323 a StGB und dem Tatbestand des Rauschdelikts auf den in dubio-Grundsatz zurückzugreifen225 . 1) Die Trennung des Rauschbegriffs von dem Gesichtspunkt der Schuldfähigkeit Den ersten Weg hat bisher am radikalsten Montenbruck beschritten. Er reduziert den Zusammenhang zwischen dem Merkmal des Rausches und der Schuld(un)fähigkeit des Täters auf das Erfordernis, "daß die Berauschung überhaupt auf die Schuld fähigkeit eingewirkt haben muß"226. Das aber stehe bei einem "Rausch" außer Frage, da dieser "stets wenigstens eine etwas verminderte Schuldfähigkeit" hervorrufe. Hier ist zunächst einzuwenden, daß dem Strafgesetzbuch der Begriff einer "etwas verminderten Schuldfähigkeit" unbekannt ist. Das StGB kennt neben der Schuldunfähigkeit des § 20 StGB nur die erheblich verminderte Schuldfähigkeit des § 21 StGB. Natürlich kann man sich im Modell den Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und Schuldfähigkeit als Parallelität zweier Kurven vorstellen, dergestalt, daß sich die Einsichts- bzw. Steuerungsfähigkeit und damit die Schuldfähigkeit mit zunehmendem Alkoholkonsum kontinuierlich vermindert. Aber derartige Modellvorstellungen sind dogmatisch unergiebig, solange Rechtsfolgen lediglich an bestimmte Schwellenwerte geknüpft werden, wie in §§ 20 und 21 StGB geschehen. Zwar kann die nicht erheblich verminderte Schuldfähigkeit bei der Strafzumessung berücksichtigt werden227 ; aber das rechtfertigt nicht ihre Verwendung bei der Interpretation eines Tatbestandsmerkmals. Dieses Problem ließe sich freilich umgehen, könnte man für die Interpretation des Rauschbegriffs auf das Kriterium der Schuldfähig225 Peters, Strafprozeß, 3. Auf!., 1981, S. 273; Dtto, "In dubio pro reo", S. 382; Dreher, Im Irrgarten der Wahlfeststellung, MDR 1970, S. 369 ff., 370; Wolter, Alternative und eindeutige Verurteilung, S. 265 ff.; Heiß, NStZ 1983, S. 69; Jescheck, AT, 2. Auf!., 1972, S. 115; nach Jescheck, AT, 3. Auf!. 1978, S. 115

Fn. 12 hat sich die Frage durch die Neufassung des § 323 a erledigt. 228 GA 1978, 228. 227 Schönke/Schröder/Lenckner, § 21 Rdnr. 25.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

keit überhaupt verzichten. Das entspricht einer neueren Tendenz im Schrifttum228 und wohl auch der Auffassung Montenbrucks, demzufolge allenfalls verlangt werden kann, daß die Berauschung überhaupt auf die Schuldfähigkeit eingewirkt habe229 • Gegen eine scharfe Trennung des Tatbestandsmerkmals des Rausches von dem Kriterium der Schuld(un)fähigkeit sprechen jedoch gewichtige Gründe teils methodischer, teils gesetzesgeschichtIicher Natur. Methodisch ist es grundsätzlich fragwürdig, die einzelnen Merkmale eines Tatbestandes unabhängig voneinander, "additiv", zu bestimmenz1o• Die Norm als Sinnganzes kann nur verstanden werden, wenn man die einzelnen Tatbestandsmerkmale aufeinander bezieht231 • Die Ablösung des Rauschbegriffs vom Merkmal der Schuldunfähigkeit in § 323 a StGB widerspricht darüber hinaus der Gesetzesfassung. Die Formulierung "infolge des Rausches schuldunfähig" bezieht sich nicht nur auf einen Kausalzusammenhang zwischen Rausch und (den Voraussetzungen der) Schuldunfähigkeit, sondern begründet auch einen funktionalen Zusammenhang zwischen Rauschbegriff und Schuldunfähigkeit. Das ergibt sich nicht nur aus der überschrift des § 323 a StGB ("Vollrausch"), sondern auch aus der Einbindung in das Merkmal "und ihretwegen nicht betraft werden kann ... ". Die Bestimmung des § 323 a StGB erfaßt den Rausch gerade in seiner Funktion als "Strafhinderungsgrund"; damit ist eine begriffliche Isolierung von dem Merkmal der Schuldunfähigkeit nicht vereinbar. Freilich scheint die Neufassung des § 323 a durch das EGStGB vom 2. 3. 1974 der Definition des Rausches mit Hilfe des Merkmals der Schuldunfähigkeit entgegenzustehen; sie setzt ihrem Wortlaut nach voraus, daß ein Rausch auch dann vorliegen kann, wenn die Schuldunfähigkeit des Täters (lediglich) nicht ausgeschlossen werden kann. Aber diese "Verselbständigung" des Rauschbegriffs ist allein eine Konsequenz des Versuchs, die von der Rechtsprechung behauptete Funktion des § 330 a. F. als "Auffangtatbestand" im Wege einer "Tatbestandslösung" zu legalisieren232 • Hätte man das "wirklich" Gewollte, nämlich die Ermöglichung einer Wahlfeststellung zwischen Rauschtat und Vollrausch233 , in dieser Form in eine gesetzliche Regelung ge228 Vgl. Horn, JR 1977, 210 f.; ders., JR 1980, S. 1 ff.; Puppe, GA 1974, S. 107 bei Fn. 38, S. 111, 115; dies., Jura 1982,284 f.

22. GA 1978, 228. 230 Dazu Haft, JuS 1975, S. 482 f.

Vgl. Hassemer, Tatbestand und Typus, 1968, S. 70. Dazu unten S. 109 ff. m Dazu unten S. 110 f. 231

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I. Das Tatbestandsmodell

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bracht, dann konnte die Formulierung des § 330 a a. F., der den Rauschbegriff nur im Kontext des "die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Rauschs" verwendet hatte, beibehalten werden. Allein aus der Wahl einer anderen Regelungstechnik aber können nicht derart weitreichende Schlüsse gezogen werden, wie sie der "Abkoppelung" des Rauschbegriffs von der Frage der Schuldfähigkeit zugrundeliegen, zumal, wenn ihr anerkanntermaßen "konstruktiv ... nicht die tiefste Sacheinsicht zu eigen" ist 234 . Gegen diese Abkoppelung spricht ferner die Gesetzesgeschichte. Von den Unterkommissionen der Großen Strafrechtskommission wurde der Rausch in § 471 der Vorläufigen Zusammenstellung (VZ) definiert als "der durch ... Rauschmitel herbeigeführte Zustand, der die Schuldfähigkeit für die rechtswidrige Tat ausschließt oder so erheblich mindert, daß die Schuldunfähigkeit nicht ausgeschlossen werden kann"235. Daß diese Definition nicht in den E 1962 übernommen wurde, geht, soweit ersichtlich, auf die Bedenken Tröndles zurück, die sich darauf bezogen, daß in anderen Strafbestimmungen der Begriff des Rausches in einem ganz anderen Sinne verstanden werden müsse238 • Es wurde also nicht in Zweifel gezogen, daß die von den Unterkommissionen formulierte Definition adäquat sei; deren Streichung erfolgte lediglich mit Rücksicht auf den unterschiedlichen Rauschbegriff in anderen Bestimmungen des Entwurfs. Die Abkoppelung des Rauschbegriffs von dem Merkmal der (nicht ausschließbaren) Zurechnungsunfähigkeit zwingt dazu, eine Grenze des Grades alkoholischer Beeinflussung zu markieren, jenseits derer das Vorliegen eines Rausches i. S. des § 323 a StGB anzunehmen ist. Montenbruck 237 schlägt vor, dafür den von der Rechtsprechung zu den §§ 315 c, 316 StGB entwickelten Grenzwert der absoluten Fahruntüchtigkeit (1,3 %o-Grenze) zu übernehmen. Dagegen bestehen indes erhebliche Bedenken238. Montenbruck begründet seine Auffassung vor allem mit der "Schutzrichtung" des § 323 a StGB sowie mit der von ihm behaupteten Vergleichbarkeit des § 323 a StGB mit den §§ 315 c, 316 StGB. Da § 323 a StGB die Gesamtheit der Rechtsgüter schützen solle, sei "für das Sichberauschen schon der geringste Gefährdungsgrad ausreichend, der auch sonst zu einer Strafbarkeit (wegen eines bestimm-

Otto, "In dubio pro reo", S. 383 Fn. 40. Niederschriften der Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, Bd. V Anhang B. 238 Niederschriften der Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, Bd. VIII S. 143; vgl. auch Anhang S. 551. Z37 MontenbTUck, GA 1978, S. 225; ders., JR 1978, S. 209. 238 Kritisch auch Dencker, NJW 1980, S. 2161; Horn, JR 1980, S. 5 f.; Schönke/Schröder/Cramer, § 323 a Rdnr. 8; Puppe, Jura 1982, S. 285 f. 1134

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

ten Delikts) geführt hätte" 239. Die Rechtsprechung zu den §§ 315 c, 316 StGB liefert Montenbruck den Beleg für die Behauptung, die Rechtsgüterordnung sei "erklärtermaßen zumindest unter einem Aspekt bereits schon dann gefährdet, wenn der Täter 1,3 %0 Blutalkohol erreicht hat"240. Diese Argumentation vermag nicht zu überzeugen. Denn ganz abgesehen von den Schwierigkeiten, die eine Bestimmung des Schutzobjekts des § 323 a StGB als "Gesamtheit der Rechtsgüter" aufwirft: Es ist zu bestreiten, daß die Rechtsgüterordnung "erklärtermaßen" unter dem Aspekt der Sicherheit des Straßenverkehrs bereits dann gefährdet ist, wenn der Täter 1,3 %0 Blutalkohol erreicht hat. Das abstrakte Gefährdungsdelikt des § 316 StGB setzt voraus, daß der Täter im Zustand alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit im Verkehr ein Fahrzeug geführt hat. Die Gefährdung der Sicherheit des Straßenverkehrs ist also - wie denn auch anders - erst dann gegeben, wenn sich der Täter mit mindestens 1,3 %0 Blutalkohol (oder im Zustand relativer Fahruntüchtigkeit) ans Steuer setzt. Keinesfalls kann man aus § 316 StGB entnehmen, daß die Rechtsgüterordnung bereits durch einen Alkoholkonsum, der zu einer BAK von 1,3 %0 geführt hat, gefährdet wäre. § 323 a StGB einerseits und die §§ 315 c, 316 StGB andererseits weisen insofern eine unterschiedliche Struktur auf. Während bei § 323 a StGB nach überwiegender Interpretation die abstrakte Gefährdung bereits durch das Sichberauschen eintritt, setzt die nach § 316 StGB strafbare abstrakte Gefährdung des Straßenverkehrs voraus, daß der Täter am Straßenverkehr tatsächlich teilnimmt. Das Führen eines Fahrzeugs im Verkehr ist in § 316 StGB Tatbestandsmerkmal, nicht Bedingung der Strafbarkeit. Von daher ist die Behauptung einer Vergleichbarkeit der § 315 c, 316 StGB mit § 323 a StGB, die eine übertragung der 1,3 %o-Grenze auf den Tatbestand des § 323 a StGB begründen SOll241 , irreführend. Das wird noch deutlicher, wenn man die Behauptung Montenbrucks, (auch) bei § 315 C StGB liege "das Schwergewicht oder jedenfalls ein Schwergewicht des strafwürdigen Verhaltens ... bereits im Akt des Berauschens selbst"242 anhand der zugrundeliegenden Verhaltensnorm überprüft. Die Verhaltensnorm des § 315 C Abs.1 Nr. 1 a StGB243 "Fahre nicht, wenn Du getrunken hast" sagt über ein Unrecht des Sichbetrinkens genausoviel aus wie die Norm: "Gehe nicht schwimmen, wenn 239 GA 1978, S. 233 (Hervorhebung im Original). GA 1978, S. 233 (Hervorhebung im Original). GA 1978, S. 233. 242 GA 1978, S. 234. 243 Da es in diesem Zusammenhang nur auf die konditionale Struktur der Norm ankommt, sei diese laxe Formulierung gestattet. 240

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1. Das Tatbestandsmodell

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Du gerade gut zu Mittag gegessen hast" über ein Unrecht des Gut-zuMittag-Essens, nämlich nichts. Normtheoretisch läßt sich diese Unrechtsindifferenz des jeweiligen Vorverhaltens damit erklären, daß in den Fällen einer bedingten Verpflichtung die im Antezedens erfaßte Handlung nicht in den Regelungsbereich der Norm fällt 244 • Die Verhaltensnorm der §§ 315 c Abs. 1 Nr. 1 a, 316 8tGB befolgt zwar derjenige, der im Zustand der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit das Taxi benutzt, nicht aber derjenige, der in nüchternem Zustand selbst nach Hause fährt. Freilich könnte man die Verhaltensnorm theoretisch auch anders formulieren, indem man Antezedens und Konsequens mit geringfügigen inhaltlichen Änderungen negiert und vertauscht. Die resultierende Fassung der Norm: "Trinke nicht, wenn du fahren willst" indes formuliert einen guten Rat, ist aber strafrechtlich irrelevant: Niemand kann allein deshalb bestraft werden, weil er sich in der Absicht betrinkt, später mit dem Auto zu fahren. Allerdings läuft die herrschende Interpretation der actio libera in causa in den Fällen der §§ 315 c, 316 8tGB auf die Annahme einer solchen Norm hinaus. Aber das verdeutlicht nur die Mängel dieser Interpretation. Tatbestandsmäßig und normwidrig ist nicht das Trinken, sondern das Autofahren im Zustand der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit. Dem Berauschten, der sich anschickt, sich ans 8teuer seines Wagens zu setzen, darf der Zündschlüssel weggenommen werden245 ; nicht aber ist es erlaubt, dem Trinkenden, der die Absicht äußert, später mit dem eigenen Wagen nach Hause zu fahren, Glas und Flasche zu entreißen246 • Die Tatsache, daß der Täter sich bis zur Fahruntüchtigkeit betrunken hat, obgleich er wußte, daß er später mit dem Wag.en fahren würde, erlaubt die Zurechnung des Verstoßes gegen die §§ 315 c, 316 8tGB; sie beinhaltet selbst aber keinen derartigen Verstoß. § 323 a (in der herrschenden Deutung) einerseits und die §§ 315 c, 316 8tGB andererseits 2U Vgl. Kalinowski, Die präskriptive und die deskriptive Sprache in der deontischen Logik. Zwei Fragen zum Thema der abgeleiteten Verpflichtung, in: Rechtstheorie 9 (1978), S. 441 ff. 245 OLG Koblenz, NJW 1963, S. 1991 (unter Rückgriff auf § 34 StGB); vgl. auch Baumann, AT, S. 357. 24~ Dieser Gesichtspunkt entspricht dem gegen die Deutung des Sichberauschens als rechtswidrige Handlung bei § 323 a vorgebrachten Einwand Maurachs, im Falle der Rechtswidrigkeit der Berauschung könne "jeder Unbeteiligte und Beliebige auch dem stillsten Zecher Glas und Flasche fortnehmen, sie notfalls zertrümmern, dem erstaunten Wirtshausgast das Portemonnaie wegnehmen" (Maurach, Schuld und Verantwortung, S. 109 f.; zustimmend Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, S. 147). Der Einwand Lackners, es fehle in diesem Falle an einem Angriff i. S. des § 32 StGB, weil Nothilfe zur Wahrung bloßer Allgemeininteressen unzulässig sei (JuS 1968, S.217) würde jedenfalls in den actio libera in causa-Fällen nicht stechen; denn es kann keinen Unterschied machen, ob der Sichbetrinkende eine Trunkenheitsfahrt oder eine gefährliche Körperverletzung ankündigt.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

weisen also eine differente Verbotsstruktur auf; eine Übertragung der 1,3 %o-Grenze erscheint insofern nicht gerechtfertigt. Nicht überzeugend ist es auch, wenn zwischen § 323 a StGB und den §§ 315 c, 316 StGB dadurch eine Verbindung geschaffen werden soll, daß die Fahruntüchtigkeit der §§ 315 c, 316 StGB als Sonderfall einer in § 323 a StGB sanktionierten "generellen Verkehrsuntüchtigkeit"

gedeutet wird247 . Bei der Fahruntüchtigkeit geht es vor allem um technische Fertigkeiten, etwa um Reaktionszeiten, Geschwindigkeitsschätzung, Spurhalten etc., bei der "allgemeinen Verkehrsuntüchtigkeit" infolge Rauschmittelkonsums dagegen um soziale Fähigkeiten. Die wichtigsten Fälle der alkoholbedingten Beeinträchtigung motorischer Abläufe, die Verursachung von Rechtsgutsverletzungen durch unkontrollierte Bewegungen des Berauschten, die - mangels Willenssteuerung - diesem nicht als Handlungen zugerechnet werden können, werden von § 323 a StGB gerade nicht erfaßt248. Ob soziale Fähigkeiten durch Alkoholkonsum in gleicher Weise beeinträchtigt werden wie technische Fertigkeiten, erscheint aber zumindest zweifelhaft. Diskutabel ist die behauptete Parallelität zwischen den §§ 315 c, 316 StGB einerseits und § 323 a StGB andererseits, soweit sie zur Begründung einer 1,3 %o-Grenze auch für den Tatbestand des Vollrausches herangezogen wird, allenfalls da, wo es auch bei § 323 a StGB um die Beeinträchtigung technischer Fähigkeiten geht, also etwa im Fall eines betrunkenen Kranführers, der infolge alkoholbedingter Beeinträchtigung motorischer Abläufe einen Bauarbeiter verletzt. Gerade in diesen Fällen aber ist die Anwendbarkeit des § 323 a StGB zweifelhaft, weil hier im Regelfall eine Haftung wegen fahrlässiger actio libera in causa eingreifen dürfte. Auch die subtilen Überlegungen von Puppe zur Verhaltensnorm des § 323 a StGB249, die ebenfalls auf eine Ablösung des Rauschbegriffs von der Frage der Schuldfähigkeit hinauslaufen, führen nicht zu einer befriedigenden Definition. Nach Puppe lautet die Bestimmungsnorm des § 323 a StGB: "Versetze dich nicht durch Rauschmittelmißbrauch in einen Zustand, in dem du normale Anforderungen der Rechtsordnung nicht mehr erfüllen kannst"250. Dementsprechend wäre der Rausch zu definieren als durch Rauschmittelmißbrauch verursachter Zustand, in dem die betreffende Person die normalen Anforderungen der Rechtsordnung nicht mehr erfüllen kann. Aber diese Definition ist wegen der generalklauselartigen Weite des Begriffs der "normalen 247 So Montenbruck, JR 1978, 210 unter Verwendung des von Puppe (GA 1974, S. 98) geprägten Begriffs. 24B Dazu oben S. 78 f. Hg Puppe, GA 1974, S. 98 ff. 250 GA 1974, S. 115.

I. Das Tatbestandsmodell

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Anforderungen der Rechtsordnung" kaum praktikabel. Entscheidend für die bedenkliche extensionale Vagheit dieses Begriffs ist zum einen die Unklarheit darüber, bei welchem Grad der Beeinträchtigung der im Verkehr erforderlichen Fähigkeiten diese den "normalen" Anforderungen der Rechtsordnung noch bzw. nicht mehr genügen, zum anderen die Heterogenität dieser Anforderungen und der korrespondierenden Fähigkeiten. Ist "vollständig verkehrsuntüchtig" , wer (sonst) noch über alle von der Rechtsordnung vorausgesetzten sozialen Fähigkeiten verfügt, aber alkoholbedingt nicht mehr in der Lage ist, einen scherzhaft gemeinten Angriff als solchen zu erkennen? Der Begriff der "Verkehrstüchtigkeit" faßt eine Vielzahl höchst unterschiedlicher (Un-)Fähigkeiten zusammen, deren Stellenwert im einzelnen bestimmt werden müßte, soll der Begriff zur Definition des Rauschbegriffs praktikabel sein. Auch der auf den überlegungen von Montenbruck und Puppe aufbauende Definitionsversuch von Horn führt zu keiner hinreichend genauen Begriffsbestimmung. Nach Horn ist "Rausch" im Sinne des § 323 a StGB "ein Zustand, in dem - rauschmittelbedingt - die Gesamtleistungsfähigkeit so weit herabgesetzt ist, daß der Täter bei plötzlichem Auftreten auch schwieriger Entscheidungssituationen, wie sie jederzeit eintreten können, sich nicht mehr sicher zu steuern vermag"251. Trotz der damit erreichten Präzisierung bleiben die gegen die Definition von Puppe erhobenen Einwände prinzipiell bestehen252 • Wie der Begriff der Verkehrstüchtigkeit faßt auch der Begriff der "Gesamtleistungsfähigkeit" eine Vielzahl höchst unterschiedlicher, teils sozialer, teils technischer Fähigkeiten zusammen, die durch den Alkoholgenuß nicht nur in höchst unterschiedlichem Maße beeinträchtigt, sondern - soweit es sich um soziale Fähigkeiten handelt - teilweise geradezu gefördert werden; man denke an den nicht unerheblichen Kreis der Personen, deren Fähigkeit zu positiver sozialer Interaktion durch Alkoholkonsum erheblich gefördert wird. Und das bei dem Definitionsversuch von Puppe festgestellte Problem der Grenzziehung hinsichtlich der "normalen" Anforderungen der Rechtsordnung erscheint in anderem Gewand in der Frage, wo die Grenze der Fähigkeit liegt, sich in auch schwierigen Entscheidungssituationen "sicher" zu steuern. Nun wird bei Horn eine relative Fixierung dieser Grenze dadurch erreicht, daß er den Rauschbegriff an das Vorliegen der "biologischen" JR 1980, S. 1 ff., S. 6. Als "ziemlich unbestimmt" bezeichnet neuerdings Puppe sowohl ihren eigenen früheren als auch den Definitionsvorschlag von Horn; sie befürwortet jetzt die Bestimmung des strafbaren Rauschgrades anhand eines festen BAKWertes (Jura 1982, S.287). 251

251

Horn,

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

Komponente der §§ 20, 21 StGB ("tiefgreifende Bewußtseinsstörung" bzw. "krankhafte seelische Störung") bindet253 . Aber die Heranziehung der "biologischen Komponente" der §§ 20, 21 StGB als "Auslegungskriterium" für den Rauschbegriff254 scheint mit dessen Definition nicht zu harmonieren. Zunächst dürfte die Formulierung, daß sich der Täter - rauschmittelbedingt - bei plötzlichem Auftreten auch schwieriger (!) Entscheidungssituationen nicht mehr sicher zu steuern vermag, auch Dispositionen erfassen, bei denen eine "tiefgreifende Bewußtseinsstörung" bzw. eine "krankhafte seelische Störung" zu verneinen ist. Freilich könnte man darauf verweisen, daß durch die Heranziehung der biologischen Komponente der §§ 20, 21 StGB das Definiens der Rauschdefinition unabhängig von dem naheliegenden umgangssprachlichen Verständnis festgelegt würde. Aber Definitionen sind nur hilfreich, wenn sie nicht durch Auslegungskriterien konterkariert werden255 . Verständlich ist diese Trennung von Definition und Auslegungskriterium aber als der Versuch, einerseits die für die herrschende Meinung unverzichtbare Gefährlichkeit des Rausches zu erfassen, andererseits aber der von der Tiefenstruktur des § 323 a StGB vorgegebenen Bindung an die §§ 20, 21 StGB Rechnung zu tragen. Wenig befriedigend ist darüber hinaus die Beschränkung auf die "biologische" Komponente der §§ 20, 21 StGB. Denn die Steuerungsfähigkeit, auf die die Rauschdefinition abstellt, korrespondiert eher der Fähigkeit, nach der Unrechtseinsicht zu handeln und damit der "psychologischen" Komponente der §§ 20, 21 StGB256. Schließlich bleibt fraglich, ob die Entscheidung über das Vorliegen einer "tiefgreifenden" Bewußtseinsstörung ohne Berücksichtigung der Auswirkungen auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit überhaupt getroffen werden kann257 . Das Scheitern der aufwendigen und scharfsinnigen Versuche, den Rauschbegriff unter Verzicht auf den Gesichtspunkt der Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit zu definieren258 , läßt m. E. nur eine Deutung zu: Diese Definition ist nicht zu leisten, weil der Rauschbegriff in Horn, JR 1980, S. 6 f. JR 1980, S. 1. 255 Zu den parallelen methodischen Problemen des Verhältnisses von Definition und Beweisregel vgl. Horn, Blutalkohol und Fahruntüchtigkeit, 1970, S. 18 ff.; Volk, Strafrechtsdogmatik, Theorie und Wirklichkeit, S. 81 ff. 256 So auch Dencker, NJW 1980, S. 2162. 257 Vgl. Lenckner, Strafe, Schuld und Schuldfähigkeit, S. 111 f.: Schönke/ Schröder/Lenckner, § 20 Rdnr. 14; LK/Lange, § 20 Rdnr. 30; vgl. auch die Kritik bei Ranft, JA 1983, S. 196 f. 258 Ebenso Schewe, Blutalkohol 20 (1983), S.383: "Rausch" und "Schuldfähigkeit" seien nicht zwei verschiedene Tatbestandsmerkmale; es könne "der Sache nach nur um ein Tatbestandsmerkmal der ,vollrauschbedingten Schuldunfähigkeit' gehen". 253

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1. Das Tatbestandsmodell

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§ 323 a StGB kein eigenständiges, von der Frage der Schuldfähigkeit abgelöstes Tatbestandsmerkmal bezeichnet, sondern lediglich die Aufgabe hat, bestimmte Bedingungen für die Nichtausschließbarkeit der Schuldunfähigkeit hervorzuheben. Er markiert nur die Qualität, nicht die Intensität eines bestimmten Defektzustandes259 • Die Versuche, den Rauschbegriff auch nach Kriterien des Grades der Beeinträchtigung des "Normalzustands" zu definieren, können daher nicht gelingen. Die graduelle Grenzbestimmung erfolgt nach dem Gesichtspunkt der Intensität der Beeinträchtigung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit. Zum Mißlingen verurteilt sind damit auch die Versuche, durch Abkoppelung des Rauschbegriffs vom Problem der Schuldfähigkeit die in den Fällen des "non liquet" hinsichtlich Schuldfähigkeit und -unfähigkeit resultierende Strafbarkeitslücke zu schließen. 2) Das Problem einer Wahlfeststellung zwischen § 323 a StGB und dem Rauschdelikt

Der nach der Neufassung des § 323 a StGB durch das EGStGB bereits totgeglaubte Streit um die Zulässigkeit einer Wahlfeststellung zwischen § 323 a StGB und dem Rauschdelikt hat durch die jüngsten freisprechenden Entscheidungen einiger Oberlandesgerichte260 und die sich daran anschließende Diskussion neue Aktualität erhalten. Teilweise wird allerdings eine Erörterung des dogmatischen Problems mit der Begründung verweigert, einer Wahlfeststellung zwischen Rauschtat und § 323 a StGB stehe bereits die Entscheidung des Gesetzgebers entgegen; mit dieser Begründung entzieht sich das Bayerische Oberste Landesgericht der Diskussion der Frage, ob die sachlichen Voraussetzungen einer Wahlfeststellung zwischen Rauschtat und Sichberauschen bejaht werden könnten261 • Dieser Gesichtspunkt ist vorweg zu diskutieren; denn hätte der Gesetzgeber eine solche Entscheidung tatsächlich getroffen und auch verbindlich treffen können, würde sich in der Tat insoweit eine Diskussion der Frage, ob eine Wahlfeststellung nach dem Stand der Wahlfeststellungsdogmatik zulässig ist, erübrigen. Dabei ist die Frage, was der Gesetzgeber tatsächlich entschieden hat, von der, was er verbindlich entscheiden konnte, deshalb scharf zu trennen, weil der Gesetzgeber nach verbreiteter Auffassung zwar rechtliche Regelungen erlassen, nicht aber dogmatische Einsichten vorschreiben kann262 259 Die Formulierung des § 323 a ist, übrigens auch bei Zugrundelegung der von der h. M. vertretenen Deutung, redundant, sofern sie neben dem Rausch dessen Verursachung durch berauschende Mittel verlangt. 260 Vgl. oben Fn.223. 261 BayObLG, MDR 1979, S.778. 262 Dagegen Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 101 Fn. 53; zum Problem Neumann, Rechtsontologie, S. 90 f. Fraglich ist, ob man sagen kann, der Gesetzgeber habe § 323 a "als Auffangtatbestand" reformiert (so Montenbruck, GA 1978, S. 225).

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

und die Frage nach den Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Wahlfeststellung immerhin als Problem dogmatischer Einsicht verstanden werden könnte. Für die behauptete Entscheidung des Gesetzgebers, "in Fällen, in denen der Täter bei der Verwirklichung eines 8traftatbestandes rauschbedingt schuldunfähig gewesen sein kann, eine Bestrafung nicht bereits auf Grund wahldeutiger Feststellung zwischen Vollrausch und Rauschtat zuzulassen"263, gibt das Urteil des BayObLG keine Belege. Das spricht dafür, daß das Gericht dieses Ergebnis nach Wortlaut und/oder Entstehungsgeschichte des § 323 a 8tGB für zwingend hält. Bei näherer Betrachtung erscheint das keineswegs unproblematisch. Möglicherweise ist das BayObLG der Auffassung, aus der durch das EG8tGB eingefügten Formulierung "oder dies nicht auszuschließen ist" ergebe sich, daß der Gesetzgeber eine Wahlfeststellung zwischen Vollrausch und Rauschtat nicht zulassen wollte; denn in diesen Fällen nicht ausschließbarer 8chuldunfähigkeit müßte nach der Gesetzesfassung (eindeutig) nach § 323 a 8tGB verurteilt werden, während bei Anwendung der Grundsätze der Wahlfeststellung auf wahldeutiger Grundlage zu verurteilen wäre. Dieses Argument ließe sich abstützen durch einen Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte des § 323 a n. F.: Durch die Neuformulierung sollte unstreitig die bestehende Rechtslage, wie sie sich aufgrund der Rechtsprechung des BGH zu § 323 a 8tGB ergab, nicht geändert, sondern gesetzlich sanktioniert werden264 . Der BGH aber hatte bekanntlich in der Grundsatzentscheidung BGH8t 9, 390 eine Wahlfeststellung zwischen Vollrausch und Rauschtat abgelehnt und im Fall nicht ausschließbarer 8chuldunfähigkeit (bei Feststehen zumindest erheblich verminderter 8chuldfähigkeit) aus dem als "Auffangtatbestand" konstruierten § 323 a 8tGB verurteilt. Man könnte also schließen: Der Gesetzgeber wollte die Rechtsprechung des BGH sanktionieren; der BGH hat eine Wahlfeststellung zwischen § 323 a 8tGB und der Rauschtat abgelehnt; also wollte der Gesetzgeber eine solche Wahlfeststellung ausschließen. Dabei würde man jedoch übersehen, daß in der Begründung zu § 471 des E 1962 (entspricht § 323 a n. F.) ausdrücklich nur auf das Ergebnis der Entscheidung BGH8t 9, 390 bezug genommen wird. Die Feststellung, die Rechtsprechung habe eine Wahlfeststellung bei § 323 a 8tGB zunächst verneint265 , spricht dafür, daß die Verfasser des E 1962

in der Entscheidung BGH8t 9, 390 -

in übereinstimmung mit weiten

MDR 1979, S. 778. Vgl. E 1962, S.538, wo ausdrücklich auf die Entscheidung BGHSt 9, 390 Bezug genommen wird. Auf diese Absicht des Gesetzgebers berufen sich die Entscheidungen BGH VRS 50 (1976), 45, 46; BGH VRS 50 (1976), 358, 359. 2815 E 1962, S. 538. 263

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I. Das Tatbestandsmodell

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Teilen der Literatur - die de facta-Zulassung einer Wahlfeststellung zwischen Rauschtat und Vollrausch erblickten. Dann aber kann keine Rede davon sein, der Gesetzgeber hätte durch die Neufassung des § 323 a StGB eine derartige Wahlfeststellung ausgeschlossen. Nach dem Ausgeführten erscheint auch die Berufung auf den Wortlaut des § 323 a StGB nicht mehr zwingend. Ob in den Fällen, in denen (lediglich) feststeht, daß von mehreren Straftatbeständen zumindest einer erfüllt wurde, eine eindeutige oder eine wahldeutige Verurteilung erfolgt, ist für die Frage der Wahlfeststellung unerheblich. Entscheidend ist nur, ob in diesen Fällen Freispruch erfolgen muß oder ob eine Verurteilung ergehen kann. Das und nichts anderes meint die Kritik an BGHSt 9, 390, wenn sie hervorhebt, es handele sich bei der Entscheidung um die verdeckte Zulassung einer Wahlfeststellung268 • Danach kann die Formulierung ..... oder dies nicht auszuschließen ist ... " in § 323 a StGB gerade als ausdrückliche Zulassung einer Wahlfeststellung zwischen Rauschtat und Vollrausch (mit der Besonderheit einer eindeutigen Verurteilung) interpretiert werden287 • Gegen dieses Ergebnis könnten sich freilich Bedenken erheben. Man könnte argumentieren, die Neufassung des § 323 a StGB habe eine Wahlfeststellung im Bereich des § 323 a StGB zwar nicht ausdrücklich ausgeschlossen, aber jedenfalls nicht sanktioniert, sondern gerade durch die Einführung des Merkmals "oder dies nicht auszuschließen ist ..." überflüssig gemacht. Man könnte, mit anderen Worten, die Auffassung vertreten, die Fälle nicht ausschließ barer Schuldunfähigkeit unterfielen seit der Neufassung des § 323 a StGB durch das EGStGB dem Tatbestand des § 323 a StGB, und deshalb sei für Probleme der Wahlfeststellung, die gerade voraussetze, daß unklar sei, welchen Tatbestand die fragliche Handlung erfülle, kein Raum mehr288 • Scharf unterschieden wird die "Tatbestandslösung" in § 323 a n. F. von dem Rückgriff auf die Wahlfeststellung bzw. der Konstruktion des § 323 a StGB als "Auffangtatbestand" von Maurach-Zipj269, die die beiden letzteren Möglichkeiten nachdrücklich ablehnen270 , dem § 323 a n. F. aber bescheinigen, mit ihm sei "dieses Problem in rechtsstaatlich %66 Vgl. etwa Arthur Kaufmann, Unrecht und Schuld beim Delikt der Volltrunkenheit, S.271. 287 Man könnte davon sprechen, daß der Gesetzgeber die Wahlfeststellung zwischen § 323 a und der Rauschtat "vertatbestandlicht" habe. 288 In diesem Sinne ist wohl die Meinung zu verstehen, nach der Neufassung des § 323 a sei eine Wahlfeststellung nicht mehr "notwendig"; vgl. etwa Schönke/Schröder/Cramer, § 323 a Rdnr. 28.

208

270

Maurach/Zipf, AT/I, S. 129. Maurach/Zipf, AT/I, S. 128 f.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

einwandfreier Weise bereinigt"271. Diese unterschiedliche Bewertung erscheint zunächst überraschend angesichts der Tatsache, daß mit der Neufassung des § 323 a StGB im Ergebnis lediglich die Auffassung der BGH-Rechtsprechung festgeschrieben werden soIlte 272 • Es ist jedoch zu beachten, daß das Problem der rechtsstaatlichen Zulässigkeit von Wahlfeststellungen zwei verschiedenen Problemkreisen zugehört: Einmal geht es um die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Judikative; rechtstheoretisch: um die Analogieproblematik. Zum anderen steht die Zulässigkeit einer ungerechtfertigten Bemakelung eines Angeklagten in Frage. Durch die Neufassung des § 323 a StGB konnte das Problem (nur) auf der ersten Ebene gelöst werden; kritisiert man die Entscheidung BGHSt 9, 390 in erster Linie unter dem Aspekt eines Verstoßes gegen das Analogieverbot 273 , dann ist die Kritik in der Tat durch § 323 an. F. obsolet geworden. Dagegen hat sich das Problem auf der zweiten Ebene eher noch verschärft; denn die Zulässigkeit der Bestrafung eines schuldfähigen Täters aus dem Vollrauschtatbestand ist jetzt gesetzlich festgeschrieben. Lehnt man aber die rechtsethische (und psychologische) Vergleichbarkeit zwischen dem schuldhaften Herbeiführen der Schuldunfähigkeit durch Rauschmittelkonsum und der Rauschtat selbst ab, dann enthält die Bestrafung eines (vermindert) schuldfähigen Täters aus § 323 a StGB eine ungerechte Bemakelung. Dem kann nicht entgegengehalten werden, eine Verurteilung nach § 323 a n. F. beinhalte gerade nicht den Vorwurf schuldhafter Herbei-

führung der Schuldunfähigkeit, weil die Vorschrift ausdrücklich bereits dann Anwendung finde, wenn die Schuldunfähigkeit lediglich nicht ausgeschlossen werden kann. Denn eine Verurteilung wegen Vollrausches wird jedenfalls bei Nicht juristen immer die Vorstellung alkohol- oder sonst rauschmittelbedingter Schuldunfähigkeit hervorrufen; beharrt man aber gleichwohl darauf, die alternative Struktur des Vorwurfs beinhalte keine ungerechte Bemakelung, weil weder das Sichberauschen noch die Rauschtat dem Täter definitiv und eindeutig vorgeworfen wird, so entfiele damit der zentrale Einwand gegen die Zulässigkeit einer Wahlfeststellung; denn auch und gerade bei der Verurteilung aufgrund wahldeutiger Feststellung ist der dem Täter gemachte Vorwurf alternativ strukturiert. Unter dem Aspekt ungerechter Bemakelung ist die Verurteilung des möglicherweise vermindert schuldfähigen Täters nach § 323 a n. F. um nichts weniger problematisch als die aufgrund wahldeutiger Feststellung oder aus § 323 a StGB als "Auffangt at bestand" . Das bedeutet aber: Auch unter diesem 271 272 273

Maurach/Zipf, AT/I, S. 129.

Vgl. oben bei Fn.265. So offenbar Maurach/Zipf, AT/I, S. 129.

1. Das Tatbestandsmodell

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Aspekt kann zwischen der ausdrücklichen Zulassung einer Wahlfeststellung durch den Gesetzgeber und deren "Ausschluß" durch Erweiterung des Tatbestands nicht unterschieden werden. Auch der Versuch, den Unterschied zwischen "Tatbestandslösung" und "Wahlfeststellungslösung" anhand der Grenze zwischen materiellem Recht und Prozeßrecht zu markieren, führt nicht zum Erfolg. Selbst wenn man die Wahlfeststellung als rein prozessuales274 bzw. mit der wohl herrschenden Meinung als gemischt sachlich-verfahrensrechtliches 275 Rechtsinstitut versteht, läßt sich ein Unterschied zu der "Tatbestandslösung" nicht konstruieren. Denn auch § 323 a n. F. enthält mit der Normierung des Falles nicht auszuschließender Schul dunfähigkeit eine -werfahrensrechtliche Regelung: Festgelegt wird die Entscheidung im Falle eines nicht eindeutigen Ergebnisses der Beweisaufnahme. Das aber ist unstreitig ein verfahrensrechtliches Problem. Nach alledem kann nicht behauptet werden, der Gesetzgeber habe durch die Neufassung des § 323 a StGB eine Wahlfeststellung zwischen Vollrausch und Rauschtat ausgeschlossen. Die Frage nach deren Zulässigkeit ist also anhand der allgemeinen Voraussetzung einer Wahlfeststellung zu beurteilen. Das Ergebnis dieser Prüfung ist eindeutig, wenn man den Vollrauschtatbestand als abstraktes Gejährdungsdelikt deutet und die Zulässigkeit einer Wahlfeststellung nach dem vom Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung zugrundegelegten276 und in der Literatur teilweise akzeptierten277 Kriterium der rechtsethischen und psychologischen Vergleichbarkeit beurteilt. Die (unterstellte) Gefährdung des "Rechtsfriedens" oder der Gesamtheit aller Rechtsgüter durch schuldhaftes Sichbetrinken erfährt eine andere rechtsethische Bewertung als die Begehung einer Körperverletzung, eines Diebstahls usw. Zumindest im Regelfall 278 ist auf dieser Basis eine Wahlfeststellung So Dreher, JZ 1953, S. 424; Dtto, "In dubio pro reD", S. 373. Schönke/Schröder/Eser, § 1 Rdnr.75; Jescheck, AT, S. 114; SK/Rudolphi, Rdnr.6 nach § 55; LK/Tröndle, § 1 Rdnr.61; Wolter, Alternative und eindeutige Verurteilung, S. 38 ff. Für eine rein materiell rechtliche Interpretation etwa Günther, Verurteilungen im Strafprozeß trotz subsumtionsrelevanter 274

275

Tatsachenzweifel, 1976, S. 136 ff. 276 BGHSt 9, 394; 11, 28; 16, 187; 20, 101; 21, 153; 22, 156; 23, 204; 23, 360; 25, 182. Zur Konsequenz für § 323 a StGB (Ablehnung der Wahlfeststellung) BGHSt 1,275; 1, 327; 9,394. 277 Schönke/Schröder/Eser, § 1, Rdnr. 109 ff.; Baumann, AT, S.166; Kleinknecht/Meyer, § 260 Rdnr.30. 278 Etwas anderes könnte für ähnlich strukturierte Tatbestände wie §§ 315 c Abs. 1 Nr. 1 a, 316 StGB gelten. Für generelle Zulässigkeit der Wahlfeststellung zwischen Vollrauschtatbestand und Rauschtat Schneidewin, JZ 1957, S.324; ebenso Hruschka, MDR 1967, S. 268 f.; Roos, Das Problem der Wahlfeststellung bei § 330 a StGB, Diss. München 1956. 8 Neumann

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

zwischen § 323 a StGB und der Rauschtat abzulehnen. Den Argumentationen, mit denen die Zulässigkeit einer Wahlfeststellung begründet werden soll, liegt dementsprechend entweder eine abweichende Deutung des Vollrauschtatbestands oder eine andere Bestimmung der Voraussetzungen einer zulässigen Wahlfeststellung zugrunde. Bejaht wird die Zulässigkeit auf der Basis einer Interpretation des

§ 323 a StGB als konkretes Gejährdungsdelikt279 • Aber das wäre nur

dann überzeugend, wenn man für die "konkrete" Gefährdung eine spezifische Ausrichtung der vom Täter drohenden Gefahr auf das später tatsächlich beeinträchtigte Rechtsgut verlangen würde. Das ist indes nicht der Fall. Für die Einstufung des § 323 a StGB als konkretes Gefährdungsdelikt ist nicht die Forderung der rechtsgutsspezifischen Konkretisierung der vom Täter ausgehenden Gefahr kennzeichnend, sondern die Voraussetzung der rauschbedingten Gemeingefährlichkeit gerade dieses Täters, der sich betrunken hat, obwohl er damit rechnen mußte, daß er im Zustand der Trunkenheit Ausschreitungen begehen würde2 80 . Eine unter dem Gesichtspunkt der rechts ethischen Vergleichbarkeit relevante Angleichung des Unrechts von Sichberauschen und Rauschtat ergibt sich bei der Umdeutung des § 323 a StGB vom abstrakten zum konkreten Gefährdungsdelikt nicht 281 .

Lange begründet die Zulässigkeit einer Wahlfeststellung denn auch nicht mit der rechtsethischen Vergleichbarkeit von Sichberauschen und Rauschtat, sondern bezieht das Kriterium auf den Vollrausch einerseits, den Zustand verminderter Schuldfähigkeit andererseits; die "selbstverschuldete Gemeingefährlichkeit", die sich in der Einzelverletzung konkretisiert habe, sei "rechtsethisch und psychologisch mit der schuldhaften Selbstversetzung in den ebenfalls schon enthemmten und erhöht gefährlichen Zustand des § 51 Abs.2 durchaus vergleichbar"282. Aber auf diese Vergleichbarkeit kommt es nicht an; denn bei einer Bestrafung nach §§ 223, 21 StGB wegen einer im Zustand verminderter Schuldfähigkeit begangenen Körperverletzung wird nur das in der Körperverletzung liegende Unrecht erfaßt, nicht das (mögliche) Unrecht der Herbeiführung eines erhöht gefährlichen Zustands283 . 27g Vgl. die Nachw. in Fn. 2. 280 Lange, JR 1957, S.246; vgl. auch Kohlrausch/Lange, § 330 a Anm. V: Es genüge, daß der Täter seine "Neigung, im Vollrausch strafbare Handlungen irgendwelcher (I) Art zu begehen" kennen konnte. Kritisch dazu Arthur Kaufmann, Unrecht und Schuld beim Delikt der Volltrunkenheit, S. 247 f. 281 Der Begriff "konkretes Gefährdungsdelikt" wird abweichend vom üblichen dogmatischen Sprachgebrauch verwendet, wenn man mit ihm die von Lange vertretene Deutung des § 323 a kennzeichnet. 282 JR 1957, S.246. 283 Im übrigen würde die Argumentation Langes eine Wahlfeststellung in den Fällen möglicherweise uneingeschränkter Schuldfähigkeit wohl nicht tragen.

1. Das Tatbestandsmodell

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Auf die unterschiedlichen Versuche, das Kriterium der rechtsethischen und psychologischen Vergleichbarkeit durch andere Gesichtspunkte zu ersetzen und ihre Bedeutung für die Zulässigkeit einer Wahlfeststellung kann hier nicht im einzelnen eingegangen werden. Wesentlich erscheinen aber zwei Feststellungen: Zum einen ist es nicht damit getan, daß man auf dieses Erfordernis schlankweg verzichtet284 . Will man nicht die Gefahr einer rechtsstaatlich unannehmbaren Ausweitung der Wahlfeststellung in Kauf nehmen, dann kann das Kriterium der rechtsethischen und psychologischen Vergleichbarkeit nur im Wege des konstruktiven Mißtrauensvotums abgelöst werden. Zum anderen ist auf der Grundlage der herrschenden Deutung des Vollrauschtatbestands eine Wahlfeststellung zwischen § 323 a StGB und der Rauschtat auch dann nicht zulässig, wenn man mit der im Vordringen begriffenen Lehre auf die "Gleichwertigkeit des Unrechtsgehalts"285 oder auf die "Identität des Unrechtskerns"2s6 abstellt. Soweit in diese Kriterien auch der jeweilige Handlungsunwert einbezogen wird, versteht sich das von selbst; zwischen dem Handlungsunrecht des Sichberauschens und dem der (im Zustand der Trunkenheit begangenen) vorsätzlichen Tötung besteht keine "Gleichwertigkeit". Aber auch wenn man die Identität des Unrechtsgehalts nur nach den geschützten Rechtsgütern bestimmen wollte, würde nichts anderes gelten; denn die "Identität des Unrechtskerns" versagt als Kriterium, wenn als Kandidat einer Wahlfeststellung ein Tatbestand in Betracht kommt, der beansprucht, alle nur denkbaren Rechtsgüter zu schützen. Bei dieser Interpretation des § 323 a StGB ist ein Unrechts"kern" im Sinne einer spezifischen Rechtsgutorientierung nicht auszumachen. Versteht man als geschütztes Rechtsgut dagegen den allgemeinen Rechtsfrieden, dann ist eine Identität des Unrechtskerns jedenfalls dann zu verneinen, wenn es sich, wie im Regelfall, bei den vom Tatbestand des Rauschdelikts geschützten Rechtsgütern um Individualrechtsgüter handelt 287 . 3) Der Rückgriff auf das in dubio-Prinzip Es bleiben die Vorschläge, statt auf die Prinzipien der Wahlfeststellung auf den Grundsatz "in dubio pro reo" zurückzugreifen und bei Zweifeln über das Vorliegen von Schuldunfähigkeit oder (verminDafür aber Dreher, MDR 1957, S. 179. SK/Rudolphi, Rdnr.42 nach § 55. 288 Deubner, JuS 1962, S. 21 ff.; ders., NJW 1969, S.157; Hardwig, GA 1964, S. 147 (der aufgrund seiner abweichenden Deutung des § 323 a zur Annahme der Zulässigkeit einer Wahlfeststellung kommt); LK/Tröndle, § 1 Rdnr. 104. 284

285

287 Kritisch zur strengen Trennung von Individual- und Universal rechtsgütern allerdings Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, S. 231 ff.



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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

derter) 8chuldfähigkeit eindeutig aus § 323 a 8tGB zu verurteilen288 • Vorauss-etzung dafür wäre der Nachweis eines Stufen verhältnisses zwischen § 323 a 8tGB mit dem Tatbestand der Rauschtat. Die Annahme eines derartigen 8tufenverhältnisses begründet Wolter289 mit dem Argument, § 323 a StGB stehe zum Delikt der Rauschtat im Verhältnis des Gefährdungsdelikts zum Verletzungsdelikt. Aber das ist, ganz abgesehen von der Problematik der Annahme eines 8tufenverhältnisses zwischen Gefährdungs- und Verletzungstatbestand, nicht überzeugend. Denn die Gefährdung bezieht sich auf einen anderen Objektbereich als die Verletzung. Selbst wenn man dagegen argumentieren wollte, das verletzte Objekt sei in dem Bereich der gefährdeten Objekte insoweit enthalten, als der § 323 a StGB sämtliche Rechtsgüter und damit auch sämtliche potentielle Tatobjekte schütze, bliebe der Einwand, daß die fragliche Verletzung mit der aus dem nur möglichen Vollrausch resultierenden Gefährdung möglicherweise nichts zu tun hat. Das gilt erst recht dann, wenn man auch den Fall mit einbezieht, daß die völlige Schuldfähigkeit des Täters nicht ausgeschlossen werden kann290 • Die im Zustand uneingeschränkter Schuldfähigkeit begangene Körperverletzung steht mit der aus dem Vollrausch möglicherweise resultierenden Gefährlichkeit des Täters in keinerlei Zusammenhang. Sieht man andererseits ein Stufenverhältnis in der "Hierarchie" verschiedener Grade der Schuldfähigkeit, dann setzt das voraus, daß man § 323 a StGB nicht als selbständigen Tatbestand mit eigenem Unrechtsgehalt, sondern als spezielle Regelung im Bereich der Normierung der rechtlichen Konsequenzen von Schuldfähigkeit und -unfähigkeit versteht. Wenn Peters die Stufenfolge: volle Schuldfähigkeit, verminderte Schuldfähigkeit (§ 21 8tGB), trunkenheitsbedingte 8chuldunfähigkeit (§§ 20, 323 a 8tGB), unverschuldete 8chuldunfähigkeit (§ 20 StGB) herstellt291 , dann behandelt er die Vorschrift des § 323 a StGB als Regelung über die verschuldete Schuldunfähigkeit, nicht als selbständigen 8traftatbestand. Mit der Deutung des § 323 a 8tGB als abstraktes Gefährdungsdelikt ist die Annahme einer solchen Stufenfolge nicht vereinbar2 92 • 288 Vgl. Fn.225; neuestens BGH JZ 1984, 453; dazu Dencker, JZ 1984, S. 453; vgl. auch Heiß, NStZ 1983, s. 67 ff.; krit. dazu Schuppner/Sippel, NStZ 1984, s. 67 ff. 289 Wolter, Alternative und eindeutige Verurteilung, S. 265 ff. 290 So Wolter, a.a.O., S. 267 Fn. 62. 291 Peters, Strafprozeß, 3. Aufl., 1981, S.273. 292 Vgl. dazu Jakobs, GA 1971, S. 262. Auch die Begründung, mit der Dreher die Zulässigkeit des Rückgriffs auf den in dubio-Grundsatz rechtfertigt, bei § 323 a stehe die Rauschtat "so sehr im Zentrum der strafrechtlichen Betrachtung ... , daß man zwischen ihr und der in verminderter Schuldfähigkeit be-

I. Das Tatbestandsmodell

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Erblickt man schließlich das "Stufenverhältnis" in der Abschichtung von Vorsatz, Fahrlässigkeit und einer dritten Schuldbeziehung293 , dann ist nicht zu erklären, warum der Strafrahmen auf dieser untersten Stufe bei einer Vielzahl von Delikten mit dem der obersten Stufe identisch ist und bei vorsätzlicher Begehung der Rauschtat den der höheren zweiten Stufe ausnahmslos übersteigt. Schließlich ergeben sich auch praktische Bedenken. Jakobs weist mit Recht darauf hin294, daß bei einer Verurteilung aus § 323 a 8tGB die im Vollrauschtatbestand (nach herrschender Meinung) erfaßte Disposition zu gemeingefährlichen Taten eine höhere als die nach dem Tatbestand der Rauschtat in Verbindung mit § 21 8tGB zu verhängende Strafe tragen kann. Die Annahme eines Stufenverhältnisses ist deshalb auch praktisch bedenklich295 • Ob man zu einer Lösung gelangen kann, indem man bei möglicherweise nur verminderter Schuldfähigkeit die nach § 323 a StGB zu verhängende Strafe durch das für die Rauschtat unter Zubilligung verminderter Schuldfähigkeit hypothetisch zu ermittelnde Strafmaß begrenzt296 , erscheint zweifelhaft; denn das würde bedeuten, daß die Herbeiführung des nach § 21 StGB relevanten Zustandes durch Alkoholgenuß einerseits strafbegründend, andererseits strafmildernd wirken würde. Möglicherweise muß man sich auf der Basis der herrschenden Interpretation des § 323 a 8tGB in der Tat damit beruhigen, daß diese "Merkwürdigkeit" vom Gesetz vorgegeben sei297 ; angemessener aber erscheint eine Deutung, die das Sichbetrinken nicht als strafbegründenden Umstand interpretiert und folglich derartige Widersprüche zu vermeiden imstande ist.

gangenen Straftat ein Verhältnis von minus und plus annehmen" dürfe (MDR 1970, S. 371), ist mit der Deutung des Vollrauschtatbestands als abstraktes Gefährdungsdelikt nicht vereinbar. 293 So, allerdings ohne scharfe Abgrenzung zu der "Schichtung" der Stufen der Schuldfähigkeit, Dtto, "In dubio pro reo", S. 382. 294 Jakobs, GA 1971, S. 262. 295 Die Einbeziehung der Fälle nur möglicher Schuldunfähigkeit (und damit von Fällen lediglich verminderter Schuldfähigkeit) in den Tatbestand des § 323 a hat das Problem nicht gelöst, sondern festgeschrieben; die Möglichkeit, daß bei feststehender (mindestens) verminderter Schuldfähigkeit die Strafe einem strengeren Strafrahmen zu entnehmen ist, wenn darüber hinaus auch Schuldunfähigkeit nicht ausgeschlossen werden kann, ist damit gesetzlich sanktioniert. Eine konsistente Lösung des Problems ergibt sich nur dann, wenn man bei selbstverschuldeter Trunkenheit eine Strafmilderung nach § 21 StGB ablehnt. Dazu unten S. 131 ff. 296 Dafür Dencker, NJW 1980, S.2165; Wolter, Alternative und eindeutige Verurteilung, S. 267 Fn. 56; anders LK/Lay, 9. Aufl., § 330 a Rdnr. 89,91. 297 Dencker, a.a.O., Fn.82.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden" b) Die Idee der Risikohaftung

Ansatzpunkte zur Erfassung der Tiefenstruktur des § 323 a StGB finden sich in der Konzeption des riskanten Verhaltens als (neben Vorsatz und Fahrlässigkeit) dritter Schuldform, wie sie von Schweikert298 und Hardwig299 entwickelt worden ist. Freilich müssen die Versuche beider Autoren, die sog. Risikohaftung als mit den Prinzipien der Schuldhaftung vereinbar zu erweisen, für gescheitert erachtet werden; der Kritik von Arthur Kaufmann 30o , Lang-Hinrichsen301 , Cramer0 2 und anderen303 ist insofern nichts hinzuzufügen804 • Gerade die Durchschlagskraft dieser Kritik aber hat verhindert, daß der Beitrag beider Autoren zur Analyse strafrechtlicher Zurechnungsstrukturen Beachtung gefunden hätte. Von den drei Fragen, die Schweikert hinsichtlich der strafrechtlichen "Gefährdungs- oder Risikohaftung" gestellt und bejaht hat, nämlich: ob sie möglich ist, ob sie mit dem Schuldhaftungsprinzip vereinbar ist und ob sie in unserem Strafrecht existiert305 , fand nur die zweite größere Resonanz. Das war verständlich in einem Diskussionskontext, in dem die Frage nach den Strukturen strafrechtlicher Zurechnung ganz überwiegend unter normativem Aspekt gesehen wurde. Inzwischen hat sich die Perspektive, bei ungeschmälerter Bedeutung des normativen Zugriffs, erweitert; insbesondere die Versuche, das System des Strafrechts unter dem Gesichtspunkt seiner sozialen Leistungsfähigkeit auszuleuchten, lenken den Blick auf die tatsächlichen, Strafgesetz und Strafrechtsdogmatik zu Recht oder zu Unrecht beherrschenden Zurechnungsstrukturen. Unter diesem Aspekt verdienen die Ansätze von Schweikert und Hardwig immer noch - oder wieder Aufmerksamkeit. H8 Schweikert, Die Wandlungen der Tatbestandslehre seit Beling, S. 86 ff., 146 ff.; ders., ZStW 70 (1958) S. 394 ff. 289 Hardwig, Studien zum Vollrauschtatbestand, passim; ders., GA 1964, S. 140 ff.; vgl. auch ders., MSchrKrim 1959, S. 263 f. 300 Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 145 ff.; ders., Unrecht und Schuld beim Delikt der Volltrunkenheit, S. 243 ff. 301 Lang-Hinrichsen, Die Krise des Schuldgedankens im Strafrecht, ZStW 73 (1961), S. 210 ff., 212 f., 221 ff. 302 Cramer, Vollrauschtatbestand, S. 26 ff.; gegen ihn Hardwig, GA 1964, S. 140 ff. 303 Vgl. die auf § 15 StGB gestützte Ablehnung der Risikohaftung bei Schönke/Schröder/Cramer, § 15 Rdnr.5; SK/Rudolphi, § 15 Rdnr.2; kritisch auch Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 157 Anm.36; LK/Hirsch, 9. Aufl., Rdnr. 89 vor § 51. 304 Die auf die Idee einer "Risikohaftung" gegründete Interpretation des § 323 a durch Schweikert ist darüber hinaus auch dogmatisch unergiebig, weil sie eine Abgrenzung des Vollrauschtatbestands gegenüber der actio libera in causa nicht zuläßt; so schon Bemmann, GA 1961, S.71 f.; Lang-Hinrichsen, ZStW 73 (1961), S. 223; zuletzt Wolter, NStZ 1982, s. 57. 305 ZStW 70 (1958), S. 410.

I. Das Tatbestandsmodell

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aa) Die Theorie Schweikerts Ausgangspunkt der überlegungen Schweikerts ist die Feststellung308 , daß sich in bestimmten Straftatbeständen unrechtskonstitutive Merkmale nachweisen lassen, auf die sich die Schuld des Täters, verstanden als Vorsatz- oder Fahrlässigkeitsbeziehung, nach der Regelung des positiven Rechts nicht zu erstrecken braucht. Mit dem Schuldhaftungsprinzip ist die Existenz solcher Merkmale nur vereinbar, wenn man entweder auf das Erfordernis der Deckung von Unrecht und Schuld verzichten oder aber neben Vorsatz und Fahrlässigkeit eine dritte Schuldbeziehung anerkennen kann. Schweikert hält unter ausdrücklicher Ablehnung der ersten Alternative307 den zweiten Weg für erfolgversprechend: Die gesuchte dritte Verhaltensform finde sich in Gestalt des "riskanten Verhaltens", an das unter Wahrung des Schuldprinzips eine strafrechtliche Gefährdungshaftung geknüpft werden könne, wenn sich das vom Täter geschaffene Risiko realisiert308 . Dabei bedeute "sich riskant in bezug auf ein Rechtsgut verhalten ... die Gefahr für eine Beeinträchtigung dieses Rechtsguts schaffen"; auf die Verletzung einer Sorgfaltspflicht komme es dabei - im Unterschied zum fahrlässigen Verhalten309 - nicht an310 . Das fragliche Risiko scheint also das potentielle Opfer, nicht den potentiellen Täter zu treffen; in diesem Fall hätte die Konzeption Schweikerts mit dem hier diskutierten Zurechnungsmodell, demzufolge das Strafrecht dem Täter insofern ein Risiko aufbürdet, als es ihm in bestimmten Fällen wegen eines unverbotenen311 Verhaltens die Mög30t Insofern ausdrücklich zustimmend Arthur Kaufmann, Unrecht und Schuld beim Delikt der Volltrunkenheit, S. 278 f. Kaufmann diagnostiziert bei § 323 a einen Verstoß gegen das Schuldprinzip (S.278), hält die Bestimmung aber gleichwohl für unverzichtbar (S.291); anders ders., Die Irrtumsregelung im Strafgesetz-Entwurf 1962, S. 145. Zu dieser Diskrepanz ders., Schuld und Strafe, 2. Auf!. 1984, S. IX. Auch Lang-Hinrichsen hält die Möglichkeit der Existenz unrechtsrelevanter Strafbarkeitsbedingungen für möglich (ZStW 73 [1961] S.222), "löst" das Problem aber sogleich auf der normativen Ebene: Die Existenz derartiger Strafbarkeitsbedingungen "würde ... lediglich bedeuten, daß das Gesetz den Grundgedanken der Strafbarkeitsbedingungen verfehlt hat" (S. 222). 3117 Schweikert, Die Wandlungen der Tatbestandslehre seit Beling, S.87; ebenso ders., ZStW 70 (1958), S. 401. 808 Den Tenninus "Gefährdungshaftung" vermeidet Schweikert nur wegen der Gefahr einer Verwechslung mit den sog. "abstrakten" oder "konkreten" Gefährdungsdelikten; vgl. ZStW 70 (1958), S. 395. 800 ZStW 70 (1958), S. 398 (Hervorhebung im Original). 810 Zur praktischen Bedeutungslosigkeit dieses Verzichts im Rahmen der Konzeption Schweikerts vgl. Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 145 Fn. 126; Lang-Hinrichsen, ZStW 73 (1961), S.223; neuestens Wolter, NStZ 1982, S.57. 811 Ich verwende den Begriff "unverboten", um die mit dem Begriff "rechtmäßig" verbundene Assoziation einer positiven rechtlichen Bewertung zu vermeiden; das unverbotene Verhalten kann durchaus eine Obliegenheitsverletzung beinhalten. Zur Notwendigkeit der Einführung differenzierter

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

lichkeit der Exkulpation versagt, nichts zu tun. Dafür, daß SchweIkert selbst das riskante Verhalten in diesem Sinne versteht, spricht auch seine ausdrückliche Ablehnung der Auffassung von H. Bruns 312 , durch die Deutung unrechts relevanter Merkmale als objektive Strafbarkeitsbedingungen werde dem Täter ein gewisses Risiko aufgebürdet313 • Zweifel an dieser Deutung melden sich allerdings, wenn man vernimmt, daß der riskierte Tatumstand nicht immer ein Erfolg sein muß und daß demgemäß ein Kausalzusammenhang zwischen riskantem Verhalten und Risikoumstand nicht zu bestehen braucht314 . Denn worin sollte das Risiko, die Gefahr für das Opfer bestehen, wenn nicht in dem Eintritt einer Rechtsgüterverletzung, also einem Erfolg? Daß diese Zweifel berechtigt sind, erweist eine nähere Betrachtung des ausdrücklich als Fall einer Risikohaftung angeführten315 Tatbestands der üblen Nachrede (§ 186 StGB). Davon, daß die Behauptung einer ehrenrührigen Tatsache eine Gefahr für die Beeinträchtigung des Rechtsguts "Ehre" schaffe316 , kann nicht die Rede sein; denn die Rechtsgutsverletzung tritt mit der Behauptung ein und erschöpft sich in ihr. Auf die Frage, ob die Wahrheit der Behauptung schon die Rechtsgutsverletzung als solche und damit die Tatbestandsmäßigkeit ausschließt317 , kommt es dabei nicht an; denn in jedem Falle steht das Vorliegen (oder Nichtvorliegen) einer Rechtsgutsverletzung im Augenblick der fraglichen Äußerung fest. Die Erweislichkeit der Wahrheit ist für die Frage der Rechtsgutsverletzung unstreitig indifferent. Das fragliche Risiko trifft jedenfalls bei § 186 StGB den Täter, nicht das Opfer. Man könnte versucht sein, einzuwenden, der Tatbestand des § 186 StGB bilde dann eben entgegen der Auffassung Schweikerts keinen Fall der Haftung für riskantes Verhalten; der Autor habe seine Auffassung an einem ungeeigneten Beispiel demonstriert. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Denn zum einen bildet § 186 StGB keineswegs den einzigen von Schweikert angeführten Fall eines Risikodelikts, in dem es an einer Rechtsgutsgefährdung durch das riskante Verhalten fehlt; zumindest die Konkurstatbestände (§§ 239 ff. a. F. KO)318 mit der Bewertungen neben den Kategorien "rechtmäßig" und "rechtswidrig" vgl. Arthur Kaufmann, Rechtsfreier Raum und eigenverantwortliche Entscheidung, passim; Schild, Die strafrechtsdogmatischen Konsequenzen des rechtsfreien Raums, JR 1978, S. 449 ff., 570 ff., 631 ff. 312 Hermann Bruns, Kritik der Lehre vom Tatbestand, 1932, S. 32. 313 Die Wandlungen der Tatbestandslehre seit Beling, S. 87. 314 ZStW 70 (1958), S. 408. 315 ZStW 70 (1958), S.408. 316 Vgl. oben bei Fn. 308 f. 317 So ArthuT Kaufmann, Zur Frage der Beleidigung von Kollektivpersönlichkeiten, S. 218 ff. auf der Grundlage einer normativen Ehrauffassung. 318 Jetzt: §§ 283 ff. StGB.

I. Das Tatbestandsmodell

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objektiven Strafbarkeitsbedingung des Konkurseintritts und § 113 a. F. StGB liefern weitere Beispiele. Zum anderen aber handelt es sich bei § 186 StGB um ein bewußt gewähltes Beispiel, das die Möglichkeit eines mit der riskanten Handlung "koexistenten" Risikoumstands und damit die Verzichtbarkeit des Kausalzusammenhangs zwischen Handlung und Risikoumstand verdeutlichen soll. Mit diesem Kausalzusammenhang und der "Postexistenz" des Risikoumstands aber steht und fällt die Möglichkeit, das "riskante" Verhalten als Gefährdung eines Rechtsguts zu verstehen und diese Gefährdung zur Grundlage einer Schuldhaftung zu machen. Was bleibt, ist eine Risikohaftung in dem Sinne, daß der Täter mit der Vornahme (bzw. Unterlassung) einer bestimmten Handlung das Risiko eingeht, bei Eintritt oder Vorliegen von Umständen, die er weder kennen noch fahrlässig nicht kennen muß, bestraft bzw. härter bestraft zu werden. Daß diese Umstände verschiedentlich in der Realisierung einer vom Täter geschaffenen Gefahr bestehen, hat Schweikert dazu verleitet, das "Risiko" des riskanten Verhaltens auf die Beeinträchtigung fremder Rechtsgüter zu beziehen. Aber dieses Risiko ist den Fällen riskanten Verhaltens (in der VOn Schweikert markierten Abgrenzung) äußerlich und damit zufällig; gemeinsam, und zwar wesentlich gemeinsam, ist ihnen das gekennzeichnete Täternsiko. Wie nahe Schweikert dieser Einsicht kommt, zeigt etwa die Formulierung, wer sich im Sinne des § 323 a StGB in einen Rausch versetze, gehe "das Risiko ein, daß er in diesem Zustand eine ,mit Strafe bedrohte Handlung' begeht"319. In der Formulierung "ein Risiko eingehen" kann das Risiko nur bei ironischem Sprachgebrauch auf die Beeinträchtigung eines anderen bezogen werden. Das Risiko, das der Täter hier eingeht, ist in der Tat sein Risiko, nämlich das Risiko, bei Begehung einer Straftat trotz zur Tatzeit gegebener Schuldunfähigkeit bestraft zu werden. Im Eingehen dieses Risikos kann freilich nicht, wie Schweikert will320 , ein "Element des Strafunrechts" gefunden werden; denn ein eigenes Risiko des Täters tangiert nicht dessen Pflichten. Damit verliert die Theorie des riskanten Verhaltens ihre legitimatorische Kraft. Denn welches Risiko der Täter mit welchem Verhalten eingeht, legen allein die Straftatbestände fest; ein vorpositiver Risikozusammenhang, der die Existenz bestimmter Tatbestände rechtfertigen könnte, ist den "Risikodelikten" nicht wesentlich gemeinsam. Von Wert ist die Theorie als Analyse tatsächlicher strafrechtlicher Zurechnungsstrukturen; richtig verstanden, macht sie deutlich, daß die Rechtsordnung an bestimmte Verhaltensweisen das Risiko knüpft, wegen eines nicht schuldhaft (i. S. der überlieferten Schulddogmatik) herbeigeführten Erfolgs strafrecht318 320

Die Wandlungen der Tatbestandslehre seit Beling, S. 87. Wandlungen, S. 87; ebenso ders., ZStW 70 (1958), S. 403.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

lich zur Verantwortung gezogen zu werden. Damit ist freilich nur eine Grobstruktur gezeichnet, die der weiteren Ausarbeitung bedarf. Hinsichtlich dieser Grobstruktur aber besteht übereinstimmung mit dem hier diskutierten Zurechnungsmodell.

bb) Die Theorie Hardwigs Die Beziehung des Risikos auf die Bestrafung des Täters (statt auf die Beeinträchtigung des Opfers), die hier als Konsequenz des Zurechnungsmodells von Schweikert entwickelt wurde, tritt bei Hardwig deutlich zutage. Bei der üblen Nachrede (§ 186 StGB), die als "eindeutiges Beispiel für eine strafrechtliche Risikohaftung"S21 herangezogen wird, haftet der Behauptende strafrechtlich "ausschließlich deswegen, weil er den Beweis der Wahrheit nicht führen kann"s22. Es geht um das Risiko für den Täter, nicht um die Gefahr für das Opfer. Das hat die Folge, daß die riskante Handlung nicht als materiell rechtswidrig, nicht als "Element des Strafunrechts" verstanden werden kanns23 ; demgemäß resultiert die Rechtswidrigkeit des Sichbetrinkens im Fall des § 323 a StGB allein aus einem angenommenen Verbot des Sichbetrinkens durch den Gesetzgebers!4. Daraus ergeben sich weitreichende Konsequenzen. Löst man nämlich, wie Hardwig dies tut, die Risikohaftung von der Voraussetzung eines rechtswidrigen riskanten Vorverhaltens ab, dann ist eine Verhaltensnorm für die Fälle der Risikohaftung nicht mehr zu gewinnen. § 323 a StGB wäre bei einer entsprechenden Interpretation, was der hier vertretenen Auffassung entspricht, allein im Bereich der Zurechnungsnorm zu lokalisieren; statt einer Pflicht, sich nicht zu betrinken, wäre eine entsprechende Obliegenheit anzunehmen. Hardwig hält eine solche Interpretation des Vollrauschtatbestands ausdrücklich für vertretbar: Das Begehen einer Straftat im Vollrausch könne "sinnvoll auch dann für strafbar erklärt werden, wenn das Sichversetzen in einen Vollrausch nicht für rechtswidrig gehalten wird"s25. Das stimmt mit unserer Deutung des § 323 a StGB überein, derzufolge das Sichbetrinken nicht verboten ist, aber dem sich schuldhaft Berauschenden im Falle, daß er eine Straftat begeht, die Berufung auf die rauschbedingte Schuldunfähigkeit versagt wird. Hardwig legt seinen Ausführungen freilich eine andere Deutung des Vollrauschtatbestandes zugrunde, weil er die Möglichkeit einer Schuldkonstruktion nur bei Annahme der Rechtswidrigkeit des Sichberau321 322

323

31t 325

Studien zum Vollrauschtatbestand, S.463. Studien zum Vollrauschtatbestand, S. 462. So aber Schweikert, vgl. oben bei Fn. 320. Hardwig, Studien zum Vollrauschtatbestand, S. 464. S.464.

I. Das Tatbestandsmodell

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schens für gegeben erachtet326 . Aber auch auf der Grundlage dieser Interpretation gelangt Hardwig zu Ergebnissen, die sich mit der hier vertretenen Auffassung eng berühren. Denn die Anerkennung der Rechtswidrigkeit des Sichberauschens bleibt eine Konzession, die auf die Analyse der Zurechnungsstrukturen nicht durchschlägt. So hält Hardwig daran fest, daß die "eigentliche Unrechtstat" bei § 323 a StGB die Rauschtat selbst sei327 und diese Bestimmung nichts anderes heiße, "als daß der Gesetzgeber gewillt ist, jemand für Straftaten im Vollrausch verantwortlich zu machen"328. Diese Gewichtung der Momente des Vollrauschtatbestands bestimmt auch die Deutung des "Verbots" des Sichbetrinkens; denn für die Möglichkeit der Zurechnung der Rauschtat kommt es entscheidend darauf an, daß dieses Verbot als Warnung vor der Gefährlichkeit des Sichbetrinkens verstanden werden kann32'. An dieser Stelle wird deutlich, daß sich bei Hardwig zwei verschiedene Deutungsmuster überlagern: Auf der einen Seite die Konstruktion des versari in re illicita, deren Anwendbarkeit die formelle Rechtswidrigkeit der Vorhandlung voraussetzt, auf der anderen Seite die Idee, daß eine nicht rechtswidrige Handlung, vor der der Gesetzgeber warnt, die er aber nicht verbietet, unter Umständen die strafrechtliche Verantwortlichkeit für eine "an sich" schuldlos verübte Handlung begründen kann. Das Nebeneinander, oder besser: übereinander beider Deutungsmuster entspringt zum einen der Ambivalenz von normativer und analytischer Perspektive: Die Einschaltung des versari-Prinzips, die im Ergebnis die zutreffende Analyse der tatsächlichen Zurechnungsstruktur des § 323 a StGB zu verdecken droht, erscheint notwendig, um den § 323 a StGB als Fall von Schuldhaftung erweisen zu können. Die Voraussetzung der Rechtswidrigkeit des Sichbetrinkens ist aber zugleich Ausdruck einer gewissen Unsicherheit über die Struktur der Risikohaftung, wenn sie mit der Erwägung begründet wird, andernfalls läge ein Fall des erlaubten Risikos vor. Denn Begriff und Figur des "erlaubten Risikos" können sinnvoll nur auf die Gefährdung Dritter bezogen werden, während im Falle der Risikohaftung das (Straf-)Risiko des Täters angesprochen ist. Auch Hardwig entgeht also nicht ganz der Gefahr, das Risiko, das der Täter auf sich nimmt, mit den von ihm für andere geschaffenen Gefahren zu verwechseln. Die Doppeldeutigkeit des Risikobegriffs, der einmal ein Risiko des Täters, ein andermal die Gefährdung des Opfers meint, droht auch bei Hardwig die Einsicht in die "Tiefenstruktur" des § 323 a StGB zu verschütten. 328

S.464.

327 S.472. 828 32R

S.468. S.468.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

cc) Das Risiko eines rückwirkenden Verbots des Sich-Berauschens (Jakobs) Deutliche Parallelen zur Theorie Schweikerts und. Hardwigs weist die jüngste Rekonstruktion des § 323 a StGB durch Jakobs 330 auf, mit dessen Konzeption sich die hier vorgetragenen überlegungen in wesentlichen Punkten berühren. übereinstimmung besteht hinsichtlich der Funktion des § 323 a StGB, als dessen "Schutzzweck" Jakobs die "Ermöglichung von Zurechnung" 331 bestimmt; die Norm garantiere, "daß nicht Konflikterledigung per Zurechnung unmöglich wird"332. Damit ist mit erfreulicher Deutlichkeit klargestellt, daß die Regelung des § 323 a StGB an der exkulpierenden Funktion des Rausches, nicht an seiner "Gefährlichkeit" ansetzt333 . Zuzustimmen ist auch der Interpretation, der Täter handele zum Tatzeitpunkt auf eigenes Risiko334 • Nicht folgen kann ich allerdings der zugrundeliegenden normlogischen Rekonstruktion des Tatbestands. In übereinstimmung mit der herrschenden Auffassung und im Gegensatz zu der hier entwickelten Deutung betrachtet Jakobs als Strafgrund des Vollrauschs nicht die Rauschtat, sondern das Sich-Berauschen335 . § 323 a verbiete dem Täter, "seinen Bestand als zurechnungsfähiges Subjekt durch einen Rausch zu vernichten oder so stark zu beeinträchtigen, daß eine Vernichtung nicht auszuschließen ist"336. Die Garantie, daß die Konflikterledigung durch Zurechnung trotz Schuldunfähigkeit des Täters möglich bleibt, übernimmt also nicht eine den Anwendungsbereich des § 20 StGB einschränkende Regelung, sondern ein Verbot, sich der Zurechnung zu entziehen bzw. - was dasselbe ist - ein Gebot, sich zurechnungsfähig zu halten. Gegen eine derartige Konzeption ist zunächst einzuwenden, daß sie unnötig kompliziert erscheint. Wenn es die Funktion des § 323 a StGB ist, in den Fällen einer im selbstverschuldeten Rausch begangenen Straftat eine Zurechnung zu ermöglichen, dann ist die logische Konsequenz die Interpretation der Bestimmung als Regel, die diejenige Norm einschränkt, die in diesen Fällen Zurechnung ausschließt. Nach dem Modell, das Jakobs seiner Interpretation zugrundelegt, wird durch § 323 a StGB indes nicht die Zurechnung der Straftat ermöglicht, sondern die Zurechnung einer Handlung, die die Zurechnung der Straftat unmöglich gemacht hat. 330 331 332 333 334 335 3311

Jakobs, Strafrecht AT, S. 275 ff., 412 ff. S.414. S.413. Zu dieser Alternative vgl. oben S. 58. Jakobs, Strafrecht AT, S.275. S.412. S.412.

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Wenn auch Einwände, die unter Gesichtspunkten der notwendigen Rechtsgutsbezogenheit von Straftatbeständen gegen ein solches Modell erhoben werden könnten, in einem funktional orientierten Strafrechtssystem abgefangen werden könnten, so bleiben doch - zweitens normlogische und rechtsstaatliche Bedenken gegen die von Jakobs vorgeschlagene Interpretation. Denn da, wie Jakobs zutreffend feststellt337 , die Annahme eines generellen Verbots des Sich-Betrinkens zu unannehmbaren Konsequenzen führen würde, muß dieses Verbot an die Begehung einer Rauschtat gebunden werden: Die Berauschung "wird mit dem Eintritt der Tat rückwirkend verboten"338. Nun scheint mir die Vorstellung eines rückwirkenden Verbots, anders als die einer rückwirkenden Bestrafung, schon aus normlogischen Gründen problematisch; denn ein solches Verbot liefe auf das Verbot hinaus, nicht: etwas zu tun, sondern: etwas getan zu haben. Noch gewichtiger dürften die rechtsstaatlichen Bedenken sein: Daß zum Tatzeitpunkt in jedem Falle unentscheidbar sein soll, ob das fragliche Verhalten verboten ist oder nicht, ist schwer erträglich. Vermeiden lassen sich diese Unzulänglichkeiten, wenn man § 323 a StGB nicht als Verhaltensnorm, sondern als Zurechnungsregel interpretiert, d. h. als Regelung, die nicht verbietet, sondern verhindert, daß die Zurechnung der Tat durch das Sichberauschen des Täters unmöglich gemacht wird. c) § 323 a StGB als Ausnahmeregelung zu § 20 StGB

Diese "Tiefenstruktur" erweist den Vollrauschtatbestand als Ausnahmebestimmung zu den Regeln über die Voraussetzungen und rechtlichen Folgen der Schuldunfähigkeit. Deutet man den § 323 a StGB in diesem Sinne, dann lassen sich die im einzelnen aufgezeigten dogmatischen Schwierigkeiten, mit denen die herrschende Interpretation zu kämpfen hat, vermeiden. Das ergibt sich großenteils bereits aus den Argumentationen, mit denen die Kritik der einzelnen Unstimmigkeiten begründet wurde; für die wichtigsten Probleme soll die Lösungskapazität des "Ausnahmemodells" indes auch positiv nachgewiesen werden. Daß eine Bestrafung nach § 323 a StGB im Fall der Handlungsunfähigkeit des Täters ausscheidet, ergibt sich bei Zugrundelegung des Ausnahmemodells zwingend daraus, daß die §§ 20,21 StGB bei Fehlen einer Handlung als "Substrat des Zurechnungsurteils" nicht anwendbar sind339 . Für die Anwendbarkeit einer Ausnahmeregel zu § 20 StGB ist logischerweise dann kein Raum. Ebenso erklärt sich aus dieser Inter-

338

S.275. S.275.

339

LK/Lange, § 21 Rdnr.3.

337

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

pretation des § 323 a StGB ohne Schwierigkeiten, daß auch der innere Tatbestand der Rauschtat verwirklicht sein muß: Da § 20 StGB die Strafbarkeit rechtswidriger Taten einschränkt, kann die Ausnahmeregelung logischerweise die Strafbarkeit nicht erweitern. Die logische Grenze bildet der Umfang der Strafbarkeit, der ohne die Regelung der §§ 20, 21 StGB bestehen würde. Da auch in diesem Fall nur vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln bestraft werden könnte, muß bei fehlender Verwirklichung des inneren Tatbestandes auch die Bestrafung der im Vollrausch begangenen Tat entfallen. Auch die herrschende Meinung zum Problem der Kausalität zwischen Berauschung und Rauschtat ergibt sich zwingend aus dieser Interpretation des § 323 a StGB: Ist dieser als Ausnahmeregelung zu § 20 StGB zu verstehen, kann es auf die Kausalität nicht ankommen, weil auch § 20 StGB eine Kausalität zwischen den Gründen der Schuldunfähigkeit und der Straftat nicht voraussetzt. Muß § 323 a StGB als Gegenausnahme zu der in § 20 StGB geregelten Ausnahme verstanden werden, dann stellt er insofern die Strafbarkeit wieder her, wie sie sich ohne die Regelung des § 20 StGB ergeben würde. Er statuiert also die Irrelevanz des schuldhaften Alkoholrausches für die Strafbarkeit des Täters. Der Täter ist zu bestrafen, als hätte er die Tat im Zustand der Schuldfähigkeit begangen34o • Der Rausch ist nicht Grund der Strafbarkeit, sondern lediglich nicht Grund der Straflosigkeit. Ist es aber der Sinn des § 323 a StGB, den Vollrausch als Grund der Schuldunfähigkeit auszuschließen, kann es auf dessen Kausalität für die Strafe selbstredend nicht ankommen. Des weiteren erklärt die angebotene Deutung des § 323 a StGB auch zwanglos, daß eine Teilnahme am Delikt des § 323 a StGB nicht möglich ist: Ein Delikt des schuldhaften Sichberauschens existiert ebensowenig wie etwa ein Delikt des Verursachens einer Notstandslage (vgl. § 35 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 Alt. 1)341. Die Deutung des § 323 a nach dem Ausnahmemodell führt schließlich auch zu praktisch befriedigenderen Ergebnissen als die herrschende Auffassung; denn bei Zugrundelegung dieses Modells kann die strafrechtliche Sanktion nicht an den Nachweis der Schuldunfähigkeit bzw. der verminderten Schuldfähigkeit geknüpft werden. In den Kategorien von Regel und Ausnahme formuliert: Wenn das Eingreifen der Gegenausnahme nur deshalb fraglich ist, weil möglicherweise Voraussetzungen nicht vorliegen, die bereits die Ausnahme entfallen lassen würden, muß zwingend auf die Regel zurückgegriffen werden. Ob die Regel 340 Unter Berücksichtigung des besonderen Strafrahmens des § 323 a Abs. 1; insofern statuiert § 323 a nur eine partielle Ausnahme zu § 20. 341 Dazu unten S. 207 ff.

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anzuwenden ist, weil die Gegenausnahme eingreift, oder deshalb, weil schon die Voraussetzungen der Ausnahme nicht vorliegen, bleibt sich gleich. Ist unklar, ob der Täter strafbar ist, weil er im Zustand der Schuldfähigkeit gehandelt hat oder weil seine Schuldunfähigkeit durch Rauschmittelmißbrauch verschuldet und deshalb unbeachtlich ist - am Ergebnis seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit ändert sich nichts342 • Der Vorschlag, § 323 a StGB als Ausnahmeregelung zu § 20 StGB zu interpretieren, ist keineswegs neu. Hellmuth v. Weber hat in mehreren Arbeiten eine entsprechende Deutung des Vollrauschtatbestandes vorgelegt343 und de lege ferenda die weitgehende 344 gesetzestechnische Einbeziehung in § 51 a. F. gefordert; erwogen wird die Möglichkeit einer solchen Interpretation auch von anderen Autoren345 und in der Entscheidung des Großen Senats zur Problematik der Wahlfeststellung346 • In jüngster Zeit hat Hruschka im Rahmen einer breit angelegten Kritik der herrschenden Interpretation der Fälle eines strafbarkeitsrelevanten Vorverhaltens den Nachweis erbracht, daß dem Tatbestand des § 323 a die Funktion einer Ausnahme zu der Regel des § 20 StGB zukommt 347 • Daß diese Deutung sich bisher nicht durchzusetzen vermochte, dürfte zum einen auf die Probleme zurückzuführen sein, die eine Deutung des § 323 a StGB nach dem Ausnahmemodell unter dem 342

Vgl. aber oben Fn.340.

HelZmuth von Weber, Der Aufbau des Verbrechensbegriffs, 1935, S.21; ders., MDR 1952, S. 641 ff.; ders., GA 1958, S. 262. 343

344 Bestimmte Fallkonstellationen, in denen eine Bestrafung aus dem Tatbestand der Rauschtat gleichwohl ausscheiden würde, sollen von einem subsidiären Vollrauschtatbestand erfaßt werden; vgl. MDR 1952, 643. 345 Vgl. Bertram, MSchrKrim 1961, S. 104 ff.; Dtto, Grundkurs Strafrecht BT, 1977, S.288 (bei § 323 a handele es sich "sachlich nicht um ein eigenständiges Delikt "', sondern um eine Erweiterung der subjektiven Haftungsvoraussetzungen in einer bestimmten Situation für bestimmte Personen"); Maurach, Schuld und Verantwortung, S. 108 ff. Nach Geilen, Zur Problematik des schuldausschließenden Affekts, S. 192 Fn. 53, läßt sich "als positiv-rechtliche Lösung ein ... (der Regelung des § 323 a entsprechender, U. N.) Ausschluß des § 51 StGB bei der selbstverschuldeten Alkoholisierung durchaus denken". Kritisch zu diesem Deutungsvorschlag Schüler-Spnngorum, MSchrKrim 1973, S. 364. Die gesetzestechnische Konsequenz der Deutung des § 323 a StGB als Ausnahme zu (bzw. Einschränkung des) § 20 StGB wäre die Einfügung der Bestimmung in den Allgemeinen Teil des StGB; so etwa Hruschka, Strafrecht, S.297; Streng, JZ 1984, S. 120; früher schon v. Weber, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für die Rauschtat, S.297; vgl. auch Maurach/Zipf, AT/I, S.473. 3" BGHSt 9, 390, 395 ff. Der Große Senat lehnt diese Deutung wegen der Ausgestaltung des § 323 a als eigener Tatbestand im Besonderen Teil des StGB, der Unvereinbarkeit mit dem herrschenden Schuldbegriff und der Konsequenz, daß bei mehreren im Rausch begangenen Straftaten Tatmehrheit angenommen werden müßte, im Ergebnis jedoch ab. 347 Hruschka, Strafrecht, S. 291 ff. Zu Hruschkas eigenem Zurechnungsmodell vgl. unten.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

Aspekt des Schuldprinzips mit sich bringt348 , zum anderen darauf, daß ein Zurechnungsmodell, in das eine entsprechende Ausnahmeregelung eingestellt werden könnte, bisher nicht vorliegt. Der erste Gesichtspunkt ist hier deshalb auszuklammern, weil er im Grunde nicht die Interpretation, sondern die Existenz des § 323 a StGB betrifft. Daß § 323 a StGB in keiner der bisher vorgeschlagenen Deutungen mit dem Schuldprinzip in Einklang steht, ist von Arthur Kaufmann nachgewiesen349 und neuerdings wieder von Wolter 350 bestätigt worden. Das Schuldprinzip stellt die Legitimität der Regelung, nicht die bestimmter Deutungen der Regelung in Frage. Von Interesse sind hier dagegen die Schwierigkeiten, die sich der Rezeption des Ausnahmemodells unter dem zweiten Gesichtspunkt entgegenstellen. Sie könnten durch die Einordnung des § 323 a in ein Modell des strafrechtlichen "Verantwortungsdialogs" zumindest verringert werden. 3. Dogmatische Grenzen des Tatbestandsmodells: Die Behandlung der selbstverschuldeten Trunkenheit bei der Strafzumessung a) Die Bedeutung der Strafzumessungsdogmatik für die Frage der Zurechnungsstruktur; mögliche Bedenken Nach der hier vertretenen Auffassung kann die (schuldhafte) Herbeiführung der eigenen Trunkenheit weder bei § 323 a StGB noch im Rahmen der actio libera in causa als tatbestandsmäßige Handlung qualifiziert werden; in beiden Fällen bildet sie lediglich den materiellen Grund dafür, daß dem Täter die Trunkenheit entgegen den allgemeinen Regeln nicht zugute kommt. Bestätigen ließe sich diese Auffassung durch den Nachweis, daß das Selbstverschulden der Trunkenheit den Täter auch dort weitgehend belastet bzw. nicht entlastet, wo ein Rückgriff auf das Tatbestandsmodell von vornherein ausgeschlos348 Keine Probleme sieht Hruschka in diesem Punkt (a.a.O. S. 293 f.). Die Argumentation, falls man eine entsprechende Ausnahmeregel zu § 20 StGB für unvereinbar mit dem Schuldprinzip halte, müsse entsprechendes auch für die §§ 35 Abs. 1 S. 2 und 17 StGB gelten, überzeugt jedoch zumindest hinsichtlich der ersteren Parallele nicht: Das "Verschulden" der Notstandslage kann ein ansonsten unzumutbares Verhalten zumutbar machen, nicht aber das "Verschulden" eines Zustands der Schuldunfähigkeit 'diesen in einen Zustand der Schuldfähigkeit transformieren. 34U Arthur Kaufmann, Unrecht und Schuld beim Delikt der Volltrunkenheit, passim. 350 Wolter, NStZ 1982, S.56; ebenso Streng, JZ 1984, S. 118. Bedenken auch bei Haft, Strafrecht AT, S.101 (Erfolgshaftung, die "schuldstrafrechtlich bedenklich" sei); ders., Strafrecht BT, S. 265. 1.3. - Strafzumessung

I. Das Tatbestandsmodell

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sen ist. Das ist im Bereich der Strafzumessung der Fall, und zwar sowohl hinsichtlich der Strafzumessung im engeren Sinne als auch hinsichtlich der Entscheidung über eine Strafrahmenmilderung nach § 21 StGB. Vorweg ist freilich zu prüfen, ob aus der Behandlung der verschuldeten Trunkenheit im Strafzumessungsrecht Schlüsse auf die Zurechnungsstruktur in anderen Fällen schuldhaften Sichbetrinkens gezogen werden können. Das ist nicht unproblematisch. So wäre hinsichtlich der Strafrahmenmilderung des § 21 StGB zu fragen, ob nicht der fakultative Charakter der Strafmilderung in § 21 StGB die Berücksichtigung von Gesichtspunkten erlaubt, die sich der Kategorisierung als Merkmale der Höhe des Tatunrechts oder der Tatschuld entziehen. Wäre das der Fall, so bliebe die Analyse der Behandlung selbstverschuldeter Trunkenheit bei der Strafzumessung für die hier interessierende These deshalb unergiebig, weil eine generelle argumentative Beziehung zwischen dem "Verschulden" der Trunkenheit und deren Nichtberücksichtigung nicht hergestellt werden müßte. Man könnte dann argumentieren, die fakultative Regelung in § 21 StGB erlaube die Nichtberücksichtigung selbstverschuldeter Trunkenheit unabhängig von der Frage, ob eine Schuldminderung in diesem Falle gar nicht vorliege, ob die "an sich" gegebene Schuldminderung durch das "Verschulden" der Trunkenheit kompensiert werde oder ob das Verschulden der Trunkenheit die Minderung der Tatschuld gar nicht beeinflusse. Ferner ist zu erwägen, ob nicht infolge struktureller Besonderheiten der Strafzumessungsschuld die Frage der Berücksichtigung selbstverschuldeter Trunkenheit bei der Strafzumessung aus dem Problemkreis der Bedeutung "verschuldeter" rechtfertigender oder entschuldigender Umstände herausfällt.

aa) Die Eigenständigkeit der Strafzumessungsschuld Das letztere Problem stellt sich vornehmlich angesichts der Bedeutung, die dem Unterschied zwischen Strafbegründungs- und Strafzumessungsschuld gerade in neuerer Zeit beigemessen wird. So wird betont, daß "der Begriff der Strafzumessungsschuld in seinem sachlichen Substrat von dem der Strafbegründungsschuld weitgehend unabhängig" seil, daß "das Material der Strafzumessungslehre nur in sehr geringem Maße übereinstimmt mit dem Material der Schuldlehre im systematischen Sinne"2. Indes braucht auf das Verhältnis von Strafbegründungs- und Strafzumessungsschuld hier deshalb nicht 1 Roxin, Zur jüngsten Diskussion über Schuld, Prävention und Verantwortlichkeit im Strafrecht, S. 304; grundlegend zu der Unterscheidung Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre, S. 1 ff. 2 Achenbach, Grundlagen, S. 11.

9 Neumann

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

näher eingegangen zu werden, weil hinsichtlich der Beeinträchtigung des Einsichts- bzw. Steuerungsvermögens das "Material" von Strafzumessungs- und Strafbegründungslehre identisch ist3 • Das folgt aus § 21 StGB, der eine bestimmte "Vorstufe" der schuldausschließenden Einsichts- bzw. Steuerungsunfähigkeit als strafmaßrelevanten Schuldminderungsgrund anerkennt. Anders als bei der Schuldunfähigkeit des Kindes (§ 19 StGB) sind die Voraussetzungen der Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB (wenn auch nicht diese selbst)4 in dem Sinne graduierbar, daß einer verminderten Einsichts- bzw. Steuerungsfähigkeit ceteris paribus eine verminderte Schuld des Täters entspricht. Dies gilt, wie die folgenden überlegungen zeigen, auch unterhalb des von § 21 StGB erfaßten Bereichs einer Beeinträchtigung dieser Fähigkeiten. Daß die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, auch unterhalb der Schwelle des § 21 StGB beeinträchtigt sein kann, wird in dessen Formulierung vorausgesetzt; denn die Grenze der erheblichen Verminderung der genannten Fähigkeiten ist sinnvoll nur bei Annahme der Möglichkeit einer darunterliegenden, i. S. dieses Begriffs "unerheblichen" Beeinträchtigung. Die Struktur des Rechtsbegriffs der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit erlaubt also die strafrechtliche Berücksichtigung der Tatsache, daß die Fähigkeit zu kontrolliertem Verhalten mit zunehmendem Alkoholkonsum kontinuierlich abnimmt. Erzwungen wird diese Berücksichtigung durch die Bindung der Strafzumessung an das Schuldprinzip (für die § 46 Abs. 1 Satz 1 nur deklaratorische Bedeutung hat) und den Bezug der Schuld auf die Fähigkeit zum Andershandelnkönnen. Wird mit dem Schuldvorwurf eine Differenz zwischen dem wirklichen und dem für den Täter möglichen Verhalten behauptet und ist der Schuldbegriff in dem Sinne abstufbar, daß man sinnvoll von einer Höhe der Schuld sprechen kann, dann muß die Beeinträchtigung der Fähigkeit zum Andershandelnkönnen das Maß der Schuld beeinflussen. Die schuldmindernde Wirkung verminderter Hemmungsfähigkeit wird dementsprechend als solche nicht bestritten6 • 3 Hier zeigt sich die von Müller-Dietz betonte Identität des materiellen Kerns von Strafbegrundungs- und Strafzumessungsschuld, die aus dem Gesichtspunkt des Andershandelnkönnens als gemeinsamen Bezugspunkt resultiert; vgl. Müller-Dietz, Grenzen des Schuldgedankens im Strafrecht, S. 80 f. Müller-Dietz verwendet statt des Begriffs "Strafbegrundungsschuld" den Ausdruck "Tatbestandsschuld" , was in der Sache aber keinen Unterschied bedeutet. Grundlegend zur Bedeutung des Schuldprinzips für die Strafzumessung Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 255 ff. t Vgl. statt aller Schönke/Schröder/Lenckner, § 21 Rdnr. 1. 5 Vgl. statt aller LK/Hirsch, § 46 Rdnr.75.

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bb) Der fakultative Charakter der Strafrahmenmilderung nach § 21 StGB

Damit ist im Grunde auch schon der Einwand ausgeräumt, der fakultative Charakter der Strafmilderung bei § 21 StGB erlaube es nicht, die Nichtberücksichtigung selbstverschuldeter Trunkenheit im Rahmen dieser Bestimmung als Ausprägung eines allgemeinen Zurechnungsprinzips zu interpretieren. Denn wenn einer Beeinträchtigung der Einsichts- bzw. Steuerungsfähigkeit generell eine Schuldminderung korrespondiert, die bei der Strafzumessung prinzipiell zu berücksichtigen ist, dann gilt das erst recht für die erhebliche Verminderung dieser Fähigkeiten. Die Art und Weise der Berücksichtigung ist in diesen Fällen durch § 21 StGB vorgegeben. Wenn diese Bestimmung eine Strafmilderung nicht zwingend vorschreibt, kann das demnach nur so verstanden werden, daß trotz eines zwingend zu berücksichtigenden schuldmindernden Faktors andere Gesichtspunkte es rechtfertigen können, die Strafmilderung zu versagen. Dieses Ergebnis ist unabhängig von der umstrittenen Frage, ob die Ausgestaltung des § 21 StGB als nur fakultative Regelung gegen das Schuldprinzip verstößt, wie von der anderen, ob die Strafmilderung ggfs. auch aus schuldfremden Erwägungen versagt werden darf6 • Die schlichte Nichtberücksichtigung selbstverschuldeter Trunkenheit im Rahmen des § 21 StGB wäre nach keiner der zu diesen Fragen vertretenen Auffassungen zu begründen. Dieser Befund rechtfertigt es, die Behandlung der selbstverschuldeten Trunkenheit bei der Strafzumessung auf zug rundeliegende Zurechnungsprinzipien hin zu untersuchen. b) Die Behandlung der selbstverschuldeten Trunkenheit bei der Strafzumessung in Rechtsprechung und Lehre

Die allgemeine Auffassung über die Strafzurechnungsrelevanz selbstverschuldeter Trunkenheit (zugunsten des Täters) läßt sich zunächst auf die Formel bringen, daß eine generelle strafmildernde Wirkung auch außerhalb der Fälle der actio libera in causa nicht anzuerkennen sei. Die Kriterien, nach denen über Relevanz oder Irrelevanz der Alkoholisierung des Täters zu entscheiden ist, werden freilich nicht einheitlich bestimmt. Der Bundesgerichtshof vertrat in Anschluß an eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs7 zunächst die Auffassung, selbstverschuldete Trunkenheit bilde in der Regel Anlaß, die Strafe nicht zu mildern; in • Vgl. Schönke/Schröder/Lenckner, § 21 Rdnr. 15 m. Nachw. 7 OGHSt 2, 324. 9'

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

einer frühen Entscheidung des BGH8 wird ausdrücklich gebilligt, daß der Tatrichter das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs.2 a. F. StGB mit der Begründung offengelassen hatte, der Alkoholgenuß sei selbstverschuldet und könne deshalb dem Angeklagten nach den Umständen des Falles nicht zugute gehalten werden. Im gleichen Sinne betonte das Bayerische Oberste Landesgericht, daß "ein selbstverschuldeter Rausch meist keinen Anlaß für eine Strafmilderung bietet"9. Dagegen ging es bei der in diesem Zusammenhang ebenfalls angeführten10 Entscheidung BGH VRS 5, 283 nicht um das Problem, ob bei infolge selbstverschuldeter Trunkenheit erheblich verminderter Einsichts- bzw. Steuerungsfähigkeit die Strafmilderung nach § 49 StGB versagt werden darf, sondern um die ganz andere Frage, ob bei Verkehrsdelikten trotz der Annahme alkoholbedingt verminderter Schuldfähigkeit die Trunkenheit am Steuer strafschärfend berücksichtigt werden kann; diese Frage wurde vom Bundesgerichtshof bejaht. Die Unterscheidung beider Rechtsfragen ist in unserem Zusammenhang deshalb vordringlich, weil bei ihrer Beantwortung jeweils unterschiedliche Zurechnungsstrukturen zur Anwendung gelangen. Bei der Entscheidung BGH VRS 5, 283 wird die selbstverschuldete Trunkenheit bei der Strafzumessung nicht nur als Zurechnungsfaktor in Ansatz gebracht, sondern auch im Ergebnis der Strafzumessung berücksichtigt. Dagegen müssen die eingangs angeführten Entscheidungen des BGH und des BayObLG dahingehend verstanden werden, daß die selbstverschuldete Trunkenheit schon als solche bei der Strafzumessung nicht zugunsten des Täters zu berücksichtigen ist. Im einen Fall wird selbstverschuldete Trunkenheit als Strafzumessungsfaktor nicht anerkannt, im anderen zugleich strafmildernd und strafschärfend berücksichtigt l l . Eine Einschränkung des Grundsatzes, daß selbstverschuldete Trunkenheit in der Regel keinen Anlaß zur Strafmilderung bietet, formulierte eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1953 12 • Hier hatte die Strafkammer eine Strafmilderung nach § 51 Abs.2 a. F. StGB mit der Bemerkung verweigert, bei Delikten wie den vorliegenden (es ging um Diebstahl und gefährliche Körperverletzung) mache das Gericht in Fällen der alkohol bedingten Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit von der Möglichkeit der Strafmilderung grundsätzlich BGH bei Dallinger, MDR 1951, S. 457. BayObLGSt 1953, 143, 144. 10 Schönke/Schröder/Lenckner, § 21 Rdnr.20. 11 Zu dieser Ambivalenz Bruns, Strafzumessungsrecht, S.48; neuestens Burgstaller, Grundprobleme der Strafzumessung in Österreich, ZStW 94 (1982), S. 127 ff., S. 138 f. 12 BGH NJW 1953, S.1760. 8

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keinen Gebrauch. Der BGH hob mit der Begründung auf, die Strafkammer hätte nicht davon ausgehen dürfen, "daß für Taten bestimmter Art grundsätzlich eine Strafmilderung nach § 51 Abs.2 StGB ausscheide". In der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zeichnet sich die Tendenz ab, die Strafmilderung nach § 21 StGB jedenfalls dann zu versagen, wenn der Täter die enthemmende Wirkung des Alkohols kannte. Die Formulierungen sind im einzelnen unterschiedlich; abgestellt wird darauf, daß der Täter "die für ihn besonders ungünstige Wirkung des Alkohols seit geraumer Zeit kannte"18 bzw. darauf, daß er bereits früher unter Alkoholeinwirkung Straftaten begangen hatte und daher wußte, daß er nach dem Genuß von Alkohol zu Straftaten neige14. In einer offen generalpräventiv begründeten Entscheidung 15 schließlich wird formuliert, daß "mindestens bei solchen Angeklagten vor der Tat genossener Alkohol keinen Milderungsgrund abgibt, die trotz Kenntnis seiner enthemmenden Wirkung ihm auch dann in unvernünftigem Ausmaß zusprechen, wenn die Gefahr besteht, daß sie nach Genuß des Alkohols sich zu strafbaren Handlungen hinreißen lassen"16. Hat sich der Täter mit dem (auch bedingten) Vorsatz in den Rausch versetzt, in diesem Zustand eine bestimmte Straftat auszuführen, greift der BGH auf die Grundsätze der actio libera in causa zurück, um eine Strafmilderung nach § 21 StGB zu versagen17 . Die Stellungnahmen in der Literatur bieten ein ähnlich uneinheitliches Bild. Teils wird zustimmend vermerkt, daß das deutsche Strafrecht die selbstverschuldete Trunkenheit in der Regel nicht strafmildernd berücksichtige l8 , teils die Versagung der Strafmilderung an die Bedingung geknüpft, daß der Täter schon zu Beginn der Trunkenheit wisse oder wissen müsse, daß er im Rausch zur Begehung strafbarer Handlungen neige19. Der Rückgriff auf die actio libera in causa BGH bei Dallinger, MDR 1972, S. 16. BGH bei Dallinger, MDR 1972, S. 570. 15 Der Senat führt aus, in einer solchen Lage befänden sich "fast regelmäßig" Heranwachsende, die Bandenmitglieder sind, und stellt dann fest: "Zur wirksamen Bekämpfung im besonderen der Jugendkriminalität wird es dienen, wenn Alkoholgenuß als Milderungsgrund bei der Strafzumessung tunlichst ausscheidet." 18 BGH bei Dallinger, MDR 1960, S. 938. 17 BGH bei Dallinger, MDR 1967, S. 725; vorher schon RG JW 1930, S. 990 und BGH VRS 21, S.263. Zur Schwierigkeit, dies mit der herrschenden Deutung der actio libera in causa zu vereinbaren, vgl. oben S. 128. 18 Jescheck, AT, S.363. 1. LK/Hirsch, § 46 Rdnr. 76. Für die übertragung des hinter § 7 WStG stehenden Prinzips auf das allgemeine Strafrecht auch Vogler; vgl. Muscheler, Probleme der Alkoholdelinquenz; strafrechtlicher Diskussionsbericht über das VI. Deutsch-Jugoslawische Kolloquium in Köln (28.-31. Mai 1980), ZStW Beiheft 1981, S. 109 ff., 112. 13

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

in den Fällen der Vorhersehbarkeit der konkreten Tat wird weitgehend gebilligt 2o • c) Mögliche Zurechnungsstrukturen

Wird die alkoholbedingt verminderte (bzw. erheblich verminderte) Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Täters im Ergebnis nicht strafmildernd berücksichtigt, so kann das auf prinzipiell unterschiedlichen Erwägungen beruhen. Denkbar ist einmal, daß die Verminderung dieser Fähigkeiten als Faktor bei der Strafzumessung schuldmindernd in Ansatz gebracht, aber im Ergebnis durch den schulderhöhenden Faktor des Sichbetrinkens (evtl. unter bestimmten Umständen) neutralisiert wird. Zum andern wäre es möglich, der selbstverschuldeten Trunkenheit von vornherein eine schuldmindernde Funktion zu versagen.

aa) Das Kompensationsmodell Die erste Möglichkeit, die hier als Methode der Kompensation bezeichnet werden soll, ist im Rahmen der Strafzumessung nach § 46 StGB strukturell unproblematisch; nach § 46 Abs.2 Satz 1 StGB wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei sind jedenfalls bei der Ermittlung der schuld angemessenen Strafe (bzw. ihres Rahmens) alle relevanten Faktoren beliebig kombinierbar; die "Kompensation" schuldmindernder durch schulderhöhende Umstände ist ein rein rechnerischer Vorgang, der demgemäß einen sachlichen Zusammenhang zwischen den zu verrechnenden Größen nicht voraussetzt. Betrachtet man (was freilich problematisch ist) den Alkoholgenuß als solchen als strafzumessungsrelevantes Verschulden, so ist seine Berücksichtigung bei der Strafzumessung nicht an den Nachweis eines sachlichen Zusammenhangs mit der Tat geknüpft. Problematischer ist die Methode der Kompensation beim Aufwiegen der erheblich verminderten Schuldfähigkeit durch schulderhöhende Umstände. Denn § 21 StGB bezieht sich, anders als § 46 StGB, nur auf einen strafmaßrelevanten Schuldfaktor und ordnet diesem isoliert einen gegenüber der Regelstrafdrohung abweichenden Strafrahmen zu. Die erheblich verminderte Schuldfähigkeit wird damit der beliebigen Verrechenbarkeit mit anderen Schuldfaktoren entzogen. Freilich erfolgt diese Zuordnung nach dem Wortlaut des § 21 StGB nicht obligatorisch, sondern fakultativ; der Richter kann die Strafe in Fällen erheblich verminderter Einsichts- bzw. Steuerungsfähigkeit nach § 49 20 Bruns, Strafzumessungsrecht, S.531; LK!Hirsch, § 36 Rdnr.76; Schönke! SChröder!Lenckner, § 21 Rdnr.21.

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StGB mildem, er muß es nicht tun. Auf diesen Wortlaut des § 21 StGB berufen sich diejenigen, die auch im Falle der Voraussetzungen des § 21 StGB eine Kompensation der verminderten Schuldfähigkeit durch schulderhöhende Umstände und damit den Rückgriff auf den Regelstrafrahmen zulassen wollen. Diese Argumentation über § 21 StGB ist in der Tat zwingend, wenn man die Bestimmung, ihrem Wortlaut entsprechend, als nur fakultative Regelung interpretiert; denn der damit eröffnete Entscheidungsspielraum kann jedenfalls auch und gerade durch Einbeziehung schuldrelevanter Faktoren ausgefüllt werden21 • So problematisch es ist, aus der Kann-Regelung die Zulässigkeit präventiv begründeter Versagung der schuldangemessenen Strafmilderung zu folgern22 : Die Zulässigkeit der Kompensation der verminderten Schuldfähigkeit durch schulderhöhende Umstände ergibt sich zwingend, wenn man § 21 StGB als fakultative Regelung versteht; denn (unter dem Aspekt des Schuldprinzips) unbedenklichere Gesichtspunkte als solche der Schuld stehen für die Ausfüllung des Entscheidungsspielraums nicht zur Verfügung. Fraglich ist allerdings, ob dieses am Wortlaut orientierte Verständnis des § 21 StGB angemessen ist. Die Frage wird teilweise mit der Begründung verneint, aus dem Schuldprinzip folge, daß der verminderten Schuld durch Anwendung der Strafrahmenmilderung Rechnung getragen werden müsse23 • Für diese Auffassung spricht, daß die Eröffnung eines anderen Strafrahmens es nahelegt, alle verbleibenden Strafzumessungsfaktoren innerhalb dieses Rahmens zu berücksichtigen. Ein Strafrahmen, der auch überschritten werden kann, ist keiner; und wäre der Gesetzgeber der von der h. M. vertretenen Auffassung gewesen, auch im Falle erheblich verminderter Schuldfähigkeit könne 21 Bei fakultativer Strafmilderung nach § 49 StGB kann sich die Entscheidung im allgemeinen auch daran orientieren, "ob der Gesichtspunkt, der das Gesetz zur Eröffnung der Möglichkeit nach I veranlaßt ... im Einzelfall in einer Weise konkretisiert ist, daß die Abweichung vom Regelstrafrahmen am Platze ist" (Dreher-Tröndle, § 49 Rdnr.4). Es ist aber sehr fraglich, ob die Voraussetzungen in § 21 Raum für derartige Konkretisierungen lassen; denn der Grad der Minderung der genannten Fähigkeiten scheidet, da bei den Voraussetzungen der Zulässigkeit der Milderung berücksichtigt, insofern aus, und andere Konkretisierungsparameter sind nicht ersichtlich. Daß die verminderte Schuldfähigkeit durch erschwerende Umstände "aufgewogen" wird, ist jedenfalls kein Gesichtspunkt der "Konkretisierung" der verminderten Schuldfähigkeit (so aber Dreher-Tröndle, § 49 Rdnr.4). !2 Dafür Dreher-Tröndle, § 21 Rdnr.6; Arbab-Zadeh, NJW 1978, S.2328; gegen letzteren zu Recht Kreuzer, NJW 1979, S. 1241. 23 So Baumann, AT, S.392; Maurach/Zipf, AT/I, S.129; SK/Rudolphi, § 21 Rdnr.5; Schmidhäuser, AT, S. 778; Stratenwerth, AT, Rdnr.546 ("klarer Verstoß gegen das Schuldprinzip"); kritisch auch Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S.260. Anders BVerfG, NJW 1979, S. 207 und die h. M.; vgl. Schönke/ Schröder/Lenckner, § 21 Rdnr.14 m. Nachw. Vgl. auch Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 517 ff.

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die konkrete Schuld des Täters das im Rahmen des § 49 StGB berücksichtigungsfähige Maß übersteigen2 4, hätte er in § 21 StGB sinnvollerweise allein die Untergrenze des Regelstrafrahmens zur Disposition gestellt25 • Aber diese überlegungen rechtfertigen allein nicht eine Auslegung gegen den Wortlaut des Gesetzes. Entscheidend ist vielmehr, ob die nur fakultative Strafmilderung gegen das Schuld prinzip verstößt, ob, mit anderen Worten, das Schuldprinzip zwingend fordert, für die Fälle bei Tatbegehung erheblich verminderter Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit einen besonderen Strafrahmen zur Verfügung zu stellen. Diese Frage dürfte zu verneinen sein. Auch wenn das Schuldprinzip verlangt, das geminderte Einsichts- und Hemmungsvermögen bei der Bestimmung der Strafhöhe zu berücksichtigen: Die Frage, wie das zu geschehen habe, ob durch Berücksichtigung innerhalb des Regelstrafrahmens oder durch Eröffnung eines anderen Strafrahmens, ist eine Frage der Gesetzestechnik und wird durch das Schuldprinzip nicht präjudiziert. Da aber die verminderte Schuldfähigkeit auch bei Ablehnung der Milderung nach § 49 StGB bei der Strafzumessung berücksichtigt werden kann26 , ist ein Verstoß gegen das Schuldprinzip wohl zu verneinen. Bedenklich erscheint unter diesem Aspekt die Versagung der Strafmilderung in den Fällen, in denen eine Berücksichtigung der (erheblich) verminderten Schuldfähigkeit bei der Strafzumessung nicht in Betracht kommt, also in den Fällen der absolut bestimmten Regelstrafe, die im deutschen Strafrecht nur in Form der lebenslangen Freiheitsstrafe existiert. Bekanntlich läßt die vom BundesVgl. etwa BVerfG, NJW 1979, S. 207. Darauf, ob die Tat trotz der verminderten Schuldfähigkeit schwerer wiegt als der denkbar leichteste Regelfall bei voller Schuldfähigkeit, kann es entgegen BGHSt 7, 28 im allgemeinen nicht ankommen; denn das Mindestmaß der Regelstrafe kann auch bei Anwendung des § 49 StGB in allen Fällen von Geld- und zeitiger Freiheitsstrafe überschritten werden (vgl. § 49 Abs. 1 Nr.2 StGB); die Argumentation des BGH erklärt sich nur daraus, daß es im zu entscheidenden Fall um die "absolute" Strafdrohung der lebenslangen Freiheitsstrafe ging. In diesen Fällen liegt das Problem weniger darin, daß der von § 49 Abs. 1 Nr. 3 i. V. m. § 38 Abs.2 StGB eröffnete Strafrahmen für die Verhängung einer schuldangemessenen Strafe nicht ausreichen würde, als vielmehr in der mangelnden Flexibilität der Strafdrohung des § 211 StGB, die es nicht erlaubt, bei der Strafzumessung zwischen dem "denkbar leichtesten Regelfall" , auf den der BGH abstellt, und dem denkbar schwersten Regelfall zu unterscheiden. Die Friktionen, die aus der Notwendigkeit resultieren, einen Strafrahmen mit einer absoluten Strafdrohung zu korrelieren, gehen nach dem Urteil zu Lasten des Betroffenen; die Argumentation, die fragliche, im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit begangene Tat wiege leichter als die denkbar schwersten Fälle der Regelstrafe, wäre ebenso plausibel. Zu lösen wären die hier resultierenden Probleme wohl nur auf dem von BGHSt 30, 105, 120 ff. eingeschlagenen Weg einer Auflockerung der absoluten Strafdrohung, der freilich ein Weg des Gesetzgebers sein sollte. 26 Vgl. SK/Rudolphi, § 21 Rdnr.6; LK/Lange, § 21 Rdnr.98; zu § 7 WStG OLG Schleswig, SchlHA 1971, 221. 24

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verfassungsgericht 27 sanktionierte Rechtsprechung des BGH28 es auch in diesen Fällen zu, die Strafmilderung nach § 49 StGB trotz Vorliegens der Voraussetzungen des § 21 StGB zu versagen. Hier liegt das Problem freilich weniger in der fakultativen Regelung des § 21 StGB als in der Existenz einer absoluten Strafdrohung, die außertatbestandliche schuldmindernde Umstände prinzipiell nicht zu berücksichtigen vermag. Auf die Frage, ob derartige Strafdrohungen mit dem Schuldprinzip in Einklang zu bringen sind, kann hier nicht eingegangen werden29 . Die Kompensation schuldmindernder durch schulderhöhende Umstände dürfte demnach sowohl bei der eigentlichen Strafzumessung als auch im Rahmen des § 21 StGB jedenfalls prinzipiell zulässig sein3o. Eine andere Frage ist, ob damit tatsächlich ein Weg eröffnet ist, dem Täter die strafmildernde Berücksichtigung selbstverschuldeter Trunkenheit zu versagen. Diese Frage wird von Teilen der Rechtsprechung wie von Stimmen in der Literatur bejaht. Nach Dreher/Tröndle scheidet auch bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB eine Schuldminderung und dementsprechend eine Strafmilderung aus, "wenn die Minderung ... durch schulderhöhende Umstände, vor allem verschuldete Herbeiführung des Ausnahmezustands (z. B. Alkoholgenuß ...) ausgeglichen wird"31. Auch Bruns vertritt die Auffassung, "zusätzliche straferhöhende Umstände" könnten "die wegen der verminderten Zurechnungsfähigkeit etwa gebotene Strafmilderung mehr oder weniger ausgleichen" und zitiert zustimmend die Rechtsprechung des BGH, derzufolge als ein solcher "ausgleichender straferhöhender Umstand" die Tatsache gewertet werde, "daß der Angeklagte aus früheren Erfahrungen ... wußte, daß er unter Alkoholeinwirkung zu (solchen) Exzeßtaten neigte"32. Diese Auffassung ist indes Bedenken ausgesetzt. Zunächst ist fraglich, ob der Alkoholgenuß als solcher bzw. als "verschuldete" Herbeiführung des Ausnahmezustands tatsächlich generell BVerfGE 50, 5. BGHSt 7, 28; zustimmend Dreher/Tröndle, § 21 Rdnr.6; Montenbruck, Strafrahmen und Strafzumessung, S. 128; kritisch SK/Rudolphi, § 21 Rdnr.6; vgl. dazu oben Fn. 25. 28 Bejahend BVerfGE 45, 187; BVerfG, JZ 1980, S. 475; verneinend LG Verden, NJW 1976, S.980. Umfassend lescheck/Triffterer, Ist die lebenslange Freiheitsstrafe verfassungswidrig?, 1978. 00 In diesem Sinne auch Montenbruck, Strafrahmen und Strafzumessung, S.128. 31 Dreher/Tröndle, § 21 Rdnr.6. Auch Hirsch hält die Möglichkeit einer "Hinzurechnung von im Vorbereich liegenden Selbstverschulden" bei der Strafzumessung für "selbstverständlich"; das könne im Ergebnis, wie bei § 7 WStG, zum Ausschluß der Strafmilderungsmöglichkeit des § 21 StGB führen (Hirsch, Alkoholdelinquenz in der Bundesrepublik Deutschland, S. 6). 32 Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 532 unter Hinweis auf BGH, MDR 1972, S. 16, und BGH, MDR 1972, S. 570. 27

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als ein die Tatschuld erhöhender Umstand anerkannt werden kannas. Die Frage erscheint unter zwei verschiedenen Aspekten als diskussionsbedürftig: Zum einen ist zu prüfen, ob der Alkoholgenuß vor Tatbegehung überhaupt in den Kreis der sog. Strafzumessungstatsachen einbezogen werden darf; zum andern stellt sich die Frage, ob - bejahendenfalls - der Alkoholgenuß dem Täter strafrechtlich zum Vorwurf gemacht werden kann. Wieweit das Verhalten des Täters vor und nach der Tat bei der Zumessung berücksichtigt werden kann, ist umstritten. Nimmt man den Begriff der Tatschuld ernst, kommt unter Schuldgesichtspunkten eine Berücksichtigung jedenfalls des Nachtatverhaltens nicht in Betracht, weil Tatunrecht und Tatschuld mit Beendigung der Tat feststehen 34 • Gleichwohl ist eine Berücksichtigung des Vor- und Nachtatverhaltens nach der ganz überwiegenden Meinung, die sich auf den Katalog des § 46 Abs.2 StGB ("Vorleben des Täters" und "Verhalten nach der Tat") stützen kann, zulässig35• Uneinigkeit besteht allerdings in bezug auf Modus und Reichweite ihrer Einbeziehung. Hinsichtlich des ersten Aspekts ist umstritten, ob das Vor- und Nachtatverhalten als selbständiger Faktor der Strafzumessungsschuld oder nur insofern berücksichtigt werden darf, als es Rückschlüsse auf die Einstellung des Täters zur Zeit der Tat zuläßt 36 • Noch weniger geklärt ist die Frage, welcher zeitliche und sachliche Zusammenhang zwischen der Straftat und dem bei der Strafzumessung zu berücksichtigenden Vor- bzw. Nachverhalten bestehen muß. Während teilweise im Anschluß an Beling37 neben dem "Tatbestandskern" nur die diesen umgebende Außenzone als 3a Daß es auch bei der Strafzumessung auf die Tatschuld ankommt und die Strafmilderung nach § 21 nicht unter Berufung auf eine "Täterschuld" versagt werden darf (so aber Welzel, Das deutsche Strafrecht, S.258; gegen ihn treffend Stratenwerth, AT, Rdnr.532), ist heute nahezu unbestritten (vgl. Horstkotte, JZ 1970, S. 125); für "zu eng" halten den Begriff der Tatschuld mit Rücksicht darauf, daß "personale Faktoren vor und nach der Tathandlung" einzubeziehen seien, Dreher/Tröndle, § 46 Rdnr.4; auch nach Dreher/Tröndle ist es aber unzulässig, dem Täter allein wegen seiner Lebensführung oder seines bloßen Soseins einen Vorwurf zu machen. U Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 259. Ausführlich zum Problem des strafmildernden Nachverhaltens Battke, Strafrechtswissenschaftliche Methodik und Systematik bei der Lehre vom strafbefreienden und strafmildernden Täterverhalten, S. 657 ff. 35 Daß das Vorleben des Täters und sein Verhalten nach der Tat nach Auffassung des Gesetzgebers jedenfalls nicht nur präventionsrelevant sind, zeigt die Formulierung in § 46 Abs.2 S. 1 "Umstände, die für und gegen den Täter sprechen". 36 Sog. Indiztheorie, vgl. BGHSt 1, 106; BGH, NJW 1962, S. 1829; Baumann, NJW 1962, S.1793; Bruns, Strafzumessungsrecht, S.575; kritisch Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 259; Lang-Hinrichsen, Bemerkungen zum Begriff der "Tat" im Strafrecht, S. 355 ff. 87 Beling, Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 251 ff.

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Strafzumessungsgrundlage akzeptiert wird 38 , teilweise der "Wertzusammenhang" der fraglichen Handlung mit der Tat als Kriterium der Berücksichtigungsfähigkeit erscheint39 , läßt die Rechtsprechung die Einbeziehung des gesamten Verhaltens des Täters zu, soweit es sich auf die Tat bezieht 40 . Zu dieser Diskussion kann hier natürlich nicht im einzelnen Stellung genommen werden. Das ist indes auch nicht erforderlich. Denn der Alkoholkonsum als solcher kann, gleichgültig welcher Auffassung man folgt, schon deshalb nicht strafschärfend berücksichtigt werden, weil er keine sozial ethische Mißbilligung erfährt (die nach § 20 StGB zu beurteilenden Fälle sinnloser Trunkenheit können hier, bei der Strafzumessungsproblematik, ausgeklammert werden). Es fehlt also insofern an der "Vorwerfbarkeit"41 des Vorverhaltens. Eine straferhöhende Berücksichtigung des Alkoholgenusses vor der Tat bzw. des dadurch "schuldhaft" herbeigeführten Ausnahmezustands kann nur unter besonderen Bedingungen erfolgen, die eine "Beziehung" zwischen dem Alkoholgenuß und der Tat herstellen. Dementsprechend hat der BGH die strafschärfende Berücksichtigung der Tatsache, daß der nach §§ 223, 223 a StGB verurteilte Angeklagte Alkohol zu sich nahm, obwohl er eine Pistole, die spätere Tatwaffe, bei sich trug, beanstandet42 ; dies sei nur dann zulässig, wenn der Alkoholgenuß überhaupt die Tat beeinflußt habe und der Täter zumindest damit rechnen mußte, er werde in die Lage kommen, die Waffe zu benutzen und die genossene Alkoholmenge werde ihn so enthemmen, daß er "wahlloser und risikobereiter" die Waffe ziehe. Der BGH verlangt also einen Kausalzusammenhang zwischen Alkoholgenuß und Tatbegehung bzw. -durchführung und die (zumindest) potentielle Kenntnis des Täters von diesem Zusammenhang. Mit dem Erfordernis des Kausalzusammenhangs zwischen Alkoholgenuß und Tatbegehung wird eine Voraussetzung explizit gemacht, die in anderen Urteilen des BGH nur implizit in den subjektiven Anforderungen zum Ausdruck kommt, der Täter müsse seiner Neigung zur Begehung von Straftaten unter Alkoholgenuß43 bzw. dessen besonders ungünstige 38 3D

Spendel, Zur Lehre vom Strafmaß, 1954, S. 231. Lang-Hinrichsen, Bemerkungen zum Begriff der "Tat" im Strafrecht,

passim, demzufolge dieser Wertungszusammenhang die fraglichen Handlungen mit der im engeren Sinne tabestandsmäßigen Handlung zu einer Gesamttat verknüpft. 40 BGHSt 5, 132; 17, 143; BGH, MDR 1955, S.146; zustimmend Dreher/ Tröndle, § 46 Rdnr. 16. 41 BGH bei Dallinger, MDR 1973, S. 899. 42 BGH bei Dallinger, MDR 1973, S. 899. Dazu, daß die Trunkenheit, die ohne Einfluß auf die Tat geblieben ist, nicht strafschärfend berücksichtigt werden darf, vgl. auch Schönke/Schröder!Stree, § 46 Rdnr.22. Hinsichtlich der Begehung von Verkehrsdelikten a. M. BGH VRS 43, 419; BayObLG VRS 44, 180; BGH bei Rüth, DAR 1980, S. 263. 43 BGH bei Dallinger, MDR 1972, S. 570.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

Wirkung 44 gekannt haben, und an deren Nachweis die strafschärfende Berücksichtigung des Alkoholgenusses in den meisten Fällen (mit Ausnahme vielleicht der Verkehrsdelikte) scheitern dürfte. Daß der (voll schuldfähige!) Täter die Tat ohne Alkoholeinfluß nicht begangen hätte, wird sich kaum je mit einer dem in dubio-Prinzip genügenden Sicherheit aufzeigen lassen. Es wiederholen sich hier die Schwierigkeiten, denen sich die h. M. bei der Interpretation des § 323 a StGB wie bei der Deutung der actio libera in causa ausgesetzt sieht: Auch in diesen Fällen müßte aufgrund der gewählten Konstruktion der Nachweis der Kausalität des Alkoholgenusses für die Tatbegehung erbracht werden, und in beiden Fällen kann dies nicht geleistet werden. Problematisch ist darüber hinaus, ob für das Sichbeziehen der Vorhandlung auf die Tat im subjektiven Bereich auch bei vorsätzlicher Tatbegehung Fahrlässigkeit (Kennenmüssen) ausreichen kann. Ob Unrecht und Schuld der Vorsatztat durch fahrlässige Vorhandlungen in relevantem Maße erhöht werden können, ist zumindest zweifelhaft. Der Vorwurf bleibt aber, auch wenn der Täter sich bewußt betrunken hat, ein Fahrlässigkeitsvorwurf; es genügt, daß der Täter erkennen konnte, daß er unter Alkoholeinfluß zur Begehung von Straftaten neige. Dieser Gedanke leitet über zu dem zweiten Einwand gegen das "Kompensationsmodell": Warum das im Alkoholgenuß angeblich liegende Verschulden gerade so zu bemessen sein soll, daß es die verminderte Schuldfähigkeit zu kompensieren vermag, ist nicht zu erklären. Die Ursache der Identität der Schuldquanten bleibt verborgen. Nicht zu erklären ist ferner, daß verminderte Schuldfähigkeit und Schulderhöhung durch Alkoholgenuß überhaupt in eine rechnerische Beziehung gebracht werden. Die Verrechnung schuldmindernder und schulderhöhender Umstände erfolgt üblicherweise im Rahmen einer Gesamtkalkulation, in die sämtliche strafzumessungsrelevanten Faktoren eingestellt werden. Die Tatsache, daß hinsichtlich der selbstverschuldeten Trunkenheit von diesem Verfahren abgewichen wird, erlaubt nur eine Deutung: Es geht in "Wirklichkeit" nur darum, in bestimmten Fällen die verschuldete Minderung der Schuldfähigkeit als Strafzumessungsfaktor auszuschließen. bb) Das Ausnahmemodell Die Unstimmigkeiten des Kompensationsmodells haben die Suche nach anderen, befriedigenderen Deutungsmustern veranlaßt. So wird erwogen, die Versagung der Strafmilderung in den Fällen schuldhafter Herbeiführung (erheblich) verminderter Schuldfähigkeit damit zu begründen, "daß die selbstverschuldete Verminderung der Schuldfähig410

BGH bei Dallinger, MDR 1972, S. 16.

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keit schon für sich gesehen die Schuld jedenfalls nicht ,erheblich' mildert". Lenckner, von dem dieser Vorschlag herrührt45 , räumt selbst ein, auch dies stoße "konstruktiv auf nicht geringe Schwierigkeiten"46. In der Tat: So berechtigt Lenckners Kritik an der "Kompensationslösung" ist 47 , so schwer ist sein Vorschlag auf der Ebene der Dogmatik zu begründen. Denn die Erheblichkeit der Schuldminderung ist in § 21 StGB, wenn man die Möglichkeit einer Kompensation ablehnt, eine Folge allein der Erheblichkeit der Minderung der Einsichts- bzw. Steuerungsfähigkeit. Ob diese Fähigkeit erheblich gemindert ist, wird als empirische Frage verstanden. Für normative Erwägungen, die an das "Verschulden" der verminderten Schuldfähigkeit anknüpfen könnten, läßt der Begriff keinen Raum. Indes kommt Lenckner der tatsächlichen Zurechnungsstruktur bei der Behandlung der fraglichen Fälle sehr nahe. Denn auch hier geht es darum, daß der Täter sich auf die erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit nicht berufen kann, wenn er sie schuldhaft herbeigeführt hat. Lenckner sieht richtig, daß der Ausschluß der Strafmilderung nur an dem Moment der (erheblichen) Minderung der Schuldfähigkeit selbst ansetzen kann, wie auch, daß er auf diesem Weg dogmatisch nicht zu begründen ist. Seine Argumentation führt zu der richtigen Lösung, wenn man den Strafzumessungsfaktor statt auf der dogmatischen Ebene erster Stufe auf der Metaebene (dogmatische Ebene zweiter Stufe) eliminiert. Nicht weil die Schuldfähigkeit des Täters in den fraglichen Fällen nicht erheblich gemindert wäre, darf die Rahmenmilderung nach § 49 Abs.1 StGB versagt werden, sondern deshalb, weil der Täter sich auf die von ihm selbst verschuldete Schuldminderung nicht berufen kann. Es ist deshalb im Ergebnis durchaus zutreffend, wenn Schröder48 sich in diesem Zusammenhang auf den Grundgedanken des § 323 a StGB bezieht; denn in beiden Fällen wird dem Täter (bei § 323 a StGB freilich nicht vollständig) die Berufung auf die selbstverschuldete Trunkenheit versagt. Die Parallele stimmt freilich nur, wenn man die hier vertretene Deutung des § 323 a 8tGB zugrundelegt; vor dem Hintergrund der h. M. zur Struktur des Vollrauschtatbestands ist der Einwand Lenckners durchschlagend, bei § 21, nicht aber bei § 323 a StGB werde der Täter für die Tat selbst verantwortlich gemacht4 9 •

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48 48

Schönke/Schröder/Lenckner, § 21 Rdnr.21. Schönke/Schröder/Lenckner, § 21 Rdnr.21. Schönke/Schröder/Lenckner, § 21 Rdnrn. 19,21. Schönke/Schröder, 17. Aufl., § 51 Rdnr.43. Schönke/Schröder/Lenckner, § 21 Rdnr.21.

11. Alternative von Tatbestandsmodell und Ausnahmemodell: Die vorsätzliche Notwehrprovokation 1. Die Problemstruktur Das von den Fällen der Notwehrprovokation aufgeworfene Zurechnungsproblem entspricht insofern dem der nach den Regeln der actio libera in causa behandelten Fälle, als die tatbestandsmäßige, die Rechtsgutsverletzung unmittelbar herbeiführende Handlung nach den allgemeinen Regeln der Strafrechtsdogmatik nicht strafbar wäre, die Straflosigkeit aber infolge eines vorausgehenden, mit der Verletzung in kausalem und/oder finalem Zusammenhang stehenden Fehlverhaltens des Täters als unerträglich oder zumindest als unbefriedigend empfunden wird. Andererseits resultieren erhebliche Unterschiede in der Problemstruktur aus der differenten dogmatischen Konstellation; dem Versuch, beide Fallgruppen über den gleichen Leisten zu schlagen (.. actio illicita in causa") ist deshalb von vornherein mit Vorsicht zu begegnen1 • Die bei der Fallkonstellation eines provozierten rechtswidrigen Angriffs auftretenden Probleme interessieren hier unter dem Aspekt der Zeitstruktur der Zurechnung; es geht um die Frage der notwendigen zeitlichen Koinzidenz bzw. der möglichen zeitlichen Divergenz von Zurechnungsvoraussetzungen. Die folgenden Erörterungen werden sich deshalb auf die Fallgruppe konzentrieren, die einer Lösung des Zurechnungsproblems über eine Korrektur der Handlungsbefugnisse zum Tatzeitpunkt, d. h. zum Zeitpunkt der unmittelbar rechtsgutsverletzenden Handlung, den heftigsten Widerstand entgegensetzen und deshalb das Problem der zeitlichen Divergenz von Zurechnungsmomenten am nachhaltigsten bewahren. Es sind dies die Konstellationen, in denen dem Täter ein Ausweichen vor dem provozierten Angriff nicht möglich ist. Ferner soll, um die Möglichkeit einer Auflösung des Zurechnungsproblems durch Akzeptieren der Straflosigkeit des Täters 2 tunlichst zu 1 Kritisch zur Gleichbehandlung von actio libera in causa und actio illicita in causa v. a. Constadinidis, Die .. actio illicita in causa", S. 52 ff.; zur historischen Entwicklung der a. i. i. c. S.8 ff. ! Auch bei Absichtsprovokation bejahen das Notwehrrecht Binding, Normen lI/I, 2. Auf!., S.625; v. Liszt/Schmidt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, AT, 26. Aufl., 1932, S.196, Anrn.6 (anders Eb. Schmidt, Niederschriften der Sitzungen der Großen Strafrechtskornrnission Bd.2, S.127, Anhang Nr.21

H. Tatbestands- oder Ausnahmemodell: Die Notwehrprovokation

143

erschweren, die Fallkonstellation nur fahrlässiger Provokation ausgeklammert werden. Es geht im folgenden also um die Zurechnungsmuster in den Fällen, in denen dem Provokateur, der den Angriff absichtlich herbeigeführt hat, um den Angreifer unter dem Schutz des § 32 StGB zu verletzen, zum Zeitpunkt des Angriffs keine Möglichkeit des Ausweichens zur Verfügung steht3.

2. Verschiedene Lösungsversuche a) Fehlen des VerteidigungswiIIens

Bei dieser Fallkonstellation scheidet die Lösung über das Fehlen des Verteidigungswillens 4 von vornherein aus; denn das Vorliegen anderer Motive steht der Annahme eines Verteidigungswillens nicht entgegen 5 ; und daß jemand, der einem erheblichen, möglicherweise lebensbedrohlichen Angriff ohne Fluchtmöglichkeit ausgesetzt ist, bei der Abwehr dieses Angriffs in aller Regel jedenfalls auch in Verteidigungsabsicht handelt, läßt sich mit guten Gründen kaum bestreiten6 • b) Einwilligung des Provokateurs

Nicht überzeugend erscheint auch der Versuch7 , die Fälle der vorsätzlichen Provokation über die Annahme einer Einwilligung des ProS. 59); Bockelmann, Notwehr gegen verschuldete Angriffe, S. 19 ff.; Hassemer, Die provozierte Provokation, S. 225 ff.; HiZZenkamp, Vorsatztat, S. 127 ff., 167 ff.; LK/Spendel, § 32 Rdnr. 281 ff. Für die Fälle fehlender Ausweichmöglichkeit ebenso Jescheck, AT, S. 278. 3 Zu den Fällen nicht absichtlicher Provokation vgl. etwa Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdnr. 58 f.; Roxin, ZStW 93 (1981), S. 87 ff. 4 So RG HRR 1940, Nr. 1143; BGH bei DaZZinger, MDR 1954, S. 335; Blei, Strafrecht I, S. 144; Kratzseh, Grenzen der Strafbarkeit, S. 39; Geilen, Strafrecht AT, S.96; früher Wessels, AT, 6. Aufl., 1976, S.62; Jescheck, 1. Aufl., 1969, S. 232. 5 Jescheck, AT, S. 275 m. Nachw. e Nicht erforderlich ist ein Verteidigungswillen - im Sinne eines Handlungsmotivs - nach Rudolphi, Maurach-Festschrift S.57; Schönke/Schröder/ Lenckner, § 32 Rdnr.63; Roxin, ZStW 75 (1963), S.563; Stratenwerth, AT, Rdnr.489; LK/Spendel, § 32 Rdnr. 138 ff. Prittwitz, GA 1980, S.386; Bockelmann, Notwehr gegen verschuldete Angriffe, S.25; Bertel, ZStW 84 (1972), S.3. Nach Spendel (DRiZ 1978, S.329; vgl. auch ders., Gegen den "Verteidigungswillen" als Notwehrerfordernis, passim; LK/Spendel, § 32, Rdnrn. 138 ff.) ist nicht einmal die Kenntnis des Täters von dem Vorliegen einer Notwehrsituation erforderlich; krit. dazu Prittwitz, Jura 1984, S. 74 ff. 7 Bei Maurach/Zipf, AT/I, 5. Aufl. 1977, S.387; ebenso Zipf, Einwilligung und Risikoübernahme, 1970, S. 28 ff. Krit. dazu auch HiZZenkamp, Vorsatztat und Opferverhalten, S. 129: Eine Einwilligung des Provokateurs werde lediglich fingiert. über der berechtigten Kritik am Rückgriff auf das Rechtsinstitut der Einwilligung darf aber nicht übersehen werden, daß der dahinterstehende

144

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

vokateurs in die drohende Rechtsgutsverletzung zu lösen. Denn der Provokateur will zwar die Einleitung des Angriffs herbeiführen, er tut das aber gerade im Vertrauen auf seine Fähigkeit, eine Verletzung abzuwendens; in die Verletzung selbst willigt der Provokateur zu keinem Zeitpunkt ein. Selbst wenn man eine solche Einwilligung im Augenblick der Vornahme der provozierenden Handlung annehmen würde, läge aber in dem Beginn der Verteidigungshandlung ein konkludenter Widerruf, so daß spätestens in diesem Augenblick der Angriff des Provozierten rechtswidrig würde'. c) Die fehlende "Gebotenheit" der Verteidigung

Teilweise wird auf das Merkmal der "Gebotenheit" in § 32 Abs.l StGB abgestellt, um die Versagung des Notwehrrechts in den Provokationsfällen zu begründen 10 • Mit diesem Merkmal ist jedoch nur ein gesetzlicher Anknüpfungspunkt, nicht aber ein argumentativ verwertbarer sachlicher Gesichtspunkt bezeichnet l l • Für die Frage der möglichen Zurechnungsstruktur bei den Provokationsfällen hilft die Formulierung des § 32 Abs. 1 StGB nicht weiter. d) Die Idee der GarantensteIlung

In jüngster Zeit hat Marxen 12 versucht, die Beschränkung der Notwehrbefugnisse in den Fällen der Notwehr unter Ehegatten und der bewußtes Riskieren eines eigenen Rechtsguts führt zur Minderung oder Aufhebung von dessen Schutzwürdigkeit - in den Provokationsfällen durchaus von Bedeutung sein kann. Insofern verdienen die überlegungen Zipfs, der neuerdings auch nur von einem der Einwilligung ähnlichen Verzicht spricht (AT/I, 6. Aufl. 1983, S.349) Aufmerksamkeit. Den Gesichtspunkt, daß der Provokateur ein eigenes Rechtsgut "zurechenbar in eine Konfliktlage hineinbringt" betont jetzt Jakobs, Strafrecht AT, S.332 (mit der Konsequenz einer übertragung des Rechtsgedankens der §§ 33, 35, 213 Abs. 1 StGB auf die Notwehr). Ähnlich Montenbruck, Thesen zur Notwehr, S. 41 ff.: Der Provokateur habe "mit der Risikoübernahme den Wert seiner eigenen Interessen gemindert oder doch die Herabsetzung des Wertes seiner verfügbaren Güter durch eine (relative) Gefährdungshaftung zu tragen" (S.42). 8 Roxin, ZStW 93 (1981), S. 85 Fn. 40. 9 So schon v. Bar, Gesetz und Schuld, Bd. III, 1909, S. 160; Bockelmann (unter Hinweis auf v. Bar), Notwehr gegen verschuldete Angriffe, S. 25; ebenso HiZZenkamp, Vorsatztat, S. 129. 10 So BGH MDR 1958, S. 12 f.; RGSt 71,135; Kohlrausch/Lange, § 53 Anm. 2; Himmelreich, GA 1966, S. 134 f. 11 Vgl. Roxin, ZStW 75 (1963), S. 556, der über das Merkmal der Gebotenheit den Rechtsmißbrauchsgedanken einführt. Nach Roxin, ZStW 93 (1981), S. 79, hat das Merkmal der "Gebotenheit" durch den Willen des Gesetzgebers, der die Formulierung in Kenntnis der daran geknüpften sozial ethischen Einschränkungen in das Zweite Strafrechtsreformgesetz übernommen habe, eine entsprechende Bedeutung erlangt. 12 Marxen, Die "sozialethischen" Grenzen der Notwehr, 1979. Rechtsgedanke -

11. Tatbestands- oder Ausnahmemodell: Die Notwehrprovokation

145

provozierten Notwehrlage unter Rückgriff auf die Dogmatik der Unterlassungsdelikte und den dort entwickelten Gedanken der Garantenstellung zu begründen13 • Das erscheint für die Fallgruppe der Ehegattennotwehr plausibel, nicht aber für die Fälle der Provokation, vor allem nicht für die der Absichtsprovokation. Nicht überzeugend ist die Argumentation, der Provokateur schaffe eine Gefahrensituation für den Herausgeforderten, indem er ihn zum Angriff verleite. Denn die Gefahr für den Angreifer besteht nur in der Möglichkeit der Vornahme einer vorsätzlichen Verletzungshandlung von seiten des Provokateurs. Es ist aber nicht sinnvoll, dem Provokateur die Ausführung einer vorsätzlichen Verletzungshandlung mit der Begründung zu untersagen, er habe eine Gelegenheit geschaffen, diese Handlung vorzunehmen. Mit anderen Worten: Die " Gefahr" , in die der Provokateur den Provozierten bringt, ist nichts dem Provozierten von dritter Seite Drohendes; sie liegt allein in der Möglichkeit einer freien, vorsätzlichen Handlung des Provokateurs. Ließe man diese Möglichkeit als eine garantensteIlungbegründende Gefahr ausreichen, dann hätte jeder vorsätzliche rechtswidrige Angriff eine GarantensteIlung des Angreifers zur Folge. Die Konsequenz wäre, daß, wer dazu ansetzt, einen anderen zu verletzen, diese Handlung auch deshalb unterlassen müßte, weil er das potentielle Opfer dadurch in die Gefahr gebracht hat, verletzt zu werden. Diese Konsequenz wäre kaum akzeptabel. Hinzu kommt, daß die Möglichkeit einer Verletzung der Rechtsgüter des Provozierten von dessen freier Handlung abhängt und deshalb das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit14 die Zurechnung der Gefahr zu einer Handlung des Provokateurs sperrt. Die in der vorsätzlichen Provokation liegende "Anstiftung" zur Selbstgefährdung vermag eine GarantensteIlung nicht zu begründen, wenn die "Anstiftung" zur Selbstverletzung diese Folge nicht hat. Dagegen könnte eingewandt werden, die Straflosigkeit des zur Selbsttötung bzw. Selbstverletzung Anstiftenden sei wertungsmäßig an die Bedingung geknüpft, daß der Angestiftete sich verletzen bzw. töten wolle; der provozierte Angreifer aber gehe zwar bewußt die Gefahr eigener Verletzungen bzw. des eigenen Todes ein, aber er wolle weder verletzt noch getötet werden. Dieser Einwand schlägt jedoch nicht durch: Soweit die Gefährdung allein dem Gefährdeten zugerechnet wird, muß ihm auch die Realisierung der Gefahr zugerechnet werden. Für das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit kann nichts anderes gelten als für den Rechtfertigungsgrund der Einwilligung in eine 13 Gegen eine Beschränkung des Notwehrrechts unter Ehegatten de lege lata Engels, GA 1982, S. 108 ff. (unter Berufung auf Art. 103 11 GG). U Dazu Bockelmann, Notwehr gegen verschuldete Angriffe, S. 31; Hassemer, Die provozierte Provokation, S. 244.

10 Neumann

146

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

Gefährdung: So wie die Einwilligung in die Gefährdung auch die eingetretene Verletzung abdeckt l5 , so schließt die vorsätzliche Selbstgefährdung eine fremde Haftung auch für den eingetretenen Erfolg aus - es sei denn, daß die Gefahr sich in der zurechenbaren (also auch: rechtswidrigen) Handlung eines Dritten realisiert. Schwierigkeiten bereitet bei dem Rückgriff auf die Idee der GarantensteIlung aus gefährdendem Vorverhalten auch die Frage, welche Anforderungen an die rechtliche Bewertung des Vorverhaltens zu stellen sind. Marxen verlangt mit der wohl überwiegenden Meinungl6 , daß das Vorverhalten "pflichtwidrig" ist17 ; aber dies führt bei den Provokationsfällen zu Problemen in doppelter Hinsicht: Zum einen bedeutet es eine wertungsmäßig nicht zu rechtfertigende Differenzierung, die Bestrafung des Provokateurs wegen vorsätzlicher Tötung oder Körperverletzung davon abhängig zu machen, ob die Provokation (beispielsweise) den Tatbestand des § 185 StGB erfüllt oder nicht l8 . Zum andern aber kann die Rechtswidrigkeit (Pflichtwidrigkeit) des gefahrenschaffenden Vorverhaltens als solche nicht zur Begründung einer GarantensteIlung genügen. Ob der P, der dem A in höhnischer Weise den Ehebruch von Ns Gattin vorhält, sich dadurch - etwa als Arzt, Rechtsanwalt oder Eheberater - einer Verletzung von Privatgeheimnissen (§ 203 StGB) schuldig macht, kann keine Rolle spielen. Die Pflichtwidrigkeit "muß in der Verletzung einer Norm bestehen, die gerade dem Schutz des betroffenen Rechtsguts dient" 19. Daran aber wird es in den Provokationsfällen regelmäßig fehlen. Selbst wenn die durch das "provokative" Vorverhalten verletzte Norm das Rechtsgut der körperlichen Integrität schützt (wie etwa § 315 c StGB), wäre im allgemeinen der Rechtswidrigkeitszusammenhang zu verneinen. In der den Angreifer verletzenden Abwehrhandlung dessen, der den Angreifer zuvor durch grob verkehrswidriges und rücksichtsloses falsches überholen erheblich gefährdet und zum Angriff gereizt hat, realisiert sich nicht die typische Gefahr des falschen überholens20 ; und die Verletzung des durch eine Ohrfeige Provozierten Vgl. Jescheck, AT, S.479 m. Nachw.; a. M. Eb. Schmidt, JZ 1954, S.372; ZStW 83 (1971), S. 974. 16 Vgl. die Nachweise bei Schönke/Schröder/Stree, § 13 Rdnr. 35. 17 Marxen, Die "sozialethischen" Grenzen der Notwehr, S. 59. 18 Soll der Begriff der "Pflichtwidrigkeit" in diesem Zusammenhang nicht alle Konturen verlieren, wird man ihn wohl mit dem der "Rechtswidrigkeit" gleichsetzen müssen; so ist wohl auch die Alternative zwischen "pflichtwidrigem" und "rechtmäßigem" Vorverhalten zu verstehen (vgl. Schönke/Schröder/Stree, a.a.O.). 19 LK/Jescheck, § 13 Rdnr. 33 unter Ablehnung von BGHSt 17, 321, 323. 20 Ich gehe bei diesem Beispiel davon aus, daß durch § 315 c StGB jedenfalls auch die konkret gefährdeten individuellen Rechtsgüter geschützt sind; zum 15

Geppert,

11. Tatbestands- oder Ausnahmemodell: Die Notwehrprovokation

147

bedeutet keine Verwirklichung der Gefahr der mit der Verabreichung der Ohrfeige begangenen Körperverletzung. Ob man in den Provokationsfällen, in denen die Kausalität zwischen der rechtswidrigen Vorhandlung und der Rechtsgutsverletzung zweifach psychisch vermittelt ist, überhaupt jemals einen Rechtswidrigkeitszusammenhang bejahen kann, erscheint höchst zweifelhaft. Die Verbote des Besonderen Teils des StGB haben nicht den Sinn, zu verhindern, daß jemand sich durch eine rechtswidrige Handlung herausgefordert fühlt, auf sie mit einem rechtswidrigen Angriff reagiert und in Abwehr dieses Angriffs verletzt oder getötet wird. Nach alle dem scheint die Übernahme der Unterlassungsdogmatik für die Fälle der Notwehrprovokation nicht hilfreich21 • Im übrigen ist die prinzipielle Frage, ob sich der Gedanke der Garantenstellung für die Dogmatik der Begehungsdelikte fruchtbar machen läßt, wohl noch nicht befriedigend beantwortet. Zumindest einige Beispiele, die Marxen zum Beleg der Behauptung anführt, das "Garantenprinzip" sei auch im Bereich der Begehungstaten in vielfältigen Erscheinungsformen anzutreffen22 , ließen sich möglicherweise auch in einem anderen Sinne deuten. So muß man die höhere Strafdrohung des § 223 Abs.2 StGB nicht als Konsequenz der GarantensteIlung der Kinder gegenüber ihren Eltern interpretieren23 ; gegen diese Deutung spräche, daß der Bereich der erhöhten Strafdrohung des § 223 Abs. 2 StGB mit dem der Strafbarkeit der Körperverletzung durch Unterlassen (mit durch familiäre Verbindungen begründeter GarantensteIlung) offensichtlich nicht deckungsgleich ist. Das gleiche gilt auch für § 223 b StGB: Der Meister ist nicht Garant der körperlichen Unversehrtheit des Auszubildenden. Man wird möglicherweise schärfer trennen müssen zwischen der GarantensteIlung einerseits und ihren Voraussetzungen, zu denen eine besondere soziale Beziehung gegenüber dem Opfer gehören kann, andererseits; diese soziale Beziehung kann möglicherweise auch als solche, unabhängig von dem Garantenprinzip, die Strafbarkeit des Täters begründen oder erhöhen.

Streit um das Rechtsgut bzw. die Rechtsgüter des § 315 c vgl. statt aller Rdnr.2. 21 So auch Roxin, ZStW 93 (1981), S. 92 ff. 22 Marxen, Die "sozialethischen" Grenzen der Notwehr, S. 39. 23 Man könnte in der erhöhten Strafdrohung etwa die Konsequenz einer besonderen Tabuierung der Verletzung von Aszendenten sehen ("er hat die Hand gegen seinen Vater erhoben"), die freilich zunehmend an Wirksamkeit verliert. Zeichen dafür sind die Streichung des Tatbestands des "Aszendententotschlags" (§ 215 a. F.) durch Gesetz vom 9.4. 1941 und die Vorschläge zur Streichung des § 223 Abs. 2 in den neueren Reformentwürfen (vgl. LK/Hirsch, § 223 Rdnr. 40). Dreher/Tröndle, § 315 c

10'

148

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden" e) Die Verneinung eines Angriffs des Provozierten

Gleichsam zur Vervollständigung des Spektrums unterschiedlichster Lösungsversuche ist neuestens vorgeschlagen worden, in den Fällen der Absichtsprovokation bereits das Vorliegen eines rechtswidrigen Angriffs zu verneinen24 • Der richtige Weg zur Lösung dieser Fälle führe über die "Einsicht, daß in Wahrheit ein Angriff des Provozierten gar nicht vorliegt, sondern der Provokateur durch die Hand des Provozierten als seines Werkzeugs mittelbar sich selbst angreift" 25. Aber die damit formulierte Alternative (bzw. Disjunktion), auf die sich der Lösungsvorschlag ausschließlich stützt, ist nicht tragfähig; denn daß in dem Verhalten des Provokateurs (mit Seitenblick auf die Figur der mittelbaren Täterschaft) ein Angriff auf sich selbst gesehen werden kann, schließt das Vorliegen eines Angriffs (auch) des Provozierten nicht aus26 • Die vorgeschlagene Lösung ist auch mit der Tatsache kaum vereinbar, daß die Rechtsordnung das Verhalten des Provozierten, je nach Sachlage, als versuchte Körperverletzung (strafbar unter der Voraussetzung der §§ 223 a ff.) oder versuchte Tötung wertet. Eine Lösung des Problems zeichnet sich auch in diesem jüngsten Beitrag zum Fragenkreis der Notwehrprovokation nicht ab. 3. Die actio illicita in causa a) Der Grundgedanke der actio ilIicita in causa

Die Schwierigkeiten, dem Provokateur im Augenblick der Verteidigungshandlung den Schutz des § 32 StGB zu versagen, legen es nahe, die actio praecedens (Provokation) nicht als Grund für einen Ausschluß des Notwehrrechts im Zeitpunkt der Verteidigung, sondern als selbst tatbestandsmäßige Handlung zu deuten. Diese unter dem Terminus actio illicita in causa angebotene Lösung beruft sich auf die Kausalität der Provokation für den Verletzungserfolg bzw. auf den bestehenden Gefährdungszusammenhang, der die Provokation zu einer tatbestandsmäßigen Handlung erhebe: Vom Unrechtstatbestand erfaßt seien schon alle "rechtsgutsverletzenden Handlungen, die jene Gefahr geschaffen haben, die sich hernach im objektiv zuzurechnenden Erfolg realisiert hat". Das gelte auch dann, wenn sich die jeweilige Gefahr in einer Reihe von Handlungen des Täters realisiert27 • Die Konsequenz, Constadinidis, Die "actio illicita in causa", S. 122 ff. a.a.O., S. 123 (mit - auch drucktechnisch - unterschiedlichen Hervorhebungen). ~ In diesem Sinne auch Hillenkamp, Vorsatztat, S. 152. 27 Schmidhäuser, AT, S.251. Für die Konstruktion der actio illicita in causa 24

25

11. Tatbestands- oder Ausnahmemodell: Die Notwehrprovokation

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daß in der Provokation dann bereits der Anfang der Ausführung des geplanten Verletzungsdelikts, also dessen Versuch (§ 23 StGB) liegt, wird teilweise ausdrücklich akzeptiert, teilweise freilich nachdrücklich bestritten28 • b) Bedenken gegen die Lösung über die actio iIlicita in causa

aal Die Schwierigkeiten einer kausalen Deutung der Verletzungshandlung Fraglich ist aber bereits, ob man die Verteidigungshandlung des Täters als Realisierung einer von ihm geschaffenen Gefahr ansehen kann. Der Rede von der Realisierung einer Gefahr liegt ein kausales Deutungsschema zugrunde, wogegen die vorsätzliche Handlung eines Schuldfähigen als freier finaler Akt zu interpretieren ist. Jedenfalls bei im Zustand der Schuld fähigkeit begangenen Handlungen verbietet es die Deutung menschlichen HandeIns als "freies" Handeln, davon zu sprechen, daß sich die durch die frühere Handlung geschaffene Gefahr in der späteren Handlung realisiert habe. Der Annahme der Freiheit dieser Handlung steht die Tatsache nicht entgegen, daß sich im Fall des Gelingens der Provokation die nachfolgende Verletzungshandlung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorhersagen läßt; denn diese Wahrscheinlichkeit ist nichts anderes als die Wahrscheinlichkeit, daß der Täter seinem Plan gemäß handeln wird. Ob er diesem Plan treu bleibt oder nicht, ist aber seine freie Entscheidung. Deshalb ist es nicht überzeugend, wenn Lenckner den Rückgriff auf die actio illicita in causa mit der Erwägung rechtfertigt, nach Gelingen der Provokation spiele sich das weitere Geschehen "mehr oder minder zwangsläufig" ab 29 • Welches Geschehen sich abspielt, bestimmt sich nach der freien Entscheidung des Provokateurs. Daß er mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit seinem Plan entsprechend handeln wird, macht den ersten Akt der Planausführung ebensowenig wie die planmäßige Durchführung einer anderen Vorbereitungshandlung zu einer tatbestandsmäßigen Handlung. Wenn Lenckner schließlich argumentiert, jeder Verbrechensplan beinhalte eine Ungewißheit des Gelingens 30 , ist in den Fällen der provozierten Notwehrlage auch Baumann, AT S. 305; ders., NJW 1962, 308; Bertel, ZStW 84 (1972), S. 1 ff.; Kohlrausch/Lange, Vorbem. 11 2 vor § 51 und Anm. V zu § 53; Schröder, JuS 1973, S. 161; Eser, Strafrecht I, Nr. 11 Rdnr. A 19 f.; für die Fälle fehlender Ausweichmöglichkeit auch Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdnr. 54 ff. 28 Vgl. unten Fn.35. 29 GA 1961, S.305. 30 GA 1961, S. 305 Fn. 23.

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

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das zwar richtig, aber keine ausreichende Begründung, weil in den hier thematisierten Fällen nicht erst der Erfolg oder die äußere Durchführbarkeit der Tathandlung, sondern schon deren Vornahme durch den Täter ungewiß ist. Die deterministische Argumentation, mit der die actio praecedens als tatbestandsmäßige Handlung erwiesen werden soll, ist in den Fällen der actio illicita in causa noch weniger plausibel als in denen der actio libera in causa31 • Es ist deshalb verwunderlich, daß Lenckner, der diese Argumentation hinsichtlich der actio libera in causa treffend kritisiert32 , sie bei der actio illicita aufnimmt33 , zumal auch das Gelingen der Provokation von einer freien Entschließung (nämlich des Herausgeforderten) abhängig ist 34 • Die damit angesprochene Abhängigkeit des Geschehensablaufs von der Entscheidung des Provozierten steht auch der aus der Konzeption der actio illicita in causa zwingend folgenden Annahme entgegen3 5, in der Provokation liege bereits der Versuch des geplanten Verletzungsdelikts; denn die Beherrschung des Geschehensablaufs durch den "Gefährdeten" schließt die Annahme einer unmittelbaren Gefährdung aus 36 • Im übrigen hätte die Deutung der Provokation als - je nach Täterplan - versuchte Körperverletzung (strafbar in den Fällen der §§ 223 a ff. StGB) oder Tötung die unerfreuliche Konsequenz, daß bei Mißlingen der Provokation ein fehlgeschlagener Versuch angenommen werden müßte, so daß ein strafbefreiender Rücktritt nicht in Betracht käme37 •

bb) Die Vberlastung des Tatbestands Schließlich droht die mit der Figur der actio illicita in causa verbundene Vorverlegung der tatbestandsmäßigen Handlung und des Versuchsbeginns zu einer Auflösung des Tatbestandsbegriffs und damit zum Leerlaufen seiner Garantiefunktion zu führen 38• Der Verzicht auf die So auch Küper, Der "verschuldete" rechtfertigende Notstand, S. 74. Mit dem Argument, der Vollrausch habe "im allgemeinen nicht zur Folge, daß sich der Täter in einem bestimmten Sinn verhalten muß" (GA 1961, S.304). 33 Vgl. auch die Kritik bei Roxin, ZStW 75 (1963), S. 555. 34 Mit dieser Begründung verneint Roxin die Tatherrschaft des Provokateurs (ZStW 75 [1963], S.551; vgl. auch Bockelmann, Notwehr gegen verschuldete Angriffe, S. 27). 35 Ausdrücklich gebilligt wird diese Konsequenz von Schmidhäuser, AT, S. 251 und Lenckner, GA 1961, S. 304. Kritik der Behauptung, von den Anhängern der actio illicita in causa werde die Provokation stets als Beginn der Verletzungshandlung gesehen, bei Himmelreich, GA 1966, S. 136 Fn.44. Die Frage ist aber, ob sie nicht notwendig in diesem Sinne interpretiert werden 31 32

muß. 36 37 38

So auch Roxin, ZStW 75 (1963), S. 554. Vgl. Roxin, ZStW 75 (1963), S. 555. In diesem Sinne Schünemann, JuS 1979, S. 280. Das Erfordernis einer tat-

11. Tatbestands- oder Ausnahmemodell: Die Notwehrprovokation

151

"phänomenologische" Tatbestandsmäßigkeit der Handlung 39 bedeutet zugleich den Verzicht auf den möglichen Wortsinn als Auslegungsgrenze; denn die Regeln der Umgangssprache korrespondieren mit eben jenen Regeln der äußeren Typisierung von Handlungen, die Schmidhäuser für irrelevant erklärVo. Die Beleidigung eines anderen ist nach diesen Regeln auch dann keine Tötungshandlung, wenn sie in der Absicht ausgesprochen wird, einen dadurch herbeigeführten Angriff mit tödlicher Wirkung abzuwehren41 .

ce) Das Problem der Rechtswidrigkeit der Provokation Die bisherigen Einwände richteten sich gegen die Annahme der Tatbestandsmäßigkeit der Provokation. Nicht weniger problematisch ist die Behauptung ihrer - aus dem angestrebten Erfolg herzuleitenden Rechtswidrigkeit. Die Frage, "wieso die Beabsichtigung oder vorsätzliche Herbeiführung einer eigenen, positiv zu bewertenden Handlung ein unverbotenes Tun rechtswidrig machen soll"42, ist bisher noch nicht befriedigend beantwortet. Zwar hat Baumann eingewendet, eine Handlung könne nur im Rahmen des Gesamtgeschehens beurteilt werden; auch der Druck auf den Schalter, durch den etwa eine Sprengladung ausgelöst werde, sei für sich gesehen nicht rechtswidrig, sondern "positiv zu bewerten" 43. Aber der Vergleich ist schief; denn der Druck auf den Schalter ist, isoliert von seinen tatsächlichen Folgen und seinem Stellenwert in einem Handlungsplan, ein Handlungssegment ohne soziale Relevanz, das sich jeder rechtlichen Bewertung entzieht und deshalb auch nicht "positiv zu bewerten" ist. Die Tötung eines Menschen in bestandsmäßigen Handlung verbietet es, zur Begründung der Konstruktion der actio illicita in causa im Strafrecht auf die Schadensersatzregelung des § 228 BGB zurückzugreifen (so aber Schröder, JuS 1973, S. 161) - ganz abgesehen davon, daß die Rechtsfolgen bei § 228 BGB gerade nicht die des rechtswidrigen HandeIns sind, während die Konstruktion der actio illicita in causa jedenfalls für den Täter die gleichen Rechtsfolgen hat wie die Versagung des Rechtfertigungsgrundes. se "In ihrem äußeren Erscheinungsbild brauchen ... die ersten Handlungsabschnitte auch nicht etwa das anschauliche Gepräge jener rechtsgutsverletzenden Handlungen zu tragen, an die man beim Verstehen des Gesetzestextes zunächst denkt" (Schmidhäuser, AT, S.251). Krit. dazu Küper, Der "verschuldete" rechtfertigende Notstand, S. 64 f. 40 Die Forderung nach "phänomenologischer" Tatbestandsmäßigkeit der tatbestandsmäßigen Handlung erhebt zu Recht Hruschka, SchwZStr 90 (1974), S.54. 41 Zur Frage, ob nicht auch in den Fällen der mittelbaren Täterschaft auf die "phänomenologische" Tatbestandsmäßigkeit der Handlung verzichtet wird, vgl. oben S. 84 (unter dem Aspekt der "Wortlautgrenze"). 42 Roxin, ZStW 75 (1963), S. 547; in diesem Sinne auch Bockelmann, Notwehr gegen verschuldete Angriffe, S.19; SK/Samson, § 32 Rdnr.26; Seelmann, ZStW 89 (1977), S. 41; LK/Spendel, § 32 Rdnr.291. 43 Baumann, AT, S.305.

152

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

Notwehr ist dagegen eine im hohen Maße sozial relevante Handlung, die ausdrücklich für gerechtfertigt erklärt (und damit "positiv bewertet") wird. Diese positive Bewertung bezieht, im Gegensatz zu dem Beispiel von Baumann, die tatsächlichen und beabsichtigten Folgen der Handlung gerade mit ein - jene Folgen, die dem Täter bei einer Verurteilung über die Konstruktion der actio illicita in causa zugerechnet werden. Auch hier trägt die Parallelkonstruktion zur actio libera in causa nicht: Eine Handlung kann gerade deshalb (rechtswidrig und) schuldhaft sein, weil sie auf eine schuldlose (aber rechtswidrige) Handlung zielt; dagegen ist nicht zu sehen, wie eine Handlung gerade deshalb rechtswidrig sein soll, weil sie auf die Vornahme einer gerechtfertigten Handlung zielt. Zwar trifft es zu, daß die Rechtsordnung die Herbeiführung eines Konflikts auch dann mißbilligen kann, wenn sie dem Urheber das Recht einräumt, den entstandenen Konflikt durch Eingriffe in fremde Rechtsgüter zu lösen44 • Aber diese Mißbilligung kann strafrechtlich relevant nur durch 8chaffung eines eigenen Tatbestands, nämlich eines entsprechenden Geführdungstatbestands, zum Ausdruck gebracht werden. Ein Beispiel dafür bietet § 227 8tGB: Auch wenn die Tötung des Opfers als solche durch Notwehr gerechtfertigt ist, wird dessen Tod dem Täter im Rahmen des Gefährdungstatbestands des § 227 8tGB zugerechnet45 • Entscheidend ist, daß sich die Rechtswidrigkeit des HandeIns des Täters hier aus § 227 8tGB, nicht aus den §§ 212, 211 8tGB ergibt. Wo ein entsprechender Tatbestand fehlt, kann die Rechtswidrigkeit der Herbeiführung eines nur durch eine Rechtsgutsverletzung zu lösenden Konflikts nicht einfach aus dem entsprechenden Verletzungstatbestand abgeleitet werden: Der Beischlaf ist auch dann nicht rechtswidrig, wenn er zu einer der von § 218 a 8tGB erfaßten Konfliktlagen führt.

dd) Notwehr gegen die Provokation? Beachtlich erscheint auch die Erwägung, zufolge der Konstruktion der actio illicita in causa stelle die Provokation als rechtswidriger Versuch einer Tötung oder Körperverletzung einen rechtswidrigen Angriff i. 8. des § 32 8tGB dar, gegen den dem Provozierten folglich ein Notwehrrecht zustehen müsse 46 • Zwar hat man dagegen eingewandt, der Versuch eines Delikts müsse nicht notwendig schon einen gegenwärtigen Angriff i. 8. des § 32 8tGB beinhalten47 • Aber das ist nicht überDarauf beruft sich BeTtel, ZStW 84 (1972), S. 15. Zur Anwendbarkeit des § 32 hinsichtlich einzelner im Rahmen einer Schlägerei erfolgenden Abwehrhandlungen vgl. LKjHiTsch, § 227 Rdnr. 17 mit zutreffender Kritik an der Gegenmeinung. 48 So Roxin, ZStW 75 (1963), S. 547. 47 BeTtel, ZStW 84 (1972), S. 21. 44 45

11. Tatbestands- oder Ausnahmemodell: Die Notwehrprovokation

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zeugend, wenn man für die Entscheidung über den Versuchsbeginn auf den Gesichtspunkt der unmittelbaren Gefährdung des Rechtsguts abstellt 48 ; denn eine vorsätzliche Handlung, die eine unmittelbare Gefährdung eines Rechtsguts bewirkt, stellt allemal einen gegenwärtigen Angriff auf dieses Rechtsgut dar. Bestreiten ließe sich allenfalls, daß die Tötung oder Verletzung des Provokateurs hier die "erforderliche" Verteidigungshandlung ist; denn abzuwehren ist der fragliche Angriff durch ein schlichtes Unterlassen, nämlich das Sich-nicht-provozieren-Lassen des Angegriffenen. Aber auch diese überlegung spricht - ganz abgesehen von der Frage, ob ein solches Verhalten nicht einer schimpflichen Flucht gleichkäme, die dem Angegriffenen nach den anerkannten Notwehrregeln nicht zugemutet werden darf - letztlich gegen die Konstruktion der acno illicita in causa in den Fällen provozierter Notwehr: Wenn nicht erst der Erfolg, sondern schon die unmittelbar auf Verletzung zielende Handlung durch bloßes Unterlassen des potentiellen Opfers abgewendet werden kann, ist die Annahme einer versuchsbegründenden tatbestandsmäßigen Verletzungs- bzw. Tötungshandlung nicht plausibel. Nach alledem 49 muß das Urteil über den Versuch, die Problematik der vorsätzlich provozierten Notwehrlage mit Hilfe der Konstruktion der actio illicita in causa in den Griff zu bekommen, negativ ausfallen 50 • Sie ist mit elementaren Regeln der Strafrechtsdogmatik nicht vereinbar und zeichnet sich darüber hinaus durch eine fast bewundernswerte Lebensfremdheit aus: Der Täter wird nicht deshalb wegen Totschlags bestraft, weil er dem Opfer das Messer in die Brust gestoßen hat, sondern deshalb, weil er - beispielsweise - in Provokationsabsicht die Spielweise der Fußballmannschaft des Opfers mit der eines Spitalvereins verglichen hat. Zugerechnet wird ihm dabei der Erfolg, den er, wie ihm ausdrücklich bescheinigt wird, unmittelbar auf rechtmäßige Weise herbeigeführt hat. Eine Strafrechtspflege, die auch nur einigen Wert auf Anerkennung seitens der von ihr Betroffenen legt, sollte sich von derartigen Konstruktionen fernhalten. 48 So die überwiegende Meinung; vgl. Schönke/Schröder/Eser, § 22 Rdnr.42 m.Nachw. 49 Gegen die Lösung der Provokationsfälle über die Figur der actio illicita in causa wird weiter eingewendet, das Ergebnis der Straflosigkeit des Teilnehmers an der Verteidigungshandlung sei unbefriedigend (Roxin, ZStW 75 [1963], S. 552). Die Bewertung dieses Ergebnisses ist freilich umstritten; zur Gegenmeinung vgl. etwa Bertel, ZStW 84 (1972), S.21. Nach der hier vertretenen Auffassung wäre zu fragen, ob der Dritte sich auf die "an sich" vorliegende Nothilfesituation berufen kann. Das dürfte zu bejahen sein, sofern er an der Provokation nicht beteiligt war. 50 Parallele Einschätzung der Lösungskapazität der vorsätzlichen actio illicita in causa für die Fälle des "verschuldeten" rechtfertigenden Notstands bei Küper, Der "verschuldete" rechtfertigende Notstand, v. a. S. 88, 168.

154

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden" 4. Der Rückgriff auf das Rechtsmißbrauchsprinzip a) Der Grundgedanke der Anwendung des Rechtsmißbrauchsprinzips auf die Provokationsfälle

Wenn die Fälle der vorsätzlichen Notwehrprovokation nicht durch Vorverlegung der tatbestandsmäßigen Handlung "gelöst" werden können, bleibt nur die Möglichkeit der Zurechnung der unmittelbaren Verletzungshandlung. Nach dem Fehlschlagen der unterschiedlichen Versuche, eine Rechtfertigung dieser Handlung an den "tatbestandlichen" Voraussetzungen des § 32 StGB scheitern zu lassen, muß eine Stufe tiefer, auf der Ebene der allgemeinen Rechtsprinzipien, angesetzt werden. Hier ist es das Prinzip des Rechtsmißbrauchs, das sich als Schlüssel zu einer befriedigenden Lösung der Provokationsfälle anzubieten scheint. Der Rückgriff auf das Prinzip des Rechtsmißbrauchs ist naheliegend, wenn man die Handlungssequenz von der Provokation bis zur Verletzung oder Tötung des provozierten Angreifers als Gesamtvorgang ins Auge faßt. Das Notwehrrecht (oder: die Notwehrbefugnis) hat die Funktion, der Verteidigung rechtswidrig angegriffener Rechtsgüter und, nach ganz herrschender Meinung, der Bewährung der Rechtsor:dnung zu dienen. Im Falle der Vorsatzprovokation aber dient es - immer bezogen auf den gesamten Geschehenskomplex - nicht der Verteidigung, sondern der Verletzung von Rechtsgütern51 • Seine Ausübung würde sich als Verletzung, nicht als Bewährung der Rechtsordnung darstellen. Es ist daher nicht verwunderlich, daß von dieser Konstellation gesagt worden ist, "von § 226 BGB abgesehen, dem dieser Fall mindestens schon sehr nahe kommt, dürfte ein Rechtsrnißbrauch selten so offenkundig sein wie bei einer derartigen Pervertierung des Notwehrrechts"52. b) Bedenken gegen die Heranziehung des Rechtsmißbrauchsprinzips

Andererseits werden gegen die Heranziehung des Rechtsmißbrauchsprizips erhebliche Bedenken geltend gemacht. 51 Mit dieser Begründung bejaht Kratzseh, der im übrigen Einschränkungen des § 32 strikt ablehnt, das Eingreifen des Rechtsmißbrauchsgedankens (GA 1971, S.80). 52 Lenckner, GA 1961, S. 302. Für Rückgriff auf den Rechtsmißbrauchsgedanken auch WesseIs, AT, S.84; Welzel, Das deutsche Strafrecht, S. 87 f.; LK/Baldus, 9. Auf!., § 53 Rdnr. 28 ff.; Seelmann, ZStW 89 (1977), S.40. Schünemann, JuS 1979, S.279 (mit dem Hinweis, der Gesetzgeber habe durch Beibehaltung des Merkmals der "Gebotenheit" dem Rechtsmißbrauchsgedanken Eingang in die Notwehrdogmatik garantieren wollen; in diesem Sinne auch Roxin, ZStW 93 [1981], S. 79 f.; zu der Frage auch Jescheck, AT, S. 276).

H. Tatbestands- oder Ausnahmemodell: Die Notwehrprovokation

155

Umstritten ist bereits, ob ·das Prinzip des Rechtsmißbrauchs im Strafrecht 53 allgemein bzw. speziell für die Rechtfertigungsgründe 54 überhaupt Anwendung finden kann. Hinsichtlich des Notwehrrechts wird die Frage teilweise mit der Begründung verneint, die Notwehr sei "kein Individualrecht, bei dem (wie bei einem bürgerlich-rechtlichen Anspruch) von einem ,Mißbrauch' gesprochen werden könnte"55. Die Voraussetzungen des § 32 StGB seien entweder gegeben oder nicht; vom Mißbrauch eines nicht gegebenen Rechts könne aber nicht gesprochen werden 56 ; es gehe bei den Rechtfertigungsgründen um die Lösung von Interessenkollisionen, deren Bewertung in den Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes zum Ausdruck komme. Deshalb sei es zwar denkbar, in bestimmten Fällen das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes ausnahmsweise zu verneinen; ein Mißbrauch sei aber ausgeschlossen57. Weiter ist fraglich, ob im Falle der Notwehrprovokation die "tatbestandlichen" Voraussetzungen für das Eingreifen des Rechtsmißbrauchsprinzips gegeben sind; denn zum Zeitpunkt der Verletzungshandlung handelt der Provokateur jedenfalls auch zum Schutz der eigenen körperlichen Integrität. Bestritten wird schließlich der argumentative Wert des Rechtsmißbrauchsarguments; gerade die Diskussion um die provozierte Notwehrlage habe klar gezeigt, "daß aus dem MIßbrauchsprinzip inhaltlich nichts folgt, daß dieses Prinzip nur dazu dient, anderweitig für richtig erkannte Ergebnisse juristisch zu formulieren"58. 53 Verneinend Krause, Zur Problematik der Notwehr, S. 79; Berz, JuS 1984, S. 343. Demgegenüber wird betont, bei dem Rechtsmißbrauchsprinzip handele es sich um einen "allgemeinen Rechtsgedanken" , dessen Geltung sich nicht auf das Zivilrecht beschränke; so Bockelmann, Notwehr gegen verschuldete Angriffe, S. 28, der allerdings in den Fällen der Notwehrprovokation einen Rechtsmißbrauch verneint; vgl. auch Schaffstein: Die Rechtsmißbrauchslehre sei als "Erkenntnis der allgemeinen Rechtslehre" nicht auf das Zivilrecht zu beschränken (MDR 1952, S. 135). 54 Verneinend Baumann, AT, S.305; Bertel, ZStw 84 (1972), S. 3 f.; Hassemer, Die provozierte Provokation, S. 241. 55 Schmidhäuser, AT, S.358. 56 Schmidhäuser, AT, S.358. 57 Bertel, ZStW 84 (1972), S.4; Hassemer, Die provozierte Provokation, S. 242. Ähnlich für die Fälle einer krassen Güter-Disproportionalität Krey: Es gehe um die Frage der Reichweite des Notwehrrechts, nicht um die der Mißbräuchlichkeit seiner Ausübung (JZ 1979, S. 714). 58 Naucke, "Mißbrauch" des Strafantrags?, S.572; ähnlich Haft, AT, S.61 ("inhaltslose LeerformelU); Hirsch, Die Notwehrvoraussetzungen der Rechtswidrigkeit des Angriffs, S.217 Fn.23 ("eine lediglich formelhafte, die Begrenzung des Notwehrrechts völlig dem Richter überlassende Generalklausel"); zurückhaltender Roxin, ZStW 93 (1981), S. 78 (die Prinzipien des Rechtsmißbrauchs und der Verhältnismäßigkeit als "regulative, für sich selbst inhaltslose Rechtsprinzipien ...").

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

aa) Das Verdikt der "Leerformel" Um mit dem letzten Punkt zu beginnen: Zu dem Vorwurf, es handle sich bei dem Rechtsmißbrauchsprinzip um eine Leerformel, ist zunächst festzustellen, daß dieser Vorwurf offensichtlich nicht wörtlich verstanden werden will. "Inhaltsleer" im strengen Sinne sind Aussagen mit tautologischer Struktur, also Aussagen, die unter keinen denkbaren Umständen falsch sind. In diesem Sinne können Begriffe nicht inhaltsleer sein. Der Begriff des Rechtsmißbrauchs ist aber auch nicht in dem Sinne inhaltsleer, daß er - wie etwa das Prädikat "richtig" - in gleicher Weise für konträre Argumentationen in Anspruch genommen werden könnte. Bei der Diskussion um die Rechtsfolgen der Provokation eines rechtswidrigen Angriffs werden alle Diskussionsteilnehmer behaupten, ihre Auffassung sei "richtig"; nur einige werden behaupten, ihre Position entspreche dem Rechtsmißbrauchsprinzip. Da zumindest Einigkeit darüber besteht, welche Meinung sich eher auf das Rechtsmißbrauchsprinzip berufen kann, handelt es sich nicht um eine "inhaltslose Leerformel". Richtig ist freilich, daß es sich bei dem Rechtsmißbrauchsprinzip zunächst um ein argumentatives Schema handelt, das die Richtung der Argumentation kennzeichnet, aber selbst kein hinreichend substantiiertes Argument beinhaltet. Indes erscheint es als eine für die Strafrechtsdogmatik prinzipiell lösbare Aufgabe, das Rechtsmißbrauchsprinzip so zu konturieren, daß seine Begründungsleistung der des § 226 BGB nicht nachsteht 59 •

bb) Die Voraussetzungen des Rechtsmißbrauchsprinzips Gewichtiger erscheint die Frage, ob im Falle der Notwehrprovokation die Voraussetzungen für das Eingreifen eines wie auch immer zu präzisierenden Rechtsmißbrauchsprinzips überhaupt gegeben sind. Die Frage dürfte zu verneinen sein, wenn man, an statt die Vorgänge zwischen der Provokation und dem Erfolg der Verteidigungshandlung quasi als "black box" zu behandeln, die Handlungssequenz zerschneidet und das Rechtsmißbrauchsprinzip bei der Verteidigungshandlung lokalisiert. Das aber ist dogmatisch zwingend, weil der Mißbrauch des Notwehrrechts zumindest voraussetzt, daß die Entstehungsbedingungen für dieses Recht gegeben sind (ob es darüber hinaus die Entstehung dieses Rechts voraussetzt oder vielmehr gerade hindert, kann dahingestellt bleiben). Der richtige Ort für das Eingreifen des Rechtsmißbrauchsprinzips ist folglich die VerteidigungShandlung als Ausübung eines wirk59 Im Fehlen einer dem § 226 BGB entsprechenden Bestimmung und damit eines gesetzlichen Anhaltspunkts für die Begrenzung der einzelnen Rechte sieht aito, Rechtsverteidigung und Rechtsmißbrauch, S. 135, die entscheidende Schwierigkeit einer übertragung des Rechtsmißbrauchsprinzips aus dem Zivilrecht ins Strafrecht.

11. Tatbestands- oder Ausnahmemodell: Die Notwehrprovokation

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lichen (vom Rechtsmißbrauchsprinmp allerdings überlagerten) oder vermeintlichen (durch dieses Prinzip in seiner "Entstehung" gehinderten) Notwehrrechts. Daß der Provokateur aber, infolge des Angriffs des Provozierten in Verletzungs- oder Lebensgefahr und ohne Ausweichmöglichkeit, in dieser Situation durch Vornahme der erforderlichen Verteidigungshandlung das Notwehrrecht mißbrauche, ist nicht zu sehen60 . Zwar kann man gegen das Argument J eschecks, der Provokateur dürfe "nicht von Rechts wegen in die ausweglose Lage versetzt werden ... , entweder Leib und Leben dem Angreifer ohne Gegenwehr preisgeben oder Strafe auf sich nehmen zu müssen"61, immerhin einwenden, in diese ausweglose Lage habe der Provokateur sich ja schließlich selbst gebracht. Aber dieser Einwand ist nur möglich, weil di·e Formulierung Jeschecks 62 die Schärfe des Problems verdeckt, indem sie die Pflicht zur Duldung eines rechtswidrigen Angriffs in eine Alternative auflöst, deren Unerfreulichkeit dem Täter selbst zugeschrieben werden kann. Aber diese für den Täter reale Alternative besteht in der Wertung der Rechtsordnung nur scheinbar; denn die dem Täter eingeräumte Möglichkeit, Strafe auf sich zu nehmen, würde zugleich die Ermächtigung zur Vornahme einer rechtswidrigen und strafbaren Handlung bedeuten. Die Rechtsordnung kann aber den ihr Unterworfenen nicht gestatten, sich rechtswidrig zu verhalten. Die von J escheck formulierte Alternative reduziert sich also auf die Möglichkeit des Provokateurs, den Angriff zu erdulden. Nun ist es allerdings - und deshalb ist Jescheck im Ergebnis zuzustimmen - in der Tat nicht plausibel, dem Provokateur eine "Pflicht zur Duldung eines rechtswidrigen Angriffs" aufzuerlegen63 und schon gar nicht, dies mit der Begründung zu tun, die Verteidigung gegen einen gesundheits- oder lebensbedrohenden rechtswidrigen Angriff sei rechtsmißbräuchlich. Auch der gegen J escheck gerichtete Einwand Roxins, der Provokateur befinde sich nicht in einer ausweglosen Situation, weil er davon ausgehe, daß sein Plan nicht durchschaut wel"de 64 , scheint mir das Problem nur teilweise zu entschärfen. Denn das Argument begründet zwar, daß der Täter sich nicht in einer seelischen Zwangslage befindet; aber es löst nicht das "objektive" Dilemma, das darin besteht, daß der Täter 60 So auch Jakobs, AT, S.333 Fn. 106. Lenckner greift deshalb in den Fällen fehlender Ausweichmöglichkeit statt auf den Rechtsmißbrauchsgedanken auf die Konstruktion der actio illicita in causa zurück (Schönke/Schröder!Lenckner, § 32 Rdnr. 57); ausdrücklich wird Rechtsmißbrauch auch in diesen Fällen bejaht von Baldus (LK, 9. Aufl., § 59 Rdnr. 37); für Zuerkennung des Notwehrrechts in diesen Fällen Jescheck, AT, S. 278 m. w. Nachw. 81 AT, S.278. 82 Jescheck selbst greift nicht auf das Rechtsmißbrauchsprinzip zurück, sondern verneint das Rechtsbewährungsinteresse. 63 Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdnr.57. 84 Roxin, ZStW 93 (1981), S. 87.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

sich aufgrund der von der Rechtsordnung bereitgestellten Alternative entweder rechtswidrig verhalten oder widerstandslos verletzen lassen muß. Die Situation des Provokateurs ist nicht psychologisch, wohl aber normativ ausweglos. Zwar ist es richtig, daß Flucht und Ausweichen den Intentionen des Provokateurs widersprechen, und das Argument, es sei nicht recht einzusehen, warum der Provokateur "die Notwehrbefugnis nur deshalb behalten soll, weil er etwas nicht kann, was er überhaupt nicht will" 65, ist nicht von der Hand zu weisen. Indes läßt sich umgekehrt fragen, ob die Rechtsordnung den einzelnen mit der Begründung in eine ausweglose Lage versetzen darf, er wolle sich ja gar nicht rechtmäßig verhalten. Ich neige dazu, diese Frage zu verneinen. Das weitere Argument Roxins, der Provokateur brauche keinen Schutz gegen die von ihm selbst absichtlich und durch ein rechtlich mißbilligtes Verhalten herbeigeführte Gefahrenlage66 , bleibt zwischen tatsächlichen und normativen Erwägungen eigentümlich in der Schwebe; die Formulierung, der Provokateur "brauche" keinen Schutz, läßt offen, ob der Schutz aus tatsächlichen Gründen nicht erforderlich sein soll etwa weil der Provokateur das Geschehen planen und für seine Sicherheit sorgen kann 67 - oder ob er diesen Schutz nicht verdient. Die Feststellung, ohne Schutznotwendigkeit gebe es keine Notwehr68 , spricht für die erstere Möglichkeit 69 • Indes läßt sich für den Zeitpunkt der Verteidigungshandlung die "Schutznotwendigkeit" in dem Sinne, daß nur mit Hilfe der fraglichen Verteidigungshandlung eine rechtswidrige Beeinträchtigung der körperlichen Integrität des Provokateurs verhindert werden kann, kaum bestreiten. Man wird die Argumentation Roxins also eher in einem normativen Sinne zu verstehen haben: Der Provokateur verdient nicht den Schutz der Rechtsordnung70 • Das scheint mir in der Tat der entscheidende Gesichtspunkt zu sein; nur wäre gen aue I' ZStw 93 (1981), S. 86 f. ZStW 93 (1981), S. 85. 67 Roxin, ZStW 75 (1963), S. 569. 68 Roxin, ZStW 93 (1981), S. 86. 69 Ausdrücklich auch die faktische Schutzbedürftigkeit des Opfers verneinend Roxin, ZStW 75 (1963), S.579: "Wer ohne Billigung der Rechtsordnung seine Lage im Bewußtsein ihrer Konsequenzen selbst geschaffen hat, darf nicht verlangen, daß ihm das Recht dabei zur Seite steht. Er bedarf aber auch rein faktisch keines Schutzes, weil er sich auf den Angriff eingestellt hat und deshalb dem insoweit Provozierten überlegen ist". 70 Anderenfalls fehlt es bereits an der "Erforderlichkeit" der Verteidigungshandlung. Welche Rolle der Gesichtspunkt der fehlenden Notwendigkeit faktischen Schutzes außerhalb dieses Merkmals spielen könnte, ist nicht zu sehen; den tatsächlichen Schutz des Angegriffenen kann das Notwehrrecht ohnehin nicht gewährleisten. Das Argument der "Selbstschutzmöglichkeit" des Provokateurs scheint im Ergebnis darauf hinauszulaufen, daß der Provokateur wegen des Bestehens dieser Möglichkeit von ihr keinen Gebrauch machen darf. Treffend dazu Hillenkamp, Vorsatztat, S. 128. 65

66

H. Tatbestands- oder Ausnahmemodell: Die Notwehrprovokation

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zu bestimmen, vor welchen Gefahren der Provokateur nicht geschützt zu werden verdient. Vor den von dem Angriff des Provozierten drohenden Gefahren schützt er sich selbst; auch wird ihm der rechtliche Schutz vor diesen Gefahren insofern nicht versagt, als die Rechtsordnung den auf ihn verübten Angriff mit Strafe bedroht. Auf diesen Gesichtspunkt wird zurückzukommen sein.

cc) Grundsätzliche Vorbehalte gegen die Anwendung des Rechtsmißbrauchsprinzips auf die strafrechtlichen RechtfertigungsgTÜnde Zuvor ist der dritte und gewichtigste Einwand zu erörtern, der gegen die Lösung der ProvokationsfäHe mit Hilfe des Rechtsmißbrauchsprinzips erhoben wird und der darauf hinausläuft, daß dieses Prinzip mit der Struktur der Notwehrbefugnis - bzw. der Rechtfertigungsgründe überhaupt - nicht vereinbar sei. Das Argument, ein nicht vorhandenes Recht könne nicht mißbraucht werden, hat zunächst die Logik der Sprache für sich. Der Mißbrauch einer Machtstellung, von Vertrauen, von einer zum persönlichen Schutz gestatteten Waffe setzt voraus, daß eine Machtstellung tatsächlich besteht, Vertrauen wirklich entgegengebracht wird, die Waffe existiert. überträgt man diese Logik der Alltagssprache auf die Rechtssprache, folgt in der Tat die oben71 formulierte Behauptung. Die Logik der Sprache trägt sogar noch weiter: Sie versperrt die Möglichkeit, ein existentes Recht anzunehmen, das im Augenblick seines Mißbrauchs vernichtet oder das von vornherein durch die Schranken des Rechtsmißbrauchs begrenzt würde. Fraglich ist allerdings, wieweit die Logik der Alltagssprache Argumente für und gegen rechtsdogmatische Erwägungen zu liefern vermag72 ; die Gefahr, bei unkritischem Rückgriff auf diese Logik in begriffsrealistische Positionen zu verfallen, ist nicht zu übersehen. Dieser Gefahr würde eine Argumentation erliegen, die sich schlichtweg darauf berufen würde, nur etwas Vorhandenes könne mißbraucht werden. Gleichwohl scheint mir das Argument auf einen wichtigen Punkt zu zielen: Der Begriff des Rechtsmißbrauchs setzt ein Stufenverhältnis voraus, das es erlaubt, zwischen den immanenten Grenzen eines gegebenen Rechts und den Schranken, die seiner (rechtsmißbräuchlichen) Ausübung gesetzt sind, zu unterscheiden. Das wird deutlich, wenn man die typische Konstellation des Rechtsmißbrauchs in § 226 BGB betrachtet: Gegeben ist ein subjektives Recht, etwa das Eigentum an einer Sache, das dem Eigentümer die Befugnis verleiht, mit der Sache nach 71

72

Vgl. bei Fn.56. Dazu Neumann, Rechtsontologie und juristische Argumentation, 1978,

5.48 f.

160

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

Belieben zu verfahren (§ 903 BGB). Das Recht wird durch Mißbrauch nicht vernichtet; lediglich seine Ausübung in bestimmter Hinsicht wird unzulässig. Das E~gentum als solches bleibt unberührt; es verleiht Befugnisse, die durch den Mißbrauch nicht betroffen werden. Nur unter dieser Voraussetzung - die (teilweise unzulässige) Ausübung kann von dem Recht und den verbleibenden Befugnissen abgehoben werden - ist die Annahme einer Stufung und damit die Anwendung des Rechtsmißbrauchsprinzips möglich73 • Auf das Fehlen einer solchen Stufung bei der Notwehr scheint mir das Argument zu zielen, ein Rechtfertigungsgrund liege entweder vor oder nicht vor. Es gibt in der Tat kein Notwehrrecht als beständiges subjektives Recht analog dem Eigentum, das in seiner Ausübung durch das Verbot des Rechtsmißbrauchs mehr oder weniger beschränkt sein könnte. Das Notwehrrecht ist an die konkrete Situation gebunden; situationsunabhängig existent ist zwar das Rechtsinstitut der Notwehr (als Gesamtheit dogmatischer Regeln), nicht aber ein subjektives Notwehrrecht; dieses entsteht mit dem Beginn des jeweiligen Angriffs und erschöpft sich in seiner Ausübung in dieser Situation. Es ist daher in der Tat unhaltbar, in den Fällen der Absichtsprovokation zwar ein Notwehrrecht zuzugestehen, die Ausübung dieses Rechts aber im vollen Umfang für rechtswidrig zu erklären. Ein Recht, das in keiner Hinsicht Wirkungen zeitigt, ist ein Unding. Versteht man unter dem mißbrauchten Recht die Befugnis, den Angreifer durch die Verteidigungshandlung zu verletzen, dann ist für die Annahme eines Stufungsverhältnisses und damit für den Gedanken des Rechtsmißbrauchs in den Fällen der Notwehrprovokation in der Tat kein Raum. Dennoch weist der Gedanke des Rechtsmißbrauchs nach seinem Gehalt wie nach seiner formalen Struktur den richtigen Weg zur Lösung der Fälle der absichtlichen Notwehrprovokation. Freilich wird es erforderlich sein, das Bezugsobjekt des Mißbrauchs anders zu bestimmen und die Stufenstruktur stärker zur Geltung zu bringen. Zuvor aber sind die Versuche zu erörtern, den Fällen der Notwehrprovokation mit Hilfe eines Rückgriffs auf den "Grundgedanken" der Notwehrbestimmung gerecht zu werden.

73 Konsequent nimmt LaTenz an, daß die Verwirkung eines Rechts dieses selbst vernichtet, nicht nur seiner Ausübung entgegensteht (Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, 4. Auf!., 1977, S. 199).

11. Tatbestands- oder Ausnahmemodell: Die Notwehrprovokation

161

5. Die Befugnis zur Verteidigung der Rechtsordnung a) "Schutzprinzip" und "Rechtsbewährungsprinzip" als Grundprinzipien des Notwehrrechts

Die dogmatischen Aporien, in denen sowohl die Konstruktion der actio illicita in causa als auch der Gedanke des Rechtsmißbrauchs in den Fällen der provozierten Notwehrlage enden, haben zu dem Versuch geführt, die Lösung im Durchgriff auf die "Grundprinzipien" des Notwehrrechts zu gewinnen74 • Ausgangspunkt ist dabei die behauptete Gleichwertigkeit von "Schutzprinzip" und "Rechtsbewährungsprinzip": Die Notwehr diene nicht nur der Selbstverteidigung des Angegriffenen, sondern zugleich und gleichgewichtig der Bewährung der Rechtsordnung75 • Der Provokateur aber sei, so der Grundgedanke der Argumentation, zur Verteidigung der Rechtsordnung nicht befugt7 6 • Nicht ganz einheitlich werden dabei Grund und Voraussetzungen für den Wegfall dieser Befugnis bestimmt: teils soll dem Provokateur das Notwehrrecht versagt werden, "weil und soweit er die Situation mit dem Ziel einer Verletzung des provozierten Angreifers manipuliert hat" 77, teils wird darauf abgestellt, daß der Provokateur durch sein rechtswidriges Verhalten "das Bewußtsein der Rechtsgeltung und damit die Geltung der Rechtsordnung schlechthin gefährdet" 78. Es zeigt sich hier die typische und schon mehrfach aufJescheck, AT, S.277. Vgl. etwa Jescheck, AT, S. 269 f.; BGHSt 24, 356; Roxin, ZStW 93 (1981), S. 70 ff.; BGHSt 24, 356. Demgegenüber wird teilweise der Aspekt der Bewährung der Rechtsordnung einseitig in den Vordergrund gestellt; so von Haas, Notwehr und Nothilfe, 1978, S. 216 ff., 354 ff. Ähnlich Bertel, ZStW 84 (1972), S.9 (mit der erstaunlichen Konsequenz, auf das Schutzbedürfnis des Angegriffenen könne es "für die Zulässigkeit der Notwehr niemals ankommen"), und Schmidhäuser, über die Wertstruktur der Notwehr, passim. Gegen die Reduzierung der Notwehr auf den Zweck der Rechtsbewährung etwa Schönke/ Schröder/Lenckner, § 32 Rdnr. 1; Roxin, ZStW 93 (1981), S.72; gegen Schmidhäuser Roxin, ZStW 83 (1971), S. 387; Hirsch, Die Notwehrvoraussetzungen der Rechtswidrigkeit des Angriffs, S. 218 ff. Andererseits hebt Klose den Aspekt des Schutzes des Angegriffenen hervor (ZStW 89 [1977] S.86). Gegen eine überbetonung des Gesichtspunkts der Bewährung der Rechtsordnung auch Montenbruck, Thesen zur Notwehr, passim. 76 SK/Samson, § 32 Rdnr.27; Dito, Rechtsverteidigung und Rechtsmißbrauch, S.I44; ähnlich H. Mayer, Strafrecht, AT, 1967, S.101; Lackner, GA 1961, S.309; Roxin, ZStW 75 (1963), S.581; Schröder, JuS 1973, S. 160; OLG Kiel, HESt 2, 166. Teilweise wird schon das Rechtsbewährungsinteresse verneint; so Jescheck, 3. Aufl., 1978, S.278; die dafür in der 2. Auflage gegebene Begründung, der Provokateur habe sich den Angriff "als einen Akt ,interner Vergeltung' selbst zuzuschreiben" (2. Aufl., 1972, S.257), findet sich in der 3. Auflage nicht mehr. 77 SK/Samson, § 32 Rdnr.27, mit der Konsequenz, daß das Notwehrrecht nur bei vorsätzlicher Provokation zu versagen ist. 78 Dito, Rechtsverteidigung und Rechtsmißbrauch, S. 144; das soll nach Otto auch bei fahrlässiger Provokation gelten. 74

75

11 Neumann

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

gezeigte Unsicherheit bei der Zurechnung in Fällen fehlerhaften Vorverhaltens: Unklar ist, ob auf die Rechtswidrigkeit des Vorverhaltens als solche, oder auf den finalen Zusammenhang mit der Verletzungshandlung abzustellen ist. Für beide Varianten freilich gilt, daß die Idee der mangelnden Befugnis des Provokateurs zur Verteidigung der Rechtsordnung zur Lösung der Problematik nicht entscheidend beiträgt. Zu bestreiten ist, daß das Notwehrrecht neben dem Selbstschutz gleichgewichtig der Bewährung der Rechtsordnung dient - jedenfalls bei einem normativen Verständnis der Funktionsbehauptung, das es erlauben könnte, den Gesichtspunkt der "Rechtsbewährung" zur Bestimmung der Reichweite der gesetzlichen Notwehrbefugnisse heranzuziehen79 • Zu bestreiten ist ferner, daß, dies zugestanden, daraus die behaupteten Konsequenzen für die Einschränkung des Notwehrrechts in den Provokationsfällen resultieren. b) Kritik

aa) Das Problem der Verteidigung der Rechtsordnung als solcher Die Behauptung, das Notwehrrecht diene neben dem Selbstschutz des Angegriffenen gleichgewichtig der Bewährung der Rechtsordnung, erscheint unvereinbar mit der unbestrittenen Regel, daß Notwehr zugunsten der Rechtsordnung im ganzen nicht statthaft ist8o • Ist die Abwehr von Angriffen auf "die Rechtsordnung als solche Sache des Staates und seiner Organe" und steht sie folglich "nicht dem einzelnen Bürger ZU"81, dann kann auch die Abwehr des in einem Angriff auf ein individuelles Rechtsgut liegenden Angriffs auf die RechtsoI1dnung als solche nicht Sache des einzelnen sein. Dem kann nicht entgegengehalten werden, der einzelne sei genau dann zur Verteidigung der Rechtsordnung befugt, wenn der fragliche Angriff auf die Rechtsordnung zugleich ihm oder einer dritten Person gelte. Denn es geht bei der Frage der Befugnis des einzelnen zur Verteidigung der Rechtsordnung um die funktionale Beziehung zwischen dem einzelnen und der Rechtsordnung; diese Beziehung aber kann nur einheitlich bestimmt werden. Entweder ist es (auch) Sache des einzelnen, die Rechtsordnung zu verteidigen, oder sie ist es nicht. Dazu Bockelmann, Notwehr gegen verschuldete Angriffe, S. 31. Vgl. statt aller Lackner, § 32 Anm. 2 b; Wessels, AT, S.81; Schönke/ Schröder/Lenckner, § 32 Rdnr.8. Zur geschichtlichen Entwicklung Arzt, Notwehr, Selbsthilfe, Bürgerwehr, S. 24; Schroeder, Die Notwehr als Indikator politischer Grundanschauungen, S. 131 f.; Suppert, Studien zur Notwehr und "notwehrähnlichen Lage", 1973, S. 43 ff. 81 Wessels, AT, S. 81. 79 8il

11. Tatbestands- oder Ausnahmemodell: Die Notwehrprovokation

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Denkbar wäre natürlich, die Frage der konkreten Berechtigung im Einzelfall von dem Aspekt der generellen Aufgabenzuweisung zu trennen. Dann könnte die Verteidigung der Rechtsordnung durchgängig als Aufgabe auch des einzelnen Bürgers angesehen werden, die Zuweisung konkreter Rechte oder Befugnisse zur Erfüllung dieser Aufgabe aber vom Vorliegen eines Angriffs auf ihn oder eine dritte Person abhängig gemacht werden82 . Aber ganz abgesehen davon, daß die kategorischen Formulierungen, mit denen eine Befugnis des einzelnen zur Verteidigung der Rechtsordnung als solcher verneint wird, eine solche Deutung wohl ausschließen: Die durchgängige Aufgabenzuweisung unterstellt, ist es wenig einsichtig, die Befugnis zur Verteidigung der Rechtsordnung auf die Fälle zu beschränken, in denen sich der Angriff gegen individuelle Rechtsgüter richtet. Zwar könnte man noch mit einer gewissen Plausibilität die Befugnis des einzelnen zur Verteidigung der Rechtsordnung mit dem Recht zur Abwehr eines Angriffs auf seine eigenen Rechtsgüter korrelieren; die alternative Anbindung an die Verletzung der Rechte einer beliebigen dritten Person aber ist nicht zu begrunden83 . Warum meine Befugnis zur Verteidigung der Rechtsordnung davon abhängen soll, daß der fragliche Angriff zugleich die Rechtsgüter eines beliebigen Dritten berührt, ist nicht zu sehen. Die praktische Erwägung Roxins, daß "die Ernennung des Bürgers zu einem freiwilligen Hilfspolizisten für ,das Recht' schlechthin nicht nur die Befugnisse des einzelnen in heillosen Widerspruch zu den sorgfältig differenzierten behördlichen Rechten bringen, sondern durch die Freisetzung privaten Übereifers mehr zur Störung als zur Bewahrung des allgemeinen Friedens beitragen würde"84, trifft in der Tendenz zu, vermag die fragliche Grenze des Rechts zur Verteidigung der Rechtsordnung aber ebenfalls nicht zu begründen. Denn die. von Roxin aufgezeigten Gefahren würden sich bereits bei einer extensiven Nutzung des geltenden Nothilferechts und des Festnahmerechts nach § 127 Abs. 1 StPO realisieren85 . Umgekehrt ist nicht zu erwarten, daß die Einräumung einer Nothilfebefugnis in den statistisch kaum ins Gewicht fallenden Fällen von Delikten ohne Verletzung individueller Rechtsgüter8 6 den die Möglichkeiten des geltenden Rechts bei weitem nicht B2 Das entspräche dem im Polizei recht realisierten Modell der Differenzierung von Aufgabe (bzw. Aufgabennorm) und Befugnis (bzw. Befugnisnorm); vg!. dazu etwa Scholler/Broß, Grundzüge des Polizei- und Ordnungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 3. Auf!., 1981, S. 305 ff. B3 Dabei ist unerheblich, ob man der Nothilfe engere Grenzen zieht als der Notwehr i. e. S.; dafür etwa Seelmann, ZStW 89 (1977), S. 36 ff. (passim). B4 ZStW 93 (1981), S. 76. B5 Vgl. dazu die Diskussion zur Frage der Anwendbarkeit der allgemeinen Notrechte auf gewerbliche "Sicherungsunternehmen" bei Hoffmann-Riem, übertragung der Polizeigewalt auf Private?, ZRP 1977, S. 277 ff. B8 Die hier vor allem in Betracht kommenden Straftaten gegen die öffentliche Ordnung machen (für 1981) zusammen mit den Fällen des Widerstands

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

ausnutzenden "privaten übereifer" in nennenswerter Weise anstacheln würde. Ebenso ist gegen das Argument BeTtels, eine von nichtstaatlichen Verbänden organisierte Nothilfe zugunsten der Rechtsgüter des Staates und der Allgemeinheit würde diese Güter mehr gefährden als schützen87 , einzuwenden, daß das in gleicher Weise für die Nothilfe zugunsten dritter Personen gilt. Im übrigen ist zu bestreiten, daß der einzelne Bürger zum Schutz überindividueller Rechtsgüter "nur wenig beitragen" könne 88 . Militante Sittlichkeitsapostel könnten auch ohne organisatorischen Zusammenschluß zum Schutz der Jugend oder gar der "Sexualverfassung"89 durch "Beschlagnahme" pornographischen Bildund Tonmaterials90 durch Vertreibung von Prostituierten aus Sperrbezirken usw. Erhebliches beitragen. Ganz abgesehen davon wäre die Tatsache, daß der einzelne zum Schutz dieser Güter wenig beitragen könnte, wohl kein Grund, ihm auch dieses wenige zu versagen. Hinzu kommt ein weiteres. Erkennt man dem Aspekt der Verteidigung der Rechtsordnung mit der ganz h. M. eine Bedeutung für die Reichweite des Notwehrrechts zu, so gerät man in Kollision nicht nur mit dem Gewaltmonopol91, sondern auch mit dem StrajmonopoZ des Staates. Denn die vom Selbstverteidigungsrecht allein nicht gedeckte Verletzung des Angreifers "zur Verteidigung der Rechtsordnung" würde alle Merkmale der Kriminalstrafe erfüllen: Sie wäre eine in Reaktion auf die Verletzung eines Strafgesetzes und zum Zwecke der (positiven General-)Prävention erfolgende übelszufügung. Es ist also kaum in Einklang zu bringen, wenn die h. M. den Strafcharakter der Notwehr bestreitet92 , gleichwohl aber an dem Konzept der Verteidigung der Rechtsordnung durch die Notwehrhandlung festhält. Wenn Roxin den "pönalen" Charakter der Notwehr mit der Begründung verneint, weder werde ein strafbarer Angriff vorausgesetzt noch liege in der Abwehr eine "Bestrafung im Rechtssinne, zu der Privatleuten jede gegen die Staatsgewalt etwa 1,8 Ofo aller polizeilich registrierten Straftaten aus; die Rauschgiftdelikte 1,5 Ofo (vgl. Polizeiliche Kriminalstatistik 1981, hrsg. vom Bundeskriminalamt, S. 17). 87 ZStW 84 (1972), S. 8. 88 So aber Bertel, ZStW 84 (1972), S. 8. 89 Für die "Sexualverfassung" als eigenständiges Schutzgut des § 184 StGB DTeher/Tröndle, § 184 Rdnr.5; dagegen Schönke/Schröder/Lenckner, § 184 Rdnr.3. 90 So der der (zivilrechtlichen) Entscheidung BGH NJW 1975, S. 1161 zugrundeliegende Fall. 91 So Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, S. 373; gegen ihn Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Aufl., 1973, S. 32 Anm. 68; ders., ZStW 93 (1981), S. 75. 92 Für Strafcharakter der Notwehr H. Mayer, Studienbuch, 1967, S.99; differenzierend Haas, 1978, S. 151 ff.

11. Tatbestands- oder Ausnahmemodell: Die Notwehrprovokation

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Befugnis fehlt" 93, so ist das für die Abgrenzung der Phänomene "Notwehr" und "staatliche Strafe" auf der Grundlage des StGB sicher zutreffend. Ein Einwand gegen den hier behaupteten Verstoß gegen das staatliche Strafmonopol liegt darin freilich nicht, im Gegenteil: Der zweite Teil des Arguments formuliert gerade die Voraussetzung eines solchen Verstoßes, und der erste Teil würde den erhobenen Vorwurf dahingehend verschärfen, daß § 32 StGB Sanktionen mit - materiellem - Strafcharakter erlaubt, ohne daß die Voraussetzungen staatlicher Strafverhängung vorliegen. Nun kann die herrschende Meinung zur Stützung ihrer Auffassung, das Notwehrrecht diene neben dem Schutz der Güter des Angegriffenen gleichgewichtig der Bewährung der Rechtsordnung, ein gewichtiges Argument ins Feld führen. Das Gesetz selbst, so heißt es, setze diese Funktion der Notwehr voraus, wenn es im Rahmen des § 32 StGB, anders als in Fällen des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB), zumindest prinzipiell auf eine Güterabwägung verzichte und den Angegriffenen auch nicht auf eine andere Möglichkeit der Abwendung der Gefahr verweise. Das (subjektive) Notwehrrecht wird gleichsam als Summe von Notstandsrecht und Recht zur Verteidigung der Rechtsordnung verstanden94 • Aber eine solche Interpretation der Differenz zwischen den Regelungen des rechtfertigenden Notstands und der Notwehr ist keineswegs zwingend. Mit Recht hebt Roxin hervor, der Unterschied der Rechtfertigungsvoraussetzungen bei § 32 StGB einerseits, den §§ 34 StGB, 228 BGB andererseits erkläre sich auch daraus, daß der Gesetzgeber dem Opfer eines rechtswidrigen Angriffs gegenüber dem Angreifer einen weitergehenden Individualschutz zubillige als dem, der Rechtsgüter eines Nichtangreifers verletzt95 • Ich meine, daß man hier noch einen Schritt weitergehen und auf den Gesichtspunkt der Verteidigung der Rechtsordnung in diesem Zusammenhang überhaupt verzichten kann96 • Die Härte des Notwehrrechts läßt sich auch dann aus dem Prinzip: "Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen" erklären, wenn man den Satz nicht auf die Rechtsordnung, sondern auf das subjektive Recht des Angegriffenen (und das "subjektive Unrecht" des Angreifers) bezieht97 • Durch den rechtswidrigen Angriff werden Güter des AngegrifZStW 93 (1981), S. 75. Vgl. DUo, Rechtsverteidigung und Rechtsmißbrauch im Strafrecht, passim; Lenckner, GA 1961, S. 311 Fn.46. BS ZStW 93 (1981), S. 72. 9B Zum folgenden vgl. auch Constadinidis, Die "actio illicita in causa", S. 98 ff. 97 Allerdings wird die Formel zumeist im Sinne der "Bewährung der Rechtsordnung" verstanden. Dazu, daß sie bei dieser Interpretation zirkulär zu werden droht, vgl. Seelmann, ZStW 89 (1977), S.45. V3

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

fenen gefährdet, deren Bestand ihm rechtlich garantiert ist. Diese Rechtsposition würde entwertet bis zur Bedeutungslosigkeit, wenn der Angegriffene mit seinen Gütern quasi ständig auf der Flucht sein müßte (Ausweichpflicht) oder aber gehalten wäre, diese Güter in eine materielle, die Strukturierung der Güterverteilung nach Recht und Unrecht negierende Güterabwägung einstellen zu lassen. Es geht bei der Notwehr in der Tat nicht nur um den Schutz von Gütern, sondern darüber hinaus auch um die Verteidigung des Rechts - aber nicht im Sinne einer Bewährung der Rechtsordnung, sondern im Sinne einer Wahrung der subjektiven Rechtspositionen des Verteidigers. Es ist sein Recht, das der Angegriffene verteidigt 98 • Auf sein Recht muß man sich - und dies erklärt die Härte des Notwehrrechts - anders als auf das Glück und den Zufall, verlassen können. Ich kann nicht darauf vertrauen, daß mein Eigentum nicht durch eine Naturkatastrophe in Gefahr gerät; ich darf mich aber darauf verlassen, daß es nicht durch einen rechtswidrigen Angriff gefährdet wird. Das Recht als Schema der binären Verteilung von Recht und Nichtrecht (oder Unrecht) funktioniert nur, wenn es nicht durch Güterabwägung überspielt wird. Dieses Schema von Recht und Unrecht strukturiert die KoIlisionslage aber nur im Fall eines rechtswidrigen Angriffs. Nicht nur kann ein Naturereignis nicht "rechtswidrig" angreifen (das gleiche gilt für den Angriff eines Tieres); es hat auch keinen Sinn, ihm gegenüber von einer Rechtsposition zu reden. Wenn ein über die Ufer getretener Fluß mehrere am Ufer abgestellte Kraftfahrzeuge mit sich reißt, so werden damit zwar die Fahrzeuge beschädigt oder zerstört, nicht aber wird ein Eigentumsrecht verletzt. Normative Erwartungen sind nur gegenüber anderen Menschen, nicht gegenüber Unwettern möglich. Hinzu kommt ein weiteres. Der bei § 32 StGB ganz im Vordergrund stehende vorsätzliche rechtswidrige Angriff gefährdet nicht nur die (rechtlich geschützten) Güter, er tangiert auch die Persönlichkeit des Angegriffenen. Der vorsätzlich handelnde Täter "setzt, über die empirische Verletzung hinaus, noch ein Zeichen gegenüber dem Opfer und der Gesamtheit der potentiellen Opfer. Auch dieses Zeichen verletzt (manchmal schlimmer als das Tatwerkzeug)"99. In dem vorsätzlichen Angriff liegt, soweit ein individuelles Rechtsgut betroffen ist, eine über die Gefährdung der Rechtsgüter hinausreichende Beeinträchtigung des Opfers. Der Abwehr dieser Beeinträchtigung, nicht nur dem Schutz der 98 Dazu auch Schmidhäuser, über die Wertstruktur der Notwehr, S.198. Auch im Falle der Nothilfe geht es um die Verteidigung von Rechtspositionen, nicht nur von Gütern. 99 Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 207 (im Zusammenhang mit der unterschiedlichen Bewertung vorsätzlichen und fahrlässigen Handeins); ders., Alternativen zum Schuldprinzip?, S. 97 f.

H. Tatbestands- oder Ausnahmemodell: Die Notwehrprovokation

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Güter, dient die Zulassung einer "Trutzwehr" , die von dem auf die Güterwahrung beschränkten "Schutzprinzip" nicht mehr gedeckt wird 10o • Beide Gesichtspunkte sprechen für eine Beschränkung des Notwehrrechts in den Fällen eines Angriffs schuldunfähiger Personen. Die Möglichkeit normativer Handlungserwartung ist eingeschränkt, wo die Handelnden nur begrenzt normativ motivierbar sind, also in Fällen defizienter Handlungskompetenz. Bei Kindern, Geisteskranken, Betrunkenen, Irrenden wird der rechtswidrige Angriff teilweise oder vollständig auf das Konto des Irrtums, der Trunkenheit, der Geisteskrankheit, des kindlichen Alters gesetzt; sie wird erklärt und damit Gegenstand kognitiver Bewältigung. Zugleich bedeutet die defiziente Handlungskompetenz des Angreifers eine wesentliche Reduzierung, wenn nicht den Wegfall der symbolischen, auf die Persönlichkeit des Angegriffenen zielenden Komponente des Angriffs. Dem für schuldunfähig erklärten Täter fehlt die soziale Kompetenz für eine effektive "Zeichensetzung"; sein Angriff wird - über die reale Gefährdung von Gütern hinaus - nicht ernstgenommen. Der Angegriffene kann daher darauf verzichten, durch energische Zurückweisung des Angriffs seinerseits ein Zeichen zu setzen und damit das Gleichgewicht der Interaktion wieder herzustellen. Wer dem Angriff eines Kindes ausweicht, handelt nicht feige, sondern vernünftig und human. Die letztere Wertung verweist auf einen weiteren, wichtigen Aspekt. Gegenüber Personen mit defizienter Handlungskompetenz ist das allgemeine Gebot sozialer Rücksichtnahme von besonderer Bedeutung101 • Wer für sein Handeln in geringerem Maße verantwortlich ist, verdient in höherem Maße Schonung bei der Reaktion auf dieses Handeln. Hier liegt der Berührungspunkt zwischen Strafverzicht und Einschränkung des Notwehrrechts. Nicht der Mangel eines Rechtsbewährungsinteresses ist der gemeinsame Nenner, sondern das Gebot der Fairness, der 100 So schon Löffler, Unrecht und Notwehr, ZStW 21 (1901), S. 537 ff. Ähnlich Stratenwerth, Prinzipien der Rechtfertigung, S. 64: Der rechtswidrige Angriff "stellt das Prinzip der Selbstbestimmung unmittelbar und unbedingt in Frage, und das rechtfertigt es, wenn die Verteidigung auch zu unverhältnismäßig schweren Rechtsgutsverletzungen führen darf"; allerdings stellt Stratenwerth zugleich auf den darin liegenden Angriff auf die "Gesamtrechtsordnung" ab. In der gleichen Richtung Seelmann, ZStW 89 (1977), S. 47, dessen Schlußfolgerung, die Grenzen der Nothilfe enger zu ziehen als die der eigennützigen Notwehr, aber nicht zwingend sein dürfte; auch im Falle der Nothilfe wird ein verletztes bzw. bedrohtes Selbstbestimmungsrecht verteidigt. 101 Auf die Pflicht zu sozialer Rücksichtnahme stützt Roxin in den Fällen eines geringen Rechtsbewährungsinteresses die Möglichkeit eines Zurücktretens auch des Individualrechtsschutzes (ZStW 93 [1981], S. 77). Als Grundprinzip der Notwehrbeschränkungen erscheint diese Pflicht bei Schöneborn, NStZ 1981, s. 201 ff.; ähnlich schon Kratzsch, Das (Rechts-)Gebot zu sozialer Rücksichtnahme als Grenze strafrechtlichen Notwehrrechts (zu BGH NJW 1975, 62), JuS 1975, S. 535 ff.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

Rücksichtnahme auf den nicht oder nur bedingt verantwortlich Handelnden102 . Dieses Gebot beherrscht das Strafrecht (verstanden als ius puniendi) in Gestalt des straflimitierenden Schuldprinzips; im Verhältnis der Rechtsgenossen tritt es (auch) als Einschränkung der Notwehrbefugnis in Erscheinung. Anders als im Verhältnis Staat/Bürger kann das Maß dessen, was das Prinzip der Fairness (oder: das Gebot sozialer Rücksichtnahme) fordert, im Verhältnis der Rechtsgenossen untereinander von deren konkreter Beziehung bestimmt werden. Daraus ergibt sich zwanglos die Möglichkeit, das Notwehrrecht unter Personen mit engen persönlichen Beziehungen zu beschränken103 . Nicht eine besondere Qualität des Angriffs auf die Rechtsordnung begründet die Einschränkung des Notwehrrechts in diesen Fällen, sondern die besondere Qualität der Beziehung zwischen Angreifer und Angegriffenem. Mit dieser Argumentation soll natürlich nicht geleugnet werden, daß die nachdrückliche Zurückweisung eines rechtswidrigen Angriffs durch den Bedrohten oder einen Dritten durchaus eine kriminalpolitische Relevanz besitzen kann, die schlagwortartig als Normstabilisierung bestimmt werden kann und mit den Begriffen "Rechtsbewährung" oder "Generalprävention" gekennzeichnet werden mag104 . Zu bestreiten ist, daß diese tatsächliche kriminalpolitische Funktion im Rahmen der anerkannten Regeln der Notwehrdogmatik zu einem normativen Prinzip hochstilisiert werden kann, das neben und zusammen mit dem "Schutzprinzip" Reichweite und Grenzen des Notwehrrechts bestimmen könnte.

bb) Die Mehrdeutigkeit des Begriffs der Rechtsbewährung Diese Behauptung muß in einer Diskussion der Fallgruppen verteidigt werden, in denen die h. M. unter Berufung auf die fehlende oder geminderte Erforderlichkeit der Rechtsbewährung das Notwehrrecht entgegen dem Wortlaut des § 32 StGB einschränkt; denn es droht die kategorische Feststellung, die mit dem "Rechtsbewährungsprinzip" verbundene "teilweise Suspendierung des staatlichen Gewaltmonopols" entspreche - ihre kriminalpolitische Bedenklichkeit dahingestellt - jedenfalls der ,.Struktur der Notwehr im geltenden Recht"105. 102 Zum Prinzip der Fairness als Gehalt des Schuldprinzips Burkhardt, GA 1976, S. 338 ff. (unter Bezug auf Hart und Rawls); Neumann/Schroth, Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe, S. 49 ff. 103 Man könnte darin - nur scheinbar widersprüchlich - auch eine rechtliche Anerkennung der Tatsache sehen, daß die Berufung auf Rechtspositionen in engen persönlichen Beziehungen sozialethisch nicht akzeptiert wird; vgl. dazu Ellscheid in: neue hefte für philosophie 17 (1980), S. 43 ff. 104 Vgl. Roxin, ZStW 93 (1981), S. 73 f. 105 Roxin, ZStW 93 (1981), S. 75.

11. Tatbestands- oder Ausnahmemodell: Die Notwehrprovokation

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Daß dies insofern nicht zutrifft, als bestimmte anerkannte Regeln der Notwehrdogmatik nicht mit dieser Deutung vereinbar sind, wurde oben aufgezeigt. Jetzt geht es um den Nachweis, daß die Problemlösungspotenz des Rechtsbewährungsprinzips wesentlich geringer ist, als überwiegend angenommen wird; daß es nicht leistet, was es leisten solL Später wird zu zeigen sein, daß die Einschränkung der Notwehrbefugnis in den fraglichen Fällen mit anderen Gesichtspunkten plausibel begründet werden kann. Gemeinsamer Nenner beider Argumentationen ist die These, daß dem Rückgriff auf das Rechtsbewährungsprinzip in diesen Fällen eine überdehnung dieses Begriffs zugrunde liegt: Es geht, wenn diese holzschnittartige Gegenüberstellung gestattet ist, gerade nicht um die Bewährung der Rechtsordnung, sondern um ihre Oberlagerung durch vorrechtliche Regeln eines rücksichtsvollen, wenn man will: humanen Zusammenlebens 106. Eine Beschränkung des Notwehrrechts kann allenfalls in den Fällen des Angriffs von schuldlos Handelnden auf das Rechtsbewährungsprinzip des § 32 StGB gestützt werden. Die Versuche, auch in den Fällen eines groben Mißverhältnisses zwischen dem angegriffenen und dem verteidigten Rechtsgut und in den Fällen einer engen persönlichen Beziehung zwischen Angreifer und Verteidiger auf dieses Prinzip zurückgreifen, sind zum Scheitern verurteilt. Wenn hinsichtlich der ersten Fallgruppe argumentiert wird, die Verteidigung eines Rechts mit "Mitteln ... , die im Hinblick auf das in dem Angriff liegende Unrecht völlig maßlos sind", sei "keine ,Bewährung' des Rechts, sondern dessen Gegenteil"107, so beruht diese Argumentation auf einer spezifischen Verwendung des Begriffs der Bewährung der Rechtsordnung 108. Der Begriff der Bewährung der Rechtsordnung 108 Dieser Gesichtspunkt wird von dem Begriff der "sozialethischen" Einschränkungen des Notwehrrechts gut getroffen. 107 Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdnr.50. 108 Der gleiche Doppelsinn des Begriffs der Rechtsbewährung findet sich bei Krey, der die von ihm vorgeschlagene Einschränkung der Sachgüter-Notwehr u. a. mit der Erwägung rechtfertigt, bei nicht erheblichen Angriffen auf Sachgüter bedürfe die Rechtsordnung "nicht der Bewährung mittels tödlicher oder konkret lebens gefährdender Abwehr. Der Grundsatz: ,das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen' würde nicht bewährt, sonder pervertiert, wenn man heute in Notwehr einen Eierdieb erschießen dürfte" (JZ 1979, S. 714). Doppeldeutig erscheint hier die Argumentation, die Rechtsordnung bedürfe in den fraglichen Fällen nicht der Verteidigung mittels tödlicher Abwehr; denn die Formulierung läßt den Unterschied zwischen der Frage, ob die Rechtsordnung auch in diesen Fällen einer Bewährung bedarf (d. h., ob sie in einem oberhalb der Relevanzschwelle liegenden Grad angegriffen ist), und der anderen, ob bejahendenfalls dieser Gesichtspunkt der Rechtsbewährung hinter anderen Interessen oder Prinzipien zurückzutreten hat, nicht deutlich werden. Deshalb wird nicht sofort klar, daß Krey hier im Grunde mit dem - von ihm für die Begründung seines Vorschlags ausdrücklich abgelehnten - Verhältnismäßigkeitsgrundsatz argumentiert: Das Interesse an der Bewährung der Rechts-

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

wird, wenn man ihn zur Kennzeichnung eines der Notwehr zugrundeliegenden Prinzips verwendet, im Sinne des Aufweisens der "Nichtigkeit", der Ineffektivität des in dem rechtswidrigen Angriff auf ein individuelles Rechtsgut liegenden Angriffs auf die Rechtsordnung verstanden. In diesem Sinne aber hängt die Bewährung der Rechtsordnung durch die Notwehrhandlung allein davon ab, daß dieser Angriff erfolgreich abgewiesen wird. Irgendwelche Zweck-Mittel-Relationen können insofern keine Rolle spielen; daran orientierte Beschränkungen des Notwehrrechts müßten auf andere Rechtsprinzipien gestützt werden. Ein solches Prinzip liegt in Gestalt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes offenbar der Argumentation Lenckners zugrunde. Es ist aber bedenklich, wenn das Verhältnismäßigkeitspnnzip im Gewande des Rechtsbewährungsgrundsatzes in die Argumentation eingeführt wird. Dieses Prinzip darf bei Strafe des Verlustes seiner begrifflichen Schärfe und damit seines argumentativen Stellenwerts nicht als Formel für allgemeine Gerechtigkeits- und Verhältnismäßigkeitsvorstellungen verwendet werden. Nun liegt der Verbindung von Rechtsbewährungsprinzip und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die richtige Einsicht zugrunde, daß "Rechtsbewährung" i. S. einer Stabilisierung der Rechtstreue der Bevölkerung daran gebunden ist, daß die von Rechts wegen verlangten oder zugelassenen Sanktionen als angemessen erlebt werden l09 • Aber in dieser Bedeutung bezieht sich der Begriff der Rechtsbewährung auf alle sozialethischen Gerechtigkeitsprinzipien; er bezeichnet dann kein bestimmtes ethisches Prinzip, schon gar kein Rechtsprinzip, sondern eine inhaltlich nicht mehr abgrenzbare Gesamtheit von empirisch feststellbaren Gerechtigkeitsvorstellungen. Daß das mit diesem Begriff Gemeinte von dem, was unter dem Begriff "Rechtsbewährungsprinzip" als Fundament des Notwehrrechts angeführt wird, zu unterscheiden ist, liegt auf der Hand. Diese doppeldeutige Begriffsverwendung begründet das "überraschende" Phänomen, "daß der Rechtsbewährungsgedanke nicht nur die Härte des Notwehrrechts rechtfertigen, sondern die Notwehr auch begrenzen soll" 110. In der Tat läßt sich aus dem Aspekt der Rechtsbewährung eine Begrenzung des Notwehrrechts nur insofern herleiten, als in bestimmten Fällen wegen der besonderen Qualität des Angriffs ordnung darf nicht mit unverhältnismäßigen Mitteln, nämlich: dem Einsatz tödlicher Abwehrmittel bei nicht erheblichen Angriffen auf Sachgüter geschützt werden. lOD Vgl. dazu schon Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, S. 276. 110 Felber, Die Rechtswidrigkeit des Angriffs in den Notwehrbestimmungen, S. 95. Gegen eine Einschränkung der Notwehrbefugnisse wird der Aspekt der Bewährung der Rechtsordnung etwa von Schröder herangezogen (JuS 1973, S. 157 in krit. Auseinandersetzung mit BGH NJW 1972, S. 1821).

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die Erforderlichkeit einer Bewährung des Rechts verneint werden kann. Das mag bei Angriffen von Kindern, Geisteskranken, Betrunkenen und sonst schuldlos handelnden Personen bejaht werden; soweit es um die hier diskutierte Fallgruppe geht, könnte allein auf die Geringfügigkeit des Angriffs als solchen (nicht aber auf das Verhältnis angegriffenes/verletztes Rechtsgut) abgestellt werden. Ein Grundsatz des Inhalts, daß bei Bagatelldelikten Notwehr nicht statthaft oder auch nur generell eingeschränkt sei, ist dem geltenden Notwehrrecht jedoch fremd ll1 . Nach all dem kann der Ausschluß des Notwehrrechts in den Fällen eines groben Mißverhältnisses zwischen dem verteidigten und dem durch die Verteidigung verletzten Rechtsinteresse nicht unter Rückgriff auf das Rechtsbewährungsprinzip begründet werden. Das gleiche gilt für die Fälle enger persönlicher Beziehungen zwischen Angreifer und Verteidiger. Die Behauptung, die für diese Fälle von der Rechtsprechung festgelegte Beschränkung des Notwehrrechtsll2 ließe sich nur damit rechtfertigen, daß "das Rechtsbewährungsprinzip nicht voll zur Geltung kommt, wenn und weil von dem Angegriffenen mit Rücksicht auf den Fortbestand einer rechtlich besonders geschützten Beziehung Zurückhaltung erwartet werden kann" 113, kann richtigerweise nur so verstanden werden, daß in diesen Fällen die Pflicht zur Rücksichtnahme den Gedanken der Rechtsbewährung überlagert. Nicht ließe sich behaupten, daß in diesen Fällen die Notwendigkeit der Rechtsbewährung vermindert sei 114 ; denn die Erheblichkeit des Angriffs auf die Rechtsordnung kann von irgendwelchen Schutzpflichten des Angegriffenen offensichtlich nicht abhängen. Die Frage, ob das Rechtsbewährungsinteresse in diesen Fällen hinter andere Gesichtspunkte zurücktreten muß, ist von der ganz anderen Frage, ob es infolge der besonderen Fallkonstellation als solches gemindert ist, scharf zu unterscheiden. Bemerkenswerterweise werden beide Fragen an diesem Punkt der Argumentation selten auseinandergehalten115 • Der Grund dafür dürfte darin liegen, daß die Begründung der Notwehrbeschränkung mit Hilfe des Gesichtspunkts der Verteidigung der Rechtsordnung 111 Die Fälle der sog. Unfugabwehr können hier außer Ansatz bleiben; zu ihnen etwa Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdnr.49. 112 Vgl. BGH NJW 1969, S. 802 m. Anm. Deubner, NJW 1969, S. 1184; BGH NJW 1975, S.62 m. Anm. Geilen, JR 1976, S.314 und Bespr. Kratzseh, JuS 1975, S.435; gegen diese Einschränkung Dito, Rechtsverteidigung und Rechtsmißbrauch, S. 148; Engels, GA 1982, S. 109 ff.; im wesentlichen auch Maurach/ Zipf, AT/I, S. 345 f. 113 Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdnr. 53. 114 So aber Blei, JA 1975, S. 171: Die Auseinandersetzung unter Eheleuten berühre "die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung ... weniger". Gegen den Rückgriff auf den Gedanken der Rechtsbewährung bei Ehegattennotwehr zutreffend Engels, GA 1982, S. 113 f. 115 Vgl. etwa Jescheck, AT, S.278.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

den Nachweis einer Minderung des Rechtsschutzinteresses voraussetzen würde, während sich tatsächlich allenfalls dessen (teilweise) Verdrängung durch andere Prinzipien begründen läßt116 • Im Ergebnis wird der Begriff des Rechtsbewährungsinteresses damit in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet: Zum einen, im engeren Sinne, zur Bezeichnung der positiven sozialen Bewertung der Sanktionierung eines normverletzenden Verhaltens, zum anderen, im weiteren Sinne, als Formulierung der gesellschaftlichen Notwendigkeit, das Ausmaß der Sanktion im Rahmen dessen zu halten, was nach sozialethischen Maßstäben noch als angemessene Reaktion gelten kann. Es dürfte mit dem Vordringen des Gesichtspunkts der positiven Generalprävention in der Strafzweckdiskussion117 zusammenhängen, daß der Begriff auch im Kontext dogmatischer Erörterungen zunehmend im letzteren Sinne Verwendung findet. Der weitere Begriff des Rechtsbewährungsinteresses scheint mir auch den jüngsten Analysen Roxins hinsichtlich der sozial ethischen Einschränkungen des Notwehrrechts zugrundezuliegen. Roxin hält eine Einschränkung der Notwehrbefugnisse bei Angriffen im Rahmen von Garantieverhältnissen für richtig, "weil auch hier das Rechtsbewährungsinteresse im Verhältnis zum Normalfall erheblich reduziert ist"118. Das könne allerdings nicht mit dem "privaten" Charakter des Streits im "internen Lebensbereich" begründet werden. "Der tragende Grund für die Einschränkung der Notwehr unter Ehegatten liegt vielmehr darin, daß sie als ,Garanten' im Sinne des § 13 StGB für das Wohlergehen des jeweils anderen verantwortlich sind" 119. Nachdem zuvor als Grund der Einschränkung des Notwehrrechts die erhebliche Reduktion des Rechtsbewährungsinteresses angegeben wurde, stellt sich damit die Aufgabe, zu begründen, daß eine besondere Beziehung allein zwischen Angreifer und Verteidiger, die weder das (Angriffs-)Verhältnis zwischen Angreifer und Rechtsordnung noch das (Verteidigungs-)Verhältnis zwischen Angegriffenem und Rechtsordnung berührt, eine Minderung des Rechtsbewährungsinteresses zur Folge haben kann. Roxin schreibt dazu: "Tatsächlich muß sich das gleichzeitige Nebeneinander von Verteidigungsrecht und Schutzpflicht zwangsläufig in einer immanenten 11e Daß das Rechtsbehauptungsprinzip durch im privaten Bereich begangene Straftaten in gleicher Weise tangiert wird wie durch im fernen sozialen Raum verübte Delikte, betont jetzt zutreffend Roxin, ZStW 93 (1981), S. 101, unter Aufgabe seiner früheren Auffassung (ZStW 75 [1963], S. 581 Anm. 11). In der Tat wird man kaum die Behauptung verteidigen wollen, die Tötung des Ehepartners verletze die Rechtsordnung in geringerem Maße als die Tötung eines Dritten. 117 Vgl. zusammenfassend Neumann/Schroth, Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe, S. 98 ff. 118 ZStW 93 (1981), S. 101. l1D ZStW 93 (1981), S. 101.

11. Tatbestands- oder Ausnahmemodell: Die Notwehrprovokation

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Notwehrbegrenzung auswirken: Das Rechtsbewährungsprinzip muß sich auf das Maß eines sozialgebundenen Schutzbedürfnisses reduzieren, wo der Angegriffene ohnehin gegenüber dem Angreifer von Rechts wegen zu Schutz und Rücksichtnahme verpflichtet ist. Das Präventionsinteresse wird also von vornherein durch die Pflicht zu sozialer Rücksichtnahme gemildert"120. Wenn Roxin hier das Rechtsbewährungsbedürfnis an das Maß des durch die Pflicht zur sozialen Rücksichtnahme eingeschränkten Schutzbedürfnisses bindet, so ist das nur im Rahmen des weiteren Begriffs des Rechtsbewährungsinteresses möglich, der es erlaubt, neben der Notwendigkeit der Sanktionierung eines Normverstoßes weitere rechtliche oder rechts ethische Prinzipien zu berücksichtigen. Dieses Verständnis von "Rechtsbewährung" entspricht in der Tat eher den neueren Auffassungen von der gesellschaftlichen Funktion des Strafrechts. Entscheidend ist aber, daß die Bewährung des Rechts in diesem Sinne nicht als spezifische Funktion gerade des Notwehrrechts verstanden werden kann. Es handelt sich bei dem weiteren Prinzip der Rechtsbewährung um eine allgemeine Forderung an die Angemessenheit strafrechtlicher Regeln, nicht um einen spezifischen Grundgedanken der Notwehrbestimmung, aus dem unmittelbar Konsequenzen für die Dogmatik der Notwehr abgeleitet werden können. Es bleibt also dabei, daß die sozialethische Einschränkung der Notwehrbefugnisse jedenfalls in den Fällen von Angriffen im Rahmen von Garantieverhältnissen nicht mit dem Rechtsbewährungsprinzip begründet werden kann l21 • Noch am ehesten einzuleuchten scheint der Rückgriff auf das (engere) Rechtsbewährungsprinzip in den Fällen der Angriffe durch Kinder, Geisteskranke und andere schuldlos handelnde Personen l22 • Hier wird argumentiert, die Bewährung der Rechtsordnung sei überflüssig bei "rechtswidrigen Angriffen von Personen, auf deren Verhalten die Rechtsordnung selbst nicht mit Strafen antwortet, die der Bekräftigung des Gesetzes dienen, sondern mit bloßen Maßregeln ... "1211. Dabei wird zweierlei unterstellt: Zum einen, daß nur die Verhängung von Strafe, nicht auch die Verurteilung zu Maßregeln der Bekräftigung des ZStW 93 (1981), S. 101 f. Richtig Geilen, JR 1976, S. 316; vgl. auch ders., Jura 1981, S. 374; Marxen, Die "sozialethischen" Grenzen der Notwehr, 1979. Zurückhaltend auch H. Schumann, JuS 1979, S.566: Eine Beschränkung der Notwehrbefugnisse gegenüber dem Ehepartner lasse sich allenfalls damit begründen, daß sich wegen der bestehenden Schutzpflicht das Rechtsbewährungsprinzip "nicht voll auswirken kann" (nicht: gemindert ist). 122 Für den Rekurs auf das Rechtsbewährungsprinzip in diesen Fällen Roxin, ZStW 93 (1981), S. 81; Bockelmann, Notwehr gegen verschuldete Angriffe, S. 30; Lenckner, GA 1968, S. 3; Jescheck, AT, S. 277. 123 Bockelmann, AT, S.97. 120

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

Gesetzes dient; zum anderen, daß aus diesem Grunde der Verzicht auf Bestrafung die mangelnde Erforderlichkeit einer Bewährung der Rechtsordnung signalisiere. Die erste Behauptung sei zugestanden, weil die mangelnde begriffliche Schärfe des Begriffs der Verteidigung der Rechtsordnung die Gefahr eines nur terminologischen Streits heraufbeschwört. Das zweite Argument aber erscheint im Rahmen einer Strafkonzeption nicht als zwingend, für die "die erste Aufgabe der Strafe im Schuldausgleich" besteht124 • Für eine solche Konzeption erklärt sich der Verzicht auf Strafe in den Fällen eines schuldlosen Angriffs bereits aus dem Fehlen einer Schuld; irgendwelche Schlüsse auf ein mangelndes Rechtsbewährungsinteresse können nicht gezogen werden, weil schuldlose Rechtsbrüche auch in Fällen eines ganz elementaren Rechtsbewährungsinteresses nicht bestraft werden dürfen. Wer am Schuldprinzip festhält, kann, selbst wenn er nicht wie Bockelmann die "erste Aufgabe" der Strafe im Schuldausgleich erblickt, vor der Nichtbestrafung schuldlos begangener Rechtsverstöße nicht auf mangelndes Rechtsbewährungsinteresse schließen. Gleichwohl könnte natürlich infolge eines inneren Zusammenhangs zwischen Schulddogmatik und kriminalpolitischen Bedürfnissen in den Fällen schuldloser Handlungen ein (erheblicher) Angriff auf die Rechtsordnung zu verneinen sein. Begründen ließe sich das beispielsweise mit der funktionalen Äquivalenz von Sanktionen einerseits und der Definition des Normbrechers als Person, die der Norm nichts anhaben kann, andererseits, hinsichtlich der Normstabilisierung in Luhmanns Theorie sozialer Normen 125 • Eine solche Argumentation würde die im Rahmen der Notwehr erfolgende Verteidigung der Rechtsordnung zwar wiederum in bedenkliche Nähe zur staatlichen Strafe rücken; immerhin aber dürften bei dieser Fallgruppe zumindest die Voraussetzungen eines verminderten Rechtsbewährungsinteresses zu bejahen sein. Dagegen ist für die Fälle der provozierten Notwehrlage der Rückgriff auf den Gesichtspunkt des Rechtsbewährungsinteresses wenig hilfreich. Die Begründung für diese Feststellung kann im Hinblick auf das bereits Ausgeführte kurz gehalten werden. Daß das Rechtsbewährungsinteresse im engeren Sinne bei dieser Fallgruppe nicht verneint werden kann, beweist die Strafbarkeit des Provozierten, der sich auf die Provokation allenfalls im Rahmen der Strafzumessungserwägungen berufen kann. Der Auffassung, es fehle in den Provokationsfällen bereits an dem Rechtsbewährungsinteresse 126 , kann somit nicht zugestimmt werden. Aber auch die Argumentation, der Provokateur sei

Bockelmann, AT, S.8. Luhmann, Rechtssoziologie Bd. 1, S.62; dazu NeumannlSchroth, Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe, S. 103. 126 Vgl. oben S. 168 ff. 124

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11. Tatbestands- oder Ausnahmemodell: Die Notwehrprovokation

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zur Verteidigung der Rechtsordnung nicht berufen, vermag nicht zu überzeugen. Denn die Befugnis zur Verteidigung der Rechtsordnung ist, wenn man denn eine derartige Befugnis anerkennen will, dem einzelnen nicht in seinem Interesse, sondern um der Rechtsordnung willen verliehen. Sowenig dem Richter oder dem Henker das Recht, zur Verteidigung der Rechtsordnung in Rechtsgüter des Delinquenten einzugreifen, als persönliches Privileg gewährt wird, sowenig dem rechtswidrig Angegriffenen die Befugnis zur Verteidigung der Rechtsordnung 127 • Ein vom "Schutzprinzip" nicht gedecktes, im Interesse des Verteidigers gewährtes Recht zur Verletzung des Angreifers ist in einem rechtsstaatlichen Strafrecht undenkbar. Wird dieses Recht dem einzelnen aber im Interesse der Rechtsordnung zuerkannt, dann ist nicht zu begründen, daß er es infolge eigenen Fehlverhaltens verlieren soll. Um in der Terminologie zu bleiben: Warum die Rechtsordnung unverteidigt bleiben soll, wenn der einzige zur Verfügung stehende Verteidiger den Normverstoß herbeigeführt hat, ist nicht einzusehen, im Gegenteil: Gerade der Verursacher dieses Normverstoßes müßte in besonderem Maße gehalten sein, die Rechtsordnung gegen die darin liegende Verletzung zu verteidigen. Unabhängig von dieser überlegung wäre einzuwenden, daß auch der Verlust der im Sinne eines persönlichen Privilegs verstandenen Befugnis zur Verteidigung der Rechtsordnung kaum zu rechtfertigen wäre. Das ist nicht weiter begründungsbedürftig, wenn man mit Dtto darauf abstellt, daß der Provokateur sich selbst rechtswidrig verhalten habe; denn es ist nicht einzusehen, warum jemand, der quer durch das Strafgesetzbuch "gesündigt" hat, eher zur Verteidigung der Rechtsordnung berufen sein soll als der "untadelige Bürger", der sich außer der fraglichen Provokation bisher nichts hat zuschulden kommen lassen. Nichts anderes gilt aber auch, wenn man den Gesichtspunkt hervorhebt, daß der Provokateur die Situation mit dem Ziel einer Verletzung des provozierten Angreifers manipuliert hat128 ; denn unter dem Aspekt gerade der Befugnis zur Verteidigung der Rechtsordnung könnte nur die Tatsache heimtückischen Verhaltens als solche gewertet werden; der Gesichtspunkt des "venire contra factum proprium", des widersprüchlichen Verhaltens im konkreten Fall, wäre nicht auf die Frage dieser Befugnis zu reduzieren, sondern würde dazu führen, dem Provokateur die Berufung auf die vorsätzlich herbeigeführte Notwehrsituation unabhängig von möglichen Konsequenzen gerade des "Schutzprinzips" oder des "Rechtsbewährungsprinzips" zu versagen. Die Tat127 In diesem Sinne auch BeTtel: "Das Recht zur Notwehr ist keine Vergünstigung, deren sich der Angegriffene würdig erweisen muß, sondern dient der Lösung eines Interessenkonflikts" (ZStW 84 [1972], S. 13). 128 V gl. bei Fn. 77.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

sache heimtückischen HandeIns vermag als solche die Versagung der Befugnisse zur Verteidigung der Rechtsordnung gerade für den konkreten Fall aber ebensowenig auszuschließen wie die des rechtswidrigen Verhaltens. 6. Lösungsvorschlag a) Die grundsätzlichen Möglichkeiten

Das Ergebnis der bisherigen überlegungen lautet: Bei der Fallgruppe der absichtlichen Provokation einer Notwehrlage führt kein Weg von den allgemein akzeptierten dogmatischen Regeln zu den fast allgemein akzeptierten Ergebnissen. In einer solchen Situation gibt es drei Möglichkeiten: Man kann einmal die Ergebnisse den dogmatischen Regeln anpassen; das ist der Weg, den Bockelmann129 und Hassemer 130 eingeschlagen haben. Man kann zweitens die einschlägigen dogmatischen Regeln so abändern, daß sie die gewünschten Ergebnisse zu tragen oder doch so verzerren, daß sie sie scheinbar zu tragen vermögen; das ist der Weg, der von der Strafrechtswissenschaft heute ganz überwiegend beschritten wird. Man kann schließlich - drittens - an den konsentierten Ergebnissen wie an den anerkannten dogmatischen Regeln festhalten und versuchen, die Kluft zwischen beiden durch die Einführung bestimmter Zusatzregeln zu überbrücken. Das ist der Weg, der hier vorgeschlagen werden soll. Ich meine, daß es zu diesem dritten Weg keine wirkliche Alternative gibt, weil der erste nicht gangbar und der zweite, soweit er nicht nach den für wissenschaftliches Argumentieren und für die Legitimation staatlicher Machtausübung geltenden Regeln gesperrt ist, ganz erhebliche Gefahren für die Leistungsfähigkeit der Strafrechtsdogmatik mit sich bringt. Beide Behauptungen bedürfen einer kurzen Erläuterung. Der Vorschlag, dem Provokateur den Rechtfertigungsgrund des § 32 StGB zuzubilligen, dürfte keine Chance haben, gesellschaftlich akzeptiert zu werden, selbst wenn er sich in der Strafrechtsdogmatik durchsetzen sollte. Die Straflosigkeit des Täters, dem es bei der Inszenierung und erfolgreichen Durchführung seines Plans von vornherein und erklärtermaßen nur darum ging, das Opfer unter dem Schutz des § 32 StGB zu töten oder zu verletzen, würde auf allgemeines Unverständnis stoßen. Die Methode, dogmatische Regeln um der angemessenen Lösung bestimmter Fallkonstellationen willen ad hoc zu ändern, ist nur dann 129 130

Bockelmann, Notwehr gegen verschuldete Angriffe, S. 19 ff. Hassemer, Die provozierte Provokation, S. 225 ff.

11. Tatbestands- oder Ausnahmemodell: Die Notwehrprovokation

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unproblematisch, wenn es sich um notwendige Korrekturen der Dogmatik handelt, um die Anpassung des expliziten dogmatischen Regelsystems an die zugrundeliegenden Zurechnungsstrukturen. In den Fällen der provozierten Notwehrlage wie auch bei anderen Fallgruppen verschuldeter Rechtfertigungs- oder Entschuldigungslagen (actio libera in causa, § 323 a StGB) ist die Situation jedoch umgekehrt: Hier verdeckt die ad hoc vorgenommene Modifikation der dogmatischen Regeln gerade die Basisstrukturen der Zurechnung; die dogmatischen Regeln werden nicht angepaßt, sondern deformiert, um ein Ergebnis, das außerhalb der Reichweite dogmatischer Regeln liegt, scheinbar begründen zu können. Infolge der Interdependenz dogmatischer Probleme und Problemlösungen hat dieses Verfahren fatale Konsequenzen, die nur dadurch unterdrückt werden können, daß man an den fraglichen Punkten die Dogmatik als autonomes Regelsystem mit Entscheidungskapazität suspendiert. Das geschieht etwa bei der Konstruktion der actio libera in causa hinsichtlich der dogmatisch zwingenden Konsequenz, daß die mißlungene Provokation als fehlgeschlagener, keine Rücktrittsmöglichkeit mehr bietender Versuch interpretiert werden müßte. Ein solches Zerschneiden von Interdependenzen aber muß die Funktionstüchtigkeit der Dogmatik, deren Problemlösungskapazität gerade auf derartigen Interdependenzen beruht, erheblich gefährden131 • Nimmt man andererseits diese Zusammenhänge ernst, dann drohen neben unbefriedigenden praktischen Ergebnissen Verwerfungen in der Dogmatik, die auf andere Bereiche der Dogmatik übergreifen können und dort künstliche Probleme induzieren. Ein Beispiel wäre etwa das Tatbestandsmodell des § 323 a StGB, das die einsichtige Klassifikation der eigenhändigen Delikte bei Roxin zu sprengen droht 132 • Es gilt also, die Regeln der Strafrechtsdogmatik von Problemen zu entlasten, denen sie nicht gewachsen sind und die ihre Leistungsfähigkeit insgesamt in Frage zu stellen drohen. b) Die Anerkennung dogmatischer Regeln zweiter Stufe

aa) Die Struktur dieser Regeln Das kann freilich nicht dadurch geschehen, daß man willkürlich Ergänzungsregeln einführt, um das gewünschte Ergebnis begründen zu können; diese Regeln müssen als solche, in ihrem Zurechnungsgehalt, gerechtfertigt werden können. Eine solche Rechtfertigung kann relativ auf das vorhandene strafrechtliche oder sozialethische Zurechnungssystem, sie kann auch absolut - in einern ethischen Diskurs - erfolgen. 131

132

Dazu schon oben S. 20. Dazu oben S. 86.

12 Neumann

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

Entsprechend dem vorwiegend analytischen Anspruch der Arbeit beschränke ich mich auf den Versuch einer relativen Rechtfertigung. Die fragliche Regel lautet für die Fälle der Notwehrprovokation: Wer die Voraussetzungen einer Notwehrsituation absichtlich herbeigeführt hat, um den Angreifer in Notwehr zu töten oder zu verletzen, kann sich gegenüber dem Vorwurf der rechtswidrigen Tötung oder Körperverletzung nicht mit dem Argument verteidigen, seine Handlung sei durch Notwehr gerechtfertigt. Oder kürzer: Auf Notwehr kann sich nicht berufen, wer die Notwehrsituation arglistig zum Zwecke der Verletzung des Opfers herbeigeführt hat. Diese Regel ist wörtlich zu verstehen. Sie bezieht sich nicht auf die Voraussetzungen oder den Umfang der Notwehrbefugnis, sondern auf die Berechtigung, sich in einem Verantwortungsdialog auf bestimmte Umstände zu berufen. Sie formuliert eine Argumentationsregel, keine Aussage über begrifflich-dogmatische Zusammenhänge. Die Ebene, auf der sie anzusiedeln ist, steht zur Ebene der Ist-Aussagen der Dogmatik im Verhältnis der Metastufe zur Grundstufe. Derartige Regeln lassen sich als dogmatische Regeln zweiter Stufe bezeichnen; sie modifizieren die dogmatischen Regeln erster Stufe nicht, sondern überlagern sie. Soweit sie in den hier diskutierten Fallgruppen relevant sind, können sie als Ausnahmeregeln zu den dogmatischen Regeln erster Stufe verstanden werden, wenn man das Regel-Ausnahme-Verhältnis auf das Ergebnis des Verantwortungsdialogs und nicht auf das Vorliegen eines Rechtsinstituts bezieht: Wer die Notwehrsituation arglistig herbeigeführt hat, kann ausnahmsweise bestraft werden, obgleich Handeln in Notwehr im Regelfall die strafrechtliche Verantwortung ausschließt. Die formulierte Regel läßt sich entsprechend auf die Fälle arglistiger Herbeiführung der eigenen Schuldunfähigkeit übertragen: Auf seine Schuldunfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat kann sich nicht berufen, wer die Schuldunfähigkeit arglistig herbeigeführt hat, um straflos eine rechtswidrige Tat verüben zu können. Die Regel hat den gleichen wissenschaftstheoretischen Status wie die oben zur Notwehrprovokation formulierte Regel; daher erübrigen sich insofern nähere Ausführungen. Wenn hier behauptet wird, daß es neben den strafrechtsdogmatischen Regeln erster Stufe eine Klasse von Argumentationsregeln gibt, die zur ersteren insofern in einem Metaverhältnis stehen, als sie über die Zulässigkeit der Berufung auf die dogmatischen Regeln erster Stufe entscheiden, so ist diese Existenzbehauptung zunächst in dem Sinne zu verstehen, daß nur über die Annahme derartiger Regeln die fast unstreitigen Ergebnisse bei der Behandlung der Fälle absichtlich herbeigeführter Rechtfertigungs- oder Entschuldigungssituationen begrün-

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det werden können. Darüber hinaus sprechen bestimmte Indizien dafür, daß die Einsicht in die Notwendigkeit, die fraglichen Fälle durch die Einführung spezifischer Argumentationsregeln zu lösen, im strafrechtlichen Schrifttum zumindest unterschwellig vorhanden ist.

bb) Die latente Anerkennung von Metaregeln in der bisherigen Diskussion Zunächst fällt auf, daß in diesen Fällen häufig davon die Rede ist, der Täter könne sich auf den Rechtfertigungs- bzw. Entschuldigungsgrund nicht berufen. So bei Wessels: Wer einen anderen provoziert, um ihn unter dem Schutz des § 32 StGB zu verletzen, "handelt rechtsmißbräuchlich und kann sich auf Notwehr nicht berufen ... "133; bei Roxin: Der Absichtsprovokateur "kann sich nicht auf Notwehr berufen", denn: "wer sich absichtlich durch ein rechtlich mißbilligtes Verhalten in eine Gefahrenlage manövriert, braucht keinen Schutz" 134; bei Qtto: (für eine andere Fallgruppe): "Wer einem anderen bewußt und rechtlich verantwortlich eine Notwehrsituation vorspiegelt, kann sich nicht darauf berufen, daß er in Wirklichkeit den Angriff nur vorgetäuscht habe"135. Nach einem Vorschlag von Eb. Schmidt sollte die Notwehrregelung durch die Bestimmung ergänzt werden: "Auf Notwehr kann sich nicht berufen, wer den Angriff selbst hervorgerufen hat zu dem Zweck, durch seine Abwehr den Angreifer zu verletzen"136. Deutlich kommt die Stufung in Lenckners Charakterisierung der h. M. zur Notwehrprovokation zum Ausdruck; sie gehe davon aus, "daß trotz der Provokation eine Notwehrsituation an sich zwar gegeben sei, der Provokateur sich aber gleichwohl auf Notwehr nicht berufen dürfe, weil der Verteidigungswille unter diesen Umständen nur vorgetäuscht werde bzw. die Verteidigung als Ganzes einen Rechtsrnißbrauch darstelle" 137. In diesen Formulierungen klingt der Gedanke, daß dem Täter nicht die Notwehrsituation, sondern das Recht abgesprochen wird, sich durch Berufung auf die Notwehrsituation zu rechtfertigen, jedenfalls an. Daß eine wirkliche Trennung der Ebenen nicht erfolgt, zeigt andererseits der Rückgriff auf dogmatische Gesichtspunkte zur Begründung des Sich-nicht-berufen-könnens: den fehlenden Verteidigungswillen, den Gedanken des Rechtsrnißbrauchs und die mangelnde Schutzbedürftigkeit des Provokateurs. Man wird die Formulierung "auf Not-

Wessels, AT, S. 84. Roxin, ZStW 93 (1981), S. 85. 135 Dito, Grundkurs Strafrecht, Allgemeine Strafrechtslehre, 1. Auf!. 1976, S. 129 (in die 2. Auf!. nicht übernommen). 186 Niederschriften, Bd.2, Anhang Nr.21, S.57 (Hinweis bei Hillenkamp, Vorsatztat, S. 171). 137 Lenckner, GA 1961, S. 300. 133

134

12·

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wehr kann sich nicht berufen" daher nicht überinterpretieren dürfen; sie dient jedenfalls auch der zusammenfassenden Charakterisierung eines Ergebnisses, dessen Begründung im einzelnen noch unklar ist. Immerhin deutet sie den Gedanken einer Trennung von Argumentationsregeln und dogmatischen Regeln zumindest an. Bedeutsamer erscheint mir, daß die Argumentation mit dem Rechtsmißbrauchsprinzip, wie sie etwa von Lenckner, Roxin, Welzel und Wessels vertreten wird, bei konsequenter Durchführung der hier vertretenen Auffassung zumindest sehr nahe kommt. Die Rechtsmißbrauchslösung ist in der Form, in der sie vertreten wird, nicht befriedigend, weil innerhalb der dogmatischen Argumentation die Idee eines existenten, aber wegen Mißbrauchs nicht rechtfertigenden Rechtfertigungsgrundes problematisch ist und weil darüber hinaus von einem Mißbrauch nicht geredet werden kann, wenn der ernsthaft bedrohte und über keine Ausweichmöglichkeit verfügende Provokateur sich zur Wehr setzt. Beide Einwände resultieren aber lediglich aus einer unpräzisen Bestimmung des Referenzobjekts des Rechtsmißbrauchs. Als dieses Objekt wird übereinstimmend ein von § 32 StGB gewährtes Recht zur Verletzung oder Tötung des Angreifers angenommen. Aber das ist ungenau; denn mißbräuchlich ist nicht die Tötung oder Verletzung des Angreifers, die einen "Realakt" und keinen "Rechts akt" darstellt, sondern die Berufung auf einen arglistig herbeigeführten Rechtfertigungsgrund. Das Ziel, das der Provokateur unter Berufung auf ein "Recht" erreichen will, ist nicht die Verletzung des Angreifers - die dadurch schwerlich herbeigeführt werden kann -, sondern die Herbeiführung seiner eigenen Straflosigkeit. Der Unterschied wird deutlich, wenn man zum Vergleich einen klassischen Fall zivilrechtlichen Rechtsmißbrauchs heranzieht138 : Der Schloß eigentümer, der unter Berufung auf sein Eigentum seinem Sohn den Zutritt zu dem im Garten des Schlosses gelegenen Grab der Mutter verweigert, will sein Ziel - Fernhalten des Sohnes von dem Grab - gerade durch Ausübung des fraglichen Rechts erreichen. Die Wirksamkeit des Verbots ist der Ausfluß einer Rechtsmacht, des Eigentums; dementsprechend hat die Feststellung der Mißbräuchlichkeit der Rechtsausübung die Unwirksamkeit des Verbots zur Folge. Demgegenüber ist die Verletzung des Angreifers nicht Ausfluß eines Notwehrrechts, und sie wird nicht durch die Feststellung von dessen mißbräuchlicher Ausübung "unwirksam". Das Ziel, das der Provokateur mit Hilfe einer "Rechtsstellung" erreichen will, ist nicht die Verletzung des Angreifers, die er auch ohne Provokation herbeiführen könnte, sondern seine eigene Straflosigkeit. "Rechtsmißbräuchlich" ist nicht die Verteidigung gegen 138 RGZ 77, 251; dazu LaTenz, Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, 4. Auf!., 1977, S. 196.

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den rechtswidrigen Angriff (schon gar nicht, wenn keine Ausweichmöglichkeit besteht), sondern die Berufung auf eine arglistig herbeigeführte Notwehrsituation. Der Gedanke des Rechtsmißbrauchs führt also in den Provokationsfällen zum richtigen Ergebnis, wenn das Bezugsobjekt des Mißbrauchs präzise bestimmt wird. Liegt der Mißbrauch nicht in der Verteidigung, sondern in der Berufung auf eine arglistig herbeigeführte Rechtfertigungssituation, dann handelt der Provokateur bei Vornahme der Verteidigungshandlung in dem Sinne rechtmäßig, daß Notwehr gegen seine Verteidigung nicht zulässig ist. Die hier vorgeschlagene Lösung vermeidet damit die der Rechtsmißbrauchslösung in ihrer geläufigen Form eigentümliche Paradoxie, daß sowohl der Angriff des Provozierten als auch die Verteidigung gegen diesen Angriff rechtswidrig ist. Nur diese Deutung entspricht auch dem Rechtsgefühl, das einerseits auch dem Provokateur nicht zumutet, den Angriff widerstandslos zu erdulden, es andererseits aber nicht akzeptiert, daß straflos ausgehen soll, wer arglistig eine Notwehrlage herbeigeführt hat. Sowohl die Rechtsmißbrauchslösung als auch die Theorie der actio illicita in causa versuchen, diesem Wertungsunterschied mit Hilfe von Differenzierungen innerhalb der dogmatischen Argumentation Rechnung zu tragen. So wendet Roxin gegen die Kritik an der Rechtsmißbrauchslösung ein, der Täter werde wegen der "raffiniert manipulierten Schädigung" bestraft und nicht deshalb, "weil ihm eine ,Pflicht zur Duldung eines rechtswidrigen Angriffs' ... auferlegt worden wäre"139. Nach Lenckner ist es "kein Widerspruch, wenn das Recht - gezwungenermaßen - den Interessenkonflikt i. S. des Provokateurs löst, dies aber zugleich zum Anlaß repressiver Maßnahmen (Strafe) gegen ihn macht, weil er diesen Konflikt heraufbeschworen hat"140. Diese Versuche, dem Provokateur das Verteidigungsrecht zu erhalten und ihn gleichwohl strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, überfordern aber die begrifflichen Möglichkeiten der sich auf dogmatische Regeln erster Stufe beschränkenden Strafrechtsdogmatik. Die Rechtsmißbrauchslösung kommt nicht darum herum, daß die Qualifizierung der Verteidigungshandlung als rechtsmißbräuchlich ein Verbot der Vornahme dieser Handlung und damit im Falle fehlender Ausweichmöglichkeit eine Verpflichtung bedeutet, sich verletzen zu lassen. Die Formulierung, der Provokateur werde nicht deshalb bestraft, weil ihm eine solche Pflicht auferlegt worden wäre, vermag darüber nicht hinwegzuhelfen. Die Konstruktion der actio illicita in causa vermag zwar zu begründen, daß der Provokateur trotz Rechtmäßigkeit der Vertei139 140

Roxin, ZStW 93 (1981), S. 87. SChönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rdnr.57.

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

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digungshandlung zu bestrafen ist; sie kann aber nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden, weil die actio praecedens (die Provokation) in der Rolle der tatbestandsmäßigen Handlung hoffnungslos überfordert ist. Die Rechtsmißbrauchstheorie andererseits erkennt, daß die actio praecedens nur als Zurechnungsgrund, nicht als Zurechnungsobjekt in Betracht kommt; sie vermag die Behauptung der Rechtsmißbräuchlichkeit der Verteidigungshandlung aber nicht zu begründen. Die hier vorgeschlagene Lösung kombiniert die Vorteile der actioillicita-Konstruktion mit denen der Rechtsmißbrauchstheorie: Wie die Theorie der actio illicita führt sie zu der allein akzeptablen Konsequenz, daß der Täter jedenfalls dann, wenn er dem Angriff nicht ausweichen kann, rechtmäßig handelt, so daß gegen seine Verteidigung Notwehr nicht zulässig ist. Andererseits vermeidet sie die lebensfremde und dogmatisch nicht durchzuhaltende Deutung der Provokation als tatbestandsmäßige Handlung. Erreicht wird diese Lösung durch die Trennung von dogmatischen Regeln (erster Stufe) einerseits, Argumentationsregeln (dogmatischen Regeln zweiter Stufe) andererseits. Die Anwendung der dogmatischen Regeln erster Stufe führt zu dem Ergebnis, daß der Provokateur in der Verteidigungssituation rechtmäßig handelt. Die für die Verteidigung gegen den Vorwurf rechtswidriger Verletzung eines anderen geltenden Angumentationsregeln verwehren es ihm aber, sich, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen, auf die arglistig herbeigeführte Notwehrsituation zu berufen. Daß er in Notwehr gehandelt hat, wird nicht bezweifelt; er wird mit diesem Argument aber nicht gehört.

ce) Die Notwendigkit der Anerkennung von Argumentationsregeln Die praktische Angemessenheit dieser Lösung ist nicht das Ergebnis einer ziel gerichteten dogmatischen Konstruktion; sie resultiert vielmehr aus der Offenlegung der tatsächlich angewendeten Zurechnungsregeln. Die vorgeschlagene Trennung von dogmatischen Regeln erster Stufe und Argumentationsregeln realisiert nur eine Stufung, die der Dogmatik der Notwehrprovokation (wie der anderer Fallgruppen des "Vorverschuldens") tatsächlich zugrundeliegt. Die Existenz eines Satzes von Argumentationsregeln neben den "eigentlichen" dogmatischen Regeln, den dogmatischen Regeln erster Stufe, bedarf freilich der Erklärung. An diesem Punkt der Arbeit 141 müssen dafür zwei nur skizzenhaft zu begründende Thesen genügen: 1. Die Regeln der sozialen Zuschreibung von Verantwortung unter-

sagen es, sich gegenüber dem Vorwurf der Tötung oder der Verlet141

Ausführlicher unten S. 269 ff.

11. Tatbestands- oder Ausnahmemodell: Die Notwehrprovokation

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zung eines anderen durch die Berufung auf eine arglistig herbeigeführte Notwehrsituation zu rechtfertigen oder zu entschuldigen; 2. die soziale Funktion des Strafrechts bedingt eine grundsätzliche Orientierung der strafrechtlichen Zurechnungsregeln an den sozialen Regeln der Zuschreibung von Verantwortung. Zur Begründung der ersten These kann nicht auf empirische Untersuchungen zur Struktur sozialer Zurechnungsregeln verwiesen werden, weil es solche Untersuchungen bisher nicht gibt. Die These kann deshalb nicht bewiesen, sondern allenfalls einsichtig gemacht werden. Angenommen, in unserem Ausgangsfall würde der Täter versuchen, seine Tat gegenüber seinen Kollegen am Arbeitsplatz und in seinem Bekanntenkreis mit dem Argument zu rechtfertigen, er habe in Notwehr gehandelt. über die Reaktion des Auditoriums, dem diese Rechtfertigung vorgetragen würde, kann es m. E. keinen Zweifel geben. Sie wäre einhellige Empörung und ließe sich etwa formulieren: Du hast die Notwehrsituation doch nur deshalb provoziert, um den 0 straflos töten zu können. Es ist deshalb eine Frechheit, wenn du versuchst, dich unter Berufung auf eine Notwehrsituation zu rechtfertigen. Ich behaupte, daß dem Täter gegen dieses Argument, das von jedem beliebigen und insofern von dem "universellen" Auditorium zu erwarten ist, keine Verteidigung zur Verfügung steht. Er könnte zwar sagen: "Der 0 hätte sich ja nicht provozieren lassen müssen"; aber dieses Argument vermag allenfalls die Vorwerfbarkeit des Angriffs des 0 und dessen Mitverschulden an seinem Tod zu begründen, nicht aber den T von seiner Verantwortung zu entlasten. Die Berufung auf die arglistig herbeigeführte Notwehrsituation ist dem Täter verwehrt. Das gleiche gilt für die Fälle der arglistigen Herbeiführung der eigenen Schuldunfähigkeit. Auf Trunkenheit kann sich nicht berufen, wer sich in der Absicht berauscht hat, unter dem Schutz des § 20 StGB eine Straftat zu begehen. Auch hier wird dem Täter der Einwand der arglistigen Herbeiführung des Schuldausschließungsgrundes entgegengehalten. Weniger eindeutig sind die sozialen Zuschreibungsregeln in den Fällen nicht arglistig, aber freiwillig herbeigeführter Trunkenheit. Aber auch hier wird dem Täter tendenziell die Berufung auf die selbstverschuldete Trunkenheit versagt. "Wenn der Berauschte sich darauf beruft, daß er nichts dafür könne, daß er in Volltrunkenheit die Rauschtat begangen habe, hält man ihm entgegen: Warum hast Du Dich betrunken?" 142. Zumindest liegt diese Regel der Verantwortungszuschrei142

v. Weber, GA 1958, S. 262; krit. Cramer, 1962, S. 22.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

bung dem § 323 a StGB zugrunde, der, wie gezeigt, anders nicht widerspruchsfrei gedeutet werden kann. Diese Interpretation des § 323 a StGB findet sich schon bei Hardwig: "Der wahre Grundgedanke des § 330 a dürfte sein, daß die selbst herbeigeführte ,Schuldunfähigkeit' nicht von der Verantwortung für die Rauschtat befreien könne"l43. Die zweite These setzt ein bestimmtes Verständnis der sozialen Funktion des Strafrechts voraus, die hier nur erläutert, nicht aber begründet werden kann. Ich gehe davon aus, daß die "klassischen" Straftheorien, die unter dem Begriffspaar "abolute" und "relative" Theorien zusammengefaßt werden, eine Funktionsbestimmung der Strafe nicht zu leisten vermögen. Ihre Bedeutung für das Selbstverständnis der strafenden Gesellschaft und in Grenzen auch als Leitlinien der Kriminalpolitik ist unbestreitbar; aber als normative Theorien, die - wenn auch versteckt unter Ist-Aussagen über das Wesen staatlicher Strafe - auf die Frage antworten, was Strafe bewirken soll, vermögen sie die tatsächliche soziale Funktion der Strafe nicht zu bestimmen. Diese Funktion umfaßt jedenfalls auch die gesellschaftliche Verarbeitung sozialer Konflikte144, genauer: die Monopolisierung bestimmter Formen der gesellschaftlichen Verarbeitung sozialer Konflikte. An die Stelle spontaner, unkontrollierter Reaktion auf Konflikte, die ihrerseits wiederum neue Konflikte provozieren kann, tritt die formalisierte und distanzierte, den Konflikt jedenfalls dem Anspruch nach abschließend lösende Reaktion des Strafrechts. Die mit dieser Monopolisierung beanspruchte Suspendierung gewaltsamer privater Konfliktbewältigung setzt aber voraus, daß sich die Regeln der strafrechtlichen Konfliktbewältigung an den korrespondierenden gesellschaftlichen Wertungen orientieren. Hassemer hat diese "Bindung an den Kontext der normativen gesellschaftlichen Verständigung"145 hinsichtlich der Entscheidung über den Bereich der zu kriminalisierenden Verhaltensweisen, d. h. hinsichtlich der Festlegung von Straf tatbeständen, aufgezeigt; sie gilt in gleicher Weise für die Festlegung von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen. Denn für die Frage der gesellschaftlichen Akzeptanz einer strafrechtlichen Entscheidung als Konfliktlösung ist es gleichgültig, ob die Freistellung von Strafsanktion aus der fehlenden Kriminalisierung eines als strafwürdig betrachteten Verhaltens oder aus der Anwendung eines gesellschaftlich nicht akzeptierten Rechtfertigungsoder Entschuldigungsgrundes resultiert. 143 Hardwig, GA 1964, S. 144. Genauer müßte man formulieren: "... nicht vollständig von der Verantwortung für die Rauschtat befreien könne". 144 Vgl. Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, S. 194 ff. 145 Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, S. 25 ff., 151 ff.,

221 ff.

11. Tatbestands- oder Ausnahmemodell: Die Notwehrprovokation

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Damit ist nicht behauptet, daß das Strafrecht die sozialen Regeln der Zuschreibung von Verantwortung in toto übernehmen müßte; von der Strafrechtsdogmatik ist im Gegenteil zu erwarten, daß sie diese Regeln einer strengen, an den Forderungen des als Prinzip gerechter, "fairer" Zurechnung verstandenen Schuldprinzips orientierten Musterung unterzieht. Aber umgekehrt kann das Strafrecht diese Regeln nicht einfach vernachlässigen, ohne seine soziale Funktion zu gefährden.

111. Tatbestandsmodell oder Pflichtmodell ? Die Zurechnungsstruktur in den Fällen des »TIbernahmeverschuldens" Das Problem, zu dessen Bewältigung die Rechtsfigur des übernahmeverschuldens dienen soll, liegt im Bereich der Schuld, nicht in dem des Unrechts. Es geht darum, die Entstehung von "Strafbarkeitslücken" zu verhindern, die bei Zugrundelegung eines subjektiven, auf die individuellen Fähigkeiten des konkreten Täters abstellenden Fahrlässigkeitsmaßstab in bestimmten Fällen resultieren könnten1 , d. h. darum, in diesen Fällen die Orientierung an einem ausschließlich objektiven Fahrlässigkeitsmaßstab zu ermöglichen2 • Würde die Problemlösung am Ort des Problems ansetzen, wäre die Rechtsfigur des Obernahmeverschuldens im Schuldbereich zu lokalisieren. Sie wäre dann als Zusatzregel im Bereich der Schulddogmatik zu verstehen, die es erlaubte, dem Täter bestimmte tatbestandsmäßige und rechtswidrige Handlungen als schuldhaft zuzurechnen, obgleich nach den allgemeinen Prinzipien der Strafrechtsdogmatik ein Schuldvorwurf entfallen müßte. Es würde sich also um eine Ausnahmeregel der strafrechtlichen Schulddogmatik handeln. Tatsächlich aber läßt sich der dogmatische Ort des übernahmeverschuldens nicht einheitlich bestimmen.

1 Vgl. etwa Deutsch, Fahrlässigkeit und erforderliche Sorgfalt, S. 26; Schick, Die "einleitende Fahrlässigkeit", S.283 bei Fn.80; Schünemann, JA 1975, S.207. 2 Einen historischen Beleg für die letztere Funktion liefert die Diskussion um die Frage, ob im Zuge der Reform des RStGB ein objektiver oder subjektiver Fahrlässigkeitsmaßstab festgeschrieben werden solle. Während Kohlrausch (in: Aschrott/v. Liszt, Die Reform des Reichsstrafgesetzbuchs, Bd. 1, 1910, S.179 ff., S.212) die Notwendigkeit eines objektiven Maßstabs mit dem Argument begründete, der konstitutionell ungeschickte Chirurg könne bei Anlegung eines subjektiven Maßstabs nicht bestraft werden, weil die Ausübung der Tätigkeit als solche nicht als Tötung zugerechnet werden könne, verwiesen Köhler (Probleme der Fahrlässigkeit im Strafrecht, 1912, S. 126 f.) und Engisch (Vorsatz und Fahrlässigkeit, S. 435) mit im einzelnen unterschiedlicher Begründung zur Verteidigung des subjektiven Fahrlässigkeitsmaßstabs gerade auf die Möglichkeit, die Fahrlässigkeitsstrafe an die übernahme der betreffenden Tätigkeit zu knüpfen. Ähnlich Tarnawski, Kausalitätstheorie, 1927, S.136. Daß mit dem Rechtsinstitut des übernahmeverschuldens doch wieder ein objektiver Maßstab in die Beurteilung eindringt, hebt auch Walter hervor (GA 1977, S. 265 f.).

111. Tatbestands- oder Pflichtmodell? Das "übernahmeverschulden"

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1. Die Lösung auf der Ebene der Schuld Als Ausnahmeregel im Bereich der Schulddogmatik wird das Prinzip des übernahmeverschuldens verstanden, wenn man seine dogmatische Funktion in der "Vorverlegung" des Anknüpfungspunktes für den Schuldvorwurf erblickt. Das von der Ausnahmeregel partiell suspendierte allgemeine PrinzIp der Strafrechtsdogmatik ist dann der Grundsatz der zeitlichen Koinzidenz von Schuld und Tat. In diesem Sinne wird das übernahmeverschulden bei Rudolphi interpretiert: Wie in den Fällen des vermeidbaren Verbotsirrtums und des verschuldeten Affekts werde auch in den Fällen des übernahmeverschuldens "zur Begründung eines Schuldvorwurfs auf Verhaltensweisen des Täters vor seiner Unrechtstat" zurückgegriffen3 • Besonders klar formuliert findet sich diese Deutung des übernahmeverschuldens bei Schick: Es handele sich um "eine Ausnahme von dem Grundsatz ... , daß das subjektive Können immer im Zeitpunkt des Ausführungsbeginns der Handlung und während ihrer Fortdauer in Gestalt weiterer Tätigkeit vorliegen müsse"4. Diese Feststellung muß die Frage provozieren, wodurch sich eine derartige Durchbrechung des Koinzidenzprinzips rechtfertigt, insbesondere, ob die Kompatibilität mit dem Schuldprinzip noch gewährleistet ist. Nach Rudolphi ist eine Auflockerung des "Dogmas" der Koinzidenz von Schuld und Tat dann unbedenklich, wenn sich der Schuldvorwurf wenigstens noch mittelbar auf das vom Täter verwirklichte Unrecht bezieht5 • Die Verwendung dieses Kriteriums, das nicht auf den zeitlichen, sondern auf den inhaltlichen Zusammenhang von Schuld und Tat abstellt, macht deutlich, daß sich die Funktion des übernahmeverschuldens nicht in der Auflockerung des Prinzips der zeitlichen Koinzidenz von Tat und Schuld erschöpft. Der entscheidende Punkt liegt bei den inhaltlichen Voraussetzungen des Schuldvorwurfs. Während nach den allgemeinen Prinzipien der Fahrlässigkeitsdogmatik die Schuld des Täters voraussetzt, daß er die Möglichkeit des Eintritts des tatbestandsmäßigen Erfolgs voraussehen konnte, begnügt man sich in den Fällen des übernahmeverschuldens mit der subjektiven Voraussehbarkeit der eigenen Unfähigkeit 6 • So gründet sich nach Rudolphi der Schuldvorwurf, der den ohne hinreichende Aus- oder Fortbildung praktizierenden Arzt trifft, "allein darauf, daß er es hätte vorhersehen können und Rudolphi, Affekt und Schuld, S. 207. , Schick, Die "einleitende Fahrlässigkeit", S. 283 bei Fn. 78. 5 Rudolphi, Affekt und Schuld, S.207. e Daß die Erkennbarkeit des Erfolgseintritts nicht damit begründet werden darf, "daß zu einem früheren Zeitpunkt der Erwerb von Fähigkeiten möglich war, die den Erfolgseintritt erkennbar gemacht hätten", betont zu Recht Jakobs, Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, S. 151. 3

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

sollen, daß er infolge seiner mangelnden Fachkenntnisse irgendwann einmal seine berufliche Tätigkeit nicht mehr sachgerecht werde ausüben können" 7. An die Stelle der subjektiven Voraussehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung tritt also die Voraussehbarkeit des eigenen Fähigkeitsmangels. Damit ist jedenfalls das Erfordernis einer "unmittelbaren" Schuldbeziehung zur Straftat preisgegeben. Zwar dürfte es in zahlreichen Fällen möglich sein, von der Kenntnis der eigenen Unfähigkeit auf die Erkennbarkeit der Tatbestandsverwirklichung zu schließen8 ; aber es ist nicht ersichtlich, daß die Rechtsfigur des übernahmeverschuldens auf diese Fälle beschränkt würde. Verlangt wird lediglich, " ... daß es dem Täter erkennbar gewesen sein muß, daß er den Anforderungen der von ihm übernommenen Tätigkeit nicht gewachsen sein werde"9. Auf die Voraussehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung wird daher verzichtet, soweit der Täter nur die eigenen mangelnden Kenntnisse voraussehen konnte 1o • Dieser Verzicht, der den Kern der Fahrlässigkeitsschuld betrifft, bedarf der Rechtfertigung. Die ausführlichste Begründung hat bisher, soweit ersichtlich, RudoZphi vorgelegtl l • Zwar beziehen sich seine Ausführungen primär auf die Schuldzurechnung im Falle des vermeidbaren Verbotsirrtums; sie beanspruchen aber nach der von Rudolphi ausdrücklich gezogenen Parallele12 auch Geltung für die Fälle des übernahmeverschuldens. In den Fällen des zum Tatzeitpunkt unvermeidbaren, aber durch frühere Informationsbeschaffung zu verhindernden Irrtums über rechtliche Sondernormen 13 wird dem Täter nach RudoZphi vorgeworfen, daß er von seiner Freiheit, sich über die einschlägigen Ge- und Verbote zu informieren, bis zum Tatzeitpunkt keinen Gebrauch gemacht habe1'. Das Substrat des Vorwurfs, das vorzuwerfende Verhalten, ist also das Nichteinholen von Informationen. Vorwerfbar sei demzufolge auch die daraus resultierende Unkenntnis. Daraus folgt nach RudoZphi weiter, daß den Tätern "auch ihre Unrechtstaten selbst noch in einer spezifischen Weise vorgeworfen werden können. Denn ihre Unfähigkeit im 7

Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, S.257.

Vgl. Deutsch, Fahrlässigkeit und erforderliche Sorgfalt, S.I11; Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 203. 8 Jescheck, AT, S. 482 m. Nachw. 10 Die Rechtsprechung verzichtet teilweise selbst auf diese Voraussetzung; vgl. etwa RGSt 50, 37, 45; RGSt 59, 355, 356; RGSt 64, 263, 271; RGSt 67, 12, 20; BGHSt 10, 133, 134; kritisch dazu Jescheck, a.a.O. 11 Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, S.252. 12 Unrechtsbewußtsein, S.252, 269. 13 Anders hinsichtlich der allgemeinen Normen; vgl. Unrechtsbewußtsein, S. 272 ff. U Unrechtsbewußtsein, S. 255. 8

IH. Tatbestands- oder Pflichtmodell? Das "übernahmeverschulden"

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Zeitpunkt der Tat, ihren Handlungsentschluß normgemäß zu motivieren, ist eine Folge ihres in der Zeit vor ihrer Tat in vorwerfbarer Weise nicht behobenen Wissensmangels ... Vorgeworfen werden kann den Tätern mithin, daß sie ihre Freiheit zur Erkenntnis der später von ihnen übertretenen Rechtsnormen nicht genutzt haben und sich dadurch zugleich in vorwerfbarer Weise selbst der Möglichkeit beraubt haben, ihre berufliche oder sonstige Tätigkeit an den bestehenden besonderen Rechtsnormen auszurichten und damit auch ihre Unrechtstaten im Zeitpunkt der Tat durch eine normgemäße Motivation ihrer Handlungsentschlüsse zu vermeiden" 15. Für die Fälle des Übernahmeverschuldens führt diese Zurechnungsstruktur zu der Argumentation, der Täter habe sich durch die mangelhafte Aus- oder Fortbildung selbst der Fähigkeit beraubt, die berufliche Tätigkeit den objektiven Sorgfaltsnormen gemäß auszuüben und damit die Tatbestandsverwirklichung zu vermeiden. Für die Begründung eines mittelbaren Schuldvorwurfs hinsichtlich der Tatbestandsverwirklichung ist offenbar dieser letzte Gesichtspunkt entscheidend: Der Täter hat sich selbst die Möglichkeit genommen, die Verwirklichung des Tatbestands durch sorgfältiges Handeln zu vermeiden; insofern besteht eine Beziehung zwischen dem vorwerfbaren Handeln bzw. Unterlassen und dem tatbestandsmäßigen Erfolg. Aber die Frage ist, ob sich diese Beziehung als Schuldbeziehung bestimmen läßt. Rudolphi bejaht diese Frage mit der Begründung, dem Täter falle hier eine "Lebensführungsschuld" zur Last16 ; die an dem Gedanken der Lebensführungsschuld geübte Kritik trifft seines Erachtens in diesem Zusammenhang nicht17 • Nun läßt sich kaum bestreiten, daß strafrechtliche Schuld nur Tatschuld sein kann, schon deshalb, weil die strafprozessualen Mittel vor der Aufgabe, eine "Persönlichkeitsschuld" festzustellen, versagen müssen18 • Aber nach Rudolphi ist der auf eine "Lebensführungsschuld" gestützte Vorwurf nicht notwendig ein "TäterUnrechtsbewußtsein, S. 256. Unrechtsbewußtsein, S.263; kritisch dazu Stratenwerth, ZStW 85 (1973), S. 495 mit Replik Rudolphi, Affekt und Schuld, S. 208 ff. 17 Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, S. 266. 18 Diesen Gesichtspunkt hebt Arthur Kaufmann hervor (Schuldprinzip, S.215). Für Anerkennung einer Lebensführungsschuld Schmitz, Der Rechtsraum, S.455: "Nichts spricht dagegen, daß Tatsachen der Lebensführung eines Menschen für Möglichkeit und Strenge des strafrechtlichen Schuldvorwurfs, der ihm wegen eines bestimmten, eventuell an einen einzigen Augenblick gebundenen Unrechts gemacht werden kann, von Bedeutung sind." Nach Lange, Ist Schuld möglich?, S.272, muß jeder nicht seelisch Kranke für das, was er aus sich gemacht hat, einstehen. Wo es sich nicht um die Tat, sondern um den Täter handele, sei unserem Strafrecht "ein Stück Charakterschuld bis herauf zu einem auf Tatrelevanz begrenzten Stück Lebensführungsschuld eigen". 1$

16

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

schuldvorwurf" ; die Lebensführungsschuld könne vielmehr auch einen (mittelbaren) Tatschuldvorwurf begründen19 . Vorgeworfen wird dem Täter also nicht das Verhalten vor der Tat, sondern die Tat im Hinblick auf das fragliche Vorverhalten. Aber es bleibt die Frage, welcher Zusammenhang zwischen Vorverhalten und Tat es rechtfertigt, diese im Hinblick auf jenes vorzuwerfen. Sachlich handelt es sich um einen Kausalzusammenhang: Die Nichtfortbildung hatte die mangelnde Fähigkeit, diese die sorgfaltswidrige Handlung und letztere den tatbestandsmäßigen Erfolg zur Konsequenz. Die Schuldbeziehung wird auf den tatbestandsmäßigen Erfolg ausgedehnt, weil dieser als Folge der "verschuldeten" Minderqualifikation des Täters eingetreten ist. Das aber ist, auch wenn man berücksichtigt, daß zwischen mangelnder Fortbildung und Verletzung ein Gefährdungszusammenhang angenommen werden könnte, die Zurechnungsstruktur des versaTi in re illicita. Das verschuldete Defizit an fachlicher Kompetenz bedingt als solches kein über die versari-Haftung hinausreichendes Verschulden des tatbestandsmäßigen Erfolgs. Gleichwohl bleibt der von Rudolphi hervorgehobene Gesichtspunkt entscheidend, daß sich der Täter selbst in vorwerfbarer Weise der Möglichkeit beraubt hat, seine berufliche Tätigkeit an den einschlägigen Sorgfaltsstandards auszurichten. Dieser Gesichtspunkt vermag zwar eine subjektive Zurechnung des verursachten Erfolgs nicht zu begründen, aber er rechtfertigt es, dem Täter die Berufung auf die selbst schuldhaft herbeigeführte Unfähigkeit zu versagen. Darauf wird zurückzukommen sein. 2. Die Lösung auf der Ebene des Unrechts: Die Tatbestandsmäßigkeit der "Obernahmehandlung" In der neueren Diskussion zeichnet sich eine Verlagerung des Lösungsansatzes von der Ebene der Schuld auf die des Unrechts ab. Terminologisch kommt diese Entwicklung in der zunehmenden Ablösung des Ausdrucks "Übernahmeverschulden" durch die Begriffe "Übernahmeunrecht"20, "Übernahmefahrlässigkeit"21 und "fahrlässige Tätigkeitsübernahme"22 zum Ausdruck. Die dogmatische Konzeption, die damit gekennzeichnet wird, scheint auf den ersten Blick von bestechender Klarheit zu sein: Die Übernahme der die Kräfte des Täters überforRudolphi, Unrechtsbewußtsein, S. 266. Geilen, JZ 1964, S. 11. 21 Wessels, AT, S. 174. 22 LK/Schroeder, § 16 Rdnr.11; Maurach/Gössel, AT/2, S. 80 f.; von der "pflichtwidrigen Tätigkeitsübernahme" sprechen Schönke/ Schröder/ Lenckner, § 15 Rdnr. 137 a. IV

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III. Tatbestands- oder Pflichtmodell? Das "übernahmeverschulden"

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dernden Tätigkeit wird nicht als Grund der Zurechnung des den Erfolg unmittelbar herbeiführenden Aktes, sondern als selbständige tatbestandsmäßige Handlung, als Substrat der Zurechnung in Ansatz gebracht. Für die "klassische" Fahrlässigkeitsdogmatik, die als Voraussetzung der Tatbestandsmäßigkeit lediglich die Kausalität der fraglichen Handlung für den Erfolg kennt23 , versteht sich die Möglichkeit einer solchen Deutung von selbst. Daß der unter Verwendung einer völlig veralteten Narkosetechnik operierende Chirurg den Patienten nicht zu Tode operiert hätte, wenn er sich vorher zur Ruhe gesetzt hätte, läßt sich nicht gut bestreiten. Für die Vertreter dieses Fahrlässigkeitsbegriffs bleibt daher lediglich zu begründen, daß die Bestrafung an eine tatbestandsmäßige Handlung geknüpft werden darf, die der den fraglichen Erfolg unmittelbar herbeiführenden tatbestandsmäßigen Handlung zeitlich vorausliegt. Insoweit stellen sich aber keine Probleme, die sich von denen der actio libera in causa (in der herrschenden Interpretation) prinzipiell unterscheiden würden. Baumann ist daher zuzustimmen, wenn er auf der Basis der klassischen Fahrlässigkeitsdogmatik das übernahmeverschulden als eine "Erscheinung" der fahrlässigen actio libera in causa einordnet24 . Bei Zugrundelegung der herrschenden Fahrlässigkeitssystematik müßte darüber hinaus gezeigt werden, daß in der übernahme der fraglichen Tätigkeit ein Sorgfaltsverstoß hinsichtlich des später verletzten Rechtsguts gesehen werden kann, daß sie eine sorgfaltswidrige Gefährdung dieses Rechtsguts darstellt25 . Die Deutung der Tätigkeitsübernahme als pflichtwidrige Gefährdung der später rechtswidrig verletzten Rechtsgüter erscheint aber aus mehreren Gründen problematisch. Zunächst kommt eine solche Deutung allenfalls bei Berufen in Frage, "die durch ihre Gefahren gekennzeichnet sind"26, wie etwa bei der Tätigkeit des Arztes. Dagegen kann man in der Aufnahme der Tätigkeit als Zeitschriftenhändler nicht eine sittliche Gefährdung Jugendlicher und auch nicht die Gefahr einer solchen Gefährdung erblicken27 • Na23 Heute vertreten von Baumann, AT, S. 455; Schmidhäuser, AT, S. 204,431; Nachweise des älteren Schrifttums bei Schönke/Schröder/Cramer, § 15 Rdnr.112. 24 Baumann, AT, S.462; auf der Ebene der Schuld wäre konsequenterweise die Voraussehbarkeit des konkreten Erfolgs zu verlangen. Eine "Verwandtschaft" zwischen übernahmeverschulden und actio libera in causa sieht Jescheck, AT, S. 482. 25 Der Zusammenhang zwischen Sorgfaltspflichtverletzung und Rechtsgutsgefährdung wird gut herausgestellt bei Rutz, SchwZStr 89 (1973), S. 358 ff.: ". .. nur eine Handlung, die vom Standpunkt eines Betrachters ex ante geeignet ist, eine Rechtsgutsverletzung herbeizuführen, darf als Sorgfaltspflichtverletzung qualifiziert werden" (S.363 im Anschluß an Rehberg). Z6 Peters, JZ 1957, 638. 27 Vgl. Peters, JZ 1957, 638 zu BGHSt 10, 133.

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

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türlich wäre es möglich, hier mit einem theoretischen, von allen sozialen Erfahrungen und Bewertungen abgezogenen Gefahrbegriff zu operieren und darauf abzustellen, daß die Aufnahme dieser Tätigkeit die Wahrscheinlichkeit der Weitergabe jugendgefährdender Schriften an Jugendliche erhöhe. Ein solcher Gefahrbegriff wäre wegen seiner schier uferlosen Weite und seiner Indifferenz gegenüber dem sozialen Erleben von Gefahr als Instrument der Strafrechtsdogmatik indes untauglich. Die strafrechtlich relevante Feststellung der Gefährlichkeit oder der Ungefährlichkeit einer Handlung hinsichtlich eines möglichen Erfolgs ist immer auch ein Ergebnis gesellschaftlicher Verständigung. "Ein ontologischer Gefahrbegriff ist im Recht nicht brauchbar ... Gefahrurteile beruhen auf Erfahrungsregeln, deren Auswahl und Anwendung normativ determiniert ist."28 Gefahrurteile sind damit zumindest auch das Ergebnis prinzipiell auswechselbarer Deutungen. Das daraus resultierende Moment der Willkürlichkeit schlägt praktisch freilich nur begrenzt als Beliebigkeit der Deutungen zu Buche, weil das Strafrecht tendenziell an die gesellschaftliche Verständigung über die Gefährlichkeit von Handlungen gebunden bleibt29 • Legt man diesen Gesichtspunkt bei der Diskussion der übernahmefahrlässigkeit zugrunde, dann könnte als notwendiges Kriterium der Gefährlichkeit einer Berufsausübung deren Bindung an das Bestehen einer spezifischen Eignungsprüfung angesehen werden. Für die Tätigkeit als Zeitschriftenhändler wäre das Ergebnis negativ: Ein Nachweis der Fähigkeit, Schriften, die offensichtlich geeignet sind, Kinder oder Jugendliche sittlich schwer zu gefährden (vgl. § 6 Nr.3 GjS), als solche zu erkennen, wird nicht gefordert. Eine weitere Grenze der "Tatbestandslösung" zeigt sich bei der Fallgruppe der fahrlässigen Tätigkeitsdelikte. Man mag die Eröffnung einer internistischen Fachpraxis als Verursachung des Todes eines an den Folgen kontraindizierter therapeutischer Maßnahmen gestorbenen herzkranken Patienten verstehen (§ 222 StGB): Die übernahme eines Zeitschriftenkiosks läßt sich beim besten schlechten Willen nicht mehr als Vertreiben (§ 21 Abs.1 Nr.3 GjS) offensichtlich schwer jugendgefährdender Schriften interpretieren. Das Tatbestandsmodell versagt bei den Tätigkeitsdelikten, weil hier die Möglichkeit einer Vorverlagerung der tatbestandsmäßigen Handlung durch die Handlungsbeschreibung des Deliktstatbestands begrenzt wird. Daß diese Grenze nicht durch eine "Umdeutung" der Tätigkeitsdelikte in Erfolgsdelikte umgangen werden darf30 , sollte keiner Hervorhebung bedürfen. Die aus der Handlungs28

29 30

Volk, GA 1976, S. 169 (Hervorhebung von mir).

Vgl. dazu Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens. So richtig Boldt, Zur Struktur der Fahrlässigkeitstat, ZStW 68 (1956),

S.358.

111. Tatbestands- oder Pftichtmodell? Das "übernahmeverschulden"

193

beschreibung resultierende zeitliche Fixierung der tatbestandsmäßigen Handlung zwingt bei den Tätigkeitsdelikten dazu, in den Fällen des Übernahmeverschuldens auf die Koinzidenz von Tathandlung und vorwerfbarem Pflichtverstoß zu verzichten. Das bedeutet, daß die Zurechnung in den Fällen der "Übernahmefahrlässigkeit" hier nur mit Hilfe der Annahme einer (gegenüber der Pflicht zur Unterlassung der tatbestandsmäßigen Handlung) selbständigen "Sorgfaltspflicht" möglich ist. Auf diese Konstruktion einer abgeleiteten, aber selbständigen Sorgfaltspflicht wird im folgenden noch einzugehen sein31 • Gegen die "Tatbestandslösung" spricht ein weiterer, meines Erachtens entscheidender Gesichtspunkt. Die Annahme einer strafrechtlich relevanten Rechtsgutsgefährdung durch Tätigkeitsübernahme scheitert daran, daß die durch die Übernahme der Tätigkeit begründete "Gefahr" sich in der Möglichkeit der Verübung einer "freien", d. h. im Zustand uneingeschränkter Schuldfähigkeit begangenen Straftat durch den Übernehmenden selbst erschöpft. Der dogmatische Ort des Gefahrbegriffs in der Strafrechtsdogmatik ist aber die Beziehung zwischen Handlung und tatbestandsmäßigem Erfolg, nicht die zwischen verschiedenen Handlungen oder innerhalb einer Handlungssequenz des Täters. Gegen diese Lokalisierung könnte freilich der Einwand der petitio principii erhoben werden; und es soll auch nicht bestritten werden, daß ein Gefahrbegriff, dessen Argumente zwei freie Handlungen des Handelnden (und nicht eine Handlung und ein nicht in einer Handlung bestehender Erfolg) bilden, begrifflich möglich ist. Es ist aber zu betonen, daß man mit der Verwendung eines derartigen Gefahrbegriffs gewillkürte Handlungsabläufe einem kausalen Deutungsschema unterstellt und damit nicht nur das soziale, sondern auch das strafrechtliche Deutungsmuster verfehlt. Ein anderer Gedanke: Die Deutung der Tätigkeitsübernahme als tatbestandsmäßige Handlung erscheint unter dem Aspekt des Bestimmtheitsgebots (Art. 103 Abs. 2 GG) als bedenklich. Denn nach dieser Interpretation enthielte § 222 StGB den "Sub-Tatbestand": "Wer ohne hinreichende Fähigkeiten eine Tätigkeit übernimmt, die die Gefahr mit sich bringt, daß er in Ausübung dieser Tätigkeit sorgfaltswidrig den Tod eines Menschen verursacht, wird, wenn diese Gefahr sich realisiert, mit Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder mit Geldstrafe bestraft". Aber: Wann bringt eine Tätigkeit die genannte "Gefahr" mit sich, und, vor allem: Unter welchen Voraussetzungen verfügt der Handelnde über "hinreichende" Fähigkeiten? Zumindest die letztere Frage ist mit einer den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genügenden Bestimmtheit bei komplexen Tätig31

Vgl. unten S. 197 ff.

13 Neumann

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

keiten nicht zu beantworten. Das liegt nicht an der ExpIikationsbedürftigkeit der jeweiligen berufsspezifischen Sorgfaltspflichten, auf deren Erfüllung sich die "hinreichenden Fähigkeiten" beziehen. Zwar mag der Begriff der Sorgfaltspflichten oder auch der ärztlichen Sorgfaltspflichten einen hohen Grad an semantischer ("intentionaler") Vagheit aufweisen; aber der Grad der Bestimmtheit eines Fahrlässigkeitstatbestands ist nach der Präzision der einschlägigen Sorgfaltsregeln, nicht nach der semantischen Vagheit des Wortes "Sorgfaltspflicht" zu bestimmen. Diese Regeln aber können ein hohes Maß an Durchbildung aufweisen. So erlauben die Regeln der medizinischen lex artis im Regelfall für den jeweiligen Zeitpunkt eine hinreichend eindeutige Entscheidung über das Vorliegen einer Sorgfaltswidrigkeit. Das bedeutet gleichzeitig, daß dem Arzt bei seiner Tätigkeit hinreichend präzise Regeln für die Orientierung seines HandeIns zur Verfügung stehen. Er weiß, oder kann zumindest wissen, was er tun darf und was nicht. Die ärztlichen Sorgfaltspflichten sind bestimmbar, weil sie nicht auf die ärztliche Tätigkeit als solche, sondern auf typisierte diagnostische und therapeutische Maßnahmen bezogen sind. Mit anderen Worten: Der Begriff der ärztlichen Sorgfaltspflicht mag einen hohen Grad an semantischer Vagheit aufweisen, diese Vagheit überträgt sich aber nicht auf den Tatbestand der Fahrlässigkeitsdelikte, weil Tatbestandsmerkmale die einzelnen typisierten Sorgfaltspflichten sind, die von dem Begriff der ärztlichen Sorgfaltspflicht lediglich sprachlich zusammengefaßt werden. Solange diese situations spezifischen Pflichten, deren Verletzung dem angeklagten Arzt nachgewiesen werden muß, hinreichend präzise sind, ist die semantische Vagheit der Sammelbezeichnung "ärztliche Sorgfaltspflicht" unter dem Aspekt des Art. 103 Abs. 2 GG irrelevant. Aus diesem Grund wäre der dem Tatbestandsmodell des übernahmeverschuldens zugrundeliegende Sub-Tatbestand nicht wegen des Bezugs der "hinreichenden Fähigkeiten" auf die Erfüllung der ärztlichen Sorgfaltspflichten bedenklich. Problematisch ist vielmehr das Merkmal der "hinreichenden Fähigkeiten" selbst. Das liegt zum einen daran, daß das Vorhandensein von Dispositionen der unmittelbaren Beobachtung entzogen ist 32 • Ob jemand eine bestimmte Fähigkeit hat, läßt sich nur mittelbar, durch Beobachten bestimmter Handlungen oder Verhaltensweisen, bestimmen. Das Problem verschärft sich noch, wenn es um den Nachweis nicht des Vorhandenseins, sondern des Fehlens bestimmter Fähigkeiten geht. Denn der Schluß von der Erfüllung einer bestimmten Aufgabe auf das Vorhandensein der dazu erforderlichen Fähigkeit ist weniger problematisch als der umgekehrte Schluß von der Nicht32 Zur rechtstheoretischen und dogmatischen Problematik von Dispositionsbegriffen Volk, Strafrechtsdogmatik, Theorie und Wirklichkeit; Neumann, Rechtsontologie und juristische Argumentation, S. 53 ff.

III. Tatbestands- oder Pfiichtmodell? Das "übernahmeverschulden"

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erfüllung auf den Mangel dieser Fähigkeit. Auf der Unzulässigkeit dieses Schlusses beruht die Möglichkeit der Bestrafung fahrlässigen Verhaltens (außerhalb der Fallgruppe des "übernahmeverschuldens"): Es wird unterstellt, daß der Täter sich falsch verhalten hat, obwohl er sich nach seinen persönlichen Fähigkeiten richtig hätte verhalten können. Im Regelfall objektiv sorgfaltswidrigen Verhaltens wird dessen Fehlerhaftigkeit dem situativen Handeln des Täters, nicht dessen dispositioneller Unfähigkeit zugerechnet; es wird ein "episodisches", nicht aber ein "dispositionelles" Urteil gefällt33 • Daß der Nachweis der erforderlichen Fähigkeiten trotz erheblicher methodischer Probleme in praxi wenig Schwierigkeiten bereitet, resultiert daraus, daß diese Fähigkeiten unterstellt werden, solange nicht bestimmte Indizien die Fragwürdigkeit dieser Unterstellung signalisieren. Ein positiver Nachweis des Vorhandenseins der erforderlichen Fähigkeiten wird im Regelfall nicht geführt. Macht man dem Täter indes nicht die Fehlerhaftigkeit des konkreten Verhaltens, sondern den Mangel an Fähigkeiten (bzw. die übernahme einer Tätigkeit trotz mangelnder Fähigkeiten) zum Vorwurf, dann ist der positive Nachweis der mangelnden Fähigkeit in jedem einzelnen Fall unverzichtbar. Dem Täter muß nachgewiesen werden, daß er nicht nur fehlerhaft gehandelt hat, sondern daß er darüber hinaus fehlerhaft handeln mußte. Solange das Fehlen bestimmter Fähigkeiten nur der Entschuldigung des Täters dient, kann es im Zweifelsfalle zu seinen Gunsten unterstellt werden; dient es seiner Belastung, ist der positive Nachweis nicht zu ersetzen. Ein solcher Nachweis aber ist mit den zur Verfügung stehenden prozessualen Mitteln kaum zu erbringen. Die Erhebung der "übernahme einer Tätigkeit ohne die erforderlichen Fähigkeiten" zum Tatbestand bzw. zu einem Sub-Tatbestand der Fahrlässigkeitsdelikte ist also schon deshalb problematisch, weil sich Fähigkeiten, und vor allem Unfähigkeiten, außerhalb von standardisierten Prüfungsverfahren nicht feststellen lassen. Der Begriff der "erforderlichen medizinischen Fähigkeiten" ist, abgelöst von der Operationalisierung in den medizinischen Prüfungen, extension al weitgehend unbestimmt. Schon aus diesem Grund würde der von der "T.atbestandslösung" vorausgesetzte Sub-Tatbestand den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen nicht genügen. Hinzu kommt, daß völlig unklar bleibt, welche konkreten Sorgfaltspflichten der Arzt erfüllen können muß, um seinen Beruf ausüben zu dürfen. Würde man verlangen, daß er in der Lage sein muß, jeden Kunstfehler zu vermeiden, käme das Gesundheitswesen wohl zum Erliegen. Derartige Anfor33 Zu diesen Begriffen vgl. Burkhardt, Charaktermängel und Charakterschuld, S. 104 ff.; Bierbrauer/Haffke, Schuld und Schuldunfähigkeit, S. 138 ff.

13·

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

derungen wären auch kaum vereinbar mit einem Prüfungssystem, das es dem Kandidaten ermöglicht, das Examen auch bei einer bestimmten Fehlerquote zu bestehen. Welche Fähigkeiten aber als Voraussetzungen erlaubter Berufsausübung verzichtbar, welche unverzichtbar sein sollen, ist nicht auszumachen. Die Schwierigkeiten potenzieren sich noch, wenn man berücksichtigt, daß der Begriff der ärztlichen Fähigkeit ein graduierbarer Begriff ist, der sich nicht in das Ja/Nein-Schema der juristischen Fragestellung pressen läßt. Unter strafrechtlichem Aspekt interessiert nur die Frage, ob der Betroffene nach seinen persönlichen Fähigkeiten in der Lage war, im konkreten Fall den Standards ärztlicher Sorgfalt zu genügen. Die ärztlichen Fähigkeiten als Gegenstand der Beurteilung von seiten des Betroffenen34 sind aber etwas anderes als die Summe der Fähigkeiten bzw. Unfähigkeiten, in jedem Einzelfall diesen Standards entsprechend zu therapieren. Wer sich als Arzt Gedanken über seine beruflichen Fähigkeiten macht, weiß vielleicht, daß er ein sicheres Gespür bei Diagnosen hat, daß er aber manuell unterdurchschnittlich geschickt und hinsichtlich der Medikamentierung nicht auf dem allerneuesten Stand ist. Ob er damit die erforderlichen Einzelfähigkeiten hat oder nicht, kann er nicht entscheiden. Zu der Unsicherheit über den Stellenwert der einzelnen Fähigkeiten tritt die über deren erforderliches Maß. Man kann den Bedenken, die unter dem Aspekt der Unbestimmtheit des Tatbestands gegen das Tatbestandsmodell zu erheben sind, nicht mit dem Argument begegnen, diese Unbestimmtheit eigne nicht den einschlägigen Straftatbeständen als solchen, sondern (lediglich) den zu der Fallkonstellation des übernahmeverschuldens entwickelten dogmatischen Regeln. Man mag verschiedener Meinung darüber sein, ob das aus Art. 103 Abs. 2 GG resultierende Analogieverbot auch die geschriebenen Rechtfertigungsgründe erfaßt35 oder ob die Dynamik der Rechtfertigungsgründe hier eine Auflockerung des nullum crimen-Prinzips erzwingt36 : Soweit es um den Gehalt des Tatbestands geht, kann auf die in Art. 103 Abs. 2 GG festgelegten Prinzipien bei Strafe des Leerlaufens dieser Bestimmung nicht verzichtet werden. Dabei kann es nicht darauf ankommen, ob der Vorwurf mangelnder Bestimmtheit den Tatbestand in seiner gesetzlichen Fixierung oder in der ihm von der 34 Die Literatur verlangt zu Recht, daß dem Täter erkennbar gewesen sein muß, daß er den Anforderungen der übernommenen Tätigkeit nicht gewachsen ist; vgI. Jescheck, AT, S. 482 m. Nachw. 35 So die h. M., vgl. Engisch, Die normativen Tatbestandselemente im Strafrecht, Mezger-Festschrift 1954, S. 127 ff., S.131; GTÜnwald, ZStW 76 (1964), S.3 f.; Maurach/Zipf, AT/I, S.125; Welzel, Das deutsche Strafrecht, S.20 (Nachweise bei Engels, Der partielle Ausschluß der Notwehr, Fn. 49). 36 So Roxin, Kriminalpolitik, 1973, S. 31 f.; ders., ZStW 93 (1981), S.80; Geilen, Jura 1981, S. 371 (Nachweise bei Engels, a.a.O., S. 123).

111. Tatbestands- oder Pfiichtmodell? Das "übernahmeverschulden"

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Strafrechtsdogmatik verliehenen Gestalt trifft, und dies gleichgültig, ob die dogmatische Gestaltung über Prinzipien des Allgemeinen oder des Besonderen Teils des StGB erfolgt37. Letzteres ergibt sich nicht nur aus der VOn Fincke38 zu Recht hervorgehobenen Schwierigkeit der Abgrenzung der beiden Teile, sondern auch aus der Erwägung, daß der Unterscheidung VOn Allgemeinem und Besonderem Teil keine Wertungsdifferenz im Bereich der verfassungs rechtlichen Prinzipien entspricht. Es gibt keine verfassungsrechtlichen Gesichtspunkte, die an diese Unterscheidung anknüpfen könnten38 • Schließlich spricht noch ein letzter, bisher vernachlässigter Gesichtspunkt gegen die "Tatbestandslösung": Bleibt zweifelhaft, ob der Angeklagte nach seinen persönlichen Fähigkeiten zur Beachtung der gebotenen Sorgfalt in der Lage war, müßte nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" Freispruch erfolgen. Eine Bestrafung der sorgfaltswidrigen Handlung käme mangels Verschuldensnachweises nicht in Betracht, und hinsichtlich der Tätigkeitsübernahme müßte zugunsten des Angeklagten davon ausgegangen werden, daß der Kunstfehler der Nachlässigkeit des Angeklagten, nicht dem Mangel seiner beruflichen Fähigkeiten zuzuschreiben ist. Ob die Prinzipien der Wahlfeststellung hier Abhilfe schaffen könnten, erscheint zumindest zweifelhaft; denn jedenfalls psychologisch ist eine punktuelle Unaufmerksamkeit mit der fahrlässigen übernahme einer gefährlichen Tätigkeit, der man nicht gewachsen ist, wohl nicht gleichwertig. Diese überlegungen haben keineswegs nur theoretische Bedeutung; wegen der Schwierigkeit des Nachweises VOn persönlichen Fähigkeiten und - vor allem - Unfähigkeiten dürften die Fälle des "non liquet" hier zahlreich sein. 3. Das Vorverhalten als Verletzung einer selbständigen Pflicht Die beiden diskutierten Möglichkeiten zur Lokalisierung und zur Lösung des unter dem Begriff "übernahmeverschulden" verhandelten Zurechnungsproblems sind erschöpfend, wenn man von dem Modell der Merkmale der Straftat40 ausgeht. Denn als tatbestandsmäßige Handlung kommen nur die unmittelbare Verletzungshandlung und das Vor37 Gegen die Geltung des Analogieverbots im Allgemeinen Teil Hardwig, ZStW 78 (1966), S. 8; LK/Tröndle, § 1 Rdnr. 38. 38 Das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen Teil des Strafrechts, 1975, S. 13 ff. ' 39 Gegen den Versuch Hardwigs, die Beschränkung des Analogieverbots auf den Besonderen Teil unter dem Aspekt der Entwicklung des Strafrechts zu rechtfertigen, treffend Engels, Der partielle Ausschluß der Notwehr, S. 119 Fn.60. 40 Zu den Grenzen dieses Modells vgl. Schild, Die "Merkmale" der Straftat und ihres Begriffs, 1979.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

verhalten (übernahme der Tätigkeit bzw. Nichterwerben der erforderlichen Fähigkeiten) in Betracht; entsprechend ergeben sich Lösungen auf der Schuld- bzw. auf der Tatbestandsebene. Das jetzt zu erörternde Modell der Verletzung einer abgeleiteten Pflicht liegt quer zu dieser Alternative und dem sie konstituierenden Modell des Stufenbaus der Straftat; es orientiert sich nicht an den Begriffen "Tatbestand" und "Schuld", sondern an den Kategorien der "Norm" und - vor allem der "Pflicht". Aus dieser Differenz der Argumentationsebenen resultiert die Notwendigkeit einer Zuordnung: Es ist zu klären, wieweit die Konstruktion der abgeleiteten Pflicht die Schuld- und wieweit sie die Tatbestandsfrage betrifft. Daneben ergibt sich eine Zweiteilung im Rahmen dieser Konstruktion selbst: Entsprechend der bei der Tatbestandslösung bestehenden Alternative (die ihrerseits aus der alternativen Struktur der "Sorgfaltspflichten" bei den Fahrlässigkeitsdelikten resultiert) kann eine Pflicht zum Unterlassen der Tätigkeitsübernahme wie eine Pflicht zur sorgfältigen Aus- bzw. Weiterbildung angenommen werden. Von dieser Zweiteilung soll zunächst ausgegangen werden. a) Die Pflicht zum Unterlassen der Tätigkeitsiibernahme

Die Annahme eines Verbots der Tätigkeitsübernahme bietet sich vor allem dort an, wo die konkrete Handlungssituation die Möglichkeit, bestimmte Fähigkeiten zu erwerben oder zu vervollkommnen, nicht als Bestandteil der real gegebenen Handlungsalternative erscheinen läßt. Das ist der Fall bei Handlungen, die zeitlich so weit individualisiert sind, daß ein zeitlicher Aufschub sie als andere Handlungen erscheinen lassen würde. Wer als Führerscheinneuling erwägt, trotz gefährlicher Straßenglätte nachts von einer Geburtstagsfeier mit dem Wagen nach Hause zu fahren, steht nicht vor der Frage, ob er zuvor seine Fähigkeit, das Fahrzeug auch auf vereisten Straßen sicher zu führen, ausbilden soll oder nicht; die Alternative heißt: Fahren oder nicht fahren. Auf diese Alternative wird Bezug genommen, wenn festgestellt wird: "Ein Kraftfahrer, der nicht die erforderlichen Fähigkeiten hat, um den Anforderungen beim Fahren auf vereisten Straßen gewachsen zu sein, darf ein Kraftfahrzeug unter diesen erschwerten Bedingungen nicht lenken"41. Das läßt sich zu dem Grundsatz verallgemeinern: "Wo jemand unfähig ist, das Risiko einer Tätigkeit in den erlaubten Grenzen zu halten, ist ihm prinzipiell schon die übernahme dieser Tätigkeit verboten (sog. tJbernahmeverschulden)"42. Nach Stratenwerth "verschiebt" sich hier "der Gegenstand des Vorwurfs, vorausgesetzt natürlich, daß der Täter wenigstens fähig ist, seine 41

42

OLG Hamm VRS 25, 455. Stratenwerth, AT, Rdnr.ll05.

IH. Tatbestands- oder PHichtmodell? Das "Übernahmeverschulden"

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Unfähigkeit zu durchschauen"4s. Diese Konzeption muß Antwort auf zwei Fragen geben, nämlich: Woher ist dieses Verbot zu gewinnen? und: Wieso kann die übertretung dieses Verbots als Verletzung der dem Tatbestand des § 222 StGB zugrundeliegenden Norm bestraft werden? Zur Beantwortung der ersten Frage könnte man auf eine allgemeine Sorgfaltspflicht verweisen, derzufolge jedermann gehalten sei, ohne die erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse keine gefährlichen Tätigkeiten zu übernehmen. Die Idee einer derartigen generellen, von den Fahrlässigkeitstatbeständen abgelösten Sorgfaltspflicht klingt überall dort durch, wo davon die Rede ist, "eine Pflichtwidrigkeit"44 bzw. "eine Fahrlässigkeit"45 liege schon in der übernahme der fraglichen Tätigkeit. Wegen der Verletzung dieser allgemeinen Sorgfaltspflicht kann der Täter freilich nicht bestraft werden; die Konstruktion eines crimen culpae ist unserer Rechtsordnung fremd 46 . Soweit die übernahme der fraglichen Tätigkeit ohne die erforderlichen Kenntnisse nicht durch spezialgesetzliche Regelung untersagt ist, bleibt also nur die Möglichkeit, das Verbot aus dem jeweils einschlägigen Fahrlässigkeitstatbestand herzuleiten. Dieser Weg erscheint verlockend, weil die Inkorporierung der Sorgfaltspflichtverletzung in den Tatbestand der Fahrlässigkeitsdelikte scheinbar zwanglos die Möglichkeit eröffnet, die fragliche Sorgfaltspflicht dem Fahrlässigkeitstatbestand bzw. der ihm zugrundeliegenden Norm zu entnehmen. Er ist jedoch nicht gangbar. Denn aus dem Tatbestand ableitbar sind nur Sorgfaltspflichten, die Bestandteil des Tatbestands sind. Eine Handlung, die sich als Verletzung einer solchen Sorgfaltspflicht darstellen würde, wäre also, sofern sie den tatbestandsmäßigen Erfolg herbeiführt, eine tat bestandsmäßige Handlung im Sinne der §§ 222, 230 StGB etc. Soweit die Pflicht zur Nichtübernahme der Tätigkeit aus dem Tatbestand eines Fahrlässigkeitsdelikts hergeleitet wird, ergibt sich folglich die oben erörterte und abgelehnte Zurechnungsstruktur. Denkbar ist schließlich, daß die Tätigkeitsübernahme gegen ein ausdrückliches spezialgesetzliches Verbot verstößt. In diesem Fall wird die zweite Frage virulent: Kann die Verletzung dieses Verbots die Bestrafung nach § 222 oder § 230 StGB tragen? Man braucht, um diese Frage zu verneinen, nicht auf die allgemeine Ablehnung der versari-Haftung zu verweisen; die Bestrafung einer (nur) dem Tatbestand T 1 unterfal43 AT, Rdnr. 1105; eine RechtspHicht, die fragliche Tätigkeit bei mangelnden Fähigkeiten nicht zu übernehmen, wird auch von Hardwig bejaht (JZ 1968, S. 291); so auch schon Binding, Normen Bd. IV, S. 542. 44 Dreher/TröndZe, § 15 Rdnr. 16. 45 KG VRS 7, 184. 46 Vgl. dazu Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 156.

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

200

lenden Handlung nach dem Tatbestand T 2 würde einen Verstoß gegen das Analogieverbot bedeuten. b) Die Informations- und Prüfungspflichten

Damit ist auch das Urteil über die Versuche gesprochen, die Bestrafung aus dem Fahrlässigkeitstatbestand mit der Verletzung einer Informations- oder PTÜfungspjlicht zu begründen. Die Verteidigung dieser Zurechnungsstruktur durch Boldt 47 vermag nicht zu überzeugen. Nach Boldt muß bei den fahrlässigen Tätigkeitsdelikten aus dem Verbot der Vornahme der tatbestandsmäßigen Handlung "ein ganz spezielles Gebot herausgelöst werden ... , sich zu einer anderen, richtigeren Durchführung der Tätigkeit instand zu setzen"48. Boldt exemplifiziert das am Tatbestand des fahrlässigen Falscheids (§ 163 StGB): Wer zur eidlichen Aussage vor Gericht aufgerufen sei, habe die Pflicht, sich so gut wie möglich vorzubereiten, um eine wahrheitsgetreue Aussage machen zu können. Damit werde zwar der "eigentliche Pflichtverstoß" vor die Tathandlung selbst gelegt; aber der Tatbestand sei "keine Insel im Meer des sozialen Geschehens, sondern ein Ausschnitt aus seinen dynamischen Abläufen"49. Der soziale Geschehensablauf beginne im Falle des § 163 StGB spätestens mit der Ladung des Zeugen und ende "vielleicht" mit dem u. a. auf dessen Aussage gestützten Urteil. Dem Gesetzgeber stehe es frei, das Urteil als Erfolg in den Fahrlässigkeitstatbestand einzubeziehen; in diesem Fall könne an einer entsprechenden Sorgfaltspflicht kein Zweifel bestehen. Nicht anders aber sei die Lage, wenn sich der Tat1~estand auf die schlichte Tätigkeit beschränke; man sei in diesem Fall nur gehalten, "die Entstehungsgründe für das Pflichtgebot zurückzuverlegen"5o. Fraglich ist hier schon der Ausgangspunkt, bei der Ausgestaltung des § 163 StGB als Erfolgsdelikt sei an einer Vorbereitungspjlicht nicht zu zweifeln. Denn auch in der Fassung "Wer fahrlässig durch eine falsche eidliche Aussage ein unrichtiges Urteil herbeiführt ... " bliebe die Ausdehnung des Tatbestands auf die Phase der Aussagevorbereitung oder -nichtvorbereitung problematisch. Auch in diesem Fall würde das Merkmal der eidlichen Aussage die tatbestandsmäßige Handlung zeitlich fixieren und einen Rückgriff auf die vorgelagerte Setzung von Ursachen blockieren. Eine "tatbestandliche" Sorgfaltspflicht des fraglichen Inhalts könnte auch dann nicht angenommen werden. 47

48 48

110

Boldt, ZStW ZStW :ZStW

ZStW 68 (1956), S. 358 f. 68 (1956), S. 358. 68 (1956), S. 358. 68 (1956), S.359.

IH. Tatbestands- oder Pflichtmodell? Das "übernahmeverschulden"

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Auch der weiteren Argumentation Boldts kann nicht gefolgt werden. Sicher ist es richtig, daß jeder Straftatbestand in die Kontinuität sozialer Geschehensabläufe Schnitte legt, deren Verlauf, gemessen an der Struktur des sozialen Geschehens und an den denkbaren Tatbestandsalternativen, ein bestimmtes Maß an Willkürlichkeit aufweist51 • Aber die Tatsache, daß der Tatbestand auch anders ausgestaltet sein könnte, entbindet nicht von der Notwendigkeit, ihn als Substrat dogmatischer Arbeit und Begrenzung richterlichen HandeIns so zu nehmen, wie er ist. Allgemeiner formuliert: Wenn die Funktion der Straftatbestände gerade darin liegt, um der Berechenbarkeit der Strafsanktion willen aus der Kontinuität von sozialen Geschehensabläufen und Handlungssequenzen einzelne Teile als Bezugsobjekte der strafrechtlichen Sanktionen herauszuschneiden, dann kann der Durchgriff auf außertatbestandliches Verhalten nicht mit dem Hinweis auf die "Dynamik", die "Prozeßhaftigkeit" oder die "Kontinuität" des sozialen Handlungszusammenhangs gerechtfertigt werden. Die Annahme einer Informationsbzw. Prüfungspflicht, deren Verletzung nach den Tatbeständen der §§ 222,230 StGB etc. zu ahnden wäre, würde darauf hinauslaufen, diesen Delikten einen Tatbestand der mangelnden Prüfung vorzulagern, der die Verwirklichung der Fahrlässigkeitstatbestände selbst als objektive Strafbarkeitsbedingung enthielte52 • Auf die Verletzung einer etwaigen Sogfaltspflicht zur Information oder Vorprüfung kann die Verurteilung in den Fällen des sogenannten übernahmeverschuldens demnach nicht gestützt werden. Die Verletzung derartiger "Pflichten" konstituiert nicht das Unrecht der Fahrlässigkeitstaten. Tatsächlich zielt die Argumentation wohl eher auf den Bereich der Schuld als auf den des Unrechts; es geht um die Substituierung eines Könnens durch ein Sollen. An die Stelle des Vermeidenkönnens tritt die Verletzung der Informations- oder Vorprüfungspflicht. Der Täter konnte im Augenblick der Tat das Unerlaubte seiner Handlung nicht erkennen, aber er hätte sich zuvor informieren sollen; er konnte nach seinem Wissensstand im fraglichen Zeitpunkt die richtige Diagnose nicht stellen; aber er hätte sich eben entsprechend fortbilden sollen. Freilich geht auch bei der Feststellung des Sollens das Moment des Könnens nicht verloren: Der Täter hätte die rechtswidrige Handlung vermeiden können, wenn er sich pflichtgemäß informiert hätte. Aber 61 Dieser Gesichtspunkt spielt auch in anderen Fällen des Rückgriffs auf vortatbestandliches Verhalten eine Rolle; so beruft sich Lange zur Begründung der Unbeachtlichkeit des vom Täter verschuldeten Affekts auf die "Prozeßhaftigkeit" des für die Frage der Schuldfähigkeit relevanten Verhaltens und auf die "unzerreißbare empirische Zusammengehörigkeit der Täterschuld mit der Vorgeschichte" (Ist Schuld möglich?, S. 273). 52 So für § 163 StGB Oehler, Die erlaubte Gefahrsetzung und die Fahrlässigkeit, S.241.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

der Akzent liegt auf "pflichtgemäß"; denn die hypothetische Vermeidbarkeit bei Tatbegehung bzw. die reale Vermeidbarkeit zu einem früheren Zeitpunkt genügen als solche nicht für die Erhebung eines Schuldvorwurfs. Das frühere Sollen kompensiert offenbar das Fehlen des späteren Könnens. Dem Täter wird die Berufung auf sein Nichtkönnen verwehrt - nicht, weil er es hätte vermeiden können, sondern weil er es hätte vermeiden sollen. Dieses Sollen enthält keine eigenständige Verpflichtung, sondern einen Zurechnungsmechanismus: Der Täter wird mit seiner Verteidigung nicht gehört, weil er sein Unvermögen hätte vermeiden sollen, nicht: Der potentielle Täter soll sein Unvermögen vermeiden. Das Sollen erscheint nur im Irrealis der Vergangenheit. Es markiert die Grenze des strafrechtlich relevanten Nichtkönnens. Man könnte auch hier davon sprechen, daß es nicht um einen kategorischen, sondern um einen hypothetischen Imperativ geht53 ; aber die strenge Alternative von kategorischem und hypothetischem Imperativ trifft das Problem nicht genau. Denn entscheidend ist gerade, daß die Momente des Könnens (hypothetischer Imperativ)54 und des Sollens (kategorischer Imperativ) nicht mehr präzise zu trennen sind. Das Sollen bezieht sich nicht mehr auf bestimmte Handlungen, sondern auf bestimmte Fähigkeiten; ein bestimmtes Können wird normativ vorausgesetzt55 . Von einem Arzt kann man erwarten, daß er über die erforderlichen Fähigkeiten zu einer der lex artis entsprechenden Therapie verfügt; von einem Zeitschriftenhändler kann man erwarten, daß er in der Lage ist, offensichtlich schwer jugendgefährdende Schriften als solche zu erkennen. Soweit es um rollenspezijische Fähigkeiten geht, tendiert auch das Strafrecht zu einer Garantiehaftung58 ; das beweist der nicht verstummende Ruf nach Einführung eines objektiven Schuldrnaßstabs bei den fahrlässig begangenen Verkehrsdelikten57• Freilich wäre eine strenge Garantiehaftung unfair gegenüber dem Beschuldigten; die Versagung der Exkulpation wegen Fehlens der rollenspezifischen Fähig63 Vgl. Hruschka, über Tun und Unterlassen und über Fahrlässigkeit, passim; dazu unten S. 261 ff. 54 Dem hypothetischen Imperativ eignet neben dem bedingten Müssen ein Moment des Könnens, sofern die fragliche Handlung nicht nur als notwendige, sondern auch als hinreichende Bedingung der Erreichung des Ziels angesehen wird. ss Zum parallel gelagerten Problem der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums bemerkt Stratenwerth: "Ein Mindestmaß an ,Können' wird normativ vorausgesetzt" (AT, Rdnr.588). 58 Zur Garantiehaftung kraft übernahme im Zivilrecht vgI. Deutsch, Fahrlässigkeit und erforderliche Sorgfalt, S. 138: Durch freiwilliges Auftreten im Verkehrskreis werde "garantiert, zu dem Sorgfaltsstandard des Kreises in der Lage zu sein". 51 VgI. etwa Booß, NJW 1960, 373; Wimmer, NJW 1959, S. 1757; krit. Baumann, NJW 1959, S. 2293 ff.; ders., Strafrecht AT, S.465; Bockelmann, VerkehrsstrafrechtIiche Aufsätze und Vorträge, 1967, S.27. Zur Erklärung dieser Tendenz Jakobs, Strafrecht AT, S. 264 m. Fn. 22.

III. Tatbestands- oder Pflichtmodell? Das "übernahmeverschulden"

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keiten ist nur erträglich, wenn die Übernahme der Rolle dem Täter wiederum in irgend einem Sinne zugerechnet werden kann. Die Rechtsprechung der Strafsenate läßt überwiegend die "Freiwilligkeit" i. S. der Abwesenheit einer äußeren Nötigung genügen58 ; die Literatur fordert darüber hinaus, daß der Täter einen Anlaß hatte, die Rolle nicht zu übernehmen, weil er um seine mangelnden Fähigkeiten wußte oder doch wissen konnte. Die Unfähigkeit, die eigene Unfähigkeit zu erkennen, hat innerhalb der Zurechnungsstruktur also die Bedeutung, daß sie dem Täter die Berufung auf das Fehlen rollenspezifischer Fähigkeiten ausnahmsweise ermöglicht. 4. Das tlbernahmeverscbulden als materieller Grund für die Nicbtberücksicbtigung der mangelnden subjektiven Fähigkeiten Diese "wirkliche" Zurechnungsstruktur gelangt, obwohl von den approbierten dogmatischen Konstruktionen weitgehend verdeckt, gelegentlich an die Oberfläche. Ein Bespiel liefert die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum "leading case" des Übernahmeverschuldens59 • Die Tiefenstruktur der Zurechnung, das Sich-auf-die-eigene-Unfähigkeit-nicht-berufen-Können, kommt hier bereits im Leitsatz zum Ausdruck: "Wer in Ausübung eines Gewerbes Jugendschriften vertreibt, kann den Vorwurf der Fahrlässigkeit nicht mit dem Einwand entkräften60 , er sei geistig nicht befähigt zu beurteilen, ob der Inhalt einer Schrift Jugendliche offensichtlich schwer gefährde"61. Daß hier nicht das Ergebnis dogmatischer Konstruktionen, sondern das die Entscheidung unmittelbar tragende Zurechnungsprinzip formuliert wird, zeigt die Argumentation des Gerichts mit aller wünschenswerten Deutlichkeit: "Wer aber mit dem selbständigen Betrieb eines Gewerbes beginnt, von dem muß verlangt werden, daß er es gesetzmäßig ausübt ... Er kann daher nicht mit dem Einwand gehört werden, daß er ... nicht befähigt sei zu erkennen, welche Aufgaben ihm ... aus der Verpflichtung zufallen, den Gewerbebetrieb gesetzmäßig zu führen. Hat er sich einer Aufgabe freiwillig unterzogen, so muß von ihm vorausgesetzt werden, daß er ihr gewachsen ist ... Es entlastet den Angeklagten daher keineswegs, daß er nicht selbst imstande war, den offensichtlich schwer jugendgefährdenden Inhalt der von ihm vertriebenen Schriften zu erkennen"82. 58 Vgl. BGHSt 10, 134: "Hat er sich einer Aufgabe freiwillig unterzogen, so muß von ihm vorausgesetzt werden, daß er ihr gewachsen ist." So auch die Rechtslage im Zivilrecht; vgl. Fn. 61. 58 BGHSt 10, 133. 00 Hervorhebung von mir. 61 Leitsatz. 6! BGHSt 10, 135 (Hervorhebung von mir).

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

Hier liegt die behauptete Tiefenstruktur offen zutage: Die Berufung auf das Nichtkönnen wird dem Betroffenen mit dem Hinweis auf das Könnensollen versagt. An die Stelle der psychologischen Feststellung des Könnens tritt die normative Festlegung, freilich nicht im Rahmen der dogmatischen Argumentation erster Stufe (was zur Einführung einer Fiktion des Könnens zwingen würde), sondern im Rahmen des Verantwortungsdialogs. Der Einwand der eigenen Unfähigkeit wird als unzulässig, nicht als unbegründet zurückgewiesen. Dieses Moment - Zurückweisen der Verteidigung als unzulässig, nicht als unbegründet - kommt sehr schön zum Ausdruck in dem tragenden Argument der Entscheidung BGH VRS 7, 121. Der BGH begründet die Verurteilung eines Straßenbahnfahrers, der sich durch den Hinweis auf seine geringe Fahrpraxis entschuldigen wollte, mit der Feststellung: "Es könnte ihn nicht entschuldigen, wenn er den verantwortungsvollen Posten eines Straßenbahnführers übernommen hätte, ohne dieser Aufgabe gewachsen zu sein"t3. Obgleich das Verteidigungsvorbringen nach den Regeln der Schulddogmatik schlüssig ist, braucht die Richtigkeit der aufgestellten Behauptung nicht geprüft zu werden, weil der Einwand nicht zulässig ist. Diese Methode der hypothetischen Eliminierung des persönlichen Nicht-Könnens macht - sollte es noch eines Belegs bedürfen - deutlich, daß der Vorwurf gerade nicht auf die übernahme der Tätigkeit trotz unzureichender Kenntnisse gestützt wird; denn die Verurteilung kann schwerlich mit einem Vorwurf begründet werden, dessen Berechtigung dahingestellt bleibt. Nun muß darauf hingewiesen werden, daß die oben herangezogene Entscheidung des Bundesgerichtshofst4 gerade hinsichtlich der hier herausgestellten Argumentation in der Literatur auf Kritik gestoßen ist. So sieht Peters in ihr die Gefahr einer Vernachlässigung der individuellen Fähigkeiten bei der Bestrafung von Fahrlässigkeitstaten und der Einführung einer strafrechtlichen Risikohaftungts . Die Berechtigung dieser Kritik ist in dieser Arbeit freilich nicht zu erörtern; hier geht es um den Nachweis der Existenz, nicht der Legitimität bestimmter Zurechnungsstrukturen. Gleichwohl: Die von Peters aufgezeigte Gefahr muß jedenfalls äußerst ernst genommen werden. Andererseits hat die Entscheidung des Bundesgerichtshofs gerade in diesem Punkt auch Zustimmung gefunden. So sagt Göhler unter Bezug auf diese Entscheidung: "Wer mit dem selbständigen Betrieb eines bestimmten Gewerbes beginnt, von dem muß verlangt werden, daß er es gesetzmäßig ausübt; er kann daher nicht mit dem Einwand gehört wer63

64 66

BGH VRS 7, 123. BGHSt 10, 134. JZ 1957, S.638.

III. Tatbestands- oder Pflichtmodell? Das "übernahmeverschulden"

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den, er sei nicht befähigt gewesen zu erkennen, welche Aufgaben ihm aus der Verpflichtung erwachsen sind, den Gewerbebetrieb gesetzmäßig zu führen" 86. Der Sache nach findet sich das fragliche Zurechnungsmodell auch bei anderen Autoren. So heißt es bei Hellmuth Mayer: "Auf seine subjektive Unfähigkeit, richtig zu handeln, kann sich der Täter nicht berufen, wenn diese Unfähigkeit in Beziehung auf die vorliegende Tat selbst schuldhaft ist"il7, und: "Niemand hat das Recht, sich auf seine Unbelehrbarkeit zu berufen"68. Aus dem älteren Schrifttum sei schließlich Wachen/eld angeführt: " ... wenn der Pilzhändler im besten Glauben, daß die verkauften Pilze eßbar seien, giftige verkauft, kann er sich auf seine Unkenntnis nicht berufen"69. Im letzten Beispiel sind Begrenzung und Begründung des Ausschlusses der Exkulpation von Interesse: Denn der Privatmann, der anderen gutgläubig giftige Pilze vorsetzt, ist nach Wachen/eld "im Allgemeinen" nicht nach § 222 StGB strafbar. Hinter dieser Unterscheidung zwischen Privatmann und Pilzhändler ist die generalpräventiv motivierte Regel zu vermuten, daß bei freiwilliger Berufsübernahme die berufsspezifischen Fähigkeiten normativ vorausgesetzt werden. Die von Wachen/eld gegebene Begründung stellt demgegenüber darauf ab, daß der Pilzhändler, wenn er selbst nicht die nötigen Kenntnisse besitzt, versuchen muß, sie sich zu beschaffen, ehe er die Pilze anbietet. Aber warum eine solche Pflicht nicht auch den privaten Pilzsammler treffen soll, der die Ergebnisse seines Sammlerfleißes seinen Freunden vorsetzen will, ist nicht zu sehen. Unter Schuldgesichtspunkten ist eine Ungleichbehandlung nicht zu begründen. Plausibel wird sie nur unter dem Aspekt der Frage, wer sich worauf berufen kann; es erscheint sinnvoll, zwar dem professionellen Pilzhändler, nicht aber dem privaten Sammler die Berufung auf die eigene Unkenntnis zu versagen. Unter diesem Aspekt des Sich-nicht-berufen-Könnens verdient auch der Rückgriff auf den Gedanken der Lebens/ührungsschuld erneute Aufmerksamkeit. Für die Charakterschuldlehre hat Burkhardt gezeigt, daß sie im Rahmen eines "Ausnahmemodells" befriedigend interpretiert werden kann70 . Auch wenn der Vorwurf auf die "Charakterschuld" gestützt werde, sei das, was vorgeworfen werde, die Tat; sie werde aber nur dann vorgeworfen, wenn sie sich als Manifestation eines Charaktermangels darstelle71 • Burkhardt zitiert zustimmend die Auffassung von Nowell-Smith, "daß jemand sich nur dann mit entschuldigender 86

87 68 89 7G

71

GöhZer, Ordnungswidrigkeitengesetz, 6. Aufl., HeZZmuth Mayer, Strafrecht AT, 1953, S. 271.

Strafrecht AT, 1953, S.272.

1980, § 10 Rdnr. 14.

WachenjeZd, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 1914, S. 165. Burkhardt, Charaktermängel und Charakterschuld, passim. Burkhardt, Charaktermängel und Charakterschuld, S. 109.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

Wirkung auf ein Unvermögen zum Andershandeln berufen könne, wenn dieses Unvermögen seinen Ursprung nicht in den moralischen Charaktereigenschaften ... dieser Person habe"72. Die Idee der Charakterschuld wird hier anhand des Ausnahmemodells, und zwar anhand des Stufenmodells gedeutet. Ich meine, daß sich dieses Modell auf die Lebensführungsschuld im Sinne Rudolphis übertragen läßt: Der Täter kann sich auf sein Unvermögen nicht berufen, wenn er dieses Unvermögen schuldhaft herbeigeführt hat. Bei dieser Interpretation ist die Lebensführungsschuld in der Tat, wie Rudolphi behauptet, nicht Täter-, sondern Tatschuld; vorgeworfen wird dem Täter die konkrete Tat, und auch der Ausschluß der Entschuldigung bleibt auf die konkrete Tat bezogen und beschränkt. Die "Lebensführungsschuld" stellt dann keine "positive" Schuldbeziehung zur Tat her; sie hat vielmehr die negative Funktion, die Berufung auf einen "an sich" entschuldigenden Umstand zu versagen.

72 Burkhardt, Charaktermängel und Charakterschuld, S. 115 unter Verweis auf Nowell-Smith, Ethics, 1957, S. 262 ff. (Hervorhebung im Original).

IV. Das Kompensationsmodell: Die vom Täter verursachte Gefahr im entschuldigenden Notstand (§ 35 Abs.l Satz 2 StGB) Nach § 35 StGB handelt ohne Schuld, wer "in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit eine rechtswidrige Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden Person abzuwenden" (§ 35 Abs. 1 Satz 1). Das gilt ausnahmsweise nicht!, "soweit dem Täter nach den Umständen, namentlich weil er die Gefahr selbst verursacht hat oder weil er in einem besonderen Rechtsverhältnis stand, zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen" (§ 35 Abs. 1 Satz 2 Halbs.1); im ersten, nicht aber im zweiten Fall ist eine Strafmilderung nach § 49 Abs.1 StGB möglich (§ 35 Abs 1 Satz 2 Halbs. 2). Hier interessiert die Regelung des § 35 StGB hinsichtlich der Zurechnungsstruktur, die dem Ausschluß der Entschuldigung in den Fällen der vom Täter verursachten Gefahr zugrunde liegt. Dieser Ausschluß versteht sich keineswegs von selbst; die ratio legis spricht, gleichgültig ob man sie in der Vermutung der Unzurechnungsfähigkeit in Gefahr für Leib und Leben! oder in dem besonderen Motivationsdruck sieht, dem der Täter in der Notstandslage ausgesetzt ist3 , eher gegen eine derartige Einschränkung; denn der Motivationsdruck wie die Unfähigkeit zu normgemäßem Handeln werden nicht dadurch aufgehoben oder auch nur vermindert, daß der Täter die Gefahr verursacht hat. Die Regelung bedarf der Erklärung. 1. Die formale Struktur der Zurechnung'

Anders als in den Fällen der actio libera in causa scheint die formale Struktur der Zurechnung in den Fällen des vom Täter "verursachten" 1 Daß der Gesetzgeber durch die Abtrennung der Regelung des § 35 Abs. 1 S.2 von den typischen, in § 35 Abs. 1 S. 1 normierten Voraussetzungen des entschuldigenden Notstands und durch die Formulierung "Dies gilt nicht ..." ein Regel-Ausnahme-Verhältnis zum Ausdruck bringen wollte, ergibt sich aus den Materialien (vgl. BT-Drucksache V/4095, s. 16); kritisch dazu Schönke/Schröder/Lenckner, § 35 Rdnr.5. 2 So Brauneck, GA 1959, S. 269. 8 So wohl die Auffassung des Gesetzgebers; vgl. Stree, in: Roxin, Stree, Zipf, Jung, Einführung in das neue Strafrecht, 2. Auf1., 1975, S. 55 f. 4 Als "formal" bezeichne ich die sich im Schema des Verbrechensaufbaus (Unrecht, Schuld bzw. Tatbestand, Rechtswidrigkeit, Schuld) ergebende Struktur der Zurechnung; demgegenüber bilden die Wertungen, die die Zurechnung

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

Notstands klar zu sein: Tatbestandsmäßige Handlung ist die in der Gefahrsituation vorgenommene, unmittelbar rechtsgutsverletzende Handlung, deren Vornahme für den Regelfall des § 35 StGB nach § 35 Abs. 1 Satz 1 entschuldigt ist. Greift die Entschuldigung ausnahmsweise nicht ein, kann das nicht zu einer Auswechslung der tatbestandsmäßigen Handlung führen. Gleichwohl ist zu § 54 a. F. StGB, der einen "unverschuldeten" Notstand voraussetzte, die Auffassung vertreten worden, tatbestandsmäßig sei in den Fällen des verschuldeten Notstands die Herbeiführung der Notstandslage. Im Falle der vorsätzlichen Notstandsprovokation sei "Ausführungshandlung ... die Provokationshandlung"5, und auch bei schuldhafter fahrlässiger Verursachung sei "die Herbeiführung der Notstandslage als Bewirken des tatbestandsmäßigen Erfolgs zu betrachten"6; konsequenterweise nimmt Siegert im ersten Fall Vorsatz-, im zweiten Fall Fahrlässigkeitsstrafe an. Aber diese Auffassung ist weder mit der damaligen (§ 54 a. F. StGB) noch mit der heutigen Gesetzeslage vereinbar. Wird ein Entschuldigungsgrund unter bestimmten Voraussetzungen versagt, dann betrifft diese Regelung - ebenso wie die der Zuerkennung eines Entschuldigungsgrundes - nur die Schuld, nicht aber die Tatbestandsmäßigkeit der Handlung. über die formale Struktur der Zurechnung kann im Falle des § 35 StGB nicht diskutiert werden. 2. Die materiale Struktur der Zurechnung Die Frage, wieweit an die Notstandstat selbst und wieweit an die Herbeiführung der Notstandslage anzuknüpfen ist, stellt sich dagegen bei der Frage der materialen Struktur der Zurechnung, freilich nicht mit der gleichen Schärfe. Denn das Grundmuster der materialen Struktur der Zurechnung ist durch die formelle Struktur vorgegeben: Als tatbestandsmäßige Handlung zugerechnet wird die Notstandstat; die subjektive Zurechnung erfolgt wegen des Verschuldens der Notstandslage, wobei dieses "wegen" im Sinne eines ausnahmsweise statthabenden Ausschlusses des Ausschlusses der subjektiven Zurechnung zu verstehen ist. Es bleibt die Frage nach den Gesichtspunkten, nach den Zurechnungsprinzipien, die diesen Ausschluß sachlich tragen. als richtig und in diesem Sinne als gerecht begründen, deren materiale Struktur. 6 Siegert, Notstand und Putativnotstand, S. 84 Fn.3. a Siegert, a.a.O., S. 96. Ähnlich Henkel, Der Notstand nach gegenwärtigem und künftigem Recht, S. 142: "Nicht durch das unfreie Handeln im Augenblick der höchsten Not, sondern vielmehr durch dieses Sich-in-Gefahr-Begeben wird die Verantwortlichkeit für den rechtsverletzenden Erfolg begründet."

IV. Das Kompensationsmodell: Der entschuldigende Notstand

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a) Die Idee der Kompensation der Unrechtsminderung

Der Gedanke der Kompensation "an sich" geminderter Schuld durch ein zusätzliches Verschulden des Täters, der uns bei der Begründung der Versagung der Strafmilderung nach §§ 21, 49 StGB in den Fällen selbstverschuldeter Trunkenheit begegnet ist, findet sich, auf das Unrecht bezogen, der Struktur nach wieder in der Deutung, die Rudolphi der Regelung des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB zuteil werden läßt: Sie finde ihre Erklärung darin, "daß in diesen Fällen das an sich geminderte Unrecht der Notstandstat durch das in der Verletzung einer besonderen Gefahrtragungspflicht liegende Unrecht wieder aufgewogen wird "7 aa) Das Problem der Unrechtsminderung bei § 35 StGB

Diese Argumentation setzt zunächst voraus, daß dem Entschuldigungsgrund des § 35 StGB eine Minderung nicht nur der Tatschuld, sondern auch des Tatunrechts zugrunde liegt. Das entspricht der heute herrschenden MeinungS, ist aber nicht unbestritten9 und keinesfalls unproblematisch. Nach überwiegender Auffassung beruht der Entschuldigungsgrund des § 35 StGB "auf einer doppelten Schuldminderung, wobei die eine ihre Grundlage in dem verminderten Unrecht hat, während die andere auf den besonderen Motivationsdruck und die dadurch normalerweise bedingte Erschwerung eines normgemäßen Verhaltens zurückzuführen ist"lO. Die Minderung des Tatunrechts wird teils in einer 7 SK/Rudolphi, § 35 Rdnr. 11; vgl. auch Rdnr.3 a. E. und Rudolphi, ZStW 78 (1966), S. 82 ff. Zum dogmengeschichtlichen Hintergrund dieses Gedankens Küper, Der "verschuldete" rechtfertigende Notstand, S. 16 m. Fn. 18, 19. 8 Vgl. Jescheck, AT, S. 387; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S. 35 ff.; Stratenwerth, AT, Rdnr.601; Noll, ZStW 77 (1965), S.17; Schönke/Schröder/ Lenckner, Rdnr. 111 vor §§ 32 ff., Rdnr.24 zu § 35; Küper, JuS 1971, S. 474 ff., 477; ders., JZ 1983, S. 89; Roxin, "Schuld" und "Verantwortlichkeit" als strafrechtliche Systemkategorien, S. 183; KTÜmpelmann, GA 1983, 344; grundlegend Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, S. 204 f.; ders., Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, S. 156 ff. a Ablehnend Baumann, AT, S.474; Schmidhäuser, AT, S. 461 f.; ders., Studienbuch, S.244; Henkel, Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit als regulatives Rechtsprinzip, S.290 ("Nach richtiger, heute ganz überwiegend vertretener Auffassung ändert der Gesichtspunkt des Leibes- und Lebensnotstands nichts an dem Handlungsunwert der Tat ... "); Achenbach, JR 1975, S.494. Nach Stree, in: Roxin, Stree, Zipf, Jung, Einführung in das neue Strafrecht, 2. Aufl., 1975, S. 55, hat der Gesetzgeber bei § 35 dem Gesichtspunkt einer Unrechtsminderung "keine besondere Beachtung geschenkt". Ausführlich und überzeugend gegen die Annahme einer Unrechtsminderung jetzt Jakobs, AT, S. 470 f. (mit dem Hinweis, daß "die doppelte Schuldminderung restlose Entschuldigung nicht erklären kann, wenn die einfache Schuldminderung (etwa bei der Tat einer nicht nahestehenden Person) nicht einmal zu einer Reduzierung des Strafrahmens führt" (S.470); ebenso Timpe, Strafmilderungen des Allgemeinen Teils des StGB, S. 300. 10 Schönke/Schröder/Lenckner, § 35 Rdnr.24.

14 Neumann

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

Verringerung des Handlungsunrechts, überwiegend aber in einer Minderung sowohl des Handlungs- als auch des Erjolgsunrechts gesehenl l . Eine Minderung des Erjolgsunwerts soll aus der Tatsache resultieren, daß der Täter durch die Notstandstat nicht nur ein Rechtsgut verletzt, sondern zugleich die Gefahr für ein anderes Rechtsgut abwendet und damit einen den Erfolgsunwert jedenfalls teilweise kompensierenden "Erfolgswert" schafft1 2 ; entsprechend sei auch der Handlungsunwert gemindert, weil die Notstandstat "nicht allein auf die Verletzung eines fremden Rechtsguts gerichtet, sondern zugleich und zwar maßgeblich von dem Rettungszweck, d. h. dem Willen zur Erhaltung eines bestimmten Rechtswertes getragen" sei1 3 • Problematisch erscheint hier zunächst die Annahme einer Minderung des Erjolgsunwerts infolge eines durch die Notstandstat herbeigeführten Erfolgswertes. Denn zum einen müßte unter dem Aspekt des Erfolgsunwerts eine Unrechtsminderung wie eine darauf gegründete Schuldminderung ausscheiden, wenn die zugunsten eines Angehörigen oder zum Schutz von Gesundheit und Freiheit des Täters vorgenommene Rettungsaktion mißlingt. Das würde aber bedeuten, daß den Täter, der seine Gesundheit und seine Freiheit nicht zu retten vermochte, ceteris paribus ein härterer Unrechts- und Schuldvorwurf treffen würde als denjenigen, dessen Notstandshandlung erfolgreich war14 • Dieses Ergebnis ist inakzeptabel und kann auch nicht mit der überlegung gerechtfertigt werden, daß der Täter in diesem Fall "sinnlos" Güter anderer Personen geopfert habe. Denn die Sinnlosigkeit der Notstandshandlung würde eine Verschärfung des Vorwurfs nur dann tragen, wenn sie auf die Vornahme der Notstandshandlung selbst bezogen werden könnte, wenn diese ex ante betrachtet als aussichtslos oder zumindest als wenig erfolgversprechend erschiene. Die Tatsache des FehlschIa gens als solche kann dagegen keinen erhöhten Unrechts- bzw. Schuldvorwurf gegenüber dem Täter begründen. Die demnach inakzeptable, aber für die herrschende Meinung zwingende Konsequenz, daß in den Fällen einer fehlgeschlagenen Rettungshandlung den Täter ceteris paribus ein härterer Schuldvorwurf trifft, ergibt sich spiegelbildlich aus der Annahme, daß der Erfolgswert der Notstandstat in eine Gesamtrechnung eingestellt, als Vektor eines Parallelogramms des Ge11 Ausdrücklich für eine Minderung des Handlungs- und des Erfolgsunrechts SKjRudolphi, § 35 Rdnr.3; ebenso Jescheck, AT, S.387. Für eine Minderung (nur) des Handlungsunwertes Welzel, Das deutsche Strafrecht, S.178. 12 Rudolphi, ZStW 78 (1966), S. 83. 13 ZStW 78 (1966), S. 83. 14 Konsequent bejaht Krey die Verminderung des Erfolgsunwerts ausdrücklich nur in den Fällen einer erfolgreichen Rettungshandlung (Jura 1979, S. 324 Fn. 55). Wie hier Jakobs, AT, S.471.

IV. Das Kompensationsmodell: Der entschuldigende Notstand

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samt-Erfolgsunwerts einer Tat herangezogen werden kann. Indes ist es durchaus fraglich, ob eine Saldierung des Erfolgsunwerts der Handlung mit ihrem "Erfolgswert" (Rettung des Täters bzw. der ihm nahestehenden Person) zu einem erheblich geminderten Erfolgsunwert möglich ist. Gegen diese Auffassung sprechen zunächst Plausibilitätsüberlegungen. Wäre eine Verrechnung des Erfolgswertes einer Tat mit dessen Erfolgsunwert zulässig, dann müßte es hingenommen werden, wenn sich der wegen Betrug (§ 263 StGB) angeklagte Täter mit der Begründung auf eine Minderung des Erfolgsunwertes seiner Tat berufen würde, daß dem Vermögensschaden des Opfers eine Mehrung seines eigenen Vermögens gegenüberstehe l5 • Wendet man hier ein, eine Minderung des Erfolgsunwerts könne sich nur aus der Wahrung, nicht aus der Mehrung rechtlich geschützter Güter ergeben, so resultiert daraus eine Einschränkung des Saldierungsmodells, die mit dessen Symmetrie auch seine Überzeugungskraft beeinträchtigt. Denn mit der Unterscheidung zwischen der Wahrung und der Mehrung von Gütern kommen normative Gesichtspunkte ins Spiel, die über die Verrechnung von Gütern hinausweisen; in einem konsequenten Saldierungsmodell müßten beide Fallgestaltungen gleich behandelt werden. Auch wenn man die Beschränkung des Erfolgswertes auf den Fortbestand von Gütern akzeptiert, bleibt die Saldierung mit dem Erfolgswert der Tat problematisch; denn sie würde jedenfalls zur Annahme eines geminderten Erfolgswertes führen, wenn ein Vermögensdelikt zur Wahrung (und nicht zur Mehrung) des eigenen Vermögensbestandes begangen wird. Nun könnten sich die Vertreter der herrschenden Meinung an diesem Punkt darauf berufen, daß der Bundesgerichtshof bekanntlich im Rahmen des § 34 StGB eine Abwägung zwischen verletzten und zu schützenden Vermögensinteressen zugelassen hat l6 • Aber diese Entscheidung ist, wie Bockelmann nachgewiesen hat1 7 , kaum zu verteidigen; sie erklärt sich wohl nur aus dem numerus clausus der Rechtsgüter des § 35 15 In diesem Sinne neuestens Timpe, Strafmilderungen des Allgemeinen Teils des StGB, S. 293 ff. Gegen das Argument, die Regelung des § 35 StGB könne nicht (auch) auf einer Unrechtsminderung beruhen, weil eine Unrechtsminderung auch bei Handlungen zum Schutz materieller Rechtsgüter vorliegen könne, läßt sich freilich einwenden, der Gesetzgeber habe die Unrechtsminderung nur bei den "gewichtigsten und prinzipiell unersetzbaren höchstpersönlichen Güter(n) des Menschen" zum Anlaß genommen, dem Täter Straffreiheit zu gewähren (so SK/Rudolphi, § 35 Rdnr. 3 a). Als Basis einer Kritik an der vorherrschenden Deutung des § 35 StGB taugt das Beispiel (Handeln zur Verteidigung eigener Vermögenswerte) nur, wenn man erkennt, daß eine Saldierung von Erfolgsunwert und "Erfolgswert" hier nicht in Betracht kommt. le BGHSt 12, 304. 17 Bockelmann, JZ 1959, S. 49B; gegen ihn Küper, JZ 1976, S. 515, 516.

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StGB und der daraus resultierenden Unmöglichkeit, derartige Fälle nach den Regeln des entschuldigenden Notstands zu lösen. Die Frage, ob die Anwendbarkeit des § 34 StGB auf die Kollision von Vermögenswerten tatsächlich die Annahme einer Saldierung von Erfolgswert und -unwert stützen würde, kann daher zurückgestellt werden. Gegen die Heranziehung eines Beispiels aus dem Bereich der Vermögensdelikte könnte der Vorwurf der tendenziösen Auswahl erhoben werden. In der Tat widerstreitet das Rechtsgut "Vermögen" in stärkerem Maße der "Verrechnung" als etwa das Rechtsgut der körperlichen Integrität. Der Grund dafür dürfte vor allem darin liegen, daß das geschützte Rechtsgut des § 263 StGB genaugenommen nicht das Vermögen als solches, sondern der jeweilige Vennögensstand einer Person ist. Der Tatbestand schützt, mit anderen Worten, nicht ein bestimmtes Gut, sondern eine bestimmte Güterverteilung. Dieser Unterschied zwischen Güterschutz und Schutz der Güterverteilung wird in der terminologischen Alternative "Recht am Vermögen" und "Recht auf Vermögen" präzise erfaßt. Unsere Rechtsordnung kennt zwar ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, aber lediglich ein Recht am Vermögen bzw. Eigentum. Die Tatsache, daß nicht das Vermögen, sondern die Vermögensverteilung das geschützte Rechtsgut darstellt, schließt eine strafrechtlich relevante Bilanzierung von Vermögensschaden und -zuwachs im Regelfall aus. Nach den Maßstäben der Rechtsordnung ist ein Zustand mit einer leichten körperlichen Verletzung des A ceteris paribus prinzipiell normativ vorzugswürdig gegenüber einem Zustand mit einer schweren körperlichen Verletzung des B; nicht aber ist der Zustand mit einer geringen Beeinträchtigung des Vermögens des A normativ ausgezeichnet gegenüber einem Zustand mit einer erheblichen Beeinträchtigung des Vermögens des B. Das kann sich ändern, sobald der Vermögensbeeinträchtigung bei Beine gesamtgesellschaftliche Bedeutung zukommt; in diesen Fällen dürfte es aber gerade nicht um die Vermögensbeeinträchtigung als solche, sondern um die damit verbundene sekundäre Gefährdung gesamtgesellschaftlicher Interessen gehen18 • Gleichwohl ist insofern ein grundsätzlicher Unterschied zu der Kollision anderer Rechtsgüter nicht anzuerkennen; denn das Strafrecht schützt auch bei den sogenannten persönlichkeitsgebundenen Rechtsgütern nicht nur den Bestand, sondern auch die Verteilung der Güter. Das 18 Z. B. um die Gefährdung von Arbeitsplätzen, die von der Rechtsprechung als Gefahr für ein Rechtsgut i. S. des § 34 StGB angesehen wird; vgl. BGH bei Dallinger, MDR 1975, S. 723; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S. 72 ff.; Schönke/Schröder/Lenckner, § 34 Rdnr.9 m. Nachw.

IV. Das Kompensationsmodell: Der entschuldigende Notstand

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wird deutlich, wenn die Unzulässigkeit der Verlagerung des Lebensrisikos mit dem Verbot der "Willkürlichkeit der menschlichen Auswahl" begründet wird1'; in gleichem Sinne kann die gesetzliche Voraussetzung eines wesentlichen überwiegens des geschützten Interesses in § 34 StGB verstanden werden. Die Kollision von Vermögenswerten wirft somit keine grundsätzlich andersartigen Probleme auf. Im übrigen erscheint die Annahme einer partiellen Kompensation des Erfolgsunwerts durch einen Erfolgswert der Tat auch bei der Kollision anderer Rechtsgüter wenig plausibel. Wer einen anderen zu Unrecht einer Straftat beschuldigt, um den - unberechtigten - Verdacht von sich abzulenken, kann sich gegenüber dem Vorwurf der Freiheitsberaubung nicht mit der Begründung auf eine Minderung des Erfolgsunwertes seiner Tat berufen, die falsche Verdächtigung habe ihm selbst eine Freiheitsstrafe erspart. Der Erfolgsunwert seiner Tat ist in diesem Fall um kein Gran geringer, als wenn er den anderen lediglich aus Rachsucht zu Unrecht beschuldigt hätte. Eine ergebnisorientierte Plausibilitätsbetrachtung spricht somit eher gegen als für die Zulässigkeit einer Saldierung von Erfolgswert und -unwert; dies zumindest in den Fällen, in denen sich der "Erfolgswert" auf der Seite des Täters realisiert. Zu erörtern bleibt, ob und inwieweit dieses Resultat mit dem Ergebnis einer dogmatischen überprüfung der von der herrschenden Meinung vertretenen Auffassung übereinstimmt. Als Ausgangspunkt der Kritik bietet sich die Behauptung an, (jedenfalls) in den Fällen des entschuldigenden Notstands (§ 35 StGB) und der Notwehrüberschreitung (§ 33 StGB) sei das Erfolgsunrecht der Tat "um den Wert des Gutes herabgesetzt, das der Täter gerettet oder geschützt hat"20. Wäre das richtig, dann müßte bereits bei Gleichwertigkeit des geretteten Guts mit dem "Eingriffsgut" der Erfolgsunwert entfallen; auch der Handlungsunwert wäre zu verneinen, weil die Intention der Herbeiführung eines nicht erfolgsunwerten Zustands einen Handlungsunwert nicht zu begründen vermag. Dieses Ergebnis wäre aber mit der Wertung unvereinbar, die der Regelung des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) zugrunde liegt und derzufolge die Rechtswidrigkeit der Handlung erst bei - ceteris paribus - wesentlichem aberwiegen des geschützten Rechtsguts entfällt. Dieser Widerspruch zu der Wertung des Gesetzes resultiert aus einer Vernachlässigung des vor allem von Gallas herausgearbeiteten21 normativen Bezugs des "Erfolgsunwerts". Der Erfolgsunwert erschöpft sich nicht in der Verletzung oder Gefährdung des geschützten Handlungs19 !O U

VgI. etwa Maurach/Zipf, AT/I, S. 361. Jescheck, AT, S. 387; ebenso Wessels, AT, S. 103. Gallas, Zur Struktur des strafrechtlichen Unrechtsbegriffs, S. 162 ff.

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objekts22 ; demgemäß entfällt er "nicht schon allein dadurch, daß ein materieller Unwertgehalt durch einen positiven materiellen Gegenwert kompensiert wird"23. Vielmehr muß "die Kompensation darüber hinaus die Bedingungen einhalten, von denen die Erlaubnisnorm die Eingriffsbefugnis abhängig macht"24. Auf den Rechtfertigungsgrund des § 34 StGB bezogen bedeutet das: Liegen die Voraussetzungen des § 34 Satz 1 StGB vor und ist die Tat ein angemessenes Mittel, die Gefahr abzuwenden (§ 34 Satz 2 StGB)25, dann wird das Ergebnis der Notstandshandlung positiv bewertet; insofern und in diesem Sinne entfällt der "Erfolgsunwert"26. Die Feststellung des mangelnden Erfolgsunwerts, und das ist entscheidend, resultiert also nicht etwa aus einer Saldierung von Erfolgswert und Erfolgsunwert der Notstandshandlung. Als Parameter der Abwägung erscheinen Interessen, nicht Erfolgs(un)werte. Der Begriff "Erfolgsunwert" bezeichnet im Kontext des § 34 StGB das Ergebnis der Abwägung, nicht deren Einsatzgrößen; er wird qualitativ, nicht quantitativ gebraucht. Das ist eine zwingende Konsequenz des normativen Bezugs des "Erfolgsunrechts"; denn die normative Entscheidung fällt innerhalb des zweiwertigen Schemas von Rechtswidrigkeit und Rechtmäßigkeit. Damit aber stellt sich die Frage, ob die Annahme einer Minderung des Erfolgsunwertes im Wege der Kompensation in den Fällen des entschuldigenden Notstands nicht schon an dem normativen Bezug des Erfolgsunwerts scheitert; denn mit Hilfe des binären Mechanismus von Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit ist die Wertungsstufe des geminderten Erfolgsunwertes nicht zu erreichen. Ich möchte diese Frage bejahen. Für die Verrechnung von Täter- und Opferinteressen unter dem Gesichtspunkt des Erfolgsunwerts fehlt es außerhalb der Regelung des § 34 StGB an einem normativen Maßstab. Daß hier nicht einfach Täter- und Opferinteressen gleichgewichtig einander gegenübergestellt werden können, wurde oben dargelegt; ein anderer "ausgezeichneter" Maßstab, dessen Anlegung nicht willkürlich wäre, steht aber nicht zur Verfügung. Darüber hinaus bleibt fraglich, ob eine derartige Verrechnung überhaupt für das Maß des Erfolgsunrechts relevant sein kann, nachdem klargestellt ist, daß der Regelung des § 34 StGB nicht eine Saldierung von "Erfolgsunwert" und "ErfolgsSchönke/Schröder/Lenckner, Rdnr. 57 vor §§ 13 ff. Gallas, Zur Struktur des strafrechtlichen Unrechtsbegriffs, S. 168. 24 Gallas, Zur Struktur des strafrechtlichen Unrechtsbegriffs, S. 168. 25 Sofern man der Bestimmung des § 34 Satz 2 einen selbständigen Regelungsgehalt zubilligt; zur Problematik Schönke/Schröder/Lenckner, § 34 Rdnr.46. 2iI Die Terminologie ist freilich irreführend, weil sie den Unterschied zwischen den Fällen des ausgebliebenen (Versuch) und denen des rechtmäßig herbeigeführten (§ 34) Erfolgs nicht zum Ausdruck bringt. 22 23

IV. Das Kompensationsmodell: Der entschuldigende Notstand

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wert" zugrunde liegt, sondern die Rechtswidrigkeit aufgrund einer Interessenabwägung entfällt. Ob aber Täter- und Opferinteressen außerhalb des Anwendungsbereichs des § 34 StGB miteinander in eine für das Maß des Erfolgsunrechts relevante rechnerische Beziehung gesetzt werden können, ist gerade die Frage27 • Man könnte diese Frage bejahen, wenn es generell möglich wäre, unterhalb der Schwelle der "tatbestandlichen" Voraussetzungen der Rechtfertigungsgründe einen Bereich kontinuierlich verminderten Unrechts anzunehmen. In diesem Sinne meint Lenckner: "Bei partiellem Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes ist die Tat in um so geringerem Maße Unrecht, je mehr die Rechtfert.igungselemente an Zahl und Stärke zunehmen"28. Aber der Gesichtspunkt des "partiellen" Vorliegens eines Rechtfertigungsgrundes, etwa bei "teilweiser Erfüllung des Rechtfertigungstatbestandes"29, trägt die Annahme einer Unrechtsminderung zumindest nicht generell; andernfalls müßte auch demjenigen eine Unrechtsminderung zugute gehalten werden, der einen gegenwärtigen rechtmäßigen Angriff von sich abwehrt, sich etwa einer rechtmäßigen Festnahme tätlich widersetzt. Hinsichtlich der von § 35 StGB erfaßten Notstandssituationen widerstreitet noch ein weiterer Gesichtspunkt der Annahme einer Minderung des Erfolgsunwertes durch den "Erfolgswert" der Rettung des bedrohten Gutes. Soweit es um die Entschuldigung von Tötungshandlungen geht, kollidiert eine Verrechnung von vernichteten und geschützten Rechtsgütern mit der Ablehnung einer Saldierung der geopferten und der geretteten Menschenleben im Rahmen des § 34 StGB3o. Denn die Ablehnung einer Rechtfertigung trifft hier nicht erst das mögliche Ergebnis der Interessenabwägung in dem Sinne, daß die zahlenmäßige Differenz zwischen geopferten und geretteten Menschenleben, wie groß sie auch immer sei, niemals zu einem "wesentlichen" überwiegen der geschützten Interessen führen könnte, sondern die Methode der Ver27 Prägnant gegen eine "utilitaristische Interessenverrechnung" auch im Rahmen des § 34 StGB Küper: "Es geht bei der Interessenabwägung nicht um eine ,Verrechnung' der Interessen nach Art einer Kontoführung, sondern um eine normative Präferenzentscheidung über die Vorzugswürdigkeit in der konkreten Situation ... " (Küper, Der "verschuldete" rechtfertigende Notstand, S. 28). 28 Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S. 35. 28 Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, S. 35. 30 Vgl. Arthur Kaufmann, Rechtsfreier Raum und eigenverantwortliche Entscheidung, S. 339 f.; SChönke!Schröder!Lenckner, § 34 Rdnr.23 a. E., 24 m. Nachw. der Gegenmeinung. Die Tatsache, daß sich persönlichkeitsgebundene Güter nicht gegeneinander abwägen lassen, schließt in diesen Fällen zwar die Annahme einer Rechtfertigung nach § 34 StGB, nicht aber die der "Unverbotenheit" der Tat aus. Die Lehre vom rechts freien Raum vermittelt hier die wichtige Einsicht, daß die qualitative Bewertung der Tat nicht Mechanismen der Güterverrechnung berührt; vgl. Arthur Kaufmann, Rechtsfreier Raum und eigenverantwortliche Entscheidung, S. 341.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

rechnung von Menschenleben31 • Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Unzulässigkeit einer Aufrechnung mit der Persönlichkeitsgebundenheit des Rechtsguts "Leben" begründet wird; das Argument der Persönlichkeitsgebundenheit schließt nicht nur einen quantitativen (ein Leben gegen mehrere Leben), sondern auch einen qualitativen Vergleich (Leben gegen Leben) aus, weil es sich gegen jeden Versuch wendet, das Leben des einen in eine Wertungsbeziehung zu dem Leben des anderen zu setzen. Dagegen scheint die Argumentation, soweit sie sich auf das Leben als absoluten Höchstwert beruft, nicht auf eine Unzulässigkeit des Wertvergleichs, sondern auf dessen Ergebnis zu zielen; markiert schon das Leben des einzelnen den Höchstwert der Skala, dann kann das Leben mehrerer diesen Wert nicht übersteigen. So gesehen, stünde die Unzulässigkeit einer quantitativen Abwägung der Annahme einer Unrechtsminderung in den fraglichen Notstandsfällen nicht entgegen; sie würde nur bedeuten, daß aus der Zahl der bedrohten Leben niemals ein übergewicht über den Wert anderer bedrohter Leben resultieren kann; dagegen wäre die Annahme einer Unrechtsminderung mit dieser Argumentation nicht nur vereinbar; sie ergäbe sich vielmehr als deren Konsequenz. Denn das Gegenüber zweier Höchstwerte müßte konsequenterweise zur Neutralisierung und damit zu einer Minderung des Erfolgsunrechts der Tat auf den Nullwert führen. Dieser Konsequenz widerstreitet nun freilich nicht nur die normative Bindung des Erfolgsunwerts 32 • Denn die Berufung auf das Leben als Höchstwert setzt die Persönlichkeitsgebundenheit des Rechtsguts und damit die Unvergleichbarkeit verschiedener Leben voraus. Aus der Sicht der Gesellschaft kann eine derartige Extremposition des individuellen Lebens nicht anerkannt werden: Nicht nur, daß der Staat keine Bedenken zeigt, etwa bei militärischen Auseinandersetzungen das Leben Unzähliger staatlichen Zielen zu opfern; aus der Sicht von Staat und Gesellschaft ist das Leben mehrerer selbstredend von höherem Wert als das eines einzelnen. Das gilt zum einen, wenn man, wie dies in systemtheoretischen Ansätzen geschieht33 , auf die Funktionsfähigkeit des Gesellschaftssystems abstellt; auf das Leben einzelner, nicht aber auf das einer rele31 Das ist nicht unumstritten; so kann nach Lenckner grundsätzlich auch Leben mit Leben abgewogen werden; allerdings sei jedes Leben ein absoluter Höchstwert und insofern "gleichwertig" (Lenckner, Der rechtfertigende Notstand. S.92). Andererseits Maurach/Zipf: "Untrennbar persönlichkeitsgebundene Werte, wie z. B. das Leben, sind einer rechnerischen Einstufung durchweg entzogen" (Maurach/Zipf, AT/I, S. 361). 32 Dazu oben bei Fn. 21. 83 Vgl. Amelung, Rechtsgiiterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972; hier findet sich das Argument, die Verletzung der Person sei deshalb sozialschädlich, weil kein Interaktionssystem ohne Personen existieren könne (a.a.O., S.388). Dazu Hassemer, ZStW 87 (1975), S. 146 ff., 162; Neumann/Schroth, Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe, 1980, S. 113.

IV. Das Kompensationsmodell: Der entschuldigende Notstand

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vanten Vielzahl kann ohne Gefahr für die Stabilität der Gesellschaft verzichtet werden. Es gilt aber auch dann, wenn Staat oder Gesellschaft sich auf die Position eines Unbeteiligten und neutralen Dritten begeben, ohne eigene Interessen in die Waagschale zu werfen. Denn zehnfacher Tod bedeutet zehnfaches Leid; und selbst wenn man dem einzelnen Leben einen unendlichen Wert beimißt, erlaubt die Denkmöglichkeit des überunendlichen noch einen quantitativen Vergleich. Das bedeutet: Die Argumentation, als absoluter Höchstwert entziehe sich das Leben einer zahlenmäßigen Abwägung, ist an die Perspektive des Individuums, des potentiellen Opfers einer Notstandshandlung gebunden 34 ; sie bedeutet eine wertungsmäßige Abschottung des drohenden Erfolgsunwerts gegenüber irgendwelchen mit der Notstandshandlung erreichbaren "Erfolgswerten" . Weniger problematisch scheint die Annahme einer Minderung des Handlungsunwerts infolge des vom Täter verfolgten "berechtigten" oder "positiven" Zwecks, wenngleich die Argumentation, die Notstandstat sei "als Akt der Selbsterhaltung notwendig auch von dem Willen zur Erhaltung eines Rechtsguts getragen"35, nicht unangreifbar ist. Daß der Täter sein Leben retten will und sein Leben ein Rechtsgut darsteIItM, impliziert nicht, daß sich der Wille des Täters auf die Erhaltung eines Rechtsguts richtet. Das Prinzip der Substituierbarkeit extensional identischer Ausdrücke gilt nicht für intentionale KontexteS7• Der Täter will nicht ein, sondern sein Leben retten; er handelt gerade nicht aus Achtung vor der Rechtsgüterbewertung der Rechtsordnung, die von ihm eine Respektierung des fremden Rechtsguts verlangen würde, sondern allein im eigenen Interesse38 • Natürlich kann man darauf bestehen, daß der Wille des Notstandstäters insofern auf die Erhaltung eines Rechtsguts gerichtet ist, als der von ihm angestrebte Erfolg objektiv die Erhaltung eines Rechtsguts bedeutet. Wer das tut, hat zweifellos recht freilich in dem zweideutigen Sinne, in dem das delphische Orakel mit 34

Zur Bedeutung der Opferperspektive bei den Rechtfertigungsgründen

Gallas, Zur Struktur des strafrechtlichen Unrechtsbegriffs, S. 162 ff. M So SK/RudoZphi, § 35 Rdnr. 3.

se Letzteres ist nicht unproblematisch, weil dem Begriff des "Rechtsguts" möglicherweise eine funktionale Beziehung auf den hier irrelevanten strafrechtlichen Schutz eignet. Im Rahmen dieser Beweisführung kann die Frage indes dahingestellt bleiben. 87 Vgl. dazu Neumann, Rechtsontologie und juristische Argumentation, S. 13. 88 Wenn Jakobs (AT S.471) der h. M. entgegenhält, ihrzufolge "müßte auch entschuldigt werden, wer zur Erhaltung seines Vermögens einen einzelnen anderen Menschen schwer verletzt", so ist das überzogen, weil die Entschuldigung nach § 35 sich nicht nUT auf die behauptete Unrechtsminderung stützt und auch insofern, als dieser Gesichtspunkt trägt, nicht jede Unrechtsminderung relevant wird (arg. des numerus clausus der Rechtsgüter). Richtig ist aber, daß die h. M. gezwungen ist, in diesem Fall eine Minderung des Tatunwerts anzunehmen.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

seiner Prophezeihung gegenüber Krösus recht behielt. In der Tat hat Krösus nach dem Überschreiten des Halys ein großes Reich zerstört, und in der Tat hat der Bankräuber, der sich mit der Beute ein schönes Leben machen wollte, die Straftat nur begangen, um einen Menschen glücklich zu machen. Gleichwohl wird man unter den Voraussetzungen des § 35 StGB eine Minderung des Handlungsunwertes bejahen können, wenn man die objektive Tendenz der Handlung zur Rettung eines Rechtsguts ausreichen läßt. Ob die dadurch bedingte Minderung des Tatunrechts den Strafverzicht in den Fällen des § 35 StGB wesentlich mitzutragen vermag, erscheint freilich zweifelhaft.

bb) Der Wegfall einer relevanten Unrechtsminderung in den Fällen einer besonderen Gefahrtragungspflicht des Notstandstäters Gehen wir trotz dieser Bedenken davon aus, daß im Falle des § 35 StGB jedenfalls der Handlungsunwert gemindert ist, so bleibt weiter zu prüfen, ob die Regelung des § 35 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 Alt. 1 darauf zurückgeführt werden kann, daß bei der von dieser Bestimmung erfaßten Fallgruppe eine relevante Unrechtsminderung zu verneinen ist. Dabei sind zwei Modelle, die im Ergebnis übereinstimmen, aber in der Konstruktion voneinander abweichen, zu unterscheiden. Denkbar wäre zum einen, daß in diesen Fällen eine (relevante) Unrechtsminderung überhaupt, auch als "Zwischenergebnis" der Saldierung, zu verneinen ist; zum anderen könnte eine entsprechende Unrechtsminderung durch ein zusätzliches Unrecht kompensiert werden. Beide Modelle finden, nicht immer streng auseinandergehalten, bei der Begründung der Annahme eines im Ergebnis nicht (wesentlich) geminderten Unrechts Anwendung. Das erste Modell, das sich in den Fällen einer zugunsten eines gefahrtragungspflichtigen Angehörigen vorgenommenen Notstandshandlung anbietet (weil hier eine "Verletzung" der Gefahrtragungspflicht, die ein zusätzliches Unrecht begründen könnte, nicht gegeben ist), liegt der Argumentation zugrunde, in den Fällen einer besonderen Gefahrtragungspflicht fehle es an einer "hinreichend relevanten Unrechtsminderung" , weil das bedrohte Rechtsgut "wegen einer besonderen Gefahrtragungspflicht von Rechts wegen geringer schutzwürdig" sei39 • Diese Argumentation, die in erster Linie auf die fehlende Minderung des Erfolgsunrechts zielt, orientiert sich an der Dogmatik des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB), derzufolge bei § 34 StGB das Bestehen einer Gefahrtragungspflicht im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Interessen, nicht erst mit Hilfe der "Angemessenheitsklausel" des § 35 39

Krey, Jura 1979, S. 324; so auch Schönke/Schröder/Lenckner, § 35 Rdnr. 35.

IV. Das Kompensationsmodell: Der entschuldigende Notstand

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Satz 2 StGB zu berücksichtigen ist 40 . Begründet wird das mit der Erwägung, die Güter des Sonderpflichtigen seien "zwar nicht weniger wert als die anderer"41, wohl aber seien sie "wegen der Erhöhung der Opfergrenze weniger schutzwürdig"42. Die Übertragung dieser Argumentation auf die Regelung des § 35 StGB führt zu dem Ergebnis, daß "das Unrecht der Tat nicht oder jedenfalls nicht wesentlich gemindert ist ... , wenn das durch die Tat geschützte Gut des Angehörigen infolge einer besonderen Duldungsoder einer erhöhten Gefahrtragungspflicht von Rechts wegen keinen Schutz mehr verdient oder im Vergleich zu dem verletzten Gut jedenfalls weniger schutzwürdig ist"43. Eine solche partielle Übertragung der Dogmatik des Rechtfertigungsgrundes des § 34 StGB auf den in § 35 StGB statuierten Entschuldigungsgrund ist konsequent, wenn man die von § 34 StGB markierte Grenze der Rechtswidrigkeit tatbestandsmäßigen HandeIns als Grenzwert eines infolge des Gleichgewichts von "Erfolgswert" und "Erfolgsunwert" gegen null tendierenden Gesamterfolgsunwertes versteht. In diesem Falle könnte die Relevanz einer besonderen Gefahrtragungspflicht im Rahmen des § 34 StGB nur in der Minderung des aus der Rettung eines Guts resultierenden Erfolgswertes infolge der "Pflichtbelastung" dieses Guts gesehen werden; der Ausschluß der Rechtfertigung würde also einen Einfluß der Gefahrtragungspflicht auf den Grad des (Erfolgs-)Unrechts voraussetzen. Ein solches Verständnis des § 34 StGB wäre aber, wie oben dargelegt wurde, inadäquat. Der normative Bezug des Erfolgsunwertes verbietet es, den im Falle der Rechtfertigung einer Tat resultierenden Wegfall des Erfolgsunwerts als Ergebnis einer Saldierung von Erfolgswert und -unwert zu verstehen. Bei der Frage, ob die Voraussetzungen einer Rechtfertigung nach § 34 StGB gegeben sind, geht es um das, was der Handelnde tun darf; in diesem Fall ist eine besondere Gefahrtragungspflicht, die hier nichts anderes bedeutet als die Ausweitung von Handlungs- oder Unterlassungpflichten über das "gewöhnliche" Maß hinaus, selbstredend von Bedeutung. Berücksichtigt man das Bestehen einer solchen Pflicht im Rahmen einer Güterbewertung, indem man aus ihr eine geringere Schutzwürdigkeit der Güter des Gefahrtragungspflichtigen folgert, so ist das im Rahmen des § 34 StGB unbedenklich, weil für die Vgl. nur Schönke/Schröder/Lenckner, § 34 Rdnr. 34, 46, 47. Schönke/Schröder/Lenckner, § 34 Rdnr.34. 42 Schönke/Schröder/Lenckner, § 34 Rdnr.34. 43 Schönke/Schröder/Lenckner, § 35 Rdnr.35. Die Spezifizierung der Argumentation auf zum Schutze von nahestehenden Personen begangene Taten ist vernachlässigbar, weil das Gesagte in gleicher Weise auch hinsichtlich eigener Güter des Gefahrtragungspflichtigen Geltung beansprucht; vgl. Schönke/ Schröder/Lenckner, § 35 Rdnr.25, wo der Gedanke allerdings weniger deutlich zum Ausdruck kommt. 40 41

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Frage, was der Handelnde von Rechts wegen tun darf, neben der "Rechtsgüterstruktur" auch die "Pflichtstruktur" der Notstandssituation von Bedeutung ist und es deshalb auf das Gleiche hinauskommt, ob man die Gefahrtragungspflicht selbständig oder im Rahmen der Güterabwägung berücksichtigt. Anderes gilt, wenn es, wie bei § 35 StGB, nicht um die Frage geht, was der Handelnde tun darf, sondern darum, in welchem Maß die Rettung des Gutes des Gefahrtragungspflichtigen das Unrecht der Güterverletzung zu kompensieren vermag. Hier droht die Formel von der "geringeren Schutzwürdigkeit" die Tatsache zu verdecken, daß die sogenannte "Schutzwürdigkeit" nicht das Gewicht des in die Abwägung einzustellenden Gutes, sondern die Frage betrifft, ob der Handelnde dieses Gut riskieren muß. Geht es aber um die Frage der Unrechtsminderung (und nicht um die der Rechtswidrigkeit), dann kann es hinsichtlich des Erfolgswertes nur auf den Wert des geretteten Rechtsguts ankommen, nicht aber auf das, was der Täter unterlassen mußte. In der "Erfolgsbilanz" zählt die Rettung des Lebens des Gefahrtragungspflichtigen nicht deshalb geringer, weil dieser verpflichtet gewesen wäre, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Anders formuliert: Die Unterscheidung zwischen dem - ungeminderten - Wert und der - geminderten - Schutzwürdigkeit des Lebens des in einer besonderen Pflichtbindung Stehenden ergibt nur dann einen Sinn, wenn sie auf die Differenz von "Pflichtenstruktur" und "Rechtsgüterstruktur" der Notstandssituation bezogen wird. Hinsichtlich der Pflichtenstruktur, nicht aber hinsichtlich der Rechtsgüterstruktur unterscheidet sich die Notstandslage des Gefahrtragungspflichtigen von der eines Dritten. Die besondere Gefahrtragungspflicht des Täters in den Fällen des § 35 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 trägt daher nicht die Ablehnung einer (relevanten) Minderung des Erfolgsunwertes; das gleiche gilt für die korrespondierende Minderung des Handlungsunwertes. Zu prüfen bleibt, ob die Verletzung der Gefahrtragungspflicht einen besonderen Handlungsunwert begründet, der die - in der Konsequenz der herrschenden Meinung - resultierende Unrechtsminderung kompensieren könnte. Das damit angesprochene zweite Modell wird von Rudolphi44 für den gesamten Anwendungsbereich des § 35 Abs. 1 Satz 2 und von Lenckner45 für die Fälle der aus einem besonderen Rechtsverhältnis resultierenden Gefahrtragungspflicht zugrunde gelegt; es werde "das an sich geminderte Unrecht der Notstandstat durch das in der Verletzung einer besonderen Gefahrtragungspflicht liegende Unrecht wieder aufgewogen"46. 44

45 46

SK/Rudolphi, § 35 Rdnr.11. Schönke/Schröder/Lenckner, § 35 Rdnr.25. SK/Rudolphi, § 35 Rdnr. 11.

IV. Das Kompensationsmodell: Der entschuldigende Notstand

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Hier ist zunächst festzustellen, daß eine besondere Gefahrtragungspflicht der von § 35 Abs. 1 Satz 2 erfaßten Personen nicht in deren Verpflichtung gesehen werden kann, die Notsituation ohne Eingriff in fremde Rechtsgüter zu bestehen; denn innerhalb des Regelungsbereiches des § 35 besteht, da die Notstandstat rechtswidrig bleibt, generell die Pflicht, solche Eingriffe zu unterlassen 47 • Es geht also um die Frage, ob ein Verstoß gegen eine inhaltlich mit dieser Pflicht identische, aber anders begründete und in diesem Sinne "besondere" Gefahrtragungspflicht die - an diesem Punkt der Diskussion zu unterstellende - Minderung von Erfolgs- und Handlungsunwert zu kompensieren vermag. Dabei stellt sich zunächst die Frage, ob in allen Fällen des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB eine solche besondere Pflicht angenommen werden kann. Diese Frage scheint für die Fälle eines "besonderen Rechtsverhältnisses" klar und eindeutig beantwortbar zu sein. Ein Schiffsoffizier, der einen Passagier aus dem Rettungsboot drängt, um selbst dessen Platz einzunehmen, verstößt nicht nur gegen § 212 StGB, sondern auch gegen die §§ 29 Abs.2-4, 106, 109 Seemannsgesetz Ein Zivildienstleistender, der sich bei einem dienstlichen Einsatz auf Kosten der körperlichen Unversehrtheit eines Dritten rettet, macht sich nicht nur einer rechtswidrigen Körperverletzung (§§ 223 StGB), sondern auch eines Verstoßes gegen die Bestimmung des § 27 III ZDG schuldig, die dem Zivildienstleistenden auferlegt, die mit dem Dienst verbundenen Gefahren auf sich zu nehmen. Insofern läßt sich behaupten, der Schiffsoffizier und der Ersatzdienstleistende verstießen nicht nur gegen die aus dem Tötungs- bzw. Verletzungsverbot in den Fällen einer von § 34 StGB nicht erfaßten Notlage resultierende, sondern gegen eine weitere Gefahrtragungspflicht. Fraglich ist indes, ob der Verstoß gegen dienstliche Gefahrtragungspflichten eine Unrechtsminderung zu kompensieren vermag, die so erheblich ist, daß sie auch bei schwersten Straftaten einen Strafverzicht ermöglicht. Die hier auftretenden Zweifel verdichten sich zur Gewißheit, wenn man berücksichtigt, daß etwa der Verstoß gegen § 27 II! ZDG nur mit Disziplinarmaßnahmen, nämlich mit Verweis, Ausgangsbeschränkung oder Geldbuße geahndet werden kann (§ 59 ZDG). An der damit festgelegten Einschätzung des Unrechts einer Verletzung der in § 27 II! ZDG statuierten Pflicht scheitert das Kompensationsmodell, 47 Freilich ergibt sich dann die unerfreuliche Konsequenz, daß der einzelne zu Handlungen verpflichtet sein kann, die ihm unzumutbar sind; kritisch zur "Zumutbarkeitsregelung" beim entschuldigenden Notstand (§ 22 E 1925) deshalb Beling, GS 91 (1925), S. 364: "Nun gibt es vielleicht keinen Ausdruck, der das Nichtrechtswidrigsein anschaulicher vor Augen stellte, als der Ausdruck: es werde mir dies und das nicht zugemutet." Dazu und zu der diesbezüglichen Kontroverse Belings mit Goldschmidt vgl. Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, S. 446 f.

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

222

soweit es auf diese Regelung (und entsprechende Regelungen) abstellt48 • Die Besonderheit der spezifischen Gefahrtragungspflichten, deren Verletzung die aus der Kollisionslage resultierende Unrechtsminderung ausgleichen soll, kann also nicht in ihrer besonderen rechtlichen Qualität, in ihrem Charakter als berufsspezifische Pflichten liegen; entscheidend ist vielmehr, daß diese Pflichten die aus den allgemeinen strafrechtlichen Bestimmungen resultierenden Handlungs- und Unterlassungspflichten über die allgemein geltenden Grenzen hinaus in Bereiche erhöhten Risikos ausweiten, sie also inhaltlich verändern. Die speziellen Gefahrtragungspflichten "erweitern den personalen Geltungsbereich des Verbots über den normalen Adressatenkreis hinaus, indem sie für besonders verpflichtete Personen die Möglichkeiten erlaubten Verhaltens stärker beschränken"4u. Die speziellen Gefahrtragungspflichten verstärken nicht die aus den allgemeinen strafrechtlichen Ge- und Verboten folgenden Pflichten Uedenfalls nicht in einem relevanten Maße), sie erweitern sie. Betroffen ist die Reichweite, nicht die Intensität dieser Pflichten. Das aber bedeutet, daß im Bereich der allgemein geltenden Verletzungsverbote ein erhöhtes Unrecht der Tat nicht mit einer besonderen Gefahrtragungspflicht des Täters begründet werden kann. Auch in den Fällen der Verursachung der Gefahr durch den Täter läßt sich eine Erhöhung des Tatunrechts mit der Verletzung einer unrechtsrelevanten besonderen Gefahrtragungspflicht nicht begründen. Da hier ein besonderes Rechtsverhältnis als Quelle dieser Pflicht nicht in Betracht kommt, bliebe nur der Rückgriff auf eine aus der Gefährdung des potentiellen Notstandsopfers resultierende quasi-Garantenpflicht. In diesem Sinne meint Rudolphi, die Annahme einer "erhöhten Pflichtbindung" beruhe in den Fällen der verschuldeten Notstandslage "auf ähnlichen Gedanken wie etwa die Garantenstellung der Ingerenz bei den unechten Unterlassungs delikten" 50. Eine solche Konstruktion aber ist aus zwei Gründen problematisch. Zum einen besteht die Gefahr, in die der Täter das potentielle Opfer gebracht hat, in den typischen Fällen des § 35 StGB ausschließlich in der Möglichkeit einer Verletzung durch den Täter. Es ist aber ganz ungereimt, dem Täter eine gesteigerte Pflicht, das Opfer nicht zu verletzen, mit der Begründung aufzuerlegen, er habe eine Situation geschaffen, in der für ihn diese Verletzung naheliege5t • Zum andern aber kann eine "Garantenpflicht" , die sich inhaltlich in der Verpflichtung des Täters erschöpft, das Opfer nicht rechtswidrig zu verletzen, nicht zur Begründung eines erhöhten Unrechts der 48 Auf § 27 ZDG berufen sich Schräder/Lenckner, § 35 Rdnr.29.

49 50

51

in diesem Zusammenhang etwa Schänke/

Küper, Grund- und Grenzfragen rechtfertigender Pflichtenkollision, S. 44. Ist die Teilnahme an einer Notstandstat strafbar?, S.83. Zu diesem Argument vgl. schon oben S. 145.

RudoZphi,

IV. Das Kompensationsmodell: Der entschuldigende Notstand

223

rechtswidrigen Verletzung herangezogen werden. Verletzt ist in diesem Falle nur eine einzige Pflicht, nämlich die, das Opfer nicht rechtswidrig zu verletzen. Darin unterscheidet sich der Fall von den Fällen einer "echten" Garantenpflicht, in denen neben das allgemeine, für alle geltende Verletzungsverbot eine besondere Pflicht tritt, das Opfer vor Schaden zu bewahren. Hier unterscheidet sich die "besondere" Pflicht inhaltlich von der des allgemeinen neminem laedere und kann daher zu deren Verstärkung bzw., im Falle ihrer Verletzung, einer Erhöhung des Tatunrechts führen. Dagegen ist in den Fällen des § 35 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 Alt. 1 die angenommene besondere Pflicht, die sogenannte Gefahrtragungspflicht, mit der auf den Einzelfall bezogenen Konkretisierung der allgemeinen Pflicht, niemanden rechtswidrig zu verletzen, inhaltlich identisch; ihre Verletzung begründet daher kein, gegenüber dem aus der Verletzung des strafrechtlichen Verbots resultierenden, besonderes oder erhöhtes Unrecht. Tatsächlich meint der Begriff der besonderen Gefahrtragungspflicht im Kontext der Diskussion zu § 35 StGB etwas anderes als die Erweiterung oder "Intensivierung" allgemeiner Handlungs- oder Unterlassungspflichten; er bezieht sich auf die Voraussetzungen, unter denen die Verletzung bestimmter Pflichten entschuldigt werden kann, nicht auf diese selbst. Die Zuerkennung einer bestimmten Gefahrtragungspflicht bedeutet dann die Feststellung, daß der Betroffene sich auf bestimmte anerkannte Entschuldigungsgründe nicht berufen kann. Erweitert wird nicht der Bereich der Handlungspflichten, sondern der der Zumutbarkeit der Erfüllung dieser Pflichten52 • In diesem Sinne wird der Begriff verstanden, wenn man der Regelung des § 6 WStG, die ausdrücklich die Entschuldigung ausschließt, eine besondere Gefahrtragungspflicht entnimmt53• Nur in diesem Sinne aber kann auch in den Fällen des § 35 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 Alt. 1 von einer besonderen Gefahrtragungspflicht des Täters, der die Gefahr verursacht hat, die Rede 52 In diesem Sinne verstehe ich auch Küper, wenn er den speziellen Notpflichten die Funktion zuerkennt, den personalen Geltungsbereich des Verbots über den normalen Adressatenkreis hinaus zu erweitern und die Feststellung anschließt, "Entsprechendes" gelte für die Entschuldigung nach § 35 (Küper, Grund- und Grenzfragen rechtfertigender Pflichtenkollision, S.44). 53 Diese doppelte, einerseits unrechts relevante, andererseits schuldrelevante (eine Entschuldigung ausschließende) Rolle der Gefahrtragungspflicht korrespondiert präzise mit der ambivalenten Funktion der - wesentlich am Grad der eigenen Gefährdung des Täters orientierten - "Zumutbarkeit" der Hilfeleistung in § 323 C, der bald pflichtbegrenzende, bald nur entschuldigende Wirkung zukommt (so richtig SK/Rudolphi, § 323 C Rdnr. 24; Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen und Strafgesetz, 1974, S. 90 ff.); dagegen sieht die h. M. (BGHSt 17, 177; LK/Mösl, 9. Aufl., § 330 C Rdnr. 19, 22; Lackner, § 323 c Anm. 4) in der Zumutbarkeit ein die Hilfeleistungspflicht begrenzendes Tatbestandsmerkmal, während eine dritte Meinung sie umgekehrt generell der Schuld zuordnet (Dreher/Tröndle, § 323 c Rdnr.lO; Maurach/Schroeder, BT/2, S.37; Welzel, Das deutsche Strafrecht, S.473).

224

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

sein; denn besondere Handlungs- oder Unterlassungspflichten werden für ihn, wie gezeigt, dadurch nicht begründet. Mit anderen Worten: Die im Rahmen der vom Täter "verursachten" Notstandslage relevante besondere "Gefahrtragungspflicht" ist nicht unrechts-, sondern schuldrelevant. Sie umschreibt lediglich die Tatsache, daß in diesen Fällen eine Entschuldigung versagt wird, "begründet" oder "erklärt" diese Regelung aber nicht. b) Der Rückgriff auf die actio Hbera in causa

Die Schwierigkeiten, die einer Deutung des § 35 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 Alt. 1 unter Unrechtsgesichtspunkten entgegenstehen, legen es nahe, auf den Gesichtspunkt des besonderen Motivationsdrucks in der Notstandssituation und eine daraus resultierende Schuldminderung abzustellen. Zu zeigen wäre dann, daß in den Fällen der vom Täter verursachten Gefahr diese Schuldminderung im Ergebnis entfällt. Da der Motivationsdruck als solcher in diesen Fällen weder aufgehoben noch auch nur vermindert ist, wäre entweder zu begründen, daß der besondere Motivationsdruck ausnahmsweise keine relevante Schuldminderung zur Folge hat, oder eine Kompensation dieser Schuldminderung durch schulderhöhende Umstände nachzuweisen54 . Der Rückgriff auf die actio libera in causa, mit dem das Fehlen einer Schuldminderung überwiegend begründet wird, dürfte als Wahl des ersteren Weges zu verstehen sein. Ganz klar wird das freilich nicht, weil das mit diesem Rückgriff gemeinte Zurechnungsmuster infolge der Vagheit der verwendeten Formulierung der letzten Präzision entbehrt. Da als "eigentliche" Fälle der actio libera in causa überwiegend nur die der im Tatzeitpunkt ausgeschlossenen oder verminderten Zurechnungsfähigkeit angesehen werden55 , sieht man sich gehindert, unmittelbar auf diese Rechtsfigur zurückzugreifen. Argumentiert wird daher mit dem "Prinzip, das auch der actio libera in causa zugrundeliegt"56, mit dem "Gesichtspunkt, der ... von der sog. actio libera in causa her bekannt ist"57, mit einer "quasi-actio libera in causa"58 oder mit einer Bestrafung "nach Analogie der actio libera in causa"59. Den Rückgriff auf das der 54 Im letzteren Fall bliebe freilich zu begründen, daß und warum die schulderhöhenden Umstände, nach Schuldquanten gerechnet, genau der aus dem gesteigerten Motivationsdruck resultierenden Schuldminderung entsprechen sollen; zu dem analogen Problem bei der Strafzumessung in den Fällen selbstverschuldeter Trunkenheit vgl. oben S. 140. 55 Vgl. dazu Schönke/Schröder/Lenckner, § 20 Rdnr. 33 a. 58 Schönke/Schröder/Lenckner. § 35 Rdnr.25. 57 Schmidhäuser, AT, S.469. 58 Henkel, Der Notstand nach gegenwärtigem und künftigem Recht, S. 142; Marcetus, Der Gedanke der Zumutbarkeit, S. 68. sv v. Weber, Das Notstandsproblem, S.41 Anm. 1, der die Strafbarkeit aber

IV. Das Kompensationsmodell: Der entschuldigende Notstand

225

actio libera in causa zugrundeliegende Prinzip erläutert Lenckner folgendermaßen: "So wie dort (in den Fällen der actio libera in causa, U. N.) gegen den Täter der volle Schuldvorwurf erhoben wird, obwohl er sich im Augenblick der Tat aus den Gründen des § 20 nicht mehr normgemäß motivieren lassen konnte (Wegfall der Steuerungsfähigkeit), so ist möglicherweise auch hier seine Schuld nicht wesentlich gemildert, wenn er sich in eine Situation begibt, in der seine Steuerungsfähigkeit wegen des besonderen Motivationsdrucks beeinträchtigt ist"60. Aber warum soll der aus der psychischen Zwangslage folgende Schuldminderungsgrund, auf den Lenckner ausdrücklich abhebt, dadurch wieder "aufgehoben"61 werden, daß der Täter sich in eine solche Situation begeben hat? Die Parallele zur actio libera in causa ist trügerisch, wenn man diese mit der h. M. als nur scheinbare Ausnahme des Prinzips der Koinzidenz von Schuld und Tat versteht 62 und demgemäß die actio praecedens als tatbestandsmäßige Handlung deutet. Denn in dieser Interpretation handelt es sich bei der actio libera in causa nicht um ein Zurechnungsprinzip mit eigenem Regelungsgehalt, das es erlaubt, "an sich" vorliegende Rechtfertigungs- bzw. Entschuldigungsgründe unter bestimmten Bedingungen unberücksichtigt zu lassen, wenn der Täter ihre Voraussetzungen vorwerfbar herbeigeführt hat, sondern lediglich um eine Anwendung der allgemeinen dogmatischen Kategorien; um eine Konstruktion, nicht um ein Rechtsprinzip. Als Konstruktion aber ist die actio libera in causa nicht analogiefähig und kennt auch kein zugrundeliegendes Prinzip, auf das bei der Behandlung anderer Fallgruppen zurückgegriffen werden könnte63 • Daß die Fälle einer nicht tatbestandsmäßigen Vorhandlung denen einer tatbestandsmäßigen Vorhandlung nicht analog behandelt werden können, dürfte einleuchten; und das Prinzip, auf dem die actio libera in causa beruht, ist bei dem von der h. M. zugrunde gelegten Verständnis der actio libera in causa schlicht das der Zurechenbarkeit tatbestandsmäßiger Handlungen04 • Die Durchführung der zur actio libera in causa gezogenen Parallele führt folglich zur Annahme der Tatbestandsmäßigkeit der actio praecedens auch bei § 35 StGB. auf die Fälle der vorsätzlichen Provokation einer Notstandslage beschränken will.

Schönke/Schröder/Lenckner, § 35 Rdnr.25. 81 So Schönke/Schröder/Lenckner, § 35 Rdnr.25. 62 So Schönke/Schröder/Lenckner, 20. AufI., § 20 Rdnr.33; anders jetzt die 21. Auflage, vgI. dazu oben S. 17. 83 Die gleichen Schwierigkeiten treten bei dem Versuch auf, im Rahmen der Strafzumessung auf die actio libera in causa zurückzugreifen; dazu oben 5.128 ff. 114 Eine eigene Funktion könnte der actio libera in causa in der Deutung der h. M. allenfalls hinsichtlich des Ausschlusses eines Regreßverbots zukommen; ein solches Verbot wird von der h. M. jedoch nicht akzeptiert (vgl. Schönke/Schröder/Lenckner, Rdnr. 78 f. vor § 13). 60

15 Neumllnn

226

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

Diese Auffassung ist zu § 54 a. F. StGB verschiedentlich vertreten worden85 ; sie läßt sich aber nicht aufrechterhalten und findet im heutigen Schrifttum auch keinen Verteidiger88 . Sie scheitert, von allen anderen Schwierigkeiten abgesehen, jedenfalls daran, daß sie in den Fällen fahrlässiger Gefahrverursachung zwingend zu einer Fahrlässigkeitsstrafe gelangt 67 , während die Ausnahmeregel des § 35 Abs.l Satz 2 Halbs.l und vor allem die "Vorsatzlösung" in Halbs. 2 unmißverständlich deutlich machen, daß hier wegen vorsätzlicher Tatbegehung zu verurteilen ist88 . Zu Recht wendet Rudolphi gegen den Rückgriff auf die fahrlässige actio libera in causa ein, daß die "nur fahrlässige Herbeiführung der Notstandslage einen Schuldvorwurf wegen der vorsätzlichen Notstandstat nicht zu rechtfertigen vermag"89. Daher ist im Ergebnis auch die Auffassung Schmidhäusers 70 nicht haltbar, der aus dem Rückgriff auf die actio libera in causa und dem damit verbundenen Anknüpfen an das vorausgegangene Verhalten völlig zu Recht die Konsequenz zieht, daß bei einer im Notstand begangenen Tat "je nach subjektiver Zurechnung für den vorangegangenen Zeitpunkt (ein) vorsätzliches oder fahrlässiges Tötungsdelikt in Betracht" kommt. c) Die kriminalpolitische Deutung

Die bisher plausibelste Deutung der Ausnahmeregelung des § 35 Abs. 1 Satz 2 haben, soweit die zweite Fallgruppe in Frage steht, Roxin und Jakobs vorgelegt71. Wie die Regelung des § 35 Abs. 1 Satz 1 selbst könnten auch die in § 35 Abs. 1 Satz 2 statuierten Einschränkungen nur von der Strafzwecklehre her verständlich gemacht werden: So wenig die Entschuldigung der Tat im Falle des § 35 StGB mit einem vorgeblichen "Nicht-anders-handeln-Können" des Täters erklärt werden könne, so wenig ihre Versagung mit einem nicht zu begründenden geringeren Motivationsdruck der in § 35 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 Alt. 2 erwähnten Personen. Vielmehr sei die Regel des § 35 Abs. 1 Satz 2 wie die Aus6,5

Vgl. oben S. 208.

oi Ähnlich allerdings die Auffassung Schmidhäusers, jedoch auf der Grund-

lage einer Systematik, die es erlaubt, schon die actio praecedens als rechtsgutsverletzende Handlung zu deuten; vgl. Schmidhäuser, AT, S. 469. 67 So konsequent Siegert, Notstand und Putativnotstand, S. 96. 68 Die kritisierte Auffassung wäre zu der Annahme gezwungen, daß eine Strafmilderung nach § 35 Abs. 1 S. 2 Halbs. 2 auch und nur bei vorsätzlicher Herbeiführung der Gefahr in Betracht komme; diese Annahme ist jedoch völlig unplausibel. 69 SK/Rudolphi, § 35 Rdnr. 11. 7G SchmidhäuseT, AT, S.469. 71 Jakobs, Schuld und Prävention, 1976; Roxin, "Schuld" und "Verantwortlichkeit" als strafrechtliche Systemkategorien; ders., Zur jüngsten Diskussion über Schuld, Prävention und Verantwortlichkeit im Strafrecht.

IV. Das Kompensationsmodell: Der entschuldigende Notstand

227

nahme des § 35 Abs. 2 Satz 2 präventiv motiviert. In den von § 35 StGB erfaßten Notstandsfällen sei eine Sanktion im allgemeinen weder spezialpräventiv noch generalpräventiv erforderlich. Spezialpräventiv könne auf eine Sanktion verzichtet werden, "weil der Täter sozial voll integriert und nur durch die außergewöhnliche Situation zu seiner wegen des Rettungserfolges auch im Unrecht wesentlich geminderten Handlung gebracht worden ist"72; auch unter dem Aspekt der Generalprävention bestehe kein Strafbedürfnis, "weil die Seltenheit solcher im einzelnen meist unvergleichbarer Sachverhaltsgestaltungen es als überflüssig erscheinen läßt, die Abweichung vom erwünschten Regelverhalten um der Allgemeinheit willen zu sanktionieren, und weil der für das ,Handeln in Gefahr' nicht ausgebildete Durchschnittsmensch, wenn er doch einmal in eine derartige Lage gerät, ohnehin schwerlich die Norm bedenken und sich durch sie motivieren lassen würde"73. Dagegen hätte es "gesamtgesellschaftIich äußerst schädliche Folgen", wenn sich Soldaten, Polizisten, Feuerwehrleute usw. ihren Pflichten und den damit verbundenen Gefahren straflos entziehen könnten; hier sei eine Bestrafung daher general präventiv geboten. Diese Deutung dürfte jedenfalls hinsichtlich der Versagung der Entschuldigung gegenüber den in einem besonderen Rechtsverhältnis stehenden Personen zwingend sein. Auch hinsichtlich der präventiven Deutung der Entschuldigung selbst bleibt wohl nur die Frage zu diskutieren, ob sich die Gesichtspunkte der Prävention unmittelbar in einem Strafverzicht niederschlagen, oder ob das Zurücktreten general- und spezial präventiver Bedürfnisse die Normierung eines vom Schuldprinzip geforderten oder doch nahegelegten Entschuldigungsgrundes ermöglicht7 4 • Mit dieser Feststellung ist für das umfassende Problem, ob und inwieweit präventive überlegungen im Rahmen der Schulddogmatik normativ fruchtbar gemacht oder gar innerhalb des richterlichen "Entscheidungsprogramms" an deren Stelle gesetzt werden können, nichts ausgesagt75 . Es geht hier, bei der Deutung des § 35 StGB, ledig72 Roxin, "Schuld" und "Verantwortlichkeit" als strafrechtliche Systemkategorien, S. 183. 73 Roxin, "Schuld" und "Verantwortlichkeit" als strafrechtliche Systemkategorien, S. 183. 74 Ich neige zu der letzteren Auffassung, die einerseits der Bedeutung des Schuldprinzips gerecht wird (dazu Schöneborn, ZStW 88 [1976], S.357), andererseits der Frage Rechnung trägt, warum bei gleichem "Schuldsachverhalt" (Einengung des Freiheitsspielraums durch starken Motivationsdruck) teils exkulpiert wird, teils aber nicht (vgl. Roxin, Zur jüngsten Diskussion über Schuld, Prävention und Verantwortlichkeit, S. 184). Unter diesem Aspekt führt die Diskussion auf die Frage zurück, welche Grenzen der Verwirklichung des Schuldprinzips im Strafrecht gesetzt sind. Dazu grundlegend Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 212 ff. und passim. 75 Zu dieser Diskussion Burkhardt, GA 1976, S. 321 ff.; Stratenwerth, Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips, passim. 15*

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

lich um die Erklärung gegebener normativer Regelungen mit Hilfe präventiver Gesichtspunkte, nur um die Erklärungs/unktion, nicht um die Entscheidungs/unktion kriminalpolitischer Deutungsschemata. Daß sich die Regelung des § 35 Abs.l Satz 2, soweit es um die Versagung der Entschuldigung gegenüber den Trägern bestimmter sozialer Rollen geht, im Rückgriff auf präventive überlegungen befriedigend erklären läßt, ist aber kaum zu bestreiten. Das gilt freilich nicht für die Fälle der vom Täter verursachten Notstandslage. Roxin sieht allerdings auch hier hinter dem Ausschluß der Entschuldigung generalpräventive Erwägungen: "Gerade wegen der Schwierigkeit einer normativen Regelung von Extremkonstellationen muß der Gesetzgeber alles daran setzen, schon die Entstehung solcher Situationen zu verhindern. Zu diesem Zweck ist es general präventiv notwendig, den einzelnen dadurch zu erhöhter Vorsicht anzuhalten, daß ihm die Exkulpation versagt wird, wenn er sich in Gefahren begibt, aus denen er sich voraussehbarerweise nur durch die Schädigung Dritter wieder befreien kann" 76. Aber fraglich ist schon, ob die "Schwierigkeit einer normativen Regelung" ein hinreichend plausibles Motiv für die Zielsetzung darstellt, die Entstehung von Notstandssituationen zu verhindern. Näher liegen dürfte, wenn man das Ziel voraussetzt, der Gesichtspunkt der Unvermeidbarkeit einer Rechtsgüterbeeinträchtigung in derartigen Situationen. In diesem Fall müßten allerdings auch Konsequenzen für § 34 StGB gezogen werden77 • Darüber hinaus erscheint die vorausgesetzte Motivationsleistung der Regelung als problematisch, und zwar aus einem doppelten Grund: Zum einen kann, anders als in den Fällen der "besonderen Rechtsverhältnisse" , nur bei einem Bruchteil der Betroffenen eine Kenntnis der Regelung vorausgesetzt werden; zum andern aber wird jemand, der sich durch die Erkenntnis der Leib- und Lebensgefährlichkeit einer Handlung nicht von dieser abbringen läßt, sich von dem Risiko der Strafverfolgung kaum zu einem anderen Verhalten motivieren lassen. Im allgemeinen wird dieses Risiko dem Täter, selbst wenn er die Vorschrift kennt, gar nicht zum Bewußtsein kommen. Denn dieses Risiko würde nur dann relevant, wenn, womit der Täter nicht rechnet, die Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit sich zu realisieren drohte; wenn sich darüber hinaus eine Rettungschance durch einen Eingriff in elementare Rechte Dritter eröffnen würde und es ihm gelänge, diese Chance, möglicherweise im Kampf mit dem notwehrbe76 Roxin, "Schuld" und "Verantwortlichkeit" als strafrechtliche Systemkategorien, S. 185. 77 Nach h. M. schließt das Verschulden der Notstandslage durch den Täter die Rechtfertigung nach § 34 StGB nicht aus; vgl. Schönke/Schröder/Lenckner, § 34 Rdnr.42 m. Nachw. Allerdings kann nach Schönke/Schröder/Lenckner, a.a.O., unter den entsprechenden Voraussetzungen auf die Figur der actio illicita in causa zurückgegriffen werden.

IV. Das Kompensationsmodell: Der entschuldigende Notstand

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rechtigten Rechtsgutsinhaber, zu verwirklichen. Allerdings ist Roxin zuzugeben, daß in bestimmten Fällen die Spekulation auf die Straflosigkeit der Rettungshandlung eine Rolle spielen könnte. Man denke etwa an den Fall des Angehörigen der Volksarmee der DDR, der bei seiner Flucht zwei Grenzsoldaten erschossen hatte und sich (u. a.) auf Notstand berief78 ; in derartigen Fällen kann die Erwartung, in der Bundesrepublik nicht verurteilt zu werden, für das Eingehen der Gefahr durchaus von Bedeutung sein. Eine Interpretation des § 35 StGB aber kann auf diese eher atypischen Fälle wohl kaum gestützt werden. Wie bei Roxin steht auch bei Jakobs die Interpretation der Ausnahmeregelung des § 35 Abs. 1 Satz 2 im Rahmen einer Konzeption, die die an die Voraussetzungen strafrechtlicher Schuld gestellten Anforderungen als Konsequenz präventiver Bedürfnisse deuten will. Schuld wird durch Generalprävention im Sinne der Einübung von Rechtstreue 79 begründet und nach den general präventiven Bedürfnissen bemessen80 • Einübung von Rechtstreue ist dort erforderlich, wo das Vertrauen in die Ordnung und damit deren Stabilität durch die Enttäuschung von Erwartungen erschüttert wird. Von den drei Möglichkeiten, die Enttäuschung zu verarbeiten - Aufgabe der Erwartung, Vorsorge gegen künftige Enttäuschungen und "kontrafaktisches" Festhalten an der Erwartung - realisiert das Strafrecht vor allem die letztere: Durch Zurechnung des fehlerhaften Verhaltens, deren Ernsthaftigkeit die Strafe zum Ausdruck bringt, wird statt der Erwartung deren Enttäuschung für fehlerhaft erklärt und damit das Festhalten an der Erwartung ermöglicht. In den Fällen des entschuldigenden Notstands sei die Enttäuschung des Notstandsopfers wegen der Seltenheit dieser Fälle vernachlässigbar; die Erwartung der Allgemeinheit könne hier durch Erklärung der Tat als Folge eines unglücklichen Zufalls stabilisiert werden, eine Sanktion gegen den Täter sei daher verzichtbar. Diese Interpretation des entschuldigenden Notstands ermöglicht es, die beiden Fallgruppen des § 35 Abs. 1 Satz 2 auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen; denn beide Male scheidet eine Erklärung über Zufall aus. Für den Feuerwehrmann ist die spezifische Notsituation nicht Zufall, weil für seinen Beruf typisch; für den Verursacher der Gefahr deshalb nicht, weil von ihm selbst zurechenbar herbeigeführt. Die Frage, wann die Notstandslage dem Täter in diesem Sinne zurechenbar ist, wird von Jakobs dahingehend beantwortet, daß jedenfalls deren OLG Hamm, JZ 1976, S. 610. Schuld und Prävention, S. 10; zum Unterschied zwischen positiver und negativer Generalprävention vgl. Neumann/Schroth, Neuere Theorien von Kriminalität und Strafe, S. 34. 80 Jakobs, Schuld und Prävention, S.9. Im gleichen Sinne ders., Strafrecht 78 78

Jakobs,

AT S. 418 f.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

Herbeiführung durch rechtswidriges Verhalten genüge; ob auch "sozialinadäquates" bzw. "grob sittenwidriges" Verhalten ausreicht, bleibt ausdrücklich offen81 . Voraussehbarkeit der Gefahr oder gar der Notstandslage wird nicht gefordert; entscheidend ist die Fehlerhaftigkeit des Verhaltens als solche: "Die Bereitschaft, unter Verzicht auf eine strafrechtliche Sanktion sich mit der Definition als zufälliges Unglück zu begnügen, läßt nach, wenn der Zufall bei nicht ordnungsgemäßem Verhalten auftritt"82. Das Zurechnungsprinzip, das hier zugrundegelegt wird, ist das des versari in re illicita in seiner strengen Form83 : Dem Täter wird die Tat zugerechnet, weil die Notstandslage auftrat, als er sich auf "verbotenem Terrain"84 bewegte. Damit wird die Strafbarkeit in den Fällen des § 35 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 Alt. 1 auf die Fälle des fehlenden Pflichtwidrigkeitszusammenhangs zwischen pflichtwidrigem Vorverhalten und Gefahr bzw. Notstandslage, für die das Fischwildereibeispiel 85 exemplarisch ist, ausgedehnt. Diese Ausweitung erscheint unangemessen. Ob sich ein Ertrinkender auf Kosten eines anderen straflos retten darf oder nicht, kann nicht davon abhängen, ob er in dem privaten Gewässer mit oder ohne Erlaubnis der Eigentümer geschwommen ist. Der Rückgriff auf das versari in re illicita ist auch keine zwingende Konsequenz aus dem von Jakobs zugrundegelegten Deutungsschema, im Gegenteil: Es liegt nahe, die Frage, wann dem Notstandstäter die Notstandslage zuzurechnen ist, anhand der allgemeinen strafrechtlichen Zurechnungsprinzipien und somit unter Berücksichtigung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs zu entscheiden. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen im einzelnen dem Täter die Entschuldigung wegen Selbstverursachens der Gefahr zu versagen ist, ist unter dem hier interessierenden Aspekt freilich sekundär gegenüber dem Problem der formalen Struktur der Zurechnung in den Fällen eines zurechnungsrelevanten Vorverhaltens. Der Beitrag, den die Vertreter einer präventionsorientierten Schuldinterpretation zu diesem 81 Schuld und Prävention, S. 22 f. Fn. 68. 82 Schuld und Prävention, S.22. Jakobs weist mit Recht darauf hin, daß das Reichsgericht in diesem Sinne judiziert hat; abgestellt wurde nicht auf die Vorhersehbarkeit der Notstandslage, sondern auf die Rechtswidrigkeit des Vorverhaltens; vgl. einerseits RGSt 54, 338 (340 f.), 72, 19 (19/20): keine Entschuldigung bei Gefahr einer Strafanzeige wegen einer vom Täter begangenen Straftat, andererseits RGSt 36, 336 (340 f.): Entschuldigung, wenn der Beischlaf unter Ehegatten voraussehbarerweise zur Notwendigkeit einer Abtreibung aus medizinischen Gründen geführt hat. 83 Denn eine gefährliche Tendenz des nicht ordnungsgemäßen Verhaltens in Richtung auf den Eintritt des Erfolgs wird nicht vorausgesetzt. Zu den verschiedenen Formen der versari-Haftung in ihrer historischen Entwicklung vgI. Schubarth, ZStW 85 (1973), S. 758. 84 Jakobs, Schuld und Prävention, S. 22. 86 vgl. unten Fn.92.

IV. Das Kompensationsmodell: Der entschuldigende Notstand

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Problem geleistet haben, ist zumindest in seiner kritischen Komponente unanfechtbar: Die Ausnahmeregelung des § 35 Abs. 1 Satz 2 kann mit den von der strafrechtlichen Schulddogmatik bereitgestellten Regeln nicht erfaßt werden. Weder der Gesichtspunkt des Anders-handelnKönnens noch der des erhöhten Motivationsdrucks noch andere Prinzipien oder Konstruktionen der Schuld- wie der Unrechtsdogmatik vermögen die Regelung des § 35 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 Alt. 1 zu erklären. Andererseits erscheinen auch die angebotenen Deutungen ihrerseits als diskussionsbedürftig, und zwar weniger in ihrem sachlichen Gehalt als in ihrem methodischen Ansatz. Roxin und Jakobs ziehen aus der Erkenntnis der Unzulänglichkeit der Schulddogmatik die Konsequenz, daß die Regelung des § 35 StGB wie andere Regelungen im Bereich der Schuldausschließungsgründe anhand kriminal politischer Deutungsmuster interpretiert werden müssen86 • Es ist aber zu fragen, ob mit dieser anabasis eis allo genos der Bereich nonnativer strafrechtlicher Zurechnungsregeln nicht zu früh verlassen wird. Auf diese Frage wird zurückzukommen sein. d) Lösungsvorscltlag: Die Interpretation im Rahmen des "Stufenmodells"

Der oben an der actio libera in causa-Lösung geübten Kritik lag die Deutung zugrunde, die die herrschende Meinung dieser Rechtsfigur gibt. Versteht man die actio libera in causa dagegen nicht als scheinbare, sondern als echte Ausnahme vom Prinzip der Koinzidenz von Tat und Schuld, so entfallen die vorgebrachten Bedenken jedenfalls insoweit, als sie sich gegen die - im "Tatbestandsmodell" notwendige - Annahme fahrlässiger Tatbegehung bei fahrlässiger Herbeiführung der Gefahr richten. Das Prinzip der actio libera in causa erscheint dann zumindest als taugliche Ausgangsbasis für die Rekonstruktion der zugrundeliegenden Zurechnungsstruktur; die vorzuschlagende Deutung des § 35 Abs.l Satz 2 Halbs.l Alt. 1 StGB soll deshalb im Rahmen einer Auseinandersetzung mit der so verstandenen actio libera in causa-Lösung entwickelt werden. Die Schwierigkeiten, die sich dem Rückgriff auf die nach dem Ausnahmemodell gedeutete actio libera in causa bei § 35 StGB entgegenstellen, resultieren nicht aus der Konstruktion, sondern aus den Voraussetzungen der Rechtsfigur. Gefordert wird, daß den Täter zum Zeitpunkt der actio praecedens ein Verschulden hinsichtlich der späteren 88 Nach Roxin schließt die präventive Deutung des § 35 die Interpretation unter dem Aspekt geminderter Schuld bzw. geminderten Unrechts freilich nicht aus; so Raxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S.47 Anm.11; ders., Zur jüngsten Diskussion über Schuld, Prävention und Verantwortlichkeit im Strafrecht, S. 288 Fn.34.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

Tatbegehung trifft; § 35 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 StGB setzt aber, anders als § 54 a. F. StGB, seinem Wortlaut nach nicht voraus, daß der Täter die Gefahr verschuldet hat; es genügt die VeTUrsachung durch den Täter. In diesem Sinne wurde die Bestimmung ursprünglich auch verstanden87• Inzwischen hat sich aufgrund der Untersuchung Bleis zur Gesetzesgeschichte des § 35 StGB88 ein Meinungsumschwung dahingehend vollzogen, daß die Formulierung sachlich keine Änderung gegenüber dem Erfordernis der "verschuldeten" Notstandslage in § 54 a. F. StGB bedeute89 . Darin liegt eine doppelte Korrektur des Gesetzes: Statt auf die Gefahr wird auf die Notstandslage, statt auf das Verursachen durch den Täter auf dessen Verschulden abgestellt. Zu prüfen ist, wie weit diese Korrektur für den Rückgriff auf die actio libera in causa erforderlich bzw. hinreichend ist. Nicht ausreichend erscheint die Ersetzung der "verursachten Gefahr" durch die "verschuldete Gefahr"; Vorsatz oder Fahrlässigkeit müssen sich nach den Regeln der actio libera in causa auf die tatbestandsmäßige Handlung beziehen. Freilich könnte man daran denken, die Anforderungen an die Voraussetzungen der actio libera in causa in diesem Punkt mit der Begründung, es gehe nicht um die "Anwendung" der actio libera in causa, sondern um den Rückgriff auf ihren Grundgedanken, zu lockern und ein Verschulden in einem weiteren Sinne genügen zu lassen. Soll aber der Gedanke der actio libera in causa im Sinne der Kompensation eines zum Tatzeitpunkt fehlenden Schuldrnoments durch ein früheres "Verschulden" überhaupt noch eine Rolle spielen, wird man jedenfalls verlangen müssen, daß sich das Verschulden in irgendeinem Sinne auf die Verletzung des Opfers bezieht9o . Das ist nicht der Fall, wenn man ein, wie auch immer zu 87 So Jescheck, AT, 2. Aufl., 1972, S.363 bei und in Fn. 5 a; Maurach, AT, 4. Aufl., 1971, S.400; Mezger/Blei, AT, 15. Aufl., 1973, S. 225 f.; Stratenwerth, AT, 2. Aufl., 1976, Rdnr.606; Stree, in: Roxin, Stree, Zipf, Jung, Einführung in das neue Strafrecht, 2. Aufl., 1975, S. 59. 88 Blei, JA 1975, StR 77. 89 Jescheck, AT, S.392; Schönke/Schröder/Lenckner, § 35 Rdnr.26; Maurach/Zipf, AT/I, S. 430 f.; unter Rückgriff auf den "Entschuldigungsgedanken" des § 35 Eser, Studienkurs I, 3. Aufl., 1980, Nr. 19 Rdnr. A 18; a. M. Baumann, AT, S.477 (Selbstverursachung ausreichend); SK/Rudolphi, § 35 Rdnr. 16 (objektive Pflichtwidrigkeit ausreichend). 90 Unter der Herrschaft des § 54 a. F., der ausdrücklich von einem "unverschuldeten Notstand" sprach, wurde dieses Erfordernis teilweise aus dem im technischen Sinne verstandenen Merkmal des Verschuldens abgeleitet. Am klarsten ist dieser Zusammenhang bei Frank dargestellt: "Verschuldet ist der Notstand nicht schon dann, wenn es die Gefahr ist ... Es muß aber die Verschuldung deshalb vorzugsweise auf die Verletzung dritter Interessen bezogen werden, weil die Gefährdung der eigenen Person nicht rechtswidrig ist. Berücksichtigt man das, so wird man sagen dürfen: Der Notstand ist verschuldet, wenn der Gefährdete vorausgesehen hat oder ... hätte voraussehen können, daß eine Rettung nur auf Kosten dritter Interessen möglich

IV. Das Kompensationsmodell: Der entschuldigende Notstand

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verstehendes, Verschulden der Gefahr als solcher ausreichen läßt. Denn die Gefahr, von der § 35 Abs. 1 Satz 2 spricht, ist, wie der Bezug auf Satz 1 ergibt, die Gefahr für Leben, Leib und Freiheit des Täters bzw. der nahestehenden Person. Ein "Verschulden" sich selbst gegenüber aber vermag das Fehlen eines Schuldmoments bei der Verletzung eines anderen nicht zu kompensieren. Auch bei weitherzigster Bestimmung des Gedankens der actio libera in causa kann das Verschulden der Gefahr daher die auf dieses Prinzip gestützte Haftung für die Notstandstat nicht begründen. Nun verlangt die h. M. entgegen dem Wortlaut der Bestimmung, daß sich das Verschulden des Täters auf die Herbeiführung nicht nur der Gefahr, sondern der Kollisionslage selbst beziehen müsse, d. h. "auf die Zwangslage, die Gefahr allein durch die Tat abwenden zu können"91. Auch diejenigen, die ein Verschulden nicht verlangen und die "pflichtwidrige" Verursachung genügen lassen, stellen teilweise auf die Notstandslage ab92 • Bei einer solchen Interpretation des § 35 StGB wäre die Möglichkeit, auf den "Grundgedanken" der actio libera in causa zurückzugreifen, nicht von der Hand zu weisen. Die Zulässigkeit einer derartigen berichtigenden Auslegung erscheint allerdings problematisch. Konnte sich die h. M. zu § 54 a. F. StGB, die ebenfalls ein Verschulden der Kollisionslage verlangte93 , noch auf die sein werde, und daher billigerweise die Vermeidung der Gefahr von ihm zu erwarten war" (Frank, 16. Aufl., Anm. I 5 zu § 54). Ausdrücklich auf die Gefährdung fremder Rechte bezieht das Verschulden auch Welzel, Das deutsche Strafrecht, S. 180: Verschuldet sei die Notlage nur dann, "wenn auch die Notwendigkeit der Verletzung fremder Rechte pflichtwidrig herbeigeführt war" ; ähnlich Maurach, AT, 3. Aufl., 1965 : Der Täter müsse "die Notstandslage in pflichtwidriger Weise . . . herbeigeführt, fremde Interessen pflichtwidrig nicht berücksichtigt haben" (S. 334), (beide gleichfalls zu § 54 a. F.). 91 Schönke/Schröder/Lenckner, § 35 Rdnr.26. 92 Maurach, AT, 4. Aufl., 1971, S. 400; SK/Rudolphi, § 35 Rdnr. 16. Irreführend ist das zur Illustration des zwischen verschuldeter (bzw. pflichtwidriger) Herbeiführung der Gefahr einerseits, der Notstandslage andererseits verwendete Beispiel des Fischwilderers, "der bei seiner verbotenen Tätigkeit ins Wasser fällt und, um sich zu retten, Eingriffe gegen fremde Körperintegrität vornimmt" (Maurach/Zipf, AT/I, S. 431; im gleichen Sinne schon angeführt bei LK/Baldus, 9. Auf!., § 54 Rdnr.6). Hier handelt es sich nicht um den Unterschied zwischen Verschulden der Gefahr einerseits, der Notstandslage andererseits, sondern um das ganz andere Problem, ob ein Verschulden der Gefahr schon dann bejaht werden kann, wenn der Täter anläßlich einer verbotenen Tätigkeit in diese Gefahr geraten ist. Es geht also um die Frage, ob bei der Feststellung des Verschuldens der Gefahr auf das Prinzip des versari in re illicita zurückgegriffen werden darf; zur Illustration dieser Frage wurde das Beispiel seinerzeit in die Diskussion eingeführt; vgl. v. Weber, Das Notstandsproblem, S.40; Oetker, VDA 11, S.344. DS Frank, 16. Aufl., 1925, Anm. I 5 zu § 54; LK/Baldus, 9. Aufl., § 54 Rdnr. 6; Henkel, Der Notstand nach gegenwärtigem und künftigem Recht, S. 140; Welzel, Das deutsche Strafrecht, S. 180.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

Mehrdeutigkeit der Formulierung "in einem unverschuldeten ... Notstande" berufen, so ist das Merkmal der verschuldeten Kollisionslage heute angesichts der eindeutigen Formulierung des § 35 StGB nur durch eine Auslegung contra legern zu gewinnen. Ob die Tatsache, daß die Alternative: Verschulden der Gefahr oder Verschulden der Kollisionslage, bei den Beratungen des Gesetzentwurfs nicht diskutiert wurdell 4, dafür eine hinreichende Legitimation gibt, erscheint zweifelhaft. Wenn § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB von der Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit des Täters bzw. einer nahestehenden Person spricht, und Satz 2 sich mit der Formulierung "weil er die Gefahr verursacht hat" ausdrücklich auf diesen Gefahrbegriff bezieht, dann ist auch die in Satz 2 in Bezug genommene Gefahr eben die für Leben, Leib oder Freiheit des Täters1l5 • Daran gibt es nichts zu deuteln. Eine Auslegung gegen den Wortsinn unter Berufung auf die Gesetzgebungsgeschichte bzw. den Willen des Gesetzgebers mag zulässig sein, wenn sich aus den Materialien zweifelsfrei ergibt, daß nach Auffassung der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten ein Wort entgegen seinem umgangssprachlichen Gebrauch in einer spezifischen fachsprachlichen Bedeutung verstanden werden soll. Aber unter Berufung auf das Schweigen der Beteiligten einen Gesetzesbegriff entgegen dessen ausdrücklicher gesetzlicher Explikation auszulegen, heißt, an die Stelle des Gesetzes die Gesetzesgeschichte zu setzen. Daß derartige Anstrengungen zu einer korrigierenden Auslegung des § 35 Abs. 1 Satz 2 8tGB unternommen werden, mag verwundern angesichts der Tatsache, daß nach überwiegender Meinung die in § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB erwähnten Beispiele die Zumutbarkeit der Hinnahme der Gefahr nicht zwingend zur Folge haben1l8• Der Grund dafür dürfte in der prinzipiellen Bedeutung liegen, die der Frage, ob die Kollisionslage oder lediglich die Gefahr vom Täter verschuldet sein muß, für die Zurechnungsstruktur des § 35 Abs 1 Satz 2 StGB zukommt. Genügt zum Ausschluß der Entschuldigung die (in irgend einem Sinne vorwerfbare) Selbstverursachung der Gefahr, d. h. die Selbstgefährdung des Täters, dann kann die Regelung im Rahmen der dogmatischen Kategorien von "Unrecht" und "Schuld" nicht interpretiert werden. Denn die Selbstgefährdung als solche ist weder unrechtsnoch schuldrelevant; sie vermag daher die in § 35 Abs. 1 StGB vorausgesetzte Minderung der Tatschuld bzw. des Tatunrechts nicht zu kompensieren. Der Rückgriff auf die actio libera in causa, und sei es auch Vgl. Blei, JA 1975, StR S. 81. Dazu schon oben S. 233. 96 Blei, AT, S.210; ders., JA 1975, StR S. 78 f.; Lackner, § 35 Anm.3 a; Schönke/Schröder/Lenckner, § 35 Rdnr.24; Dreher/Tröndle, § 35 Rdnr.lO; Maurach/Zipf, AT/I, S. 430; a. M. Baumann, AT, S. 477. D4

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IV. Das Kompensationsmodell: Der entschuldigende Notstand

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im Wege einer weitherzigen Analogie, würde sich in diesem Fall verbieten. Stellt man nicht auf die Fremdgefährdung, sondern auf die Selbstgefährdung ab, dann kann die Bestimmung nur auf der dogmatischen Ebene zweiter Stufe interpretiert werden. Das zugrundeliegende Zurechnungsprinzip wäre dann zu formulieren: "Auf die ihm oder einer ihm nahestehenden Person drohende Gefahr kann sich im Rahmen des § 35 StGB mit entschuldigender Wirkung nicht berufen, wer die Gefahr ... (vorsätzlich, leichtsinnig, vorwerfbar etc.) verursacht hat." Die Frage, ob die Regelung des § 35 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 Alt. 1 an den Gedanken der Selbstgefährdung oder an den der Fremdgefährdung anknüpft, spitzt sich dort zu, wo der Täter im Dienste der Gemeinschaft bewußt erhebliche Gefahren auf sich nimmt, wie bei technischen Versuchen oder medizinischen Experimenten. Hier wird der Selbstgefährdung einerseits, einer entsprechenden Fremdgefährdung andererseits eine divergente gesellschaftliche Bewertung zuteil. Wer um des Fortschritts der medizinischen Therapie willen gefährliche Experimente an anderen vornimmt, ist ein Verbrecher; wer sie an sich selbst vornimmt, ein Held. Diese konträren Wertungen stoßen in dem Augenblick zusammen, in dem es um die Bewertung der Handlungen geht, mit denen derjenige, der im Interesse (auch) der Allgemeinheit eine Gefahr auf sich genommen hat, sich auf Kosten anderer vor der drohenden Realisierung der Gefahr rettet. Henkel gelangt hier zur Entschuldigung mit der Begründung, die Herbeiführung der Gefahr sei trotz Voraussehbarkeit der Rechtsverletzung nicht pflichtwidrig97 • Es erscheint aber doch fraglich, ob man in diesen Fällen dem Täter die Möglichkeit einer straflosen Verlagerung der von ihm selbst sehenden Auges herbeigeführten Gefahr gewähren sollte. Den Täter zu entschuldigen bedeutet immerhin auch, dem Opfer der Notstandstat den strafrechtlichen Schutz zu entziehen. Das würde im Ergebnis darauf hinauslaufen, die Grenzen strafloser Fremdverletzung bzw. -gefährdung im Wege der Zubilligung eines entschuldigenden Notstands bis zur Grenze der "p{lichtwidrigen" Selbstgefährdung hin auszuweiten - ein rechtsethisch wie dogmatisch gleich unbefriedigendes Ergebnis. In der Tat resultiert dieses Ergebnis aus der Vermengung zweier verschiedener Deutungsschemata. Einerseits wird die Vorhandlung des Notstandstäters als Gefährdung der Interessen dritter Personen interpretiert, wodurch ihre Bewertung nach dem Gesichtspunkt der Pflichtwidrigkeit möglich wird, andererseits aber wird die Pflichtwidrigkeit konkret nach der Bewertung der Selbstgefährdung des Täters bestimmt. n Henkel, Der Notstand nach gegenwärtigem und künftigem Recht, S. 143.

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

Das ist inkonsequent. Orientiert man sich an dem Aspekt der Fremdgefährdung, dann muß die Pflichtwidrigkeit der Herbeiführung der Gefahr nach dem Maßstab der zulässigen Fremdgefährdung beurteilt werden, wobei deren Ausmaß im Wege einer fiktiven Gefahrverlagerung durch die in Frage kommende Notstandshandlung festzustellen wäre. Bei Prüfung der Frage, ob der Dompteur, der während einer Zirkusvorstellung von einem Tiger angefallen wird, sich dadurch straflos retten darf, daß er das Tier auf einen Zuschauer hetzt, wäre zu prüfen, ob er diesen in gleicher Weise wie sich selbst hätte gefährden dürfen, etwa, indem er ihn als ahnungslosen Freiwilligen auffordert, in die wenige Augenblicke später von Tigern bevölkerte Manege zu kommen. Als Maßstab dieses Dürfens bliebe, solange ein Tatbestand der Lebensgefährdung nicht existiert, der Maßstab der SorgfaItspflichtverletzung im Sinne der Fahrlässigkeitstatbestände. Im Beispielsfall wäre also zu erörtern, ob der Dompteur, angenommen, der von ihm in die Manege gebetene Freiwillige würde von einem der Tiere angefallen und getötet, den Tatbestand des § 222 StGB verwirklicht hätte. Die Frage stellen heißt, sie bejahen. Das Beispiel zeigt, daß es nicht angängig ist, die Pflichtwidrigkeit der Vorhandlung danach zu bestimmen, ob die für die Verletzung des Notstandsopfers kausale Selbstgefährdung des Täters als Gefährdung des Opfers pflichtwidrig gewesen wäre. Denn die Vorführung der Dressur ist sicher nicht pflichtwidrig. Eine andere Möglichkeit, die Pflichtwidrigkeit der Vorhandlung nach dem Gesichtspunkt der Gefährdung oder Verletzung Dritter zu bestimmen, sehe ich indes nicht. Insbesondere geht es nicht an, für die Frage der Pflichtwidrigkeit der Vorhandlung den Gesichtspunkt der Wahrscheinlichkeit der Notstandshandlung heranzuziehen. Ob der Zuschauer während einer Vorstellung oder unvorhersehbarerweise - während einer Probe anwesend war, kann keine Rolle spielen. Darüber hinaus zeigt das Beispiel die Lebensfremdheit jener Auffassung, die die Selbstgefährdung des potentiellen Notstandstäters als Gefährdung des potentiellen Opfers deutet. Dem Zuschauer droht, solange er durch ein nur von Menschenhand zu öffnendes Gitter von dem Tiger getrennt ist, anders als dem Dompteur, keine Gefahr. Die Gefahr für ihn wird erst durch die Notstandshandlung des Dompteurs geschaffen; sie kann daher für die Pflichtwidrigkeit vorausgehender Handlungen nicht herangezogen werden. Das bedeutet, daß für den Ausschluß der Entschuldigung in den Fällen der vom Täter verursachten Gefahr nur auf den Gedanken der Selbstgefährdung, nicht auf den der Fremdgefährdung zurückgegriffen werden kann98 • Damit entfällt zugleich die Möglichkeit, im technischen D8

So auch Hefermehl, Der verursachte entschuldigende Notstand, S. 103 ff.

IV. Das Kompensationsmodell: Der entschuldigende Notstand

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Sinne von einer Pflichtwidrigkeit der Vorhandlung bzw. einem Verschulden der Gefahr zu sprechen. Die Ersetzung des Begriffs des "verschuldeten Notstands" durch die Formulierung "Verursachen der Gefahr" hat daher ihren guten Sinn. Freilich wäre es denkbar, zur Kennzeichnung von Selbstgefährdungen, die eine Entschuldigung nach § 35 StGB ausschließen, den Begriff der Pflichtwidrigkeit in einem weiteren, unspezifischen Sinne zu verwenden. Man könnte als "pflichtwidrig" in diesem Sinne etwa sittlich zu mißbilligende Selbstgefährdungen von sittlich hochstehenden oder zumindest neutralen abheben. Aber das Dompteur-Beispiel zeigt, daß es auf die Pflichtwidrigkeit der Selbstgefährdung auch in diesem weiteren Sinne nicht ankommen kann. Sollte es dafür noch einer Bestätigung bedürfen, so wird sie von der Rechtsprechung zu den Fällen politischen Widerstands geliefert. Wer in einem totalitären Staat durch illegale politische Tätigkeit Widerstand leistet, handelt ganz sicher nicht pflichtwidrig98 ; aber er hat nicht die Befugnis, die seiner Freiheit drohende Gefahr straflos auf andere abzuwälzen. Das ist im Ergebnis anerkannt, wird aber nicht mit der Verursachung der Gefahr durch den Täter, sondern über die Annahme eines besonderen Rechtsverhältnisses (§ 35 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 StGB)100 bzw., außerhalb der Beispielsfälle des § 35 StGB, mit einer aus freiwilliger Gefahrengemeinschaft resultierenden gesteigerten Gefahrtragungspflicht begründet 101 . Beide Auffassungen sind indes fragwürdig. Selbst wenn man zur Begründung eines "besonderen Rechtsverhältnisses" im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB nicht unbedingt eine gesetzliche Regelung und damit die Konstituierung einer besonderen rechtlichen Stellung der Personengruppe verlangt: Der Passus knüpft an bestimmte definierte soziale Rollen, ganz überwiegend an Berufsbilder an, deren "Ausfüllung" gerade auch das Bestehen bestimmter Gefahrenlagen erfordert. Das aber trifft den Fall illegaler politischer Tätigkeit in einem totalitären Staat sicher nicht. Eher zu passen scheint der Gesichtspunkt der freiwillig eingegangenen Gefahrengemeinschaft102 , aber auch er vermag die Einschränkung des Entschuldigungsgrundes des § 35 StGB in den fraglichen Fällen letztlich nicht zu tragen. Denn dieser Gesichtspunkt könnte eine gesteigerte Gefahrtragungspflicht nur für die Fälle begründen, in denen die eigene Rettung zu Lasten eines anderen Mitglieds der Gefahrengemeinschaft gehen würde. Ein verhaftetes Mitglied einer Widerstandsgruppe dürfte vv Vgl. Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie im Wandel, S.40, 46, 326 ff., 334 ff. 100 So Jescheck, AT, S.393 unter Hinweis auf OLG Freiburg, HESt 2, 200 und OGH 3, 121, 130. 101 So Schönke!Schröder!Lenckner, § 35 Rdnr.37 unter Verweis auf OLG Freiburg, DRZ 1949, S. 423. 102 Dazu allgemein Jescheck, AT, S. 393; Stratenwerth, AT, Rdnr. 613.

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

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dann, um einer mehrjährigen Haft zu entgehen, zwar nicht ein anderes Mitglied der Gruppe, wohl aber einen Unbeteiligten, aber etwa kraft rassischer Zugehörigkeit sowieso Gefährdeten, der Widerstandshandlungen bezichtigen, deren er selbst beschuldigt wird. Das kann nicht richtig sein. Zwar kann es nicht darum gehen, einer Strafverfolgung von Widerstandskämpfern das Wort zu reden; aber es geht im Rahmen der Zumutbarkeitsklausel des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB eben auch um die Frage der Zulässigkeit (i. S. der Straflosigkeit) von Risikoverlagerungen. Dieser Gesichtspunkt spricht entscheidend gegen die Straflosigkeit der Beschuldigung eines Unbeteiligten; wer bewußt das Risiko politischer Verfolgungen auf sich nimmt, darf dieses Risiko, wenn es sich zu realisieren droht, nicht straflos auf einen anderen abwälzen. Diese Überlegungen sprechen dafür, diese Fallgruppe der ersten Alternative des § 35 Abs. 1 Satz 1 zu unterstellen. Das setzt freilich ein spezifisches Verständnis des Begriffs der "Verursachung" der Gefahr voraus; denn als "pflichtwidrig" läßt sich die illegale Tätigkeit selbstredend nicht einstufen. Aber die Forderung der Pflichtwidrigkeit läßt sich für § 35 StGB nicht aufrechterhalten; sie unterstellt den Entschuldigungsgrund des Notstands zu Unrecht den Kategorien tatbestandsmäßigen Verhaltens. Die Feststellung, daß der Täter die Gefahr i. S. des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB verursacht hat, trägt nicht den Tatvorwurf (den Vorwurf rechtswidriger Tatbestandserfüllung), sondern schneidet dem Täter die ansonsten mögliche Berufung auf einen Entschuldigungsgrund ab. Er wird mit der Verteidigung, er habe die ihm vorgeworfene Handlung nur begangen, um eine akute Gefahr für sein Leben, seine Gesundheit oder seine Freiheit abzuwenden, nicht gehört, weil er die Gefahr, auf die er sich beruft, selbst verursacht hat. Es geht nicht um eine Pflicht-, sondern allenfalls um eine Obliegenheitsverletzung. Ganz in diesem Sinne sagt Beling, es gehe bei § 35 Abs. 1 Satz 1 StGB nur darum, "daß der Schuldige sich selbst verantwortlich dafür machen müsse, daß ihm der Vorteil versagt bleibt" 103. Damit ist die Struktur der Zurechnung im Falle des § 35 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 Alt. 1 bestimmt; nicht geklärt sind dagegen die Voraussetzungen, unter denen das "Verursachen" der Gefahr durch den Täter dazu führt, daß ihm die Hinnahme der Gefahr zugemutet werden kann. Im Rahmen dieser Arbeit, der es um die Analyse von Zurechnungsstrukturen, nicht von Zurechnungsvoraussetzungen geht, kann dieses Problem nicht detailliert erörtert werden. Festzuhalten ist jedoch das (negative) Ergebnis, daß eine "Vorwerfbarkeit" der Gefahrschaffung i. S. einer rechtlichen oder sozialethischen Mißbilligung jedenfalls in den Fällen der bewußten Herbeiführung der Gefahr nicht erforderlich ist. Auf entschuldigenden IG3

Beling,

Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 79.

IV. Das Kompensationsmodell: Der entschuldigende Notstand

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Notstand kann sich nicht berufen, wer die Gefahr sehenden Auges und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte auf sich genommen hat, mag er auch im Dienste der Allgemeinheit und aus den löblichsten Motiven gehandelt haben. Hat der Täter die Gefahr in Unkenntnis verursacht, könnte neben dem Gesichtspunkt des Voraussehen-Könnens dagegen auch der Aspekt der sozialen Bewertung der die Gefahr verursachenden Handlung einbezogen werden. Hinsichtlich der zugunsten nahestehender Personen begangenen Notstandstaten führt die hier vorgeschlagene Deutung des § 35 I S. 2 Halbsatz 1 Alt. 1 zwanglos zu dem ganz überwiegend vertretenen Ergebnis, daß es auf ein Verschulden des Gefährdeten nicht ankommen kann104 ; worauf sich der Täter (nicht) berufen kann, ergibt sich in der Konsequenz seines eigenen Verhaltens, nicht des Verhaltens eines Dritten. Dagegen wird die Frage, ob ein Verschulden des Täters an der Notlage die Entschuldigung der zugunsten einer nahestehenden Person vorgenommenen Rettungshandlung ausschließt105, nicht präjudiziert; denn sie betrifft die sachlichen Voraussetzungen, nicht (nur) die Struktur der Zurechnung. Das bedeutet freilich nicht, daß die Interpretation des § 35 I Satz 2 nach dem Modell des Verantwortungsdialogs hinsichtlich dieses Problems indifferent wäre; der Gedanke, daß der Täter sich auf eine von ihm selbst herbeigeführte "an sich" entschuldigende Sachlage nicht berufen kann, spricht eher gegen die Zubilligung einer Entschuldigung. Das scheinbar schlagende Gegenargument, man müßte bei dieser Lösung "von einer gesteigerten Pflicht des Täters ausgehen, den Angehörigen dem Tode auszuliefern"106, sticht nicht, weil Reichweite oder "Intensität" der Pflicht zu rechtmäßigem Handeln von der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Entschuldigung nicht tangiert werden. Gleichwohl: Endgültig fallen die Würfel in diesem Punkt erst bei der Frage, unter welchen Umständen (auch bei Handeln zur Rettung eines Dritten?) dem Täter die Berufung auf eine von ihm herbeigeführte Notstandslage zu versagen ist.

104 Dreher/Tröndle, § 35 Rdnr.11; Lackner, § 35 Anm.3 a; Maurach/Zipf, AT/I, S.431; Schönke/Schröder/Lenckner, § 35 Rdnr. 26; Jescheck, AT, S. 393; Wessels, AT, S. 101; a. M. Blei, AT, S.210; SK/Rudolphi, § 35 Rdnr. 17. De lege lata i. S. der h. M., aber kritisch zu der Regelung des Gesetzes Baumann, AT, S.477. Für die Fälle des § 35 Satz 2 Halbs.I Alt. 2 können andere Gesichtspunkte maßgebend sein; der Frage kann hier nicht nachgegangen werden. 105 Gegen eine Entschuldigung des Täters in diesen Fällen Baumann, AT, S.477; Maurach/Zipf, AT/I, S.43I; a. M. Jescheck, AT, S.393; Schmidhäuser, AT, S.468. Beide Fragen werden in der Diskussion nicht immer ausreichend getrennt; daraus resultieren divergierende Zuordnungen von Autoren zu den einzelnen Positionen. tOG Schmidhäuser, a.a.O.

V. Verschiedene Zurechnungsmodelle : Der verschuldete Affekt 1. Die Schuldrelevanz des "normalpsychologischen" Affekts

Das Problem, ob ein irgendwie geartetes Verschulden eines "an sich" schuldausschließenden Affekts die Exkulpation verhindert, stellte sich erst mit der Einbeziehung des "normalpsychologischen" Affekts in den Bereich der §§ 20, 21 StGB1. Für den pathologischen Affekt wurde es ebensowenig relevant wie für die krankhafte seelische Störung oder den Schwachsinn, obgleich auch in diesen Fällen eine im untechnischen Sinne "schuldhafte" Herbeiführung des zur Exkulpation führenden psychosomatischen Zustands durchaus möglich ist (z. B. bei der progressiven Paralyse). Die unterschiedliche Problemrelevanz des Verschuldens bei dem normalpsychologischen Affekt einerseits und den pathologischen Zuständen andererseits soll hier nur konstatiert werden; offensichtlich stößt in Fällen der krankhaften Bewußtseinsstörung die Exkulpation des Täters auf geringere soziale Widerstände als bei (hochgradigen und die Einsicht- bzw. Steuerungsfähigkeit im Sinne des § 20 StGB ebenfalls ausschließenden) normalpsychologischen Affekten2 • Allerdings ist die Frage, ob ein Verschulden des Affekts die Exkulpation des Täters ausschließt, im strafrechtlichen Schrifttum hinsichtlich 1 Die Einbeziehung hochgradiger normalpsychologischer Affekte in den Bereich der "tiefgreifenden Bewußtseinsstörungen" ist heute in der Strafrechtswissenschaft so gut wie unbestritten (vgl. die Nachweise bei Geilen, Zur Problematik des schuldausschließenden Affekts, passim); kritisch dagegen ein Teil des psychiatrischen Schrifttums (Schlüter, NJW 1971, S. 1070; Bresser, NJW 1978, S. 1188). Zum Streitstand weiter Rudolphi, Affekt und Schuld, S.199. 2 Unter Rückgriff auf den Gedanken der positiven Generalprävention ließe sich die unterschiedliche Bewertung damit erklären, daß der infolge einer pathologischen Störung Schuldunfähige als Person betrachtet wird, "die der Norm nichts anhaben kann", die "keine symbolische Signifikanz besitzt" (Luhmann, Rechtssoziologie, 1972, Bd. 1, S. 62). Wenn Jakobs (Schuld und Prävention, S.17) für alle nach § 20 StGB schuldunfähigen Personen annimmt, "daß sie als vollwertige Partner des sozialen Bereichs ... nicht in Frage kommen", so geht das, wie Stratenwerth (Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips, S. 33) zutreffend hervorhebt, in Hinblick auf die von § 20 StGB erfaßten schwersten Affekte sicher zu weit. Gerade diese Ausnahmestellung der (normalpsychologischen) Affekte aber könnte den Versuch erklären, in diesen Fällen über die Annahme eines Verschuldens des Affekts zur Strafbarkeit zu gelangen.

V. Verschiedene Zurechnungsmodelle: Der verschuldete Affekt

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des normalpsychologischen Affekts heiß umstritten3 ; für die Berücksichtigung des Verschuldens werden vor allem kriminalpolitische Argumente ins Feld geführt 4• Auf die Berechtigung dieser Argumente braucht hier nicht eingegangen zu werden; von Interesse ist vielmehr die Struktur der Zurechnung in den Fällen des als Exkulpationsgrund jedenfalls im Ergebnis abgelehnten verschuldeten Affekts.

2. Begründungen für die Irrelevanz des verschuldeten Affekts a) Der Rückgriff auf die Regelung des Verbotsirrtums

Das Ge- oder Mißlingen eines jeden Versuchs, die Exkulpation bei vom Täter verschuldeten normalpsychologischen Affekten zu versagen, entscheidet sich in der Auseinandersetzung mit dem in § 20 StGB formulierten Prinzip der zeitlichen Koinzidenz von Schuld (genauer: Schuldfähigkeit) und T,at. Zur Überwindung des von § 20 StGB ausgehenden Widerstands bieten sich prinzipiell drei Strategien an: Man kann einmal den Nachweis unternehmen, daß das Koinzidenzprinzip nur scheinbar tangiert werde; das läuft auf eine Vorverlegung der tatbestandsmäßigen Handlung nach dem Modell der actio libera in causa in der von der h. M. vertretenen Deutung hinaus 5 • Man kann zweitens die Notwendigkeit einer Auflockerung des Koinzidenzprinzips begrunden6 • Schließlich wäre daran zu denken, den normalpsychologischen Affekt aus dem Rahmen des § 20 StGB herauszulösen und damit dem Anwendungsbereich des Koinzidenzprinzips zu entziehen. 3 Verneinend Baumann, AT, S. 394; Schönke/Schröder/Lenckner, § 20 Rdnr. 14; Schwalm, JZ 1970, S.493; v. Winterfeld, NJW 1955, S. 2229; Maurach/ Zipf, AT/I, S.465; bejahend - mit Unterschieden hinsichtlich des "Verschuldens" - Geilen, Zur Problematik des schuldausschließenden Affekts, passim; Rudolphi, Affekt und Schuld, passim; Lackner, Anm.2 b zu § 20; Lange, Ist Schuld möglich?, S. 271 ff.; LK/Lange, §§ 20,21 Rdnr.28. 4 OGHSt 3, 19; 3, 80; KTÜmpelmann, ZStW 88 (1976), S. 13, der seine Bedenken hins. der Vereinbarkeit dieser Lösung mit § 20 StGB (a.a.O.) inzwischen zuriickgestellt hat (GA 1983, S.356 m. Fn. 79). Krit. zu Kriimpelmanns Einschätzung der Bedeutung der Affekttat bei den Tötungsdelikten (wonach bei etwa 1/4 aller Tötungsdelikte im Moment der Tat Schuldunfähigkeit angenommen werden müßte) Sessar, Rechtliche und soziale Prozesse einer Definition der Tötungskriminalität, S.26 Fn.28. Gegen eine überschätzung der kriminalpolitischen Auswirkungen einer hohen Exkulpationsrate bei Tötungsdelikten Venzlaff, ZStW 88 (1976), S. 63 unter Berufung auf eine unveröffentlichte Untersuchung von Schipkowensky; skeptisch auch Mende, Die "tiefgreifende Bewußtseinsstörung" in der forensisch-psychiatrischen Diagnostik, in: Bockelmann-Festschrift 1979, S. 311 ff., 311. Krit. zu einer kriminalpolitischen Orientierung der Beurteilung der Schuldfähigkeit (neuestens Witter, Wissen und Werten bei der Beurteilung der strafrechtlichen Schuldfähigkeit, S. 460) Albrecht, Unsicherheitszonen des Schuldstrafrechts, passim. 5 Vgl. unten S. 246 ff. e Vgl. unten S. 248 ff.

16 Neumann

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B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

In diese letztere Richtung weist die Argumentation von Geilen7 , der die restriktive Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs8 im Ergebnis befürwortet. Geilen geht davon aus, daß sich in den Fällen der durch einen "biologischen" Defekt bedingten Unfähigkeit, das Unrecht der der Tat einzusehen, der Anwendungsbereich des § 20 StGB mit dem der Regeln über den Verbotsirrtum (§ 17 StGB) überschneidet. Der störungsbedingte Ausfall der Unrechtseinsicht im Sinne des § 20 Alt. 1 StGB sei nichts anderes als "die pathologische Spielart eines unvermeidbaren Verbotsirrtums"u. Soweit das Einsichtsvermögen betroffen sei, habe der normalpsychologische Affekt daher eine "doppelte Verankerung"1o. Da nach den für den Verbotsirrtum geltenden Regeln, nicht aber nach § 20 StGB das Verschulden des Täters an dem Defekt berücksichtigt werden kann, hängt die Zulässigkeit der Beschränkung der Exkulpation auf den unverschuldeten Affekt davon ab, ob man den die Einsichtsfähigkeit ausschließenden normalpsychologischen Affekt schwerpunktmäßig dem Bereich der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) oder dem des Verbotsirrtums (§ 17 StGB) zuordnet. Gegen die Kritiker der Rechtsprechung, die auf die "nominelle Lokalisierung innerhalb des § 51" (§§ 20, 21 n. F. StGB) pochenl l , plädiert Geilen für eine Zuordnung zur Dogmatik des Verbots irrtums und die daraus resultierende Möglichkeit der Nichtberücksichtigung eines verschuldeten Affekts. Eine derart auf die partielle überschneidung der Anwendungsbereiche der §§ 20 und 17 StGB gestützte Argumentation muß dort in Schwierigkeiten geraten, wo die Regelungsbereiche disjunkt sind, also in den Fällen eines die Steuerungsfähigkeit ausschließenden Affekts. Gleichwohl möchte Geilen auch hier zu § 20 StGB und dem dort statuierten "Koinzidenzprinzip" auf Distanz gehen. Zu diesem Zweck unternimmt er in Form eines Gedankenexperiments einen Durchgriff auf das Schuldprinzip. Würden, so die überlegung, von § 20 StGB nach seiner gesetzlichen Formulierung normalpsychologische Affekte nicht erfaßt, müßten diese im Hinblick auf das Schuldprinzip gleichwohl Berück7 Zur Problematik des schuldausschließenden Affekts, S. 173 ff.; die Berufung auf § 17 StGB findet sich in diesem Zusammenhang auch bei LK/Lange, § 21 Rdnr.29; vgl. auch ders., Ist Schuld möglich?, S.274. Krit. zu Geilen Grosbüsch, Die Affekttat, S. 34 ff., mit dem Hinweis, daß die Verantwortlichkeit bei verschuldetem Affekt über die Haftung nach den Prinzipien der actio libera in causa hinausgeht, weil der Fahrlässigkeitsvorwurf, der dem Täter hinsichtlich der Affektgenese gemacht wird, eine Vorsatzstrafe trägt (S. 34 f.). 8 BGHSt 3, 194; BGH bei Dallinger, MDR 1953, S. 146; BGH NJW 1959, S. 2315; zurückhaltender BGHSt 7, 325; 8, 113, 125. 9 Geilen, Zur Problematik des schuldausschließenden Affekts, S. 188. Zu dieser Rspr. außer Geilen a.a.O. Behrendt, Affekt und Vorverschulden, S. 39 ff. 10 Geilen, Zur Problematik des schuldausschließenden Affekts, S. 189. 11 S.190.

V. Verschiedene Zurechnungsmodelle: Der verschuldete Affekt

243

sichtigung finden; denn eine Bestrafung bei (möglicherweise) ausgeschlossenem Hemmungsvermögen sei mit dem Grundsatz nulla poena sine culpa nicht vereinbar. Auch hinsichtlich der Fälle der Steuerungsunfähigkeit weise die Exkulpation bei hochgradigem Affekt daher eine doppelte Verankerung auf, die zu der gleichen "Antinomie der Exkulpationsvoraussetzungen"12 führe, nämlich: Irrelevanz des Verschuldens bei Rückgriff auf § 20 StGB, Beschränkung der Exkulpation auf den unverschuldeten Affekt, soweit dessen Berücksichtigung aus dem Schuldprinzip abgeleitet wird. Geilen löst die Antinomie zugunsten des Schuldprinzips auf: Die Entscheidung solle "nicht von den positivrechtlichen Assimilierungsversuchen, sondern allein von den Erfordernissen des Schuldprinzips abhängig sein"13. Da der § 20 StGB mit seinem "eindeutig psychopathologischen Zuschnitt" auf den normalpsychologischen Affekt nicht passe, würde der Verzicht auf die Vermeidbarkeitsprüfung "eine in der Sache völlig ungerechtfertigte Privilegierung des Affekttäters" , einen "positivrechtlichen Lotteriegewinn" bedeuten14• Der Einschränkung der Exkulpation auf unverschuldete Affekte, wie sie von der Rechtsprechung vertreten werde, sei daher zuzustimmen, allerdings mit der Maßgabe, daß nur die "unmittelbare" Affektgenese berücksichtigt werden dürfe. Zwar sei zuzugeben, daß die Beurteilung der Affektgenese unter dem Aspekt des Verschuldens schwierige Probleme aufwerfe; aber die in der Psychiatrie entwickelten Strukturmodelle böten immerhin empirische Anknüpfungspunkte. Problematisch erscheinen bei der Argumentation Geilens zunächst der Durchgriff auf das Schuldprinzip und die daraus resultierende Suspendierung des § 20 StGB in den Fällen der ausgeschlossenen Steuerungsfähigkeit. Daß eine Exkulpation bei unverschuldetem hochgradigen Affekt nicht nur positivrechtlich von § 20 StGB, sondern auch "rechtsgrundsätzlich" von seiten des Schuldprinzips gefordert wird, rechtfertigt es nicht, unter Berufung auf das Schuldprinzip dem Täter die günstigere Regelung des § 20 StGB zu versagen. Der von Geilen angenommene Konflikt15 zwischen § 20 StGB und dem Schuldprinzip ist, sofern man hier von einem Konflikt überhaupt sprechen kann, von prinzipiell anderer Struktur als der zwischen den Regelungen des § 20 und des § 17 StGB. Während die beiden letzteren Bestimmungen logisch gleichgeordnet, nicht aufeinander rückführbar sind, gehören das Schuldprinzip und die positivrechtlichen Bestimmungen über die SchuldfähigS.191. S.192. l' S.192. 12

13

15

Geilen spricht von der "Antinomie" der Exkulpationsvoraussetzungen

(S.191). 16·

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

244

keit unterschiedlichen Ebenen der Rechtskonkretisierung an: § 20 StGB ist eine Ausprägung des Schuld prinzips. Der Durchgriff auf das einer positivrechtlichen Regelung zugrundeliegende Prinzip zum Zwecke von deren Korrektur ist aber nur zulässig, wenn und soweit die Regelung diesem Prinzip nicht genügt; sie ist nicht zulässig, sofern die gesetzliche Bestimmung über das von dem Prinzip Geforderte hinausgeht. Letzeres ist hier der Fall: Das Schuldprinzip mag die Berücksichtigung verschuldeter Affekte nicht fordern; aber es verbietet sie auch nicht. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man das Schuldprinzip i. S. des nullum crimen sine culpa-Grundsatzes als (nur) strafbegrenzendes Prinzip interpretiert; versteht man es (zugleich) als "nulla culpa sine poena"-Prinzip, wäre ein anderes Ergebnis zumindest denkbar. Geilen scheint von einem solchen Verständnis des Schuldprinzips nicht allzuweit entfernt zu sein, wenn er betont, der Täter habe in den Fällen des verschuldeten Verbotsirrtums wie in denen des durch einen selbstverschuldeten Affekt bedingten Verlusts der Einsichts- oder Steuerungs fähigkeit "nach den Maßstäben einer verantwortungsethischen Schuldprüfung für den selbstverschuldeten Verlust seiner Unrechtseinsicht, aber auch seiner sonstigen Selbstkontrolle, einzustehen"16. Anders als das strafbarkeitsbegrenzende Schuldprinzip ist das strafbarkeitsbegTÜndende aber nicht Bestandteil des Verfassungsrechts; es könnte allenfalls zur Auslegung, nicht aber zur partiellen Suspendierung des § 20 StGB herangezogen werden. In der Tat ist Geilen der Auffassung, § 20 StGB sei offen für eine Interpretation im Sinne der Nichtberücksichtigung des verschuldeten Affekts. Aber die von ihm dafür herangezogenen Gesetzesmaterialien sind zur Begründung dieser Auffassung nur bedingt geeignet; zwar wird ausdrücklich darauf verzichtet, durch eine gesetzliche Regelung der Rechtsprechung vorzugreifen; der Entwurf geht aber ebenso ausdrücklich von der Irrelevanz des Verschuldens am Affekt aus17 . Diese halbherzige Stellungnahme rechtfertigt es kaum, den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanzusetzen, demzufolge es auf die Einsichtsund Steuerungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat ankommt. Betrachtet man § 20 StGB als sedes materiae, dann muß auch dem verschuldeten Affekt exkulpierende Wirkung zuerkannt werden. Jedenfalls hinsichtlich der Steuerungsunfähigkeit zeichnet sich dazu nach dem Scheitern 18

S. 192.

"Ist eine so tiefgreifende (d. h.: den krankhaften seelischen Störungen gleichwertige, U. N.) Bewußtseinsbeeinträchtigung gegeben, dann wird es allerdings für § 24 entgegen der neueren Rechtsprechung wohl nicht darauf ankommen können, daß der Täter außerdem die Bewußtseinsstörung nicht selbst verschuldet hat. Der Entwurf geht deshalb insoweit von der Bedeutungslosigkeit des Selbstverschuldens aus, sieht aber davon ab, durch eine ausdrückliche Regelung dieser Frage der Rechtsprechung vorzugreifen" (E 1962, Begründung S. 139). 17

V. Verschiedene Zurechnungsmodelle: Der verschuldete Affekt

245

der Versuche, den Affekt als Problem der Zumutbarkeit, nicht der Schuldfähigkeit, zu behandelnl8 , keine Alternative ab. Dagegen ist hinsichtlich der Einsichtsunfähigkeit die Auslagerung des normalpsychologischen Affekts aus § 20 StGB zu erwägen, wenn die Bestimmung insofern nur einen Unterfall der Verbotsirrtumsregelung (§ 17 StGB) darstellt. Da die Unfähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen, per definitionem das Fehlen der Unrechts einsicht zur Folge hat und § 17 StGB die Exkulpation für einen "biologisch" bedingten Verbotsirrtum jedenfalls nicht ausdrücklich ausschließt, liegt es nahe, diese Voraussetzung mit der h. M.19 zu bejahen. Demgegenüber ist Rudolphi der Auffassung, § 20 StGB müsse hinsichtlich des "biologisch" bedingten Fehlens der Unrechts einsicht als abschließende Regelung verstanden werden; andernfalls würden die in § 20 StGB gezogenen Grenzen der Exkulpation über den Umweg des § 17 StGB gesprengt20 • Die Auffassung Rudolphis dürfte den Vorzug verdienen; indes kann die Frage hier dahingestellt bleiben, denn auch wenn man die "biologisch" bedingte Einsichtsunfähigkeit als Unterfall des Verbotsirrtums betrachtet, hätte § 20 StGB als speziellere Bestimmung Vorrang vor der Regelung des Verbotsirrtums. Solange man den hochgradigen Affekt als tiefgreifende Bewußtseinsstörung versteht, führt kein Weg an der Regelung des § 20 StGB vorbei. Eine Lösung des Problems des verschuldeten Affekts durch "Auslagerung" aus § 20 StGB scheint demnach nicht möglich. Auch der Versuch, die Beschränkung der Exkulpation auf den unverschuldeten Affekt mit einer Parallele zu § 17 StGB zu begründen, führt, wie KTÜmpelmann nachgewiesen hat 21 , nicht zum Erfolg. Denn die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums bedeutet im Regelfall, daß die Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen, gerade zum Tatzeitpunkt vorhanden ist22 • § 20 StGB aber setzt das Fehlen dieser Fähigkeit bei 18 Derartige Versuche finden sich vor allem im psychiatrischen Schrifttum; vgI. de Boor, über motivisch unklare Delikte, 1959, S. 151; Haddenbrock, in: Handbuch der forensischen Psychiatrie, 1972, S.933; Witter, Affekt und strafrechtliche Verantwortlichkeit, KrimGFr 5 (1962), S. 95. Für das österreichische Strafrecht, in dem ein allgemeiner Schuldausschließungsgrund der Unzumutbarkeit gesetzlich anerkannt ist (§ 10 ÖStGB), wird eine solche Zuordnung bejaht von Moos, ZStW 89 (1977), S. 821. 19 LK/Lange, § 20 Rdnr.58; Schönke/Schröder/Lenckner, § 20 Rdnr.4; Jescheck, AT, S. 357. 20 SK/Rudolphi, § 17 Rdnr. 15 f.; Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums, S. 179 ff.; dagegen Blei, JA 1970, S. 666 f. 21 KTÜmpelmann, ZStW 88 (1976), S. 13 f.; ihm zustimmend Jescheck, AT, S. 355 f. Anders KTÜmpelmann, GA 1983, S. 355 f. 22 "Grundsätzlich is,t für die Beurteilung der Erkennbarkeit des Unrechts auf den Zeitpunkt der Tat abzustellen" (LK/Schroeder, § 17 Rdnr.47; vgl. auch SK/Rudolphi, § 17 Rdnr. 30 ff.).

246

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

Begehung der Tat voraus. Damit fehlt die Grundlage für eine Parallelisierung beider Vorschriften23 • b) Die Parallele zum entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB)

Als Argument für die Beschränkung der Exkulpation auf den unverschuldeten Affekt wird teilweise die Regelung des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB (bzw. des § 54 a. F. StGB) ins Feld geführt24 • Aber auch diese Parallele ist nicht tragfähig; denn bei § 35 StGB geht es nicht darum, was der Täter kann, sondern um das, was man von ihm erwarten kann. Betroffen ist die Zumutbarkeit des AndershandeIns, nicht die Fähigkeit dazu. Im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung ist die Einbeziehung eines Verschuldens des Täters an den Tatumständen, die eine Exkulpation nahelegen könnten, plausibe12 5 ; von demjenigen, der die Notstandslage in vorwerfbarer Weise selbst herbeigeführt hat, kann eher verlangt werden, die Gefahr zu bestehen, als von einem Unbeteiligten. Nicht aber kann im Affekt derjenige sich eher beherrschen oder das Unrecht seiner Tat einsehen, der den Affekt in vorwerfbarer Weise selbst herbeigeführt hat. Die Regelung des § 35 StGB gibt für die Problematik des verschuldeten Affekts folglich nichts her, solange man von deren Einordnung bei der Schuldfähigkeit und nicht bei der Zumutbarkeit ausgeht26 • c) Die LBsung fiber die actlo llbera in causa

Mit dem Versuch, die Fälle eines verschuldeten schweren Affekts nach den "Grundsätzen der actio libera in causa" zu lösen27 , verfolgt J escheck die erste der drei angeführten Strategien zur Ausgrenzung des verschuldeten Affekts aus dem Anwendungsbereich der §§ 20, 21 StGB. Im Ergebnis stimmt er den Entscheidungen zu, die einen Schuldausschluß bei Vermeidbarkeit des Affekts ablehnen, "weil in dem bewußten Entstehenlassen einer emotionalen Stauung, die auf unkontrollier23 Im Ergebnis übereinstimmend Behrendt, Affekt und Vorverschulden, S. 46 ff. 24 So Witter, KrimGFr 5 (1962), S. 95 f.; tendenziell auch Geilen, Zur Problematik des schuldausschließenden Affekts, S. 191 f.; wohl auch Lange, Ist Schuld möglich?, S.274. 25 Wenn auch dogmatisch schwer zu rekonstruieren; vgl. dazu oben Kap. IV. 28 So auch Moos, ZStW 89 (1977), S. 826. Treffend gegen die Parallele zu § 35 auch Rudolphi, Affekt und Schuld, S. 206; vgl. aber auch oben Fn. 18. Daß die Rechtsprechung mit der Berücksichtigung des Verschuldens am Affekt Gesichtspunkte der Zumutbarkeit mit der Frage der Schuldfähigkeit vermengt, hebt zu Recht v. Lukowicz hervor (Der Schuldausschließungsgrund des hochgradigen unverschuldeten Affekts, Diss. München 1968, S. 44 ff., 78). 27 Jescheck, AT, S. 355 f.

V. Verschiedene Zurechnungsmodelle: Der verschuldete Affekt

247

bare Entladung in einer bestimmten schweren Straftat hindrängt, durchaus ein Verschulden liegen kann"28. Aber dieses Ergebnis ist über die Konstruktion der actio libera in causa nicht zu gewinnen. Zwar entgeht Jescheck, da er die Regeln der actio libera in causa als echte Ausnahme zum Koinzidenzprinzip des § 20 StGB betrachtet29 , der Schwierigkeit, aus dem Prozeß der Affektgenese eine tatbestandsmäßige Handlung isolieren zu müssen; es bleibt freilich die Schwierigkeit der Identifizierung einer nichttatbestandsmäßigen actio praecedens, weil deren Vornahme den Zeitpunkt bestimmt, zu dem die Schuldfähigkeit gegeben sein muß30. Aber das ist ein zweitrangiges Problem. Die entscheidenden Schwierigkeiten liegen im subjektiven Bereich. Denn eine Bestrafung wegen vorsätzlicher Tatbegehung setzt nach den unbestrittenen Regeln der actio libera in causa voraus, daß der Täter den Vorsatz zur Tatausführung noch im Zeitpunkt der Schuldfähigkeit ge faßt hat. Darauf kommt es aber für den Ausschluß der §§ 20, 21 StGB nach der Auffassung der Rechtsprechung, der sich J escheck ausdrücklich anschließt, gerade nicht an31 • Zieht man mit J escheck eine Parallele zur unmittelbaren Täterschaft und rechtfertigt man die actio libera in causa demgemäß mit der Erwägung, daß der Täter "vollverantwortlich die eigene Schuldunfähigkeit als Mittel für die Ausführung der tatbestandsmäßigen Handlung einsetzt"32, dann scheitert der Rückgriff auf die actio libera in causa außerdem am Fehlen eines bewußten Einsetzens des Affekts; daß der Täter bewußt eine Affektlage herbeiführt, um seine Aggressionshemmungen zu überwinden, mag vorkommen, ist aber kaum der Regelfall des nach Jescheck unbeachtlichen verschuldeten Affekts. Es wiederholen sich hier die Schwierigkeiten, die bei den Versuchen festgestellt wurden, die Regelung des § 35 Abs.1 Satz 2 StGB über das Prinzip der actio libera in causa zu rechtfertigen33 • Hier wie dort käme in den Fällen des Verschuldens der "an sich" exkulpierenden Situation bzw. des "an sich" exkulpierenden Defektzustands nach den Regeln der actio libera in causa allenfalls eine Fahrlässigkeitsstrafe in Betracht34 • AT, S. 355. AT, 5. 360. 30 AT, S. 361. 31 BGHSt 3, 194, 199; BGH NJW 1959, S. 2315. 32 Jescheck, AT, S.362. 33 Oben 5. 226. M Kritisch zur Lösung mit Hilfe der actio libera in causa auch Krümpelmann, Z5tW 88 (1976), S. 35; ders., GA 1983, S. 356 Fn. 80. Die hier gegen den Rückgriff auf die actio libera erhobenen Bedenken treffen auch die Konstruktion von Behrendt (Affekt und Vorverschulden, v. a. S. 77 ff.); die Annahme einer actio libera in omittendo schafft darüber hinaus neue Probleme, die durch die sinnwidrige Konstruktion einer vor dem gefährlichen Verhalten begründeten Ingerenzhaftung (5.90 ff.) allenfalls verdeckt, nicht aber gelöst werden. 18 29

248

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden" d) Der auf die Affektgenese gegründete Vorwurf als "mittelbarer" Tatschuldvorwurf (Rudolphi)

Rudolphi schließlich beschreitet den zweiten der drei oben markierten Wege, auf denen die Nichtberücksichtigung verschuldeter Affekte im Rahmen der §§ 20, 21 StGB zu erreichen ist. Er wendet sich gegen die Dogmatisierung des Prinzips der Koinzidenz von Schuld und Tat 35 und befürwortet mit Geilen eine "Vorverlagerung des Anknüpfungspunktes für den gegen den Affekttäter zu erhebenden Schuldvorwurf von der eigentlichen Tatausführung (im schuldausschließenden Affekt) auf die unmittelbar davorliegende Affektgenese"36. Zulässig ist diese Auflockerung des Koinzidenzprinzips nach Rudolphi freilich nur, "sofern ... auch der so begründete Schuldvorwurf sich noch wenigstens mittelbar auf das vom Täter verwirklichte Unrecht bezieht" 37. Das sei der Fall, "wenn der Täter während der Affektgenese, d. h. im Zeitpunkt der Vermeidbarkeit des Affekts, erkannt hat oder zumindest hätte erkennen können, daß er möglicherweise später im (schuldausschließenden) Affekt eine Unrechtstat der von ihm später verwirklichten Art begehen wird"38. Im Gegensatz zu Geilen39 läßt Rudolphi also ein Verschulden am Affekt für den Ausschluß der §§ 20, 21 StGB nicht genügen; er verlangt ein (wenn auch nur mittelbares) Verschulden an der Tat. Die Konzeptionen von Geilen und Rudolphi realisieren damit, obwohl im Ergebnis nicht weit voneinander entfernt, zwei grundsätzlich verschiedene Zurechnungsmodelle. Geilen trennt die Tatschuld scharf von dem Verschulden des Affekts; die Affektgenese wird relevant nur am systematischen Ort des Affekts, nämlich bei der Prüfung der Exkulpation des Täters. Der Zurechnung der Tat liegt das Ausnahmemodell zugrunde: Der Täter kann den Vorwurf des schuldhaft begangenen Totschlags nicht mit dem Hinweis auf einen zum Tatzeitpunkt vorliegenden hochgradigen Affekt entkräften, weil er diesen Affekt selbst schuldhaft herbeigeführt hat. Das Verschulden des Affekts begründet nicht den Tatschuldvorwurf, sondern blockiert die Verteidigung gegen diesen Vorwurf. Dagegen ist nach dem Modell Rudolphis der auf die Affektgenese gegründete Vorwurf für den Tatschuldvorwurf konstitutiv; deshalb muß er sich wenigstens mittelbar auf das tatbestandsmäßige Unrecht beziehen. 85

Rudolphi, Affekt und Schuld, S. 207.

Affekt und Schuld, S. 207. Affekt und Schuld, S. 207. 38 Affekt und Schuld, S.21O. Vgl. auch RudoZphi, Das virtuelle Unrechtsbewußtsein als Strafbarkeitsvoraussetzung im Widerstreit zwischen Schuld und Prävention, S. 16 ff. 89 Geilen, Zur Problematik des schuld ausschließ enden Affekts, S. 188 ff. 38

37

V. Verschiedene Zurechnungsmodelle: Der verschuldete Affekt

249

Das bedeutet freilich nicht, daß die den Schuldvorwurf tragende "Vorverlagerung" des Anknüpfungspunktes im Sinne der rein zeitlichen Verschiebung eines Elements der Tatschuld verstanden werden könnte. Diese Konstruktion scheitert hier daran, daß Rudolphi sich zu einer inhaltlichen Modifikation des Schuldvorwurfs gezwungen sieht: Obgleich der Täter bei Tatbegehung im verschuldeten Affekt aus dem Vorsatztatbestand bestraft werden so1l40, ist eine Voraussicht der Tatbegehung während der Affektgenese nicht erforderlich. Mehr noch: Auch das Vorliegen einer notwendigen Voraussetzung eines Fahrlässigkeitsvorwurfs, nämlich der Vorhersehbarkeit der konkreten Tat, wird nicht gefordert. Rudolphi greift hier der Sache nach auf die vom 5. Strafsenat des BGH41 entwickelte "dritte Schuldform" zurück, die einen unmittelbaren Tatschuldvorwurf, wie auch Rudolphi sieht, freilich nicht zu begründen vermag 42 . Aber auch die Annahme eines mittelbaren Tatschuldvorwurfs, der sich durch eine solche Schuldbeziehung allenfalls begründen ließe, führt nicht zu dem gewünschten Ergebnis. Denn es bleibt der Einwand, daß dieser Vorwurf inhaltlich ein Fahrlässigkeitsvorwurf ist, der eine Bestrafung wegen vorsätzlicher Tatbegehung nicht zu rechtfertigen vermag. Auch wenn man zu dieser mittelbaren Tatschuld das "Verschulden" des Affekts hinzu rechnet, resuliert nicht der Vorwurf schuldhaft vorsätzlicher Tatbegehung. Dieser Vorwurf setzt eine bestimmte Qualität des Verschuldens voraus; er ist mit einer bestimmten, "additiv" konstituierten Schuldquantität nicht zu begründen. Interessant, aber letztlich ebenfalls nicht überzeugend ist der Rückgriff auf die Idee der abgeleiteten Verpflichtung zur Begründung des "mittelbaren" Tatschuldvorwurfs: Konnte der Täter vorhersehen, daß der Affekt sich in einer derartigen Tat entladen würde, hatte er Anlaß, diesen Affekt zu vermeiden. Dieser Anlaß aber "bezieht ... seine, den Täter zur Affektvermeidung aufrufende Kraft noch aus der später von ihm im Zustand der affektbedingten Schuldunfähigkeit43 tatsächlich übertretenen Rechtsnorm"44. Hier wird das (mittelbare) Tatverschulden nicht mit einem Können, sondern mit einem abgeleiteten Sollen begründet: Aus dem Tötungsverbot resultiert der "Anlaß", in bestimmten Fällen die Entstehung eines Affekts zu vermeiden. Das ist die Kon40 Mit obligatorischer Strafmilderung, vgl. Affekt und Schuld, S. 214. 41 BGHSt 10, 247 zu § 323 a; allerdings verlangt Rudolphi, daß für den Täter die Begehung einer Unrechtstat der von ihm später verwirklichten Art vorhersehbar war (Affekt und Schuld, S. 210). 42 Grundlegende Kritik der "dritten Schuldform" bei Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 145 ff.; ders., Unrecht und Schuld beim Delikt der Volltrunkenheit, S.266, 279 ff. 43 Bei Rudolphi versehentlich: Schuldfähigkeit. " Rudolphi, Affekt und Schuld, S. 213 f.

250

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

struktion der abgeleiteten Pflicht, wie sie sich bei der Diskussion der Fälle des "übernahmeverschuldens" findet; die deontische Modalität freilich ist von der Pflicht, eine bestimmte Handlung vorzunehmen oder zu unterlassen, abgeschwächt zu einem entsprechenden "Anlaß". Das normtheoretisch schwer zu lokalisierende Konstrukt des "Anlasses" zu einer Handlung bzw. Unterlassung hat möglicherweise die Funktion, dem "Verschulden" des Affekts ein "Unrechts"-Substrat zuzuordnen: Der Täter hat gefehlt, indem er dem "Aufruf" zur Affektvermeidung nicht gefolgt ist. Versteht man dieses "Unrecht" als Verletzung einer abgeleiteten Pflicht bzw. einer schwächeren Verbindlichkeit der gleichen Modalität, dann sind gegen die Argumentation die gleichen Einwendungen zu erheben, die bei der Erörterung des übernahmeverschuldens gegen die Konstruktion der Verletzung einer abgeleiteten Pflicht geltend gemacht wurden 45 • Denkbar wäre freilich auch, die von dem "Anlaß" ausgehende Verbindung zur Affektvermeidung nicht als (schwächere) strafrechtliche Pflicht, sondern als Gehalten-Sein im Sinne einer Obliegenheit zu verstehen. Dann würde die Verletzung der Verbindlichkeit zur Affektvermeidung nicht den Vorwurf vorsätzlicher Tötung tragen, sondern lediglich dazu führen, daß dem Täter die Berufung auf den "an sich" schuldausschließenden Affekt versagt wird. Bei dieser Interpretation wäre es in der Tat möglich, die Bestrafung wegen vorsätzlicher Tötung an die (hinsichtlich der Affekttat) lediglich fahrlässige Herbeiführung des Affekts zu knüpfen; denn die in der Voraussehbarkeit von Affekttaten liegende "Schuldbeziehung" hätte nicht den Tatschuldvorwurf zu tragen, sondern müßte lediglich rechtfertigen, daß dem Täter die Berufung auf seinen Affekt versagt wird. Freilich erscheint bei dieser Deutung die Voraussetzung einer (mittelbaren) Schuldbeziehung zur Tat nicht mehr unabdingbar; die Voraussetzungen, unter denen dem Täter die Berufung auf den Affekt versagt wird, müssen sich auf die Genese des Affekts, nicht notwendig auch auf die Affekttat beziehen. Dem Anliegen Rudolphis, die Notwendigkeit eines (mittelbaren) Tatschuldvorwurfs zu begründen, würde diese Interpretation des "Anlasses" zur Affektvermeidung nicht Rechnung tragen können. e) Die Bedeutung des § 213 StaB für das Problem des "verschuldeten" Affekts

aa) Die Parallele zu § 213 StGB Nach Auffassung von Lange 4& ergibt sich für im Affekt begangene Tötungshandlungen die Beschränkung der Exkulpation auf die Fälle 45 46

Oben S. 197 ff. Lange, Ist Schuld möglich?, S. 275.

V. Verschiedene Zurechnungsmodelle: Der verschuldete Affekt

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des unverschuldeten Affekts bei §§ 20, 21 StGB "zwingend" aus der Regelung des § 213 StGB, die in der ersten Alternative die Privilegierung davon abhängig macht, daß der Täter ohne eigene Schuld zum Zorne gereizt und dadurch zur Tat hingerissen worden ist. Dieser Grundsatz könne bei den §§ 20, 21 StGB "nicht verlassen werden, soweit es sich dort um die gleiche Materie handelt"47. Darüber hinaus will Lange die Anwendung des § 20 StGB bei Affekttötungen offensichtlich ganz ausschließen; nach seiner Auffassung folgt aus der Tatsache, daß der Gesetzgeber bei Schaffung der §§ 20,21 StGB den § 213 StGB nicht geändert hat, "daß grundsätzlich der unverschuldete Affekt bei Tötungsdelikten nur ein Strafmilderungsgrund ist"48. Lange führt also gegen die Anwendung der §§ 20, 21 StGB auf den verschuldeten hochgradigen Affekt zwei Argumente ins Feld: Aus § 213 StGB soll die Unanwendbarkeit jedenfalls des § 20 StGB auf Affekttötungen folgen, darüber hinaus aber dessen Beschränkung auf unverschuldete Affekte. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert vor allem der zweite Einwand, weil sich bei Unanwendbarkeit des § 20 StGB auf Affekttötungen das Problem der Zurechnungsstruktur bei Vorverschulden nur im Rahmen des § 213 StGB, nicht im Zusammenhang mit der hier diskutierten Schuldunfähigkeit stellt. Beide Gesichtspunkte hängen aber eng zusammen, weil es in beiden Fällen um die Identität bzw. Differenz der die Regelungen des § 213 StGB einerseits, der §§ 20, 21 StGB andererseits tragenden Gesichtspunkte geht. Decken sich die Regelungsbereiche der §§ 20, 21 und des § 213 StGB hinsichtlich der im Affekt begangenen Tötungen, dann müßte § 213 StGB als lex specialis angesehen werden und die Bestimmungen über die Schuldfähigkeit kämen nicht zur Anwendung. Zwar bliebe dann die Frage, warum das Gesetz gerade bei Tötungen im Affekt die §§ 20, 21 StGB ausschließt; aber darauf hat Lange die Antwort parat, das Gesetz bewerte die Wirkungen eines normalpsychologischen Affekts je nach Qualität des verletzten Rechtsguts verschieden49 . Eine Identität der Regelungsbereiche kann indes nicht angenommen werden. § 213 StGB ist einerseits enger, andererseits weiter als die Regelungen der §§ 20, 21 StGB. Enger ist die Bestimmung insofern, als sie die Privilegierung auf bestimmte, durch ihre Genese (Reaktion auf eine Mißhandlung oder schwere Beleidigung) abgegrenzte Affekte bezieht50 ; weiter ist sie, sofern nicht vorausgesetzt wird, daß der Affekt 47 48 49

S.275. S.275. S.275.

50 Die Möglichkeit, andere Affekte über § 213 Alt.2 (sonstiger "minder schwerer Fall") zu erfassen, ist hier auszuklammern, da es insofern an einer ausdrücklichen Berücksichtigung des Vorverschuldens fehlt. Zur Frage, in-

252

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

den Grad einer "tiefgreifenden Bewußtseinsstörung" erreicht. Damit fehlen die normlogischen Voraussetzungen für die Annahme einer lex specialis. Es bliebe nur die Möglichkeit, das Erfordernis des "unverschuldeten" Affekts bei den §§ 20, 21 StGB, soweit Tötungshandlungen in Frage stehen, mit einer Analogie zu § 213 StGB zu begründen. Eine solche Analogie würde voraussetzen, daß die Gesichtspunkte, die beide Regelungen tragen, identisch sind51 • Daran fehlt es hier. Zwar könnte man daran denken, § 213 StGB dahingehend zu interpretieren, daß die Bestimmung eine Berücksichtigung verminderter Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausnahmsweise unterhalb der von § 21 StGB gezogenen Grenze der "erheblichen" Minderung zulasse und gebiete. § 213 StGB würde dann Situationen im Vorfeld des § 21 StGB erfassen. Aber diese Deutung ist unhaltbar, weil sie zu einer nicht auflösbaren Wertungsinkonsistenz führt 52 • Denn der von § 21 StGB eröffnete Strafrahmen reicht im Falle des § 212 StGB von zwei Jahren bis zu 11 1/4 Jahren, während § 213 StGB die Grenzen bei 6 Monaten bzw. 5 Jahren fixiert. Wollte man den Anwendungsbereich des § 213 StGB strikt auf das "Vorfeld" des § 21 StGB begrenzen, hätte diese Interpretation die absurde Konsequenz, daß der stärkere, zu einer erheblichen Verminderung der Einsichts- bzw. Steuerungsfähigkeit führende Affekt eine geringere Strafmilderung zur Folge hätte als der schwächere. Auch die naheliegende Möglichkeit, § 213 StGB auf die Fälle des § 21 StGB auszudehnen, führt zu keiner Lösung; denn daß in den Fällen des § 212 StGB der Gesichtspunkt der verminderten Schuldfähigkeit über die einschlägige Regelung der §§ 21, 49 hinaus zu einer erheblich weitergehenden Privilegierung führen soll, läßt sich nicht begründen53 • Schließlich bliebe der Widerspruch, daß die auch leichtere Affekte erfassende Regelung zu einer zwingenden Strafmilderung führt 54 , während die auf schwerere Affekte beschränkte Regelung fakultativer Natur wäre. Daß § 213 StGB jedenfalls nicht ausschließlich auf den psychischen Ausnahmezustand des Täters zielt, zeigt ferner auch die differenzierende Behandlung von Fallkonstellationen, die sich hinsichtlich der wieweit im Rahmen eines privilegierten Tötungstatbestands die Vorgeschichte des Affekts zu berücksichtigen ist, vgl. die abgewogenen Ausführungen von Eser, Gutachten zum 53. DJT, S. (D) 137 f. 51 Grundlegend zu den Voraussetzungen eines zulässigen Analogieschlusses im Rechtsdenken Arthur Kaufmann, Analogie und "Natur der Sache", S. 44 ff. 52 Dazu Arzt, ZStW 83 (1971), S. 26 f. 53 Arzt, ZStW 83 (1971), S. 26. 54 So die herrschende Meinung; nach SK/Horn § 213 Rdnr. 10, und Schänke/ Schräder/Eser, § 213 Rdnr. 14, muß allerdings auch in den Provokationsfällen gesondert geprüft werden, ob ein minder schwerer Fall i. S. der Alternative 2 vorliegt.

V. Verschiedene Zurechnungsmodelle: Der verschuldete Affekt

253

psychischen Lage des Täters nicht unterscheiden; so die Beschränkung des § 213 8tGB auf vom Opfer ausgehende Provokationen55 und die Ablehnung der Privilegierung bei irrtümlicher Annahme des Vorliegens einer schweren Beleidigung (Tatsachenirrtum)5&. Gegen eine Deutung des § 213 8tGB als "Vorstufe" zu § 21 8tGB spricht schließlich, daß nach der Rechtsprechung § 21 neben § 213 Alt. 1 8tGB auch dann anwendbar bleibt, wenn die verminderte 8chuldfähigkeit aus der infolge der Provokation affektiv verminderten 8teuerungsfähigkeit resultiert57 . Den Weg zu dem tragenden Gesichtspunkt des § 213 8tGB weist der in diesem Zusammenhang regelmäßig auftretende Begriff des "gerechten Zorns"58, mag er auch inzwischen einen unfreiwillig komischen Beigeschmack haben59 . Denn er bezeichnet die Dimension, in der die Würfel für und gegen die Anwendung des § 213 fallen: Die Dimension der Bewertung, nicht der Bemessung des Affekts. Entscheidend ist die Verständlichkeit des Affekts als einer nachvollziehbaren Reaktion auf die vorangegangene Provokation. Es geht "nicht ... um die Intensität eines, sei es auch unmotivierten, Affekts, sondern um die Motiviertheit eines, sei es auch weniger intensiven, Affekts"iio. Damit verschiebt sich die Perspektive von dem psychischen Zustand (Affekt) des Täters auf das Verhältnis Affekt - Provokation. Wird aber die Frage nach dem Verhältnis von Provokation und Affekt zur Leitlinie der Interpretation, dann steht damit notwendig der Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit zur Diskussion. 8einem Wortlaut nach verlangt § 213 8tGB freilich nur einen Kausalzusammenhang zwischen Provokation und Tatentschluß. Aber die Verhältnismäßigkeitsprüfung läßt sich, auch wenn ihre Zulässigkeit ganz überwiegend verneint wird6 t, nicht eliminieren, sondern allenfalls verstecken; sie wird dann in die Interpretation der Tatbestandsmerkmale "Mißhandlung" und "schwere Beleidigung" verBGH bei Dallinger, MDR 1973, S. 901. BGHSt 1, 205; SK/Horn, § 213 Rdnr.4; LK/Jähnke, § 213 Rdnr.9; Lackner, § 213 Anm.2; a. M. Dreher/Tröndle, § 213 Rdnr.7; Schönke/Schröder/ Eser, § 213 Rdnr. 12; LK/Lange, 9. Aufl., § 213 Rdnr. 2. Zur Tendenz der neueren Rspr., auch in diesen Fällen § 213 Alt. 1 StGB anzuwenden, vgl. Eser, NStZ 1984, s. 53. 57 BGH JZ 1983,400 m. Anm. R. Schmitt; ebenso BGH vom 7. 11.1979, 2 StR 581/79; Dreher/Tröndle, § 213 Rdnr.2 a; vgl. auch Eser, a.a.O., S. 54. 58 Vgl. LK/Jähnke, § 213 Rdnr.4; LK/Lange, 9. Aufl., § 213 Rdnr.3; Maurach/Schroeder, BT/1, S.43. 59 So Geilen, Provokation als Privilegierungsgrund der Tötung?, S.373. 80 Geilen, a.a.O., S. 382 in Anlehnung an Radbruch, in: Aschrott/Kohlrausch, Reform des Strafrechts, 1926, S. 303. U BGH GA 1970, S.214; BGH LM Nr.4 zu § 213; BGH NStZ 1982, 27; Dreher/Tröndle, § 213 Rdnr.4; SK/Horn, § 213 Rdnr. 5; Maurach/Schroeder, BT/1, S.43; a. M. Geilen, Provokation als Privilegierungsgrund der Tötung?, S.372; Lackner, § 213 Anm. 2; Schönke/Schröder/Eser, § 213 Rdnr. 11. 55

56

254

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

lagert 62 oder erscheint in der Feststellung, in Fällen der Unverhältnismäßigkeit sei die Kausalität zwischen Provokation und Tötung besonders sorgfältig zu prüfen63 • Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht zu umgehen, wenn man auf die "Verständlichkeit" des Affekts bzw. des Totschlags abstellt 64 • Damit sind natürlich die Einwände nicht ausgeräumt, die gegen eine Verhältnismäßigkeitsprüfung bei § 213 StGB erhoben werden. Mit Recht weist Horn darauf hin, daß eine Tötung immer in einem klaren Mißverhältnis zu einer Mißhandlung bzw. schweren Beleidigung steht, und daß die Frage, ob man sich von der fraglichen Provokation zum Totschlag habe hinreißen lassen dürfen, verfehlt ist, weil § 213 StGB das Nicht-Dürfen der Tötung gerade voraussetzt 65 • Die Konsequenz, die Verhältnismäßigkeitsprüfung deshalb aus § 213 StGB zu verbannen, ist im Rahmen einer Deutung, die die ratio der Privilegierung in der verminderten Motivationsfähigkeit des Täters sieht61 , zwar folgerichtig, aber nach dem oben Gesagten gleichwohl nicht akzeptabel. Ist die Verhältnismäßigkeitsprüfung eine Konsequenz des Kriteriums des "verständlichen" Zorns, dann muß bei der Bedeutung dieses Gesichtspunktes angesetzt werden. Diese Bedeutung ist keineswegs klar; denn einen allgemeinen Schuldausschließungsgrund der Verständlichkeit der Tat oder der Tatmotive kennt das Strafrecht nicht. Zu denken wäre an den Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit, der im deutschen Strafrecht zwar nicht in Form eines generellen Zumutbarkeitsprinzips, wohl aber in einzelnen gesetzlichen Regelungen Niederschlag gefunden hat 67 • Aber der Begriff der Zumutbarkeit trägt zur Klärung der Struktur des § 213 StGB nichts bei. Denn die Frage, warum gerade unter den Voraussetzungen des § 213 StGB das Unterlassen eines Totschlags weniger zumutbar sein soll als sonst, bleibt offen. Der Begriff der "Zumutbarkeit" verweist auf das Ergebnis einer Wertung, nicht aber auf 62 So bei LK/Jähnke, § 213 Rdnr.4: Die Ablehnung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung sei nur akzeptabel, wenn der Gedanke der Verhältnismäßigkeit bei der Bestimmung der berücksichtigungsfähigen Provokationshandlungen zum Tragen komme. "Mißhandlungen oder schwere Beleidigungen sind daher (I) nur solche, die eine gegen das Leben gerichtete Jähtat als verständliche Reaktion erscheinen lassen." 63 BGH GA 1970, S.214; SK/Horn, § 213 Rdnr.5; LK/Lange, 9. Aufl., § 213 Rdnr.9; Maurach/Schroeder, BT/1, S. 43. 64 Beides läßt sich nicht trennen, weil es auf die Verständlichkeit des Grades des Zornaffekts ankommt, der durch die Folgen des Affekts (Totschlag) gekennzeichnet wird. Zum Gesichtspunkt der "Begreiflichkeit" der Gemütsbewegung ausführlich Eser, Gutachten zum 53. DJT, S. (D) 134 ff. Zur de facto-Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in der Rspr.; ders., NStZ 1984, s. 52. 6S SK/Horn, § 213 Rdnr.5. 66 SK/Horn, § 213 Rdnr.3. 67 Vgl. §§ 35, 258 V StGB.

V. Verschiedene Zurechnungsmodelle: Der verschuldete Affekt

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deren Parameter, nicht auf die Prinzipien, anhand derer dieses Ergebnis gewonnen wird. Die Schwierigkeit einer befriedigenden Interpretation des § 213 StGB liegt offensichtlich darin, daß die Privilegierung an ein bestimmtes Verhalten des Opfers anknüpft, während sich die i. S. einer personalen Schuldauffassung verstandene Schuld nur nach täterbezogenen Momenten bestimmen kann. Das Verhalten des Opfers kann für die Täterschuld nur in subjektiver Brechung, d. h. in seinem Einfluß auf das Verhalten, die Motivation des Täters relevant werden 68 • Eine befriedigende Deutung des § 213 StGB ist aber nur in einem Rahmen möglich, der es erlaubt, das Verhalten des Opfers und das des Täters unter dem Aspekt der Zurechenbarkeit der Tat unmittelbar in Beziehung zu setzen.

bb) Die kriminalpolitische Deutung des § 213 StGB Einen derartigen Rahmen stellt das von Roxin69 und J akobs70 entwickelte Konzept einer präventiven Deutung der strafrechtlichen Schuld zur Verfügung. Im Modell der "Normstabilisierung durch Zurechnung" (Jakobs) sind Zurechnungen grundsätzlich austauschbar; auf die Zurechnung der Tat zum Täter kann verzichtet werden, sofern diese den Umständen, strafrechtlich verantwortlichen Dritten oder dem Opfer zugerechnet werden kann. § 213 StGB betrifft den letzten Fall: Der Täter kann von dem strafrechtlichen Vorwurf entlastet werden, weil und soweit die Tat dem Opfer selbst zugerechnet wird71 • Die Voraussetzungen dieser partiellen Zurechnung der Tat zu dem Getöteten, nicht Gesichtspunkte der Täterschuld bestimmt die Dogmatik des § 213 StGB. 68

Gegen eine "Schuldaufrechnung" zwischen Täter und Opfer treffend

Maeck, Die Bedeutung des Opfers für die richterliche Strafzumessung, Diss.

München 1982, S. 208. 69 Roxin, "Schuld" und "Verantwortlichkeit" als strafrechtliche Systemkategorien; ders., Zur jüngsten Diskussion über Schuld, Prävention und Verantwortlichkeit im Strafrecht. 70 Jakobs, Schuld und Prävention, passim; ders., Zum Verhältnis von psychischem Faktum und Norm bei der Schuld, S. 128. 71 Mit diesem Ansatz kompatibel sind Konzeptionen, die das Verhalten des Opfers unter dem Gesichtspunkt der Schutzbedürftigkeit bei der Auslegung des Strafgesetzes und/oder der Strafzumessung berücksichtigen wollen (vgl. R. Hassemer, Schutzbedürftigkeit des Opfers und Strafrechtsdogmatik, S. 82 ff. und passim; Schünemann, Einige vorläufige Bemerkungen zur Bedeutung des viktimologischen Ansatzes in der Strafrechtsdogmatik, passim. Zum Problem vgl. auch Hillenkamp, Vorsatztat und Opferverhalten [Beschränkung der Berücksichtigung des Opferverhaltens auf den Bereich der Strafzumessung, S .. 209, 310 ff.]). Anstöße zur Diskussion bereits bei Schüler-Spnngorum, über Vlctimologie, passim. Speziell zur Bedeutung besonderer Leichtgläubigkeit des Opfers beim Betrug Amelung, GA 1977, S.l ff.; Beulke, NJW 1977, S. 1073 f.; Naucke, Der Kausalzusammenhang zwischen Täuschung und Irrtum beim Betrug, S. 109 ff.

256

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

Von hier aus erklären sich die Beschränkung auf vom Opfer ausgehende Provokationen72 , die Irrelevanz der irrtümlichen Annahme provozierender Handlungen des Opfers und die objektive Bestimmung des Gewichts der Kränkung 73 • Verständlich wird auch der teils offen, teils verdeckt erfolgende Rückgriff auf den Verhältnismäßigkeitsaspekt: Die Tat kann dem Opfer nur dann in einem relevanten Maße zugerechnet werden, wenn sie zu dem von diesem gesetzten Anlaß nicht völlig außer Verhältnis steht. Freilich begründet das Modell der Normstabilisierung durch Zurechnung nur die Möglichkeit eines reduzierten Tatvorwurfs; für die Erklärung der Tatsache, daß von dieser Möglichkeit auch Gebrauch gemacht wird, ist sie zur Einführung von Zusatzprämissen gezwungen, die aus dem Konzept selbst nicht ableitbar sind. Man könnte etwa den Gesichtspunkt der sozialen Belastung durch Strafvollstreckung ins Spiel bringen und die These formulieren, jede general präventiv nicht erforderliche Bestrafung sei wegen der (bei Freiheitsstrafen) mit einer Vollstreckung verbundenen sozialen (nicht nur finanziellen) Kosten14 disfunktional. Aber eine solche These verliert an Plausibilität, wenn man berücksichtigt, daß ein festes Maß des generalpräventiv Erforderlichen nicht existiert15 und deshalb davon ausgegangen werden muß, daß der Grad der Normstabilisierung mit dem der Zurechnung korreliert. Konkret: Es ist nach dem hier erörterten Modell zu erwarten, daß das Tötungsverbot bzw. das Vertrauen in die Wirksamkeit dieses Verbots durch eine volle Zurechnung der Tat zum Täter in den Fällen des § 213 StGB in höherem Maße stabilisiert würde. Auch trägt der Gesichtspunkt der sozialen Kosten nur begrenzt, weil sein argumentatives Gewicht von zufälligen Faktoren abhängt und sich bei bestimmten Konstellationen auf die andere Seite der Waagschale verlagern kann (Unterbelegung der Strafanstalten, gewinnbringender Einsatz der Arbeits72 Kritisch dazu Middendorff, Probleme um § 213 StGB, KrimGFr 14 (1980), S. 133 ff., 136. Daß die Möglichkeit, die Tat jedenfalls auch dem Opfer zuzurechnen, auch in Rechtsordnungen eine Rolle spielt, die eine Privilegierung nicht ausdrücklich an eine Provokation knüpfen, zeigt sehr schön die von Schultz zitierte Entscheidung BGE 82 (1956) IV 87, E 1 (zu Art. 113 SchwStGB, der die Begehung der Tat "in einer nach den Umständen entschuldbaren heftigen Gemütsbewegung" voraussetzt); das Gericht "betont, die psychologische Erklärbarkeit der Tat genüge nicht, die Erregung muß durch äußere Umstände gerechtfertigt erscheinen. Das wurde verneint, wenn jemand nach der Auflösung einer Verlobung nicht auf die frühere Braut (1), sondern (1) auf deren neuen Freund schießt" (Schultz, Die vorsätzlichen Tötungsdelikte in der Schweiz, KrimGFr 14 [1980], S. 13 ff., 29 Fn. 53). 73 Vgl. LK/Jähnke, § 213 Rdnr.6; Schönke/Schröder/Eser, § 213 Rdnr.5; BGH NStZ 1981,300; BGH StV 1981, 631. 74 Man denke etwa an die Mehrbelastung des Anstaltspersonals oder eine resozialisierungsfeindliche überbelegung der Vollzugsanstalten. 75 Falls man nicht auf die gerechte bzw. als gerecht erlebte Strafe zurückgreifen will.

V. Verschiedene Zurechnungsmodelle: Der verschuldete Affekt

257

kraft der Gefangenen etc.). Zu einer befriedigenden Erklärung der Regelung dürfte auch hier der Rückgriff auf die der Bestimmung zugrundeliegenden sozialen Zurechnungsregeln führen, die in den Fällen der Tötung nach (unverschuldeter) schwerer Provokation eine mildere Bestrafung nicht nur zulassen, sondern auch fordern. Ohne Rückgriff auf die gesellschaftlichen Vorstellungen über die Grenze einer gerechten Bestrafung, die den jeweiligen sachlichen Gehalt des Schuldprinzips bestimmen76 , ist die Regelung des § 213 StGB nicht zu interpretieren. Es würde als ungerecht erlebt, wenn den durch eine Mißhandlung oder schwere Beleidigung gereizten Totschläger die ungeminderte Wucht der strafrechtlichen Zurechnung träfe. Das Modell der alternativen Zurechnung ermöglicht die Entschlüsselung des § 213 StGB, wenn man die präventive Funktion des Strafrechts (i. S. der positiven Generalprävention) nicht auf die Einzelnorm, sondern auf die Rechtsordnung als solche bezieht. Damit aber werden notwendig wieder normative Gesichtspunkte von Bedeutung; denn in diesem Sinne general präventiv wirksam ist nur die als gerecht erlebte Strafen. Nur vor dem Hintergrund eines general präventiv orientierten Zurechnungsmodells wird auch die Versagung der Privilegierung bei vom Täter verschuldeten Provokationen verständlich, die unter dem Aspekt einer personal verstandenen Täterschuld unerklärlich bleiben muß. Unter Schuldgesichtspunkten ist die Privilegierung des § 213 StGB in der Tat "widerspruchsvoll", weil sie versagt wird, wenn der Täter die Provokation verschuldet hat, "obwohl ein solches Verschulden ausgesprochen gering wiegt im Vergleich zu dem viel größeren Verschulden, das darin liegt, daß der Täter auf die Provokation so unverhältnismäßig (mit Totschlag) reagiert"78. Der "Fremdkörper" läßt sich auch nicht "unter Zuhilfenahme von Erwägungen, die herkömmlicherweise mit der Figur der ,actio libera in causa' beschrieben werden", integrieren79 • Denn das Merkmal "ohne eigene Schuld" bezieht sich in § 213 StGB eindeutig auf die dem Täter von dem Getöteten zugefügte Mißhandlung bzw. schwere Beleidigung; der Begriff der "Schuld" ist daher nicht i. S. der strafrechts dogmatischen Kategorie zu verstehen 80 . Dagegen wäre Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 217 ff. In diesem Punkt trifft sich eine als "Gerechtigkeitstheorie" verstandene absolute Straftheorie (vg!. Spendel, Zur Lehre vom Strafmaß, o. J., S. 71 ff.) mit einer generalpräventiven Strafauffassung; zur generalpräventiven Bedeutung einer gerechten Strafe auch Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, S. 276 (mit dem Aspekt der Erhaltung der rechtstreuen Gesinnung der Anständigen). 78 Arzt/Weber, Strafrecht BT, Delikte gegen die Person, LH 1, 2. Auf!., 1981, 76

77

S.65.

So aber SK/Horn, § 213 Rdnr. 7. Ganz herrschende Meinung; vgl. nur Schönke/Schröder/Eser, § 213 Rdnr. 8; LK/Jähnke, § 213 Rdnr. 10; Maurach/Schroeder, BT/l, S. 43. 70

80

17 Neumann

258

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

man bei einem Rückgriff auf die actio libera in causa gezwungen, den Schuldbegriff im technischen Sinne zu verstehen und die Schuld nicht auf die Provokation, sondern auf die Verursachung des Todes des Opfers zu beziehen. Diese Konsequenz wird von Horn gezogen: Dem Täter komme der Zustand verminderter Schuld zum Zeitpunkt der "eigentlichen" Tötungshandlung dann nicht zugute, "wenn zeitlich zuvor ein Zustand gefunden wird, der dem Täter als voll schuldhaftes (also vorsätzlich und auch nicht in geminderter Schuld begangenes) Verursachen des Todes des anderen zugeschrieben werden muß"81. Aber dieser Deutung stehen nicht nur der Gesetzestext, der das Merkmal "ohne eigene Schuld" auf die Provokation und nicht auf die Tötung bezieht, sondern auch die Regeln der actio libera in causa entgegen. Denn ein Zustand (sie!) kann dem Täter auch nach den Regeln der actio libera in causa nicht als Erfolgsverursachung zugeschrieben werden; eine einzelne Handlung als Anknüpfungspunkt der actio libera in causa ist aber häufig nicht zu isolieren, nachdem für das Verschulden der Provokation wie auch für die Schwere der Beleidigung das Prinzip der Kumulation gilt82 . Insofern ergeben sich hier die gleichen Probleme wie bei dem Rückgriff auf die actio libera in causa im Rahmen der §§ 20,21 StGB83. Auch die weiteren, bei der Diskussion des verschuldeten Affekts festgestellten Schwierigkeiten der actio libera in causa-Lösung wiederholen sich; auf die obigen Ausführungen kann daher verwiesen werden. Es bleibt also bei der Feststellung von Arzt/Weber, daß die Regelung des § 213 StGB widerspruchsvoll ist - wenn man sie nach dem Maßstab der schuld angemessenen Strafe beurteilt. Wie in anderen Fällen des "Vorverschuldens" erweist sich auch hier die rechtliche Regelung als mit dem Kompensationsmodell nicht vereinbar: Das - verglichen mit der Schuld des Totschlags - gering wiegende Verschulden an der Provokation vermag die vom Gesetz als ganz erheblich gewertete (Reduzierung der Höchststrafe von 15 auf 5 Jahre und der Mindeststrafe von 5 Jahren auf 6 Monate) Schuldminderung nicht zu kompensieren. Zu verstehen ist die Regelung des § 213 StGB nur, wenn man an die Stelle der Schuldquantenrechnung ein Zurechnungsmodell setzt, das nicht mit abstufbaren Größen, sondern mit Ja-Nein-Schaltungen operiert. Ein solches Modell wird in der general präventiven Deutung der Schuldausschließungsgründe bei Jakobs zugrundegelegt: Zu fragen ist, ob die Tat in relevantem Maße dem Opfer zugerechnet werden kann. 81

SK/Horn, § 213 Rdnr. 7.

Hinsichtlich der Schwere der Beleidigung vgl. BGH bei Holtz, MDR 1979, S.456; Dreher/Tröndle, § 213 Rdnr.4; hinsichtlich des Verschuldens der Provokation SChönke/Schröder/Eser, § 213 Rdnr. 8; BGH MDR 1961, S. 1027; BGH bei Holtz, MDR 1979, S. 456. 83 Dazu oben S. 24 ff., 131 ff. 82

V. Verschiedene Zurechnungsmodelle: Der verschuldete Affekt

259

Wird diese Frage verneint, dann trifft den Täter die ganze Wucht der ungeteilten Zurechnung; denn seine Entlastung ist möglich nur Zug um Zug gegen die Belastung des Opfers84 • Die Frage muß aber verneint werden, wenn der Täter die Provokation seinerseits in zurechenbarer Weise herbeigeführt hat; denn in diesem Falle ist er selbst, nicht das Opfer für die Mißhandlung oder Beleidigung verantwortlich. Was hier zugrundeliegt, ist eine Transitivitätsrelation der Zurechnung: Ist die Tat in einem bestimmten Ausmaß der Handlung des Opfers zuzurechnen, und ist die Handlung des Opfers dem Täter zuzurechnen, dann ist die Tat auch in dem fraglichen Ausmaß dem Täter zuzurechnen. Aufgrund der Analysen der Zurechnungsstruktur in den Fällen des verschuldeten Notstands, des Vollrauschtatbestands und der actio libera in causa, kann eine Generalisierung gewagt werden: Was bei § 213 StGB für die Handlung des Opfers gilt, gilt allgemein für jeden Faktor F, dem die Tat in einem bestimmten Maße mit den Täter entlastender Wirkung "zugerechnet" werden kann. Vor dem Hintergrund dieses Modells der alternativen Zurechnung erklärt sich zwanglos die Bedeutung, die der Verständlichkeit der Affekttat als Reaktion auf die Provokation85 und andererseits dem Gesichtspunkt, ob das Verhalten des Täters einen genügenden Anlaß für die Provokation abgab 88 , zuerkannt wird: Beide Begriffe beziehen sich auf die Frage, ob das Verhalten des einen dem Verhalten des anderen in strafrechtlich relevanter Weise zugerechnet werden kann.

84 Zu diesem Gesichtspunkt grundlegend Jakobs, Schuld und Prävention, S. 20 f. Der hier zugrundeliegende Mechanismus bestimmt die "Relevanzschwelle" eines Verschuldens des Täters hinsichtlich der Provokation nicht präzise; unter präventivem Aspekt dürfte auch eine Regelung akzeptabel sein, die nur voraussetzt, daß dem Täter die Körper- oder Ehrverletzung ohne überwiegende eigene Veranlassung zugefügt wurde; so der Vorschlag von Eser in: Gutachten zum 53. DJT, S. (D) 142, 201; krit. zum Wegfall der Privilegierung schon bei einem Mitverschulden des Täters auch Geilen, Zur Entwicklung und Reform der Tötungsdelikte, JR 1980, S. 209 ff., 316. Die Schwierigkeit einer eindeutigen Schuldzuschreibung an Täter oder Opfer betont Middendorff, Probleme um § 213 StGB, KrimGFr 14 (1980), S. 133 ff., 136. Zur Berücksichtigung des Verschuldens der Provokation in ausländischen Rechtsordnungen, vgl. Eser/Koch, Die vorsätzlichen Tötungstatbestände, ZStW 92 (1980), S. 491 ff., S.540. 85 Vgl. nur LK/Jähnke, § 213 Rdnr. 4. 86 Vgl. Schönke/Schröder/Eser, § 213 Rdnr.8; LK/Lange, § 213 Rdnr.3; Maurach/Schroeder, BT/1, S.43.

17'

VI. Abgrenzung zum Zurechnungsmodell Hruschkas Die hier dargelegten Analysen der "Tiefenstruktur" der strafrechtlichen Zurechnung berühren sich in wesentlichen Punkten mit den überlegungen, die Hruschka zu diesem Problemkreis vorgetragen hat. Im folgenden sollen die übereinstimmungen sowie die Punkte, in denen sich die hier vorgestellte Konzeption von der Hruschkas prinzipiell unterscheidet, zusammenfassend dargestellt werden. Als Ausgangspunkt soll dabei die Fassung der Gedanken Hruschkas dienen, wie sie in dem Beitrag "über Tun und Unterlassen und über Fahrlässigkeit"l vorliegt. Hruschka entwickelt seine Konzeption hier anhand einer Kritik der Lehre von der Rechtsfigur der Unterlassung durch Begehung, wie sie im Anschluß an v. Overbeck2 vor allem von BerteZS und Roxin' vertreten wird. Als Ausgangspunkt dient der Fall eines Bademeisters B, der infolge eines "Katers" und von übermüdung - beides Konsequenzen "exzessiven" Feierns am Vorabend - nicht in der Lage ist, einen Ertrinkenden rechtzeitig zu erreichen, um ihn zu retten5 • Nach Hruschka gibt es zwei Möglichkeiten, das Fehlverhalten des B (exzessives Feiern) zu berücksichtigen. Man könne einmal die darin liegende Beseitigung der Handlungsmöglichkeit als Verletzung der dem B obliegenden Handlungspflicht, d. h.: als tatbestandsmäßiges Verhalten ansehen. Dieser, von der Lehre vom "Unterlassen durch Begehen" angebotenen Lösung liege normlogisch die Ableitung eines Verbots aus dem Handlungsgebot zugrunde: Nach Auffassung ihrer Vertreter ergebe sich aus dem Gebot der Rettung ein Verbot, sich zur Erfüllung dieses Gebots unfähig zu machen. Der Verstoß gegen dieses Verbot werde als Verstoß gegen das zugrundeliegende Gebot zugerechnet. Die von Hruschka gegen diese Lösung erhobenen Einwände sind teils normlogischer, teils dogmatisch-praktischer Natur. Unter normlogischem Aspekt wird bean1 Bockelmann-Festschrift 1979, S. 421 ff. (soweit nicht anders angegeben, beziehen sich die folgenden Seitenangaben auf diesen Beitrag). Zur Weiterentwicklung dieses Modells bei Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 1983, vgl. meinen Beitrag "Normtheorie und strafrechtliche Zurechnung", GA 1985. 2

3 t

GS 88 (1922), S. 319 ff. JZ 1965, S. 53 ff. Engisch-Festschrift 1969, S. 380 ff.

Der Fall wird hier vereinfacht und auf eine Variante reduziert wiedergegeben. 6

VI. Abgrenzung zum Zurechnungsmodell Hruschkas

261

standet, daß nach dieser Auffassung ein Unterlassungsdelikt auch durch positives Tun verwirklicht werden könne. Der dogmatische Einwand zielt auf die dieser Theorie in Fällen von der Struktur des Ausgangs falles eigene Vorverlegung der Tathandlung; die Deutung des Feierns als tatbestandsmäßige Handlung mache es unmöglich, zum Zeitpunkt des pflichtwidrigen Unterlassens vorliegende Rechtfertigungsgründe zu berücksichtigen. Demgegenüber ist die Beseitigung der Handlungsmöglichkeit bei der zweiten, von Hruschka vertretenen Zurechnungsmöglichkeit nicht Objekt, sondern lediglich materieller Grund der Zurechnung. Man nimmt dann "die aktive Beseitigung der Handlungsmöglichkeit als Grund dafür, die Nicht-Vornahme der gebotenen Handlung in der Gefahrenlage doch als Unterlassen zuzurechnen, obwohl sie nach dem obigen Prinzip (daß ein Unterlassen die Möglichkeit der Vornahme der gebotenen Handlung voraussetzt, U. N.) nicht als Unterlassung angesehen werden kann" 6. Die Zurechnung erfolgt also in Abweichung von den Regeln der Dogmatik der Unterlassungsdelikte; Hruschka spricht deshalb von einer "außerordentlichen" Zurechnung. Der materielle Gesichtspunkt, der diese Zurechnung rechtfertigt, ist gleichfalls - insofern besteht kein Unterschied zur Lehre vom "Unterlassen durch Begehen" - das zur Handlungsunfähigkeit führende Fehlverhalten des B. Der wesentliche Unterschied liegt in dem konstruktiven Einbau dieses Verhaltens. Nach Hruschka bedeutet die Herbeiführung der Handlungsunfähigkeit keinen Verstoß gegen eine aus der Hilfspflicht ableitbare Pflicht, sondern lediglich eine Obliegenheitsverletzung. Mit dem im Strafrecht gelegentlich verwendeten7 , aber noch nicht eingeführten Begriff der Obliegenheit ist gemeint, daß die Erhaltung der Handlungsfähigkeit dem Rettungspflichtigen nur hypothetisch, nicht kategorisch geboten ist. Der Rettungspflichtige ist nicht verpflichtet, sich seine Handlungsfähigkeit zu erhalten; er muß das aber tun, wenn er nicht im Falle des durch die Handlungsunfähigkeit bedingten pflichtwidrigen Nichttätigbleibens die S.422. Z. B. von Bichlmeier, JZ 1980, S. 55, hinsichtlich der ärztlichen Aufklärungspflicht; von Frisch, Das Fahrlässigkeitsdelikt und das Verhalten des Verletzten, 1973, S. 307: Obliegenheit des Opfers, die eigenen Rechtsgüter nicht zu gefährden (im Anschluß an Münzberg, Verhalten und Erfolg als Grundlagen der Rechtswidrigkeit und Haftung, 1966). Gelegentlich findet sich die Formulierung, bei der "Erkenntnispflicht" zur Vermeidung des Verbotsirrturns handle es sich nicht um eine echte Pflicht, sondern um eine Obligation (Werner Schneider, Die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums, Diss. Bonn 1964, S.40); gegen die Unterscheidung Horn, Verbotsirrtum, mit dem Argument, die Konsequenzen der Pflichtverletzung und der Nichterfüllung der Obligation seien identisch (S. 61). Die dogmatische Leistungsfähigkeit des Begriffs der (straf-)prozessualen Obliegenheit zeigt sich in der Diskussion zu Verzicht und Verwirkung im Strafverfahren; dazu Bohnert, NStZ 1983, s. 344 ff. 6

7

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

262

Strafe für pflichtwidriges Unterlassen auf sich nehmen will. Aus dieser Bestimmung der Obliegenheit ergibt sich bereits ihre dogmatische Funktion: Die zurechenbare Verletzung der Obliegenheit, sich das Handlungsvermögen zu erhalten, ermöglicht die außerordentliche Zurechnung des Unterlassens der Rettung. Die Regel, daß eine zurechenbare Unterlassung die Handlungsfähigkeit des Täters zum Zeitpunkt des tatbestandsmäßigen Nichthandelns voraussetze, wird suspendiert, wenn und weil der Täter seine Handlungsunfähigkeit zurechenbar herbeigeführt hat. Bei diesem Konzept erscheint vordringlich die Frage nach der Reichweite und, vor allem, der Herkunft der angenommenen Obliegenheiten. Die Antwort Hruschkas auf die letztere Frage lautet: Die Obliegenheiten sind zu verstehen "als Implikationen der jeweiligen Verhaltensanweisung, auf die sie sich beziehen"8; sie "beruhen auf der Annahme, daß jede Verhaltensanweisung ihren jeweiligen Regelungsbereich mit der größtmöglichen Effektivität regelt"9. Der Grad der Effektivität bestimmt sich dabei nicht nur nach der Erfüllung der Verhaltensanweisung als solcher, sondern auch nach dem Grad der Realisierung von deren Zweck. Die Anweisung "Du sollst einem Schwerverletzten erste Hilfe leisten!" gebiete als solche ("ihrem Sinn nach", wie Hruschka sagt) (nur) die Vornahme möglicher Erste-Hilfe-Handlungen; ihr Zweck zielt aber, darüber hinaus, auf die Erweiterung des Kreises der möglichen Erste-Hilfe-Handlungen in Gefahrensituationen. Dieser Zweck werde "durch die Annahme von Sekundäranweisungen zu gegebenen primären Verhaltens anweisungen" erreicht1o , im Beispielsfall also etwa durch die Annahme der Obliegenheit, sich die Fähigkeiten und die erforderlichen Hilfsmittel zur wirksamen Leistung von erster Hilfe zu verschaffen. Es liegt auf der Hand, daß diese Konzeption zu einer weitreichenden Ausdehnung der Obliegenheiten und damit der außerordentlichen Zurechnung tendiert. Hruschka sucht dieser Gefahr mit Hilfe des Korrektivs der allgemeinen Handlungsfreiheit zu begegnen, durch die die Obliegenheiten in vielen Fällen einzuschränken seien; restriktiv wirkt sich insofern auch die Unterstellung der Obliegenheiten unter die Tatbestandsdogmatik aus (Möglichkeit der Rechtfertigung von Obliegenheitsverletzungen, Voraussetzung der subjektiven Erfüllbarkeit der Obliegenheit). Dieses Zurechnungmodell deckt sich mit der hier vertretenen Konzeption zunächst in der Annahme von Ausnahmeregeln, die bei bestimmten Fallkonstellationen die Zurechnung einer Handlung unter 8

S.426 (vgl. oben Fn.l); vgl. auch Hruschka, Strukturen der Zurechnung,

S.49. g S. 426 f. 10 S.427.

VI. Abgrenzung zum Zurechnungsmodell Hruschkas

263

Suspendierung der anerkannten Regeln der Strafrechts dogmatik erlauben. Zuzustimmen ist im Ergebnis auch der Kritik Hruschkas an der Lösung des Ausgangsfalls über die Lehre von der "Rechtsfigur des Unterlassens durch Begehen"; allerdings scheinen mir die Schwierigkeiten dieser Lösung hier weniger in etwaigen normlogischen Ungereimtheiten der Annahme eines Unterlassens durch Begehung als vielmehr in der Deutung des exzessiven Feierns als tatbestandsmäßiger Tötungshandlung zu liegen, allgemeiner formuliert: Problematisch ist, wie in den Fällen der actio libera in causa, die Interpretation des fehlerhaften Vorverhaltens als Tatbestandserfüllung. Hruschkas Kritik trifft nicht die Lehre vom Begehen durch Unterlassen als solche, sondern lediglich ihre Anwendung in den Fällen eines zurechnungsrelevanten Vorverhaltensl l . übereinstimmung besteht schließlich, bis in die Terminologie hinein, in der Annahme von Obliegenheiten, deren Verletzung keine tatbestandsmäßige Handlung darstellt, aber die Zurechnung der tatbestandsmäßigen Handlung in Ausnahme von den einschlägigen strafrechtsdogmatischen Regeln ermöglicht. Der entscheidende Unterschied zwischen der Konzeption Hruschkas und der hier vertretenen Auffassung liegt in der Herleitung dieser Obliegenheiten und ihrer Lokalisierung innerhalb der Zurechnungssystematik. Gegen Hruschkas Ableitung der Obliegenheiten aus den jeweiligen Verhaltensanweisungen sprechen normlogische, rechtstheoretische und schließlich auch praktische überlegungen. Unter normlogischem Aspekt erscheint problematisch, daß in Hruschkas Modell die Derivate der Verhaltensnormen (Verhaltensanweisungen), nämlich: Pflichten einerseits, Obliegenheiten andererseits, unterschiedlichen deontischen Modalitäten zugehören, daß, in der Terminologie Hruschkas, aus kategorischen Imperativen nicht nur kategorische, sondern auch hypothetische Imperative abgeleitet werden. Zwar lassen sich aus unbedingten Ge- bzw. Verboten beliebig viele bedingte Geund Verbote ableiten12 ; und folglich ist auch die Ableitung eines hypothetischen Imperativs aus einem kategorischen Imperativ korrekt, wenn man den hypothetischen Imperativ als bedingtes Ge- bzw. Verbot versteht. Aber es ist kein hypothetischer Imperativ ableitbar, zu dem nicht ein inhaltsgleicher kategorischer Imperativ ableitbar wäre. Beispiel: 11 Nur auf diese Fälle paßt auch das von Hruschka als Alternative angebotene Modell der "außerordentlichen" Zurechnung; es versagt dagegen, wenn der Täter einen eigenen Rettungsbeitrag zurücknimmt. Ob Hruschka auch für diese Fälle von der Lehre vom Unterlassen durch Begehung Abschied nehmen will, wird nicht ganz deutlich (vgl. a.a.O., S. 433). 12 Nach der sog. "Abschwächungsregel". Was unbedingt geboten ist, ist auch unter jeder beliebigen Bedingung geboten. Aus q! folgt (für jedes beliebige p)

p-+ql

264

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

Aus dem kategorischen Imperativ "Du sollst keine Tiere töten" läßt sich unter der genannten Bedingung der hypothetische Imperativ ableiten: "Du sollst keine Katzen töten, wenn Du nicht bestraft werden willst"13. Ebenfalls ableitbar ist aber der kategorische Imperativ: "Du sollst keine Katzen töten!" Hruschkas Zurechnungsmodell beruht aber gerade darauf, daß keine den Obliegenheiten korrespondierenden Pflichten und entsprechend keine den hypothetischen Imperativen korrespondierenden kategorische Imperative existieren. Diese normlogischen Bedenken erscheinen nur in anderer Gestalt, wenn man das Implikationsverhältnis 14 zwischen Verhaltensnorm und Obliegenheit nicht als logischen Einschluß, sondern im Sinne einer wie auch immer zu verstehenden schwächeren Ableitbarkeitsbeziehung deutet. Denn der Zweck einer Norm kann zwar für deren Interpretation (genauer: für die Interpretation des Normsatzes) herangezogen werden; aber er kann nicht zu ihrem Inhalt geschlagen werden; der Zweck des Verbots ist nicht Inhalt des Verbots. Die Ableitbarkeit eines Ge- oder Verbots aus einem anderen Ge- oder Verbot ist aber, gleichgültig wie man den Ableitungsbegriff genau versteht, jedenfalls eine Beziehung zwischen den Inhalten der fraglichen Ge- und Verbote. Die Deutung der Obliegenheiten als "Implikationen der jeweiligen Verhaltensanweisung"15 läßt sich durch den Rückgriff auf deren Zwecke nicht begründen. Dieses Ergebnis könnte den Versuch nahelegen, die fraglichen Obliegenheiten nicht aus den Verhaltensnormen, sondern unmittelbar aus den diesen zugrundeliegenden Zwecken abzuleiten. Dieses Verfahren klingt in der Formulierung Hruschkas an, diese Zwecke würden "durch die Annahme (!) von Sekundäranweisungen zu gegebenen primären Verhaltens anweisungen erreicht" 16. Aber die Methode, aus Zwecken Verhaltensanweisungen abzuleiten, erscheint unzulässig - schon deshalb, weil die Feststellung eines bestimmten Zwecks allenfalls beschreibt, was erreicht werden soll, nicht aber, wie es erreicht werden soll. Würde man andererseits auf diese "Wie"-Komponente verzichten, müßte jegliche Zwecksetzung zu einer völligen Paralysierung des sozialen HandeIns führen; denn die fragliche Verhaltensanweisung könnte dann nur lauten, alles zu tun, um den fraglichen Zweck zu erreichen. Der dem § 323 c StGB zugrundeliegende Zweck, bei Unglücksfällen und in Notsituationen effektive Hilfe zu leisten, müßte dann zur Annahme 13 Vorausgesetzt, die Tötung von Tieren ist mit Strafe bedroht. Formal korrekt wäre die Ableitung freilich auch ohne diese Voraussetzung (vgl.

Fn.12). 14 S.426. 16 S.426. 16 S.427.

VI. Abgrenzung zum Zurechnungsmodell Hruschkas

265

einer Obliegenheit führen, sich so gut wie irgend möglich für die Hilfe in derartigen Fällen zu rüsten. Jeder Bürger wäre dann zum Studium der Medizin oder zumindest zur Ableistung einer Sanitäterausbildung sowie zur pausenlosen Weiterbildung aufgerufen. Tatsächlich scheint Hruschka von diesen Konsequenzen nicht allzuweit entfernt zu sein, wenn er die Auffassung vertritt, die Anweisung "Du sollst einem Schwerverletzten Erste Hilfe leisten" habe "auch den Zweck, den Kreis der Erste-Hilfe-Handlungen in Gefahrensituationen zu erweitern, soweit sich die äußeren Möglichkeiten für eine Hilfe überhaupt schaffen und der Umfang der erforderlichen Kenntnisse virtueller Handlungspflichtiger überhaupt erweitern lassen"17 und diesen Zwekken entsprechende Sekundäranweisungen zuordnet l8 • Damit ist der praktische Einwand gegen Hruschkas Ableitung der Obliegenheiten angesprochen: Sie führt zu einer Flut sekundärer Verhaltensanweisungen, die durch den Einsatz des Korrektivs der "allgemeinen Handlungsfreiheit" kaum wirksam einzudämmen ist. Denn bei Ableitung dieser Sekundäranweisungen aus dem positiven Recht (nämlich aus den Bestimmungen des StGB) könnte eine Eindämmung konsequenterweise erst an der von der Verfassung (Art. 2 Abs. 1 GG) gezogenen Grenze erfolgen. Selbst wenn man die Vereinbarkeit mit einer über das verfassungsrechtlich garantierte Minimum hinausgehenden allgemeinen Handlungsfreiheit zur Entstehungs- bzw. Bestandsbedingung der fraglichen Obliegenheiten erheben wollte, wäre eine befriedigende Eingrenzung nicht zu gewährleisten. Denn das Kriterium einer allgemeinen Handlungsfreiheit ist bei Verzicht auf die im Verfassungsrecht erreichten Konkretisierungen zu vage, um einen einigermaßen praktikablen Maßstab abzugeben. Diese praktischen Einwände verweisen auf eine Inkonsequenz in dem zugrundeliegenden Zurechnungsmodell.

Hruschka scheint seinen Ansatz, das zur Handlungsunfähigkeit führende Vorverhalten des Täters als Zurechnungsgrund statt als Zurechnungsobjekt zu deuten, nicht konsequent durchzuhalten. In der Exposition ist die Alternative noch scharf gezeichnet: Während die Lehre vom "Unterlassen durch Begehen" aus dem Handlungsgebot ein Verbot ableitet, sich zur Erfüllung dieses Gebots unfähig zu machen, und die Verletzung dieses Verbots der des Gebots gleichstellt, folgt nach Hruschka aus dem Gebot (nur) der "hypothetische Imperativ", "sich bei Strafe der Zurechnung jedes durch eine Handlungsunfähigkeit bedingten Untätigbleibens als ein Unterlassen die Handlungsfähigkeit zu erhalten"19. Der Begriff des hypothetischen Imperativs bezeichnet hier in 17 S.427. 18 ID

S.427. S.422.

266

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

übereinstimmung mit der Verwendung dieses Begriffs bei Kant20 kein Sollen, sondern ein (bedingtes) Müssen. Dieses bedingte Müssen verweist, und das ist entscheidend, nicht auf einen normativen, sondern auf einen "technischen", empirischen Zusammenhang: Wenn der Betroffene die Zurechnung des Nichthandelns im Fall der durch fehlerhaftes Vorverhalten bedingten Handlungsunfähigkeit vermeiden will, dann muß er sich seine Handlungsfähigkeit erhalten. Dieser hypothetische Imperativ enthält ebensowenig ein Gebot, die eigene Handlungsfähigkeit zu erhalten, wie der hypothetische Imperativ "Wenn Du das Konzert von Arrau besuchen willst, mußt Du Dich sofort um Karten kümmern" das Gebot, sich unverzüglich Eintrittskarten zu besorgen. Beide "Imperative" liefern Informationen (über den Zusammenhang zwischen einer bestimmten Handlung und einem bestimmten Erfolg), keine Anweisungen. Dieser rein technische Wenn-Dann-Zusammenhang wird nur scheinbar ins Normative gewendet, wenn der Imperativ in der Formulierung "Du mußt ... tun bei Strafe von ... " erscheint21 • Denn der Begriff der Strafe bezeichnet hier keine Sanktion für einen Normverstoß, sondern lediglich eine tatsächliche, dem Handelnden vermutlich unerwünschte Konsequenz seines Verhaltens. Auch der hypothetische Imperativ "Wenn Du als Fachmann einen Vortrag vor Laien hältst, mußt Du bei Strafe des Nichtverstandenwerdens auf die fachspezifische Terminologie verzichten" enthält kein Verbot, sondern macht lediglich auf bestimmte Handlungsfolgen aufmerksam. Hypothetische Imperative formulieren, mit einem Wort, Richtlinien für - bezogen auf das vom Handelnden Gewollte - funktionales Verhalten. Ihre Mißachtung ist normativ indifferent; sie stellt allenfalls eine Verletzung der "Pflichten gegen sich selbst", nicht der anderen gegenüber bestehenden Pflichten dar. Der hypothetische Imperativ, sich seine Handlungsfähigkeit unter bestimmten Voraussetzungen zu erhalten, formuliert demgemäß kein Ge- oder Verbot, sondern verweist lediglich auf einen bestimmten Haftungszusammenhang. In diesem Punkt sehe ich den entscheidenden Gegensatz zwischen den von Hruschka einander gegenübergestellten Zurechnungsmodellen: Nach der Theorie vom Unterlassen durch Begehen wird in den fraglichen Fällen aus dem Gebot ein Verbot abgeleitet, sich zur Erfüllung des Gebots unfähig zu machen und die Verletzung des Verbots der des Gebots gleichgestellt. Es wird also die Verhaltensnorm um das genannte Verbot erweitert. Demgegenüber kann der Gesichtspunkt, zo "Alle Imperative nun gebieten entweder hypothetisch oder kategorisch. Jene stellen die praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel zu etwas anderem, was man will (oder doch möglich ist, daß man es wolle) zu gelangen vor" (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Bd. IV der Gesammelten Schriften, Berlin 1910 ff., S. 414). 21 Vgl. die bei Fn. 19 zitierte Formulierung Hruschkas.

VI. Abgrenzung zum Zurechnungsmodell Hruschkas

267

daß der Täter seine Handlungsunfähigkeit selbst herbeigeführt hat, im Modell der "Obliegenheitsverletzung" konsequenterweise nur im Rahmen der Sanktionsnorm Berücksichtigung finden; denn es geht nicht um das, was der Täter tun soll, sondern um die Frage, was geschehen kann oder wird, wenn er etwas tut. Der Täter ist nicht verpflichtet, sich seine Handlungsfähigkeit zu erhalten; tut er es nicht, kann er sich auf seine Handlungsunfähigkeit aber nicht berufen, wenn er in diesem Zustand einen Straftatbestand verwirklicht22 . Die Schärfe dieses Gegensatzes geht in Hruschkas Durchführung seines Modells deshalb verloren, weil er die Obliegenheiten aus den primären Verhaltens anweisungen ableiten will 23 • Damit geraten die Obliegenheiten zwangsläufig auf die Seite der Verhaltensnorm und sind in der Konsequenz von den aus der Verhaltensnorm resultierenden Pflichten nicht zu unterscheiden. Demgemäß spricht Hruschka sowohl in bezug auf Pflichten als auch in bezug auf Obliegenheiten einheitlich von "Geboten" und "Verboten"24. Damit aber ist die entscheidende Einsicht aufgegeben; die Einsicht nämlich, daß dem Täter das exzessive Feiern, generell: das fehlerhafte Vorverhalten nicht strafrechtlich verboten ist, daß ihm aber die Berufung auf die dadurch herbeigeführte Handlungsunfähigkeit versagt wird. In der Durchführung unterscheidet sich die von Hruschka vertretene Lösung in wesentlichen Punkten nicht mehr von der von ihm abgelehnten. Nach beiden Modellen wird in Fällen von der Struktur des Ausgangsfalls 25 aus dem primären Gebot ein sekundäres Verbot abgeleitet, dessen Verletzung die Bestrafung aus dem Unterlassungstatbestand rechtfertigt. Freilich bewahrt Hruschkas Modell auch in der Durchführung die Einsicht in die Stufenstruktur der Zurechnung: Als tatbestandsmäßige Handlung wird nicht die Verletzung des sekundären Verbots, sondern die des primären Gebots zugerechnet; die übertretung des Verbots erlaubt lediglich die - außerordentliche, weil entgegen den anerkannten dogmatischen Regeln stattfindende - Zurechnung der Gebotsverletzung. Es stellt sich aber die Frage, ob dieser wesentliche Vorteil des Modells durch dessen Konstruktion hinreichend abgesichert ist. Denn der zu erwartende Einwand, es sei nicht zu sehen, wie die Verletzung des einen Ge- oder Verbots die Zurechnung der Verletzung eines anderen Ge- oder Verbots ermöglichen könne 26 , ist nicht von der Hand zu weisen. 22 Oder ceteris paribus - verwirklichen würde, wenn er handlungsfähig wäre. 23 S. 426 ff.; vgl. auch schon S. 422. 24

S. 427 f.

Zu den verschiedenen Möglichkeiten, aus Ge- und Verboten sekundäre Ge- und Verbote abzuleiten, vgl. S. 427 f. 26 Vgl. etwa Annin Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, S. 329 f. 25

268

B. Zurechnungsmodelle bei "Vorverschulden"

Demgegenüber wird in dem hier vorgeschlagenen Modell die Vorhandlung nicht als Verletzung eines Ge- oder Verbots, sondern als Verwirkung einer Verteidigungsmöglichkeit interpretiert. Die fragliche Regel lautet nicht: Der Täter soll die Situation x herbeiführen (oder: nicht herbeiführen), sondern: Wer die Situation x ... (arglistig, absichtlich, leichtsinnig, vorwerfbar etc.) herbeigeführt hat, kann sich zu seiner Verteidigung (Rechtfertigung oder Entschuldigung) nicht (uneingeschränkt) auf diese Situation berufen. Das ist die gemeinsame Struktur der Regeln, die in den Fällen der vorsätzlichen actio libera in causa, des § 323 a StGB, der vorsätzlich provozierten Notwehrlage, des "verschuldeten" Notstands und des verschuldeten Affekts27 dem Täter die uneingeschränkte Berufung auf eine nach den Regeln der Strafrechtsdogmatik "an sich" gegebene Verteidigungsmöglichkeit versagen. Mit dieser Feststellung werden die einzelnen höchst unterschiedlichen Fallkonstellationen keineswegs über einen Leisten geschlagen; denn sowohl hinsichtlich der Voraussetzungen als auch hinsichtlich der Reichweite der Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten sind weitreichende Differenzierungen möglich. Die Verteidigungsmöglichkeit kann teilweise (so bei § 323 a StGB) oder gänzlich (so in den übrigen diskutierten Fällen) versagt werden; die Versagung kann an ein "Verschulden" hinsichtlich der Tat (so bei der vorsätzlichen actio libera in causa) oder lediglich hinsichtlich der "an sich" rechtfertigenden oder entschuldigenden Situation (so bei § 35 StGB) gefunden werden; schließlich sind hinsichtlich des "Verschuldens" unterschiedliche Anforderungen möglich. Der Gehalt der Regel wird von deren formaler Struktur nicht präjudiziert.

27 Eine andere Struktur weist die Figur des übernahmeverschuldens auf, wenn man als materiellen Grund der Zurechnung nicht das Unterlassen des Erwerbs der erforderlichen Fähigkeiten, sondern die übernahme einer die eigenen Kräfte überfordernden Tätigkeit sieht.

c. Lösungsvorschlag: Die Regeln eines fairen Verantwortungsdialogs als dogmatische Regeln zweiter Stufe

Es hat sich in dem bisher Ausgeführten gezeigt, daß bestimmte Fallgruppen eines zurechnungsrelevanten Vorverschuldens mit Hilfe der "eigentlichen" dogmatischen Regeln nicht erfaßt werden können. Daß dies nicht zu einer Änderung der Sanktionspraxis, sondern nur zu einer Ergänzung des dogmatischen Instrumentariums führen kann, wurde mehrfach behauptet; diese Behauptung soll jetzt eingelöst werden. Angeknüpft werden kann dabei an bereits angesprochene überlegungen zur generalpräventiven Notwendigkeit bestimmter strafrechtlicher Zurechnungsregeln.

I. Die Notwendigkeit der Berücksichtigung von gesellschaftlichen Zurechnungsregeln 1. Generalprävention und gerechte Zurechnung

Bei der Diskussion der generalpräventiven Deutung der Regelung des § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB war die Frage offengeblieben, ob mit dem Rückgriff auf generalpräventive Erwägungen in der dogmatischen Diskussion der Bereich normativer gesellschaftlicher Zurechnungsregeln nicht zu früh verlassen wird 1 . Diese Frage ist an dieser Stelle wiederaufzunehmen. Sie soll von zwei entgegengesetzten Richtungen her erörtert werden; zum einen unter dem Aspekt der Legitimation der Zurechnung, zum andern unter dem eines möglichen Zusammenhangs von gerechter und generalpräventiv erforderlicher Zurechnung. a) Die Notwendigkeit einer normativen Kontrolle präventiver Zurechnungskriterien

Unter dem Aspekt der Legitimation der Strafverhängung ist zu fragen, ob der Durchgriff auf die Strafzwecke, der jedenfalls in bestimmten Fällen eine befriedigende Erklärung strafrechtlicher Zurechnung lOben S. 231.

270

C. Lösungsvorschlag: Rückgriff auf Regeln zweiter Stufe

gibt, diese auch zu begründen vermag. Kann der Richter dem Angeklagten, der sich leichtsinnig in Gefahr begeben hat, die Berufung auf § 35 StGB mit dem Argument versagen, eine Bestrafung sei erforderlich, um künftig schon die Entstehung von Notstandssituationen möglichst zu verhindern? Kann der Gesetzgeber die Regelung des § 35 Abs. 1 Satz 2 Halbs.l Alt. 1 mit einer entsprechenden überlegung begründen? Beide Fragen verlangen nach einer differenzierenden Antwort. Zweifellos können Richter und (erst recht) Gesetzgeber ihre Entscheidungen auch auf präventive Gesichtspunkte stützen; diese tragen die Androhung bzw. Verhängung von Strafe aber nicht allein. Gezeigt werden muß, daß die präventiven Ziele zu Recht mit dem Mittel der Strafdrohung bzw. -verhängung verfolgt werden, kurz: daß es gerecht oder jedenfalls nicht ungerecht ist, die Vornahme der fraglichen Handlungen strafrechtlich zu ahnden. Der verschiedentlich2 erhobene Einwand, generalpräventiv wirksam könne auch die Bestrafung des Schuldunfähigen sein, läuft auf diese Notwendigkeit einer an Gerechtigkeitserwägungen orientierten Steuerung des Einsatzes des präventiven Instrumentariums des Strafrechts hinaus. Wieweit diesem Einwand eine zutreffende bzw. unzutreffende Einschätzung generalpräventiver Wirkungsmechanismen zugrunde liegt, scheint mir nicht nur eine Frage des empirischen Wissens über die Gesetzmäßigkeiten solcher Mechanismen3 , sondern auch ein Problem des zugrundegelegten Begriffs der Generalprävention zu sein; denn das mangelhafte Wissen um generalpräventive Effekte hindert, wie die Erfahrung zeigt, weder eine generalpräventiv begründete Statuierung noch eine general präventive Deutung von Strafnormen; und daß die strengere Handhabung eines Straftatbestands i. S. einer restriktiven Anwendung des § 20 StGB einen generalpräventiven Effekt zeitigen kann, scheint mir, wenn man eine generalpräventive Wirkung der Sanktionspraxis überhaupt anerkennen will, nicht zweifelhaft zu sein. Das gilt freilich nur, wenn man "Generalprävention" im engeren Sinne der Abschreckungsprävention oder der einzelnormbezogenen positiven Generalprävention versteht. Interpretiert man den Begriff im weiteren Sinne, etwa als Stabilisierung des Vertrauens der Bevölkerung in die Rechtsordnung, dann ist es möglich und notwendig, Ge2 Burkhardt, Das Zweckmoment im Schuldbegriff, S.325, 336 f.; ders., Zur Möglichkeit einer utilitaristischen Rechtfertigung des Schuldprinzips, S. 69 ff. Schöneborn, Schuldprinzip und generalpräventiver Aspekt, S.351; Stratenwerth, Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips, S.30. Vgl. dazu die Stellungnahme Roxins, Zur jüngsten Diskussion über Schuld, Prävention und Verantwortlichkeit im Strafrecht, S.300. Zum Problem auch Hart, Prolegomena zu einer Theorie der Strafe, S. 58 ff., 75 ff. Abgewogene Kritik an einer "Funktionalisierung" des Schuldbegriffs bei H. L. Schreiber, Vor dem Ende des Schuldstrafrechts?, passim; ders., Schuld und Schuldfähigkeit im Strafrecht, S. 79 f. 3 So Roxin, Zur jüngsten Diskussion über Schuld, Prävention und Verantwortlichkeit im Strafrecht, S. 300.

I.

Gesellschaftliche Zurechnungsregeln

271

rechtigkeitserwägungen in die Bestimmung des generalpräventiv Erforderlichen einzubeziehen (vgl. unten). Für den engeren Begriff der Generalprävention aber scheint mir der erhobene Einwand zuzutreffen; er läßt sich darüber hinaus noch verstärken. Nicht nur die Bestrafung schuldunfähiger Täter, auch die "Bestrafung" von Nichttätern, etwa von Angehörigen des Täters, kann in diesem Sinne general präventiv wirksam sein4 : Das Bewußtsein, die eigene Familie zu gefährden, mag bestimmte Täter von der Begehung von Straftaten abhalten (negative Generalprävention), und die Ausdehnung der Sanktionen auf Angehörige des Täters mag durchaus geeignet sein, das Gewicht der sanktionierten Norm zu betonen und diese damit zu stabilisieren (einzelnormbezogene positive Generalprävention). Die angeführten Einwände verdeutlichen die Notwendigkeit einer

normativen Kontrolle präventiver Zurechnungskriterien. Für eine sol-

che Kontrolle gibt es prinzipiell zwei verschiedene Möglichkeiten. Man kann einmal das jeweilige Zurechnungskriterium auf seine Vereinbarkeit mit anerkannten normativen Prinzipien hin befragen; hinsichtlich der Bestrafung von Angehörigen wäre dann etwa zu prüfen, ob es mit dem Prinzip der Menschenwürde vereinbar ist, die Angehörigen des potentiellen Täters praktisch als Geiseln zu behandeln. Zum andern kann man versuchen, den von präventiven Bedürfnissen geforderten Zurechnungszusammenhang als Prinzip gerechter Zurechnung zu formulieren. Zu fragen wäre dann, ob sich eine Behauptung wie "Die Angehörigen eines Straftäters sind für dessen Straftaten strafrechtlich mitverantwortlich", verteidigen läßt. Beide Methoden können, müssen aber nicht zu demselben Ergebnis führen. Ob das eine oder das andere der Fall ist, hängt vom Gehalt der normativen Prinzipien ab, die für die Verfolgung des ersten Weges zur Verfügung stehen. Hinsichtlich der strafrechtlichen Zurechnung kommen dabei in erster Linie die Regeln der Schulddogmatik in Betracht. Es scheint nun so zu sein, daß diese Regeln Zurechnungsmöglichkeiten ausschließen, die präventiv sinnvoll sein können und die anhand konsensfähiger Prinzipien legitimer Zurechnung gerechtfertigt sein können. Das läßt sich gerade am Beispiel des § 35 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 Alt. 1 StGB verdeutlichen. Mit Hilfe der Regeln der Schulddogmatik ist jedenfalls die für die Fallgruppe der vom Täter verursachten Gefahr geltende Ausnahmeregelung nicht begründbar; denn hinsichtlich des "Schuldtatbestands" ist ein Unterschied zu den Regelfällen, gleichgültig ob man auf das eingeschränkte AndersHandeln-Können oder auf den besonderen Motivationsdruck abstellt, 4 Als Beispiel einer "stellvertretenden" Bestrafung der Familie des Täters zitiert Hart, a.a.O., S. 69, die römische Lex Quisquis aus dem Jahre 397 n. ehr., die eine Bestrafung der Kinder von Personen vorsah, die sich des crimen majestatis schuldig gemacht hatten.

272

C. Lösungsvorschlag: Rückgriff auf Regeln zweiter Stufe

nicht auszumachen, und den Rückgriff auf die Rechtsfigur der actio libera in causa blockiert die Tatbestandslehre. Dagegen läßt sich ein Zurechnungsprinzip des Inhalts: "Auf entschuldigenden Notstand kann sich vor Gericht nicht berufen, wer die zur Notstandslage führende Gefahr leichtsinnig herbeigeführt hat" als Prinzip gerechter Zurechnung durchaus verteidigen5 • Es kann plausibel gemacht werden, daß in diesem Fall der Täter "keinen Grund zur Klage hat, wenn ihm als schuldhaft zugerechnet wird"6. Ich meine, daß damit den Erfordernissen einer normativen Kontrolle Rechnung getragen ist. Wenn die Regeln der Schulddogmatik das fragliche Zurechnungsprinzip nicht auszuweisen vermögen, sind sie selbst auf ihre Vereinbarkeit mit den Regeln gered'lter Zurechnung hin zu überprüfen. Für die normative Kontrolle präventiv motivierter Zurechnungsprinzipien ist entscheidend: Das Prinzip, das die präventiven Erfordernisse berücksichtigt, muß als Regel einer billigen, den Täter nicht zu Unrecht belastenden Zurechnung formulierbar sein. b) Die generalpräventive Bedentung der Regeln gerechter Zurechnung

Die Notwendigkeit einer Einbeziehung konsensfähiger Zurechnungsprinzipien ergibt sich auch von der anderen, kriminalpolitischen Seite, wenn man die generalpräventive Funktion der Strafe nicht einzelnormbezogen, sondern im Sinne einer Stabilisierung des Rechtsvertrauens oder, auf noch höherer Abstraktionsebene, einer Stabilisierung der Gesellschaft versteht. Die damit angesprochene Alternative verdeutlicht die Notwendigkeit, den Begriff der Generalprävention über die Unterscheidung von positiver und negativer Generalprävention hinaus zu differenzieren. Geklärt werden muß vor allem, ob der Begriff auf das Ziel der Verhinderung von Straftaten oder auf das der Stabilisierung von Gesellschaft bezogen wird. Beide Ziele sind nicht nur different, sondern können in bestimmten Fällen durchaus konträr sein. Zwar mag im Regelfall eine hohe Kriminalitätsrate eine Beunruhigung der Bevölkerung und damit eine tendenzielle Destabilisierung der Gesellschaft zur Folge haben; umgekehrt kann aber gerade die gemeinsame Distanzierung von dem Verbrechen eine sozialintegrative Wirkung zeitigen, und in diesem Sinne kann von einer positiven sozialen Funktion des Verbrechens gesprochen werden 7 • Darüber hinaus sind weitere Mecha5 Da es hier um die Struktur der Zurechnung geht, kommt es auf die Details dieses Prinzips ("leichtsinnige" Verursachung oder nur Verursachung) nicht an. 6 Jakobs, Schuld und Prävention, S. 23. 7 Vgl. Durkheim, De la division du travail social, 7. Aufl., 1960, S.70 (deutsch: über die Teilung der sozialen Arbeit, 1977, S.84); G. H. Mead, The

1. Gesellschaftliche Zurechnungsregeln

273

nismen einer gesellschaftsstabilisierenden Funktion von Verbrechen denkbar; die kollektive Verübung von Verbrechen an Minderheiten mag destruktive soziale Kräfte kanalisieren und zugleich die Gesellschaftsmitglieder durch das Bewußtsein gemeinsamer Schuld aneinander binden; Mechanismen, die etwa in faschistischen Diktaturen eine Rolle spielen mögen. Die Frage einer möglichen gesellschaftsstabilisierenden Wirkung des Verbrechens braucht hier freilich nicht vertieft zu werden; denn es geht ausschließlich um die präventive Bedeutung strafrechtlicher Zurechnung, also um die soziale Leistung der Sanktion, nicht des Verbrechens. Daß diese Frage gestellt werden kann, macht aber deutlich, daß die Gleichung: Verhinderung von Straftaten gleich Stabilisierung der Gesellschaft, nicht aufgeht. So wie das Verbrechen eine stabilisierende, kann umgekehrt die Sanktion des Verbrechens eine destabilisierende Wirkung haben. Das Vertrauen in die Rechtsordnung und die soziale Ordnung überhaupt wird nicht nur durch hohe Kriminalitätsraten oder unsanktionierte Verbrechen, sondern auch durch als ungerecht erlebte Verurteilungen untergraben. Das bedeutet: Zurechnungsprinzipien, die sich nicht als Regeln gerechter Zurechnung ausweisen lassen, laufen Gefahr, per saldo eher zur Destabilisierung als zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung beizutragen. Nimmt man das Echo, das strafrichterliche Urteile in der Tagespresse finden, als Gradmesser der gesellschaftlichen Reaktion, dann verdeutlicht die Kritik, auf die die Verhängung von Freiheitsstrafen gegen sog. "Schwarzfahrer" zu stoßen pflegt, wie hoch hier die gesellschaftlichen Empfindlichkeiten einzuschätzen sind. Über der zweifellos wichtigen und verdienstvollen Thematisierung des gesellschaftlichen Strafbedürfnisses kann die Ambivalenz der Einstellung gegenüber der staatlichen Strafe leicht vernachlässigt werden. Dabei ist es keineswegs eine neue Erkenntnis, daß dieses Strafbedürfnis unversehens in eine Solidarität mit dem dann selbst als Opfer erlebten Täter umschlagen kann, wenn das diesem zuerkannte oder zugefügte Strafübel als ungerecht empfunden wird8 • Die Identifikation mit der strafenden staatlichen Gewalt ist einer ständigen latenten Gefährdung ausgesetzt, weil der einzelne sich nicht nur als deren Nutznießer, sondern auch als ihr potentielles Opfer erlebt 9 • Das Bewußtsein dieser latenten Gefährdung wird dort akut, wo Psychology of Punitive Justice. In: American Journal of Sociology 23 (1918), S. 577 ff., 591; Coser, Some Functions of Deviant Behavior and Normative Flexibility, in: American Journal of Sociology, 68 (1962), passim (deutsch: Einige Funktionen abweichenden Verhaltens und normative Flexibilität, in: Sack/König [Hrsg.], 1974, S. 21 ff.). Dazu Neumann/Schroth, S. 109-111. 8 Vgl. nur Foucault, überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 1977, S. 78 ff. 9 Eine Identifikation mit dem Delinquenten dürfte der Ursprung massivster 18 Neumann

274

C. Lösungsvorschlag: Rückgriff auf Regeln zweiter Stufe

die verhängte Strafe als ungerecht und folglich willkürlich erlebt wird. Gerechte Strafen kann man durch Wohlverhalten vermeiden; vor Willkür ist niemand sicher. 2. Soziale Zurechnungsregeln und "gerechte" strafrechtliche Zurechnung a) Die sozialen (aIltagsmoralischen) Zurechnungsregeln als Maßstab gerechter strafrechtlicher Zurechnung

Auf die Frage, welche strafrechtlichen Zurechnungsprinzipien als gerecht erlebt werden, läßt sich eine ans Tautologische grenzende Antwort geben: Als gerecht erlebt werden diejenigen strafrechtlichen Zurechnungsprinzipien, die mit den alltagsmoralischen Regeln von Verantwortungszuschreibung tendenziell übereinstimmen. Mit dem Abstellen auf die tendenzielle übereinstimmung soll dabei zweierlei zum Ausdruck gebracht werden: Zum einen, daß die Identität der Zurechnungsregeln nicht erforderlich ist, zum andern, daß nicht jede alltagsmoralische Verantwortungszuschreibung eine normative Erwartung staatlicher Strafsanktionen begründet. Die Verantwortungszuschreibung kann unterhalb der Schwelle des als strafwürdig Angesehenen liegen; aber auch in Fällen einer als ganz erheblich angesehenen moralischen Schuld kann ein ernsthaftes Strafverlangen fehlen; so etwa in den Fällen, in denen ein Partner durch rücksichtsloses Verhalten den anderen zum Suizid treibt. Hier mag die moralische Empörung sich in der Behauptung Luft machen, daß der rücksichtslose Partner "eigentlich" bestraft gehöre; ein ernstgemeintes Strafverlangen dürfte in solchen Ausführungen aber nicht zum Ausdruck kommen. Man weiß und akzeptiert, daß eine Tötung im strafrechtlich relevanten Sinne nicht vorliegt. Nicht akzeptabel erscheint der alltagsmoralischen Beurteilung die Exkulpation des Zurechnungskandidaten dagegen in den Fällen, in denen dieser die Voraussetzungen der Exkulpation arglistig herbeigeführt hat. Der Täter, der sich unter diesen Umständen auf den "an sich" gegebenen Entschuldigungsgrund berufen würde, müßte gewärtig sein, daß sein Handeln ein erheblich härterer sozialethischer Vorwurf träfe als eine vergleichbare, nicht unter Notstandsvoraussetzungen ausgeführte Tat. Damit wäre eine strafrechtliche Exkulpation nicht vereinbar. Eine derart gravierende Divergenz von alltagsmoralischer und strafrechtlicher Zurechnung müßte das Vertrauen in die Rechtsordnung erheblich erschüttern; sie kann unter general präventiven Gesichtspunkten nicht hingenommen werden. Aggressionen sein, die sich häufig gegen den ungeschickten Henker entladen; vgl. dazu Schild, Alte Gerichtsbarkeit, 1980, S. 182.

I. Gesellschaftliche Zurechnungs regeln

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b) Der Begriff der sozialen (alltagsmoraliscllen) Zurechnungsregeln

Die Bedeutung, in der der Begriff der sozialen (alltagsmoralischen) Zurechnungsregel hier zu verstehen ist, ergibt sich aus dem sachlichen Zusammenhang; in diesem Sinne geht es hier nicht um eine (voranzustellende) Definition, sondern lediglich um eine Explikation des Begriffs. Unter sozialen (alltagsmoralischen) Zurechnungsregeln sind danach diejenigen generalpräventiv relevanten Regeln zu verstehen, nach denen die Gesellschaft ihre Mitglieder für deren Handlungen verantwortlich macht. Diese Begriffsbestimmung ist nicht hinreichend präzise, um in jedem Einzelfall die Entscheidung darüber, ob eine derartige Regel anzunehmen ist, zu ermöglichen. Das ist für die hier verfolgten Zwecke indes auch nicht erforderlich. Es genügt die Feststellung, daß es - im gekennzeichneten Sinne - soziale (alltagsmoralische) Zurechnungsregeln gibt mit der Struktur "Wer die Situation x arglistig (oder: absichtlich, leichtsinnig, vorwerfbar etc.) herbeigeführt hat, kann sich zu seiner Verteidigung (Rechtfertigung oder Entschuldigung) nicht auf diese Situation berufen". Zur Identifizierung dieser Regeln ist die Regelkompetenz des kompetenten Mitglieds der Gesellschaft ausreichend. Aus dem Erfordernis der generalpräventiven Relevanz (wie auch aus dem Begriff der Zurechnungsregel) folgt, daß es dabei nicht um die Muster spontaner Stellungnahmen zur Verantwortlichkeit von Personen für bestimmte, individuelle Handlungen bzw. Handlungsfolgen geht. Derartige Stellungnahmen können auf Faktoren beruhen, die der Urteilende selbst bei distanzierter Betrachtung als sachfremd ausblenden würde. Von einer Zurechnungsregel in der hier verwendeten Bedeutung kann dagegen nur die Rede sein, wenn sich das Urteil über die Zurechnung als reflexionsstabil erweist, d. h.: wenn der Urteilende ohne persönliches, durch die Beziehung zu einem Beteiligten bestimmtes Engagement sine ira et studio die Entscheidung über die Zurechenbarkeit trifft. Entscheidend ist die Bejahung oder Verneinung der Zurechnung in einem fiktiven Fall bzw., was auf dasselbe hinausläuft, in einer nur durch bestimmte Sachverhaltsstrukturen, nicht durch die Individualität der Beteiligten gekennzeichneten Gruppe von Fällen. Die Abgrenzung zwischen relevanten Merkmalen des Sachverhalts und den nicht zu berücksichtigenden persönlichen Merkmalen der Beteiligten ist freilich alles andere als klar. Methodisch sauber läßt sich die Abgrenzung wohl nur so durchführen, daß man lediglich die bürgerliche Identität der Beteiligten, zu der auch die persönlichen Beziehungen zu dem Urteilenden gehören, ausblendet, alle generellen Merkmale aber als prinzipiell relevant anerkennt. 18·

H. Die Möglichkeit einer Berücksichtigung von gesellschaftlichen Regeln des Sich-Verantwortens : Der strafrechtliche Verantwortungsdialog Der Versuch, die Regeln des sozialen Verantwortungs dialogs über den Ausschluß des Sich-Berufen-Könnens in das vorhandene dogmatische Regelsystem zu integrieren, kann nicht gelingen. Er scheitert daran, daß in den von der Strafrechtsdogmatik verwalteten Wertungen der Gedanke der Verwirkung einer Argumentationsmöglichkeit keinen Platz findet. Die Alternative wäre, sie als eigene Gruppe von Regeln einzuführen, die nicht bestimmen, was im dogmatischen Sinne der Fall ist, sondern darüber entscheiden, worauf sich der Angeklagte (oder auch: die Staatsgewalt) berufen kann. Die Zulässigkeit der Einführung derartiger Regeln in das strafrechtliche Regelsystem wäre freilich zu begründen.

1. Die dialogische Struktur des strafrechtlichen Verantwortlichmachens Die überkommene Trennung von materiellem Strafrecht und Strafverfahrensrecht, die heute freilich zunehmend in Frage gestellt wird1o , tendiert zu einer statischen Betrachtung strafrechtlicher Zurechnung: In der gerichtlichen Kommunikation werden nach vorgeschriebenen Regeln die Tatsachen ermittelt, deren rechtliche Qualifikation Aufgabe des materiellen Strafrechts ist; dialogisch strukturiert ist das Strafverfahren und als dessen Regelungsmuster das Strafverfahrensrecht, nicht aber das materielle Strafrecht. In diesem Modell ist für die Annahme sekundärer Regeln der Strafrechtsdogmatik, die festlegen, unter welchen Voraussetzungen es zulässig bzw. unzulässig ist, sich auf bestimmte primäre Regeln zu berufen, kein Platz. Zwar kennt das Strafprozeßrecht eine Vielzahl von Meta-Regeln, die in bestimmten Fallkonstellationen die Berufung auf Primärregeln ausschließen; hier sind neben der wichtigsten Gruppe der Beweisverbotell etwa die Re10 Vgl. Hassemer, Einführung, S. 106 (Strafrecht und Strafverfahrensrecht "nur an der Oberfläche voneinander getrennt"); grundlegend Volk, Prozeßvoraussetzungen, S. 7 ff. Den Versuch, die Kluft zwischen Straftatsystem und Strafprozeß auf der Grundlage einer "verfassungs rechtlichen Straftatlehre" zu überwinden, unternimmt Marxen, Straftat system und Strafprozeß, passim. 11 Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozeß, 1977; Gössel, Die Beweisverbote im Strafverfahren, Bockelmann-Festschrift 1979, S. 801 ff.; Rogall,

H. Der strafrechtliche Verantwortungsdialog

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geln über die Verwirkung von VerfahrensTÜgen zu nennen12 • Aber es geht bei diesen dogmatischen Regeln zweiter Stufe nicht um die Suspendierung von Zurechnungsregeln, sondern (bei den Beweisverboten) um die Frage, wann ein bestimmter zurechnungsrelevanter Sachverhalt als erwiesen angenommen werden darf bzw. (bei der Verwirkung von Verfahrensrügen) unter welchen Umständen es einem Beteiligten verwehrt wird, sich auf die Nichteinhaltung bestimmter Verfahrens regeln zu berufen. Die Frage, nach welchen Regeln dem Beschuldigten welche Tatsachen zuzurechnen sind, wird von den strafprozessualen Meta-Regeln nicht berührt. Diese scharfe Trennung von Verfahrensregeln einerseits, Zu rechnungsregeln andererseits und die aus ihr resultierende Statik des strafrechtlichen Zurechnungsmodells werden in dem Maße in Frage gestellt, in dem sich die Einsicht durchsetzt, daß das Zur-Verantwortung-Ziehen als solches ein kommunikativer Prozeß ist, daß die Verantwortungsinteraktion bereits mit der Institution der staatlichen Strafe (und nicht erst mit dem Strafprozeß als formalisiertem Verfahren) gegeben ist. Anders formuliert: Wenn der Strafprozeß die Struktur einer Interaktion hat1 3 , dann nicht deshalb, weil es sich um einen Prozeß handelt, sondern deshalb, weil ein Schuldvorwurf erhoben und Verantwortung verlangt wird; dialogisch strukturiert ist schon die Sache, um die es geht, nicht erst das Verfahren, in dem sie verhandelt wird. Daß die dialogische Struktur des Strafverfahrens nicht aus der positiv-rechtlichen Ausgestaltung des Strafprozesses resultiert, daß vielmehr diese Ausgestaltung eine notwendige Folge des Zur-Verantwortung-Ziehens ist, zeigt die interaktive Struktur des Verantwortlichrnachens im vorrechtlichen sozialen Raum. Verantwortung verlangen und Sich-Verantworten sind zwei Momente einer sozialen Interaktion, die sich inhaltlich als Erheben eines Vorwurfs auf der einen, Anerkennung des Vorwurfs oder Rechtfertigungs- bzw. Entschuldigungsversuchen auf der anderen SeiteU darstellt. Das Strafverfahren als typiStand und Entwicklungstendenzen der Lehre von den strafprozessualen Beweisverboten, ZStW 91 (1979), S. 1 ff.; Sydow, Kritik der Lehre von den "Beweisverboten" , 1976. 12 W. Schmid, Die Verwirkung von Verfahrens rügen im Strafprozeß, 1967. Für die Annahme eines Verbots des "institutionellen" Rechtsmißbrauchs im Strafverfahren Ulrich Weber, Der Mißbrauch prozessualer Rechte im Strafverfahren, GA 1975, S. 289 ff. lS Vgl. Arthur Kaufmann, Die Parallelwertung in der Laiensphäre, S. 36 ff. ("Zurechnung als Kommunikationsprozeß"). Zu den geistesgeschichtlichen Hintergründen einer Vernachlässigung der kommunikativen Struktur des strafrechtlichen VerantwortIich-Machens aufschlußreich Giuliani, Imputation et justification, in: Archives de philosophie du droit, 22 (1977), S. 85 ff.; Schild, Der Richter in der Hauptverhandlung, ZStW 94 (1982), S. 37 ff. l' Vgl. dazu Schild, Soziale und rechtliche Verantwortungen, JZ 1980, S. 597 ff.

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C. Lösungsvorschlag: Rückgriff auf Regeln zweiter Stufe

sierte Form des gesellschaftlichen Zur-Verantwortung-Ziehens ist an diese Struktur jedenfalls grundsätzlich gebunden. Das bedeutet: Dialogisch strukturiert sind im Strafverfahren nicht nur die Regeln, die die Form des Verantwortlich-Machens festlegen, sondern auch die Grundsätze, nach denen über die Verantwortlichkeit des Beschuldigten sachlich ("materiell") entschieden wird. Es liegt nahe, sich für die damit vorgeschlagene dialogische Deutung des materiellen Strafrechts auf das vergleichsweise fortgeschrittene Unternehmen einer dialogischen Interpretation eines lange Zeit ebenfalls statisch verstandenen Regelsystems zu berufen; gemeint sind die Versuche einer dialogischen Rekonstruktion logischer Regeln durch Lorenzen und Lorenz15 • In der Tat lassen sich hier Parallelen ziehen, die zur Verdeutlichung der Struktur des strafrechtlichen Verantwortungsdialogs beitragen können; dabei sind vor allem zwei Punkte von Bedeutung: Die Versuche einer dialogischen Begründung der Logik machen zunächst deutlich, daß sich die fraglichen Argumentationsregeln auf einen idealen, nicht auf einen realen Argumentationsverlauf beziehen; sie gelten für Spiele mit bzw. gegen sich selbst in gleicher Weise wie für agonale Argumentationssituationen. Für die dialogische Interpretation der Regeln der strafrechtlichen Verantwortlichkeit heißt das, daß die für das Vorbringen der einen Seite geltenden Argumentationsregeln auch dann greifen, wenn das Argument tatsächlich von der anderen Seite vorgetragen wird. Die Regel, daß sich der Angeklagte auf seine arglistig herbeigeführte Schuldunfähigkeit nicht berufen kann, ist auch dann einschlägig, wenn der Gesichtspunkt der möglichen Schuldunfähigkeit nicht von seiten des Angeklagten, sondern von seiten der Staatsanwaltschaft oder des Richters "ins Spiel" gebracht wird. So wie das Zweipersonenspiel Schach ohne Regeländerung auch von einer Person gegen sich selbst gespielt werden kann, so kann auch der strafrechtliche Verantwortungsdialog ohne ein sich aktiv beteiligendes Gegenüber nach Dialogregeln geführt werden1 !}. Das Schweigerecht des Angeklagten, das für Konzeptionen, die auf die konkrete Interaktion zwischen den Verfahrensbeteiligten abstellen, eine latente Gefährdung 15 Die wichtigsten Arbeiten sind zusammengestellt bei Lorenzen/Lorenz, Dialogische Logik, 1978. Zur rechtstheoretischen Bedeutung vgl. Philipps, Das dialogische Tableau als Werkzeug des Rechts, passim; Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, 1971, S. 267 ff.; Inhetveen, Dialogische Logik in der Jurisprudenz: Dialogregeln und Prozeßordnungen, in: Argumentation und Hermeneutik in der Jurisprudenz, Rechtstheorie Beiheft I, 1979, S. 231 ff. 18 Daß der Richter im Strafprozeß "zwei Rollen übernehmen muß, die Rolle des Gesetzes und die Rolle des Angeklagten", hebt - unter Bezug auf die Problematik der "Parallelwertung in der Laiensphäre" - Arthur Kaufmann hervor (Arthur Kaufmann, die Parallel wertung in der Laiensphäre, S. 39).

11. Der strafrechtliche Verantwortungsdialog

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bedeutetl7 , ist in das hier zur Diskussion gestellte Modell des Verantwortungsdialogs daher ohne Schwierigkeiten einzufügen. Zweitens, und das ist vielleicht der wichtigere Punkt, macht die Diskussion zu den Konsequenzen einer dialogischen Logikbegründung darauf aufmerksam, daß eine dialogische Rekonstruktion von Regelsysternen bestimmte inhaltliche Ergebnisse zwar begünstigt, aber keineswegs erzwingt. Eine dialogische Konstruktion logischer Regeln tendiert, grob gesprochen, zu einem "intuitionistischen" System der Logik18 , in dem der Satz vom ausgeschlossenen Dritten nicht gilt; diese Tendenz kommt in den frühen Arbeiten Lorenzens besonders deutlich zum Ausdruck19 • Andererseits weist Lorenzen von Anfang an darauf hin, daß auch aus einem dialogischen Ansatz bei entsprechender Wahl der Argumentationsregeln die klassische Logik resultiert20 • Entsprechendes gilt für ein dialogisches Verständnis der Regeln strafrechtlicher Verantwortlichkeit. Daß die vorsätzlich provozierte Notwehrlage im Ergebnis nicht zugunsten des Täters berücksichtigt werden soll, ist im Rahmen des Modells des Verantwortungs dialogs plausibel; dem Täter wird die Berufung auf die arglistig herbeigeführten Voraussetzungen eines Entschuldigungsgrundes (im untechnischen Sinne) verwehrt. Daß sie ihm verwehrt wird, ergibt sich aus dem dialogischen Ansatz aber nicht mit Notwendigkeit; mit dem Dialogmodell vereinbar wäre auch die Regel, daß sich der Angeklagte unbeschränkt auf von ihm herbeigeführte rechtfertigende oder entschuldigende Umstände berufen kann. Die dialogische Struktur des Regelkomplexes bestimmt also nicht den Gehalt der Regel. Umgekehrt freilich scheinen bestimmte Regeln der Strafrechtsdogmatik ein dialogisches Modell vorauszusetzen; die hier analysierten Regeln der Struktur: "auf ... kann sich nicht berufen, wer ... " sind mit einem "monologischen" Verständnis des strafrechtlichen Verantwortlich-Machens nicht in Einklang zu bringen. Freilich ließen sich äquivalente Regeln der Struktur formulieren: "Schuldunfähigkeit liegt nicht vor, wenn der Täter den Zustand der Einsichtsbzw. Steuerungsunfähigkeit arglistig (vorsätzlich, leichtfertig etc.) herbeigeführt hat"; aber diesen Regeln fehlte jegliche Plausibilität, weil 17 Vgl. dazu die Diskussionsbeiträge von Volk und Rieß auf der Strafrechtslehrertagung 1981 in Bielefeld zum Referat von Schild und die Replik des Referenten (vgl. Weigend, Tagungsbericht, ZStW 94 (1982), S. 61 f., 66; Neumann, JZ 1981, S.796). 18 Zur rechtstheoretischen Bedeutung der intuitionistischen Logik vgl. Philipps, Rechtliche Regelung und formale Logik, ARSP 50 (1964), S. 317 ff.; ders., Sinn und Struktur der Normlogik, ARSP 52 (1966), S. 195 ff. 19 Vgl. Lorenzen, Logik und Agon, in: Lorenzen/Lorenz, a.a.O., S. 1 ff., passim. 20 Lorenzen, Logik und Agon, S.8; kritisch zu dieser "Allgemeinheit" des dialogischen Ansatzes Essler, Analytische Philosophie I, 1972, S. 197 f.

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C. Lösungsvorschlag: Rückgriff auf Regeln zweiter Stufe

sie völlig heterogene Wertungen (Straflosigkeit des zum Tatzeitpunkt einsichts- oder steuerungsunfähigen Täters einerseits, Gedanke des "venire contra factum proprium" andererseits) begrifflich zusammenfassen. Der Versuch schließlich, zur Vermeidung dieser Wertungskonfusion zwar auf die Meta-Ebene auszuweichen, dies aber im Rahmen eines monologischen Modells, bliebe ebenfalls unbefriedigend. Regeln der Struktur: "Die Schuldunfähigkeit des Täters zur Tatzeit ist nicht zu berücksichtigen, wenn der Täter seine Einsichts- bzw. Steuerungsunfähigkeit selbst ... herbeigeführt hat" bleiben begründungsbedürftig, weil sie den entscheidenden Gesichtspunkt der "Verwirkung" der Entschuldigung nicht zu erfassen vermögen. Dieser Gesichtspunkt setzt eine eigene, "verwirkbare" Verteidigungsmöglichkeit des Täters und damit eine dialogische Struktur des strafrechtlichen VerantwortlichMachens voraus. An diesem Punkt endet die Parallele zur dialogischen Logikbegründung, weil kein logischer Kalkül eine dialogische Interpretation zwingend erfordert. Die dialogische Konstruktion "begründet" logische Systeme nicht im Sinne einer inhaltlichen Rechtfertigung, sondern nur im Sinne einer Korrespondenz von bestimmten "Spielregeln" einerseits und bestimmten Logiksystemen andererseits. Erst recht vermag die Möglichkeit einer dialogischen Interpretation logischer Kalküle kein Argument für eine entsprechende Deutung des strafrechtlichen Verantwortlich-Machens zu liefern; die hier gezogene Parallele ist zwar geeignet, bestimmte Strukturmomente des "Verantwortungsdialogs" zu erhellen, sie gibt aber für die Frage, ob und wieweit das Modell "Verantwortungsdialog" die Wirklichkeit des Bestrafungsprozesses zu erfassen vermag, nichts her. Näher an die dialogische Struktur des strafrechtlichen Verantwortlich-Machens heran führt die sich aufdrängende Parallele zu der Regelung des anglo-amerikanischen Strafverfahrens, derzufolge mögliche Rechtfertigungs- bzw. Entschuldigungsgründe vom Angeklagten als Verteidigung ("defense") vorgetragen werden müssen2!. Die behauptete Grundstruktur des strafrechtlichen Verantwortungsdialogs, die Gliederung in eine "Vorwurfsstation" und eine "Verteidigungsstation" manifestiert sich hier in den strafprozessualen Regelungen. Mit dieser Feststellung soll ein tatsächlicher, nicht indes ein normativer Zusammenhang konstatiert werden. Keinesfalls kann argumentiert werden, aus der dialogischen Struktur des Verantwortlich-Machens folge in irgendeinem Sinne die Notwendigkeit oder auch nur Vorzugswürdigkeit der 21 Vgl. Honig, Das amerikanische Strafrecht, in: Mezger/Schönke/Jescheck, Das ausländische Strafrecht der Gegenwart, Bd.4, 1962, S. 7 ff., 142 ff.; GTÜnhut, Das englische Strafrecht, in: Mezger/Schönke/Jescheck, Das ausländische Strafrecht der Gegenwart, Bd.3, 1959, S. 133 ff., 197; Bähr, Strafbarkeit ohne Verschulden (Strict Liability) im Strafrecht der USA, 1974, S.25.

11. Der strafrechtliche Verantwortungsdialog

281

anglo-amerikanischen Regelung; ebensowenig ließe sich behaupten, daß ausweislich des jeweiligen Strafverfahrensrechts zwar nach anglo-amerikanischem, nicht aber nach deutschem Recht das strafrechtliche ZurVerantwortung-Ziehen eine dialogische Struktur aufweise. Die prozessualen Unterschiede tragen nicht über die Feststellung hinaus, daß diese Struktur in einem Verfahren, das Züge des Parteienprozesses trägt, deutlicher zum Ausdruck kommt, als in einem der Tradition des Inquisitionsprozesses verpflichteten Verfahren. Daß die Aufteilung von Vorwurf einerseits, Rechtfertigung bzw. Entschuldigung andererseits durch die Form des Strafverfahrens nicht konstituiert wird, ergibt sich auch aus der Unmöglichkeit, aus dem Gegenüber zweier Parteien allein eine konkrete Verteilung der Behauptungslasten zu gewinnen. Ob die Klägerpartei das Fehlen oder die Beklagtenpartei das Bestehen einer Notwehrlage behaupten muß, wird durch die Ausgestaltung des Verfahrens als "Parteiprozeß" nicht präjudiziert. Vielleicht noch deutlicher wird die Selbständigkeit der dialogischen Struktur der Verantwortungsinteraktion gegenüber der Verfahrensform im Kontext der Regelungen, die hinsichtlich der Voraussetzungen von Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründen die Beweislast dem Angeklagten aufbürden. Zu Recht sagt Herrmann: "In der Verlagerung der Beweislast auf den Angeklagten ... zeigt sich das Erbe des Parteiprozesses, in dem jede Seite gehalten ist, die für sie günstigen Tatsachen zu beweisen"22. Aber der Gesichtspunkt, ob es um eine für die eine oder für die andere Partei günstige Tatsache geht, trägt die konkrete Beweislastverteilung nicht, weil jeder für den Kläger günstigen Tatsache Tl eine für den Angeklagten günstige komplementäre Tatsache T2 entspricht. Die Schuldunfähigkeit des Angeklagten ist für diesen, seine Schuldfähigkeit für den Ankläger eine "günstige" Tatsache. Der Gesichtspunkt der für eine Seite günstigen Tatsache liefert kein Kriterium für die Abgrenzung der Vorwurfs- und der Verteidigungsstation, sondern setzt die Fixierung dieser Grenze voraus. Aus der Idee des Parteien prozesses ist allein die Möglichkeit einer Aufteilung der Beweislast zu gewinnen, nicht aber der Grenzverlauf zwischen Regelverletzung einerseits, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen andererseits; diese Grenze kann nur anhand der Struktur des "Verantwortungsdialogs", nämlich der Abschichtung von vorwurfs relevanten und verteidigungsrelevanten Gesichtspunkten, markiert werden. Auch hier ist freilich zu betonen, daß die Idee des Verantwortungsdialogs keineswegs zu einer bestimmten Beweislastverteilung zwingt. Ob man den Angeklagten hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzun22

Herrmann,

ZStW 93 (1981), S. 654 (Hervorhebung von mir).

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C. Lösungsvorschlag: Rückgriff auf Regeln zweiter Stufe

gen eines Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrundes eine - möglicherweise gemilderte - Beweislast auferlegen darf, ist eine Frage der Anforderungen, die in einem fairen Verantwortungsdialog an die Reichweite des in dubio-Grundsatzes gestellt werden müssen, nicht der Struktur der Verantwortungsinteraktion. Umgekehrt aber ist die Anerkennung einer Beweislast des Angeklagten nur im Rahmen eines Modells des Verantwortungsdialogs diskutierbar23 • Die Implikation zwischen Verantwortungsdialog und Beweislastverteilung ist, ebenso wie die zwischen Verantwortungsdialog und Darlegungspflicht, nicht umkehrbar: Die Beweisbelastung des Angeklagten zwingt zur Anerkennung der dialogischen Struktur des strafrechtlichen zur Verantwortung-Ziehens, nicht aber die Anerkennung dieser Struktur zur Einführung einer Beweislast des Angeklagten. Die prozessualen Regelungen können die Struktur des Verantwortungsdialogs zum Ausdruck bringen oder verdecken; entscheidend ist, daß der gesellschaftliche Prozeß des jemand zur Verantwortung-Ziehens in die "Stationen" des Vorwurfs einerseits, von Rechtfertigungen und Entschuldigungen andererseits gegliedert ist und daß diese Gliederungen auch die Regeln der strafrechtlichen Zurechnung als einer formalisierten Weise des gesellschaftlichen zur Verantwortung-Ziehens beeinflußt. Die Analysen der Segmentierung von Verantwortungsinteraktionen bei Austin24, Scott/Lyman 25 und Rehbein26 können hier nicht im einzelnen referiert werden; das ist indes auch nicht erforderlich. Denn für die Möglichkeit, die dogmatischen Regeln zweiter Stufe in ein Modell der strafrechtlichen Verantwortungsinteraktion zu integrieren, kommt es lediglich auf die Gliederung in Vorwurfsphase einerseits, Rechtfertigungs- bzw. Entschuldigungsphase andererseits an. Diese Segmentierung schafft einen Bezugspunkt für das Ansetzen des Rechtsmißbrauchsgedankens, der in einem monologischen Modell des Verantwortlich-Machens nicht verankert werden kann. Zur Erläuterung kann auf die Erörterung der Fälle der vorsätzlichen Provokation einer Notwehrlage zurückgegriffen werden. Daß in der Verteidigungshandlung als solcher eine mißbräuchliche Rechtsausübung nicht gesehen werden kann, wurde oben dargelegt. Eine andere Hand23 Inwieweit das auch für die Zulassung eines Anscheinsbeweises im Strafprozeß gilt, bedarf einer gesonderten Prüfung. Für die Möglichkeit der Anwendung des Anscheinsbeweises im Strafverfahren ohne Bezug zu einem entsprechenden Modell Volk, GA 1973, S. 161 ff. (gegen die h. M.). 24 J. L. Austin, Wort und Bedeutung, S. 177 ff. 25 Scott/Lyman, Accounts, in: American Sociological Review 33 (1968), S. 46 ff. (deutsch: "Praktische Erklärungen", in: Auwärter/Kirsch/Schröter, Seminar: Kommunikation, Interaktion, Identität, 1976, S. 73 ff.) H Rehbein, Entschuldigungen und Rechtfertigungen, in: Wunderlich (Hrsg.), Lingvistische Pragmatik, 1972, S. 288 ff.

Ir. Der strafrechtliche Verantwortungsdialog

283

lung des Provokateurs aber kommt als Anknüpfungspunkt des Rechtsmißbrauchsprinzips nicht in Betracht, wenn man die strafrechtliche Bewertung seines Verhaltens als Subsumtion unter die Regeln des Strafrechts, als Beurteilung der Handlung durch den Richter anhand von durch Strafgesetz und Strafrechtsdogmatik vorgegebenen Maßstäben versteht. In diesem monologischen Modell ist für den Gedanken des Rechtsrnißbrauchs kein Platz, weil der Täter ein Recht nicht geltend machen muß; lag eine Notwehrsituation vor, dann hat das Gericht dies im Rahmen der Prüfung der Rechtswidrigkeit der Tat zu berücksichtigen. Anders, wenn man das strafrechtliche Verantwortlich-Machen im Rahmen eines dialogischen Modells interpretiert. In diesem Falle ist es - im Sinne der Zuteilung von Zuständigkeiten im Argumentationsverlauf - Sache des Angeklagten, sich auf Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe zu berufen. Die Befugnis, einen Rechtfertigungsoder Entschuldigungsgrund geltend zu machen, ist freilich kein "Recht" im rechtstechnischen Sinne; und insofern trifft der Begriff "Rechtsrnißbrauch" in den fraglichen Fällen nicht genau. Er bezeichnet aber die Struktur der Zurechnung: Der Angeklagte kann sich auf eine Position, die er arglistig oder sonst in zurechenbarer Weise erworben hat, nicht mit Erfolg berufen; seine Verteidigung mißlingt. Unter sprachtheoretischem Aspekt ließen sich die Unterschiede zwischen dem monologischen und dem dialogischen Modell folgendermaßen skizzieren: Nach dem monologischen Modell erschöpft sich die rechtliche Relevanz der sprachlichen Äußerung des Angeklagten, soweit sie nicht als Prozeßhandlungen gedeutet werden, in ihrem Beweiswert. Sie werden als Tatsachenbehauptungen verstanden, über deren Wahrheitsgehalt im Wege der Beweiswürdigung zu entscheiden ist. Beruft sich der Angeklagte auf eine Notwehrsituation, so prüft das Gericht, ob die nach § 32 StGB und den Regeln der Notwehrdogmatik erforderlichen äußeren und inneren Tatsachen vorhanden waren. Das Sich-auf-Notwehr-Berufen des Angeklagten wird als Behauptung verstanden, daß die Voraussetzungen einer Notwehrsituation vorgelegen hätten. Diese Deutung verfehlt nach dem dialogischen Modell aber den Sinn des Sprechaktes. Wer sich auf Notwehr beruft, stellt nicht nur eine Behauptung auf, sondern tut damit noch etwas anderes: Er unternimmt es, sein Verhalten zu rechtfertigen. So wenig sich die Äußerung des Vaters zu seinem Sohn: "Ich werde dir zum Geburtstag ein Fahrrad schenken" auf eine Behauptung über den Eintritt eines künftigen Ereignisses reduzieren läßt, so wenig erschöpft sich die Berufung des Angeklagten auf eine Notwehrsituation in der Behauptung vergangener Sachverhalte. Die Äußerung des Vaters bedeutet ein Versprechen, die

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C. Lösungsvorschlag: Rückgriff auf Regeln zweiter Stufe

des Angeklagten den Versuch einer Rechtfertigung. Weil sie sich nicht in der Behauptung eines bestimmten Sachverhalts erschöpft, kann die Berufung auf Notwehr nicht nur dann mißlingen, wenn die Behauptung inhaltlich falsch ist. Hier zeigt sich das Mißverständnis, das allen Versuchen zugrunde liegt, die Fälle des Vorverschuldens auf der dogmatischen Ebene erster Stufe zu lösen. Das Geltendmachen einer Notwehrlage wird ausschließlich als Behauptung über das Bestehen eines dogmatischen Sachverhalts interpretiert; konsequenterweise kann das Vorbringen nur mit der Begründung zurückgewiesen werden, daß diese Behauptung falsch sei, der behauptete (normative) Sachverhalt nicht bestehe. Diese Deutung zwingt zu jenen dogmatischen Konstruktionen, deren Inkonsistenz für einige Fallgruppen eines zurechnungsrelevanten Vorverschuldens oben nachgewiesen wurde. Erkennt man dagegen, daß mit dem Geltendmachen der Notwehrsituation nicht nur ein Wahrheitsanspruch, sondern auch ein "Rechtfertigungsanspruch" verbunden ist, daß darin nicht nur eine Tatsachen- und Normbehauptung, sondern auch eine Verteidigung liegt, dann wird deutlich, daß die Berufung auf einen Rechtfertigungsgrund aus Gründen mißlingen kann, die mit der Frage der Wahrheit des Behaupteten nichts zu tun haben. Für das Fehlschlagen des Rechtfertigungsversuchs können neben den dogmatischen Regeln (erster Stufe) auch die Regeln des strafrechtlichen Verantwortungsdialogs (dogmatische Regeln zweiter Stufe) verantwortlich sein. 2. Das Verhältnis gesellschaftlicher und rechtlicher Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgrüpde Deutet man das rechtlich normierte System staatlichen Strafens in dieser Weise als formalisierte gesellschaftliche Verantwortungsinteraktion27 , dann erhalten die Rechtfertigungs- bzw. Entschuldigungsgründe des materiellen Strafrechts einen neuen bzw. ihren "eigentlichen" Sinn. Sie bezeichnen dann nicht mehr bestimmte Stationen und Weichenstellungen der richterlichen Fallprüfung, sondern stellen Regeln zur Verfügung, nach denen der zur Verantwortung Gezogene den gegen ihn erhobenen Vorwurf zurückweisen oder abmildern kann. Die Regeln des Strafrechts und der Strafrechtsdogmatik selektieren aus der Vielzahl der Typen sozialer Verantwortungsstrategien, zu denen etwa auch der Gegenangriff 28 oder das Bestreiten der Kompetenz des Verantwortung Verlangenden gehört, einen Kanon von Argumentationsmustern, die dem Angeklagten zu seiner Verteidigung zur Verfügung stehen. Der wegen eines Diebstahls Angeklagte kann sich nicht darauf 27 Zum Strafverfahren als formalisierter Konfliktverarbeitung Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973, S. 195 ff. 28 Schild, JZ 1980, S. 599.

11.

Der strafrechtliche Verantwortungsdialog

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berufen, daß der amtierende Staatsanwalt oder Richter sich seinerseits eines entsprechenden Delikts schuldig gemacht habe oder daß der Staat für die Begehung bestimmter Straftaten verantwortlich sei 29 ; er kann aber geltend machen, daß er sich in einer Notlage befunden oder in einem seelischen Ausnahmezustand gehandelt habe. Die Asymmetrie der forensischen Kommunikation30 äußert sich auch in einer Beschneidung der im sozialen Raum möglichen Verantwortungsstrategien. Auch soweit die sozial möglichen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsstrategien die Grenze des strafrechtlich Zugelassenen passieren dürfen, werden sie nicht unverändert übernommen. Die präzise Struktur der diesen Strategien korrespondierenden Argumentationsmuster wird von der Strafrechtsdogmatik nach Gesichtspunkten der Systemverträglichkeit festgelegt. Das heißt: Rechtfertigungs- und Entschuldigungsstrategien werden strafrechtlich relevant nur in der Form, in der sie in das strafrechtsdogmatische Regelsystem integrierbar sind. So kann ein dogmatisches System, das als Bezugspunkt von Unrecht und Schuld allein den Zeitpunkt der Vornahme der tatbestandsmäßigen Handlung bestimmt, die Wiedergutmachung des angerichteten Schadens nicht als Entschuldigungsgrund, sondern allenfalls als Gesichtspunkt der Strafzumessung adaptieren31 • Die zugelassenen Verteidigungsstrategien werden nach Gesichtspunkten der Systemverträglichkeit in dogmatische Regeln transformiert. Diese Transformation betrifft nicht nur den Gehalt, sondern auch den formalen Charakter der Regeln. Denn die Einbindung in das dogmatische System verleiht den Regeln praktischer Argumentation den Status theoretischer Aussagen. Sie werden nicht mehr als Festlegung zulässiger Verteidigung, sondern als Feststellungen über dogmatische Zusammenhänge interpretiert. 29 Wieweit die strafrechtlichen Regeln eine Berücksichtigung des tu quoqueEinwands gegenüber dem Opfer zulassen, ob etwa die Bestimmung des § 199 StGB auch auf diesen Gedanken zurückgeführt werden kann, wäre im einzelnen zu prüfen. Auf die Möglichkeit einer solchen Verteidigung weist bereits Aristoteles hin (Nikomachische Ethik, 1149 b, 6-13). 30 Dazu Rottleuthner, Zur Soziologie richterlichen HandeIns (11), KJ 1971, S. 60 ff., 82 ff.; zuletzt Hassemer, Einführung, S. 121 ff. 31 Auch diese gesetzlich fixierte (§ 46 Abs.2 StGB) Möglichkeit ist nicht unproblematisch, wenn man am Prinzip der Korrelation von Tatschuld und Strafhöhe festhält; zu den daraus resultierenden Indizkonstruktionen vgl. Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 562 ff. Diese Konstruktion versagt freilich dann, wenn auch die Wiedergutmachung des Schadens durch Dritte zu berücksichtigen ist (so § 34 Ziff.14 ÖStGB; dafür auch Maurach/Zipf, AT/2, S.474; anders BGH VRS 14, S.59; Schönke/Schröder/Stree, § 46 Rdnr.40); richtig Burgstaller, Grundprobleme des Strafzumessungsrechts in Österreich, ZStW 94 (1982), S. 127 ff., 140 f., der zutreffend hervorhebt, daß diese Regelung nur mit Präventionsüberlegungen zu erklären sei.

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C. Lösungsvorschlag: Rückgriff auf Regeln zweiter Stufe

Dieser Statuswechsel, genauer: die Notwendigkeit dieses Statuswechsels, hat wiederum weitreichende Auswirkungen für die Auswahl der strafrechtlich relevanten sozialen Verantwortungsstrategien. Denn Regeln, die sich dieser Transformation verweigern, müssen von dem Strafrechtssystem abgewiesen werden. In einer auf den Grundkategorien von Tatunrecht und Schuld aufgebauten Strafrechtsdogmatik fallen darunter alle Regeln, die dem Angeklagten wegen eines bestimmten außertatbestandsmäßigen Verhaltens die Berufung auf eine approbierte Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsregel versagen. Dies wäre unproblematisch, könnte das soziale Handlungssystem "Strafrecht" die Bestimmung des für die strafrechtliche Verantwortlichkeit Relevanten ohne Verlust seiner sozialen Leistungsfähigkeit allein der Strafrechts dogmatik als autonomem Regelsystem überlassen. Das ist indes, wie oben ausgeführt, nicht der Fall. Denn als Mechanismus sozialer Konfliktverarbeitung mit Monopolanspruch ist das Strafrecht zumindest prinzipiell an die Regeln der gesellschaftlichen Zuschreibung von Verantwortlichkeit gebunden. Diese Regeln können von den theoretischen Argumentationszusammenhängen der Strafrechtsdogmatik zwar modifiziert, nicht aber konterkariert werden. Die Regeln, nach denen die strafrechtliche Entscheidung gefunden wird, müssen den Beteiligten intellektuell zugänglich und normativ einsichtig sein. Die daraus resultierenden Grenzen der Einbringung theoretischer Aussagenkomplexe in den Strafprozeß hat Krauß hinsichtlich des möglichen Beitrags humanwissenschaftlicher Sachverständigengutachten zum Erreichen des Prozeßziels dargestellt 32 : Der Sachverständige "sprengt die in der Hauptverhandlung angelegte Kommunikationsstruktur"33, weil Diagnose und Kommunikation nicht zusammenpassen34 • Der Strafprozeß als "persönliche Auseinandersetzung und ,soziales Geschehnis'" ist an die "Formen menschlicher Kommunikation und sozialtypischer Auseinandersetzung" gebunden35 ; "Schuld und Schuldspruch müssen sowohl in ihren empirischen Voraussetzungen als auch in ihren ethischen und sozialen Prämissen und Konsequenzen den an der Verhandlung Beteiligten sachlich und sprachlich faßbar sein"36. Das gilt nicht nur für die Prozeßbeteiligten oder die von der Straftat unmittelbar Betroffenen, sondern für die Bevölkerung insgesamt, auf deren "Rechtstreue" der Bestrafungsprozeß letztlich abzielt. Freilich enthalten die Regeln der sozialen Zu schreibung von Verantwortung auch be32 Krauß, Richter und Sachverständiger im Strafverfahren, ZStW 85 (1973), S. 320 ff. 33

34 35 36

ZStW 85 (1973), S.333. ZStW 85 (1973), S. 347. ZStW 85 (1973), S. 345. Krauß, Das Prinzip der materiellen Wahrheit im Strafprozeß, S 74.

1I. Der strafrechtliche Verantwortungsdialog

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stimmte "Blankettregeln" , deren Ausfüllung durch Sachverständige akzeptiert wird; aber der damit gewährte Vertrauensvorschuß ist jederzeit kündbar und dürfte zur Rückzahlung fällig werden, wenn sich etwa die Anerkennung gruppendynamischer Zwänge als Ex- oder Dekulpationsvoraussetzungen bei den forensischen Gutachtern durchsetzen würde 37 • Das Blanko ist limitiert. Das gleiche gilt hinsichtlich der theoretischen Argumentationszusammenhänge der Strafrechtsdogmatik. Auch hier stößt die Bereitschaft zur Akzeptanz von nach den Regeln der "Wissenschaft" ermittelten Entscheidungen auf Grenzen, die jedenfalls dort erreicht wären, wo der Täter sich zufolge dieser Regeln auf die zum Zwecke strafloser Tatbegehung arglistig herbeigeführte Schuldunfähigkeit berufen könnte. Eine solche Entscheidung würde beim Opfer, bei Dritten und auch beim Täter auf Unverständnis stoßen - letzteres ungeachtet der Tatsache, daß der Täter auf die vermeintliche Lücke des Strafrechts spekuliert hatte; denn gerade die Annahme einer Lücke bestätigt die Bewertung der Handlung als strafwürdig. Der Wendepunkt, an dem die Legitimation der Entscheidung nach den Regeln der Strafrechtsdogmatik sich in die Diskreditierung dieser Regeln durch die Entscheidung verkehrt, ist freilich präzise nicht zu bestimmen - schon deshalb, weil die Rede von einem derartigen "Punkt" das gesellschaftliche Phänomen nur in modellhafter Verkürzung wiedergibt. Für die begrenzten Zwecke dieser Arbeit, der es lediglich um den Nachweis zu tun ist, daß die Strafrechtsdogmatik sich in bestimmten Fällen genötigt sieht, die sozialen, vorrechtlichen Regeln gerechter Zurechnung zu übernehmen, ist eine solche Grenzziehung freilich nicht erforderlich; inwieweit diese Öffnung der Strafrechtsdogmatik einer zwingenden sozialen Notwendigkeit entspricht, kann und muß hier dahingestellt bleiben. Jede Aussage darüber hätte ohne umfangreiche sozialwissenschaftliche Erhebungen spekulativen Charakter. An dieser Stelle nicht zu beantworten ist auch die Frage, inwieweit die Erweiterung der Strafrechtsdogmatik um soziale Zurechnungsregeln, die im System der "eigentlichen" dogmatischen Regeln, nämlich der an der tatbestandsmäßigen Handlung ansetzenden dogmatischen Regeln erster Stufe, nicht abbildbar sind, unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten erträglich ist. Daß diese Frage von eminenter Wichtigkeit ist, bedarf keiner Hervorhebung. Indes wird die rechtsstaatliche Problematik strafrechtlicher Haftung in den Fällen des zurechnungsrelevanten Vorverschuldens durch die hier vorgetragenen überlegun37 Dafür Schumacher, NJW 1980, S. 1880 ff.; krit. Jakobs, Zum Verhältnis von psychischem Faktum und Norm bei der Schuld, S. 136 f.

288

C. Lösungsvorschlag: Rückgriff auf Regeln zweiter Stufe

gen nur aufgezeigt, nicht konstituiert; rechtsstaatliche Bedenken, die gegen das vorgelegte Zurechnungsmodell erhoben würden, müßten an das Strafrechtssystem weitergeleitet werden. Andererseits: Auch wenn rechtsstaatliche Bedenken gegen ein mit lediglich diagnostischem Anspruch auftretendes Modell nicht vorgebracht werden können, bleibt die Frage, ob nicht aus der Diagnose zwingende rechtsstaatliche Bedenken gegen die geübte Praxis resultieren. Ich bin in der Tat der Meinung, daß sich auf der Basis des "Stufenmodells" der Zurechnung ganz erhebliche rechtsstaatliche Vorbehalte gegenüber der strafrechtlichen Haftung jedenfalls in den Fällen der gesetzlich nicht geregelten Berücksichtigung des "Vorverschuldens" ergeben. Indes würde die Forderung, in all diesen Fällen die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Täters zu verneinen, über das Ziel hinausschießen. Die Straflosigkeit des Täters in den Fällen der vorsätzlichen actio libera in causa wäre gesellschaftlich nicht durchsetzbar; das gleiche dürfte für die Fälle der vorsätzlichen Notwehrprovokation gelten, obgleich hier die Möglichkeit besteht, die Rechtsgüterverletzung jedenfalls teilweise dem Opfer zuzurechnen. Für die Konstellation eines - hinsichtlich des fraglichen Erfolgs - allenfalls fahrlässigen "Vorverschuldens" bedarf die strafrechtliche Haftung dagegen intensiver Diskussion. Das gilt insbesondere für die Fälle, in denen ein "fahrlässiges" Vorverschulden zur Vorsatzstrafe führen soll (wie in den Fällen des "verschuldeten" Affekts). Ob in diesen Fällen ein Freispruch wirklich kriminalpolitisch unerträglich wäre, bedürfte der genauen Untersuchung38. Auf der Basis des hier vertretenen Zurechnungsmodells läßt sich ferner eine unüberschreitbare Grenze möglicher Zurechnung markieren. Wenn die fraglichen Fälle der Zurechnungsrelevanz eines nicht tatbestandsmäßigen Vorverhaltens so zu deuten sind, daß es dem Täter wegen dieses Vorverhaltens versagt wird, sich zur Entkräftung des gegen ihn erhobenen Vorwurfs auf bestimmte, "an sich" eingreifende Regeln der Rechtfertigung oder Entschuldigung zu berufen, dann kann der Vorwurf als solcher nicht auf ein Vorverschulden des Täters gestützt werden. Da zur Vorwurfsstation zumindest die Verwirklichung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale gehört39 , kann die Strafbarkeit des Täters nicht mit dem Argument gerechtfertigt werden, er habe den Tatbestand des fraglichen Delikts nur deshalb nicht erfüllt, weil er die Realisierung des fehlenden Tatbestandsmerkmals "schuldhaft" verhindert habe. Nicht haltbar ist dementsprechend das Urteil des Landgerichts Kaiserslautern vom 14.7.19554°. Es ging in dieser Entscheidung Vgl. oben S. 241 bei und in Fn. 4. Unterhalb des tatbestandlich vertypten Unrechts existiert keine "Wertungsstufe" , an die ein rechtlicher Vorwurf anknüpfen könnte. 40 JZ 1956, S. 182. Dazu Bruns, Venire contra factum proprium im Strafrecht?, JZ 1956, S. 147 ff. 38

3D

11. Der strafrechtliche Verantwortungsdialog

289

um die Frage, ob nach § 182 a. F. StGB, der die Verführung eines unbescholtenen Mädchens unter If.j Jahren voraussetzte, strafbar sei, wer dessen "Bescholtenheit" in Unkenntnis seines jugendlichen Alters herbeigeführt hat und die "Verführungen" nach Kenntniserlangung fortsetzt. Die Strafkammer hatte diese Frage mit der Begründung bejaht, der Täter könne "sich nicht auf eine Bescholtenheit berufen, die er durch eine vorherige Verführung selbst herbeigeführt" habe 41 • Ganz abgesehen von der Frage, inwiefern der Täter die "Bescholtenheit" schuldhaft herbeigeführt haben soll: Der Täter braucht sich auf die "Bescholtenheit" nicht zu berufen, wenn die Unbescholtenheit zum Tatbestand gehört und damit Gegenstand des ihm gegenüber zu erhebenden Vorwurfs ist. Dementsprechend können Argumentationsregeln, die diese Möglichkeit des Sichberufens einschränken könnten, nicht zum Zuge kommen. Der Angeklagte braucht sich nicht zu rechtfertigen oder zu entschuldigen, weil bereits die Erhebung eines Vorwurfs fehlerhaft wäre. Eine andere Frage ist, ob sich aus der Bereitschaft, hier auf die für Rechtfertigungs- und Entschuldigungsstrategien geltenden Beschränkungen zurückzugreifen, nicht Schlüsse hinsichtlich der Unrechtsstruktur des § 182 a. F. StGB ziehen lassen. Zu vermuten ist, daß die Zuordnung der Unbescholtenheit zur Vorwurfsstation die Gliederung des sozialen Verantwortungsdialogs verfehlt. Nicht nur die Verführung eines unbescholtenen Mädchens unter 16 Jahren rechtfertigt einen Vorwurf, sondern jede Verführung einer noch nicht 16-jährigen; allenfalls kann dem Täter erlaubt sein, zu seiner Entlastung geltend zu machen, daß dem Opfer angesichts von dessen vor gängigen Erfahrungen ein Schaden nicht zugefügt worden sei. Dafür spricht auch die Neufassung des § 182 StGB, die auf das Merkmal der "Unbescholtenheit" verzichtet. Zwar wird die entsprechende Änderung mit der unter der Herrschaft des § 182 a. F. StGB gegebenen Gefahr der Bloßstellung jugendlicher Zeuginnen begründet 42 ; aber dieser Gefahr kann nur dann durch den Verzicht auf ein Tatbestandsmerkmal begegnet werden, wenn dieses Merkmal für den in dem Tatbestand zum Ausdruck gelangenden Vorwurf nicht konstitutiv ist. Wie auf der einen Seite die Zuordnung des objektiven Tatbestands zur Vorwurfsstation, ist auf der anderen die der Entschuldigungsgründe zu der "Verteidigungsstation" relativ unproblematisch. Schwierige Fragen wirft dagegen die Qualifikation der RechtfertigungsgTÜnde auf. Einerseits hat sich bei der Diskussion der vorsätzlich provozierten Notwehrlage gezeigt, daß auf die Heranziehung von Argumentationsregeln 41 42

JZ 1956, S. 182.

Vgl. Schönke/Schröder/Stree, § 182 Rdnr.4

19 Neumann

290

C. Lösungsvorschlag: Rückgriff auf Regeln zweiter Stufe

nicht verzichtet werden kann; andererseits ist die der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen 43 zugrundeliegende Einsicht unverzichtbar, daß die formale Ausgestaltung von Strafbarkeitsvoraussetzungen zu Tatbestandsmerkmalen oder ihres Fehlens zu Rechtfertigungsgründen zumindest teilweise eine Frage der Gesetzestechnik ist44 • In der Tat wird man die Zuordnung zu einer der beiden Stationen des Verantwortungsdialogs nicht von der formalen Etikettierung "Rechtfertigungsgrund" und "Tatbestandsmerkmal" abhängig machen können. Dem Polizisten, der einen anderen zu einer Straftat anstiftet, um ihn unter den Voraussetzungen des § 127 Abs.2 StPO festnehmen zu können, wird die Berufung auf seine Amtsbefugnis nicht versagt, wohl aber dem Provokateur die Berufung auf eine vorsätzlich herbeigeführte Notwehrsituation. Die Rechtfertigungsgründe "Amtsbefugnis" einerseits und "Notwehr" andererseits folgen hier unterschiedlichen Regeln, die auf eine unterschiedliche Zuordnung zu den Positionen des Verantwortungsdialogs hinweisen. Denkbar wäre, daß der gegen den Polizisten zu erhebende Vorwurf von vornherein nur auf eine unbefugte Festnahme abzielt, so daß die Frage, ob er sich wegen der arglistigen Herbeiführung der Voraussetzung dieser Befugnis auf diese möglicherweise nicht berufen kann, nicht auftritt, während dem Provokateur die Tötung bzw. Verletzung des Angreifers, nicht aber dessen unbefugte Tötung vorgeworfen wird. Daß die hier getroffene Unterscheidung zwischen "vorwurfsrelevanten" und "verteidigungsrelevanten" Umständen tatsächlich den Schlüssel zum Verständnis der dogmatischen Diskussion der Fälle des zurechnungsrelevanten Vorverschuldens liefert, zeigt die unterschiedliche Behandlung der erschlichenen Einwilligung einerseits, des durch Täuschung herbeigeführten Einverständnisses andererseits. Hier wird die Grenze zwischen Tatbestandsmerkmal und Rechtfertigungsgrund nicht nach formalen, sondern nach materialen Gesichtspunkten bestimmt; gefragt wird, ob die Zustimmung des Opfers eine Rechtsgutsverletzung ausschließt oder nur rechtfertigt 45 , mit anderen Worten: ob mit der Zustimmung bereits der mögliche Vorwurf entfällt oder nicht. Zu beachten ist das "Vorverhalten" des Täters nur hinsichtlich seiner Verteidigungsmöglichkeiten, nicht aber, soweit es um den gegen ihn zu erhebenden Vorwurf geht. Vgl. oben S. 19 bei Fn. 18. Vgl. dazu Engels, Der partielle Ausschluß der Notwehr bei tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Ehegatten, S.119, unter dem Gesichtspunkt, ob das Analogieverbot auf den Besonderen Teil des StGB beschränkt werden kann. 45 Grundlegend Geerds, Einwilligung und Einverständnis des Verletzten, Diss. Kiel 1953; ders., ZStW 72 (1960), S. 42 ff.; ders., GA 1954, S. 262 ff., dem die h. M. (mit unterschiedlichen Differenzierungen) folgt; vgl. SK/Samson, vor § 32 Rdnr. 36 ff., Schönke/Schröder/Lenckner, vor §§ 32 ff. Rdnr. 29 ff. 43

44

11. Der strafrechtliche Verantwortungsdialog

291

Auf der Basis eines statischen Zurechnungsmodells ist die herrschende Meinung demgegenüber nicht zu begründen46 • Die Behauptung, daß das Einverständnis rein tatsächlicher Natur, die Einwilligung dagegen mehr rechtlicher Natur sei 47 , liefert keine Rechtfertigung, sondern allenfalls eine zusammenfassende Charakterisierung der fraglichen Differenzierungen; zu begründen sind diese nur, wenn man fragt, was dem Täter vorgeworfen wird und worauf er sich zu seiner Rechtfertigung berufen kann. Mit der Feststellung, daß die h. M. vom Modell des Verantwortungsdialogs her begründet werden kann, sind alternative Lösungsvorschläge nicht abgewiesen; denn diese Begründung erfordert die Annahme bestimmter, vom Modell selbst nicht vorgegebener inhaltlicher Meta-Regeln, die ihrerseits einer Rechtfertigung bedürfen. An diesem Punkt sei nochmals betont, daß mit der Entwicklung dieses Modells ein analytischer, kein normativer Anspruch verbunden ist; es geht um die Beschreibung vorhandener, nicht um die Entwicklung gerechter Zurechnungsprinzipien. 3. Abgrenzung zu Hafts Theorie des Schulddialogs Ein dynamisches Modell strafrechtlichen Verantwortlich-Machens hat, soweit die Frage der Schuld zur Erörterung steht, unlängst Haft entwickelt 48 • Mit diesem Modell stimmt die hier vertretene Konzeption des "Verantwortungs dialogs" in einem zentralen Punkt überein; andererseits ergeben sich in nicht unwesentlichen Punkten erhebliche Differenzen. Obereinstimmung besteht hinsichtlich der Idee der dialogischen Struktur der strafrechtlichen Verantwortungszuschreibung. Mit Recht wendet Haft sich gegen ein statisches Verständnis der Schuld49 und gegen die scharfe Trennung von Strafprozeßrecht und materiellem Strafrecht 50 , in deren Konsequenz die Beschränkung des dialogischen Moments auf das Verfahrensrecht bzw. das Verfahren liegt. In dieser Grundkonzeption ist Haft unbedingt zuzustimmen.

Unterschiede bestehen zwischen der Konzeption Hafts und dem hier vorgeschlagenen Modell dagegen in der Frage der Strukturen und des 46 Daß eine Begründung für die unterschiedliche Behandlung von tatbestandsausschließendem Einverständnis und rechtfertigender Einwilligung fehlt, hebt zu Recht Kühne hervor (JZ 1979, S. 241); vgl. auch Arzt, Willensmängel bei der Einwilligung, 1970, S. 10; Kientzy, Der Mangel am Straftatbestand infolge Einwilligung des Rechtsgutsträgers, 1970, S. 33). 47 So BGHSt 16, 309, 310; 23, 1, 3; Geerds, GA 1954, S. 265 ff. 48 Haft, Der Schulddialog, 1978. 4g Schulddialog, S. 90. 50 Schulddialog, S. 72, 105 f.

292

C. Lösungsvorschlag: Rückgriff auf Regeln zweiter Stufe

Zielpunkts des Verantwortungsdialogs. Nach Haft geht es im Schulddialog um das Aushandeln von Schuld im Einzelfalls1 ; die Schuld sei ein "wandelbarer Gegenstand ... , der seine endgültige Gestalt erst durch den Schulddialog im Konsens der Beteiligten findet"s2. Demgegenüber würde ich eher auf die Regeln des Verantwortungsdialogs als auf den Konsens der Beteiligten abstellen; ob schuldhaftes Handeln vorliegt, entscheidet sich nach dogmatischen Regeln erster und zweiter Stufe, nicht aber nach der übereinstimmenden Auffassung der Dialogpartner. Zwar kann Haft darauf verweisen daß es ein allgemeines alltagssprachliches (und von diesen Regeln unabhängiges) Verständnis von "Schuld" gibt 53 und daß die Behauptung, die rechtliche Schuld habe mit der Frage nach der sittlichen Schuld "nichts zu tun", unhaltbar ist 5'. Aber diese Feststellungen erlauben es nicht, den strafrechtlichen Schulddialog an dem alltagssprachlichen Verständnis des Schuldbegriffs auszurichten. Dazu wäre die Identität des strafrechtlichen und des alltagssprachlichen Schuldbegriffs erforderlich; diese Identität wird aber von Haft nicht behauptet - zu Recht, weil der strafrechtliche Schuldbegriff nur in der Operationalisierung, die er durch die §§ 17, 20, 35 StGB ete. erfahren hat, zugänglich ist, während der alltagssprachliche Schuldbegriff vorgegebene Operationalisierungen nicht kennt. Mit dieser Operationalisierung aber sind - und dieser Punkt ist entscheidend - auch Regeln für die Zu schreibung oder, wenn man will: das Aushandeln strafrechtlicher Schuld gegeben. Die sprachliche Konstituierung von Wirklichkeit, von der Haft zutreffend spricht55 , erfolgt nicht zufällig, sondern nach bestimmten Regeln. Natürlich lassen diese Regeln wiederum Raum für eine differente Herstellung sozialer und psychologischer Wirklichkeit; auch wenn aufgrund intersubjektiv verbindlicher Entscheidungen feststeht, daß zwar der unvermeidbare, nicht aber der vermeidbare Verbotsirrtum die Schuld des Täters ausschließt, kann streitig bleiben, ob im konkreten Fall der Verbotsirrtum vermeidbar war oder nicht. Dabei ist das Streitigbleiben nicht nur so zu verstehen, daß eine tatsächliche Einigung nicht erzielt werden kann, sondern durchaus im Sinne der prinzipiellen Gleichberechtigung der konträren Auffassungen. Die Konsequenzen der jeweiligen Auffassung aber ergeben sich zwingend, und insofern erfolgt das "Aushandeln" von Schuld nach festen Regeln. Der Täter kann behaupten, sein Verbotsirrtum sei unvermeidbar und seine Handlung daher nicht schuldhaft gewesen. Nicht aber kann er behaupten, er habe ohne Schuld ge51 52

53 54

55

Schulddialog, Schulddialog, Schulddialog, Schulddialog, Schulddialog,

S.27. S. 83. S. 25. S. 24. S. 95.

11. Der strafrechtliche Verantwortungsdialog

293

handelt, weil er sich bei Tatbegehung in einem - wenn auch vermeidbaren - Verbotsirrtum befunden habe. Ebenso kann der Täter, der im Zustand der Volltrunkenheit eine Straftat begangen hat, geltend machen, er habe von der stark berauschenden Wirkung des ihm vorgesetzten Getränks weder gewußt noch wissen können und seine Trunkenheit deshalb nicht verschuldet; er wird aber mit dem Einwand nicht gehört, er fühle sich nicht schuldig, weil er infolge des - zugegebenermaßen für ihn vorhersehbaren - Rausches nicht mehr gewußt habe, was er tue. Haft überspringt die von § 323 a StGB der Argumentation gezogene Grenze, wenn er, von der Betroffenheit des Täters ausgehend, die Schuld des Täters dann bejahen will, "wenn es trotz gemeinsamer Anstrengung der Dialogspartner nicht gelingt, die für die Schuld sprechenden Argumente auszuräumen" 56. Noch deutlicher wird die überspielung strafrechtlicher Regeln in der Behauptung, daß bei unbewußt fahrlässigem Handeln "in Einzelfällen der Schulddialog zu dem Ergebnis führen kann, daß eine argumentative Exkulpation mißlingt und die Argumente für eine Bejahung von Schuld nicht aus der Welt zu schaffen sind"57. Besteht Einigkeit darüber, daß der Täter objektiv und subjektiv fahrlässig gehandelt hat, muß die auf das Fehlen einer Willensschuld gestützte Exkulpation mißlingen, und zwar in allen Fällen der Strafbarkeit fahrlässiger Tatbegehung. Hafts Konzeption des Schulddialogs suspendiert die spezifischen Zurechnungsregeln des Strafrechts, weil sie sich an einem vorrechtlichen Schuldbegriff orientiert, auf dessen Rückbindung an den Schuldbegriff des Strafrechts verzichtet wird. Als Modell der strafrechtlichen Zuschreibung von Verantwortlichkeit vermag sie nicht zu dienen.

6ft

57

Schulddialog, S. 103. Schulddialog, S. 96.

III. Ausblick Die vorstehenden Ausführungen werfen mehr Fragen auf als sie beantworten oder auch nur zu beantworten versuchen. Ich halte das selbst für einen Mangel, freilich für einen notwendigen. Die Arbeit ist im eigentlichen Sinne eine Vor-Arbeit; daraus resultieren ihr überwiegend kritischer Charakter wie die Unabgeschlossenheit der positiven Lösungsvorschläge. Ein Ergebnis halte ich freilich für gesichert: Innerhalb der Gesamtheit der effektiven strafrechtlichen Zurechnungsregeln finden sich Regeln eines fairen Verantwortungsdialogs, die sich der Integration in das (gegenwärtige) System der "eigentlichen" dogmatischen Regeln verweigern. Dabei sind die hier erbrachten Nachweise keineswegs erschöpfend. Als weitere Belege wären einerseits die Behandlung der Fälle eines erschlichenen Verwaltungsakts im Umweltstrafrecht58 , andererseits die neuere Rechtsprechung zur "Verwirkung" des staatlichen Strafanspruchs in bestimmten Fällen des Einsatzes eines staatlichen Lockspitzels anzuführen59 ; in beiden Fallgruppen dürfte eine befriedigende Lösung nur über den Gedanken möglich sein, daß die Berufung auf eine arglistig herbeigeführte Rechtslage zu versagen ist. Das letztere Beispiel macht deutlich, daß der Rückgriff auf die Regeln eines fairen Verantwortungsdialogs keineswegs zu Lasten des Angeklagten gehen muß; zumindest insofern ist die Symmetrie der Kommunikation auch vor den Schranken des Strafgerichts gewahrt. Die Punkte, an denen weitergefragt werden könnte und müßte, sind zahlreich und können nicht im einzelnen angeführt werden. Nur auf zwei mir besonders wichtig erscheinende Probleme sei wenigstens kurz hingewiesen. Zum einen müßte die hier nur grundrißartig aufgezeigte Möglichkeit, die Idee einer generalpräventiven Interpretation des Schuldbegriffs mit dem Schuldprinzip durch Einführung einer "Zwischenschicht" konsensfähiger Prinzipien gerechter Zurechnung zu versöhnen, ausgearbeitet und im einzelnen durchgeprüft werden; dabei wird insbesondere die Frage zu erörtern sein, wie weit die hier analysierten Zurechnungsstrukturen durch Rückgriff auf einen sozialen S8

S.3.

Vgl. Schönke/Schröder/Cramer, Rdnr. 17 vor §§ 324 ff.; Horn, NJW 1981,

sv Vgl. BGH NJW 1981, S. 1626; BGH bei Holtz, MDR 1982, S. 448; Lüderssen, Verbrechensprophylaxe durch Verbrechensprovokation?, passim; Berz, Polizeilicher agent provocateur und Tatverfolgung, JuS 1982, S. 416 ff. Seelmann, ZStW 95 (1983), S. 819 ff.; J. Meyer, ZStW 95 (1983), S. 853.

III. Ausblick

295

SchuldbegrifJ60 gerechtfertigt werden können. Das wird eine (und vermutlich nicht nur eine) eigene Arbeit erfordern.

Zum andern kann die Abschichtung von dogmatischen Regeln erster und zweiter Stufe nicht das letzte Wort sein; zu prüfen wäre vielmehr, unter welchen Voraussetzungen eine Integration beider Stufen möglich sein könnte. Zu denken wäre dabei an die Möglichkeit einer durchgehenden Annäherung der dogmatischen Regeln einerseits und der alltagsmoralischen Prinzipien gerechter Zurechnung andererseits; das würde freilich die Bereitschaft der Strafrechtsdogmatik voraussetzen, sich zu Lasten ihres Selbstverständnisses als theoretische Wissenschaft auf die Tradition praktischer Philosophie zu besinnen.

60 Versteht man "Schuld" im Sinne eines "funktionalen bzw. sozialen Schuldbegriffs" als "Zuschreibung gemäß den Normstabilisierungsbedürfnissen der Allgemeinheit" (Streng, JZ 1984, S. 119), dann ist § 323 a StGB auch als Ausnahmeprinzip zu (bzw. als Einschränkung von) § 20 StGB mit dem Schuldprinzip vereinbar (so zutreffend Streng, S. 119). Die Antwort auf die Frage, ob der Verzicht auf die kritische Potenz des Schuldprinzips, der aus dem Rückgriff auf einen "sozialen" Schuldbegriff resultiert, durch die Deutung der Bestrafung als dem Täter zugunsten der Allgemeinheit auferlegtes Opfer und die daraus resultierenden Forderungen nach restriktiver Strafpraxis hinreichend kompensiert wird, steht freilich ebenso noch aus wie die genauere Aufstellung der Bedingungen, unter denen eine Rechtsgutsverletzung als "Unglücksfall" erscheint und deshalb keine "Normstabilisierungsbedürfnisse" auslöst (vgl. Streng, S. 119). Aus der Perspektive eines sozialen Schuldbegriffs wäre die hier entwickelte Analyse dahingehend zu reformulieren, daß eine Rechtsgutsverletzung auch dann, wenn sie der Täter im Zustand der Schuldunfähigkeit verübt hat, dann nicht als Unglücksfall interpretiert wird, wenn der Täter diesen Zustand in (näher zu präzisierender) zurechenbarer Weise herbeigeführt hat. Mit dieser Feststellung kann man sich freilich nicht begnügen, weil die Bestrafung trotz Schuldunfähigkeit dem Täter gegenüber gerechtfertigt werden muß. Das heißt: Es muß gezeigt werden, daß die Regeln, die dem Täter unter bestimmten Voraussetzungen die Berufung auf seine Schuldunfähigkeit versagen, Regeln gerechter Zurechnung sind. Daß ein solches Unternehmen, das sich als zweiter Schritt an die hier unternommene Rekonstruktion dieser Regeln anschließen müßte, den "sozialen" Schuldbegriff sprengen würde, halte ich nicht für ausgemacht; der Normstabilisierung dient nur eine Zurechnung, die als gerecht ausgewiesen werden kann. Näher zum "sozialen Schuldbegriff": Haffke, in: Bierbrauer/Haffke, Schuld und Schuldunfähigkeit, S. 165 ff.; Jakobs, Schuld und Prävention, passim; ders., Strafrecht AT, S. 394 ff.; KTÜmpelmann, ZStW 88 (1976), S. 6 f., 32 ff.; ders., GA 1983, S. 337 ff.; Streng, ZStW 92 (1980), S. 637 ff., 650ff.

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