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German Pages 584 Year 2018
Béatrice Lienemann Aristoteles’ Konzeption der Zurechnung
Quellen und Studien zur Philosophie
Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler und Michael Quante
Band 135
Béatrice Lienemann
Aristoteles’ Konzeption der Zurechnung
ISBN 978-3-11-051675-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-051758-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-051688-3 ISSN 0344-8142 Library of Congress Control Number: 2018950709 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Danksagung
XIII
Abkürzungen
XV
Teil I: Einleitung . .. .. . .. .. . .. .. .. ..
Einleitung 3 Thema des Buches 3 3 Fragestellung Diskussionen zur aristotelischen Konzeption von moralischer Verantwortung 9 Willentlichkeit, Unwillentlichkeit, (freier) Wille und 17 prohairesis Die Ausdrücke „ἑκών“/„ἑκούσιος“ und „ἄκων“/„ἀκούσιος“ Der Begriff des (freien) Willens und Aristoteles’ Begriff der 27 prohairesis Vorbemerkungen zur Textgrundlage 36 Die Echtheit der ethischen Schriften 37 Die relative Chronologie der EE in Relation zur EN und die 40 sog. „gemeinsamen Bücher“ Der Zustand des überlieferten Textes 41 Methodischer Zugang und Überblick über die Gliederung des 42 Buches
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Teil II: Willentlichkeit als notwendige Bedingung für Zurechenbarkeit? . .. .. . ..
Gewalt und Zwang als Ausschlusskriterien für Willentlichkeit 49 Gewalt und Zwang in der Eudemischen Ethik (EE II 8) 50 Gewalt bei Unbeseeltem und Beseeltem 50 Die Testfälle des Beherrschten und des Unbeherrschten 55 Gewalt und Zwang in der Nikomachischen Ethik (EN III 1) 60 Warum bleiben nicht-willentliche gewaltsame Handlungen unerwähnt? 61
VI
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Inhalt
Eindeutige Fälle von Handlungen aus Gewalt gegenüber strittigen 66 Fällen gewaltsamer Handlungen Differenziert Aristoteles sachlich zwischen bia und anankê? 67 „Gemischte Handlungen“ als umstrittene Fälle gewaltsamer Handlungen 73 74 „Gemischte Handlungen“ in der EN Der variable Begriff von Willentlichkeit und Unwillentlichkeit 79 „Gemischte Handlungen“ in der EE 83 Begründung der Unwillentlichkeit „gemischter Handlungen“ in 84 der EE Vergleich der Analysen „gemischter Handlungen“ in der EE und der EN 89 90 Typologie „gemischter Handlungen“ Fälle der Gruppen [I] und [II]: Lobens- und tadelnswerte „gemischte Handlungen“ 95 Fälle der Gruppen [III] und [IV]: Handlungen unter überwältigender 98 Gewalt Hat Aristoteles Dirty hands-Handlungen angenommen? 106
112 Unwissenheit als Ausschlusskriterium für Willentlichkeit „Nicht-willentliche“ und „unwillentliche“ Handlungen aufgrund von Unwissenheit 114 115 .. Terminologische Bemerkungen .. Das Unterscheidungskriterium 118 .. Der inhaltliche Unterschied zwischen unwillentlichen2 und nichtwillentlichen2 Handlungen 121 . Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit 123 .. Terminologische Bemerkungen 124 .. Loenings Deutung als Unterscheidung zwischen Handlungen in partieller und in vollständiger Unwissenheit 125 .. Die Unterscheidung zwischen Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit anhand des Kriteriums der Ursache des Handelns 129 .. Sind Handlungen, die aufgrund von Trunkenheit oder Zorn geschehen, willentlich oder unwillentlich? 132 ... Loening: Handlungen aufgrund von Trunkenheit als unwillentliche, aber tadelnswerte Handlungen 133 .
Inhalt
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VII
Siegler: Handlungen aufgrund von Trunkenheit als unwillentliche, aber tadelnswerte Handlungen mittels einer Modifikation der 137 möglichen adäquaten Bezugsgegenstände von Tadel Heinaman/Meyer: Handlungen aufgrund von Trunkenheit als willentliche und tadelnswerte Handlungen 139 Echeñique: Handlungen aufgrund von Trunkenheit als unwillentliche und nicht-tadelnswerte Handlungen, die auf selbstver141 schuldeter und tadelnswerter Unwissenheit beruhen Beurteilung der alternativen Deutungen von Handlungen aufgrund von Trunkenheit 142 Aristoteles’ Behandlung von Handlungen in Unwissenheit in 146 der EE Unwissenheit über das Worumwillen einer Handlung 149 Tadelnswerte Handlungen aufgrund von nicht-entschuldbarer 152 Unwissenheit Handlungen in Unwissenheit über das moralisch Richtige 156 Übergang zu den Handlungen des Schlechten, der unwissend 157 handelt Die Äquivalenzannahme 160 Beispiele für Handlungen aufgrund von Unwissenheit über 167 einzelne Handlungsumstände Die Beispiele im Einzelnen 169 Resümierende Beurteilung der verschiedenen Einzelhinsichten und 174 ein Vergleich mit EE II 9 und EN V 10
Teil III: Prohairesis als hinreichende Bedingung für Zurechenbarkeit? . . . .. .. ..
Die Textgrundlage zur Behandlung der prohairesis 179 Aristoteles’ Bestimmung der prohairesis in der Nikomachischen Ethik (EN III 4 – 6) 180 Aristoteles Bestimmung der prohairesis in der Eudemischen Ethik (EE II 10 und 11) 189 Terminologische Bemerkungen zum Ausdruck „prohairesis“ 202 Der erste Kandidat: „Wahl“ 204 Diskussionsfrage: Was drückt die Vorsilbe im Kompositum „προαίρεσις“ aus? 206 Der zweite Kandidat: „Entschluss“ oder „Entscheidung“? 209
VIII
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Inhalt
Der dritte Kandidat: „Vorsatz“ 213 Diskussionsfrage: Setzt eine prohairesis die Wahl zwischen 216 mindestens zwei Alternativen voraus? Bestimmung der prohairesis der Gattung nach mittels eines Ausschlussverfahrens (EN 1111b4 – 1112a17; EE 1225b17 – 24, 1226a17 – 20 und 1226b30 – 36) 225 Vorbereitung der Untersuchung der prohairesis (EN 1111b4 – 10 226 resp. EE 1225b17 – 24) Ausschlussverfahren zur Bestimmung der Gattung der prohairesis (EN 1111b10 – 1112a17 resp. EE 1225b24 – 1226a17 und 228 1226b2 – 9) Begehren (epithymia) und (nicht-rationaler) thymos (EN 229 1111b10 – 19 resp. EE 1225b24 – 31) Wunsch (EN 1111b19 – 30 resp. EE 1225b32 – 37) 235 Meinung (EN 1111b30 – 1112a13 resp. EE 1226a1 – 17) 238 Zwischenfazit zur Bestimmung der Gattung der prohairesis 243 (EN 1112a13 – 17 resp. EE 1226b2 – 9) Behandlung des Spezifischen der prohairesis mittels einer Bestimmung der Überlegung (bouleusis/boulê) (EN 1112a18 – 1113a14 resp. EE 1226a17-b2 und 1226b9 – 1227a18) 245 Terminologische Bemerkung 245 Ausschlussverfahren zur Bestimmung des Gegenstandes der 247 Überlegung (EN 1112a18 – 30 resp. EE 1226a17-b2) Positive Bestimmung des Gegenstandes der Überlegung (EN 1112a30-b11 resp. EE 1226a17-b2 passim und 1226b9 – 20 passim) 252 Der Prozess des Überlegens (EN 1112b11 – 1113a2 resp. EE 1226b9 – 1227a5 und 1227a5 – 18 passim und 1227b25 – 33) 257 Zusammenhang von Überlegung und prohairesis (EN 1113a2 – 14) 265 Analogien und Differenzen zwischen poietischen und praktischen Tätigkeiten 269 281 Überlegung und „Praktischer Syllogismus“ Die Bestimmung der Überlegung in EN III 4 und ihre Relation zu Entschluss und Handlung 283 Praktisches Überlegen und ‚Praktischer Syllogismusʻ 290 Denken und animalische Ortsbewegung 298
IX
Inhalt
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Positive Bestimmung der prohairesis in der Eudemischen Ethik (EE II 304 10, 1226b2 – 1227a5) Überblick über den Argumentationsverlauf in EE II 10 304 Drei vorläufige Bestimmungen der prohairesis 306 Diskussionsfrage: Ist der Wunsch die einzige Art von Strebung, 308 auf der eine prohairesis beruhen kann? Final- und Wirkursache von Handlungen 312 315 Positive Bestimmung der prohairesis (EE II 10, 1227a2 – 5) Bestimmung des Verhältnisses zwischen prohairesis und Wunsch (boulêsis) (EN III 6, 1113a15-b2 bzw. EE II 10, 1227a18 – 31) 317 Gegenstand des Wunsches: Das wahrhaft Gute und das scheinbar Gute (EN 1113a15 – 22) 317 Aristoteles’ Lösungsvorschlag zur aufgeworfenen Schwierigkeit 320 (EN 1113a22 – b2) Das von Natur aus Gute und das scheinbar Gute in der EE 325 (EE 1227a18 – 31) Die boulêsis: Der rationale Wunsch 327 Die Relation zwischen Wunsch (boulêsis) und Entschluss (prohairesis) 336 Bestimmung des Verhältnisses der prohairesis zur Charaktertugend: Eudemische Ethik II 10, 1227a31-b11 und 11, 1227b12 – 343 1228a19 Die Charaktertugend ist eine Mitte zwischen zwei entgegengesetzten Extremen (EE 1227a31 – b11) 343 Die Tugend macht das Ziel und den Entschluss richtig (EE 1227b12 – 25) 345 Das Verhältnis von Tugend und Entschluss (EE 1227b25 – 1228a2) 352 Relevanz der Entschlüsse für die moralische Beurteilung einer Person (EE 1228a4 – 19) 365
Teil IV: Anwendung der aristotelischen Konzeption von Zurechenbarkeit . .
Die Zurechenbarkeit von Handlungen aus thymos 377 Vorläufer der aristotelischen Behandlung des thymos Zwei Grundbedeutungen von „thymos“ bei Aristoteles
378 380
X
Inhalt
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Thymos als eine Strebung (orexis) 382 385 Die Rationalität des thymos Das Überzeugt-Werden des nicht-rationalen Seelenteils durch die Vernunft 389 Die spezifische Rationalität des thymos in EN VII 6 und 7 391 399 Ist das kalon das spezifische Ziel des thymos? Thymos als eine Emotion (pathos) 404 407 Die Behandlung des Zorns in der Rhetorik Gibt es bei Aristoteles pathê im engeren und im weiten Sinn? 409 412 Schlussbemerkung
Zurechenbarkeit plötzlicher Handlungen und unbeherrschter Handlungen aus Voreiligkeit 415 Plötzliche Handlungen 416 Unbeherrschte Handlungen aus Voreiligkeit (propeteia) 420 Drei Ansätze, die Zurechenbarkeit plötzlicher Handlungen zu 423 begründen Der Dispositionen-Ansatz 428 Zurechenbarkeit der Handlungen des Unbeherrschten und des 432 Beherrschten
Teil V: Zurechenbarkeit von Tugenden und Schlechtigkeiten
Textgrundlage: Nikomachische Ethik III 7 und 8
441
Willentlichkeit und Zurechenbarkeit von Charakterdispositionen 451 . Einführung und Zurückweisung der Asymmetriethese: 1113b3 – 14 452 . Vertritt Aristoteles eine indeterministische Position? (1113b7 – 8) 459 . Der aristotelische Kompatibilismus: 1113b14 – 21 466 . Willentlichkeit und Zurechenbarkeit des Charakters: 1113b21 – 1114a31 475 .. Stellt Aristoteles’ Konzeption des Charaktererwerbs eine Schwierigkeit für die Annahme der Verantwortung für den eigenen Charakter dar? 479
Inhalt
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Mit-Verantwortlichkeit der Heranwachsenden für den eigenen 488 Charakter (1114a11 – 31) Wissen um die Folgen der charakterkonstituierenden Handlungen 492 Differenzierung zwischen den adäquaten Reaktionsarten gegen494 über Kindern, Heranwachsenden und Erwachsenen? Die formative und die zurechnende Funktion von Lob und Tadel 498 Aristoteles’ kanonische Theorie von Lobenswürdigkeit 500 Zusammenfassung und Aristoteles’ Konzeption der Mit-Verant506 wortung für den eigenen Charakter Abermalige Zurückweisung der Asymmetriethese (1114a31b25) 511
Ergebnis und Ausblick
519
Teil VI: Anhang .
Bibliographie 527 Textausgaben, Übersetzungen und Kommentare zu Autoren der 527 Antike und des Mittelalters .. Aristoteles 527 530 .. Übrige Autoren . Hilfsmittel 532 . Verzeichnis der zitierten Literatur 532 Namensregister Stellenregister Sachregister
545 549 562
XI
Danksagung Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die 2016 vom Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main angenommen wurde. An erster Stelle gilt mein Dank Friedemann Buddensiek, an dessen Lehrstuhl ich seit 2008 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin bzw. Akademische Rätin tätig bin: Er weckte bei mir das große Interesse an der aristotelischen Ethik und gab damit Anstoß zum Thema dieses Buches. In ihm habe ich einen unermüdlichen Diskussionspartner, einen liebenswürdigen Kollegen und einen Förderer gefunden, wie ich es mir über die Jahre nicht besser hätte wünschen können. Großen Dank schulde ich Hendrik Lorenz, der mich beim Vertiefen wichtiger Punkte meiner Arbeit durch zahlreiche intensive Diskussionen während eines Aufenthaltes in Princeton unterstützt und begleitet hat. Zu danken ist ferner allen fünf Gutachtern meiner Habilitationsschrift, zu denen neben den beiden bereits genannten Personen Marcus Willaschek und Barbara Merker (Goethe-Universität Frankfurt/M.) sowie Philip van der Eijk (Humboldt-Universität zu Berlin) zählen.Wertvolle Anstöße für die systematischen Fragestellungen meiner Arbeit habe ich von Marcus Willaschek sowie den Teilnehmern seines Kolloquiums erhalten. Weiterführende Anregungen und Rückfragen erhielt ich von den Teilnehmenden meiner Seminare zur aristotelischen und neo-aristotelischen Ethik in Frankfurt/ M., Gießen und Berlin sowie von den Diskussionsteilnehmern bei Vorträgen in Frankfurt/M., Münster, Halle, Würzburg, Jena, Washington DC, München, Marburg, Zürich, Leipzig und Erlangen. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Wichtige gedankliche Impulse für die Habilitationsschrift erhielt ich während drei verschiedenen Forschungsaufenthalten. Das Wintersemester 2011/12 konnte ich auf Einladung von Christof Rapp am Center for Advanced Studies (CAS) und als Fellow der Munich School of Ancient Philosophy in München verbringen. Im ersten Teil des Studienjahres 2013/14 hatte ich Gelegenheit, als Fellow am Center for Hellenic Studies in Washington DC zu forschen, im zweiten Teil durch eine Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) als Postdoctoral Research Fellow am Philosophy Department in Princeton. Im Herbst 2015 hatte ich das Privileg, eine dreiwöchige Klausurzeit in der Fondation Hardt in Vandœuvres (Schweiz) zu verbringen. Ich danke dem CAS der LMU, der Harvard University, der DFG und der Fondation Hardt für die großzügige Unterstützung, durch die diese entscheidenden Forschungszeiten ermöglicht wurden. Der DFG danke ich überdies für die Gewährung des Druckkostenzuschusses für die Publikation meiner Habilitationsschrift.
https://doi.org/10.1515/9783110517583-001
XIV
Danksagung
Den Herausgebern sei für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe „Quellen und Studien zur Philosophie“ herzlich gedankt. Gertrud Grünkorn, Johanna Davids und Johannes Parche danke ich für ihre Hilfe bei der Drucklegung des Buches. Mein persönlicher Dank geht zum einen an meine Familie, die mich durch viel Geduld und motivierenden Zuspruch durch die Jahre der Bearbeitung meiner Habilitationsschrift begleitet hat. Zum anderen gilt mein besonderer Dank meiner Doktormutter Dorothea Frede, in der ich über die Jahre nicht nur eine wichtige fachliche Ansprechpartnerin, sondern vor allem auch eine gute Freundin gefunden habe. Ihr ist dieses Buch gewidmet.
Abkürzungen Cael. CAG Cat. APo Apol. De An. EE EN GA GC Gorg. HA Insomn. Leg. LSJ MA Mem. Men. Met. MM OCT PA Phys. Plt. Poet. Pol. PP Prm. Prot. Rep. Rhet. Sph. STh Tht. Top.
De Caelo Commentaria in Aristotelem Graeca Categoriae Analytica Posteriora Apologie De Anima Ethica Eudemia Ethica Nicomachea De Generatione Animalium De Generatione et Corruptione Animalium Gorgias De Historia Animalium De Insomniis Nomoi (Über die Gesetze) Liddell/Scott/Jones/McKenzie, A Greek-English Lexicon De Motu Animalium De Memoria et Reminiscentia Menon Metaphysica Magna Moralia Oxford Classical Texts De Partibus Animalium Physica Politikos De Arte Poectica Politica Problemata Physica Parmenides Protagoras Politeia (Res Publica) Ars Rhetorica Sophistes Summa Theologiae Theätet Topica
https://doi.org/10.1515/9783110517583-002
Teil I: Einleitung
1 Einleitung 1.1 Thema des Buches 1.1.1 Fragestellung Der Titel dieses Buches ist dazu geeignet, Kritiker auf den Plan zu rufen. Der naheliegende Einwand lautet: „Zurechnung“ ist kein Ausdruck, für den sich bei Aristoteles ein griechisches Äquivalent findet, und – schlimmer noch – die Lehre von der Zurechnung ist eine Lehre, die erst in der Rechtswissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts aufgekommen ist. Der lateinische Ausdruck für Zurechnung, „imputatio“, lässt erkennen, wo die Bezeichnung ihren Ursprung hat. Das Verb „imputare“ ist eine Ableitung des Verbs „putare“, das u. a. schneiden bedeutet. Früher wurden Kerben in ein Holz geschnitten, um jemandes Schulden anzuzeigen und zusammenrechnen zu können; und auf diesem Weg erhielt „putare“ die Bedeutung rechnen. Darauf wiederum beruht die Bedeutung zurechnen bzw. anrechnen des Derivats „imputare“.¹ So war der Begriff der Zurechnung von Beginn an eng mit der Zuschreibung von Schuld verknüpft. Als einen terminus technicus hat Samuel von Pufendorf den Ausdruck „imputatio“ in die Rechtslehre eingeführt.² In der Nachfolge ist er vor allem durch Christian Wolff und Joachim Georg Darjes weiter entwickelt worden und wurde insbesondere in Kants praktischer Philosophie ein systematisch wichtiger Begriff.³ Weshalb also gebe ich meinem Buch einen Titel, in dem ich einen Ausdruck verwende, den Aristoteles nicht kannte, um damit eine Lehre zu bezeichnen, deren Behandlung anscheinend in der Neuzeit anzusiedeln ist? Ich knüpfe sowohl in meiner Wortwahl als auch in meinem systematischen Ansatz an die Arbeit des Rechtswissenschaftlers Richard Loening aus dem Jahre 1903 an, die den Titel „Die Zurechnungslehre des Aristoteles“ trägt.⁴ Loening geht von der Erkenntnis aus, dass Pufendorfs Zurechnungslehre eine wesentliche Grundlage in der aristotelischen Philosophie hat. Bei Aristoteles finden sich wichtige Gedanken und Annahmen, die zentral für den später geprägten Begriff Vgl. Hruschka 2004. Vgl. Pufendorfs Elementa jurisprudentiae universalis (1660). Zur Geschichte des Zurechnungsbegriffs seit Pufendorf siehe: Hruschka 1976 und 2004. Kants Definition der Zurechnung in der Metaphysik der Sitten lautet: „Z u r e c h n u n g (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das U r t h e i l , wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann T h a t (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird (6:227).“ Vgl. zur Zurechnung bei Kant: Hruschka 1976 und 2004; Blöser 2014. Loening 1903. https://doi.org/10.1515/9783110517583-003
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1 Einleitung
der (juristischen) Zurechnung sind. Nach dem Grundverständnis von Zurechnung, wie es sich in der neuzeitlichen Rechtswissenschaft entwickelt hat, drückt ein Zurechnungsurteil aus, „dass zwischen einem Geschehen und einer Person ein bestimmter Zusammenhang besteht: Das Geschehen wird als die eigene Handlung der Person charakterisiert, indem es auf ihren freien Willen zurückgeführt wird“.⁵ Wird Zurechnung in diesem spezifisch neuzeitlichen Sinn verstanden, findet sich der Zurechnungsbegriff nicht in gleicher Weise bei Aristoteles: Erstens nicht, weil Zurechnung bei Aristoteles nicht darauf beruht, dass etwas auf den freien Willen einer Person zurückgeführt wird; zweitens nicht, weil in der aristotelischen Konzeption nicht nur Geschehnisse bzw. Handlungen zugerechnet werden, sondern auch Emotionen und Charakterdispositionen Gegenstände der Zurechnung sein können; und drittens nicht, weil der neuzeitliche Zurechnungsbegriff ein juristischer bzw. strafrechtlicher ist, während es sich bei Aristoteles um einen moralischen (bzw. ethischen)⁶ handelt. Trotz dieser Differenzen
Blöser 2014, 1. So auch Loening; Loening 1903, XIII: „[Es handelt sich bei der Zurechnungslehre des Aristoteles; BL] nicht um strafrechtliche oder überhaupt juristische, sondern um e t h i s c h e Zurechnung […].“ Ich spreche von moralischer Zurechnung, die wiederum in enger Verbindung zu moralischer Verantwortung steht. Manche bevorzugen stattdessen die Rede von ethischer Zurechnung, da sich darin das griechische „êthikos“ wiederfindet. Die Verwendung von „Ethik“ und „Moral“ bzw. „ethisch“ und „moralisch“ ist – im Deutschen ebenso wie im Englischen und in romanischen Sprachen – uneinheitlich und variierend. Ich verbinde keine substantiellen Annahmen mit der terminologischen Unterscheidung, sondern wähle im Weiteren „moralisch“ bzw. „Moral“. Manche Autoren nutzen beide Ausdrücke, um zwischen interpersonalen (other-regarding) und selbst-bezogenen (self-regarding) Tugenden und Lastern zu unterscheiden. Damit ist meist die Annahme verbunden, dass in der modernen Moralphilosophie nur interpersonale Tugenden und Laster, vor allem Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Gegenstand normativer Beurteilungen sind, während es für die antike Ethik, insbesondere die aristotelische, kennzeichnend ist, dass auch selbst-bezogene Tugenden und Laster dazu gehören. Daher bevorzugen einige die Bezeichnung „ethisch“ in Anlehnung an „êthikos“ (z. B. Echeñique 2012, 62), während „moralisch“ bzw. „Moral“ auf das lateinische „mos“ bzw. „moralis“ zurückgeht. In vergleichbarer Weise unterscheidet Habermas zwischen dem pragmatischen, dem moralischen und dem ethischen Gebrauch der praktischen Vernunft (Habermas 1991, 100 – 118). Pragmatische Entscheidungen betreffen spezifische Entscheidungen wie z. B. berufs- oder funktionsspezifische Entscheidungen, die bei Aristoteles dem Bereich der Poiesis zuzuordnen sind. Moralische Entscheidungen beziehen sich auf den Kernbereich von Rechten und Pflichten einer Person gegenüber anderen, denen universeller Geltungsanspruch beigemessen wird. Ethische Entscheidungen schließlich beruhen auf dem Selbstverständnis einer Person und der Wahl ihrer Lebensform. Ich gehe nicht weiter auf die Wortgeschichte, die veschiedenen terminologischen Abgrenzungen und ihre jeweilige Nachvollziehbarkeit ein. Nur auf das Verhältnis der modernen Moralphilosophie zur antiken Ethik werde ich weiter unten kurz zu sprechen kommen, da dieser Punkt für meinen Ansatz von Bedeutung ist.
1.1 Thema des Buches
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in der Grundlage und im Gegenstandsbereich von Zurechnung besteht in meinen Augen eine enge Verbindung zwischen der neuzeitlichen Zurechnungslehre und der aristotelischen Konzeption. Diese lässt sich zuvorderst durch den engen Bezug erklären, der zwischen dem Zurechnungs- und dem Verantwortungsbegriff besteht. Der Begriff der Verantwortung hat im Gegensatz zum Begriff der Zurechnung im 20. Jh. stark an Bedeutung gewonnen und erfreut sich zunehmender Beliebtheit – in philosophischen Diskursen, aber auch weit darüber hinaus wie etwa in Parteiprogrammen, Unternehmensbroschüren oder Verlautbarungen alternativer Bewegungen. Allerdings geht mit der wachsenden Verwendung des Begriffs auch ein Zuwachs an variierenden Bedeutungen und bisweilen unklaren Verwendungsweisen einher.⁷ Es lassen sich sinnvollerweise ein prospektiver und ein retrospektiver Begriff von Verantwortung unterscheiden.⁸ Prospektiv verantwortlich ist eine Person für eine Handlung oder einen Zustand, wenn sie die Verpflichtung oder Zuständigkeit hat, in der Zukunft bestimmte Handlungen auszuführen oder durch ihr Handeln einen Zustand herbeizuführen. Die prospektive Bedeutung von Verantwortung betrifft nicht nur moralische Verpflichtungen, sondern z. B. auch rechtliche, politische, familiäre, berufliche oder andere funktionsspezifische Pflichten und Aufgaben. Ferner wird Verantwortung in prospektiver Bedeutung nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Personengruppen, Institutionen oder unbestimmten Adressaten(‐gruppen), wie z. B. einer ganzen Generation, zugeschrieben. Gegenüber dieser Variabilität in der Verwendung des prospektiven Begriffs ist der retrospektive Begriff von Verantwortung enger gefasst: Retrospektiv verantwortlich ist eine Person für eine Handlung, die in der Vergangenheit liegt, oder für Handlungsfolgen, die auf vergangene Handlungen zurückzuführen sind. Retrospektive Verantwortung knüpft Verantwortung an Urheberschaft, d. h. eine Person ist in der Regel für diejenigen Handlungen und Handlungsfolgen verantwortlich, die sie herbeigeführt hat. Ist eine Person retrospektiv verantwortlich für eine Handlung oder Handlungsfolgen, so kann sie
Vgl. für einen Überblick zur Entwicklung des Verantwortungsbegriffs: Bayertz 1995; weitere neuere Beiträge zum Thema der Verantwortung sind z. B.: Fischer/Ravizza 1998; Buddeberg 2011. Der Zusammenhang von Zurechnung und Verantwortung ist in jüngster Zeit verschiedentlich ins Zentrum des Interesses gerückt und wird verstärkt interdisziplinär untersucht; vgl. dazu z. B. den Band „Zurechnung und Verantwortung“, der aus einer Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie aus dem Jahr 2010 hervorgegangen ist, an der Vertreter geistes-, sozial- und rechtswissenschaftlicher sowie technischer Disziplinen teilgenommen haben (Kaufmann/Renzikowski 2012). Vgl. zu dieser Unterscheidung: Bayertz 1995; Werner 2006, 523.
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1 Einleitung
dafür zur Rechenschaft gezogen werden und es wird erwartet, dass sie ihr Handeln begründen kann. Wird ihr Handeln moralisch bewertet, so kann sie dafür z. B. auch gelobt oder getadelt, belohnt oder bestraft werden. Der retrospektive Begriff von Verantwortung steht – im Gegensatz zum prospektiven Verantwortungsbegriff – in enger Verbindung zum Zurechnungsbegriff: Wenn man von einer möglichen Verantwortung für die Handlungsfolgen anderer absieht (Eltern haften beispielsweise für die Handlungen ihrer unmündigen Kinder), lässt sich sagen, dass eine Person retrospektiv verantwortlich für eine Handlung ist, wenn die Handlung ihr als ihre eigene zugerechnet werden kann. Zurechenbarkeit ist also (in der Regel) notwendige Bedingung für retrospektive Verantwortung.⁹ Zurechenbarkeit ist ferner meist hinreichend dafür, jemandem retrospektiv Verantwortung zuzuschreiben: Wenn keine Entschuldigungsbedingungen oder Rechtfertigungsgründe vorliegen, ist es angemessen, eine zurechnungsfähige Person für ihre zurechenbare Handlung zur Rechenschaft zu ziehen. Die Person verdient mithin Lob und Tadel für ihre zurechenbare Handlung, wenn diese gut oder schlecht ist. Nach diesem Verständnis verweisen der retrospektive Verantwortungsbegriff und der Zurechnungsbegriff aufeinander. Die Verbindung zwischen den beiden Begriffen ist derart eng, dass sie weitgehend austauschbar verwendet werden können. Im Unterschied dazu besteht keine entsprechende Verbindung zwischen dem Zurechnungsbegriff und dem prospektiven Verantwortungsbegriff. Es ist möglich, dass einer Person prospektiv Verantwortung für eine Handlung zugeschrieben wird (Askription), ohne dass ihr die Handlung als ihre eigene zugerechnet werden kann (Imputation). Hierzu ist auch der Fall zu rechnen, wenn Eltern für die Handlungen und Handlungsfolgen ihrer Kinder verantwortlich sind, obwohl den Eltern die Handlungen nicht zuzurechnen sind. Mir wird es im Weiteren nur um den retrospektiven Verantwortungsbegriff gehen, für den der Zurechnungsbegriff eine notwendige Bedingung ist. Die zentrale Fragestellung dieses Buches ist, ob sich Aristoteles’ ethischen Schriften eine konsistente und kohärente Konzeption der Zurechnung entnehmen lässt, obwohl eine solche Theorie ihrem Namen nach nicht im Text vorkommt. Ich gehe davon aus, dass sich Aristoteles ein retrospektiver Verantwortungsbegriff zuschreiben lässt, der sich mit Hilfe des Zurechnungsbegriffs genauer erfassen lässt. Danach trägt eine zurechnungsfähige Person Verantwortung für das, was sich ihr zurechnen lässt. Meine Rekonstruktion der aristotelischen Konzeption von Zurechnung ist dabei von zwei Arbeitshypothesen geleitet, und zwar erstens
Larenz 1927, 90: „Verantwortlich sein bedeutet einstehen sollen für seine Tat. Das Urteil, das jemand verantwortlich für irgendein Geschehen macht, setzt somit das Urteil voraus, daß dies Geschehen seine Tat sei. Ohne Zurechnung zur Tat keine Verantwortung.“
1.1 Thema des Buches
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der Annahme eines vielschichtigen und graduierbaren Begriffs des Willentlichen und Unwillentlichen und zweitens der Annahme eines vielschichtigen und graduierbaren Begriffs von Zurechnung bzw. von Lob und Tadel. Beide Annahmen lassen sich m. E. aus dem aristotelischen Text gewinnen und sollen im Zuge der Rekonstruktion geprüft werden. Diese Begriffsverwendung ist klarerweise keine, die sich bei Aristoteles findet. Der griechische Ausdruck „αἴτιος“, der am ehesten die Bedeutung verantwortlich hat,¹⁰ kommt bei ihm in der deutlich weiteren Bedeutung von ursächlich bzw. Ursache-Sein vor, die zunächst mehr Dinge erfasst als jene, die sich zurechnen lassen, so z. B. auch alle Dinge, die eine Person zwar verursacht hat, die ihr aber nicht zuzurechnen sind, weil bestimmte Ausschlussbedingungen wie etwa externe Gewalt vorliegen. Trotzdem wähle ich für meine Rekonstruktion die Begriffe der retrospektiven Verantwortung und der Zurechnung. Ich halte dies für eine geeignete Begrifflichkeit, um die aristotelische Auffassung von Willentlichkeit sowie von der Praxis des Lobens und Tadelns zu erfassen. Bevor ich dies näher erläutere, ist noch ein drittes Bedenken zu betrachten, das man gegenüber dem Ansatz hegen könnte, die Begriffe der retrospektiven Verantwortung und Zurechnung für eine Untersuchung zu Aristoteles heranzuziehen. Während der Zurechnungsbegriff seinen Ursprung in der Rechtswissenschaft hat, in der es meist um strafrechtliche Zurechnung geht, handelt es sich bei Aristoteles um einen moralischen (bzw. ethischen) Begriff von Zurechnung. Das, was sich einer Person angemessener Weise zurechnen lässt, ist das, wofür ihr moralische Verantwortung zukommt und wofür sie nicht nur kausal verantwortlich ist. Gegen ein solches Verständnis ist vielfach eingewandt worden, dass es unangemessen ist, Aristoteles eine Konzeption von moralischer Verantwortung zuzuschreiben.¹¹ Ein häufig genannter Grund lautet, dass Moralität ein moderner
Ein anderer Ausdruck, den man mit Verantwortung in Verbindung bringen könnte, ist „ἐφ᾿ ἡμῖν“, der sich am besten mit „[etwas] ist bei uns“ resp. „[etwas] liegt in unserer Hand/Kontrolle“ übersetzen lässt. Allerdings ist hier die Verbindung weniger direkt als diejenige zwischen „αἴτιος“ und der Bedeutung verantwortlich, da mit „ἐφ᾿ ἡμῖν“ zwar eine Bedingung für Verantwortlichkeit bezeichnet wird, der Ausdruck aber nicht selbst mit „verantwortlich“ zu übersetzen ist. „ἐφ᾿ ἡμῖν“ ist also zum weiteren Bedeutungsfeld von Zurechenbarkeit und Verantwortung zu zählen; ich werde im Abschnitt über Willentlichkeit und den (freien) Willen darauf zurückkommen. Am Anfang einer langen und immer weiter verzweigten Diskussion über Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Bezüge zwischen der antiken Ethik und der modernen Moralphilosophie steht der Aufsatz „Modern Moral Philosophy“ von G.E.M. Anscombe aus dem Jahr 1958. Anscombes Text war Auslöser für eine Reihe von Beiträgen, die sich der sog. Tugendethik zuordnen lassen und die sich unterschiedlich explizit und meist selektiv auf die aristotelische Ethik beziehen. Wichtige Beiträge zur Tugendethik sind in verschiedenen Aufsatzsammlungen erschienen: Crisp/Slote 1997; Rippe/Schaber 1998. Eine zusammenfassende Diskussion findet sich in
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1 Einleitung
Begriff ist, der keine Entsprechung in der Antike hat. Die einzelnen Begründungen, weshalb es inadäquat ist, in Bezug auf die antike Ethik von „Moral“ oder „moralisch“ zu sprechen, unterscheiden sich zwar. Viele Kritiker teilen aber die Ansicht, dass es verfehlt ist, Aristoteles eine Konzeption von moralischer Verantwortung zuzuschreiben, weil die „aristotelische Tugendethik“ (wenn man von so etwas sprechen mag) ohne wichtige Voraussetzungen und Annahmen auskommt, die erst in modernen (deontologischen und konsequentialistischen) Ethiken seit der Aufklärung entwickelt wurden.¹² Manche deuten insbesondere das Fehlen eines Begriffs der moralischen Verantwortung als einen besonderen Vorzug der aristotelischen Ethik.¹³ Trotz dieser Bedenken halte ich daran fest, Aristoteles eine Konzeption von moralischer Verantwortung zuzuschreiben. Es ist m. E. wichtig, sein Verständnis von Verantwortung von einem rein technischen Verständnis von (kausaler) Verantwortung abzugrenzen. Grundlage für die Zuschreibung von moralischer Verantwortung ist der aristolischen Konzeption nach, dass eine entsprechende Handlung auf den Charakter der handelnden Person zurückzuführen ist, was bei technischer Verantwortung nicht der Fall ist.
Halbig 2013. Als erste eigenständige Monographien zur Tugendethik sind Slote 1995 und Hursthouse 1999 erschienen. Jüngst hat Cooper sich dafür stark gemacht, Aristoteles nur kausale und nicht moralische Verantwortung zuzuschreiben: vgl. Cooper 2013. Eine Begründung für diese Ansicht fußt auf dem Einwand, dass der aristotelische Tugendkatalog viele Tugenden umfasst, die man heute nicht mehr als ‚moralische Tugendenʻ ansieht und für die es daher unangemessen erscheint, eine moralische Pflicht anzunehmen. Oft werden heute zu den moralischen Tugenden nur interpersonale Tugenden (other-related virtues) gerechnet, die sich Personen gegenseitig schulden (wie z. B. Gerechtigkeit), während zu den aristotelischen Tugenden auch Tugenden wie die Mäßigkeit (sôphrosynê) gehören, die sich primär auf die handelnde Person beziehen und keinen direkten und relevanten Bezug zu anderen Personen haben. Andere Tugenden wie etwa der (berechtigte) Stolz bzw. Hochmut (megalopsychia), der mit dem richtigen Umgang mit Ehre befasst ist, stellen aus anderen Gründen fragwürdige Beispiele für moralische Tugenden dar. Solche Bedenken werden z. B. ausgeführt in: Nussbaum 1988; B. Williams 1985 und 1993; kritisch zu B. Williams 1985: Rapp 1995b; vgl. speziell zur megalopsychia: Langmeier 2016. Vgl. auch die Kritik in Cooper 2013, 304: „We need to bear in mind that for Aristotle the ‚moralʻ virtues and vices encompass vastly more than justice and other virtues concerning what we owe to one another as a matter of moral right and wrong – a characteristically modern, limited conception of morality and its requirements. The notion of ‚moral responsibilityʻ is centred on this limited conception of moral right and wrong. For Aristotle, there are virtues (and vices) in relation to all aspects of human life, most of them of purely personal concern and not ‚other-relatedʻ: […].“ B. Williams 1985, 38 – 40.
1.1 Thema des Buches
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1.1.2 Diskussionen zur aristotelischen Konzeption von moralischer Verantwortung Im Gegensatz zu solchen skeptischen Positionen bin ich der Ansicht, dass sich Aristoteles mit guten Gründen eine Konzeption von moralischer Verantwortung zuschreiben lässt.¹⁴ Auch wenn sie sich in einzelnen Hinsichten von modernen Theorien moralischer Verantwortung unterscheidet,¹⁵ so weist sie doch wesentliche Merkmale und Annahmen auf, die dafür sprechen, sie als eine Theorie moralischer Verantwortung aufzufassen. Prägnant und differenziert hat Susan Sauvé Meyer in den letzten Jahrzehnten dafür argumentiert, dass Aristoteles eine Konzeption moralischer Verantwortung entwickelt hat, und ich teile ihre Deutung in einigen zentralen Punkten.¹⁶ Ihre Argumentation setzt bei der Bemerkung ein, mit der Aristoteles in den Ethiken seine Behandlung der Tugenden (aretai) und Schlechtigkeiten (kakiai) unterbricht, um eine Untersuchung des Willentlichen (hekousion) und Unwillentlichen (akousion) einzufügen. Er begründet dieses Vorgehen mit folgender Überlegung: Da sich Tugend auf Handlungen und Emotionen bezieht und da willentliche Handlungen Lob oder Tadel erfahren, ist eine Untersuchung des Willentlichen erforderlich; willentliche Handlungen werden wiederum gelobt oder getadelt, weil eine Person deren Ursache (aitia) ist. Lob und Tadel bringen demnach zum Ausdruck, dass einer Person ihre willentliche Handlung zugerechnet wird. Indem sie für ihre Handlung gelobt oder getadelt wird, wird ihr moralische Verantwortung für ihre Handlung zugeschrieben. Lob und Tadel fungieren hier als Vollzugsformen der Zurechnung, durch die eine Person für ihre Handlung moralisch verantwortlich gemacht wird.
Für die Auffassung, dass sich Aristoteles zu Recht eine Konzeption von moralischer Verantwortung zuschreiben lässt, argumentieren z. B.: Irwin 1980; Liske 2008; Meyer 1998 und 2011, Bobzien 2014b. Auch andere Autoren sprechen ohne Zögern von moralischer Verantwortung in Bezug auf die aristotelische Position, so z. B. Heinaman 1986; Rapp 1995a; Natali 2002; Echeñique 2012. Meyer nennt als einen zentralen Unterschied zwischen modernen Theorien von moralischer Verantwortung und der aristotelischen Konzeption, dass Aristoteles nicht annimmt, dass moralische Verantwortung für Handlungen und Handlungsfolgen Verantwortung für den eigenen Charakter voraussetzt (Meyer 2011, z. B. in der Einleitung, XV). Meyer 2011. Die Monographie von 2011 ist die zweite Auflage ihres ursprünglich 1993 erschienenen Buches. Die Neuauflage ist um eine Einleitung ergänzt, in der Meyer auf Reaktionen zu ihrem Buch und auf neuere Literatur eingeht.Vgl. Rezensionen zur Erstauflage sind: Dahl 1996, Roberts 1995, Tuozzo 1997. Ausführlich diskutiert wird ihre Deutung von Echeñique: vgl. Echeñique 2012.
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1 Einleitung
Indem Meyer die aristotelische Konzeption von moralischer Verantwortung anhand der Praxis des Lobens und Tadelns erläutert, bezieht sie sich auf die Theorie, die Peter F. Strawson in seinem Aufsatz „Freedom and Resentment“ (1962) vorgebracht hat und die in der Folge von anderen Autoren weiterentwickelt wurde.¹⁷ Strawson geht von der Annahme aus, dass Zurechnung nicht nur in expliziten Sprechakten wie etwa Lob und Tadel oder durch Handlungen des Belohnens und Bestrafens erfolgt, sondern auch durch das, was er „reaktive Einstellungen“ (reactive attitudes) nennt. Darunter sind emotional gefärbte Einstellungen wie die des Grolls, der Dankbarkeit, des Übelnehmens u. a. zu verstehen, die man anderen Personen gegenüber als Reaktion auf ihr Handeln einnimmt. Reaktionen wie das Loben und Tadeln, aber auch Einstellungen und Gefühle gegenüber einer anderen Person zeigen an, dass man diese als eine zurechnungsfähige Person ansieht und sie für ihr Handeln moralisch verantwortlich macht. Im Gegensatz dazu reagiert man anderen Adressaten gegenüber durch Einstellungen, die Strawson als „objektive Einstellungen“ (objective attitudes) bezeichnet. Auf Tiere, kleine Kinder und psychisch Kranke reagiert man ihm zufolge zwar auch in vielfacher Weise emotional, aber nicht durch reaktive Einstellungen, in denen zum Ausdruck käme, dass man sein Gegenüber als zurechnungsfähig ansieht und für sein Tun moralisch verantwortlich macht.¹⁸ Werden Tiere, kleine Kinder oder psychisch Kranke gelobt oder getadelt, so haben Lob und Tadel eine andere Funktion, als wenn solche Reaktionen an normale erwachsene Personen adressiert sind. Lob und Tadel dienen hier der Konditionierung oder Kontrolle des zukünftigen Verhaltens. Man kann davon sprechen, dass sie hier eine instrumentelle und konditionierende Funktion haben und somit nicht in zurechnender Funktion verwendet werden, wie in jenen Fällen, wenn sich Lob und Tadel an erwachsene Personen richten und diesen damit moralische Verantwortung für ihr Handeln zugeschrieben wird. Ich knüpfe an Meyers Annahme an, dass Aristoteles seine Konzeption von moralischer Verantwortung entwickelt, indem er sich an der sozialen Praxis des Zurechnens in Gestalt von Lob und Tadel orientiert. Er untersucht dabei erstens, wer angemessener Adressat von Lob und Tadel ist, und er fragt zweitens nach den Bedingungen, unter denen es angemessen ist, Personen für ihre Handlungen zu loben oder zu tadeln. Die erste Frage ist die Frage danach, wer als zurechnungsfähige Person anzusehen ist. Die zweite Frage dient der Identifizierung von Kriterien, die Zurechenbarkeit ausschließen oder zumindest vermindern, weil Strawson 1962. Weiterentwickelt wurde der Ansatz von Strawson z. B. von Wallace; vgl. Wallace 1994. 2008 ist außerdem eine Aufsatzsammlung zu Strawsons „Freedom and Resentment“ erschienen: McKenna/Russell 2008. Strawson 1962, 79.
1.1 Thema des Buches
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deren Vorliegen es unangemessen macht, eine Person für ihre Handlung (uneingeschränkt) zu loben oder zu tadeln. Lässt sich einer Person eine Handlung nicht als ihre eigene zurechnen, so ist sie dafür auch nicht moralisch verantwortlich. Aristoteles’ Antwort auf die erste Frage wird lauten, dass (voll) zurechnungsfähig nur der Tugendhafte oder der Schlechte ist, d. h. eine Person, die über voll entwickelte Charakterdispositionen verfügt. Die zweite Frage hat keine ebenso knapp fassbare und prima facie einfache Antwort. Sie ist zu finden in Aristoteles’ abwägender und differenzierter Erörterung des Willentlichen und Unwillentlichen sowie in verstreuten Bemerkungen zur normativen Beurteilung von Handlungen, Emotionen und Charakterdispositionen. Es ist eines meiner zentralen Anliegen in der vorliegenden Untersuchung, diese detaillierte Behandlung zu rekonstruieren und zu prüfen, um auf diese Weise Aristoteles’ Antwort auf die Frage nach den Bedingungen von Zurechenbarkeit sichtbar zu machen. Doch zunächst zur ersten Frage: Eine tugendhafte Person wird für ihre gute Handlung gelobt, weil sie Ursache ihrer guten Handlung ist. Sie ist aber nicht nur in einem kausalen Sinn Ursache ihrer Handlung; vielmehr ist sie für Aristoteles in einem anspruchsvolleren Sinn Ursache ihres Handelns, weil ihr Charakter Ursache dafür ist, wie sie handelt. Der Charakter ist Ursache ihres Handelns, weil er festlegt, welches Ziel eine Person mit ihrem Handeln verfolgt und zu welchen Handlungen sie sich entschließt, um dieses Ziel zu verwirklichen. Eine solche Person verfügt über das, was Aristoteles als eine hexis prohairetikê bezeichnet, eine charakterliche Disposition, die sich in Entschlüssen (zu tugendhaften bzw. schlechten) Handlungen äußert. Wird eine tugendhafte oder schlechte Person für ihr Handeln gelobt oder getadelt, so wird die Handlung ihr damit als ihre zugerechnet und sie wird dafür moralisch verantwortlich gemacht. Richten sich Lob und Tadel dagegen an ein Lebewesen, das nicht (voll) zurechnungsfähig ist, so haben Lob und Tadel keine zurechnende Funktion. Meyer unterscheidet im Anschluss an diese Charakterisierung zwischen prospektiven und retrospektiven moralischen Beurteilungen von Verhalten. In prospektiver Verwendung beziehen sich Lob und Tadel auf das zukünftige Verhalten der handelnden Person bzw. des Lebewesens, die bzw. das entweder zu ähnlichem Verhalten ermuntert oder von derartigem Verhalten abgehalten werden soll, wobei Adressat des Lobens und Tadelns sowohl nicht (voll) zurechnungsfähige als auch zurechnungsfähige Personen sein können. Lob und Tadel fungieren hier nach Meyer als Mittel der Konditionierung oder Charakterformung (tools of behavioral control and character
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formation).¹⁹ Retrospektiv verwendet dienen Lob und Tadel dazu, eine Person für ihr Handeln moralisch verantwortlich zu machen. Gegen diese dichotomische Abgrenzung hat sich Javier Echeñique in seiner 2012 erschienenen Monographie „Aristotle’s Ethics and Moral Responsibility“ dezidiert ausgesprochen.²⁰ Seine Kritik an der retrospektiven (zurechnenden) Deutung von Lob und Tadel in Bezug auf Aristoteles ist einer der zentralen Punkte einer Reihe von Einwänden, die er gegen frühere Interpretationen der aristotelischen Konzeption moralischer Verantwortung vorbringt. Er richtet sich mit seiner Argumentation gegen Autoren wie Irwin und Meyer, die versucht haben, die aristotelische Konzeption von moralischer Verantwortung unter Rekurs auf Strawsons Theorie der Zuschreibung moralischer Verantwortung zu explizieren.²¹ Der Rückgriff auf Strawson ist ihm zufolge verfehlt, weil Strawsons Analyse moralischer Verantwortung in wesentlichen Punkten nicht zur aristotelischen Konzeption passt und eine Verbindung dieser Theorien zu Missdeutungen führt. Stattdessen spricht sich Echeñique dafür aus, die aristotelische Position mit Hilfe von Gary Watsons Konzeption der Zuschreibung (attributability) zu rekonstruieren.²² Mit dem Begriff der Zuschreibung soll ein anderer Aspekt moralischer Verantwortung erfasst werden, als durch Strawsons Modell eingegrenzt wird. Die Differenz zwischen den Modellen lässt sich am besten durch die Unterscheidung zweier Perspektiven erläutern.²³ Die Zuschreibung moralischer Verantwortung kann nicht nur aus der Perspektive einer Person erfolgen, die vom Handeln einer anderen Person selbst betroffen ist, weil diese jener gegenüber für ihre Handlung Verantwortung trägt, so dass jene der handelnden Person gegenüber bestimmte Erwartungen hat und zu Recht auf ihr Handeln in Gestalt reaktiver Einstellungen reagiert. Eine Zuschreibung kann vielmehr auch aus der Perspektive einer nicht direkt betroffenen Person erfolgen, wenn sie das Verhalten einer anderen Person
Meyer 2011, 39 – 40. Vgl. auch Echeñique 2014. Irwins Aufsatz ist 1980, also etwa eine Dekade vor der Erstauflage von Meyers Monographie, erschienen (Irwin 1980). Watson 1996. Ähnlich wie Watsons Begriff der Zuschreibung eignet sich nach Echeñique auch der Begriff der „Zurechnung eines Fehlers“ (imputation of fault) von Joel Feinberg (Feinberg 1970, 128) für die Zuschreibung schlechten Verhaltens. Es besteht hier leicht die Gefahr, dass die Begrifflichkeit unübersichtlich wird. Echeñique bezeichnet Strawsons Konzeption als „accountability account“, den er von Watsons „attributability account“ abgrenzt. Da zwei naheliegende Übersetzungen für „accountability“ ins Deutsche einerseits „Zurechnung“ und andererseits „Verantwortung“ sind, ist es für meine Argumentation ratsam, Strawsons Ansatz mit keiner dieser beiden Bezeichnungen zu benennen. Watsons Zuschreibungsbegriff entspricht dagegen weitgehend dem Begriff der Zurechnung, wie ich ihn verwende.
1.1 Thema des Buches
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moralisch beurteilt, da sich darin deren moralischer Charakter z. B. in Gestalt ihrer Wünsche und Ziele zeigt. Eine solche Zuschreibungsperspektive nennt Watson die „aretische Perspektive“ (aretic perspective).²⁴ Mit Watsons Ansatz lassen sich im Gegensatz zu jenem Strawsons verschiedene Merkmale der aristotelischen Konzeption adäquat erfassen. Erstens kommen Lob und Tadel bei Aristoteles nicht als reaktive Einstellungen vor, sondern werden von ihm als logoi bestimmt,²⁵ d. h. als Urteile oder als Sprechakte, mit denen keine emotional gefärbten reaktiven Einstellungen einhergehen müssen. Er verbindet auch nirgendwo Lob und Tadel explizit mit Emotionen wie etwa Zorn (thymos), Entrüstung (nemesis) oder Scham (aidôs). Zweitens betreffen Lob und Tadel bei Aristoteles nicht nur interpersonale Tugenden und Schlechtigkeiten (other-regarding virtues and vices), bei denen jemand durch das Verhalten einer Person begünstigt oder geschädigt wird und daher eine emotional gefärbte Reaktion anzunehmen ist; vielmehr richten sich Lob und Tadel auch auf Tugenden und Laster, wie z. B. Mäßigkeit und Unmäßigkeit, die nur die handelnde Person selbst zu betreffen scheinen (self-regarding), während sie für andere belanglos wirken und keinen anderen etwas anzugehen scheinen (nobody else’s business). Damit geht drittens das Merkmal einher, dass Aristoteles Lob und Tadel nirgendwo mit Annahmen über Verdienst (desert) oder Fairness verbindet, wie dies bei Strawson charakteristisch ist. Lobender oder Tadelnder ist nicht unbedingt eine betroffene Person, die mit ihrer Reaktion ihr Gegenüber für ihr Handeln würdigt oder rügt. Lob und Tadel sind auch aus der „aretischen Perspektive“ möglich, indem das Verhalten einer anderen Person als Ausdruck ihres Charakters beurteilt wird. Viertens ist Watsons Konzeption dazu geeignet, der komplementären Behandlung von Lob und Tadel bei Aristoteles gerecht zu werden.²⁶ Er ist in den Ethiken zwar primär an den Tugenden und deren Bedeutung für die eudaimonia und erst sekundär an den entsprechenden Lastern interessiert, so dass sich die Funktion des Tadels abhängig von derjenigen des Lobes verstehen lässt. Trotzdem unterscheidet sich die Funktionsweise des Lobes nicht in relevanter Hinsicht von derjenigen des Tadels. Da Strawsons Ansatz nicht dazu geeignet ist, die aristotelische Position in diesen Punkten adäquat zu erfassen, rät
Watson 1996, 231. Vgl. Rhet. I 9, 1367b27– 28; EE II 1, 1219b16. Wallace hat im Anschluss an Strawson auf die Asymmetrie bei moralischen Reaktionen gegenüber lobenswerten und tadelnswerten Handlungen hingewiesen (Wallace 1994, 71– 73): Während ein Gesetzesverstoß z. B. normalerweise eine Bestrafung nach sich zieht, erfährt das treue Einhalten der Gesetze keine analoge positive Beurteilung.
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Echeñique mit gutem Grund davon ab, zu deren Rekonstruktion substantiell auf Strawson zu rekurrieren.²⁷ Echeñiques wichtigster Kritikpunkt bezieht sich auf die dichotomische Unterscheidung zwischen einer prospektiven und einer retrospektiven Funktion von Lob und Tadel. Übertrüge man Strawsons Unterscheidung zwischen reaktiven und objektiven Einstellungen auf die prospektive und retrospektive Funktionsweise von Lob und Tadel, wie sie Meyer bei Aristoteles angenommen hat, so scheint dies zu implizieren, dass Lob und Tadel in Bezug auf Kinder, Tiere und Psychopathen gleichermaßen dieselbe rein instrumentelle Rolle des Konditionierens und der Verhaltensformung spielten.²⁸ Echeñique plädiert stattdessen dafür, die wesentliche Trennlinie zwischen vernunftbegabten Lebewesen, die von Natur aus die Fähigkeit zum Vernunftgebrauch haben und zu denen Erwachsene und Kinder zählen, auf der einen Seite und nicht-vernunftbegabten Lebewesen wie Tieren und Psychopathen (mainomenoi) auf der anderen Seite zu ziehen. Auch wenn es zu prüfen wäre, ob Echeñique mit seiner Kritik Meyers Unterscheidung zwischen einer proskeptiven und retrospektiven Funktionsweise von Lob und Tadel gerecht wird, so ist es gleichwohl ein wichtiges Verdienst seiner Untersuchung, den Blick auf die besondere Bedeutung von Lob und Tadel in Bezug auf Kinder zu lenken. Es erscheint tatsächlich fragwürdig, dass Aristoteles Lob und Tadel in zurechnender Funktion allein auf den Tugendhaften und den Schlechten bezieht, während das Loben und Tadeln von Kindern dieselbe instrumentelle Funktion hat, wie wenn man sich damit an Tiere oder Psychopathen richtet. Es liegt nahe, eine spezifische Funktion von Lob und Tadel anzunehmen, wenn Kinder die Adresssaten sind und Lob und Tadel der Erziehung und Charakterformung dienen. Aber obgleich Echeñiques Vorschlag prima facie große Überzeugungskraft besitzt, so steht dem entgegen, dass Aristoteles selbst nicht explizit von einer derartigen erziehenden Funktion von Lob und Tadel spricht. Ausgerechnet in jenen Kapiteln in der Nikomachischen Ethik (EN II 1– 3), in denen es um den Gewöhnungsprozess und den
Meyer akzeptiert Echeñiques Beschreibung der Spezifika der aristotelischen Position (v. a. der zweiten und dritten Hinsicht) und anerkennt, dass Watsons Konzeption der Zuschreibung besser als Strawsons Modell geeignet erscheint, Aristoteles’ Konzeption zu erfassen (Meyer 2015). Zugleich weist sie darauf hin, dass sie auf Strawsons Theorie der reaktiven Einstellungen als ein Beispiel für eine Theorie der Zuschreibung moralischer Verantwortung zurückgegriffen hat. Für ihre Zwecke war der Vergleich mit einem Modell wichtig, das moralische Verantwortung anhand der sozialen Praxis analysiert. Damit geht aber nicht die Annahme einher, dass das Modell in allen Hinsichten der aristotelischen Position entspricht und keine bedeutsamen Unterschiede dazwischen bestehen. Echeñique 2012, 22– 41.
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Erwerb der Charaktertugenden geht, spricht er nirgends von Lob und Tadel.²⁹ Gleichwohl schließt sein auffälliges Schweigen über eine spezifisch erziehende Form von Lob und Tadel nicht aus, dass er eine solche akzeptiert und von einer rein instrumentellen unterschieden hätte. Mangels einer ausdrücklichen Erwähnung ist man aber auf andere Anhaltspunkte angewiesen, mit deren Hilfe sich die Annahme zusätzlich stützen lässt, in Aristoteles’ Namen eine solche Differenzierung anzunehmen. Ein wichtiges Indiz ist, dass Kinder nach Aristoteles von Natur aus nicht vollkommen vernunftlos bzw. ohne logos sind. Kinder verfügen insofern über Vernunft, als Vernunft bei ihnen dem Vermögen nach vorliegt.³⁰ Es bedarf aber der Erziehung und Belehrung, damit Kinder zu Erwachsenen heranwachsen und über eine voll entwickelte Vernunftfähigkeit verfügen.³¹ Das Vernunftvermögen unterscheidet Kinder von Tieren und Psychopathen, die von Natur aus vernunftlos sind, da Vernunft ihrer Natur äußerlich ist.³² Die Vernunftbegabung von Kindern, deren Entwicklung Ziel der Erziehung ist, ist ein Grund für die Annahme, dass erzieherische Methoden wie Lob und Tadel im Prozess der Charakterformung eine andere Funktion haben, als wenn sie an vernunftlose Lebewesen adressiert werden. Bei Tieren und Psychopathen haben Lob und Tadel eine rein instrumentelle Funktion, da sie der Konditionierung künftigen Verhaltens durch Anreiz und Abschreckung dienen. In der Erziehung von Kindern richten
Ein Hinweis, dass Aristoteles selbst auch für Lob und Tadel eine Rolle in der Erziehung annimmt, findet sich in EN X, wo er danach fragt, inwieweit „Reden“ (logoi) ausreichen, einen Menschen gut zu machen (1179b4– 7). Es liegt nahe, unter Reden hier das Loben und Tadeln zu verstehen. In der Politik sagt Aristoteles, dass Kinder über den überlegenden Seelenteil (bouleutikon) verfügen, der aber noch in unfertiger Weise vorliegt (Pol. I 13, 1260a12– 14). Ein Sonderfall, den Echeñique nicht erwähnt, stellen die Frauen dar, die nach Aristoteles zwar über den überlegenden Seelenteil verfügen, dieser aber bei ihnen nicht leitend (akyron) ist. Das legt die Vermutung nahe, dass es Frauen nicht möglich ist, ihren vernünftigen Seelenteil zu entwickeln, so dass Lob und Tadel in Bezug auf Frauen weder zurechnende noch erziehende Funktion haben. Man könnte versucht sein, hierfür nochmals eine weitere Funktion von Lob und Tadel anzunehmen, in der auf eine Art von untergeordneter Tugendhaftigkeit verwiesen wird, die Aristoteles für Frauen in der Politik offenbar annimmt. Die Frage der Zurechenbarkeit von Handlungen in Bezug auf Frauen klammere ich hier aus, zumal sich in den Ethiken dazu nicht ausreichend Hinweise finden und man zu deren Behandlung die Politik hinzunehmen müsste. Ich erörtere die Frage eingehend in einem separaten Beitrag, dessen Publikation in Vorbereitung ist. Den Zustand, in dem Vernunftfähigkeit vollständig entwickelt und aktualisierbar ist, beschreibt Aristoteles in der EE als einen, bei dem Vernunft im menschlichen Wesen vorhanden (enestin) ist (EE II 8, 1224a27– 30). Vgl. zur Vernunftlosigkeit von Tieren und Psychopathen resp. Wahnsinnigen: EN VII 7, 1149b31– 1150a1.
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sich Lob und Tadel dagegen an die sukzessiv wachsende und sich differenzierende Vernunftfähigkeit. Hier haben Lob und Tadel eine formative bzw. habituierende (gewöhnende) Funktion, in der sie auf das Ziel der Erziehung, den Tugendhaften, verweisen. Im eigentlichen Sinn beziehen sich Lob und Tadel schließlich auf erwachsene Personen, die über voll entwickelte Charakterdispositionen und ein ausgebildetes und aktualisierbares Vernunftvermögen verfügen. Adressiert an erwachsene Personen haben Lob und Tadel zurechnende Funktion; diesen wird damit moralische Verantwortung für ihr Handeln zugeschrieben. Aristoteles’ kanonische Bestimmung von Lobenswürdigkeit in den Ethiken macht zudem deutlich, dass er im primären Sinn nur die Tugend bzw. den Tugendhaften als adäquaten Gegenstand des Lobes ansieht.³³ Wenngleich Aristoteles eine klassische Definition von Lobens- und Tadelnswürdigkeit präsentiert, weicht er in anderen Kontexten von seiner strikten Terminologie ab und bezieht Lob und Tadel manchmal auch auf Handlungen und Emotionen. Dieses Nebeneinander einer primären und einer abgeleiteten Verwendungsweise lässt sich in geeigneter Weise durch die Konzeption der zentrierten Mehrdeutigkeit erfassen, die Aristoteles an anderer Stelle einführt.³⁴ In primärer Verwendungsweise beziehen sich Lob und Tadel nur auf die voll entwickelten Charakterdispositionen des Tugendhaften bzw. des Schlechten. In abgeleiteter Weise können aber auch Handlungen oder Emotionen kraft ihres Bezugs zu den primären Gegenständen von Lob und Tadel gelobt oder getadelt werden, da der Charakter einer Person Ursache ihrer Handlungen und Emotionen ist. Die Konzeption der zentrierten Mehrdeutigkeit ist außerdem geeignet, die verschiedenen Funktionen von Lob und Tadel zu erfassen. In primärer Verwendungsweise haben Lob und Tadel zurechnende Funktion und ihr zentraler Bezugspunkt sind die Charakterdispositionen des Tugendhaften oder des Schlechten. Richten sich Lob und Tadel dagegen an Kinder, liegt eine sekundäre Verwendung vor, da Lob und Tadel in habituierender Funktion stets auf die primären Bezugspunkte Tugend und Schlechtigkeit verweisen. Schließlich lässt sich mit Hilfe der zentrierten Mehrdeutigkeit noch eine weitere Differenzierung erfassen. Denn Aristoteles nimmt auch unter erwachsenen Personen nicht nur die Möglichkeiten des Tugendhaften oder des Schlechten an, sondern diskutiert z. B. auch die Fälle des Beherrschten und des Unbeherrschten.³⁵ Diese verfügen ihm
Vgl. EN I 12, 1101b12– 18 und 32– 34 sowie EE II 1, 1219b8 – 16. Sowohl Meyer als auch Echeñique ziehen die aristotelische Annahme der zentrierten Mehrdeutigkeit (focal meaning) heran, um Aristoteles’ Verwendung von Lob und Tadel zu erläutern; vgl. Meyer 2011, 49; Echeñique 2012, 70 – 72. Echeñique spricht von einem Kontinuum zwischen dem Kind als bloß potentiell vernunftbegabtem Menschen und dem tugendhaften Erwachsenen als vollständig vernunftbegabtem
1.2 Willentlichkeit, Unwillentlichkeit, (freier) Wille und prohairesis
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zufolge zwar über ein entwickeltes Vernunftvermögen, kraft dessen sie einen überlegten Entschluss (prohairesis) zum Handeln fassen können, sie verdienen aber nicht in derselben Weise wie der Tugendhafte oder der Schlechte Lob bzw. Tadel für ihre Handlungen. Auch hier lässt sich von einer derivativen Verwendung von Lob und Tadel sprechen, da damit auf den Tugendhaften als Vorbild bzw. den Schlechten als abschreckendes Beispiel verwiesen wird. Der Tugendhafte als primärer Bezugspunkt des Lobes dient dabei als Maßstab (metron), in Hinblick auf welchen andere Dinge in abgeleiteter Weise gelobt werden können. Der aristotelische Zurechnungsbegriff ist also meinem Verständnis nach ein moralischer Begriff der Zurechnung. Aristoteles analysiert ihn anhand der sozialen Praxis von Lob und Tadel. Eine Person wird für ihre Handlung zu Recht gelobt oder getadelt, wenn ihr Charakter Ursache ihrer Handlung ist. Indem sie gelobt oder getadelt wird, wird ihr die Handlung als ihre zugerechnet und sie wird dafür moralisch verantwortlich gemacht. Dabei lässt der aristotelische Zurechnungsbegriff aber wichtige Abstufungen und Differenzierungen zu. Diese sichtbar und verständlich zu machen, ist eines meiner zentralen Anliegen.
1.2 Willentlichkeit, Unwillentlichkeit, (freier) Wille und prohairesis 1.2.1 Die Ausdrücke „ἑκών“/„ἑκούσιος“ und „ἄκων“/„ἀκούσιος“³⁶ Zentral für Aristoteles’ Behandlung der Willentlichkeit und Verantwortung sind die griechischen Ausdrücke „ἑκών“/„ἑκούσιος“ und „ἄκων“/„ἀκούσιος“.³⁷ Darüber besteht Einigkeit. Große Uneinigkeit besteht jedoch bei den Fragen, ob und
Menschen (Echeñique 2012, 78 – 79). Auf dem Kontinuum lassen sich zwischen diesen Eckpunkten auch der Beherrschte und der Unbeherrschte wie auch andere denkbare Fälle erwachsener Personen, die nicht über voll entwickelte Tugendhaftigkeit oder Schlechtigkeit verfügen, verorten. Ich werde außer in griechischen Zitaten nur dann griechische Ausdrücke verwenden, wenn ich etwas über die Ausdrücke sagen möchte. Wenn ich die Ausdrücke verwende, um über deren Bezugsgegenstände zu sprechen, verwende ich dagegen die Umschrift nach deutschen Konventionen. Das Paar „ἑκών“ und „ἄκων“ wird in Bezug auf den Handelnden verwendet. In der Übersetzung werden die Ausdrücke häufig am besten adverbial wiedergegeben. Auch im Griechischen ist die entsprechende adverbiale Formulierung mit „ἑκουσίως“ und „ἀκουσίως“ möglich. Die Ausdrücke „ἑκούσιος“ und „ἀκούσιος“ werden im Griechischen hingegen in Bezug auf den Gegenstand dessen, was ἑκουσίως bzw. ἀκουσίως geschieht oder ist, verwendet, wie z. B. Handlungen oder Ergebnisse von Handlungen.
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wie die griechischen Termini in Hinblick auf Aristoteles’ Verwendung zu übersetzen sind. Umstritten ist einerseits, was eine Übersetzung leisten soll, und andererseits, welche Übersetzung den jeweiligen Zweck am besten erfüllt. Zur Frage, was das vorrangige Ziel einer adäquaten Übersetzung für die beiden Ausdrücke sein soll, lassen sich zwei Positionen unterscheiden.³⁸ Nach der einen Auffassung ist für die Übersetzung nach Ausdrücken zu suchen, die dieselbe Extension haben wie die griechischen Ausdrücke in Aristoteles’ Gebrauch, d. h., dass im Deutschen (Englischen, Französischen etc.) nach Ausdrücken gesucht wird, die auch wir in unserer Sprache für all das verwenden würden, wofür Aristoteles „ἑκών“/„ἑκούσιος“ und „ἄκων“/„ἀκούσιος“ verwendet. Sollte sich dabei herausstellen, dass es jeweils nicht einen einzigen Ausdruck mit derselben Extension gibt, so plädieren manche Vertreter dieses Ansatzes dafür, verschiedene Übersetzungen zu verwenden, die jeweils in ihrem Kontext adäquat erscheinen.³⁹ Demgegenüber sprechen sich Vertreter der zweiten Position dafür aus, für die Übersetzung von „ἑκών“/„ἑκούσιος“ und „ἄκων“/„ἀκούσιος“ je nach einem einzigen geeigneten Ausdruck zu suchen.⁴⁰ Geeignet sind nach dieser Auffassung Ausdrücke, wenn es sich um aus der Umgangssprache bekannte, nicht spezifisch philosophische Termini für die griechischen Ausdrücke handelt, wie sie z. B. auch in Übersetzungen von Texten aus Aristoteles’ Zeit und früher (etwa anderer philosophischer, literarischer, lyrischer und historischer Texte sowie antiker Gerichtsreden) verwendet werden. Ich entscheide mich für die zweite Vorgehensweise und übersetze „ἑκών“/ „ἑκούσιος“ durchgehend mit „willentlich“ und „ἄκων“/„ἀκούσιος“ mit „unwillentlich“.⁴¹ Diese Alternative hat in meinen Augen gegenüber der ersten einige
Als dritte Position kann noch die Variante genannt werden, die auf eine Übersetzung verzichtet und die griechischen Termini entweder unübersetzt lässt (vgl. z. B. Loening 1903, Rickert 1989) oder einen (hässlichen) Neologismus dafür prägt. Letzteres tut Kraus, der das Paar „hekusisch“ und „akusisch“ einführt (Kraus 1905). Vertreter dieser Auffassung sind z. B. Charles (Charles 1984) und Wolf (Wolf 2006). Auch Pakaluk verfährt in seinem Kommentar derart, dass er je nach Kontext verschiedene Wiedergaben („willing“/„of its own accord“ sowie „unwilling“/„against its own accord“) für die griechischen Termini wählt (Pakaluk 2005). Für diese Position sprechen sich z. B. mit jeweils unterschiedlichen Begründungen Heinaman (Heinaman 1986), Kenny (Kenny 1979) und Meyer (Meyer 2011) aus. Auch die meisten Übersetzer (Rowe, Dirlmeier, Gauthier/Jolif, Gigon, Irwin, Ross, Taylor, Woods) und Kommentatoren (Burnet, Grant, Joachim, Stewart, Urmson) verfahren entsprechend, indem sie zwar auf die Übersetzungsschwierigkeit hinweisen, sich aber gleichwohl für eine in ihren Augen geeignete einheitliche Übersetzung entscheiden. Alternativ hätte ich auch das Paar „freiwillig“ und „unfreiwillig“ wählen können, das die gleichen Vorzüge wie „willentlich“ und „unwillentlich“ aufweist. Ausschlaggebend für meine
1.2 Willentlichkeit, Unwillentlichkeit, (freier) Wille und prohairesis
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wichtige Vorzüge. Sie macht durch eine einheitliche Wiedergabe der griechischen Ausdrücke sichtbar, wann Aristoteles „ἑκών“/„ἑκούσιος“ und „ἄκων“/ „ἀκούσιος“ verwendet und lässt es dadurch zu, den griechischen Text möglichst unvoreingenommen zu interpretieren.⁴² Kritiker dieses Verfahrens führen dagegen an, dass die Verwendung je einer einzigen Übersetzung für „ἑκών“/ „ἑκούσιος“ und „ἄκων“/„ἀκούσιος“ uns in manchen Kontexten inadäquat erscheint und durch andere Ausdrücke zu ersetzen ist.⁴³ Zwar mag sich der Einwand als berechtigt erweisen, dass wir unsererseits das, was Aristoteles als hekôn/ hekousios bzw. akôn/akousios bezeichnet, nicht immer selbst als willentlich bzw. unwillentlich bezeichnen würden. Aber die Annahme, dass wir bisweilen anstelle dieser Ausdrücke andere besser geeignete Ausdrücke verwenden würden, setzt bereits ein Verständnis des aristotelischen Gebrauchs voraus. Irgendeine interpretatorische Vorentscheidung ist unvermeidlich mit jeder Übersetzung verbunden. Eine einheitliche Übersetzung für „ἑκών“/„ἑκούσιος“ oder „ἄκων“/ „ἀκούσιος“ hat aber m. E. gegenüber einer wechselnden den Vorzug, den griechischen Text so transparent wie möglich wiederzugeben. Schließlich spricht auch Aristoteles’ eigener Umgang mit den Ausdrücken für eine einheitliche und möglichst transparente Übersetzung. Denn er führt die Ausdrücke nicht als termini technici ein, sondern greift auf deren übliche – möglicherweise ebenfalls diffuse – Verwendungsweise zu seiner Zeit und früher zurück und stützt seine Ausführungen darauf.⁴⁴ Das machen seine Zitate und regelmäßigen Anspielungen sowie der Rekurs auf das, was der gängigen Meinung, den legomena, entspricht, deutlich. Dieser methodische Ansatz schließt gleichwohl nicht aus, dass Aristoteles darum bemüht ist, mit Rückgriff auf den üblichen Gebrauch sein eigenes Verständnis der Ausdrücke zu entwickeln und sich dabei mitunter auch dezidiert vom gewöhnlichen Gebrauch der Ausdrücke zu distanzieren. Das heißt aber nicht, dass er den Ausdrücken eine andere Bedeutung gibt, als sie in der Umgangssprache haben. Es besagt vielmehr, dass er eine abweichende Meinung darüber hat, ob die anzutreffende Verwendung des AusWahl ist letztlich, dass mit diesem Ausdruckspaar zumindest Assoziationen mit dem Konzept des freien Willens vermieden werden, selbst wenn der Begriff des Willens anklingt. Ich komme am Ende dieses Abschnitts und im folgenden Abschnitt („1.2.2 Der Begriff des (freien) Willens“) näher darauf zu sprechen, weshalb die Assoziationen unerwünscht sind. Vgl. Meyer 2011, 9 – 16. Diesen Einwand bringen in unterschiedlicher Form z. B. Charles, Kenny, Pakaluk und Wolf vor. Außer Kenny führt dieses Bedenken diese Autoren dazu, in der Übersetzung verschiedene kontextadäquate Ausdrücke zu wählen. Vgl. z. B. Gauthier/Jolif 1970, 170: „Les mots d’Aristote [sc. „ἑκών“/„ἑκούσιος“ et „ἄκων“/ „ἀκούσιος“; BL] ne sont pas encore des mots techniques, au sens précis et limité; ce sont des mots familiers, au sens vague, mais riche […].“
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1 Einleitung
drucks in der jeweiligen Situation angemessen ist. Auch diesem methodischen Vorgehen von Aristoteles wird man m. E. besser mit einer einheitlichen Übersetzung durch ebenfalls in anderen Kontexten geläufige Ausdrücke gerecht als durch die Verwendung verschiedener Ausdrücke mit unterschiedlichen Bedeutungen. *** Die Relevanz der Fragen nach Zweck und Art der adäquaten Übersetzung wird klar, wenn wir uns die verschiedenen Übersetzungsvorschläge und deren Begründungen noch näher vor Augen führen. Der Großteil der Kritik gegenüber einer einheitlichen Übersetzung, wie ich sie wähle, fußt auf dem Einwand, dass Aristoteles „ἑκών“/„ἑκούσιος“ und „ἄκων“/„ἀκούσιος“ in einem deutlich weiteren Sinn gebraucht, als wir „willentlich“ und „unwillentlich“ (bzw. „voluntary“/„involuntary“ etc.) verwenden. So spricht Aristoteles in der EN auch Kindern und Tieren zu, dass sie zu einem Tun, das hekousion ist, in der Lage sind.⁴⁵ Das scheint manchen unangemessen, weil ein willentliches Handeln vernünftiges Überlegen voraussetzt, während das Tun von Kindern und Tieren kein vernünftiges Denken voraussetzt.⁴⁶ Diesem Bedenken wird dadurch zu begegnen versucht, dass als Alternative zu „willentlich“ in diesen Kontexten ein breiter anwendbarer Ausdruck wie „aus eigenem Antrieb“ (bzw. „on its own accord“)⁴⁷ gewählt wird. Ferner spricht Aristoteles auch bei Widerfahrnissen, wie wenn jemand z. B. durch den Wind irgendwohin getrieben wird, wohin er nicht die Absicht hatte zu gelangen, davon, dass dies akousiôs geschieht.⁴⁸ Ein reines Widerfahrnis, zu dem dessen Opfer selbst nichts beiträgt, als unwillentlich zu bezeichnen, betrachten einige als unangemessen, weil hier gar keine Handlung und demzufolge auch nichts vorliegt, worauf „willentlich“ oder „unwillentlich“ überhaupt adäquat anwendbar ist.⁴⁹ Anders als beim ersten Einwand fehlt hier aber auch ein alternativer Ausdruck, der im vorliegenden Kontext stattdessen adäquat erscheint. Die Kritik gilt daher auch weniger der Geeignetheit der Übersetzung, sondern ist vielmehr inhaltlich und richtet sich auf Aristoteles’ Vorgehen, auch reine Geschehnisse in seine Diskussion von Willentlichkeit und Verantwortung
EN III 4, 1111b8 – 9. Anders verhält sich dies in der EE, wo Aristoteles Kindern und Tieren abspricht, zu handeln und a fortiori willentlich zu handeln (vgl. EE II 6, 1222b18 – 20; EE II 8, 1224a28 – 30; vgl. dazu auch Charles 2006). Vgl. Pakaluk 2005, 120 – 121. Vgl. Pakaluk 2005. Auch die Wahl von Gauthier/Jolif mit „de son plein gré“ (bzw. „malgré soi“) ist dazu geeignet, einen weiteren Anwendungsbereich abzudecken. EN III 1, 1110a3. Vgl. Kenny 1979, 27– 28.
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mit aufzunehmen. Darauf werde ich bei der Diskussion von Zwang und Gewalt zurückkommen.⁵⁰ Weiterhin bezeichnet Aristoteles außer Handlungen (und Widerfahrnissen) auch Affekte (bzw. Emotionen) wie z. B. den Zorn und Zustände bzw. Dispositionen wie die Gesundheit oder die Tapferkeit als ein hekousion. ⁵¹ Bei Zuständen erscheint es plausibel, sie als willentlich zu bezeichnen, da sie das Ergebnis willentlicher Handlungen sind. Affekte bzw. Emotionen hingegen als willentlich zu bezeichnen, ruft Widerspruch hervor, weil Emotionen ebenfalls Widerfahrnisse zu sein scheinen, die jemand passiv erfährt, ohne selbst etwas dazu beizutragen.⁵² Dass Aristoteles auch Affekte bzw. Emotionen als hekousia bezeichnet, könnte man zunächst als reine Übersetzungsschwierigkeit betrachten, und dem Bedenken, Affekte bzw. Emotionen willentlich zu nennen, lässt sich dadurch begegnen, „ἑκών“ in bestimmten Kontexten mit „gern, bereitwillig“ (bzw. „willingly“, „volontiers“, „de bon cœur“) und „ἄκων“ mit „widerwillig, ungern“ (bzw. „unwillingly“, „involontaire“, „contre cœur“, „à regret“) anstelle von „willentlich“ und „unwillentlich“ zu übersetzen.⁵³ Eine sehr weitreichende Ansicht vertritt Rickert, die dafür argumentiert, dass die Termini „ἑκών“ und „ἄκων“ im Griechischen im Wesentlichen dazu dienen, die Differenz zwischen bereitwilligem und widerwilligem Handeln zum Ausdruck zu bringen.⁵⁴ Es sei vorweggenommen, dass Rickerts Position nicht dagegen spricht, „ἑκών“ und „ἄκων“ bei Aristoteles stets mit „willentlich“ und „unwillentlich“ zu übersetzen. Sie richtet sich vielmehr gegen Aristoteles’ inhaltliche Bestimmung der Ausdrücke, die ihr zufolge nicht in allen Fällen dem vor ihm und zu seiner Zeit üblichen Verständnis entspricht. Sie stützt ihre Auffassung auf eine
Vgl. Kapitel „2. Gewalt und Zwang als Ausschlusskriterien für Willentlichkeit“, insb. Abschnitt „2.2.1 Warum bleiben nicht-willentliche gewaltsame Handlungen unerwähnt?“ Dass auch Affekte bzw. Emotionen und Tugenden nach Aristoteles ἑκούσια sind, macht z. B. der erste Satz von EN III deutlich (vgl. 1109b30 – 35). Dass die Gesundheit ein ἑκούσιον ist, macht der Vergleich zwischen Tugenden resp. Lastern und Gesundheit resp. Krankheit in EN III 7 deutlich (vgl. EN III 7, 1114a12– 19). Vgl. Kenny 1979, 27– 28, Moline 1989, 285. Für die Passivität eines Affekts bzw. einer Emotion spricht auch die griechische Bezeichnung „πάθος“, die vom Verb „πάσχειν“ abgeleitet ist, das sich mit „erleiden, erfahren“ übersetzen lässt. Manche Ausdrücke wie z. B. das französische Paar „de son plein gré“ und „malgré soi“ schließen in ihre Bedeutung bereits die emotionale Bedeutungskomponente mit ein, wonach etwas nicht nur aus eigenem Antrieb, sondern auch mit Zustimmung des Handelnden geschieht. Rickert 1989, 128: „The specific desire required in order for the action to take place, the desire in which Aristotle is especially interested, is not the basis of the designation hekon or akon. In effect, hekon and akon express the agent’s or victim’s attitude toward what is happening; if hekon, a strong positive attitude or commitment; if akon, a strong negative commitment.“
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breit angelegte Untersuchung eines umfangreichen voraristotelischen (weitgehend nicht-philosophischen) Textcorpus.⁵⁵ Dieses untersucht sie in Hinblick auf die Frage, wie hier die tatsächliche Verwendung von „ἑκών“ und „ἄκων“ im Griechischen dokumentiert ist. Gegen die Konzeption des Willentlichen, die Aristoteles in den Ethiken entwickelt, wendet Rickert aufgrund ihrer Analyse ein, dass er es als Grundlage von Willentlichkeit ansieht, ob jemand aus eigenem Antrieb bzw. Streben (orexis) handelt. Dieses Kriterium ist laut Rickert nicht ausreichend, da Willentlichkeit in den untersuchten Vorkommnissen nicht nur auf beabsichtigtem Handeln beruht, sondern darüber hinaus auch eine eindeutige Zustimmung („strong positive attitude“) der handelnden Person zur Handlung voraussetzt. Aristoteles’ Bestimmung der Willentlichkeit wird laut Rickert zwar vielen Textstellen im analysierten Corpus gerecht, erweist sich aber nicht für alle Stellen als adäquat. Ihre Kritik setzt bei Aristoteles’ Behandlung gemischter Handlungen in der EN ein.⁵⁶ Unter einer gemischten Handlung versteht Aristoteles eine Handlung, die eine Person unter normalen Umständen nicht ausführen würde, zu der sie sich aber aufgrund besonderer Umstände genötigt sieht und die sie daher um eines bestimmten Zwecks willen, z. B. um dadurch ein größeres Übel zu vermeiden, wählt. Eines der aristotelischen Beispiele für eine gemischte Handlung ist die Situation, in der ein Kapitän im Sturm das geladene Gut über Bord wirft, um dadurch das Leben seiner Mannschaft zu retten. Eine gemischte Handlung bezeichnet Aristoteles hier als ein ἑκούσιον, da die handelnde Person sie zum Zeitpunkt des Handelns gewählt und aus eigenem Antrieb ausgeführt hat, auch wenn sie sie unter normalen Umständen nicht gewählt hätte. Die Person führt die Handlung folglich nicht bereitwillig bzw. nicht „with a strong positive attitude“ aus. Dass Aristoteles eine solche Handlung, die absichtlich, aber nicht bereitwillig getan wird, als ein hekousion bezeichnet, entspricht nach Rickert nicht dem vor Aristoteles üblichen Gebrauch. In den von ihr untersuchten Texten wird eine Handlung vielmehr dann ein hekousion genannt, wenn die Handlung bereitwillig und mit deutlicher Zustimmung ausführt wird. Rickerts Auffassung lässt unsere Hauptfrage nach einer einheitlichen Übersetzung von „ἑκών“ und „ἄκων“ bei Aristoteles unberührt, und sie ist auch als
Das Corpus, in Hinblick worauf sie die Vorkommnisse von Wörtern der ἑκών-Gruppe (d. h. vorrangig von „ἑκών“/„ἑκούσιος“ und „ἄκων“/„ἀκούσιος“), umfasst Texte folgender Autoren (bzw. Schriften unbekannter Herkunft): Homer, Homerische Hymnen, Hesiod, Pindar, Lyrik, Vorsokratiker, Aischylos, Sophokles, Euripides, nicht-zugeordnete tragische Fragmente, Herodot, Thukydides. EN III 1, 1110a4– 19.
1.2 Willentlichkeit, Unwillentlichkeit, (freier) Wille und prohairesis
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Kritik an Aristoteles’ Bestimmung von Willentlichkeit bezweifelbar.⁵⁷ Denn ihr Verständnis hat für manche der diskutierten Beispiele eine unnatürliche oder zumindest diskussionswürdige Lesart zur Folge.⁵⁸ Wenn z. B. Odysseus in Sophokles’ Philoktet dem zurückgelassenen Philoktet droht, er werde notfalls mit Gewalt dazu gebracht, nach Troja zu gehen, wenn er nicht hekôn mitkomme, dann erscheint die Annahme zweifelhaft, Odysseus fordere Philoktet dazu auf, bereitwillig und zustimmend aufzubrechen.⁵⁹ Er hält ihn vielmehr an, aus freien Stücken nach Troja zu ziehen, selbst wenn er es nicht gern und mit starker positiver Zustimmung tut. Daher ist es auch außerhalb des aristotelischen Kontextes nicht unbedingt ratsam, „ἑκών“ und „ἄκων“ durchgehend im Sinn von bereitwillig und widerwillig zu verstehen und zu übersetzen. *** Ein weiterer Punkt ist, dass es nicht nur ein Übersetzungsproblem ist, Emotionen als etwas Willentliches zu bezeichnen. Aristoteles ist vielmehr tatsächlich der Ansicht, dass Emotionen etwas sind, das auch bei uns liegt und auf das wir Einfluss nehmen können. Das ist sogar ganz zentral für Aristoteles’ Konzeption des Glücks (eudaimonia). Das Glück für den Menschen bestimmt er als die Betätigung der dianoetischen und charakterlichen Tugenden, und die Betätigung der charakterlichen Tugenden bezieht sich auf Handlungen und Emotionen.⁶⁰ Das Glück erreicht nur der, der in seinen Handlungen und Emotionen jeweils das Übermaß und den Mangel vermeidet und das Mittlere trifft. Auch Emotionen
Vgl. auch die Kritik von Meyer an Rickerts Position in: Meyer 2011, Anm. 16, 15. Rickert anerkennt zwar, dass ihre Lesart an einigen Stellen unnatürlich und zu stark erscheinen kann, hält aber trotzdem an ihrer Position fest und behauptet, dass die entsprechenden Passagen womöglich nicht richtig verstanden werden (vgl. Rickert 1989, 166). Auch andere Beispiele, die Rickert diskutiert, rufen z.T. ähnliche Zweifel an ihrer Deutung hervor (vgl. Rickert 1989, 41– 52). Sophokles, Philoktet 984– 985. Vgl. z. B. EN II 5, 1106b24– 27: „Die Tugend hat es mit Emotionen und Handlungen zu tun, bei denen das Übermaß und der Mangel das Ziel verfehlen [und getadelt werden], während das Mittlere gelobt wird und das Richtige trifft. Dies beides sind Eigenschaften der Tugend.“ [ἡ δ᾿ ἀρετὴ περὶ πάθη καὶ πράξεις ἐστίν, ἐν οἷς ἡ μὲν ὑπερβολὴ ἁμαρτάνεται καὶ ἡ ἔλλειψις [ψέγεται], τὸ δὲ μέσον ἐπαινεῖται καὶ κατορθοῦται· ταῦτα δ᾿ ἄμφω τῆς ἀρετῆς.] sowie EN II 9, 1109a20 – 24: „Dass die charakterliche Tugend eine Mitte ist, und in welchem Sinn, und dass sie die Mitte zwischen zwei Schlechtigkeiten ist (eines in Bezug auf ein Übermaß, das andere in Bezug auf einen Mangel), und dass sie so beschaffen ist, weil sie in den Emotionen und in den Handlungen das Mittlere trifft, dies ist nun hinreichend untersucht worden.“ [ὅτι μὲν οὖν ἐστὶν ἡ ἀρετὴ ἡ ἠθικὴ μεσότης, καὶ πῶς, καὶ ὅτι μεσότης δύο κακιῶν, τῆς μὲν καθ᾿ ὑπερβολὴν τῆς δὲ κατ᾿ ἔλλειψιν, καὶ ὅτι τοιαύτη ἐστὶ διὰ τὸ στοχαστικὴ τοῦ μέσου εἶναι τοῦ ἐν τοῖς πάθεσι καὶ ἐν ταῖς πράξεσιν, ἱκανῶς εἴρηται.].
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spielen daher eine wichtige Rolle für das Erreichen des Glücks; und da es bei uns liegt, das Glück zu erreichen, müssen auch die Emotionen etwas sein, das (zumindest teilweise) bei uns liegt und worauf wir Einfluss nehmen können. Vor diesem Hintergrund ist es m. E. nicht unangemessen, sondern vielmehr sinnvoll und aufschlussreich, Emotionen willentlich zu nennen.⁶¹ Am meisten diskutiert wird als Alternative zu einer durchgängigen Übersetzung mit „willentlich“ und „unwillentlich“ schließlich das Paar „intentional, absichtlich“ und „nicht-intentional, unabsichtlich“ (bzw. „intentional, witting“ und „unintentional, unwitting“ sowie „faire exprès“ und „ne pas faire exprès“). Charles stützt seine Argumentation für diese Variante auf Aristoteles’ Behandlung gemischter Handlungen in EN III.⁶² Er argumentiert, dass es bei einer gemischten Handlung, wie dem erzwungenen Überbord-Werfen der Ladung, unangemessen ist, zu sagen, dass die Person willentlich handelt, da die Handlung erzwungen war. Eine erzwungene Handlung könne aber nicht willentlich sein; sie geschehe vielmehr intentional, d. h., sie wird zwar von der handelnden Person absichtlich ausgeführt, diese handelt aber nicht willentlich, da sie zu diesem Handeln aufgrund besonderer Umstände genötigt wird. Daher sind Charles zufolge „ἑκών“/ „ἑκούσιος“ in Kontexten, in denen die Rede von Willentlichkeit unangemessen ist, weil eine Handlung z. B. erzwungen ist, adäquat mit „intentional“ zu übersetzen. Gegen diese Argumentation hat Heinaman folgenden Einwand formuliert: […] since EE (1225a9 – 27) classifies some of those intentional actions which EN calls ʻmixedʼ as not hekousion, we would have to conclude that in EE ʻhekousionʼ does not mean ʻintentionalʼ. Hence Charles must conclude that ʻhekousionʼ changes meaning from EE to EN. ⁶³
An der angegebenen Stelle aus der EE sagt Aristoteles, dass jemand, der eine schlechte Handlung entweder um eines Guts willen oder zur Verhinderung eines noch größeren Übels ausführt, aus Zwang und daher akôn handelt. Auf eine gemischte Handlung trifft diese Beschreibung zu, so dass Aristoteles’ Auffassung, ob sie hekousiôs und akousiôs geschieht, in der EE und der EN unterschiedlich
Dass sich die Übersetzung mit „willentlich“ als adäquat für den aristotelischen Kontext erweist, bedeutet freilich nicht, dass damit auch die theoretischen Annahmen, die hinter dem Gebrauch stehen, geklärt sind. Diese inhaltliche Frage werde ich an späterer Stelle am Beispiel der Emotion des Zorns behandeln (Vgl. Kapitel „10. Die Zurechenbarkeit von Handlungen aus thymos“). Inwiefern die Emotionen von Kindern etwas Willentliches sind, ist zudem Gegenstand des letzten Kapitels, das u. a. die Frage nach der Zurechenbarkeit des eigenen Charakters und die Rolle der Erziehung beim Charaktererwerb behandelt; vgl. insb. Abschnitt „13.4 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit des Charakters: 1113b21– 1114a31“. Charles 1984, 61– 62. Heinaman 1986, 129. Vgl. auch die Kritik von Moline: Moline 1989, 284– 287.
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ist.⁶⁴ Charles gerät mit seinem Übersetzungsvorschlag angesichts dieser Differenz in ein Dilemma: Entweder wendet er die Übersetzungsalternative aus der EN konsequent in allen gleichartigen Fällen an, was die absurde Folge hätte, dass eine Handlung wie jene des Kapitäns in der EE als unbeabsichtigt bezeichnet würde; oder man verwendet für dieselben Ausdrücke innerhalb äquivalenter Kontexte mit entsprechenden Bezugsgegenständen unterschiedliche Übersetzungen, indem „ἑκών“ in der EN mit „intentional“ und in der EE „ἄκων“ mit „nicht-willentlich“ wiedergegeben wird. Das hätte die unerfreuliche Folge, dass sich die Bedeutung der Ausdrücke von der EE zur EN verändert. Die Folge der zweiten Alternative ist zwar unerfreulich, weil sie Aristoteles eine inkonsistente Begrifflichkeit anlastet, ist aber nicht sachlich abwegig wie die erste Option. An diesem Beispiel lässt sich gut zeigen, worin ein großer Vorzug der einheitlichen Übersetzung besteht.⁶⁵ Denn Aristoteles sieht es offenbar selbst nicht als eindeutig an, ob gemischte Handlungen als willentlich oder als unwillentlich zu bezeichnen sind, und vertritt in der EE und der EN unterschiedliche Ansichten. In der EN hält er die Frage nach wie vor für diskussionswürdig und formuliert seine Ansicht vorsichtig, indem er sagt, dass gemischte Handlungen mehr den hekousiois ähneln.⁶⁶ Stände hier zur Frage, ob gemischte Handlungen intentional oder nicht-intentional geschehen, so bestünde dagegen kein Anlass zum Zweifeln, und es wäre verwunderlich, dass Aristoteles nur die vorsichtige Antwort gibt, dass gemischte Handlungen den intentionalen mehr gleichen. Dass der Kapitän absichtlich handelt, ist nicht zweifelhaft. Die Frage, ob er willentlich oder unwillentlich gehandelt hat, gibt hingegen Anlass zur Diskussion. Gemischte Handlungen sind für Aristoteles ein wichtiger Prüfstein in seiner Behandlung der Willentlichkeit, in Hinblick auf die er erörtert, ob es angemessen ist, von willentlichen Handlungen zu sprechen. Diese Diskussion leistet daher einen zentralen Beitrag für die Entwicklung seiner eigenen Konzeption des Willentlichen, mit der er sich möglicherweise von der geläufigen Meinung distanziert.⁶⁷ Diesem
Auf diese Differenz und mögliche Gründe für die Abweichung komme ich im Abschnitt „2.3.3 „Gemischte Handlungen“ in der EE“ zurück. Vgl. Heinaman 1986, 129 – 130. EN III 1, 1110a12. Man könnte hier einwenden, dass es Aristoteles in der EE noch gar nicht um die Frage nach der Willentlichkeit erzwungener Handlung geht und somit auch die Wortwahl in dieser Hinsicht keine relevante Rolle spielt. Das halte ich jedoch für abwegig, da sich die Untersuchungen zur Willentlichkeit gemischter Handlungen in der EE und EN in manchen Hinsichten entsprechen und Aristoteles in der EN auf bestimmte Probleme, die sich für die Untersuchung in der EE ergeben, mit neuen Argumenten reagiert (vgl. Kapitel „2.3 “Gemischte Handlungen“ als umstrittene Fälle gewaltsamer Handlungen“).
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methodischen Vorgehen von Aristoteles, anhand von strittigen Beispielen die angemessene Anwendung der Ausdrücke „ἑκών“ und „ἄκων“ zu eruieren, wird man m. E. am besten mit einer einheitlichen Übersetzung gerecht, da andernfalls an die gerade zur Diskussion stehenden Ausdrücke bereits ein bestimmtes Verständnis herangetragen wird. Ein letztes erwähnenswertes Bedenken richtet sich speziell gegen die Termini „willentlich“ und „unwillentlich“ und a fortiori die Termini „freiwillig“ und „unfreiwillig“ (bzw. „voluntary“, „involuntary“ resp. „volontaire“, „involontaire“). Kritisiert wird, dass mit diesen Ausdrücken theoretische Hintergrundannahmen suggeriert werden, die Aristoteles noch fremd waren und die erst zu späterer Zeit entwickelt wurden.⁶⁸ Gemeint ist die Annahme eines Willens als eines eigenständigen Vermögens, aufgrund dessen eine Person eine Handlung ausführen kann. Es ist eine strittige und vieldiskutierte Frage, wann in der Antike der Begriff eines Willens bzw. eines freien Willens entwickelt wurde und inwiefern sich bereits bei Aristoteles Ansätze dazu finden. Manche Kritiker sprechen sich insbesondere gegen die Ausdrücke „freiwillig“ und „unfreiwillig“ aus, weil mit diesen Übersetzungen die Erwartung geweckt werden könnte, dass Aristoteles in seiner Untersuchung der Willentlichkeit die Annahme eines Willens – ja sogar eines freien Willens – voraussetzt. Für eine möglichst unvoreingenommene Interpretation der aristotelischen Ausführungen sollte aber vermieden werden, bereits durch die Terminologie Assoziationen zu suggerieren, die unerwünscht oder zumindest stark begründungsbedürftig sind.⁶⁹ Diesem Bedenken trage ich dadurch Rechnung, dass ich im folgenden Abschnitt einen knappen Überblick über die Diskussion um den Begriff des (freien) Willens in der Antike gebe und darstelle, welche Bedeutung Aristoteles hierbei zukommt. Ich teile die Ansicht, dass Aristoteles noch nicht über den Begriff eines (freien) Willens verfügt hat. Hat man sich dies jedoch einmal klargemacht, halte ich es anschließend für unbedenklich, die Ausdrücke „willentlich“ und „unwillentlich“ auch in Bezug auf Aristoteles zu verwenden.
Vgl. z. B. Wolf 2006, 359 – 361; Gauthier/Jolif 1970, 170; Loening 1903, 130 – 146 und insb. Kapitel 18 (273 – 318), das den Titel ‚Angebliche Willensfreiheitʻ trägt. Stellvertretend seien hier Gauthier/Jolif zitiert (1970, 170): „Mais nos mots de ‚volontaireʻ et ‚involontaireʻ ont derrière eux toute une philosophie, – celle de la volonté –, qui n’existait pas à l’époque d’Aristote et que lui-même n’a pas réussi à élaborer; les concepts qu’ils expriment sont le point d’aboutissement d’un long effort de réflexion dont l’œuvre d’Aristote, après celle de Platon, marque au contraire le point de départ. C’est se rendre inintelligible ces premiers balbutiements de la philosophie de la volonté que de les traduire d’emblée dans les mots savants où elle s’exprimera, adulte.“
1.2 Willentlichkeit, Unwillentlichkeit, (freier) Wille und prohairesis
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1.2.2 Der Begriff des (freien) Willens und Aristoteles’ Begriff der prohairesis Die eingangs zitierte neuzeitliche Definition von Zurechnung macht wesentlich Gebrauch vom Begriff des freien Willens.⁷⁰ Damit stellt sich die Frage, ob auch für Aristoteles ein Begriff des freien Willens als Grundlage für angemessenes Zurechnen anzunehmen ist. Sollte die Antwort auf diese Frage negativ ausfallen, schließt sogleich die Frage an, auf welche Grundlage sich ein Zurechnungsurteil bei ihm stattdessen zurückführen lässt. Allein zu sagen, dass Aristoteles keinen Ausdruck für den Willen und a fortiori keinen für den freien Willen hatte, genügt klarerweise nicht, um ihm einen Begriff des (freien) Willens abzusprechen. Die Beantwortung der Frage setzt jedoch zunächst voraus, dass feststeht, was unter dem Willensbegriff zu verstehen ist. Es gibt nicht nur einen einzigen Begriff des Willens, der in der modernen Philosophie einmütig Verwendung findet.⁷¹ Als eine Kernbedeutung des neuzeitlichen Begriffs lässt sich der Wille aber als eine von der Vernunft und den Begierden unabhängige psychische Instanz bestimmen, die Körperbewegungen und insbesondere Handlungen verursachen kann. Dieser Willensbegriff geht zum einen auf den theologischen Willensbegriff zurück, wie ihn Augustin und im Anschluss an ihn Thomas von Aquin entwickelt haben. Danach wird der menschliche Wille nach dem Vorbild und in Entsprechung zum Willen Gottes konzipiert und als eine eigenständige psychische Instanz aufgefasst, die dem Willen Gottes unabhängig von Vernunft und Begierden Gehorsam leisten kann. Zum anderen fußt der moderne Willensbegriff auf dem (post‐)cartesischen Willensbegriff, demzufolge eine Willensäußerung ein inneres, mentales Ereignis ist, das eine Körperbewegung verursachen kann.⁷²
Blöser 2014, 1: „Ein Zurechnungsurteil bringt zum Ausdruck, dass zwischen einem Geschehen und einer Person ein bestimmter Zusammenhang besteht: Das Geschehen wird als die eigene Handlung der Person charakterisiert, indem es auf ihren freien Willen zurückgeführt wird [Hervorhebung BL].“ Kahn unterscheidet z. B. vier verschiedene Perspektiven, die in Bezug auf den modernen Willensbegriff eingenommen werden können. Dazu zählen erstens ein theologischer Willensbegriff, wie er sich bei Augustin und Thomas von Aquin findet, zweitens der post-cartesische Willensbegriff im Sinn einer inneren mentalen Willensäußerung (volition), drittens ein kantischer Willensbegriff im Sinn von Selbstgesetzgebung und viertens als quer zu den drei anderen stehende Perspektive die Diskussion über die Kompatibilität von Willensfreiheit und Determinismus (Kahn 1988, 235 – 236). Der cartesische Willensbegriff steht freilich in Verbindung zum theologischen, da Descartes mit der theologischen Tradition vertraut gewesen ist. Neuartig ist in der cartesischen Philosophie jedoch der Dualismus von Körperlichem und Geistigem: Der Wille ist geistige Ursache einer Körperbewegung.
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Die Frage, ob Aristoteles über einen Willensbegriff verfügt oder nicht, ist in den letzten ca. 60 Jahren immer wieder von Philosophen und v. a. Philosophiehistorikern diskutiert und unterschiedlich beantwortet worden. Insgesamt lässt sich sagen, dass die Mehrheit der Autoren Aristoteles zwar einen Willensbegriff abspricht, ihm zugleich aber eine wichtige Rolle in der Geschichte der Entwicklung des philosophischen Willensbegriffs beimisst.⁷³ Ich will zunächst die wichtigsten Etappen und Positionen dieser Diskussion umreißen, bevor ich mein eigenes Verständnis ausführe und skizziere, inwiefern Aristoteles’ Behandlung des Willentlichen, der prohairesis und des Wunsches die zentralen Elemente bereitstellt, auf die ein Zurechnungsurteil zurückzuführen ist und die als Vorläufer für den später entwickelten Begriff des (freien) Willens anzusehen sind.⁷⁴ Die Positionen, die in der Forschung vertreten werden, lassen sich danach unterscheiden, ob sie Aristoteles einen Willensbegriff zu- oder absprechen und ob sie das Fehlen eines Willensbegriffs als Vor- oder als Nachteil auffassen. Lob für das Fehlen eines Willensbegriffs erfährt Aristoteles von Vertretern der analytischen Philosophie: Gilbert Ryle rühmt ihn in seiner Kritik an der cartesischen Philosophie des Geistes dafür, dass er den Unterschied zwischen dem Willentlichen und Unwillentlichen erklärt, ohne dafür den Willen als psychische Instanz anzunehmen.⁷⁵ Ähnlich preist auch John Langshaw Austin Aristoteles für seinen Ansatz, die Funktionsweise von Entschuldigungen ohne die metaphysische Annahme eines Willens zu untersuchen.⁷⁶ Diese Würdigung der aristotelischen Herangehensweise ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass der cartesische Willensbegriff im 20. Jh. von verschiedenen Vertretern der analytischen Philosophie vehement abgelehnt wurde. Sie kritisieren die damit einhergehenden metaphy Ein guter Überblick über die Positionen, an den sich meine Darstellung anlehnt, findet sich bei Rapp 2017. Auf die Frage, wann und durch wen – wenn nicht durch Aristoteles – der Begriff des Willens bzw. der Begriff des freien Willens entwickelt wurde, werde ich nicht weiter eingehen. Vgl. dazu z. B. folgende Beiträge mit z.T unterschiedlichen Antworten: Huby 1967, Hardie 1968, Dihle 1982, Kahn 1988, Bobzien 1998 und 2000, M. Frede 2011. Vgl. auch die Rezensionen zu Frede 2011: Lienemann 2012, Meyer 2013. Ryle 1949, 64: „The fact Plato and Aristotle never mentioned them [i. e. volitions; BL] in their frequent and elaborate discussions of the nature of the soul and the springs of conduct is due not to any perverse neglect by them of notorious ingredients of daily life but to the historical circumstance that they were not acquainted with a special hypothesis the acceptance of which rests not on the discovery, but on the postulation, of these ghostly trusts.“ Austin 1956, 180: „In examining all the ways in which each action may not be ‚freeʻ, i. e. the cases in which it will not do to say simply ‚X did Aʻ, we may hope to dispose of the problem of Freedom. Aristotle has often been chidden for talking about excuses or pleas and overlooking ‚the real problemʻ: in my own case, it was when I began to see the injustice of this charge that I first became interested in excuses.“
1.2 Willentlichkeit, Unwillentlichkeit, (freier) Wille und prohairesis
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sischen Annahmen und rezipieren als attraktive Alternativen stattdessen Ansätze wie den aristotelischen, die ohne derartige Annahmen auskommen. Eine anderslautende Antwort auf die Frage, ob Aristoteles die Annahme eines Willens zuzuschreiben ist, scheint prima facie Anthony Kenny zu geben, der seinerseits u. a. durch die Philosophie Wittgensteins und Anscombes beeinflusst ist – lautet doch der Titel seines 1979 erschienenen Buches „Aristotle’s Theory of the Will“. Allerdings lobt auch Kenny Aristoteles dafür, keinen cartesischen Willensbegriff anzunehmen. Er schreibt ihm vielmehr einen Willensbegriff zu, der am besten zu charakterisieren ist als ein Begriff für ein Bündel von verschiedenen Funktionen (als ein ‚cluster termʻ⁷⁷), welche seines Erachtens für eine Theorie des menschlichen Willens konstitutiv sind, nämlich Willentlichkeit, Intentionalität und Rationalität bzw. praktische Überlegung, die Kenny nacheinander in seiner Studie anhand der aristotelischen Ethiken untersucht. Aristoteles behandelt aber laut Kenny nicht nur diese drei für eine Willenstheorie konstitutiven Elemente, sondern er führt sie darüber hinaus auch zu einem Ganzen zusammen.⁷⁸ Dass ich Kenny in dieser Auffassung folge, wird bei der Präsentation meines eigenen Verständnisses deutlich werden. Eine neue Richtung erhielt die Diskussion zur Frage, ob Aristoteles ein Willensbegriff zuzuschreiben ist, durch die 1982 veröffentlichte Monographie „The Theory of Will in Classical Antiquity“ von Albrecht Dihle, die auf seinen 1974 in Berkeley gehaltenen Sather Lectures beruht.⁷⁹ Dihle, vom Fach her Klassischer Philologe und Philosophiehistoriker, ist am Unterschied zwischen der klassischen antiken Philosophie einerseits und andererseits der biblischen Tradition des Alten und Neuen Testaments sowie jüdischer und christlicher Autoren interessiert. Er sieht in Augustin den eigentlichen Erfinder des Willensbegriffs: Augustin entwickelt Dihle zufolge den ersten expliziten Willensbegriff im Anschluss an einen impliziten Willensbegriff, wie er sich bei jüdischen und christlichen Autoren findet, die den menschlichen Willen in Entsprechung und in Antwort auf den Willen Gottes konzipieren. Was laut Dihle in der griechischen Philosophie gegenüber der biblischen Tradition fehlt, ist die Annahme einer unabhängigen psychischen Instanz neben dem Intellekt und den nicht-vernünftigen Begierden,
Vgl. Rapp 2017. Kenny 1979, viii: „A satisfactory philosophical account of the will must relate human action to ability, desire, and belief. It must therefore contain three major elements, which may be combined in different ways according to different theoretical assumptions: it must contain a treatment of voluntariness, a treatment of intentionality, and a treatment of rationality. […] the three elements constituting an account of the will must necessarily be fused into a single whole if the account is to make any pretence at adequacy.“ Dihle 1982. In deutscher Übersetzung ist die Monographie 1985 erschienen.
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1 Einleitung
die sich auch gegen deren Strebungen durchsetzen kann und die er mit dem Willen gleichsetzt. Obwohl Aristoteles nicht über einen solchen Willensbegriff verfügt, erkennt Dihle bei ihm gleichwohl implizit einen Vorläufer dieses Begriffs. Einen Wegbereiter des späteren Willensbegriffs sieht er im thymos, den Aristoteles neben der Begierde (epithymia) und dem rationalen Wunsch (boulêsis) als eine dritte Art von Strebung bestimmt und der insofern vernünftig ist, als er auf die Vernunft hören kann.⁸⁰ Der thymos birgt bei Aristoteles laut Dihle das Potential für die Entwicklung eines Willensbegriffs als einer unabhängigen psychischen Instanz.⁸¹ Dihles Deutung wurde insbesondere von Michael Frede in seinen Sather Lectures von 1997/98 einer Kritik unterzogen, die Frede als Antwort auf Dihles Vorlesung versteht.⁸² Einer von Fredes Kritikpunkten gegen Dihle lautet, dass dieser von einem ganz spezifischen (voluntaristischen) Willensbegriff ausgeht, nach dessen Ursprung er sucht, wobei Dihle laut Frede andere mögliche (etwa intellektualistische) Begriffe des Willens außer Acht lässt und Konzeptionen, denen sein spezifischer Willensbegriff fehlt, als defizitär betrachtet.⁸³ Frede sieht in Aristoteles zwar einen wichtigen Vorläufer, aber keinen Vertreter eines Willensbegriffs: Aristoteles kommt nach Frede ohne einen Willensbegriff aus. Seine Konzeption mehrerer Seelenvermögen ermöglicht es ihm, rationale und nichtrationale Handlungen zu erklären und Menschen für ihre Handlungen verantwortlich zu machen, ohne eine unabhängige psychische Instanz anzunehmen. Ferner kommt Aristoteles laut Frede auch ohne einen Begriff der Freiheit aus, da es ihm zufolge für die Möglichkeit freier Handlungen ausreicht, im sublunaren
Ich werde den thymos im Kapitel „10. Die Zurechenbarkeit von Handlungen aus thymos“ ausführlich behandeln. Dihle 1982, 57– 58: „Thus a closer examination of the affection of anger could, in fact, have led to isolating the volitional factor from both reason and emotion: […]. Volition can be separated, in that particular case, from the intellectual choice of the objective of action as well as from instinctive drive. There is no ancient text where this possibility is realized […]. […] the possibility of developing a theory of will out of the theory of anger was always present in post-Aristotelian philosophy.“ Die Sather Lectures von Michael Frede wurden 2011 erst posthum von Anthony Long mit geringfügigen redaktionellen Änderungen und wenigen Anmerkungen unter dem Titel „A Free Will: Origins of the Notion in Ancient Thought“ herausgegeben. Vgl. Frede 2011. Frede 2011, 6: „[…] the very phrase ‚our modern notion of willʻ quite rightly reminds us that history presents us with a wide variety of versions of a notion of a free will, which differ quite substantially from Dihle’s favored notion, presumed to be our notion. In part these differ in that, as he puts it, they are much too ‚intellectualisticʻ and not ‚voluntaristicʻ enough. Dihle passes over such notions with little or no discussion, as they cannot count as notions of a will in what he takes to be our sense of the concept.“
1.2 Willentlichkeit, Unwillentlichkeit, (freier) Wille und prohairesis
31
Bereich nur regelmäßige Abläufe anzunehmen, die unterbestimmt sind.⁸⁴ Dabei fehlt bei Aristoteles insbesondere ein indeterministischer Freiheitsbegriff, zumal dieser nicht zu seinem Verständnis des Tugendhaften passt: Denn den Tugendhaften zeichnet es aus, dass er nicht anders als tugendhaft handelt, außer er handelt aus Gewalt bzw. Zwang oder in nicht-selbstverschuldeter Unwissenheit. Demnach hat der Tugendhafte gerade nicht die freie Wahl, wie er handelt.⁸⁵ Nochmals eine andere Herangehensweise an die Frage, ob Aristoteles ein Willensbegriff zuzuschreiben ist, sucht Charles Kahn in seinem Aufsatz „Discovering the Will: From Aristotle to Augustin“ von 1988. Er unterscheidet vier Elemente, die sich bei Aristoteles finden und die einen Willensbegriff ergäben, wenn sie miteinander verbunden und in einem einzigen Vermögen zusammengeführt würden.⁸⁶ Die Elemente sind erstens der Begriff des Willentlichen (hekousion), zweitens der Begriff davon, dass eine Handlung bei uns liegt bzw. eph’ hêmin ist, drittens der Begriff davon, dass man sich zu etwas entschließt, d. h. der Begriff der prohairesis, und viertens der Begriff des Wunsches bzw. der boulêsis. Aristoteles verfügt über alle vier Elemente, behandelt sie aber als voneinander unabhängige Begriffe. Das reicht nach Kahn nicht aus, um ihm einen Willensbegriff zuzuschreiben, da es für die Annahme eines Willens seiner Ansicht nach wesentlich ist, diese Elemente in einem eigenen psychischen Vermögen zu vereinigen. Diese Zusammenführung wird laut Kahn von Augustin vorbereitet, vollständig zu Ende geführt wird sie indessen erst von Thomas von Aquin in Gestalt der voluntas. Denn erst Thomas gibt dem augustinischen Willensbegriff durch die Einbettung in die aristotelische Seelenkonzeption den erforderlichen theoretischen Rahmen.⁸⁷ Der griechische Ausdruck für Freiheit „ἐλευθερία“ wurde weder im psychologischen noch im moralischen Sinn verwendet, sondern in Hinblick auf politische oder soziale Bedingungen, wie z. B. freie Geburt (im Gegensatz zur Sklaverei), Selbstregierung der Bürger (im Gegensatz zur Tyrannei) oder auch die freie Lebensweise der Elite (im Gegensatz zur Lebensweise der handwerklich arbeitenden Bevölkerung). Vgl. dazu D. Frede 2014, 40. Auf die Diskussion, ob Aristoteles eine deterministische oder eine indeterministische Position zuzuschreiben ist, gehe ich im letzten Kapitel „13. Willentlichkeit und Zurechenbarkeit von Charakterdispositionen“ ein. Die Frage, inwiefern der Tugendhafte sich frei zu einer tugendhaften Handlung entschließen kann, behandele ich im Abschnitt „4.3.5 Diskussionsfrage: Setzt eine prohairesis die Wahl zwischen mindestens zwei Alternativen voraus?“. Kahn 1988, 240: „To say that Aristotle lacks a concept of will is to say, first of all, that these four notions (or at least the last three) are conceptually independent of one another: there is no one concept that ties together the voluntary, boulêsis or desire for the end, and prohairesis, deliberate desire for means. But it is precisely the role of voluntas in Aquinas to perform this work of conceptual unification.“ Ähnlich wie Kahn hat auch Sorabji dafür argumentiert, die Entwicklung des modernen Willensbegriffs als eine Geschichte der Verbindung verschiedener Elemente eines Begriffsbündels aufzufassen. Als zentrale Elemente dieses Begriffsbündels unterscheidet Sorabji einerseits Frei-
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1 Einleitung
Kahns Analyse des aristotelischen Willensbegriffs enthält zwei wichtige Ergebnisse: Einesteils findet sich bei Aristoteles ein Ersatz für den später entwickelten Willensbegriff: Er behandelt mit dem Willentlichen, der prohairesis und dem Wunsch Elemente, die es ihm erlauben, die Funktionen zu erklären, für die später die Annahme des Willens eingeführt wurde. Anderenteils findet sich bei Aristoteles nur ein Begriffsbündel (cluster term), bestehend aus den Begriffen des Willentlichen, der prohairesis und des Wunsches, das sich zwar als Vorläufer des späteren Willensbegriffs ansehen lässt, das sich aber von diesem unterscheidet, da die verschiedenen Funktionen, die später mit dem Willen verbunden werden, bei Aristoteles nicht begrifflich vereinigt und auf eine unabhängige psychische Instanz zurückgeführt werden. Um zu sehen, was bei Aristoteles anstelle des fehlenden Willensbegriffs die Grundlage für ein Zurechnungsurteil ist, sind seine Ausführungen in den Kapiteln 1– 8 von Buch III der EN und in den Kapiteln 7– 11 von Buch II der EE heranzuziehen.⁸⁸ Aristoteles untersucht in beiden Ethiken zunächst die Frage, was unter dem Willentlichen und unter dem Unwillentlichen zu verstehen ist. Er bestimmt hier das Willentliche nicht etwa als das, was durch den (freien) Willen verursacht wird, sondern kommt ohne diese metaphysische Annahme aus und wird für die Schlichtheit seiner Analyse des Willentlichen von Autoren wie Ryle und Austin gerühmt. Hier wird nochmals ersichtlich, weshalb die Übersetzung der griechischen Ausdrücke „ἑκών“ und „ἄκων“ so problematisch ist. Die Übersetzung „willentlich“ sowie Äquivalente in anderen Sprachen wie z. B. „voluntary“, „volontaire“ u. a. gehen auf „voluntarium“ zurück, was die übliche lateinische Übersetzung für „ἑκών/ἑκούσιον“ ist. Der lateinische Ausdruck „voluntarium“ steht dabei in direkter Verbindung zum lateinischen Ausdruck für Willen, „voluntas“, denn das Willentliche (voluntarium) wird als das bestimmt, was durch den Willen (voluntas) verursacht ist.⁸⁹ Seit Cicero hat sich nun das lateinische „voluntas“ als die übliche Übersetzung für „βούλησις“ etabliert. Das hat zur Folge, dass die lateinische Übersetzung der aristotelischen Ausdrücke eine Verbindung zwischen dem Willentlichen und dem Wunsch nahelegt, die bei Aris-
heit und Verantwortung und andererseits Willenskraft (will-power), d. h. ein desideratives Element. Aristoteles hat beide Elemente des Begriffsbündels angenommen, aber noch nicht zusammengeführt, so dass auch Sorabji ihn als einen Wegbereiter des späteren Willensbegriffs ansieht (Sorabji 2004). Wichtig sind über diese Kernpassagen hinaus v. a. auch die Passagen EN V 10, 1135a15 – 1136a9 und die Kapitel 2, 5, 7– 13 von Buch VI der EN. STh I – II, art. 5 und art. 7: „[…] ita voluntarium dicitur quod est secundum inclinationem voluntatis […]. Et tamen hoc ipsum est voluntarium, secundum quod voluntarium dicitur quod est in potestate voluntatis […].“
1.2 Willentlichkeit, Unwillentlichkeit, (freier) Wille und prohairesis
33
toteles nicht besteht. So hat Thomas von Aquin den aristotelischen Wunsch, die boulêsis, als Äquivalent zu seinem Begriff der voluntas aufgefasst; er bestimmt die voluntas als einen appetitus rationalis, was genau Aristoteles’ Begriff des Wunsches entspricht.⁹⁰ Auch unter heutigen Autoren sind solche zu finden, die ernsthaft die Option erwägen, den aristotelischen Wunsch mit der voluntas bei Thomas gleichzusetzen ist und somit Aristoteles einen Willensbegriff zuzuschreiben.⁹¹ Allerdings ist diese Deutung m. E. nicht zu halten: In der EE schließt Aristoteles z. B. explizit aus, das Willentliche mit dem, was gewünscht wird, zu identifizieren.⁹² Die lateinische Übersetzung suggeriert somit zu Unrecht eine Verbindung zwischen dem Wunsch und dem Willentlichen, die bei Aristoteles nicht vorliegt.⁹³ Aristoteles’ schlanke Bestimmung des Willentlichen besteht darin, dass er zunächst Entschuldigungsbedingungen identifiziert, unter denen eine Handlung unwillentlich erfolgt. Die beiden Kriterien, die ausschließen, dass eine Handlung nicht willentlich geschieht, sind externe Gewalt bzw. Zwang und (nicht-selbstverschuldete) Unwissenheit über die Einzelumstände der Handlung. In Abgrenzung zum Unwillentlichen bestimmt Aristoteles willentliche Handlungen als solche, die ihren Ursprung (archê) in der handelnden Person haben und die nicht aufgrund von Unwissenheit um die Einzelumstände geschehen. Dass der Ursprung in der Person liegt, bedeutet, dass sie die Ursache für ihre Bewegung bzw. ihre Handlung ist, denn zu den Ursachen ihrer Bewegung bzw. Handlung gehört ihr Streben (orexis). Am Willentlichen haben nun, so Aristoteles weiter, auch Kinder und Tiere, und nicht nur erwachsene Menschen, Anteil. Eine willentliche Handlung oder Bewegung kann somit auf irgendeiner Art von Strebung beruhen, sei dies eine Begierde, der thymos oder ein rationaler Wunsch. Das zeigt nochmals, dass das Willentliche bei Aristoteles nicht in einer besonderen Verbindung zum Wunsch steht, da Tieren kein Wunsch zukommt, sie aber am Willentlichen teilhaben. Nach der Bestimmung des Willentlichen geht Aristoteles in beiden Ethiken über zur Bestimmung der prohairesis, des Entschlusses, was er in der EN damit begründet, dass der Begriff des Willentlichen weiter ist als derjenige des Entschlusses, da am Willentlichen auch Tiere und Kinder teilhaben, an der prohairesis hingegen nicht. Der Entschluss scheint also das Spezifische zu sein, das nur Handlungen erwachsener Personen zukommt und das geeignet ist, diese von Handlungen bzw. Bewegungen nicht (voll) zurechnungsfähiger Lebewesen ab STh I-II, q. 6, prooe.: „Cum autem actus humani proprie dicantur qui sunt voluntarii, eo quod voluntas est rationalis appetitus, qui est proprius hominis […].“ Irwin 1992. EE II 7, 1223b29 – 36. Vgl. dazu Kahn 1988, 241.
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zugrenzen. Den Entschluss bestimmt Aristoteles dadurch, dass er in einem ersten Schritt dessen Gattung mittels eines Ausschlussverfahrens bestimmt und den Entschluss von den anderen drei Arten von Strebung (epithymia, thymos und boulêsis) sowie von der Meinung (doxa) abgrenzt (vgl. EN III 4), bevor er in einem zweiten Schritt das Spezifische des Entschlusses mit Hilfe von dessen wesentlicher Verbindung zu Überlegung (bouleusis) und Wunsch (boulêsis) expliziert (vgl. EN III 5 – 6). Der Entschluss ist Aristoteles’ Bestimmung zufolge eine überlegte Strebung (orexis bouleutikê) nach den Dingen, die bei uns liegen und welche die Überlegung als die besten Mittel erwiesen hat, die erforderlich sind, um ein gewünschtes Ziel zu realisieren. Drei Merkmale sind demnach wesentlich für einen Entschluss: Erstens ist der Entschluss seiner Gattung nach etwas Willentliches, und zwar eine Strebung, wobei er mit keiner der drei Arten von Strebung – Begierde, thymos und Wunsch – gleichzusetzen ist. Zweitens beruht ein Entschluss immer auf einer Überlegung (bouleusis); die Überlegung dient dazu, ausgehend von einem vorgegebenen Ziel, das Gegenstand eines Wunsches ist, nach den am besten geeigneten Mitteln zu suchen, die nötig sind, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Am Ende dieses Überlegungsprozesses steht ein Entschluss, der die Beschreibung einer unmittelbar umsetzbaren Handlung zu seinem Inhalt hat, welche die Überlegung als das beste Mittel, um das angestrebte Ziel zu realisieren, gefunden hat. Drittens beruht ein Entschluss offenbar immer auf einem rationalen Wunsch (boulêsis) nach etwas.⁹⁴ Der Inhalt des Wunsches ist Ausgangspunkt für die Überlegung, an deren Ende ein Entschluss steht, es sei denn, die Überlegung hat den Gegenstand des Wunsches als nicht realisierbar erwiesen oder es sind andere intervenierende Faktoren aufgetreten. Der Entschluss ist somit eine besondere Strebung, und zwar eine auf Überlegung beruhende Strebung nach den Dingen, die bei uns liegen und die nötig sind, um ein gewünschtes Ziel zu realisieren. Sich zu diesen Dingen zu entschließen, bedeutet, sie um des gewünschten Ziels willen anzustreben und sich um des Ziels willen dazu zu entschließen. Aristoteles’ Bestimmung des Entschlusses macht deutlich, dass weder der Entschluss noch der Wunsch dem späteren Willensbegriff entsprechen.⁹⁵ Der Entschluss entspricht nicht dem Willen, weil der Willensbegriff weiter ist und dieser es nicht voraussetzt, dass das Gewollte immer auf einer Überlegung beruht. Der Wunsch entspricht nicht dem Willen, weil der rationale Wunsch im Normal Die Frage, ob einem Entschluss bei Aristoteles tatsächlich immer ein rationaler Wunsch zugrunde liegt oder ob er auch auf einer anderen Art von (nicht-rationaler) Strebung beruhen kann, werde ich im Abschnitt „7.3 Diskussionsfrage: Ist der Wunsch die einzige Art von Strebung, auf der eine prohairesis beruhen kann?“ diskutieren. Vgl. dazu Rapp 2017.
1.2 Willentlichkeit, Unwillentlichkeit, (freier) Wille und prohairesis
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fall etwas Allgemeines zum Gegenstand hat, was nicht direkt durch Handeln erreichbar ist. Der Gegenstand eines Wunsches muss vielmehr in der Regel zuerst durch die Überlegung auf eine Handlung zurückgeführt werden, die ihrerseits unmittelbar realisierbar ist und die der erste Schritt für die Verwirklichung des Ziels ist. Demgegenüber bezieht sich der Wille auf eine konkrete, direkt realisierbare Handlung. Worauf ist ein Zurechnungsurteil bei Aristoteles also zurückzuführen? Die Antwort darauf ist in seiner Analyse des Willentlichen, der prohairesis und des Wunsches zu finden. Die Erörterung zeigt, dass alle drei Begriffe eine zentrale Rolle für die Frage nach der Zurechenbarkeit von Handlungen spielen. Mein Anliegen ist aber, aufzuzeigen, dass sich Zurechenbarkeit nicht einfach durch die Bedingungen der Willentlichkeit und des Entschlusses definieren lässt. Denn einerseits scheint Aristoteles Willentlichkeit nicht in jedem Fall als notwendige Bedingung für Zurechenbarkeit zu betrachten, wie das Beispiel derartiger unwissentlicher Handlungen zeigt, bei denen die Unwissenheit auf einen unmenschlichen oder unnatürlichen Affekt zurückzuführen ist. Andererseits ist ein Entschluss zwar hinreichend für Zurechenbarkeit, aber ebenfalls nicht notwendig, da Aristoteles z. B. auch plötzliche und akratische Handlungen als zurechenbar ansieht, obwohl sie weder auf Überlegung noch auf einem Entschluss beruhen. Wesentlich für die Zurechenbarkeit von Handlungen ist vielmehr, dass die Handlungen auf den Charakter der handelnden Person zurückführbar sind. Handlungen sind also insofern zurechenbar, als in ihnen die Charakterdispositionen einer Person zum Ausdruck kommen. Nach Aristoteles’ Beschreibung steht der Charakter in engster Verbindung zu den Entschlüssen und den Wünschen einer Person. Den Charakter bestimmt er als eine hexis prohairetikê, d. h. eine Disposition (der Seele), die sich in Entschlüssen äußert, und der Charakter ist es, der laut Aristoteles das Ziel eines Wunsches festlegt, während der Entschluss das zum Inhalt hat, was die Überlegung als das beste Mittel erwiesen hat, um dieses Ziel zu erreichen. Wegen dieser engen Verbindung zwischen Charakter und Entschlüssen sagt Aristoteles auch, dass sich der Charakter einer Person am besten anhand ihrer Entschlüsse beurteilen lässt. Das schließt aber nicht aus, dass der Charakter auch in Handlungen und anderen Ereignissen zum Ausdruck kommt, die nicht auf einem Entschluss beruhen. So schlägt sich der Charakter einer Person auch in ihren Emotionen nieder, und auch nicht-überlegte Handlungen sind Ausdruck der charakterlichen Verfasstheit einer Person. Mein Ziel ist es, diese Grundlage für Zurechnung bei Aristoteles in ihrer Differenziertheit sichtbar zu machen und zu analysieren. Ich werde dafür argumentieren, dass sich der aristotelische Zurechnungsbegriff am besten als ein vielschichtiger und graduierbarer Begriff verstehen lässt. Demzufolge sind voll zurechenbar nur solche Handlungen, die auf einem Entschluss beruhen. In eingeschränkter Weise zure-
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1 Einleitung
chenbar sind aber auch Handlungen und Emotionen, die jeweils im Charakter einer Person wurzeln.
1.3 Vorbemerkungen zur Textgrundlage Auch wenn Aristoteles nirgendwo in seinen Schriften eine eigentliche Theorie der Zurechnung entwickelt, so gibt es doch zwei längere Passagen in den ethischen Schriften, die zentral für seine Konzeption von Willentlichkeit, Unwillentlichkeit sowie Zurechenbarkeit und Verantwortung sind. Das sind in der Nikomachischen Ethik die Kapitel 1 bis 8 von Buch III und die Kapitel 7 bis 11 von Buch II in der Eudemischen Ethik, zu denen es in den (pseudo-aristotelischen) Magna Moralia eine Parallelstelle in den Kapiteln 12 bis 19 von Buch I gibt. Diese Passagen bilden die maßgebliche Textgrundlage für meine Untersuchung.⁹⁶ Meine Untersuchung folgt in ihrem Aufbau dem Inhalt und der Struktur der beiden Textpassagen in der EN und in der EE: Aristoteles diskutiert hier zunächst, unter welchen Bedingungen Handlungen willentlich sind, anschließend behandelt er die prohairesis und deren Verbindung zur Überlegung, bevor er in der EN die Frage der Willentlichkeit von Schlechtigkeit und die Mit-Verantwortung für den eigenen Charakter thematisiert. Die Hauptteile dieses Buches enthalten jeweils entweder zu Beginn oder eingebettet in die fortlaufende Diskussion meine Übersetzung der relevanten Textstellen, wobei ich mich im Hauptteil II auf die wichtigsten Auszüge aus EE II 7– 9 und EN III 1– 3 konzentriere, während ich den Hauptteilen III und V jeweils den gesamten Text aus den beiden Ethiken, d. h. EE II 10 und 11 und EN III 4– 7, voranstelle. Über diese einschlägigen Textpassagen hinaus sind noch andere Passagen für die Diskussion von Aristoteles’ Theorie der Zurechnung von Bedeutung; diese stammen sowohl aus den ethischen Schriften als auch aus verschiedenen nicht-ethischen Schriften, insbesondere aus den naturphilosophischen Werken (v. a. De Anima und De Motu Animalium) sowie aus der Rhetorik. In den Ethiken sind vor allem Äußerungen in zwei der sog. „gemeinsamen Bücher“ von Interesse, nämlich die Bücher V und VII der EN, die den Büchern IV und VI der EE entsprechen. Da meine inhaltliche Auseinandersetzung auf einer sehr textnahen Untersuchung der relevanten Textpassagen beruht, ist es erforderlich, einleitend Stellung zu nehmen zu bestimmten Fragen, die mit der Textgrundlage verbunden sind. Diskutiert werden sollen folgende Punkte: (1) die Echtheit der ethischen
Die Übersetzungen stammen, wenn nicht anders vermerkt, von mir. Bei Übersetzungen, die im Haupttext stehen, zitiere ich den entsprechenden griechischen Text in den Fußnoten.
1.3 Vorbemerkungen zur Textgrundlage
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Schriften, (2) die relative Chronologie der Ethiken zueinander und die Zuordnung der sog. „gemeinsamen Bücher“ und (3) der Zustand des überlieferten Textes.
1.3.1 Die Echtheit der ethischen Schriften Bezüglich der Authentizität der ethischen Schriften teile ich die Auffassung, die heute in der Forschung wohl die am meisten verbreitete ist: Ich halte sowohl die EN als auch die EE für echt, d. h., dass die Werke entweder in der Form, wie sie uns heute vorliegen, von Aristoteles selbst geschrieben wurden, oder dass sie zwar von ihm geschrieben wurden, aber erst von einem Späteren ohne relevante Veränderungen herausgegeben wurden. Als unecht, wenn auch als mit den aristotelischen Schriften verwandt, sehe ich dagegen die Magna Moralia an. Die inhaltliche Nähe der MM zu den aristotelischen Ethiken könnte damit zu erklären sein, dass es sich bei jener Schrift um eine Schülermitschrift oder eine spätere Kompilation verschiedener Texte handelt. Wegen ihrer Verwandtschaft mit den aristotelischen Schriften werde ich daher für meine Untersuchung wichtige Parallelstellen aus den MM als sekundäre Quelle heranziehen: Sie können als zusätzliche Indizien dienen, obgleich ich kein Argument darauf gründen werde. Auch wenn diese Einschätzung der Authentizität von vielen geteilt wird, sei kurz auf wichtige anderslautende Auffassungen im Laufe der Überlieferungsgeschichte hingewiesen.⁹⁷ Abgesehen von wenigen Ausnahmen wurde und wird von kaum jemandem die Echtheit der EN bezweifelt.⁹⁸ Umstritten war dagegen immer wieder die Authentizität der EE. In der Antike hat Aspasius in seinem AristotelesKommentar (erste Hälfte des 2. Jh. n.Chr.) Zweifel gegenüber der Echtheit geäußert und die EE dem Eudemos zugeschrieben.⁹⁹ Allerdings scheint es sich bei dieser Position um einen Einzelfall zu handeln, während die vorherrschende Auffassung in der Antike war, alle drei Ethiken als authentisch anzusehen. In der neueren Diskussion beginnt die Kontroverse um die Echtheit der EE mit Schlei Umfassende Forschungsüberblicke zur Echtheitsfrage in Bezug auf die ethischen Schriften finden sich z. B. bei Schächer, Dirlmeier, Rowe, Kenny; einen kürzeren Überblick mit weiterführenden Literaturhinweisen gibt ferner Simpson, der darüber hinaus für die Echtheit der EE und der MM argumentiert: Schächer 1940 I; II 112– 117; Dirlmeier 1969 (EE), 109 – 121, 127– 143; Dirlmeier 1974 (EN), 248 – 251; Dirlmeier 1983 (MM), 93 – 113, 118 – 147; Chr. Rowe 1971, 9 – 14; Kenny 1978, 1– 49; Simpson 2013 (EE), x – xx; Simpson 2014 (MM), xi – xxxvii. In der Antike äußern Cicero und Diogenes Laertius Zweifel gegenüber der Authentizität der EN; jener erwägt bloß zögerlich, die EN Aristoteles’ Sohn Nikomachos zuzuschreiben, dieser befürwortet diese Zuschreibung (vgl. Cicero fin. 5.5; Diogenes Laertius VIII.88). Später wurde die Echtheit der EN (ebenso wie die Echtheit der EE) von Schleiermacher (1835) bestritten. Aspasius in Eth. Nic. CAG XIX/1, 151.19 – 27.
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ermacher, der nur die MM für echt hält und sowohl der EE als auch der EN die Authentizität abspricht, dessen Begründung aber weder philologisch noch philosophisch überzeugend ist.¹⁰⁰ Im Anschluss an Schleiermacher bestreitet Spengel die Echtheit der EE, während er die EN für authentisch hält, und wirkt mit dieser Position bis ins 20. Jh. meinungsbildend.¹⁰¹ Im 20. Jh. wurde die Echtheit der EE ferner von Flashar (1965/1995) und von Pakaluk (1998) aus unterschiedlichen inhaltlichen Überlegungen bestritten.¹⁰² Allerdings liefern auch deren Begründungen letztlich kein stichhaltiges Argument für die Unechtheit der EE, wie sorgfältige Auseinandersetzungen mit den Positionen zeigen.¹⁰³ Damit soll freilich nicht behauptet sein, dass die Echtheit der EE bewiesen ist. Einen Beweis für die Echtheit zu fordern, erscheint unangebracht, da sich Echtheit nicht beweisen lässt. Allerdings tendiert die Tradition zur Authentizität der EE wie auch der EN, und das betrachte ich als Grund, so lange an der traditionellen Einschätzung festzuhalten, wie sich die wichtigsten inhaltlichen und sprachlichen Argumente für die Unechtheit als anfechtbar erweisen. Nun mag es erstaunen, dass ich die MM demgegenüber für unecht halte, da die Tradition sie lange ebenfalls als authentisch angesehen hat. Das wirkt inkonsequent. Auf den Verdacht einer derartigen Inkonsequenz hat jüngst Simpson seine Hypothese gestützt, auch den MM Echtheit zuzusprechen. Da die Tradition sie für authentisch hielt, seien sie laut Simpson so lange als echt zu betrachten, wie kein gültiges Argument für deren Unechtheit vorgebracht wird.¹⁰⁴ Zweifel gegenüber der Echtheit der MM sind in der Renaissance aufgekommen und im
Schleiermacher 1835. Zur Kritik an Schleiermacher: vgl. z. B. Spengel 1841 und 1843 zur Abschreibung der Echtheit in Bezug auf die EN; Buddensiek zur Abschreibung der Echtheit in Bezug auf beide Ethiken (Buddensiek 1999, 24). Vgl. zur Kritik an Spengel: Buddensiek 1999, 24– 28. Flashar 1995. Eine frühere Fassung des Aufsatzes ist bereits 1965 erschienen. Flashar stützt seine Zweifel auf einen Vergleich der Passagen zur Platonkritik in der EN I 6 und in EE I 8, von denen er annimmt, dass es bei derjenigen in der EE wegen ihrer Schärfe im Ton ungewiss sei, ob sie von Aristoteles stammt. Denn in der Annahme, dass die EE ein früher Text von Aristoteles ist, sei eine derart platonkritische Auseinandersetzung nicht zu erwarten und müsse eher als eine schulinterne Abhandlung angesehen werden. Pakaluk stützt seine Skepsis gegenüber der Echtheit der EE auf die Überlegung, dass sich damit ein Egalitarismus erklären lasse, den er in der EE zu erkennen meint (Pakaluk 1998). Vgl. zu einer detaillierten und überzeugenden Kritik an Flashar und Pakaluk: z. B. Buddensiek 1999. Simpson 2014, xxii: „There is another consideration, which favors all hypotheses that say the Great Ethics is authentic. It is taken from Rowe, a prominent opponent of Aristotelian authorship who writes: ‚the onus lies with the opponents of authenticity, since it is only reasonable to accept the tradition if no case can be made against it.ʻ This statement is correct and, taken with what has just been said, should require us to conclude that the Great Ethics is authentic.“
1.3 Vorbemerkungen zur Textgrundlage
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20. Jh. durch die chronologische Deutung der aristotelischen Werke von Jaeger (1923) prominent geworden.¹⁰⁵ Ein Grund für die Echtheitszweifel beruht auf der Skepsis, dass Aristoteles drei ethische Schriften verfasst hat, während er sich sonst kurz fasst und diese Redundanz auffällt. Diesem Bedenken lässt sich damit begegnen, dass Aristoteles die ethischen Schriften während eines längeren Zeitraums verfasst hat, die Vorlesungen mehrfach gehalten wurden und er sie dabei verändert hat.¹⁰⁶ Das erklärt die Mehrzahl der ethischen Schriften, aber noch nicht die Annahme, die EE und die EN für echt, die MM dagegen für unecht zu halten. Allerdings lassen sich für die MM – im Gegensatz zur EE – überzeugende historische, sprachliche, stilistische und philosophische Indizien anführen, die in meinen Augen zusammengenommen hinreichend stichhaltig sind, den MM die Authentizität abzusprechen.¹⁰⁷ Simpson nennt und diskutiert zwar diese Gründe, akzeptiert sie aber allesamt nicht als ausreichende Belege gegen die Echtheit der MM. Sein zentrales Argument ist dabei, dass sich die vorhandenen Abweichungen damit erklären lassen, dass die MM als exoterische Schrift geschrieben wurden: Der andere Adressatenkreis des Werks macht es seines Erachtens verständlich, dass die MM sprachliche und stilistische Besonderheiten aufweisen und philosophisch weniger überzeugend sind.¹⁰⁸ Auch wenn der Hinweis auf die verschiedenen Adressatenkreise der Ethiken berechtigt und wichtig ist, fußt Simpsons Argumentation auf Spekulationen über das, was für eine exoterische Schrift
Auf Jaegers chronologische Deutung komme ich im nächsten Abschnitt zur relativen Chronologie zu sprechen. So z. B. Dirlmeier 1962, 11 sowie Jaeger (Jaeger 1955). Solche Indizien, die gegen die Echtheit der MM sprechen, werden z. B. ausführlich diskutiert in: Dirlmeier 1939, 217– 228; Donini 1965; Fahnenschmidt 1968, 2– 51. Vgl. auch die Diskussion bei Simpson 2014, xix – xxviii. Simpson 2014, xxi: „The hypothesis is that the work is an exoteric one directed to a popular audience outside the school. We would not expect it, therefore, to display all the philosophical elaboration or sophistication of a work intended for those within the school (such as the Nicomachean and Eudemian Ethics are).We would not expect it to contain all the doctrines of a work of the school.We would even expect it, where necessary, to hide such doctrines if, for some reason, an exoteric audience would be puzzled by them or have an instinctive, if unfounded, prejudice against them.We would also expect it to follow the speach patterns and terminology common and familiar to an exoteric audience, and not, say, the more careful and nuanced style that an author might prefer in a formal work of philosophy; hence in particular we should not be surprised to find, as we do find, many Hellenistic elements in the language of the Great Ethics, for these would reflect the speech of its intended audience.We would, further, expect it to make its arguments and process of reasoning easy to note and follow for an exoteric audience that would be unlikely to be practiced in argumentative subtleties (so, for instance, it would be more likely, where it gives lists, to make the lists simple and without much elaboration or nuance).“
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adäquat ist, die so erheblich sind, dass ich es für plausibler halte, die zahlreichen Besonderheiten der MM als Beleg für deren Unechtheit anzusehen.
1.3.2 Die relative Chronologie der EE in Relation zur EN und die sog. „gemeinsamen Bücher“ Mit der Frage nach der Echtheit der aristotelischen Ethiken ist auch die Frage nach der relativen Chronologie der ethischen Schriften verbunden. So hat Jaeger die Mehrzahl der ethischen Schriften damit erklärt, dass sie verschiedenen Stadien der aristotelischen Entwicklung und Lehre zuzuordnen sind.¹⁰⁹ Er deutet die EE als die frühe Schrift im Verhältnis zur EN und hält die MM für unecht. Ein prominenter Spätdatierer der EE ist dagegen Kenny, der die EE als der EN überlegen ansieht und der EE überdies die sog. „gemeinsamen Bücher“ zurechnet.¹¹⁰ Die gemeinsamen Bücher sind die Bücher IV – VI der EE und die Bücher V – VII der EN, die nach traditioneller Auffassung identisch sind. Die Zugehörigkeit der gemeinsamen Bücher zur EE begründet Kenny mit Hilfe wortstatistischer Untersuchungen, die allerdings von Cooper und Rowe mit überzeugenden Erwiderungen als nicht aussagekräftig erwiesen wurden.¹¹¹ Mangels stichhaltiger Belege, die die alleinige Zugehörigkeit der gemeinsamen Bücher zur EE oder zur EN erweisen, halte ich wiederum an der traditionellen Auffassung fest, nach der die Bücher identischer Bestandteil beider Schriften sind. Das schließt aber nicht aus, dass die gemeinsamen Bücher ihrem Inhalt und auch der Terminologie nach eine größere Nähe zu den Ausführungen in der EE aufweisen als zu denjenigen in der EN. Dies ist m. E. aber mit der relativen Chronologie der Schriften zu erklären. Ich teile die Auffassung einer zeitlichen Priorität der EE gegenüber der EN, die mit einer größeren inhaltlichen und terminologischen Ähnlichkeit zu Platon zusammenhängen könnte.¹¹² Für meine Untersuchung spielt weder die Frage nach der chronologischen Reihefolge der Ethiken noch diejenige nach der Zugehörigkeit der gemeinsamen Bücher insofern eine zentrale Rolle, als sie von einer bestimmten Auffassung wesentlich abhinge oder ich eine Argumentation auf eine
Jaeger 1955. Kenny 1978 und 1979. Cooper 1981; Chr. Rowe 1983; vgl. auch Buddensiek 1999, 41– 43. Buddensiek führt erstens das ergon-Argument, das in beiden aristotelischen Ethiken sowie in der Politeia vorkommt als Grund für die zeitliche Priorität der EE an, da die Version in der EE größere Ähnlichkeiten mit dem Argument Platons aufweist und eine größere Nähe nahelegt. Zweitens kommen in der EE mehr platonische Ausdrücke vor als in der EN, was ebenfalls für die Frühdatierung spricht (Buddensiek 1999, 36 – 41).
1.3 Vorbemerkungen zur Textgrundlage
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bestimmte Ansicht stützen werde. Allerdings wird die Analyse der Willentlichkeit und Zurechenbarkeit in den Parallelstellen in der EE und EN sowie in den Ausführungen in EN III gegenüber jenen in EN V und VII (bzw. EE IV und VI) vor Augen führen, dass zwischen den Behandlungen einige Unterschiede in Inhalt und in der Terminologie bestehen. Diese könnten mit der relativen Chronologie der Schriften und der fortentwickelten Auffassung in der EN, die Ansichten aus der EE modifiziert bzw. korrigiert, erklärt werden. Denkbar ist aber auch, dass Aristoteles in den verschiedenen Schriften unterschiedliche Auffassungen erwägt und bewusst gegenläufige Gesichtspunkte zur Sprache bringt, zumal die Differenzen im Wesentlichen Fälle, wie z. B. Handlungen in Trunkenheit oder bestimmte Beispiele sog. „gemischter Handlungen“, betreffen, bei denen Aristoteles offenbar eine eindeutige und explizite Beurteilung hinsichtlich ihrer Willentlichkeit und Unwillentlichkeit sowie ihrer Tadelnswürdigkeit vermeidet.¹¹³
1.3.3 Der Zustand des überlieferten Textes Der griechische Text der EE ist für seinen korrupten Zustand bekannt. Außerdem erschwert der Text der EE das Verständnis durch einen bisweilen sehr gedrängten und konzentrierten, in Teilen auch elliptischen Stil des Formulierens, wie es uns hier insbesondere bei der Diskussion von EE II 11 begegnen wird. Das erfordert bei der Auseinandersetzung mit dem Text der EE philologische Detailarbeit, um zunächst überhaupt Klarheit über die Textgrundlage zu haben, die es zu diskutieren gilt. Die Diskussion philologischer Detailprobleme und von Textvarianten findet sich überwiegend in den Fußnoten zu den Übersetzungen. Nur auf wenige einzelne Kontroversen werde ich im Haupttext eingehen, wenn diese inhaltlich von Bedeutung sind. Für die EE ist die erste wichtige kritische Ausgabe die Teubner-Ausgabe von Susemihl aus dem Jahr 1884. Eine neuere kritische Ausgabe stammt von R.Walzer und Mingay und ist im OCT erschienen. Ich werde, wenn nicht anders vermerkt, nach dem OCT zitieren, obwohl diese Textausgabe mit klaren Mängeln behaftet ist und ein Hinzuziehen der Teubneriana unerlässlich ist. Im Fall der EN zitiere ich ebenfalls, wenn nicht anders vermerkt, nach dem OCT. Darüber hinaus verwende ich auch hier Ausgaben, die bei Teubner erschienen sind, und zwar Susemihls
Vgl. hierzu die Abschnitte „2.3.3.2 Vergleich der Analysen „gemischter Handlungen“ in der EE und der EN“ und „3.2.4.5 Beurteilung der alternativen Deutungen von Handlungen aufgrund von Trunkenheit“.
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1 Einleitung
Ausgaben von 1880 und 1887 sowie die Ausgabe von 1903, die Apelt auf der Grundlage der Textausgabe von Susemihl erstellt hat.
1.3.4 Methodischer Zugang und Überblick über die Gliederung des Buches Ich werde die aristotelische Konzeption von Zurechnung nicht unter substantiellem Rekurs auf moderne Theorien moralischer Verantwortung rekonstruieren. Dass ein Rückgriff auf solche Modelle hilfreich sein kann, haben die Untersuchungen von Meyer und Echeñique gezeigt; meine Interpretation verdankt diesen Rekonstruktionen viel und bezieht wichtige ihrer Ergebnisse mit ein. Für mein eigenes Vorgehen wähle ich aber den Weg einer sehr textnahen Analyse von Aristoteles’ Ausführungen in den Ethiken, die für die Frage nach seiner Auffassung von moralischer Verantwortung zentral sind. Der beste Weg, um den aristotelischen Zurechnungsbegriff präzise zu bestimmen, ist eine genaue Lektüre des Textes. Ich lege dabei meiner Kommentierung keine bestimmten theoretischen Annahmen oder Modelle moderner Theorien zugrunde. Vielmehr orientiere ich mich an Kontext, Argumentation und Begrifflichkeit der aristotelischen Textgrundlage, um ausgehend davon den aristotelischen Begriff von Zurechnung sichtbar zu machen. Wenn an einzelnen Stellen ein expliziter Rückgriff auf moderne Theorien und deren Begrifflichkeit für das Verständnis hilfreich ist, werde ich diese indes gezielt heranziehen. Ziel meiner Analyse ist, den aristotelischen Zurechnungsbegriff anhand des Textes zu rekonstruieren und zu diskutieren. Dabei treten einerseits dessen Vielschichtigkeit und Differenziertheit zutage, andererseits werden auch spezifische Schwierigkeiten deutlich. Dieser methodische Zugang bedeutet für die Struktur meiner Untersuchung, dass ich mich im Aufbau am Argumentationsverlauf in den ersten sieben Kapiteln von Buch III der EN orientiere und die entsprechenden parallelen Textpassagen aus der EE (EE II 6 – 11) jeweils fortlaufend hinzunehme oder separat diskutiere, wenn es sich um singuläre Textstellen ohne Pendant in der EN handelt.¹¹⁴ Die textnahe Untersuchung der relevanten Passagen erfordert es, im Zuge der Übersetzung des griechischen Textes auch philologische Fragen und Schwierigkeiten zu diskutieren, da diese für das Verständnis des Textes von Bedeutung sein können. Das gilt vor allem für diejenigen Passagen, in denen Aristoteles sein Verständnis der prohairesis, des Entschlusses, präsentiert. Ausgehend von der Übersetzung und Kommentierung des zugrundeliegenden Textes erörtere ich
Vgl. zur Frage der Echtheit der ethischen Schriften und zur Bedeutung, die m. E. den Magna Moralia zukommt, den Abschnitt „1.3.1 Die Echtheit der ethischen Schriften“.
1.3 Vorbemerkungen zur Textgrundlage
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weiterführende Fragen, die für die Rekonstruktion des Zurechnungsbegriffs zentral sind. Wichtige Interpretationsfragen sind dabei vor allem in die Behandlung der prohairesis eingebettet, wie z. B. die Diskussion des Verhältnisses von Entschluss und Wunsch sowie der Beziehung zwischen Entschluss, Klugheit (phronêsis) und Tugend. Der feingliedrige Aufbau meines Inhaltsverzeichnisses und die Titelgebung der Unterkapitel sollen dem Leser dabei helfen, auch gezielt bestimmte Diskussionsfragen zu finden. Insgesamt gliedert sich das Buch nach diesem einleitenden Teil I in vier weitere Teile unterschiedlicher Länge. Die Teile II, III und V befassen sich fortlaufend mit der genannten Textgrundlage aus den Ethiken, während in Teil IV ein Anwendungsteil eingeschoben ist: Dort analysiere ich die bis dahin rekonstruierte Konzeption der Zurechnung, indem ich sie auf spezifische Zurechnungsgegenstände, wie Handlungen aus Zorn (thymos), plötzliche Handlungen und akratische Handlungen aus Voreiligkeit übertrage. Ich gehe davon aus, dass es Aristoteles in seinen Ausführungen, die für die Rekonstruktion seines Begriffs der Zurechnung zentral sind, vor allem um zwei Fragen geht: Erstens um die Frage nach den angemessenen Adressaten von Lob und Tadel und zweitens um die Frage nach den Bedingungen, unter denen es angemessen ist, Personen für ihre Handlungen zu loben oder zu tadeln. Blicken wir auf den Textverlauf in der EN, fällt auf, dass die Beantwortung der beiden Fragen in umgekehrter Reihenfolge erfolgt. Das schlägt sich auch im Aufbau meiner Untersuchung nieder. Für die Antwort auf die Frage nach zurechnungsfähigen Subjekten sind die Kapitel 7 und 8 aus Buch III der EN zentral, in denen Aristoteles die Willentlichkeit und Zurechenbarkeit von Charakterdispositionen behandelt. Die Beantwortung der Frage nach den Bedingungen von Zurechenbarkeit ist weniger direkt und sie erfordert es, auch über die Textgrundlage in den Ethiken hinauszugehen. Aristoteles entwickelt seine Antwort auf die zweite Frage, indem er in einem ersten Schritt das Willentliche in Abgrenzung zum Unwillentlichen bestimmt. Diese Erörterung ist Gegenstand von Teil II. Aristoteles bestimmt Gewalt (bia) bzw. Zwang (anankê) sowie nicht-selbstverschuldete Unwissenheit (agnoia) über die Einzelumstände der Handlung als Faktoren, die dazu führen, dass eine Handlung unwillentlich geschieht. Gewalt bzw. Zwang und Unwissenheit über Einzelnes sind Ausschlusskriterien für die Willentlichkeit von Handlungen. Die übergeordnete Interpretationsfrage von Teil II lautet: Ist Willentlichkeit nach Aristoteles eine notwendige Bedingung für Zurechenbarkeit? Aristoteles’ Ausführungen zeigen, dass er zwar im Normalfall davon ausgeht, dass die Zurechenbarkeit einer Handlung voraussetzt, dass sie willentlich geschieht. Er räumt aber Ausnahmen ein, in denen eine Handlung Lob oder Tadel verdient, obwohl sie unwillentlich geschieht. Als einen solchen Sonderfall beschreibt er unwissentliche Handlungen, bei denen ein unnatürlicher oder unmenschlicher
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1 Einleitung
Affekt Ursache der Unwissenheit ist. Fernerhin zeigt Aristoteles’ abwägende Behandlung sog. „gemischter Handlungen“ und von Handlungen in Trunkenheit, dass er sich einer uneingeschränkten Beurteilung entzieht, ob solche Handlungen als willentlich oder unwillentlich zu bezeichnen sind, und er gelangt teilweise in den Ethiken zu unterschiedlichen Beurteilungen. Diese Differenzen müssen nicht als ein Sinneswandel oder ein gedanklicher Entwicklungsschritt gedeutet werden (wie es manche tun); sie können auch als Ausdruck einer umsichtigen und differenzierten Analyse verstanden werden. So wird eines meiner Ergebnisse sein, dass Aristoteles neben einem starren Begriff von Willentlichkeit und Unwillentlichkeit auch jeweils einen variablen Begriff annimmt, demzufolge Handlungen und Charakterdispositionen zu unterschiedlichen Graden willentlich bzw. unwillentlich sein können. Das hat wiederum Auswirkungen auf die Zurechenbarkeit, da auch hierfür Abstufungen anzunehmen sind. Der zweite Schritt zur Beantwortung der Frage nach den Bedingungen der Zurechenbarkeit ist die Bestimmung der prohairesis, die Aristoteles in den Ethiken an die Behandlung des Willentlichen anschließt. Die Behandlung der prohairesis ist Gegenstand des umfangreichsten Teils meiner Untersuchung (Teil III). Aristoteles führt die prohairesis als etwas ein, das spezifisch für den Menschen ist und das deswegen geeignet ist, unter den willentlichen Handlungen diejenigen auszusondern, die nur erwachsenen Menschen zuzuschreiben sind. Die übergeordnete Frage von Teil III lautet: Ist das Vorliegen einer prohairesis hinreichende Bedingung für Zurechenbarkeit? Es geht darum zu verstehen, was Aristoteles unter einer prohairesis versteht und welche Bedeutung er ihr für die Zurechenbarkeit von Handlungen beimisst. Die Bestimmung der prohairesis erfolgt zunächst in einem Ausschlussverfahren. Auf die negative Abgrenzung folgt eine Behandlung des Spezifischen der prohairesis, indem Aristoteles die Überlegung als ein wesentliches Konstituens für eine prohairesis erweist. Da er den Zusammenhang zwischen Überlegung und prohairesis ausschließlich anhand von Beispielen aus dem Bereich herstellender Tätigkeiten illustriert, ist hier der Frage nachzugehen, ob sich die Ausführungen zu poietischen Tätigkeiten ohne Weiteres auf praktisches Überlegen und Handeln, d. h. moralisch relevantes Überlegen und Handeln, übertragen lassen. Im Abschnitt zum sog. „Praktischen Syllogismus“ erörtere ich, in welchem Verhältnis Überlegung, Entschluss und eine mögliche daraus resultierende Handlung Aristoteles zufolge zueinander stehen. Zentral für die Frage, ob und inwiefern die prohairesis hinreichend für Zurechenbarkeit von Handlungen ist, ist schließlich die Analyse in der EE, wo Aristoteles das Verhältnis der prohairesis zum Wunsch sowie die Verbindung zwischen prohairesis, Klugheit (phronêsis) und Tugend erörtert. Teil IV unterbricht die fortlaufende Textkommentierung. Er dient der Prüfung der bis dahin entwickelten Konzeption von Zurechenbarkeit von Handlungen.
1.3 Vorbemerkungen zur Textgrundlage
45
Plötzliche Handlungen und unbeherrschte Handlungen aus Voreiligkeit werfen die Frage auf, ob und ggf. inwiefern Handlungen zurechenbar sein können, die nicht auf einem Überlegungsprozess und einem Entschluss beruhen. Dass gleichwohl auch solche Handlungen zurechenbar sind, fusst darauf, dass auch sie auf den Charakter der handelnden Person zurückzuführen sind, der in ihnen zum Ausdruck kommt. Handlungen aus Zorn sind zudem von Bedeutung, weil damit die Frage nach der Zurechenbarkeit von Emotionen verbunden ist. Hier wird es wichtig sein zu sehen, wie Aristoteles die spezifische Rationalität des thymos und die Möglichkeit des Überzeugt-Werdens des nicht-rationalen Seelenteils durch die Vernunft konzipiert. Teil V nimmt die Textkommentierung mit den Kapiteln 7 und 8 aus EN III wieder auf. In den beiden Kapiteln, die keine Parallele in der EE haben, behandelt Aristoteles die Fragen, ob Tugenden und Schlechtigkeiten etwas Willentliches sind und inwieweit wir mit-verantwortlich für unseren Charakter sind. Dieser Diskussion ist zu entnehmen, wen Aristoteles als zurechnungsfähiges Subjekt ansieht. Die Textpassage EN III 7 ist eine der am häufigsten diskutierten in der Nikomachischen Ethik, und einige dieser Diskussionen sind für meine Fragestellung zentral. Ich führe hier meine Gründe aus, weshalb Aristoteles eine deterministische Position zuzuschreiben ist, die gleichwohl nicht ausschließt, dass erwachsene Menschen moralisch verantwortlich für ihre Handlungen sind. Grundlage für die Zurechenbarkeit ihrer Handlungen sind ihre Charakterdispositionen. Das setzt aber nicht voraus, dass sie auch voll verantwortlich für die Charakterdispositionen sind. Der Prozess des Charaktererwerbs ist vielmehr so zu verstehen, dass verschiedene Faktoren für die Entwicklung eines Charakters mitursächlich sind: Die natürlichen Voraussetzungen und Talente, soziale Faktoren wie die Erziehung sowie das soziale und politische Umfeld ebenso wie die sich sukzessive entwickelnden diskriminatorischen Fähigkeiten einer heranwachsenden Person. Deswegen spricht Aristoteles davon, dass wir mit-verantwortlich (synaitios) für unseren Charakter sind. In dem Maß, wie sich die rationalen Vermögen einer heranwachsenden Person entwickeln und differenzieren, nimmt auch ihre Mit-Verantwortung für ihren eigenen Charakter zu.
Teil II: Willentlichkeit als notwendige Bedingung für Zurechenbarkeit?
2 Gewalt und Zwang als Ausschlusskriterien für Willentlichkeit Aristoteles entwickelt in den ersten drei Kapiteln von Buch III der Nikomachischen Ethik (EN) seine Definition von Willentlichkeit in Abgrenzung zur Unwillentlichkeit. Er bestimmt zunächst, welche Faktoren dazu führen, dass eine Handlung unwillentlich geschieht: Eine Handlung ist unwillentlich, wenn sie entweder aus Gewalt bzw. unter Zwang erfolgt oder wenn sie in Unwissenheit über die Einzelumstände der Handlung geschieht. Erfolgt eine Handlung entweder aus Gewalt bzw. unter Zwang oder in Unwissenheit über die konkreten Handlungsumstände, so führen Gewalt bzw. Zwang oder Unwissenheit dazu, dass die Handlung nicht willentlich geschieht. Diese Faktoren sind daher Ausschlusskriterien für die Willentlichkeit von Handlungen. Gewalt bzw. Zwang und Unwissenheit sind damit Gründe, die es unangemessen machen, eine Person für ihre Handlung in derselben Weise verantwortlich zu machen, wie wenn die Handlung willentlich erfolgte. Die Person verdient vielmehr Entschuldigung oder zumindest Nachsicht für ihr Handeln. Die Faktoren, die bewirken können, dass eine Handlung unwillentlich geschieht, lassen sich daher auch als Entschuldigungsbedingungen bezeichnen. In diesem Kapitel werde ich mit Gewalt bzw. Zwang die erste Entschuldigungsbedingung behandeln. Das nächste Kapitel befasst sich danach mit der zweiten Bedingung, der Unwissenheit. Für die erste Entschuldigungsbedingung verwendet Aristoteles zwei unterschiedliche Bezeichnungen – „βία“ und „ἀνάγκη“ – und es wird später zu fragen sein, ob damit auch ein inhaltlicher Unterschied zu verbinden ist. Im Deutschen lässt sich ein solcher treffen: Er besteht darin, dass unter Gewalt (bia) eine äußere physische Gewalt, deren Einfluss nichts entgegenzusetzen ist, zu verstehen ist, während Zwang (anankê) eine Form der Einflussnahme ist, die physisch sein kann, aber nicht sein muss, der sich jemand zwar grundsätzlich widersetzen könnte, allerdings nur zu einem erheblichen Preis. Hier ist z. B. an den Fall einer Erpressung zu denken, bei der sowohl in physischer als auch in psychischer Hinsicht Druck ausgeübt werden kann. Aristoteles kennt beide Phänomene und bezieht auch beide in seine Erörterung der ersten Entschuldigungsbedingung ein. Der Kern der aristotelischen Bestimmung liegt darin, dass etwas aus Gewalt oder durch Zwang geschieht, wenn etwas gegen seinen natürlichen Impuls bewegt wird. Dies lässt noch offen, welcher Art der bewegende Einfluss und welcher Art der natürliche Impuls ist. In meiner Behandlung wähle ich die Übersetzung „Gewalt“ für „βία“ und den Ausdruck „Zwang“ für „ἀνάγκη“, um dadurch zunächst nur abzubilden, welchen Ausdruck Aristoteles jeweils verwendet. Die Frage, ob damit auch der beschriebene sachliche Unterschied einhergeht, wird https://doi.org/10.1515/9783110517583-004
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2 Gewalt und Zwang als Ausschlusskriterien für Willentlichkeit
Gegenstand des Abschnitts „2.2.3 Differenziert Aristoteles sachlich zwischen bia und anankê?“ sein.
2.1 Gewalt und Zwang in der Eudemischen Ethik (EE II 8) Es ist aus verschiedenen Gründen sinnvoll, eine Analyse von Aristoteles’ Behandlung der Gewalt bzw. des Zwangs mit den Ausführungen in Kapitel 8 von Buch II der Eudemischen Ethik (EE) zu beginnen. Aristoteles wählt hier einen allgemeineren Ansatz als in der EN und manches deutet darauf hin, dass es sich bei der EE um einen Entwurf handelt, der die Behandlung in der EN vorbereitet.¹¹⁵ Als Ergänzung zu den Ausführungen in der EE ziehe ich auch relevante Passagen aus den Magna Moralia (MM) heran, da die Behandlung in MM I 14– 15 ähnlich angelegt ist wie jene in EE II 8. Die Erörterung in der EN werde ich dagegen erst etwas später hinzunehmen (Abschnitt „2.2 Gewalt und Zwang in der Nikomachischen Ethik (EN III 1)“), da die signifikanten inhaltlichen Unterschiede zur EE auf diese Weise am besten zu erfassen sind und sich anschließend nach den Gründen für diese Abweichungen fragen lässt.
2.1.1 Gewalt bei Unbeseeltem und Beseeltem In der EE geht Aristoteles bei seiner Untersuchung des Willentlichen und des Unwillentlichen – anders als in der EN – von einem allgemeinen metaphysischen Rahmen aus (katholou, 1224a15) und richtet sein Augenmerk anfangs nicht nur auf Handlungen.¹¹⁶ Vielmehr bezieht er die Bestimmung unwillentlicher Geschehnisse, die durch Gewalt geschehen, gleichermaßen auf unbeseelte natürliche Gegenstände (Steine, Feuer), nicht-vernunftbegabte Lebewesen (Tiere, Kinder) und vernunftbegabte Lebewesen (erwachsene Menschen):
Ähnlich Echeñique 2012, 87. Noch weiter geht Meyer, die die Bestimmung der Willentlichkeit in EN III als Ergebnis und Abschluss der dialektischen Argumentationen in der EE (und in den MM) auffasst (vgl. Meyer 2011, z. B. 61). Eine entgegengesetzte Auffassung vertritt Kenny, der die EN vor die EE datiert und in dessen Augen die Untersuchung in der EE derjenigen in der EN überlegen ist (vgl. Kenny 1979, 38: „What corresponds in the Eudemian Ethics to the confused Nicomachean discussion of crimes of passion is a long and carefully constructed section in chapter 8 of book II […].“). In dieser Hinsicht stimmt die Untersuchung in der EE mit jener in den MM überein (vgl. MM I 14).
2.1 Gewalt und Zwang in der Eudemischen Ethik (EE II 8)
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[EE II 8, 1224a13 – 30]¹¹⁷ Es scheint somit, dass das Gewaltsame und das Erzwungene sowie die Gewalt und der Zwang im Bereich des Handelns dem Willentlichen und der Überzeugung entgegengesetzt sind. Im Allgemeinen sprechen wir indes vom Gewaltsamen und dem Zwang auch bei den unbeseelten¹¹⁸ Dingen.Wir sagen nämlich, dass durch Gewalt oder dazu gezwungen auch der Stein sich aufwärts und das Feuer abwärts bewegen. Wann immer sie sich jedoch gemäß ihrem natürlichen Impuls¹¹⁹, d. h. gemäß dem ihnen selbst gemäßen Impuls, bewegen, so sagt man nicht, dass sie sich durch Gewalt bewegen, aber auch nicht willentlich; vielmehr ist dieser Gegensatz namenlos. Wenn sie sich aber gegen diesen [sc. natürlichen Impuls; BL] bewegen, sagt man, dass sie sich durch Gewalt bewegen. Ähnlich sehen wir auch bei beseelten Dingen, d. h. den Lebewesen, dass sie durch Gewalt vieles erleiden und tun, wenn etwas Externes sie gegen den natürlichen Impuls in ihnen bewegt. In den unbeseelten Dingen ist der Ursprung [sc. der Bewegung; BL] einfach, in den beseelten Dingen ist er vielfach; denn das Streben und die Vernunft stehen nicht immer in Einklang miteinander. Daher ist bei den anderen Lebewesen [sc. als den Menschen; BL] das Gewaltsame einfach, wie auch bei den unbeseelten Dingen (denn sie haben nicht die Vernunft und entgegengesetztes Streben, sondern sie leben [nur] durch das Streben); im Menschen ist aber beides vorhanden, d. h. in einem bestimmten Alter, dem wir Handeln zuschreiben. Wir sagen nämlich nicht, dass ein Kind handelt, und auch kein Tier, sondern nur dass jemand handelt, der dies aus Überlegung tut.
Aristoteles geht hier von einer zentralen Grundannahme seiner Naturphilosophie aus, nach der jeder Gegenstand seinen natürlichen Ort hat und kraft seines na-
EE II 8, 1224a13 – 30: δοκεῖ δὴ τὸ βίαιον καὶ τὸ ἀναγκαῖον ἀντικεῖσθαι, καὶ ἡ βία καὶ ἡ ἀνάγκη, τῷ ἑκουσίῳ καὶ τῇ πειθοῖ ἐπὶ τῶν πραττομένων. καθόλου δὲ τὸ βίαιον καὶ τὴν ἀνάγκην καὶ ἐπὶ τῶν ἀψύχων λέγομεν⋅ καὶ γὰρ τὸν λίθον ἄνω καὶ τὸ πῦρ κάτω βίᾳ καὶ ἀναγκαζόμενα φέρεσθαι φαμέν. τοῦτο δ’ ὅταν κατὰ τὴν φύσει καὶ τὴν καθ’ αὑτὰ ὁρμὴν φέρηται, οὐ βίᾳ, οὐ μὴν οὐδ’ ἑκούσια λέγεται, ἀλλ’ ἀνώνυμος ἡ ἀντίθεσις. ὅταν δὲ παρὰ ταύτην, βίᾳ φαμέν. ὁμοίως δὲ καὶ ἐπὶ ἐμψύχων καὶ ἐπὶ τῶν ζῴων ὁρῶμεν βίᾳ πολλὰ καὶ πάσχοντα καὶ ποιοῦντα, ὅταν παρὰ τὴν ἐν αὐτῷ ὁρμὴν ἔξωθέν τι κινῇ. ἐν μὲν τοῖς ἀψύχοις ἁπλῆ ἡ ἀρχή, ἐν δὲ τοῖς ἐμψύχοις πλεονάζει⋅ οὐ γὰρ ἀεὶ ἡ ὄρεξις καὶ ὁ λόγος συμφωνεῖ. ὥστ’ ἐπὶ μὲν τῶν ἄλλων ζῴων ἁπλοῦν τὸ βίαιον, ὥσπερ ἐπὶ τῶν ἀψύχων (οὐ γὰρ ἔχει λόγον καὶ ὄρεξιν ἐναντίαν, ἀλλὰ τῇ ὀρέξει ζῇ)⋅ ἐν δ’ ἀνθρώπῳ ἔνεστιν ἄμφω, καὶ ἔν τινι ἡλικίᾳ, ᾗ καὶ τὸ πράττειν ἀποδίδομεν. οὐ γάρ φαμεν τὸ παιδιόν πράττειν, οὐδὲ τὸ θηρίον, ἀλλὰ τὸν ἤδη διὰ λογισμὸν πράττοντα. „ἔμψυχος“ und „ἄψυχος“ lassen sich mit ähnlich guten Gründen mit „belebt“ resp. „unbelebt“ und mit „beseelt“ resp. „unbeseelt“ übersetzen. Ich habe mich für Letzteres entschieden, da nach Aristoteles die Funktion der Seele, lebendig zu machen, die Beseeltheit voraussetzt und somit als Grundlage für Lebendigkeit diese einschließt. Die MSS (PCL) haben hier „κατὰ τὴν φύσει“, während der Marcianus 213 (und danach auch der OCT) stattdessen „κατὰ τὴν φύσιν“ haben. Ich halte an der besser überlieferten Lesart fest, nach der die Phrase „κατὰ τὴν φύσει καὶ τὴν καθ’ αὑτὰ ὁρμὴν“ nicht zwei unterschiedliche Qualifizierungen enthält, sondern bloß eine; ich fasse die gesamte Phrase somit derart auf, dass der zweite Teil („[κατὰ] τὴν καθ’ αὑτὰ ὁρμὴν“) eine mit einem epexegetischen „καὶ“ angehängte nähere Erläuterung des ersten Teils („κατὰ τὴν φύσει“) enthält.
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2 Gewalt und Zwang als Ausschlusskriterien für Willentlichkeit
türlichen Impulses zu diesem natürlichen Ort hinstrebt.¹²⁰ So bezeichnet Aristoteles in den MM das Oben als natürlichen Ort (oikeios topos) des Feuers und das Unten als jenen der Erde, und die Passage aus der EE fügt dem hinzu, dass das Feuer und der Stein sich gemäß ihrem natürlichen Impuls (kata tên physei) zu ihrem jeweiligen natürlichen Ort hin bewegen. Dies wird noch spezifiziert als eine Bewegung, die gemäß dem ihnen selbst gemäßen Impuls (tên kath’ hauta hormên) geschieht, d. h., sie erfolgt gemäß einem Impuls, der an dem ausgerichtet ist, was die Sache selbst ist. In den Zeilen 1224a13 – 30 bestimmt Aristoteles das Kriterium der Gewalt zunächst in Bezug auf unbeseelte Dinge mit Hilfe eines einzigen Kriteriums: Ein unbeseelter Gegenstand bewegt sich aus Gewalt, wenn er gegen seinen natürlichen Impuls bewegt wird. Aristoteles gibt nicht ausdrücklich an, ob die Ursache für die Bewegung immer außerhalb des unbeseelten Gegenstandes liegt. Davon ist aber auszugehen. Grund für die Auslassung mag sein, dass eine explizite Erwähnung überflüssig ist: Weil bei unbeseelten Dingen kein innerer Konflikt zwischen verschiedenen natürlichen Impulsen möglich ist, steht fest, dass eine Einwirkung, die dem natürlichen Impuls entgegenläuft, von außen kommen muss.¹²¹ Ferner lässt die Formulierung des Kriteriums zunächst offen, ob es nur dann erfüllt ist, wenn ein unbeseelter Gegenstand gegen seinen natürlichen Impuls bewegt wird, oder auch im Fall des Nicht-Bewegens, d. h. des Verhinderns der Bewegung entsprechend dem natürlichen Impuls. Dass Aristoteles beide Möglichkeiten annimmt, geht indes kurz darauf aus dem Text hervor, wenn zweimal explizit vom Bewegen oder Verhindern einer Bewegung die Rede ist.¹²² Ab 1224a20 richtet Aristoteles seinen Blick sodann auf die beseelten Dinge, d. h. die Lebewesen (epi empsychôn kai epi tôn zô[i]ôn),¹²³ und fügt dem ersten
Vgl. dazu GC II 3, 330b30 – 33; Cael. I 7, 276a12; Cael. IV 3, 310b7; Phys. VIII 3, 253b34. So Echeñique 2012, 89; Meyer 2011, 77. EE II 8, 1224b7– 8 und 1224b11– 15: „Denn wenn etwas von etwas Externem gegen den (natürlichen) Impuls in ihm bewegt oder daran gehindert würde, dann sagen wir, dies geschieht durch Gewalt. […] Denn wir nennen die externe Ursache, die gegen den natürlichen Impuls entweder hindert oder bewegt, Zwang, wie wenn jemand die Hand eines anderen ergreift und damit einen anderen [Dritten] gegen dessen Wunsch und Begehren schlägt; wenn aber die Ursache innerhalb liegt, dann liegt keine Gewalt vor“. Ich fasse die Konjunktion in der Formulierung „ἐπὶ ἐμψύχων καὶ ἐπὶ τῶν ζῴων“ epexegetisch auf, d. h., dass mit „ζῴων“ präzisiert wird, über welche beseelten Dinge (empsycha) hier gesprochen wird, nämlich nur Lebewesen, während Pflanzen und anderen beseelte Wesen außen vor bleiben. Pflanzen zählen für Aristoteles zu den beseelten Dingen, da die Pflanzenseele über die vegetativen Seelenfunktionen (Ernährung, Wachstum und Fortpflanzung) verfügt; er bezeichnet Pflanzen zwar als lebende Dinge (zônta), aber nicht als Lebewesen (zô[i]a), da dies zumindest ein Wahrnehmungsvermögen voraussetzt (vgl. De An. II 413b2– 4; für weiterführende
2.1 Gewalt und Zwang in der Eudemischen Ethik (EE II 8)
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Kriterium eine weitere Bedingung hinzu:¹²⁴ Die Ursache dafür, dass ein beseelter Gegenstand gegen seinen natürlichen Impuls bewegt oder an der Bewegung gehindert wird, ist etwas Externes (exôthen). Von den unbeseelten zu den beseelten Dingen leitet Aristoteles zuerst mit der Bemerkung über, dass es sich bei diesen zwar ähnlich verhält wie bei jenen, wenn ihnen etwas gewaltsam widerfährt, gibt dann aber auch ein Unterscheidungskriterium an. Der Unterschied ist, dass die Bewegungsursache bei unbeseelten Dingen einfach, bei beseelten hingegen vielfach ist (a23 – 24). Anders formuliert: Unbeseelte Dinge haben nur eine einzige mögliche Bewegungsursache, während die Bewegung beseelter Dinge verschiedene Ursachen haben kann. Damit geht laut dem Text einher, dass eine einfache Bewegungsursache zur Folge hat, dass auch das Gewaltsame einfach ist, d. h., dass es nur eine Art gewaltsamer Einwirkung gibt, und dass demgegenüber aus der Möglichkeit verschiedener Bewegungsursachen folgt, dass auch die gewaltsamen Kräfte unterschiedlich sein können (a25 – 28).¹²⁵ Hier bereitet der Text jedoch eine Schwierigkeit. Die bisherigen Annahmen lauten in allgemeiner Formulierung: (A) Wenn x nur eine Bewegungsursache hat, dann ist für x nur ein Gewaltsames möglich. (B) Wenn x mehr als eine Bewegungsursache hat, dann sind für x verschiedene gewaltsame Einwirkungen möglich.
Dem Wortlaut des Textes nach nimmt Aristoteles in a23 – 24 an, dass alle unbeseelten Dinge eine einfache Bewegungsursache haben, während alle beseelten Dinge verschiedene Bewegungsursachen haben können.¹²⁶ Wir hätten also laut den Annahmen (A) und (B) zu folgern, dass für alle unbeseelten Dinge nur eine gewaltsame Einwirkung möglich ist, während nach a24 sämtliche beseelten Dinge verschiedene gewaltsame Einwirkungen haben können. Ein Problem ergibt sich
Hinweise: Ingensiep 2001, 38 – 60).Woods’ Übersetzung „animate things, including animals“ legt dagegen nahe, dass er die Konjunktion so auffasst, als werde die Klasse der Lebewesen (ζῴων) der Klasse der beseelten Dinge (ἐμψύχων) untergeordnet, was an dieser Stelle aber nicht gemeint ist. Ferner bezieht sich „τῶν ἄλλων ζῴων“ in a25 – 27 eindeutig auf nicht-vernunftbegabte Lebewesen (Kinder und Tiere), denen erwachsene vernunftbegabte Menschen gegenübergestellt werden. Dass es sich um eine Ergänzung zum ersten Kriterium handelt, geht aus dem Text hervor, vgl. EE II 8, 1224b5 – 7„Wenn indessen einer das in der früheren Definition Hinzugekommene [i. e. eine externe Bewegungsursache; BL] hinzufügte, wäre das Gesagte gelöst.“ Dass Aristoteles von einer Folge ausgeht, macht die konsekutive Formulierung mit „ὥστε“ in 1224a25 deutlich. Dass wir die Sätze als Allaussagen auffassen müssen, macht die zweimalige Verwendung des bestimmten Artikels im Griechischen (in 1224a23 und 24) deutlich. Das heißt, dass sich empsychois in a24 auf alle beseelten Lebewesen bezieht und nicht nur eine bestimmte Untergruppe.
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2 Gewalt und Zwang als Ausschlusskriterien für Willentlichkeit
durch Aristoteles’ unmittelbar folgende Begründung, weshalb bei beseelten Dingen verschiedene gewaltsame Einwirkungen möglich sind: „[…] denn das Streben und die Vernunft stehen nicht immer in Einklang miteinander“ (a24– 25). Der Grund dafür, dass bei beseelten Dingen Gewalt nicht nur von außen herrühren kann, ist ihm zufolge, dass es bei ihnen zwei natürliche Impulse gibt und es bei ihnen dadurch zu einem inneren Konflikt kommen kann, wenn Vernunft und Streben nicht übereinstimmen. Diese Begründung gilt allerdings nicht für alle beseelten Dinge, sondern nur für vernunftbegabte Lebewesen. In diesem Sinn fährt Aristoteles auch in a25 – 26 fort: Bei den anderen Lebewesen außer den Menschen ist das Gewaltsame wie bei den unbeseelten Dingen einfach, da sie nur über das Streben verfügen. Dem Wortlaut nach enthält der Text also widersprüchliche Aussagen: Einerseits die Aussage, dass alle Lebewesen, auch die nicht-vernunftbegabten, verschiedene gewaltsame Einwirkungen erfahren können, und andererseits die Aussage, dass bei nicht-vernunftbegabten Lebewesen nur ein Gewaltsames, das von außen stammt, möglich ist. Echeñique unternimmt einen Versuch, mit diesem Widerspruch im Text umzugehen. Er argumentiert für die Ansicht, dass sich auch bei nicht-vernunftbegabten Lebewesen eine Art von innerem Konflikt zwischen verschiedenen inneren Strebungen annehmen lässt, da es auch in Tieren und Kindern zu Konflikten zwischen Begierden (epithymiai) und Affekten (pathê) wie Furcht oder Zorn kommen kann.¹²⁷ Dass Aristoteles im Text trotzdem das Gewaltsame bei nichtvernunftbegabten Lebewesen als einfach bezeichnet, erklärt Echeñique damit, dass die Art von inneren Konflikten, die bei Tieren und Kindern möglich sind, keine inneren Konflikte im eigentlichen Sinn („strictly speaking“) sind, da die Vernunft nicht beteiligt ist. Gegen Echeñiques Erklärungsversuch spricht allerdings, dass im Kontext der Textpassage nichts auf eine derartige Differenzierung zwischen eigentlichen und uneigentlichen inneren Konflikten hindeutet.¹²⁸ Es erscheint sinnvoller, die Redeweise von „den anderen Lebewesen“ (tôn allôn zô[i]ôn) in 1224a25 so zu verstehen, dass hier mit diesem Ausdruck nur auf eine Teilmenge aller Lebewesen, nämlich die nicht-vernunftbegabten Lebewesen, Bezug genommen wird. Sowohl die Verwendung von „ἄλλων“ als auch das adversative „μὲν“ weisen darauf hin, dass zwei Teilmengen von Lebewesen voneinander abgegrenzt werden. Auf die nicht-vernunftbegabten Lebewesen trifft es im Gegensatz zu den vernunftbegabten Lebewesen zu, dass bei ihnen das Gewaltsame nur einfach ist, weil sie nur über einen natürlichen Impuls verfügen. Echeñique 2012, 90. Bezeichnend ist, dass Echeñique zur Rechtfertigung seiner Position auf einen Passus aus den MM zurückgreift (MM I 14, 1188b5 – 6), anhand dessen er – noch dazu auf reichlich umständliche Weise – seine Unterscheidung plausibel zu machen versucht (Echeñique 2012, 91– 92).
2.1 Gewalt und Zwang in der Eudemischen Ethik (EE II 8)
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2.1.2 Die Testfälle des Beherrschten und des Unbeherrschten Aristoteles setzt die Behandlung von Gewalt bzw. Zwang in 1224a30 – 1225a2 fort, indem er anhand des Unbeherrschten und des Beherrschten sein Verständnis der beiden Kriterien für das Vorliegen eines gewaltsamen Geschehnisses weiter präzisiert. Der Gedankengang erfolgt verschlungen und knüpft an die (noch verschlungenere) dialektische Argumentation in EE II 7 an.¹²⁹ In Kapitel 7 hat Aristoteles den Beherrschten und den Unbeherrschten bereits für eine Reihe offensichtlicher Scheinargumente herangezogen, die zusammen zu dem unhaltbaren Schluss führen, dass beide zugleich sowohl willentlich als auch unwillentlich handeln.¹³⁰ Die Auflösung dieses Widerspruchs steht in Kapitel 8 noch aus. Hier greift Aristoteles erneut verschiedene denkbare Einwürfe auf, und erst rückblickend wird deutlich, dass sie nicht bzw. nur mit Abstrichen und Präzisierungen seiner eigenen Auffassung entsprechen. Aber nicht einmal resümierend formuliert er seine Gegenposition explizit, sondern überlässt es Lesern und Hörern, die richtigen Schlüsse aus seinen Überlegungen zu ziehen.¹³¹ In Kapitel 8 diskutiert Aristoteles erneut die Beispiele des Unbeherrschten und des Beherrschten, und zwar als Testfälle für die beiden Kriterien für Gewalt bzw. Zwang als Faktoren, die eine Handlung unwillentlich machen. Aristoteles erwägt, ob sich der Unbeherrschte und der Beherrschte nach der gegebenen Bestimmung darauf berufen können, aus Gewalt gehandelt zu haben. Beide können für sich geltend machen, das erste Kriterium für eine Handlung aus Gewalt zu erfüllen, denn beide handeln aufgrund einer gewaltsamen Einwirkung, die einem natürlichen Impuls zuwiderläuft. Der Unbeherrschte kann darauf verweisen, ge-
Meyer deutet Aristoteles’ Vorgehensweise in EE II 7– 9 insgesamt als dialektische Argumentation (Meyer 2011, Kap. 3). Charakteristisch für eine dialektische Vorgehensweise im aristotelischen Sinn ist, zunächst in einer kritischen Phase vorherrschende Meinungen (endoxa), die entweder allgemein verbreitet oder die Auffassungen von Experten sind, zu erörtern und Inkonsistenzen zwischen diesen prima facie plausiblen Meinungen aufzuzeigen, um daraufhin in einer konstruktiven Phase die Konflikte unter den Annahmen aufzulösen, indem aufgezeigt wird, was daran zutreffend und was in welcher Weise zu korrigieren ist (Aristoteles beschreibt die dialektische Methode in Met. III 1, 995a24-b4, Top. I 1, 100b21– 101a17, 101b1– 4; Top. I 10, 104a4b17, EN VII 1, 1145b2– 7; zur Diskussion der dialektischen Methode vgl.: Barnes 1980; D. Frede 2012; Irwin 1981; Nussbaum 1982; Owen 1961). Für eine detaillierte Diskussion der einzelnen Argumente: Kenny 1979, 14– 22; Meyer 2011, 63 – 66; Woods 2005, 122 – 127. EE II 8, 1225a1– 2: „Aufgrund des Gesagten ist wohl ziemlich klar, wie wir damit umzugehen haben.“
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gen die vernünftige Überzeugung zu handeln,¹³² und was der Überzeugung zuwiderläuft, ist erzwungen und gewaltsam.¹³³ Demgegenüber könnte ein Beobachter¹³⁴ über den Beherrschten sagen, dass er gegen die Begierde handelt und deswegen Schmerz empfindet, und was schmerzvoll ist, ist erzwungen.¹³⁵ Aristoteles lässt jedoch keinen Zweifel aufkommen, dass er beide Argumentationsweisen – die des Unbeherrschten über sich selbst und die eines Beobachters über den Beherrschten – als verkürzt und unzureichend ansieht. Dem Unbeherrschten lässt sich zunächst entgegenhalten, dass seine Handlung nicht schmerzvoll ist, da sie seine Begierde befriedigt.¹³⁶ Dem Beobachter des Beherrschten kann geantwortet werden, dass die Handlung des Beherrschten dessen Überzeugung entspricht.¹³⁷ Diese Erwiderungen allein genügen freilich noch nicht, um die Argumentationen des Unbeherrschten und des Beobachters des Beherrschten vollständig zu entkräften, denn sie stehen noch auf demselben unsicheren Boden wie deren jeweilige Behauptungen. Einerseits berufen sich die Repliken auf Annahmen, die in Aristoteles’ Augen zwar zutreffen, die aber nicht entscheidend sind, um die Frage zu beantworten, ob die Handlungen aus Gewalt geschehen, wie z. B., dass der Unbeherrschte gegen seine Vernunft und der Beherrschte gegen seine Begierde handelt. Andererseits betrachtet Aristoteles manche Behauptungen womöglich prima facie als plausible Aussagen, weist sie als allgemeine Annahmen aber zurück, wie z. B., dass alle schmerzvollen Handlungen erzwungen sind und alles Erzwungene bzw. Gewaltsame der Vernunft entgegensteht. Dies sind allenfalls Indizien für die Annahme, dass die Handlung aus Gewalt geschehen ist, sie reichen aber nicht aus, um sagen zu können, dass eine Handlung aus Gewalt bzw. Zwang geschehen ist, da es Gegenbeispiele gibt. Ob eine Handlung aus Gewalt bzw. Zwang erfolgt ist, lässt sich Aristoteles zufolge erst sagen, wenn präzisiert wird, ob die gewaltsame Einwirkung von außen erfolgt oder innerhalb der han-
EE II 8, 1224a36: „[…] und aus Gewalt handelt der Unbeherrschte gegen die vernünftige Überlegung.“ EE II 8, 1224a13 – 15, vgl. das Zitat von EE II 8, 1224a13 – 30 auf S. 51. Im Fall des Beherrschten muss man davon ausgehen, dass ein anderer als der Beherrschte selbst für die Sichtweise argumentiert, dass der Beherrschte gegen seine Begierde handelt und deswegen Schmerz empfindet. Der Beherrschte kann diese Argumentation nicht selbst für sich in Anspruch nehmen, weil er aufgrund seiner richtigen Überlegung gegen seine Begierde handelt. Die richtige Überlegung ist Grund dafür, dass er die Begierde, die er verspürt, nicht als schmerzhaft empfindet. EE II 7, 1223a33: „Daher folgt: Wenn etwas schmerzvoll ist, ist es gewaltsam, und wenn es gewaltsam ist, schmerzvoll.“ EE II 8, 1224a36-38. EE II 8, 1224a38-b1.
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delnden Person ihren Ursprung hat.¹³⁸ Der externe Ursprung der gewaltsamen Einwirkung ist somit das zweite entscheidende Charakteristikum, damit tatsächlich eine Handlung aus Gewalt bzw. Zwang vorliegen kann. Dieses Merkmal fehlt jedoch beherrschten und unbeherrschten Handlungen, weshalb sie aller Ähnlichkeit zum Trotz letztlich nicht als Handlungen aus Gewalt anzusehen sind: [EE II 8, 1224b5 – 11]¹³⁹ Wenn man indessen das in der Definition Hinzugesetzte [i. e. ἔξωθέν, 1224a23; BL] auch dort [i. e. in den Fällen des Beherrschten und des Unbeherrschten; BL] hinzufügt, ist das Gesagte gelöst. Denn wenn irgendeines der externen Dinge etwas gegen dessen (natürlichen) Impuls in ihm bewegt oder in Ruhe versetzt, dann sagen wir, dies geschieht durch Gewalt; wenn aber nicht, dann nicht durch Gewalt. Im Beherrschten und Unbeherrschten nun ist es deren natürlicher, d. h. der an ihnen selbst ausgerichtete Impuls, der in ihnen ist und der sie antreibt (denn sie haben beide)¹⁴⁰. Daher handelt keiner von beiden durch Gewalt, sondern laut dem Gesagten willentlich und nicht gezwungen.
In den MM kommt noch ein mögliches Ausweichmanöver des Unbeherrschten vor, indem sich dieser auf die gewaltsame Einwirkung seiner Begierde zu berufen versucht. Vgl. MM I 14, 1188b8 – 11: „In den Fällen jedoch, in denen die Ursache in denjenigen, die etwas tun, liegt, werden wir nicht mehr sagen, dass sie dies unter Gewalt tun. Wenn dies nicht gilt, wird der Unbeherrschte widersprechen und sagen, dass er nicht schlecht ist; denn er wird sagen, dass er das Schlechte tue, weil er durch die Begierde gezwungen sei.“ EE II 8, 1224b5 – 11: οὐ μὴν ἀλλ’ εἴ τις προσθῇ τὸ ἐν τῷ διορισμῷ προσκείμενον κἀκεῖ, λύεται τὸ λεχθέν. ὅταν μὲν γάρ τι τῶν ἔξωθεν παρὰ τὴν ἐν αὐτῷ ὁρμὴν κινῇ ἢ ἠρεμίζῃ, βίᾳ φαμέν, ὅταν δὲ μή, οὐ βίᾳ· ἐν δὲ τῷ ἐγκρατεῖ καὶ ἀκρατεῖ ἡ καθ’ αὑτὸν ὁρμὴ ἐνοῦσα ἄγει (ἄμφω γὰρ ἔχει)· ὥστ’ οὐ βίᾳ οὐδέτερος, ἀλλ’ ἑκὼν διά γε ταῦτα πράττοι ἄν, οὐδ’ ἀναγκαζόμενος. Dieses „Sätzchen“ (Dirlmeier) gibt ein Problem auf, da eine Übersetzung, die der Grammatik im Griechischen folgt, zu inhaltlichen Schwierigkeiten führt. Dirlmeier versucht mit seiner Wiedergabe möglichst nah am griechischen Wortlaut zu bleiben und übersetzt mit „denn er hält beide im Griff“ (Dirlmeier 1962, 280). Danach ist Subjekt des Satzes „ὁρμὴ“, und „ἄμφω“ bezieht sich auf den Beherrschten und den Unbeherrschten. Die Redeweise, dass ein Impuls etwas [im Griff] haben/halten kann, rechtfertigt Dirlmeier unter Verweis auf Met. VI (1023a8 – 9: τὸ ἔχειν λέγεται πολλαχῶς, ἕνα μὲν τρόπον τὸ ἄγειν κατὰ τὴν αὑτοῦ φύσιν ἢ κατὰ τὴν αὑτοῦ ὁρμήν […] „‚habenʻ resp. ‚haltenʻ wird auf vielfache Weise ausgesagt, [die Ausdrücke] bedeuten, etwas nach seiner Natur oder gemäß seinem eigenen Impuls [im Griff] zu haben […]“). Woods bezieht „ἄμφω“ dagegen auf die beiden Impulse und übersetzt mit „for he has both tendencies“ (vgl. auch Woods’ Begründung: Woods 2005, 192– 193). Hier ist aber unklar, worauf sich das Subjekt beziehen soll, da zuvor vom Unbeherrschten und vom Beherrschten die Rede war. Ich folge mit meiner Übersetzung jenen (z. B. Solomon), die als Subjekt des Satzes den Beherrschten bzw. den Unbeherrschten verstehen und „ἄμφω“ auf die beiden Impulse beziehen. Hierfür spricht, dass es im Kontext darum geht zu zeigen, dass beide Impulse sowohl im Beherrschten als auch im Unbeherrschten vorhanden sind und es damit etwas Inneres ist, das sie antreibt. Das lässt sich am besten dadurch ausdrücken, dass beide beide Impulse haben. Anzunehmen, die Impulse hätten den Handelnden „im Griff“ (Dirlmeier), ist dagegen insbesondere in Bezug auf die Vernunft (logos) irritierend. Gegen meine Wiedergabe spricht, dass das Subjekt im Griechischen im Singular
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In Ergänzung zu dieser Erläuterung gibt Aristoteles ein eindeutiges Beispiel für eine Handlung mit einer externen gewaltsamen Einwirkung, die gegen einen natürlichen Impuls erfolgt, nämlich wenn jemand die Hand einer anderen Person ergreift und damit gegen deren vernünftigen Wunsch und gegen deren Begierde eine dritte Person schlägt.¹⁴¹ Durch die Wahl eines derart eindeutigen Beispiels ist leicht zu übersehen, dass auch das Merkmal der Externalität noch Interpretationsspielraum lässt. Offen ist nämlich, außerhalb wovon die gewaltsame Einwirkung liegt und welcher Art sie ist. Zur ersten Frage gibt Aristoteles sogleich eine Präzisierung an: [EE II 8, 1224b21– 24 und 1224b26 – 29]¹⁴² Daher ist es auch sinnvoll, zu sagen, dass jeder von beiden [i. e. der Beherrschte und der Unbeherrschte; BL] durch Gewalt handelt, und dass aufgrund von Streben bzw. aufgrund von Vernunft jeder von beiden manchmal unwillentlich handelt; denn jedes von beidem wird, insofern sie voneinander getrennt sind, vom anderen verdrängt. […] Bei den Teilen ist es gewiss möglich, dies zu sagen; aber die ganze Seele, sowohl die des Unbeherrschten als auch die des Beherrschten, handelt willentlich, keiner von beiden [handelt] durch Gewalt, sondern nur etwas in ihnen, da wir auch von Natur aus beides haben.
Ohne Präzisierung lässt das Kriterium der Externalität noch ein Ausweichmanöver zu, indem der Beherrschte und der Unbeherrschte sich darauf berufen können, dass Vernunft und Streben als „Teile“¹⁴³ innerhalb der Gesamtseele (holê psychê) einander äußerlich sind und ihr Handeln somit die Externalitätsbedingung durchaus erfüllt. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass Aristoteles diesen Ausweg nicht akzeptiert und es beim Kriterium der Externalität in seinen Augen vielmehr darauf ankommt, ob die gewaltsame Einwirkung der ganzen Seele äußerlich ist oder nicht. Um zu beurteilen, ob eine Handlung willentlich oder unsteht, was aber nicht gravierend ist, da sich als Subjekt im Griechischen „der Beherrschte bzw. der Unbeherrschte“ verstehen lässt und dies durch einen Singular ausgedrückt werden kann. Irritierend ist daneben aber auch, dass im unmittelbaren Kontext nur von einem Impuls die Rede ist. Aus dem Kontext der Diskussion des Beherrschten und Unbeherrschten ist indes deutlich, dass beide Impulse gemeint sein müssen. EE II 8, 1224b13 – 14: […] ὥσπερ εἴ τις λαβὼν τὴν χεῖρα τύπτοι τινὰ ἀντιτείνοντος καὶ τῷ βούλεσθαι καὶ τῷ ἐπιθυμεῖν· […]. EE II 8, 1224b21– 24 und 1224b26 – 29: ὥστε τὸ μὲν βίᾳ ἑκάτερον φάναι ποιεῖν ἔχει λόγον, καὶ διὰ τὴν ὄρεξιν καὶ διὰ τὸν λογισμὸν ἑκάτερον ἄκοντα ποτὲ πράττειν· κεχωρισμένα γὰρ ὄντα ἑκάτερα ἐκκρούεται ὑπ’ ἀλλήλων. […] ἐπὶ μὲν οὖν τῶν μορίων ἐνδέχεται τοῦτο λέγειν· ἡ δ’ ὅλη ἑκοῦσα ψυχὴ καὶ τοῦ ἀκρατοῦς καὶ τοῦ ἐγκρατοῦς πράττει, βίᾳ δ’ οὐδέτερος, ἀλλὰ τῶν ἐν ἐκείνοις τι, ἐπεὶ καὶ φύσει ἀμφότερα ἔχομεν. Wir finden hier zwar die Rede von „Teilen“ (τῶν μορίων), sie sollte (und muss aufgrund dieser Formulierung) aber nicht so verstanden werden, als fasse Aristoteles Vernunft und Streben als eigenständige und unabhängig voneinander agierende Teile der Seele auf.
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willentlich geschehen ist, blicken wir auf die ganze Person. Jede Handlung ist das Resultat des Zusammenwirkens der gesamten Seele eines Menschen. Es ist absurd, einen „Seelenteil“ allein für eine Handlung verantwortlich zu machen, während man die ganze Person, die diese Handlung ausführt, dafür entschuldigt. Für etwas zu entschuldigen oder verantwortlich zu machen, ist nur in Hinblick auf eine Person sinnvoll, für deren Handlungen wiederum deren Seele als Ganze Ursache ist. Trotz der Einwände scheint also letztlich festzustehen, welche Konklusion Aristoteles aus seinen Erörterungen der Fälle des Beherrschten und des Unbeherrschten ziehen will. Beide handeln willentlich und nicht aus Gewalt, denn beide handeln aufgrund eines eigenen Impulses, der sich gegen einen anderen natürlichen Impuls durchsetzt. Im Anschluss an die Testfälle des Unbeherrschten und des Beherrschten kommt Aristoteles auf weitere kontroverse Fälle einer externen gewaltsamen Einwirkung zu sprechen, die diesmal auch in seinen Augen eine echte Schwierigkeit darstellen und nicht leicht (und womöglich nicht eindeutig) zu entscheiden sind. Ein Beispiel ist die Situation, in der eine Person eine schlechte Handlung ausführt, weil ihr mit schlimmen Konsequenzen wie z. B. Folter, Gefängnis oder gar dem Tod gedroht wird, wenn sie die Handlung nicht ausführt.¹⁴⁴ Die kontroversen Fälle zeichnen sich dadurch aus, dass zwar eine Art von externer, gewaltsamer Einwirkung vorliegt, die eine Person etwas tun lässt, was sie ohne diese Nötigung nicht getan hätte und was ihrem rationalen Wunsch und Streben entgegensteht. Aber anders als bei dem eindeutigen Fall, in dem jemand die Hand einer anderen Person ergreift und damit einen Dritten schlägt, reicht in den strittigen Fällen die externe, gewaltsame Einwirkung nicht aus, damit die Person die Handlung ausführt. Es liegt vielmehr bei ihr, die Handlung auszuführen oder nicht auszuführen, und dass die Handlung zustande kommt, beruht letztlich auf dem Entschluss der Person, dies zu tun. Solche Fälle sind auch für Aristoteles ein echtes Problem, das ihn beschäftigt hat. Er behandelt derartige Beispiele sowohl in der EE als auch in der EN, kommt allerdings in beiden Schriften zu unterschiedlichen Einschätzungen. An dieser Stelle ist es daher angezeigt, die Behandlung von Gewalt bzw. Zwang in EN III 1 hinzuzunehmen. Während die Unterschiede zwischen den Erörterungen bisher vor allem die Methodik betrafen, so kommen hier wichtige inhaltliche Unterschiede hinzu.
Vgl. EE II 8, 1225a1– 8.
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2 Gewalt und Zwang als Ausschlusskriterien für Willentlichkeit
2.2 Gewalt und Zwang in der Nikomachischen Ethik (EN III 1) Aristoteles formuliert in der EN zwei Kriterien dafür, dass eine Handlung aus Gewalt geschieht: [EN III 1, 1109b35 – 1110a4]¹⁴⁵ Das Unwillentliche scheint das zu sein, was durch Gewalt (bia[i]) oder aufgrund von Unwissenheit geschieht. Gewaltsam (biaion) ist das, bei dem die Bewegungsursache außerhalb liegt, was also so beschaffen ist, dass der Handelnde oder der Erleidende nichts beiträgt, wie wenn der Wind einen irgendwohin trägt oder wenn Menschen einen in ihrer Gewalt haben.
Das erste Kriterium stimmt mit dem zweiten Kriterium in der EE überein. Das zweite Kriterium der EN ist hingegen neu: Es besagt, dass die handelnde Person nichts zu der Handlung beiträgt, d. h., dass die externe gewaltsame Einwirkung die Handlung allein verursacht. Dieses Kriterium lässt sich als Erläuterung zur Art von Externalität verstehen, die erforderlich ist, damit eine Handlung aus Gewalt geschieht. Damit eine Handlung tatsächlich extern verursacht ist, genügt es nicht, dass die Bewegungsursache außerhalb der handelnden Person liegt; diese darf in keiner Weise am Zustandekommen der Handlung beteiligt sein.¹⁴⁶ Ausgeschlossen ist damit z. B. der Fall, dass ich einer anderen Person befehle, mich hochzuheben; hebt die andere Person mich daraufhin hoch, trage ich etwas zur Handlung bei, obwohl die Bewegungsursache extern ist.¹⁴⁷ Gegen diese Bestimmung von Handlungen aus Gewalt ist eingewandt worden, dass es fraglich ist, ob derartige Handlungen überhaupt noch als Handlungen zu bezeichnen sind.¹⁴⁸ Ein Hinweis darauf, dass Aristoteles diese Bezeichnung womöglich selbst für erläuterungsbedürftig gehalten hat, ist, dass er in 1110a2– 3 nicht nur vom Handelnden, sondern auch vom Erleidenden (ho paschôn)¹⁴⁹ spricht. Die disjunktive
EN III 1, 1109b35 – 1110a4: δοκεῖ δὴ ἀκούσια εἶναι τὰ βίᾳ ἢ δι’ ἄγνοιαν γινόμενα⋅ βίαιον δὲ οὗ ἡ ἀρχὴ ἔξωθεν, τοιαύτη οὖσα ἐν ᾗ μηδὲν συμβάλλεται ὁ πράττων ἢ ὁ πάσχων, οἷον εἰ πνεῦμα κομίσαι ποι ἢ ἄνθρωποι κύριοι ὄντες. Damit ist auch klar, dass der Beherrschte und der Unbeherrschte in diesem Sinn nicht aus Gewalt handeln. Vgl. Aspasius in Eth. Nic. CAG XIX/1 59.16 – 17: „Denn in der Tat läge, wenn jemand mich packen und in die Höhe heben würde, wenn ich es befohlen und gewünscht habe, die Ursache in mir.“ Vgl. z. B. Aspasius in Eth. Nic. CAG XIX/1 59.23 – 25: „Es scheint, dass ‚der Handelndeʻ nicht gut hinzugefügt ist; denn bei jedem, dem etwas Gewaltsames widerfährt, besonders wenn er nichts selbst dazu beiträgt, würde man wohl eher vom Erleiden sprechen, aber nicht vom Handeln; […].“ Abwegig erscheint es, „ὁ πάσχων“ in 1110a2– 3 mit „der Affizierte“ zu übersetzen. Auf diese Übersetzung könnte man kommen (vgl. z. B. Stewart 1892, 222: „actions and feelings“), weil
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Formulierung kann man so verstehen, als korrigiere er mit dem zweiten Disjunkt die weniger einleuchtende Bezeichnung im ersten Disjunkt.¹⁵⁰ Dies ist aber nur ein terminologisches Zugeständnis seinerseits. Der Sache nach ist klar, dass er zu Beginn von EN III zunächst einen sehr engen Begriff von Handlungen aus Gewalt formuliert. Davon grenzt er im Folgenden andere Fälle ab, bei denen zwar auch eine externe gewaltsame Einwirkung vorliegt, zu denen die handelnde Person aber auch einen eigenen Beitrag leistet. Bei diesen Fällen ist weniger eindeutig zu entscheiden, ob sie unwillentlich geschehen. Deswegen ist es sinnvoll, sie von den unstrittigen Fällen abzugrenzen.
2.2.1 Warum bleiben nicht-willentliche gewaltsame Handlungen unerwähnt? Bevor ich zu den strittigen Fällen komme, will ich noch auf eine auffallende Differenz in Aristoteles’ Behandlung von unwillentlichen Handlungen, die aus Gewalt, und solchen, die aufgrund von Unwissenheit geschehen, eingehen.¹⁵¹ Bei Letzteren unterscheidet Aristoteles zwischen Handlungen, welche die handelnde Person im Nachhinein bedauert, und Handlungen, für welche die handelnde Person nachträglich kein Bedauern (metameleia) zeigt und die sie vielmehr rückblickend billigt. Bei beiden Arten unwissentlicher Handlungen sagt Aristoteles, dass eine Person nicht-willentlich (ouch hekôn) handelt, aber nur von derjenigen Person, die später ihre Handlung auch bedauert, sagt er, dass sie unwillentlich (akôn) handelt.¹⁵² Bei unwillentlichen Handlungen aus Gewalt oder Zwang fehlt eine entsprechende Unterscheidung. Die Beispiele, die Aristoteles gibt, sind allesamt Fälle, in denen kein Zweifel besteht, dass die handelnde Person die Handlung bedauert und nicht im Nachhinein befürwortet. Es fragt sich jedoch, ob Aristoteles die Möglichkeit einer gewaltsamen Handlung ohne nach-
EN III 1 mit der Aussage beginnt, dass die Tugend das ist, was mit Handlungen und Affekten zu tun hat (1109b30). Gegen dieses Verständnis spricht aber, dass Aristoteles im weiteren Verlauf von Buch III als Beispiele für Unwillentliches nur Handlungen untersucht und überdies (1110b9, 1111a25) der Vermutung explizit widerspricht, dass Emotionen bzw. Affekte erzwungen sind (vgl. Pakaluk 2005, Anm. 2, 123). Daher liegt es näher, dass mit „ὁ πάσχων“ ausgedrückt werden soll, dass eine Person, die aus Gewalt handelt, eigentlich nur ein Opfer („ein Erleidender“) einer äußeren Einwirkung ist, die ihr widerfährt. Vgl. Grant 1866, 112. Auf diese Differenz ist wiederholt hingewiesen worden: Broadie 1991, 132– 134; Hursthouse 1984, 256 – 257; Irwin 1999, 316; Kenny 1979, 29 – 30; Pakaluk 2005, 123 – 124; Urmson 1988, 43 – 46. EN III 2, 1110b18 – 24. Vgl. Abschnitt „3.1 „Nicht-willentliche“ und „unwillentliche“ Handlungen aufgrund von Unwissenheit“.
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trägliches Bedauern übersehen (bzw. übergangen) hat¹⁵³ oder ob die Auslassung von einem wirklichen Unterschied zwischen gewaltsamen und unwissentlichen Handlungen herrührt. Man kann versuchen, die Frage kurzerhand mit dem Hinweis zu entscheiden, dass Handlungen aus Gewalt nach Aristoteles’ Ausführungen stets Unlust bzw. Schmerz bereiten: [EE II 8, 1224a30 – 31]¹⁵⁴ Es scheint also, dass das Gewaltsame immer schmerzvoll ist; niemand, der aus Gewalt handelt, empfindet Freude.
Wenn eine Handlung aus Gewalt für die handelnde Person stets schmerzvoll ist, dann ist anzunehmen, dass sie ihre Handlung auch im Nachhinein bedauert und nicht später gutheißt. Allerdings scheint der Fall durchaus denkbar, dass eine Person zwar durch Gewalt zu etwas genötigt wird, sie das Ergebnis der gewaltsamen Handlung aber begrüßt, wie wenn z. B. der Wind den Kapitän in eine bestimmte Richtung treibt, die nicht die zunächst angesteuerte ist, die er aber gleichwohl gutheißt.¹⁵⁵ Es erscheint mir hilfreich, hier vier denkbare Fälle zu unterscheiden, die intuitiv eine unterschiedliche Beurteilung zu verdienen scheinen:¹⁵⁶ [Typologie gewaltsamer Handlungen] i. Eine Person S wird durch Gewalt gezwungen, x zu tun; S hätte x nicht getan, wenn S nicht dazu gezwungen gewesen wäre, und S bedauert nachträglich, x getan zu haben.
Zu dieser Vermutung scheint Kenny zu neigen (Kenny 1979, 29 – 30). EE II 8, 1224a30 – 31: δοκεῖ δὴ τὸ βίαιον ἅπαν λυπηρὸν εἶναι, καὶ οὐθεὶς βίᾳ μὲν ποιεῖ, χαίρων δέ. Auch in der EN findet sich eine ähnliche Aussage (EN III 2, 1110b11– 12): „Diejenigen, die aus Gewalt und unwillentlich handeln, handeln mit Schmerz, diejenigen, die aufgrund des Angenehmen und Schönen handeln, handeln hingegen mit Freude.“ Dass eine Person im Nachhinein eine gewaltsam zustandegekommene Handlung gutheißt, bedeutet nicht, dass sie die Handlung aus eigenem Antrieb ausgeführt hätte, wenn sie nicht durch Gewalt dazu genötigt gewesen wäre. Dies ist vielmehr nochmals ein anderer Fall, der von den bisher erwähnten zu unterscheiden ist. Ein Beispiel hierfür ist, wenn der Kapitän vom Wind in die Richtung getrieben wird, die er anzusteuern vorhatte und in die er sein Schiff gelenkt hätte, wenn nicht der Wind ihn schon dorthin getragen hätte (vgl. Kenny 1979, 29). Das zuletzt beschriebene Beispiel entspricht in der folgenden Auflistung dem Fall (iii), das zuvor erwähnte Beispiel dem Fall (ii). Vgl. zur Überlegung einer analogen Übertragung der Unterscheidung zwischen unwillentlichen und nicht-willentlichen gewaltsamen Handlungen: Hursthouse 1984, 256 – 257 sowie Roberts 1989, Anm. 5, 34.
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ii. Eine Person S wird durch Gewalt gezwungen, x zu tun; S hätte x nicht getan, wenn S nicht dazu gezwungen gewesen wäre, aber S bedauert nachträglich nicht, x getan zu haben. iii. Eine Person S wird durch Gewalt gezwungen, x zu tun; S hätte x auch getan, wenn S nicht dazu gezwungen gewesen wäre, und S bedauert nachträglich nicht, x getan zu haben. iv. Eine Person S wird durch Gewalt gezwungen, x zu tun; S hätte x auch getan, wenn S nicht dazu gezwungen gewesen wäre, aber S bedauert nachträglich, x getan zu haben. Aristoteles führt selbst keine solche Differenzierung ein. Man ist daher auf Vermutungen angewiesen, wie er die unterschiedlichen Fälle beurteilt hätte. Allerdings können uns bei der Beantwortung die Kriterien weiterhelfen, mit deren Hilfe er Handlungen aus Gewalt bestimmt, und zwar das oben genannte Schmerzkriterium und das Kriterium, dass jemand, der aus erlittener Gewalt handelt, nichts zu seiner Handlung beiträgt. Allerdings bieten auch die Kriterien ihrerseits Interpretationsspielraum, so dass man wiederum auf Vermutungen angewiesen ist, da sich Aristoteles auch hier nicht eindeutig äußert. Beim Schmerzkriterium stellt sich die Frage, ob es so zu verstehen ist, dass die Handlung zum Zeitpunkt der Handlung für die handelnde Person schmerzvoll ist, und zwar weil sie nicht aus eigenem Antrieb handelt, sondern von außen gezwungen wird, etwas zu tun. Oder besagt das Kriterium, dass eine Handlung sowohl zum Zeitpunkt der Handlung als auch in ihrem Ergebnis schmerzvoll ist, weil die handelnde Person gezwungen wurde, etwas zu tun, dessen Ergebnis für sie schmerzvoll ist? Für die Ansicht, das Schmerzkriterium vorrangig auf den Zeitpunkt der Handlung zu beziehen, spricht, dass Aristoteles eine gewaltsame Handlung als eine Handlung bestimmt, die gegen den natürlichen Impuls geschieht. Die handelnde Person wird daran gehindert, eine Handlung aus eigenem Antrieb auszuführen, und empfindet dies als schmerzhaft. Mit diesem Verständnis stimmt die allgemeine Erfahrung überein, dass man es als unangenehm empfindet, zu etwas gezwungen zu werden, gleichgültig, ob man das Ergebnis begrüßt oder nicht.¹⁵⁷ In diesem Sinn sind alle vier Fälle schmerzvoll und somit gleich zu beurteilen; nachträgliches Bedauern spielt für die Frage, ob die Hand-
Broadie 1991, 134: „[…] we naturally resist compulsion because we hate being compelled – even if the compelled direction were the one that would have been voluntarily taken. Thus compelled movement is countervoluntary [i. e. ἀκών; BL] not because it is a movement of such and such a description, but because compelled.“
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lung gewaltsam geschehen ist, keine Rolle.¹⁵⁸ Wäre das Schmerzkriterium dagegen im zweiten Sinn zu verstehen und beträfe das Ergebnis der Handlung, so wären die Handlungen in (i) und (iv) schmerzhaft, die Handlungen in (ii) und (iii) jedoch nicht. Gegen dieses Verständnis des Kriteriums spricht aber, dass Aristoteles das Schmerzhafte bei gewaltsamen Handlungen nirgendwo an einer nachträglichen Empfindung gegenüber dem Ergebnis der Handlung festmacht. Beim Kriterium, dass die handelnde Person bei einer gewaltsamen Handlung nichts zu ihrer Handlung beiträgt, fragt es sich, ob es erfüllt ist, wenn eine Person, wie in (iii) und (iv), eine Handlung wünscht und ausführen würde, sofern sie nicht schon aufgrund anderer Faktoren zustande kommt – sie also einen hypothetischen Beitrag zur Handlung leistet.¹⁵⁹ Zugunsten der Ansicht, dass das Kriterium in diesem Fall erfüllt ist, lässt sich argumentieren, dass der Wunsch zum Handeln als ein Beitrag der handelnden Person zur Handlung verstanden werden kann, auch wenn er nicht wirksam wird.¹⁶⁰ Den Vorschlag eines solchen hypothetischen Beitrags verstehe ich derart, dass danach der Handelnde einen wirksamen Beitrag zur Handlung leistete, d. h. die Handlung ausführte, wenn seinem eigenen Handeln nicht etwas anderes zuvorkäme und zu der beabsichtigten Handlung führte, so dass es nicht mehr erforderlich ist, dass die Person ihre beabsichtigte Handlung ausführt. Derartige Fälle werden in modernen Debatten zum freien Willen und moralischer Verantwortung als überdeterminierte Ereignisse (overdetermination) bezeichnet und diskutiert. Harry Frankfurt versucht, am Beispiel überdeterminierter Handlungen die Annahme zu widerlegen, dass moralische Verantwortung das Vorhandensein alternativer Möglichkeiten voraussetzt. Da Frankfurt eine überdeterminierte Handlung als freiwillig ansieht, sieht er darin ein Beispiel für eine Handlungsfolge, die moralisch zu verantworten ist, obwohl sie auch eingetreten wäre, wenn die Person nicht gehandelt hätte.¹⁶¹ Schließt man sich dieser Ansicht an, so wären die Fälle (iii) und (iv) – anders als (i) und (ii) – nicht mehr als Handlungen zu betrachten, die aus Gewalt geschehen und deswegen nicht moralisch zu verantworten sind.
Pace Hursthouse 1984, 256. Hursthouse argumentiert dafür, dass es Gegeninstanzen zur Behauptung „Alle gewaltsamen Handlung sind schmerzvoll“ gibt. Sie bezieht das Schmerzkriterium allerdings auf die Haltung der handelnden Person zum Ergebnis der Handlung. Einen derartigen Beitrag nenne ich hypothetisch, weil angenommen wird, dass das folgende kontrafaktische Konditional gilt: Wenn S eine Handlung x nicht aus Gewalt getan hätte, hätte S x aus eigenem Antrieb getan. In dieser Weise argumentieren Irwin und Pakaluk (vgl. Irwin 1999, 316; Pakaluk 2005, 124: „[…] anyone being forced to do what he wanted would typically contribute something, in which case it would not be forced.“). Frankfurt 1969. Vgl. zur Kritik an Frankfurt z. B.: Widerker 1995, W. Rowe 1989 und 1991.
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Allerdings ist es m. E. nicht endgültig auszumachen, ob Aristoteles nicht alle vier Fälle als gewaltsame Handlungen betrachtet hätte.¹⁶² Das würde bedeuten, dass er gewaltsame Handlungen in der Tat insofern nicht analog zu unwissentlichen Handlungen behandelt, als er zur Bestimmung gewaltsamer Handlungen keine Faktoren anführt, die für die moralische Beurteilung relevant sind, sondern ausschließlich Kriterien nennt, die für das Vorliegen einer gewaltsamen Einwirkung erheblich sind. Ein Grund für die Differenz könnte die erwähnte Beobachtung sein, dass man es unabhängig davon, ob man das Ergebnis einer Handlung gutheißt oder nicht, als unangenehm empfindet, wenn man durch Gewalt genötigt wird, etwas zu tun. Demzufolge ist die Frage, ob eine Handlung aus Gewalt zustande gekommen ist, unabhängig davon zu beurteilen, ob das Ergebnis dieser Handlung begrüßt oder als schmerzvoll empfunden wird. Zudem spielt es für eine unwissentliche Handlung offenbar eine Rolle, welche Beschreibung von der Handlung gegeben wird, wohingegen das Vorliegen von Gewalt nicht von einer bestimmten Beschreibung abhängt. Hinzukommt noch, dass man bei jeder Handlung in partieller Unwissenheit handelt, während es unnatürlich und nicht immer der Fall ist, aus Gewalt zu handeln.¹⁶³ Diese Unterschiede können Gründe dafür sein, dass Aristoteles unwillentliche Handlungen aus Gewalt und aufgrund von Unwissenheit nicht auf die gleiche Weise behandelt. Daraus muss aber nicht der Schluss gezogen werden, dass sich nicht trotzdem auch bei gewaltsamen Handlungen zwischen Handlungen, die nachträglich bedauert werden, und solchen, die später gutgeheißen werden, unterscheiden lässt.¹⁶⁴ Wie sich die Person im Nachhinein zum Ergebnis der Handlung verhält, ist aufschlussreich für die Beurteilung ihres Charakters, ist aber nicht relevant für die (juristische) Frage nach der Kausalität der Handlung, die stattdessen auf die Urheberschaft der Handlung zu achten hat, d. h., ob die handelnde Person die Handlung aus eigenem Antrieb ausgeführt hat oder ob sie sie nicht verhindern konnte. Bei der Bestimmung von Handlungen aus Gewalt kommt es Aristoteles offenbar primär auf den Urheberaspekt und nicht auf die
Da er für Handlungen aus Gewalt nur solche Beispiele anführt, bei denen die handelnde Person das Ergebnis der Handlung nicht gutheißt, sondern bedauert, kann der Eindruck entstehen, dass Aristoteles keine gewaltsamen Handlungen annimmt, welche die handelnde Person nachträglich nicht bedauert, sondern womöglich sogar gutheißt. Es ist aber ebenso gut möglich, dass es ihm auf diesen denkbaren Fall zunächst bloß nicht angekommen ist. Vgl. Urmson 1988, 45 – 46; Broadie 1991, 134. Broadie nennt als Beispiel für eine in diesem Sinn nicht-willentliche, jedoch nicht unwillentliche Handlung den Fall einer Person, die sich im Hungerstreik befindet und zwangsernährt wird. Sie wird mit Gewalt gegen ihren natürlichen Impuls ernährt, begrüßt aber u.U. nachträglich das Ergebnis der Handlung in Gestalt ihres Überlebens (Broadie 1991, 134).
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von der handelnden Person in Hinblick auf ihre Handlung geäußerten Einstellungen an.¹⁶⁵ Dieser Befund mag irritieren, zumal es für Aristoteles in der Folge bei der Erörterung der Unwissenheit augenscheinlich ein Anliegen ist, die Beurteilung der charakterlichen Beschaffenheit einzubeziehen. Diesen Unterscheid könnte man damit erklären, dass die Untersuchung als eine fortlaufende und aufeinander aufbauende zu lesen ist und Aristoteles mit der ersten Entschuldigungsbedingung zunächst eine erste notwendige Bedingung für willentliches Handeln behandelt, für die gilt, dass – wenn sie nicht erfüllt ist – einer Handlung kein näherer Hinweis über die charakterliche Beschaffenheit der handelnden Person zu entnehmen ist.
2.2.2 Eindeutige Fälle von Handlungen aus Gewalt gegenüber strittigen Fällen gewaltsamer Handlungen Ich komme nun zurück zu den kontroversen Fällen von Handlungen, die aufgrund einer gewaltsamen Einwirkung geschehen. In der EE führt Aristoteles sie wie folgt ein: [EE II 8, 1225a2– 8]¹⁶⁶ Es wird noch in einer anderen Art davon gesprochen, dass jemand aus Gewalt und aus Zwang handelt, ohne dass Vernunft und Streben miteinander in Konflikt stehen, und zwar wenn Menschen etwas tun, das sie für schmerzhaft und schlecht halten, bei dem aber Misshandlungen, Gefängnis oder Tod drohen, wenn sie es nicht tun. Dies, sagen sie, haben sie aus Zwang getan. Oder etwa nicht, sondern tun sie alle diese Sache selbst willentlich? Denn es ist möglich, es nicht zu tun, und stattdessen den Schmerz zu ertragen.
Ähnlich auch Sorabji 1980, insb. 261– 263. Es sei aber nochmals betont, dass Aristoteles durchaus sehr klar zwei Aspekte unterscheidet, die beim Zustandekommen von Handlungen eine Rolle spielen können. Der erste ist der Hervorbringungsaspekt, der bei gewaltsamen Handlungen im Vordergrund steht. Der andere ist derjenige der Beurteilung der Einstellung der handelnden Person zum hervorgebrachten Ergebnis. Dieser rückt bei der Erörterung unwissentlicher Handlungen in den Fokus. Für den zweiten Aspekt ist der Hervorbringungsaspekt sekundär, da sich die Einstellung einer Person sogar beurteilen lässt, wenn die beabsichtigte Handlung anders oder gar nicht erfolgt. Denn ihre nachträgliche Reaktion sagt etwas über ihren Charakter vermittels ihrer Wünsche, Überzeugungen und Einstellungen aus, das sich moralisch beurteilen lässt. Diese Ebene rückt bei den unwissentlichen Handlungen erstmals verstärkt in den Mittelpunkt von Aristoteles’ Behandlung der Willentlichkeit. EE II 8, 1225a2– 8: λέγονται δὲ κατ’ ἄλλον τρόπον βίᾳ καὶ ἀναγνασθέντες πρᾶξαι, οὐ διαφωνοῦντος τοῦ λόγου καὶ τῆς ὀρέξεως, ὅταν πράττωσιν ὃ καὶ λυπηρὸν καὶ φαῦλον ὑπολαμβάνουσιν, ἀλλ’ ἂν μὴ τοῦτο πράττωσι, πληγαὶ ἢ δεσμοὶ ἢ θάνατοι ὦσιν. ταῦτα γάρ φασιν ἀναγκασθέντες πρᾶξαι. ἢ οὔ, ἀλλὰ πάντες ἑκόντες ποιοῦσιν αὐτὸ τοῦτο; ἔξεστι γὰρ μὴ ποιεῖν, ἀλλ’ ἐκεῖνο ὑπομεῖναι τὸ πάθος.
2.2 Gewalt und Zwang in der Nikomachischen Ethik (EN III 1)
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Der Unterschied zwischen den eindeutigen Fällen von externer gewaltsamer Einwirkung und den strittigen Fällen erscheint intuitiv evident. Im Deutschen liegt es nahe, ihn auch terminologisch zu ziehen, indem z. B. zwischen Gewalt und Zwang (bzw. Nötigung) differenziert wird. Auch Aristoteles verwendet zwei verschiedene Ausdrücke, „βία“ und „ἀνάγκη“, und dies legt die Frage nahe, ob er mit den Termini auch einen sachlichen Unterschied zum Ausdruck bringen will.¹⁶⁷ Die Beantwortung dieser Frage lohnt eine eingehendere Diskussion.
2.2.3 Differenziert Aristoteles sachlich zwischen bia und anankê? Die Erwartung, dass mit Hilfe von „βία“ und „ἀνάγκη“ ein sachlicher Unterschied zum Ausdruck gebracht werden soll, scheint am ehesten und am offensichtlichsten die Untersuchung in den MM zu erfüllen. Hier ist die Erörterung klar zweigeteilt: In Kapitel 14 finden ausschließlich „βία“ und „βιάζεσθαι“ Verwendung, während in Kapitel 15 nur „ἡ ἀνάγκη/τὸ ἀναγκαῖον“ sowie „ἀναγκάζειν“ vorkommen. Wenn man annimmt, dass der terminologischen Differenzierung ein sachlicher Unterschied entspricht, liegt folgende Erwartung nahe: Unter einer βία ist eine vis maior bzw. vis absoluta, d. h. eine höhere Gewalt, die „alles unter ihrem Einfluß stehende Handeln schlechthin zum ἀκούσιον macht“,¹⁶⁸ zu verstehen, während eine ἀνάγκη eine vis compulsiva, d. h. eine zwingende Gewalt, ist, die eine Person zu einer Handlung nötigt, die sie nicht wünscht, die sie aber ange-
Rickert zeigt auf, dass „ἀνάγκη“ allgemein dazu verwendet wird, um die Unvermeidbarkeit bzw. Notwendigkeit eines Ereignisses auszudrücken (vgl. Rickert 1989, 7– 34). Es lassen sich ihr zufolge ein starker und ein schwacher Sinn von Notwendigkeit unterscheiden. Im starken Sinn ist eine Handlung notwendig, wenn sie die einzige Möglichkeit unter den gegebenen Umständen ist; im schwachen Sinn ist eine Handlung notwendig, wenn sie die relativ beste, aber nicht die einzig mögliche („the most acceptable“) unter den gegebenen Umständen ist. „βία“ wiederum wird nach Rickert sowohl für direkt ausgeübte physische Gewalt als auch für deren Androhung (und in seltenen Fällen auch für eine innere Gewalt wie z. B. eine Begierde) verwendet. anankê kann aus dem Vorliegen einer bia resultieren, wobei aber eine bia nicht immer eine starke Notwendigkeit zur Folge haben muss, sondern auch in Form einer Bedrohung oder Begierde auftreten kann (vgl. Rickert 1989, insb. 14– 17). Als weitere Ursachen für anankê unterscheidet Rickert zwingende soziale Praktiken (z. B. infolge eines Schwures) sowie unvermeidbare zwingende Umstände. Diese Analyse macht deutlich, dass in den von Rickert untersuchten Texten „βία“ und „ἀνάγκη“ nicht verwendet werden, um zwischen einer vis maior und einer vis compulsiva zu unterscheiden. Aber auch Aristoteles’ Differenzierung zwischen eindeutigen Fällen gewaltsamer Handlungen und strittigen Beispielen deckt sich nicht mit der Differenzierung, die Rickert in den von ihr untersuchten Texten findet. R. Walzer 1929, 107.
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sichts der Umstände gleichwohl wählt.¹⁶⁹ Diese Erwartung scheinen die Kapitel 14 und 15 in Buch I der MM tatsächlich zu erfüllen, zumal sich auch die Beispiele entsprechend zuordnen lassen. Eine ähnlich klare terminologische Differenzierung – nach der „βία“ eine externe physische Gewalt und „ἀνάγκη“ eine zwingende Gewalt, der aber Widerstand geleistet werden kann, bezeichnet – ist in den beiden aristotelischen Ethiken jedoch nicht festzustellen und wird auch, soweit ich sehe, von niemandem konsequent vertreten.¹⁷⁰ Gleichwohl finden sich auch in der EE und der EN Hinweise auf eine solche Unterscheidung, die ich gleich näher erläutern werde. Allerdings will ich vorwegnehmen, dass die Indizien in der EE und der EN, die dafür sprechen, dass hier ebenfalls dem terminologischen ein inhaltlicher Unterschied entspricht, auch ein anderes Verständnis davon zulassen, worin die inhaltliche Differenz liegt.¹⁷¹ Diesen Vorschlag werde ich nach der Diskussion der Indizien in der EE und in der EN erläutern. Als ein Indiz für die Unterscheidung in der EN nennt Stewart den Passus 1110a32-b5.¹⁷² Unmittelbar vor dieser Stelle hat Aristoteles verschiedene Beispiele behandelt, in denen eine Person aufgrund von Zwang etwas Schlechtes wählt, das sie sonst nicht getan hätte, und hier verwendet er „ἀναγκάζειν“ (1110a32– 34). In 1110b1 fragt Aristoteles dann: „Welche Arten von Handlungen soll man gewaltsam nennen?“ (ta dê poia phateon biaia;). Darauf folgt eine rhetorische Frage, die sich als Antwort verstehen lässt: Als „gewaltsam“ sind die Handlungen zu bezeichnen, die eine externe Ursache haben und zu denen die handelnde Person nichts beiträgt.¹⁷³ Davon werden im nächsten Satz Fälle unterschieden, in denen eine Per-
Vgl. R. Walzer 1929. Dirlmeiers Kritik an Walzer überzeugt nicht (Dirlmeier 1983, 241). Er beruft sich darauf, dass in dem Beispiel eines Pferdes, das geradeaus läuft und zum Umkehren „genötigt“ (MM 1188b5) wird, „βιάζεσθαι“ verwendet wird. Hier werde „βιάζεσθαι“ in Bezug auf ein Begehren verwendet, und dies sei keine vis maior. Diese Analyse halte ich für falsch, denn die gewaltsame Einwirkung ist das „Zurückreißen“ (ἀποστρέψαι) des Pferdes; dies scheint aber eindeutig ein Fall für eine vis maior im beschriebenen Sinn zu sein und folglich kein Gegenbeispiel darzustellen. Einige Kommentatoren erwägen, dass Aristoteles auch in der EN einen terminologischen Unterschied zwischen „βία“ und „ἀνάγκη“ machen will, sie sind aber trotzdem nicht der Auffassung, dass er diese Differenzierung konsequent eingehalten hat (Stewart 1892, 232; Irwin 1999, 316). Eine dezidierte Position vertritt Meyer, die Aristoteles zwar auch keine terminologische Unterscheidung (wie in den MM) zuspricht, die ihre Interpretation aber auf der These aufbaut, dass er eine solche inhaltliche Differenzierung durchgehend voraussetzt (Meyer 2011, 93). Aristoteles könnte auch „ἀναγκαῖον“ als Oberbegriff verwenden, während „βίαιον“ einen Unterfall bezeichnet, so dass es sich nicht um zwei elementfremde Klassen handelte (vgl. Rickert 1989; siehe auch meine Anm. 167). Stewart 1892, 233. EN I 1, 1110b1-3: ἢ ἁπλῶς μέν, ὁπότ’ ἂν ἡ αἰτία ἐν τοῖς ἐκτὸς ᾖ καὶ ὁ πράττων μηδὲν συμβάλληται; […].
2.2 Gewalt und Zwang in der Nikomachischen Ethik (EN III 1)
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son nur angesichts besonderer Umstände eine Handlung wählt: Hier liegt zwar die Ursache der Handlung in der Person und sie trägt somit etwas zur Handlung bei, sie hätte sie aber ohne die besonderen Umstände nicht gewählt.¹⁷⁴ Stewart geht sogar noch weiter und nimmt an, dass bei der zweiten Art von Fällen auch die Ursache extern ist.¹⁷⁵ Gleichwohl sind die Handlungen nicht gewaltsam (biaia), sondern nur erzwungen (anankaia), da die handelnde Person etwas zu ihrer Handlung beiträgt. Diese Beschreibung trifft auf die Beispiele zu, die Aristoteles vor der Frage in 1110b1 erörtert hat, und für die er „ἀναγκάζειν“ verwendet. Es sind Situationen, in denen einer Person etwas Schlimmes und Schmerzvolles droht, wenn sie nicht etwas Bestimmtes tut oder unterlässt, so dass sie trotzdem das Schmerzvolle wählt. Ohne die äußere Bedrohung und Zwangslage hätte die Person die Handlung aber nicht gewählt, und in diesem Sinn ist etwas Externes Ursache der Handlung. Andererseits trägt die Person selbst etwas zu der Handlung bei, denn sie wählt die Handlung, und dies ist entscheidend dafür, dass ihre Handlung willentlich ist. Der ganze Passus ließe sich also in seinem Kontext so auffassen, als verbinde Aristoteles die terminologische Unterscheidung mit einer inhaltlichen und verstehe unter bia eine externe physische Gewalt und unter anankê eine zwingende (externe) Gewalt, der man aber widerstehen kann. Auch die Fortsetzung des Textes, wenn Aristoteles erwägt, dass auch das Schöne¹⁷⁶ und Angenehme Gewalt
EN III 1, 1110b3 – 5: ἃ δὲ καθ’ αὑτὰ μὲν ἀκούσιά ἐστι, νῦν δὲ καὶ ἀντὶ τῶνδε αἱρετά, καὶ ἡ ἀρχὴ ἐν τῷ πράττοντι, καθ’ αὑτὰ μὲν ἀκούσιά ἐστι, νῦν δὲ καὶ ἀντὶ τῶνδε ἑκούσια. Dass in den beiden Sätzen zwei Arten von Handlungen voneinander abgegrenzt werden sollen, macht die adversative Formulierung mit „μέν…δέ“ deutlich. Stewart 1892, 233: „This question [= τὰ δὴ ποῖα φατέον βίαια;], […] and the terms in which it is answered, support the view that Aristotle, like the writer of the M.M., distinguished technically between ἀναγκαῖα and βίαια. In the case of the ἀναγκαῖον it is true that ἡ αἰτία ἐν τοῖς ἐκτός ἐστιν, but not true that ὁ πράττων μηδὲν συμβάλλεται. The external occurrence operates through the medium of the painful feeling which it produces. On the other hand, τὸ βίαιον is distinguished from τὸ ἀναγκαῖον by the differentia ὁπότ᾿ ἂν ὁ πράττων μηδὲν συμβάλλεται. The external agency determines a man’s act without the effective intervention of his feelings.“ Dass tugendhafte Handlungen um des Schönen bzw. Edlen (kalon) willen geschehen, wiederholt Aristoteles mehrfach und in Bezug auf verschiedene Einzeltugenden wie z. B. hinsichtlich der Tapferkeit (EN III 10, 1115b23 – 24: „Um des Schönen willen also hält der Tapfere stand und handelt gemäß der Tapferkeit.“) oder der Großzügigkeit (EN IV 4, 1122b6 – 7: „Solche Ausgaben wird der Großzügige um des Schönen willen machen; denn dies ist den Tugenden gemeinsam.“). Das Schöne (kalon) ist bei Aristoteles eine Form des Guten (agathon). In den Ethiken ist der Gegensatz zum Schönen meist das Hässliche (aischron), worunter das moralisch Schlechte zu verstehen ist. In EE VIII 3 bestimmt Aristoteles die kalokagathia, die Schön- und Gutheit, als das Ganze aus den einzelnen Tugenden bzw. als die vollendete Tugend. Weiter bezeichnet er die schönen und guten Dinge als diejenigen Dinge, die unter allen Umständen um ihrer selbst willen
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auf uns ausüben, und er sie als etwas Externes bezeichnet, stellt die Annahme einer inhaltlichen Unterscheidung nicht in Frage.¹⁷⁷ Denn dieser Einwand gibt nicht Aristoteles’ eigene Auffassung wieder. Vielmehr weist er ihn sogleich mit dem Hinweis auf die absurden Folgen zurück, welche die Annahme hätte, dass das Schöne und Angenehme etwas Externes sind, das eine Person zum Handeln zwingt: Da jede Person handelt, um etwas Gutes, Schönes oder Angenehmes zu erreichen, und zwar entweder etwas, das wirklich so ist, oder etwas, das sie irrtümlicherweise für gut oder schön hält, wäre die Folge, dass sie alle Handlungen aus Gewalt ausführte. Weiter bezeichnet er es als lächerlich, in diesen Fällen die externen Bedingungen und nicht sich selbst dafür verantwortlich zu machen, dass man den äußeren Einflüssen so leicht unterliegt.¹⁷⁸ Aristoteles’ Behandlung
wählbar und als solche lobbar sind. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich von anderen Gütern wie Gesundheit oder auch Reichtum, die zwar von Natur aus Güter sind, die aber nicht um ihrer selbst willen gewählt werden. Vgl. dazu EE VIII 3, 1248b16 – 26: „Es ist nun so, daß das Gut-Sein und das Schön-und-Gut-Sein sich nicht nur dem Namen nach, sondern auch an sich unterscheiden. Denn von allen guten Dingen sind diejenigen Ziele, welche für sich genommen um ihrer selbst willen wählbar sind. Von diesen aber sind diejenigen schöne Ziele, welche unter allen Umständen ihrer selbst wegen wählbar sind und als solche lobbar sind. Denn diese sind es, von denen her sowohl die Handlungen als auch sie selbst lobbar sind. (Z. B.) Gerechtigkeit: denn sowohl sie selbst als auch die Handlungen (sind lobbar); auch die Besonnenen (sind lobbar); lobbar ist nämlich auch die Besonnenheit. Aber Gesundheit nicht: denn sie ist nicht lobbar, und auch ihr Werk ist es nicht. Und auch nicht das kräftige Tun, denn auch nicht die Kraft. Sondern sie sind zwar gute Dinge, lobbare aber nicht. Auf entsprechende Weise ist das aber auch bei den anderen Dingen klar, und zwar durch Verallgemeinerung.“ Übersetzung nach Buddensiek 1999. Vgl. zu einer Interpretation von Aristoteles’ Behandlung der kalokagathia in EE VIII 3: Buddensiek 1999, Kap. 6. EN III 1, 1110b9-11. Hier diskutiert Aristoteles, ob das Angenehme und das Schöne auch als biaia im gesuchten Sinn anzusehen sind. Das Angenehme (hêdea) und Schöne (kala) sind jedoch keine Arten von vis maior, da ihre Wirkung von der jeweiligen Person abhängt und diese daher auch einen Anteil an deren Wirkung hat. EN III 1, 1110b13 – 14: „Es ist lächerlich, die äußeren Dinge und nicht sich selbst dafür verantwortlich zu machen, diesen Dingen leicht zu unterliegen, […].“ Aristoteles zitiert öfters die mögliche Ausrede derjenigen, die etwas tun, das mit Schmerz bzw. Unlust (lypê) verbunden ist, und deswegen darauf verweisen, aus Gewalt (bia) und unwillentlich gehandelt zu haben, weil Schmerz etwas Gewaltsames (biaion) ist. Vgl. z. B. EN III 15, 1119a27– 31: „Es scheint aber, dass die Feigheit nicht in derselben Weise willentlich ist wie die einzelnen feigen Handlungen; denn sie für sich ist ohne Schmerz, wohingegen diese durch Schmerz jemanden durcheinanderbringen, so dass er die Waffen wegwirft und anderes Beschämendes tut – deshalb scheinen diese Handlungen auch gewaltsam zu sein [Hervorhebung BL].“ An Stellen wie dieser ist jedoch klar, dass die Ausrede nicht Aristoteles’ eigene Sicht wiedergibt, sondern dass er die Behauptung, Schmerzen bzw. Unlust könnten eine Person auf gewaltsame Weise beeinflussen, so dass sie ihnen nicht standhalten kann, für falsch hält.
2.2 Gewalt und Zwang in der Nikomachischen Ethik (EN III 1)
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von Gewalt bzw. Zwang in EN III 1 ist somit mit der Annahme vereinbar, dass er „βία“ und „ἀνάγκη“ eindeutig zur Markierung eines inhaltlichen Unterschieds verwendet, zumindest wenn er seine eigene Ansicht darstellt. In der EE verwendet Aristoteles zu Beginn der Behandlung von Gewalt bzw. Zwang in 1224a13 – 18 „βία“ und „ἀνάγκη“ (bzw. deren Derivate) viermal als Paar, ohne auf einen Unterschied zwischen den Ausdrücken hinzuweisen.¹⁷⁹ Das ließe es zu, dass man die Ausdrücke als Hendiadyoin auffasst. Allerdings könnte die durchgängige Erwähnung beider Ausdrücke auch darauf hindeuten, dass er damit verschiedene Aspekte zum Ausdruck bringen möchte, die an dieser Stelle aber noch nicht relevant sind. Da er keinen expliziten Unterschied trifft, lässt der Text zunächst beide Vermutungen zu. Die Stelle, die in der EE später am eindeutigsten für eine terminologische Unterscheidung zwischen „βία“ und „ἀνάγκη“ spricht, ist der Satz in 1225a17– 19, der jedoch aus diesem Grund textlich umstritten ist.¹⁸⁰ Umstritten ist, ob eine Negation beizubehalten ist, die zur Folge hätte, dass Aristoteles hier Fälle annimmt, die „unter Zwang, und nicht aus Gewalt“ geschehen.¹⁸¹ Die Negationspartikel „μὴ“ vor „βίᾳ“ ist in allen Manuskripten überliefert, sie wurde allerdings von Bonitz mit der Begründung getilgt, dass in der EE bia und anankê stets verbunden („coniunctum“) sind und nirgends geschieden würden.¹⁸² Auch wenn Aristoteles weder zuvor¹⁸³ im Text einen expliziten terminologischen Unterschied zwischen „βία“ und „ἀνάγκη“ gemacht hat noch im Weiteren einen solchen voraussetzt,¹⁸⁴ spricht in 1225a17 zunächst die bessere Überlieferung für das Beibehalten der Negation. Wichtiger aber ist, dass es zuvor vielleicht noch gar nicht auf den Unterschied zwischen bia und anankê angekommen war, weil er sich an den bisher diskutieren Beispielen noch nicht Auch in der Überleitung zu den kontroversen Fällen in EE II 8, 1225a2– 8 (zitiert auf S. 66) kommen beide Ausdrücke als Paar vor (βίᾳ καὶ ἀναγνασθέντες πρᾶξαι). EE II 8, 1225a17– 19: „Auf diese Weise wird er also unter Zwang und [nicht] aus Gewalt handeln, oder [zumindest] nicht aufgrund der Natur, wenn er etwas Schlechtes um etwas Gutes willen oder um ein größeres Übel zu verhindern tut, und er wird unwillentlich handeln, da diese Dinge nicht bei ihm liegen.“ [οὕτω γὰρ ἀναγκαζόμενος, καὶ [μὴ] βίᾳ, πράξει, ἢ οὐ φύσει 〈γε,〉, ὅταν κακὸν ἀγαθοῦ ἕνεκα ἢ μείζονος κακοῦ ἀπολύσεως πράττῃ, καὶ ἄκων γε· οὐ γὰρ ἐφ᾿ αὑτῷ ταῦτα.] Der umstrittene Satzteil ist „Auf diese Weise wird er also unter Zwang und [nicht] aus Gewalt handeln, oder [zumindest] nicht aufgrund der Natur“ [οὕτω γὰρ ἀναγκαζόμενος, καὶ [μὴ] βίᾳ, πράξει, ἢ οὐ φύσει 〈γε,〉 […].] (EE II 8, 1225a17– 18). Neben der Negation sind fernerhin die Interpunktion des Satzes (vgl. Simpson 2013, 39 – 40, Anm. 2) sowie die Frage, wie „ἢ οὐ φύσει“ zu verstehen ist, umstritten. Kenny zieht „μὴ“ zu „ἢ οὐ φύσει“ hinzu, was aber sprachlich problematisch ist. Vgl. Bonitz 1844, 41– 42. Auf Bonitz berufen sich Fritzsche (1851, Anm. 17, S. 49), der „μὴ“ einklammert, sowie Dirlmeier (1960, 284), der sich Bonitz’ Begründung für die Tilgung anschließt. Vgl. 1225a2 und 1225a15. Vgl. Woods 2005, 193 – 194.
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2 Gewalt und Zwang als Ausschlusskriterien für Willentlichkeit
festmachen ließ, und die Differenz erst an dieser Stelle relevant wird. Da der Text somit ein plausibles Verständnis zulässt, halte ich hier an der Lesart der Manuskripte fest und lese die Negationspartikel vor „βίᾳ“.¹⁸⁵ Die bisherigen Überlegungen haben also gezeigt, dass es auch in den Behandlungen von Gewalt und Zwang in der EN und der EE keine eindeutigen Gegenspiele gibt, die ausschließen, dass Aristoteles mit der Verwendung von „βία“ und „ἀνάγκη“ eine inhaltliche Differenz zum Ausdruck bringen wollte. Allerdings lassen die Texte auch eine andere Deutung zu, worin die genaue Entsprechung zwischen der terminologischen und der inhaltlichen Differenz besteht. Es wäre auch möglich, dass Aristoteles unter anankê jede Art von Notwendigkeit versteht, und bia eine mögliche Ursache von anankê ist, während es andere Arten von anankê gibt, deren Ursachen nicht biaion sind.¹⁸⁶ Unter einer bia ist diesem Vorschlag nach zwar ebenfalls eine externe physische Gewalt zu verstehen, aber bia ist deswegen nicht etwas anderes als eine anankê, sondern im Gegenteil ist die bia eine Art von anankê. Eine bia führt zu einer strikten Art von anankê, da sie nur eine einzige Handlungsmöglichkeit zulässt. Demgegenüber gibt es aber auch Arten von anankê, denen keine bia zugrunde liegt und bei denen es möglich ist, dem Einfluss der bia zu widerstehen. Nach diesem Verständnis wäre es nur dann verlangt, explizit von „βία“ und „βιάζεσθαι“ zu sprechen, wenn sichtbar gemacht werden soll, dass ein Fall externer physischer Gewalt vorliegt, der keine andere Möglichkeit lässt und bei dem es sich um eine starke Form von anankê handelt. Dies würde auch erklären, weshalb Aristoteles in der EE zu Beginn „βία“ und „ἀνάγκη“ (bzw. deren Derivate) mehrfach als Paar anführt. Er könnte hier bereits vor Augen haben, dass nicht alle Fälle von „ἀνάγκη“ gleichgeartet sind, sondern mit „βία“ eine besondere Art von anankê bezeichnen soll, so dass er die terminologische Differenzierung bereits zu Beginn einführt, auch wenn sie erst an späterer Stelle relevant wird und erläutert werden muss. Im Ergebnis bin ich daher der Ansicht, dass in Aristoteles’ Darstellung durchaus ein sachlicher Unterschied zwischen bia und anankê zu finden ist. Dieser besteht aber vermutlich nicht darin, dass „βία“ und „ἀνάγκη“ Ausdrücke mit elementfremden Extensionen sind; vielmehr ist eine Verbindung zwischen bia
Inwood/Woolf sowie Echeñique behalten die Negation bei. In ähnlicher Weise verwendet Aristoteles z. B. in der Rhetorik „ἀνάγκη“ als Oberbegriff, unter den ta bia[i] als Unterfälle subsumiert werden; vgl. Rhet. I 10, 1368b32– 37: „Alle also tun alles einesteils nicht von sich selbst aus, andernteils von sich selbst aus. Von dem also, was sie nicht von sich selbst aus tun, tun sie das eine aufgrund von Zufall, das andere aufgrund von Notwendigkeit, von dem, was sie aufgrund von Notwendigkeit tun, geschieht das eine durch Gewalt, das andere von Natur aus. Daher ist alles, was sie nicht von sich selbst aus tun, entweder aufgrund von Zufall, von Natur aus oder durch Gewalt.“ Übersetzung nach Rapp 2002.
2.3 „Gemischte Handlungen“ als umstrittene Fälle gewaltsamer Handlungen
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und anankê anzunehmen, die darin besteht, dass eine bia eine Ursache für eine anankê sein kann, dass aber nicht jede anankê durch eine bia zustande kommt. „ἀνάγκη“ kann somit in einer weiteren Bedeutung verwendet werden als „βία“. Solange es aber nicht auf die Abgrenzung von Fällen von anankê, die auf einer bia beruhen, ankommt, lassen sich die Ausdrücke austauschbar oder paarweise verwenden. Der terminologische Unterschied wird nur dann relevant, wenn eine bestimmte Untergruppe von Fällen von anankê betrachtet werden sollen, nämlich solche, bei denen eine unwiderstehbare bia vorliegt.
2.3 „Gemischte Handlungen“ als umstrittene Fälle gewaltsamer Handlungen Strittige Beispiele für gewaltsame Handlungen behandelt Aristoteles in beiden Ethiken, jedoch darstellerisch und vor allem inhaltlich auf verschiedene Weise. Der wesentliche Unterschied ist, dass er derartige Handlungen in der EE als unwillentlich ansieht, während er sie in der EN als willentlich einstuft.¹⁸⁷ Zugleich vertritt er aber in beiden Schriften die Auffassung, dass jemand für solche Handlungen in manchen Fällen Lob und in anderen Tadel verdient. Diese Ansicht ist erklärlich, wenn eine gewaltsame Handlung willentlich geschieht. Die Position ist jedoch begründungsbedürftig, wenn die Handlung unwillentlich erfolgt. Es ist also danach zu fragen, wie Aristoteles zu seinen unterschiedlichen Einschätzungen gelangt und ob und inwiefern sich die abweichenden Ansichten dennoch vereinbaren lassen.
In den MM werden zunächst Handlungen, die aus Gewalt geschehen (I 14), terminologisch und m. E. auch sachlich von solchen unterschieden, die aus Zwang geschehen (I 15) (vgl. Abschnitt „2.2.2 Eindeutige Fälle von Handlungen aus Gewalt gegenüber strittigen Fällen gewaltsamer Handlungen“); anschließend wird präzisiert, dass bei den erzwungenen Handlungen der Zwang in den „äußeren Umständen“ (en tois ektos, 1188b19) liegen muss und nicht – wie etwa beim Unbeherrschten – teilweise auch im Handelnden seinen Ursprung haben kann.Wenig später folgt das Resümee, dass „das Unwillentliche das ist, was infolge von Zwang und Gewalt geschieht“ (MM I 16, 1188b26 – 27). Die Erörterung in den MM stimmt somit inhaltlich weitgehend mit Aristoteles’ Darstellung in der EE überein, die jedoch viel detaillierter ist. Ich werde die MM im Folgenden nur sporadisch mit einbeziehen.
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2 Gewalt und Zwang als Ausschlusskriterien für Willentlichkeit
2.3.1 „Gemischte Handlungen“ in der EN Ich beginne mit dem Passus aus der EN, da Aristoteles hier die fraglichen Fälle am prägnantesten bestimmt. In Abgrenzung dazu lässt sich anschließend die Behandlung in der EE gut darstellen: [EN III 1, 1110a4– 19]¹⁸⁸ Bei den Fällen indes, die aus Furcht vor größeren Übeln oder aufgrund von etwas Schönem getan werden, – wie wenn z. B. ein Tyrann jemandem befehlen würde, etwas Schlimmes zu tun, während er dessen Eltern und Kinder in seiner Gewalt hat, und sie gerettet würden, wenn er es täte, falls aber nicht, sie töten würde –, in diesen Fällen gehen die Meinungen auseinander, ob [die Handlungen] willentlich oder unwillentlich sind. So verhält es sich auch, wenn im Sturm Güter über Bord geworfen werden. Schlechthin wirft sie nämlich niemand willentlich weg, wenn es aber darum geht, sich selbst und die übrigen zu retten, tut es jeder, der Vernunft besitzt. Solche Handlungen sind also gemischt, sie gleichen aber eher den willentlichen. Man wählt sie nämlich dann, wenn gehandelt wird, und das Ziel der Handlung richtet sich nach dem Zeitpunkt der Handlung. Und daher muss man vom Willentlichen und Unwillentlichen jeweils gemäß dem Zeitpunkt sprechen, zu dem gehandelt wird. Somit handelt man [in den genannten Fällen] willentlich. Denn die Ursache seines Bewegens seiner Körperteile liegt bei solchen Handlungen im Handelnden. Und bei Handlungen, bei denen die Bewegungsursache im Handelnden liegt, liegt es bei ihm, zu handeln oder nicht zu handeln. Solche Handlungen sind also willentlich, schlechthin vielleicht aber unwillentlich. Denn niemand würde eine so beschaffene Handlung für sich (um ihrer selbst willen) wählen.
Aristoteles beginnt seine Behandlung mit einem Rekurs auf verbreitete Ansichten. Das liegt nahe, zumal sich die strittigen Fälle gewaltsamer Handlungen dadurch auszeichnen, dass die Meinungen darüber auseinandergehen. Außerdem gibt er zwei Beispiele. Das erste ist die Drohung eines Tyrannen, Kinder und Eltern, die sich in seiner Gewalt befinden, zu töten, wenn die bedrohte Person nicht eine bestimmte schlimme Handlung ausführt. Im zweiten Beispiel zwingt der Wind den Kapitän dazu, die geladenen Güter über Bord zu werfen, damit er nicht mit-
EN III 1, 1110a4– 19: ὅσα δὲ διὰ φόβον μειζόνων κακῶν πράττεται ἢ διὰ καλόν τι, οἷον εἰ τύραννος προστάττοι αἰσχρόν τι πρᾶξαι κύριος ὢν γονέων καὶ τέκνων, καὶ πράξαντος μὲν σῴζοιντο μὴ πράξαντος δ’ἀποθνήσκοιεν, ἀμφισβήτησιν ἔχει πότερον ἀκούσιά ἐστιν ἢ ἑκούσια. τοιοῦτον δέ τι συμβαίνει καὶ περὶ τὰς ἐν τοῖς χειμῶσιν ἐκβολάς⋅ ἁπλῶς μὲν γὰρ οὐδεὶς ἀποβάλλεται ἑκών, ἐπὶ σωτηρίᾳ δ’ αὑτοῦ καὶ τῶν λοιπῶν ἅπαντες οἱ νοῦν ἔχοντες. μικταὶ μὲν οὖν εἰσιν αἱ τοιαῦται πράξεις, ἐοίκασι δὲ μᾶλλον ἑκουσίοις⋅ αἱρεταὶ γάρ εἰσι τότε ὅτε πράττονται, τὸ δὲ τέλος τῆς πράξεως κατὰ τὸν καιρόν ἐστιν. καὶ τὸ ἑκούσιον δὴ καὶ τὸ ἀκούσιον, ὅτε πράττει, λεκτέον. πράττει δὲ ἑκών⋅ καὶ γὰρ ἡ ἀρχὴ τοῦ κινεῖν τὰ ὀργανικὰ μέρη ἐν ταῖς τοιαύταις πράξεσιν ἐν αὐτῷ ἐστίν⋅ ὧν δ’ ἐν αὐτῷ ἡ ἀρχή, ἐπ’ αὐτῷ καὶ τὸ πράττειν καὶ μή. ἑκούσια δὴ τὰ τοιαῦτα, ἁπλῶς δ’ ἴσως ἀκούσια⋅ οὐδεὶς γὰρ ἂν ἕλοιτο καθ’ αὑτὸ τῶν τοιούτων οὐδέν.
2.3 „Gemischte Handlungen“ als umstrittene Fälle gewaltsamer Handlungen
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samt dem Schiff und der ganzen Mannschaft untergeht. Die Beispiele unterscheiden sich darin, dass die gewaltsame Einwirkung im einen Fall von einer anderen Person ausgeht, im anderen Fall durch eine Naturgewalt zustande kommt. Beide Situationen illustrieren in Aristoteles’ Augen jedoch dieselbe Zwangslage:¹⁸⁹ Eine Person ist bedroht und wählt infolge dieses Zwangs eine Handlung, die sie ohne die Zwangslage nicht wünschte und gewählt hätte. Die allgemeinen Beurteilungen solcher Handlungen differieren, weil einige darauf verweisen, dass die handelnde Person die Handlung gewählt hat und es ihr auch offenstand, die Handlung nicht auszuführen, sie also willentlich erfolgt ist; andere dagegen berufen sich darauf, dass die Person die Handlung unter normalen Umständen nicht gewählt hätte und sie nur infolge der Zwangssituation so gehandelt hat, die Handlung somit unwillentlich geschehen ist. Aristoteles’ eigene Analyse derartiger Handlungen beginnt in 1110a11– 12: Er bezeichnet sie als „gemischt“ (miktai), hält aber fest, dass sie eher den willentlichen ähneln. Die folgenden Sätze sollen danach anscheinend diese beiden Aussagen erläutern. In welchem Sinn sind solche Handlungen gemischt, und weshalb gleichen sie mehr den willentlichen Handlungen? Für die Frage, was Aristoteles mit der Bezeichnung „gemischt“ gemeint hat, scheinen sich hauptsächlich zwei Deutungen unterscheiden zu lassen, die ich als substantielle und als deskriptive bezeichne.¹⁹⁰ Die substantielle Deutung geht davon aus, dass ge-
Dass Aristoteles die beiden Beispiele gleichermaßen verwendet, um denselben Punkt zu veranschaulichen, bedeutet nicht, dass sie sich nicht auch in seinen Augen in relevanter Hinsicht unterscheiden. So lässt sich für eine Handlung, die infolge angedrohter Gewalt ausgeführt wird, die Person, von der die Drohung ausgeht, verantwortlich machen, was bei einer Zwangssituation infolge einer Naturgewalt nicht möglich ist. Aber dieser Unterschied ist nicht relevant für die Zwangslage der Person, die zwischen verschiedenen schlechten Handlungsoptionen wählen muss. Es ist nicht ganz leicht, die beiden Deutungen eindeutig einzelnen Autoren zuzuordnen. Viele Charakterisierungen sind so offen und vage formuliert, dass sie verschiedene Verständnisweisen zulassen. Im Sinn der substantiellen Deutung lassen sich in meinen Augen z. B. die Ausführungen von Grant (Grant 1866, 6: „Such acts, then, are of a mixed character, partaking of the nature both of voluntariness and involuntariness.“), Burnet (Burnet 1900, 113 – 114: „μικταί, because the efficient cause lies partly outside the agent (the tyrant’s order or the storm) and is partly contributed by the agent (fear and desire).“) und Taylor lesen (Taylor 2006, 130: „Actions of the disputed type are mixed, in that they have some characteristics of the voluntary and some of the involuntary.“). Ein deskriptives Verständnis findet sich dagegen m. E. beispielsweise bei Kenny (Kenny 1979, 31– 32: „[B]oth descriptions [i. e. (1) Throwing the cargo overboard, and (2) Throwing the cargo overboard to save oneself and one’s crew; BL] are truly applicable to the master’s action, it is ‚mixedʻ: it can be described either as wanted or unwanted.“) sowie Nielsen (Nielsen 2007, 281: „The appearance of ‚mixtureʻ arises from a failure to keep the levels of description apart, mixing
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2 Gewalt und Zwang als Ausschlusskriterien für Willentlichkeit
mischte Handlungen einen willentlichen und einen unwillentlichen Anteil haben. Willentlich sind sie, weil die Bewegungsursache in der handelnden Person liegt, d. h. die Person die Handlung wählt und die Handlung ohne die handelnde Person nicht zustande gekommen wäre.¹⁹¹ Unwillentlich sind die Handlungen, weil die Person die Handlung nicht schlechthin (haplôs) wählt, sondern nur aufgrund der besonderen Umstände, so dass die Handlung nicht den Charakter der handelnden Person widerspiegelt. Die deskriptive Deutung nimmt dagegen nicht an, dass gemischte Handlungen einen unwillentlichen Anteil haben. Sie hält vielmehr dafür, dass sich lediglich eine Beschreibung der Handlung geben lässt, die hervorhebt, aus welchem Grund gemischte Handlungen den Eindruck erwecken, unwillentlich zu sein, wenn nämlich in der Beschreibung von den konkreten Umständen der Handlung abstrahiert wird. Gibt man hingegen eine Beschreibung der Handlung, welche die Situation der Handlung mit einbezieht, so wird ersichtlich, dass es sich um eine willentliche Handlung handelt. Relevant für die Entscheidung, ob eine Handlung willentlich oder unwillentlich ist, ist Aristoteles zufolge aber die Beschreibung der Handlung unter den konkreten Umständen, so dass sie als willentlich anzusehen ist.¹⁹² Angesichts dieser beiden Alternativen ist die deskriptive Deutung überzeugender. Denn Aristoteles liefert ein einleuchtendes Argument dafür, dass gemischte Handlungen ihrer Natur nach nur willentlich sind, also keinen unwillentlichen Anteil haben. Die Frage, ob eine Handlung willentlich oder unwillentlich geschieht, ist nur in Bezug auf eine konkrete Handlung sinnvoll. Wird sie in Bezug auf eine Handlungsbeschreibung gestellt, die von den konkreten Umständen der Handlung abstrahiert, lässt sie sich nicht beantworten, da die Beschreibung nicht alle relevanten Merkmale der Handlung enthält und somit unvollständig ist.¹⁹³ Die Frage nach der Willentlichkeit muss sich somit auf ein Handlungsvorkommnis beziehen, d. h. auf eine Handlung, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt (kata ton kairon)
abstract descriptions of act-types with descriptions of the act the agent voluntarily performs under the circumstances.“). Die Wahl der handelnden Person, die Handlung auszuführen, ist eine conditio sine qua non für das Zustandekommen der Handlung (vgl. Nielsen 2007, 278). Der Unterschied zwischen den beiden Deutungen lässt sich auch dadurch charakterisieren, dass die substantielle Deutung annimmt, dass gemischte Handlungen neben den Kategorien der willentlichen und der unwillentlichen Handlungen eine eigene ontologische Kategorie bilden. Demgegenüber geht die deskriptive Deutung davon aus, dass Handlungen, die gemischt zu sein scheinen, tatsächlich der Kategorie der willentlichen Handlungen angehören, sich von ihnen aber eine unvollständige Beschreibung geben lässt, die suggeriert, dass sie zur Kategorie der unwillentlichen Handlungen zählen (vgl. Nielsen 2007, 280 – 281). Ähnlich argumentiert Nielsen (Nielsen 2007, 279).
2.3 „Gemischte Handlungen“ als umstrittene Fälle gewaltsamer Handlungen
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und mit einem bestimmten Ziel (to telos tês praxeôs) ereignet.¹⁹⁴ Versucht man, die Frage auf Grundlage einer unvollständigen Beschreibung zu beantworten, so besäße die Antwort nur unter Vorbehalt Gültigkeit; sie müsste revidiert werden, wenn die Berücksichtigung eines bisher ignorierten Handlungsmerkmals sich als relevant für die Beurteilung der fraglichen Handlung erwiese. Dies trifft auf die Beispiele für gemischte Handlungen zu. Die Einschätzung der Handlungen als unwillentlich beruht auf einer unvollständigen Handlungsbeschreibung;¹⁹⁵ sie besitzt keine Gültigkeit mehr, wenn das konkrete Handlungsziel zum Zeitpunkt der Handlung mit berücksichtigt wird: In beiden Fällen wählt die handelnde Person unter den gegebenen Umständen zum Zeitpunkt ihrer Handlung selbst ihre schlechte Handlung um eines bestimmten Ziels willen. Es ist jedoch noch eine dritte Deutung denkbar, in welchem Sinn „gemischte Handlungen“ gemischt sind. Diesem Vorschlag nach gehören „gemischte Handlungen“ einer eigenen Gruppe von Dingen¹⁹⁶ an, die sich von der Gruppe der willentlichen und der Gruppe der unwillentlichen Dinge unterscheidet. Das Spezifische von Dingen, die der dritten Gruppe angehören, wird ersichtlich, wenn man berücksichtigt, dass Aristoteles offenbar mit zwei verschiedenen Begriffen von Willentlichkeit und Unwillentlichkeit operiert. Das Besondere an Fällen der dritten Gruppe ist es nämlich, dass hierbei der eine Begriff von Willentlichkeit mit einem anderen Begriff von Unwillentlichkeit kombiniert wird. Ich will dies näher erläutern und weitere Anhaltspunkte im Text für die Unterscheidung von zwei Begriffen von Willentlichkeit und Unwillentlichkeit sowie deren Kombination nennen.
Ich fasse die Phrase „τὸ τέλος τῆς πράξεως“ in 1110a13, wie die meisten anderen Übersetzer und Kommentatoren (z. B. Dirlmeier, Irwin, Rowe, Stewart), so auf, dass hier mit dem Ziel der Handlung das „Worumwillen“ (ἕνεκα τίνος) der Handlung gemeint ist, das Aristoteles als eines von sieben Merkmalen zur Bestimmung einer Einzelhandlung nennt (vgl. 1111a3 – 6). Grant versteht die Phrase dagegen allgemein und behauptet, damit werde über das moralische Ziel einer Handlung (im Allgemeinen) gesprochen (Grant 1866, 7). Diese Lesart passt aber nicht zum restlichen Satz, wo eindeutig auf den Zeitpunkt einer Einzelhandlung Bezug genommen wird. Auch Taylors Verständnis, mit „τέλος“ werde auf die Vollendung einer Handlung Bezug genommen („the completion of the action is according to the occasion“; Taylor 2006, 132), ist keine naheliegende Lesart angesichts des Kontextes, in dem die Phrase steht. Die Handlungsbeschreibung ist insofern unvollständig, als sie zwar die externe Nötigung, welche das Handeln veranlasst, enthält, nicht aber das konkrete Handlungsziel, das die Person unter den gegebenen nötigenden Umständen mit ihrer Handlung zu erreichen versucht („Die Ladung im Sturm über Bord werfen“ vs. „Die Ladung im Sturm über Bord werfen, um Schiffbruch und den Untergang des Schiffs mitsamt der Ladung zu verhindern“). Ich spreche hier allgemeiner von Dingen, da zu den drei Gruppen jeweils nicht nur Handlungen, sondern z. B. auch Dispositionen (Tugenden und Schlechtigkeiten) gehören.
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2 Gewalt und Zwang als Ausschlusskriterien für Willentlichkeit
Den ersten Begriff von Willentlichkeit und Unwillentlichkeit nenne ich jeweils den starren Begriff, während ich den zweiten Begriff jeweils als den variablen Begriff bezeichne. Wenn Aristoteles in EN III 1 bis 8 das Willentliche und das Unwillentliche bestimmt, geht es zunächst und hauptsächlich um die beiden starren Begriffe. Sie sind insofern starr, als das Willentliche und das Unwillentliche sich gegenseitig ausschließende und erschöpfende Alternativen bilden, die keine Grade zulassen. Eine Handlung ist dem starren Begriff zufolge unwillentlich, wenn sie entweder aus Gewalt oder aufgrund von Unwissenheit über die Einzelumstände geschieht; sie ist willentlich, wenn die handelnde Person Ursache ihrer Handlung ist und sie wissentlich handelt. Der variable Begriff lässt es dagegen zu, dass etwas in unterschiedlichem Maß willentlich oder unwillentlich ist. Dies lässt sich erklären, wenn wir uns an die Bedeutung erinnern, die „ἑκών“/„ἑκούσιος“ und „ἄκων“/„ἀκούσιος“ im Griechischen außer willentlich und unwillentlich auch haben können, nämlich einerseits gern, bereitwillig (bzw. willingly resp. volontiers, de bon cœur) und andererseits widerwillig, ungern (bzw. unwillingly resp. involontaire, contre cœur, à regret). Bezeichnet man eine Handlung in dem Sinn als willentlich, dass jemand sie bereitwillig und gern tut, so lässt dies Stufen zu. Ich kann z. B. gern schwimmen, aber noch lieber laufen. Nielsen macht eine Bemerkung, die auf die variable Bedeutung von unwillentlich hindeutet: „[…] what we mean to say when we say that such actions [i. e. mixed actions; BL] are ‚involuntaryʻ is that they seem to be ἁπλῶς or καθ’ αὑτὰ undesirable.“¹⁹⁷ Etwas, das unerwünscht und nicht-willkommen ist, tut man höchstens ungern und widerwillig. Nielsen rekurriert allerdings in ihrer Deutung nicht auf den variablen Begriff von Unwillentlichkeit, um das Gemischt-Sein „gemischter Handlungen“ zu erklären, sondern spricht sich stattdessen für die deskriptive Deutung aus. Bevor ich meinen Vorschlag erläutere, inwiefern sich mit Hilfe der Kombinationsmöglichkeiten der starren und der variablen Begriffe eine dritte Gruppe von Dingen abgrenzen lässt, der auch „gemischte Handlungen“ zugehören, betrachte ich eine Passage in EN III 15, in der der variable Begriff von Willentlichkeit zum Ausdruck kommt und anhand deren sich dessen Besonderheit erläutern lässt.¹⁹⁸
Nielsen 2007, 280; Hervorhebung BL. Auf diesen Passus weist auch Loening hin, um nachzuweisen, dass Aristoteles graduierbare Begriffe des Willentlichen und Unwillentlichen annimmt. Die Abstufbarkeit der Begriffe entspricht dabei dem Maß an Lust und Schmerz, die mit dem Willentlichen bzw. Unwillentlichen einhergehen (Loening 1903, 256): „Entscheidend für das ἑκούσιον selbst ist hier überall das Begehren; das Mehr oder Weniger hängt dann von dem Grade der Lust oder Unlust ab, die damit verbunden ist.“
2.3 „Gemischte Handlungen“ als umstrittene Fälle gewaltsamer Handlungen
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2.3.2 Der variable Begriff von Willentlichkeit und Unwillentlichkeit Aristoteles beendet mit dem 15. und letzten Kapitel von EN III die Behandlung der Tapferkeit und der Mäßigkeit, indem er abschließend zwei der jeweiligen Gegenstücke¹⁹⁹ zu diesen beiden Tugenden, nämlich Feigheit und Unmäßigkeit, diskutiert: [EN III 15, 1119a21– 33]²⁰⁰ Die Unmäßigkeit scheint mehr wie das Willentliche zu sein als die Feigheit. Denn jene [i. e. die Unmäßigkeit; BL] kommt durch Lust zustande, diese [i. e. die Feigheit; BL] durch Schmerz, von denen Ersteres etwas ist, das man wählt, Letzteres dagegen etwas, das man vermeidet. Und der Schmerz bringt die Natur desjenigen, der ihn hat, durcheinander und zerstört sie, die Lust tut nichts dergleichen. Sie [i. e. die Unmäßigkeit; BL] ist daher mehr willentlich. Deshalb ist sie auch tadelnswerter; es ist nämlich auch leichter, sich an diese Dinge [i. e. die lustvollen Dinge; BL] zu gewöhnen [gemeint ist wohl: sich daran zu gewöhnen, ihnen zu widerstehen²⁰¹], denn es gibt im Leben viele solche Dinge und die Gelegenheiten, sich daran zu gewöhnen, sind ungefährlich, während es bei den furchterregenden Dingen umgekehrt ist. Es scheint aber, dass die Feigheit nicht in derselben Weise willentlich ist wie die einzelnen feigen Handlungen; denn sie [die Feigheit] für sich ist ohne Schmerz, wohingegen diese [die feigen Handlungen] durch Schmerz jemanden durcheinanderbringen, so dass er die Waffen wegwirft und anderes Beschämendes tut – deshalb scheinen diese Handlungen auch gewaltsam zu sein. Beim Unmäßigen sind umgekehrt die einzelnen Handlungen willentlich (da er sie begehrt und danach strebt), die Ganze [Unmäßigkeit als Ganze] hingegen weniger; denn niemand begehrt, unmäßig zu sein.
Die meisten Kommentatoren betrachten dieses Kapitel als ungereimt und als einen Rückschritt von Aristoteles gegenüber seinen Ausführungen in den ersten Kapiteln desselben Buches. Stewart bemerkt z. B. knapp: „There is a good deal of confusion here“.²⁰² Dieses Urteil erscheint mir falsch. Die Passage lässt ein
Unberücksichtigt bleiben damit jeweils die anderen Extreme, Tollkühnheit und Empfindungslosigkeit. EN III 15, 1119a21– 33: ἑκουσίῳ δὲ μᾶλλον ἔοικεν ἡ ἀκολασία τῆς δειλίας. ἥ μὲν γὰρ δι᾿ ἡδονήν, ἣ δὲ διὰ λύπην, ὧν τὸ μὲν αἱρετόν, τὸ δὲ φευκτόν· καὶ ἡ μὲν λύπη ἐξίστησι καὶ φθείρει τὴν τοῦ ἔχοντος φύσιν, ἡ δὲ ἡδονὴ οὐδὲν τοιοῦτο ποιεῖ. μᾶλλον δὴ ἑκούσιον. διὸ καὶ ἐπονειδιστότερον· καὶ γὰρ ἐθισθῆναι ῥᾷον πρὸς αὐτά· πολλὰ γὰρ ἐν τῷ βίῳ τὰ τοιαῦτα, καὶ οἱ ἐθισμοὶ ἀκίνδυνοι, ἐπὶ δὲ τῶν φοβερῶν ἀνάπαλιν. δόξειε δ᾿ ἂν οὐχ ὁμοίως ἑκούσιον ἡ δειλία εἶναι τοῖς καθ᾿ ἕκαστον· αὐτὴ μὲν γὰρ ἄλυπος, ταῦτα δέ διὰ λύπην ἐξίστησιν, ὥστε καὶ τὰ ὅπλα ῥιπτεῖν καὶ τἆλλα ἀσχημονεῖν· διὸ καὶ δοκεῖ βίαια εἶναι. τῷ δ᾿ ἀκολάστῳ ἀνάπαλιν τὰ μὲν καθ᾿ ἕκαστα ἑκούσια (ἐπιθυμοῦντι γὰρ καὶ ὀρεγομένῳ), τὸ δ᾿ ὅλον ἧττον· οὐθεὶς γὰρ ἐπιθυμεῖ ἀκόλαστος εἶναι. Vgl. Broadie/Rowe 2002. Stewart 1892, 318. Ähnlich auch Grant 1866, 52: „Standing then as it does isolated, it [the chapter] forms an instance of the immaturity of Aristotle’s moral investigations.“ Gauthier/Jolif
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2 Gewalt und Zwang als Ausschlusskriterien für Willentlichkeit
plausibles Verständnis zu, wenn man ihrer Deutung den variablen Begriff von Willentlichkeit zugrunde legt. Aber resümieren wir zunächst, was Aristoteles in dem Abschnitt sagt. Im ersten Teil vergleicht er die Laster Unmäßigkeit und Feigheit miteinander und behauptet, die Unmäßigkeit erscheine willentlicher (mallon eoiken)²⁰³ als die Feigheit. Dafür gibt er zwei Gründe an: Erstens kommt die Unmäßigkeit durch Lust zustande, nach der man strebt, die Feigheit hingegen durch Schmerz, den man zu vermeiden versucht, und zweitens zerstört der Schmerz, der mit der Feigheit verbunden ist, die (menschliche) Natur, die Lust dagegen nicht. Aristoteles differenziert den Grad der Willentlichkeit eines Lasters also nach dem Kriterium, ob und in welchem Maß ein Laster mit Lust oder Schmerz verbunden ist. Bereitet ein Laster Schmerz, so ist es weniger willentlich als ein Laster, das Lust bereitet. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass Aristoteles die unterschiedlichen Grade von Willentlichkeit mit einem unterschiedlichen Maß, in dem Tadel verdient ist, verbindet. Er bezeichnet die Unmäßigkeit als „tadelnswerter“ als die Feigheit, und zwar weil Unmäßigkeit willentlicher als Feigheit ist (dio kai eponeidistoteron). Das Kriterium, aufgrund dessen die Unmäßigkeit eher oder mehr Tadel verdient als die Feigheit, ist hier somit ebenfalls, ob und in welchem Maß eine Schlechtigkeit mit Schmerz oder Lust verbunden ist. Je mehr eine Schlechtigkeit mit Schmerz verbunden ist, umso weniger tadelnswert erscheint sie; ist eine Schlechtigkeit hingegen mit Lust verbunden, so verdient sie umso mehr Tadel. Im zweiten Teil der Passage in EN III 15 vergleicht Aristoteles nacheinander die Feigheit und die feigen Handlungen sowie die Unmäßigkeit und die unmäßigen Handlungen miteinander und beurteilt auch diese allesamt in unterschiedlichem Maß als willentlich. Kriterium dafür ist wiederum, ob und im welchem Maß etwas mit Schmerz oder Lust verbunden ist. Die Feigheit ist willentlicher als die feigen Handlungen, da sie für sich als Disposition ohne Schmerz (alypos) ist, während die feigen Handlungen mit Schmerz verbunden sind. Demgegenüber sind unmäßige Handlungen willentlicher als die Unmäßigkeit, da die Disposition für sich nicht Lust bereitet und daher nicht erstrebt wird, wohingegen unmäßige Handlungen Lust bereiten und deswegen willentlicher
1970, 249: „Cette section est une illustration particulièrement frappante du caractère rudimentaire de la notion aristotélicienne de l’ ἑκούσιον.“ Nach dem TLG wird im Griechischen nicht der Komparativ zu „hekousion“ verwendet; vielmehr war man offenbar auf eine Umschreibung mit „mallon“ wie an der vorliegenden Stelle angewiesen. Auch zu „akousion“ gibt es nach dem TLG kein Vorkommnis eines Komparativs; indes kommt der Superlativ „akousiôtata“ z. B. bei Platon im Timaios (87b4) vor.
2.3 „Gemischte Handlungen“ als umstrittene Fälle gewaltsamer Handlungen
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sind. Dies ließe sich sogar noch weiter differenzieren, wie die folgende Passage aus EE II 8 zeigt: [EE II 8, 1225a22– 25]²⁰⁴ Und jemand scheint eher (mallon) dann aus Gewalt und unwillentlich zu handeln, wenn er handelt, um starke Schmerzen zu vermeiden, als um milde zu verhindern; und im Allgemeinen eher dann, wenn er handelt, um Schmerzen zu vermeiden als Lust zu meiden²⁰⁵ [Hervorhebung BL].
Aristoteles erwägt hier, dass je stärker der Schmerz ist, den ein Laster bereitet, desto unwillentlicher bzw. desto weniger willentlich ist auch das Laster; ferner ist aber auch eine Handlung, mit der lediglich ein milder Schmerz vermieden wird, immer noch unwillentlich bzw. weniger willentlich als eine Handlung, mit der Lust vermieden wird. Das heißt, jemand der – wie z. B. der Beherrschte – Lust vermeidet, handelt willentlicher, als jemand, der einen milden Schmerz vermeidet, und noch weniger willentlich handelt derjenige, der starke Schmerzen zu vermeiden versucht. Aristoteles stellt in der Passage aus EN III 15 somit eine vierfache graduelle Abstufung hinsichtlich des Maßes an Willentlichkeit vor: Am meisten willentlich sind unmäßige Handlungen, auf der zweiten Stufe folgt die Unmäßigkeit, diese ist wiederum willentlicher als die Feigheit, und am wenigsten willentlich von den vier Kandidaten sind die feigen Handlungen. Läge dieser Abstufung der starre Begriff von Willentlichkeit zugrunde, ließe sich dies kaum plausibel erklären.²⁰⁶ Wollte man die Konsequenzen ausbuchstabieren, ergäbe sich etwa folgendes: Der starre Begriff behandelt Willentlichkeit und Unwillentlichkeit als erschöpfende und ausschließende Alternativen, so dass etwas, das weniger willentlich als etwas anderes ist, als unwillentlich erscheint. Wenn nun feige Handlungen weniger
EE II 8, 1225a22– 25: καὶ μᾶλλον ἂν δόξειε βίᾳ καὶ ἄκων πράττειν, ἵνα μὴ ἀλγῇ ἰσχυρῶς, ἢ ἵνα μὴ ἠμέρα, καὶ ὅλως ἵνα μὴ ἀλγῇ ἢ ἵνα μὴ χαίρῃ. Bekker streicht die Negationspartikel „μὴ“ in 1225a25, was aber inhaltlich nicht plausibel ist. Stewart führt diese abwegigen Konsequenzen aus (vgl. Stewart 1892, 318 – 319): „When Aristotle calls a habit ‚voluntaryʻ he means […] that we are responsible for it. If then the acts which produce the habit of δειλία are in a sense involuntary (…), the habit will be equally involuntary, i. e. the δειλός will be relieved of responsibility for it, in proportion as the acts which produced it were ‚involuntaryʻ. […] If, on the other hand, the καθ᾿ ἕκαστα here are not the acts which made the habit of δειλία, but the acts which flow from the habit when made – what is meant by distinguishing the habit itself, as ἄλυπος, from the acts, as forced upon us by λύπη? […] The habit is just as ‚voluntaryʻ as the acts which produced it; i. e. if they are entirely voluntary, we are fully responsible for it. Nor can the acts which flow from the formed habit of ἀκολασία be distinguished, as ‚desired and fully voluntaryʻ, from the habit, as ‚not desired and less fully voluntaryʻ. Surely if these acts are desired, it is because the habit makes us desire them.“
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2 Gewalt und Zwang als Ausschlusskriterien für Willentlichkeit
willentlich als die Feigheit sind, hieße das, dass die Feigheit eine willentliche Disposition ist, die durch unwillentliche Handlungen erworben wird. Wenn mit feigen Handlungen stattdessen Handlungen gemeint sind, in denen die Feigheit aktualisiert wird, hieße das, dass die willentliche Disposition sich in unwillentlichen Handlungen äußert. Beides wäre widersinnig. Im Fall der Unmäßigkeit würde umgekehrt entweder eine unwillentliche Disposition durch willentliche Handlungen erworben, oder die unwillentliche Disposition äußerte sich in willentlichen Handlungen. Auch das wäre absurd. Die abstufende Formulierung in Aristoteles’ Beschreibung sollte daher aufhorchen lassen und Anlass sein, noch eine andere Gebrauchsweise von „ἑκών“/ „ἑκούσιος“ zu erwägen. Die vierfache Abstufung ergibt einen plausiblen Sinn, wenn ihr der variable Begriff von Willentlichkeit zugrunde gelegt wird. Unmäßige Handlungen sind von den vier Kandidaten am meisten willentlich, weil man sie am liebsten tut. Sie sind am meisten willkommen, weil sie mit Lust verbunden sind und man sie daher gern tut. Darauf folgt die Unmäßigkeit, die insofern weniger willentlich als die willentlichen Handlungen ist, als der bloße Besitz der Disposition weniger Lust bereitet als die entsprechenden Handlungen. Die Unmäßigkeit ist aber willentlicher als die Feigheit, denn die Feigheit ist einem weniger willkommen, weil ihr Erwerb mit Schmerz verbunden ist. Am wenigsten willentlich von allen sind schließlich die feigen Handlungen, da sie wegen des damit verbundenen Schmerzes am wenigsten willkommen sind. Anders als mit dem starren Begriff von Willentlichkeit lässt der variable Begriff eine einleuchtende Lesart der graduellen Unterscheidung in EN III 15 zu. Überdies sprechen auch andere Stellen dafür, dass Aristoteles mit verschiedenen Begriffen von Willentlichkeit operiert. Eine zentrale Passage ist der Anfang von EN III 2, wo er einen Unterschied zwischen nicht-willentlichen (ouch hekousios) und unwillentlichen (akousios) unwissentlichen Handlungen einführt.²⁰⁷ Eine unwillentliche unwissentliche Handlung zeichnet sich dadurch aus, dass die handelnde Person im Nachhinein ihre Handlung bedauert, wenn sie über ihre Unwissenheit aufgeklärt worden ist. Eine nicht-wissentliche Handlung bedauert die handelnde Person dagegen auch dann nicht, wenn sie weiß, was sie getan hat. Das ausbleibende Bedauern zeigt hier an, dass der Person ihre Handlung nicht unwillkommen ist. Im Sinn des starren Begriffs von Unwillentlichkeit besteht zwischen den beiden unwissentlichen Handlungen dagegen kein Unterschied, da in beiden Situationen aufgrund von Unwissenheit und infolgedessen unwillentlich gehandelt wird. Mit Hilfe des variablen Begriffs lässt sich der Unterschied
EN II 2, 1110b18 – 24. Ich diskutiere diesen Abschnitt ausführlich im Abschnitt „3.1 „Nichtwillentliche“ und „unwillentliche“ Handlungen aufgrund von Unwissenheit“.
2.3 „Gemischte Handlungen“ als umstrittene Fälle gewaltsamer Handlungen
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aber erläutern: Eine nicht-willentliche Handlung ist in diesem Sinn willentlicher als eine unwillentliche Handlung, die im Nachhinein bedauert wird, weil durch das Bedauern zum Ausdruck kommt, dass die Handlung nachträglich Schmerz bereitet, d. h. unwillkommen ist und widerwillig geschah. Kehren wir nach diesen Erläuterungen des variablen Begriffs von Willentlichkeit und Unwillentlichkeit zur Deutung der „gemischten Handlungen“ zurück. Ausgangspunkt war, dass „gemischte Handlungen“ möglicherweise einer dritten Gruppe von Dingen neben den Gruppen der willentlichen und der unwillentlichen Dinge zuzuordnen sind. Aristoteles charakterisiert „gemischte Handlungen“, wie wir gesehen haben, als Handlungen, die willentlich, schlechthin aber vielleicht unwillentlich sind. Ihr Gemischt-Sein könnte sich also auch damit erklären lassen, dass sie einerseits gemäß dem starren Begriff willentlich, andererseits aber im Sinn des variablen Begriffs unwillentlich sind. Spezifisch für Dinge der dritten Gruppe, wie z. B. gemischte Handlungen, ist demnach, dass bei diesen Dingen Willentlichkeit im Sinn des starren Begriffs mit Unwillentlichkeit im Sinn des variablen Begriffs kombiniert vorliegt. Dinge der dritten Gruppe zeichnen sich dadurch aus, dass sie zwar willentlich geschehen, weil sie wissentlich geschehen und die handelnde Person ihre Ursache ist, dass sie andererseits aber auch unwillentlich sind, weil sie der handelnden Person unwillkommen sind und ihr Schmerzen bereiten.
2.3.3 „Gemischte Handlungen“ in der EE Ich habe bereits die Stelle zitiert, wo Aristoteles bei seiner Behandlung in der EE zu den strittigen Fällen von Handlungen aus Gewalt, die er in der EN „gemischte Handlungen“ nennt,²⁰⁸ überleitet.²⁰⁹ Auch in der EE setzt er zuerst bei den divergierenden Ansichten zu derartigen Handlungen an und formuliert die Frage, ob jemand, der unter Androhung von Folter oder Ähnlichem handelt, aus Gewalt (und damit unwillentlich) oder aber willentlich handelt, weil es bei ihm lag, zu handeln oder nicht zu handeln. Der Fortlauf des Textes liefert sodann Argumente für die Ansicht, dass solche Handlungen unwillentlich sind. Damit steht fest, dass Aristoteles in der EE für eine Antwort argumentiert, die seiner Ansicht in der EN entgegensetzt ist.
Ich werde die Bezeichnung „gemischte Handlungen“ auch im Folgenden verwenden, obwohl sie in der EE nicht vorkommt. Sie ist jedoch geeignet, um mit einem einzigen Ausdruck eindeutig auf die umstrittenen Handlungen Bezug nehmen zu können. EE II 8, 1225a2– 8, zitiert auf S. 66.
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2 Gewalt und Zwang als Ausschlusskriterien für Willentlichkeit
2.3.3.1 Begründung der Unwillentlichkeit „gemischter Handlungen“ in der EE Als erstes werde ich rekonstruieren, wie Aristoteles für die Unwillentlichkeit „gemischter Handlungen“ argumentiert, um anschließend diese Position mit der Argumentation in der EN zu vergleichen. Ich beginne mit einigen Erläuterungen zum Abschnitt, der die Begründung enthält: [EE II 8, 1225a8 – 19]²¹⁰ Ansonsten²¹¹ könnte man sagen, dass manche davon [i. e. von den Handlungen; BL] [willentlich] sind, andere nicht. Denn all jene [Dinge], bei denen es bei einem liegt, ob sie nicht geschehen oder geschehen, tut man, ohne sie zu wünschen, [immer]²¹² willentlich und nicht aus Gewalt; jene Dinge hingegen, die nicht bei einem liegen, tut man auf eine Art aus Gewalt, aber nicht ohne Qualifikation, weil man sich nicht genau zu dem entschließt, was man tut, sondern nur zu dem, um dessentwillen man dies tut. Obschon zwischen diesen ein Unterschied besteht. Denn wenn einer tötete, um zu verhindern, dass jemand ihn [beim BlindeKuh-Spiel]²¹³ ergreift, dann wäre es lächerlich, wenn er sagte, dass er aus Gewalt und unter Zwang gehandelt habe; sondern es muss ein größeres Übel und schmerzhafter sein, was er zu ertragen hätte, wenn er nicht handelte. Auf diese Weise wird er also unter Zwang und [nicht] aus Gewalt²¹⁴ handeln, oder [zumindest] nicht aufgrund der Natur, wenn er etwas Schlechtes um etwas Guten willen oder um ein größeres Übel zu verhindern tut, und er wird unwillentlich handeln, da diese Dinge nicht bei ihm liegen.
EE II 8, 1225a8 – 19: ἔτι ἴσως τούτων τὰ μὲν φαίη τις ἂν τὰ δ’ οὔ. ὅσα μὲν γὰρ ἐφ’ αὑτῷ τῶν τοιούτων μὴ ὑπάρξαι ἢ ὑπάρξαι, ἀεὶ ὅσα πράττει ἃ μὴ βούλεται, ἑκὼν πράττει, καὶ οὐ βίᾳ· ὅσα δὲ μὴ ἐφ’ αὑτῷ τῶν τοιούτων, βίᾳ πώς, οὐ μέντοι γ’ ἁπλῶς, ὅτι οὐκ αὐτὸ τοῦτο προαιρεῖται ὃ πράττει, ἀλλ’ οὗ ἕνεκα, ἐπεὶ καὶ ἐν τούτοις ἐστί τις διαφορά. εἰ γὰρ ἵνα μὴ λάβῃ ψηλαφῶν ἀποκτείνῃ, γελοῖος ἂν εἴη, εἰ λέγοι ὅτι βίᾳ καὶ ἀναγκαζόμενος, ἀλλὰ δεῖ μεῖζον κακὸν καὶ λυπηρότερον εἶναι, ὃ πείσεται μὴ ποιήσας. οὕτω γὰρ ἀναγκαζόμενος, καὶ [μὴ] βίᾳ, πράξει, ἢ οὐ φύσει 〈γε,〉 ὅταν κακὸν ἀγαθοῦ ἕνεκα ἢ μείζονος κακοῦ ἀπολύσεως πράττῃ, καὶ ἄκων γε· οὐ γὰρ ἐφ’ αὑτῷ ταῦτα. Ich behalte das in den MSS überlieferte „ἔτι“ (vgl. Susemihl 1884) bei, das von Russell durch „ἢ“ ersetzt wird und im OCT so übernommen wird (an „ἔτι“ wird in den meisten Übersetzungen festgehalten; vgl. Dirlmeier, Inwood/Woolf, Kenny, Meyer, Simpson, Woods; der Emendation folgt Echeñique.) Die Varianten bedeuten inhaltlich keinen großen Unterschied. Beide leiten zu einer neuen alternativen Position bezüglich der Willentlichkeit gewaltsamer und erzwungener Handlungen über. Ich folge hier der Emendation von Bonitz, der das in allen MSS überlieferte „δεῖ“ durch „ἀεί“ ersetzt. Dirlmeier erläutert im Anschluss an Rackham und Jackson, dass hier das Blinde-Kuh-Spiel gemeint sein könnte (Dirlmeier 1962, 284). Das ist plausibel, da der Ausdruck „ψηλαφῶν“ auch in dieser Bedeutung vorkommen kann (vgl. LSJ) und es sich hier um ein Beispiel für etwas Harmloses handeln muss. In allen MSS ist ein „μὴ“ vor „βίᾳ“ überliefert. Bonitz und in der Folge Fritzsche tilgen die Negation (Bonitz 1844, 41– 42; Fritzsche 1851, 49, Anm. 17); Susemihl setzt sie in eckige Klammern, während der OCT die Verneinung übernimmt. Vgl. dazu Abschnitt „2.2.3 Differenziert Aristoteles sachlich zwischen bia und anankê?“.
2.3 „Gemischte Handlungen“ als umstrittene Fälle gewaltsamer Handlungen
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Die Fußnoten zeigen bereits, dass diese Passage einige textliche Schwierigkeiten enthält, die zum Teil auch für das inhaltliche Verständnis von Bedeutung sind. Ich will daher zunächst auf die wichtigsten sprachlichen Punkte eingehen. Die meisten Unklarheiten betreffen den zweiten Satz des Zitats. Zunächst ist die Satzkonstruktion mit „δεῖ“, wie sie in allen Manuskripten überliefert ist, grammatikalisch schwierig (1225a9 – 11). „δεῖ“ verlangt üblicherweise eine AcI-Konstruktion, der Satz ist aber mit dem finiten Verb „πράττει“ konstruiert. Um einen grammatikalisch korrekten Satz zu bilden, hat Bonitz vorgeschlagen, „δεῖ“ durch „ἀεί“ zu ersetzen. Die Emendation wurde sowohl von Susemihl als auch im OCT übernommen, und auch die meisten Übersetzer und Kommentatoren folgen Bonitz.²¹⁵ Die Schwierigkeit der Substitution ist, dass „ἀεί“ inhaltlich irrelevant erscheint, da man die Aussage des Satzes auch ohne die Ergänzung „immer“ als allgemeine Aussage auffasste.²¹⁶ Aus diesem Grund hält Meyer am ursprünglichen „δεῖ“ fest und nimmt stattdessen in Kauf, dass der Satz grammatikalisch nicht einwandfrei konstruiert ist.²¹⁷ Ich halte hingegen an der Emendation fest, da mir die Redundanz weniger gravierend erscheint. Eine zweite Schwierigkeit betrifft den ersten Teil desselben Satzes, und zwar die Frage, in Bezug auf welche Dinge hier eine Aussage darüber gemacht werden soll, ob sie aus Zwang geschehen oder nicht. Der ganze Satz (1225a9 – 13/14) ist offenbar so aufgebaut, dass die Dinge, für die gilt, dass es bei jemandem liegt, dass sie vorliegen oder nicht, jenen Dingen gegenübergestellt werden, deren Vorhandensein nicht bei jemandem liegt. Kenny ist der Auffassung, dass Aristoteles hier einen Unterschied machen will zwischen dem Fall, in dem eine Person eine bestimmte Situation sowohl herbeiführen als auch vermeiden kann, und dem Fall, bei dem es nicht bei ihr liegt, dass eine bestimmte Situation eintritt.²¹⁸ Die Folge aus der Gegenüberstellung ist demnach, dass eine Person, bei der es lag, ob eine bestimmte Situation eintritt, auch dann willentlich handelt, wenn sie daraufhin aufgrund dieser Situation gezwungen ist, etwas zu tun. Wenn es einer Person z. B. freisteht, einer terroristischen Gruppe beizutreten, und sie von dieser Gruppe daraufhin gezwungen wird, einen Überfall zu begehen, so verübt sie den
Dirlmeier ersetzt „δεῖ“ durch „δή“. Vgl. Woods 2005, 193. Meyer 2011, Anm. 1, 118. In diesem Sinn übersetzt Kenny den Satz folgendermaßen (Kenny 1979, 41): „When it is in the agent’s power whether such a situation should obtain or not, then in every case the agent is acting voluntarily, and not under force, in doing what he does not wish to do; […].“ Zu dieser Übersetzung sagt Kenny (Kenny 1979, 42): „If the textus receptus is translated as above we can take Aristotle to be distinguishing between cases where the existence of the duress is due to the victim’s own action and cases where it is not.“
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Überfall willentlich. Diesem Fall wird Kenny zufolge der Fall gegenübergestellt, bei dem eine Person auf das Eintreten oder Nicht-Eintreten einer bestimmten Situation keinen Einfluss nehmen kann und in dem sie infolgedessen aus Zwang handelt, wie es etwa im Beispiel des Tyrannen der Fall ist. Zugunsten von Kennys Lesart lässt sich sagen, dass Aristoteles in der EN in Hinblick auf unwissentliche Handlungen tatsächlich eine analoge Unterscheidung trifft.²¹⁹ Dort sagt er über eine Person, die aus Trunkenheit unwissentlich handelt, dass sie für ihre Handlung nicht zu entschuldigen ist, weil es bei ihr lag, betrunken zu sein oder nicht, d. h. in den Zustand zu geraten, der die Unwissenheit zur Folge hat. Gegen Kennys Deutung spricht jedoch, dass sie nicht zu ihrem Kontext in der EE passt.²²⁰ Aristoteles macht im Folgenden keinen Gebrauch von dieser Unterscheidung und nimmt sie auch nicht in seine resümierende Bestimmung des Willentlichen in EE 1225b8 – 10 auf. Hätte er zuvor eine derart zentrale Unterscheidung für die Beurteilung der Willentlichkeit einer Handlung eingeführt, wäre diese Nichtbeachtung höchst verwunderlich. Zudem spricht er im weiteren Textverlauf über Handlungen, so dass die Annahme nicht naheliegt, dass er zunächst über Situationen gesprochen hat. Schließlich verpflichtet eine andere Lesart als diejenige Kennys auch nicht dazu, den ersten Teil des zweiten Satzes im Sinn der Emendation von Spengel zu verstehen.²²¹ Spengel ersetzt die Phrase „μὴ ὑπάρξαι ἢ ὑπάρξαι“ durch „μὴ πρᾶξαι ἢ πρᾶξαι“, so dass in Hinblick auf Handlungen differenziert wird, ob sie bei einer Person liegen oder nicht. Dieses Verständnis ist abwegig, wenn im zweiten Teil des Satzes gesagt wird, dass eine Person in jenen Fällen, in denen es nicht bei ihr liegt, zu handeln, zwar „auf eine Art aus Gewalt, aber nicht ohne Qualifikation“ gehandelt habe. Wenn es aber gar nicht bei der Person lag, zu handeln, dann hat sie ohne Qualifikation aus Gewalt und damit vollkommen unwillentlich gehandelt. Die Phrase „μὴ ὑπάρξαι ἢ ὑπάρξαι“ lässt aber auch ein weiteres Verständnis zu, so dass hier nicht über Handlungen, sondern allgemein über Geschehnisse gesprochen wird, und in diesem Fall kann sinnvoll gesagt werden, dass eine Person mit Qualifikation aus Gewalt handelt, wenn es nicht bei ihr lag, ob etwas geschieht.²²²
EN III 7, 1113b30 – 1114a3; vgl. dazu Abschnitt „13.4 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit des Charakters: 1113b21– 1114a31“, S. 50 ff. Vgl. zur Kritik an Kennys Deutung: Heinaman 1988, 279 – 280, Anm. 24 sowie Echeñique 2012, Anm. 3, 113 – 114. Spengels Emendation übernehmen weder Susemihl noch der OCT, und sie findet auch sonst, soweit ich sehe, keine Befürworter. Entsprechend wird die Wendung auch meist übersetzt, vgl. z. B. Echeñique 2012, Heinaman 1988, Meyer 2011, Simpson 2013, Woods 2005.
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Nach den textlichen Erläuterungen ist nun zu fragen, wie Aristoteles in der EE für die Ansicht argumentiert, dass „gemischte Handlungen“ unwillentlich geschehen. Solche Handlungen liegen dem Text zufolge nicht bei der handelnden Person. Sie handelt vielmehr „auf eine Art aus Gewalt, aber nicht ohne Qualifikation“ (bia[i] pôs, ou mentoi g’ haplôs, 1225a12). Aristoteles verwendet hier dieselbe Wendung („ἁπλῶς“), die er auch in der EN gebraucht, und zwar für die Bezeichnung derjenigen Handlungsbeschreibung, die suggeriert, dass eine gemischte Handlung unwillentlich ist. Beide Verwendungsweisen von „ἁπλῶς“ unterscheiden sich jedoch signifikant. In der EN dient „ἁπλῶς“ Aristoteles dazu, anzuzeigen, dass eine Handlungsbeschreibung von den konkreten Umständen der Handlung abstrahiert und deswegen unvollständig ist. In der EE hingegen gebraucht er „ἁπλῶς“ dazu, um auszudrücken, dass etwas ohne jede Einschränkung gilt – im konkreten Fall, ob eine Handlung ohne jede Einschränkung aus Gewalt erfolgt und damit auch eindeutig unwillentlich ist. Dass eine Handlung nicht haplôs, sondern nur mit einschränkender Qualifikation aus Gewalt geschieht, bedeutet demgegenüber, dass die Handlung nicht ausschließlich aufgrund von Gewalt zustande gekommen ist, sondern dass die handelnde Person auch einen Beitrag dazu geleistet hat. Als nächstes folgt im Text die Erläuterung, weshalb „gemischte Handlungen“ zwar auf eine Art, aber nicht ohne Einschränkung aus Gewalt geschehen: „weil man nicht genau das wählt, was man tut, sondern nur das, um dessentwillen man dies tut“ (ouk hauto touto prohaireitai ho prattei, all’ hou heneka, 1225a12 – 13). Übertragen wir das zunächst auf das Beispiel des Kapitäns:²²³ Er handelt im eingeschränkten Sinn aus Gewalt, weil er nicht wählt, Güter über Bord zu werfen; er wählt aber das Ziel seiner Handlung, um dessentwillen er Güter über Bord wirft, nämlich das Leben der Mannschaft zu retten. Eine solche Handlung liegt dem Text zufolge nicht bei der handelnden Person (mê eph’ hautô[i], 1225a17) und geschieht somit unwillentlich.²²⁴ Wie ist diese Erläuterung einer im eingeschränkten Sinn gewaltsamen Handlung zu verstehen? Sie soll offenbar besagen, dass eine Person zwar das Ziel einer Handlung wählt (prohaireitai) und es bei ihr liegt, dieses Ziel zu wählen oder nicht zu wählen, dass es aber zugleich – wenn sich dieses Ziel nur durch eine bestimmte Handlung erreichen lässt – nicht bei der handelnden Person liegt,
In der EE gibt Aristoteles kein Beispiel für eine gemischte Handlung, bei der die gewaltsame Einwirkung von einer natürlichen Kraft wie dem Wind ausgeht. Allerdings spricht im Text auch nichts dagegen, dass sich die Aussagen in der EE auch auf diese Art gemischter Handlungen beziehen lassen (pace Heinaman 1988, 270). In 1225a19 wird deutlich, dass daraus, dass eine Handlung nicht bei der handelnden Person liegt, folgt, dass sie unwillentlich geschieht.
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diese Handlung zu wählen, und sie diese folglich aus Gewalt wählt. Heinaman betrachtet diese Erklärung als unverständlich: [Heinaman 1988]²²⁵ But how could Smith have been thus in control of whether or not he achieved the end of the action, without being in control of whether or not he performed the action itself? How could it be that he could have stopped himself from saving his family when he could not stop himself from killing Brown? […] Furthermore, if Smith chooses to save his family, then he does so after deliberating about what to do, and deciding that saving his family is the means to achieve some higher end.
Heinamans Fragen sind offenbar rhetorisch gemeint, da es in seinen Augen absurd ist, zu sagen, dass es zwar bei einer Person liegt, das Ziel ihrer Handlung zu wählen oder nicht zu wählen, dass es aber nicht bei ihr liegt, die Handlung zu wählen, die nötig ist, um dieses Ziel zu erreichen. Denn, so scheint Heinaman zu argumentieren, wenn es bei der Person liegt, das Ziel auch nicht zu wählen, so hätte sie auch die Handlung, die zum Erreichen des Ziels erforderlich ist, nicht wählen können. Es müssten also letztlich beide oder keine der beiden Handlungen bei der Person liegen.Verschärft wird diese Ungereimtheit nach Heinaman noch dadurch, dass Aristoteles in der Beschreibung der Handlung, die im eingeschränkten Sinn aus Gewalt geschieht, „προαιρείσθαι“ verwendet. Aristoteles führt in der EE wie in der EN „προαίρεσις“ als terminus technicus ein, nach dem eine prohairesis der Entschluss zu einer Handlung aufgrund einer vernünftigen Überlegung ist. In diesem Sinn versteht Heinaman die Verwendung von „προαιρείσθαι“ auch hier und bezweifelt deswegen, dass Aristoteles’ Erläuterung einer im eingeschränkten Sinn gewaltsamen Handlung sinnvoll ist. Eine prohairesis setzt voraus, dass die Wahl einer Handlung bei der Person liegt. Nur dann lässt sich eine vernünftige Überlegung anstellen, ob die Handlung zu wählen ist oder nicht. Echeñique gibt auf beide Zweifel, die Heinaman gegenüber der Konsistenz der Erklärung vorbringt, überzeugende Antworten.²²⁶ Sich an dieser Stelle auf den technischen Gebrauch von „προαίρεσις“ zu berufen, ist weder einleuchtend noch nötig, da die Einführung des technischen Sinns erst später in EE II 10 und 11 folgt und deshalb hier noch nicht vorausgesetzt werden sollte.²²⁷ Um mit dem
Heinaman 1988, 275. Echeñique 2012, 119 – 123. Aristoteles verwendet „προαίρεισθαι“ an anderen Stellen eindeutig auch in einem weiten, nicht-technischen Sinn (vgl. dazu Abschnitt „4.3 Terminologische Bemerkungen zum Ausdruck „prohairesis“; vgl. auch Top. 116b23). Mit Echeñiques Erwiderung ist überdies noch eine andere Schwierigkeit beseitigt, die sich für Heinamans Deutung ergibt. Denn laut Aristoteles’ technischer
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scheinbaren Paradox umzugehen, das Heinamans rhetorische Fragen suggerieren, verweist Echeñique auf das Konzept der hypothetischen Notwendigkeit, das ihm zufolge Aristoteles’ Gebrauch von Zwang strukturell entspricht.²²⁸ Die hypothetische Notwendigkeit beruht auf dem vorgegebenen Ziel bzw. Zweck einer Sache. Wenn ein Messer z. B. den Zweck haben soll, Fleisch zu schneiden, so ergibt sich aus diesem vorgegebenen Zweck die Notwendigkeit, dass das Messer eine bestimmte materielle Beschaffenheit hat. Ohne diesen Zweck wäre es hingegen weder notwendig, dass das Messer genau diese materielle Qualität hat, noch wäre es notwendig, dass dem Messer ein bestimmter Zweck vorgegeben ist. Das Konzept der hypothetischen Notwendigkeit ermöglicht eine denkbare Erläuterung für Handlungen, die in qualifizierter Weise aus Gewalt geschehen. Wenn ein bestimmtes Ziel erreicht werden soll und dieses Ziel nur durch eine bestimmte schmerzhafte Handlung zu erreichen ist, so ist für dieses Ziel diese schmerzhafte Handlung, die unter normalen Umständen nicht wählenswert ist, notwendig, und es liegt nicht bei der handelnden Person, diese Handlung zu wählen oder nicht zu wählen, sofern sie ihr gesetztes Ziel erreichen will. Ohne dieses vorgegebene Ziel bestünde hingegen keine Notwendigkeit, diese Handlung zu wählen; und dass ein bestimmtes Ziel gewählt wird, ist ebenfalls nicht notwendig, sondern beruht darauf, dass jemand es unter verschiedenen Alternativen wählt.
2.3.3.2 Vergleich der Analysen „gemischter Handlungen“ in der EE und der EN Es lässt sich somit eine konsistente Lesart angeben für Aristoteles’ Erläuterung in der EE, inwiefern „gemischte Handlungen“ im eingeschränkten Sinn aus Gewalt geschehen. Damit wird nun die Frage virulent, wie mit den abweichenden Beurteilungen „gemischter Handlungen“, die Aristoteles in der EE und der EN formuliert, umzugehen ist. Lassen die unterschiedlichen Argumentationen eine begründete Entscheidung zu, ob er eine der anderen vorgezogen hat? Dies ist m. E. der Fall, und zwar ist die Argumentation in der EN in meinen Augen als eine Korrektur zu verstehen, mit der Aristoteles auf die Unzulänglichkeit der Analyse in
Erklärung wählt man nicht „das Ziel, sondern das, was zum Ziel führt“ („οὐθεὶς γὰρ οὐδὲν προαιρεῖται, ἀλλὰ τὰ πρὸς τὸ τέλος· […]“, EE II 10, 1226a7– 8). Heinaman reagiert auf das Problem, indem er sich im Anschluss an Cooper darauf beruft, dass nur für das letzte Ziel einer jeden Handlung, die eudaimonia, gilt, dass niemand es als Ziel wählt; alle anderen Dinge können hingegen als Ziel gewählt werden, da sie letztlich immer auch Mittel zum Erreichen des höchsten Ziels sind (vgl. Cooper 1975, 14– 18). Echeñique 2012, 121– 123. Aristoteles entwickelt das Konzept der hypothetischen Notwendigkeit in Phys. II 9.
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der EE reagiert hat.²²⁹ Das Plädoyer für die Willentlichkeit „gemischter Handlungen“ in der EN beruht auf dem Argument, dass sich die Frage nach der Willentlichkeit einer Handlung auf ein Handlungsvorkommnis, d. h. eine Handlung zu einem bestimmten Zeitpunkt und mit einem bestimmten Handlungsziel, beziehen muss.²³⁰ Handlungsziel einer „gemischten Handlung“ ist das Ziel, um dessentwillen die Handlung gewählt wird. Das Ziel der „gemischten Handlung“ ist also das Ziel, das die handelnde Person wählen oder nicht wählen kann. Das Ziel der Handlung, die erforderlich ist, um dieses Ziel zu erreichen, ist hingegen nicht das Ziel der „gemischten Handlung“, sondern nur ein notwendiges Mittel, um das eigentliche Handlungsziel zu erreichen. Es ist keine Handlung, welche die handelnde Person um ihrer selbst willen gewählt hat. Veranschaulichen wir uns das an einem Beispiel: Das Handlungsziel des Kapitäns ist es, das Leben der Mannschaft zu retten; um dieses Ziels willen wirft er die geladenen Güter über Bord. Güter über Bord zu werfen, ist dagegen kein Handlungsziel, das der Kapitän um seiner selbst willen wählt; er wählt diese Handlung nur als notwendiges Mittel, um das frei gewählte Ziel, die Mannschaft zu retten, zu erreichen. Die Analyse „gemischter Handlungen“ in der EE geht also darin fehl, wie Aristoteles m. E. zu Recht in der EN erkennt, dass sie die Frage nach deren Willentlichkeit auf eine Beschreibung der Handlung bezieht, die nicht das Handlungsziel enthält, um dessentwillen die handelnde Person die Handlung gewählt hat. Die Frage der Willentlichkeit wird in der EE stattdessen in Bezug auf die Beschreibung der Handlung gestellt, die bloß nötiges Mittel ist, um ein gewähltes Handlungsziel zu erreichen. Dieser Handlungsbeschreibung fehlt indes ein relevantes Merkmal, nämlich das Worumwillen der Handlung, ohne das die Beschreibung unvollständig und nicht hinreichend ist, um zu entscheiden, ob die Handlung willentlich oder unwillentlich ist.
2.3.4 Typologie „gemischter Handlungen“ Im letzten Abschnitt habe ich dafür argumentiert, dass Aristoteles seine Ansicht über die Willentlichkeit in der EN gegenüber der EE korrigiert und nunmehr zum Ergebnis gelangt, dass „gemischte Handlungen“ willentlich sind. Aufschlussreich für den Vergleich der beiden Positionen in der EE und der EN ist weiter, welche Konsequenzen diese abweichenden Einschätzungen für seine Beurteilung verschiedener Arten „gemischter Handlungen“ haben. In beiden Schriften folgt auf
Vgl. für eine ähnliche Argumentation: Echeñique 2012, 138 sowie Meyer 2011, Kap. 4. Vgl. Abschnitt „2.3.1 „Gemischte Handlungen“ in der EN“.
2.3 „Gemischte Handlungen“ als umstrittene Fälle gewaltsamer Handlungen
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die Charakterisierung „gemischter Handlungen“ eine Art Typologie, in der Aristoteles verschiedene Fälle von Handlungen, die unter gewaltsamer Einwirkung geschehen,²³¹ bespricht, die in seinen Augen eine unterschiedliche Beurteilung verdienen. Die Typologien sind in beiden Schriften unterschiedlich aufgebaut, es finden sich verschiedene Beispiele, und auch die aufgezählten Typen stimmen nicht genau überein. Dennoch scheinen sich die meisten der Fälle aus beiden Abhandlungen drei Gruppen von Handlungen zuordnen zu lassen, deren jeweilige Beschreibungen sich in beiden Schriften weitgehend entsprechen.²³² Ich zitiere zunächst die Passagen aus der EE und der EN, um für die anschließende vergleichende Diskussion beide Ausführungen vor Augen zu haben: [EE II 8, 1225a11– 33]²³³ […] jene Dinge hingegen, die nicht bei einem liegen, tut man auf eine Art aus Gewalt, aber nicht ohne Qualifikation, weil man nicht genau das wählt, was man tut, sondern nur das, um
Ich bezeichne solche Handlungen der Einfachheit halber als „gemischte Handlungen“, ohne mich dadurch bereits darauf festlegen zu wollen, dass Aristoteles selbst alle Arten von Handlungen, die unter eine der Gruppen der Typologie fallen, als „gemischte Handlungen“ bezeichnet hätte (vgl. meine Anm. 208). Für diese Annahme spricht zwar, dass die Typologie in der EN sprachlich an die allgemeine Charakterisierung solcher Handlungen als gemischter Handlungen anknüpft (vgl. 1110a19 – 20: „ἐπὶ ταῖς πράξεσι δὲ ταῖς τοιαύταις ἐνίοτε καὶ ἐπαινοῦνται“), so dass es natürlich erscheint, die beiden Beispiele für „gemischte Handlungen“ in die Typologie einzuordnen und die Typologie selbst als eine verallgemeinernde Erweiterung der Beispiele aufzufassen. Trotzdem sind nicht ohne Weiteres alle Arten von Handlungen, die in der Typologie vorkommen, als „gemischte Handlungen“ zu bezeichnen, denn zum einen kommt die Bezeichnung „gemischte Handlungen“ in der EE nicht vor und zum anderen ist auch in der EN zunächst nicht klar, ob Aristoteles Fälle der Gruppe [III] (und eventuell auch Fälle der Gruppe [IV]) als „gemischte Handlungen“ betrachtet (vgl. dazu meine Anm. 261 sowie die Diskussion auf S. 98 ff.). Zum ersten Bedenken lässt sich jedoch sagen, dass Aristoteles auch in der EE die fraglichen Handlungen dadurch charakterisiert, dass von ihnen zugleich Beschreibungen gegeben werden können, die sie willentlich wie auch unwillentlich wirken lassen, so dass sie die Beschreibung „gemischter Handlungen“ aus der EN zu erfüllen scheinen. Die Gruppen, die ich im Folgenden unterscheiden werde, markiere ich durch in eckige Klammern gesetzte große römische Ziffern. Die Gruppen [I] bis [III] lassen sich in beiden Passagen ausmachen, während die Gruppe [IV] nur im Passus aus der EN Erwähnung findet. EE II 8, 1225a11– 33: […] ὅσα δὲ μὴ ἐφ’ αὑτῷ τῶν τοιούτων, βίᾳ πώς, οὐ μέντοι γ’ ἁπλῶς, ὅτι οὐκ αὐτὸ τοῦτο προαιρεῖται ὃ πράττει, ἀλλ’ οὗ ἕνεκα, ἐπεὶ καὶ ἐν τούτοις ἐστί τις διαφορά. εἰ γὰρ ἵνα μὴ λάβῃ ψηλαφῶν ἀποκτείνῃ, γελοῖος ἂν εἴη, εἰ λέγοι ὅτι βίᾳ καὶ ἀναγκαζόμενος, ἀλλὰ δεῖ μεῖζον κακὸν καὶ λυπηρότερον εἶναι, ὃ πείσεται μὴ ποιήσας. οὕτω γὰρ ἀναγκαζόμενος, καὶ [μὴ] βίᾳ, πράξει, ἢ οὐ φύσει 〈γε,〉 ὅταν κακὸν ἀγαθοῦ ἕνεκα ἢ μείζονος κακοῦ ἀπολύσεως πράττῃ, καὶ ἄκων γε· οὐ γὰρ ἐφ’ αὑτῷ ταῦτα. διὸ καὶ τὸν ἔρωτα πολλοὶ ἀκούσιον τιθέασιν, καὶ θυμοὺς ἐνίους καὶ τὰ φυσικά, ὅτι ἰσχυρὰ καὶ ὑπὲρ τὴν φύσιν· καὶ συγγνώμην ἔχομεν ὡς πεφυκότα βιάζεσθαι τὴν φύσιν. καὶ μᾶλλον ἂν δόξειε βίᾳ καὶ ἄκων πράττειν, ἵνα μὴ ἀλγῇ ἰσχυρῶς, ἢ ἵνα μὴ ἠμέρα, καὶ ὅλως ἵνα μὴ ἀλγῇ ἢ ἵνα μὴ χαίρῃ. τὸ γὰρ ἐφ’ αὑτῷ, εἰς ὃ ἀνάγεται ὅλον, τοῦτ’ ἐστιν ὃ ἡ αὐτοῦ φύσις οἵα
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dessentwillen man dies tut. Wobei zwischen diesen ein Unterschied besteht. [II] Denn wenn einer tötet, um zu verhindern, dass jemand ihn [beim Blinde-Kuh-Spiel] ergreift, dann wäre es lächerlich, wenn er sagte, dass er aus Gewalt und unter Zwang gehandelt habe; [I] sondern es muss ein größeres Übel und schmerzhafter sein, was er zu ertragen hätte, wenn er nicht handelte. Auf diese Weise wird er also unter Zwang und aus Gewalt handeln, oder [zumindest] nicht aufgrund der Natur, wenn er etwas Schlechtes um etwas Guten willen oder um ein größeres Übel zu verhindern tut, und er wird unwillentlich handeln, da diese Dinge nicht bei ihm liegen. [III] Deshalb zählen viele auch die leidenschaftliche Liebe zum Unwillentlichen, sowie manche Arten von Zorn und die natürlichen Dinge, weil sie stark sind und die [menschliche] Natur übersteigen. Und wir verzeihen sie, da sie von Natur aus die [menschliche] Natur bezwingen. [I] Und jemand scheint dann eher aus Gewalt und unwillentlich zu handeln, wenn er handelt, um starke Schmerzen zu vermeiden [II?] als um milde zu verhindern; und im Allgemeinen eher dann, wenn er handelt, um Schmerzen zu vermeiden als Lust zu vermeiden.²³⁴ Denn das, was bei jemandem liegt, worauf es bei der ganzen Sache ankommt, ist das, was jemandes Natur auszuhalten vermag. [III] Was sie aber nicht aushalten kann und was nicht von Natur aus im Bereich von jemandes Begierde oder Vernunft ist, liegt nicht bei einem. Deshalb sagen wir auch nicht bei denen, die unter göttlichem Einfluss stehen oder Prophezeiungen machen, selbst wenn ihr Tun ein Werk des Denkens ist, dass es bei ihnen lag, das zu sagen, was sie gesagt haben, oder das zu tun, was sie getan haben. Noch geschah ihr Tun aus Begierde; daher liegen gewisse Gedanken und Emotionen, oder Handlungen gemäß solcher Gedanken und Erwägungen nicht bei uns, sondern manche Überlegungen sind, wie Philolaos sagte, stärker als wir.
τε φέρειν· ὃ δὲ μὴ οἵα τε, μήδ’ ἐστὶ τῆς ἐκείνου φύσει ὀρέξεως ἢ λογισμοῦ, οὐκ ἐφ’ αὑτῷ. διὸ καὶ τοὺς ἐνθουσιῶντας καὶ προλέγοντας, καίπερ διανοίας ἔργον ποιοῦντας, ὅμως οὔ φαμεν ἐφ’ αὑτοῖς εἶναι οὔτ’ εἰπεῖν ἃ εἶπον, οὔτε πρᾶξαι ἃ ἔπραξαν. ἀλλὰ μὴν οὐδὲ δι’ ἐπιθυμίαν· ὥστε καὶ διάνοιαί τινες καὶ πάθη οὐκ ἐφ’ ἡμῖν εἰσίν, ἢ πράξεις αἱ κατὰ τὰς τοιαύτας διανοίας καὶ λογισμούς, ἀλλ’ ὥσπερ Φιλόλαος ἔφη εἶναί τινας λόγους κρείττους ἡμῶν. Die MSS lesen auch nach dem vierten „ἵνα“ in 1225a24– 25 eine Negation („ἵνα {μὴ} χαίρῃ“). Bekker hat sie gestrichen und ihm sind die meisten Kommentatoren gefolgt (vgl. Dirlmeier, Inwood/Woolf,Woods). Ohne Negation ist die Aussage des Satzes, dass jemand eher aus Gewalt und unwillentlich handelt, wenn er handelt, um Schmerz zu vermeiden, als um Lust zu erreichen. Simpson hält an der Negation fest und versteht die Aussage des Satzes derart, dass jemand eher aus Gewalt und unwillentlich handelt, wenn er handelt, um Schmerz zu vermeiden, als um Lust zu vermeiden. Mit Letzterem wird Simpson zufolge vermutlich auf den Beherrschten Bezug genommen (vgl. dazu Simpson 2013, 272). Ich halte wie Simpson an der überlieferten Lesart in den MSS fest und lese die Negation, zumal sie auch sachlich sinnvoll ist: Der Satz gibt eine Abstufung verschiedener Handlungen in Hinblick auf ihre Willentlichkeit an. Am meisten unwillentlich sind Handlungen, mit denen starker Schmerz vermieden wird, weniger unwillentlich als diese sind Handlungen, mit denen ein schwacher Schmerz vermieden wird, und am wenigsten unwillentlich sind Handlungen, durch die Lust gemieden wird. Vgl. dazu meine Diskussion zu EN III 15 im Abschnitt „2.3.2 Der variable Begriff von Willentlichkeit und Unwillentlichkeit“.
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[EN III 1, 1110a19-b1]²³⁵ [1] Für solche Handlungen [sc. gemischte Handlungen; BL] werden die handelnden Personen manchmal sogar gelobt, wenn sie etwas Schlimmes oder Schmerzvolles [als Preis] für große und schöne Dinge ertragen;²³⁶ [II] im umgekehrten Fall werden sie hingegen getadelt. Denn das Schlimmste für etwas zu ertragen, das gar nicht schön oder nur mäßig schön ist, ist Zeichen eines schlechten Menschen. [III] In manchen Fällen erfolgt kein Lob, sondern Verzeihung, wenn jemand etwas tut, was man nicht tun soll, was auszuhalten aber die menschliche Natur übersteigt und was niemand ertrüge. [IV] In manchen Fällen jedoch gibt es vielleicht kein Gezwungen-Werden, sondern man sollte eher die schlimmsten Dinge ertragen und den Tod auf sich nehmen. Denn die Dinge, die z. B. den Alkmaion des Euripides gezwungen haben, Muttermord zu begehen, erscheinen lächerlich. Es ist indes manchmal schwierig zu bestimmen, was man [als Preis] für was wählen und was man [als Preis] für was ertragen soll; und noch schwieriger ist es, an dem festzuhalten, was man entschieden hat, denn meistens ist das, was wir erwarten, schmerzvoll, und das, wozu wir gezwungen werden, schlimm, weshalb Lob und Tadel denen zuteilwerden, die gezwungen werden oder nicht.
Auch wenn die Beschreibungen in den beiden Passagen unterschiedlich lauten, lassen sich gleichwohl drei übereinstimmende Gruppen von Fällen unterscheiden, wobei die vierte Gruppe nur in der EN Erwähnung findet. In allgemeiner Formulierung lauten die Beschreibungen wie folgt:²³⁷ EN III 1, 1110a19-b1: ἐπὶ ταῖς πράξεσι δὲ ταῖς τοιαύταις ἐνίοτε καὶ ἐπαινοῦνται, ὅταν αἰσχρόν τι ἢ λυπηρὸν ὑπομένωσιν ἀντὶ μεγάλων καὶ καλῶν· ἂν δ’ ἀνάπαλιν, ψέγονται· τὰ γὰρ αἴσχισθ’ ὑπομεῖναι ἐπὶ μηδενὶ καλῷ ἢ μετρίῳ φαύλου. ἐπ’ ἐνίοις δ’ ἔπαινος μὲν οὐ γίνεται, συγγνώμη δ’, ὅταν διὰ τοιαῦτα πράξῃ τις ἃ μὴ δεῖ, ἃ τὴν ἀνθρωπίνην φύσιν ὑπερτείνει καὶ μηδεὶς ἂν ὑπομείναι. ἔνια δ’ ἴσως οὐκ ἔστιν ἀναγκασθῆναι, ἀλλὰ μᾶλλον ἀποθανετέον παθόντι τὰ δεινότατα· καὶ γὰρ τὸν Εὐριπίδου ᾿Aλκμαίωνα γελοῖα φαίνεται τὰ ἀναγκάσαντα μητροκτονῆσαι. ἔστι δὲ χαλεπὸν ἐνίοτε διακρῖναι ποῖον ἀντὶ ποίου αἱρετέον καὶ τί ἀντὶ τίνος ὑπομενετέον, ἔτι δὲ χαλεπώτερον ἐμμεῖναι τοῖς γνωσθεῖσιν· ὡς γὰρ ἐπὶ τὸ πολύ ἐστι τὰ μὲν προσδοκώμενα λυπηρά, ἅ δ’ ἀναγκάζονται αἰσχρά, ὅθεν ἔπαινοι καὶ ψόγοι γίνονται περὶ τοὺς ἀναγκασθέντας ἢ μή. Joachim hat m. E. zutreffend erläutert, wie der Sinn von „ἀντί“ in diesem Satz und im Folgenden zu verstehen ist (vgl. Joachim 1951, 98 sowie im Anschluss Gauthier/Jolif 1970, 174). Die handelnde Person vergleicht die Vor- und Nachteile einer Handlung, bevor sie entscheidet, diese auszuführen oder nicht, d. h. sie wägt z. B. die schlimmen Konsequenzen einer Handlung gegen deren gute Folgen ab, um zu entscheiden, ob sie die negativen Folgen als Preis für die positiven Folgen in Kauf zu nehmen bereit ist. Es geht folglich nicht darum, dass jemand sich zwischen Handlungsalternativen entscheidet, sondern um den Vergleich zwischen den Vor- und Nachteilen derselben Handlung (Joachim verweist zur weiteren Illustration dieser Verwendung von „ἀντί“ auf Rhet. II, 1399b13 – 19). Eine ähnliche Typologie in knapper Form präsentiert bereits Grant (Grant 1866, 7). Echeñique formuliert eine detaillierte Typologie, die sehr hilfreich ist und an die ich meine eigene Rekonstruktion anlehne (Echeñique 2012, 113 – 133). Echeñique vertritt dabei die Ansicht, dass es sich bei Fällen der zweiten Gruppe um Handlungen handelt, die unter Zwang, aber nicht aus Gewalt (anankazomenos kai mê bia[i]) geschehen (Echeñique 2012, 113). Diese Deutung beruht darauf, dass Echeñique in den Zeilen 1225a17– 19 die von Bonitz und Fritzsche getilgte Negation
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2 Gewalt und Zwang als Ausschlusskriterien für Willentlichkeit
[I]
Eine Person S führt eine Handlung x aus, entweder um etwas y zu verhindern, das objektiv²³⁸ schlimmer und schmerzvoller ist als x, oder um etwas z zu erreichen, das objektiv besser und weniger schmerzvoll ist, als wenn x nicht getan wird. [II] Eine Person S führt eine Handlung x aus, entweder um etwas y zu verhindern, das objektiv weniger schlimm und weniger schmerzvoll ist als x, oder um etwas z zu erreichen, das objektiv weniger gut und weniger lustvoll ist, als wenn x nicht getan wird. [III] Eine Person S führt eine Handlung x aus, die nicht zu tun die menschliche Natur übersteigt. [IV] Eine Person S führt eine Handlung x aus, die so schlimm ist, dass man sie nicht wählen soll, sondern stattdessen das Schlimmste und den Tod ertragen soll.
Alle vier Gruppen beinhalten Handlungen, die eine Person zwar aufgrund einer gewaltsamen Einwirkung wählt, die sie aber ohne die gewaltsame Einwirkung unter normalen Umständen nicht gewählt hätte. Die ersten beiden Gruppen umfassen dabei Fälle, denen es gemeinsam ist, dass es bei der Person liegt, die gewaltsame Einwirkung auszuhalten, d. h., dass sie sich dieser auch widersetzen kann. Dadurch unterscheiden sich diese Fälle von jenen der Gruppe [III], bei denen die gewaltsame Einwirkung derart ist, dass sie die menschliche Natur übersteigt und es deshalb nicht bei der handelnden Person liegt, sie zu ertragen.²³⁹ Fälle der Gruppe [IV] verstehe ich wiederum als solche, bei denen die handelnde Person einer gewaltsamen Einwirkung ausgesetzt ist, die sie zu einer schlimmen Handlung zwingt, der sie aber standzuhalten vermag. Die erzwungene Handlung ist dabei so schlimm, dass man eher die schlimmsten Dinge, wie z. B. den eigenen Tod, ertragen sollte, als sie zu wählen. Ich betrachte zunächst, wie Aristoteles zwischen Fällen der Gruppen [I] und [II] differenziert, und erörtere anschließend Fälle der Gruppen [III] und [IV].
vor „βίᾳ“ beibehält, so dass es den Anschein hat, als wolle Aristoteles hier einen Unterschied zwischen Handlungen unter Zwang und Handlungen aus Gewalt machen. Ich habe den Dissens, ob die Negation zu lesen ist oder nicht, im Abschnitt „2.2.3 Differenziert Aristoteles sachlich zwischen bia und anankê?“ behandelt. Ich lese ebenfalls die Negation, v. a. weil sie in den MSS überliefert ist. Die Bedeutung der Redeweise von „objektiv“ werde ich weiter unten erläutern. Echeñique versucht diesen Unterschied dadurch zum Ausdruck zu bringen, dass er bei Fällen der Gruppen [I] und [II] von „non-substantive coercion“ und bei Gruppe [III] von „substantive coercion“ spricht, wobei für jene im Gegensatz zur dieser gilt, dass die handelnde Person einem derartigen Zwang ausgeliefert ist, dass es nicht bei ihr liegt, diesem zu widerstehen (vgl. Echeñique 2012, Kap. 4).
2.3 „Gemischte Handlungen“ als umstrittene Fälle gewaltsamer Handlungen
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2.3.4.1 Fälle der Gruppen [I] und [II]: Lobens- und tadelnswerte „gemischte Handlungen“ Auch wenn die Beschreibungen der jeweiligen Handlungen ähnlich lauten und einander ergänzen,²⁴⁰ macht Aristoteles die Abgrenzung zwischen den Gruppen [I] und [II] in der EE und der EN auf unterschiedliche Weise deutlich. In der EN differenziert er, indem er sagt, dass jemand für eine Handlung der Gruppe [I] gelobt wird, während jemand, der eine Handlung der Gruppe [II] ausführt, Tadel verdient. In der EE trifft er die Unterscheidung zwischen den beiden Gruppen, indem er von Fällen der Gruppe [II] sagt, es sei lächerlich (geloios), wenn sich die handelnde Person darauf beruft, aus Gewalt und unter Zwang gehandelt zu haben, während er dies bei Fällen der Gruppe [I], in denen jemand handelt, um ein größeres Übel oder etwas Schmerzhaftes zu vermeiden, offenbar für berechtigt hält. In keiner der beiden Schriften ordnet Aristoteles den Gruppen [I] und [II] eindeutige Beispiele zu, aber man könnte dafürhalten, die in der EN unmittelbar zuvor erörterten Beispiele des Tyrannen und des Kapitäns der Gruppe [I] zuzuordnen. Denn er beschreibt „gemischte Handlungen“ zunächst allgemein dadurch, dass die handelnde Person „aus Furcht vor größeren Übeln oder aufgrund von etwas Schönem“ (dia phobon meizonôn kakôn prattein ê ho dia kalon ti) handelt; beim Beispiel des Tyrannen fügt er hinzu, dass die handelnde Person „etwas Schlimmes“ (aischron ti) tut, um Eltern und Kinder zu retten. Da Aristoteles bei der Charakterisierung von Fällen der Gruppe [I] ebenfalls davon spricht, dass jemand „etwas Schlimmes“ (aischron ti) als Preis „für große und schöne Dinge“ (megalôn kai kalôn) erträgt, halte ich es für naheliegend, das Beispiel des Tyrannen und auch das des Kapitäns als Beispiele für die Gruppe [I] anzusehen.²⁴¹ Dies ist jedoch umstritten, und manche Kommentatoren haben andere eigene Beispiele für Fälle der Gruppe [I] gegeben.²⁴² Auf die damit verbundene Kontro-
Über Fälle der Gruppe [I] sagt Aristoteles in der EE, dass jemand handelt, um ein größeres Übel und etwas Schmerzhafteres (meizon kakon kai lypêroteron) (bzw. starke Schmerzen, algê ischyrôs êmera) zu vermeiden als das, was er zu ertragen hätte, wenn er nicht handelte. Die Beschreibung in der EN fügt dem nichts Wichtiges hinzu, wenn die Fälle dadurch charakterisiert werden, dass jemand etwas Schlimmes oder Schmerzvolles (aischron ti ê lypêron) als Preis für große und schöne Dinge (megalôn kai kalôn) erträgt. Für Fälle der Gruppe [II] gibt Aristoteles in der EE die Beschreibung, dass jemand in diesem Fall handelt, um milde Schmerzen ([algê] êrema) zu vermeiden; in der EN wird dies dadurch ergänzt, dass jemand das Schlimmste (aischistha) für etwas erträgt, das gar nicht oder nur mäßig schön (mêdeni kalô[i] ê metriô[i]) ist. Das Große und Schöne scheinen in beiden Beispielen in erster Linie die geretteten Menschenleben zu sein. Aspasius gibt etwa als Beispiel für eine erzwungene Handlung in Hinblick auf Gruppe [I] eine Handlung an, die zwar auch schlimm und schmerzvoll für die handelnde Person ist (das
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2 Gewalt und Zwang als Ausschlusskriterien für Willentlichkeit
verse werde ich im letzten Abschnitt eingehen.²⁴³ Ein konkretes Beispiel für die Gruppe [II] lässt sich in der EE ausmachen, wenn man der Deutung der Kommentatoren folgt,²⁴⁴ dass mit „ψηλαφῶν“ das Blinde-Kuh-Spiel bezeichnet wird. Als lächerlich wird demnach bezeichnet, wenn jemand tötet, um zu verhindern, im Spiel ergriffen zu werden, und sich zu seiner Entschuldigung darauf beruft, unwillentlich gehandelt zu haben. Wenn wir demnach davon ausgehen, dass sich einerseits die Fälle der Gruppen [I] und [II] in der EE und der EN entsprechen und es sich dabei um Arten „gemischter Handlungen“ handelt, Aristoteles andererseits „gemischte Handlungen“ in der EE als unwillentlich, in der EN dagegen als willentlich ansieht, so stellt sich die Frage, ob eine Betrachtung verschiedener Fälle der beiden Gruppen für ihn möglicherweise ein Grund gewesen ist, seine Ansicht zur Willentlichkeit „gemischter Handlungen“ zu revidieren. In der EN unterscheidet er zwischen den Gruppen [I] und [II], indem er sagt, dass Erstere Lob, Letztere hingegen Tadel verdienen. Lob und Tadel beziehen sich nach Aristoteles auf Willentliches;²⁴⁵ Lob gebührt dem Tugendhaften für seine Handlungen, Tadel verdient der Lasterhafte für seine Handlungen.²⁴⁶ Anhand dieser Beschreibung lässt sich auch erläutern, in welchem Sinn in der allgemeinen Charakterisierung der Gruppen [I] und [II] die Rede von „objektiv“ zu verstehen ist.²⁴⁷ Im objektiven Sinn ist etwas y schlimmer
öffentliche Auftreten eines Mannes in Frauenkleidern), die aber nicht als eine moralisch schlechte Handlung wie z. B. das Wegwerfen von Gütern oder gar das Töten zu betrachten ist (Aspasius in Eth. Nic. CAG XIX/1 61.26 – 28). Dadurch wird die Frage umgangen, ob Aristoteles angenommen hat, dass unter Zwang auch der Tugendhafte moralisch schlechte Handlungen ausführen kann. Die Kontroverse wird in der neueren Literatur unter dem Stichwort „Theory of Dirty hands“ geführt. Ich gehe darauf näher ein im Abschnitt „2.3.5 Hat Aristoteles Dirty hands-Handlungen angenommen?“. Vgl. meine Anm. 213, S. 84. Vgl. z. B. EN III 1, 1109b30 – 35: „Da die Tugend es mit Emotionen und Handlungen zu tun hat, und da das Willentliche Lob und Tadel erhält, das Unwillentliche hingegen Entschuldigung und manchmal Mitleid, müssen vermutlich diejenigen, die die Tugend untersuchen, das Willentliche und das Unwillentliche voneinander abgrenzen, und dies ist auch für die Gesetzgeber in Hinblick auf Ehrungen und Strafen nützlich.“ Vgl. z. B. EN I 12, 1101b31– 32: „Das Lob gebührt nämlich der Tugend, denn dank ihr sind wir befähigt, gute Handlungen auszuführen; […].“ Vgl. auch EN II 4, 1105b31– 1106a2: „[…] denn wir werden nicht entsprechend der Emotionen gelobt oder getadelt (denn man lobt nicht den, der Furcht oder Zorn empfindet, und tadelt nicht den, der schlechthin erzürnt ist, sondern den, der das auf eine bestimmte Weise ist); vielmehr lobt oder tadelt man entsprechend der Tugenden und der Laster.“ Auf den Zusammenhang zwischen der Lobens- und Tadelnswürdigkeit von Handlungen und den zugrundeliegenden Charakterdispositionen werde ich insbesondere im letzten Kapitel ausführlich eingehen: vgl. „13. Willentlichkeit und Zurechenbarkeit von Charakterdispositionen“.
2.3 „Gemischte Handlungen“ als umstrittene Fälle gewaltsamer Handlungen
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und schmerzvoller als eine Handlung x, wenn der Tugendhafte in dieser Situation x tun würde, um y zu verhindern.²⁴⁸ Da Aristoteles „gemischte Handlungen“ in der EN als willentlich ansieht, kann er sie danach differenzieren, ob sie Lob oder Tadel verdienen, und da Lob und Tadel jeweils das Tugendhafte und das Lasterhafte anzeigen, bietet dies eine argumentative Grundlage, um Fälle der Gruppe [I] von Fällen der Gruppe [II] abzugrenzen. In der EE sieht Aristoteles Fälle der Gruppen [I] und [II] als unwillentlich an. Dennoch differenziert er auch hier zwischen beiden Gruppen. Indem er es bei Fällen der Gruppe [II] als lächerlich bezeichnet, wenn sich jemand darauf beruft, aus Gewalt gehandelt zu haben, kommt zwar zum Ausdruck, dass er es anscheinend auch in der EE nur bei Fällen der Gruppe [I] als berechtigt ansieht, sich für seine schlimme Handlung damit zu entschuldigen, aus Gewalt gehandelt zu haben. Doch auf welcher Grundlage fußt seine Kritik, wenn jemand dies in Fällen der Gruppe [II] tut? In beiden Fällen handelt die Person unwillentlich, und aus Sicht der handelnden Person mag es auch in Fällen der Gruppe [II] den Anschein haben, als handele sie aus Gewalt. Dieser Abgrenzung fehlt in der EE jedoch eine argumentative Grundlage. Sie erfolgt willkürlich, da es sich bei Fällen beider Gruppen um unwillentliche Handlungen handelt und ihnen daher weder Lob noch Tadel gebührt. Diese Unzulänglichkeit könnte Grund dafür gewesen sein, dass Aristoteles seine Ansicht zur Willentlichkeit „gemischter Handlungen“ in der EN gegenüber der Auffassung in der EE revidiert hat. Es ist jedoch auch eine alternative Deutung möglich, wenn man zur Erläuterung eine Bemerkung hinzunimmt, die Aristoteles wenig später in der EE (1225a22– 25) gibt und die sich als eine allgemeine Beschreibung der Differenz zwischen Fällen der Gruppen [I] und [II] verstehen lässt: [EE II 8, 1225a22– 25]²⁴⁹ Und jemand scheint dann eher (mallon) aus Gewalt und unwillentlich zu handeln, wenn er handelt, um starke Schmerzen zu vermeiden, als um milde zu verhindern; und im Allgemeinen eher dann, wenn er handelt, um Schmerzen zu vermeiden als Lust zu meiden [Hervorhebung BL].
Entsprechend gilt auch: Im objektiven Sinn ist etwas z besser und weniger schmerzvoll als eine Handlung x, wenn der Tugendhafte in dieser Situation x tun würde, um z zu erreichen. Ferner ist etwas y im objektiven Sinn weniger schlimm und schmerzhaft als eine Handlung x, wenn der Tugendhafte in dieser Situation x nicht tun würde, um y zu verhindern. Schließlich ist etwas z im objektiven Sinn weniger gut und weniger lustvoll als eine Handlung x, wenn der Tugendhafte in dieser Situation x nicht tun würde, um z zu erreichen. EE II 8, 1225a22– 25: καὶ μᾶλλον ἂν δόξειε βίᾳ καὶ ἄκων πράττειν, ἵνα μὴ ἀλγῇ ἰσχυρῶς, ἢ ἵνα μὴ ἠμέρα, καὶ ὅλως ἵνα μὴ ἀλγῇ ἢ ἵνα μὴ χαίρῃ.
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2 Gewalt und Zwang als Ausschlusskriterien für Willentlichkeit
Indem Aristoteles eine Handlung, die jemand ausführt, um starke Schmerzen zu vermeiden, als eher (mallon) unwillentlich bezeichnet, als eine Handlung, die jemand wählt, um milde Schmerzen zu vermeiden, verwendet er offenbar einen graduierbaren Begriff von Unwillentlichkeit. Beide Handlungen sind zwar unwillentlich, weil sie aus Gewalt geschehen, aber die eine ist unwillentlicher als die andere, weil sie eher bzw. mehr aus Gewalt als die andere geschieht. In Bezug auf die Beispiele ließe sich dann sagen, dass jemand, der beim Blinde-Kuh-Spiel einen anderen tötet, um zu verhindern, gefangen zu werden, weniger unwillentlich handelt als jemand, der tötet, um ein großes Übel zu verhindern. Jener hat getötet, um milden Schmerzen auszuweichen, dieser dagegen, um starke Schmerzen zu vermeiden. Deshalb handelt jener weniger unwillentlich als dieser und verdient es daher weniger, für sein Handeln entschuldigt zu werden. Wenn man somit annimmt, dass der graduierbare Begriff von Unwillentlichkeit implizit auch der unterschiedlichen Beurteilung von Fällen der Gruppen [I] und [II] zugrunde liegt, so lässt sich auch für die Differenzierung in der EE eine argumentative Grundlage finden.
2.3.4.2 Fälle der Gruppen [III] und [IV]: Handlungen unter überwältigender Gewalt Fälle der Gruppe [III] charakterisiert Aristoteles in beiden Ethiken als Handlungen, die eine Person aufgrund einer gewaltsamen Einwirkung gewählt hat und ohne die sie die Handlung nicht gewählt hätte, wobei die gewaltsame Einwirkung derart ist, dass sie die menschliche Natur übersteigt und niemand sie auszuhalten vermag.²⁵⁰ In der EE gibt er im Gegensatz zur EN noch Beispiele für solche Arten gewaltsamer Einwirkungen. Er sagt, dass viele die leidenschaftliche Liebe (erôs), Arten von Zorn (thymos) und die natürlichen Dinge als so stark ansehen, dass
Die allgemeinen Beschreibungen von Fällen der Gruppe [III] entsprechen einander weitgehend und weichen nur in Nuancen voneinander ab, die sich am besten als hilfreiche Präzisierungen oder als alternative Formulierungen verstehen lassen. Eine Präzisierung besteht darin, dass Aristoteles in der EN explizit von der „menschlichen Natur“ (tên anthrôpinên physin) spricht, während in der EE nur allgemein von der Natur die Rede ist. Grund dafür könnte wiederum sein, dass er in der EE bei seiner Behandlung des Unwillentlichen und Willentlichen von einem allgemeinen metaphysischen Rahmen ausgeht. Allerdings wurde der Rahmen bereits durch die beiden Kriterien für gewaltsame Handlungen und die Testfälle des Beherrschten und Unbeherrschten auf vernünftige Lebewesen verengt, so dass in der Passage der Typologie feststeht, dass es nur noch um die menschliche Natur geht.
2.3 „Gemischte Handlungen“ als umstrittene Fälle gewaltsamer Handlungen
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deren Kraft die (menschliche) Natur übersteigt (1225a19 – 22).²⁵¹ Zu beachten ist hier freilich, dass Aristoteles durch die Anleihe bei der Meinung der „vielen“ sich selbst nicht darauf festlegt, diese Beispiele allesamt als unwiderstehliche Arten von gewaltsamer Einwirkung anzusehen. Mehr Zustimmung signalisiert die darauffolgende Formulierung, dass wir bei denen, die unter göttlichem Einfluss stehen oder Prophezeiungen machen, nicht sagen, dass ihr Tun und Sprechen bei ihnen lag (1225a27– 30). Aber auch selbst wenn nicht im Fall jedes einzelnen Beispiels gesagt werden kann, ob Aristoteles es tatsächlich als eine gewaltsame Einwirkung ansähe, die „von Natur aus die (menschliche) Natur bezwingt“, so ist doch klar, dass er zumindest einige natürliche oder spezifisch menschliche Affekte tatsächlich als Faktoren anerkennt, die Handlungen bewirken können, die zu entschuldigen sind. Ein natürlicher Affekt, der Lebewesen aufgrund ihrer Natur widerfährt, ist z. B. Dehydrierung, die jedes Lebewesen dazu zwingen kann, nach Flüssigem zu streben. Ein spezifisch menschlicher Affekt, der Menschen (im Normalfall) aufgrund ihrer menschlichen Natur befällt, ist z. B., wenn jemand bei einer Naturkatastrophe wie einem Tsunami Furcht zeigt, die so stark sein mag, dass sie einen zum Fliehen zwingt.²⁵² Sowohl bei einem natürlichen als auch bei einem menschlichen Affekt ist es möglich, dass der Affekt die (menschliche) Natur bezwingt und gewaltsam auf ein Lebewesen einwirkt, so dass es infolge des überwältigenden Affekts unwillentlich handelt. Fälle der Gruppe [III] unterscheiden sich weiterhin dadurch von solchen der Gruppen [I] und [II], dass sie eine andere Reaktion verdienen. In beiden Passagen sagt Aristoteles, dass Personen für solche Handlungen syngnômê gebührt. Ich habe den Ausdruck „συγγνώμη“ mit „Verzeihung“ übersetzt, er lässt sich im Deutschen aber auch mit „Entschuldigung“, „Nachsicht“ oder gar „Mitleid“, „Mitgefühl“ übersetzen.²⁵³ Die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks im Griechischen erschwert nicht nur die Übersetzung, sondern auch das Verständnis der Textpassagen:
Auf die paradox anmutende Formulierung macht Woods aufmerksam (Woods 2005, 135). Gemeint ist wohl, dass die natürliche Konstitution Zustände hervorbringen kann, deren Wirkungen sie selbst nicht mehr zu kontrollieren vermag. Dass auch Aristoteles das Beispiel eines furchteinflössenden Tsunamis vor Augen gehabt haben könnte, zeigt folgende Textstelle: EN III 10, 1115b26 – 27: […] einer möge irgendwie wahnsinnig oder unempfindlich heißen, wenn er nichts fürchtete, weder Erdbeben noch Wellen […].“ Im Englischen finden sich in Entsprechung zu den deutschen Übersetzungen „pardon“, „mitigation“ und „excuse“ und darüber hinaus kommt auch „sympathy“ vor (Echeñique, Rowe), dem im Deutschen „Mitleid“ am nächsten kommt. Dem deutschen „Mitleid“ entspricht im Griechischen allerdings eher „ἔλεος“, und da Aristoteles zu Beginn von Buch III (EN 1109b32) „συγγνώμη“ und „ἔλεος“ in Abgrenzung zueinander gebraucht, ist es problematisch, ihnen annähernd dieselbe Bedeutung beizulegen (vgl. auch Taylor 2006, 135).
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2 Gewalt und Zwang als Ausschlusskriterien für Willentlichkeit
[Kenny 1979]²⁵⁴ Both words [i. e. “συγγνώμη” and “ἔλεος”] are ambiguous: the first may mean ʻexcuseʼ or ʻpardonʼ, the second may mean ʻpityʼ or ʻmercyʼ. The differences between the English terms in each pair are important: where there is mercy or pardon, a genuine fault has been committed but punishment is remitted; excuse, however, at least diminishes, and pity is totally divorced from, culpability. [Taylor 2006]²⁵⁵ Strictly, a successful plea of excuse establishes that the agent did no wrong, while pardon, mitigation, and sympathy are all attitudes which assume that, while the agent did wrong, blame and punishment should either be withheld altogether or moderated to some degree.
Wird „συγγνώμη“ im Deutschen mit „Verzeihung“ (bzw. im Englischen mit „pardon“, „forgiveness“ oder „mitigation“)²⁵⁶ übersetzt, so suggeriert das, dass eine Person zwar willentlich etwas Schlimmes getan hat, dass es aber entlastende Gesichtspunkte gibt, aufgrund deren der Person ihr Handeln nachgesehen wird und nicht zur Last gelegt werden sollte.²⁵⁷ Wenn der Ausdruck stattdessen mit „Entschuldigung“ („excuse“) oder gar „Mitleid“ (bzw. „pity“)²⁵⁸ wiedergegeben wird, so legt das nahe, dass jemand unwillentlich etwas Schlimmes getan hat, so dass die Person für ihr Handeln weder Lob noch Tadel verdient und vielmehr frei von jeglicher Verantwortung ist.²⁵⁹ Bedenkt man, dass Aristoteles in der EE „gemischte Handlungen“ bzw. Handlungen, die eine Person aufgrund einer gewaltsamen Einwirkung gewählt
Kenny 1979, 28. Taylor 2006, 135. Bei der englischen Übersetzung „sympathy“ für „συγγνώμη“ erscheint es mir diskutabel, sie wie Taylor den Übersetzungen „pardon“ und „mitigation“ gleichzustellen. In meinen Augen entspricht der Ausdruck eher dem deutschen „Mitleid“, dessen Verwendung darauf hindeutet, dass jemand unwillentlich etwas Schlimmes getan hat. So versteht und verwendet z. B. Echeñique „sympathy“ (vgl. Echeñique 2012, 145). Ebenfalls diskutabel erscheint mir Kennys Einschätzung von „mercy“ als Übersetzung von „ἔλεος“. In meinen Augen entspricht auch dieser Ausdruck eher dem deutschen „Mitleid“ und legt somit unwillentliches Handeln nahe. Es fällt auf, dass Aristoteles bei den Beispielen der Gruppe [III] offenbar nur an solche Fälle denkt, in denen eine Person eine schlimme Handlung ausführt, die ihr verziehen wird. Unbeachtet bleibt der denkbare Fall, dass eine Person aufgrund einer gewaltsamen Einwirkung, der ihre Natur nicht standzuhalten vermag, etwas Gutes tut, für das sie im Normalfall Lob verdient hätte. In dieser Situation wäre die Reaktion, die der Verzeihung im negativen Fall entspricht, vermutlich so etwas wie Gleichgültigkeit bzw. wertende Indifferenz. Ich würde noch hinzufügen: „sympathy“, vgl. Anm. 256. Vgl. auch Siegler 1968, Anm. 9, 275: „‚Sungnômaiʻ can mean ‚forgiveʻ, ‚excuseʻ, ‚accept his apologyʻ, ‚have fellow feeling withʻ, ‚feel sorry forʻ, ‚consoleʻ or ‚be lenient withʻ. But clearly it makes no sense to forgive an involuntary act. For forgiving presupposes some voluntary wrongdoing [Hervorhebung BL].“
2.3 „Gemischte Handlungen“ als umstrittene Fälle gewaltsamer Handlungen
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hat und die sie ohne die gewaltsame Einwirkung nicht gewählt hätte, als unwillentlich, in der EN hingegen offenbar als willentlich ansieht, so ist klar, dass die Übersetzung von „συγγνώμη“ bzw. die dem Ausdruck dadurch beigelegte Bedeutung zentral für unser Verständnis dieser Textstellen ist. In der EE scheinen die natürlichsten Übersetzungen für „συγγνώμη“ „Entschuldigung“ oder „Mitleid“ („excuse“ oder „sympathy“) zu sein, da Aristoteles „gemischte Handlungen“ hier als unwillentlich ansieht.²⁶⁰ Fälle der Gruppe [III] zeichnen sich ihrer Beschreibung nach dadurch aus, dass die gewaltsame Einwirkung die menschliche Natur übersteigt und niemand ihr standzuhalten vermag. Das nächstliegende Verständnis dieser Beschreibung ist, dass es in solchen Fällen nicht bei der handelnden Person liegt, anders zu handeln, und sie daher unwillentlich handelt. Aristoteles’ Ansicht in der EE, dass Handlungen, die eine Person aufgrund einer gewaltsamen Einwirkung gewählt hat und die sie ohne die gewaltsame Einwirkung nicht gewählt hätte, unwillentlich geschehen, erwiese sich demnach für Fälle der Gruppe [III] als adäquat, und die angemessene Reaktion auf Handlungen dieser Art sind Entschuldigung oder gar Mitleid. In der EN stellt sich die Situation dagegen verzwickter dar. Für die Frage, wie „συγγνώμη“ im Kontext der Betrachtung von Handlungen, die eine Person aufgrund einer gewaltsamen Einwirkung gewählt hat und die sie ohne die gewaltsame Einwirkung nicht gewählt hätte, adäquat zu verstehen ist, kommt erschwerend hinzu, dass Aristoteles zu Beginn von Buch III sagt, dass das Unwillentliche syngnômê und manchmal eleos hervorruft, während das Willentliche Lob und Tadel erhält. Diese Aussage legt als angemessene Übersetzung für „συγγνώμη“ „Entschuldigung“ und für „ἔλεος“ „Mitleid“ nahe. Wenn wir nun von einer konsistenten Verwendungsweise der Ausdrücke ausgehen, ist anzunehmen, dass „συγγνώμη“ auch später in Bezug auf Fälle der Gruppe [III] im Sinn von Entschuldigung zu verstehen ist. Dies würde bedeuten, dass er Fälle der Gruppe [III] – im Gegensatz zu jenen der Gruppen [I] und [II], aber in Übereinstimmung mit der EE – als unwillentlich auffasste. Die Charakterisierung von Fällen der Gruppe [III], derzufolge die gewaltsame Einwirkung die menschlichen Kräfte übersteigt, spricht zudem dafür, dass solche Handlungen unwillentlich geschehen, da anscheinend eine Situation vorliegt, in der es nicht bei der handelnden Person liegt, die Handlung nicht auszuführen. Es sieht demnach danach aus, als betrachte Aristoteles Fälle der Gruppe [III] nicht als „gemischte Hand-
Erstaunlich ist freilich, dass die meisten Übersetzungen anders verfahren und Derivate von „pardon“ (Woods), „forgiveness“ (Inwood/Woolf; Simpson) oder „sympathy“ (Echeñique) verwenden. Anders verfährt Meyer, die sich für „excuse“ entscheidet; Dirlmeier übersetzt mit „nachsichtig“, was sich im Sinn von „entschuldigen“ verstehen lässt.
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2 Gewalt und Zwang als Ausschlusskriterien für Willentlichkeit
lungen“ im bisher erläuterten Sinn, da es für sie keine Beschreibung zu geben scheint, derzufolge sie willentlich geschehen.²⁶¹ Gegen diese Deutung lässt sich jedoch einwenden, dass sie nicht zum Kontext zu passen scheint, weil die direkte Fortsetzung des Textes dagegenspricht. Als nächstes führt Aristoteles Fälle der Gruppe [IV] ein, die sich dadurch auszeichnen, dass die Handlung, zu der eine Person gezwungen wird, derart schlimm ist, dass niemand sich dazu zwingen lassen sollte, sondern stattdessen das Schlimmste und der Tod in Kauf zu nehmen sind. Da Sollen Aristoteles zufolge Können impliziert, setzen solche Fälle voraus, dass die handelnde Person sich der gewaltsamen Einwirkung widersetzen kann, so dass ihr Handeln folglich willentlich ist. Zudem könnte man das Beispiel, das Aristoteles für die Gruppe [IV] gibt, so auffassen, als wähle jemand wie Alkmaion eine schlimme Handlung, weil er derart große Furcht empfindet, dass sie ihn dazu zwingt. Da Aristoteles im Folgenden deutlich macht, dass er Handlungen, die aufgrund von Emotionen wie z. B. aus Zorn oder aus Begierde geschehen, nicht als unwillentlich ansieht,²⁶² änderte auch die Furcht, die Alkmaion zum Handeln zwingt, nichts daran, dass er willentlich handelt. Es wirkt nun aber irritierend, wenn er willkürlich und ohne Hinweis zwischen willentlichen und unwillentlichen Arten von „gemischten Handlungen“ hin- und herwechselte.²⁶³ Der Kontext deutet daher darauf hin, dass Fälle der Gruppe [III] in der EN auch als willentliche („gemischte“)²⁶⁴ Handlungen aufzufassen sind, so dass „συγγνώμη“ hier passend mit „Verzeihung“ (bzw.
Das würde bedeuten, dass die Typologie entweder nicht nur „gemischte Handlungen“ umfasst, sondern auch schlechthin unwillentliche Handlungen, oder dass nicht für alle „gemischten Handlungen“ gilt, dass sie eher willentlich sind, sondern dass es auch solche gibt, die unwillentlich geschehen. Vgl. EN III 1, 1110b9 – 17 und 1111a20 – b3, vgl. insb. 1111a33 – b3: „Ferner: Wie unterscheiden sich in Hinblick auf die Willenlichkeit Fehler infolge von Überlegung von Fehlern infolge von Zorn? Beide sind nämlich zu meiden, doch die unvernünftigen Begierden scheinen nicht weniger menschlich zu sein, so dass auch Handlungen aus Zorn und Begierde zum Menschen gehören. Es ist daher absurd, diese als unwillentlich einzuordnen.“ Genau dies nimmt Echeñique an (Echeñique 2012, 145): „I think it is more plausible to think that EN 1110a23 – 9 agrees with the Ethica Eudemia in that the overwhelmed, coerced agent acts involuntarily, while also allowing for limiting cases – which the Ethica Eudemia does not explicitly recognise.“ Explizit verwendet Aristoteles die Bezeichnung „gemischte Handlungen“ nur einmal (1110a11) und es ist nicht klar, ob er alle Arten von Handlungen, die in der Typologie zur Sprache kommen, ebenfalls so bezeichnen würde. Da er aber meiner Deutung nach für alle Fälle von Handlungen, die in der Typologie vorkommen, annimmt, dass es von ihnen eine mögliche Beschreibung gibt, nach der sie willentlich geschehen (auch für Fälle der Gruppe [III]), sehe ich keinen Hinderungsgrund, Handlungen aller vier Gruppen als „gemischte Handlungen“ zu bezeichnen.
2.3 „Gemischte Handlungen“ als umstrittene Fälle gewaltsamer Handlungen
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„pardon“ oder „forgiveness“) zu übersetzen wäre. So spricht sich Nielsen z. B. deutlich für die Annahme aus, auch Fälle der Gruppe [III] als willentliche Handlung anzusehen: [Nielsen 2007]²⁶⁵ Aristotle resolves the aporia [sc. the aporia that arises about the voluntary and involuntary nature of coerced actions; BL] by concluding that coerced actions are really voluntary. Indeed, he holds that even when the threats overstrain human nature, and lead us to do things we should not have done, the consequent action is voluntary, although we pardon the agent.
Diese Deutung hat jedoch die Schwierigkeit, dass sie in Konflikt mit 1109b32 und anderen Textstellen²⁶⁶ steht, wo syngnômê auf Unwillentliches bezogen wird. Die Annahme, dass Aristoteles in der EN Fälle aller vier Gruppen als willentlich ansieht, ließe sich somit nur auf Kosten eines Eingeständnisses aufrechterhalten: Entweder muss eingeräumt werden, dass er „συγγνώμη“ innerhalb desselben Kontextes in wechselnden Bedeutungen verwendet, oder es muss gesagt werden, dass er syngnômê sowohl auf Unwillentliches als auch auf Willentliches bezieht.²⁶⁷ Da beide Alternativen wenig attraktiv sind und stärkere Gründe für die Unwillentlichkeit sprechen, bin ich letztlich der Ansicht, Fälle der Gruppe [III] als unwillentliche Handlungen zu betrachten und „συγγνώμη“ immer im Sinn von „Entschuldigung“ aufzufassen.²⁶⁸ Der Satz, in dem Fälle der Gruppe [III] beschrieben werden, ließe sich dann als eine Art Parenthese verstehen, die eingeschoben ist in die Aufzählung von drei verschiedenen Arten von willentlichen „gemischten Handlungen“, die aufgrund einer gewaltsamen Einwirkung geschehen.²⁶⁹
Vgl. Nielsen 2007, 277. Eine ähnliche Ansicht wird ebenfalls vertreten von: Burnet 1900, 115; Kenny 1979, 34– 35; Meyer 2011, 98 – 100; Sorabji 1980, 260 – 276. Die Gegenposition vertritt Taylor, der an der Annahme der Unwillentlichkeit solcher Handlungen festhält (Taylor 2006, 136): „If it is impossible for me (or indeed for any human being) to hold out against it, then in no sense is it up to me whether or not I do hold out. Such ‚actionsʻ seem not to be actions strictly speaking, but involuntary pathê, in which the agent is acted on by irresistible force, like mariner swept away by a storm.“ Z. B. 1111a1– 2. Die zweite Alternative diskutiert Taylor, hält sie aber für problematisch, da sie zur Annahme einer asymmetrischen Verwendung von Lob und Tadel auf der einen Seite und syngnômê auf der anderen führte: Lob und Tadel bezögen sich ausschließlich auf Willentliches, syngnômê dagegen auf Willentliches und Unwillentliches (Taylor 2006, 136). Ähnlich auch Echeñique 2012, 144– 147. Aristoteles erläutert συγγνώμη in EN VI 11 als die richtige Einsicht (gnômê) über das Billige (epieikês), d. h. als das richtige Urteil in jenen Fällen, die nicht durch das geschriebene Gesetz
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Der anschließende Übergang zu Fällen der Gruppe [IV] ist dann nicht so zu verstehen, als würde hiermit ein Sonderfall der Gruppe [III] eingeführt, und zwar der Fall, bei dem Widerstand gegen die gewaltsame Einwirkung möglich und sogar geboten ist, weil die erzwungene Handlung derart schlimm ist, dass man sie nicht wählen, sondern eher das Schlimmste ertragen soll, selbst wenn die gewaltsame Einwirkung die menschliche Natur übersteigt.²⁷⁰ Verbindet man die Fälle der Gruppen [III] und [IV] und fasst diese als Unterfälle jener auf, so ergeben sich Schwierigkeiten, mit deren Erklärung viele Kommentatoren ringen.²⁷¹ Aristoteles scheint dann nämlich unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe zu vermengen:²⁷² Zunächst verwendet er ein psychologisches Kriterium, das suggeriert, es gebe Dinge, denen die menschliche Natur nicht widerstehen kann.²⁷³ Danach gebraucht er ein normatives Kriterium (ouk estin), das impliziert, dass es bei der abgedeckt sind (EN VI 11, 1143a19 – 24: „Die sogenannte Nachsicht, in Bezug auf die wir jemanden nachsichtig nennen und sagen, dass er Einsicht hat, ist das richtige Urteil über das Billige. Ein Anzeichen dafür ist folgendes: Es ist nämlich ein Billiger, von dem wir am meisten sagen, dass er der Nachsicht zugeneigt ist, und dass es billig ist, bei manchen Dingen Nachsicht zu haben. Nachsicht ist die richtige beurteilende Einsicht über das Billige. Und richtig ist das, was das Wahre trifft.“ [ἡ δὲ καλουμένη γνώμη, καθ᾿ ἥν συγγνώμονας καὶ ἔχειν φαμὲν γνώμην, ἡ τοῦ ἐπιεικοῦς ἐστὶ κρίσις ὀρθή. σημεῖον δέ· τὸν γὰρ ἐπιεικῆ μάλιστά φαμεν εἶναι συγγνωμονικόν, καὶ ἐπιεικὲς τὸ ἔχειν περὶ ἔνια συγγνώμην. ἡ δὲ συγγώμη γνώμη ἐστὶ κριτικὴ τοῦ ἐπιεικοῦς ὀρθή· ὀρθὴ δ᾿ ἡ τοῦ ἀληθοῦς.] Aristoteles behandelt die Emotion des eleos ausführlich in Rhet. II 8 (vgl. zur Bestimmung von eleos: Rhet. II 8, 1385b13 – 16) und in der Poetik (vgl. insb.: Poet. 1449b27, 1452a2– 3 und 1452a36-b1 und 1452b32– 33, 1453b5, 12, 14). Die syngnômê behandelt er in der Rhet. I 13 ebenfalls wie in EN VI 11 im Zusammenhang mit der Billigkeit (Rhet. 1374b2– 23). Vgl. auch Meyer 1988. Dies impliziert natürlich, dass man die erzwungene Handlung auch dann nicht wählen soll, wenn nur eine gewaltsame Einwirkung, der die menschliche Natur sich leicht widersetzen kann, oder gar keine vorliegt. Burnet schreibt dazu (Burnet 1900, 115): „Still, even in this case, the act is not really involuntary; for there is no external compulsion, and the act may be such that the most painful death is preferable and will, therefore, be faced voluntarily“. Da Aristoteles das Willentliche und das Unwillentliche bis zu dieser Stelle in EN III als sich ausschließende Alternativen behandelt, ist klar, dass die Redeweise von „not really involuntary“ eine Verlegenheitslösung ist, die nicht zum Text passt. Da jeglicher Hinweis auf graduierbare Begriffe von Willentlichkeit und Unwillentlichkeit an dieser Stelle fehlt, ist Burnets Deutung nicht zu halten. Meyer unterscheidet in diesem Sinn zwischen „psychological compulsion“ und „rational compulsion“ (Meyer 2011, 98 – 100) und Taylor unterscheidet zwischen einer „psychological thesis“ und einer „moral thesis“ (Taylor 2006, 135). Echeñique hebt zu Recht hervor, dass hiermit nicht die Natur eines einzelnen Menschen in einer bestimmten Situation, sondern die menschliche Natur im Allgemeinen gemeint ist (Echeñique 2012, 129 – 130): „The notion of an impulse (or pain) that is ‚beyond natureʻ to resist (or withstand) is the notion of an impulse that overpowers human nature (phusis), rather than that of a desire which (as some philosophers like A. Mele maintain [sc. in: Mele 1992; BL]) overpowers this particular individual at a certain time.“
2.3 „Gemischte Handlungen“ als umstrittene Fälle gewaltsamer Handlungen
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handelnden Person liegt, zu handeln oder nicht zu handeln.²⁷⁴ Es führt jedoch in die Irre, wenn man versucht, die beiden Kriterien miteinander in Einklang zu bringen, da das normative Kriterium voraussetzt, dass jemand auch anders handeln kann. Da es somit zu einer inkonsistenten Ansicht führt, Fälle der Gruppen [III] und [IV] zu verbinden, die Aristoteles nicht ohne guten Grund zugeschrieben werden sollte, halte ich es für plausibler, die Gruppe [III] als einen Einschub zu verstehen, bevor mit Fällen der Gruppe [IV] noch ein dritter Fall von Handlungen unter gewaltsamer Einwirkung, bei denen Widerstand möglich ist, präsentiert wird. Wie aber ist das normative Kriterium, das in Fällen der Gruppe [IV] Anwendung findet, zu verstehen? Aristoteles charakterisiert solche Fälle dadurch, dass es hier kein Gezwungen-Werden gibt. Obwohl die handelnde Person unter einer gewaltsamen Einwirkung steht, soll sie dieser standhalten, weil die Dinge, zu denen sie gezwungen wird, derart schlimm sind, dass sie stattdessen eher die schimmsten Dinge ertragen soll, als dies zu tun. Als Beispiel nennt er den Fall des Alkmaion, und Aristoteles bezeichnet das, was Alkmaion zum Muttermord gezwungen hat, als lächerlich. In Euripides’ verlorenem Stück befiehlt Alkmaions Vater Amphiaraos seinem Sohn, seine Mutter Eriphyle zu töten. Eriphyle hat Amphiaraos gezwungen, am Zug der Sieben nach Theben teilzunehmen, und er hat als Seher seinen eigenen Tod bei dieser Unternehmung vorausgesehen. Um sich zu rächen, befiehlt er Alkmaion, sie zu töten, und droht ihm mit einem Fluch an, Hunger und Kinderlosigkeit zu erleiden, wenn er nicht seinem Befehl gehorcht. Alkmaion hat somit zwischen zwei schlimmen Handlungen zu wählen, nämlich entweder den Befehl seines Vaters zu missachten oder seine eigene Mutter zu töten. Was bezeichnet Aristoteles nun in diesem Beispiel als „lächerlich“ (geloia) und stellt es damit als Grund hin, eher die schlimmsten Dinge wie den eigenen Tod in Kauf zu nehmen, als diesem nachzugeben? Cooper ist der Ansicht, dass es in dem Beispiel für Alkmaion lächerlich wäre, sich zum Muttermord gezwungen zu fühlen, nur weil er befürchtet, dass sonst ein Gott den väterlichen Fluch wahrmachte.²⁷⁵ Die Tatsache, dass der Fluch und die Andro-
Taylor unternimmt den Versuch, beide Kriterien in einer Skala in Relation zueinander zu bringen (Taylor 2006, 137). Das ist jedoch problematisch, da das normative Kriterium die Möglichkeit alternativen Handelns voraussetzt. Cooper 2013, Anm. 29, 287: „But why is it ridiculous to claim coercion in this case? Presumably because it is ridiculous to think that any god could be brought, even by a murdered father’s curse, to visit anything bad on Alcmaeon for not murdering his mother! (…) Aristotle’s point is that, even if Alcmaeon trembled in fear of his father’s curse and that fear was among the emotions and desires that caused his action (idiotically superstitious as he may have been), it is not merely how you feel that determines whether you acted under coercion: there has to be,
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hung des Vaters Alkmaion eine solche Furcht einjagen, dass er dafür etwas derart Schlimmes wie Muttermord zu tun bereit ist, ist laut Cooper lächerlich. Diese Deutung scheint jedoch nicht gut zum Wortlaut des Textes zu passen. Denn dort werden die Dinge, die angedroht werden, und nicht die durch die Drohung eingeflößte Furcht als lächerlich bezeichnet (geloia phainetai ta anankasanta).²⁷⁶ Lächerlich wäre es demnach, dass sich Alkmaion durch die Drohung, Hunger und Kinderlosigkeit zu erleiden, gezwungen fühlt, seine Mutter zu töten. Irritieren mag an diesem Verständnis, dass Hunger und Kinderlosigkeit keine geringfügigen Übel sind, so dass es unpassend wirkt, sie als lächerlich zu bezeichnen. Dem lässt sich jedoch entgegenhalten, dass Aristoteles die Aussicht, Hunger und Kinderlosigkeit zu erleiden, im unmittelbaren Vergleich zum Muttermord tatsächlich als lächerliche Übel ansehen könnte. Muttermord ist eine derart schlimme Handlung, dass sie unter (so gut wie)²⁷⁷ keinen Umständen gewählt werden sollte, nicht einmal wenn dies bedeutet, selbst etwas derart Schlimmes wie Hunger und Kinderlosigkeit zu erleiden. Im Vergleich zum Muttermord sind diese Übel immer noch nur ein mildes Übel, und man sollte sie eher ertragen, als die wirklich schlimme Handlung zu begehen.
2.3.5 Hat Aristoteles Dirty hands-Handlungen angenommen? Abschließen will ich dieses Kapitel zu Aristoteles’ Behandlung von Gewalt bzw. Zwang mit einer Frage, die bereits am Rande zur Sprache gekommen ist, als ich nach passenden Beispielen für Fälle der Gruppe [I] gesucht habe. Diese Fälle waren Anlass für eine Kontroverse darüber, ob Aristoteles eine „Theorie der schmutzigen Hände“ (Theory of dirty hands) zuzuschreiben ist. Ein Vertreter dieser Theorie geht davon aus, dass es Handlungen gibt, sog. Dirty hands-Handlungen, die (i) zwar richtig oder gar geboten sind, die (ii) aber gleichwohl auf eine Art falsch und beschämend sind.²⁷⁸ Stocker vertritt die Ansicht, dass Aristoteles objectively speaking, something in human nature itself and human circumstances, as they actually are, that places real pressure on anyone in a situation similar to the agent’s.“ EN III 1, 1110a26 – 29: ἔνια δ’ ἴσως οὐκ ἔστιν ἀναγκασθῆναι, ἀλλὰ μᾶλλον ἀποθανετέον παθόντι τὰ δεινότατα· καὶ γὰρ τὸν Εὐριπίδου ᾿Aλκμαίωνα γελοῖα φαίνεται τὰ ἀναγκάσαντα μητροκτονῆσαι. Aristoteles drückt sich in der Beschreibung der Fälle der Gruppe [IV] vorsichtig aus, so dass Ausnahmen nach wie vor möglich bleiben. Er sagt zunächst, dass es bei Fällen der Gruppe [IV] „vielleicht“ kein Gezwungen-Werden gibt, und formuliert dann, dass man „eher“ die schlimmsten Dinge ertragen soll. Beides lässt Spielraum für denkbare Ausnahmen. Stocker 1986, 51– 52: „An act is one of dirty hands if (1) it is right, even obligatory, (2) but is none the less somehow wrong, shameful, and the like.“ Die Bezeichnung „Theory of Dirty Hands“
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ein Vertreter dieser Theorie ist und stützt sich dabei auf die Diskussion „gemischter Handlungen“ in EN III 1.²⁷⁹ Nach der Charakterisierung, die Aristoteles dort von „gemischten Handlungen“ und insbesondere von Fällen der Gruppe [I] gibt, erfüllen diese Handlungen laut Stocker die beiden Bedingungen für Dirty hands-Handlungen.²⁸⁰ Fälle der Gruppe [I] beschreibt Aristoteles derart, dass eine Person etwas Schlimmes oder Schmerzvolles als Preis für große und schöne Dinge erträgt und dafür Lob erfährt.²⁸¹ Die erste Bedingung für Dirty hands-Handlungen erfüllen diese Fälle eindeutig, weil sie um großer und schöner Dinge willen getan werden; dass sie dafür sogar gelobt werden, zeigt, dass auch der Tugendhafte solche Handlungen ausführen kann.²⁸² Die zweite Bedingung erfüllen Fälle der Gruppe [I], weil die handelnde Person etwas Schlimmes wählt, das für sie zwar schmerzvoll und beschämend ist, das sie aber als Preis für etwas Gutes hinnimmt. Das Beispiel des Tyrannen ist hierfür einschlägig: Eine Person tut etwas Schlimmes (aischron ti), weil der Tyrann Eltern und Kinder in seiner Gewalt hat und droht, sie zu töten, wenn sein Befehl nicht ausgeführt wird; gehorcht die Person, rettet sie damit ihre Angehörigen und tut das Richtige. Beispiele wie dieses scheinen somit beide Bedingungen für Dirty hands-Handlungen zu erfüllen. Auch der Tugendhafte wählt unter der Androhung des Tyrannen die schlimme Handlung angesichts noch schlimmerer Alternativen. Es sieht also so
geht zurück auf Michael Walzer. M. Walzer gibt als Beispiel für eine „Handlung der schmutzigen Hände“ den Fall, einen Terroristen zu foltern, damit er preisgibt, wo seine Organisation eine Bombe versteckt hat, mit der viele Zivilisten getötet werden sollen (vgl. Walzer 1973). Hinweise zu weiterführender Literatur zur „Theory of Dirty Hands“ finden sich bei Stocker (Stocker 1986, Anm. 1, 52). Vgl. Stocker 1986, S. 51 sowie 53 – 54: „I will here argue that Aristotle explicitly allows for dirty hands and also conflicts of values and of desires – even in good people. […] Aristotle does discuss these issues [i. e. dilemmas and dirty hands; BL] under the heading of mixed acts in Nicomachean Ethics 3.1.“ Auch Nussbaum schreibt Aristoteles die Annahme von Dirty hands-Handlungen zu (Nussbaum 1986, 335): „[I]n EN III.1, Aristotle acknowledges that in certain cases of circumstantial constraint the good person may act in a deficient or even a ‚shamefulʻ way, doing things that he or she would never have done but for the conflict situation. He will act as well as he can; and yet he will bei doing something bad, something that he would not have chosen. The so-called ‚mixed actionsʻ are such cases [Hervorhebung BL].“ EN III 1, 1110a19 – 22: „Für solche Handlungen [i. e. gemischte Handlungen; BL] werden die handelnden Personen manchmal sogar gelobt, wenn sie etwas Schlimmes oder Schmerzvolles [als Preis] für große und schöne Dinge ertragen; […].“ Vgl. meine Anm. 246, S. 96. Dass Stocker annimmt, dass auch der Tugendhafte Dirty handsHandlungen ausführen kann, geht in der Formulierung seiner These (vgl. meine Anm. 279) aus der Hinzufügung „even in good people“ klar hervor.
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aus, als nehme Aristoteles tatsächlich Dirty hands-Handlungen an, die unter gewaltsamer Einwirkung auch der Tugendhafte ausführt. Dieses Fazit versuchen manche Kommentatoren dadurch zu vermeiden, dass sie als Beispiel für eine schlimme Handlung keine moralisch verwerfliche Handlung angeben, sondern eine Handlung, die höchstens in einem schwachen Sinn schlimm und vor allem beschämend für die handelnde Person ist, wie z. B., wenn ein Mann in der Öffentlichkeit Frauenkleider trägt.²⁸³ Damit ist aber der Verdacht, Aristoteles nehme Dirty hands-Handlungen an, nicht ausgeräumt, sondern das Problem wurde nur umgangen. Denn das Beispiel lässt sich ohne Weiteres so konstruieren, dass der Tyrann von einem Tugendhaften eine moralisch verwerfliche Handlung wie z. B. eine Tötung erzwingt; und es ist zu erwarten, dass Aristoteles auch in diesem Fall an der Ansicht festhielte, dass es sich um eine „gemischte Handlung“ handelt, die willentlich geschieht. Einen anderen Vorschlag, wie sich vermeiden lässt, Aristoteles die Annahme von Dirty hands-Handlungen zuzuschreiben, macht Taylor. Er weist darauf hin, dass Aristoteles bei der Beschreibung der „gemischten Handlungen“ in 1110a21– 23 sowie a30 jeweils „ὑπομένειν“ und nicht „ποιεῖν“ oder „πράττειν“ verwendet, und folgert daraus, dass er damit nahelegen will, dass die handelnde Person in diesen Fällen etwas Schlimmes erträgt und nicht etwas Schlimmes tut. ²⁸⁴ Gleichwohl räumt Taylor ein, dass auch das Ertragen einer schlimmen Sache letztlich als eine praxis anzusehen ist (vgl. 1110a20), zumal die handelnde Person wählt, das Schlimme als Preis für ein schönes und gutes Ziel zu ertragen.²⁸⁵ Damit führt Taylor selbst den entscheidenden Grund an, der m. E. gegen diesen Ausweg spricht. Denn wenn es bei einer Person liegt, zu wählen, ob sie etwas Schlimmes als Preis für etwas Schönes erträgt oder nicht, und der Bewegungsursprung somit in der Person liegt, so sind die Bedingungen für eine praxis, wie Aristoteles sie in EN III 1 aufstellt, erfüllt. Überdies verwendet er bei der Be-
Vgl. Aspasius in Eth. Nic. CAG XIX/1 61.26 – 28. Auch die Beispiele des Anonymen Kommentator sind wohl so zu verstehen, dass das erzwungene Übel nicht als moralisch verwerflich gilt und damit Bedingung (ii) nicht erfüllt ist. Das erste Beispiel ist, dass jemand das Leben eines Freundes durch eine Lüge rettet; das zweite Beispiel lautet, dass jemand die Auslieferung der Stadt an den Tyrannen verhindert, indem er Ehebruch mit der Frau des Tyrannen begeht, um so an ein Geheimnis zu gelangen (Anon. in Eth. Nic. CAG XX 141.10 – 11).Vgl. auch Gauthier/Jolif 1970, 175. Taylor 2006, 133. Taylor 2006, Anm. 4, 133 – 134: „This is not to deny that enduring such treatment is something which the agent does; it is a praxis (a20), since the agent chooses to endure such treatment rather than abandon his or her noble end. The point is that the agent does not do anything shameful; what he or she does is voluntarily endure something shameful.“
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schreibung des Beispiels des Tyrannen in 1110a5 „πράττειν“, so dass die terminologische Abgrenzung zu „ὑπομένειν“ auch nicht stringent durchgehalten wird. Nichtsdestoweniger ist Taylors sprachliche Beobachtung bemerkenswert, da „ὑπομένειν“ unbezweifelbar im Unterschied zu „ποιεῖν“ oder „πράττειν“ eine Konnotation von Passivität beinhaltet.²⁸⁶ Damit wird aber m. E. zum Ausdruck gebracht, dass die handelnde Person die schlimme Handlung nur ungern ausführt und sie für sie beschämend ist. Trotzdem wählt die Person die schmerzvolle Handlung unter den gegebenen Umständen, und zwar weil sie das nötige Mittel ist, um ein gutes und schönes Ziel zu erreichen. Bedeutet das schließlich doch, dass Aristoteles Dirty hands-Handlungen annimmt? Das hängt in meinen Augen davon ab, wie man das zweite Kriterium in Stockers Definition einer Dirty hands-Handlung versteht. Falls diese Bedingung bereits dann erfüllt ist, wenn es sich um eine beschämende Handlung handelt, so muss gesagt werden, dass „gemischte Handlungen“ ein Fall von Dirty handsHandlungen sind.²⁸⁷ Güter wegzuwerfen oder Verrat zu begehen, sind für Aristoteles beschämende Handlungen, die man nicht tun soll. Die schlimme Handlung, die eine Person unter Zwang als Preis für ein (objektiv) größeres und schönes Ziel wählt, ist für Aristoteles unter normalen Umständen bzw. schlechthin (haplôs bzw. kath’ hauto) eine schlechte und verwerfliche Handlung. Gleichwohl ist es aber unter den besonderen Umständen des Zwangs die richtige Handlung, die man tun soll und der sogar Lob gebührt. Unter den konkreten Umständen sind „gemischte Handlungen“ der Gruppe [I] die richtigen und gebotenen Handlungen, die auch der Tugendhafte wählen würde. Trotzdem ist es eine beschämende Handlung, die für ein (objektiv) größeres und schönes Ziel gewählt wird. Jemand, der die genauen Umstände der Handlung nicht kennt, z. B. nichts von der Zwangslage, in der sich die handelnde Person befindet, weiß, hielte die Handlung für falsch und schlecht, da sie unter normalen Umständen etwas ist, was man nicht tun soll.²⁸⁸ Diese Einschätzung ist aber nicht aufrechtzuerhalten, da sie die Handlung nicht in Bezug auf die konkreten Handlungsumstände beurteilt. Unter den besonderen Umständen ist die Handlung hingegen richtig, auch wenn sie beschämend ist. Wenn Stockers zweites Kriterium somit stärker zu
Nielsen 2007, 283. In diesem Fall wäre auch das Beispiel, als Mann in der Öffentlichkeit in Frauenkleider aufzutreten, ein zutreffendes Beispiel für eine Dirty hands-Handlung. Nielsen bezeichnet im Anschluss an Jennifer Whiting Handlungen, die unter normalen Umständen als schlecht gelten, als „stereotypically shameful acts“ (Nielsen 2007, 282). Unter besonderen Umständen kann solch eine stereotypisch schlechte Handlung die richtige und tugendhafte Handlung, was jedoch leicht zu übersehen ist, wenn nicht auf die Umstände geachtet wird, sondern dem Normalfall nach geurteilt wird.
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verstehen ist und erst erfüllt ist, wenn eine Handlung unter den konkreten Handlungsumständen als schlechte Handlung gilt, dann sind „gemischte Handlungen“ keine Dirty hands-Handlungen. Aufschlussreich für Aristoteles’ Verständnis solcher „gemischter Handlungen“, die zwar tugendhaft, aber zugleich beschämend sind, ist ein Passus aus der Politik. Der Abschnitt zeigt, dass Aristoteles tatsächlich auch tugendhafte Handlungen angenommen hat, die nicht schön (kalôs) sind: [Pol. VII 13, 1332a7– 16]²⁸⁹ Wir sagen (und wir haben dies in den Ethiken bestimmt, wenn etwas in diesen Überlegungen nützlich ist), dass sie [i. e. die eudaimonia, BL] vollkommene Betätigung und Gebrauch der Tugend ist, und zwar dies nicht eingeschränkt, sondern schlechthin. Mit ‚eingeschränktʻ meine ich das, was notwendig ist, mit ‚schlechthinʻ das, was schön ist. Wie zum Beispiel bei den gerechten Handlungen gerechte Vergeltungen und Strafen auf der Tugend beruhen, aber notwendig sind, und (nur) notwendigerweise schön sind (denn es wäre wählenswerter, wenn kein Mann und keine Stadt etwas von diesen Dingen bräuchte), so sind dagegen gerechte Handlungen, die sich auf Ehrungen und Wohlergehen beziehen, am meisten schön.
Aristoteles räumt hier ein, dass es tugendhafte Handlungen gibt, die nur in einem eingeschränkten Sinn tugendhaft sind und deshalb nicht als schön gelten. Dass eine solche Handlung nicht schlechthin tugendhaft ist, liegt an den Umständen der Handlung. So gibt es Umstände, die es von vornherein ausschließen, dass eine schlechthin tugendhafte Handlung möglich ist. Zwar ist es auch unter diesen Umständen möglich, tugendhaft zu handeln, indem eine Person die unter den gegebenen Umständen bestmögliche Handlung wählt. Aber die Umstände lassen nur eine Wahl zwischen verschiedenen Handlungen zu, die allesamt nicht schlechthin tugendhaft sind. Hier die bestmögliche Handlung zu wählen, bedeutet, eine tugendhafte Handlung ausführen, die aber trotz ihrer Tugendhaftigkeit nicht schön ist. Auf „gemischte Handlungen“, die lobenswert sind, trifft diese Charakterisierung zu: Sie sind Handlungen, die unter den konkreten Umständen zwar die richtigen Handlungen sind, sie sind aber nicht schlechthin richtig, da sie unter normalen Umständen nicht wählenswert sind. Eine solche Handlung ist demnach tugendhaft, aber nicht schön.
Pol. VII 13, 1332a7– 16: φαμὲν δὲ (καὶ διωρίσμεθα ἐν τοῖς Ἠθικοῖς, εἴ τι τῶν λόγων ἐκείνων ὄφελος) ἐνέργειαν εἶναι καὶ χρῆσιν ἀρετῆς τελείαν, καὶ ταύτην οὐκ ἐξ ὑποθέσεως ἀλλ᾿ ἁπλῶς. λέγω δ᾿ ἐξ ὑποθέσεως τἀναγκαῖα, τὸ δ᾿ ἁπλῶς τὸ καλῶς· οἷον τὰ περὶ τὰς δικαίας πράξεις· αἱ 〈γὰρ〉 δίκαιαι τιμωρίαι καὶ κολάσεις ἀπ᾿ ἀρετῆς μέν εἰσιν, ἀναγκαῖαι δέ, καὶ τὸ καλῶς ἀναγκαίως ἔχουσιν (αἱρετώτερον μὲν γὰρ μηδενὸς δεῖσθαι τῶν τοιούτων μήτε τὸν ἀνδρα μήτε τὴν πόλιν), αἱ δ᾿ ἐπὶ τὰς τιμὰς καὶ τὰς εὐπορίας ἁπλῶς εἰσι κάλλισται πράξεις.
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Damit beschließe ich das Kapitel zu Aristoteles’ Behandlung von Gewalt und Zwang. Die größte Schwierigkeit in seinen Ausführungen sehe ich in den Charakterisierungen von Fällen der Gruppen [III] und [IV], da Aristoteles hier anscheinend zwischen der Ansicht schwankt, dass es gewaltsame Einwirkungen gibt, die die menschliche Natur übersteigen und denen man sich nicht widersetzen kann, und der Ansicht, dass es auch in solchen Fällen einer Überwältigung immer noch die Möglichkeit des Widerstandes gibt, wenn die aufgenötigte Handlung derart schlimm ist, dass man sie niemals tun sollte. Diese Spannung lässt sich in meinen Augen am plausibelsten dadurch erklären, dass Aristoteles bei der Diskussion derartiger schwieriger und kontroverser Fälle tastend und abwägend vorgeht und es ihm in erster Linie darum geht, ein Bewusstsein für derartige Schwierigkeiten bei Lesern und Hörern zu schaffen. Es ist ihm nicht darum zu tun, klare Antworten zu geben und die Entscheidung im Einzelfall abzunehmen, sondern er will allgemeine Gesichtspunkte für die Entscheidung und für die Beurteilung von Handlungen angeben.
3 Unwissenheit als Ausschlusskriterium für Willentlichkeit Dieses Kapitel hat Aristoteles’ Behandlung des zweiten Ausschlusskriteriums für Willentlichkeit zum Gegenstand. Thema des vorangegangenen Kapitels war die Erörterung von Gewalt bzw. Zwang als Faktoren, deren Vorliegen dazu führt, dass eine Person nicht willentlich handelt. In EN III 2 betrachtet Aristoteles die Unwissenheit als weiteres Kriterium, das ausschließt, dass eine Handlung willentlich geschieht. Unwissenheit ist ein Grund, der es unangemessen macht, eine Person für ihre Handlung in derselben Weise verantwortlich zu machen, wie wenn die Handlung wissentlich und willentlich erfolgte. Sie verdient vielmehr Entschuldigung oder zumindest Nachsicht für ihr Handeln. Unwissenheit ist somit ebenso wie Gewalt oder Zwang eine Entschuldigungsbedingung. Die Behandlung der Unwissenheit in EN III 2 steht im Kontext von Aristoteles’ Bestimmung des Willentlichen. Er bestimmt das Willentliche in EN III 1– 3, indem er zunächst Kriterien benennt, die die Willentlichkeit einer Handlung ausschließen und die Unwillentlichkeit der Handlung bewirken, um daraufhin in Abgrenzung dazu zu bestimmen, was unter Willentlichkeit von Handlungen zu verstehen ist. Im Unterschied zur Behandlung von Gewalt bzw. Zwang unterscheiden sich die Erörterungen der Unwissenheit in der Eudemischen Ethik und der Nikomachischen Ethik deutlich voneinander.²⁹⁰ Am auffälligsten ist wohl die unterschiedliche Einbettung der Behandlungen in den jeweiligen Gedankengang. In der EN erfolgt die Bestimmung des Willentlichen mittels der Diskussion der bei-
Der Unterschied der Behandlung des Willentlichen und Unwillentlichen in den aristotelischen Ethiken gegenüber jener in den MM ist sogar noch auffälliger. Nachdem dort in den Kapiteln 14 und 15 Gewalt und Zwang als Entschuldigungsbedingungen diskutiert wurden, geht die Untersuchung in Kapitel 16 – ähnlich wie in der EE – gleich zur Bestimmung „dessen, was aus Überlegung“ (ἐκ διανοίας) getan wird, über. Es findet sich an dieser Stelle somit keine eigene Behandlung der Unwissenheit als Entschuldigungsbedingung, wie es in EN III 2 und 3 der Fall ist. Allerdings wird in MM I 16 ein Beispiel genannt, das Aristoteles auch in den beiden Ethiken in sehr ähnlicher Form zitiert und hier jeweils als Beispiel für eine Handlung anführt, die aufgrund von Unwissenheit über die Einzelumstände geschieht, und zwar den Fall einer Frau, die jemanden mit einem Liebestrank tötet, weil sie nicht wusste, dass es sich bei dem Getränk um ein Gift handelt. Dieser Fall wird in MM I 16 als ein Beispiel für eine Handlung erwähnt, die „ohne Vorbedacht“ (ouk ek pronoias, 1188b34– 35) ausgeführt wurde und deswegen zu entschuldigen ist. In den MM kommen später (MM I 33, 1195a14-b4) im Zusammenhang der Behandlung des gerechten und ungerechten Handelns weitere Ausführungen zur Unwissenheit vor, die einige Berührungspunkte mit der Erörterung in EN III aufweisen. Ich werde auf diese Vergleichspassage an entsprechender Stelle verweisen. https://doi.org/10.1515/9783110517583-005
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den Entschuldigungsbedingungen, die bewirken, dass eine Handlung unwillentlich geschieht. In der EE dagegen untersucht Aristoteles der Reihe nach, ob sich das Willentliche durch Strebung (orexis), durch Entschluss (prohairesis) oder durch Überlegung (bouleusis) bestimmen lässt, und gelangt nach diesem Ausschlussverfahren in EE II 9 zum Ergebnis, dass willentlich das ist, was der Überlegung gemäß ist. Erst im resümierenden Kapitel 9 erwähnt er die Unwissenheit als einen Faktor, der eine Handlung unwillentlich machen kann, und fügt an dieser Stelle noch ergänzende Bemerkungen hinzu, unter welchen Bedingungen Unwissenheit hinreicht, damit eine Handlung unwillentlich ist, und unter welchen Bedingungen das Vorliegen von Unwissenheit dafür nicht ausreichend ist. Auffällig ist ferner die unterschiedliche Länge der beiden Auseinandersetzungen,²⁹¹ womit auch unterschiedlich differenzierte Vorgehensweisen einhergehen. Als auffallende Abweichungen lassen sich mindestens folgende nennen: Die Untersuchung in der EE enthält erstens manche Differenzierungen aus der EN überhaupt nicht;²⁹² zweitens kommt eine andere terminologische Unterscheidung zwar vor, wird aber inhaltlich nicht näher bestimmt,²⁹³ und drittens werden in der EE weniger Hinsichten unterschieden, in Bezug worauf eine Person bei ihrer Handlung unwissend sein kann.²⁹⁴ Auf der anderen Seite enthält die EE mit der Differenzierung zwischen dem Besitz und dem Gebrauch von Wissen auch eine Unterscheidung, die in der EN bei der Diskussion der Unwissenheit in Buch III nicht vorkommt, obgleich Aristoteles diese Differenzierung in der EN an späterer Stelle behandelt.²⁹⁵ Ich werde mich im Folgenden überwiegend auf die Behand 37 Zeilen in der EN (1110b18 – 1111a21) stehen 18 Zeilen in der EE (1125a36-b16) gegenüber. Dies ist der Fall bei der Unterscheidung zwischen unwillentlichen und nicht-willentlichen Handlungen aufgrund von Unwissenheit, vgl. Abschnitt „3.1 „Nicht-willentliche“ und „unwillentliche“ Handlungen aufgrund von Unwissenheit“. Dies betrifft die Unterscheidung zwischen Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit, vgl. Abschnitt „3.2 Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit“. In der EE werden drei solcher Hinsichten genannt, während in EN III 2 sechs verschiedene Hinsichten genannt werden. Auch in MM I 33 werden nur drei Hinsichten genannt, und auch in EN V 10 nennt Aristoteles lediglich drei Hinsichten. Mögliche Gründe für diese Abweichungen erörtere ich im Abschnitt „3.4.2 Resümierende Beurteilung der verschiedenen Einzelhinsichten und ein Vergleich mit EE II 9 und EN V 10“. Vgl. Abschnitt „3.2.5 Aristoteles’ Behandlung von Handlungen in Unwissenheit in der EE“ Aristoteles diskutiert die Unterscheidung zwischen dem Besitzen von Wissen (echein) und dem Gebrauchen von Wissen (chrêsthai) – wohl in Anlehnung an Platons Betrachtung des Wissensbesitzes in Gestalt des Modells eines Taubenschlags im Theätet (Tht. 196c-200d) – im Rahmen seiner Behandlung der akrasia (vgl. EN VII 5, 1146b31– 35). Vgl. zu den antiken Grundlagen des Begriffspaars Besitzen und Gebrauchen vor Aristoteles: Nickel 2012.
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3 Unwissenheit als Ausschlusskriterium für Willentlichkeit
lung der Unwissenheit in der EN konzentrieren und die parallelen Stellen in der EE jeweils dann mit heranziehen, wenn sie aufschlussreich sind, weil sie eine Ergänzung beinhalten oder eine Abweichung darstellen.²⁹⁶
3.1 „Nicht-willentliche“ und „unwillentliche“ Handlungen aufgrund von Unwissenheit Die erste wichtige Unterscheidung, die Aristoteles bei der Behandlung von Unwissenheit in der EN einführt, hat keine Entsprechung in der EE, so dass nur auf den Text der EN zu schauen ist: [EN III 2, 1110b18 – 24]²⁹⁷ Alles, was aufgrund von Unwissenheit geschieht, ist nicht-willentlich, aber nur das, was Schmerz bereitet und worin Bedauern liegt, ist unwillentlich. Denn derjenige, der etwas aufgrund von Unwissenheit getan hat, ohne bei seiner Handlung irgendein Unbehagen zu zeigen, hat zwar nicht willentlich gehandelt, jedenfalls mit Bezug auf das, was er nicht wusste, aber auch nicht unwillentlich, da er ja keinen Schmerz empfand. Beim Handeln aufgrund von Unwissenheit scheint also derjenige, der (nachträglich) bedauert, unwillentlich zu handeln, derjenige, der hingegen nicht (nachträglich) bedauert, soll, da er ein anderer ist, nicht-willentlich genannt werden. Da er sich nämlich unterscheidet, ist es besser, dass er einen eigenen Namen hat.
Aristoteles führt zu Beginn seiner Behandlung der Unwissenheit eine Unterscheidung ein, die in seinen Ausführungen zu Gewalt und Zwang nicht vorkommt.²⁹⁸ Er hält fest, dass alle Handlungen, die aufgrund von Unwissenheit geschehen, nichtwillentlich (ouch hekousion) sind, dass aber unter den Handlungen, die aufgrund
Auf die Behandlung der Unwissenheit in den MM werde ich nur am Rande verweisen. EN III 2, 1110b18 – 24: τὸ δὲ δι’ ἄγνοιαν οὐχ ἑκούσιον μὲν ἅπαν ἐστίν, ἀκούσιον δὲ τὸ ἐπίλυπον καὶ ἐν μεταμελείᾳ· ὁ γὰρ δι’ ἄγνοιαν πράξας ὁτιοῦν, μηδέν τι δυσχεραίνων ἐπὶ τῇ πράξει, ἑκὼν μὲν οὐ πέπραχεν, ὅ γε μὴ ᾔδει, οὐδ’ αὖ ἄκων, μὴ λυπούμενός γε. τοῦ δὴ δι’ ἄγνοιαν ὁ μὲν ἐν μεταμελείᾳ ἄκων δοκεῖ, ὁ δὲ μὴ μεταμελόμενος, ἐπεὶ ἕτερος, ἔστω οὐχ ἑκών· ἐπεὶ γὰρ διαφέρει, βέλτιον ὄνομα ἔχειν ἴδιον. Diese auffallende Differenz zwischen den Erörterungen habe ich im Kapitel zu Gewalt und Zwang behandelt (vgl. Abschnitt „2.2.1 Warum bleiben nicht-willentliche gewaltsame Handlungen unerwähnt?“). Ich habe dafür argumentiert, dass Aristoteles’ Behandlung von gewaltsamen Handlungen es zwar nicht ausschließt, auch hier anhand des Kriteriums des nachträglichen Bedauerns zwischen unwillentlichen und nicht-willentlichen Handlungen zu unterscheiden. Allerdings scheint es ihm bei den gewaltsamen Handlungen weniger auf den moralisch relevanten Aspekt des nachträglichen Bedauerns anzukommen, sondern mehr auf den Aspekt der Urheberschaft der Handlung.
3.1 „Nicht-willentliche“ und „unwillentliche“ Handlungen aufgrund von Unwissenheit
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von Unwissenheit geschehen, nur jene unwillentlich (akousion) sind, die der handelnden Person im Nachhinein Schmerzen bereiten und die sie bedauert.²⁹⁹
3.1.1 Terminologische Bemerkungen Mit „Bedauern“ habe ich in der Übersetzung „μεταμέλεια“ wiedergegeben. Der griechische Ausdruck kann auch die Bedeutung Reue haben.³⁰⁰ Im vorliegenden Kontext ist diese Bedeutung allerdings abwegig, da Reue willentliches Handeln voraussetzt, während es hier um die Charakterisierung von unwillentlichem Handeln geht.³⁰¹ Anhand des Kriteriums, ob eine Person eine Handlung, die sie unwissentlich ausgeführt hat, im Nachhinein bedauert und Schmerz bzw. Unlust (lypeô) darüber empfindet, differenziert Aristoteles zwischen zwei verschiedenen Arten von Handlungen, die aufgrund von Unwissenheit geschehen. Bevor ich das Unterscheidungskriterium und den damit erzielten inhaltlichen Unterschied untersuche, ist eine kurze Betrachtung der terminologischen Differenzierung sinnvoll, die er hier vornimmt. Im ersten Satz des Zitats bezeichnet Aristoteles alle Handlungen, die aufgrund von Unwissenheit geschehen, als nicht-willentlich. Daraufhin unterscheidet er innerhalb der nicht-willentlichen Handlungen, die aufgrund von Unwissenheit geschehen, zwischen Handlungen, die nicht-willentlich sind, und Handlungen, die unwillentlich sind. Jede Handlung, die aufgrund von Unwissenheit geschieht, ist nicht-willentlich. Dies ist aber laut Aristoteles noch nicht hinreichend dafür, dass die Handlung auch unwillentlich ist. Denn wenn eine
Die neu eingeführte Unterscheidung gilt gleichermaßen für Handlungen wie für handelnde Personen, denn im Passus 1110b18 – 24 kommen neben „οὐχ ἑκούσιον“ und „ἀκούσιον“ auch „οὐχ ἑκών“ und „ἄκων“ vor. Wörtlich bezeichnet „μεταμέλεια“ (ähnlich wie auch die Ausdrücke „μεταγιγνώσκω“ und „μετανοῶ“) eine nachträgliche Umbesinnung (change of mind); diese wurde dabei eher als negativ angesehen, da sie meist auf dem Einsehen eines Fehlers beruht.Vgl. auch Dihle 1982, 30 – 31: „A change in one’s intention due either to fresh information or second thoughts or to hesitation caused by feelings and emotions is usually spoken of, in both early and later Greek, as a change in one’s intellectual activity (μεταγιγνώσκω, μετανοῶ etc.). It is in general not very favorably looked upon (Thuc. 2.61.2 f), regardless from which kind of influence it results, for it always implies that one of the two intentions is or was based on error. Acting under the influence of error, however, always means the loss of one’s own freedom of choice.“ Die Bedeutung Reue erhält „μεταμέλεια“ bzw. „μετανοῶ“ erst später in der christlichen Tradition (vgl. Dirlmeier 1974). Im Englischen lässt sich „μεταμέλεια“ an dieser Stelle zutreffend mit „regret“ übersetzen. In anderen Kontexten kann der Ausdruck auch die Bedeutungen remorse oder repentance haben, die hier aber nicht adäquat sind (vgl. Broadie/Rowe 2002, 313).
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3 Unwissenheit als Ausschlusskriterium für Willentlichkeit
Handlung, die aufgrund von Unwissenheit geschieht, nicht im Nachhinein bedauert wird, so ist sie zwar nicht-willentlich, sie ist aber nicht unwillentlich. Eine Handlung aufgrund von Unwissenheit ist ihm zufolge vielmehr nur dann unwillentlich, wenn die handelnde Person sie im Nachhinein bedauert und Schmerz darüber empfindet. Um unwillentliche Handlungen, die aufgrund von Unwissenheit geschehen, von nicht-willentlichen Handlungen, die nachträglich nicht bedauert werden, klar zu unterscheiden, schlägt er am Ende des obigen Zitats vor, für diese als eigene Bezeichnung „nicht-willentlich“ („οὐχ ἑκών“) einzuführen. Aristoteles verwendet hier offenbar innerhalb weniger Zeilen „nicht-willentlich“ in zwei verschiedenen Bedeutungen mit unterschiedlichen Extensionen.³⁰² In 1110b18 und 1110b20 – 21 gebraucht er den Ausdruck „nicht-willentlich“ zunächst als Ausdruck für den Gattungsbegriff, der für alle Arten von Handlungen steht, die aufgrund von Unwissenheit geschehen. Daraufhin führt er denselben Ausdruck in b23 – 24 auch als Bezeichnung für eine der beiden Arten von Handlungen aufgrund von Unwissenheit ein, die Unterfälle zu dieser Gattung sind. Das ist irritierend. Der Verwirrung lässt sich am besten durch Indizes vorbeugen: Wird „nicht-willentlich“ als Ausdruck des Gattungsbegriffs für alle Handlungen aufgrund von Unwissenheit gebraucht, verwende ich „nicht-willentlich1“. Demgegenüber steht „nicht-willentlich2“ für die spezifische Bezeichnung, die Aristoteles in b23 für jene Handlungen aufgrund von Unwissenheit einführt, die die handelnde Person nachträglich nicht bedauert. Burnet und Dirlmeier erklären die Einführung von „nicht-willentlich“ anstelle von „unwillentlich“ in b18 ff. als das Ersetzen eines konträren durch einen kontradiktorischen Gegensatz (jeweils zu „willentlich“).³⁰³ Das ist erläuterungsbedürftig. Ein kontradiktorisches Gegensatzpaar bilden nämlich (bezogen auf den geeigneten Kontext, in dem von Willentlichkeit gesprochen werden kann) nur „nicht-willentlich1“ (bzw. „unwillentlich1“) und „willentlich“. Dagegen handelt es sich sowohl beim Ausdruckspaar „nicht-willentlich2“ und „willentlich“ als auch beim Paar „unwillentlich2“³⁰⁴ und „willentlich“ um konträre Gegensätze.³⁰⁵ Mit
So interpretiert auch Aspasius Aristoteles’ Vorgehen an dieser Stelle (vgl. Aspasius in Eth. Nic. CAG XIX/1 63.7– 9): „Da er [i. e. derjenige, der sein Handeln nicht bedauert; BL] aber unwissentlich handelt, sollte man ihm auch einen Namen geben, aber nicht ‚unwillentlichʻ (wir haben aber keinen anderen Namen zur Verfügung), also soll er ‚nicht-willentlich“ genannt werdenʻ).“ Dirlmeier 1974, S. 325: „Hier spricht der Logiker: statt des konträren der kontradiktorische Gegensatz.“ Burnet 1900, S. 117: „‚[N]on-voluntaryʻ as opposed to ‚involuntaryʻ. The contradictory is substituted for the contrary.“ Die Indizierung von „unwillentlich“ werde ich im folgenden Absatz erläutern.
3.1 „Nicht-willentliche“ und „unwillentliche“ Handlungen aufgrund von Unwissenheit
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anderen Worten: Der Beobachtung von Burnet und Dirlmeier ist nur dann zuzustimmen, wenn sie auf die Verwendung von „nicht-willentlich“ in b18 und 20 – 21 bezogen wird, denn nur hier ist der Ausdruck der kontradiktorische Gegensatz zu „willentlich“. Wenn Aristoteles aber „οὐχ ἑκών“ in b23 als eigene Bezeichnung einführt, so ist das m. E. so zu verstehen, als wolle er die spezifische Bezeichnung hier für den Fall reservieren, in dem eine Person aufgrund von Unwissenheit eine Handlung ausführt, die sie nachträglich nicht bedauert. Es wäre dann inadäquat, auch eine Person, die nachträglich ihre aufgrund von Unwissenheit ausgeführte Handlung bedauert, als nicht-willentlich2 zu bezeichnen. Sie muss vielmehr als unwillentlich2 bezeichnet werden. Verwirrend ist an Aristoteles’ Ausdrucksweise nicht nur seine zweifache Verwendung von „nicht-willentlich“ in 1110b18 – 24, sondern auch der Umstand, dass er zuvor bei der Behandlung von Gewalt und Zwang keine vergleichbare Terminologie verwendet hat und auch anschließend in seinem Zwischenfazit zu den Bemerkungen zu Gewalt und Unwissenheit in 1111a22– 25 wieder zum schlichten Gegensatz von „willentlich“ und „unwillentlich“ zurückkehrt. Im kurzen Resümee in 1111a22– 24 verwendet er als Gegenbegriff zu „willentlich“ („ἑκούσιον“) „unwillentlich“ („ἀκούσιον“) im Sinn von „nicht-willentlich1“, wie es auch zuvor bei der Behandlung von Gewalt und Zwang der Fall gewesen ist. Betrachtet man den Passus 1110b18 – 24 also in seinem weiteren Kontext der ersten Kapitel von Buch III, so wird deutlich, dass auch „unwillentlich“ in verschiedenen Bedeutungen vorkommt: einmal als Ausdruck des Gattungsbegriffs, der möglicherweise dieselbe Extension wie „nicht-willentlich1“ in 1110b18 („unwillentlich1“) hat,³⁰⁶ und einmal in 1110b18 – 24 als Bezeichnung für jene Art von Handlungen aufgrund von Unwissenheit („unwillentlich2“), die bedauert werden und die sich infolgedessen von den nicht-willentlichen2 unterscheiden.³⁰⁷
Zur Erinnerung: Für einen konträren Gegensatz gilt, dass nicht beides zugleich der Fall sein kann; es kann aber nicht – wie beim kontradiktorischen Gegensatz – vom Nicht-Zutreffen des einen Gegensatzes auf das Zutreffen des anderen geschlossen werden. Ich formuliere hier mit Vorbehalt, da sich Aristoteles’ Gebrauch von „nicht-willentlich“ nur auf Handlungen, die aufgrund von Unwissenheit geschehen, bezieht, während sie weder zuvor bei der Behandlung von Gewalt und Zwang noch danach im Zwischenfazit Verwendung findet. Allerdings scheint mir nichts dagegen zu sprechen, „nicht-willentlich1“ als extensionsgleichen Ausdruck wie „unwillentlich“ anzusehen; vgl. auch Aspasius in Eth. Nic. CAG XIX/1 63.11– 12: „[…] von diesen [i. e. den Genera] ist das höchste das Unwillentliche, das auf eine Art dasselbe ist wie das Nicht-Willentliche“. Beide Ausdrücke drücken dann denselben Begriff aus, unter den alle Handlungen fallen, die entweder durch Gewalt resp. Zwang oder aufgrund von Unwissenheit geschehen. Diese zweifache doppelte Verwendung von „unwillentlich“ und „nicht-willentlich“ beobachtet auch Aspasius; vgl. Aspasius in Eth. Nic. CAG XIX/1 63.9 – 15: „[…] die ganze Unterscheidung
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3 Unwissenheit als Ausschlusskriterium für Willentlichkeit
3.1.2 Das Unterscheidungskriterium Betrachten wir nun das Kriterium, mit dessen Hilfe Aristoteles zwischen unwillentlichen und nicht-willentlichen Handlungen, die aufgrund von Unwissenheit geschehen, unterscheidet. Ausschlaggebend dafür, ob eine Person unwillentlich oder nicht-willentlich gehandelt hat, soll sein, ob sie ihr Handeln im Nachhinein bedauert und Schmerz empfindet oder nicht. Aristoteles ist wiederholt dafür kritisiert worden, dass er die Haltung, die jemand nach der Ausführung einer Handlung dieser Handlung gegenüber einnimmt, als relevant für die Beurteilung ansieht, ob die Handlung unwillentlich oder nicht-willentlich gewesen ist: [Kenny 1979]³⁰⁸ [I]t seems clear that a person’s subsequent state of mind can have very little to do with whether a particular action is voluntary, involuntary, or neither. [Siegler 1968]³⁰⁹ […] Aristotle is involved here in a fundamental confusion. For while here he requires for the involuntary that the agent subsequently feel sorrow and regret, the original characterization was explicitly limited to the moment of the act (hote prattei lekteon).
Der wesentliche Kritikpunkt beider Autoren richtet sich gegen Aristoteles’ Annahme, dass für eine Handlung, die aufgrund von Unwissenheit geschieht, zum Zeitpunkt des Handelns noch offen ist, ob sie unwillentlich oder nicht-willentlich erfolgt. Erst die nachträgliche Haltung, welche die handelnde Person ihrer Handlung gegenüber einnimmt, nachdem sie über die handlungsrelevanten Umstände aufgeklärt worden ist, die sie zum Zeitpunkt der Handlung noch nicht kannte, legt fest, ob die Handlung unwillentlich oder nicht-willentlich geschehen scheint also folgendermaßen zu sein: man muss sie nämlich begreifen, da es schwer zu erfassen ist, wegen der Homonymien der Genera in Bezug auf die Arten, die darin [i. e. im Unwillentlichen, BL] liegen; von diesen ist das höchste das Unwillentliche, das auf eine Art dasselbe ist wie das Nicht-Willentliche. Unter das Unwillentliche oder Nicht-Willentliche wiederum fällt einerseits das, was durch Gewalt geschieht, und andererseits das, was aufgrund von Unwissenheit geschieht. Unter das, was aufgrund von Unwissenheit geschieht, fällt einerseits das Unwillentliche [ich folge hier der Emendation von Heylbut, der ἀκούσιον anstelle des überlieferten ἐκούσιον liest, das an dieser Stelle keinen Sinn ergibt; BL], andererseits das Nicht-Willentliche, die beide jeweils homonym mit dem Genus sind – das eine mit dem Nicht-Willentlichen, das andere mit dem Unwillentlichen.“ Kenny 1979, 53. Siegler 1968, 276 – 277. Vgl. auch Ross 1949, 198: “There is no real difference in meaning between ‚involuntaryʻ and ‚non-voluntaryʻ. It might be suggested that by ἀκούσιον Aristotle means ‚unwillingʻ and by οὐχ ἑκούσιον ‚involuntaryʻ; but it is clear that unwilling and merely involuntary acts cannot be differentiated by the agent’s subsequent attitude.”
3.1 „Nicht-willentliche“ und „unwillentliche“ Handlungen aufgrund von Unwissenheit
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ist. Dies halten manche für unplausibel, weil alles, was sich ereignet, nachdem die Handlung erfolgt ist, keinen Einfluss mehr auf die Handlung haben kann – sie ist geschehen und lässt sich nicht mehr ändern. Siegler macht zudem zu Recht darauf aufmerksam, dass Aristoteles selbst zuvor dafür argumentiert hat, dass die Frage nach der Willentlichkeit von Handlungen in Bezug auf ein Handlungsvorkommnis zu entscheiden ist: „Und daher muss man vom Willentlichen und Unwillentlichen jeweils gemäß dem Zeitpunkt sprechen, zu dem gehandelt wird“ (1110a14– 15).³¹⁰ Diese Beobachtungen sind zwar zutreffend, dennoch stellen sie m. E. keine Schwierigkeit für Aristoteles’ Ansatz dar, nachträgliches Bedauern als Unterscheidungskriterium zu verwenden. Vielmehr lenken sie den Blick auf einen wichtigen Unterschied zwischen seinen Bestimmungen von Gewalt bzw. Zwang auf der einen Seite und Unwissenheit auf der anderen. Bei der Erläuterung von Gewalt bzw. Zwang als Entschuldigungsgrund kommt es ihm vor allem auf den Aspekt der Urheberschaft der Handlung an, der für die juristische Beurteilung des zurechnungsfähigen Verschuldens einer Handlung entscheidend ist. Dafür ist der Zeitpunkt des Handelns ausschlaggebend. Auch im Fall von Unwissenheit ist für die juristische Einschätzung des Verschuldens maßgeblich, ob die handelnde Person sich zum Zeitpunkt ihrer Handlung in einem Zustand (nicht-selbstverschuldeter) Unwissenheit über die relevante Umstände ihres Handelns befunden hat. In dieser Hinsicht besteht in der Tat kein Unterschied zwischen unwillentlichen2 und nicht-willentlichen2 Handlungen. Die Haltung, welche die handelnde Person im Nachhinein ihrer Handlung gegenüber einnimmt, spielt somit für die juristische Beurteilung des Verschuldens tatsächlich keine Rolle. Dies haben Kenny und Siegler, wie mir scheint, bei ihrer Kritik im Auge. Allerdings kommt es Aristoteles bei der Erörterung von Unwissenheit als Entschuldigungsbedingung – anders als bei seiner Behandlung von Gewalt bzw. Zwang – anscheinend nicht so sehr auf die juristische Bewertung des Verursachens bzw. Verschuldens der Handlung an, sondern eher auf die Beurteilung des Charakters der handelnden Person.³¹¹ Hierfür ist es freilich aufschlussreich, wie sich eine Person im Nachhinein ihrer Handlung gegenüber verhält, wenn sie über die relevante Handlungsumstände in Kenntnis gesetzt wurde, die sie zum Zeitpunkt ihrer Handlung noch nicht kannte.³¹² Wenn eine Person nachträglich Bedauern und Schmerz über ihr unwissentliches Handeln äußert, ist dies ein aus EN III 1, 1110a14– 15: καὶ τὸ ἑκούσιον δὴ καὶ τὸ ἀκούσιον, ὅτε πράττει, λεκτέον. Dass dieser Punkt Aristoteles wichtig ist, kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass er im letzten Satz der Behandlung der Unwissenheit in 1111a19 – 21 ausdrücklich wiederholt, dass man unwillentlich nur denjenigen nennt, der Schmerz und Bedauern über sein Handeln empfindet. Vgl. z. B. Irwin 1999, 203.
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3 Unwissenheit als Ausschlusskriterium für Willentlichkeit
sagekräftiges Indiz für die Annahme, dass sie anders gehandelt hätte, wenn sie die zum Zeitpunkt ihrer Handlung bereits die relevanten Handlungsumstände gekannt hätte.³¹³ Dagegen bringt eine Person, die kein Bedauern zeigt, zum Ausdruck, dass das Geschehen ihrer Handlung ihren Wünschen nicht zuwiderläuft. Auch wenn sie rechtzeitig über die relevanten Handlungsumstände in Kenntnis gesetzt worden wäre, hätte sie nicht unbedingt anders gehandelt. Die Haltung, die eine Person rückblickend zu ihrer Handlung einnimmt, ist also für die moralische Beurteilung des Handelns, die sich auf den Charakter der handelnden Person richtet, bedeutsam.³¹⁴ Entsprechend zur nachträglichen Haltung der handelnden Person scheint sich auch die Reaktion von Beobachtern des Handelns einer Person dieser gegenüber zu unterscheiden: Während man sie, wenn sie ihr Handeln aufgrund von Unwissenheit im Nachhinein bedauert, ohne Weiteres entschuldigt und womöglich sogar bemitleidet, so scheint ihr Handeln, wenn sie nachträglich kein Bedauern zeigt, zwar entschuldigt zu werden, der Person wird dann aber kaum Mitleid entgegengebracht.³¹⁵
Vgl. zu einer ähnlichen Deutung z. B. Urmson 1988, 46: „Aristotle surely means that the criterion of whether at the time of the action the ignorance was material or irrelevant is whether one would have acted otherwise if one had known the facts in question. The obvious test of whether one would have acted differently is whether one does regret the deed and say: ‚If only I had knownʻ, when the ignorance is removed.“ Es ist zudem ein Merkmal, das sich überhaupt erst nachträglich und nicht schon zum Zeitpunkt der Handlung erkennen lässt; vgl. dazu Gauthier/Jolif 1970, 182: „Chez un sujet qui agit par ignorance et qui donc ne sait pas ce qu’il fait, cette répugnance positive ne peut pas, bien sûr, se manifester au moment même où il agit (comme c’est le cas chez un sujet qui agit par contrainte), mais elle devra se manifester, dès que le sujet viendra à connaître ce qu’il a fait, par la douleur qu’il en éprouvera.“ Eine ähnliche Überlegung stellt Siegler an (Siegler 1968, 277): „[I]n the case in which no sorrow or regret is subsequently felt, while the agent thereby does not deserve blame, neither does he deserve pardon or pity. Aristotle might have retained the original characterization [sc. of the involuntary; BL] by making subsequent sorrow and regret not a necessary condition for the involuntary, but rather a differentia for that sub-class of the involuntary conceptually connected with desert of pardon or pity.“ Ich stimme Siegler zwar darin zu, dass die Person, die nachträglich über ihr unwissentliches Handeln kein Bedauern zeigt, kein Mitleid verdient; für unzutreffend halte ich es aber, zu sagen, dass die Person keine Entschuldigung (pardon) verdient. Da ihr Handeln in Hinblick auf die Frage der Verursachung der Handlung genau gleich zu beurteilen ist wie eine unwillentliche Handlung, die sie nachträglich bedauert, verdient es auch die Person, die nicht-willentlich2 handelt, dass ihr Handeln entschuldigt wird, selbst wenn sie es durch das ausbleibende nachträgliche Bedauern anscheinend gutheißt.
3.1 „Nicht-willentliche“ und „unwillentliche“ Handlungen aufgrund von Unwissenheit
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3.1.3 Der inhaltliche Unterschied zwischen unwillentlichen2 und nicht-willentlichen2 Handlungen Nach der Erläuterung des Unterscheidungskriteriums lässt sich nun die Differenz näher betrachten, die Aristoteles mit dessen Hilfe treffen will. Nachträgliches Bedauern habe ich insofern als ein aussagekräftiges Indiz für die Beurteilung des Charakters beschrieben, als die handelnde Person damit zum Ausdruck bringt, dass sie anders gehandelt hätte, wenn sie die relevanten Umstände ihrer Handlung zum Zeitpunkt des Handelns gekannt hätte.³¹⁶ Wenn die handelnde Person hingegen im Nachhinein kein Bedauern über ihr Handeln zeigt, so deutet dies darauf hin, dass die Kenntnis der relevanten Handlungsumstände sie nicht davon abgehalten hätte, in gleicher Weise zu handeln. Manche Kommentatoren erläutern diese Differenz als den Unterschied zwischen einer Handlung, die gegen die Absichten und Wünsche der handelnden Person geschieht, und einer bloß unabsichtlichen Handlung.³¹⁷ Zeigt eine Person nachträgliches Bedauern über ihr Handeln, drücke sie damit ihre eigentlichen Absichten und Wünsche aus. Diese versuchte sie mit ihrer Handlung zu realisieren, verfehlte aber ihr Ziel und bedauert daher im Nachhinein ihr Handeln. Es ist anzunehmen, dass die Person anders gehandelt hätte, wenn sie zum Zeitpunkt ihres Handelns das relevante Wissen bereits gehabt hätte. Sie hätte vielmehr diejenige Handlung gewählt, mit der sie ihre Ziele und Wünsche am besten zu realisieren meint. Äußert eine Person hingegen im Nachhinein kein Bedauern über ihr Handeln, ist zunächst noch offen, wie die Person gehandelt hätte, wenn sie zum Zeitpunkt ihrer Handlung Kenntnis von den relevanten Handlungsumständen gehabt hätte. Feststeht vorerst nur, dass die Person ohne Absicht gehandelt hat, da ihr das nötige Wissen für absichtsvolles Handeln fehlte. Im ausbleibenden Bedauern kommt zum Ausdruck, dass die Person offenbar nicht den Wunsch hat, die Handlung ungeschehen zu machen. Anders formuliert: Die Handlung steht nicht den Zielen entgegen, welche die Person mit ihren Handlungen zu realisieren strebt. Wie sie aber gehandelt hätte, wenn sie zum Zeitpunkt ihrer Handlung die relevanten Umstände gekannt hätte, ist damit noch nicht entschieden. Man könnte vermuten, dass ausbleibendes Bedauern darauf hindeutet, dass die handelnde Person auch in Kenntnis der relevanten Umstände die gleiche Handlung gewählt hätte. Ihr fehlendes Bedauern wäre demzufolge als Ausdruck dessen zu Vgl. Urmson 1988, 46. So berufen sich Gauthier/Jolif z. B. darauf, dass sich im Griechischen „οὐχ ἑκούσιον“ im Sinn von „unabsichtlich“ („ne pas faire exprès“) verstehen lässt, während „ἀκούσιον“ im Sinn von „widerwillig“ bzw. „entgegen jemandes Absicht“ („à contre-cœur“, „malgré soi“) aufzufassen ist (Gauthier/Jolif 1970, 182). Vgl. auch Urmson 1988, 46 sowie Bostock 2000, 111– 112.
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verstehen, dass sie die Handlung gutheißt oder gar Lust bzw. Freude daran empfindet. Dies ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit, was fehlendes nachträgliches Bedauern zum Ausdruck bringen kann.³¹⁸ Ausbleibendes Bedauern kann auch bloß bedeuten, dass eine Handlung den Zielen und Wünschen einer Person zwar nicht zuwiderläuft, dass sie die Handlung aber auch nicht mit Absicht tun würde.³¹⁹ Das lässt sich am besten an einem Beispiel veranschaulichen.³²⁰ Stellen wir uns einen fleißigen Schreiberling vor, der zwei Dankesbriefe für Geburtstagsgeschenke verfasst, von denen einer an einen lästigen Verwandten geht, der ein Talent hat, immer kitschigen Nippes zu verschenken. Im zweiten Brief an einen guten Freund beklagt sich der Beschenkte über die Geschmacksverirrungen des besagten Verwandten. Versehentlich vertauscht unser Schreiberling beim Versenden die Briefe. Als er seinen Fehler späterhin bemerkt, bedauert er sein Versehen aber nicht. Es kümmert ihn nicht groß, den lästigen Verwandten gekränkt zu haben. Gleichwohl freut er sich aber auch nicht über sein Missgeschick, und erst recht wäre er nicht so weit gegangen, die Briefe mit Absicht zu vertauschen. Das Beispiel zeigt Folgendes: Unter einer nicht-willentlichen2 Handlung ist insofern eine unbeabsichtigte Handlung zu verstehen, als sie aufgrund von Unwissenheit geschehen ist. Dass die Person ihre Handlung nachträglich nicht bedauert, zeigt zwar, dass die Handlung ihren Wünschen nicht entgegensteht; diese Reaktion lässt aber offen, ob sie die Handlung gutheißt, und sie legt auch nicht fest, ob die Person – selbst wenn sie ihre Handlung gutheißen sollte – die Handlung auch dann gewählt hätte, wenn sie zum Zeitpunkt ihrer Handlung die relevanten Handlungsumstände gekannt hätte. Die Reaktion ausbleibenden Bedauerns lässt also offen, ob sie aufgrund ihres Charakters ausreichend motiviert gewesen wäre, die Handlung zu wählen, die sie aufgrund von Unwissenheit ausgeführt hat.
Vgl. zu dieser Kritik Taylor 2006, 124– 125. Vgl. Grant 1866, 10: „It may in short be neither with the will nor against it.“ Zu weit geht dagegen Irwin mit der Deutung, ausbleibendes nachträgliches Bedauern drücke Zustimmung und die Bereitschaft zum entsprechenden Handeln aus (Irwin 1999, 203): „If [the agent] is pleased at something he has done because of ignorance, he shows what sorts of actions he is willing and prepared to do […].“ Das Beispiel stammt von Taylor (Taylor 2006).
3.2 Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit
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3.2 Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit Aristoteles setzt die Behandlung der Unwissenheit fort, indem er eine weitere Unterscheidung einführt, und zwar diejenige zwischen Handlungen, die aufgrund von Unwissenheit geschehen (di’ agnoian), und Handlungen, die in Unwissenheit geschehen (agnoôn): [EN III 2, 1110b24– 1111a2]³²¹ [i] Handeln aufgrund von Unwissenheit scheint auch etwas anderes zu sein als in Unwissenheit zu handeln. Wer nämlich betrunken oder im Zorn handelt, scheint nicht aufgrund von Unwissenheit zu handeln, sondern aufgrund eines dieser genannten Zustände, und nicht wissentlich, sondern in Unwissenheit. [ii] Nun ist zwar auch jeder Schlechte unwissend darüber, was er tun und was er unterlassen soll; und wegen eines solchen Fehlers wird man ungerecht und überhaupt schlecht. Den Ausdruck „unwillentlich“ soll man aber nicht verwenden, wenn jemand über das Nützliche unwissend ist. [iiia] Die Unwissenheit im Entschluss ist nämlich nicht der Grund des Unwillentlichen, sondern der Schlechtigkeit, d. h. nicht die Unwissenheit des Allgemeinen [ist Grund des Unwillentlichen] (denn ihretwegen wird man getadelt), [iiib] sondern die Unkenntnis des Einzelnen, also der Umstände, in denen die Handlung besteht und mit denen sie zu tun hat. Solchen Menschen gelten nämlich Mitleid und Entschuldigung, denn wer über etwas davon in Unwissenheit ist, handelt unwillentlich.
In der EE kommt zwar fast wörtlich die gleiche terminologische Differenzierung vor wie die, mit der im zitierten Passus der Unterschied zwischen Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit zum Ausdruck gebracht wird (agnoôn kai dia to agnoein, EE 1225b10), allerdings verbindet Aristoteles damit in der EE keine explizite inhaltliche Unterscheidung.³²² Gleichwohl könnte das
EN III 2, 1110b24– 1111a2: [i] ἕτερον δ’ ἔοικε καὶ τὸ δι’ ἄγνοιαν πράττειν τοῦ ἀγνοοῦντα· ὁ γὰρ μεθύων ἢ ὀργιζόμενος οὐ δοκεῖ δι’ ἄγνοιαν πράττειν ἀλλὰ διά τι τῶν εἰρημένων, οὐκ εἰδὼς δὲ ἀλλ’ ἀγνοῶν. [ii] ἀγνοεῖ μὲν οὖν πᾶς ὁ μοχθηρὸς ἃ δεῖ πράττειν καὶ ὧν ἀφεκτέον, καὶ διὰ τὴν τοιαύτην ἁμαρτίαν ἄδικοι καὶ ὅλως κακοὶ γίνονται· τὸ δ’ ἀκούσιον βούλεται λέγεσθαι οὐκ εἴ τις ἀγνοεῖ τὰ συμφέροντα· [iiia] οὐ γὰρ ἡ ἐν τῇ προαιρέσει ἄγνοια αἰτία τοῦ ἀκουσίου ἀλλὰ τῆς μοχθηρίας, οὐδ’ ἡ καθόλου (ψέγονται γὰρ διά γε ταύτην) [iiib] ἀλλ’ ἡ καθ’ ἕκαστα, ἐν οἷς καὶ περὶ ἃ ἡ πρᾶξις· ἐν τούτοις γὰρ καὶ ἔλεος καὶ συγγνώμη· ὁ γὰρ τούτων τι ἀγνοῶν ἀκουσίως πράττει. Ich habe den Passus durch in eckige Klammern gesetzte kleine römische Ziffern gegliedert; mit Hilfe dieser Nummerierung werde ich im Folgenden auf die jeweiligen Teile der Passage Bezug nehmen. EE II 9, 1225b8 – 10: „Was also jemand nicht in Unwissenheit und durch sich selbst tut, wenn es auch bei ihm liegt, es nicht zu tun, das ist notwendigerweise willentlich, und dies ist das Willentliche. Was man in Unwissenheit und aufgrund von Unwissenheit tut, ist unwillentlich.“ [ὅσα μὲν οὖν ἐφ’ ἑαυτῷ ὂν μὴ πράττειν πράττει μὴ ἀγνοῶν καὶ δι’ αὑτόν, ἑκούσια ταῦτ’ ἀνάγκη εἶναι, καὶ τὸ ἑκούσιον τοῦτ’ ἐστίν· ὅσα δ’ ἀγνοῶν καὶ διὰ τὸ ἀγνοεῖν, ἄκων.].
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3 Unwissenheit als Ausschlusskriterium für Willentlichkeit
Anführen beider Ausdrücke in der EE als ein Hinweis darauf aufgefasst werden, dass er auch hier einen Unterschied im Auge hat und die Ausdrücke nicht als Synonyme versteht. So könnte man „καὶ“ in 1225b10 in der Wendung „ἀγνοῶν καὶ δι’ αὑτόν“ auch epexegetisch auffassen, so dass Aristoteles an dieser Stelle präzisierend auf den Fall von Unwissenheit aufmerksam macht, in dem das Fehlen des relevanten Wissens entschuldbar ist und die Unwillentlichkeit der Handlung zur Folge hat.
3.2.1 Terminologische Bemerkungen In der EN führt Aristoteles mit der Unterscheidung zwischen Handlungen aufgrund von Unwissenheit (di’ agnoian) und Handlungen in Unwissenheit (agnoôn) eine wichtige Differenzierung ein. Zunächst ist die Übersetzung von „ἄγνοια“ mit „Unwissenheit“ erläuterungsbedürftig, wenn wir auf die Beispiele blicken, die Aristoteles im Folgenden (1111a8 – 15) dafür gibt. Während man im Deutschen unter Unwissenheit einen Mangel an Wissen, d. h. die Unkenntnis bestimmter Tatsachen, versteht, machen die Beispiele deutlich, dass Aristoteles „ἄγνοια“ in einer deutlich weiteren Bedeutung gebraucht.³²³ Zum einen verwendet er den Ausdruck in Fällen, in denen eine Person aufgrund einer falschen Meinung handelt. Hier liegt kein Mangel an Wissen vor, sondern eine Fehleinschätzung bzw. ein Irrtum über Aspekte der Handlung, die zwar auch auf einem Mangel an Wissen beruhen können, jedoch weiter reichen, da das Wissensdefizit hierbei zu einer falschen Überzeugung über die Handlungsumstände geführt hat.³²⁴ Zum anderen spricht Aristoteles manchmal auch dann von agnoia, wenn fraglich ist,
Das Gleiche gilt z. B. auch für das Englische und Französische, insofern „ignorance“ in beiden Sprachen ebenfalls eine engere Bedeutung hat als „ἄγνοια“. Dies gilt z. B. für das später angeführte Beispiel der Merope, die ihren eigenen Sohn für einen Feind hielt (1111a11– 12). Das Beispiel ist Gegenstand von Euripides’ verlorener Tragödie Kresphontes (Nauck 1926, 497– 501). Meropes Sohn Kresphontes gibt, um den Tod seines Vaters zu rächen, vor, sein eigener Mörder zu sein, und verlangt den Preis, der auf seinen Kopf ausgesetzt ist. Merope will ihn im Schlaf töten – im Glauben, den Mörder ihres Sohnes zu töten. Kenny spricht hier von einem positively mistaken belief im Unterschied zu einem error, der in einem bloßen Mangel an Wissen besteht (Kenny 1979, 49). Echeñique gibt zu bedenken, dass das Beispiel offenlässt, ob Meropes Meinung falsch ist, weil (1) es sich bei der Person vor ihr überhaupt nicht um einen Feind handelt, oder ob (2) die Person vor ihr zwar ein Feind ist, sie aber insofern fehlgeht, als sie (2a) entweder die Person vor sich nicht mit ihrem Sohn identifiziert oder aber (2b) gar keine Meinung hat, um wen es sich bei der Person handelt (vgl. Echeñique 2012, 148 – 150). M. E. lässt sich dem Beispiel jedoch recht deutlich entnehmen, dass die erste Option gemeint ist, da nicht zu sehen ist, weshalb Meropes Sohn als ihr Feind betrachtet werden sollte.
3.2 Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit
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ob es sich überhaupt um ein epistemisches Defizit handelt und nicht vielmehr eine Unachtsamkeit oder ein Versehen vorliegen.³²⁵ Die Beispiele machen klar, dass er auch Handlungen, die wir intuitiv eher als eine Unachtsamkeit oder ein Versehen betrachten würden, als Handlungen, die aufgrund von Unwissenheit geschehen, bezeichnet. Wie die Beispiele im Einzelnen gedeutet werden können, werde ich später diskutieren.³²⁶ Zunächst ist wichtig festzuhalten, dass „Unwissenheit“ bei Aristoteles in einem deutlich weiteren Sinn als dem im Deutschen üblichen zu verstehen ist.³²⁷ Weiterhin ist bemerkenswert, dass Aristoteles für die Differenzierungen, die er in 1111a24– 31 (Abschnitte [i] und [ii])³²⁸ einführt, drei verschiedene Formulierungen verwendet. Für die Bezeichnung von Handlungen aufgrund von Unwissenheit verwendet er in [i] das Substantiv „ἄγνοια“ in Verbindung mit der Präposition „διά“. Wenn er davon (ebenfalls in [i]) Handlungen in Unwissenheit abgrenzt, wie sie eine Person z. B. in Trunkenheit oder im Zorn begeht, so verwendet er hierfür das Partizip Präsens „ἀγνοῶν“. Bei der Charakterisierung des Schlechten gebraucht er schließlich in [ii] „ἀγνοεῖν“ im Präsens Indikativ, was ich mit der Übersetzung „ist unwissend über…“ nachzuahmen versuche. Eine solche terminologische Unterscheidung ist sonst im Griechischen nicht üblich. Sie lässt sich aber m. E. gut nachvollziehen, wenn man sich die inhaltliche Differenzierung vor Augen führt, die Aristoteles damit treffen will.
3.2.2 Loenings Deutung als Unterscheidung zwischen Handlungen in partieller und in vollständiger Unwissenheit Bevor ich ausführe, wie ich den inhaltlichen Unterschied zwischen Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit auffasse, will ich noch eine alternative Deutung betrachten und begründen, weshalb ich sie nicht für plausibel halte. Dadurch soll zugleich deutlich werden, welchen Interpreta-
Dies gilt z. B. für die später zitierten Beispiele des Katapults, das plötzlich feuert, obwohl es nur gezeigt werden sollte, den Speer, der nicht stumpf, sondern spitz ist, und den Stein, der kein Bimsstein sondern ein schwerer Stein ist (1111a10 – 13). Vgl. Abschnitt „3.4.1 Die Beispiele im Einzelnen“. Ähnlich verhält sich dies auch bei Platon, der ebenfalls unter agnoia und amathia nicht nur einen Mangel an Wissen versteht, sondern auch eine Fehleinschätzung oder gar Unbelehrbarkeit. Das wird vor allem dort deutlich, wo er fehlende Tugendhaftigkeit als eine Art von Unwissenheit bestimmt (vgl. Tht. 170b, Tht. 176c; Sph. 267b-268d). Ich nehme hier auf die in das Zitat eingefügten kleinen römischen Gliederungsziffern Bezug.
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tionsspielraum der Text möglicherweise lässt und auf welche Art von Anhaltspunkten sich eine Deutung zu stützen hat. Loening spricht sich eingangs seiner Behandlung der Differenz zwischen „δι’ ἄγνοιαν“ und „ἀγνοῶν“ gegen die Annahme aus, dass Aristoteles mit den Ausdrücken eine eindeutige terminologische Unterscheidung verbindet.³²⁹ Als Beleg weist er auf eine spätere Passage in EN III 7 hin, wo Aristoteles anscheinend auch die Handlungen des Betrunkenen zu den Handlungen rechnet, die aufgrund von Unwissenheit geschehen.³³⁰ Aristoteles unterteilt an dieser Stelle Handlungen, die aufgrund von Unwissenheit geschehen, in solche, bei denen die handelnde Person nicht Ursache ihrer Unwissenheit ist (di’ agnoian hês mê autoi aition, 1113b24– 25), und solche, bei denen die handelnde Person selbst Ursache ihrer Unwissenheit ist (ean aitios einai dokê[i] tês agnoias, 1113b30 – 31). Für Letzteres führt er als Beispiel den Betrunkenen an. Wegen dieses abweichenden Gebrauchs zieht Loening in Zweifel, dass Aristoteles mit „δι’ ἄγνοιαν“ und „ἀγνοῶν“ einen inhaltlichen Unterschied verbindet. Denn indem Aristoteles in EN III 7 auch den Betrunkenen zu denjenigen rechnet, die aufgrund von Unwissenheit handeln, unterläuft er in Loenings Augen seine eigene etwaige Unterscheidung in EN III 2 sogleich wieder.³³¹ Einen zweiten Grund für seine Skepsis gegenüber einer terminologischen Unterscheidung erkennt Loening in dem Kriterium, mit dessen Hilfe Aristoteles in 1110b24– 27 zwischen Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit unterscheidet. Das Kriterium lautet, ob die Unwissenheit oder etwas anderes Ursache der Handlung gewesen ist. Mittels der Präposition „διά“ bezeichnet Aristoteles in b25 die Unwissenheit als Ursache einer Handlung, während er in b27 die zuvor genannten Zustände Trunkenheit oder Zorn als Ur-
Loening 1903, 216 – 217. 1113b21– 33. Loening wendet des Weiteren gegen die Annahme einer terminologischen Unterscheidung ein, dass Aristoteles auch denjenigen, der aufgrund von Unwissenheit handelt, als jemanden bezeichnet, der in Unwissenheit handelt (Loening 1903, 217). Dieser Hinweis ist jedoch nicht stichhaltig, da Aristoteles annehmen kann, dass Handeln aufgrund von Unwissenheit Handeln in Unwissenheit impliziert, Umgekehrtes aber nicht gilt. Ein einseitiges Implikationsverhältnis schließt den Befund einer terminologischen Differenz zwischen „δι’ ἄγνοιαν“ und „ἀγνοῶν“ nicht aus. Vgl. Aspasius in Eth. Nic. CAG XIX/1 63.24– 25: „Wenn jemand demnach etwas aufgrund von Unwissenheit tut, tut er es auch in Unwissenheit; aber wenn jemand etwas in Unwissenheit tut, tut er es nicht in jeder Weise aufgrund von Unwissenheit.“ [εἰ μὲν οὖν τις δι’ ἄγνοιάν τι ποιεῖ καὶ ἀγνοῶν ποιεῖ, εἰ δ’ ἀγνοῶν οὐ πάντως δι’ ἄγνοιαν.].
3.2 Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit
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sachen einer Handlung in Unwissenheit bestimmt.³³² In der bereits erwähnten Passage in EN III 7 sagt Aristoteles darüber hinaus, dass bei einer Handlung in Trunkenheit die Trunkenheit auch Ursache der Unwissenheit ist: [EN III 7, 1113b30 – 33]³³³ Denn sie bestrafen auch für das Unwissend-Sein selbst, sofern eine Person für ihre Unwissenheit verantwortlich zu sein scheint, wie z. B. die Strafe für die Betrunkenen doppelt ist, denn der Ursprung liegt in der handelnden Person. Sie hat nämlich das Nicht-betrunkenSein in ihrer Kontrolle, und dies ist Ursache der [bzw. ihrer] Unwissenheit.
Auf diesen Passus stützt Loening seinen Einwand gegen die Annahme, in der Ursache des Handelns das Unterscheidungskriterium zwischen Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit zu sehen. Wenn die Trunkenheit nämlich auch Ursache der Unwissenheit ist, dann kann laut Loening das Unterscheidungskriterium nicht sein, was Ursache des jeweiligen Handelns ist. Denn dann erschiene die Trunkenheit „doch nur als mittelbare, die Unwissenheit selbst dagegen auch hier als unmittelbare Ursache des Handelns“.³³⁴ Loening erkennt das Unterscheidungskriterium stattdessen im Gegenstandsbereich der Unwissenheit. Während eine Person, die aufgrund von Unwissenheit handelt, sich nur in Bezug auf einzelne Handlungsumstände in Unwissenheit befindet, ist eine Person, die wie der Betrunkene oder Zornige in Unwissenheit handelt, hinsichtlich aller Handlungsumstände unwissend. Loening fasst den Betrunkenen und den Zornigen als Beispiele für Menschen auf, die unter „krankhaften Bewußtseinsstörungen“ leiden,³³⁵ und interpretiert den Un-
Diese Ausdrucksweise lässt sich auch in der Übersetzung gut nachahmen: z. B. „par ignorance“ und „en ignorant“, „through/from ignorance“ und „in ignorance“ sowie auf Deutsch „aufgrund von Unwissenheit“ und „in Unwissenheit“. EN III 7, 1113b30 – 33: καὶ γὰρ ἐπ᾿ αὐτῷ τῷ ἀγνοεῖν κολάζουσιν, ἐὰν αἴτιος εἶναι δοκῇ τῆς ἀγνοίας, οἷον τοῖς μεθύουσι διπλᾶ τὰ ἐπιτίμια· ἡ γὰρ ἀρχὴ ἐν αὐτῷ· κύριος γὰρ τοῦ μὴ μεθυσθῆναι, τοῦτο δ’ αἴτιον τῆς ἀγνοίας. Loening 1903, 217. Loening 1903, 217– 218: „In diese Kategorie [i. e. die Kategorie derjenigen, die unter krankhaften Bewußtseinsstörungen leiden; BL] gehören aber auch schwer betrunkene und zornwütige Personen, wie sie vorher als Vertreter der ἀγνοοῦντες genannt waren, und so scheint es mir keinem Zweifel zu unterliegen, daß der Unterschied zwischen dem Handeln δι’ ἄγνοιαν und dem des ἀγνοῶν dahin zu verstehen ist, daß im ersteren Fall der Täter sich bei vollem Bewußtsein befindet und nur einzelne Dinge der Umgebung nicht richtig erkennt oder beurteilt, im letzteren dagegen in einem Zustand schwerer Bewußtseinsstörung, die ihn die Umgebung überhaupt nicht erkennen, ihn von sich selbst nichts mehr wissen läßt.“
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3 Unwissenheit als Ausschlusskriterium für Willentlichkeit
terschied somit als einen zwischen partieller und umfassender Unwissenheit über die Handlungsumstände.³³⁶ Loenings Auslegung erscheint mir in mehreren Hinsichten abwegig. Ich beginne mit dem letzten Schritt seiner Argumentation. Ich halte es erstens systematisch für unwahrscheinlich, dass sich jemand in einem Zustand völliger Unwissenheit befinden kann, zumal auch Rasenden und Wahnsinnigen zumindest einige Aspekte ihrer Handlungsumstände bewusst sein müssen. Wichtiger noch ist zweitens, dass Loenings Textbelege schwach sind. Er verweist für sein Verständnis der Trunkenheit auf die pseudo-aristotelischen Problemata Physica ³³⁷ und auf eine Belegstelle in Buch VII der EN ³³⁸, an der explizit von exzeptionellen Fällen von Trunkenheit und Zorn die Rede ist. Meistens denkt Aristoteles jedoch an moderate Fälle beider Zustände, und so scheint es auch in Buch III der Fall zu sein, da jeglicher Hinweis auf einen Ausnahmefall fehlt.³³⁹ Meine Kritik setzt aber schon früher an, nämlich zum einen bei Loenings Skepsis gegenüber der Annahme, in der Ursache des Handelns das Unterscheidungskriterium zwischen Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit zu sehen, und zum anderen bei seinem Vorbehalt, eine terminologische Unterscheidung bei Aristoteles anzunehmen. Im Unterschied zu Loening denke ich, dass Aristoteles sowohl in EN III 2 als auch in EN III 7 in der jeweiligen Ursache des Handelns das Kriterium dafür sieht, um zwischen Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit zu unterscheiden. Es ist freilich zuzugestehen, dass er in EN III 7 von seiner terminologischen Unterscheidung aus EN III 2 abweicht, wenn er dort auch Handlungen aufgrund von Trunkenheit zu denjenigen Handlungen zählt, die aufgrund von Unwissenheit geschehen. Aber diese terminologische Nachlässigkeit lässt sich m. E. damit entschuldigen, dass er in EN III 7 stattdessen als Differenzierung hinzufügt, ob die handelnde Person selbst Ursache ihrer Unwissenheit ist (wie im Fall der Trunkenheit) oder nicht. Diese Ergänzung ersetzt die terminologische Unterscheidung in EN III 2, da damit explizit gemacht wird, was zuvor mit der Wendung „δι’ ἄγνοιαν“ zum Ausdruck kommen sollte. Damit bleibt freilich noch offen, wie genau die Ursache des Handelns als Unterscheidungskriterium zu verstehen ist. Im nächsten Abschnitt stelle ich mein eigenes Verständnis vor. Das
Loenings Deutung folgt auch Kraus (Kraus 1905, 64– 67). In der neueren Literatur wird die Ansicht, dass es sich um extreme Formen der Trunkenheit handeln muss, z. B. von Bostock vertreten (2000, 110): „[I]n the case of extreme drunkenness that Aristotle seems to have in mind, once I have got drunk, my actions are no longer ‚within my powerʻ.“ PP III, insbesondere die Kapitel 2, 9, 10, 16, 20, 27, 30 und 31. EN VII 5, 1147a14. So auch z. B. Maschke 1926,152 sowie Broadie/Rowe 2002, 313.
3.2 Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit
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wird mich auch zu einer anderslautenden Deutung der Unterscheidung führen, die damit getroffen werden soll.
3.2.3 Die Unterscheidung zwischen Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit anhand des Kriteriums der Ursache des Handelns In EN III 2 bezeichnet Aristoteles die Unwissenheit als Ursache einer Handlung, die aufgrund von Unwissenheit geschieht. Bei einer Handlung, die nicht aufgrund von Unwissenheit, sondern aufgrund von Trunkenheit oder Zorn erfolgt, sind demgegenüber Trunkenheit oder Zorn Ursache der Handlung. Grant interpretiert diesen Unterschied derart, dass bei einer Handlung aufgrund von Trunkenheit die Unwissenheit nicht Ursache der Handlung ist, sondern die Unwissenheit den Zustand der Trunkenheit lediglich begleitet, d. h., dass die handelnde Person sich während ihres Handelns in einem Zustand der Unwissenheit (agnoôn) befindet.³⁴⁰ Eine solche Deutung lehnt Loening mit Berufung auf die Textstelle in EN III 7 ab, weil Aristoteles dort die Trunkenheit als Ursache dafür bezeichnet, dass eine Person sich in Unwissenheit befindet. Daraus folgert Loening offenbar, dass die Unwissenheit dann auch Ursache der Handlung ist, wodurch er zu seiner Annahme gelangt, dass demnach auch bei Handlungen aufgrund von Trunkenkeit letztlich die Unwissenheit die unmittelbare Ursache der Handlung ist. Allerdings bezeichnet Aristoteles an dieser Stelle die Unwissenheit, in die eine Person durch ihr Betrinken gerät, überhaupt nicht als Ursache der Handlungen, die die Person infolge ihrer Trunkenheit in Unwissenheit ausführt. Loenings Schluss erscheint somit nicht zulässig. Loening verkennt offenbar, worauf es bei der Ursache als Unterscheidungskriterium ankommt. Denn im Fall von Trunkenheit hat die handelnde Person selbst Kontrolle darüber, in den Zustand der Trunkenheit zu geraten. Aufgrund von Trunkenheit in Unwissenheit zu geraten, ist vermeidbar, da es (unter normalen Umständen)³⁴¹ bei der handelnden Person liegt, betrunken zu werden oder
Vgl. Grant 1866, 11; Taylor 2006, 144: „[…] while error [i. e. ἄγνοια; BL] is a feature of what the agent does (the nature of the error is not specified at this point), the cause of the action is identified not as the error, but as the state of anger or drunkenness.“ Ich sehe hier ab von dem Fall, in dem eine Person gewaltsam dazu gezwungen wird, betrunken zu werden. Man könnte hier beispielsweise an die Szene in Hitchcocks North by Northwest denken, in der Roger Thornhill durch die Gehilfen des Gangsters Philip Vandamm mit Whiskey abgefüllt wird, um ihn danach betrunken in ein Auto zu setzen, damit er sich fahruntüchtig über die Klippen in den Abgrund manövriert (was Thornhill aber nicht passiert). Diesen Fall würde
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3 Unwissenheit als Ausschlusskriterium für Willentlichkeit
nicht. Sie ist zwar auch Ursache ihrer Unwissenheit; das heißt aber nicht, dass sie nur noch „mittelbare“ Ursache von Handlungen ist, die sie in diesem Zustand der Unwissenheit ausführt. Vielmehr ist sie sowohl Ursache ihrer Trunkenheit als auch ihrer daraus resultierenden Unwissenheit und infolgedessen auch von Handlungen, die sie in Unwissenheit ausführt.³⁴² Die Unwissenheit, in der sie sich infolge von Trunkenheit befindet, hat keine der Person externe Ursache, so dass sie dafür zu entschuldigen wäre, sondern die Unwissenheit ist auf sie selbst zurückzuführen.³⁴³ Deshalb wird sie bei dieser Art von Unwissenheit für ihre schlechte Handlung auch zu Recht getadelt und bestraft.³⁴⁴ Den bisher betrachteten Textstellen ist freilich noch nicht klar zu entnehmen, was letztlich der Grund dafür sein soll, dass die Unwissenheit sich auf die Person zurückführen lässt. Andere Passagen machen jedoch deutlich, dass nach Aristoteles Unwissenheit dann auf eine Person zurückzuführen ist, wenn ihr Charakter Grund dafür war, dass die Person in den Zustand der Unwissenheit geraten ist. So liegt es beispielsweise am Charakter einer Person, ob und in welchen Maße sie sich betrinkt.³⁴⁵ Demgegenüber ist eine Person im Fall einer Handlung, die sie aufgrund von Unwissenheit ausführt, nicht als Ursache ihrer Unwissenheit zu bezeichnen. Dass die handelnde Person nicht Ursache ihrer Unwissenheit ist, lässt sich dadurch erläutern, dass die Unwissenheit für sie unvermeidbar gewesen ist.³⁴⁶ Unvermeidbarkeit bedeutet hierbei nicht, dass die Unwissenheit notwendig war, sondern dass sie auf derart außergewöhnlichen Tatsachen beruht, von denen nicht zu erwarten ist, dass die Person über das entsprechende Tatsachenwissen hätte verfügen können.³⁴⁷ Da die Exzeptionalität der Umstände Grund dafür ist, dass die Aristoteles vermutlich als ein Beispiel für eine Handlung, die durch Gewalt zustande kommt, ansehen, und sie wäre dann schon allein wegen der externen Gewalteinwirkung als unwillentlich zu bezeichnen. Vgl. Grant 1866, 11: „[…] ignorance cannot be said to be the cause of an act if the individual be himself the cause of the ignorance. In that case ignorance rather accompanies the act (ἀγνοῶν πράττει) than causes it (δι᾿ ἄγνοιαν πράττει).“ Vgl. Aspasius in Eth. Nic. CAG XIX/1 63.25 – 29. Im nächsten Abschnitt „3.2.4 Sind Handlungen, die aufgrund von Trunkenheit oder Zorn geschehen, willentlich oder unwillentlich?“ werde ich mich näher mit der Frage beschäftigen, ob Aristoteles die Handlungen des Betrunkenen als willentlich oder als unwillentlich ansieht. Vgl. Stewart 1892, 235. Diesen Zusammenhang werde ich im letzten Kapitel zu EN III 7 ausführen: vgl. insb. Abschnitt „13.4 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit des Charakters: 1113b21– 1114a31“. Vgl. Stewart 1892, 234– 235. In diesem Sinn ist auch Grants Rede von „chance mistakes“ zu verstehen: Insofern es sich bei einem Irrtum um einen Zufall handelt, ist von niemandem zu erwarten, über das entsprechende Wissen zu verfügen, um diesen zu vermeiden.
3.2 Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit
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Person sich darüber in Unwissenheit befindet, ist die Unwissenheit nicht auf sie zurückzuführen. Verantwortlich für die Unwissenheit scheinen vielmehr Faktoren zu sein, die der Person äußerlich sind. Diese Art unvermeidbarer Unwissenheit betrachten manche Kommentatoren deshalb als eine externe Ursache für eine Handlung.³⁴⁸ Sie erfüllt damit in analoger Weise das Externalitätskriterium wie eine Form von Gewalt (bia), die von außen auf die handelnde Person einwirkt.³⁴⁹ Weil die Ursache der Unwissenheit der handelnden Person extern ist und sich nicht auf deren Charakter zurückführen lässt, verdient sie für Handlungen, die sie aufgrund dieser Art von Unwissenheit ausführt, auch keinen Tadel, sondern ihr Handeln ist zu entschuldigen. Meiner Interpretation nach geht Loening somit in seiner Auslegung des Unterschieds zwischen Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit in [i] fehl, weil er das Unterscheidungskriterium der Ursache des Handelns missversteht. Aristoteles stützt sich bei seiner Differenzierung auf dieses Kriterium. Er verwendet es m. E. dazu, Handlungen, die in Unwissenheit geschehen, in solche zu unterteilen, bei denen die Unwissenheit einen der handelnden Person externen Ursprung hat, und solche, bei denen sich der Ursprung der Unwissenheit auf die handelnde Person zurückführen lässt, wie es bei der Trunkenheit der Fall ist. Schwierig ist freilich anzugeben, was es heißt, dass die Unwissenheit eine externe Ursache hat. Negativ lässt sich dies dadurch eingrenzen, dass die Unwissenheit in keiner Weise auf den Charakter der Person zurückzuführen ist. Eine positive Bestimmung ist jedoch schwieriger, und man scheint sich mit einer allgemeinen Charakterisierung behelfen zu müssen: Die Unwissenheit beruht auf Handlungsumständen, die exzeptionell sind und von denen deswegen vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, dass die handelnde Person sie kennt. Man könnte hier an einen Fall denken, in dem sich aus Zufall etwas an den Handlungsumständen ändert, ohne dass die handelnde Person davon Kenntnis nimmt. Wenn z. B. ein verdecktes Leck in der Wasserleitung dazu führt, dass eine giftige Substanz in das Leitungswasser eindringen kann, so lässt sich die Unwissenheit einer Person über die Schädlichkeit des Wassers, das sie aus dem Wasserhahn schöpft, als extern verursacht bezeichnen.
Stewart 1892, 235: „His ignorance [i. e. unavoidable ignorance; BL] therefore is described as ἡ καθ᾿ ἕκαστα, and counts as an external cause co-ordinate with βία, the preposition διά in the phrase δι᾿ ἄγνοιαν πράττειν expressing, as Michelet remarks, an agency distinct from himself, i. e. ignorance not due to is own carelessness or other bad habits.“ Vgl. auch Grant 1866, 11: „The only ignorance, then, which is purely external to the agent, so as to take away from him the responsibility of the act, is some chance mistake with regard to the particular facts of the case.“ Zum Externalitätskriterium in Bezug auf Gewalt: vgl. Abschnitt „2.1.2 Die Testfälle des Beherrschten und des Unbeherrschten“.
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3 Unwissenheit als Ausschlusskriterium für Willentlichkeit
Es ist nicht vernünftigerweise zu erwarten, dass jemand die Qualität des Leitungswassers jedes Mal wieder von Neuem prüft, nachdem die Erfahrung gezeigt hat, dass noch nie etwas an der Wasserqualität auszusetzen gewesen ist.³⁵⁰ Da ich die Ursächlichkeit des Handelns als Unterscheidungskriterium ernstnehme, komme ich auch zu einem anderen Ergebnis als Loening, zwischen welchen Arten von Handlungen in Unwissenheit Aristoteles in [i] einen Unterschied treffen will. Es geht m. E. um den Unterschied zwischen Handlungen, bei denen die Unwissenheit von äußeren Faktoren herrührt und für welche die handelnde Person deswegen zu entschuldigen ist (und möglicherweise sogar Mitleid verdient), und Handlungen, bei denen die Unwissenheit auf die handelnde Person zurückgeht und für welche sie Tadel verdient, wenn es sich um eine schlechte Handlung handelt. Mein Verständnis, dass es um die Unterscheidung zwischen entschuldbaren und nicht-entschuldbaren Arten unwissentlicher Handlungen geht, führt direkt zu der Frage nach der Willentlichkeit der Handlungen. Dieser Frage will ich im folgenden Abschnitt ausführlicher nachgehen, da es, wie sich zeigen wird, nicht einfach zu beurteilen ist, ob Aristoteles Handlungen aufgrund von Trunkenheit oder Zorn als willentlich oder unwillentlich aufgefasst hat.
3.2.4 Sind Handlungen, die aufgrund von Trunkenheit oder Zorn geschehen, willentlich oder unwillentlich? Bisher ist in der Behandlung des Unterschieds zwischen Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit die Frage nach deren Willentlichkeit noch nicht zur Sprache gekommen. Das liegt in erster Linie daran, dass im bisher diskutierten Abschnitt [i] nicht explizit davon die Rede ist, ob die betrachteten Handlungen willentlich oder unwillentlich (oder auch nicht-willentlich) sind. Tatsächlich findet sich im ganzen Passus EN 1110b24– 1111a2 nur eine einzige ausdrückliche Erwähnung der Willentlichkeit, und zwar wenn Aristoteles im letzten Satz von einer Person, die in Unkenntnis über die Einzelumstände ihrer Handlung handelt, sagt, dass sie ἀκουσίως handelt und deswegen Mitleid und Entschuldigung verdient. Es liegt nahe und wird auch, soweit ich sehe, von niemandem bestritten, Handlungen aufgrund von Unwissenheit mit denjenigen Handlungen zu identifizieren, die in [iiib] näher beschrieben wer-
Vgl. zu einem ähnlichen Beispiel: Anscombe 1957, § 23.
3.2 Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit
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den.³⁵¹ In [iiib] wird demnach das Spezifische der Unwissenheit erläutert, die vorliegt, wenn man davon spricht, dass jemand aufgrund von Unwissenheit handelt: Eine Person, die aufgrund von Unwissenheit handelt, befindet sich in Unkenntnis über einen oder mehrere Einzelumstände ihres Handelns. Sie verdient dafür, so Aristoteles weiter, Entschuldigung und Mitleid, da sie unwillentlich handelt.³⁵² Um zu beurteilen, ob Handlungen aufgrund von Trunkenheit willentlich oder unwillentlich geschehen, ist es dagegen nötig, andere Hinweise mit zu berücksichtigen, da Aristoteles sie in unserem Passus explizit weder willentlich noch unwillentlich nennt. Aufschlussreich ist hier, dass er in der zitierten Passage in EN III 7³⁵³ sagt, dass Betrunkene für ihre Handlungen bestraft werden. Dass jemand Tadel oder gar Strafe für sein Handeln verdient, setzt voraus, dass die Handlung willentlich geschehen ist.³⁵⁴ Demnach sieht es zumindest so aus, als fasse Aristoteles Handlungen aufgrund von Trunkenheit³⁵⁵ als willentliche Handlungen auf.
3.2.4.1 Loening: Handlungen aufgrund von Trunkenheit als unwillentliche, aber tadelnswerte Handlungen Loening gelangt jedoch, wie wir gesehen haben, zu einer anderen Einschätzung: Er betrachtet Handlungen aufgrund von Trunkenheit als unwillentliche Handlungen. Dies erscheint insofern konsequent, als er solche Handlungen den Handlungen einer Person mit krankhaften Bewusstseinsstörungen gleichstellt, da ihm zufolge auf beide zutrifft, dass die handelnde Person sich in vollständiger
Ich werde später genauer auf die Beziehung der einzelnen Abschnitte von EN III 2, 1110b24– 1111a2 zueinander eingehen; vgl. Abschnitt „3.3.1 Übergang zu den Handlungen des Schlechten, der unwissend handelt“. Kenny bemerkt dazu, dass Aristoteles in [iiib] nicht behaupten will, dass unwillentliche Handlungen, die aufgrund von Unwissenheit bezüglich der Einzelumstände geschehen, zwangsläufig zu entschuldigen sind. Hier sei lediglich Raum, Menschen für solche Handlungen zu entschuldigen oder zu bemitleiden (Kenny 1979, 52). Kenny liefert jedoch für seine abwegige Deutung keinen Anhaltspunkt im Text; sie scheint vielmehr seiner Auffassung geschuldet zu sein, dass Aristoteles’ Position andernfalls zu milde gegenüber den Handlungen aufgrund von Unwissenheit ist. Dies reicht aber als Rechtfertigung einer begründungsbedürftigen Lesart sicher nicht aus. Vgl. EN III 7, 1113b32– 33; zitiert in meiner Anm. 333, S. 127. Vgl. z. B. EN III 1, 1109b30 – 32; zitiert in meiner Anm. 245, S. 96. Ich beschränke mich hier und im Folgenden auf das Beispiel der Trunkenheit, zumal in der Parallelstelle in EN III 7 nur von den Handlungen des Betrunkenen die Rede ist. Handlungen aufgrund von Zorn (thymos) werden Thema eines eigenen Kapitels sein; vgl. „10. Die Zurechenbarkeit von Handlungen aus thymos“.
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3 Unwissenheit als Ausschlusskriterium für Willentlichkeit
Unwissenheit über ihre Handlungssituation befindet.³⁵⁶ Gleichwohl will Loening aber an der Annahme festhalten, dass Personen für diese Handlungen eine andere moralische Beurteilung verdienen als für Handlungen aufgrund von Unwissenheit, wie der Hinweis auf die Bestrafung solcher Handlungen in EN III 7 nahelegt. Zur Begründung seiner Position beruft er sich auf eine bemerkenswerte Stelle am Ende des 10. Kapitels in EN V: [EN V 10, 1136a5 – 9]³⁵⁷ Unwillentliche Handlungen sind teils entschuldbar, teils auch nicht. Was wir nicht nur in Unwissenheit, sondern auch aufgrund von Unwissenheit tun, ist entschuldbar; nicht-entschuldbar ist hingegen, was wir nicht aufgrund von Unwissenheit, sondern in Unwissenheit aufgrund eines Affekts begehen, der weder natürlich noch menschlich ist.
Aristoteles trifft hier innerhalb der unwillentlichen Handlungen, die in Unwissenheit geschehen, einen interessanten Unterschied zwischen entschuldbaren und nicht-entschuldbaren Handlungen. Entschuldigung (syngnômê) verdient jemand für Handlungen, die aufgrund von Unwissenheit geschehen. Nicht zu entschuldigen sind Personen dagegen für Handlungen, die zwar auch als unwillentlich gelten, weil sie in Unwissenheit vollzogen werden, die aber nicht aufgrund von Unwissenheit geschehen; sie geschehen vielmehr in Unwissenheit, weil sie „aufgrund eines Affekts, der weder natürlich noch menschlich ist“ (dia pathos de mête physikon mêt’anthrôpinon), zustande gekommen sind. Man könnte vielleicht auch sagen, dass dieser Affekt in diesem Fall Ursache für die Unwissenheit ist, welche die unwissentliche Handlung begleitet. Loening vertritt nun die Ansicht, dass die Handlungen des Betrunkenen und Zornigen zur Gruppe derartiger nichtentschuldbarer Handlungen, die in Unwissenheit geschehen, zu rechnen sind: Sie sind unwillentlich, weil sie in Unwissenheit geschehen, aber sie geschehen nicht aufgrund von Unwissenheit, sondern aufgrund eines unnatürlichen oder unmenschlichen Affekts, und deshalb verdient die handelnde Person für sie eine andere moralische Beurteilung als für Handlungen aufgrund von Unwissenheit; genauer gesagt, verdient sie dafür keine Entschuldigung.³⁵⁸ Loenings Identifizierung von Handlungen des Betrunkenen mit den nichtentschuldbaren unwillentlichen Handlungen, von denen am Ende von EN V 10 die Rede ist, halte ich aus mehreren Gründe für zweifelhaft. Aristoteles gibt an dieser Stelle zwar kein Beispiel für einen solchen Affekt, es kann sich aber m. E. weder Loening 1903, 219 – 220. EN V 10, 1136a5 – 9: τῶν δ’ ἀκουσίων τὰ μέν ἐστι συγγνωμονικὰ τὰ δ’ οὐ συγγνωμονικά. ὅσα μὲν γὰρ μὴ μόνον ἀγνοοῦντες ἀλλὰ καὶ δι’ ἄγνοιαν ἁμαρτάνουσι, συγγνωμονικά, ὅσα δὲ μὴ δι’ ἄγνοιαν, ἀλλ’ ἀγνοοῦντες μὲν διὰ πάθος δὲ μήτε φυσικὸν μήτ’ ἀνθρώπινον, οὐ συγγνωμονικά. Loening 1903, 220.
3.2 Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit
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um Trunkenheit noch um den Zorn handeln. Trunkenheit ist kein Affekt, und der Zorn wurde kurz zuvor in EN V 10 ausdrücklich als ein Affekt angeführt, der die Menschen „notwendigerweise oder auf natürliche Weise“ befällt (1135b21). Der Zornige wird dort als jemand charakterisiert, der ein Unrecht begeht, weil er wissentlich und damit willentlich, wenn auch ohne Überlegung, handelt. Diese Charakterisierung schließt es aus, Handlungen im Zorn mit Handlungen zu identifizieren, die aufgrund eines unnatürlichen und unmenschlichen Affekts geschehen.³⁵⁹ Da Loenings Erklärungsversuch scheitert, bleibt die Frage bestehen, welche Affekte Aristoteles hiermit wohl gemeint haben könnte.³⁶⁰ Um dies sagen zu können, ist es hilfreich, zunächst zu bestimmen, was er unter einem natürlichen und was er unter einem menschlichen Affekt versteht. Denn die implizite Annahme scheint zu sein, dass eine unwissentliche Handlung, bei der die Unwissenheit auf einen natürlichen oder menschlichen Affekt zurückzuführen ist, nicht nur unwillentlich geschieht, sondern auch entschuldbar ist.³⁶¹ Ein Beispiel für einen natürlichen Affekt, der Lebewesen aufgrund ihrer Natur widerfährt, könnte der Fall sein, wenn ein Lebewesen völlig dehydriert ist und sein Begehren nach etwas Trinkbarem unmittelbar durch die Wahrnehmung von etwas Flüssigem erregt wird.³⁶² Es liegt in der Natur jedes Lebewesens, auf Dehydrierung mit dem
Eine weitere Schwierigkeit für Loenings Deutung, die Handlungen des Betrunkenen als unwillentlich, aber tadelnswert anzusehen, ist, dass sie auf seiner Annahme beruht, dass es sich um Handlungen in vollständiger Unkenntnis der Umstände handelt. Für seine Deutung bleibt damit die Frage bestehen, wie Aristoteles die Handlungen eines nur moderat Betrunkenen beurteilt hätte, der sich nur in partieller Unkenntnis befindet. Handelt dieser auch unwillentlich oder aber willentlich? Da es Aristoteles m. E. hauptsächlich um solche Handlungen in moderater Trunkenheit geht, ist diese Leerstelle bedenklich. Meine Deutung deckt sich im Wesentlichen mit derjenigen Meyers, die ebenfalls unnatürliche und nicht-menschliche Affekte als solche bestimmt, die vom Charakter der handelnden Person herrühren und nicht auf deren (menschliche) Natur zurückzuführen sind (Meyer 2011, 178 – 179). Dagegen kann die Deutung von Echeñique nicht zutreffend sein, der die Affekte als Nachlässigkeit, Schmerz und Lust bestimmt (Echeñique 2012, 164). Erstens betrachtet Aristoteles diese drei Dinge als etwas Menschliches, und zweitens macht er klar, dass weder Nachlässigkeit (vgl. EN III 7) noch Schmerz und Lust (vgl. z. B. EN III 1) eine Handlung unwillentlich machen. Vgl. auch EN VII 7, 1149b4– 6: „Ferner ist es auch eher zu verzeihen, wenn jemand den natürlichen Strebungen folgt, da es auch eher [zu verzeihen] ist, solchen Begierden zu folgen, die allen gemeinsam sind und insofern sie allen gemeinsam sind.“ Aristoteles erwähnt und erläutert natürliche Begierden in EN III 13, 1118b8 – 11 und 1118b15 – 19: „Von den Begierden scheinen die einen allen gemeinsam zu sein, die anderen den Individuen eigen und hinzugekommen. Die Begierde nach Nahrung ist z. B. natürlich, da jeder, dem es daran mangelt, feste oder flüssige Nahrung begehrt, manchmal auch beides […]. Bei den natürlichen Begierden gehen wenige fehl und nur in einer Weise, im Zuviel; denn das Essen und
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3 Unwissenheit als Ausschlusskriterium für Willentlichkeit
Streben nach Trinkbarem zu reagieren, und die Gier nach Trinkbarem kann derart stark sein, dass ein Lebewesen nicht mehr weiß, was es tut, sondern nur seiner Begierde folgt. Ein Beispiel für einen menschlichen Affekt, der Menschen im Normalfall aufgrund ihrer menschlichen Natur befällt, ist der Fall, wenn ein Mensch bei einer Naturkatastrophe wie z. B. einem Tsunami Furcht zeigt, alles zurückläßt und flieht.³⁶³ Aristoteles scheint selbst ein ähnliches Ereignis wie einen Tsunami vor Augen zu haben, wenn er im Kontext seiner Behandlung der Tapferkeit ein Beispiel für etwas gibt, was jedem Menschen natürlicherweise Furcht einflößt: „[…] einer möge irgendwie wahnsinnig oder unempfindlich heißen, wenn er nichts fürchtete, weder Erdbeben noch Wellen […]“.³⁶⁴ Es liegt in der Natur des Menschen, angesichts derartiger furchterregender Ereignisse Furcht zu zeigen, die so heftig ist, dass ein Mensch unter Umständen nicht mehr weiß, was er tut, sondern gleichsam blind seinen Affekten folgt. In Abgrenzung zu diesen Beispielen für natürliche und menschliche Affekte lässt sich nun bestimmen, was Aristoteles wohl unter einem unnatürlichen und einem nicht-menschlichen Affekt versteht. Ein Beispiel wäre etwa der Fall, wenn ein Mensch auf eine vorbeischwirrende Fliege mit der gleichen Furcht reagierte wie auf einen Tsunami.³⁶⁵ Reagierte eine Person auf eine Fliege mit solcher Furcht,
Trinken des gerade Verfügbaren, bis man übervoll ist, bedeutet, über das hinsichtlich der Menge Naturgemäße hinauszugehen. Die natürliche Begierde besteht (nur) im Auffüllen eines Mangels.“ Aus dem Kontext der Stelle geht hervor, dass natürliche Begierden nicht nur allen Menschen gemeinsam, sondern Tieren und Menschen gemeinsam sind. Denn der Passus steht im Kontext der Behandlung der Mäßigkeit, und Mäßigkeit und Unmäßigkeit bestimmt Aristoteles als Dispositionen, die sich auf körperlich Lustvolles (Essen, Trinken, Sex) beziehen, d. h. auf Dinge, die für Tiere und Menschen gleichermaßen lustvoll sind. Dass Aristoteles annimmt, dass es Dinge gibt, die für jeden Menschen furchterregend sind, wenn auch in unterschiedlichem Maß, geht aus folgender Stelle hervor (EN III 10, 1115b7– 11): „Das Furchterregende ist zwar nicht für jeden dasselbe, aber von manchem sagen wir auch, dass es über das Menschliche geht. Dies ist furchterregend für jeden, zumindest für den, der Vernunft hat. Die Dinge, die gemäß dem Menschlichen furchterregend sind, unterscheiden sich nach Größe und dem Mehr oder Weniger, und gleichermaßen ist es für die Dinge, die Mut erzeugen. Der Tapfere ist so unerschrocken, wie es noch menschlich ist.“ EN III 10, 1115b26 – 27: εἴη δ᾿ ἄν τις μαινόμεμος ἢ ἀνάλγητος, εἰ μηδὲν φοβοῖτο, μήτε σεισμὸν μήτε κύματα […]. Vgl. Pol. VII 1, 1323a27– 34: „[…] und niemand wird denjenigen glückselig nennen, der keine Spur von Tapferkeit (andreia), von Mäßigkeit (sôphrosynê), von Gerechtigkeit (dikaiosynê) und von Klugheit (phronêsis) besitzt, sondern sich vor jeder vorüberflatternden Fliege fürchtet, sich, wenn die Begierde nach Essen und Trinken in ihm aufsteigt, auch von dem schlimmsten Exzeß nicht zurückhält und um einen Groschen seine nächsten Freunde zugrunde richtet, und ebenso steht es
3.2 Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit
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dass sie nicht mehr weiß, was sie tut, so würde Aristoteles diese Handlung wohl als unwillentlich bezeichnen, weil sie in Unwissenheit geschieht; sie wäre aber – anders als eine Handlung in Unwissenheit, die aufgrund eines natürlichen oder menschlichen Affekts geschieht – nicht zu entschuldigen, weil ein nichtmenschlicher Affekt Ursache der Unwissenheit ist. Dieser nicht-menschliche Affekt ist auf ein charakterliches Defizit der Person zurückzuführen. Das Defizit besteht darin, dass sie nicht über Tapferkeit verfügt, sondern aufgrund ihrer Feigheit dazu disponiert ist, unnatürliche und nicht-menschliche Affekte zu verspüren, die ihr auch bei solchen Dingen Furcht einflößen, die ihr keine Angst bereiten sollten. Diese aristotelische Einschätzung nicht-menschlicher Affekte mag uns heute merkwürdig vorkommen, da wir derartige Fälle wohl eher als Phobien oder Pathologien einstufen würden. Aristoteles sagt zwar leider sehr wenig zu solchen Phänomenen, die wenigen Beispiele, die er gibt, deuten aber darauf hin, dass er einige dieser Erscheinungen wie das Beispiel der Furcht vor einer vorbeischwirrenden Fliege auf ein charakterliches Defizit zurückführen würde.
3.2.4.2 Siegler: Handlungen aufgrund von Trunkenheit als unwillentliche, aber tadelnswerte Handlungen mittels einer Modifikation der möglichen adäquaten Bezugsgegenstände von Tadel Loening stellt mit seiner Deutung eine zentrale Annahme in Aristoteles’ Bestimmung des Willentlichen in Frage:³⁶⁶ (1) Lob und Tadel richten sich auf Willentliches. (Entschuldigung und Mitleid beziehen sich auf Unwillentliches.)³⁶⁷
auch mit dem Denken, denn auch den preist man nicht glücklich, der so verstandesschwach und verkehrt ist wie ein Kind oder ein Wahnwitziger [Übersetzung leicht verändert nach Susemihl].“ Ein anderes Beispiel, das möglicherweise für alle Lebewesen (außer Pflanzen) gilt, könnte der Fall sein, wenn ein Lebewesen eine große Gier auf etwas Trinkbares verspürt und sich darauf stürzt, obwohl das Lebewesen sich in einem ausgeglichenen natürlichen Zustand befindet und nicht auf etwas Flüssiges angewiesen ist. Verspürt eine Person in einer solchen Situation eine unbändige Gier, so dass sie nicht mehr weiß, was sie tut, so handelt sie zwar unwillentlich, aber ihr Handeln verdient keine Entschuldigung. Denn ihr unmäßiges Handeln beruht auf einem charakterlichen Defizit. Es sei darauf hingewiesen, dass ich im Folgenden davon ausgehe, dass es sich jeweils um schlechte, d. h. tadelnswerte, Handlungen handelt, die der Betrunkene in Unwissenheit ausführt. Außen vor bleiben also Handlungen, die gut oder moralisch neutral sind. Vgl. z. B. EE 11, 1228a9 – 11: „Deshalb wird das Laster getadelt und die Tugend gelobt. Denn für schlimme und schlechte Handlungen, die unwillentlich sind, wird man nicht getadelt, und für
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3 Unwissenheit als Ausschlusskriterium für Willentlichkeit
Auch andere Autoren haben erwogen, diese Annahme zu bestreiten, ohne dabei freilich Loenings Vorschlag zu folgen, Handlungen aufgrund von Trunkenheit als Handlungen in vollständiger Unwissenheit zu deuten.³⁶⁸ Sie verweisen dazu auf Aristoteles’ Bestimmung unwillentlicher Handlungen aufgrund von Unwissenheit in [iiib]. Diese Charakterisierung trifft offenbar in gleicher Weise auf die Handlungen des Betrunkenen zu, der sich infolge seiner Trunkenheit über einen oder mehrere Umstände seines Handelns in Unkenntnis befindet.³⁶⁹ Da auch Handlungen aufgrund von Trunkenheit diese Beschreibung erfüllen, müssten sie ebenfalls als unwillentlich gelten. Andererseits zeigt Aristoteles’ Hinweis auf die Strafbarkeit betrunkener Handlungen, dass er solche Handlungen als nicht-entschuldbar auffasst; denn wenn sie strafbar sind, sind sie a fortiori tadelnswert. Daraus zieht Siegler den Schluss, dass die Annahme (1) nicht aufrechtzuerhalten ist, wenn danach Personen zu Recht nur für willentliche Handlungen Tadel erhalten. Die Strafbarkeit der Handlung des Betrunkenen illustriert laut Siegler vielmehr, dass auch derjenige, der sich willentlich in den Zustand der Unwissenheit gebracht hat, für die möglicherweise daraus resultierenden schlechten Handlungen Tadel verdient. Siegler argumentiert daher, dass die Annahme (1) derart zu erweitern ist, dass sich Tadel auf dreierlei beziehen kann, und zwar:³⁷⁰ (a) auf eine willentliche schlechte Handlung, (b) auf beabsichtigte oder bekannte Folgen einer willentlichen schlechten Handlung, und (c) auf nicht-beabsichtigte Folgen einer willentlichen schlechten Handlung, welche die handelnde Person wissentlich riskiert hat.
Die Modifikation, die Siegler vornimmt, hat zur Folge, dass Handlungen aufgrund von Trunkenheit zwar unwillentlich zu sein scheinen, die handelnde Person aber Tadel dafür verdient, und zwar weil sie willentlich den Zustand der Unwissenheit
gute nicht gelobt, sondern nur für willentliche.“ Vgl. auch EE 6, 1223a9 – 15; EN III 1, 1109b30 – 34 (zitiert in meiner Anm. 245, S. 96); MM 1187a20 – 21. Echeñique gibt an, dass seines Wissens niemand die Position vertreten hat, die Annahme (1) in Frage zu stellen (Echeñique 2012, 162). Loening ist allerdings ein eindeutiges Beispiel für jemanden, der dies tut, und auch Siegler diskutiert diese Möglichkeit, wie wir gleich sehen werden (Siegler 1968, 278 – 287). Vgl. Siegler 1968, 279: „[…] if the drunk did not know what he was doing because, being drunk, he did not or could not think about what he was doing, his ignorance qua ignorance is no different from that of a man who was simply careless or made an accidental mistake.“ Auch Heinaman weist darauf hin, dass sich der kognitive Zustand der handelnden Person in beiden Fällen nicht unterscheidet (Heinaman 1986, 133 und 135). Siegler 1968, 281.
3.2 Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit
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verursacht hat und sie deshalb auch für beabsichtigte und nicht-beabsichtigte Folgen, die sich aus diesem Zustand ergeben, Tadel verdient.
3.2.4.3 Heinaman/Meyer: Handlungen aufgrund von Trunkenheit als willentliche und tadelnswerte Handlungen Heinaman hat noch einen anderen Vorschlag gemacht, wie die Annahme, dass der Betrunkene für seine Handlungen Tadel oder Strafe verdient, damit zu vereinbaren ist, dass auch die Handlungen des Betrunkenen offenbar die Beschreibung erfüllen, die Aristoteles in [iiib] für Handlungen aufgrund von Unwissenheit gibt. Es ist hier freilich zu berücksichtigen, dass Heinaman seinen Vorschlag in Auseinandersetzung mit Aristoteles’ Behandlung von Handlungen in selbstverschuldeter Unwissenheit in EE II 9 vorbringt und er davon ausgeht, dass Aristoteles seine Position diesbezüglich in EN III 7 insofern ändert, als er in der EN Handlungen in Trunkenheit als unwillentlich und zugleich tadelnswert auffasst.³⁷¹ Ich behandele Heinamans Deutung gleichwohl an dieser Stelle, da es sinnvoll ist, zunächst alle relevanten Deutungen von Handlungen aufgrund von Trunkenheit vor Augen zu haben, und da es mir nicht eindeutig erscheint, dass Aristoteles in EN III 7 Handlungen in Trunkenheit als unwillentlich ansieht. Heinaman erwägt in Bezug auf EE II 9, dass es dafür, dass eine Person unwillentlich aufgrund von Unwissenheit handelt, nicht hinreicht, dass sie sich in Unkenntnis über einen oder mehrere Einzelumstände ihres Handelns befindet. Damit ihr Handeln als unwillentlich gilt, darf die handelnde Person nicht für ihre Unwissenheit verantwortlich sein. War sie hingegen, wie z. B. im Fall des Betrunkenen, selbst Ursache ihrer Unwissenheit, so handelt sie zwar in Unwissenheit über einen oder mehrere Einzelumstände ihrer Handlung, sie handelt aber gleichwohl willentlich.³⁷² Heinaman hält somit an der Annahme (1) fest: Der Betrunkene verdient Tadel oder Bestrafung, weil seine Handlung in Trunkenheit
Heinaman 1986, 146: „NE, unlike EE, recognizes that an agent may not be responsible for a voluntary action (1111b8 – 9), or may be responsible for an involuntary action (1113b23 – 1114a3) [Hervorhebung BL].“ Heinaman 1986, 133: „[…] if A’s failure to realize that X was poison were due to his own negligence, then […] A voluntarily poisoned B. Thus in the previous case [i. e. where A poisoned B through no fault of his own; BL] A acted involuntarily and in the present case A acted voluntarily even though his cognitive state at the time of action is the same in both cases.“ Heinaman bezieht sich hier auf Unwissenheit, die durch Nachlässigkeit zustande kommt, da sich sein Aufsatz mit Aristoteles’ Behandlung der Unwissenheit in der EE befasst. In der EE kommt der Fall der Trunkenheit nicht vor, aber Aristoteles’ Bemerkungen zu Trunkenheit und Nachlässigkeit in EN III 7 machen deutlich, dass sich Heinamans Aussage auch ohne Weiteres auf den Fall der Trunkenheit übertragen lassen sollte.
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willentlich geschehen ist. Die Beschreibung in [iiib] ist seiner Deutung nach so zu verstehen, dass hiermit nur in Bezug auf diejenige Art von Unwissenheit über die Einzelumstände des Handelns, die nicht durch die handelnde Person verursacht ist, gesagt wird, dass sie die Handlung unwillentlich macht.³⁷³ Das Konditional in [iiib] ist also Heinaman zufolge nur dann wahr, wenn die Aussage sich ausschließlich auf Fälle nicht-selbstverursachter Unwissenheit bezieht.³⁷⁴ Eine ähnliche Position wie Heinaman vertritt auch Meyer.³⁷⁵ Sie verficht zudem auch in Bezug auf EN III 2 und 7 explizit die Auffassung, dass die Unwissenheit des Betrunkenen sein Handeln nicht unwillentlich macht, sondern dass er willentlich handelt und dafür Tadel verdient. Sie geht in ihrer Argumentation von der durchgängigen Gültigkeit von Annahme (1) aus und begründet dies damit, dass sich laut Aristoteles Tadel nur auf das beziehen kann, für dessen Zustandekommen der Charakter einer Person konstitutiv ist. Dies wiederum beruht Meyer zufolge darauf, dass Aristoteles alles das als willentlich bestimmt, was auf dem Charakter der handelnden Person beruht.³⁷⁶ Anders formuliert: Wenn der Charakter einer Person Ursache einer Handlung oder einer Handlungsfolge ist, so geschehen die Handlung oder Handlungsfolgen willentlich und so sind Lob oder Tadel berechtigt. In EN III 2 und 7 sei es seine Absicht, so Meyer weiter, zu zeigen, dass nur die Unwissenheit um die Einzelumstände des Handelns eine Handlung unwillentlich macht. Handelt eine Person hingegen in Unwissenheit über Allgemeines, so ist ihr Handeln willentlich und die Person verdient dafür Lob oder Tadel, da ihr Charakter konstitutiv für das Zustandekommen der Unwissenheit gewesen ist.³⁷⁷ Zu Meyers Deutung ist anzumerken, dass sie die Unwissenheit des Betrunkenen und des Zornigen auch als Fälle von Unwissenheit in Bezug auf das Allgemeine versteht, von der explizit erst im Abschnitt [iiia] die Rede ist. Ihre Auffassung, die Unterscheidung zwischen Handlungen aufgrund von Unwissen-
Damit scheint Heinamans Lesart ganz ähnlich zu sein wie Kennys Verständnis der Aussage in [iiib] (vgl. meine Anm. 352, S. 133). Eine ähnliche Position vertritt auch Aspasius, der nicht nur das Sich-Betrinken als willentlich auffasst, sondern auch die Handlung in Trunkenheit (Aspasius in Eth. Nic. CAG XIX/1 63.28 – 29: „Er wurde somit willentlich betrunken, so dass er auch willentlich Dinge in Trunkenheit tat und nicht aufgrund von Unwissenheit.“ [ἑκὼν οὖν ἐμεθύσθη, ὥστε καὶ ἑκὼν ἔπραξε τὰ ἐν τῇ μέθῃ καὶ οὐ δι’ ἄγνοιαν.]. Vgl. zu Meyers Argumentation: Meyer 2011, Appendix I, 170 – 184. Auf Meyers Interpretation gehe ich ausführlich im letzten Kapitel ein: vgl. Abschnitt „13.4.2 Mit-Verantwortlichkeit der Heranwachsenden für den eigenen Charakter (1114a11– 31)“. Meyer 2011, 171: „We will see that Aristotle requires knowledge only of particulars for voluntariness because no other kind of ignorance can keep the agent’s character from being productive of the action in question.“
3.2 Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit
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heit und Handlungen aufgrund von Trunkenheit oder Zorn mit der Unterscheidung zwischen Handlungen in Unwissenheit über Einzelnes und Handlungen in Unwissenheit über das Allgemeine gleichzusetzen, halte ich zwar für zweifelhaft, für den Moment lässt sich diese Schwierigkeit aber noch ausklammern.³⁷⁸ Wichtig an dieser Stelle ist hingegen festzuhalten, dass Meyer zufolge Unwissenheit über Allgemeines, d. h. Unwissenheit, die auf den Charakter der handelnden Person zurückzuführen ist, eine Handlung nicht unwillentlich macht, sondern dass die Handlung willentlich geschieht und infolgedessen auch adäquater Gegenstand von Lob oder Tadel ist.
3.2.4.4 Echeñique: Handlungen aufgrund von Trunkenheit als unwillentliche und nicht-tadelnswerte Handlungen, die auf selbstverschuldeter und tadelnswerter Unwissenheit beruhen Nochmals eine andere Lesart bringt Echeñique vor. Er hält dabei sowohl an der Annahme (1) fest, dass Tadel nur Willentlichem gilt, als auch an der Annahme, dass für jede Handlung, die in Unkenntnis über einen oder mehrere Handlungsumstände geschieht, gilt, dass sie unwillentlich geschieht. Sein Vorschlag lautet stattdessen, dass Aristoteles eine Position zuzuschreiben ist, die er als „liberal view“³⁷⁹ bezeichnet und folgendermaßen beschreibt: [Echeñique 2012]³⁸⁰ According to this view [i. e. the liberal view; BL], […] the culpable agent is only blamed for his getting into/being in the epistemically defective state, and not for the resulting act, which is involuntary and therefore excusable (…).
Ich werde später auf diesen Punkt zurückkommen und meine Gründe für meine Skepsis erläutern. Vgl. Abschnitt „3.3.1 Übergang zu den Handlungen des Schlechten, der unwissend handelt“. Die Bezeichnung „liberal view“ sowie deren Bestimmung übernimmt Echeñique von Holly Smith (Smith 1983). Es ist freilich zu beachten, dass Smith selbst Aristoteles – im Unterschied zu Echeñique – nicht als Vertreter des „liberal view“ hinstellt, sondern seine Position dem „conservative view“ zurechnet, wonach eine Handlung in Trunkenheit nicht zu entschuldigen ist, sondern Tadel verdient (vgl. Smith 1983, 548 – 549). Außerdem zielt Smith in ihrem Aufsatz nicht darauf ab, eine Sichtweise als überzeugender als die andere zu erweisen, sondern sie nimmt als Ergebnis für ihre Untersuchung nur in Anspruch, durch die Identifizierung der verschiedenen Sichtweisen die Schwierigkeiten, die beim Versuch auftreten, verschuldete Unwissenheit zu erfassen, klarer bestimmt zu haben. Echeñique 2012, 163.
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Echeñique versucht, die scheinbar einander zuwiderlaufenden Annahmen dadurch miteinander in Einklang zu bringen, dass er annimmt, der Betrunkene handele zwar unwillentlich, er habe aber trotzdem Tadel und Strafe verdient, allerdings nicht für seine Handlung in Unwissenheit, sondern nur dafür, in den Zustand der Betrunkenheit geraten zu sein.
3.2.4.5 Beurteilung der alternativen Deutungen von Handlungen aufgrund von Trunkenheit Damit sind drei alternative Vorschläge auf dem Tisch,³⁸¹ wie sich die Tadelnswürdigkeit von Handlungen in Trunkenheit erklären lässt, obwohl der Betrunkene sich zum Zeitpunkt des Handelns im gleichen Unwissenheitszustand befindet wie derjenige, der aufgrund von Unwissenheit handelt und dafür entschuldigt wird. Die Vorschläge unterscheiden sich zum einen in Bezug auf die Frage, worauf sich der Tadel beim Handeln eines Betrunkenen richtet, und zum anderen hinsichtlich der Frage, ob sein Handeln in Trunkenheit willentlich oder unwillentlich ist. Es ist daher zu prüfen, ob sich bei Aristoteles ein Hinweis findet, ob und wie sich zwischen den verschiedenen Varianten eine begründete Entscheidung treffen lässt. Ein aufschlussreicher Anhaltspunkt könnte sein, dass er in EN III 7 sagt, dass bei Betrunkenen die Strafe verdoppelt wird (tois methyousi dipla ta epitimia, 1113b31– 32).³⁸² Er spielt damit vermutlich auf ein Gesetz des Pittakos an, der König in Mytilene zu Beginn des 6. Jh. war, das er auch in der Politik ³⁸³ und in der Rhetorik ³⁸⁴ erwähnt. Der Verweis auf die doppelte Bestrafungspraxis des Betrunkenen kann dabei helfen, zu sehen, worauf sich der Tadel beim Handeln des Betrunkenen richtet und ob dieser willentlich handelt oder nicht. Entscheidend dafür ist die Frage, worauf sich die doppelte Strafe in ihren beiden Teilen jeweils richten soll. Die Bezugspunkte der Strafe zeigen nämlich an, was als tadelnswert gilt und was unter der Voraussetzung von Annahme (1) willentlich ist. Im Kontext von EN III 7 gibt Aristoteles seine Begründung für die doppelte Bestrafung anscheinend mit folgendem Satz: „Denn er war Herr darüber, sich zu betrinken, und
Den Vorschlag von Loening lasse ich beiseite, da ich bereits einige Einwände dagegen formuliert habe und da ihm die Position Sieglers gleicht, die aber ihrerseits nicht die erwähnten problematischen Annahmen von Loening voraussetzt. Die Vorschläge von Heinaman und Meyer fasse ich in eine Position zusammen. Vgl. EN III 7, 1113b30 – 33, zitiert in meiner Anm. 333, S. 127. Pol. II 12, 1274b20 – 23, vgl. meine Anm. 388, S. 143. Rhet. II 25, 1402b9 – 12.
3.2 Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit
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dies war Ursache der Unwissenheit“.³⁸⁵ Diese Aussage ist unterschiedlich gedeutet worden. Vertreter einer ersten Lesart argumentieren, dass der Betrunkene erstens für sein Betrunken-Sein, das er hätte verhindern können, und zweitens für seine Handlung, die er in Trunkenheit begeht, bestraft wird.³⁸⁶ Befürworter einer zweiten Lesart sind der Ansicht, dass der Betrunkene erstens dafür bestraft wird, dass er sich betrinkt, was er hätte vermeiden können, und zweitens dafür, dass die Trunkenheit die Ursache für seine Unwissenheit war – nicht aber für die Handlung, die der Betrunkene in Trunkenheit begeht.³⁸⁷ Echeñique beruft sich zur Rechtfertigung seiner Deutung auf das Motiv, das Pittakos laut Aristoteles’ Bericht in der Politik zur doppelten Bestrafung bewogen hat. Danach dient die doppelte Strafe für den Betrunkenen einerseits zu dessen Bestrafung und andererseits dem „Nützlichen“.³⁸⁸ Unter dem Nützlichen ist wohl das für die Polis als Ganze Nützliche zu verstehen. Diesem ist die doppelte Strafe für den Betrunkenen Echeñiques Deutung nach dienlich, weil damit ein abschreckendes Beispiel statuiert wird.³⁸⁹ Ferner lässt sich zugunsten der zweiten Lesart anführen, dass sie offenbar näher am Wortlaut von Aristoteles’ eigener Erklärung in EN III 7 ist. Trotzdem halte ich die zweite Lesart für zweifelhaft. Die Erwähnung in der Politik bedeutet nicht, dass Aristoteles Pittakos’ Begründung für die doppelte Strafe teilt. Auch die Nennung in EN III 7 lässt offen, ob er die härtere Bestrafung des Betrunkenen überhaupt für berechtigt hält und gutheißt.³⁹⁰ Das stärkere Argument zugunsten der zweiten Lesart ist gewiss die größere Nähe zum Wortlaut von Aristoteles’ eigener Begründung. Aber was ist
EN III 7, 1113b33 – 34. So z. B. Irwin 1999, 209: „It might be taken to suggest that the drunk person is responsible both for being drunk and for what he does when he is drunk (since he is punished for both).“ Taylor 2006, 167: „[…] I am punished for being in that state [i. e. of drunkenness; BL] in addition to the punishment for the act of damage.“ So Echeñique 2012, 168 – 169: „The point Aristotle stresses (cf. ep’ autô[i] tô[i] agnoein, EN 1113b30) is rather that, in these cases, one is punished (or blamed) for the action that caused the unawareness (e. g. getting drunk) and thus for the unawareness itself that caused the crime, rather than for the crime itself (i. e. the action caused by factual unawareness).“ Dies scheint auch Kennys Position zu sein (Kenny 1979, 52): „[…] drunkards get double penalties, because it was open to them not to get drunk, and the drunkenness was the cause of the error.“ Vgl. auch Charles 1984, 256 – 257. Pol. II 12, 1274b20 – 23: „Weil nämlich mehr betrunkene als nüchterne Menschen übermütig handeln, achtete [Pittakos] nicht auf die größere Nachsicht, die man den Betrunkenen eher entgegenbringen sollte, sondern auf das Nützliche.“ Echeñique verweist zugunsten seiner Deutung von Pittakos’ Gesetz in der Politik auch auf Diogenes Laertios’ Pittakos-Biographie, in der das Gesetz auf die gleiche Weise begründet wird (Vitae I 76); Echeñique 2012, 169. Vgl. Irwin 1999, 209.
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darunter zu verstehen, dass sich ein Teil der Strafe darauf bezieht, dass die Trunkenheit Ursache der Unwissenheit gewesen ist? Das wörtlich zu verstehen, erscheint mir unverständlich, da eine Strafe entweder auf eine Handlung oder auf Handlungsfolgen gerichtet sein muss. Aber selbst wenn man den Umstand, dass die Trunkenheit Ursache für Unwissenheit ist, als eine Handlungsfolge auffasste – was naheliegend ist –, scheint eine Bestrafung offenbar erst dann angemessen zu sein, wenn es zu einer Handlung in Unwissenheit kommt, bei der die Trunkenheit Ursache der Unwissenheit ist. Wenn hier also eine weitere Strafe zu derjenigen Strafe, die jemand für den Zustand der Betrunkenheit verdient, hinzukommt, so bezieht sich die zweite Strafe auf die Handlung in Trunkenheit und nicht auf den Umstand, dass die Trunkenheit Ursache der Unwissenheit ist. Vertreter der zweiten Lesart geben somit keine überzeugende Deutung, worauf sich der zweite Teil der Strafe bezieht. Bei dieser Lesart bleibt unverständlich, weshalb die durch die Trunkenheit verursachte Unwissenheit Strafe verdient, solange es nicht zur Handlung kommt; und wenn es zur Handlung kommt, scheint die Strafe der Handlung in Unwissenheit zu gelten. Die Unwissenheit von der Handlung in Unwissenheit abzutrennen und als Bezugsobjekt der Strafe zu identifizieren, wirkt unbegreiflich. Ferner deutet die Parallelstelle in den MM auf die erste Lesart hin. Denn dort wird der Betrunkene explizit als jemand bezeichnet, der ein Unrecht begeht und etwas Schlechtes tut.³⁹¹ Beide Formulierungen suggerieren, dass der Betrunkene, der sich wegen seiner Trunkenheit in Unwissenheit befindet und schlecht handelt, willentlich handelt und für sein Handeln in Unwissenheit Tadel bzw. Strafe verdient. Ich halte daher die erste Lesart für plausibler. Der Betrunkene wird für seine Trunkenheit und seine Handlung, die er in Unwissenheit begeht, getadelt bzw. bestraft. Damit ist indes noch nicht entschieden, ob die tadelnswürdige Handlung in Trunkenheit willentlich oder unwillentlich geschieht. Als unwillentlich fasst sie offenbar Siegler auf, als willentlich wird sie in Bezug auf EE II 9 von Heinaman und in Bezug auf EN III und EE II von Meyer gedeutet. Im Kontext von EN III lässt sich m. E. nicht eindeutig sagen, ob Aristoteles die Handlungen des Betrunkenen als willentlich oder als unwillentlich auffasst. Zugunsten der Ansicht, dass der Betrunkene willentlich handelt, spricht, dass
MM I 33, 1195a28 – 34: „Wenn jemand aber selbst Ursache der Unwissenheit ist und eine Handlung gemäß der Unwissenheit begeht, deren Ursache er selbst ist, so begeht dieser jedenfalls ein Unrecht und ein solcher wird zu Recht ungerecht genannt werden, wie es z. B. bei den Betrunkenen der Fall ist. Diejenigen nämlich, die betrunken sind und etwas Schlechtes tun, begehen ein Unrecht. Denn sie sind Ursache ihrer Unwissenheit. Es ist ihnen nämlich möglich, nicht so viel zu trinken, dass sie unwissend wurden und den Vater schlugen.“
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Aristoteles wiederholt explizit die Annahme (1) anführt, nach der sich Lob und Tadel auf Willentliches, Entschuldigung und Mitleid hingegen auf Unwillentliches richten.³⁹² Andererseits ist nicht zu bestreiten, dass Aristoteles in EN V 10 die Möglichkeit erwähnt, dass es Unwillentliches gibt, das nicht-entschuldbar ist und möglicherweise sogar Tadel verdient. Aristoteles’ Behandlung von Handlungen in Unwissenheit ist damit ein weiteres Beispiel dafür, dass er in EN III zu anderen Einschätzungen gelangt, als er sie in der EE und auch in den gemeinsamen Büchern, insbesondere in EN V, vertritt. Ein erstes Beispiel war die unterschiedliche Beurteilung „gemischter Handlungen“, die unter Zwang geschehen und die er in der EE als unwillentlich, in der EN hingegen als „eher willentlich“ deutet. Dabei verhält sich Trunkenheit in gewisser Weise sogar ähnlich wie eine Handlung aus Zwang (z. B. im Tyrannen-Beispiel): Auch bei Trunkenheit ist das Externalitätskriterium nicht erfüllt, da die Ursache für die Unwissenheit nicht außerhalb der handelnden Person liegt. Es ist also gut möglich, dass Aristoteles sich mit gutem Grund nicht eindeutig, sondern in variierender Weise zur Willentlichkeit von Handlungen in Trunkenheit äußert. Dieses Schwanken lässt sich – ähnlich wie im Fall komplizierter und strittger Beispiele für „gemischte Handlungen“ – plausibel damit erklären, dass er ganz bewusst gegenläufige Gesichtspunkte anführt und abwägt, die einerseits für die Willentlichkeit und andererseits für die Unwillentlichkeit von Handlungen in Trunkenheit sprechen.³⁹³ Dass letztlich mehr Indizien deren Willenlichkeit stützen, lässt sich darauf zurückführen, dass auch hier der Ursprung der Handlung und der Ursprung der Unwissenheit in der handelnden Person liegen. Schließlich könnte der Fall von Handlungen in Trunkenheit auch ein Beispiel gewesen sein, das Aristoteles veranlasst hat, zwischen Willentlichkeit und Verantwortlichkeit, d. h. der Frage, ob eine Handlung zu entschuldigen ist oder nicht, zu unterscheiden. So argumentiert Heinaman in seiner Konklusion, dass die Behandlung der Unwissenheit in der EN derjenigen in der EE überlegen sei, weil Aristoteles in EN III 7 annimmt, dass es unwillentliche, aber dennoch tadelnswürdige Handlungen gibt.³⁹⁴ Zwar belegt m. E. der Passus in EN III 7, auf den sich Heinaman bezieht, diese Annahme nicht eindeutig, da Aristoteles die Handlungen des Betrunkenen hier weder als willentlich noch als unwillentlich bezeichnet. In EN V 10 scheint er aber tatsächlich zwischen Willentlichkeit und Verantwort-
Vgl. die Überlegungen zum Verständnis von „συγγνώμη“ in Bezug auf manche „gemischten Handlungen“ in Abschnitt „2.3.4.2 Fälle der Gruppen [III] und [IV]: Handlungen unter überwältigender Gewalt“. Vgl. hierzu mein Fazit am Ende des Kapitels „2. Gewalt und Zwang als Ausschlusskriterien für Willentlichkeit“. Heinaman 1986, 146.
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lichkeit zu differenzieren, wenn er Handlungen, die aufgrund eines unnatürlichen oder unmenschlichen Affekts geschehen, als unwillentlich, aber nicht-entschuldbar bezeichnet. Insofern trifft Heinamans Beobachtung einen wichtigen Punkt, auf den ich insbesondere im letzten Kapitel bei der Behandlung der Charakterdispositionen ausführlich eingehen werde.
3.2.5 Aristoteles’ Behandlung von Handlungen in Unwissenheit in der EE An dieser Stelle ist es hilfreich, einen Blick auf die Parallelstelle in der EE zu werfen. Ich unterteile den Passus in zwei Abschnitte, von denen der erste Ähnlichkeit mit den Ausführungen in der EN aufweist, während der zweite weitere Unterscheidungen enthält, die in der EN nicht explizit vorkommen. Der erste Abschnitt lautet wie folgt: [EE II 9, 1225a36-b8]³⁹⁵ Da diese Untersuchung also ein Ende hat, und das Willentliche weder als Streben noch als Entschluss bestimmt wurde, bleibt somit übrig, das zu bestimmen, was gemäß dem Denken ist. Das Willentliche scheint dem Unwillentlichen entgegengesetzt zu sein, und 〈zu handeln〉, während man weiß, wem gegenüber oder womit oder worumwillen (denn manchmal weiß man, dass es der Vater ist, aber man handelt, nicht um zu töten, sondern um zu heilen, wie im Fall der Töchter des Pelias; oder man kennt das Womit, dass dies ein Getränk ist, aber man 〈behandelt〉 es als Liebestrunk und Wein, während es 〈tatsächlich〉 ein Schierlingstrunk war) ist dem Fall entgegengesetzt, 〈zu handeln〉, während man nicht weiß, wem gegenüber und womit und was 〈man tut〉, aufgrund von Unwissenheit, nicht akzidentellerweise. Was aber aufgrund von Unwissenheit über das Was und Womit und Wem gegenüber 〈getan wird〉, ist unwillentlich. Das Entgegengesetzte ist also das Willentliche.
Aristoteles unterscheidet hier zwischen willentlichen und unwillentlichen Handlungen anhand des Kriteriums, ob die Handlung aufgrund einer bestimmten Art von Unwissenheit geschehen ist oder nicht. Handelt jemand aufgrund von Unwissenheit entweder darüber, wem gegenüber, womit oder worumwillen ³⁹⁶ er
EE II 9, 1225a36-b8: ἐπεὶ δὲ τοῦτ᾿ ἔχει τέλος, καὶ οὔτε τῇ ὀρέξει οὔτε τῇ προαιρέσει τὸ ἑκούσιον ὥρισται, λοιπὸν δὴ ὁρίσασθαι τὸ κατὰ τὴν διάνοιαν. δοκεῖ δὴ ἐναντίον εἶναι τὸ ἑκούσιον τῷ ἀκουσίῳ, καὶ τὸ εἰδότα ἢ ὃν ἢ ᾧ ἢ οὗ ἕνεκα (ἐνίοτε γὰρ οἶδε μὲν ὅτι πατήρ, ἀλλ᾿ οὐχ ἵνα ἀποκτείνῃ, ἀλλ᾿ ἵνα σώσῃ, ὥσπερ αἱ Πελιάδες· ἢ τὸ ᾧ, ὅτι τοδὶ μὲν πόμα, ἀλλ᾿ ὡς φίλτρον, καὶ οἶνον, τὸ δ᾿ ἦν κώνειον) τῷ ἀγνοοῦντα καὶ ὃν καὶ ᾧ καὶ ὃ δι᾿ ἄγνοιαν, μὴ κατὰ συμβεβηκός· τὸ δὲ δι᾿ ἄγνοιαν, καὶ ὃ καὶ ᾧ καὶ ὅν, ἀκούσιον· τὸ ἐναντίον ἄρ᾿ ἑκούσιον. Ich gehe in der Tat davon aus, dass Aristoteles Unwissenheit über das Worumwillen der Handlung annimmt, wobei unter Unwissenheit über das hou heneka der Handlung nicht Unwissenheit über das Resultat oder Ergebnis der Handlung zu verstehen ist, wie die meisten
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handelt (bzw. darüber, was er tut)³⁹⁷, so ist diese Handlung laut Aristoteles unwillentlich. Um willentlich zu handeln, ist es dagegen nötig, dass die handelnde Person weiß, wem gegenüber, womit und worumwillen sie handelt (bzw. was sie tut). Diese Charakterisierung scheint mit der Behandlung in der EN übereinzustimmen, wo Aristoteles ebenfalls Handlungen, die aufgrund von Unwissenheit über einen oder mehrere Einzelumstände der Handlung geschehen, als unwillentlich bestimmt. In der EE nennt er drei Hinsichten, in Bezug auf welche jemand unwissend sein kann, so dass man unwillentlich handelt. Dieselben drei Hinsichten kommen auch in der Aufzählung in der EN vor, die aber im Ganzen sechs Hinsichten aufführt. Allerdings machen die Beispiele stutzig, die Aristoteles in der EE gibt. In einem langen Satzgefüge erläutert er den Gegensatz zwischen willentlichen und unwillentlichen Handlungen anhand des Kriteriums, ob eine Handlung aufgrund von Unwissenheit über mindestens eine Einzelhinsicht der Handlung erfolgt. Als erstes beschreibt er willentliche Handlungen als solche, bei denen die handelnde Person die Einzelumstände kennt, d. h. weiß, wem gegenüber, womit und worumwillen sie handelt. Bevor er als Gegensatz dazu unwillentliche Handlungen als solche bestimmt, bei denen die handelnde Person mindestens eine der Hinsichten nicht kennt, fügt er in einer Art Parenthese, die im OCT und in meiner Übersetzung in Klammern gesetzt ist, zwei Beispiele ein. Da diese im Text direkt an die Charakterisierung der willentlichen Handlungen anschließen, erscheint es zunächst naheliegend, sie als Beispiele für willentliche Handlungen aufzufassen. Dafür spricht zudem, dass der Satz in der Klammer mit „γὰρ οἶδε“ beginnt und als erstes Kommentatoren meinen. Ich erläutere mein Verständnis später im Rahmen der Diskussion der Einzelhinsichten in der EN; vgl. Abschnitt „3.4.2 Resümierende Beurteilung der verschiedenen Einzelhinsichten und ein Vergleich mit EE II 9 und EN V 10“. Es fällt auf, dass sich die Beschreibungen der Aspekte, welche das Wissen oder die Unwissenheit der handelnden Person betreffen kann, in 1225b2 (ê hon ê hô[i] ê hou heneka) und 1225b6 (kai hon kai hô[i] kai ho) leicht unterscheiden. Während die ersten beiden Kriterien übereinstimmen, nennt Aristoteles als dritte Hinsicht bei der Beschreibung des Wissens das Worumwillen (hou heneka), während er bei der Charakterisierung der Unwissenheit das Was einer Handlung (ho) anführt. Diese Differenz ist m. E. damit zu erklären, dass Aristoteles von dem „Was“ einer Handlung sowohl in einer einfachen als auch in einer komplexen Bedeutung spricht. Bei der Aufzählung in 1225b6 liegt die komplexe Bedeutung vor: Sie ist komplex, weil sie Mittel und Zweck einer Handlung umfasst, d. h. sie beinhaltet zugleich, was man tut und um welcher Sache willen man dies tut. In der komplexen Bedeutung schließt das Was somit das Worumwillen als einen Unterfall ein. Demgegenüber ist unter „Was“ in der einfachen Bedeutung nur das Mittel einer Handlung, nicht aber deren Zweck zu verstehen, wie z. B., dass ich spazieren gehe, aber nicht, dass ich dies um meiner Gesundheit willen tue. In der einfachen Bedeutung kommt „Was“ auch in der sechsteiligen Aufzählung in EN III 2, 1111a3 – 5, da Aristoteles hier das Was (ti) neben dem Worumwillen (heneka tinos) aufführt.
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eine Hinsicht präzisiert wird, in der Wissen vorliegt, nämlich wem gegenüber gehandelt wird. Demgegenüber führt der folgende adversative Teil des Satzes eine Hinsicht an, in Bezug auf welche Unwissenheit vorliegt. Das erste Beispiel ist das der Töchter des Pelias, die zwar wissen, dass ihr Vater das Gegenüber ihrer Handlung ist, die aber unwissend über das Worumwillen sind. Medea hat die Töchter überzeugt, dass sie ihren Vater verjüngen können, indem sie ihn zuerst zerteilen und die Stücke anschließend kochen. Weil sie Medea glauben, sind sie unwissend darüber, dass das Zerstückeln und Kochen einer Person den Zweck hat, sie zu töten. Auch das zweite Beispiel gibt zunächst an, inwiefern die handelnde Person etwas weiß, nämlich dass das Womit ihrer Handlung ein Getränk ist. Auf der anderen Seite sagt der mit „ἀλλ᾿“ eingeleitete adversative Teil des Satzes, inwiefern die handelnde Person etwas an ihrer Handlung nicht weiß, und zwar diesmal interessanterweise einen spezifischeren Sinn des Womit der Handlung, der sich als relevant erweist. Denn für die Handlung ist nicht nur wichtig, dass das Womit ein Getränk ist, sondern auch die Art des Getränks, bzw. welche Wirkung das Getränk hat: Es ist relevant, ob es sich um Wein handelt, der als Liebestrunk dienen kann, oder ob es ein Gift ist. In beiden Beispielen wird somit zuerst eine Hinsicht der Handlung genannt, welche die handelnde Person kennt, danach wird eine Einzelhinsicht identifiziert, in Bezug auf die sie sich in Unwissenheit befindet. Das Irritierende an den Beispielen ist, dass sie Fälle illustrieren, bei denen die handelnde Person eine bestimmte Hinsicht ihrer Handlung kennt, während sie sich zugleich in einer anderen relevanten Hinsicht in Unwissenheit befindet. Dies könnte auch erklären, warum Aristoteles die Beispiele als Parenthese zwischen die Beschreibung der willentlichen Handlungen und jene der unwillentlichen einfügt: Die Beispiele sollen beide Gegensätze zugleich veranschaulichen, wozu sie geeignet sind, da sich an ihnen sowohl eine Hinsicht, in der Wissen vorliegt, als auch eine, in der die handelnde Person unwissend ist, unterscheiden lassen. Auch wenn willentliche Handlungen als Gegensatz zu unwillentlichen erst nach der Klammer genannt werden, so können dennoch die zuvor gegebenen Beispiele als bereits darauf vorweisend verstanden werden. Wenn man die Beispiele auf diese Weise versteht, ergibt sich, dass es sich um leicht andersartige Fälle als jene handelt, die Aristoteles in der EN im Rahmen seiner Erläuterung der verschiedenen Einzelhinsichten erwähnt, da diese allesamt nur unwillentliche Handlungen illustrieren sollen.³⁹⁸ Die Beispiele in der EE
Tatsächlich entspricht keines der Beispiele aus der EN exakt den beiden Beispielen aus der
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sind dagegen komplizierter, weil er sie nicht ohne Einschränkung als unwillentliche Handlungen, die aufgrund von Unwissenheit über eine Einzelhinsicht geschehen, zu betrachten scheint. Führen wir uns das Beispiel der Töchter des Pelias nochmals vor Augen, um den etwaigen Unterschied zwischen den verschiedenen Gruppen von Beispielen zu sehen. Es lässt sich bezweifeln, dass Aristoteles es als Entschuldigung für den Vatermord akzeptierte, dass die Töchter des Pelias sich davon haben überzeugen lassen, Zweck des Zerstückelns und Kochens ihres Vaters sei es, ihn zu verjüngen, und Ziel dieser Handlung sei nicht, ihn zu töten. Ein Hinweis darauf, dass er eine derartige Entschuldigung nicht akzeptierte, ist das Beispiel des Alkmaion, das im Zusammenhang der „gemischten Handlungen“ in EN III 1 vorkommt.³⁹⁹ Mit dem Fall des Alkmaion will Aristoteles veranschaulichen, dass es Handlungen gibt, die derart schlimm sind, dass man sie unter keinen Umständen tun soll, sondern eher das Schlimmste wie den eigenen Tod auf sich nehmen sollte. Die schlimme Handlung, zu der Alkmaions Vater ihn durch Androhung schlimmer Folgen zu zwingen versuchte, besteht darin, die eigene Mutter zu töten. Der Vergleich dieser Beispiele spricht dafür, dass das Beispiel der Töchter des Pelias für Aristoteles auch keinen Fall einer unwillentlichen Handlung aufgrund von Unwissenheit, die Entschuldigung verdient, darstellt.
3.2.5.1 Unwissenheit über das Worumwillen einer Handlung Um den Vorschlag noch weiter zu untermauern, dass Aristoteles den Fall der Töchter des Pelias als eine nicht-entschuldbare unwillentliche Handlung ansieht, ist es nötig, zu erläutern, was unter der Unwissenheit der Töchter des Pelias über das Worumwillen ihres Handelns zu verstehen ist. Die meisten Kommentatoren gehen davon aus, dass mit dem Worumwillen der Handlung hier nicht der Zweck bzw. das Ziel der Handlung gemeint sein kann, da es absurd erscheint, zu sagen, jemand sei unwissend über das Ziel seines Handelns.⁴⁰⁰ Meist wird daher der
EE, so dass es sich durchaus um Illustrationen verschiedener Fälle von Handlungen aufgrund von Unwissenheit handeln kann. Vgl. dazu Abschnitt „2.3.4.2 Fälle der Gruppen [III] und [IV]: Handlungen unter überwältigender Gewalt“. Grant 1866, 13: „There is an akwardness about οὗ ἕνεκα. A person knows with what end or view he is acting (and this is what οὗ ἕνεκα legitimately expresses.). But he is mistaken about the means which he uses. Hence wishing to produce one result he produces another. But what he mistakes, is not the end (οὗ ἕνεκα) but the means (τὰ πρὸς τὸ τέλος). The phrase here would imply that an action has an end, or aim of its own (οὗ ἕνεκα) independent of the doer, – in other words a tendency, of which therefore the doer might be ignorant.“
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Vorschlag gemacht, dass Aristoteles hier die Wendung des Worumwillen der Handlung nicht im üblichen Sinn verwendet, sondern damit auf das Resultat einer Handlung Bezug nimmt.⁴⁰¹ Lorenz erwägt jedoch die Option, dass auch hier mit dem Worumwillen der Zweck der Handlung gemeint ist. Er geht davon aus, dass Aristoteles zwischen zwei Arten von Zielen bzw. Zwecken von Handlungen unterscheidet, die er als psychologische Ziele und als natürliche Ziele bezeichnet. Ein psychologisches Ziel ist das, was üblicherweise unter dem Worumwillen einer Handlung verstanden wird. Es ist das Ziel, um dessentwillen eine Person sich für eine Handlung entscheidet. Ein natürliches Ziel haben Handlungen demgegenüber aufgrund ihrer Natur oder aufgrund der Umstände, in denen sie geschehen. So lässt sich dafürhalten, dass die Handlung, jemanden zu zerstückeln und zu kochen, aufgrund ihrer Natur das Ziel hat, jemanden zu töten.⁴⁰² Nähme man an, dass das Worumwillen, worüber sich die Töchter des Pelias in Unwissenheit befinden, das psychologische Ziel ihrer Handlung ist, wäre dies absurd: Denn sie zerstückeln und kochen Pelias ja tatsächlich, um ihn zu verjüngen. Über das psychologische Ziel ihrer Handlung, die Verjüngung, sind sie nicht unwissend. Ihre Unwissenheit betrifft vielmehr die Tatsache, dass es in der Natur des Zerstückelns und Kochens liegt, dass dies geschieht, um jemanden zu töten. Wenn man diese Deutung der Unwissenheit über das Worumwillen zugrunde legt, lässt sich ein Unterschied zu den Beispielen in der EN angeben, der auch zu erklären vermag, weshalb es bei den Beispielen in der EE weniger eindeutig ist, ob sie willentliche oder unwillentliche Handlungen aufgrund von Unwissenheit illustrieren sollen. Die Unwissenheit der Töchter des Pelias betrifft das natürliche Ziel, das die Handlungen des Zerstückelns und Tötens haben. Nicht alle Handlungen haben ein natürliches Ziel. Aber wenn eine Handlung ein natürliches Ziel hat, so ist anzunehmen, dass es nicht schwer ist, es zu kennen, und dass jede erwachsene Person unter normalen Umständen weiß, was das natürliche Ziel einer solchen Handlung ist. Eine Handlung aufgrund von Unwissenheit über deren Worumwillen wäre nur dann zu entschuldigen, wenn die Unwissenheit auf eine Weise zustande gekommen ist, die Nachsicht verdient. Der Vergleich zwischen dem Beispiel des Alkmaion und dem der Töchter des Pelias spricht aber dafür, dass Aristoteles die Überzeugungskünste der Medea nicht als Entschuldigung akzeptiert hätte, unwissend über das natürliche Ziel der Handlung des
Grant 1866, 13; Woods 2005, 136. Lorenz 2015, 583: „I want to argue that according to Aristotle there are two importantly different kinds of goals of human actions […]. Apart from psychological goals of actions, goals that agents adopt for their purposes, there are also, I submit, goals or ends that actions have by being the kinds of actions they are (and, in some cases, by occurring in the circumstances in which they do).“
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Zerstückelns und Kochens eines Menschen zu sein. Das bedeutet, dass er in der EE – anders als in der EN – als Beispiele für Handlungen aufgrund von Unwissenheit keine eindeutigen Beispiele anführt. Denn es handelt sich um Fälle, in denen die Handlung trotz der Unwissenheit nicht – zumindest nicht ohne Einschränkung – zu entschuldigen ist, weil hier das Vorliegen der Unwissenheit nicht zu entschuldigen ist. Meine Vermutung, was der Grund gewesen sein könnte, dass Aristoteles weniger eindeutige und diskussionswürdige Beispiele für Handlungen aufgrund von Unwissenheit gibt, ist, dass deren janusköpfiger Charakter sich für den Fortlauf des Textes als wichtig erweist. Denn im zweiten Abschnitt von EE II 9 folgen die theoretischen Differenzierungen, mit denen sich erläutern lässt, weshalb Handlungen aufgrund von Unwissenheit über Einzelumstände trotz der Unwissenheit der handelnden Person keine Entschuldigung verdienen: [EE II 9, 1225b8 – 16]⁴⁰³ Was also jemand nicht in Unwissenheit und durch sich selbst tut, wenn es auch bei ihm liegt, nicht zu handeln, dann geschieht das notwendigerweise willentlich, und dies ist das Willentliche. Was man in Unwissenheit und aufgrund von Unwissenheit tut, ist unwillentlich. Da aber Wissen und Verstehen zweierlei Art sind, das eine das Haben, das andere das Gebrauchen des Wissens, mag derjenige, der es hat, aber nicht gebraucht, auf eine Weise zu Recht unwissend genannt werden, auf eine andere Weise aber auch zu Unrecht, z. B. wenn er es aufgrund von Nachlässigkeit nicht gebrauchte. Ebenso würde auch derjenige getadelt, der es nicht einmal hat, wenn das Wissen, das er nicht hat, leicht oder notwendig war und er es aufgrund von Nachlässigkeit, Lust oder Schmerz nicht hat. Dies also ist der Definition hinzuzufügen.
Eine kleine klärungsbedürftige Frage in der zitierten Passage ist zunächst, was Aristoteles im ersten Satz meint, wenn er als eine Bedingung für willentliches Handeln nennt, dass jemand „durch sich selbst“ (di’ hauton, 1225b9) handelt.⁴⁰⁴ Wenn damit gemeint ist, dass die handelnde Person nicht aufgrund einer externen Gewalt handelt, sondern dass der Bewegungsursprung der Handlung in ihr liegt, so unterschiede sich diese Bedingung inhaltlich nicht erkennbar von der (im Griechischen)⁴⁰⁵ unmittelbar vorangehenden Bedingung, laut der es bei der
EE II 9, 1225b8 – 16: ὅσα μὲν οὖν ἐφ’ ἑαυτῷ ὂν μὴ πράττειν πράττει μὴ ἀγνοῶν καὶ δι’ αὑτόν, ἑκούσια ταῦτ’ ἀνάγκη εἶναι, καὶ τὸ ἑκούσιον τοῦτ’ ἐστίν· ὅσα δ’ ἀγνοῶν καὶ διὰ τὸ ἀγνοεῖν, ἄκων. ἐπεὶ δὲ τὸ ἐπίστασθαι καὶ τὸ εἰδέναι διττόν, ἓν μὲν τὸ ἔχειν, ἓν δὲ τὸ χρῆσθαι τῇ ἐπιστήμῃ, ὁ ἔχων μὴ χρώμενος δὲ ἔστι μὲν ὡς δικαίως 〈ἂν〉 ἀγνοῶν λέγοιτο, ἔστι δὲ ὡς οὐ δικαίως, οἷον εἰ δι᾿ ἀμέλειαν μὴ ἐχρῆτο. ὁμοίως δὲ καὶ μὴ ἔχων τις ψἐγοιτο ἄν, εἰ ὃ ῥᾴδιον ἢ ἀναγκαῖον ἦν μὴ ἔχει, δι᾿ ἀμέλειαν ἢ ἡδονὴν ἢ λύπην. ταῦτ᾿ οὖν προσδιοριστέον. Diese Frage diskutieren auch Woods (2005, 137– 138) und Simpson (2013, 274). Im Griechischen geht diese Bedingung der Bedingung „δι’ αὑτόν“ voraus, in meiner Übersetzung habe ich die Wendungen zugunsten eines besseren Sprachflusses umgestellt.
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handelnden Person liegt, nicht zu handeln (eph’ heautô on mê prattein, 1225b8).⁴⁰⁶ Man könnte jedoch einen Unterschied zwischen den beiden Beschreibungen vermuten: Der erste Fall beschreibt eine Situation, in der es nicht bei einer Person liegt, auch nicht zu handeln, da sie unter dem Einfluss einer externen Gewalt steht, der sie sich nicht widersetzen kann und durch die sie zu einer Handlung genötigt wird. Der zweite Fall beschreibt dagegen eine Situation, in der es einer Person zwar möglich ist, nicht zu handeln, in der sie aber trotzdem nicht durch sich selbst handelt, weil die Handlung nicht ihren Charakter widerspiegelt. Die Differenzierung zwischen den beiden Situationen entspräche damit genau dem Unterschied, den Aristoteles in EN III 1 zwischen Handlungen aus externer Gewalt und erzwungenen Handlungen, wie z. B. dem Fall des Kapitäns, trifft.
3.2.5.2 Tadelnswerte Handlungen aufgrund von nicht-entschuldbarer Unwissenheit Sodann führt Aristoteles im zweiten Teil von EE II 9 eine Differenzierung von zwei Arten von Wissen ein, die in der Behandlung in EN III 2 nicht explizit vorkommt.⁴⁰⁷ Die Unterscheidung zwischen dem Haben von Wissen (echein) und dem Gebrauchen von Wissen (chrêsthai) ist vermutlich an Platons TaubenschlagModell im Theätet angelehnt.⁴⁰⁸ In der EN greift Aristoteles auf den Unterschied zwischen aktualem und potentiellem Wissen im Rahmen seiner Behandlung der Unbeherrschtheit (akrasia) in EN VII 5 (1146b31– 35) zurück.⁴⁰⁹ In der vorliegen-
In dieser Weise als redundant scheinen Inwood und Woolf die beiden Formulierungen aufzufassen, da sie die Wendung „δι’ αὑτόν“ unübersetzt lassen (Inwood/Woolf 2013): „Anything one does without ignorance that is up to oneself not to do is necessarily voluntary, and the voluntary is this.“ Heinaman behandelt diese Unterscheidung in der EE ausführlich: vgl. Heinaman 1986, insb. 130 – 136. Vgl. zu den philosophischen und außerphilosophischen Vorläufern und Grundlagen der aristotelischen Verwendung des Begriffspaars Besitzen und Gebrauchen sowie der Unterscheidung von Akt und Potenz die Studie von Rainer Nickel (Nickel 2012). Nickel geht insbesondere auf die Grundlagen in den Schriften der sophistischen Rhetorik sowie in den Reden des Isokrates ein. Der Unterschied zwischen aktualem und potentiellem Wissen, den Aristoteles hier einführt, lässt sich auch mit Hilfe seiner Unterscheidung zweier Arten von Potentialität und Aktualität in De An. II 5 (417a26-b2) erläutern. Eine Person kann einerseits nur der ersten Potentialität nach über Wissen verfügen, wenn sie ein Wissen, das sie erwerben könnte, nicht erworben hat. Andererseits kann sie zwar ein bestimmtes Wissen erworben haben, es aber aktuell nicht anwenden. Sie verfügt dann zwar der ersten Aktualität (entelecheia) und der zweiten Potentialität (dynamis) nach über dieses Wissen, nicht aber der zweiten Aktualität nach. Nachlässigkeit kann nun sowohl verhindern, dass eine Person Wissen der ersten Aktualität nach hat (wenn eine Person ein be-
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den Passage aus der EE rekurriert er auf diese Differenzierung, indem er dafürhält, dass eine Person, die nur über potentielles Wissen verfügt, zwar auf eine Weise zu Recht unwissend genannt wird, zugleich auf eine andere Weise aber auch zu Unrecht (ou dikaiôs) als unwissend bezeichnet wird, nämlich dann, wenn sie ihr Wissen z. B. aufgrund von Nachlässigkeit nicht aktualisiert. Wird eine Person zu Unrecht unwissend genannt, so hat dies Folgen für die Beurteilung der Tadelnsbzw. Lobenswürdigkeit der Handlung. Es ist auffällig, dass Aristoteles an dieser Stelle nichts darüber sagt, ob eine Person in derartigen Fällen willentlich oder unwillentlich handelt, sondern er qualifiziert solche Handlungen, die in einer Art von Unwissenheit geschehen, die dazu führen, dass die handelnde Person auf eine Weise zu Unrecht als unwissend gilt, näher als tadelnswerte Handlungen. Es entsteht also das Bild, dass Aristoteles hier außer willentlichen und unwillentlichen Handlungen auch Handlungen zulässt, die weder willentlich noch unwillentlich sind. Willentlich handelt danach jemand, der über Wissen über die relevanten Einzelumstände seines Handelns verfügt. Unwillentlich handelt eine Person, die aufgrund von Unwissenheit⁴¹⁰ über die relevanten Einzelumstände ihres Handelns handelt und diese Unwissenheit nicht auf ihre Nachlässigkeit zurückzuführen ist.Weder willentlich noch unwillentlich handelt schließlich eine Person, wenn sie in Unwissenheit handelt und diese Unwissenheit ihr zuzurechnen ist, d. h., wenn ihre Unwissenheit um die Einzelumstände des Handelns z. B. auf Nachlässigkeit beruht. Die Person verdient keine Entschuldigung, da es auf sie zurückzuführen ist, dass sie nicht über das relevante Wissen verfügt. Für tadelnswertes Handeln ist es also nicht notwendig, dass die handelnde Person über aktuales Wissen verfügt, sondern für die Tadelnswürdigkeit des Handelns kann es auch hinreichend sein, dass jemand bloß über potentielles Wissen verfügt, dieses aber z. B. aufgrund von Nachlässigkeit nicht aktualisiert. Ein Beispiel soll dies illustrieren: Denken wir uns einen Gast auf einer Party, der sich, ohne weiter darüber nachzudenken, bei den alkoholischen Getränken bedient, obwohl er mit dem Auto unterwegs ist und allgemein (katholou) weiß, dass er nur nüchtern Auto fahren soll. Dieser Partybesucher handelt nachlässig und wird deswegen „zu Unrecht“ unwissend genannt, obwohl er nicht schlechthin (haplôs) weiß, dass er ein alkoholisches Getränk wählt, bevor er mit dem Auto
stimmtes Wissen nicht erwirbt), als auch unterbinden, dass sie der zweiten Aktualität nach Wissen hat (wenn sie ein Wissen, über das sie verfügt, nicht anwendet). Die Lesart einer dreifachen Unterteilung liegt nahe, wenn man „καὶ“ in 1225b10 in der Formlierung „ἀγνοῶν καὶ διὰ τὸ ἀγνοεῖν“ epexegetisch versteht. Aristoteles machte dann hier von derselben Differenzierung zwischen Handeln in Unwissenheit und Handeln aufgrund von Unwissenheit Gebrauch wie in EN III 2.
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nach Hause fährt.⁴¹¹ Das allgemeine Wissen des Partygastes besteht darin, dass er weiß, dass er wegen des Autofahrens nichts Alkoholisches trinken sollte; er ruft dieses Wissen sogar bei der Wahl seines Getränks auf und sieht sich nach einem alkoholfreien Bier um. Dass er trotzdem ein fünfprozentiges Bier ergreift, liegt daran, dass er entweder nicht weiß, dass die gewählte Sorte nicht alkoholfrei ist, oder dass er aus Unachtsamkeit nicht auf den Alkoholgehalt achtet. Daher weiß er nicht schlechthin bzw. ohne Qualifikation, dass er etwas Alkoholisches trinkt. Wüßte er dies schlechthin, so wendete er sein allgemeines Wissen zusätzlich auf den konkreten Fall an, d. h. er wüßte auch, ob der Inhalt derjenigen Flasche, die er auswählt, alkoholhaltig ist. Der Partygast ist deswegen für seine Handlung zu tadeln, weil es auf seine eigene Nachlässigkeit zurückzuführen ist, dass er nicht schlechthin weiß, dass er etwas Alkoholisches trinkt.⁴¹² Fernerhin sieht es Aristoteles noch nicht einmal als notwendig für tadelnswertes Handeln an, dass die handelnde Person über potentielles Wissen verfügt. Wenn es sich um Wissen handelt, das entweder leicht oder notwendig zu haben gewesen wäre und über das die handelnde Person aufgrund von Nachlässigkeit, Lust oder Schmerz nicht verfügt, so hält er dafür, dass das Fehlen solchen Wissens nicht ausreicht, um das Handeln einer Person entschuldbar zu machen. Dabei fasse ich die Formulierung der Bedingungen, unter denen auch der Mangel an potentiellem Wissen eine Handlung nicht entschuldbar macht, folgendermaßen auf: Einerseits sind die Kriterien, dass solches Wissen entweder leicht oder notwendig ist, disjunktiv zu verstehen, andererseits ist beiden Kriterien jeweils als Konjunktion die Bedingung hinzuzufügen, dass dieses Wissen aufgrund von Meine Beschreibung, dass unser Partygast zwar allgemein weiß, dass er kein alkoholisches Getränk konsumieren soll, dies aber schlechthin nicht weiß, beruht auf einer Unterscheidung zwischen zwei Arten zu wissen, die Aristoteles zu Beginn der Zweiten Analytik vornimmt; vgl. APo I 1, 71a24– 29: „Bevor man dagegen eine Induktion durchgeführt oder eine Deduktion vorgenommen hat, muss man vielleicht sagen, dass man es zwar auf gewisse Weise weiß, auf andere Weise jedoch nicht.Wovon man nämlich nicht wußte, ob es schlechthin ist, wie wußte man davon schlechthin, dass es zwei rechte Winkel hat? Aber es ist klar, dass man es so weiß, dass man es allgemein weiß, schlechthin jedoch nicht weiß [Übersetzung Detel].“ Diese Unterscheidung zwischen zwei Arten (eine Proposition) zu wissen, lässt sich auch auf Aristoteles’ Diskussion der Akrasia in EN VII 5 anwenden. Er präsentiert dort drei verschiedene Unterscheidungen, wie eine Person etwas wissen kann. An zweiter Stelle unterscheidet er in EN 1146b35 – 1147a10 zwischen allgemeinen und partikulären Propositionen und nimmt an, dass eine Person zwar die allgemeine Proposition weiß bzw. versteht, die partikuläre jedoch nicht. Damit ließe sich erklären, dass jemand wider besseres Wissen handeln kann, weil er nur die allgemeine, nicht aber die partikuläre Proposition kennt. Den Vorschlag, Aristoteles’ Beschreibung der Möglichkeit von Handlungen wider besseres Wissen mit Hilfe der Unterscheidung aus den APo zu deuten, hat Morison vorgebracht (vgl. Morison 2012), den Lorenz für seine Deutung von EN VII 5 übernimmt (vgl. Lorenz 2014).
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Nachlässigkeit, Lust oder Schmerz nicht erworben wurde. Das heißt, es genügt nicht, dass eine Person über ein leicht zu erwerbendes Wissen nicht verfügt, damit sie tadelnswert handelt, sondern sie muss es aus Nachlässigkeit, Lust oder Schmerz versäumt haben, sich dieses Wissen anzueignen. Bei Wissen, das leicht zu haben ist, könnte es sich um Wissen handeln, das zu haben von jedem unter normalen Umständen erwartet werden kann, wenn z. B. ein Partygast, der mit dem Auto unterwegs ist, es versäumt, danach zu fragen, welche Getränke Alkohol enthalten und welche alkoholfrei sind. Eine Person, die frei und leicht zugängliche Informationen ignoriert, kann sich nicht zu Recht auf ihre Unwissenheit berufen, da von allen erwachsenen Personen erwartet werden kann, sich die nötigen Auskünfte zu verschaffen. Unter notwendigem Wissen, dessen Mangel nicht zu entschuldigen ist, wenn es auf Nachlässigkeit, Lust oder Schmerz beruht, könnte Wissen um das Allgemeine verstanden werden, d. h.Wissen um Prinzipien des moralisch richtigen Handelns.⁴¹³ Der Verweis auf zwei verschiedene Arten von Wissen ist wichtig, da er deutlich macht, dass Unwissenheit Aristoteles zufolge eine Handlung nicht eo ipso entschuldbar macht. Im Blick auf das Beispiel der Töchter des Pelias lässt sich demnach sagen, dass den Töchtern ein Wissen fehlte, das als notwendig und leicht verfügbar angesehen werden kann. Dass das Zerstückeln und Kochen eines Menschen zu dem Zweck geschieht, jemanden dadurch zu töten, scheint nicht etwas zu sein, worüber es schwierig ist, Wissen zu erlangen. Es ist vielmehr der Nachlässigkeit der Töchter zuzuschreiben, dass sie sich nicht über das Worumwillen ihres Handelns, d. h. das natürliche Ziel ihrer Handlung, in Kenntnis gesetzt haben. Aus diesem Grund wird die Handlung der Töchter des Pelias zu Unrecht unwissend genannt, auch wenn sie zum Zeitpunkt ihrer Handlung aufgrund von Unwissenheit über das Ziel ihrer Handlung gehandelt haben. Die Erläuterungen zur kurzen Parallelpassage in der EE zeigen an, dass Aristoteles hier ein teilweise deutlich differenzierteres Bild von Handlungen aufgrund von Unwissenheit vorstellt als in EN III 3, wo die entsprechenden Differenzierungen erst an späterer Stelle folgen. Der originelle Beitrag der Parallelstelle in der EE besteht darin, dass Aristoteles Unwissenheit hier nicht tout court als Entschuldigungsbedingung beschreibt, die bewirkt, dass etwas unwillentlich geschieht. Er anerkennt daneben offenbar auch Fälle, in denen eine Person weder willentlich noch unwillentlich handelt, nämlich dann, wenn sie entweder über potentielles Wissen verfügt und dieses aufgrund von Nachlässigkeit nicht aktualisiert, oder wenn sie weder aktuales noch potentielles Wissen hat, es sich aber um Wissen handelt, das leicht oder notwendig zu haben ist und das sie aufgrund
Vgl. Stewart 1892, 238.
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3 Unwissenheit als Ausschlusskriterium für Willentlichkeit
von Nachlässigkeit, Lust oder Schmerz nicht hat. Beiden Fällen von Unwissenheit ist gemeinsam, dass die Unwissenheit durch ein Zutun der handelnden Person zustande kommt und es auf ihren Charakter zurückzuführen ist, dass sie nicht über das erforderliche Wissen verfügt.
3.3 Handlungen in Unwissenheit über das moralisch Richtige Nach der Diskussion der Parallelstelle in der EE setze ich nun die Kommentierung der Passage zur Unwissenheit in der EN fort und gehe auf die bisher noch nicht erläuterten Abschnitte [ii] bis [iiib] ein. Hier zunächst nochmals die gesamte Textstelle zur Erinnerung: [EN III 2, 1110b24– 1111a2]⁴¹⁴ [i] Handeln aufgrund von Unwissenheit scheint auch etwas anderes zu sein als in Unwissenheit zu handeln. Wer nämlich betrunken oder im Zorn handelt, scheint nicht aufgrund von Unwissenheit zu handeln, sondern aufgrund eines dieser genannten Zustände, und nicht wissentlich, sondern in Unwissenheit. [ii] Nun ist zwar auch jeder Schlechte unwissend darüber, was er tun und was er unterlassen soll; und wegen eines solchen Fehlers wird man ungerecht und überhaupt schlecht. Den Ausdruck „unwillentlich“ soll man aber nicht verwenden, wenn jemand über das Nützliche unwissend ist. [iiia] Die Unwissenheit im Entschluss ist nämlich nicht die Ursache des Unwillentlichen, sondern der Schlechtigkeit, d. h.⁴¹⁵ nicht die Unwissenheit des Allgemeinen [ist Grund des Unwillentlichen] (denn ihretwegen wird man getadelt), [iiib] sondern die Unkenntnis des Einzelnen, also der Umstände, unter denen die Handlung erfolgt und mit denen sie zu tun hat. Solchen Menschen gelten nämlich Mitleid und Entschuldigung, denn wer über etwas davon in Unwissenheit ist, handelt unwillentlich.
EN III 2, 1110b24– 1111a2: [i] ἕτερον δ’ ἔοικε καὶ τὸ δι’ ἄγνοιαν πράττειν τοῦ ἀγνοοῦντα· ὁ γὰρ μεθύων ἢ ὀργιζόμενος οὐ δοκεῖ δι’ ἄγνοιαν πράττειν ἀλλὰ διά τι τῶν εἰρημένων, οὐκ εἰδὼς δὲ ἀλλ’ ἀγνοῶν. [ii] ἀγνοεῖ μὲν οὖν πᾶς ὁ μοχθηρὸς ἃ δεῖ πράττειν καὶ ὧν ἀφεκτέον, καὶ διὰ τὴν τοιαύτην ἁμαρτίαν ἄδικοι καὶ ὅλως κακοὶ γίνονται· τὸ δ’ ἀκούσιον βούλεται λέγεσθαι οὐκ εἴ τις ἀγνοεῖ τὰ συμφέροντα· [iiia] οὐ γὰρ ἡ ἐν τῇ προαιρέσει ἄγνοια αἰτία τοῦ ἀκουσίου ἀλλὰ τῆς μοχθηρίας, οὐδ’ ἡ καθόλου (ψέγονται γὰρ διά γε ταύτην) [iiib] ἀλλ’ ἡ καθ’ ἕκαστα, ἐν οἷς καὶ περὶ ἃ ἡ πρᾶξις· ἐν τούτοις γὰρ καὶ ἔλεος καὶ συγγνώμη· ὁ γὰρ τούτων τι ἀγνοῶν ἀκουσίως πράττει. Ich folge Stewarts Vorschlag, der „οὐδε“ in 1110b32 – anders als meist üblich im Sinn von „und auch nicht“ – epexegetisch auffasst (Stewart 1892, 237– 238). Denniston führt zwar für Aristoteles keinen epexegetischen Gebrauch an, er tut dies aber erstaunlicherweise auch nicht für das Gegenstück „καὶ“, wo niemand eine solche Verwendung bestreitet. Es würde sich lohnen, systematisch zu untersuchen, inwieweit sich ein epexegetischer Gebrauch von „οὐδε“ bei Aristoteles finden lässt.
3.3 Handlungen in Unwissenheit über das moralisch Richtige
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3.3.1 Übergang zu den Handlungen des Schlechten, der unwissend handelt Die erste nennenswerte Schwierigkeit in der Fortsetzung der Passage besteht darin, dass umstritten ist, wie der Übergang von der Unterscheidung zwischen Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit in Abschnitt [i] zu den Handlungen des Schlechten, der unwissend über das ist, was er tun und unterlassen soll, in Abschnitt [ii] (von b27 zu b28) zu verstehen ist.⁴¹⁶ Manche meinen, dass es sich bei der Unterscheidung in [i] und jener in den Abschnitten [ii] bis und mit [iiib] um dieselbe handelt.⁴¹⁷ Die Differenz zwischen Handlungen aufgrund von Unwissenheit und Handlungen in Unwissenheit entspräche demnach der Differenz zwischen einerseits den Handlungen desjenigen, der sich in Unwissenheit über mindestens einen Handlungsumstand befindet, und andererseits den Handlungen desjenigen, der unwissend darüber ist, was er tun und was er unterlassen soll. Dieser Auffassung ist z. B. Meyer: [Meyer 2011]⁴¹⁸ [Aristotle] does not indicate that the second distinction, concerning the content of ignorance, introduces a requirement additional to the requirement introduced by the first distinction: that the involuntary agent acts because of ignorance. On the contrary, the second distinction begins in a way (agnoei men oun, 1110b28) that suggests it provides further support for the requirement expressed in the first distinction. It is therefore natural to interpret the distinction between acting in ignorance and acting because of ignorance as corresponding to the distinction between acting with ignorance of the universal and acting with ignorance of the particulars. On this interpretation, the angry person and the drunk are ignorant of what they should do.
Vgl. Aspasius 63, 32– 33: „Das, was er als nächstes [i. e. in 1110b28 – 32; BL] sagt, ist möglich, als etwas zu verstehen, was auf das Zuvorgesagte folgt, es ist aber auch möglich, es als etwas Eigenes für sich zu verstehen.“ Vgl. Taylor 2006, 145: „It is unclear how these lines [i. e. 1110b31– 33] connect with those immediately preceding.“ Außer Meyer, auf die ich gleich ausführlicher eingehen werde, ist auch Echeñique dieser Auffassung (Echeñique 2012, 167– 168): „Right after drawing the distinction (a) between acting through factual error and acting in error, Aristotle goes on to distinguish (b) between ignorance of the universal (he kathoulou agnoia, [sic!]) and factual unawareness (he kath’ hekasta agnoia), and nowhere in the text does Aristotle suggest that these two distinctions, (a) and (b), are distinct. On the contrary, the transition from the ‚through factual errorʻ/‚in errorʻ distinction to the ‚factual unawarenessʻ/‚general unawarenessʻ distinction is marked by the phrase ‚agnoiei men ounʻ (1110b28), making it natural to think that the two distinctions are to be taken as equivalent.“ Vgl. auch Woods 2005, 136: „[In E.N. III, 1110b24 f.] the contrast between acting through ignorance and acting in ignorance seems to be a contrast between knowledge of particular facts and knowledge of general principles.“ Meyer 2011, 177.
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Im Gegensatz dazu sind andere der Ansicht, dass in [ii] mit den Handlungen des Schlechten, der sich in Unwissenheit über das befindet, was er tun und was er unterlassen soll, noch eine neue, dritte Art von Unwissenheit eingeführt wird, die sich von der Unwissenheit des Betrunkenen oder des Zornigen unterscheidet.⁴¹⁹ Beide Positionen stimmen zwar darin überein, dass Handlungen aufgrund von Unwissenheit, die in [i] von Handlungen in Unwissenheit abgegrenzt werden, gleichzusetzen sind mit den Handlungen desjenigen, der sich über einen oder mehrere Einzelumstände seines Handelns in Unwissenheit befindet. Die Erläuterung in [iiib] ist somit als eine Präzisierung der Art von Unwissenheit zu verstehen, in der sich derjenige befindet, der aufgrund von Unwissenheit handelt. Uneinigkeit besteht zwischen den Positionen aber darüber, wie sich die Unwissenheit des Betrunkenen oder des Zornigen zur Unwissenheit des Schlechten verhält. Meyer nimmt an, dass sich diese Fälle von Unwissenheit entsprechen, d. h., dass Unwissenheit aufgrund von Trunkenheit oder Zorn nichts anderes ist als Unwissenheit über das Allgemeine. Der Betrunkene und der Zornige sind ihr zufolge unwissend über das, was man tun und was man unterlassen soll. Diese Gleichsetzung halte ich nicht für plausibel. Erstens unterscheidet sich die Unwissenheit des Betrunkenen oder des Zornigen von der Unwissenheit des Schlechten über das, was er tun und was er unterlassen soll, bezüglich ihrer Dauer.⁴²⁰ Die Zustände der Trunkenheit und des Zorns sind zwar auch von der handelnden Person selbst verursacht, sie sind aber von begrenzter Dauer und auf relativ einfache Art reversibel. Anders verhält es sich mit der Unwissenheit des Schlechten, die auf seinen Charakter zurückzuführen ist und sich nur schwer und langsam, wenn überhaupt, ändern lässt. Der Schlechte weiß permanent nicht, was das Richtige zu tun ist. Der Betrunkene oder der Zornige dagegen können durchaus unter normalen Umständen wissen, was das Richtige ist. Trunkenheit oder Zorn führen nur vorübergehend dazu, dass dieses Wissen nicht aktualisiert wird und zu entsprechendem Handeln führt. Instruktiv ist hier ein Vergleich mit
Dieser Position rechne ich Grant und Burnet zu, auch wenn sie sich nicht explizit mit der Frage des Übergangs in von b27 zu b28 beschäftigen. Eindeutiger äußert Taylor die Vermutung einer dreifachen Unterscheidung (Taylor 2006, 145): „We should rather, I suggest, see Aristotle as moving towards the identification of the class of things which are involuntary through error by distinguishing that class from a number of others with which it might be confused. First (b18 – 24), we have a class of things happening through error but not regretted, which are neither voluntary nor involuntary. Then (b24– 7), we have the class of things done not through error but in error. […] Finally (b28 – 33), we have things done through error about what it is right to do, which are voluntary.“ Vgl. Grant 1866, 11: „Of this [i. e. ignorance caused by the agent; BL] there are two kinds, the temporary, as for instance that caused by intoxication, and the permanent, such as that caused by any vicious habit.“
3.3 Handlungen in Unwissenheit über das moralisch Richtige
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Aristoteles’ Unterscheidung zwischen dem Unmäßigen (akolastos) und dem Unbeherrschten (akratês) in EN VII 9 (1150b-29 – 1151a28):⁴²¹ Der Unmäßige hat einen schlechten Charakter, weil er weder den richtigen Entschluss (prohairesis) noch die richtige Begierde hat. Demgegenüber geht die Begierde des Unbeherrschten zwar auch in die Irre, er verfügt aber über den richtigen Entschluss, der allerdings aufgrund seiner gegenläufigen Begierde vorübergehend nicht handlungsbestimmend ist. Aristoteles nennt als weiteres Unterscheidungsmerkmal, dass der Unmäßige unheilbar (aniatos), der Unbeherrschte dagegen heilbar (iatos) ist.⁴²² Diese Beobachtung stimmt mit der unterschiedlichen Reversibilität der Unwissenheit des Betrunkenen und Zornigen einerseits und des Schlechten andererseits überein. Zweitens erscheint an Meyers Deutung abwegig, dass sie unter der Unwissenheit des Betrunkenen oder Zornigen immer eine Unwissenheit über das Allgemeine versteht. Es ist durchaus denkbar, dass es dem Betrunkenen oder dem Zornigen aufgrund ihres jeweiligen Zustandes an Wissen über einen oder mehrere Einzelumstände ihres Handelns fehlt. So kann z. B. der Betrunkene jemand sein, der leichtfertig ein Geheimnis ausplaudert, weil er im Rausch nicht mehr daran gedacht hat, dass ihm die Geschichte unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut wurde. Der Betrunkene weiß dann zwar noch, dass man Geheimnisse nicht ausplaudern soll, aber die Trunkenheit hat ihm die Kenntnis geraubt oder getrübt, dass das Erzählte nicht zum Ausplaudern gedacht war. Der Fehler des Betrunkenen ist hier auch nicht als eine misslungene Subsumptionsleistung⁴²³ zu verstehen, die ebenfalls das Allgemeine betreffen könnte. Vielmehr hat der Alkoholkonsum vorübergehend das Wissen der handelnden Person über einen bestimmten Einzelumstand beeinträchtigt, und das zeitweilig reduzierte Erinnerungsvermögen ist dem Betrunkenen anzulasten und nicht zu entschuldigen. Mit dieser Kritik ist freilich nicht in Abrede gestellt, dass die Unwissenheit des Betrunkenen oder des Zornigen auch das Allgemeine betreffen kann. Solche Fälle sind zweifellos denkbar. Es ist m. E. aber verfehlt, die Unwissenheit des Betrunkenen oder des Zornigen auf die Unwissenheit des Allgemeinen zu beschränken, indem jene Art von Unwissenheit mit dieser gleichgesetzt wird.
Vgl. Burnet 1900, 117. EN VII 9, 1150b32. Als eine misslungene Subsumptionsleistung könnte man die „Unwissenheit im Entschluss“ (hê en tê[i] proairesei agnoia, 1110b31) verstehen, die in Abschnitt [iiia] erwähnt wird und auf die ich im folgenden Abschnitt „3.3.2 Die Äquivalenzannahme“ eingehen werde.
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3.3.2 Die Äquivalenzannahme Ich gehe somit davon aus, dass Aristoteles im Abschnitt [ii] noch einen neuen, dritten Fall unwissentlicher Handlungen einführt, nämlich die Handlungen des Schlechten, dessen Unwissenheit das betrifft, was er tun und was er unterlassen soll. Über diesen sagt er nun explizit, dass man sein Handeln nicht unwillentlich nennen soll. Er könnte mit dieser Aussage auf das sog. „Sokratische Paradox“ anspielen, d. h. die sokratisch-platonische Maxime, derzufolge niemand willentlich Unrecht tut oder etwas Schlechtes wünscht. Dieses Prinzip, das in verschiedenen platonischen Dialogen⁴²⁴ vorkommt – am prägnantesten wohl im Protagoras –, kann Aristoteles bei seinen Lesern bzw. Zuhörern als bekannt voraussetzen. Er muss den Adressaten seiner Kritik also nicht beim Namen nennen, wobei er es in EN VII 3, 1145b22– 27 sogar tut. Mit seiner Erklärung zum Sprachgebrauch stellt er sich entschieden der Ansicht entgegen, dass Unwissenheit um das Richtige und Falsche das entsprechende Handeln unwillentlich macht. Vielmehr handelt der Schlechte ihm zufolge trotz seiner Unwissenheit über das, was er tun und was er unterlassen soll, willentlich und verdient infolgedessen Tadel für sein Handeln. In der Fortsetzung fügt Aristoteles dem anfangs genannten Unwissen des Schlechten noch drei weitere Bezeichnungen für Arten von Unwissenheit hinzu, und zwar die folgenden: ‒ Unwissenheit über das Nützliche (agnoei ta sympheronta, 1110b31) ‒ Unwissenheit im Entschluss (hê en tê[i] prohairesei agnoia, 1110b31) ‒ Unwissenheit des Allgemeinen (hê [agnoia] katholou, 1110b32)
In Hinblick auf diese unterschiedlichen Bezeichnungen stellt sich zum einen die Frage, worauf damit jeweils Bezug genommen wird, und zum anderen ist zu klären, in welchem Verhältnis die verschiedenen Bezeichnungen sowie deren Bezugsgegenstände zueinanderstehen. Auf den ersten Blick scheinen sich die verschiedenen Bezeichnungen klar voneinander zu unterscheiden und obendrein eine heterogene Zusammenstellung abzugeben. Meyer zeigt sich beispielsweise verwundert, dass Aristoteles die Unwissenheit über das Allgemeine gleichrangig mit den anderen Bezeichnungen aufführt, obwohl man den Ausdruck als Oberkategorie erwarten würde, welche die anderen Arten von Unwissenheit umfasst. Eine mögliche Erklärung dafür hat Stewart zu geben versucht: Danach ließe sich der Ausdruck „Unwissenheit des Allgemeinen“ in b32 so verstehen, dass damit die zuvor genannten Bezeichnun Vgl. Apol. 25e; Prot. 345d6-e6; Men. 77b-78b; Gorg. 467b-468c; Leg. 860d-862a.
3.3 Handlungen in Unwissenheit über das moralisch Richtige
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gen zusammengefasst werden.⁴²⁵ Der Ausdruck „Unwissenheit des Allgemeinen“ hebt dabei nochmals das Wesentliche dieser Unwissenheit hervor und dient dazu, diese Unwissenheit von der entgegengesetzten Unwissenheit über das Einzelne abzugrenzen. Stewart erwägt daher „οὐδ’“ in der Phrase „οὐδ’ ἡ καθόλου“ nicht in dem Sinn aufzufassen, dass damit die Unwissenheit des Allgemeinen von den zuvor genannten Arten von Unwissenheit unterschieden wird („und auch nicht“), sondern epexegetisch („that is“) zu verstehen ist, so dass die Zeilen b32– 33 mit „[…] d.h. nicht die Unwissenheit des Allgemeinen [ist Grund des Unwillentlichen] (denn ihretwegen wird man getadelt), sondern die Unkenntnis des Einzelnen […]“ zu übersetzen sind.⁴²⁶ Da ich Stewarts Verständnis der Passage für zutreffend halte und mir ein epexegetischer Gebrauch von „οὐδ’“ bei Aristoteles möglich erscheint, auch wenn ich ihn hier nicht anhand weiterer Beispiele nachweisen kann, folge ich seinem Übersetzungsvorschlag „d. h. nicht die Unwissenheit des Allgemeinen“ für die Phrase in b32.⁴²⁷ Kommen wir zurück zur Frage, ob mit den verschiedenen Bezeichnungen ein inhaltlicher Unterschied einhergeht. Danach ist nach Erklärungen für die Verwendung der unterschiedlichen Bezeichnungen zu fragen. In der Literatur wird überwiegend die Meinung vertreten, dass die vier Bezeichnungen gleichbedeutend sind. Zwar haben sie wohl einen unterschiedlichen (Fregeschen) Sinn, aber mit allen wird auf denselben Gegenstand Bezug genommen, nämlich die Unwissenheit des Allgemeinen, d. h. Unwissenheit über das moralisch Richtige, die der Unwissenheit über das Einzelne entgegengesetzt ist. Es finden sich allerdings
Stewart 1892, 237. Stewart zeigt sich zwar zögernd, ob sich „οὐδ’“ im vorgeschlagenen epexegetischen Sinn verstehen lässt, schließt sich letztlich aber doch dieser Auffassung an; vgl. Stewart 1892, 237– 238: „ἡ ἐν τῇ προαιρέσει ἄγνοια […] may […] be described as a general ignorance. Hence follow the words οὐδ’ ἡ καθόλου … ἀλλ῾ ἡ καθ῾ ἕκαστα – ‚that is, it is not general ignorance, but particular ignorance, which makes an act involuntary.ʻ Here all turns on the point whether οὐδ’ necessarily distinguishes ἡ καθόλου ἄγνοια from the ἄγνοια previously mentioned, or admits of being rendered as above–‚that is, it is not general ignorance,ʻ &c. The Paraphrast, Grant, Ramsauer, and Peters do not distinguish ἡ ἐν τῇ προαιρέσει ἄγνοια and ἡ καθόλου ἄγνοια: and, with some hesitation, I agree with them […], for the reasons I have given, and because I believe that οὐδ’ can be legitimately rendered as above.“ Dagegen erscheint mir Meyers Erklärung für das Nennen der Unwissenheit des Allgemeinen in einer Reihe mit den anderen Arten von Unwissenheit unbegründet (vgl. Meyer 2011, Anm. 12, 183 – 184). Sie beruht auf der Überlegung, dass Aristoteles zwischen Unwissenheit des Nützlichen – die ihrerseits näher erläutert (vgl. „γάρ“) wird als Unwissenheit im Entschluss – und Unwissenheit des Allgemeinen unterscheiden will. Ich komme gleich ausführlich auf ihre Auffassung zu sprechen, dass die Bezeichnungen nicht äquivalent sind. Solange die Annahme der Nicht-Äquivalenz jedoch nur, wie es bei Meyer den Anschein hat, durch die Merkwürdigkeit (scheinbar) heterogener Bezeichnungen motiviert ist, ist dies als Erklärung nicht ausreichend.
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3 Unwissenheit als Ausschlusskriterium für Willentlichkeit
auch Vertreter der gegensätzlichen Ansicht, nach der mit den Bezeichnungen ein wichtiger inhaltlicher Unterschied verbunden ist. Michelet ist z. B. der Meinung, dass zwischen der Unwissenheit im Entschluss und der Unwissenheit des Allgemeinen zu unterscheiden ist.⁴²⁸ Der Unterschied ist seiner Ansicht nach darin zu sehen, dass die Unwissenheit im Entschluss eine Unwissenheit bezüglich der Wahl der richtigen Mittel für das Erreichen eines Ziels ist, während die Unwissenheit des Allgemeinen eine Unwissenheit in Bezug auf die richtigen Ziele des Handelns ist. Der Unwissenheit im Entschluss entspreche außerdem die Unwissenheit über das Nützliche, da als nützlich das anzusehen ist, was hilft bzw. nötig ist, ein Ziel zu erreichen.⁴²⁹ Gemeinsam ist der Unwissenheit im Entschluss und der Unwissenheit über das Allgemeine dieser Position nach, dass beide dazu führen, dass die Handlung einer Person willentlich geschieht. Denn in beiden Fällen ist die Unwissenheit nicht extern verursacht, d. h., sie ist nicht auf unerwartete äußerliche Faktoren zurückzuführen, sondern beruht auf dem Charakter der handelnden Person. Eine Begründung dafür ließe sich aufgrund unserer Textstelle wie folgt formulieren: Die Unwissenheit des Allgemeinen besteht in der Unwissenheit über das, was man tun und was man unterlassen soll, und diese Unwissenheit, die dem Schlechten eigen ist, macht die handelnde Person „ungerecht und überhaupt schlecht“.Von der Unwissenheit im Entschluss sagt Aristoteles ferner, dass sie Ursache der Schlechtigkeit und nicht des Unwillentlichen ist (ou […] aitia tou akousiou alla tês mochthêrias).Wie ist das zu verstehen, wenn man davon ausgeht, dass zwischen der Unwissenheit im Entschluss und der Unwissenheit über das Allgemeine ein Unterschied besteht? Giphanius hat dies dadurch zu erklären versucht, dass die Unwissenheit im Entschluss durch Wiederholung dazu führen kann, dass ein schlechter Charakter entsteht.⁴³⁰ Unwissenheit im Entschluss allein bedeutet noch nicht, dass eine Person einen schlechten Charakter hat, sie kann aber im ungünstigen Fall zur Schlechtigkeit führen, wenn ihre Entschlüsse regelmäßig und dauerhaft das Fal-
Michelet 1848, 107: „Distinguitur tamen ἡ ἐν τῇ προαιρέσει ἄγνοινα et ἡ καθόλου ita, ut posterior sit ignorantia ipsius finis vel mala intentio, prior ignorantia bonorum intrumentorum ad finem assequendum pertinentium.“ Unter dem Nützlichen sind dabei sowohl die richtigen „instrumentellen“ als auch die richtigen „intrinsischen“ Mittel zu verstehen (vgl. zur Terminologie: Meyer 2011, Anm. 12, 183 – 184). Ich gehe später auf die Unterscheidung zwischen instrumentellen und intrinsischen (bzw. konstitutiven) Mitteln ein; vgl. Abschnitt „6.6 Analogien und Differenzen zwischen poietischen und praktischen Tätigkeiten“ Giphanius 1608, 165. In diesem Fall ist davon auszugehen, dass es sich um die wiederholte Wahl der falschen intrinsischen bzw. konstitutiven Mittel handelt. Die Wahl der instrumentell richtigen Mittel scheint für die Ausbildung eines schlechten Charakters keine oder nur eine geringe Rolle zu spielen.
3.3 Handlungen in Unwissenheit über das moralisch Richtige
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sche zum Gegenstand haben und zu den entsprechenden schlechten Handlungen motivieren. Giphanius verdeutlicht dies anhand des Unterschieds zwischen dem Unbeherrschten und dem Unmäßigen.⁴³¹ Der Unbeherrschte hat (noch) keinen schlechten Charakter, allerdings befindet er sich bisweilen im Zustand der Unwissenheit im Entschluss, wenn seine Begierde verhindert, dass sein richtiger Entschluss sein Handeln leitet. Passiert es zu häufig, dass die Begierde die Oberhand über den richtigen Entschluss gewinnt, so kann das wiederholte Auftreten von Unwissenheit im Entschluss dazu führen, dass der Unbeherrschte allmählich einen schlechten Charakter entwickelt. Ihn unterscheidet dann nichts mehr vom Unmäßigen, der unwissend über das Allgemeine ist, d. h., der dauerhaft nicht weiß, was er zu tun und was zu unterlassen hat. Auch in der neueren Literatur finden sich Anhänger der Auffassung, dass die Unwissenheit im Entschluss von der Unwissenheit über das Allgemeine zu unterscheiden ist.⁴³² Meyer äußert diese Annahme, um zu erklären, weshalb Aristoteles „Unwissenheit des Allgemeinen“ gleichrangig mit den anderen Bezeichnungen aufführt.⁴³³ Sie fasst den Ausdruck „unwissend darüber, was er tun und was er unterlassen soll“, der in einen men-Satz eingebettet ist (1110b28 – 1111a1), als allgemeine Bezeichnung auf, der die drei im de-Satz folgenden Bezeichnungen umfasst.⁴³⁴ Innerhalb des de-Satzes, der in 1110b30 beginnt und in 1111a1 endet, wird ihr zufolge mit Hilfe von „οὐδ’“, das sie mit „nor yet“ übersetzt (also im Sinn von „und auch nicht“), eine Unterscheidung zwischen Unwissenheit über das Nützliche (die ihrerseits näher als Unwissenheit im Entschluss erläutert wird) und Unwissenheit über das Allgemeine getroffen. Diese Unwissenheit betreffe die höchsten Ziele, in Bezug auf die jemand Überlegungen anstellt, während sich die
Vgl. dazu auch die Darstellung bei Stewart: Stewart 1892, 236 – 237. Außer Meyer formuliert auch Kenny Zweifel gegenüber der Annahme, die vier Bezeichnungen als äquivalent zu verstehen (Kenny 1979, 50). Er beruft sich dabei auf Aristoteles’ Auffassung eines praktischen Syllogismus, den er so interpretiert, dass danach das Allgemeine der Oberprämisse, der Entschluss dagegen der Konklusion zuzuordnen ist. Ich werde später mein Verständnis des Praktischen Syllogismus präsentieren; vgl. Abschnitt „6.7. Überlegung und „Praktischer Syllogismus““ Unabhängig davon, wie der Praktische Syllogismus bei Aristoteles zu verstehen ist, ist an Kennys Argumentation problematisch, dass er ihr Annahmen zugrunde legt, die Aristoteles erst später in der EN – in einem der gemeinsamen Bücher – entwickelt. Vgl. Meyer 2011, Anm. 12, 183 – 184: „The intended contrast is probably between ignorance of the highest goals in the light of which one deliberates, and the subordinate goals that contribute (sumpherei) either instrumentally or intrinsically to those goals. The intended contrast is between ignorance of whether one should act justly and ignorance of whether returning this deposit is just. Good intentions do not excuse, Aristotle indicates, if one is ignorant about how to execute them.“ Ähnlich auch: Loening 1903, Anm. 25, 179.
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Unwissenheit im Entschluss auf untergeordnete Ziele richtet, die instrumentell oder intrinsisch dem Erreichen der höchsten Ziele dienen. Wie ist die Annahme eines klaren inhaltlichen Unterschieds zwischen der Unwissenheit im Entschluss (bzw. über das Nützliche) und der Unwissenheit des Allgemeinen zu beurteilen? Zugunsten dieser Ansicht lässt sich auf eine kurz darauf in EN III 4 folgende Stelle verweisen, in der Aristoteles den Entschluss (prohairesis) erläutert und ihn im Zuge dessen u. a. vom rationalen Wunsch (boulêsis) abgrenzt. Ein wesentliches Unterscheidungskriterium lautet dort, dass sich der rationale Wunsch mehr auf das Ziel, der Entschluss hingegen mehr auf das, was zum Ziel führt, bezieht.⁴³⁵ Wenn dieser spezifische Sinn von „προαίρεσις“, den Aristoteles in EN III 4 präsentiert, bereits für die Diskussion der Unwissenheit in EN III 2 vorausgesetzt wird, so erscheint eine Unterscheidung zwischen einer Unwissenheit, welche sich auf die Dinge richtet, die zum Ziel führen, und einer Unwissenheit, die sich auf die Ziele des Handelns bezieht, nachvollziehbar, vielleicht sogar geboten. Allerdings ist es m. E. nicht erforderlich, anzunehmen, dass Aristoteles in EN III 2 bereits diese technische Bedeutung von prohairesis voraussetzt. Es mag zwar sein, dass er auch bei der Behandlung der Unwissenheit schon die spezifische Bedeutung im Blick hat. Es wäre aber textstrategisch verwunderlich, wenn er die spezifische Bedeutung bereits unkommentiert zugrunde legte und sogar zum Zwecke einer wichtigen Unterscheidung gebrauchte. Außerdem geht aus der Differenz zwischen boulêsis und prohairesis, wie er sie in EN III 4 erläutert, nicht zwangsläufig hervor, dass ein ähnlich deutlicher Unterschied zwischen der Unwissenheit über das Allgemeine und der Unwissenheit im Entschluss vorliegt.⁴³⁶ Es liegt also näher, dass Aristoteles „προαίρεσις“ in EN III 2 in der gewöhnlichen Bedeutung gebraucht und nicht dazu verwendet, einen wichtigen inhaltlichen Unterschied zu treffen, für den er auch sonst keinerlei Erläuterung gibt.⁴³⁷ Wenn sich somit die Annahme einer Differenz zwischen der Unwissenheit des Allgemeinen und der Unwissenheit im Entschluss nicht erhärten lässt, bleibt noch die Frage, weshalb Aristoteles dann überhaupt vier verschiedene Bezeich-
Vgl. EN III 4, 1111b26 – 27: „Ferner bezieht sich der Wunsch mehr auf das Ziel, der Entschluss mehr auf das, was zum Ziel führt.“ So z. B. auch Stewart 1892, 237: „But, although Aristotle undoubtedly distinguishes in this Book προαίρεσις, as concerned with the means, from βούλησις the wish for the end, and although it is reasonable to suppose that, in here using the term προαίρεσις, he has in view the technical meaning which he is about to give it; it does not therefore follow that in using the expression ἡ καθόλου ἄγνοια he has in view something as distinct from ἡ ἐν τῇ προαιρέσει ἄγνοια as προαίρεσις itself is distinct from βούλησις.“ So z. B. Stewart 1892, 273; Joachim 1951, Anm. 3, 99; Gauthier/Jolif 1970, 183.
3.3 Handlungen in Unwissenheit über das moralisch Richtige
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nungen anführt. Man könnte vermuten, dass er zwar unterschiedliche Ausdrücke verwendet, die jeweils einen anderen Aspekt einer Art von unwissentlichen, aber willentlichen Handlungen hervorheben, dass es ihm aber nicht auf einen nennenswerten Unterschied, sondern vielmehr auf das Gemeinsame ankommt. Spezifisch für diese unterschiedlich benannte Unwissenheit ist, dass sie etwas Allgemeines, im Sinn eines allgemeinen Prinzips, was man tun und unterlassen soll, betrifft. In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich von der Unwissenheit über das Einzelne, die nur einen oder mehrere Handlungsumstände betrifft. Die Unwissenheit über das Einzelne macht eine Handlung unwillentlich, so dass die handelnde Person dafür keinen Tadel verdient. Die Unwissenheit des Allgemeinen macht das Handeln nicht unwillentlich, sondern sie ist Ursache dafür, dass eine Person schlecht handelt und Tadel für ihr Handeln verdient. Das Gemeinsame bei allen Bezeichnungen liegt also darin, dass es jeweils um ein allgemeines Handlungsprinzip geht, über das sich eine Person in Unwissenheit befindet, und infolgedessen sie schlecht handelt.⁴³⁸ Auch die Unwissenheit im Entschluss lässt sich so deuten, dass damit zum Ausdruck gebracht werden soll, dass eine Person einen falschen Entschluss fasst, weil sie sich in Unwissenheit über ein allgemeines Prinzip befindet und es ihr deswegen nicht gelingt, den richtigen Entschluss zu fassen.⁴³⁹ Die Unwissenheit liegt dabei nicht darin, dass sich die Person lediglich über einen Einzelumstand ihres Handelns geirrt hat, sondern dass sie in ihrem Entschluss eine allgemeine Regel nicht richtig erkannt und angewendet hat. Es liegt daher nahe, die vier Bezeichnungen als äquivalente Ausdrücke für eine Unwissenheit über allgemeine Prinzipien des richtigen Handelns zu verstehen. Wichtiger als die Frage, weshalb Aristoteles hier vier bedeutungsgleiche Ausdrücke verwendet, ist es festzuhalten, dass er hier überhaupt ein solches Wissen vom Allgemeinen annimmt, das anscheinend Voraussetzung für richtiges Handeln und einen tugendhaften Charakter ist. Bedauerlicherweise gibt er keine weitere Erläuterung dazu, wie dieses Wissen erworben wird und worin es genau besteht. Dazu liefern auch die alternativen Bezeichnungen keinen weiteren Anhaltspunkt, da sie ebenso allgemein formuliert sind. Bevor ich zum letzten Teil der Behandlung der Unwissenheit übergehe, bleibt noch eine Formulierung im vorliegenden Passus, die einen kurzen Kommentar
Es bleibt dabei offen, ob die Person bereits schlecht ist, d. h. einen schlechten Charakter hat, wie z. B. der Unmäßige, oder ob die Person nur aufgrund ihrer Begierde schlecht handelt, aber gleichwohl über den richtigen Entschluss verfügt, wie es beim Unbeherrschten der Fall ist, wenn auch bei diesem ein wiederholtes Fehlgehen im Handeln zu einem schlechten Charakter führen kann. Vgl. Taylor 2006, 146; Gauthier/Jolif 1970, 184.
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3 Unwissenheit als Ausschlusskriterium für Willentlichkeit
verdient. Es ist nicht ganz klar, wie in 1110b33 – 1111a1 die Phrase „ἐν οἷς καὶ περὶ ἃ ἡ πρᾶξις“ zu verstehen und zu übersetzen ist. Eine ähnliche Formulierung kommt in Gestalt von „περὶ τί ἢ ἐν τίνι πράττει“ kurz darauf in 1111b4 erneut vor, und dies hat manche Kommentatoren dazu bewogen, an beiden Stellen die Verwendung der Präpositionen auf dieselbe Weise zu verstehen, nämlich dass mit „ἐν“ in Verbindung mit dem Dativ auf die Personen, auf die sich eine Handlung richtet (das „Gegenüber“ der Handlung), und mit „περί“ auf die Dinge, auf die sich die Handlung bezieht, Bezug genommen wird.⁴⁴⁰ Allerdings beziehen sich die Relativpronomen „οἷς“ und „ἃ“ in 1111a1 beide auf „ἕκαστα“, bei dem es sich um ein Neutrum Plural handelt, und dies spricht dafür, die Phrase „ἐν οἷς καὶ περὶ ἃ ἡ πρᾶξις“ allgemeiner zu verstehen als kurz darauf, wenn dieselben Präpositionen abermals verwendet werden, um jeweils einen einzelnen Handlungsumstand zu bezeichnen.⁴⁴¹ Die pluralische Formulierung „ἐν οἷς ἡ πρᾶξις“ kommt in derselben allgemeinen Bedeutung erneut im abschließenden Resümee in 1111a16 vor, und auch dort wird mit dem Ausdruck eindeutig auf alle möglichen Einzelumstände der Handlung Bezug genommen und nicht nur auf eine einzelne bestimmte Hinsicht. Um diesen allgemeinen Sinn zu erfassen, habe ich in 1111a1 mit „die Umstände, unter denen die Handlung erfolgt und mit denen sie zu tun hat“ (bzw. in a16 mit „die Umstände, unter denen die Handlung erfolgt“) übersetzt.⁴⁴² Damit soll zum Ausdruck kommen, dass hier jeweils ganz allgemein über alle möglichen Einzelumstände des Handelns gesprochen wird, auf die sich die Unwissenheit einer handelnden Person beziehen kann, so dass die Handlung unwillentlich ist. Nicht eindeutig scheint bei der Formulierung in 1111a1 zu sein, ob und inwiefern sich die beiden Konjunkte inhaltlich unterscheiden. Es ist auch möglich, dass es sich lediglich um stilistische Varianten handelt, ohne dass damit ein inhaltlicher Unterschied verbunden ist.⁴⁴³ In 1111a4 übersetze ich die Formulierung im Singular hingegen mit „in Bezug worauf und unter welchen Um-
So übersetzen bzw. befürworten z. B. Burnet und Stewart auch die Phrase „ἐν οἷς καὶ περὶ ἃ ἡ πρᾶξις“ mit „the persons and things which are the objects of the act“ (Burnet 1900, 118; Hervorhebung BL) bzw. „ignorance of the persons and things affected by the act“ (Stewart 1892, 238; Hervorhebung BL). Vgl. Gauthier/Jolif 1970, 184– 185. In der gleichen allgemeinen Weise kommt „ἐν οἷς ἡ πρᾶξις“ auch in 1111a18 nochmals vor, wo Aristoteles mit dem Ausdruck eine der beiden wichtigsten Hinsichten bezeichnet, auf die sich die Unwissenheit des Einzelnen beziehen kann. Solche allgemeinen Wiedergaben schlagen die meisten Übersetzer vor, wie z. B. „which the action consists in and is concerned with“ (Irwin 1999, 204); „circumstances of the action and what it is concerned with“ (Crisp 2011); „des conditions dans lesquelles se déroule l’action et des choses qui en sont les objets“ (Gauthier/Jolif 1970, 184). So Taylor 2006, 146: „It is possible that no distinction is intended, the repetition being merely for stylistic effect.“
3.4 Beispiele für Handlungen aufgrund von Unwissenheit
167
ständen“, wobei dies – wie erst die folgenden Beispiele verdeutlichen – insofern in einem engeren Sinn zu verstehen ist, als damit das Objekt der Handlung, d. h. die Person oder der Gegenstand, auf die oder den sich die Handlung bezieht, gemeint ist.
3.4 Beispiele für Handlungen aufgrund von Unwissenheit über einzelne Handlungsumstände Bevor Aristoteles seine Behandlung der Unwissenheit in EN III 2 mit einem kurzen Resümee beschließt, präzisiert er zuvor noch sein Verständnis der Unwissenheit des Einzelnen, die dazu führt, dass eine Person für ihre Handlung Entschuldigung oder Mitleid verdient. Er erläutert diese exkulpatorische Unwissenheit mittels einer Taxonomie der einzelnen Handlungsumstände, die die Unwissenheit des Einzelnen betreffen kann. Die möglichen Einzelumstände zählt er zunächst, wie er es häufiger tut, mit Hilfe von Fragepronomina auf. Anschließend führt er eine Reihe von Beispielen an, die offenbar die genannten Hinsichten, auf die sich die Unwissenheit beziehen kann, illustrieren sollen. Ich gebe erst die ganze Passage wieder und betrachte dann die verschiedenen Einzelumstände und Beispiele näher: [EN III 2, 1111a3 – 15]⁴⁴⁴ Vielleicht ist es also nicht schlecht, diese Einzelheiten zu bestimmen, welche und wie viele dies sind: wer etwas tut und was er tut, in Bezug worauf oder worin, manchmal auch womit, z. B. mit welchem Werkzeug, und weswegen [bzw. mit welchem Ergebnis], z. B. um jemanden zu retten, und wie, z. B. ob leicht oder heftig. Nun ist niemand unwissend über all diese Dinge, es sei denn er ist wahnsinnig, und es ist klar, dass auch niemand unwissend darüber ist, wer handelt. Denn wie sollte man über sich selbst unwissend sein? Aber jemand könnte unwissend darüber sein, was er tut, wie wenn sie z. B. sagen, ihnen sei beim Sprechen etwas entschlüpft,⁴⁴⁵ oder man habe nicht gewusst, dass es Geheimnisse sind, wie Aischylos bei
EN I 2, 1111a3 – 15: ἴσως οὖν οὐ χεῖρον διορίσαι αὐτά, τίνα καὶ πόσα ἐστί, τίς τε δὴ καὶ τί καὶ περὶ τί ἢ ἐν τίνι πράττει, ἐνίοτε δὲ καὶ τίνι, οἷον ὀργάνῳ, καὶ ἕνεκα τίνος, οἷον σωτηρίας, καὶ πῶς, οἷον ἠμέρα ἢ σφόδρα. ἅπαντα μὲν οὖν ταῦτα οὐδεὶς ἂν ἀγνοήσειε μὴ μαινόμενος, δῆλον δ’ ὡς οὐδὲ τὸν πράττοντα· πῶς γὰρ ἑαυτόν γε; ὃ δὲ πράττει ἀγνοήσειεν ἄν τις, οἷον
λέγοντές φασιν ἐκπεσεῖν αὑτούς,
ἢ οὐκ εἰδέναι ὅτι ἀπόρρητα ἦν, ὥσπερ Αἰσχύλος τὰ μυστικά, ἢ δεῖξαι βουλόμενος ἀφεῖναι, ὡς ὁ τὸν καταπέλτην. οἰηθείη δ’ ἄν τις καὶ τὸν υἱὸν πολέμιον εἶναι ὥσπερ ἡ Μερόπη, καὶ ἐσφαιρῶσθαι τὸ λελογχωμένον δόρυ, ἢ τὸν λίθον κίσσηριν εἶναι· καὶ ἐπὶ σωτηρίᾳ πίσας ἀποκτείναι ἄν· καὶ θῖξαι βουλόμενος, ὥσπερ οἱ ἀκροχειριζόμενοι, πατάξειεν ἄν. Bywater markiert die Phrase „λέγοντές φασιν ἐκπεσεῖν αὐτούς“ in 1111a9 als Korruptele, da der überlieferte Text problematisch ist. Ramsauer schlägt vor, „λέγοντές“ durch „λέγοντας“ zu verbessern, wodurch der Satz einen plausiblen Sinn erhält. Diese Emendation habe ich auch
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den Mysterien, oder wie jemand erklärt, das Katapult sei losgegangen, als er es nur zeigen wollte. Jemand könnte auch meinen, der eigene Sohn sei ein Feind, wie Merope, oder der gespitzte Speer habe einen Stumpf am Ende oder der Stein sei ein Bimsstein. Und man könnte jemandem ein Getränk geben⁴⁴⁶, um ihn zu retten, ihn aber damit töten. Oder man könnte jemanden nur (an den Händen) anfassen⁴⁴⁷ wollen, wie beim Boxkampf, ihn aber niederschlagen.
Die Beispiele lassen keinen Zweifel daran, dass es sich bei der Unwissenheit des Einzelnen um eine rein sachliche und nicht um eine moralische Unwissenheit handelt. Dadurch unterscheidet sie sich von der Unwissenheit des Allgemeinen, bei der die handelnde Person darüber unwissend ist, was sie tun und was sie unterlassen soll.⁴⁴⁸ Auf eine nähere Erläuterung der Beispiele, die die verschiedenen Einzelhinsichten illustrieren sollen, verzichtet Aristoteles an dieser Stelle. Sie entstammen verschiedenen Quellen, stehen aber wohl alle vor einem allgemein bekannten Hintergrund. So genügt die sehr kurze Art des Zitierens, mit der sich Aristoteles begnügt, damit Leser und Hörer den jeweiligen Fall und Kontext vor Augen haben. Die Beispiele sind teils dem Alltag und dem realen Leben entnommen, teils handelt es sich um literarische Beispiele, andere Fälle sind fiktiv, wobei es sich wohl um geläufige Beispiele aus mündlichen Debatten handelt, und manche gehen auf damalige Rhetorik-Handbücher wie etwa Antiphons Tetralogien zurück.⁴⁴⁹
meiner Übersetzung zugrunde gelegt. Das Verb „ἐκπίπτειν“ ist in der Bedeutung von einem unbewusst entschlüpfen zwar selten, aber ausreichend bezeugt (vgl. Aspasius in Eth. Nic. CAG XIX/1 64.30; Burnet 1900, 118 – 119; Stewart 1892, 238 – 239). In den MSS ist in 1111a14 „παίσας“ anstelle von „πίσας“ überliefert, was Bernays zu „πίσας“ verbessert hat, und worin ihm Susemihl und Bywater m. E. zu Recht folgen. In den MSS steht in 1111a14 anstelle von „θῖξαι“ „δεῖξαι“, das bereits zuvor beim KatapultBeispiel vorgekommen ist. Dirlmeier folgt der Überlieferung und übersetzt mit „Zeigen“, was jedoch schlecht zum Beispiel passt. Die meisten lesen heute die Verbesserung „θῖξαι“ („berühren, anfassen“), die bei Susemihl und Bywater zu finden ist und die eine plausible Lesart für das Beispiel ermöglicht (eine Ausnahme sind Gauthier/Jolif, die stattdessen „δράξαι“ („die Hand ergreifen“) lesen. Ihre Begründung ist aber nicht überzeugend). Bei der Unwissenheit des Betrunkenen oder des Zornigen kann es sich sowohl um eine Unwissenheit des Einzelnen als auch um eine Unwissenheit des Allgemeinen handeln (vgl. Abschnitt „3.3.1 Übergang zu den Handlungen des Schlechten, der unwissend handelt“). Das ändert freilich nichts daran, dass sie für ihre Handlungen in beiden Fällen keine Entschuldigung, sondern Tadel verdienen, da der Betrunkene bzw. der Zornige selbst ihren Zustand der Unwissenheit verursacht haben. Vgl. Taylor 2006, 146.
3.4 Beispiele für Handlungen aufgrund von Unwissenheit
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Überdies äußert sich Aristoteles nicht näher dazu, wie die Beispiele genau den davor genannten sieben einzelnen Hinsichten zuzuordnen sind.⁴⁵⁰ Es kommt ihm hierbei anscheinend nicht auf Präzision an, sondern es geht ihm vornehmlich darum, die Vielfalt der Möglichkeiten zu veranschaulichen und es Lesern und Hörern zu überlassen, die Beispiele exakt zu bestimmen und in die vorgestellte Taxonomie von Handlungsumständen einzuordnen. Stellt man sich dieser Aufgabe, so fällt rasch auf, dass nicht immer ganz klar ist, wie sich die einzelnen Hinsichten voneinander unterscheiden, und obendrein vermögen nicht alle Beispiele als Illustration für einen Fall von Unwissenheit zu überzeugen. Dabei ist freilich nochmals daran zu erinnern, dass Aristoteles „ἄγνοια“ in einer deutlich weiteren Bedeutung gebraucht als nur im Sinn eines Mangels an Tatsachenwissen.⁴⁵¹ Vielmehr kann mit „ἄγνοια“ auch ein Versehen oder eine Unachtsamkeit gemeint sein – Fälle also, in denen kein epistemisches Defizit vorliegt. Ich werde die Beispiele der Reihe nach durchgehen und erläutern und dabei auf Verständnisprobleme oder Schwierigkeiten bei der Zuordnung zu den Einzelhinsichten hinweisen.
3.4.1 Die Beispiele im Einzelnen Aristoteles beginnt seine Erläuterungen mit dem Hinweis, dass sich niemand über alle der genannten Hinsichten in Unwissenheit befinden kann, es sei denn er sei wahnsinnig (mainomenos). Den Wahnsinnigen bezeichnet Aristoteles später in EN VII als jemanden, der „aus der Natur herausfällt“,⁴⁵² und er vergleicht ihn diesbezüglich mit den Tieren: Beide sind weder zu Überlegungen noch zu Entschlüssen fähig und deshalb sind sie grundsätzlich nicht zu Handlungen in der Lage, die Lob oder Tadel verdienen. Seine Bemerkung zum Wahnsinnigen lässt es aber zu, dass jemand in nicht nur einer Hinsicht unwissend ist und sein Handeln auch dann zu entschuldigen ist. Sehr verwunderlich ist Aristoteles’ nächste Bemerkung, dass niemand über die erste Hinsicht, also den Handelnden selbst (tis), in Unwissenheit sein kann. Er
Es liegt zwar nahe, die Beispiele zunächst den sechs Einzelhinsichten in der Reihenfolge ihrer Aufzählung zuzuordnen (so Stewart 1892, 239 – 240), allerdings gibt einem dies nur einen ungefähren Leitfaden an die Hand. Denn wie wir sehen werden, ist die Zuordnung im Einzelfall nicht immer eindeutig, womöglich aber von Aristoteles auch nicht als eindeutig gemeint. Vgl. Abschnitt „3.2.1 Terminologische Bemerkungen“. EN VII 7, 1149b34– 1150a1: „Sie [i. e. die Tiere; BL] haben nämlich weder Entschluss noch Überlegung, sondern fallen aus der Natur heraus wie die Wahnsinnigen unter den Menschen.“
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erwähnt selbst an anderer Stelle⁴⁵³ den Fall des Ödipus, der Laios tötet, ohne zu wissen, dass er sein Vater ist.⁴⁵⁴ Ödipus tötet seinen Vater somit in Unkenntnis seiner eigenen Identität, und hätte er gewusst, dass er Laios’ Sohn ist, hätte er die Tat wohl nicht (in der gleichen Weise) begangen. Es sind auch Fälle denkbar, in denen eine Person nicht bemerkt, dass sie selbst es ist, die durch ihr Handeln etwas verursacht. Man könnte z. B. an den Fall denken, bei dem sich jemand unbemerkt in den Finger schneidet und daraufhin beim Berühren von Büchern darauf Blutspuren hinterlässt. Diese Person könnte sich fragen, wer die Bücher verschmiert hat, ohne zu merken, dass sie selbst es war. Ein anderes Beispiel ist, dass jemand von ein paar Freunden, mit denen er auf eine Party geht, zum designierten Fahrer für die Heimfahrt bestimmt wird, dies dann aber auf der Party vergisst und so viel Alkohol konsumiert, dass er am Ende der Party fahruntüchtig ist. Das erste Beispiel, das Aristoteles nennt, ist der Fall, dass einer Person beim Sprechen etwas entschlüpft, das sie nicht zu sagen vorhatte. Hier ist nicht ganz klar, ob der Fall gemeint ist, dass einer Person schlicht während des Sprechens etwas entschlüpft, das sie nicht ausplaudern wollte,⁴⁵⁵ oder ob eine Person durcheinandergerät und infolgedessen etwas sagt, das sie nicht verraten wollte.⁴⁵⁶ Der Text in 1111b9 scheint korrupt zu sein, weil die Phrase im überlieferten Wortlaut ungrammatisch ist und korrigiert werden muss.⁴⁵⁷ Es hängt aber m. E. inhaltlich nicht viel daran, welche der beiden genannten Optionen letztlich gemeint ist. Auf jeden Fall scheint es sich um eine Illustration der zweiten Hinsicht, also des „Was“ (ti) der Handlung, zu handeln.⁴⁵⁸ Eindeutiger sind die beiden folgenden Beispiele: Das nächste Beispiel des Aischylos spielt darauf an, dass sich der Dichter vor dem Areopag gegen die Anklage verteidigen musste, in einer Tragödie bestimmte Teile der Initiationsriten, die zu den Mysterien gehörten und die strengster Geheimhaltung unterlagen, verraten zu haben. Mit den Mysterien ist dabei der Demeter-Kult in Eleusis gemeint.⁴⁵⁹ Aischylos wehrte sich gegen diesen Vorwurf des Geheimnisverrats mit dem Argument, nie an den Mysterien teilge Z. B. verweist Aristoteles in EN V 10, 1135a28 – 30 zwar nicht explizit auf Ödipus, aber die Beschreibung lässt kaum einen Zweifel daran, dass er auf Ödipus’ Schicksal anspielt. Vgl. z. B. auch Taylor 2006, 146 – 147. So Taylor 2006, 147. Zu dieser Erklärung neigen Stewart und Burnet im Anschluss an Heliodor. Ich übernehme Ramsauers Korrektur, der den Nominativ „λέγοντές“ durch den Akkusativ „λέγοντας“ ersetzt. So z. B. Aspasius in Eth. Nic. CAG XIX/1; Grant 1866; Kenny 1979; Stewart 1892. Wegen der strengen Geheimhaltungspflicht ist auch nur wenig Genaues bekannt über die Art der Initiations- und der Offenbarungsriten bei den Mysterien. Weiterführendes findet sich in: Burkert 1991.
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nommen und sich deswegen in Unwissenheit über das „Was“ seiner Handlung befunden zu haben. Etwas mehr Rätsel gibt das nächste Beispiel des Katapults auf. Es ist ein Fall, bei dem es womöglich nicht sofort einleuchtet, wenn sich jemand zur Entschuldigung auf Unwissenheit beruft. Von einem epistemischen Defizit kann man hier kaum sprechen; allerdings lässt sich das Beispiel als ein Versehen deuten. Man könnte an eine Situation denken, in der es nur jemandes Absicht gewesen ist, den Abschussmechanismus des Katapults vorzuführen, wobei sich versehentlich ein Schuss löst, durch den jemand unglücklicherweise tödlich verwundet wird. Unklar ist außerdem, ob der Fall erneut ein Beispiel einer Unwissenheit über das „Was“ der Handlung sein soll,⁴⁶⁰ oder ob damit das „Worin“ (en tini) der Handlung veranschaulicht werden soll.⁴⁶¹ Möglicherweise lassen sich hier beide Ansichten vertreten, was darauf hindeutet, dass sich die verschiedenen Hinsichten nicht immer trennscharf voneinander unterscheiden lassen. Gleichwohl erscheint mir die Zuordnung zum „Was“ plausibler, zumal das „Worin“ m. E. nicht als gesonderte Hinsicht zu verstehen ist, sondern mit dem „in Bezug worauf“ eine Einheit und ein einziges Kriterium bildet, wie ich gleich erläutern werde. Das Beispiel von Merope entstammt der nicht erhaltenen Tragödie Kresphontes des Euripides. Aristoteles erwähnt das Beispiel auch in der Poetik ⁴⁶², und zwar als ein besonders gelungenes Beispiel für eine Wiedererkennung (anagnôrisis) einer schlimmen Handlung. Merope wollte den Mann töten, der vorgab, der Mörder ihres Sohnes zu sein; sie erkannte ihn aber noch rechtzeitig als ihren Sohn Kresphontes, so dass es nicht zum unwillentlichen Mord an ihrem eigenen Sohn gekommen ist. Das Beispiel der Merope lässt sich als Veranschaulichung einer Unwissenheit über das „in Bezug worauf oder worin“ (peri ti ê en tini) der Handlung verstehen.⁴⁶³ Damit lässt sich nun auch präzisieren, inwiefern die Wendung „περὶ τί ἢ ἐν τίνι πράττει“ („in Bezug worauf und worin“) in 1111a4 in einem spezifischeren Sinn verstanden werden kann als die ähnlich lautenden Formulierungen in 1111a1 und 1111a16.⁴⁶⁴ Während sich die allgemeinen Formu-
Dieser Ansicht sind Aspasius in Eth. Nic. CAG XIX/1 64.31– 33; und Stewart 1892, 240. Diese Auffassung vertritt z. B. Echeñique 2012, 151. Taylor bemerkt zu dem Beispiel des Katapults, dass es verschiedene Deutungen zulässt, je nachdem, ob man den Fall so versteht, dass jemand den Haken, der den Auslöser aktiviert, mit einem anderen Hebel verwechselt, oder ob jemand beabsichtigt, das Katapult vorzuführen, dabei aber versehentlich den Auslöser betätigt (vgl. Taylor 2006, 147– 148). Poet. 14, 1454a7. So z. B. Aspasius in Eth. Nic. CAG XIX/1; Stewart 1892, 238; Kenny 1979, 55 – 56. Das weitere Verständnis der Wendung in 1111a1 und a16 und die Abgrenzung zum engeren Sinn in 1111a4 habe ich bereits kurz am Ende des Abschnitts „3.3.2 Die Äquivalenzannahme“
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lierungen auf sämtliche Einzelumstände des Handelns beziehen, richtet sich die Wendung „περὶ τί ἢ ἐν τίνι πράττει“ in a4 auf die Personen oder Gegenstände, mit denen die Handlung zu tun hat. Das Beispiel der Merope veranschaulicht eine Unwissenheit in Bezug auf eine Person, mit der die Handlung zu tun hat; das Beispiel des Katapults lässt sich so verstehen, dass damit eine Unwissenheit über einen Gegenstand, mit dem die Handlung zu tun hat, illustriert wird. Es fällt auf, dass Aristoteles die Fragepronomina in „περὶ τί ἢ ἐν τίνι“ mit „ἤ“ und nicht (wie in allen anderen Fällen) mit „καί“ verknüpft. Die Disjunktion fasse ich daher so auf, dass es sich bei den Bezeichnungen nur um stilistische Varianten handelt, die beide dieselbe Hinsicht bezeichnen. „περὶ τί ἢ ἐν τίνι“ bezeichnet somit nur ein einziges Kriterium.⁴⁶⁵ Bei den beiden folgenden Beispielen von Speer und Bimsstein ist es wiederum wichtig, sie nicht als Illustrationen eines epistemischen Defizits misszuverstehen, sondern die Unwissenheit in einer Unachtsamkeit oder einem Versehen zu erkennen. Beide Fälle sollen eine Unwissenheit über das „Womit“ (tini) der Handlung, d. h. das Werkzeug (organon), mit dessen Hilfe sich eine bestimmte Handlung ausführen lässt, veranschaulichen. Das Beispiel des Speeres erscheint klar: Das Ende des Speeres ist wider Erwarten nicht stumpf und ungefährlich, sondern spitz, so dass man damit jemanden leicht versehentlich verletzen kann. Für das Beispiel des Bimssteins sind die meisten Kommentatoren der Deutung von Aspasius gefolgt.⁴⁶⁶ Danach handelt es sich bei einem Stein wider Erwarten nicht um einen leichten und ungefährlichen Bimsstein, sondern um einen schweren Stein, so dass man sich beispielsweise aus Versehen den Fuss verletzen kann, wenn man mit Schmackes dagegentritt.⁴⁶⁷
erläutert. Ich komme darauf im Abschnitt „3.4.2 Resümierende Beurteilung der verschiedenen Einzelhinsichten und ein Vergleich mit EE II 9 und EN V 10“ nochmals zurück. Man könnte hierin auch eine Antwort auf die Frage sehen, an welche Hinsicht Aristoteles denkt, wenn er in seiner abschließenden Bemerkung in a18 – 19 eine der beiden wichtigsten Hinsichten, welche die Unwissenheit betreffen kann, mit „ἐν οἷς“ bezeichnet. Er könnte damit auf die Personen und Gegenstände, mit denen die Handlung zu tun hat, d. h. das „in Bezug worauf und worin“ aus a4, Bezug nehmen (vgl. dazu auch Abschnitt „3.4.2 Resümierende Beurteilung der verschiedenen Einzelhinsichten und ein Vergleich mit EE II 9 und EN V 10“, 50 ff.). Aspasius in Eth. Nic. CAG XIX/1 65.4– 5. Dirlmeier nimmt Anstoß an dieser Deutung und deutet das Beispiel stattdessen vor dem Hintergrund der medizinischen Verwendung des Bimssteins als Zutat für die Herstellung eines heilenden Pulvers (Dirlmeier 1974, 326). Dieser Vorschlag ist problematisch, da nicht mehr erklärlich ist, worauf sich die Unwissenheit bezieht.
3.4 Beispiele für Handlungen aufgrund von Unwissenheit
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Das nächste Beispiel beschreibt einen klassischen Fall von Unwissenheit,⁴⁶⁸ und zwar den Fall einer Person, die einer anderen Person ein Getränk gibt, um sie damit zu heilen, sie aber stattdessen mit dem Trank tötet, weil es sich beim Inhalt wider Erwarten nicht um eine Medizin, sondern um ein tödliches Gift handelt. Das Beispiel soll eine Unwissenheit über das „Weswegen“ bzw. das „Worumwillen“ der Handlung (heneka tinos) illustrieren. Dies lässt sich auch daran erkennen, dass Aristoteles bereits bei der Nennung dieser sechsten Hinsicht mit Hilfe des Fragepronomens „ἕνεκα τίνος“ als Beispiel für ein „Weswegen“ von einer Rettung (sôteria) spricht und dies mit dem konkreten Beispiel nun wiederaufnimmt. Die Mehrzahl der Kommentatoren ist der Ansicht, dass er, wenn er an dieser Stelle vom „Worumwillen“ der Handlung (heneka tinos) spricht, den Ausdruck nicht in seiner üblichen Bedeutung verwendet haben kann, derzufolge darunter der Zweck bzw. das Ziel, um das zu erreichen eine Person sich für eine bestimmte Handlung entscheidet, zu verstehen ist. Denn es erscheint offenbar absurd, zu sagen, dass sich jemand über das Ziel seines Handelns in Unwissenheit befunden hat und deshalb unwillentlich handelt. Meist wird daher der Vorschlag gemacht, dass Aristoteles sich hier mit dem „Worumwillens“ der Handlung auf das Resultat einer Handlung bezieht.⁴⁶⁹ Ich hatte allerdings bei der Diskussion der Parallelstelle in der EE eine Deutung vorgeschlagen, nach der sich auch eine Unwissenheit über das Ziel einer Handlung annehmen lässt.⁴⁷⁰ Der Vorschlag beruht auf der Unterscheidung zwischen natürlichen und psychologischen Zielen von Handlungen: Während es in der Tat unverständlich ist, einer Person Unwissenheit über das psychologische Ziel ihrer Handlung zuzuschreiben, ist es möglich, dass eine Person das natürliche Ziel ihrer Handlung nicht kennt. Die Annahme ist, dass es Handlungen gibt, die ein natürliches Ziel haben; zu diesen Handlungen zählt beispielsweise das Zerstückeln und Kochen eines Menschen, deren natürliches Ziel das Töten ist. In gleicher Weise lässt sich sagen, dass auch das Verabreichen von Gift das natürliche Ziel hat, jemanden zu töten. Es ist demnach möglich, die Unwissenheit über das Worumwillen einer Handlung auch in der
Ähnliche Beispiele, in denen ein Getränk, das für eine Medizin oder einen Liebestrunk gehalten wird und sich wider Erwarten als Gift entpuppt und so ein unbeabsichtigtes Töten zur Folge hat, erwähnt Aristoteles auch in der EE (EE II 9, 1225b4– 5); und es kommt auch in den MM (MM I 16, 1188b31) vor. Ferner findet der Fall eines Liebestranks, der sich als Gift herausstellt, auch in den Tetralogien von Antiphon Erwähnung. Er kann also als allgemein bekannt und viel diskutiert gelten. Vgl. Grant 1866, 13; ähnlich auch Woods in Bezug auf die Parallelstelle in der EE: Woods 2005, 136. Vgl. Abschnitt „3.2.5.1 Unwissenheit über das Worumwillen einer Handlung“.
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üblichen Bedeutung zu interpretieren, wenn man unter dem Worumwillen das natürliche Ziel der Handlung versteht. Das letzte Beispiel des Boxkampfs soll schließlich Unwissenheit über das „Wie“ (pôs) veranschaulichen. Der Anonyme Kommentator erklärt zu der genannten Sportart, dass es sich dabei um Boxen (pykteuein) oder einen Allkampf (pankratiazein) ohne Umklammerung handele oder überhaupt um ein Üben mit erhobenen Händen. Zum Vergleich mit einer modernen Sportart wird meist auf Sparring verwiesen.⁴⁷¹ Das Beispiel des Boxtrainings soll Unwissenheit über das „Wie“ der Handlung illustrieren. Erneut liegt kaum ein Fall eines epistemischen Defizits vor, sondern zu denken ist wohl eher an eine Situation, in der ein Sportler seinen Gegner nur berühren wollte, ihn mit seiner Bewegung aber versehentlich zu Boden schlägt.
3.4.2 Resümierende Beurteilung der verschiedenen Einzelhinsichten und ein Vergleich mit EE II 9 und EN V 10 Aristoteles beschließt seine Behandlung der Unwissenheit in EN III 2 mit einem kurzen Fazit, das deutlich herausstreicht, was für die Frage entscheidend ist, ob eine Person aufgrund von Unwissenheit unwillentlich handelt und dafür Entschuldigung oder gar Mitleid verdient: [EN III 2, 1111a15 – 21]⁴⁷² Da aber bei all diesen Umständen, unter denen die Handlung erfolgt, Unwissenheit möglich ist, scheint jemand, der über einen davon unwissend ist, unwillentlich gehandelt zu haben, vor allem aber, wenn er in Bezug auf die wichtigsten Umstände unwissend ist. Für die wichtigsten hält man das, worin die Handlung besteht, und ihren Zweck. Damit man aber bei jemandem aufgrund dieser Art von Unwissenheit von unwillentlich sprechen kann, muss die Handlung für ihn schmerzvoll sein und Bedauern hervorrufen.
Die erste Feststellung ist, dass es Unwissenheit in Bezug auf mindestens einen Umstand des Handelns – und folglich weder die Unwissenheit über das Allgemeine bzw. ihre Äquivalente noch die Unwissenheit des Betrunkenen oder des Zornigen – ist, welche dazu führen kann, dass eine Person unwillentlich handelt. Sodann spitzt Aristoteles seine Liste der unterschiedlichen Einzelhinsichten, Grant 1866, 13; Taylor 2006, 148. EN III 2, 1111a15 – 21: περὶ πάντα δὴ ταῦτα τῆς ἀγνοίας οὔσης, ἐν οἷς ἡ πρᾶξις, ὁ τούτων τι ἀγνοήσας ἄκων δοκεῖ πεπραχέναι, καὶ μάλιστα ἐν τοῖς κυριωτάτοις· κυριώτατα δ’ εἶναι δοκεῖ ἐν οἷς ἡ πρᾶξις καὶ οὗ ἕνεκα. τοῦ δὴ κατὰ τὴν τοιαύτην ἄγνοιαν ἀκουσίου λεγομένου ἔτι δεῖ τὴν πρᾶξιν λυπηρὰν εἶναι καὶ ἐν μεταμελείᾳ.
3.4 Beispiele für Handlungen aufgrund von Unwissenheit
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welche die Unwissenheit einer unwillentlich handelnden Person betreffen kann, noch zu und stellt das Worin (en hois hê praxis) und das Weswegen der Handlung (hou heneka [hê praxis]) als die wichtigsten Hinsichten heraus. Unter dem Weswegen ist hier nicht das psychologische Ziel zu verstehen, das eine Person mit ihrer Handlung anstrebt – darüber kann sie nicht unwissend sein. Gemeint sein muss entweder das natürliche Ziel der Handlung oder das Resultat der Handlung. Weniger eindeutig bestimmen lässt sich, was mit der anderen wichtigsten Hinsicht genau gemeint ist. Wenn Aristoteles auch mit dem Worin (en hois) der Handlung eine der zuvor diskutierten Einzelhinsichten herausgreifen will, so liegt die Vermutung nahe, dass die dritte bzw. vierte der genannten Hinsichten gemeint ist, da auch in deren Bezeichnung die Präposition „ἐν“ vorkommt. In meiner Erläuterung dieser Hinsicht, die die Beispiele der Merope und des Katapults veranschaulichen sollen, habe ich vorgeschlagen, dass mit der Wendung „περὶ τί ἢ ἐν τίνι“ womöglich nur eine einzige Hinsicht bezeichnet werden soll und es sich bei den Disjunkten nur um stilistische Varianten handelt.⁴⁷³ Das würde bedeuten, dass es sich bei der zweiten wichtigsten Hinsicht, welche die Unwissenheit betreffen kann, um eine Unwissenheit in Bezug auf die Personen oder Gegenstände, mit denen die Handlung zu tun hat, handelt.⁴⁷⁴ Erwähnenswert ist zudem, dass Aristoteles in den Parallelstellen in der EE und in EN V, an denen er die Unwissenheit über das Einzelne behandelt, jeweils nur drei Hinsichten benennt, die jeweils übereinstimmen. Auch die Behandlung in den MM deckt sich damit. Die drei erwähnten Hinsichten sind die Person (hon), auf die sich die Handlung bezieht, das Werkzeug (hô bzw. tini), mit dessen Hilfe die Handlung ausgeführt wird, und das Ergebnis bzw. Ziel (hou heneka) der Handlung.⁴⁷⁵ Diese nur leicht voneinander abweichenden, im Wesentlichen aber übereinstimmenden Bestimmungen der wichtigsten Hinsichten machen deutlich, dass es Aristoteles hier nicht auf große Präzision ankommt, was auch durchaus plausibel ist. Denn eine vollständige Liste von Einzelhinsichten, die das Unwissen betreffen kann, ist ebenso wenig eindeutig anzugeben, wie eine genaue Abgren-
Vgl. S. 171– 172. Meiner Deutung könnte jemand entgegenhalten, dass es sich bei „ἐν οἷς“ wieder um die allgemeine Formulierung handelt, die in a1 und a16 vorgekommen ist, und mit dem Ausdruck deshalb abermals alle möglichen Handlungsumstände bezeichnet werden sollen. Dagegen spricht aber m. E. erstens, dass es Aristoteles an dieser Stelle um eine Zuspitzung geht, indem er die genannten Hinsichten auf die beiden wichtigsten reduziert, und zweitens, dass es anderfalls verwunderlich wäre, warum er das Weswegen noch eigens hervorhebt, wenn mit dem Worin bereits alle Umstände genannt sind. Vgl. EE II 9, 1225b2– 6. In der EE wird in b6 auch noch das „was“ (ho) genannt. MM I 33, 1195a17– 19, EN V 10, 1135a25.
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3 Unwissenheit als Ausschlusskriterium für Willentlichkeit
zung der verschiedenen Hinsichten voneinander. Er belässt es dabei, die Hinsichten zu benennen, die wohl am häufigsten vorkommen oder am meisten diskutiert werden. Die genaue Bezeichnung und Abgrenzung ist weniger relevant, wenn man einmal erfasst hat, was wesentlich für diese Art der exkulpatorischen Unwissenheit ist. Worauf es Aristoteles dagegen ankommt, unterstreicht die Bemerkung, mit der er seine Behandlung der Unwissenheit in EN III 2 beschließt. Erstens bringt er mit der umsichtigen Formulierung, dass man jemanden aufgrund einer derartigen Unwissenheit (kata tên toiautên agnoian), d. h. aufgrund der Arten von Unwissenheit, wie sie zuvor mit Hilfe der verschiedenen Hinsichten bestimmten wurden, unwillentlich nennt. Diese pointierte Wortwahl macht zugleich deutlich, dass sich das Ausmaß der Unwissenheit einer Person jeweils auf eine bestimmte Hinsicht beschränkt. In anderen Hinsichten kann sich die Person dagegen nicht auf Unwissenheit berufen.⁴⁷⁶ Zweitens ist bemerkenswert, dass er am Ende nochmals die Differenzierung zwischen nicht-willentlichen und unwillentlichen Handlungen aufgreift, mit der er seine Behandlung der Unwissenheit begonnen hat. Er erwähnt zum Schluss erneut explizit, dass unwillentlich aufgrund von Unwissenheit nur derjenige handelt, der im Nachhinein Schmerz und Bedauern über sein Handeln empfindet. Dies unterstreicht, dass es ihm bei der Behandlung der Unwissenheit in der Tat mehr auf die Beurteilung des Charakters der handelnden Person ankommt als auf die bloße Urheberschaft der Handlung.
Dies lässt sich am Beispiel des Ödipus verdeutlichen. Da Ödipus nicht weiß, dass der Mann vor ihm sein Vater ist, kann er zu seiner Entschuldigung anführen, dass er keinen Vatermord begangen hat, weil er nicht wusste, wer die Person ist, auf die sich seine Handlung bezieht. Gleichwohl hat er Totschlag begangen, da er sich über die anderen relevanten Umstände seines Handelns nicht in Unwissenheit befunden hat.
Teil III: Prohairesis als hinreichende Bedingung für Zurechenbarkeit?
4 Die Textgrundlage zur Behandlung der prohairesis Mit diesem Kapitel beginnt der dritte und umfangsreichste Teil dieses Buches, der Aristoteles’ Konzeption der prohairesis – des Entschlusses – zum Gegenstand hat. Aristoteles bestimmt die prohairesis in der EE und in der EN in den Kapiteln, die unmittelbar auf die Bestimmung des Willentlichen und Unwillentlichen folgen. In beiden Ethiken führt er die prohairesis als etwas ein, über das nur vernunftbegabte Menschen verfügen. In der EN tritt zudem deutlich hervor, dass er unter der prohairesis etwas versteht, das spezifisch für erwachsene Menschen ist und das deswegen geeignet ist, unter den willentlichen und unwillentlichen Handlungen diejenigen auszusondern, die nur dem Menschen zuzuschreiben sind. Da auch Tiere und Kinder zu willentlichen und unwillentlichen Handlungen in der Lage sind, kann Willentlichkeit kein hinreichendes Kriterium für die Zurechenbarkeit von Handlungen sein. Außerdem haben die Sonderfälle unwillentlicher Handlungen, die auf eine bestimmte Art von Unwissenheit zurückzuführen sind (z. B. aufgrund eines unnatürlichen oder unmenschlichen Affekts oder aufgrund von selbstverschuldeter Trunkenheit oder Nachlässigkeit), gezeigt, dass Willentlichkeit auch kein notwendiges Kriterium für Zurechenbarkeit ist. Eine prohairesis bestimmt Aristoteles als eine mit Überlegung verbundene Strebung nach den Dingen, die bei uns liegen. Konstitutiv für eine prohairesis ist demnach, dass ihr ein Überlegungsvorgang vorausgegangen ist, zu dem nur vernunftbegabte Lebewesen in der Lage sind. Dies legt die Vermutung nahe, eine zurechenbare Handlung als eine willentliche Handlung, die auf einem Entschluss beruht, aufzufassen. Der Entschluss wäre demnach das, was eine willentliche Handlung zu einer zurechenbaren Handlung macht. Es wird eines der zentralen Anliegen der folgenden Kapitel sein, diese Annahme anhand des Textes zu prüfen. Es sei bereits vorweggenommen, dass die Antwort nicht so eindeutig ausfallen wird, wie sie von manchen schon gegeben worden ist. Sonderfälle zurechenbarer Handlungen, wie z. B. Handlungen aus Zorn (thymos), plötzliche Handlungen und unbeherrschte Handlungen, zeigen, dass eine zurechenbare Handlung für Aristoteles nicht in jedem Fall auf einem aktualen Entschluss beruht. Für die Behandlung der prohairesis wähle ich ein etwas anderes Vorgehen als bei der Untersuchung der Ausschlusskriterien für Willentlichkeit. Da Aristoteles’ Bestimmung der prohairesis die zentrale Textgrundlage für die Rekonstruktion seiner Theorie der Zurechenbarkeit ist, ist hier eine eingehende Textanalyse der relevanten Passagen erforderlich. Ich werde daher jeweils die gesamten Textstellen übersetzen und zunächst in Fussnoten philologische Fragen erörtern. Das ist insbesondere nötig für die Kapitel 10 und 11 aus der EE wegen des verderbten https://doi.org/10.1515/9783110517583-006
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4 Die Textgrundlage zur Behandlung der prohairesis
Zustands von Teilen dieser Schrift. Auf die Übersetzungen der Textpassagen folgt eine ausführliche Diskussion zur Übersetzung des zentralen Terminus „προαίρεσις“, die nicht zu trennen ist von wichtigen inhaltlichen Fragen. Die Kapitel 5 bis 9 beinhalten einen Abschnittskommentar der Textpassagen in den beiden Ethiken, wobei die Kapitel so aufgebaut sind, das in die eigentliche Textkommentierung an geeigneten Stellen weiterführende Diskussionen eingefügt sind, die wichtige Interpretationsfragen aufgreifen und vertiefen. Die Kapitel 5 und 6 behandeln EN III 4 und 5 und enthalten Diskussionen zum Verhältnis von poietischen und praktischen Tätigkeiten sowie zum sog. „Praktischen Syllogismus“. Kapitel 7 behandelt die parallele Untersuchung in EE 10 und beleuchtet insbesondere das Verhältnis von prohairesis und Strebung. Kapitel 8 setzt die Kommentierung der Betrachtung in der EN fort und behandelt die Diskussion des rationalen Wunsches in EN III 6. Am Ende des Hauptteils zur prohairesis steht die Kommentierung von EE II 11, die bereits eine wichtige Überleitung zum letzten Hauptteil zum Charakter darstellt, da hier das Verhältnis von prohairesis und Tugend thematisiert wird.
4.1 Aristoteles’ Bestimmung der prohairesis in der Nikomachischen Ethik (EN III 4 – 6) Ich beginne mit der Übersetzung der relevanten Textpassagen in der EN, in denen Aristoteles die prohairesis bestimmt: [EN III 4, 1111b4– 10]⁴⁷⁷ Nachdem nun das Willentliche und das Unwillentliche bestimmt wurden, schließt als nächstes die Erörterung des Entschlusses an. Denn er scheint am engsten mit der Tugend verbunden zu sein und die Charaktere besser zu unterscheiden, als dies die Handlungen tun. Der Entschluss scheint ja⁴⁷⁸ etwas Willentliches zu sein, aber nicht dasselbe, sondern das Willentliche umfasst mehr. Denn am Willentlichen haben auch Kinder und die anderen Lebewesen teil, aber nicht an dem Entschluss; und plötzliche Handlungen nennen wir zwar willentlich, aber nicht dem Entschluss gemäß.
EN III 4, 1111b4– 10: Διωρισμένων δὲ τοῦ τε ἑκουσίου καὶ τοῦ ἀκουσίου, περὶ προαιρέσεως ἕπεται διελθεῖν· οἰκειότατον γὰρ εἶναι δοκεῖ τῇ ἀρετῇ καὶ μᾶλλον τὰ ἤθη κρίνειν τῶν πράξεων. ἡ προαίρεσις δὲ ἑκούσιον μὲν φαίνεται, οὐ ταὐτὸν δέ, ἀλλ᾿ ἐπὶ πλέον τὸ ἑκούσιον· τοῦ μὲν γὰρ ἑκουσίου καὶ παῖδες καὶ τἆλλα ζῷα κοινωνεῖ, προαιρέσεως δ᾿ οὔ, καὶ τὰ ἐξαίφνης ἑκούσια μὲν λέγομεν, κατὰ προαίρεσιν δ᾿ οὔ. Ich lese in 1111b7 mit den MSS L, M und O „δὲ“ anstelle von „δὴ“, da an dieser Stelle noch keine eigentliche Folgerung vorliegt.
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[EN III 4, 1111b10 – 19]⁴⁷⁹ Diejenigen, die sagen, er [i. e. der Entschluss; BL] sei Begehren oder Zorn oder Wunsch oder eine Art von Meinung, scheinen nicht Recht zu haben. Denn der Entschluss ist nicht auch den vernunftlosen Lebewesen gemein, Begehren und Zorn dagegen schon. Auch handelt der Unbeherrschte aus Begierde, aber nicht aus einem Entschluss heraus; der Beherrschte aber wiederum [handelt] aus einem Entschluss heraus, aber nicht aus Begierde. Sodann ist Begehren dem Entschluss entgegengesetzt, Begehren dem Begehren aber nicht. Ferner bezieht sich das Begehren auf Lustvolles und Schmerzhaftes, der Entschluss dagegen weder auf Lustvolles noch auf Schmerzhaftes.⁴⁸⁰ Noch weniger ist er Zorn; denn Handlungen, die durch⁴⁸¹ Zorn geschehen, scheinen am wenigsten gemäß dem Entschluss zu sein.
EN III 4, 1111b10 – 19: οἱ δὲ λέγοντες αὐτὴν ἐπιθυμίαν ἢ θυμὸν ἢ βούλησιν ἤ τινα δόξαν οὐκ ἐοίκασιν ὀρθῶς λέγειν. οὐ γὰρ κοινὸν ἡ προαίρεσις καὶ τῶν ἀλόγων, ἐπιθυμία δὲ καὶ θυμός. καὶ ὁ ἀκρατὴς ἐπιθυμῶν μὲν πράττει, προαιρούμενος δ᾿ οὔ· ὁ ἐγκρατὴς δ᾿ ἀνάπαλιν προαιρούμενος μέν, ἐπιθυμῶν δ᾿ οὔ. καὶ προαιρέσει μὲν ἐπιθυμία ἐναντιοῦται, ἐπιθυμία δ᾿ ἐπιθυμίᾳ οὔ. καὶ ἡ μὲν ἐπιθυμία ἡδέος καὶ ἐπιλύπου, ἡ προαίρεσις δ᾿ οὔτε λυπηροῦ οὔθ᾿ ἡδέος. θυμὸς δ᾿ ἔτι ἧττον· ἥκιστα γὰρ τὰ διὰ θυμὸν κατὰ προαίρεσιν εἶναι δοκεῖ. Einzelne Quellen überliefern diesen Satz in den Zeilen 1111b16 – 18 in leicht abweichender Weise: καὶ ἡ μὲν ἐπιθυμία ἡδέος καὶ ἐπίλυπος, ἡ προαίρεσις δ᾿ οὔτε λυπηρὰ (Cod. Victor.) οὔθ᾿ ἡδέος (Nb); diese Quellen haben z. B. dem Paraphrast vorgelegen (Stewart 1892, 247– 248). Hierbei wird erstens der Genitiv Singular „ἐπιλύπου“ durch den Nominativ Singular „ἐπίλυπος“ und zweitens der Nominativ Singular „λυπηρὰ“ durch „λυπηροῦ“ ersetzt. Der Satz wäre demnach folgendermaßen zu übersetzen: „Ferner bezieht sich Begehren auf Lustvolles und ist schmerzhaft; der Entschluss dagegen ist weder schmerzhaft, noch bezieht er sich auf Lustvolles.“ Die erste Substitution ändert den Sinn des Satzes, ist aber sachlich unproblematisch, da Begehren manchmal Schmerzen bereitet und deshalb bedauerlich ist. Ich halte hier aber gleichwohl am besser überlieferten Genitiv fest. Die zweite Substitution ist dagegen auch inhaltlich fragwürdig, da es nach Aristoteles verfehlt wäre, auszuschließen, dass eine prohairesis schmerzvoll ist. Die prohairesis des Tapferen kann diesem Schmerzen bereiten, wenn z. B. die darauf beruhende Handlung eine Verwundung oder gar den Tod mit sich bringt. Auch gemischte Handlungen können auf prohaireseis beruhen und auch sie sind für die handelnde Person schmerzhaft. Es ist bei der zweiten Substitution also auch aus inhaltlichen Gründen angezeigt, der besseren Überlieferung zu folgen, da durch den Genitiv zum Ausdruck kommt, inwiefern die prohairesis sich laut Aristoteles tatsächlich nicht auf Lustvolles und Schmerzhaftes bezieht, nämlich insofern die prohairesis nicht das Lustvolle oder Schmerzhafte als solches zu ihrem Ziel hat. Der Parisiensis und der Marcianus (Mb) haben hier anstelle von „διὰ“ „κατὰ“ („Handlungen, die gemäß dem Zorn geschehen“), vermutlich um eine Parallele zu „κατὰ προαίρεσιν“ herzustellen. Es ist an dieser Stelle nicht eindeutig auszumachen, ob mit der Verwendung verschiedener Präpositionen ein inhaltlicher Unterschied ausgedrückt werden soll. Für die Wahl von „διὰ“ in Verbindung mit dem Zorn könnte sprechen, dass dadurch dessen Ursächlichkeit noch klarer wird. Aspasius dagegen paraphrasiert Aristoteles’ Aussage zum Zorn mit Hilfe der Lesart „κατὰ“ (Aspasius in Eth. Nic. CAG XIX/1 68.22).
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[EN III 4, 1111b19 – 30]⁴⁸² Aber er [i. e. der Entschluss; BL] ist auch nicht Wunsch, auch wenn er diesem verwandt erscheint. Entschluss bezieht sich nämlich nicht auf die unmöglichen Dinge, und falls jemand sagte, er entschließe sich dazu, so schiene er töricht zu sein. Wunsch aber bezieht sich 〈auch〉⁴⁸³ auf die unmöglichen Dinge, wie z. B. Unsterblichkeit. Und der Wunsch bezieht sich auch auf Dinge, die in keiner Weise durch das eigene Handeln zustande zu bringen sind, wie z. B., dass ein bestimmter Schauspieler oder Athlet den Sieg erringt. Niemand entschließt sich zu solchen Dingen, sondern nur zu solchen, von denen man glaubt, dass sie durch eigenes Handeln zustande kommen könnten. Ferner bezieht sich der Wunsch eher auf das Ziel, der Entschluss dagegen auf das, was zum Ziel führt; wir wünschen uns z. B. gesund zu sein, aber wir entschließen uns zu den Dingen, durch die wir gesund werden. Und wir wünschen uns, glücklich zu sein, und sagen es auch so, aber es ist unangemessen, zu sagen, dass wir uns dazu entschließen. Allgemein scheint sich nämlich der Entschluss auf das zu beziehen, was bei uns liegt. [EN III 4, 1111b30 – 1112a13]⁴⁸⁴ Daher kann er auch nicht Meinung sein, denn die Meinung bezieht sich auf alle Dinge, auf die ewigen und unmöglichen Dinge nicht weniger als auf die Dinge, die bei uns liegen. Und sie wird nach dem Falschen und Wahren unterschieden, nicht nach dem Schlechten und Guten, der Entschluss dagegen eher nach diesen. Daher sagt vermutlich auch niemand, dass er gänzlich dasselbe wie Meinung ist; aber auch nicht [sc. dass er dasselbe; BL] wie eine bestimmte Art von Meinung ist. Indem wir uns nämlich zu den guten oder den schlechten Dingen entschließen, und nicht indem wir darüber eine Meinung haben, sind wir in einer bestimmten Weise beschaffen [i. e. haben wir einen bestimmten Charakter; BL]. Und wir entschließen uns dazu, etwas von diesen Dingen zu erlangen oder zu meiden, während wir
EN III 4, 1111b19 – 30: ἀλλὰ μὴν οὐδὲ βούλησίς γε, καίπερ σύνεγγυς φαινόμενον· προαίρεσις μὲν γὰρ οὐκ ἔστι τῶν ἀδυνάτων, καὶ εἴ τις φαίη προαιρεῖσθαι, δοκοίη ἂν ἠλίθιος εἶναι· βούλησις δ᾿ ἐστὶ 〈καὶ〉 τῶν ἀδυνάτων, οἷον ἀθανασίας. καὶ ἡ μὲν βούλησίς ἐστι καὶ περὶ τὰ μηδαμῶς δι᾿ αὑτοῦ πραχθέντα ἄν, οἷον ὑποκριτήν τινα νικᾶν ἢ ἀθλητήν· προαιρεῖται δὲ τὰ τοιαῦτα οὐδείς, ἀλλ᾿ ὅσα οἴεται γενέσθαι ἂν δι᾿ αὑτοῦ. ἔτι δ᾿ ἡ μὲν βούλησις τοῦ τέλους ἐστὶ μᾶλλον, ἡ δὲ προαίρεσις τῶν πρὸς τὸ τέλος, οἷον ὑγιαίνειν βουλόμεθα, προαιρούμεθα δὲ δι᾿ ὧν ὑγιανοῦμεν, καὶ εὐδαιμονεῖν βουλόμεθα μὲν καὶ φαμέν, προαιρούμεθα δὲ λέγειν οὐχ ἁρμόζει· ὅλως γὰρ ἔοικεν ἡ προαίρεσις περὶ τὰ ἐφ᾿ ἡμῖν εἶναι. Aspasius hat in 1111b22 „καὶ“ gelesen, was sich mit Verweis auf die Parallelstelle in EE II 10, 1225b33 begründen lässt (vgl. Burnet 1900, 124). EN III 4, 1111b30 – 1112a13: οὐδὲ δὴ δόξα ἂν εἴη· ἡ μὲν γὰρ δόξα δοκεῖ περὶ πάντα εἶναι, καὶ οὐδὲν ἧττον περὶ τὰ ἀίδια καὶ τὰ ἀδύνατα ἢ τὰ ἐφ᾿ ἡμῖν· καὶ τῷ ψευδεῖ καὶ ἀληθεῖ διαιρεῖται, οὐ τῷ κακῷ καὶ ἀγαθῷ, ἡ προαίρεσις δὲ τούτοις μᾶλλον. ὅλως μὲν οὖν δόξῃ ταὐτὸν ἴσως οὐδὲ λέγει οὐδείς. ἀλλ᾿ οὐδὲ τινί· τῷ γὰρ προαιρεῖσθαι τἀγαθὰ ἢ τὰ κακὰ ποιοί τινές ἐσμεν, τῷ δὲ δοξάζειν οὔ. καὶ προαιρούμεθα μὲν λαβεῖν ἢ φυγεῖν [ἤ] τι τῶν τοιούτων, δοξάζομεν δὲ τί ἐστιν ἢ τίνι συμφέρει ἢ πῶς· λαβεῖν δ᾿ ἢ φυγεῖν οὐ πάνυ δοξάζομεν. καὶ ἡ μὲν προαίρεσις ἐπαινεῖται τῷ εἶναι οὗ δεῖ μᾶλλον ἢ τῷ ὀρθῶς, ἡ δὲ δόξα τῷ ὡς ἀληθῶς. καὶ προαιρούμεθα μὲν ἃ μάλιστα ἴσμεν ἀγαθὰ ὄντα, δοξάζομεν δὲ ἃ οὐ πάνυ ἴσμεν· δοκοῦσι δὲ οὐχ οἱ αὐτοὶ προαιρεῖσθαί τε ἄριστα καὶ δοξάζειν, ἀλλ᾿ ἔνιοι δοξάζειν μὲν ἄμεινον, διὰ κακίαν δ᾿ αἱρεῖσθαι οὐχ ἃ δεῖ. εἰ δὲ προγίνεται δόξα τῆς προαιρέρεως ἢ παρακολουθεῖ, οὐδὲν διαφέρει· οὐ τοῦτο γὰρ σκοποῦμεν, ἀλλ᾿ εἰ ταὐτόν ἐστι δόξῃ τινί.
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eine Meinung darüber haben, was etwas ist oder wem es nützt oder wie; und wir haben nicht wirklich eine Meinung darüber, was zu erlangen und was zu meiden ist. Und unser Entschluss wird mehr dafür gelobt, dass er zum Gegenstand hat, was sein soll, oder⁴⁸⁵ dafür, dass er richtig ist, die Meinung dagegen dafür, dass sie wahr ist. Zudem entschließen wir uns zu dem, wovon wir am meisten wissen, dass es gut ist, während wir Meinungen auch von dem haben, was wir nicht gänzlich wissen. Diejenigen, welche die besten Entschlüsse treffen, scheinen auch⁴⁸⁶ nicht dieselben zu sein wie die, welche die besten Meinungen haben, sondern manche meinen zwar, dass etwas besser ist, wählen aber aus Schlechtigkeit nicht das, was sie sollen. Ob Meinung dem Entschluss vorhergeht oder ihn begleitet, macht keinen Unterschied; nicht dies ist unsere Frage, sondern ob er dasselbe ist wie Meinung einer bestimmten Art. [EN III 4, 1112a13 – 17]⁴⁸⁷ Was aber ist er [i. e. der Entschluss; BL] dann oder wie beschaffen ist er, da er nichts der erwähnten Dinge ist? Er scheint nun etwas Willentliches zu sein, aber nicht alles Willentliche ist etwas, wozu man sich entschlossen hat. Ist er dann vielleicht das, was vorher überlegt worden ist? Denn der Entschluss ist verbunden mit Denken und Überlegung. Auch der Name scheint auf etwas hinzudeuten, das vor anderem gewählt wird. [EN III 5, 1112a18 – 30]⁴⁸⁸ Überlegt man alles und ist alles etwas, das man überlegt, oder gibt es bei einigen Dingen kein Mit-sich-zu-Rate-Gehen? Als Gegenstand von Überlegung sollte man vielleicht nicht das bezeichnen, worüber ein Dummkopf oder ein Wahnsinniger, sondern worüber jemand mit Vernunft Überlegungen anstellen könnte. Über die ewigen Dinge stellt nun niemand Überlegungen an, wie z. B. über den Kosmos oder darüber, dass die Diagonale und die Seite in-
In Zeile 1112a6 ist „ἢ“ als Disjunktion zu verstehen und darf nicht in Verbindung mit „μᾶλλον [ἢ]“ im Sinn von „x eher als y“ aufgefasst werden (vgl. Stewart 1892, 249; Grant 1866, 17). Denn gemeint ist sicher kein Gegensatz zwischen einer prohairesis, die das zum Gegenstand hat, was sein soll, und einer richtigen prohairesis. Diese Lesart kommt noch besser zum Ausdruck, wenn nach „μᾶλλον“ ein Komma gesetzt wird. Dass in 1112a6 nicht das zu „προαίρεσις“ passende „ὀρθή“ steht, erklärt Grant nachvollziehbar damit, dass das Verb „προαιρεῖσθαι“ viel üblicher war als das Substantiv und dass das Verb das Adverb „ὀρθῶς“ verlangt (Grant 1866, 17). Ich folge dem Laurentianus, der in 1112a9 „δὲ οὐχ“ anstelle von „τε οὐχ“ hat. EN III 4, 1112a13 – 17: τί οὖν ἢ ποῖόν τι ἐστίν, ἐπειδὴ τῶν εἰρημένων οὐθέν; ἑκούσιον μὲν δὴ φαίνεται, τὸ δ᾿ ἑκούσιον οὐ πᾶν προαιρετόν. ἀλλ᾿ ἆρά γε τὸ προβεβουλευμένον; ἡ γὰρ προαίρεσις μετὰ λόγου καὶ διανοίας. ὑποσημαίνειν δ᾿ ἔοικε καὶ τοὔνομα ὡς ὂν πρὸ ἑτέρων αἱρετόν. EN III 5, 1112a18 – 30: βουλεύονται δὲ πότερον περὶ πάντων, καὶ πᾶν βουλευτόν ἐστιν, ἢ περὶ ἐνίων οὐκ ἔστι βουλή; λεκτέον δ᾿ ἴσως βουλευτὸν οὐχ ὑπὲρ οὗ βουλεύσαιτ᾿ ἄν τις ἠλίθιος ἢ μαινόμενος, ἀλλ᾿ ὑπὲρ ὧν ὁ νοῦν ἔχων. περὶ δὲ τῶν ἀιδίων οὐδεὶς βουλεύεται, οἷον περὶ τοῦ κόσμου ἢ τῆς διαμέτρου καὶ τῆς πλευρᾶς, ὅτι ἀσύμμετροι. ἀλλ᾿ οὐδὲ περὶ τῶν ἐν κινήσει, ἀεὶ δὲ κατὰ ταὐτὰ γινομένων, εἴτ᾿ ἐξ ἀνάγκης εἴτε καὶ φύσει ἢ διά τινα αἰτίαν ἄλλην, οἷον τροπῶν καὶ ἀνατολῶν. οὐδὲ περὶ τῶν ἄλλοτε ἄλλως, οἷον αὐχμῶν καὶ ὄμβρων. οὐδὲ περὶ τῶν ἀπὸ τύχης, οἷον θησαυροῦ εὑρέσεως. ἀλλ᾿ οὐδὲ περὶ τῶν ἀνθρωπίνων ἁπάντων, οἷον πῶς ἂν Σκύθαι ἄριστα πολιτεύοιντο οὐδεὶς Λακεδαιμονίων βουλεύεται. οὐ γὰρ γένοιτ᾿ ἂν τούτων οὐθὲν δι᾿ ἡμῶν.
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kommensurabel⁴⁸⁹ sind. Aber [sc. wir stellen auch keine Überlegung; BL] über Dinge an, die [zwar] Bewegung beinhalten, die aber immer auf dieselbe Weise geschehen, entweder aus Notwendigkeit oder von Natur aus oder durch irgendeine andere Ursache, wie z. B. die Sonnenwenden oder das Aufgehen der Sterne; auch nicht über das, was einmal auf die eine, ein andermal auf eine andere Art geschieht, wie z. B. Dürre und Regen; und auch nicht über Dinge, die aus Zufall geschehen, wie z. B. das Finden eines Schatzes. Und wir stellen auch nicht über alle menschlichen⁴⁹⁰ Dinge Überlegungen an, wie z. B. kein Lakedämonier überlegt, welches die beste Staatsverfassung für die Skythen sein würde.⁴⁹¹ Denn nichts⁴⁹² davon dürfte durch uns zustande gebracht werden. [EN III 5, 1112a30-b11]⁴⁹³ Wir überlegen hingegen Dinge, die bei uns liegen und die durch Handeln zuwege gebracht werden; dies sind aber auch Dinge, die noch übrigbleiben. Denn die Ursachen der Dinge scheinen Natur und Notwendigkeit und Zufall zu sein, und dann noch die Vernunft und
In der ersten Handschrift des Laurentianus steht in 1112a23 „σύμμετροι“ anstelle von „ἀσύμμετροι“ (vgl. auch EE 1226a3 – 4, wo an paralleler Stelle als Beispiel die Kommensurabilät („σύμμετρος“) der Diagonale zitiert wird; Anm. 515, 46). Da es aber sowohl im Fall einer mathematischen Wahrheit (Inkommensurabilität) als auch im Fall einer mathematischen Falschheit absurd ist, praktische Überlegungen anzustellen, sind beide Lesarten gleichermaßen dazu geeignet, denselben inhaltlichen Punkt zu illustrieren. Die Lesart „ἀνθρωπίνων“ in 1112a28 ist durch den Laurentianus bezeugt und wird im OCT übernommen. Susemihl liest dagegen „ἀνθρωπίκων“, wodurch sich eine leicht negative Konnotation ergibt (vgl. Gauthier/Jolif 1970, 199). Rackham verändert die Stellung dieses Satzes, wie er in allen MSS in den Zeilen 1112a28 – 30 überliefert ist und so auch im OCT steht, und fügt ihn stattdessen vor dem Satz ein, der in 1112a33 beginnt. Die Umstellung übernehmen Gauthier/Jolif und Irwin (vgl. Gauthier/Jolif 1970, 199; Irwin 1999, 206). Da aber die Überlieferung in allen MSS der Umstellung entgegensteht und der Kontext sie nicht verlangt, ist der Eingriff in den Text unnötig und nicht plausibel. Der OCT hat in 1112a30 „οὐθὲν δι᾿ ἡμῶν“. Susemihl hingegen ersetzt in den Ausgaben von 1880 und 1887 „οὐθὲν“ durch „οὐδὲν“, führt aber an, dass die maßgeblichen MSS allesamt „οὐθὲν“ lesen. Apelt folgt Susemihl zwar in der Ausgabe von 1903 in der Substitution, verzichtet aber auf die Angabe der anderslautenden Überlieferung. Sachlich ist die Ersetzung unerheblich, da die Ausdrücke synonym sind, „οὐθὲν“ aber der ältere Ausdruck ist. „οὐδὲν“ kam ab 378 v.Chr. als Variante auf und wurde fortan immer üblicher als Synonym von „οὐθὲν“. EN III 5, 1112a30-b11: βουλευόμεθα δὲ περὶ τῶν ἐφ᾿ ἡμῖν καὶ πρακτῶν· ταῦτα δὲ καὶ ἔστι λοιπά. αἰτίαι γὰρ δοκοῦσιν εἶναι φύσις καὶ ἀνάγκη καὶ τύχη, ἔτι δὲ νοῦς καὶ πᾶν τὸ δι᾿ ἀνθρώπου. τῶν δ᾿ ἀνθρώπων ἕκαστοι βουλεύονται περὶ τῶν δι᾿ αὑτῶν πρακτῶν. καὶ περὶ μὲν τὰς ἀκριβεῖς καὶ αὐτάρκεις τῶν ἐπιστημῶν οὐκ ἔστι βουλή, οἷον περὶ γραμμάτων (οὐ γὰρ διστάζομεν πῶς γραπτέον)· ἀλλ᾿ ὅσα γίνεται δι᾿ ἡμῶν, μὴ ὡσαύτως δ᾿ ἀεί, περὶ τούτων βουλευόμεθα, οἷον περὶ τῶν κατ᾿ ἰατρικὴν καὶ χρηματιστικήν, καὶ περὶ κυβερνητικὴν μᾶλλον ἢ γυμναστικήν, ὅσῳ ἧττον διηκρίβωται, καὶ ἔτι περὶ τῶν λοιπῶν ὁμοίως, μᾶλλον δὲ καὶ περὶ τὰς τέχνας ἢ τὰς ἐπιστήμας· μᾶλλον γὰρ περὶ ταύτας διστάζομεν. τὸ βουλεύεσθαι δὲ ἐν τοῖς ὡς ἐπὶ τὸ πολύ, ἀδήλοις δὲ πῶς ἀποβήσεται, καὶ ἐν οἷς ἀδιόριστον. συμβούλους δὲ παραλαμβάνομεν εἰς τὰ μεγάλα, ἀπιστοῦντες ἡμῖν αὐτοῖς ὡς οὐχ ἱκανοῖς διαγνῶναι.
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alles, was durch den Menschen geschieht. Und unter den Menschen überlegt jede Gruppe diejenigen Dinge, die sie durch ihr Handeln zustande bringen kann. Über die exakten⁴⁹⁴ und in sich abgeschlossenen Wissenschaften gibt es kein Mit-sich-zu-Rate-Gehen, wie z. B. über die Buchstaben (da wir nicht darüber im Zweifel sind, wie sie geschrieben werden sollten). Vielmehr sind es die Dinge, die durch uns geschehen, aber nicht immer auf dieselbe Weise, über die wir Überlegungen anstellen, wie z. B. die Dinge der Medizin oder des Gelderwerbs, und über Dinge der Navigation mehr als über solche der Gymnastik, insofern jene weniger genau ausgearbeitet ist [als diese], und in gleicher Weise bei den übrigen Dingen, und eher [sc. überlegen wir; BL] Dinge der Kunstfertigkeiten⁴⁹⁵ als der Wissenschaften, da wir über erstere mehr im Zweifel sind. Überlegung bezieht sich somit auf die Dinge, die meistens geschehen, bei denen aber unklar ist, wie sie herauskommen werden und bei denen etwas unbestimmt ist. Bei wichtigen Fragen ziehen wir Berater hinzu, da wir uns nicht zutrauen, fähig zu sein, die Dinge durchzuführen. [EN III 5, 1112b11– 1113a2]⁴⁹⁶ Wir überlegen aber nicht die Ziele, sondern das, was zu den Zielen führt. Denn ein Arzt überlegt nicht, ob er heilen wird, oder ein Redner, ob er überzeugen wird, noch ein Politiker,
Das Kriterium der Exaktheit ist hier offenbar im Sinn eines Festgelegt-Seins durch bestimmte Regeln zu verstehen. Das Beispiel der Grammatik zeigt, dass es sich nicht um eine in einem anderen Sinn exakte Wissenschaft wie etwa die Mathematik handeln kann (vgl. Grant 1866, 19). Die allermeisten MSS lesen in 1112b7„τέχνας“, was auch der OCT übernimmt. Seit Aspasius’ Kommentar (Aspasius in Eth. Nic. CAG XIX/1 72.33) ist jedoch als Alternative zu „τέχνας“ „δόξας“ aufgekommen, was der Marcianus (Nb) und der Korrektor des Parisiensis (L) übernehmen. Susemihl liest in den Ausgaben von 1880 und 1887 „δόξας“, was Apelt in der überarbeiteten Teubneriana von 1903 zurückkorrigiert. Der Grund für die alternative Lesart mit „δόξας“ beruht auf folgender Beobachtung: Da es sich bei den unmittelbar nach „τέχνας“ in 1112b7 genannten ἐπιστήμαι nicht um Wissenschaften im engen Sinn handeln kann, weil in 1112b1– 2 über die „exakten und abgeschlossenen Wissenschaften“ (wie z. B. die Grammatik) gesagt wurde, dass es dort keine Überlegung gibt (vgl. auch Gauthier/Jolif 1970, 200), liegt es nahe, unter den ἐπιστήμαι in 1112b7 Kunstfertigkeiten im Sinn von τέχναι zu verstehen und „τέχνας“ durch „δόξας“ zu ersetzen, da andernfalls eine merkwürdige Doppelung vorläge (vgl. Grant 1866, 19). Das gleiche Textverständnis ist jedoch auch ohne die Substitution möglich, wenn man „περὶ τὰς τέχνας ἢ τὰς ἐπιστήμας“ auch so versteht, dass damit ungenauere (technai) und genauere Kunstfertigkeiten (epistêmai) unterschieden werden sollen. Da diese Formulierung besser überliefert ist, halte ich daran fest und übersetze mit „Kunstfertigkeiten und Wissenschaften“, womit ungenauere und genauere Kunstfertigkeiten gemeint sein sollen. EN III 5, 1112b11– 1113a2: βουλευόμεθα δ᾿ οὐ περὶ τῶν τελῶν ἀλλὰ περὶ τῶν πρὸς τὰ τέλη. οὔτε γὰρ ἰατρὸς βουλεύεται εἰ ὑγιάσει, οὔτε ῥήτωρ εἰ πείσει, οὔτε πολιτικὸς εἰ εὐνομίαν ποιήσει, οὐδὲ τῶν λοιπῶν οὐδεὶς περὶ τοῦ τέλους· ἀλλὰ θέμενοι τέλος τι, τὸ πῶς καὶ διὰ τίνων ἔσται σκοποῦσι· καὶ διὰ πλειόνων μὲν φαινομένου γίνεσθαι διὰ τίνος ῥᾷστα καὶ κάλλιστα ἐπισκοποῦσι, δι᾿ ἑνὸς δ᾿ ἐπιτελουμένου πῶς διὰ τούτου ἔσται κἀκεῖνο διὰ τίνος, ἕως ἂν ἔλθωσιν ἐπὶ τὸ πρῶτον αἴτιον, ὃ ἐν τῇ εὑρέσει ἔσχατόν ἐστιν. ὁ γὰρ βουλευόμενος ἔοικε ζητεῖν καὶ ἀναλύειν τὸν εἰρημένον τρόπον ὥσπερ διάγραμμα. (φαίνεται δ᾿ ἡ μὲν ζήτησις οὐ πᾶσα εἶναι βούλευσις, οἷον αἱ μαθηματικαί, ἡ δὲ βούλευσις πᾶσα ζήτησις), καὶ τὸ ἔσχατον ἐν τῇ ἀναλύσει πρῶτον εἶναι ἐν τῇ γενέσει. κἂν μὲν ἀδυνάτῳ ἐντύχωσιν, ἀφίστανται, οἷον εἰ χρημάτων δεῖ, ταῦτα δὲ μὴ οἷόν τε
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ob er eine gute Staatsordnung schaffen will, und auch niemand sonst stellt eine Überlegung über das Ziel an; sondern wenn sie irgendein Ziel⁴⁹⁷ festgelegt haben, untersuchen sie, wie und wodurch es sich erreichen lässt, und wenn es scheint, dass es sich durch mehreres herbeiführen lässt, so prüfen sie, wodurch am leichtesten und am besten, und wenn es sich dagegen nur durch eines erzielen lässt, untersuchen sie, wie es durch dieses erreicht wird und wodurch dieses wiederum entstehen wird, bis sie die erste Ursache gefunden haben, die im Prozess des Herausfindens das Letzte ist. Denn derjenige, der überlegt, scheint in der beschriebenen Weise zu untersuchen und zu analysieren, wie wenn er eine geometrische Figur untersuchte (nicht jede Untersuchung scheint eine Überlegung zu sein, wie z. B. die mathematische Untersuchung, aber jede Überlegung ist eine Untersuchung), und der letzte Schritt in der Analyse scheint der erste im Prozess des Hervorbringens zu sein. Und wenn sie auf etwas Unmögliches stoßen, geben sie auf, wie z. B. wenn Geld nötig ist, aber nicht beschafft werden kann; wenn es aber möglich erscheint, so versuchen sie zu handeln. Möglich sind die Dinge, die durch uns zustande kommen könnten; denn auch was durch unsere Freunde zustande kommt, geschieht auf eine Art durch uns; denn die Ursache liegt in uns. Manchmal wird nach den Werkzeugen gesucht, manchmal nach deren Anwendung; und ähnlich auch in den übrigen Fällen, manchmal wodurch etwas zustande gebracht wird, manchmal wie oder⁴⁹⁸ durch wen.⁴⁹⁹ Es scheint also, dass der Mensch, wie wir gesagt haben,
πορισθῆναι· ἐὰν δὲ δυνατὸν φαίνηται, ἐγχειροῦσι πράττειν. δυνατὰ δὲ ἃ δι᾿ ἡμῶν γένοιτ᾿ ἄν· τὰ γὰρ διὰ τῶν φίλων δι᾿ ἡμῶν πως ἐστίν· ἡ γὰρ ἀρχὴ ἐν ἡμῖν. ζητεῖται δ᾿ ὁτὲ μὲν τὰ ὄργανα ὁτὲ δ᾿ ἡ χρεία αὐτῶν· ὁμοίως δὲ καὶ ἐν τοῖς λοιποῖς ὁτὲ μὲν δι᾿ οὗ ὁτὲ δὲ πῶς ἢ διὰ τίνος. ἔοικε δή, καθάπερ εἴρηται, ἄνθρωπος εἶναι ἀρχὴ τῶν πράξεων· ἡ δὲ βουλὴ περὶ τῶν αὑτῷ πρακτῶν, αἱ δὲ πράξεις ἄλλων ἕνεκα. οὐ γὰρ ἂν εἴη βουλευτὸν τὸ τέλος ἀλλὰ τὰ πρὸς τὰ τέλη· οὐδὲ δὴ τὰ καθ᾿ ἕκαστα, οἷον εἰ ἄρτος τοῦτο ἢ πέπεπται ὡς δεῖ· αἰσθήσεως γὰρ ταῦτα. εἰ δὲ ἀεὶ βουλεύσεται, εἰς ἄπειρον ἥξει. Im Parisiensis (Lb), im Marcianus (Mb) und im Riccardianus (Ob) ist in 1112b15 die Lesart „τέλος τι“ überliefert, der ich folge. Der Laurentianus (Kb) liest dagegen „τὸ τέλος“, was der OCT und einige Übersetzer (z. B. Wolf, Irwin) übernehmen. Für das Indefinitpronomen spricht neben der besseren Überlieferung, dass dadurch dem Missverständnis vorgebeugt wird, dass womöglich ein einziges Ziel festgelegt wird, an dem sich alle Überlegungen orientieren. Dies wäre ein Missverständnis, da gemeint ist, dass in jedem Bereich ein Ziel festgelegt wird, nach dem sich Überlegungen ausrichten, wobei die einzelnen Ziele der jeweiligen Bereiche unterschiedlich sein können. Die MSS lesen in 1112b31 „ἢ“, was der OCT übernimmt; Susemihl hat dies in den Ausgaben von 1880 und 1887 zu „δὴ“ korrigiert. Die meisten Übersetzer fassen in der Wendung „δι᾿ οὗ ὁτὲ δὲ πῶς ἢ διὰ τίνος“ in 1112b31 das Fragepronomen in „ἢ διὰ τίνος“ als ein Neutrum auf und geben den Ausdruck etwa mit „by what means“ wieder (Rowe). Versteht man die Wendung derart, ist jedoch fraglich, worin sich „ἢ διὰ τίνος“ inhaltlich von der Wendung „δι᾿ οὗ“ in b30 unterscheiden soll, die sich gleichfalls mit „wodurch“ (resp. „by what means“) übersetzen lässt. Susemihl hat wohl aus diesem Grund in den Ausgaben von 1880 und 1887 „ἢ“ zu „δὴ“ korrigiert, so dass es sich nicht um einen dritten disjunktiv angefügten Aspekt handelt, sondern um eine Folgerung bzw. Zusammenfassung der zuvor genannten Kriterien. Manche Übersetzer, die am überlieferten „ἢ“ festhalten, verstehen die Formulierung derart, als beziehe sich das Relativpronomen „δι᾿ οὗ“ auf das Mittel der Handlung (das Wodurch), während sich die beiden Ausdrücke mit Interrogativpronomen auf die Anwendung der
4.1 Aristoteles’ Bestimmung der prohairesis in der Nikomachischen Ethik
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die Ursache der Handlungen ist; das Mit-sich-zu-Rate-Gehen bezieht sich auf die Dinge, die durch den Handelnden getan werden können, die Handlungen geschehen aber um anderer Dinge willen. Denn Gegenstand der Überlegung dürfte nicht das Ziel sein, sondern das, was zum Ziel führt. Auch sind die Einzeldinge nicht Gegenstand der Überlegung, wie z. B., ob dies Brot ist oder ob es so gebacken wurde, wie es sollte; denn dies sind Sachen der Wahrnehmung. Wenn man immer weiter überlegen wird, wird es unendlich weitergehen. [EN III 5, 1113a2– 14]⁵⁰⁰ Der Gegenstand der Überlegung und des Entschlusses ist derselbe, außer dass der Gegenstand des Entschlusses schon bestimmt ist; denn Gegenstand des Entschlusses ist das, was aus einem Mit-sich-zu-Rate-Gehen heraus geurteilt wurde.⁵⁰¹ Jeder hört nämlich auf zu suchen, wie er handeln soll, wenn er den Ausgangspunkt der Handlung auf sich selbst zurückgeführt hat, und zwar auf den leitenden Teil in sich⁵⁰², denn dieser ist es, der sich
Mittel sowie die Mittel zu deren Anwendung beziehen (vgl. z. B. Irwin, 1999: „[…] we sometimes look for the means to the end, sometimes for the proper use of the means, or for the means to that proper use.“ Ähnlich auch Crisp 2011). Da sich im Text jedoch keine weiteren Anhaltspunkte für eine derart subtile Unterscheidung finden, teile ich Taylors Skepsis und schließe mich seinem Vorschlag an, der sich auch bereits bei Grant findet (vgl. Grant 1866, 21), und zwar an der überlieferten Lesart festzuhalten, das Fragepronomen in „ἢ διὰ τίνος“ als Maskulinum aufzufassen und den Ausdruck mit „oder durch wen“ zu übersetzen (Taylor 2006, 157– 158; vgl. auch Wolf). EN III 5, 1113a2– 14: βουλευτὸν δὲ καὶ προαιρετὸν τὸ αὐτό, πλὴν ἀφωρισμένον ἤδη τὸ προαιρετόν· τὸ γὰρ ἐκ τῆς βουλῆς κριθὲν προαιρετόν ἐστιν. παύεται γὰρ ἕκαστος ζητῶν πῶς πράξει, ὅταν εἰς αὑτὸν ἀναγάγῃ τὴν ἀρχήν, καὶ αὑτοῦ εἰς τὸ ἡγούμενον· τοῦτο γὰρ τὸ προαιρούμενον. δῆλον δὲ τοῦτο καὶ ἐκ τῶν ἀρχαίων πολιτειῶν, ἃς Ὅμηρος ἐμιμεῖτο· οἱ γὰρ βασιλεῖς ἃ προείλοντο ἀνήγγελλον τῷ δήμῳ. ὄντος δὲ τοῦ προαιρετοῦ βουλευτοῦ ὀρεκτοῦ τῶν ἐφ᾿ ἡμῖν, καὶ ἡ προαίρεσις ἂν εἴη βουλευτικὴ ὄρεξις τῶν ἐφ᾿ ἡμῖν· ἐκ τοῦ βουλεύσασθαι γὰρ κρίναντες ὀρεγόμεθα κατὰ τὴν βούλευσιν. ἡ μὲν οὖν προαίρεσις τύπῳ εἰρήσθω, καὶ περὶ ποῖά ἐστι καὶ ὅτι τῶν πρὸς τὰ τέλη. In älteren MSS ist in 1113a4 „προκριθὲν“ anstelle von „κριθὲν“ überliefert: vgl. Grosseteste 1972, 186. Gauthier/Jolif nehmen die Bedeutung, die durch die Vorsilbe hinzukommt, ernst und übersetzen mit „car ce qu’on décide de faire, c’est ce que, à la suite de la délibération, on avait jugé devoir faire avant toute autre chose“ (Gauthier/Jolif 1970, 204). Da sich im Text kein anderer Hinweis auf diese Zuspitzung findet, folge ich jedoch der Überlieferung von „κριθὲν“, die durch den Laurentianus (Kb) bezeugt ist. In der Mehrzahl der MSS ist in 1113a6 „αὑτοῦ εἰς τὸ ἡγούμενον“ überliefert, allerdings ersetzt der Laurentianus (Kb) „αὑτοῦ“ durch „αὑτὸ“ („und zwar auf den leitenden Teil selbst“). Dies hatte in der mittelalterlichen Deutung der Passage erhebliche Folgen, weil es Ausgangspunkt dafür war, Aristoteles die Annahme eines eigenständigen psychischen Vermögens zuzuschreiben, das für den Entschluss zum Handeln verantwortlich ist (vgl. Abschnitt „1.2.2 Der Begriff des (freien) Willens und Aristoteles’ Begriff der prohairesis“). Grosseteste folgt dieser Lesart und übersetzt die Phrase mit „[…] et ipsius in antecedens. Hoc enim est quod eligitur“ (Grosseteste 1972, 186). Gauthier/Jolif warnen zu Recht davor, mit Hilfe einer Emendation eine derart weitreichende Annahme wie die eines eigenständigen Willensvermögens in den Text hineinzutragen, da sich kein weiterer Hinweis darauf findet, dass Aristoteles ein eigenes Vermögen angenommen hat, das für das Treffen von Entschlüssen zuständig ist (vgl. Gauthier/Jolif 1970, 205).
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4 Die Textgrundlage zur Behandlung der prohairesis
entschließt. Dies wird auch klar aus den alten Staatsverfassungen, von welchen Homer erzählt; denn die Könige verkünden dem Volk, wozu sie sich entschlossen haben. Da nun der Gegenstand des Entschlusses etwas unter den Dingen ist, die bei uns liegen, was Gegenstand der Überlegung und des Strebens ist, wird der Entschluss mit Überlegung verbundene Strebung nach den Dingen, die bei uns liegen, sein. Nachdem wir nämlich aus einem Überlegen heraus geurteilt haben, streben wir gemäß der Überlegung⁵⁰³. Damit soll der Entschluss also im Umriss beschrieben sein, sowohl welcher Art seine Gegenstände sind, als auch dass er sich auf das bezieht, was zum Ziel führt. [EN III 6, 1113a15 – 22]⁵⁰⁴ Dass der Wunsch sich auf das Ziel bezieht, wurde gesagt; manche meinen, er beziehe sich auf das Gute⁵⁰⁵, andere auf das, was gut zu sein scheint. Für diejenigen, die sagen, dass das Gewünschte⁵⁰⁶ das Gute sei, ergibt sich, dass nicht gewünscht sei, was einer wünscht, der nicht richtig wählt, (denn wenn es gewünscht würde, dann wäre es auch gut; aber es traf sich so, dass es schlecht war); und für diejenigen wiederum, die sagen, dass das, was gut zu sein scheint, das Gewünschte⁵⁰⁷ ist, [sc. ergibt sich; BL], dass es kein von Natur aus Gewünschtes gibt, sondern nur etwas, was jedem einzelnen gut erscheint; verschiedene Dinge erscheinen aber verschiedenen Leuten so, und wie es sich trifft, sogar entgegengesetzte Dinge.
Der Marcianus (Mb) hat im Unterschied zu allen anderen MSS und auch zum OCT in 1113a12 anstelle von „κατὰ τὴν βούλευσιν“ „κατὰ τὴν βούλησιν“, was mit „wir streben gemäß dem Wunsch“ zu übersetzen ist. Der Anonyme Kommentator hat die veränderte Lesart „κατὰ τὴν βούλησιν“, die sich auch im Marcianus (Mb) findet; Aspasius nennt beide Überlieferungen nebeneinander (75, 11). Unter den neueren Kommentatoren folgen Gauthier/Jolif (Gauthier/Jolif 1970, 206) sowie Irwin der Lesart von Mb. Dieses Verständnis ist nicht abwegig, da Aristoteles direkt im Anschluss auf den Wunsch eingehen wird. Allerdings ist die Lesart „κατὰ τὴν βούλευσιν“ ebenfalls im Kontext sinnvoll, wenn der Satz als Ergebnis des Zuvorgesagten verstanden wird. Zudem ist sie besser durch die MSS gestützt, so dass ich daran festhalte. EN III 6, 1113a15 – 22: ἡ δὲ βούλησις ὅτι μὲν τοῦ τέλους ἐστὶν εἴρηται, δοκεῖ δὲ τοῖς μὲν τἀγαθοῦ εἶναι, τοῖς δὲ τοῦ φαινομένου ἀγαθοῦ. συμβαίνει δὲ τοῖς μὲν τὸ βουλητὸν τἀγαθὸν λέγουσι μὴ εἶναι βουλητὸν ὃ βούλεται ὁ μὴ ὀρθῶς αἱρούμενος (εἰ γὰρ ἔσται βουλητόν, καὶ ἀγαθόν· ἦν δ᾿, εἰ οὕτως ἔτυχε, κακόν), τοῖς δ᾿ αὖ τὸ φαινόμενον ἀγαθὸν τὸ βουλητὸν λέγουσι μὴ εἶναι φύσει βουλητόν, ἀλλ᾿ ἑκάστῳ τὸ δοκοῦν· ἄλλο δ᾿ ἄλλῳ φαίνεται, καὶ εἰ οὕτως ἔτυχε, τἀναντία. Ich lese in 1113a16 „τἀγαθοῦ“, das bei Aspasius und Aldus Manutius überliefert ist; sowohl Bywater als auch Susemihl akzeptieren diese Version. Andere Handschriften haben hingegen „ἀγαθοῦ“. Aspasius streicht in 1113a17 den bestimmten Artikel vor dem ersten Vorkommnis von βουλητὸν. Ich lese dagegen den Artikel, der besser durch die Handschriften belegt ist und sachlich angemessen erscheint. Ich lese in 1113a20 den bestimmten Artikel vor „βουλητὸν“, der in Ha und Nb steht und von Aldus Manutius sowie vom Paraphrasten übernommen wird. Der OCT liest hingegen keinen Artikel, Susemihl aber übernimmt ihn.
4.2 Aristoteles Bestimmung der prohairesis in der Eudemischen Ethik
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[EN III 6, 1113a22-b2]⁵⁰⁸ Wenn diese Auffassungen somit unbefriedigend sind, sollen wir dann sagen, dass schlechthin und gemäß der Wahrheit das Gute das Gewünschte ist, für jeden einzelnen aber, was ihm gut erscheint? Für den guten Menschen wäre es dann folglich das, was gemäß der Wahrheit so ist, für den schlechten aber alles Beliebige, wie auch im Fall der Körper für Körper in guter Verfassung das gesund ist, was gemäß der Wahrheit so ist, für die kranken Körper aber andere Dinge [sc. gesund sind; BL], und gleichermaßen bitter und süß und heiß und schwer und so weiter. Der gute Mensch⁵⁰⁹ beurteilt jedes einzelne dieser Dinge richtig, und in jedem einzelnen Fall erscheint ihm das Wahre. Denn jede Disposition hat ihre eigene Auffassung des Schönen und Lustvollen, und vielleicht unterscheidet sich der gute Mensch am meisten dadurch, dass er in allen Einzelfällen das Wahre sieht, so dass er gewissermaßen Norm und Maßstab für sie ist. Im Fall vieler Leute jedoch scheint die Täuschung durch die Lust zustande zu kommen; denn sie erscheint als Gut, ist es aber nicht. Sie wählen somit das Lustvolle als ein Gut und meiden das Schmerzhafte als ein Übel.
4.2 Aristoteles Bestimmung der prohairesis in der Eudemischen Ethik (EE II 10 und 11) [EE II 10, 1225b17– 24]⁵¹⁰ Lasst dies also die Abgrenzung des Willentlichen und Unwillentlichen sein, und lasst uns danach etwas über den Entschluss sagen, indem wir zunächst einige Schwierigkeiten, die sich in seinem Fall für den Begriff ergeben, aufwerfen. Denn man mag unsicher sein, zu welcher Gattung er natürlicherweise gehört und in welche Art man ihn stecken sollte, und ob das Willentliche und das, wozu man sich entschlossen hat, nicht dasselbe sind oder (doch)
EN III 6, 1113a22-b2: εἰ δὲ δὴ ταῦτα μὴ ἀρέσκει, ἆρα φατέον ἁπλῶς μὲν καὶ κατ᾿ ἀλήθειαν βουλητὸν εἶναι τἀγαθόν, ἑκάστῳ δὲ τὸ φαινόμενον· τῷ μὲν οὖν σπουδαίῳ τὸ κατ᾿ ἀλήθειαν εἶναι, τῷ δὲ φαύλῳ τὸ τυχόν, ὥσπερ καὶ ἐπὶ τῶν σωμάτων τοῖς μὲν εὖ διακειμένοις ὑγιεινά ἐστι τὰ κατ᾿ ἀλήθειαν τοιαῦτα ὄντα, τοῖς δ᾿ ἐπινόσοις ἕτερα, ὁμοίως δὲ καὶ πικρὰ καὶ γλυκέα καὶ θερμὰ καὶ βαρέα καὶ τῶν ἄλλων ἕκαστα· ὁ σπουδαῖος γὰρ ἕκαστα κρίνει ὀρθῶς, καὶ ἐν ἑκάστοις τἀληθὲς αὐτῷ φαίνεται. καθ’ ἑκάστην γὰρ ἕξιν ἴδιά ἐστι καλὰ καὶ ἡδέα, καὶ διαφέρει πλεῖστον ἴσως ὁ σπουδαῖος τῷ τἀληθὲς ἐν ἑκάστοις ὁρᾶν, ὥσπερ κανὼν καὶ μέτρον αὐτῶν ὤν. [ἐν] τοῖς πολλοῖς δὲ ἡ ἀπάτη διὰ τὴν ἡδονὴν ἔοικε γίνεσθαι· οὐ γὰρ οὖσα ἀγαθὸν φαίνεται. αἱροῦνται οὖν τὸ ἡδὺ ὡς ἀγαθόν, τὴν δὲ λύπην ὡς κακὸν φεύγουσιν. Der Laurentianus (Kb) liest in 1113a29 und 1113a32 „τὸ σπουδαῖον“ anstelle von „ὁ σπουδαῖος“. Weder der OCT noch Susemihl übernehmen das Neutrum, Burnet übernimmt es in a29, allerdings nicht in a32. Ich halte an beiden Stellen am Maskulinum fest, das sachlich sinnvoll erscheint und zudem am besten zu „τῷ σπουδαίῳ“ in 1113a25 passt, womit auf den guten Menschen Bezug genommen wird. EE II 10, 1225b17– 24: περὶ μὲν οὖν τοῦ ἑκουσίου καὶ ἀκουσίου διωρίσθω τοῦτον τὸν τρόπον· περὶ δὲ προαιρέσεως μετὰ τοῦτο λέγωμεν, διαπορήσαντες πρῶτον τῷ λόγῳ περὶ αὐτῇς. διστάσειε γὰρ ἄν τις ἐν τῷ γένει πέφυκε καὶ ἐν ποίῳ θεῖναι αὐτὴν χρή, καὶ πότερον οὐ ταὐτὸν τὸ ἑκούσιον καὶ τὸ προαιρετὸν ἢ ταὐτὸν ἐστίν. μάλιστα δὲ λέγεται παρά τινων, καὶ ζητοῦντι δόξειε δ᾿ ἂν δυοῖν εἶναι θάτερον ἡ προαίρεσις, ἤτοι δόξα ἢ ὄρεξις· ἀμφότερα γὰρ φαίνεται παρακολουθοῦντα.
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4 Die Textgrundlage zur Behandlung der prohairesis
dasselbe sind. Vor allem aber wird von manchen gesagt, und beim Untersuchen erscheint es auch so, dass der Entschluss das eine oder andere von zwei Dingen ist, entweder Meinung oder Streben; denn offenbar begleiten ihn beide. [EE II 10, 1225b24– 37]⁵¹¹ Dass er nun nicht Strebung ist, ist klar, denn er dürfte dann entweder Wunsch oder Begehren oder Zorn sein, da niemand strebt, ohne eines davon zu verspüren. Zorn und Begehren kommen nun aber auch bei den Tieren vor, Entschluss jedoch nicht. Außerdem erzielen diejenigen, die über beides verfügen, viele Entschlüsse auch ohne Zorn oder Begehren; und wenn sie Emotionen empfinden, dann entschließen sie sich nicht [dazu], sondern halten (diese) aus. Ferner gehen Begehren und Zorn immer mit Schmerzen einher, wir entschließen uns aber zu vielem auch ohne Schmerz. Indes sind auch Wunsch und Entschluss nicht dasselbe. Denn Menschen wünschen wissentlich manches auch von den unmöglichen Dingen⁵¹², wie z. B. als König über alle Menschen zu herrschen und unsterblich zu sein, während niemand sich dazu entschließt, außer er ist unwissend, dass es unmöglich ist; auch entschließt sich allgemein niemand zu dem, was zwar möglich ist, wenn er nicht glaubt, dass es bei ihm liegt, zu handeln oder nicht zu handeln. Daher ist dies also klar: dass das, wozu man sich entschließt, etwas sein muss, das bei einem liegt. [EE II 10, 1226a1– 17]⁵¹³ Gleichermaßen ist klar, dass er auch nicht Meinung ist; und auch nicht schlechthin vorliegt, wenn jemand etwas meint. Denn das, wozu man sich entschlossen hat, ist⁵¹⁴ etwas, das bei
EE II 10, 1225b24– 37: ὅτι μὲν οὖν οὐκ ἔστιν ὄρεξις φανερόν· ἢ γὰρ βούλησις ἂν εἴη ἢ ἐπιθυμία ἢ θυμός, οὐθεὶς γὰρ ὀρέγεται μηθὲν πεπονθὼς τούτων. θυμὸς μὲν οὖν καὶ ἐπιθυμία καὶ τοῖς θηρίοις ὑπάρχει, προαίρεσις δ᾿ οὔ. ἔτι δὲ καὶ οἷς ὑπάρχει ἄμφω ταῦτα, πολλὰ καὶ ἄνευ θυμοῦ καὶ ἐπιθυμίας προαιροῦνται· καὶ ἐν τοῖς πάθεσιν ὄντες οὐ προαιροῦνται, ἀλλὰ καρτεροῦσιν. ἔτι ἐπιθυμία μὲν καὶ θυμὸς ἀεὶ μετὰ λύπης, προαιρούμεθα δὲ πολλὰ καὶ ἄνευ λύπης. ἀλλὰ μὴν οὐδὲ βούλησις καὶ προαίρεσις ταὐτόν. βούλονται μὲν γὰρ ἔνια καὶ τῶν ἀδυνάτων εἰδότες, οἷον βασιλεύειν τε πάντων ἀνθρώπων καὶ ἀθάνατοι εἶναι, προαιρεῖται δ᾿ οὐθεὶς μὴ ἀγνοῶν ὅτι ἀδύνατον, οὐδ᾿ ὅλως ἃ δυνατὸν μέν, μὴ ἐφ᾿ αὑτῷ δ᾿ οἴεται πρᾶξαι ἢ μὴ πρᾶξαι. ὥστε τοῦτο μὲν φανερόν, ὅτι ἀνάγκη τὸ προαιρετὸν τῶν ἐφ᾿ αὑτῷ τι εἶναι. Ich lese in 1225b33 nicht „ταὐτὸν“, das in den MSS (PCL) in der Wendung „ἐνια ταὐτὸν καὶ τῶν ἀδυνάτων εἰδότες“ überliefert ist, da es kein einleuchtendes Verständnis zulässt. EE II 10, 1226a1– 17: ὁμοίως δὲ δῆλον ὅτι οὐδὲ δόξα, οὐδ᾿ ἁπλῶς εἴ τις οἴεταί τι. τῶν γὰρ ἐφ᾿ αὑτῷ τι [εἶναι] τὸ προαιρετόν, δοξάζομεν δὲ πολλὰ καὶ τῶν οὐκ ὄντων ἐφ᾿ ἡμῖν, οἷον τὴν διάμετρον σύμμετρον. ἔτι οὐκ ἔστι προαίρεσις ἀληθὴς ἢ ψευδής. οὐδὲ δὴ ἡ τῶν ἐφ᾿ αὑτῷ ὄντων πρακτῶν δόξα, ᾗ τυγχάνομεν οἰόμενοι δεῖν τι πράττειν ἢ ἀπρακτεῖν. κοινὸν δὲ περὶ δόξης τοῦτο καὶ βουλήσεως· οὐθεὶς γὰρ τέλος οὐδὲν προαιρεῖται, ἀλλὰ τὰ πρὸς τὸ τέλος· λέγω δ᾿ οἷον οὐθεὶς ὑγιαίνειν προαιρεῖται, ἀλλὰ περιπατεῖν ἢ καθῆσθαι τοῦ ὑγιαίνειν ἕνεκεν, οὐδ᾿ εὐδαιμονεῖν, ἀλλὰ χρηματίζεσθαι ἢ κινδυνεύειν τοῦ εὐδαιμονεῖν ἕνεκα· καὶ ὅλως δηλοῖ ἀεὶ προαιρούμενός τί τε καὶ τίνος ἕνεκα προαιρεῖται, ἔστι δὲ τὸ μὲν τίνος, οὗ ἕνεκα προαιεῖται ἄλλο, τὸ δὲ τί, ὃ προαιρεῖται ἕνεκα ἄλλου. βούλεται δέ γε μάλιστα τὸ τέλος, καὶ δοξάζει δεῖν καὶ ὑγιαίνειν καὶ εὖ πράττειν. ὥστε φανερὸν διὰ τούτων ὅτι ἄλλο καὶ δόξης καὶ βουλήσεως. βούλεσθαι μὲν καὶ δόξα μάλιστα τοῦ τέλους, προαίρεσις δ᾿ οὐκ ἔστιν. In den MSS ist in 1226a2 „εἶναι“ anstelle von „ἦν“ überliefert. Der Infinitiv ist nicht verständlich, weshalb Bonitz als Korrektur das Imperfekt vorgeschlagen hat. Dies ist jedoch ebenfalls
4.2 Aristoteles Bestimmung der prohairesis in der Eudemischen Ethik
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einem liegt, Meinungen haben wir aber auch über viele Dinge, die nicht bei uns liegen, wie z. B. darüber, dass die Diagonale kommensurabel⁵¹⁵ ist. Außerdem ist der Entschluss weder wahr noch falsch; und er ist auch nicht eine Meinung über Dinge, in deren Fall wir gerade meinen, dass wir etwas tun oder unterlassen⁵¹⁶ sollen. Dies ist Meinung und Wunsch gemeinsam: Niemand entschließt sich zu einem Ziel, sondern zu den Dingen, die zum Ziel führen. Ich meine z. B., dass sich niemand dazu entschließt, gesund zu sein, sondern [sc. man entschließt sich dazu; BL] spazieren zu gehen oder sich hinzusetzen um des GesundSeins willen, und niemand entschließt sich dazu, glücklich zu sein, sondern [sc. man entschließt sich dazu; BL) Geschäfte zu machen oder etwas zu riskieren um des Glücklich-Seins willen; und allgemein macht einer, der sich entschließt, immer deutlich, wozu er sich entschließt und worumwillen, und dieses ist das, um dessentwillen er sich zu jenem entschließt, und jenes ist, wozu er sich um dieses willen entschließt. Man wünscht aber am meisten das Ziel, und man meint, dass man gesund sein und es einem gut gehen müsse. Aus diesen Gründen ist es klar, dass er [i. e. der Entschluss; BL] etwas anderes ist als Meinung und Wunsch. Wünschen und Meinung beziehen sich vor allem auf das Ziel, der Entschluss hingegen nicht. [EE II 10, 1226a17-b2]⁵¹⁷ Es ist also klar, dass der Entschluss weder Wunsch noch Meinung noch einfach eine Annahme ist; was aber unterscheidet ihn von diesen und wie verhält er sich zum Willentlichen?
fragwürdig, da mit der Aussage dann offenbar auf die Schlussfolgerung zurückverwiesen wird, die nur zwei Zeilen zuvor vorgekommen ist („das, wozu man sich entschließt, [muss] etwas sein, das bei einem liegt“ (vgl. Dirlmeier 1962, 288). Deswegen erscheint es mir am sinnvollsten, wie Dirlmeier „εἶναι“ einzuklammern und stattdessen ein implizites „ἐστίν“ zu lesen. In den MSS ist in 1226a3 – 4 „σύμμετρον“ überliefert, was auch Susemihl übernimmt. Der OCT hat dagegen den Nominativ „σύμμετρος“, was aber nicht zum Akkusativ „διάμετρον“ passt. Russell ergänzt zudem vor „σύμμετρος“ eine Negation („ὅτι ἀ“). Mit der Substitution einer notwendigen Falschheit durch eine notwendige Wahrheit erreicht Russell zwar, dass das Beispiel mit demjenigen in EN III 4, 1112a22 übereinstimmt. Da dem Vorschlag aber alle MSS entgegenstehen, halte ich am überlieferten „σύμμετρον“ fest. Für den inhaltlichen Punkt, um den es geht, ist die Wahl zwischen beiden Lesarten hingegen unerheblich, da sich eine mathematische Falschheit ebenso gut wie eine mathematische Wahrheit als Beispiel zitieren lässt (vgl. Anm. 489, S. 184). Der Laurentianus (L) hat in 1226a6 „ἢ ἀπρακτεῖν“, was der OCT übernimmt. Der Marcianus hingegen hat „ἢ οὐ πραττεῖν“, was Susemihl zwar im Text übernimmt, im Apparat aber auch der Version mit Alpha Privativum den Vorzug gibt. Der Vaticanus (P) und der Cantabrigensis (C) streichen das zweite Disjunkt. Ich folge der Lesart von L, obwohl sie nicht besser belegt ist als die Version von PC; dafür spricht aber, dass die Formulierung mit Alpha Privativum im Weiteren noch mehrfach vorkommt. EE II 10, 1226a17-b2: ὅτι μὲν οὖν οὐκ ἔστιν οὔτε βούλησις οὔτε δόξα οὔθ᾿ ὑπόληψις ἁπλῶς ἡ προαίρεσις, δῆλον· τί δὲ διαφέρει τούτων, καὶ πῶς ἔχει πρὸς τὸ ἑκούσιον; ἅμα δὲ δῆλον ἔσται, καὶ τί ἐστι προαίρεσις. ἔστι δὴ τῶν δυνατῶν καὶ εἶναι καὶ μὴ τὰ μὲν τοιαῦτα ὥστε ἐνδέχεσθαι βουλεύσασθαι περὶ αὐτῶν· περὶ ἐνίων δ᾿ οὐκ ἐνδέχεται. τὰ μὲν γὰρ δυνατὰ μέν ἐστι καὶ εἶναι καὶ μὴ εἶναι, ἀλλ᾿ οὐκ ἐφ᾿ ἡμῖν αὐτῶν ἡ γένεσίς ἐστιν, ἀλλὰ τὰ μὲν διὰ φύσιν τὰ δὲ δι᾿ ἄλλας αἰτίας γίνεται, περὶ ὧν οὐδεὶς ἂν ἐγχειρήσειε βουλεύεσθαι μὴ ἀγνοῶν· περὶ ὧν δ᾿ ἐνδέχεται μὴ μόνον τὸ εἶναι καὶ μή, ἀλλὰ καὶ τὸ βουλεύσασθαι τοῖς ἀνθρώποις, ταῦτα δ᾿ ἐστὶν ὅσα ἐφ᾿ ἡμῖν ἐστι πρᾶξαι ἢ μὴ πρᾶξαι.
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Dies wird zugleich auch deutlich machen, was der Entschluss ist. Unter den Dingen, die entweder sein oder nicht sein können, sind manche so beschaffen, dass es möglich ist, darüber Überlegungen anzustellen, bei manchen ist es dagegen nicht möglich. Denn manche Dinge können zwar sein und nicht sein, aber ihr Zustandekommen liegt nicht bei uns, sondern einige geschehen aufgrund der Natur, andere durch andere Ursachen; darüber würde niemand versuchen Überlegungen anzustellen, es sei denn in Unwissenheit. Diejenigen Dinge aber, die nicht nur sein und nicht sein können, sondern über welche die Menschen auch Überlegungen anstellen können, sind die Dinge, bei denen es bei uns liegt, sie zu tun oder nicht zu tun. Deswegen stellen wir keine Überlegungen über die Dinge in Indien an, und auch nicht, wie der Kreis quadriert wird⁵¹⁸, denn jene Dinge liegen nicht bei uns und dieses ist überhaupt nicht durch Handeln zu erreichen, allerdings [stellen wir] auch nicht über alle Dinge, die zu tun bei uns liegt, [Überlegungen an], (wodurch auch deutlich wird, dass der Entschluss auch nicht einfach Meinung ist), [wir stellen Überlegungen an] über die Dinge, zu denen man sich entschließt und die man tun kann, die bei uns liegen.⁵¹⁹ Deshalb könnte auch jemand die Schwierigkeit aufwerfen, wie es dazu kommt, dass Ärzte über das, wovon sie Wissen haben, Überlegungen anstellen, die Grammatiker hingegen nicht. Grund ist, dass Fehler auf zwei Arten entstehen können (Fehler passieren nämlich entweder, wenn wir berechnen, oder in der Wahrnehmung, wenn wir dies tun), beide Arten
διὸ οὐ βουλευόμεθα περὶ τῶν ἐν Ἰνδοῖς, οὐδὲ πῶς ἂν ὁ κύκλος τετραγωνισθείη· (τὰ μὲν γὰρ οὐκ ἐφ᾿ ἡμῖν· τὸ δ᾿ ὅλως οὐ πρακτόν). ἀλλ᾿ οὐδὲ περὶ τῶν ἐφ᾿ ἡμῖν πρακτῶν περὶ ἁπάντων. (ᾗ καὶ δῆλον ὅτι οὐδὲ δόξα ἁπλῶς ἡ προαίρεσις ἐστίν), τὰ δὲ προαιρετὰ καὶ πρακτὰ τῶν ἐφ᾿ ἡμῖν ὄντων ἐστίν. διὸ καὶ ἀπορήσειεν ἄν τις, τί δή ποθ᾿ οἱ μὲν ἰατροὶ βουλεύονται περὶ ὧν ἔχουσι τὴν ἐπιστήμην, οἱ δὲ γραμματικοὶ οὔ; αἴτιον δ᾿ ὅτι διχῇ γινομένης τῆς ἁμαρτίας (ἢ γὰρ λογιζόμενοι ἁμαρτάνομεν ἢ κατὰ τὴν αἴσθησιν αὐτὸ δρῶντες) ἐν μὲν τῇ ἰατρικῇ ἀμφοτέρως ἐνδέχεται ἁμαρτεῖν, ἐν δὲ τῇ γραμματικῇ κατὰ τὴν αἴσθησιν καὶ πρᾶξιν, περὶ ἧς ἂν σκοπῶσιν, εἰς ἄπειρον ἥξουσιν. Das Verb „τετραγωνίζω“ bzw. das Substantiv „τετραγωνισμός“ verwendet Aristoteles wiederholt als Bezeichnung für die Quadrierung, so z. B. in De An. II 2, 413a17– 19, vgl. dazu auch die Erläuterung und den Verweis auf Euklid bei Hicks: Hicks 1990, 322– 323. Das Beispiel der Quadrierung eines Kreises kommt auch in der Metaphysik vor: Met. III 2, 996b20 – 21. In den Zeilen 1226a30 – 33 ist die Reihenfolge der Sätze umstritten. An der Lesart des OCT, die ich meiner Übersetzung zugrunde lege, irritiert, dass zunächst gesagt wird, dass wir nicht über alle Dinge, die bei uns liegen, Überlegungen anstellen, und unmittelbar darauf, dass es die Dinge sind, die bei uns liegen, über die wir Überlegungen anstellen. Man könnte daher versucht sein, den Satz „τὰ δὲ προαιρετὰ καὶ πρακτὰ τῶν ἐφ᾿ ἡμῖν ὄντων ἐστίν.“ der Zeilen 1226a32– 33 vorzuziehen, so dass zunächst gesagt wird, dass es die Dinge sind, die bei uns liegen, über die wir Überlegungen anstellen, und dies anschließend eingeschränkt wird, da dies nicht für alle Dinge gilt, die bei uns liegen (vgl. Woods 2005, 194; vgl.: [30] τὰ μὲν γὰρ οὐκ ἐφ᾿ ἡμῖν· τὸ δ᾿ ὅλως οὐ πρακτόν. [32– 33] τὰ δὲ προαιρετὰ καὶ πρακτὰ τῶν ἐφ᾿ ἡμῖν ὄντων ἐστίν. [31] ἀλλ᾿ οὐδὲ περὶ τῶν ἐφ᾿ ἡμῖν πρακτῶν περὶ ἁπάντων. [31– 32] (ᾗ καὶ δῆλον ὅτι οὐδὲ δόξα ἁπλῶς ἡ προαίρεσις ἐστίν).) Allerdings lässt der Text auch in der durch die MSS überlieferten Version ein sinnvolles Verständnis zu (vgl. auch Dirlmeier 1962, 291– 292): Demzufolge wird zwar zunächst festgehalten, dass nicht alle Dinge, die bei uns liegen, Gegenstand von Überlegung sind (wodurch sich die Überlegung im Übrigen auch von der Meinung unterscheidet); daraufhin wird aber für das Weitere nochmals explizit formuliert, dass Gegenstand von Überlegung immer nur etwas sein kann, was bei uns liegt und wozu man sich entschließen kann.
4.2 Aristoteles Bestimmung der prohairesis in der Eudemischen Ethik
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Fehler zu begehen sind in der Medizin möglich, in der Grammatik aber nur in der Wahrnehmung und Handlung, und wenn sie darüber nachdenken, würden sie ins Unendliche weitergehen. [EE II 10, 1226b2– 9]⁵²⁰ Da Entschluss also weder Meinung noch Wunsch ist⁵²¹, weder jedes von beiden für sich genommen noch beides zusammen (denn niemand entschließt sich plötzlich, man scheint⁵²² aber plötzlich zu handeln und man wünscht plötzlich); daher also [beruht der Entschluss] auf beidem. Denn diese beide treten bei jemandem auf, der sich entschließt. Aber es muss untersucht werden, wie er daraus entsteht. Auf eine Art macht es der Name selbst deutlich. Denn Entschluss ist Wahl, aber nicht ohne Qualifikation, sondern eines vor⁵²³ einem anderen. Und dies ist nicht möglich ohne Untersuchung und Mit-sich-zuRate-Gehen. Deshalb beruht der Entschluss auf mit Überlegung verbundener Meinung.
EE II 10, 1226b2– 9: ἐπειδὴ οὖν οὔτε δόξα οὔτε βούλησις ἐστιν προαίρεσίς {ἐστιν} ὡς ἑκάτερον, οὐδ᾿ ἄμφω (ἐξαίφνης γὰρ προαιρεῖται μὲν οὐθείς, δοκεῖ δὲ πράττειν καὶ βούλονται), ὡς ἐξ ἀμφοῖν ἄρα· ἄμφω γὰρ ὑπάρχει τῷ προαιρουμένῳ ταῦτα. ἀλλὰ πῶς ἐκ τούτων, σκεπτέον· δηλοῖ δέ πως καὶ τὸ ὄνομα αὐτό. ἡ γὰρ προαίρεσις αἵρεσις μὲν ἐστίν, οὐχ ἁπλῶς δέ, ἀλλ᾿ ἑτέρου πρὸ ἑτέρου· τοῦτο δὲ οὐχ οἷόν τε ἄνευ σκέψεως καὶ βουλῆς· διὸ ἐκ δόξης βουλευτικῆς ἐστιν ἡ προαίρεσις. Der Laurentianus überliefert „ἐστι“ in 1226b2, während PC „ἐστι προαίρεσίς“ auslassen. Bonitz behält dagegen „ἐστι“ in 1226b2, athetiert aber „ἐστιν“ in 1226b3. In meiner Übersetzung folge ich Bonitz’ Vorschlag, da ein zweites Verb nicht nötig erscheint. Es ist schwierig, den kurzen δοκεῖ-Satz in 1226b4 exakt zu verstehen. Unklar ist erstens, wie „δοκεῖ“ zu verstehen ist – im Sinn von „es scheint“ oder im Sinn von „man meint“. Zum anderen irritiert, dass in den MSS nach „δοκεῖ“ ein Plural, „βούλονται“, folgt, während man entweder einen zweiten Infinitiv zu „πράττειν“ oder einen Singular zu „δοκεῖ“ erwartete. Die zweite Schwierigkeit wird durch eine Korrektur von Aldus Manutius vermieden, indem „καὶ βούλονται“ in b4 durch den Singular „καὶ βούλεται“ ersetzt wird. Fritzsche und Susemihl befürworten diese Korrektur und ich lege sie meiner Übersetzung zugrunde, weil sie die sinnvollste Lesart des Satzes ermöglicht. Im Kontext des Satzes grenzt Aristoteles den Entschluss von Meinung und Wunsch ab, und ein Unterscheidungskriterium soll sein, dass Meinung und Wunsch plötzlich auftreten können, der Entschluss hingegen nicht. Das spricht dafür, „δοκεῖ“ mit dem Infinitiv zu verbinden und „καὶ βούλονται“ im Sinn von „καὶ βούλεται“ zu verstehen (vgl. Woods 2005; Woods fasst „δοκεῖ“ im Sinn von „es scheint“ auf und übersetzt: „no one chooses in a flash, but it seems that men act – and wish – in a flash.“). Susemihl ergänzt darüber hinaus in b4 noch „δεῖν“ nach „δὲ“. Diesem Vorschlag folgen Inwood und Woolf in ihrer Übersetzung (2013): „[…] given that no one instantaneously decides to act, but people do instantaneously form a belief that they should act or wish to act“. Diese Ergänzung halte ich für zweifelhaft, da sie grammatikalisch nicht nötig ist und sich auch an den Parallelstellen in EE 1224a3 und EN 1111b9 – 10 keine solche Ergänzung findet. Die Codices und Aldus Manutius lesen in 1226b8 „πρός“ anstelle von „πρό“, im Laurentianus (L) steht die Präposition außerdem nicht mit „ἑτέρου“, sondern mit dem Akkusativ „ἑτέρον“, was sachlich einleuchtet, da die Bedeutungen von „πρός“ mit Genitiv („von etwas her“, „angesichts von“) an dieser Stelle unpassend erscheinen. Allerdings ergibt die etymologische Erklärung des Ausdrucks „προαίρεσις“ mittels der Präposition „πρό“, die zeitliche, räumliche und bevorzu-
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[EE II 10, 1226b9 – 20]⁵²⁴ Nun stellt niemand Überlegungen über das Ziel an, denn dies steht für jeden fest, sondern über die Dinge, die zum Ziel führen, ob dies oder jenes auf das Ziel bezogen ist, oder, wenn man sich zu diesem entschlossen hat, wie es zustande kommen wird. Wir überlegen dies (so lange) auf alle Weise⁵²⁵, bis wir den Anfang des Entstehens auf uns zurückgeführt haben. Wenn also niemand sich entschließt, ohne zuvor (die Sache) vorbereitet und Überlegungen angestellt zu haben, entweder⁵²⁶ auf schlechtere oder bessere Weise, und wenn man darüber Überlegungen⁵²⁷ anstellt, welche von den Dingen, die zum Ziel führen und die entweder sein oder nicht sein können, bei uns liegen, dann ist klar, dass der Entschluss eine mit Überlegung verbundene Strebung nach den Dingen ist, die bei einem selbst liegen. Denn wir alle stellen Überlegungen⁵²⁸ über die Dinge an, zu denen wir uns auch entschließen, wohingegen
gende Vorrangigkeit bedeuten kann, mehr Sinn. Überdies spricht die Parallelstelle in EN 1112a16 – 17 für die Lesart mit „πρό“, die Sylburg vorgeschlagen hat. EE II 10, 1226b9 – 20: περὶ μὲν δὴ τοῦ τέλους οὐδεὶς βουλεύεται, ἀλλὰ τοῦτο κεῖται πᾶσι, περὶ δὲ τῶν εἰς τοῦτο τεινόντων, πότερον τόδε ἢ τόδε συντείνει, ἢ δεδογμένου τοῦτο πῶς ἔσται. βουλευόμεθα δὲ τοῦτο πάντως, ἕως ἂν εἰς ἡμᾶς ἀναγάγωμεν τῆς γενέσεως τὴν ἀρχήν. εἰ δὴ προαιρεῖται μὲν μηθεὶς μὴ παρασκευασάμενος μηδὲ βουλευσάμενος, εἰ χεῖρον ἢ βέλτιον, βουλεύεται δὲ ὅσα ἐφ᾿ ἡμῖν ἐστι τῶν δυνατῶν καὶ εἶναι καὶ μὴ τῶν πρὸς τὸ τέλος, δῆλον ὅτι ἡ προαίρεσις μέν ἐστιν ὄρεξις τῶν ἔφ᾿ αὑτῷ βουλευτική. ἅπαντες γὰρ βουλευόμεθα ἃ καὶ προαιρούμεθα, οὐ μέντοι γε ἃ βουλευόμεθα, πάντα προαιρούμεθα. λέγω δὲ βουλευτικήν, ἧς ἀρχὴ καὶ αἰτία βούλευσίς ἐστι, καὶ ὀρέγεται διὰ τὸ βουλεύσασθαι. Ich folge dem Laurentianus (L), der in 1226b12 „πάντως“ anstelle von „πάντες“ liest. Der Vaticanus (P) und der Cantabrigensis (C) haben dagegen „πάντες“, so dass mit „wir alle überlegen dies, […]“ zu übersetzen wären. Für diese Lesart könnte die Parallele in EN 1113a5 sprechen, wo im gleichen Kontext „ἕκαστος“ steht. Die Codices enthalten in 1226b15 „ἢ“ anstelle von „εἰ“. Fritzsche hat die Subsitution durch „εἰ“ vorgeschlagen, die der OCT übernimmt. Ich halte an der Überlieferung fest, die sinnvoll erscheint. Der Laurentianus (L) liest in 1226b15 „βούλεται“ anstelle von „βουλεύεται“. Hier ist eindeutig die Lesart des Vaticanus (P) und des Cantabrigensis (C) vorzuziehen, die auch im OCT steht, da Überlegen und nicht Wünschen gemeint sein muss. Denn Überlegungen beziehen sich auf die Dinge, die zum Ziel führen, Wünsche dagegen auf das Ziel. Ein Codex (V) und der lateinische Druck (Λ1) haben in 1226b18 und 1226b19 anstelle von „βουλευόμεθα“ zweimal „βουλόμεθα“. Dieser Lesart folgen Bekker und Bonitz sowie der OCT. Susemihl folgt dagegen der Lesart, die in den meisten und besten MSS (PCL) überliefert ist, und liest jeweils „βουλευόμεθα“. Ein Befürworter des Verständnisses des OCT ist Dirlmeier. Er betrachtet die Version mit „βουλευόμεθα“ als redundant, weil der notwendige Zusammenhang zwischen einer Überlegung und einem Entschluss zuvor bereits hinreichend ausgeführt worden ist. Weiter bezweifelt er die Richtigkeit des zweiten Teils: Da es die Funktion jeder Überlegung ist, dass die handelnde Person die Wirkursache auf sich zurückführt, sei anzunehmen, dass jede Überlegung auch eine Wirkung, d. h. einen Entschluss, zur Folge hat. Schließlich nennt Dirlmeier als dritten Grund, an der Lesart mit „βουλόμεθα“ festzuhalten, dass in 1226b16 – 17 der Entschluss überraschend als eine bestimmte Art von Strebung, eine überlegende Strebung (orexis bouleutikê), bestimmt worden ist. Bisher fehlt noch eine Erklärung, inwiefern der Entschluss eine Strebung ist. Eine solche würde gegeben, wenn man in b18 und b19 „βουλόμεθα“ liest: Dadurch
4.2 Aristoteles Bestimmung der prohairesis in der Eudemischen Ethik
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wir uns nicht zu allen Dingen entschließen, über die wir Überlegungen anstellen. (Mit [einer Strebung, die] ‚mit Überlegung verbunden [ist]ʻ meine ich eine, deren Ursprung und Ursache eine Überlegung ist, und Streben entsteht aufgrund des Überlegens.)⁵²⁹ [EE II 10, 1226b21– 1227a5]⁵³⁰ Deswegen gibt es weder bei anderen Lebewesen einen Entschluss noch in jedem Alter noch bei einem Menschen in jedem beliebigen⁵³¹ Zustand. Denn dort gibt es auch kein Überlegen, noch (gibt es) eine Annahme über das Weshalb. Eine Meinung darüber, ob etwas getan werden soll oder nicht getan werden soll, mag trotzdem bei vielen vorhanden sein, aber es stimmt nicht mehr, dass sie durch Überlegung erworben wurde. Denn derjenige Teil der Seele ist überlegungsfähig, der fähig ist, irgendeine Ursache zu erfassen; das Worumwillen ist
würde erläutert, auf welcher Art von Streben der Entschluss beruht, nämlich einem (rationalen) Wunsch. Damit macht Dirlmeier zwar plausibel, weshalb an dieser Stelle über Wünschen gesprochen wird. Dennoch passt der Vorschlag nicht zum Kontext, denn ein Entschluss war zuvor als eine überlegende Strebung nach den Dingen, die bei uns liegen, erläutert worden, und Aristoteles macht (z. B. zuvor in 1226a15 – 16) deutlich, dass sich der Wunsch auf das Ziel, der Entschluss aber auf die Dinge, die zum Ziel führen, bezieht. Es erscheint daher unplausibel, dass er nun Dinge, die zum Ziel führen, gleichermaßen als Gegenstand von Wunsch und Entschluss bezeichnet (contra Dirlmeier 1962). Da Susemihls Lesart „βουλευόμεθα“ durch die MSS gestützt ist und besser zum Kontext passt, folge ich ihr in meiner Übersetzung (ebenso verfahren auch: Inwood/Woolf 2013; Simpson 2013; Woods 2005). Ich folge dem Vorschlag von Woods, auch den καὶ-Satz mit in die Klammer zu setzen, da beide Satzteile eine Sinneinheit bilden (vgl. Woods 2005, 194): Im ersten Teil wird begründet, inwiefern die genannte Bestimmung des Entschlusses als orexis bouleutikê den Entschluss als überlegend charakterisiert, im zweiten Teil wird die Ursache der Strebung erläutert. EE II 10, 1226b21– 1227a5: διὸ οὔτε ἐν τοῖς ἄλλοις ζῴοις ἐστὶν ἡ προαίρεσις, οὔτε ἐν πάσῃ ἡλικίᾳ, οὔτε πάντως ἔχοντος ἀνθρώπου. οὐδὲ γὰρ τὸ βουλεύσασθαι οὐθ᾿ ὑπόληψις τοῦ διὰ τί· ἀλλὰ δοξάσαι μὲν εἰ ποιητέον ἢ μὴ ποιητέον οὐθὲν κωλύει πολλοῖς ὑπάρχειν, τὸ δὲ διὰ λογισμοῦ οὐκέτι. ἔστι γὰρ βουλευτικὸν τῆς ψυχῆς τὸ θεωρητικὸν αἰτίας τινός. ἡ γὰρ οὗ ἕνεκα μία τῶν αἰτιῶν ἐστίν· τὸ μὲν γὰρ διὰ τί αἰτία· οὗ δ᾿ ἕνεκα ἐστιν ἢ γίγνεταί τι, τοῦτ᾿ αἴτιόν φαμεν εἶναι, οἷον τοῦ βαδίζειν ἡ κομιδὴ τῶν χρημάτων, εἰ τούτου ἕνεκα βαδίζει. διὸ οἷς μηθεὶς κεῖται σκοπός, οὐ βουλευτικοί. ὥστ᾿ ἐπεὶ τὸ μὲν ἐφ᾿ αὑτῷ ὂν ἢ πράττειν ἢ μὴ πράττειν, ἐάν τις πράττῃ ἢ ἀπρακτῇ δι᾿ αὑτὸν καὶ μὴ δι᾿ ἄγνοιαν, ἑκὼν πράττει ἢ ἀπρακτεῖ, πολλὰ δὲ τῶν τοιούτων πράττομεν οὐ βουλευσάμενοι οὐδὲ προνοήσαντες, ἀνάγκη τὸ μὲν προαιρετὸν ἅπαν ἑκούσιον εἶναι, τὸ δ᾿ ἑκούσιον μὴ 〈ἅπαν〉 προαιρετόν, καὶ τὰ μὲν κατὰ προαίρεσιν πάντα ἑκούσια εἶναι, τὰ δ᾿ ἑκούσια μὴ πάντα κατὰ προαίρεσιν. ἅμα δ᾿ ἐκ τούτων φανερὸν καὶ ὅτι καλῶς διορίζονται οἳ τῶν ποιημάτων τὰ μὲν ἑκούσια τὰ δ᾿ ἀκούσια τὰ δ᾿ ἐκ προνοίας νομοθετοῦσιν· εἰ γὰρ καὶ μὴ διακριβοῦσιν, ἀλλ᾿ ἅπτονταί γέ πῃ τῆς ἀληθείας. ἀλλὰ περὶ μὲν τούτων ἐροῦμεν ἐν τῇ περὶ τῶν δικαίων ἐπισκέψει· ἡ δὲ προαίρεσις ὅτι οὔτε ἁπλῶς βούλησις οὔτε δόξα ἐστί, δῆλον, ἀλλὰ δόξα τε καὶ ὄρεξις, ὄταν ἐκ τοῦ βουλεύσασθαι συμπερανθῶσιν. Bonitz korrigiert in 1226b22 das in den MSS überlieferte „πάντος“ zu „πάντως“, worin ihm Susemihl und der OCT folgen. Die Emendation ist plausibel, da bei „πάντος“ unklar ist, was zu ergänzen wäre und wie sich dies verstehen ließe (vgl. Dirlmeier 1962, 296).
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nämlich eine der Ursachen; denn das Weshalb ist eine Ursache,⁵³² und wir sagen, dass das, um dessentwillen etwas ist oder entsteht, eine Ursache ist, wie z. B. das Wiedererhalten von Gütern die Ursache des Gehens ist (wenn man um dieser Sache willen geht). Deshalb ist niemand, der kein Ziel gesetzt hat, in der Lage, zu überlegen. Somit folgt: Da man das, was bei einem liegt, zu tun oder nicht zu tun – angenommen, man handelt oder unterlässt eine Handlung, durch sich selbst und nicht durch Unwissenheit –, willentlich tut oder unterlässt, und da wir viele solche Dinge tun, ohne zu überlegen oder vorher zu bedenken, ist es notwendig, dass zwar alles, wozu man sich entschlossen hat, willentlich ist, dass aber das Willentliche nicht alles etwas ist, zu dem man sich entschlossen hat, und dass alles, was gemäß dem Entschluss ist, willentlich ist, das Willentliche aber nicht 〈alles〉⁵³³ gemäß einem Entschluss ist. Daraus wird zugleich auch deutlich, dass die Gesetzgeber zu Recht zwischen willentlichen und unwillentlichen Unrechtstaten⁵³⁴ und solchen, die aus Vorbedacht geschehen, unterscheiden; denn auch wenn sie nicht vollkommen Recht haben, so berühren sie die Wahrheit doch auf eine Weise. Wir werden dazu in der Untersuchung des Gerechten etwas sagen. Aber es ist klar, dass der Entschluss weder einfach Wunsch noch Meinung ist, sondern Meinung und Strebung (zusammen), wenn sie aus einer Überlegung heraus zu einem Schluss zusammengeführt werden. [EE II 10, 1227a5 – 18]⁵³⁵ Da jemand, der Überlegungen anstellt, immer um einer Sache willen überlegt, und es immer ein Ziel gibt, auf das hin er untersucht, was nützlich ist, stellt niemand Überlegungen über
Susemihl stellt den Satz „τὸ μὲν γὰρ διὰ τί αἰτία·“ in 1226b27 um und platziert ihn nach dem Satz („οἷον τοῦ βαδίζειν ἡ κομιδὴ τῶν χρημάτων, εἰ τούτου ἕνεκα βαδίζει.“), der ein Beispiel für ein Worumwillen gibt, das Ursache einer Handlung ist. Ich halte an der in den MSS überlieferten Reihenfolge fest, auch wenn die Formulierung womöglich redundant anmutet. Bonitz ergänzt in 1226b35 „ἅπαν“ und auch Susemihl macht, ohne Bonitz’ Emendation zu kennen, denselben Vorschlag. Ich halte die Ergänzung für einleuchtend, da der Satz mit Sorgfalt und Absicht formuliert ist und es sachlich richtig ist, dass das Willentliche nicht alles gemäß einem Entschluss ist (vgl. Dirlmeier 1962, 297, contra Inwood/Woolf 2013, 36). In den MSS ist in 1226b37– 38 „παθημάτων“ (Widerfahrnisse) überliefert, was jedoch wegen der Passivität von Widerfahrnissen nicht passend erscheint, insbesondere im Fall von ‚Widerfahrnissen aus Vorbedachtʻ. Bonitz hat deswegen vorgeschlagen, „παθημάτων“ durch „ἀδικημάτων“ zu ersetzen (Bonitz 1866, 798). Ähnlich motiviert ist auch der Vorschlag von Ross, stattdessen „ποιημάτων“ zu lesen. Dirlmeier versucht dagegen die Lesart der MSS plausibel zu machen, indem er auf eine Vergleichsstelle bei Antiphon verweist (Dirlmeier 1962, 297; Antiphon I 27 (Gegen die Stiefmutter): „So ziemt es sich denn auch eher, bei unwillentlichen Widerfahrnissen (pathêmata) Mitleid zu zeigen als bei willentlichen und aus Verbedacht geschehenen Unrechtstaten und Fehlern.“ [οὕτω δέ τοι καὶ ἐλεεῖν ἐπὶ τοῖς ἀκουσίοις παθήμασι μᾶλλον προσήκει ἢ τοῖς ἑκουσίοις καὶ ἐκ προνοίας ἀδικήματα καὶ ἁμαρτήμασι.]). Allerdings verwendet Antiphon dort „παθήματα“ nur als Bezeichnung für unwillentliche Handlungen. Ich lege meiner Übersetzung daher die Lesart, die Ross vorgeschlagen hat, zugrunde und übersetze mit „Unrechtstaten“ (so auch Woods 2005, 195). EE II 10, 1227a5 – 18: ἐπεὶ δὲ βουλεύεται ἀεὶ ὁ βουλευόμενος ἕνεκα τινός, καὶ ἐστὶ σκοπός τις ἀεὶ τῷ βουλευομένῳ πρὸς ὃν σκοπεῖ τὸ συμφέρον, περὶ μὲν τοῦ τέλους οὐθεὶς βουλεύεται, ἀλλὰ τοῦτ᾿ ἐστιν ἀρχὴ καὶ ὑπόθεσις, ὥσπερ ἐν ταῖς θεωρητικαῖς ἐπιστήμαις ὑποθέσεις (εἴρηται δὲ περὶ
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das Ziel an, dies ist vielmehr Ursprung und Voraussetzung, wie die Voraussetzungen in den theoretischen Wissenschaften (über diese ist kurz am Anfang unserer Untersuchung⁵³⁶ etwas gesagt worden und sie werden genauer in den Analytiken ⁵³⁷ erörtert), sondern die Untersuchung, sei sie mit Hilfe einer Kunstfertigkeit oder ohne eine Kunstfertigkeit, bezieht sich bei allen auf das, was zum Ziel führt, wie z. B. bei denjenigen, die dies überlegen, ob sie Krieg führen sollen oder nicht. Früher wird aber das Weshalb stehen, dies ist das Worumwillen, wie z. B. Reichtum oder Lust oder etwas anderes von den Dingen, für die es sich ergibt, dass sie ein Um-Dessentwillen sind. Denn derjenige, der überlegt, überlegt, wenn⁵³⁸ er eine Sache vom Ziel aus untersucht hat, was dazu⁵³⁹ beiträgt, damit er es auf sich selbst zurückführt, oder was er selbst in Hinblick auf das Ziel tun kann. [EE II 10, 1227a18 – 31]⁵⁴⁰ Das Ziel ist von Natur aus immer ein Gut, und darüber stellt man im einzelnen Fall⁵⁴¹ Überlegungen an, wie z. B. ein Arzt überlegen würde, ob er ein Medikament geben soll, und
αὐτῶν ἐν μὲν τοῖς ἐν ἀρχῇ βραχέως, ἐν δὲ τοῖς ἀναλυτικοῖς δι᾿ ἀκριβείας), περὶ δὲ τῶν πρὸς τέλος φερόντων ἡ σκέψις καὶ μετὰ τέχνης καὶ ἄνευ τέχνης πᾶσιν ἐστίν, οἷον εἰ πολεμῶσιν ἢ μὴ πολεμῶσιν τοῦτο βουλευομένοις. ἐκ προτέρου δὲ μᾶλλον ἔσται τὸ δι᾿ ὅ, τοῦτ᾿ ἐστι τὸ οὗ ἕνεκα, οἷον πλοῦτος ἢ ἡδονὴ ἤ τι ἄλλο τοιοῦτον ὃ τυγχάνει οὗ ἕνεκα. βουλεύεται γὰρ ὁ βουλευόμενος, εἰ ἀπὸ τοῦ τέλους ἕσκεπται, ὅ τι ἐκεῖ συντείνει ὅπως εἰς αὑτὸν ἀγάγῃ, ἢ αὐτὸς δύναται πρὸς τὸ τέλος. Dirlmeier verweist hier auf EE I 2, Inwood/Woolf sowie Woods verweisen auf EE II 6. Vgl. APo I 3, 72b19 – 27, vgl. auch Woods 2005, 147. CL haben in 1227a16 anstelle von „εἰ“ „ἢ“, was auch Bekker übernimmt. Gegenüber diesem disjunktiven Verständnis erscheint mir die Lesart mit „εἰ“, die im Vaticanus überliefert ist und im OCT übernommen wird, einleuchtender. Der „εἰ“-Satz ist als eingeschobener Bedingungssatz (und nicht etwa als indirekter Fragesatz) zu verstehen (vgl. Dirlmeier 1962, 299; Woods 2005, 195). Wörtlich ist „ἐκεῖ“ in 1227a16 mit „dorthin“ – also im Sinn von „dorthin, d. h. zum Ziel hin“ – zu übersetzen. EE II 10, 1227a18 – 31: τὸ δὲ τέλος ἐστὶ φύσει μὲν ἀεὶ ἀγαθόν, καὶ περὶ οὗ κατὰ μέρος βουλεύονται, οἷον ἰατρὸς βουλεύσαιτο ἂν εἰ δῴη φάρμακον, καὶ στρατηγὸς ποῦ στρατοπεδεύσηται, οἷς ἀγαθὸν τὸ τέλος τὸ ἁπλῶς ἄριστον ἐστίν· παρὰ φύσιν δὲ καὶ διὰστροφὴν οὐ τὸ ἀγαθόν, ἀλλὰ τὸ φαινόμενον ἀγαθόν. αἴτιον δ᾿ ὅτι τῶν ὄντων τὰ μὲν οὐκ ἔστιν ἐπ᾿ ἄλλῳ χρήσασθαι ἢ πρὸς ἃ πέφυκεν, οἷον ὄψει· οὐ γὰρ οἷόν τ᾿ ἰδεῖν οὗ μὴ ἔστιν ὄψις, οὐδ᾿ ἀκοῦσαι οὗ μὴ ἔστιν ἀκοή· ἀλλ᾿ ἀπὸ ἐπιστήμης ποιῆσαι καὶ οὗ μὴ ἔστιν ἡ ἐπιστήμη. οὐ γὰρ ὁμοίως τῆς ὑγιείας ἡ αὐτὴ ἐπιστήμη καὶ νόσου, ἀλλὰ τῆς μὲν κατὰ φύσιν τῆς δὲ παρὰ φύσιν. ὁμοίως δὲ καὶ ἡ βούλησις φύσει μὲν τοῦ ἀγαθοῦ ἐστί, παρὰ φύσιν δὲ καὶ τοῦ κακοῦ, καὶ βούλεται φύσει μὲν τὸ ἀγαθόν, παρὰ φύσιν δὲ καὶ διαστροφὴν καὶ τὸ κακόν. Ich fasse „κατὰ μέρος“ in 1227a19 so auf, dass damit auf verschiedene Einzelsituationen Bezug genommen, in denen es jeweils Gegenstand der Überlegung ist, herauszufinden, zu welchen Mitteln um welchen Ziels willen man sich entschließen soll. Kenny bezieht „κατὰ μέρος“ dagegen auf die jeweiligen Ziele verschiedener Überlegungen, also z. B. auf das einzelne Ziel des Siegs oder das der Gesundheit (vgl. Kenny 1979, 79: „To me it seems more likely that here the expression ‚κατὰ μέροςʻ refers to the particular goods which are the goals of these deliberations […]“). Das kann jedoch nicht stimmen, da die Beispiele deutlich machen, dass Gegenstand der Überlegung jeweils Mittel sind (Medikament bzw. Feldlager), um die Ziele (Gesundheit bzw. Sieg) zu erreichen (vgl. Dirlmeier 1962, 299).
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der Feldherr darüber, wo er ein Lager aufschlagen sollte; für diese⁵⁴² ist das Ziel, welches das schlechthin beste ist, gut. Was hingegen gegen die Natur und durch Verkehrung⁵⁴³ ist, ist nicht das Gut, sondern das scheinbare Gut. Grund dafür ist, dass es nicht möglich ist, dass manche Dinge zu etwas anderem genutzt werden, als wofür sie von Natur aus da sind, wie z. B. das Sehvermögen, so wie es z. B. nicht möglich ist, zu sehen, was nicht Gegenstand des Sehvermögens ist, oder zu hören, was nicht Gegenstand des Hörvermögens ist. Aber aus der Wissenschaft heraus kann man etwas zuwege bringen, das nicht Gegenstand der Wissenschaft ist. Denn nicht dieselbe Wissenschaft hat auf die gleiche Weise die Gesundheit und die Krankheit zum Gegenstand, sondern das eine gemäß ihrer Natur, das andere hingegen entgegen ihrer Natur. Und in ähnlicher Weise richtet sich der Wunsch natürlicherweise auf das Gute, entgegen der Natur dagegen auch auf das Schlechte, und man wünscht von Natur aus das Gute, entgegen der Natur und durch Verkehrung⁵⁴⁴ hingegen auch das Schlechte. [EE II 10, 1227a31-b11]⁵⁴⁵ Allerdings erfolgen Zerstörung und Verkehrung einer jeden Sache nicht zu etwas Beliebigem hin, sondern in das Entgegengesetzte oder das, was dazwischenliegt. Denn es ist nicht möglich, über diese hinauszugehen, da auch die Täuschung nicht zu beliebigen Dingen hin
Dirlmeier versteht „οἷς“ in 1227a20 als Neutrum und bezieht den Ausdruck auf die einzelnen Fälle bzw. die jeweiligen Dinge, die zum Ziel führen (Dirlmeier 1962, 299). Möglich ist es aber auch, „οἷς“ als Maskulinum aufzufassen und auf den Arzt und den Feldherren zu beziehen, wie es die meisten Übersetzer tun. Die MSS haben in 1227a21– 22 und 1227a30 jeweils „διὰστροφὴν“, was Susemihl übernimmt, und nicht „διὰ στροφὴν“, wie es im OCT zu finden ist. Hält man an dem in den MSS überlieferten Kompositum „διὰστροφή“ fest, ist sprachlich entweder die Ergänzung einer passenden Präposition (so verfährt Sylburg, der die Ergänzung durch „καὶ κατὰ διὰστροφὴν“ erwägt) oder eine Korrektur in den Dativ nötig (so Fritzsche, der „διὰστροφῇ“ vorschlägt). Ich folge in der Übersetzung der Korrektur von Fritzsche, die mir am plausibelsten erscheint (Dirlmeier erwägt, vor „διὰστροφὴν“ ein zweites Mal „παρὰ“ zu lesen und die Präposition gleichbedeutend mit „κατὰ“ zu verstehen, was ich für abwegig halte. Vgl. Dirlmeier 1969, 299 – 300). Hier besteht dieselbe Schwierigkeit wir in 1227a21– 22, dass die MSS „διὰστροφὴν“ haben (vgl. meine Anm. 543). Ich folge in meiner Übersetzung wieder der Korrektur Fritzsches und lese den Dativ „διὰστροφῇ“. EE II 10, 1227a31-b11: ἀλλὰ μὴν ἑκάστου γε φθορὰ καὶ διαστροφὴ οὐκ εἰς τὸ τυχόν, ἀλλ᾿ εἰς τὰ ἐναντία καὶ τὰ μεταξύ. οὐ γὰρ ἔστιν ἐκβῆναι ἐκ τούτων, ἐπεὶ καὶ ἡ ἀπάτη οὐκ εἰς τὰ τυχόντα γίνεται, ἀλλ᾿ εἰς τὰ ἐναντία ὅσοις ἐστὶν ἐναντία, καὶ εἰς ταῦτα τῶν ἐναντίων ἃ κατὰ τὴν ἐπιστήμην ἐναντία ἐστίν. ἀνάγκη ἄρα καὶ τὴν ἀπάτην καὶ τὴν προαίρεσιν ἀπὸ τοῦ μέσον ἐπὶ τὰ ἐναντία γίνεσθαι (ἐναντία δὲ τῷ μέσῳ [καὶ] τὸ πλέον καὶ τὸ ἔλαττον). αἴτιον δὲ τὸ ἡδὺ καὶ τὸ λυπηρόν· οὕτω γὰρ ἔχει ὥστε τῇ ψυχῇ φαίνεσθαι τὸ μὲν ἡδὺ ἀγαθὸν καὶ τὸ ἥδιον ἄμεινον, καὶ τὸ λυπηρὸν κακὸν καὶ τὸ λυπηρότερον χεῖρον. ὥστε καὶ ἐκ τούτων δῆλον ὅτι περὶ ἡδονὰς καὶ λύπας ἡ ἀρετὴ καὶ ἡ κακία. περὶ μὲν γὰρ τὰ προαιρετὰ τυγχάνουσιν οὖσαι, ἡ δὲ προαίρεσις περὶ τὸ ἀγαθὸν καὶ κακὸν καὶ τὰ φαινόμενα, τοιαῦτα δὲ φύσει ἡδονὴ καὶ λύπη. ἀνάγκη τοίνυν, ἐπειδὴ ἡ ἀρετὴ μὲν ἡ ἠθικὴ αὐτή τε μεσότης τίς ἐστι καὶ περὶ ἡδονὰς καὶ λύπας πᾶσα, ἡ δὲ κακία ἐν ὑπερβολῇ καὶ ἐλλείψει καὶ περὶ ταὐτὰ τῇ ἀρετῇ, τὴν ἀρετὴν εἶναι τὴν ἠθικὴν ἕξιν προαιρετικὴν μεσότητος τῆς πρὸς ἡμᾶς ἐν ἡδέσι καὶ λυπηροῖς, καθ᾿ ὅσα ποῖός τις λέγεται τὸ ἦθος, ἢ χαίρων ἢ λυπούμενος· ὁ γὰρ φιλόγλυκυς ἢ φιλόπικρος οὐ λέγεται ποῖός τις τὸ ἦθος.
4.2 Aristoteles Bestimmung der prohairesis in der Eudemischen Ethik
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geschieht, sondern ins Entgegengesetzte, wo es ein Entgegengesetztes gibt, und zwar zu denjenigen entgegengesetzten Dingen, die gemäß dem (jeweiligen) Wissen entgegengesetzt sind. Es ist somit notwendig, dass sowohl die Täuschung als auch der Entschluss vom Mittleren hin zu entgegengesetzten Dingen erfolgen (das Mehr und das Weniger sind dem Mittleren entgegengesetzt). Ursache sind das Lustvolle und das Schmerzvolle; denn es verhält sich ja so, dass das Lustvolle der Seele gut erscheint und das Lustvollere besser; und dass das Schmerzvolle schlecht, und das Schmerzvollere schlechter erscheinen. Daraus wird auch klar, dass die Tugend und die Schlechtigkeit es mit Lüsten und Schmerzen zu tun haben. Es ergibt sich daher, dass sie es mit den Dingen zu tun haben, zu denen man sich entschließen kann, und der Entschluss hat es mit dem Guten und Schlechten und dem, was so zu sein scheint, zu tun, und so beschaffen sind Lust und Schmerz von Natur aus. Da die Charaktertugend selbst eine Mitte ist und es in allen Fällen mit Freuden und Schmerzen zu tun hat, während die Schlechtigkeit in Übermaß und Mangel besteht und sie es mit denselben Dingen wie die Tugend zu tun hat, folgt mit Notwendigkeit, dass die Charaktertugend eine Haltung ist, Entschlüsse zu der Mitte in Bezug auf uns im Bereich der lustvollen und schmerzvollen Dinge zu treffen, Dinge, denen gemäß von jemandem gesagt wird, dass er, insofern er sich freut und Schmerzen empfindet, einen bestimmten Charakter hat; denn vom Liebhaber von Süßem oder vom Liebhaber von Bitterem wird nicht gesagt, dass er einen bestimmten Charakter hat. [EE II 11, 1227b12– 25]⁵⁴⁶ Nachdem diese Dinge bestimmt sind, wollen wir sagen, ob die Tugend den Entschluss zu etwas macht, das ohne Fehler ist, und das Ziel richtig, so dass man sich zu dem entschließt, um dessentwillen man sich entschließen soll, oder ob sie [i.e. die Tugend; BL], wie manche meinen, die Vernunft [richtig macht]. Aber dies ist Beherrschtheit, denn diese verkehrt nicht die Vernunft. Und Tugend und Beherrschtheit sind verschieden. Über diese ist später zu sprechen, da wenigstens für diejenigen, die meinen, dass die Tugend die Vernunft richtig macht, dies der Grund dafür ist: Die Beherrschtheit ist [nämlich] so beschaffen, die Beherrschtheit gehört aber zu den lobenswerten Dingen. Wir wollen dies erörtern, nachdem wir einige Schwierigkeiten aufgeworfen haben. Es ist nämlich möglich, dass das Ziel zwar richtig ist, dass sich aber ein Fehler bei den Dingen ereignet, die zum Ziel führen. Es ist auch möglich, dass das Ziel verfehlt wird, dass aber die Dinge, die zum Ziel führen, richtig sind, und auch dass keines von beidem [richtig ist]. Macht die Tugend das Ziel [richtig]⁵⁴⁷ oder die Dinge, die
EE II 11, 1227b12– 25: τούτων δὲ διωρισμένων, λέγωμεν πότερον ἡ ἀρετὴ ἀναμάρτητον ποιεῖ τὴν προαίρεσιν καὶ τὸ τέλος ὀρθόν, οὕτως ὥστε οὗ ἕνεκα δεῖ προαιρεῖσθαι, ἢ ὥσπερ δοκεῖ τισί, τὸν λόγον. ἔστι δὲ τοῦτο ἐγκράτεια· αὕτη γὰρ οὐ διαφθείρει τὸν λόγον. ἔστι δ᾿ ἀρετὴ καὶ ἐγκράτεια ἕτερον. λεκτέον δ᾿ ὕστερον περὶ αὐτῶν, ἐπεὶ ὅσοις γε δοκεῖ τὸν λόγον ὀρθὸν παρέχειν ἡ ἀρετή, τοῦτο αἴτιον· ἡ μὲν ἐγκράτεια τοιοῦτον, τῶν ἐπαινετῶν δ᾿ ἡ ἐγκράτεια. λέγωμεν δὲ προαπορήσαντες. ἔστι γὰρ τὸν μὲν σκοπὸν ὀρθὸν εἶναι, ἐν δὲ τοῖς πρὸς τὸν σκοπὸν διαμαρτάνειν· ἔστι δὲ τὸν μὲν σκοπὸν ἡμαρτῆσθαι, τὰ δὲ πρὸς ἐκεῖνον περαίνοντα ὀρθῶς ἔχειν, καὶ μηδέτερον. πότερον δ᾿ ἡ ἀρετὴ ποιεῖ τὸν σκοπὸν ἢ τὰ πρὸς τὸν σκοπόν; τιθέμεθα δὴ ὅτι τὸν σκοπόν, διότι τούτου οὐκ ἔστι λογισμὸς οὐδὲ λόγος. ἀλλὰ δὴ ὥσπερ ἀρχὴ τοῦτο ὑποκείσθω. Es erscheint notwendig, hier „richtig“ zu ergänzen (vgl. Woods 2005, 195). Die Ergänzung lässt sich aus dem Kontext erschließen.
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4 Die Textgrundlage zur Behandlung der prohairesis
zum Ziel führen? Wir nehmen nun an, dass es das Ziel ist, denn dieses wird nicht durch Erwägung oder Vernunft erreicht. Es soll also dies wie ein Ursprung angenommen werden. [EE II 11, 1227b25 – 33]⁵⁴⁸ Denn weder prüft der Arzt, ob man gesund sein soll oder nicht, sondern [er prüft,] ob man spazieren gehen soll oder nicht, noch prüft der Trainer, ob man in guter physischer Verfassung sein soll oder nicht, sondern [er prüft,] ob man ringen soll oder nicht. In der gleichen Weise ist auch keine andere Kunstfertigkeit mit dem Ziel befasst; denn ebenso wie in den theoretischen Wissenschaften die Voraussetzungen Ausgangspunkte sind, so ist auch in den praktischen Kunstfertigkeiten das Ziel Ausgangspunkt und Voraussetzung. Wenn dies gesund sein soll, dann ist es notwendig, dass dies und dies der Fall ist, wenn jenes so werden soll wie auch dort, dann ist es notwendig, wenn in Bezug auf das Dreieck zwei rechte Winkel sein sollen, dass dies und dies der Fall ist. Ausgangspunkt des Denkens ist also das Ziel, [Ausgangspunkt] des Handelns ist dagegen der Endpunkt des Denkens. [EE II 11, 1227b34– 1228a2]⁵⁴⁹ Wenn also entweder Vernunft oder Tugend Ursache für jede Art von Richtigkeit ist, dann dürfte wohl, wenn die Vernunft nicht [sc. die Ursache ist; BL], das Ziel aufgrund der Tugend richtig sein, nicht aber das, was zum Ziel führt. Das Ziel ist das Worumwillen. Denn jeder Entschluss hat etwas zum Gegenstand und ist um einer Sache willen. Das Mittlere ist das Worumwillen, und dessen Ursache ist die Tugend, durch das sich⁵⁵⁰ um einer Sache willen
EE II 11, 1227b25 – 33: οὔτε γὰρ ἰατρὸς σκοπεῖ εἰ δεῖ ὑγιαίνειν ἢ μή, ἀλλ᾿ εἰ περιπατεῖν ἢ μή, οὔτε ὁ γυμναστικὸς εἰ δεῖ εὖ ἔχειν ἢ μή, ἀλλ᾿ εἰ παλαῖσαι ἢ μή. ὁμοίως δ᾿ οὐδ᾿ ἄλλη οὐδεμία περὶ τοῦ τέλους· ὥσπερ γὰρ ταῖς θεωρητικαῖς αἱ ὑποθέσεις ἀρχαί, οὕτω καὶ ταῖς ποιητικαῖς τὸ τέλος ἀρχὴ καὶ ὑπόθεσις. ἐπειδὴ δεῖ τόδε ὑγιαίνειν, ἀνάγκη τοδὶ ὑπάρξαι. εἰ ἔσται ἐκεῖνο, ὥσπερ ἐκεῖ, εἰ ἔστι τὸ τρίγωνον δύο ὀρθαί, ἀνάγκη τοδὶ εἶναι. τῆς μὲν οὖν νοήσεως ἀρχὴ τὸ τέλος, τῆς δὲ πράξεως ἡ τῆς νοήσεως τελευτή. EE II 11, 1227b34– 1228a2: εἰ οὖν πάσης ὀρθότητος ἢ ὁ λόγος ἢ ἡ ἀρετὴ αἰτία, εἰ μὴ ὁ λόγος, διὰ τὴν ἀρετὴν ἂν ὀρθὸν εἴη τὸ τέλος, ἀλλ᾿ οὐ τὰ πρὸς τὸ τέλος. τέλος δ᾿ ἐστὶ τὸ οὗ ἕνεκα. ἔστι γὰρ πᾶσα προαίρεσις τινὸς καὶ ἕνεκα τινός. οὗ μὲν οὖν ἕνεκα τὸ μέσον ἐστίν, οὗ αἰτία ἡ ἀρετή τῷ προαιρεῖσθαι οὗ ἕνεκα. ἔστι μέντοι ἡ προαίρεσις οὐ τούτου, ἀλλὰ τῶν τούτου ἕνεκα. τὸ μὲν οὖν τυγχάνειν τούτων ἄλλης δυνάμεως, ὅσα ἕνεκα τοῦ τέλους δεῖ πράττειν· τοῦ δὲ τὸ τέλος ὀρθὸν εἶναι τῆς προαιρέσεως οὗ ἡ ἀρετὴ αἰτία. Fritzsche hat vorgeschlagen, in 1227b38 „τὸ“ durch „τῷ“ zu ersetzen, was Susemihl übernimmt, der zudem kein Komma vor „τῷ“ liest. Fritzsches Lesart folgen Woods und Inwood/Woolf. Woods übersetzt mit „The mean is the-thing-for-the-sake-of-which, of which virtue is the cause, by choosing with a view to that“ [Hervorhebung BL]. In den MSS ist dagegen der Nominativ „τὸ“ überliefert, den auch der OCT übernimmt. Wenn man der Lesart der MSS folgt, lässt sich die Phrase „τὸ προαιρεῖσθαι οὗ ἕνεκα“ als Apposition verstehen, wofür sich Dirlmeier entscheidet und wie folgt übersetzt: „‚Das worumwillenʻ (man handelt) ist aber das Mittlere und davon ist Ursache die Tugend, das Sich-entscheiden für das Worumwillen.“ Dirlmeier begründet dieses Verständnis damit, dass im Zusammenhang von Kapitel 11 ἀρετή und προαίρεσις „geradezu gleichzusetzen“ sind (vgl. Dirlmeier 1962, 306). Die Beobachtung dieser engen Verbindung geht m. E. zwar in die richtige Richtung, allerdings wird Dirlmeiers Wiedergabe ihr nicht gerecht. Um an dieser Stelle einen Entschluss zu Recht mit der Tugend gleichsetzen zu können, müsste in 1227b38 „δεῖ“ gelesen werden, das in manchen MSS (CL) überliefert ist. Denn nicht jeder Ent-
4.2 Aristoteles Bestimmung der prohairesis in der Eudemischen Ethik
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Entschließen. Der Entschluss bezieht sich aber nicht auf dieses, sondern auf die Dinge, die um dessentwillen sind. Es gehört einem anderen Vermögen an, all die Dinge zu treffen, die man um des Ziels willen tun soll; dass aber das Ziel des Entschlusses richtig ist, davon⁵⁵¹ ist die Tugend die Ursache. [EE II 11, 1228a2– 19]⁵⁵² Und aus diesem Grund beurteilen wir aufgrund eines Entschlusses, was für ein Mensch jemand ist, d. h. aufgrund der Sache, um derentwillen jemand etwas tut, und nicht aufgrund
schluss, der um einer Sache willen erfolgt, ist ein Sich-Entschließen gemäß einer Tugend. Nur bei einem Entschluss um einer Sache willen, um deren willen man sich auch entschließen soll, handelt es sich um einen Entschluss gemäß der Tugend. Ich folge in meiner Übersetzung der Korrektur Fritzsches und verzichte auf das Einfügen von „δεῖ“, so dass die Phrase „τῷ προαιρεῖσθαι οὗ ἕνεκα“ als nachgeschobene Erläuterung zu verstehen ist, die präzisiert, inwiefern die Tugend die Ursache des Worumwillen ist. Nochmals eine andere Deutung hat Kenny vorgeschlagen, der den eingeschobenen Relativsatz „οὗ αἰτία ἡ ἀρετή“ in 1227b38 so versteht, dass damit gesagt wird, dass die Tugend die Ursache dafür ist, dass das Ziel, d. h. das Mittlere, das Worumwillen des Entschlusses ist. Mit anderen Worten: Die Tugend ist dafür verantwortlich, dass ein Entschluss um eines Ziels willen getroffen wird, wobei unter einem Ziel ein Mittleres zwischen zwei Extremen zu verstehen ist (Kenny 1979, 85 – 87). In den MSS ist in 1228a1 „οὗ“ überliefert. Fritzsche klammert „οὗ“ ein und streicht das Komma, was der OCT und Susemihl übernehmen. Kenny übersetzt – ebenso wie Dirlmeier und Woods – gemäß dieser Lesart (1979, 85): „[…] [i]t is the correctness of the end of the purposive choice of which virtue is the cause.“ Nach diesem Verständnis ist „ἡ ἀρετὴ“ Subjekt des ganzen Satzes und die Tugend wird als Ursache dafür bezeichnet, dass das Ziel des Entschlusses richtig ist. Gegen die Athetese Fritzsches spricht sich von Fragstein aus, der den Satz nach der Überlieferung der MSS übersetzt (von Fragstein 1974, 201): „Die ὀρθότης des Telos aber zu erweisen ist Sache der Proairesis [sic!], hinter der die Arete stehen muss“. Er versteht den Satz „οὗ ἡ ἀρετὴ αἰτία“ als nachgeschobenen Relativsatz, der sich auf den ganzen Hauptsatz bezieht. Die Schwierigkeit seiner Wiedergabe ist, dass nicht deutlich wird, dass die Tugend als eine Ursache bezeichnet wird, und zwar als Ursache für die Richtigkeit des Ziels eines Entschlusses. Nicht begründet erscheint mir dagegen der Einwand Kennys gegen von Fragstein, dass die Aussage des Hauptsatzes Aristoteles’ Aussage widerspricht, dass der Entschluss sich nicht auf das Ziel bezieht. Denn erstens geht es Aristoteles m. E. an dieser Stelle gerade um den Nachweis, in welcher Weise und aufgrund wovon ein Entschluss sich auf Ziele beziehen kann (vgl. dazu Abschnitt „9.3 Das Verhältnis von Tugend und Entschluss“). Außerdem scheint mir, dass auch in Kennys Wiedergabe der Zielbezug des Entschlusses zum Ausdruck kommt, da bei ihm die Tugend auch als Ursache für die Richtigkeit des Ziels des Entschlusses bezeichnet wird. Die Deutungen von Kenny und von Fragstein scheinen sich somit sachlich sogar zu entsprechen, auch wenn beide Autoren den Satz grammatikalisch unterschiedlich verstehen. Damit ergibt sich, dass unabhängig davon, ob man der grammatikalisch schwierigen Überlieferung der MSS oder der Korrektur Fritzsches folgt, die Aussage des Satzes dieselbe ist: Die Tugend wird als Ursache dafür bezeichnet, dass das Ziel des Entschlusses richtig ist. Der Text ist entweder zu korrigieren oder es ist ein grammatikalisch problematischer Satz zu akzeptieren. EE II 11, 1228a2– 19: καὶ διὰ τοῦτο ἐκ τῆς προαιρέσεως κρίνομεν ποῖός τις· τοῦτο δ᾿ εστὶ τὸ τίνος ἕνεκα πράττει, ἀλλ᾿ οὐ τί πράττει. ὁμοίως δὲ καὶ ἡ κακία τῶν ἐναντίων ἕνεκα ποιεῖ τὴν
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4 Die Textgrundlage zur Behandlung der prohairesis
dessen, was jemand tut. In gleicher Weise macht auch die Schlechtigkeit den Entschluss zu einem Entschluss um der entgegengesetzten Dinge willen. Wenn somit jemand, wenn es bei ihm liegt, schöne Dinge zu tun und hässliche zu unterlassen, das Entgegengesetzte tut, dann ist klar, dass er kein guter Mensch ist. Daher ist es notwendig, dass Schlechtigkeit und Tugend willentlich sind, denn es gibt keine Notwendigkeit, schlechte Dinge zu tun. Deshalb ist auch die Schlechtigkeit tadelnswert und die Tugend lobenswürdig. Denn hässliche und schlechte Handlungen, die unwillentlich sind, werden nicht getadelt, und gute, [die unwillentlich sind], werden nicht gelobt, sondern nur die willentlichen. Ferner loben und tadeln wir alle, indem wir eher auf den Entschluss blicken als auf die Taten, obwohl die Betätigung der Tugend wählenswerter ist, weil man schlechte Dinge auch tut, wenn man gezwungen wird, niemand aber entschließt sich [gezwungen]. Ferner gilt, weil es nicht einfach ist zu sehen, wie beschaffen jemandes Entschluss ist, deswegen ist es notwendig, dass wir aufgrund der Taten beurteilen, was für einen Charakter jemand hat. Wählenswerter ist also die Betätigung, lobenswürdiger ist dagegen der Entschluss. Dies folgt also aus dem, was wir angenommen haben, und es stimmt ferner überein mit dem, was der Fall zu sein scheint.
4.3 Terminologische Bemerkungen zum Ausdruck „prohairesis“ Die Wiedergabe von „προαίρεσις“ bei Aristoteles ist für die Übersetzung eine Herausforderung. Der Ausdruck hat vor Aristoteles keine besondere Verwendung als terminus technicus. Er übernimmt ihn aus der Umgangssprache und legt ihm in seinen Schriften, insbesondere in den in diesem Kapitel diskutierten Stellen in der EN und der EE, eine spezifische Bedeutung bei.⁵⁵³ Es ist möglich, dass sich Aristoteles bei seiner Wortwahl an der damaligen Gerichtssprache orientiert hat.⁵⁵⁴ Im attischen Mordrecht wurde eine vorsätzliche Mordtat als Mordtat „aus Vorüberlegung bzw. Vorbedacht“ (ἐκ προνοίας)
προαίρεσιν. εἰ δή τις, ἐφ᾿ αὑτῷ ὂν πράττειν μὲν τὰ καλὰ ἀπρακτεῖν δὲ τὰ αἰσχρά, τοὐαντίον ποιεῖ, δῆλον ὅτι οὐ σπουδαῖός ἐστιν οὗτος ὁ ἄνθρωπος. ὧστ᾿ ἀνάγκη τήν τε κακίαν ἑκούσιον εἶναι καὶ τὴν ἀρετήν· οὐδεμία γὰρ ἀνάγκη τὰ μοχθηρὰ πράττειν. διὰ ταῦτα καὶ ψεκτὸν ἡ κακία καὶ ἡ ἀρετὴ ἐπαινετόν· τὰ γὰρ ἀκούσια αἰσχρὰ καὶ κακὰ οὐ ψέγεται οὐδὲ τὰ ἀγαθὰ ἐπαινεῖται, ἀλλὰ τὰ ἑκούσια. ἔτι πάντας ἐπαινοῦμεν καὶ ψέγομεν εἰς τὴν προαίρεσιν βλέποντες μᾶλλον ἢ εἰς τὰ ἔργα· καίτοι αἱρετώτερον ἡ ἐνέργεια τῆς ἀρετῆς, ὅτι πράττουσι μὲν φαῦλα καὶ ἀναγκαζόμενοι, προαιρεῖται δ᾿ οὐδείς. ἔτι διὰ τὸ μὴ ῥᾴδιον εἶναι ἰδεῖν τὴν προαίρεσιν ὁποία τις, διὰ ταῦτα ἐκ τῶν ἔργων ἀναγκαζόμεθα κρίνειν ποῖός τις. αἱρετώτερον μὲν οὖν ἡ ἐνέργεια, ἐπαινετώτερον δ᾿ ἡ προαίρεσις. ἔκ τε τῶν κειμένων οὖν συμβαίνει ταῦτα, καὶ ἔτι ὁμολογεῖται τοῖς φαινομένοις. Z. B. Grant 1866, 15: „[…] Aristotle takes up a floating term from common language, and gives it scientific definiteness, so that it becomes henceforth a psychological formula.“ Ähnlich auch Gauthier/Jolif 1970, 189. So auch Burnet 1900, 109 sowie Irwin 1980, 119 – 120.
4.3 Terminologische Bemerkungen zum Ausdruck „prohairesis“
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bezeichnet und von einer gewöhnlichen nicht-vorsätzlichen Mordtat unterschieden. Aristoteles selbst verwendet in der EE in einem Kontext, in dem er sich explizit auf die Gerichtspraxis bezieht, „πρόνοια“ als Synonym zu „προαίρεσις“.⁵⁵⁵ Dazu passt auch, dass der Ausdruck „προαίρεσις“ in antiken Texten am häufigsten in Prozessreden, vor allem bei Demosthenes, vorkommt.⁵⁵⁶ Bei Platon hingegen taucht der Ausdruck nur einmal auf (Prm. 143d – e), jedoch nicht in einer spezifischen (psychologischen) Bedeutung, sondern bloß als Bezeichnung für eine Wahl. Weil wir in den vorliegenden Passagen Aristoteles also gleichsam bei der Bestimmung eines neuen terminus technicus zuschauen können, ist die Frage einer passenden Wiedergabe besonders schwierig und umstritten, und die Vorlieben der Autoren gehen auseinander. Die hauptsächliche Schwierigkeit besteht darin, dass im Deutschen kein einzelner Ausdruck verfügbar ist, der alle Verwendungen von „προαίρεσις“ bei Aristoteles abdeckt und in allen Fällen als adäquat erscheint. An vielen Stellen sind „Entscheidung“ oder „Entschluss“ passende Übersetzungen, manchmal hingegen erweisen sich „Wahl“ oder „Vorsatz“ als geeigneter. Hinzukommt noch, dass Aristoteles häufig auch von dem korrespondierenden Verb – entweder in flektierter Form oder in Partizipialkonstruktionen⁵⁵⁷ – Gebrauch macht, und es wäre wünschenswert, dies auch in der Übersetzung abzubilden. Allerdings wirkt eine entsprechende Konstruktion mit Formen von „sich entschließen“ im Deutschen häufig künstlich, während eine Übersetzung mit „wählen“ natürlicher wäre. Aufgrund dieser Schwierigkeiten habe ich mich entschieden, in der Wiedergabe des aristotelischen Textes im Deutschen zwar eine Übersetzung zu favorisieren und überwiegend zu verwenden, von diesem Gebrauch aber jeweils abzuweichen, wenn der Kontext offenkundig eine andere Übersetzung nahelegt. Häufig werde ich bei der Kommentierung des Textes auch den griechischen Ausdruck in Umschrift beibehalten, um die Schwierigkeiten einer nicht voll-
Vgl. EE II 10, 1226b34– 1227a2: „[…] es [ist] notwendig, dass zwar alles, wozu man sich entschlossen hat, willentlich ist, dass aber das Willentliche nicht alles etwas ist, zu dem man sich entschlossen hat, und dass alles, was gemäß dem Entschluss ist, willentlich ist, das Willentliche aber nicht 〈alles〉 gemäß einem Entschluss ist. Daraus wird zugleich auch deutlich, dass die Gesetzgeber zu Recht zwischen willentlichen und unwillentlichen Unrechtstaten und solchen, die aus Vorbedacht geschehen, unterscheiden; denn auch wenn sie nicht vollkommen Recht haben, so berühren sie die Wahrheit doch auf eine Weise.“ Vgl. zum Hintergrund der Unterscheidung zwischen nicht-vorsätzlichen und vorsätzlichen Mordtaten im attischen Mordrecht: Maschke 1926; Lee 1937; Loomis 1972. Vgl. z. B. Demosthenes, 4. Phil. [or. 10]. Vgl. dazu Gauthier/Jolif 1970, 189 – 190. In den Abschnitten zur prohairesis in der EN und in der EE kommt das Verb als Partizip Medium (προαιρούμενον), als Partizip Passiv (προαιρετόν), als Infinitiv (προαιρεῖσθαι) oder als finite Verbformen (προαιρεῖται) vor.
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4 Die Textgrundlage zur Behandlung der prohairesis
kommen passenden Übersetzung zu vermeiden und eindeutig kenntlich zu machen, dass es sich um eine Auseinandersetzung mit Aristoteles’ Begriff der prohairesis handelt. Im Folgenden stelle ich die häufigsten Übersetzungen vor und erläutere deren jeweiligen Schwächen, um im Zuge dessen auch die Gründe für meine bevorzugte Wiedergabe im Deutschen mit „Entschluss“ darzulegen. Es lassen sich insgesamt drei Hauptkandidaten für eine mögliche Übersetzung von „προαίρεσις“ unterscheiden, und zwar im Deutschen ebenso wie z. B. im Englischen oder Französischen. Dies sind (1) „Wahl“ (choice, choix), (2) „Entschluss/ Entscheidung“ (decision, décision) und (3) „Vorsatz“ bzw. „Präferenz/Einstellung“ (purpose, intention).⁵⁵⁸ In den folgenden Abschnitten 4.3.1, 4.3.3 und 4.3.4 diskutiere ich die Übersetzungsfrage, indem ich die Vor- und Nachteile der verschiedenen Varianten erläutere. Die inhaltliche Frage, ob eine prohairesis für Aristoteles eine Auswahl zwischen mindestens zwei Alternativen voraussetzt, werde ich in einem gesonderten Abschnitt am Ende dieses Kapitels behandeln.⁵⁵⁹
4.3.1 Der erste Kandidat: „Wahl“ Für die Übersetzung mit „Wahl“ spricht, dass sich „προαίρεσις“ aus der Präposition „πρό“ und dem Substantiv „αἵρεσις“ zusammensetzt und Letzteres am besten mit „Wahl“ übersetzt wird. Auch Aristoteles selbst weist in der erläuternden Bemerkung, die er in der EN zur Etymologie von „προαίρεσις“ macht, darauf hin, dass es sich bei dem Ausdruck um ein Kompositum handelt, dessen einer Bestandteil „αἵρεσις“ ist: „Auch der Name scheint auf etwas hinzudeuten, das vor anderem gewählt wird.“⁵⁶⁰ Der etymologische Hinweis auf die Verwandtschaft mit dem Ausdruck „αἵρεσις“ liefert allerdings auch einen Grund, weshalb „προαίρεσις“ nicht mit „Wahl“ übersetzt werden sollte. Denn eine Wahl (hairesis) ist auch möglich, ohne eine Überlegung anzustellen, wie z. B. die Wahl,
Ich verzichte darauf, die Übersetzung mit „Wille“ mit einzubeziehen. In der Einleitung habe ich ausgeführt, weshalb ich es für verfehlt halte, Aristoteles die Annahme eines eigenständigen Willensvermögens zuzuschreiben und dieses möglicherweise mit der prohairesis zu identifizieren (vgl. Abschnitt „1.2.2 Der Begriff des (freien) Willens“). Da die Annahme eines Willens bei Aristoteles fehlt, sollte durch eine Übersetzung mit „Wille“ nicht suggeriert werden, dass die prohairesis möglicherweise ein unabhängiges Willensvermögen darstelllt. Vgl. Abschnitt „4.3.5 Diskussionsfrage: Setzt eine prohairesis die Wahl zwischen mindestens zwei Alternativen voraus?“. EN III 4, 1112a16 – 17: ὑποσημαίνειν δ᾿ ἔοικε καὶ τοὔνομα ὡς ὂν πρὸ ἑτέρων αἱρετόν.
4.3 Terminologische Bemerkungen zum Ausdruck „prohairesis“
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ob ich zuerst den rechten oder den linken Schuh anziehe. Einer prohairesis geht dagegen laut Aristoteles anscheinend immer eine Überlegung voraus.⁵⁶¹ Um diese Schwierigkeit zu vermeiden und eine prohairesis klar von einer hairesis zu unterscheiden, haben sich einige Autoren dazu entschlossen, mit Hilfe eines Attributs das Spezifische an der prohairesis gegenüber einer bloßen Wahl kenntlich zu machen. So finden sich z. B. die Übersetzungen „preferential choice“ (Hardie), „deliberate choice“ (Sorabji), „purposive choice“ (Kenny) sowie „überlegte Wahl“, „Vorzugswahl“ (Dirlmeier) oder „präferentielle Wahl“ (Rapp).⁵⁶² Diese Vorschläge haben zwar den Vorteil, „αἵρεσις“ von „προαίρεσις“ abzugrenzen und zugleich die Art des inhaltlichen Unterschieds sichtbar zu machen. Durch diese Wiedergabe von „προαίρεσις“ wird aber die Bedeutung, die Aristoteles gerade erst im Begriff ist zu entwickeln, bereits in die Übersetzung des Ausdrucks hineingelegt. Das möchte ich vermeiden, da sich mit einer Übersetzung aus der geläufigen Sprache m. E. besser nachvollziehen lässt, wie Aristoteles einem Ausdruck der damaligen Umgangssprache sukzessive eine spezifische Bedeutung beilegt.⁵⁶³ So vorzugehen, bedeutet indes nicht, dass eine der attributiv angereicherten Übersetzungen wie z. B. „preferential choice“ bzw. „präferentielle Wahl“ sachlich unzutreffend ist. Allerdings ist es eine weiterführende inhaltliche Frage, ob für Aristoteles eine prohairesis verschiedene Alternativen voraussetzt oder nicht. Zunächst geht es mir aber vorrangig nur um die Frage einer für die Zugänglichkeit des Textes passenden Übersetzung.
EE II 10, 1226b6 – 8. Vgl. auch Irwin 1999, 322 sowie Wolf 2006, 362: „Urmsons Vorschlag ‚choiceʻ (London 1990, 141 f.) berücksichtigt nicht, dass es Wählen auch ohne Überlegung gibt, etwa wenn man zwischen Himbeer- oder Aprikoseneis wählt, während zur prohairesis die Überlegung gehört.“ Hardie 1980; Sorabji 1973 – 74; Kenny 1979; Dirlmeier 1974. Rapp gebraucht den Ausdruck „präferentielle Wahl“ im Kommentar zur Verwendung von „προαίρεσις“ in Rhet. I 9, 1367b21– 26 (Rapp 2002, 423). Mit Hilfe dieses Ausdrucks erläutert Rapp, dass Aristoteles „προαίρεσις“ an dieser Stelle in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet, nämlich einerseits in einem handlungsbezogenen Sinn, wenn eine prohairesis als eine einzelne Entscheidung zu einer bestimmten Handlung zu verstehen ist, und andererseits in einem habituellen Sinn, wenn unter einer prohairesis mehrere Einzelentscheidungen zu verstehen sind, die in einer allgemeinen Einstellung bzw. Präferenz hinsichtlich eines Ziels zum Ausdruck kommen. Für Ersteres wählt Rapp die Bezeichnung „präferentielle Wahl“, für Letzteres „Präferenz/Einstellung“. Ähnlich Nielsen 2006, 12: „The technical term ‚prohairesisʻ requires a translation that distinguishes it from simple ‚choiceʻ, preferably without wearing its technical nature on its sleeve.“
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4.3.2 Diskussionsfrage: Was drückt die Vorsilbe im Kompositum „προαίρεσις“ aus? Bevor ich auf die beiden anderen Übersetzungsvarianten eingehe, lohnt es sich, noch den zweiten Bestandteil des Kompositums „προαίρεσις“ zu betrachten. Aus Aristoteles’ knapper Bemerkung zur Etymologie des Ausdrucks allein geht nicht klar hervor, in welcher Weise er die Verwendung von „πρό“ hier auffasst (wenn er überhaupt ein bestimmtes Verständnis beabsichtigt). Die Erläuterung „etwas vor etwas anderem zu wählen“ ist im Griechischen ebenso mehrdeutig wie im Deutschen (oder Englischen), und es lassen sich wenigstens drei Verständnisweisen unterscheiden.⁵⁶⁴ Mit der Präposition kann entweder ein zeitlicher oder räumlicher Vorrang gemeint sein, und zwar derart, dass (i) eine Sache, zu der man sich entschließt, (im zeitlichen oder räumlichen Sinn) vor einer anderen Sache ist, oder derart, dass (ii) das Sich-Entschließen zu einer Sache (im zeitlichen oder räumlichen Sinn) vor anderen Dingen stattfindet. Oder es (iii) ist möglich, dass schlicht das Vorziehen einer Sache gegenüber einer anderen Sache gemeint ist.⁵⁶⁵ Eine erste Entscheidungshilfe, welches Verständnis beabsichtigt sein könnte, bietet die Parallelstelle in der EE: „Auf eine Art macht es der Name selbst deutlich. Denn Entschluss ist Wahl, aber nicht ohne Qualifikation, sondern eines vor (pro) einem anderen.“⁵⁶⁶ Der Kontext der Stelle macht klar, dass ein Entschluss laut Aristoteles zugleich auf Wunsch und Meinung beruht, und die Etymologie des Ausdrucks „προαίρεσις“ soll verdeutlichen, inwiefern der Wunsch eine Rolle spielt und inwieweit die Meinung für einen Entschluss von Bedeutung ist. Dies legt nahe, dass mit der Verwendung von „πρό“ nicht im Sinn der Verständnisweise (ii) ausgedrückt werden soll, dass der Akt des Sich-Entschließens einer anderen Sache zeitlich oder räumlich vorrangig ist. Am meisten Befürworter hat in der Literatur die Verständnisweise (iii) gefunden. Die Schwierigkeit dabei ist jedoch, dass das Vorziehen einer Sache vor einer anderen vorauszusetzen scheint, dass in der Überlegung, die schließlich zu einem Entschluss führt, stets Alternativen verglichen werden, von denen am Ende eine einer oder mehreren anderen vorgezogen wird. Es ist allerdings denkbar, dass man sich zu etwas entschließt, ohne zuvor Alternativen verglichen zu haben, weil es entweder überhaupt keine
In der dreifachen Unterscheidung der Verständnisweisen folge ich Lorenz (Lorenz 2009a, 186 – 187). Vgl. z. B. Irwin 1999, 322: „Etymologically, prohairesis suggests ‚choosing (hairesis) beforeʻ. For Aristotle the ‚beforeʻ has a temporal sense (1113a2– 9), though no doubt also a preferential sense.“ EE II 10, 1226b6 – 8: δηλοῖ δέ πως καὶ τὸ ὄνομα αὐτό. ἡ γὰρ προαίρεσις αἵρεσις μὲν ἐστίν, οὐχ ἁπλῶς δέ, ἀλλ᾿ ἑτέρου πρὸ ἑτέρου· […].
4.3 Terminologische Bemerkungen zum Ausdruck „prohairesis“
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Alternative gibt oder weil keine der vorhandenen Alternativen einen Vergleich lohnt. Fasste man einen Entschluss jedoch als das Vorziehen einer Sache gegenüber einer anderen auf, so wären solche Fälle eines alternativlosen Entschlusses keine Entschlüsse im definitierten Sinn mehr. Dies spricht gegen die Verständnisweise (iii).⁵⁶⁷ Darauf könnte man erwidern, dass es bei jedem Entschluss zumindest zwei Alternativen gibt, da immer im mindesten die Wahl besteht, etwas zu tun oder nicht zu tun. Allerdings wäre dies für Aristoteles kein zulässiger Einwand, da die Wahl, nicht zu handeln, in seinen Augen keine Option ist, um das angestrebte Ziel des Handelns zu erreichen, und es sich somit um keine echte Alternative handelt. Um sich dies klar zu machen, mag ein Beispiel helfen. Für den Tapferen erweist sich eine tapfere Handlung, wie z. B. zu kämpfen, als eine Möglichkeit, tugendhaft zu handeln. In diesem Fall wäre es abwegig zu sagen, der Tapfere könne zwischen dem Kämpfen und dem Nicht-Kämpfen wählen, um eine tapfere Handlung zu vollziehen. Denn nicht zu kämpfen, ist für ihn keine Option, um das Ziel, tugendhaft zu handeln, zu erreichen. Da sich somit die zweite und dritte der genannten Verständnisweisen als problematisch erweisen, bleibt die erste Option übrig, nach der eine Sache, zu der man sich entschließt, im zeitlichen oder räumlichen Sinn vor einer anderen Sache steht. Es mag zunächst abwegig erscheinen, auch an die räumliche Vorrangigkeit zu denken, allerdings lässt sich diese verständlich machen, wenn man an Räumlichkeit im übertragenen Sinn denkt.⁵⁶⁸ Aristoteles beschreibt den Prozess des Überlegens, der zu einem Entschluss führt, als einen Prozess, bei dem jemand ausgehend von einem vorgegebenen Ziel die Schritte, die für das Erreichen des Ziels notwendig sind, ausfindig macht und so weit zurückverfolgt, bis er bei einer Handlung angekommen ist, die bei ihm liegt und die er direkt auszuführen in der Lage ist.⁵⁶⁹ Der Entschluss hat also diejenige Handlung zum Gegenstand, die für die handelnde Person insofern am besten und am einfachsten ist, als sie direkt bei ihr liegt und unmittelbar ausführbar ist; diese Handlung ist der erste nötige
Dies ist zugleich noch ein weiterer Grund, der gegen zusammengesetzte Übersetzungsvorschläge wie „preferential choice“ (Hardie) bzw. „präferentielle Wahl“ (Rapp) spricht. Vgl. zu diesem Vorschlag: Lorenz 2009a, 187– 188. Lorenz entwickelt den Vorschlag im Anschluss an eine Überlegung von Joachim; vgl. Joachim 1951, 100 – 101: „When we deliberate, we start with the conception of the end as something to be realized: and we work back by ἀνάλυσις (analysis), unravelling the series of steps (means) presupposed in the end qua accomplished. We carry this process of reflective analysis back until we reach a means here and now practicable for us. That is the last step reached by the deliberation, and it is the first step to be taken in act. It is what we προαιρούμεθα: and, in deciding to do it, we are deciding to do something which comes first in the series of means, which is πρὸ τῶν ἑτέρων αἱρετόν: to be adopted before the other steps leading to the end. It is on the way to the end.“ [Hervorhebung BL]. Vgl. EN III 5, 1112b15 – 20.
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Schritt, um letztlich das Ziel des Handelns erreichen zu können.⁵⁷⁰ Diese Deutung der Etymologie des Ausdrucks „προαίρεσις“ zeigt auf, dass Aristoteles zugleich die zeitliche und räumliche Vorrangigkeit im Auge gehabt haben könnte. Denn die Handlung, zu der eine Person sich entschließt, ist den folgenden Schritten, die letztlich zum Ziel des Handelns führen, sowohl in einem räumlichen Sinn (es ist die Handlung, die die Person unmittelbar auszuführen hat, die also nichts anderes mehr voraussetzt) als auch in einem zeitlichen Sinn vorrangig (es ist die Handlung, die die Person als erste, vor allen weiteren Schritten, auszuführen hat). Das Verständnis der räumlichen und zeitlichen Vorrangigkeit lässt sich an einem Beispiel veranschaulichen. Auch wenn ich damit über Aristoteles’ Ausführungen hinausgehe, denke ich, dass die Illustration im aristotelischen Sinn ist und daher verdeutlichen kann, wie wir uns den Überlegungsprozess, der zu einem Entschluss führt, vorstellen können. Denken wir an das Beispiel eines Arztes, der die Symptome des Patienten daraufhin untersucht, welche Krankheit ihnen zugrunde liegt und wodurch sich diese heilen lässt. Die Methoden der Heilung untersucht der Arzt so lange, bis er ein Mittel gefunden hat, mit dem er den Patienten unmittelbar, d. h. ohne weitere Untersuchungsschritte, behandeln kann. Der Arzt hat z. B. herausgefunden, dass dem Patienten als erstes Mittel, um ihn von seiner Krankheit zu heilen, ein Antibiotikum während der Dauer von sieben Tagen zu verabreichen ist. Das Antibiotikum dem Patienten zu geben, ist eine Handlung, über die der Arzt keine weiteren Überlegungen anzustellen hat und die er somit unmittelbar ausführen kann. An die Vergabe des Antibiotikums kann sich bei erwartetem Heilungsprozess eine nächste Behandlung anschließen, z. B. ein operativer Eingriff, nachdem das Antibiotikum eine Entzündung abgeschwächt hat und sich die Ursache der Schmerzen eindeutiger lokalisieren lässt. Die Vergabe des Antibiotikums ist dabei insofern im räumlichen und zeitlichen Sinn dem operativen Eingriff vorrangig, als der Arzt dem Patienten als erstes das entzündungshemmende Mittel gibt; erst im Anschluss daran, wenn das Mittel seine erhoffte Wirkung zeigt, nimmt der Arzt den operativen Eingriff vor. Das Beispiel zeigt überdies, dass eine Handlung, die sich unmittelbar umsetzen lässt, keine einfache Handlung sein muss, sondern durchaus komplex sein kann, indem sie sich aus verschiedenen Einzelhandlungen zusammensetzt; und das Beispiel zeigt auch, dass die Handlung sich über eine zeitliche Dauer erstrecken kann. Der operative Eingriff ist dagegen der Vergabe des Antibiotikums zeitlich und räum Dafür ist es nicht notwendig, dass die Handlung, die der Entschluss zum Gegenstand hat, im zeitlichen Sinn unmittelbar auszuführen ist. Es kann sich auch um eine Handlung handeln, die erst später erfolgt; unmittelbar ist sie in dem Sinn, dass für die Handlung keine andere vorausgehende Handlung nötig ist und es lediglich die Gelegenheit, zu handeln, abzuwarten gilt (vgl. Broadie 1991, Anm. 4, 260).
4.3 Terminologische Bemerkungen zum Ausdruck „prohairesis“
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lich nachgeordnet, denn der Arzt kann erst dann sinnvollerweise operieren, wenn das Antibiotikum nach einer Woche seine erhoffte Wirkung zeigt. Vorher ist die Operation keine Handlung, die der Arzt unmittelbar ausführen kann. Trotzdem ist es denkbar, dass der Arzt den Schritt des operativen Eingriffs im Zuge seines Überlegens, das auf das Ziel, den Patienten zu heilen, gerichtet ist, bereits gefunden hat. Der Arzt könnte daher dem Patienten das Antibiotikum in der Erwartung geben, dass bei normalem Verlauf des Heilungsprozesses im Anschluss operiert werden kann. In diesem Fall setzt der Arzt nach der Verabreichung des Antibiotikums seine Behandlung mit derjenigen Handlung fort, die er im Überlegungsprozess schon als vorletzten Schritt gefunden hatte und die sich nunmehr direkt umsetzen lässt. Sollte das Antibiotikum hingegen nicht die erwartete Wirkung zeigen, so muss der Arzt ausgehend von der veränderten Situation von Neuem überlegen, wie der Patient zu heilen ist, bis er eine andere Handlung gefunden hat, die er unmittelbar umsetzen kann.
4.3.3 Der zweite Kandidat: „Entschluss“ oder „Entscheidung“? Kommen wir zurück zu den verbleibenden Übersetzungsvorschlägen für „προαίρεσις“. Die am häufigsten verwendete Übersetzung im Englischen ist, soweit ich sehe, „decision“⁵⁷¹, dem im Deutschen „Entschluss“ oder „Entscheidung“ am nächsten kommen. Dieser Vorschlag passt gut zu der Beschreibung, die Aristoteles vom Zustandekommen einer prohairesis gibt. Ein Entschluss beruht demnach auf einem Überlegungsprozess, der mit dem Entschluss sein Ende erreicht. Ausgehend von einem Ziel hat die handelnde Person die nötigen Schritte für das Erreichen des Ziels ausfindig gemacht und auf eine Handlung zurückgeführt, die direkt bei ihr liegt. Diese Handlung auszuführen, ist Gegenstand ihres Entschlusses. Die Handlung ist der Überlegung der handelnden Person zufolge das unmittelbare Mittel, um das Ziel zu erreichen. So ist es z. B. mein Ziel, ein schweres Essen zügig zu verdauen, und wenn ich herausgefunden habe, dass dafür Bewegung ein gutes Mittel ist, so entschließe ich mich z. B. dazu, nach dem Essen einen Spaziergang zu machen. Zwischen den Übersetzungen „Entscheidung“ und „Entschluss“ scheint im Deutschen womöglich auf den ersten Blick kein bedeutsamer Unterschied zu
Vgl. Irwin 1999 sowie Rowe 2002. Im Anschluss an die Übersetzung von Irwin und Rowe wählen viele Autoren „decision“ als Übersetzung. Auch Gauthier/Jolif gebrauchen in ihrer Übersetzung das französische Äquivalent „décision“.
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4 Die Textgrundlage zur Behandlung der prohairesis
bestehen.⁵⁷² Das liegt vermutlich daran, dass die Ausdrücke in der Tat eine synonyme Verwendung haben und sich in diesen Fällen austauschbar gebrauchen lassen. Allerdings ist das Bedeutungsspektrum von „Entscheidung“ bzw. „(sich) entscheiden“ weiter als das von „Entschluss“, wie sich anhand einiger Beispiele illustrieren lässt. Ich werde letztlich „Entschluss“ als Übersetzung den Vorzug geben, weil genau diejenigen Verwendungen von „Entscheidung“ eine passende Wiedergabe von „προαίρεσις“ sind, in denen „Entscheidung“ als Synonym zu „Entschluss“ gebraucht wird, wohingegen manche anderen Verwendungen von „Entscheidung“ im Deutschen nicht zu Aristoteles’ Bestimmung einer prohairesis passen. Die Bedeutungsunterschiede zwischen „Entschluss“ und „Entscheidung“ lassen sich dabei am besten anhand der zugehörigen Verben demonstrieren: Der Vergleich der Verben zeigt, dass „entschließen“ im Unterschied zu „entscheiden“ nur einen reflexiven Gebrauch hat, während „entscheiden“ sowohl reflexiv als auch nicht-reflexiv vorkommen kann. Das Verb „entschließen“ lässt sich reflexiv auf zwei Arten gebrauchen, und zwar entweder mit einer Infinitivkonstruktion oder in Verbindung mit einem Präpositionalobjekt; dabei lassen sich die Sätze, in denen „sich entschließen“ vorkommt, leicht in eine gleichbedeutende Wendung mit „Entschluss“ übertragen: (i) „Peter entschließt sich, das Auto zu verkaufen.“ „Peter fasst den Entschluss, das Auto zu verkaufen. (ii) „Der Präsident entschließt sich zum Rücktritt“. „Der Präsident kommt zu dem Entschluss, zurückzutreten.“
In diesen Sätzen kann „sich entschließen“ durch „sich entscheiden“ bzw. eine Umformulierung mit „Entscheidung“ ersetzt werden, ohne dass sich die Bedeutung der Sätze verändert. Die Verben bringen jeweils zum Ausdruck, dass jemand nach einem gewissen Überlegungsprozess zu einem abschließenden Urteil gekommen ist. Peter hat sich beispielweise die Vor- und Nachteile eines eigenen Autos vor Augen geführt und ist letztlich zum Schluss gekommen, dass er auch ohne Auto gut zurechtkommt, stattdessen das Fahrrad häufiger nutzen kann, keine schädlichen Abgase produziert und zudem Kosten spart. Der reflexive Gebrauch verlangt allerdings nicht, dass dem Fassen eines Entschlusses ein längerer und reiflicher Überlegungsprozess vorausgegangen ist:
In der deutschsprachigen Literatur findet „Entscheidung“ häufiger Verwendung als „Entschluss“. Ein Befürworter der Übersetzung „Entschluss“ ist Ebert (vgl. z. B. Ebert 2006, 173 und 175).
4.3 Terminologische Bemerkungen zum Ausdruck „prohairesis“
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Es scheint auch möglich zu sein, zu sagen, man entschließe (bzw. entscheide) sich spontan für (bzw. zu) etwas: (iii) „Ich entschließe mich, früher zu gehen.“ bzw. „Ich fasse den Entschluss, früher zu gehen.“ (iv) „Ich entscheide mich, früher zu gehen.“ bzw. „Ich treffe die Entscheidung, früher zu gehen.“
In meinen Augen lassen sich sowohl die Sätze in (iii) als auch die in (iv) so verstehen, dass auf spontane Weise und ohne vorhergehende Überlegung eine Entscheidung bzw. ein Entschluss erzielt wird. Allerdings gilt dies m. E. in stärkerem Maß für „sich entscheiden“ als für „sich entschließen“, da Letzteres eher dazu geeignet ist, anzudeuten, dass dem gefassten Entschluss ein Abwägen zwischen Alternativen vorausgegangen ist und er somit nicht leichtfertig oder spontan aus einer Augenblickslaune heraus getroffen wurde. Des Weiteren gibt es synonyme Verwendungen von „entscheiden“ und „entschließen“, in denen „entscheiden“ sowohl reflexiv als auch nicht-reflexiv gebraucht werden kann: (v) „Eva entschließt sich, den Antrag anzunehmen.“ (vi) „Eva entscheidet sich, den Antrag anzunehmen.“ (vii) „Eva entscheidet, den Antrag anzunehmen.“
In den Sätzen (v) und (vi) scheinen synonyme Verwendungen vorzuliegen. Eine leicht andere Färbung hat dagegen die nicht-reflexive Formulierung in (vii), die nur mit „entscheiden“ möglich ist: Der reflexive Gebrauch legt nahe, dass Eva direkter von dem Antrag betroffen ist und es daher auch primär bei ihr liegt, darüber zu befinden, wohingegen die nicht-reflexive Verwendung eher darauf hindeutet, dass Eva qua Amt oder Funktion über die Annahme des Antrags befindet.⁵⁷³ Neben diesen synonymen Gebrauchsweisen kann „entscheiden“ auch in verschiedenen Verwendungen vorkommen, in denen keine Substitution durch
Eine ähnliche unterschiedliche Färbung scheint z. B. zwischen den beiden folgenden Sätzen zu bestehen: (a) „Der Richter entscheidet, dass er auf Bewährung freikommt.“ und (b) „Der Richter entschließt sich dazu, ihn auf Bewährung freizulassen.“. Mit der nicht-reflexiven Verwendung in Satz (a) scheint stärker auf den Urteilsspruch Bezug genommen zu werden und es wird eher beleuchtet, was der Richter qua Amt entschieden hat. Mit der reflexiven Verwendung in Satz (b) wird dagegen mehr betont, dass der Richter zu einem bestimmten Entschluss gelangt ist; beleuchtet wird also primär, zu welchem Ergebnis der Richter aufgrund seiner Beurteilung gekommen ist.
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4 Die Textgrundlage zur Behandlung der prohairesis
„entschließen“ möglich ist. Die folgenden Beispiele verdeutlichen die vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten und das weitere Bedeutungsfeld von „entscheiden“: (viii) (ix) (x) (xi) (xii) (xiii) (xiv) (xv) (xvi)
„Das Gericht entscheidet den Fall.“ „Die rote Karte hat das Spiel entschieden.“ „Das Gericht entscheidet über das Sorgerecht.“ „Die Erben entscheiden gemeinsam über die Aufteilung des Erbes.“ „Der Richter entscheidet, dass der Gefangene auf Bewährung freikommt.“ „Die Zulassungsprüfung entscheidet, wer einen Studienplatz bekommt.“ „Hier entscheide ich!“ „Das Los entscheidet.“ „Morgen wird sich alles entscheiden.“
Die Sätze führen die verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten von „entscheiden“ vor Augen: Das Verb kann mit einem Akkusativobjekt stehen (viii), es kann mit einem Präpositionalobjekt⁵⁷⁴ vorkommen (ix), oder es kann mit einem Nebensatz stehen (x), der durch „dass“ oder ein Interrogativpronomen eingeleitet wird. Dass hier „entscheiden“ jeweils nicht durch „entschließen“ ersetzt werden kann, liegt zum einen an der nicht-reflexiven Verwendung, zum anderen kommen als Subjektausdruck zu „entschließen“ nur Bezeichnungen von Personen in Frage. In Verbindung mit Bezeichnungen für Institutionen (wie z. B. „Gericht“, „rote Karte“, „Zulassungsprüfung“) ist „entschließen“ dagegen unpassend. Schließlich kann „entscheiden“ im Unterschied zu „entschließen“ auch ohne weitere Ergänzung stehen wie in (xi) und (xii). Das letzte Beispiel zeigt überdies, dass es von „entscheiden“ auch reflexive Verwendungen gibt, in denen der Subjektausdruck keine Person bezeichnet, was bei „entschließen“ nicht möglich ist. Die Beispiele illustrieren die vielseitige Verwendungsweise von „entscheiden“, die über das Bedeutungsfeld von „entschließen“ hinausgeht. Dabei handelt es sich genau in den Sätzen um Fälle, in denen sich von einer prohairesis im aristotelischen Sinn sprechen lässt, bei denen „entscheiden“ synonym zu „entschließen“ gebraucht wird. Dies sind solche Fälle, in denen das Verb reflexiv vorkommt, wodurch erstens ein engerer Zusammenhang zwischen dem Subjekt und dem Entschluss zum Ausdruck kommt und zweitens (häufig) auch eine stärkere Verbindung zum Inhalt des Entschlusses angedeutet wird. Zu sagen, dass sich jemand entschlossen hat, mit dem Rauchen aufzuhören, erweckt mitunter beim Hörer stärker den Eindruck, dass dem Entschluss auch unmittelbar entsprechende Handlungen folgen werden, als wenn man sagt, dass sich jemand
Im nicht-reflexiven Gebrauch ist „entscheiden“ meist durch „über“ mit dem Präpositionalobjekt verbunden.Verbindet dagegen die Präposition „zu“ das Verb mit dem Präpositionalobjekt, so ist „entscheiden“ reflexiv zu gebrauchen („Sie entscheidet sich zum Kauf.“).
4.3 Terminologische Bemerkungen zum Ausdruck „prohairesis“
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dazu entscheidet, mit dem Rauchen aufzuhören. Letzteres lässt sich eher als Ersteres auch im Sinn eines löblichen Vorsatzes auffassen, den umzusetzen der Sprecher sich zwar vornimmt, aber nicht zwangsläufig auch ab sofort in seinen Handlungen beherzigt. Diese Überlegungen zur unterschiedlichen Verwendungsweise von „Entscheidung“ und „Entschluss“ im Deutschen sollten zeigen, weshalb zwar häufig beide Ausdrücke (bzw. die entsprechenden Verben) adäquate Übersetzungen für „προαίρεσις“ sein können; „Entschluss“ ist wegen seiner engeren Bedeutung aber der geeignetere Ausdruck, da die enge Bedeutung derjenigen Bedeutung, die „προαίρεσις“ in Aristoteles’ Bestimmung erhält, sehr nahekommt.
4.3.4 Der dritte Kandidat: „Vorsatz“ Könnte trotzdem etwas gegen die Übersetzung mit „Entschluss“ bzw. „decision“ sprechen, obwohl diese Wortwahl offenbar sachlich gut zu Aristoteles’ Verwendung passt? Man könnte das Bedenken hegen, dass an manchen Stellen, an denen Aristoteles „προαίρεσις“ oder Formen des zugehörigen Verbs „προαιρεῖσθαι“ verwendet, die Übersetzung mit „Entschluss“ oder den entsprechenden Verbformen im Deutschen nicht geeignet erscheint. Das gilt für Stellen, an denen er „προαίρεσις“ in dem gewöhnlichen Sinn verwendet, wie er in der griechischen Umgangssprache geläufig war. Diese gewöhnliche Gebrauchsweise des Ausdrucks kommt wiederholt in EN I vor, so z. B. gleich im ersten Satz: [EN I 1, 1094a1– 2]⁵⁷⁵ Jede Kunstfertigkeit und jede Untersuchung, gleichermaßen jede Handlung und jeder Vorsatz (prohairesis) scheinen, nach einem Gut zu streben.
Hier hat der Ausdruck eine allgemeinere Bedeutung als Entschluss: ⁵⁷⁶ Unter einer prohairesis ist vielmehr ein allgemeiner Vorsatz⁵⁷⁷ zu verstehen.⁵⁷⁸
EN I 1, 1094a1– 2: πᾶσα τέχνη καὶ πᾶσα μέθοδος, ὁμοίως δὲ πρᾶξίς τε καὶ προαίρεσις, ἀγαθοῦ τινὸς ἐφίεσθαι δοκεῖ· [Hervorhebung BL]. Der Unterschied zwischen einem Entschluss und einem Vorsatz besteht dabei in meinen Augen darin, dass wir unter einem Vorsatz etwas Allgemeineres verstehen, und zwar insofern ein Vorsatz etwas weniger Spezifiziertes zum Gegenstand hat als ein Entschluss und deswegen auch weniger direkt in eine Handlung umsetzbar ist als etwas, wozu man sich entschließt. So könnte jemand z. B. den Vorsatz fassen, im nächsten Jahr einen Marathon zu laufen. Einen Marathon zu laufen, ist aber im Normalfall und für die meisten Menschen keine Handlung, die sich erfolgreich unmittelbar umsetzen lässt. Entsprechend diesem Vorsatz würde die Person sich vielmehr zunächst z. B. dazu entschließen, sich für den Frankfurter Marathon im Herbst anzumelden, einen
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4 Die Textgrundlage zur Behandlung der prohairesis
Anders verhält es sich hingegen mit Stellen, an denen mit „προαίρεσις“ oder „προαιρεῖσθαι“ zwar kein bestimmter einzelner Entschluss bezeichnet wird, die Ausdrücke aber gleichwohl die spezifische Bedeutung von Entschluss haben, wobei sie in verallgemeinerndem Sinn gebraucht werden. Diese Verwendung kommt z. B. in EN III 4 im Kontext der Bestimmung der prohairesis vor:⁵⁷⁹ [EN III 4, 1111b13 – 15]⁵⁸⁰ Auch handelt der Unbeherrschte aus Begehren, aber nicht aus einem Entschluss heraus; der Beherrschte dagegen [handelt] aus einem Entschluss, aber nicht aus Begehren heraus.
Aristoteles gibt hier eine allgemeine Charakterisierung des Unbeherrschten und des Beherrschten, so dass klar ist, dass nicht ein bestimmter einzelner Entschluss gemeint sein kann. Allerdings ist „προαιρεῖσθαι“ deshalb nicht in der gewöhnlichen Bedeutung der Umgangssprache zu verstehen, sondern gemeint ist eine Zusammenfassung verschiedener einzelner Entschlüsse, die für den Beherrschten bzw. den Unbeherrschten charakteristisch sind. Damit ist „Entschluss“ hier die treffende Übersetzung, und es ist nicht erforderlich, anders zu übersetzen. Eine andere Verständnisschwierigkeit für die zitierte Passage kann sich indes ergeben, wenn man wie Wolf „προαιρούμενος δ᾿ οὔ“ hier mit „nicht mit Vorsatz“ übersetzt. Dadurch wird nämlich suggeriert, dass der Unbeherrschte ohne eine prohairesis handelt. Dies ist jedoch irreführend, da der Unbeherrschte jeweils durchaus auch über eine prohairesis verfügt, er dieser aber in seinem Handeln nicht folgt, sondern aus seinen Begierden heraus handelt.⁵⁸¹ Dem Missverständnis, dass der Unbeherrschte ohne prohairesis handelt, kann vorgebeugt werden, indem man das Partizip im Griechischen kausal versteht und z. B. mit „nicht aus einem Entschluss heraus“ wiedergibt. Es fällt auf, dass Aristoteles an Stellen wie der zitierten nicht das Substantiv „προαίρεσις“, sondern jeweils das zugehörige Verb in
Trainingsplan zu erstellen, sich neue Laufschuhe zu kaufen und sich dem Trainingsplan folgend auf das Rennen vorzubereiten. Für „Vorsatz“ als allgemeine Übersetzung von „προαίρεσις“ entscheidet sich Wolf 2006. Sie folgt damit Lasson in seiner Übersetzung der EN (1909) und Bonitz in dessen Übersetzung der Metaphysik. In der gleichen allgemeinen Bedeutung, die auf dem gewöhnlichen Sprachgebrauch beruht, kommt „προαίρεσις“ in EN I z. B. auch an folgenden Stellen vor: 1095a14– 15 sowie 1097a20 – 21. In gleicher Weise ist „προαιρεῖσθαι“ z. B. auch in EN VII 6, 1148a4– 11 sowie EN VII 8, 1150a23 – 27 als Verallgemeinerung einzelner Entschlüsse zu verstehen. EN III 4, 1111b13 – 15: καὶ ὁ ἀκρατὴς ἐπιθυμῶν μὲν πράττει, προαιρούμενος δ᾿ οὔ· ὁ ἐγκρατὴς δ᾿ ἀνάπαλιν προαιρούμενος μέν, ἐπιθυμῶν δ᾿ οὔ. Vgl. zu Aristoteles’ Behandlung des Unbeherrschten und des Beherrschten Abschnitt „11.5 Zurechenbarkeit der Handlungen des Unbeherrschten und des Beherrschten“.
4.3 Terminologische Bemerkungen zum Ausdruck „prohairesis“
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negierter Form im Infinitiv⁵⁸² oder im Partizip⁵⁸³ gebraucht. Diese Formulierungen lassen ohne Weiteres ein kausales Verständnis zu, und sie sind vereinbar mit dem Fall, dass eine Person zwar einen Entschluss hat, aber nicht aufgrund dieses Entschlusses handelt, sondern aus einer anderen Motivation heraus, wie z. B. einem Begehren. Aufschlussreich für Aristoteles’ doppelte Verwendungsweise von „προαίρεσις“ ist eine Stelle aus der Rhetorik, wo er den Ausdruck in zwei aufeinanderfolgenden Zeilen in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet, nämlich zunächst als Bezeichnung für einen einzelnen Entschluss und kurz darauf als Bezeichnung für eine habituelle Einstellung oder Tendenz (im Zitat übersetzt mit „Entschlusstendenz“), die sich nicht auf eine einzelne Handlung bezieht⁵⁸⁴: [Rhet. I 9, 1367b21– 26]⁵⁸⁵ Weil das Lob aufgrund von Handlungen erfolgt und weil es die Eigentümlichkeit einer rechtschaffenen Person ist, dem Entschluss entsprechend (kata prohairesin) zu handeln, muss man zu zeigen versuchen, dass sie einem Entschluss entsprechend gehandelt hat. Es ist aber nützlich, als jemand zu erscheinen, der schon oft so gehandelt hat. Deswegen muss
Vgl. EN VII 6, 1148a4– 11: „Unter denen aber, die mit körperlichen Genüssen zu tun haben – dem Gegenstandsbereich des Mäßigen und Unmäßigen, wie wir sagen –, wird derjenige, der das Übermaß des Lustvollen nicht aus einem Entschluss heraus verfolgt und schmerzvolle Dinge, Hunger, Durst, Hitze, Kälte und allgemein die Gegenstände des Tastens und Schmeckens, [nicht aus einem Entschluss heraus] meidet, sondern dies gegen den Entschluss und die Überlegung tut, unbeherrscht genannt, und zwar nicht mit einem Zusatz, dass er unbeherrscht in dieser oder jener Hinsicht ist, z. B. hinsichtlich des Zorns, sondern bloß schlechthin.“ [τῶν δὲ περὶ τὰς σωματικὰς ἀπολαύσεις, περὶ ἃς λέγομεν τὸν σώφρονα καὶ ἀκόλαστον, ὁ μὴ τῷ προαιρεῖσθαι τῶν ἡδέων διώκων τὰς ὑπερβολάς – καὶ τῶν λυπηρῶν φεύγων, πείνης καὶ δίψης καὶ ἀλέας καὶ ψύχους καὶ πάντων τῶν περὶ ἁφὴν καὶ γεῦσιν – ἀλλὰ παρὰ τὴν προαίρεσιν καὶ τὴν διάνοιαν, ἀκρατὴς λέγεται, οὐ κατὰ πρόσθεσιν, ὅτι περὶ τάδε, καθάπερ ὀργῆς, ἀλλ᾿ ἁπλῶς μόνον. Hervorhebung BL]. Vgl. EN VII 8, 1150a23 – 27: „Gleichermaßen verhält es sich auch mit demjenigen, die die körperlichen Schmerzen nicht meidet, weil er [ihnen] unterliegt, sondern der dies aus einem Entschluss heraus tut.Von denen aber, die nicht aus einem Entschluss heraus handeln, handelt der eine aufgrund von Lust, der andere zur Vermeidung von Schmerz, die aus der Begierde entsteht, so dass diese beiden sich voneinander unterscheiden.“ Übersetzung mit Änderungen nach Wolf. [ὁμοίως δὲ καὶ ὁ φεύγων τὰς σωματικὰς λύπας μὴ δι᾿ ἧτταν ἀλλὰ διὰ προαίρεσιν. τῶν δὲ μὴ προαιρουμένων ὃ μὲν ἄγεται διὰ τὴν ἡδονήν, ὃ δὲ διὰ τὸ φεύγειν τὴν λύπην τὴν ἀπὸ τῆς ἐπιθυμίας, ὥστε διαφέρουσιν ἀλλήλων. Hervorhebung BL]. Vgl. Rapp 2002, 423. Rhet. I 9, 1367b21– 26: ἐπεὶ δ᾿ ἐκ τῶν πράξεων ὁ ἔπαινος, ἴδιον δὲ τοῦ σπουδαίου τὸ κατὰ προαίρεσιν, πειρατέον δεικνύναι πράττοντα κατὰ προαίρεσιν. χρήσιμον δὲ τὸ πολλάκις φαίνεσθαι πεπραχότα· διὸ καὶ τὰ συμπτώματα καὶ τὰ ἀπὸ τύχης ὡς ἐν προαιρέσει ληπτέον· ἂν γὰρ πολλὰ καὶ ὅμοια προφέρηται, σημεῖον ἀρετῆς εἶναι δόξει καὶ προαιρέσεως. Die Übersetzung beruht mit Veränderungen auf derjenigen Rapps (Rapp 2002). Die Änderungen betreffen meine Übersetzung von „προαίρεσις“.
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4 Die Textgrundlage zur Behandlung der prohairesis
man auch die zufälligen Begebenheiten und die aufgrund eines glücklichen Geschicks als auf einem Entschluss beruhend nehmen; wenn nämlich vieles und Ähnliches vorgebracht wird, wird es als Zeichen der Tugend und der Entschlusstendenz (prohaireseôs) erscheinen.
Rapp bemerkt zu dieser Stelle zu Recht, dass der Ausdruck „προαίρεσις“ bei seinem letzten Vorkommen nicht im Sinn eines einzelnen Entschlusses zu verstehen ist, da viele und ähnliche Entschlüsse nicht Zeichen eines einzelnen Entschlusses sein können. Hier ist unter einer prohairesis vielmehr eine allgemeine Einstellung bzw. eine Präferenz zu verstehen, die in vielen ähnlichen einzelnen Entschlüssen zum Ausdruck kommt und daher ein Zeichen für diese zahlreichen einzelnen Entschlüsse ist.⁵⁸⁶ Da man, wie wir gesehen haben, nicht an allen Stellen mit einer einzigen Übersetzung für „προαίρεσις“ durchkommt, ohne dass die Übersetzung manchmal unpassend erscheint, verwende ich nicht ausschließlich eine Übersetzung.⁵⁸⁷ Allerdings halte ich überwiegend an der Übersetzung mit „Entschluss“ fest, da ich sie für die sachlich treffendste halte und sie an den meisten Stellen passt. In bestimmten Kontexten, in denen dagegen eindeutig in der gewöhnlichen Bedeutung der Umgangssprache von einer prohairesis gesprochen wird, ziehe ich den Ausdruck „Vorsatz“ vor.⁵⁸⁸ Außerdem werde ich häufig auch schlicht am griechischen Ausdruck in Umschrift festhalten.
4.3.5 Diskussionsfrage: Setzt eine prohairesis die Wahl zwischen mindestens zwei Alternativen voraus? In Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen möglichen Verständnisweisen von Aristoteles’ etymologischer Bemerkung zum Ausdruck „προαίρεσις“, derzufolge bei einer prohairesis etwas vor etwas anderem gewählt wird, ist bereits die Frage zur Sprache gekommen, ob dies Grund zu der Annahme ist, dass jede prohairesis die Wahl zwischen mindestens zwei Alternativen voraussetzt. Von
Vgl. Rapp 2002, 423: „Der Begriff der ‚προαίρεσιςʻ hat bei Aristoteles einen handlungsbezogenen (die präferentielle Wahl, aufgrund der eine freiwillige und bewusste Handlung zustande kommt) und einen habituellen Aspekt (die Präferenz/Einstellung, die in zahlreichen Entscheidungen mit demselben Ziel verwirklicht wird).“ Dieses Vorgehen wählt z. B. Ross in seiner Übersetzung (Ross 1998, Anm. 2 ad loc. 1111b5): „προαίρεσις is a very difficult word to translate: Sometimes ‚intentionʻ, ‚willʻ, or ‚purposeʻ would bring out the meaning better; but I have for the most part used ‚choiceʻ.“ Ähnlich auch Pakaluk in seinem Kommentar (2005, 135). Wenn das der Fall ist, mache ich das in einer Fussnote oder durch Ergänzen des griechischen Ausdrucks kenntlich.
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dieser Annahme ging die Verständnisweise (ii) aus, nach der unter einer prohairesis das Vorziehen einer Sache gegenüber einer anderen zu verstehen ist. Ich hatte mich gegen die Verständnisweise (ii) ausgesprochen, weil ich diese Annahme für sachlich unplausibel halte und es mir nicht berechtigt erscheint, sie Aristoteles zuzuschreiben. Sachlich unplausibel ist die Annahme, weil sie ausschließt, dass jemand zu einer prohairesis gelangt und aus dieser heraus handelt, wenn ihm nur eine einzige Alternative zu handeln zur Verfügung steht. Wenn die Möglichkeit einer prohairesis immer von einer Situation mit mindestens zwei Alternativen abhinge, könnte auch der Tugendhafte nur dann aus einer prohairesis heraus und damit tugendhaft handeln, wenn er die Wahl zwischen mindestens zwei Alternativen hat. Diese Folgerung wäre aus aristotelischer Sicht unerwünscht, und sie sollte ihm nicht ohne Weiteres zugeschrieben werden. Da dieser Punkt für ein besseres Verständnis der prohairesis wichtig ist, komme ich nochmals auf die Frage zurück, ob jede prohairesis die Wahl zwischen mindestens zwei Alternativen voraussetzt, betrachte diesmal aber die Schwierigkeit noch aus einer anderen Perspektive. Ausgangspunkt meiner Überlegung ist Aristoteles’ Gebrauch der Präposition „ἀντί“, die er gern und häufig verwendet, um zu beschreiben, worin eine Wahl, insbesondere eine prohairesis, besteht. Allgemein formuliert besteht ihm zufolge eine Wahl in dem Wählen von etwas anti etwas anderem. Wichtig ist nun, wie Aristoteles’ Gebrauch von „ἀντί“ hier zu verstehen ist und wie wir die Präposition dementsprechend übersetzen sollten. Allgemein lässt sich „ἀντί“ im Deutschen mit „gegenüber“ wiedergeben. In diesem Sinn kann die Präposition dazu dienen, die Gegenüberstellung eines Aspekts gegenüber einem anderen Aspekt auszudrücken. Das lässt noch offen, was einander gegenübergestellt wird und in welcher Weise dies einander gegenübergestellt wird. Mit der Wahl einer spezifischen Übersetzung für „ἀντί“ wird jedoch ein bestimmtes Verständnis nahegelegt, was wiederum Folgen für unser Verständnis der Art und der Bedingungen einer jeweiligen Wahl haben kann. Luraghi schreibt zum Gebrauch von „ἀντί“: „In all other writers, starting with Homer, antí only occurs with its abstract meaning ‚insteadʻ, ‚in return forʻ, ‚in exchange forʻ.“⁵⁸⁹ Diesen Bedeutungen entsprechen im Deutschen Übersetzungen mit „anstelle von“, „als Preis für“, „im Austausch gegen“. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass an bestimmten Stellen die Über-
Luraghi 2003, 165. Wenn Luraghi von allen anderen Autoren spricht, so soll von der allgemeinen Aussage als Sonderfall Xenophon ausgenommen sein.
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setzung mit „anstelle von“ irreführend ist, und stattdessen einer Wiedergabe mit „als Preis für“ der Vorzug zu geben ist.⁵⁹⁰ Betrachten wir zunächst ein Beispiel dafür, wie Aristoteles „ἀντί“ für die Beschreibung einer Wahl verwendet, und zwar eine Passage in EN III 1, in der er festhält, in welcher Weise gemischte Handlungen sich zugleich als willentlich und unwillentlich bezeichnen lassen: [EN III 1, 1110b3 – 5]⁵⁹¹ Solche [sc. gemischten Handlungen; BL] sind schlechthin unwillentlich, jetzt und gegenüber diesen Dingen (anti tônde) aber werden sie gewählt, und der Ursprung liegt im Handelnden; schlechthin aber sind sie unwillentlich, jetzt und gegenüber diesen Dingen (anti tônde) sind sie willentlich.
Eine gemischte Handlung wird hier als willentlich charakterisiert, weil sie „hier und gegenüber diesen Dingen“ gewählt wird. Für uns ist an dieser Stelle die Frage zentral, wie die Wahl, die die handelnde Person vor ihrer gemischten Handlung zwischen dieser Handlungsweise gegenüber anderen Dingen trifft, genau zu verstehen ist: Wählt die Person zwischen zwei (oder mehr) Handlungsweisen, so dass sie eine Handlung anstelle einer (oder mehrerer) anderer wählt? Oder wählt die Person eine Handlung trotz der damit verbundenen Nachteile bzw. zum Preis der Nachteile, die mit der Handlung einhergehen? Rapp übersetzt in 1110b4 „ἀντὶ τῶνδε“ mit „anstelle von“, so dass der Satz so zu verstehen ist, dass bei gemischten Handlungen zwischen zwei Handlungsweisen gewählt wird, von denen eine gewählt und eine andere verworfen wird.⁵⁹² So wählt der Kapitän z. B. das Überbordwerfen der Güter anstelle des Weiterfahrens mit vollbepacktem Schiff, was den Untergang von Schiff und Mannschaft bedeutet. Rapp fasst die Wahl, die laut dieser Beschreibung einer gemischten Handlung zugrunde liegt, somit als Wahl zwischen mindestens zwei Alternativen auf. Eine prohairesis ist ihm zufolge stets ein Sich-Entschließen zu einer Alter-
Dass Aristoteles „ἀντί“ auch in dieser Bedeutung verwendet, nimmt auch Hardie an, wenn er die Zeilen 1110a29 – 30 folgendermaßen übersetzt (Hardie 1979, 45): „[…] it is difficult sometimes to determine what should be chosen at what cost, and what should be endured in return for what gain“. Hardie übersetzt hier „ἀντί“ nicht mit „instead“, sondern einmal mit „at what cost“ und einmal mit „in return for what gain“, was meiner Wiedergabe mit „als Preis für“ entspricht. EN III 1, 1110b3 – 5: ἃ δὲ καθ’ αὑτὰ μὲν ἀκούσιά ἐστι, νῦν δὲ καὶ ἀντὶ τῶνδε αἱρετά, καὶ ἡ ἀρχὴ ἐν τῷ πράττοντι, καθ’ αὑτὰ μὲν ἀκούσιά ἐστι, νῦν δὲ καὶ ἀντὶ τῶνδε ἑκούσια. Rapp 1995a, 126: „Aristoteles betont (…), daß mit der Entscheidung im Unterschied zur bloßen Erwägung schon etwas bestimmt ist (III 5, 1113a3f.). Die Erwägungen finden damit ein definitives Ende, denn die betreffende Handlungsweise wird ausdrücklich ‚anstelle von anderemʻ (anti tônde, 1110b4), also durch den Ausschluß anderer Optionen gewählt.“
4.3 Terminologische Bemerkungen zum Ausdruck „prohairesis“
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native, die einer anderen Alternative vorgezogen wird: „Die Entscheidung ist eine Überlegung, die zu einer Festlegung oder einem Urteil (krisis) führt (1113a4 und 1113a12). Ausgewählt wird dabei diejenige Handlungsweise, ‚von der wir am sichersten wissen, daß sie gut istʻ (1112a7f.); alternative Optionen werden dadurch verworfen.“⁵⁹³ Er stützt seine Ansicht auf Aristoteles’ Erläuterung des Unterschieds zwischen einer prohairesis und einer Überlegung (bouleusis) in EN III 5 (1113a2 – 4), laut welcher beide zwar denselben Gegenstand haben, der Gegenstand der prohairesis aber bestimmt (aphôrismenon) ist, während der Gegenstand der Überlegung noch unbestimmt (adioriston, 1112b9) ist. Im Prozess der Überlegung werden Alternativen verglichen und abgewogen, die insofern unbestimmt sind, als man sich noch auf keine davon festgelegt hat; erst mit der prohairesis erfolgt eine Festlegung auf die aus Sicht der überlegenden Person beste Alternative, die dadurch zu etwas Bestimmtem wird. Gegen ein derartiges Verständnis von „ἀντί“ hat sich Joachim ausgesprochen: Zu der Formulierung „ποῖον ἀντὶ ποίου αἱρετέον καὶ τί ἀντὶ τίνος ὑπομενετέον“ (1110a30), die kurz vor der zitierten Passage vorkommt und analog dazu zu verstehen ist, schreibt er, dass sie nicht aufzufassen sei als „what is to be chosen instead of what, and what is it to be endured instead of what.“⁵⁹⁴ Vielmehr verwende Aristoteles „ἀντί“ hier, um die Wahl einer Alternative zu beschreiben, die auf dem Abwägen und Vergleichen von deren eigenen diversen Vor- und Nachteilen beruht.⁵⁹⁵ Mit anderen Worten: Mit Hilfe von „ἀντί“ wird hier die Wahl der Vorteile gegenüber den Nachteilen einer Sache beschrieben, d. h. etwas wird wegen seiner Vorteile und trotz seiner Nachteile gewählt. Dabei kann es sich auch um eine einzige Sache handeln, die aufgrund ihrer Vorteile, die in Relation zu ihren eigenen Nachteilen gebracht werden, gewählt wird. In diesem Fall betrifft
Rapp 1995a, 123. Vgl. auch Rapps kurz darauffolgende Erläuterung der Struktur einer Entscheidung (Rapp 1995a, 125): „Jemand verursacht eine Handlung, indem er diese Handlung einer anderen Handlungsweise vorzieht.“ Joachim 1951, 98; Hervorhebung BL. Dass Joachim diese Auffassung nicht nur auf die Zeile 1110a30, sondern auch auf die Vorkommnisse von „ἀντί“ in 1110a21, 1110b4– 5 bezieht, macht er in der zugehörigen Fussnote deutlich (Joachim 1951, Anm. 1, 98). Joachim 1951, 98: „The agent weighs against one another the advantages and disadvantages in a proposed course of action, and decides to ‚adopt A in spite of its attendant disadvantagesʻ, or ‚to put up with B for the sake of the advantageous features it involvesʻ. No doubt to weigh the pros and cons in a comtemplated action, and to decide to act because the advantages outweigh the disadvantages, or to put up with the loss in view of the gain involved in the proposed action, does in fact often (if not always) amount to selecting one course of action in preference to another or others. But that is not what is expressed in the phrases with ἀντί here: ποῖον and ποίου, τί and τίνος are not alternative actions but advantages and disadvantages (pros and cons, profits and losses) in the same action.“
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die Wahl nur eine einzige Alternative. Das schließt es freilich nicht aus, dass eine Wahl auch auf dem Vergleich von Vor- und Nachteilen verschiedener Alternativen beruhen kann, die zueinander in Relation gesetzt werden.Wichtig ist laut Joachim aber, dass „ἀντί“ an dieser Stelle nicht ausdrücken soll, dass eine Wahl in der Wahl zwischen mindestens zwei Alternativen bestehen muss, von denen eine einer anderen vorgezogen wird. Deswegen sei hier auch die Übersetzung mit „anstelle von“ („instead of“) unpassend. Treffend wären im Englischen dagegen Phrasen wie „in spite of“, „for the sake of“, und auch Taylors „in preference to“ wäre demnach geeignet. In meiner Übersetzung habe ich die Zeile 1110a29 – 30 mit „Es ist manchmal schwierig zu bestimmen, was man [als Preis] für was wählen und was man als Preis für was ertragen soll“ wiedergegeben, was diesem Verständnis entspricht. Auch in Zeile 1110b4 erscheint die Übersetzung mit „anstelle von“ unpassend, denn auch bei gemischten Handlungen werden Vor- und Nachteile von Handlungsweisen miteinander in Hinblick auf ein Handlungsziel verglichen und eine Handlungsweise wird schließlich aufgrund ihrer relativen Vorteile gewählt. Dass gemischte Handlungen „jetzt und gegenüber (anti) diesen Dingen gewählt“ werden, bedeutet, dass dabei z. B. eine schlechte Handlung um einer größeren guten Handlung willen bzw. eine schlechte als Preis für eine gute Handlung gewählt wird. Dieser relative Vorteil der guten gegenüber der schlechten Handlungsweise wird mit „ἀντί“ ausgedrückt. Die Wahl mag dabei in der Wahl zwischen alternativen Handlungen bestehen, sie muss es aber nicht. Das Vorhandensein alternativer Möglichkeiten ist nicht wesentlich für eine Wahl.⁵⁹⁶ Joachims Argumentation, in 1110a19-b17„ἀντί“ jeweils nicht in der Bedeutung von „anstelle von“ zu verstehen, halte ich für überzeugend. Zur Untermauerung seines Verständnisses von „ἀντί“ verweist Joachim überdies noch auf eine andere interessante Stelle in der Rhetorik,⁵⁹⁷ in Bezug auf die Rapp in seiner Übersetzung und Deutung erneut von Joachims Lesart abweicht. Auch hier erscheint mir Joa-
Auf dieselbe Weise lässt sich auch die Parallelstelle in den MM verstehen (pace Woods 2005, 154– 155). Vgl. Joachim 1951, Anm. 2, 98: „A very instructive instance is Rhet. B. 1399b13 – 19. Aristotle illustrates a type of rhetorical argument in which the speaker urges the inconsistency of a proposed decision which he wishes to prevent: e. g. ‚When we were in exile, we fought to come back: now that we have come back, shall we take to flight to avoid fighting?ʻ This is an argument against an inconsistent decision: for ὅτε [sic!] μὲν γὰρ τὸ μένειν ἀντὶ τοῦ μάχεσθαι ᾑροῦντο, ὅτε [sic!] δὲ τὸ μὴ μάχεσθαι ἀντὶ τοῦ μὴ μένειν – i. e. ‚at one time they decided to remain (= to come back from exile) in spite of the fighting involved, whilst at another time they decided not to fight, although that meant not remaining (= going into exile)ʻ. It is quite impossible to translate ἀντί in this and similar passages by ‚instead ofʻ.“
4.3 Terminologische Bemerkungen zum Ausdruck „prohairesis“
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chims Vorschlag überzeugender, und es lohnt sich, einen genaueren Blick auf die Stelle in der Rhetorik zu werfen: [Rhet. II 13, 1399b13 – 19]⁵⁹⁸ Ein anderer [Topos ergibt sich] daraus, dass man später oder früher nicht immer dasselbe wählt, sondern umgekehrt, wie zum Beispiel das folgende Enthymem „[Es wäre widersinnig]⁵⁹⁹, wenn wir auf der Flucht kämpften, um zurückzukehren, nach der Rückkehr aber fliehen werden, um nicht zu kämpfen“; das eine Mal nämlich wählen wir das Bleiben [als Preis] für (anti) das Kämpfen, das andere Mal das Nichtkämpfen [als Preis] für (anti) das Nichtbleiben.
Es hilft, sich dieses Argument zunächst halbformalisiert vor Augen zu führen: φ-en: Kämpfen ψ-en: Zurückkehren (= Bleiben) Wahl (1): Jemand kämpft, um zurückzukehren. (μὲν ἐμαχόμεθα ὅπως κατέλθωμεν) S φ-t, um zu ψ-en. Übersetzungsparaphrasen für „τὸ μένειν ἀντὶ τοῦ μάχεσθαι ᾑροῦντο“ – Meine Paraphrasen: S wählt φ-en als Preis fürs ψ-en/ S nimmt φ-en in Kauf, um zu ψ-en. – Joachim: S wählt ψ-en trotz (in spite of) des φ-ens/ S wählt φ-en für (for the sake of) ψ-en. – Rapp: S wählt ψ-en anstelle von φ-en. ¬φ-en: Nichtkämpfen ¬ψ-en: Nichtbleiben (= Fliehen) Wahl (2): Jemand flieht (= bleibt nicht), um nicht zu kämpfen. (δὲ φευξόμεθα ὅπως μὴ μαχώμεθα) S ¬φ-t, um zu ¬ψ-en. Übersetzungsparaphrasen für „τὸ μὴ μάχεσθαι ἀντὶ τοῦ μὴ μένειν [ᾑροῦντο]“: – Meine Paraphrase: S wählt ¬φ-en als Preis fürs ¬ψ-en/ S nimmt ¬φ-en in Kauf, um zu ¬ψ-en. – Joachim: S wählt ¬ψ-en trotz (in spite of) des ¬φ-ens/ S wählt ¬φ-en für (for the sake of) ¬ψ-en – Rapp: S wählt ¬φ-en anstelle von ¬ψ-en.
In der Rhetorik-Passage werden zwei Entschlüsse verglichen, von denen im Enthymem angenommen wird, dass jemand inkonsistent (deinon) wählt, wenn er zu t1 die Wahl (1), zum Zeitpunkt t2 hingegen die Wahl (2) trifft. Beiden Auswahlen Rhet. II 13, 1399b13 – 19: ἄλλος ἐκ τοῦ μὴ ταὐτὸ ἀεὶ αἱρεῖσθαι ὕστερον καὶ πρότερον, ἀλλ᾿ ἀνάπαλιν, οἷον τόδε τὸ ἐνθύμημα, „εἰ φεύγοντες μὲν ἐμαχόμεθα ὅπως κατέλθωμεν, κατελθόντες δὲ φευξόμεθα ὅπως μὴ μαχώμεθα;“ ὁτὲ μὲν γὰρ τὸ μένειν ἀντὶ τοῦ μάχεσθαι ᾑροῦντο, ὁτὲ δὲ τὸ μὴ μάχεσθαι ἀντὶ τοῦ μὴ μένειν. Die Übersetzung ist angelehnt an diejenige Rapps mit Ausnahme der für die aktuelle Diskussion entscheidenden Stelle, nämlich der Wiedergabe von „ἀντί“ 1399b18 und 1399b19, wo Rapp jeweils mit „anstelle von“ übersetzt, während ich aufgrund der genannten Überlegungen eine Übersetzung wie „[als Preis] für“ für richtig halte (vgl. Rapp 2002, 119). Das als Beispiel genannte Enthymem beruht offenbar auf einem Argument aus einer Rede des Lysias (34, 11). Aufgrund dieser Vorlage scheint es zulässig, ein ausgefallenes „δεινὸν γὰρ ἂν εἴη“ („es ist widersinnig“) vor dem von Aristoteles zitierten Textstück zu ergänzen. Dadurch wird auch erst verständlich, welche Argumentation das Beispiel stützen soll (vgl. Rapp 2002, 769).
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4 Die Textgrundlage zur Behandlung der prohairesis
liegt ein Vergleich zwischen zwei Handlungsoptionen zugrunde, wobei für die Wahl (2) die Alternativen in „umgekehrter Weise“, d. h. in negierter Form, verglichen werden.⁶⁰⁰ Rapp übersetzt in 1399b18 – 19 die beiden Vorkommnisse von „ἀντί“ mit „anstelle von“. Dem Wortlaut seiner Übersetzung nach wird in der zitierten Passage somit derjenige Fall als widersinnig (inkonsistent) hingestellt, wenn jemand zu t1 Kämpfen anstelle von Bleiben wählt und zu t2 Nichtkämpfen anstelle von Nichtbleiben.⁶⁰¹ Dieses Verständnis ist aber nicht plausibel: Denn wenn jemand kämpft, um zu bleiben, dann wählt er nicht das Bleiben anstelle des Kämpfens, sondern er wählt das Kämpfen, um zu bleiben, bzw. als Preis für das Bleiben. Mit anderen Worten: Er wählt das Bleiben trotz des Kämpfens. Auch im zweiten Fall ergibt Rapps Übersetzung keinen guten Sinn: Denn wenn jemand nicht bleibt (= flieht), um nicht zu kämpfen, so wählt er nicht das Nichtkämpfen anstelle des Nichtbleibens, sondern er wählt das Nichtbleiben, um nicht zu kämpfen bzw. als Preis für das Nichtkämpfen; oder anders gesagt: Er wählt das Nichtkämpfen trotz des Nichtbleibens, d. h. trotz der Flucht und der Aufgabe seiner Heimat. Bei den beiden Beispielen aus der Rhetorik handelt es sich um Fälle gemischter Handlungen, wie Aristoteles sie in EN III 1 beschreibt: Es wird jeweils eine Handlung gewählt, die ungern getan wird (Kämpfen resp. Nichtbleiben), um dadurch etwas anderes, was im Vergleich dazu als weniger schlimm bzw. als besser angesehen wird (Bleiben resp. Nichtkämpfen), zu erreichen. Um diesen relativen Vergleich auszudrücken, der der Wahl jeweils zugrunde liegt, verwendet Aristoteles in 1399b18 – 19 zweimal „ἀντί“: Dabei wird aber nicht eine Alternative anstelle einer anderen gewählt, sondern ein Nachteil (Kämpfen/Nichtbleiben) wird für einen im direkten Vergleich dazu als größer erachteten Vorteil (Bleiben/ Nichtkämpfen) in Kauf genommen. Der Vergleich der Passagen in der EN (1110a19b17) und in der Rhetorik (1399b15 – 19) in Bezug auf Aristoteles’ Verwendung von „ἀντί“ zur Beschreibung der Wahl einer Sache hat demnach keinen Nachweis für Rapps Deutung erbracht, derzufolge Aristoteles mit Hilfe von „ἀντί“ zum Aus-
Dies wird in der Formalisierung durch die Verwendung derselben Prädikatbuchstaben ausgedrückt, die in der Formalisierung des zweiten Entschlusses jeweils in negierter Form gebraucht werden. Es ist möglich, dass Rapps Verständnis der Passage nicht dem Wortlaut seiner Übersetzung der Passage entspricht. Denn im Kommentar zu der Stelle erläutert er das Beispiel derart, als fasse er die Aussagen „Wer zu t1 Kämpfen in Kauf nimmt, um zu bleiben“ als gleichbedeutend auf mit „Bleiben anstelle des Kämpfens wählen“ (Rapp 2002, 768). Meine Erläuterung zu den unterschiedlichen Übersetzungen sollte aber deutlich gemacht haben, dass diese Aussagen sich keineswegs entsprechen, sondern ein wichtiger Bedeutungsunterschied damit einhergeht.
4.3 Terminologische Bemerkungen zum Ausdruck „prohairesis“
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druck bringen will, dass es sich um eine präferentielle Wahl handelt, bei der Alternativen verglichen werden und eine der oder den anderen vorgezogen wird. Es gibt noch eine weitere Stelle, die für die Frage interessant ist, ob „ἀντί“ bei der Beschreibung der prohairesis dazu dient, die Wahl einer Sache anstelle einer anderen auszudrücken. Der Hinweis zur Etymologie von „προαίρεσις“ in den MM legt dieses Verständnis nahe:⁶⁰² [MM I 17, 1189a12– 16]⁶⁰³ Aber der Entschluss scheint so zu sein, wie auch seine Bezeichnung ist: So entschließen wir uns etwa zu diesem ἀντί jenem, z. B. zu dem Besseren ἀντί dem Schlechteren. Jedesmal wenn wir also das Bessere ἀντί das Schlechtere, das es zur Wahl gibt, wählen, dann scheint man zu Recht vom Sich-Entschließen zu sprechen.
Ich habe „ἀντί“ zunächst unübersetzt gelassen. Es ist gewiss möglich, hier jeweils mit „anstelle von“ zu übersetzen, und diese Übersetzung liegt möglicherweise am nächsten. Danach wäre Gegenstand einer prohairesis z. B. die Wahl von etwas Besserem (z. B. Philosophie zu betreiben) anstelle von etwas Schlechterem (z. B. der Begierde zu folgen). Diese Verwendung von „ἀντί“ will ich nicht ausschließen, indem ich zu bedenken gebe, dass die Präposition im Kontext von Aristoteles’ Bestimmung der prohairesis besser nicht mit „anstelle von“ zu übersetzen ist, sofern dies nicht nötig ist. Denn damit wird suggeriert, jede prohairesis setze die Wahl zwischen mindestens zwei Alternativen voraus. Nicht einmal die MM-Stelle verlangt aber die Übersetzung mit „anstelle von“, auch wenn der Kontext eher diese Übersetzung nahelegt.⁶⁰⁴ Übersetzte man die Präposition dagegen jeweils mit „trotz“, so könnte an der Stelle der Fall beschrieben werden, dass jemand etwas Besseres wählt, obwohl damit auch gewisse Nachteile verbunden sind. Die Betrachtung der drei Textstellen hat somit gezeigt, dass Aristoteles’ Verwendung von „ἀντί“ zur Beschreibung einer prohairesis kein Argument für die Annahme zu entnehmen ist, dass eine prohairesis immer die Wahl zwischen mindestens zwei Alternativen voraussetzt. Eine prohairesis scheint auch auf dem
Vgl. Woods 2005, 155: „[…] in M.M. there is a reference to choosing the better instead of the worse.“ Auch Simpson übersetzt „ἀντί“ an dieser Stelle mit „x in place of y“. Vgl. auch Dirlmeier 1983, 255: „In MM ist προαιρεῖσθαι mit ἀντί konstruiert und mit dem Begriff des Eintauschens gekoppelt.“ MM 1 17, 1189a12– 16: ἀλλὰ ἡ προαίρεσις ἔοικεν οὕτως ἔχειν, ὥσπερ καὶ τοὔνομαι αὐτῆς ἔχει, οἷον προαιρούμεθα τόδε ἀντὶ τοῦδε, οἷον τὸ βέλτιον ἀντὶ τοῦ χείρονος. ὅταν οὖν ἀντικαταλλαττώμεθα τὸ βέλτιον ἀντὶ τοῦ χείρονος ἐν αἱρέσει ὄντος, ἐνταῦθα τὸ προαιρεῖσθαι δόξειεν ἂν οἰκεῖον εἶναι. Da an dieser Stelle nicht von gemischten Handlungen die Rede ist, liegt die Übersetzung mit „anstelle von“ näher.
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4 Die Textgrundlage zur Behandlung der prohairesis
Abwägen zwischen Vor- und Nachteilen einer einzigen Sache beruhen zu können. Aus diesem Grund sollte auch vermieden werden, durch die Übersetzung „anstelle von“ an Stellen, wo sie nicht erforderlich ist, die Annahme zu suggerieren, es handele sich stets um die Wahl zwischen Alternativen. Dieser Vermutung lässt sich durch eine Übersetzung mit „trotz“ oder „[als Preis] für“ vorbeugen. Abschließend lassen sich noch zwei weitere Gründe zugunsten der Annahme anführen, dass eine prohairesis nicht auf der Wahl zwischen Alternativen beruhen muss. Der erste Grund ist ein sachlicher. Der Vergleich von Vor- und Nachteilen einer Sache scheint nämlich insofern grundlegender als der Vergleich zwischen zwei Dingen zu sein, als jeder Vergleich zwischen zwei Dingen auf dem Abwägen zwischen deren jeweiligen relativen Vor- und Nachteilen beruht. Das heißt, zwei Dinge lassen sich überhaupt nur dann in Hinblick auf ihre Präferenz vergleichen, wenn deren jeweilige Vor- und Nachteile zueinander in Relation gebracht werden können, so dass ein Urteil über den relativ größten Vorteil möglich ist. Der zweite Grund ist einer, der für Aristoteles von großer Bedeutung ist. Denn wenn jede prohairesis die Wahl zwischen mindestens zwei Alternativen voraussetzte, könnte der Tugendhafte in eine Situation geraten, in der er nicht tugendhaft handeln kann, weil er nicht zwischen verschiedenen Handlungsweisen wählen und demzufolge nicht aus einer prohairesis heraus handeln kann. Dieser Fall ist nicht so abwegig, wie es sich prima facie anhören könnte. Kann sich der Tapfere beispielsweise nur zum Kampf entschließen, um tugendhaft zu handeln, so wäre dies keine tugendhafte Handlung, weil er keine andere Alternative zur Auswahl hat. Nicht zu kämpfen bzw. die tapfere Handlung zu unterlassen, wäre keine Alternative, um das Ziel, tugendhaft zu handeln, zu erreichen. Zu fliehen wäre aber auch keine Alternative für den Tapferen, da die Flucht für ihn (als Tapferen) keine Handlungsoption ist. Dies lässt sich mittels der Unterscheidung verschiedener Perspektiven auf dieselbe Handlung veranschaulichen. Aus der Perspektive eines Beobachters hat der Tapfere zwar die Alternative zu fliehen, dies ist aber nur eine theoretische Möglichkeit, die aus der Perspektive des Tapferen nicht besteht. Denn dieser ist als Tapferer dazu disponiert, tapfer zu handeln, und eine Handlung, von der er weiß, dass sie feige ist, stellt für ihn keine Option dar. Seine charakterliche Beschaffenheit schließt es aus, dass er eine Handlung wählt, von der er weiß, dass sie seinem Charakter entgegengesetzt ist. In diesem Sinn ist die feige Handlung der Flucht für den Tapferen keine Alternative, die er anstelle der tapferen Handlung des Kämpfens hätte wählen können. Die einzige Handlungsweise, zu der er sich entschließen kann, um sein Ziel, tapfer zu handeln, zu erreichen, ist das Kämpfen – weder die Flucht noch das Nicht-Kämpfen sind Handlungsoptionen, die ihm als Möglichkeiten, sein Ziel zu erreichen, zur Wahl stehen.
5 Bestimmung der prohairesis der Gattung nach mittels eines Ausschlussverfahrens (EN 1111b4 – 1112a17; EE 1225b17 – 24, 1226a17 – 20 und 1226b30 – 36) Aristoteles’ Herangehensweisen an die Erörterung der prohairesis in der EN und der EE unterscheiden sich auffallend. Allerdings betreffen viele der offensichtlichen Abweichungen in erster Linie die äußere Form des Vorgehens, die in der EN insbesondere zu Beginn direkter wirkt als in der EE. Inhaltlich stimmt dagegen manches überein, obgleich es auch hier einige interessante und wichtige Unterschiede gibt. Ich werde mich in der Kommentierung zunächst auf den Text der EN konzentrieren und ausgehend davon auf kleinere nennenswerte Abweichungen in der EE verweisen. Diejenigen Passagen in der EE, die substantiell von den Ausführungen in der EN abweichen, werde ich gesondert in den Kapiteln 7 und 9 betrachten. In der EE beginnt Aristoteles mit der Frage (1225b19 – 20), zu welcher Gattung die prohairesis gehört, und wiederholt später nochmals die Frage (1226a18 – 19), ob die prohairesis etwas Willentliches ist, bevor er daraufhin erst die Folgerung (1226b34– 36) zieht, dass die prohairesis zwar zum Willentlichen gehört, aber nicht damit identisch ist. Demgegenüber beginnt er die Untersuchung in der EN direkt mit der Annahme⁶⁰⁵, dass die prohairesis etwas Willentliches ist, ohne damit identisch zu sein. Für Letzteres gibt er sogleich auch zwei Gründe an: Erstens seien nicht-rationale Lebewesen⁶⁰⁶ zwar auch zu willentlichem Verhalten in der Lage, aber nicht zu einer prohairesis. Zweitens seien plötzliche Handlungen willentlich, aber nicht einer prohairesis gemäß, d. h. ihnen liegt unmittelbar keine prohairesis zugrunde. Beide Gründe kommen zwar auch in der EE vor, der zweite wird aber erst viel später im Laufe der Argumentation genannt, nachdem die Dass es sich bei der Bestimmung der Gattung der prohairesis zunächst um eine Annahme handelt, die erst im Folgenden untermauert wird, wird durch die Verwendung von „δοκεῖ“ deutlich. Deswegen ist in 1111b7 auch „δὲ“ anstelle von „δὴ“ zu lesen, da wir am Anfang einer Schlussfolgerung stehen (vgl. meine Anm. 478, S. 180). Aber auch wenn zu Beginn noch keine Folgerung gezogen wird, unterscheidet sich die Vorgehensweise gleichwohl deutlich von derjenigen in der EE, da in der EN die zu begründende Annahme an den Anfang der Untersuchung gestellt wird, um sie daraufhin zu begründen, und sie nicht erst im Laufe der Erörterung erwiesen wird. Zu berücksichtigen ist hier, dass Kinder nur im Sinn der zweiten Aktualität nicht-rational sind. Im Unterschied zu den Tieren sind Kinder aber im Sinn der ersten Aktualität rational, da es bei ihnen möglich ist, dass sie sich zu vernunftbegabten Lebewesen entwickeln. https://doi.org/10.1515/9783110517583-007
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5 Bestimmung der prohairesis mittels eines Ausschlussverfahrens
prohairesis als verschieden von allen drei Arten von Strebung und von Meinung erwiesen wurde.⁶⁰⁷ Aber obgleich Aristoteles in der EN direkt mit der Angabe der Gattung der prohairesis als etwas Willentlichem beginnt, ergibt sich doch auch hier erst im Laufe der Untersuchung, dass das relevante Unterscheidungsmerkmal die Vernunftbegabung und damit verbunden die Fähigkeit zum Überlegen ist. Auf der anderen Seite weisen die Argumentationen in der EN und in der EE trotz ihres unterschiedlichen Einstiegs auch große Ähnlichkeit miteinander auf. Unterschiede in der Präsentation betreffen oft nur Unwesentliches wie z. B. die jeweiligen Beispiele, ohne aber für die Argumentation als Ganze eine zentrale Bedeutung zu haben. Ich verweise daher in diesem Abschnitt nur summarisch auf die Parallelpassage in der EE und betrachte nur einzelne Textstellen im Detail.
5.1 Vorbereitung der Untersuchung der prohairesis (EN 1111b4 – 10 resp. EE 1225b17 – 24) Aristoteles’ Überleitung in der EN von der Untersuchung des Willentlichen zur Behandlung der prohairesis geschieht abrupt. Das Thema ist zuvor nicht angekündigt worden und es findet sich kein Rückbezug auf Stellen, an denen die prohairesis zuvor in der EN bereits Gegenstand gewesen ist. Insbesondere verweist Aristoteles nicht auf die Bestimmung der Tugend (aretê) als einer hexis prohairetikê in EN II 6, was man erwarten könnte.⁶⁰⁸ Dies ist umso erstaunlicher, als er
Auch den ersten Grund nennt Aristoteles in der EE erst später im Zuge seines ersten Arguments, das zeigen soll, dass die prohairesis nicht mit Zorn oder Begehren identisch ist (1225b26 – 27). Er stellt den Grund somit nicht, wie in der EN, explizit der folgenden Argumentation voran. Grund für das andere Vorgehen könnte sein, dass er Tieren und Kindern in der EE – im Unterschied zur EN – die Fähigkeit zum Handeln abspricht (vgl. EE 1224a28 – 30). EN II 6, 1106b36 – 1107a2: „Die Tugend ist also eine Haltung, die sich in Entschlüssen äußert, wobei sie in einer Mitte in Bezug auf uns liegt, die durch Überlegung bestimmt wird, d. h. wie der Kluge sie bestimmen würde.“ [ἔστιν ἄρα ἡ ἀρετὴ ἕξις προαιρετική, ἐν μεσότητι οὖσα τῇ πρὸς ἡμᾶς, ὡρισμένῃ λόγῳ, καὶ ᾧ ἂν φρόνιμος ὁρίσειεν.] In EN III wurde die prohairesis bisher einmal erwähnt, und zwar im Kapitel zur Unwissenheit als einer Entschuldigungsbedingung, wenn Aristoteles in 1110b31 die „Unwissenheit im Entschluss“ erwähnt. Diese habe ich als äquivalent zu einer Unwissenheit über das Allgemeine gedeutet (vgl. Abschnitt „3.3.2 Die Äquivalenzannahme“). In EN VI bezeichnet Aristoteles die Tugend ebenfalls als eine hexis prohairetikê und bestimmt die prohairesis als eine orexis bouleutikê, d. h. als eine überlegte Strebung (vgl. EN VI 2, 1139a22 – 26: „Daher muss, da die charakterliche Tugend eine Disposition ist, die sich in Entschlüssen äußert, und der Entschluss eine überlegte Strebung ist, durch ebendieses auch die Vernunft wahr sein und die Strebung richtig, wenn der Entschluss gut sein soll, und was der eine [Teil, i. e. der vernünftige Teil der Seele; BL] bejaht, und was der andere [Teil, i. e. der strebende Teil; BL] verfolgt, [muss] dasselbe sein.“ [ὥστ᾿ ἐπειδὴ ἡ ἠθικὴ ἀρετὴ ἕξις προαιρετική, ἡ δὲ
5.1 Vorbereitung der Untersuchung der prohairesis
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die Notwendigkeit einer Behandlung der prohairesis in EN III 4 damit begründet, dass die prohairesis besser als die Handlungen die verschiedenen Arten von Charakter zu unterscheiden hilft, da sie mit der Tugend am engsten verbunden ist. Weshalb Aristoteles dieser Ansicht ist, lässt sich mit Hilfe der Bestimmung der Tugend als einer „Haltung, die sich in Entschlüssen äußert“ in EN II 6 erläutern. Demnach ist es möglich, dass eine Person zwar wie ein Tugendhafter handelt, ohne dabei aber auch tugendhaft zu sein. Die Handlung kann also nicht verlässlich Aufschluss über die Tugendhaftigkeit einer Person geben. Dagegen ist es nicht möglich, dass eine Person einen Entschluss fasst, der nicht aufrichtig ist, d. h. ein Entschluss kann nicht ihrem Charakter entgegenstehen. Daraus ergibt sich, dass jeder Entschluss, den ein Tugendhafter fasst, auch tugendhaft sein muss.⁶⁰⁹ In der EE nennt Aristoteles den engen Zusammenhang zwischen Tugenden und Lastern und der prohairesis in EE II 6 – 7 ausdrücklich. Diese Feststellung steht am Anfang der darauffolgenden Untersuchung, die zunächst dem Willentlichen und Unwillentlichen und dann dem Entschluss gilt.⁶¹⁰ Aber auch diesen Unterschied zwischen den Untersuchungen in der EN und der EE fasse ich eher als eine Differenz in der Herangehensweise als einen bedeutsamen inhaltlichen Unterschied auf. Obwohl in der EN nicht explizit auf die Bestimmung der Tugend in EN II 6 Bezug genommen wird, so liegt diese doch bereits implizit der Annahme zugrunde, dass die prohairesis besser als Handlungen geeignet ist, die verschiedenen Arten von Charakter zu unterscheiden. Diese Aussage ist nur vor dem Hintergrund der Bestimmung der Tugend verständlich.
προαίρεσις ὄρεξις βουλευτική, δεῖ διὰ ταῦτα μὲν τόν τε λόγον ἀληθῆ εἶναι καὶ τὴν ὄρεξιν ὀρθήν, εἴπερ ἡ προαίρεσις σπουδαία, καὶ τὰ αὐτὰ τὸν μὲν φάναι τὴν δὲ διώκειν.]. Dieser Punkt wird in der EE im letzten Kapitel von Buch II näher diskutiert und begründet; vgl. hierzu die Abschnitte „9.3 Das Verhältnis von Tugend und Entschluss (EE 1227b25 – 1228a2)“ und „9.4 Relevanz der Entschlüsse für die moralische Beurteilung einer Person“. EE II 6 – 7, 1223a16 – 22: „Alle stimmen daher darin überein, dass von allen Dingen, die willentlich und gemäß dem Entschluss einer Person geschehen, jener eine Ursache ist, während er von den Dingen, die unwillentlich sind, nicht selbst Ursache ist. Und all das, wozu sich jemand entschlossen hat, da ist klar, dass es willentlich ist. Somit ist es klar, dass die Tugend und die Schlechtigkeit Dinge betreffen, die willentlich sind. Wir müssen also bestimmen, was das Willentliche und was das Unwillentliche ist, und was der Entschluss ist.“
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5 Bestimmung der prohairesis mittels eines Ausschlussverfahrens
5.2 Ausschlussverfahren zur Bestimmung der Gattung der prohairesis (EN 1111b10 – 1112a17 resp. EE 1225b24 – 1226a17 und 1226b2 – 9) Willentliches welcher Art die prohairesis ist, bestimmt Aristoteles in beiden Ethiken mit Hilfe eines Ausschlussverfahrens.⁶¹¹ Er prüft nacheinander, ob die prohairesis mit einer der drei Arten von Strebung (orexis), d. h. Begehren, thymos oder Wunsch, oder aber mit Meinung identisch ist.⁶¹² Zwei Punkte sind dabei zu beachten: Erstens sind alle drei Arten von Strebung etwas Willentliches.⁶¹³ Zweitens bedeutet die Tatsache, dass die prohairesis sich nicht als identisch mit einem der zu prüfenden Kandidaten erweist, nicht, dass überhaupt keine Verbindung besteht oder sie sich sogar ausschließen. Dass die prohairesis in einem substantiellen Zusammenhang zu Strebungen steht, wird vielmehr am Ende deutlich. Welcher Art dieser Zusammenhang ist, wird als wesentlicher Bestandteil in die Bestimmung der prohairesis eingehen.
Bei den verschiedenen Kandidaten, die Aristoteles im Rahmen des Ausschlussverfahrens erörtert, bezieht er sich vermutlich auf verschiedene Theorien seiner Vorgänger. Er nennt jedoch niemanden namentlich, so dass man nur vermuten kann, wen er vor Augen gehabt haben könnte. Bisweilen wird in der Literatur erwogen, den Versuch, die prohairesis mit Meinung über das Gute und das Schlechte zu identifizieren, als Kritik an der platonischen Tugendauffassung zu verstehen (vgl. Grant 1866, 17; Gauthier/Jolif 1970, 190 – 191). Interessanterweise beschreibt Aristoteles weder hier noch an einer anderen Stelle in der EN Begehren, Zorn und Wunsch ausdrücklich als die drei Arten von Strebungen, wie er es beispielsweise in der Parallelstelle in der EE (1225b21– 26; vgl. auch EE II 7, 1223a26 – 27) und in anderen Schriften tut (De An. II 3, 414b2 und III 9, 432b5 – 6 und 432b10, 433a22– 26; MA 6, 700b19; Rhet. I 10, 1369a1– 4; Pol. VII 15, 1334b17– 25). Vgl. dazu Cooper 1988, Anm. 3, 241: „The nearest Aristotle comes in Nicomachean Ethics to dividing all orexis into these three types is III 2, 1111b10 – 12, where he listes epithumia, thumos and boulêsis alongside doxa tis as potential candidates for what prohairesis is, but without saying that they are candidates precisely because they are the forms of orexis (contrast EE II 10, 1225b21– 26).“ Anders verhält es sich mit Meinungen, die Aristoteles zufolge nicht willentlich sind, da sie nicht bei uns liegen; vgl. De An. III 3, 427b16 – 18 und 427b20 – 26: „Dass Vorstellung (phantasia) und Annahme aber nicht dasselbe sind, ist offensichtlich; denn dieses Widerfahrnis (hervorzurufen) liegt bei uns, sooft wir es wollen, (…) – eine Meinung zu haben liegt dagegen nicht bei uns: Denn man trifft dabei notwendig entweder das Falsche oder das Wahre. Ferner: wenn wir etwas Schreckliches oder Fürchterliches meinen, empfinden wir sofort mit, und ebenso bei etwas Ermutigendem. Bei der Vorstellung dagegen verhalten wir uns so, wie wenn wir das Schreckliche oder Ermutigende auf einer Zeichnung betrachten.“ [Übersetzung nach Corcilius; ich folge in 429b17 der Lesart von Förster, der ‚φαντασίαʻ anstelle von ‚νόησιςʻ, das der OCT hat, liest.].
5.2 Ausschlussverfahren zur Bestimmung der Gattung der prohairesis
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5.2.1 Begehren (epithymia) und (nicht-rationaler) thymos (EN 1111b10 – 19 resp. EE 1225b24 – 31) Als erstes schließt Aristoteles die Identität der prohairesis mit Begehren (epithymia) oder thymos aus. Er präsentiert dazu fünf Argumente.⁶¹⁴
1. Argument Das erste Argument bezieht sich zugleich auf Begehren und thymos, also auf die Arten von Strebung, die rationalen und nicht-rationalen Lebewesen gemeinsam sind.⁶¹⁵ Da auch Tiere und Kinder Begehren und thymos empfinden, sie aber nicht zu einer prohairesis in der Lage sind, kann die prohairesis weder mit Begehren noch mit thymos identisch sein.
2. Argument Die folgenden drei Argumente betreffen nur das Begehren (epithymia). Das erste besagt, dass der Unbeherrschte aus einem Begehren heraus, aber nicht aus einer prohairesis handelt, während der Beherrschte mit einer prohairesis, aber nicht aufgrund von Begehren handelt. Dass der Unbeherrschte nicht aus einer prohairesis heraus handelt, bedeutet, dass er zum Zeitpunkt seiner Handlung nicht aufgrund einer prohairesis handelt, und zwar weder aus der prohairesis heraus, dem Begehren zu folgen (denn dann wäre er nicht unbeherrscht, sondern unmäßig), noch hat er zum Zeitpunkt der Handlung eine prohairesis, seinem Begehren nicht zu folgen. Das schließt nicht aus, dass der Unbeherrschte vor seiner Handlung die prohairesis gehabt hat, seinen Begierden zu widerstehen, und dass er diese zum Zeitpunkt seiner unbeherrschten Handlung zumindest potentiell noch hat⁶¹⁶. Da der Unbeherrschte zum Zeitpunkt seiner Handlung nur aus einem
In der EE werden drei Argumente vorgestellt, von denen zwei in der EN nicht vorkommen. Da das erste Argument von der Annahme ausgeht, dass auch der thymos eine Strebung ist, die Menschen und Tieren gleichermaßen zukommt, ist klar, dass Aristoteles nicht an diejenige Art von thymos denkt, um die es in EN VII 6 und 7 geht, wo er Unbeherrschtheit in Bezug auf den thymos als eine Unberrschtheit der Ähnlichkeit nach bestimmt. Dort ist der thymos etwas, das mehr Anteil am rationalen Seelenteil hat als die epithymia. Vgl. zum thymos in dieser Bedeutung das Kapitel „10. Die Zurechenbarkeit von Handlungen aus thymos“. Manchmal sagt Aristoteles, dass der Unbeherrschte gegen seine prohairesis (para tên prohairesin) handelt (vgl. EN VII 6, 1148a4– 11; Anm. 582, S. 215). Dies ist so zu verstehen, dass der Unbeherrschte zwar die richtige prohairesis hat, seinen Begierden nicht im Übermaß zu folgen, dass er aber nicht aus dieser prohairesis heraus handelt, sondern seinen Begierden folgt. Er hat dann zwar zum Zeitpunkt der unbeherrschten Handlung immer noch die richtige prohairesis,
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5 Bestimmung der prohairesis mittels eines Ausschlussverfahrens
Begehren, nicht aber aus einer prohairesis heraus handelt, kann das Begehren nicht mit der prohairesis identisch sein. Der Fall des Beherrschten verhält sich etwas anders. Er hat zum Zeitpunkt seiner beherrschten Handlung die prohairesis, seinem Begehren zu widerstehen, und er empfindet zum Zeitpunkt seiner Handlung das gegenläufige Begehren. Hier ist Taylors Analyse zuzustimmen, derzufolge der Beherrschte zwar ein Begehren hat, aber nicht aus diesem heraus handelt.⁶¹⁷ Er handelt aus der prohairesis heraus, so dass sie nicht mit dem Begehren identisch sein kann. Die Beispiele an der Parallelstelle 1225b27– 30 in der EE irritieren prima facie, wenn man an die übliche Darstellung des Beherrschten und des Unbeherrschten in EN VII denkt. Denn beide sind nicht schlechthin ohne Begierde oder thymos, sondern es zeichnet sie vielmehr aus, dass sie unvernünftige Strebungen verspüren; der Beherrschte kann sich diesen durch seinen vernünftigen Entschluss widersetzen, während der Unbeherrschte ihnen trotz seines vernünftigen Entschlusses in seinem Handeln folgt. Gleichwohl lässt auch die Beschreibung in der EE eine einleuchtende Lesart zu. Denn man kann die erste Beschreibung in b27– 29 auch so verstehen, dass nicht gemeint ist, dass eine Person gänzlich ohne unvernünftige Strebungen ist, sondern als beschreibe Aristoteles hier jemanden, der nicht Begierden oder thymos verspürt, die mit seinem Entschluss zum Handeln übereinstimmen. Diese Darstellung trifft auf den Beherrschten zu. Die zweite Beschreibung in b29 – 30 lässt eine plausible Deutung zu, wenn man „οὐ προαιροῦνται“ nicht so versteht, als sei jemand gemeint, der zu gar keinem Entschluss gelangt, sondern die Wendung so auffasst, dass an eine Person zu denken ist, die sich nicht zu ihren Begierden oder ihrem thymos entschließt. Dieses Verständnis versuche ich mit der Übersetzung „sie entschließen sich nicht [dazu]“ aufzunehmen. In dieser Lesart trifft die Beschreibung ebenfalls auf den Beherrschten zu, der zwar unvernünftige Strebungen verspürt, diesen aber im Gegensatz zum Unbeherrschten nicht folgt, sondern ihnen standhält.⁶¹⁸
diese ist aber nicht handlungsbestimmend. Handlungsbestimmend ist die Begierde. Taylor bemerkt dazu (Taylor 2006, 152): „The Greek literally construed reads: ‚the akratês acts desiring but not choosing, the enkratês on the contrary choosing but not desiringʻ. This cannot of course mean that the former does not make a choice (since akrasia is action against one’s choice (1148a9), nor that the latter does not have any desire (since the enkratês ‚knowing that the desires are bad does not follow them because of his reasonʻ (1145b13 – 14)“. Taylor 2006, 152: „The sense of ‚desiring but not choosingʻ is ‚from desire, not from choiceʻ, and similarly for ‚choosing but not desiringʻ.“ Vgl. Woods 2005, 139.
5.2 Ausschlussverfahren zur Bestimmung der Gattung der prohairesis
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3. Argument Das zweite Argument, das nur das Begehren betrifft, besagt, dass ein Begehren nicht einem anderen Begehren entgegengesetzt sein kann, während es möglich ist, dass eine prohairesis einem Begehren entgegengesetzt ist. Das erscheint prima facie fragwürdig, weil ein Konflikt zwischen Begierden, wie z. B. zwischen dem Begehren nach Erfolg und dem Begehren nach Vergnügen, durchaus möglich ist. Es ist jedoch naheliegend, Aristoteles’ Argument als verkürzt formuliert zu verstehen und zu ergänzen, dass ein Begehren nicht einem anderen Begehren zum selben Zeitpunkt und in Bezug auf denselben Gegenstand entgegengesetzt sein kann. Bei einer Gegensätzlichkeit (enantiotês) im eigentlichen Sinn müsste es sich aber um einen bestimmten und festgelegten Gegensatz zwischen zwei Dingen in Bezug auf dieselben Hinsichten handeln.⁶¹⁹ Zwei widerstrebende Begierden nach verschiedenen Objekten sind einander dagegen nur akzidentellerweise entgegengesetzt. Ihre Gegenläufigkeit besteht weder immer noch notwendigerweise und sie gilt daher nicht als eine enantiotês. Eine prohairesis und ein Begehren in Bezug auf denselben Gegenstand, wie z. B. das Begehren, etwas zu trinken, und die prohairesis, nichts zu trinken, sind hingegen enantia. Es handelt sich um einen bestimmten Gegensatz, von dem es keine Ausnahme zu geben scheint.⁶²⁰ Man könnte vielleicht sagen, dass auch der Gegensatz zwischen zwei gegenläufigen Begierden in Bezug auf denselben Gegenstand und zum selben Zeitpunkt eine enantiotês wäre. Allerdings ist dieser Fall im Unterschied zum Gegensatz zwischen prohairesis und Begehren psychologisch nicht möglich.⁶²¹ Es ist also dieser Fall, den Aristoteles im zweiten Argument zu Recht ausschließt und vom mögli-
Vgl. Stewart 1892, 245 – 247; hier: 247: „Contrariety (ἐναντιότης) is between things in relation to the same quality, or circumstance, not in relation to different qualities, or circumstances; e. g. ἐπιθυμία urges a man to drink, and προαίρεσις restrains him from drinking: ἐπιθυμία and προαίρεσις are here opposed (as contraries, ἐναντία) on the common ground of drinking. […] The ‚oppositionʻ between ἐπιθυμίαι is of a less definite kind than this; e. g. the desire of drink may be ‚opposedʻ to that of money; but this is not ‚contraryʻ opposition (οὐκ ἐναντιοῦται), because ἐναντία are properly most distant extremes within the same class, and the desire of drink and the desire of money fall under different classes.“ Vgl. Aspasius in Eth. Nic. CAG XIX/1 68.8 – 14. In Met. IX erwägt Aristoteles sogar die Möglichkeit, dass jemand zum selben Zeitpunkt und in Bezug auf dasselbe zwei gegenläufige Begierden hat. Dies führe aber dazu, dass keine Handlung erfolgt, da keines der Begehren sich als leitend erweist und es unmöglich ist, zugleich Entgegengesetztes zu tun (Met. IX 5, 1048a21– 24): „Deshalb gilt auch: wenn jemand zugleich wünschte oder begehrte, zwei Dinge oder Entgegengesetztes zu tun, er dies nicht tun wird; denn er hat nicht das Vermögen, die Dinge in dieser Weise zu tun, und das Vermögen ist nicht das Vermögen, sie zugleich zu tun; denn er wird die Dinge tun, zu denen er das Vermögen hat und so, wie er das Vermögen dazu hat.“
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5 Bestimmung der prohairesis mittels eines Ausschlussverfahrens
chen Gegensatz zwischen einer prohairesis und einem Begehren hinsichtlich desselben Gegenstandes unterscheiden will.
4. Argument Das dritte und letzte Teilargument, das nur das Begehren betrifft (und das im Ganzen vierte Teilargument), lautet, dass sich das Begehren immer auf das (körperlich) Lustvolle und Schmerzvolle bezieht, der Entschluss hingegen weder auf das Lustvolle noch auf das Schmerzvolle. Dieses Argument darf nicht so verstanden werden, als beziehe sich der Entschluss überhaupt nicht auf das Lustvolle und Schmerzvolle.⁶²² Vom Begehren unterscheidet ihn aber, dass das Begehren ausschließlich und primär bzw. direkt darauf gerichtet ist, (körperlich) Lustvolles zu erstreben und Schmerzvolles zu vermeiden.⁶²³ Eine richtige prohairesis dagegen bezieht sich immer auf das Gute bzw. das, was gut zu sein scheint. Corcilius bringt diesen Unterschied dadurch zum Ausdruck, dass er Aristoteles einen motivationalen, jedoch keinen psychologischen Hedonismus zuschreibt: Intentionaler Gegenstand kann die Lust nur für das Begehren sein, während die Gegenstände des rationalen Wunsches zwar mit Lust assoziiert sein können, aber die Lust nicht zum intentionalen Gegenstand haben.⁶²⁴ Eine prohairesis hat insofern dasselbe natürliche Ziel wie der rationale Wunsch: Beide streben nach dem Guten, d. h. entweder nach dem in Wahrheit Guten oder nach dem, was gut zu sein scheint, in Wahrheit aber nicht gut ist (vgl. EN III 6). Im Idealfall ist das Gute auch das Nützliche, Lustvolle und Schöne.⁶²⁵ Allerdings ist
Vgl. Gauthier/Jolif 1970, 191; Stewart 1892, 248. Damit wird auch ersichtlich, weshalb in 1111b17– 18 der in den meisten MSS überlieferten Lesart „ἡ προαίρεσις δ᾿ οὔτε λυπηροῦ οὔθ᾿ ἡδέος“ zu folgen ist und nicht der Substitution in Mb, nach der „λυπηρὰ“ anstelle von „λυπηροῦ“ steht (vgl. dazu Anm. 480, S. 181). Der Genitiv macht deutlich, dass mit dem Argument ausgeschlossen werden soll, dass die prohairesis das Schmerzhafte zu ihrem direkten und ausschließlichen Ziel hat, was die Möglichkeit lässt, dass die prohairesis für die handelnde Person, wie z. B. im Fall des Tapferen, schmerzhaft ist. Corcilius 2008a, 163: „Einzig die Begierde ist auch intentional auf Lust bzw. Leidvermeidung ausgerichtet. Bei den anderen beiden Strebearten besteht eine Identität von intentionalem Objekt der Strebung und ihrem Lustwert nur in extensionaler Hinsicht. D. h., der Strebegegenstand wird zwar nicht aufgrund seines Lustwertes erstrebt, führt physikalisch aber nur deswegen zur für die Ortsbewegung notwendigen thermischen Veränderung, weil er gleichzeitig mit Lust/Leid-Empfindung besetzt ist.“ EN II 3, 1104b30 – 1105a1: „Da es nämlich drei Dinge des Wählens und drei des Meidens gibt, und zwar das Schöne, das Nützliche und das Lustvolle, und die Gegensätze, das Hässliche, das Schädliche und das Schmerzvolle, ist der Gute derjenige, der in Bezug auf all diese Dinge richtig liegt, und der Schlechte derjenige, der sie verfehlt, am meisten aber in Bezug auf die Lust; denn
5.2 Ausschlussverfahren zur Bestimmung der Gattung der prohairesis
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der Idealfall nicht immer gegeben: Das Gute kann auch schmerzvoll und nichtschön sein wie im Fall der gemischten Handlungen. Eine gemischte Handlung zu wählen, kann der guten prohairesis entsprechen, auch wenn dies Schmerzen bereitet und Aristoteles die gemischte Handlung daher nicht als schön bezeichnen würde. Ferner ist es ihm zufolge für manche Entschlüsse des Tugendhaften wesentlich, dass sie mit Lustvollem oder Schmerzhaftem einhergehen. So definiert er z. B. drei der Charaktertugenden – Tapferkeit, Mäßigkeit und Sanftmut (praotês) – explizit als Dispositionen, die es mit Schmerz oder Lust zu tun haben.⁶²⁶ Schließlich ist es fraglich, ob Aristoteles das Gute auch immer als nützlich ansehen würde. Seine Behandlung des theoretischen Denkens als beste unter den menschlichen Tätigkeiten in EN X 7– 8 spricht dafür, dass er diese Tätigkeit als schlechthin gut ansieht, unabhängig davon, ob sie auch nützlich für jemanden ist. Das Beispiel des theoretischen Denkens legt somit nahe, dass Aristoteles auch in seinen Ethiken einen „unpersönlichen“ Begriff des Guten annimmt, nach dem das Gut-Sein einer Sache unabhängig davon ist, ob sie auch für ein Individuum oder eine Gruppe von Individuen nützlich ist.⁶²⁷ Allerdings schließt das nicht aus, dass das Gute, auf das eine prohairesis gerichtet ist, nicht auch immer nützlich ist; schließlich sind nicht alle menschlichen Güter Gegenstand der prohairesis. Dass das Gute, wozu man sich entschließt, immer etwas Nützliches ist, beruhte demnach darauf, dass man sich dazu entschließt, weil man es als das geeignete, d. h. nützliche (sympheron), Mittel betrachtet, um ein gewünschtes Ziel zu erreichen.⁶²⁸ In der EE lautet die Parallelstelle etwas anders, nämlich dass thymos und Begehren immer mit Schmerzen einhergehen, während eine prohairesis oft auch ohne Schmerz erfolgt. Letzteres wird der beschriebenen aristotelischen Ansicht besser gerecht als der Wortlaut des Arguments in der EN, da die Aussage in der EE es zulässt, dass eine prohairesis mit Schmerz (oder auch Lust) zu tun hat, dies aber für sie nicht notwendig und vorrangig ist.
diese ist allen Lebewesen gemeinsam und sie begleitet bei allen Dingen die Wahl, denn auch das Schöne und das Nützliche erscheinen lustvoll.“ Die Tapferkeit bezieht sich auf Furcht (EN III 9, 1115a6 – 7), die Mäßigkeit auf Lust (und in geringerer und anderer Weise auf den Schmerz) (EN III 13, 1117b24– 26) und die Sanftmut auf den Zorn (EN IV 11, 1125b26). Ich bezeichne diesen Begriff des Guten im Anschluss an Lorenz als unpersönlich (Lorenz 2005). Lorenz führt den unpersönlichen Begriff zunächst anhand der Darstellung des Seins Gottes, das als das beste anzusehen ist, in Met. XII 10 ein; er argumentiert weiter, dass sich auch in den Ethiken ein unpersönlicher Begriff des Guten findet und begründet dies mit Hilfe der Beschreibung des besten Lebens in EN X 7– 8 und des ergon-Arguments in EN I 7. Vgl. auch Lorenz 2005, 13.
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5 Bestimmung der prohairesis mittels eines Ausschlussverfahrens
5. Argument Das insgesamt fünfte Argument betrifft nur den thymos, der als nicht identisch mit der prohairesis erwiesen werden soll. Aristoteles bezeichnet den thymos hier als „noch weniger“ (eti hêtton) identisch mit der prohairesis, d. h., dass der thymos noch weniger als das Begehren mit der prohairesis identisch ist. Unter dem thymos ist hier wiederum wie im ersten Argument etwas Menschen und nicht-rationalen Lebewesen Gemeinsames zu verstehen. Denn insofern der thymos als etwas behandelt wird, das noch weniger mit einer prohairesis zu identifizieren ist als ein Begehren und deswegen am wenigsten eine prohairesis sein kann, muss eine Form des thymos gemeint sein, den Menschen und Tiere gleichermaßen verspüren. Es ist somit in einem anderen Sinn vom thymos die Rede als in EN VII 6 und 7, wo Aristoteles die Unbeherrschtheit in Bezug auf den thymos als eine Unbeherrschtheit der Ähnlichkeit nach (peri thymou kath’ homoiotêta, 1148b12– 13) einführt.⁶²⁹ Er trifft dort eine Unterscheidung zwischen der Unbeherrschtheit im eigentlichen Sinn, die nur körperliche Dinge wie Essen, Trinken und Sex betrifft, und der Unbeherrschtheit der Ähnlichkeit nach, zu der auch die Unbeherrschtheit aus thymos zählt. thymos wird hier als etwas erläutert, das weniger schlimm als die Unbeherrschtheit aus Begierden ist, und zwar weil der thymos mehr Anteil am rationalen Seeltenteil hat. Dieser Beschreibung nach ist der thymos etwas dem Menschen Eigentümliches und daher der prohairesis näher als das Begehren. Mit dieser Reihe von Argumenten sieht Aristoteles es als ausreichend erwiesen an, dass die prohairesis nicht mit Begehren oder dem (nicht-rationalen) thymos identisch sein kann. Er prüft als nächstes, ob die prohairesis dasselbe ist wie die dritte Art von Strebung, der Wunsch (boulêsis).
Vgl. Taylor 2006, 153: „This claim [sc. the fifth argument; BL] is at odds with the discussion of akrasia thumou (i. e. acting against one’s better judgement through giving in to spirit) in VII. 6. There the point is that since spirited reactions such as anger and indignation involve an element of evaluation, to the effect that one is being treated in inappropriate ways which one ought to resist, they are in accordance with reason in a way which bodily-based appetites are not (1149a32b3). One would therefore expect Aristotle to say that things done from spirit contain more of an element of choice than things done from appetite, not less, as he implies here.“ Dass Aristoteles nicht sagt, was man vor dem Hintergrund von VII 6 erwartete, muss nicht verwundern, wenn man berücksichtigt, dass er über den thymos in unterschiedlicher Bedeutung spricht. Insbesondere in EN I 13 behandelt er den thymos in der gleichen Weise wie die epithymia, indem er beide dem nicht-rationalen Seelenteil zuordnet (vgl. Abschnitt „10.3.1 Die Rationalität des thymos“).
5.2 Ausschlussverfahren zur Bestimmung der Gattung der prohairesis
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5.2.2 Wunsch (EN 1111b19 – 30 resp. EE 1225b32 – 37) Der Wunsch ist zwar auch eine Art von Strebung, er kommt laut Aristoteles aber nur rationalen Lebewesen zu und ist daher als rationale Strebung zu beschreiben.⁶³⁰ Aristoteles leitet die drei Argumente, mit denen er in EN die prohairesis als verschieden vom Wunsch erweisen will, mit der Bemerkung ein, dass prohairesis und Wunsch gleichwohl verwandt (synengys) sind. Das ist ein wichtiger Hinweis, denn er bestimmt später in der EN die prohairesis als ein „mit Überlegung verbundenes Streben nach den Dingen, die bei uns liegen“ (1113a9 – 11: bouleutikê orexis tôn eph’ hêmin), und in EN VI bezeichnet er die prohairesis als „überlegende Strebung“ (1139b5) (orexis dianoêtikê). Die prohairesis ist demnach zwar eine Art von Strebung, sie kommt aber nur rationalen Lebewesen zu, weil sie ein Überlegungsvermögen voraussetzt. Da der Wunsch die einzige rationale Art von Strebung ist, ist anzunehmen, dass die prohairesis eine Art von Wunsch ist bzw. in einer wesentlichen Verbindung zum Wunsch steht.⁶³¹ Welcher Art die Relation zwischen Wunsch und prohairesis ist, werde ich später betrachten. Zunächst behandele ich die Argumente, die prohairesis und Wunsch als nicht miteinander identisch erweisen sollen. Alle drei Argumente beruhen darauf, dass ein Bereich von Gegenständen benannt wird, auf die sich zwar der Wunsch, aber nicht die prohairesis beziehen kann. Das erste Argument lautet, dass der Wunsch sich auch auf Unmögliches beziehen kann, die prohairesis dagegen nicht. Ein Beispiel für etwas Unmögliches ist die Unsterblichkeit.⁶³² Aufgrund der Parallelstelle in der EE lässt sich noch hinzufügen, dass sich die prohairesis zumindest dann nicht auf Unmögliches beziehen kann, wenn man weiß, dass es sich um etwas Unmögliches handelt. Hält
Vgl. Top. IV 5, 126a12– 13 und De An. III 9, 432b5 – 7; zitiert im Abschnitt „8.4 Die boulêsis: Der rationale Wunsch“ Der Annahme, dass der Wunsch dem rationalen Seelenteil zuzuordnen ist und deshalb etwas Rationales ist, steht eine Aussage in der Politik entgegen (Pol. VII 15, 1334b20 – 25): „[…] wie auch der Körper früher im Entstehen ist als die Seele, so besitzt man auch den nichtrationalen [Seelenteil] früher als den rationalen. Dies ist auch klar. Denn der Zorn und der Wunsch, ferner die Begierde liegen auch bei Kindern schon sofort nach der Geburt vor, Überlegung und Vernunft entwickeln sich natürlicherweise aber erst, wenn sie älter werden.“ Auf die Frage, ob die boulêsis die einzige Art von Strebung ist, auf der eine prohairesis beruht, oder ob in manchen Fällen auch andere Arten von Strebung einer prohairesis zugrunde liegen können, gehe ich später ein; vgl. Abschnitt „7.3 Diskussionsfrage: Ist der Wunsch die einzige Art von Strebung, auf der eine prohairesis beruhen kann?“. Mit Unsterblichkeit ist hier nicht die Unsterblichkeit der Seele gemeint ist, sondern die vollständige Befreiung vom Tod, wie sie den Göttern zukommt (vgl. Gauthier/Jolif 1970, 194; Stewart 1892, 248). Unsterblichkeit diente in Diskussionen als Standardbeispiel für etwas, was für Menschen unmöglich ist (Grant 1866, 16).
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5 Bestimmung der prohairesis mittels eines Ausschlussverfahrens
man etwas Unmögliches irrigerweise für möglich, kann man sich auch dazu entschließen, Dinge zu tun, von denen man annimmt, dass sich mit ihrer Hilfe das vermeintlich mögliche Ziel erreichen lässt. Man wird aber in diesem Fall in seinem Handeln nicht erfolgreich sein und irgendwann feststellen müssen, dass das Ziel nicht zu erreichen ist. Hat man schließlich die Unmöglichkeit eingesehen, kann man das Ziel zwar weiterhin wünschen, man kann sich aber nicht mehr zu einer Handlung entschließen, um es zu erreichen. Das zweite Argument in der EN lautet, dass der Wunsch sich auch auf Dinge beziehen kann, die zwar nicht grundsätzlich für Menschen unmöglich sind, die aber für die handelnde Person unmöglich sind, da diese sie nicht durch eigenes Handeln erreichen kann. Beispiele dafür sind z. B. der Sieg eines Schauspielers oder eines Sportlers in einem Wettkampf. Den Sieg des Sportlers kann man sich zwar wünschen, aber man kann sich nicht dazu entschließen, dass jemand Bestimmtes gewinnt. Nur der Schauspieler oder der Sportler selbst kann sich dazu entschließen, alles dafür Nötige zu tun. Auch hier spielt eine Rolle, was die handelnde Person meint, durch ihr Handeln erreichen zu können. Ist eine Person der irrigen Auffassung, sie könne durch ihr Handeln den Sieg einer anderen Person herbeiführen, kann sie sich auch dazu entschließen, dies zu tun. Sie wird aber darin scheitern, ihrer prohairesis entsprechend zu handeln, wenn Gegenstand ihrer prohairesis etwas ist, das sie nicht durch ihr Handeln erreichen kann. Dass etwas für eine Person möglich ist, zu tun, bedeutet nach Aristoteles, dass es bei der Person liegt, es zu tun oder nicht zu tun. Eine Person entschließt sich nur zu etwas, wenn sie meint, dass es bei ihr liegt, dies zu tun oder nicht zu tun (eph’ hautô[i] d’ oietai praxai ê mê praxai). Andererseits ist Aristoteles auch nicht der Ansicht, dass es gänzlich ausgeschlossen ist, das Handeln einer anderen Person zu beeinflussen und diesbezüglich eine prohairesis zu haben. Denn im Zuge der Bestimmung der Überlegung sagt er wenig später ausdrücklich, dass auch bei der Handlung eines Freundes der Ausgangspunkt im anderen Freund liegen kann (1112b27– 28). Dieses Beispiel zeigt, dass die Dinge, die bei einer Person liegen, nicht nur ihre eigenen Handlungen umfassen, sondern dass dazu auch Dinge gehören können, die eine andere Person tut. Wesentliches Merkmal scheint in diesem Fall zu sein, dass die Personen in einem besonderen Verhältnis zueinanderstehen. Aristoteles denkt hier vermutlich an Charakterfreunde, die einander bezüglich ihres Charakters so sehr gleichen, dass er annimmt, dass Handlungen des einen gewissermaßen auf die des anderen zurückgeführt werden können. Gleiches trifft auch auf andere Arten von Beziehungen zwischen Menschen als die Charakterfreundschaft zwischen Charakterfreunden zu. Auch die Nutzenfreundschaft, wie sie nach Aristoteles zwischen dem Herrn und dem Sklaven besteht, begründet ein Verhältnis, für das gilt, dass der eine Nutzenfreund, d. h. der Herr, durch den anderen Nutzenfreund, d. h. seinen Sklaven, handeln kann.
5.2 Ausschlussverfahren zur Bestimmung der Gattung der prohairesis
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Das dritte Argument in der EN, das in der EE erst etwas später und in einem anderen Kontext vorkommt,⁶³³ ist das wichtigste, um das Verhältnis von Wunsch und prohairesis zu bestimmen und zu erklären, was Aristoteles unter einer prohairesis versteht. Das Argument lautet, dass sich der Wunsch eher auf das Ziel, die prohairesis dagegen auf die Dinge, die zum Ziel führen, bezieht (pros to telos). Aristoteles gibt zwei Beispiele für diese Differenz: Man wünscht sich als Ziel, gesund zu sein, aber man entschließt sich nicht zur Gesundheit, sondern die prohairesis richtet sich auf das, was man tun kann, um gesund zu sein, wie z. B. spazieren zu gehen oder mäßig zu essen. Ebenso wünscht man sich, glücklich zu sein; entschließen kann man sich aber nur zu Dingen, durch die man meint, das Glück zu erreichen, wie z. B. tugendhaft zu handeln. Die zentrale Frage, die uns später noch beschäftigen wird, ist, ob Aristoteles hier eine klare Arbeitsteilung vornimmt, nach der der Wunsch für die Ziele des Handelns zuständig ist und die prohairesis nur die Mittel auswählt, um das Ziel zu erreichen.⁶³⁴ Das Argument in der EN scheint eine derart strikte Aufteilung nicht zu verlangen. Aristoteles sagt nur, dass der Wunsch sich eher (mallon) auf das Ziel bezieht, was nicht bedeutet, dass er sich immer auf das Ziel bezieht. Diese Lesart wird durch die Parallelstelle in der EE (1226a13 – 16) gestützt, wo es zweimal heißt, dass sich der Wunsch am meisten bzw. vor allem (malista) auf das Ziel bezieht. Das heißt nicht, dass der Wunsch sich immer auf das Ziel richtet.⁶³⁵ In Bezug auf die prohairesis findet sich jedoch an dieser Stelle weder in der EN noch in der EE ein ähnlicher einschränkender Hinweis,⁶³⁶ so dass die Formulierungen zunächst
In der EE bringt Aristoteles das entsprechende Argument nicht direkt im Anschluss an die beiden ersten Argumente vor, mit denen er prohairesis und Wunsch als verschieden erweisen will, sondern er argumentiert zuerst gegen die Gleichsetzung von prohairesis und Meinung und kommt erst danach nochmals auf den Wunsch zurück. Dass das Bild einer solchen klaren Arbeitsteilung irreführend ist und nicht Aristoteles’ Auffassung entspricht, führe ich in den Abschnitten „8.5 Die Relation zwischen Wunsch (boulêsis) und Entschluss (prohairesis)“ und „9.3 Das Verhältnis von Tugend und Entschluss“ näher aus. Eindeutiger wirken allerdings die Formulierungen, mit denen Aristoteles in EN III 6 die Behandlung des Wunsches und in EN III 7 die Diskussionen von Tugenden und Lastern beginnt (1113a15): „Dass der Wunsch sich auf das Ziel bezieht, wurde gesagt […]“ sowie (1113b3 – 5): „Da also Gegenstand des Wünschens das Ziel ist, Gegenstand des Überlegens und Sich-Entschließens aber die Dinge, die zum Ziel führen, dürften wohl auch die Handlungen, die diese betreffen, gemäß dem Entschluss und willentlich sein.“ Der Suggestion solcher Formulierungen folgt der Paraphrast, der Aristoteles folgendes zuschreibt: „Der Wunsch bezieht sich immer auf das Ziel, der Entschluss auf die Dinge, die zum Ziel führen.“ Allenfalls könnte man den letzten Satz, der die Argumente in Bezug auf den Wunsch abschließt, als vorsichtiges Indiz deuten, dass Aristoteles auch für die prohairesis nicht ausschließlich die Zuständigkeit für die Dinge, die zum Ziel führen, annehmen will (EN 1111b29 – 30): „Allgemein scheint sich nämlich der Entschluss auf das zu beziehen, was bei uns liegt“.
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Anlass zur Vermutung geben, dass sich nur der Wunsch nicht ausschließlich auf das Ziel bezieht, wohingegen sich die prohairesis ausschließlich auf die Dinge, die zum Ziel führen, richtet. Damit ist ein drittes Unterscheidungskriterium genannt, das aber nicht gleichermaßen distinkt und eindeutig ist wie die ersten beiden und noch einer weiteren Prüfung bedarf.
5.2.3 Meinung (EN 1111b30 – 1112a13 resp. EE 1226a1 – 17) Nachdem die prohairesis sich mit keiner der drei Arten von Strebung idenfizieren ließ, prüft Aristoteles als nächstes, ob sie mit Meinung (doxa), also etwas rein Kognitivem, identisch ist. Um die Verschiedenheit von prohairesis und Meinung zu erweisen, bringt er in der EN eine ganze Reihe von Argumenten vor.⁶³⁷ Die aufwendige Argumentation lässt sich damit erklären, dass die Auffassung, die prohairesis als etwas rein Kognitives zu verstehen, in der Akademie verbreitet war. Auch Platon verwendet „προαιρεῖσθαι“ häufig in einem rein kognitiven bzw. logischen Sinn, so z. B. bei der Beschreibung des Verfahrens der Diahairesis.⁶³⁸ In Abgrenzung zu Platon ist es für Aristoteles zudem besonders wichtig, die prohairesis auch als verschieden von Meinungen einer bestimmten Art, nämlich Meinungen über das Gute und Schlechte, zu erweisen.⁶³⁹ In der Parallelstelle in der EE bringt Aristoteles weniger Argumente für die Verschiedenheit von prohairesis und Meinung vor. Ausschließlich der Meinung gelten nur die Zeilen 1226a1– 6, in denen sich analoge Argumente zu den ersten drei in der EN finden. Nicht ganz eindeutig ist, worauf sich „τοῦτο“ in Zeile 1226a6 bezieht. Fasst man „τοῦτο“ wie üblich rückverweisend auf, so dass mit dem Satz „Dies ist Meinung und Wunsch gemeinsam“ (koinon de peri doxês touto kai boulêseôs) auf den vorhergehenden Abschnitt (1226a1– 6) Bezug genommen wird, so ist mit dem Gemeinsamen von Wunsch und Meinung vermutlich gemeint, dass sich beide auch auf die Dinge beziehen, die nicht bei uns liegen (a1– 4). Für dieses Verständnis spricht ferner, dass Aristoteles dasselbe Merkmal auch in der EN sowohl in Hinblick auf den Wunsch als auch auf die Meinung als Unterscheidungskriterium zur prohairesis aufführt. Allerdings gibt es auch Gründe, „τοῦτο“
Ich halte mich in der Diskussion der Argumente nicht strikt an deren Reihefolge, sondern ziehe in einzelnen Fällen ein später vorkommendes Argument vor, wenn dies aufgrund des Kontextes naheliegt. Plt. 292b-c. Vgl. auch Gauthier/Jolif 1970, 196. Eine detaillierte, überblicksartige Darstellung der platonischen Behandlung der prohairesis findet sich bei: E. Kullmann 1943, insb. 40 – 42 und R. Walzer 1929, 131– 139. Vgl. z. B. Grant 1866, 17.
5.2 Ausschlussverfahren zur Bestimmung der Gattung der prohairesis
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auf den folgenden Abschnitt (1226a7– 17) zu beziehen, wenngleich dies nicht die gängige Verwendungsweise von „τοῦτο“ ist. Im nächsten Satz (a7– 13) wird nämlich tatsächlich an das Vorherige angeknüpft. Mit dem Kriterium, ob es sich um etwas handelt, das auf das Ziel gerichtet ist, oder auf die Dinge, die zum Ziel führen, wird nämlich im Weiteren ein Grund (gar) eingeführt, aus dem sich die prohairesis von anderem unterscheidet.⁶⁴⁰ Es ist aber auffallend, dass in dem gesamten Satz, der das Unterscheidungskriterium erläutert, stets nur „προαιρεῖσθαι“ vorkommt und kein einziges Mal „δοξάζειν“ oder „βούλεσθαι“, so dass die Formulierung offenlässt, ob jeweils beide Verben zu ergänzen sind oder möglicherweise nur „βούλεσθαι“. Im weiteren Kontext scheint das Argument jedoch zugleich auf Meinung und Wunsch bezogen zu werden. Denn sowohl in dem Satz (a6 – 7), der das Argument einleitet, als auch in der Schlussfolgerung des Arguments (1226a15 – 17: „ὥστε φανερὸν διὰ τούτων ὅτι ἄλλο καὶ δόξης καὶ βουλήσεως. βούλεσθαι μὲν καὶ δόξα μάλιστα τοῦ τέλους, προαίρεσις δ᾿ οὐκ ἔστιν“)⁶⁴¹ wird explizit auf Wunsch und Meinung Bezug genommen. Fasste man das Argument in der EE in dieser Weise auf, so bestände hierin eine auffällige Abweichung von der Behandlung in der EN, wo Aristoteles das Argument, dass sich prohairesis und Wunsch insofern unterscheiden, als der Wunsch sich am meisten auf das Ziel richtet, die prohairesis dagegen auf die Dinge, die zum Ziel führen, nur auf den Wunsch bezieht. Es ist m. E. denkbar, dass Aristoteles nicht ohne Grund dieses Argument in der EN auf den Wunsch begrenzt. Denn im Fall der Meinung erscheint das Kriterium, dass sie sich am meisten auf das Ziel bezieht, weniger überzeugend als beim Wunsch. Hält man sich ferner die anderen Merkmale vor Augen, die Aristoteles in der Argumentation in der EN als für Meinungen spezifisch aufführt, nämlich dass sie das betreffen, was etwas ist, oder wem es nützt oder wie, so ist hierbei nicht einleuchtend, weshalb dies nur als Ziel bezeichnet werden sollte. Man könnte die Merkmale ebenfalls als etwas klassifizieren, das relevante Aspekte von Dingen betrifft, die zum Ziel führen.⁶⁴² Hier scheint somit die Zuordnung zu Zielen und zu Dingen, die zum Ziel führen, nicht eindeutig zu sein.
Vgl. Woods 2005, 151. EE II 10, 1226a15 – 17: „Aus diesen Gründen ist es klar, dass er [i. e. der Entschluss; BL] etwas anderes ist als Meinung und Wunsch. Wünschen und Meinung beziehen sich vor allem auf das Ziel, der Entschluss hingegen nicht.“ Freilich schließt die Formulierung, dass Wunsch und Meinung am meisten die Ziele betreffen, auch nicht aus, dass Wunsch und Meinung auch einmal Dinge betreffen, die zum Ziel führen. Mir erscheint es aber noch nicht einmal etwas Spezifisches von Meinungen zu sein, dass sie eher das Ziel betreffen.
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Die Argumentation in der EN, mit der die Verschiedenheit von prohairesis und Meinung begründet wird, wirkt somit elaborierter als die parallele Behandlung in der EE. Gleichwohl enthält die Argumentation in der EE einen bemerkenswerten Satz, mit dem Aristoteles die prohairesis näher charakterisiert, zu dem sich in der EN keine Parallele findet: „[…] und allgemein macht einer, der sich entschließt, immer deutlich, wozu er sich entschließt und worumwillen, und dieses ist das, um dessentwillen er sich zu jenem entschlossen hat, und jenes ist, wozu er sich um dieses willen entschließt [Hervorhebung BL].“⁶⁴³ Diese Erläuterung ist auffällig, da Aristoteles damit anzudeuten scheint, dass auch eine prohairesis in bestimmter Weise mit dem Ziel zu tun hat, nämlich insofern in jeder prohairesis auch zum Ausdruck kommt, worumwillen sich jemand zu etwas entschließt. Mit anderen Worten: Eine prohairesis enthält immer auch einen wesentlichen Bezug auf das Ziel, das angestrebt wird, und die prohairesis ist auf die Schritte gerichtet, die nötig sind, um dies zu erreichen. Auf eine ausführliche Diskussion verzichte ich an dieser Stelle, da sie für die Kommentierung von EE II 11 zentral sein wird.⁶⁴⁴
1. Argument Das erste Argument in der EN für die Verschiedenheit von Meinung und prohairesis lautet, dass sich die Meinung auf alle Dinge bezieht, während sich die prohairesis nur auf das bezieht, was bei uns liegt. Auf die Dinge, die bei uns liegen, bezieht sich die Meinung zwar auch, aber sie richtet sich überdies auch auf unmögliche und ewige Dinge. In der EE wird zwar nicht präzisiert, dass es allgemein ewige und unmögliche Dinge sind, auf die sich die Meinung im Unterschied zur prohairesis beziehen kann, dort wird aber ein Beispiel für etwas Ewiges gegeben, und zwar die Kommensurabilität⁶⁴⁵ der Diagonale. Die mathematische Falschheit kann Gegenstand einer Meinung sein, man kann sich aber nicht dazu entschließen, dass dies so ist oder nicht so ist.⁶⁴⁶
EE II 10, 1226a11– 13: [… ] καὶ ὅλως δηλοῖ ἀεὶ προαιρούμενός 〈τις〉 τί τε καὶ τίνος ἕνεκα προαιρεῖται, ἔστι δὲ τὸ μὲν τίνος, οὗ ἕνεκα προαιρεῖται ἄλλο, τὸ δὲ τί, ὃ προαιρεῖται ἕνεκα ἄλλου. Vgl. die Abschnitte „9.2 Die Tugend macht das Ziel und den Entschluss richtig“ und „9.3 Das Verhältnis von Tugend und Entschluss“. In den MSS ist in 1226a3 – 4 „σύμμετρον“ überliefert, woran ich festhalte. Demnach gibt Aristoteles als Beispiel für etwas Ewiges die mathematische Falschheit, dass die Diagonale kommensurabel ist (vgl. meine Anm. 515, S. 191). Vgl. Aspasius in Eth. Nic. CAG XIX/1 69.18 – 21): „Der Entschluss bezieht sich nur auf die Dinge, die bei uns liegen, und weder auf die ewigen noch auf die unmöglichen Dinge. Denn wir sagen nicht, dass jemand einen Entschluss dazu fasst, dass die Diagonale inkommensurabel mit der Seite ist oder dass der Kosmos unendlich ist.“ Ewige Dinge wie mathematische Wahrheiten sind nach Aristoteles freilich primär Gegenstand der epistêmê, sie können aber auch Gegenstand
5.2 Ausschlussverfahren zur Bestimmung der Gattung der prohairesis
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2. Argument Das zweite Argument ist, dass Meinungen danach unterschieden werden, ob sie wahr oder falsch sind, während prohaireseis sich eher darin unterscheiden, ob sie gut oder schlecht sind. Etwas später (1112a5 – 7) fügt Aristoteles in der EN als im Ganzen fünftes Argument noch hinzu, dass Meinungen dafür gelobt werden, dass sie wahr sind, wohingegen eine prohairesis mehr dafür gelobt wird, dass sie richtig ist bzw. dass sie das zum Gegenstand hat, was sein soll. Diese beiden Argumente betrachtet Aristoteles anscheinend als hinreichend, um die Identität der prohairesis mit Meinungen überhaupt auszuschließen.
3. Argument Als nächstes erwägt Aristoteles im insgesamt dritten Argument, ob die prohairesis womöglich zumindest mit Meinungen einer bestimmten Art identisch ist (all’ oude tini, 1112a1). In der EE schließt er diese Identifizierung geradewegs aus, ohne dafür einen Grund anzugeben. Er hält schlicht fest, dass die prohairesis auch nicht identisch ist mit einer Meinung über die Dinge, die bei uns liegen und in deren Fall wir gerade meinen, dass man sie tun und nicht tun soll (1226a4– 6). In der EN charakterisiert er die Dinge, die man tun und die man nicht tun soll, als die guten und schlechten Dinge. Hier gibt er auch einen Grund dafür an, warum die prohairesis nicht mit der Meinung über die guten oder schlechten Dinge zu identifizieren ist: Die prohairesis, nicht aber die Meinung, ist dafür relevant, wie wir beschaffen sind (poioi tines esmen). Mit der Beschaffenheit ist die charakterliche Beschaffenheit gemeint, so dass die Begründung so zu verstehen ist, dass die prohairesis im Unterschied zur Meinung auf zuverlässigere Weise anzeigt, wie eine Person charakterlich disponiert ist. In einer prohairesis aktualisiert sich der Charakter einer Person und sie führt unmittelbar zur entsprechenden Handlung, wenn keine Hindernisse auftreten. Demgegenüber ist es möglich, Meinungen zu haben, die nicht dem Charakter einer Person entsprechen, und zudem führt nicht jede Meinung zu einer entsprechenden Handlung. In der EN erwähnt Aristoteles etwas später einen Fall, der als Beispiel für dieses Unterscheidungskriterium dienen kann. Im siebten und letzten Argument in 1112a8 – 11 warnt er davor, denjenigen, der die besten Entschlüsse fasst, mit demjenigen zu identifizieren, der die besten Meinungen hat. Denn es ist möglich, dass jemand zwar eine richtige Meinung über das hat, was man tun soll, sich aber nicht dazu entschließt, weil er schlecht ist (dia kakian). Aspasius führt hierfür den Fall an, dass jemand
von Meinungen sein, und im Unterschied zur epistêmê kann die Meinung auch mathematische Falschheiten zum Gegenstand haben.
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zwar meint, dass Gerechtigkeit etwas Schönes ist, sich aber gleichwohl nicht zur Gerechtigkeit, d. h. zu einer gerechten Handlung, entschließt und deswegen auch nicht gerecht ist.⁶⁴⁷ So kann jemand zwar die richtige Meinung haben, welche Handlung in einer Situation gerecht ist, sich aber trotzdem nicht zur gerechten Handlung entschließen, weil sein Begehren stärker ist und ihn zu einem anderen Handeln drängt.⁶⁴⁸ Schließlich ist der Fall denkbar, dass jemand sogar nicht nur weiß, wie in der vorliegenden Situation gerecht zu handeln ist, sondern auch dementsprechend handelt, dass er aber trotzdem nicht gerecht ist, weil er nicht aus einer prohairesis heraus handelt, sondern weil er z. B. einem Befehl folgt oder gezwungen wurde, derart zu handeln.
4. Argument Das vierte Argument in der EN beruht auf der Annahme, dass der Entschluss das zum Gegenstand hat, was zu erlangen und was zu meiden ist. Die Meinung betrifft dagegen die Frage, was etwas ist, oder die Frage, wem und wie es nützlich ist, wie z. B., dass helles Fleisch gut verdaulich und daher gut für die Gesundheit ist und dass Geflügel helles Fleisch ist. Die Meinung ist jedoch nicht handlungsmotivierend; dies kommt nur der prohairesis zu. Im Hintergrund dieses Arguments könnte auch die aristotelische Ansicht stehen, dass Denken allein nicht bewegt,⁶⁴⁹ d. h., dass eine Meinung allein nicht ausreicht, damit eine Person etwas zu erlangen oder etwas zu vermeiden versucht. Dafür muss eine Art von Strebung hinzukommen, d. h. eine Motivation, etwas zu erlangen oder zu meiden.
6. Argument Das sechste und letzte bisher noch nicht kommentierte Argument besagt, dass man sich zu dem entschließt, bei dem man am sichersten ist, dass es gut ist,
Aspasius in Eth. Nic. CAG XIX/1 69.30 – 33. Aspasius verweist zur Illustration dieses Falls auf den Unbeherrschten (Aspasius in Eth. Nic. CAG XIX/1 69.33 – 34; vgl. auch Stewart 1892, 250). Der Unbeherrschte ist jedoch kein gutes Beispiel, um den Fall zu illustrieren, dass eine Person zwar die richtige Meinung hat, aber nicht zum entsprechenden richtigen Entschluss gelangt. Denn der Unbeherrschte verfügt nach Aristoteles durchaus über die richtige prohairesis, sie bleibt aber unwirksam. Z. B. EN VI 2, 1139a35 – 36: „Denken selbst bewegt nichts, sondern nur dasjenige [Denken], das um einer Sache willen ist und praktisch ist, [bewegt].“ Vgl. auch De An. III 10, 433a22– 26: „Nun bewegt die Vernunft aber offenbar nicht ohne Strebung – das Wünschen ist nämlich eine Strebung, und wenn man sich aufgrund der Überlegung bewegt, so bewegt man sich auch aufgrund des Wünschens –, doch die Strebung bewegt auch gegen die Überlegung, die Begierde ist nämlich eine Strebung [Übersetzung Corcilius].“
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während man Meinungen auch davon hat, was man nicht gänzlich (pany) weiß. Stewart ist der Ansicht, dass es bei diesem Argument um den Unterschied geht, dass sich die prohairesis stets auf das Gute bezieht, während dieser Bezug für die Meinung nicht wesentlich ist. Er schlägt daher vor, nach „δοξάζομεν δὲ ἃ οὐ πάνυ ἴσμεν“ in 1112a8 „ἀγαθὰ ὄντα“ zu ergänzen, so dass das Charakteristikum der Meinung wäre, manchmal auch nicht zu wissen, was das Gute ist. Allerdings hat diese Deutung die Schwierigkeit, dass die Bedeutung von „πάνυ“ nicht verständlich wird. Fasst man die Aussage des Satzes hingegen wie die meisten Kommentatoren auf, so ist „πάνυ“ so zu verstehen, dass man auch falsche Meinungen haben kann, weil sich eine Meinung im Unterschied zu Wissen auch auf Falsches beziehen kann. Als Begründung für ein Unterscheidungsmerkmal von Meinung und prohairesis ist das Argument dann freilich verkürzt, da im Grunde zwei Argumente enthalten sind: Erstens unterscheiden sich prohairesis und Meinung darin, dass eine prohairesis das Gute und Schlechte, eine Meinung dagegen das Wahre und Falsche betrifft. Der zweite Unterschied besteht in einer unterschiedlichen Überzeugungsintensität: Während eine prohairesis auf das gerichtet ist, von dem man am sichersten weiß, d. h. von dem man am meisten überzeugt ist, dass es gut ist, kann die Meinung auch auf etwas gerichtet sein, von dem man nicht gänzlich weiß, dass es wahr ist, d. h. bei dem man weniger überzeugt ist und es ggf. sogar für möglich hält, dass es falsch ist. Das zweite Unterscheidungskriterium ist wichtig, weil es die Grundlage für Aristoteles’ Annahme ist, dass die prohairesis immer nach dem Guten strebt. Das Gute kann entweder das wahrhaft Gute sein, oder es handelt sich um ein scheinbares Gut, das aber die handelnde Person für gut hält und auf das sich ihre prohaireseis richten. Das schließt aus, dass man nach etwas streben kann, was man für falsch hält; deshalb ist es ein spezifisches Merkmal für die prohairesis, sich darauf zu richten, wovon man am sichersten weiß und am meisten überzeugt ist, dass es gut ist.
5.2.4 Zwischenfazit zur Bestimmung der Gattung der prohairesis (EN 1112a13 – 17 resp. EE 1226b2 – 9) Damit ist das Ausschlussverfahren abgeschlossen, mit dessen Hilfe Aristoteles den Nachweis erbringen will, dass die prohairesis weder mit einer der drei Arten von Strebung – Begierde, Zorn oder Wunsch – noch mit Meinung identisch ist. Damit ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass irgendeine Verbindung zwischen prohairesis auf der einen und Meinung sowie Strebung auf der anderen Seite besteht; eine etwaige Verbindung näher zu bestimmen, ist vielmehr Aufgabe der folgenden Abschnitte. Dass es Aristoteles tatsächlich um eine derart klare Auf-
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gabenteilung in der Untersuchung geht, macht er in 1112a11– 13 deutlich, wo er die Behandlung der Meinung mit dem Resümee abschließt, dass es bis hierin um die Frage gegangen ist, ob prohairesis und Meinung dasselbe (tauton) sind. Die Frage, in welcher anderen (auch zeitlichen) Verbindung beide stattdessen stehen, war bisher noch nicht relevant. Sie ist Thema der weiteren Untersuchung. Zuvor wiederholt Aristoteles die Ausgangsfrage, was und wie beschaffen die prohairesis ist, sowie die bisher gesicherte Annahme, dass die prohairesis etwas Willentliches ist. Neu hinzukommt in dem kurzen Zwischenfazit das Kriterium, dass die prohairesis Denken und Überlegung (meta logou kai dianoias) beinhaltet bzw. Denken und Überlegung mit der prohairesis einhergehen. Damit soll offenbar die Vermutung begründet werden, dass die prohairesis das ist, was vorher überlegt worden ist (to probebouleumenon).⁶⁵⁰ Diese Vermutung wird im Folgenden zu prüfen sein und sie dient als Überleitung zum nächsten langen Kapitel 5 in EN III, in dem Aristoteles ausführlich die Überlegung behandelt und ihr Verhältnis zur prohairesis näher bestimmt. Kapitel 4 von EN III endet mit der bereits diskutierten Bemerkung zur Etymologie des Ausdrucks „προαίρεσις“, in der Aristoteles anscheinend auf die Mehrdeutigkeit der Präposition „πρό“ anspielt. Ich habe vorgeschlagen, dass mit der Vorsilbe in einem übertragenen Sinn zugleich eine zeitliche und eine räumliche Vorrangigkeit zum Ausdruck gebracht werden soll.⁶⁵¹ Auch in der EE findet sich ein kurzes Zwischenfazit, das inhaltlich der resümierenden Bemerkung in der EN gleicht, dort jedoch erst an späterer Stelle (EE II 10, 1226b2– 9) vorkommt, und zwar erst nachdem Aristoteles mit der Behandlung der Überlegung begonnen hat, die allerdings nach dem Zwischenfazit noch weitergeht. Auch das Resümee in der EE hält zum einen die Verschiedenheit von prohairesis und Meinung sowie Wunsch fest, betont zum anderen aber auch deren Verbindung. Die Formulierungen (ὡς ἐκ ἀμφοῖν ἄρα; ἄμφω ὑπάρχει τῷ προαιρουμένῳ ταῦτα; διὸ ἐκ δόξης βουλευτικῆς ἐστιν ἡ προαίρεσις) lassen offen, welcher Art der Zusammenhang ist, und Aristoteles macht es sich für das Folgende zur Aufgabe, dies näher zu untersuchen.⁶⁵²
Die Vermutung ist als Frage formuliert (EN 1112a15): „Ist er [i. e. der Entschluss; BL] dann vielleicht das, was vorher überlegt worden ist?“. Vgl. Kapitel „4.3.2 Diskussionsfrage: Was drückt die Vorsilbe im Kompositum „προαίρεσις“ aus?“. Vgl. auch die Parallelstelle in der EE (1226b5 – 6): „Aber es muss untersucht werden, wie er [i. e. der Entschluss] daraus [i. e. aus Meinung und Wunsch] entsteht.“
6 Behandlung des Spezifischen der prohairesis mittels einer Bestimmung der Überlegung (bouleusis/boulê) (EN 1112a18 – 1113a14 resp. EE 1226a17-b2 und 1226b9 – 1227a18) Um die prohairesis näher zu bestimmen, widmet Aristoteles in der EN der Überlegung einen langen zusammenhängenden Abschnitt, der in der lateinischen Kapiteleinteilung Kapitel 5 von Buch III darstellt. In der EE finden sich zwar viele Parallelstellen zur Untersuchung in der EN, diese sind aber verteilt und z.T. unterbrochen durch andere Abschnitte wie etwa durch das Zwischenfazit in 1226b2– 9. Darüber hinaus weicht die Diskussion in der EE an manchen Stellen auch inhaltlich auffällig von der Behandlung in der EN ab und liefert substantielle Ergänzungen. Deshalb werde ich in diesem Abschnitt ein anderes Vorgehen wählen und ähnliche Parallelstellen in der EE sogleich während der Kommentierung der Passage in der EN hinzunehmen, eigenständige und neue Abschnitte in der EE jedoch getrennt in zwei eigenen Kapiteln behandeln, und zwar in den Kapiteln 7 und 9.⁶⁵³
6.1 Terminologische Bemerkung Zunächst ist wiederum eine kurze terminologische Erläuterung hilfreich. Die Ausdrücke „βούλευσις“ und „βουλή“, die beide in EN III 5 vorkommen, haben im Griechischen ihren Ursprung und ihre häufigste Verwendung im politischen Kontext. So bezeichnet „βουλή“ oft den Rat bzw. die Ratsversammlung; auf diese Weise verwendet Aristoteles den Ausdruck z. B. in der Verfassung Athens, um den Rat der Aeropagiten (IV 4) oder die Räte der 500 unter Kleisthenes (XXI 3) und den der 400 Mitglieder unter Solon (VIII 4) zu bezeichnen.⁶⁵⁴ Das zugehörige Verb „βουλεύεσθαι“ hat im politischen Kontext die Bedeutung Beraten oder Mit-sichzu-Rate-Gehen ⁶⁵⁵; und in Anlehnung daran ist „βουλή“ mit „Beratung“ (bzw. „Mit-
Vgl. Kapitel „7. Positive Bestimmung der prohairesis in der Eudemischen Ethik (EE II 10, 1226b2– 1227a5)“ und Kapitel „9. Bestimmung des Verhältnisses der prohairesis zur Charaktertugend: Eudemische Ethik II 10, 1227a31-b11 und 11, 1227b12– 1228a19“. Vgl. Rhodes 1981. Alternative Bedeutungen im Deutschen sind: Beratschlagen und Erwägen. Im Englischen entspricht dieser Bedeutung die Übersetzung „to take counsel“, und „βουλή“ wird im politischen Kontext meist mit „counsel“ übersetzt. https://doi.org/10.1515/9783110517583-008
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6 Behandlung des Spezifischen der prohairesis
sich-zu-Rate-Gehen“) zu übersetzen. In der Rhetorik verwendet Aristoteles zudem den synonymen Ausdruck „συμβουλή“, wenn er die Beratung als die für die politische Rede geeignete Argumentationsform beschreibt.⁶⁵⁶ Die Bestimmung der Beratung in Hinblick auf ihren Gegenstand und ihren Vorgang stimmt dabei strukturell in weiten Zügen mit der Bestimmung der Überlegung in EN III 5 überein. Es ist anzunehmen, dass Aristoteles diesen Gebrauch von „βουλεύεσθαι“ bzw. „βουλή“ auch bei seiner Behandlung der Überlegung in EN III 5 vor Augen hat. Er zieht am Ende selbst einen Vergleich zum politischen Kontext, wenn er an Homers Erzählung erinnert, nach der die Könige dem Volk verkünden, wozu sie sich entschlossen haben (1113a8 – 9), wobei anzunehmen ist, dass dem Entschluss ein Prozess des Mit-sich-zu-Rate-Gehens vorausgegangen ist. In EN III 5 überträgt Aristoteles die in der Politik übliche Tätigkeit des Beratens auf die Denktätigkeit einer einzelnen Person. Wie die Mitglieder des Rates geht auch eine Person mit sich zu Rate, indem sie die vorhandenen Möglichkeiten und deren jeweiligen Vor- und Nachteile abwägt, um ein Ziel zu erreichen. In EN III 5 verwendet er „βουλή“ zweimal (in 1112a19 und 1112b1) und an beiden Stellen lässt sich der Ausdruck gut mit „Beratung“ oder alternativ mit „Mit-sichzu-Rate-Gehen“ übersetzen.⁶⁵⁷ Überwiegend gebraucht er in EN III 5 aber „βούλευσις“ oder Formen des zugehörigen Verbs „βουλεύεσθαι“, um Denkvorgänge im Allgemeinen ohne Bezug zum politischen Kontext zu beschreiben. Hier übersetze ich mit „Überlegung“ bzw. „Überlegungen anstellen/überlegen“⁶⁵⁸, so dass sichtbar wird, ob im Griechischen Formen von „βουλεύω“ oder das seltenere „βουλή“ steht.⁶⁵⁹ Die häufigste englische Übersetzung für „βούλευσις“ ist „deliberation“, was ebenso wie das französische „délibération“ auf das lateinische „deliberatio“ zurückgeht. Auch in der deutschsprachigen Literatur findet sich bisweilen die Übersetzung „Deliberation“.⁶⁶⁰ Obwohl sie sachlich zutreffend ist, greife ich lieber auf einen Ausdruck zurück, der auch in der Alltagssprache geläufig ist.
Vgl. Rhet. I 4, 1359a30-b1. Außer in EN III kommt der Ausdruck noch zweimal in EN VI im Zusammenhang der Bestimmung der εὐβουλία vor (1142b1 und 1142b21), die als eine richtige Beratung in Hinblick auf das Gute bestimmt wird. In diesem Sinn ist „εὐβουλία“ gut zu übersetzen mit „Wohlberatenheit“. Die entsprechenden Wiedergaben im Englischen und Französischen sind „deliberation“ bzw. „délibération“. In der EE kommen in Buch II beide Substantive jeweils einmal vor („βούλευσις“ in 1226b20 und „βουλή“ in 1226b8) und auch hier sind „Überlegung“ bzw. „Mit-sich-zu-Rate-Gehen“ jeweils geeignete Übersetzungen. Corcilius entscheidet sich z. B. für die Übersetzung „Deliberation“ (Corcilius 2008b).
6.2 Ausschlussverfahren zur Bestimmung des Gegenstandes der Überlegung
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6.2 Ausschlussverfahren zur Bestimmung des Gegenstandes der Überlegung (EN 1112a18 – 30 resp. EE 1226a17-b2) Aristoteles’ Behandlung der Überlegung in EN III 5 lässt sich in vier Abschnitte gliedern. Die ersten beiden Abschnitte geben eine nähere Bestimmung der Überlegung, indem deren Gegenstandsbereich eingegrenzt wird. Dabei führt er im ersten Teil an, was nicht Gegenstand der Überlegung ist, bevor er im zweiten Teil in positiver Weise formuliert, was Gegenstand der Überlegung ist und was das Spezifische daran ist. Der dritte Abschnitt enthält eine Beschreibung des Prozesses des Überlegens und ist die zentrale Stelle, um zu verstehen, was Aristoteles unter einer Überlegung versteht und weshalb sie essentiell für eine prohairesis sein soll. Der vierte und letzte Abschnitt von Kapitel 5 behandelt den Zusammenhang von Überlegung und prohairesis. Aristoteles beginnt seine Bestimmung der Überlegung, indem er den Gegenstandsbereich eingrenzt. Möglicher Gegenstand einer Überlegung ist etwas, worüber man (sinnvollerweise)⁶⁶¹ Überlegungen anstellen kann. Eine Überlegung über etwas anzustellen, bedeutet dabei nicht, danach zu fragen, ob es etwas gibt oder was etwas ist. Das wäre Aufgabe einer Untersuchung im weiten Sinn, die Aristoteles eine zêtêsis nennt.⁶⁶² Eine Überlegung über etwas anzustellen, impliziert dagegen sich zu fragen, was man tun kann bzw. wie man etwas durch eigenes Handeln verändern kann. Den Gegenstandsbereich der Überlegung grenzt er nun ein, indem er zunächst bestimmt, was nicht (sinnvollerweise) Gegenstand des Überlegens sein kann. Als erstes schließt er die Dinge aus, über die nur ein Dummkopf (êlithios) oder ein Wahnsinniger (mainomenos) Überlegungen anstellen. Derlei Dinge sind auszuschließen, weil sie keine zuverlässigen Indikatoren für die Bestimmung des Gegenstandsbereichs von Überlegung sind.Weder der Dummkopf noch der Wahnsinnige ist in der Lage, sein Vernunftvermögen in der richtigen Weise zu aktivieren, und zwar entweder, weil er überhaupt kein Vernunftvermögen hat oder weil er zwar eines hat, es aber nicht in der richtigen Dass stets vorausgesetzt ist, dass es sich um mögliche Gegenstände vernünftigen Überlegens handelt, wird u. a. daran ersichtlich, dass Aristoteles zu Beginn aus dem Gegenstandsbereich der Überlegung jene Dinge ausschließt, über die ein Dummkopf oder ein Wahnsinniger Überlegungen anstellen könnten. Die Annahme, dass es ausschließlich um sinnvolle Überlegungen geht, schließt aber nicht aus, dass es nicht vorkommen kann, dass jemand Überlegungen über Dinge anstellt, die keine adäquaten Gegenstände des Überlegens sind. Das ist z. B. möglich, wenn jemand irrtümlicherweise annimmt, dass es etwas ist, das zu ändern bei ihm liegt. Hat die Person jedoch eingesehen, dass sie die Dinge nicht verändern kann, so kann sie nicht mehr sinnvollerweise darüber Überlegungen anstellen. Vgl. EN III 5, 1112b21– 23: „[…] (nicht jede Untersuchung scheint eine Überlegung zu sein, wie z. B. die mathematische Untersuchung, aber jede Überlegung ist eine Untersuchung), […].“
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6 Behandlung des Spezifischen der prohairesis
Weise aktivieren kann.⁶⁶³ Ein Dummkopf oder ein Wahnsinniger kann daher offenbar nur scheinbar Überlegungen anstellen, und Aristoteles würde dies vielleicht als ein akzidentelles Überlegen bezeichnen. Es handelt sich aber gewiss nicht um ein Überlegen im eigentlichen Sinn, da dies die Betätigung des Vernunftvermögens voraussetzt. Nur dieses ist maßgeblich, um den Gegenstandsbereich der Überlegung zu bestimmen. Als zweites schließt Aristoteles in 1112a21– 23 ewige und unveränderliche Dinge als adäquate Gegenstände der Überlegung aus und nennt hierfür als Beispiele zum einen den Kosmos und zum anderen eine mathematische Wahrheit. Dass es sich bei der ersten Gruppe von Gegenständen, die abgegrenzt werden, um Dinge handelt, die sowohl ewig als auch unveränderlich (akinêton)⁶⁶⁴ sind, macht erst die Fortsetzung des Textes klar: Denn der Text in 1112a23 fährt mit der Aussage fort, dass wir auch über manche Dinge, die Bewegung enthalten (tôn en kinêsei), keine Überlegungen anstellen. Das lässt die Vermutung zu, dass es zuvor ausschließlich um Dinge gegangen sein muss, die (vollkommen) unveränderlich sind. Folgt man dieser Annahme, die Stewart geäußert hat, so könnte man weiter schließen, dass mit dem Kosmos als Beispiel für etwas Ewiges und Unveränderliches der erste Beweger bzw. die erste unbewegte Ousia bzw. Substanz (ousia aidion akinêton) gemeint sein muss.⁶⁶⁵ In seinen kosmologischen Schriften entwickelt Aristoteles die Auffasung, dass der gesamte Kosmos bzw. das Universum eine ewige Anordnung ist, und in Met. XII kommt die Annahme hinzu, dass der
Im Fall des Wahnsinnigen ist es denkbar, dass er sich in einem krankhaften Zustand befindet, der zur Folge hat, dass er über kein aktivierbares vernünftiges Seelenvermögen (mehr) verfügt. Der griechische Ausdruck „ἀκίνητον“ hat sowohl die Bedeutung unverändert als auch die Bedeutung unveränderlich. Ich übersetze mit „unveränderlich“, da es insofern die grundlegendere und deshalb stärkere Bedeutung ist, als Unverändertsein Unveränderlichkeit voraussetzt. Häufig wird „ἀκίνητον“ im Deutschen auch mit „unbewegt/unbeweglich“ wiedergegeben. Diese Übersetzungsmöglichkeit ist zwar an dieser Stelle auch geeignet, da es sich bei den Veränderungen der Planeten tatsächlich um kreisförmige Ortsbewegungen handelt. Allerdings ist die Ortsbewegung (phthora) nur eine Art von Veränderung, auf die Aristoteles mit „κίνησις“ Bezug nimmt; der griechische Ausdruck kann daneben aber auch die Bedeutungen von Entstehen und Vergehen (genesis/phthora) sowie qualitativer Veränderung (alloiôsis) und quantitativer Veränderung (Wachstum und Verschwinden, auxêsis/phthisis) haben (vgl. Phys. III 1, 201a3 – 9 und 201a11– 15; Met. VII 1, 1042a32-b3; XII 2, 1069b9 – 13). Stewart 1892, 255: „From the words with which § 4 [= 1112a23 – 27; BL] begins – ἀλλ᾿ οὐδὲ περὶ τῶν ἐν κινήσει, it is plain that Aristotle thinks of the ἀίδια here, in § 3 [= 1112a21– 23; BL] as ἀκίνητα. […] but, as we have seen, in the κόσμος, an οὐσία ἀίδιος ἀκίνητος manifests itself in ἀίδιοι κινήσεις. We must suppose then that, in using the words περὶ τῶν ἀιδίων οἷον περὶ τοῦ κόσμου, he is thinking only of the πρῶτον κινοῦν or οὐσία ἀκίνητος, which is the cause of eternal motion, but is not itself motion; […].“
6.2 Ausschlussverfahren zur Bestimmung des Gegenstandes der Überlegung
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Kosmos von einem ewigen und unveränderlichen ersten Prinzip abhängt.⁶⁶⁶ Der Kosmos ist nach dieser kosmologischen Auffassung derart angeordnet, dass er einen „ersten Himmel“ (prôtos ouranos) enthält, der sich ewig und unaufhörlich bewegt. Diesen bezeichnet Aristoteles als ein „Mittleres“ (meson), da er etwas ist, das sich verändert und das verändert wird, und als solches setzt er etwas voraus, das zwar anderes verändern kann, ohne sich aber selbst zu verändern, der also ein erstes Bewegungsprinzip ist.⁶⁶⁷ Der erste Himmel ist somit ein Mittleres zwischen dem unveränderlichen Beweger und den anderen Planeten, wie z. B. der Sonne und den untergeordneten Planeten, für deren Veränderung der erste Himmel wiederum Ursache ist. Wenn damit laut Met. XII nur der Unbewegte Beweger etwas ist, das ewig und vollkommen unbewegt ist, ergibt sich, dass mit dem ersten Beispiel des Kosmos in 1112a22 der Unbewegte Beweger gemeint sein müsste, denn sowohl der erste Himmel als auch die anderen Planeten fallen unter die bewegten Gegenstände. Diese Deutung hat jedoch die Schwierigkeit, dass sie davon ausgeht, dass Aristoteles den Ausdruck „κόσμος“ hier als Bezeichnung für den Unbewegten Beweger verwendet, von dem es wiederum fraglich ist, ob er ihn überhaupt als Teil des Kosmos ansieht oder ob er ihn nicht vielmehr als etwas Transzendentes auffasst, das selbst nicht zum Kosmos gehört.⁶⁶⁸ Auf die mit dieser Frage verbundenen Probleme, was Aristoteles unter dem Unbewegten Beweger verstanden hat und in welchem Verhältnis dieser zu allen supra- und sublunaren Dingen steht, kann ich hier nicht weiter eingehen. An unserer Textstelle könnte die beschriebene Schwierigkeit dadurch vermieden werden, dass das Beispiel des Kosmos hier nicht mit dem Unbewegten Beweger identifiziert wird, sondern so aufgefasst wird, dass damit ein Fall für etwas Unveränderliches angegeben wird, das einerseits nicht vollkommen unverändert ist (da es sich kreisförmig bewegt), das aber andererseits in den meisten Hinsichten (qualitativ, quantitativ, Werden/ Vergehen) unveränderlich ist. Dies würde ausreichen, um zu veranschaulichen, dass der Kosmos kein geeigneter Gegenstand von Überlegung ist. Das zweite Beispiel für etwas Ewiges und Unveränderliches, das kein adäquater Gegenstand von Überlegung ist, ist die mathematische Wahrheit von der Inkommensurabilität der Diagonale und der Seite eines Quadrats. Aristoteles nimmt zumindest für einen Zweig der Mathematik an, dass dessen Gegenstände ewig und unveränderlich sowie abgetrennt sind,⁶⁶⁹ und dazu zählt die hier ge-
Vgl. Cael. II 14, 296a32– 33; Met. XII 6, 1071b4– 5. Met. XII 7, 1072a21– 26. Met. XII 10, 1075a11– 15. Met. VI 1, 1026a7– 10.
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6 Behandlung des Spezifischen der prohairesis
nannte mathematische Wahrheit.⁶⁷⁰ Insofern derartige mathematische Wahrheiten auch abgetrennt sind, d. h., dass sie für sich betrachtet werden können, ist es plausibel, sie im Deutschen als zeitlos anstatt als ewig zu bezeichnen, da es sich nach modernem Verständnis bei mathematischen Gegenständen um Gegenstände außerhalb von Raum und Zeit handelt.⁶⁷¹ Im Griechischen gibt es keine entsprechende terminologische Differenzierung, so dass „ἀεί“ und „ἀΐδιος“ in beiden Bedeutungen verwendet werden.⁶⁷² Als nächstes schließt Aristoteles in 1112a23 – 27 aus dem Gegenstandsbereich der Überlegung veränderliche Dinge aus, die sich entweder aus Notwendigkeit oder von Natur aus verändern. Als drittes nennt er noch Dinge, die sich aus einer anderen Ursache heraus verändern, ohne diese näher zu bestimmen. Es ist aber anzunehmen, dass er damit bereits auf den Zufall vorverweist als weitere mögliche Ursache von Bewegung, bei der Überlegen unangemessen ist, die erst in 1112a27 explizit erwähnt wird.⁶⁷³ Bei den Gruppen von Dingen, die aus Notwendigkeit und von Natur aus geschehen, muss es sich nicht um sich gegenseitig ausschließende handeln. Aristoteles verwendet physika einerseits als Oberbegriff für alles, was von Natur aus existiert und geschieht, und zählt dazu Lebewesen (zôa), Pflanzen sowie einfache Körper (ta hapla tôn sômatôn) wie Erde, Feuer, Luft und Wasser.⁶⁷⁴ All diese physika verändern sich von Natur aus bzw. gemäß ihrer Natur (physei), wenn kein gegenläufiger Impuls auftritt. Andererseits unterscheidet Aristoteles auch zwischen Dingen, die sich aufgrund von Notwendigkeit verändern, wie z. B. zwischen einem Stein, der sich notwendigerweise abwärts bewegt, und Dingen, die sich aus Natur um eines eigenen Ziels willen verändern, Vgl. GA II 6, 742b26 – 28. Taylor 2005, 155 (ad loc.): „‚[T]hings that are eternally soʻ include both timeless truths, such as mathematical truths, exemplified by the incommensurability of the diagonal and side of a square, and eternal truths, exemplified (in Aristotle’s view) by the basic truths about the nature of the cosmos, which remain true for all time. [Hervorhebung BL]“ Vgl. auch Grant 1866, 19: „Two kinds of eternity seem here placed in juxtaposition – one physical, the other mathematical.“ Auch bei Platon ist zu beobachten, dass er terminologisch nicht klar zwischen Zeitlosigkeit (Atemporalität) und Ewigkeit unterscheidet. Unter Atemporalität ist dabei zu verstehen, dass etwas weder eine zeitliche Position noch eine zeitliche Extension hat (vgl. Künne 2003, 285 – 295 und Künne 2007, 59). Am nächsten kommt Platon einer solchen Differenzierung im Timaios, wo gesagt wird, dass sich auf das ewige Sein keine zeitlichen Bestimmungen anwenden lassen, so dass die Annahme naheliegt, dass mit „dem ewigen Sein“ auf die Ideen Bezug genommen wird (vgl. Tim. 37e1– 38a6). An anderen Stellen beschreibt er die Ideen dagegen mit Hilfe eindeutig zeitlich konnotierter genereller Terme wie „ἀίδιος“ und „αἰώνος“. Vgl. hierzu Owen 1966 und Lienemann 2010, 37. Diese Aufzählung von Ursachen entspricht der Unterscheidung, die Aristoteles von Platon (Leg. X, 889a-c) übernimmt und selbst an verschiedenen Stellen anführt. Vgl. Phys. II 1, 192b8 – 16.
6.2 Ausschlussverfahren zur Bestimmung des Gegenstandes der Überlegung
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wie sich z. B. Pflanzen und Tiere, die sich in Form von Wachstum und Selbsterhaltung um eines natürlichen Ziels willen verändern. Die Beispiele zeigen, dass an dieser Stelle offenbar alle Arten von Veränderung von physika gemeint sind, sowohl jene, die aufgrund von Notwendigkeit auftreten, als auch jene, die um eines natürlichen Ziels willen geschehen, ohne dass es auf die genauen Unterschiede ankommt. Die Sonnenwende und der Aufgang der Sterne sind Beispiele für Veränderungen aufgrund von Notwendigkeit. Von einer Dürre und dem Regen sagt Aristoteles, dass sie sich einmal auf die eine und ein andermal auf eine andere Art ereignen. Solche Naturereignisse geschehen zwar weder aus Notwendigkeit noch um eines natürlichen Ziels willen; ein adäquater Gegenstand von Überlegung sind sie gleichwohl nicht, weil ihnen keine Regelmäßigkeit zugrunde liegt, die sich durch Überlegen erfassen ließe. Weiter schließt Aristoteles Dinge, die aus Zufall (apo tychês) geschehen, als angemessene Gegenstände von Überlegung aus und nennt als Beispiel für ein zufälliges Ereignis das Finden eines Schatzes. Dinge, die aus Zufall geschehen, fasst er als einen Unterfall von Dingen auf, die von sich aus geschehen (to automaton). Besonderes Charakteristikum von zufälligen Geschehnissen ist, dass sie nur bei rationalen Lebewesen vorkommen können, während von Ereignissen, die von sich aus auftreten, auch bei nicht-rationalen Lebewesen, bei lebendigen Dingen sowie bei unbelebten Dingen gesprochen wird.⁶⁷⁵ Bis hierhin hat Aristoteles ausschließlich solche Dinge aus dem Gebiet der Überlegung ausgeschlossen, die grundsätzlich nicht bei uns liegen können, d. h. bei denen es grundsätzlich dem Menschen nicht möglich ist, sie durch sein Handeln zu verändern.⁶⁷⁶ Als nächstes grenzt Aristoteles noch den Bereich all der Dinge aus, die der Mensch zwar grundsätzlich verändern kann (tôn anthrôpinôn apantôn)⁶⁷⁷, die aber aufgrund der konkreten Handlungsumstände einer bestimmten Person oder einer Personengruppe zu tun nicht möglich sind.⁶⁷⁸ Als
Vgl. Phys. VI 1, 197a36-b18. Aufgrund von EN VI 2 lässt sich noch ergänzen, dass auch Vergangenes nicht Gegenstand von Überlegung ist (EN VI 2, 1139b7– 8): „Denn niemand überlegt ja das Vergangene, sondern das Zukünftige und Mögliche.“ In der EE drückt Aristoteles die Differenz zwischen den Dingen, die grundsätzlich nicht vom Menschen zu beeinflussen sind, und jenen, die aufgrund der konkreten Handlungsumstände nicht beeinflussbar sind, mit Hilfe von „ὅλως“ aus (EE II 10, 1226a30): „[…] jene Dinge [i. e. die Dinge in Indien; BL] liegen nicht bei uns und dieses [i. e. den Kreis zu quadrieren; BL] ist überhaupt nicht machbar.“ Auf Grundlage der Rhetorik lässt sich noch ergänzen, dass man auch keine Überlegungen über Hoffnungsloses anstellt, selbst wenn dies nicht grundsätzlich dem Menschen unmöglich ist (Rhet. II 5, 1383a6 – 8: „Die Furcht treibt zur Überlegung an, und doch überlegt sich keiner die Dinge, die hoffnungslos sind [Übersetzung nach Rapp].“).
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6 Behandlung des Spezifischen der prohairesis
Beispiel dient hier der Fall, dass es nicht bei den Lakedämoniern liegt, die Verfassungsgebung der Skythen, die damals im Gebiet der heutigen Krim beheimatet waren, zu beeinflussen.⁶⁷⁹ Das Festlegen einer neuen Verfassung ist zwar etwas, was grundsätzlich zu den menschlichen Dingen gehört, aber im konkreten Fall ist es dem Volk der Spartaner nicht möglich, die Verfassungsgebung der Skythen zu beeinflussen, weil sie dazu z. B. nicht befugt sind oder sich nicht vor Ort befinden und daher nicht mit ihrem Handeln daran mitwirken können, dass eine neue Verfassung zustande kommt.
6.3 Positive Bestimmung des Gegenstandes der Überlegung (EN 1112a30-b11 resp. EE 1226a17-b2 passim und 1226b9 – 20 passim) In 1112a30 geht die Bestimmung des Gegenstandsbereichs der Überlegung von ihrem ersten Teil, in dem verschiedene Gruppen von Gegenständen aus dem Bereich der Überlegung ausgeschlossen werden, in den zweiten Teil über, in dem Aristoteles nun positiv bestimmt, welche Dinge Gegenstand der Überlegung sind. Zur Überleitung vom negativen zum positiven Teil der Bestimmung wiederholt er zunächst das bisher erzielte Ergebnis: Als allgemeine Charakterisierung gibt er an, dass grundsätzlich all diejenigen Dinge beim Menschen liegen, die er durch sein Handeln bewirken kann (1112a30 – 31). Für diese Dinge gilt, dass sie durch die Vernunft (nous) des Menschen verursacht sind und nicht durch eine der zuvor erörterten anderen Ursachen, d. h., dass sie weder aus Notwendigkeit, noch von Natur aus, noch aus Zufall geschehen. Sodann hält er in Hinblick auf eine einzelne Person fest, dass angemessene Gegenstände des Überlegens für sie jeweils all die Dinge sind, die bei ihr liegen, d. h. Dinge, die sie durch ihr Handeln verändern kann (1112a33 – 34).⁶⁸⁰ Zur Illustration zählt Aristoteles Beispiele von Disziplinen auf, für deren Gegenstände gilt, dass sie beim Menschen liegen und
In der EE nennt Aristoteles als alternatives Beispiel die Dinge, die in Indien geschehen, 1226a29). Die Verwendung von „ἕκαστοι“ in „τῶν δ᾿ ἀνθρώπων ἕκαστοι βουλεύονται περὶ τῶν δι᾿ αὑτῶν πρακτῶν“ macht deutlich, dass die Aussage des Satzes distributiv zu verstehen ist, d. h., dass für jedes Individuum das adäquater Gegenstand des Überlegens ist, was es durch sein Handeln zustande bringen kann. Daher ist auch „δι᾿ αὑτῶν“ hier im distributiven Sinn zu verstehen, demzufolge jeder Mensch darüber Überlegungen anstellt, was er durch sein eigenes Handeln zustandebringen kann (vgl. Stewart 1892, 261: „The object of deliberation generally is πᾶν τὸ δι᾿ ἀνθρώπου; but the individual can deliberate only about that part of δι᾿ ἀνθρώπου which is δι᾿ αὑτοῦ.“).
6.3 Positive Bestimmung des Gegenstandes der Überlegung
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daher grundsätzlich angemessener Inhalt von Überlegungen sein können. Allen Beispielen ist gemeinsam, dass es sich um herstellende Tätigkeiten, d. h. um poietische Tätigkeiten handelt. Keine der Handlungsweisen, an deren Beispiel Aristoteles hier veranschaulicht, worüber sinnvollerweise Überlegungen angestellt werden können, entstammt dem Gebiet des moralischen Handelns.⁶⁸¹ Es ist bemerkenswert, dass Aristoteles an dieser Stelle Überlegung nicht in Hinblick auf praxis (praxis) im engen Sinn, d. h. moralisch relevantes Handeln, ⁶⁸² bestimmt, wie man es aus dem Kontext erwarten könnte, sondern in Bezug auf praxis im weiten Sinn, die herstellende Tätigkeiten mit einschließt. Ich werde die Frage, welche Schwierigkeiten möglicherweise damit verbunden sind, dass Aristoteles den Prozess des Überlegens ausschließlich anhand von Beispielen aus dem Bereich der poiêsis veranschaulicht, in einem eigenen Abschnitt behandeln, nachdem die Kommentierung von EN III 5 abgeschlossen ist.⁶⁸³ Innerhalb der unterschiedlichen Arten von Herstellungskünsten, die Aristoteles exemplarisch aufzählt, differenziert er weiter in Hinblick darauf, ob und in welchem Maß in deren Bereich jeweils Überlegungen anzustellen sind: Je genauer eine Disziplin durch ihre Regeln festgelegt ist, desto weniger – wenn überhaupt – ist Überlegung in deren Bereich erforderlich. So gibt es laut Aristoteles in den „exakten und in sich abgeschlossenen Wissenschaften“ (akribeis kai autarkeis tôn epistêmôn) keine Überlegung. Als Beispiel verweist er hier auf die Grammatik, in der keine Überlegungen über die Buchstaben angestellt werden.⁶⁸⁴ Das Beispiel
Auf diesen Umstand machen viele Kommentatoren aufmerksam: vgl. z. B. Grant 1866, 18; ähnlich Gauthier/Jolif in Hinblick auf die Beispiele in 1112b13 – 14 (Gauthier/Jolif 1970, 200). Unter ‚moralisch relevantem Handelnʻ soll solches Handeln verstanden werden, das sich auf das bezieht, was für den Menschen gut oder schlecht ist, d. h., solches Handeln, das konstitutiv für das Erreichen der eudaimonia ist. Vgl. zur Differenzierung zwischen poiêsis und praxis: EN VI 4, 1140a1– 2: „Was sich anders verhalten kann, ist teils Gegenstand des Herstellens, teils Gegenstand des Handelns; Herstellen und Handeln sind verschieden.“ sowie EN VI 5, 1140b1– 7: „[…] so ist die Klugheit weder Wissenschaft noch Herstellungskunst: nicht Wissenschaft, weil die Gegenstände des Handelns sich anders verhalten können, nicht Herstellungskunst, weil die Gattung des Handelns eine andere ist als die des Herstellens. Es bleibt also, dass sie eine mit Denken verbundene wahre Disposition ist, die sich auf die Dinge bezieht, die für den Menschen gut oder schlecht sind. Das Ziel der Herstellung ist nämlich von dieser selbst verschieden, das Handeln dagegen nicht. Denn das gute Handeln ist selbst das Ziel.“ Es ist anzunehmen, dass die Wortstellung in den Zeilen 1140b1– 7 vertauscht worden ist; auf die wahrscheinlich korrekte Wortstellung gehe ich später ein: vgl. Anm. 740, S. 273. Vgl. Abschnitt „6.6 Analogien und Differenzen zwischen poietischen und praktischen Tätigkeiten“. In der EE nennt Aristoteles ebenfalls das Beispiel der Grammatik, führt es hier aber mit der Bemerkung ein, dass jemand die Schwierigkeit aufwerfen (aporêseien) mag, dass der Arzt Überlegungen anstellt, der Grammatiker hingegen nicht (EE II 10, 1226a33 – 35). Die Anspielung auf
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6 Behandlung des Spezifischen der prohairesis
der Grammatik ist so zu verstehen, dass kein Zweifel über die Orthographie der Wörter besteht, weil diese durch klare Regeln festgelegt ist.⁶⁸⁵ Das Beispiel verdeutlicht überdies, dass Aristoteles bei den „exakten Wissenschaften“ nicht an Wissenschaften im engen Sinn⁶⁸⁶ wie z. B. Mathematik denkt, sondern dass er „ἐπιστήμη“ in einem weiten Sinn verwendet, wie Platon den Ausdruck auch häufig, z. B. im Charmides, verwendet, nämlich im Sinne einer genaueren technê. Als genauere Kunstfertigkeit lässt sich eine Disziplin wie etwa die Grammatik beschreiben, weil ihr Gegenstandsbereich durch klare Regeln strukturiert ist; in sich abgeschlossen (autarkês) ist sie, weil sie ihre Regeln und Prinzipien selbst enthält und nicht anderen Hilfsdisziplinen entlehnen muss, weshalb sich die Frage der Veränderlichkeit nicht stellt. Disziplinen, bei denen Überlegungen angestellt werden, sind dagegen solche, bei denen etwas nicht immer auf dieselbe Weise geschieht (mê hôsautôs), sondern durch die Handlungen von Personen geschieht. Es muss somit ein gewisses Maß an Unsicherheit über den Weg bestehen, wie das vorgenommene Ziel durch Handeln zu erreichen ist, damit es angebracht ist, Überlegungen über die Handlungsweise anzustellen. Dass der Grad an Unbestimmtheit (adioriston) des Gegenstandsbereichs einer Disziplin für Aristoteles das entscheidende Kriterium ist, ob und in welchem Maß Überlegungen angestellt werden müssen, bringt die resümierende Zwischenbemerkung in 1112b8 – 9 deutlich zum Ausdruck.⁶⁸⁷ Zu den Gebieten, in denen wegen der Unbestimmtheit des Verfahrens Überlegungen über die Wege, ein Ziel in diesem Bereich zu erreichen, angemessen und erforderlich sind, zählen z. B. die Medizin, der Gelderwerb, die Navigation oder die Gymnastik. Allerdings bestehen laut Aristoteles zwischen diesen Disziplinen Unterschiede, in welchem Maß Überlegungen nötig sind, da sie auf unterschiedlich genau festgelegten Regeln beruhen. So betrachtet er die Gymnastik als ein Gebiet mit einem relativ festen Regelwerk, das kaum Spielraum für Unsi-
eine mögliche Aporie mag ein Hinweis darauf sein, dass es Gegenstand von Diskussionen war, ob und inwiefern sich die Ausübungen verschiedener technai unterscheiden (vgl. Woods 2005, 142: „The point presumably is that it is a matter of philosophical debate what distinguishes those actions done in exercise of a skill which involve deliberation and those which are not.“). Vgl Gauthier/Jolif 1970, 199 – 200: „L’idée est donc que l’orthographe est quelque chose de fixe: celui qui possède l’art (…) ne délibère pas sur les lettres à assembler pour former un mot donné, car il n’y a pas à hésiter pour lui sur la manière d’écrire ce mot […]“. Die Annahme einer derartigen Fixiertheit der Orthographie scheint eine Vorlage bei Platon zu haben, wenn er die korrekte Schreibweise der Namen „Theätet“ und „Theodoros“ mit einem Theta als Anfangsbuchstaben erörtert: vgl. dazu Tht. 207a-208a. Vgl. zu diesem engen Sinn von Wissenschaft: EN VI 3, 1139b18 – 36 sowie APo. I 2, 71b9 – 13. EN III 4, 1112b8 – 9: „Überlegung bezieht sich somit auf die Dinge, die meistens geschehen, bei denen aber unklar ist, wie sie herauskommen werden und bei denen etwas unbestimmt ist.“
6.3 Positive Bestimmung des Gegenstandes der Überlegung
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cherheiten lässt und daher kaum Überlegung verlangt. Dagegen beruht die Medizin ihm zufolge auf einem weniger stark verankerten Regelwerk, so dass hier mehr Überlegung erforderlich ist.⁶⁸⁸ Grund für den geringeren Bedarf an Überlegung bei der Gymnastik mag auch sein, dass es sich dabei um ein z. B. im Vergleich zur Medizin relativ überschaubares und wenig komplexes Regelwerk handelt, das ein Fachmann in diesem Gebiet sich rasch anzueignen und zu beherrschen versteht. Den Unterschied zwischen Disziplinen, in denen es keine Überlegung gibt, und jenen, in denen Überlegung angemessen ist, veranschaulicht Aristoteles in der EE außerdem anhand von zwei unterschiedlichen Arten von Fehlern, die beim Ausüben einer technê passieren können.⁶⁸⁹ Fehler treten danach entweder beim Überlegen oder in der Wahrnehmung auf (ê gar logizomenoi hamartanomen ê kata tên aisthêsin hauto drôntes, EE 1226a36 – 37). Während in der Grammatik nur Fehler in der Wahrnehmung passieren können, kommen bei der Medizin beide Fehlerarten vor. Unter einem Fehler beim Überlegen ist dabei offenbar ein Fehler zu verstehen, der sich nur ergeben kann, weil der Gegenstandsbereich unbestimmt ist und eine Handlung es daher voraussetzt, dass man zuvor überlegt hat, wie zu handeln ist, um etwas Bestimmtes zu erreichen, da verschiedene Handlungsweisen möglich sind. Man kann dabei beim Überlegen über die richtige Wahl der in Hinblick auf das angestrebte Ziel angemessenen Handlungsweise fehlgehen. Ein Fehler in der Wahrnehmung ist demgegenüber ein Fehler, der nicht auf einer fehlgehenden Überlegung beruht, sondern in der falschen Anwendung einer bestimmten Regel-Kenntnis⁶⁹⁰ auf einen einzelnen Fall besteht.⁶⁹¹ So kann Woods erklärt den Unterschied zwischen der Gymnastik und der Medizin dadurch, dass die Tätigkeit der Gymnastik auf Berechnung (calculation) beruht, die in der Ausführung routinierter Vorgänge, die ein klares Resultat haben, besteht; demgegenüber besteht bei der Medizin eine gewisse Unsicherheit über das Ergebnis, so dass ein Abwägen von Alternativen erforderlich ist, um zu einem Urteil zu kommen (Woods 2005, 142). Auch in den MM wird zwischen zwei Fehlerarten unterschieden, um zu illustrieren, weshalb nur beim Handeln, nicht aber in den technai Überlegungen angestellt werden (MM I 17, 1189b18 – 25: „Deshalb überlegen wir in diesen Dingen darüber, wie wir handeln sollen, bei den Wissenschaften dagegen nicht. Denn niemand überlegt, wie man den Namen ‚Archiklesʻ schreiben soll, weil es festgelegt ist, wie man den Namen ‚Archiklesʻ schreiben soll. Ein Fehler passiert also nicht beim Denken, sondern in der Tätigkeit des Schreibens. Denn dort, wo es keinen Fehler im Denken gibt, stellen wir keine Überlegungen an; sondern nur dort, wo es unbestimmt ist, wie man handeln soll, gibt es Fehler.“ Regel-Kenntnis ist hier insofern in einem sehr weiten Sinn zu verstehen, als darunter auch die Regelwerke zu fassen sind, die z. B. die Backkunst oder die Schneiderei festlegen und die jemand anwendet, der eine solche technê ausübt. Vgl. Burnet 1900, 128: „The doctor may go wrong (1) in the treatment he adopts, and error of διάνοια, (2) in applying it to the particular case, an error of αἴσθησις.“ Vgl. auch Woods 2005, 142:
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6 Behandlung des Spezifischen der prohairesis
ich z. B. einen griechischen Akzent falsch setzen, weil ich eine der Akzentregeln auf einen konkreten Fall falsch anwende. Das sieht Aristoteles als einen Fehler der Wahrnehmung und nicht als einen Fehler des Überlegens an, weil die Akzentregeln im Griechischen festgelegt sind und ich darüber keine Überlegungen anstellen kann. Es handelt sich vielmehr um einen Fehler in der Anwendung, weil ich zwar eine bestimmte Regel kenne, sie aber im konkreten Fall nicht richtig anwende. Weshalb Aristoteles hier einen Fehler der Wahrnehmung vorliegen sieht, könnte man damit erklären, dass mich meine Erinnerung bei der falschen Regelanwendung getäuscht hat: So könnte ich z. B. meinen, mit „μυρίοι ἵπποι“ die korrekte Übersetzung für „zehntausend Pferde“ anzugeben, weil ich mich nicht richtig an die Regel erinnere, dass der Akzent auf der ersten Silbe zu setzen ist, wenn das Adjektiv nicht die Bedeutung unzählig haben soll. Da Erinnerung nach Aristoteles auf Wahrnehmung beruht, ließe sich der vorliegende Fehler als einer der Wahrnehmung auffassen.⁶⁹² Weiter gibt Aristoteles an, dass man bei ungenaueren technai eher Überlegungen anstellt als bei genaueren und verweist zur Begründung wiederum auf den höheren Grad an Unsicherheit. Ich folge hier der Überlieferung der MSS, die in Zeile 1112b7„περὶ τὰς τέχνας ἢ τὰς ἐπιστήμας“ haben und übernehme nicht die Substitution von „τέχνας“ durch „δόξας“.⁶⁹³ Die Korrektur ist nicht notwendig, wenn mit der Wendung hier zwischen genaueren und ungenaueren Kunstfertigkeiten unterschieden wird. Unter epistêmai sind demnach an dieser Stelle nicht exakte und abgeschlossene Wissenschaften wie die Mathematik zu verstehen, von denen Aristoteles zuvor gesagt hat, dass hier gar keine Überlegung stattfindet. In Zeile 1112b7 erfolgt vielmehr die Unterscheidung zwischen genaueren Kunstfertigkeiten (epistêmai), wie z. B. Grammatik, und weniger genauen technai, wie z. B. der Arztkunst, indem bei Letzteren eher Überlegung stattfindet als bei Ersteren.
„Thus someone may misexecute what he has decided to do after deliberation through failure to attend sufficiently closely to his actions, as when a surgeon fails to notice what sort of incision he is making.“ Vgl. Mem. 2, 451a23-b10. Vgl. meine Anm. 495, S. 185.
6.4 Der Prozess des Überlegens
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6.4 Der Prozess des Überlegens (EN 1112b11 – 1113a2 resp. EE 1226b9 – 1227a5 und 1227a5 – 18 passim und 1227b25 – 33) In 1112b11– 12 fügt Aristoteles der positiven Bestimmung der Überlegung noch ein weiteres Charakteristikum hinzu, das sowohl für das Verständnis der Überlegung als auch für das der prohairesis zentral ist. Es lautet, dass wir nicht die Ziele überlegen, sondern das, was zu den Zielen führt (peri tôn pros ta telê).⁶⁹⁴ Damit wird zur Charakterisierung der Überlegung dasselbe Kriterium angeführt, das Aristoteles zuvor auch zur Abgrenzung der prohairesis vom Wunsch genannt hat: Dort hieß es, dass sich der Wunsch eher auf das Ziel richtet, während sich die prohairesis auf die Dinge bezieht, die zum Ziel führen (pros to telos).⁶⁹⁵ Diese Übereinstimmung ist, wie ich im Folgenden zeigen möchte, damit zu erklären, dass die Bestimmung der Überlegung einen wesentlichen Beitrag zur Bestimmung der prohairesis leistet.⁶⁹⁶ Die Behandlung der Überlegung verdeutlicht nämlich, dass und inwiefern es auf der Verbindung der prohairesis mit der Überlegung beruht, dass sich auch die prohairesis auf die Dinge bezieht, die zum Ziel führen: Weil die Überlegung sich auf die Dinge bezieht, die zum Ziel führen, und weil eine prohairesis (im Normalfall) auf einem Überlegungsvorgang beruht, der in ihr seinen Abschluss finden kann, bezieht sich auch die prohairesis (im Normalfall) auf die Dinge, die zum Ziel führen. Die prohairesis ist demnach der Entschluss zu denjenigen Dingen, die im Prozess des Überlegens als die notwendigen und am besten geeigneten Mittel und Wege gefunden wurden, um das gewünschte Ziel zu erreichen, und die unmittelbar durch eine Handlung realisiert werden können. Um zu illustrieren, inwiefern sich die Überlegung auf die Dinge bezieht, die zum Ziel führen, verweist Aristoteles wiederum auf verschiedene technai (1112b12 – 15). Für die jeweilige Tätigkeit in diesen technai soll gelten, dass ein Vertreter der Disziplin keine Überlegungen über das Ziel seines Handelns anstellt,
Die Phrase „περὶ τῶν πρὸς τὰ τέλη“ wird bisweilen mit „Mittel, die zum Ziel führen“ übersetzt. Diese Wiedergabe ist problematisch, da sie ein instrumentelles Verständnis der involvierten Mittel nahelegt. Auf diesen Punkt gehe ich im Abschnitt „6.6 Analogien und Differenzen zwischen poietischen und praktischen Tätigkeiten“ ein. Auch in der Rhetorik sagt Aristoteles in Bezug auf den beratenden Redner, dass ihm das Nützliche als Ziel vorliegt, da „man nicht über das Ziel berät, sondern über die Dinge, die zum Ziel führen“, Rhet. I 6, 1362a18 – 19. Wenn Aristoteles in EN VI die prohairesis als bouleutikê orexis bezeichnet, ist dieser Ausdruck ein Hinweis darauf, dass die prohairesis zum einen eine Art von Strebung ist und dass sie zum anderen Überlegung involviert.
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6 Behandlung des Spezifischen der prohairesis
sondern sich nur die Mittel überlegt, die notwendig und möglich sind, um das vorgegebene Ziel zu erreichen. So überlegt der Arzt nicht, ob er den Zustand der Gesundheit bei seinem Patienten herbeiführen soll, sondern er überlegt nur, was er tun muss, um den Patienten zu heilen, weil ihm als Arzt die Gesundheit als Ziel seiner Tätigkeit vorgegeben ist.⁶⁹⁷ Auch der Redner überlegt nicht, ob er seine Zuhörer überzeugen soll, sondern er stellt bloß Überlegungen darüber an, mit welchen Argumenten er sie überzeugen kann. Schließlich überlegt auch der Politiker nicht, ob er eine gute Verfassung geben soll, sondern sein Überlegen richtet sich z. B. darauf, welches die passende Verfassung für ein bestimmtes Staatswesen sein könnte. Wie schon zuvor nennt Aristoteles ausschließlich Beispiele aus dem Bereich der hervorbringenden Tätigkeiten. Ich werde im Anschluss an die Kommentierung gesondert auf die Frage eingehen, ob Aristoteles moralisches Denken strikt analog zu praktischem Denken im Allgemeinen auffasst und ob er generell ausschließen will, dass Überlegung sich auf Ziele beziehen kann. Hierfür ist wiederum relevant, wie die klassische Unterscheidung zwischen praxis und poiêsis in EN VI zu verstehen ist.⁶⁹⁸ Die Beispiele des Arztes, des Redners und des Politikers leiten über zu einer längeren Passage (1112b15 – 1113a2), in der Aristoteles den Prozess des Überlegens erläutert. Dadurch wird zugleich das Merkmal präzisiert, dass Überlegung sich auf die Dinge bezieht, die zum Ziel führen. Der Prozess des Überlegens geht von einem Ziel aus, das man sich gesetzt hat (themenoi to telos) bzw. das man als Ziel akzeptiert hat. Die Überlegung hat zum Gegenstand, ausgehend von diesem Ziel danach zu fragen, wie es sich erreichen lässt. Diese Frage kann, wie weiter unten in 1112b28 – 31 deutlicher wird, Verschiedenes zum Inhalt haben: Es kann z. B. darum gehen, durch welche Werkzeuge (ta organa) etwas zu erreichen ist, wie bestimmte Werkzeuge anzuwenden sind (hê chreia autôn) oder auch durch wen bestimmte Werkzeuge anzuwenden sind u. a.m..⁶⁹⁹ Gelangt die Überlegung zu der
Das Beispiel des Arztes bzw. des Heilens hat Aristoteles auch bei der Abgrenzung der prohairesis vom Wunsch gegeben (1111b27– 28), wodurch der inhaltliche Zusammenhang zwischen den beiden Erläuterungen deutlich wird. Vgl. Abschnitt „6.6 Analogien und Differenzen zwischen poietischen und praktischen Tätigkeiten“. Aristoteles verwendet in 1112b15 „πῶς καὶ διὰ τίνων“ und in 1112b18 „πῶς“. Ich fasse die Ausdrücke an beiden Stellen noch als vage Formulierungen auf, die verschiedene Bedeutungen zulassen. Differenzierter erscheint dagegen die Formulierung in 1112b31, wo er eine Trias nennt: „δι᾿ οὗ ὁτὲ δὲ πῶς ἢ διὰ τίνος“. Versteht man diese Aufzählung als Präzisierung, auf welcherlei Weise eine Überlegung das Wie eines Handelns zum Inhalt haben kann, so lassen sich ein Überlegen über die Werkzeuge einer Handlung, ein Überlegen über deren Anwendung und ein Überlegen über das Subjekt der Anwendung unterscheiden (so z. B. Grant 1866, 21: „The question is sometimes what instruments are necessary, sometimes how they are to be used; and, speaking
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Erkenntnis, dass sich das angestrebte Ziel auf verschiedenen Wegen (z. B. durch verschiedene Werkzeuge, verschiedene Anwendungsweisen etc.) erreichen lässt, untersucht man weiter, wodurch am leichtesten (rha[i]sta) und am besten (kallista, 1112b17). Wenn sich dagegen zeigt, dass das Ziel nur auf eine Art zu erlangen ist, wird weiter gefragt, wie das Ziel auf diese Art zustande kommt. Es wird also ausgehend von einem obersten Ziel nach untergeordneten Zielen gefragt, und bei jedem untergeordneten Ziel, das gefunden wurde, wird erneut die Frage gestellt, wodurch sich dieses Ziel erreichen lässt. In dieser Weise schreitet man im Prozess des Überlegens immer weiter fort, bis die „erste Ursache“ (prôton aition) gefunden ist. Die erste Ursache bezeichnet Aristoteles als das Letzte im Prozess des Herausfindens (ho en tê[i] heuresei eschaton estin, 1112b19 – 20). In 1112b23 – 24 wiederholt er diese Beschreibung nochmals in etwas anderen Worten: „[…] der letzte Schritt (to eschaton) in der Analyse scheint der erste im Prozess des Hervorbringens zu sein.“ Das lässt sich so verstehen, dass die Überlegung dann endet, wenn sie in ihrer Untersuchung einen Schritt erreicht hat, der unmittelbar durch eine Handlung realisiert werden könnte. Die Handlung könnte in diesem Fall unmittelbar realisiert werden, weil deren Ausführung keine weitere Überlegung mehr erfordert. Weiter zu überlegen, wenn bereits ein Ziel gefunden ist, das direkt realisierbar ist, wäre unsinnig, sofern der Überlegungsprozess auf die beschriebene Art erfolgt ist. So ist m. E. Aristoteles’ Bemerkung in 1113a2 zu verstehen: „Wenn man immer überlegt, wird es unendlich weitergehen“. Schlösse eine Person ihren Überlegungsprozess nicht in dem Moment ab, in dem sie einen Schritt erreicht hat, den sie unmittelbar durch eine Handlung realisieren kann und der notwendig ist, um das angestrebte übergeordnete Ziel zu erreichen, so ginge ihr Überlegen unbegrenzt weiter, da es dafür kein natürliches Ende mehr gäbe. Die Annahme, dass ein Überlegungsprozess niemals einen Endpunkt erreicht, wäre nicht nur aus dem Grund unsinnig, weil dann nie eine Handlung stattfinden könnte. Wegen der zeitlichen Begrenztheit menschlichen Lebens ist es auch praktisch unmöglich, dass Überlegen unendlich fortschreitet. Zur Erläuterung zitiert Aristoteles in 1112b20 – 24 ein Beispiel aus der Geometrie. Er stellt hierbei einen Vergleich zwischen der Untersuchungsmethode in der Geometrie und der Vorgehensweise beim Überlegen her. Beide sollen sich insofern gleichen, als sie sich ein Ziel setzen und davon ausgehend in ihren generally, we have to find sometimes the means by which, sometimes the manner or the person by whom.“) Nicht alle Kommentatoren teilen dieses Verständnis: Susemihl ersetzt die Disjunktion „ἢ“ durch „δὴ“, da er „διὰ τίνος“ als Neutrum auffasst und deswegen keinen inhaltlichen Unterschied zu „δι᾿ οὗ“ erkent. Versteht man „διὰ τίνος“ dagegen als Maskulinum, liegt keine Redundanz mehr vor (vgl. dazu meine Anm. 499, S. 186).
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Analysen danach fragen, wie es zustande kommt bzw. was die notwendigen Bedingungen sind, damit das angenommene Ziel daraus resultiert. Die Suche nach den untergeordneten Schritten, die für das Zustandekommen des Ergebnisses notwendig sind, endet, wenn entweder ein Schritt gefunden ist, der seinerseits nichts zur Bedingung hat, oder wenn festgestellt wird, dass ein notwendiger Schritt unmöglich ist. Ist Letzteres der Fall, kann dies bedeuten, dass das vorgenommene und angestrebte Ziel überhaupt nicht zu realisieren ist; im günstigen Fall bedeutet es, dass nach einem alternativen möglichen Schritt gesucht werden muss.⁷⁰⁰ Im Bereich des Handelns, auf den sich die Überlegung richtet, bezeichnet Aristoteles einen Schritt dann als möglich, wenn es sich um etwas handelt, das „durch uns zustande kommen könnte“ (di’ hêmôn genoit’ an, 1112b27). Möglich sind also Dinge, die nicht notwendig sind und auf die unser Handeln einen Einfluss hat. Das bedeutet einerseits, dass nicht alle Dinge, die grundsätzlich durch Handlungen veränderbar sind, möglich sind, wie z. B. wenn etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht durch jemandes Handeln geändert werden kann. Andererseits zählt Aristoteles zu den möglichen Dingen auch Handlungen, die eine Person A zwar nicht selbst unmittelbar durch ihr Handeln bewirkt, die aber durch die Handlung eines (Charakter‐)Freundes B zustande kommt, dessen Handeln durch Person A veranlasst wird. Schließlich ist der Potentialis der Formulierung in 1112b27 bemerkenswert: Wenn Aristoteles die Dinge als möglich und als adäquate Gegenstände der Überlegung bezeichnet, die durch uns zustande kommen könnten, so deutet das darauf hin, dass ein Unterschied besteht zwischen dem Ergebnis der Überlegung und der Handlung selbst. Dass die Überlegung einen Schritt erreicht hat, der unmittelbar durch eine Handlung realisiert werden könnte, hat nicht zwangsläufig zur Folge, dass die Handlung auch tatsächlich erfolgt. Es heißt nur, dass für die Umsetzung der Handlung keine weitere Überlegung mehr erforderlich ist. Ob die Person aber tatsächlich handelt, hängt darüber hinaus (im Normalfall)⁷⁰¹
Kenny merkt an, dass Aristoteles’ Beschreibung in 1112b24– 26, man gebe beim Suchen nach den geeigneten Schritten für ein Ziel auf (aphistantai), wenn man auf etwas Unmögliches stößt, nicht bedeuten muss, dass man die Suche ganz aufgibt; gemeint sein könnte auch, dass man bloß diesen Weg aufgibt und stattdessen nach alternativen Schritten für die Realisierung des Ziels sucht; vgl. Kenny 1979, 116: „[…] there is no reason why he should mean more than that we abandon that particular avenue of research and turn to another one.“ Auch wenn Kennys Verständnis möglich ist, so erscheint die Lesart, dass Aristoteles an eine vollständige Aufgabe angesichts eines Mangels an möglichen Alternativen denkt, näherliegend. Eine Ausnahme stellt der Akratiker aus Schwäche dar: Denn er stellt Überlegungen darüber an, wie er seine Begierde befriedigen kann; das Ergebnis dieser Überlegung wird aber nicht zum Inhalt eines Entschlusses, sondern zum Inhalt einer anderen Strebung, die einem Entschluss zwar
6.4 Der Prozess des Überlegens
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davon ab, dass die Person (i) das Ergebnis ihrer Überlegung zum Inhalt eines Entschlusses (prohairesis) macht, dass sie (ii) wahrnimmt, wann eine Situation vorliegt, die für die Realisierung ihres Entschlusses geeignet ist, und dass (iii) keine äußeren Umstände auftreten, die die Handlung verhindern.⁷⁰² Bevor ich mit der Kommentierung fortfahre, lohnt der Vergleich mit der geometrischen Analyse noch einen näheren Blick; er erscheint zwar prima facie einleuchtend, bei genauerem Hinsehen ist aber weniger deutlich, wie die Vergleichsgröße der geometrischen Figur zu verstehen ist. Außerdem erweist sich die Deutung des Geometrie-Beispiels als instruktiv für eine Erklärung, inwiefern sich die Überlegung auf die Dinge, die zum Ziel führen, bezieht. Um das zu sehen, will ich knapp die gegenläufigen Deutungen des Beispiels vorstellen. Einige Kommentatoren deuten das Beispiel als Vergleich mit dem analytischen Beweisverfahren in der Geometrie, andere fassen es als Vergleich mit der Konstruktion einer geometrischen Figur auf. Stewart versteht das Beispiel auf die erste Weise.⁷⁰³ Beim analytischen Beweisverfahren wird demnach eine zu beweisende Annahme als Hypothese vorausgesetzt, und anschließend wird im Analyseverfahren nach den Bedingungen gefragt, die für die Hypothese notwendig sind. Die Analyse führt schließlich entweder zu einer Annahme, von der man weiß, dass sie wahr ist, so dass damit auch die zu beweisende Hypothese als wahr erwiesen ist; oder man erreicht eine Annahme, von der man weiß, dass sie falsch ist, womit die Hypothese widerlegt ist. Analog dazu geht eine Überlegung im Bereich des Handelns von einem vorgegebenen Handlungsziel aus und sucht nach den für dessen Erreichen nötigen Schritten. Der Überlegungsvorgang endet, wenn entweder eine notwendige Handlung gefunden ist, die sich direkt umsetzen lässt, oder wenn sich herausstellt, dass ein notwendiger Schritt unmöglich ist, so dass sich das Ziel als unerreichbar erweist. Eine Schwierigkeit dieser Deutung ist, dass sich die Möglichkeiten, die sich in einem Beweisverfahren ableiten lassen, und jene, die im Bereich des Handelns vorhanden sind, in ihrer Anzahl und ihrer Eindeutigkeit deutlich unterscheiden: Im Gebiet der Geometrie sind die Möglichkeiten begrenzt und eindeutig, so dass sich jeweils sicher feststellen lässt, ob eine Möglichkeit
funktional äquivalent, selbst aber kein Entschluss ist; vgl. zum Sonderfall des Akratikers das Kapitel „11.5 Zurechenbarkeit der Handlungen des Unbeherrschten und des Beherrschten“ Wie genau die einzelnen Bedingungen für das Zustandekommen einer Handlung zusammenwirken, werde ich genauer im Zusammenhang mit Aristoteles’ Konzeption des Praktischen Syllogismus ausführen: vgl. Abschnitt „6.7 Überlegung und „Praktischer Syllogismus““. Stewart 1892, 262– 266 (hier 262– 263): „We must suppose that the reference is to what is known as the Analytic Method of proof in Geometry […] It consists in assuming as true the proposition to be proved, and deducing from it, as principle, the necessary consequences to which it leads.“
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6 Behandlung des Spezifischen der prohairesis
wahr oder falsch ist. Dagegen sind die Möglichkeiten im Bereich des Handelns zahlreicher, komplexer und weniger eindeutig, so dass oft nicht eindeutig zu sagen ist, ob eine Möglichkeit in Bezug auf das Ziel richtig oder falsch ist. Den Vergleich mit der geometrischen Analyse in dieser Weise zu verstehen, erscheint problematisch, da es klare Unterschiede zwischen dem Überlegungsprozess und dem mathematischen Beweisverfahren gibt. In den MM wird gerade die Differenz herangezogen, um die Überlegung von der geometrischen Untersuchung abzugrenzen.⁷⁰⁴ Demgegenüber soll der Vergleich in EN III 5 aber offensichtlich auf eine Gemeinsamkeit zwischen Überlegung und geometrischer Analyse aufmerksam machen. Dies lässt sich besser erklären, wenn der Vergleich als ein Vergleich mit einer Konstruktion im Gebiet der Geometrie aufgefasst wird.⁷⁰⁵ Dieser Deutung nach wird z. B. die Aufgabe gestellt, eine komplexe geometrische Figur zu konstruieren, und die Lösung des Problems besteht darin, die komplexe Figur schrittweise auf einfachere Figuren zurückzuführen, bis eine nicht mehr weiter analysierbare einfache Figur gefunden ist, die ohne Weiteres zu konstruieren ist und mit der die Konstruktion der komplexen Figur beginnt. So verstanden ist der Vergleich geeignet, um den Prozess des Überlegens zu illustrieren. Denn die Überlegung führt ein komplexes Handlungsziel solange schrittweise auf einfachere Handlungen zurück, bis schließlich eine einfache Handlung gefunden ist, die nicht weiter analysierbar ist, d. h., die sich nicht auf noch einfachere Handlungen reduzieren lässt. Diese Handlung auszuführen, ist der erste Schritt, um das Handlungsziel zu
MM I 17, 1189b9 – 19: „Das Weshalb ist nicht einfach. Denn in der Geometrie, wenn einer sagt, dass die Winkel des Rechtecks gleich vier rechten Winkeln sind, und dann gefragt wird, weshalb, sagt er, weil die Winkel des Dreiecks gleich zwei rechten Winkeln sind. Bei solchen Dingen leitet man das Weshalb aus dem festgelegten Prinzip ab. Im Bereich des Handelns aber, mit dem es der Entschluss zu tun hat, ist dies nicht so (denn hier gibt es kein festgelegtes Prinzip), sondern falls einer fragte, weshalb hast Du dies getan, dann [antwortet man], weil man nicht anders handeln konnte, oder weil es besser so war. Es ist mit Blick auf das, was aus den Handlungen folgt, was besser erscheint, dass man sich zu diesen und um dieser Dinge willen entschließt. Und deshalb gibt es bei diesen Dingen ein Überlegen, wie man handeln soll, in den Wissenschaften dagegen nicht.“ Vgl. zu diesem Verständnis: Burnet 1900, 129: „We assume the Q.E.F. of the problem and then seek for the construction.“ Grant 1866, 20 – 21: „Aristotle compares deliberation with the analysis of mathematical problems. Given a problem of geometry, e. g. to find the method of constructing some figure. Assume it as constructed, and draw it accordingly. See what condition is immediately necessary, and what again will produce this, &c.“ Ross 1998, Anm. 1, 57: „Aristotle has in mind the method of discovering the solution of a geometrical problem. The problem being to construct a figure of a certain kind, we suppose it constructed and then analyse it to see if there is some figure by constructing which we can construct the required figure, and so on till we come to a figure which our existing knowledge enables us to construct.“
6.4 Der Prozess des Überlegens
263
erreichen. Für dieses Verständnis spricht außerdem, dass Aristoteles den letzten Schritt in der geometrischen Analyse als den ersten im Prozess des Hervorbringens bezeichnet und die Bezeichnung „γένεσις“ in Bezug auf eine Konstruktion zu erwarten ist.⁷⁰⁶ Nussbaum macht noch auf einen anderen Vorzug dieser Deutung aufmerksam: Wenn unter einer geometrischen Analyse das Zurückführen einer komplexen Figur auf einfache Figuren, aus denen sich jene konstruieren lässt, verstanden wird, so deutet das darauf hin, dass die Dinge, die zum Ziel führen, als Komponenten bzw. Teile des Ziels aufzufassen sind und nicht als Mittel, mit deren Hilfe sich das Ziel erreichen lässt.⁷⁰⁷ Diese Beobachtung ist wichtig für die Frage, ob Aristoteles in EN III 4 ein instrumentelles Verständnis von Überlegung und prohairesis präsentiert oder ob unter den Dingen, die zum Ziel führen, nicht Mittel in einem instrumentellen Sinn zu verstehen sind, sondern konstitutive Teile, d. h. Komponenten, aus denen das Ziel besteht.⁷⁰⁸ Ich komme nun zur fortlaufenden Kommentierung des Textes in EN III 5 zurück. In den Zeilen 1112b31– 34 resümiert Aristoteles nochmals wichtige Aussagen aus den bisherigen Ausführungen zur Überlegung (eoike dê, kathaper eirêtai), bevor er in 1112b34 – 1113a2 unvermittelt Neues hinzufügt: Wenig überraschend, weil bereits bekannt, ist zunächst die Anmerkung, dass sich die Überlegung auf die Dinge, die zum Ziel führen, bezieht. Etwas erstaunlicher ist der Hinweis, dass der Mensch Ursache der Handlungen ist, denn in dieser Weise hat Aristoteles das zuvor nicht gesagt. Allerdings ist bereits gesagt worden, dass etwas „durch jemandes Handlungen“ (tôn to di’ hautôn praktôn) oder „durch uns“ (di’ hêmôn, 1112a30 und 1112b3) zustande kommt, und in 1112b28 wurde in Bezug auf die Handlungen von Freunden gesagt, dass hierbei die „Ursache in uns“ (hê archê en hêmin) liege. Nimmt man diese Stellen zusammen, so legt dies nahe, die Bemerkung in 1112b31 ebenfalls als Wiederholung aufzufassen, die zwar in dieser Formulierung noch nicht vorgekommen ist, der Sache nach aber schon eingeführt wurde. Das bedeutet auch, dass unter einer Ursache hier eine Wirkursache (causa efficiens) – und nicht etwa die Finalursache – zu verstehen ist. Anders als in der EE greift Aristoteles in der EN nicht auf die Vier-Ursachen-Lehre zurück. In der EE
So Cooper 1975, Anm. 11, 10: „That it is a problem in construction seems guaranteed by the reference to γένεσις (1112b24), a word not aptly applied directly to a proof except where construction is involved.“ Nussbaum 1985, Anm. 27, 182: „This example from geometry supports the argument that Aristotle thought we could deliberate about constituents as well as about external means. Breaking up a geometrical figure into its component triangles provides a useful image for the process of analyzing an end of action into its various components.“ Vgl. Abschnitt „6.6 Analogien und Differenzen zwischen poietischen und praktischen Tätigkeiten“.
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6 Behandlung des Spezifischen der prohairesis
führt er dagegen explizit die Finalursache ein, um zu erläutern, inwiefern das Worumwillen einer Handlung eine Ursache der Handlung ist. Darauf werde ich bei der Erörterung des Textes von EE II 10 eingehen.⁷⁰⁹ Aristoteles’ dritte Bemerkung im Zwischenfazit in der EN lautet, dass Handlungen um anderer Dinge willen geschehen (hai praxeis allôn heneka, 1112b33). Diese Bemerkung muss nicht überraschen, da unter Handlungen hier offenbar ausschließlich herstellende Tätigkeiten zu verstehen sind. Zuvor hatte Aristoteles zur Illustration des Überlegungsprozesses drei technai als Beispiele genannt. In 1112b32 erwähnt er ferner das Mit-sich-zu-Rate-Gehen (boulê), worunter entweder die gemeinsame Beratschlagung in der Ratsversammlung oder das individuelle Sich-Beraten zu verstehen ist, was beides eine hervorbringende Tätigkeit ist. Im Fall herstellender Tätigkeiten ist zu erwarten, dass gesagt wird, sie geschehen um anderer Dinge willen. Allerdings wirft die Bemerkung in 1112b33 erneut die Frage auf, ob und inwiefern sich die Erläuterungen zur Überlegung, die Aristoteles in EN III 5 ausschließlich an Beispielen aus dem Bereich der poiêsis vorführt, auf die praxis übertragen lassen.⁷¹⁰ Schließlich stehen die Bemerkungen in Buch III im weiteren Kontext der Diskussion der Charaktertugenden, und zur Behandlung der prohairesis und der Überlegung hatte ursprünglich die Frage geführt, für welche Handlungen Menschen Lob oder Tadel verdienen. Bekannt und begründet ist dagegen in 1112b33 – 34 das Merkmal der Überlegung, dass sie sich nicht auf die Ziele bezieht, sondern auf die Dinge, die zum Ziel führen. Als neues Merkmal, mit dessen Hilfe Aristoteles die Überlegung charakterisiert, kommt in 1112b34 – 1113a2 hinzu, nämlich dass die Überlegung sich außer auf die Ziele auch nicht auf die Einzeldinge (kath’ hekasta) bezieht. Dieses Merkmal ist wichtig, weil es neben der Begrenzung durch das Ziel, das vorgegeben ist, die Überlegung auch in der entgegengesetzten Richtung begrenzt, indem es angibt, wann ein Überlegungsprozess endet. Als Beispiele für Einzeldinge, die nicht Gegenstand der Überlegung sind, nennt Aristoteles die Fragen, ob dies Brot ist oder ob es richtig gebacken ist. Das Demonstrativpronomen „τοῦτο“ verdeutlicht, dass die jeweiligen Einzeldinge etwas sind, das einer Person aktuell, also hier und jetzt, gegeben ist und das sie somit unmittelbar wahrnehmen kann. Solche Einzeldinge sind daher Gegenstand der Wahrnehmung (aisthêsis). Die Wahrnehmung ist dafür zuständig, z. B. durch Sehen, Riechen oder Tasten herauszufinden, ob dies Brot ist und ob das Brot so gebacken ist, wie es sollte. Diese Fragen sind nicht Aufgabe der Überlegung. Der Prozess des Überlegens ist für
Vgl. Abschnitt „7.4 Final- und Wirkursache von Handlungen“. Vgl. dazu Abschnitt „6.6 Analogien und Differenzen zwischen poietischen und praktischen Tätigkeiten“.
6.5 Zusammenhang von Überlegung und prohairesis (EN 1113a2 – 14)
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Aristoteles also in zweierlei Hinsicht begrenzt:⁷¹¹ Auf der einen Seite ist er durch das Ziel begrenzt, das feststeht, bevor die Überlegung beginnt und von dem diese ausgeht. Auf der anderen Seite ist die Überlegung durch die Einzeldinge begrenzt, die nicht mehr Gegenstand der Überlegung sind, sondern für die die Wahrnehmung zuständig ist.⁷¹²
6.5 Zusammenhang von Überlegung und prohairesis (EN 1113a2 – 14) In der Beschreibung des Prozesses der Überlegung ist bis hierhin die prohairesis noch kein einziges Mal explizit vorgekommen. Erst in 1113a3 ist zum ersten Mal wieder vom „προαιρετόν“ die Rede. Hier führt Aristoteles nach der langen gesonderten Beschreibung der Gegenstände und des Prozesses der Überlegung diese Erörterung wieder zusammen mit seiner übergeordneten Fragestellung einer Bestimmung der prohairesis. Im Abschnitt 1113a2 – 14 wird der Zusammenhang von Überlegung und prohairesis erläutert und verständlich gemacht, inwiefern die Bestimmung der Überlegung hilft, ein besseres Verständnis der prohairesis zu gewinnen. Ein erstes wichtiges gemeinsames Merkmal von Überlegung und prohairesis ist, dass beide dieselben Gegenstände haben (1113a2 – 3), d. h. auch die prohairesis hat die Dinge zum Gegenstand, die durch unser Handeln zustande kommen können. Als einen Unterschied hält Aristoteles hier fest, dass der Gegenstand der prohairesis schon bestimmt ist (aphôrismenon), während die Gegenstände der Überlegung als etwas Unbestimmtes definiert worden sind (adioriston, 1112b9). Diese Differenz wird damit begründet, dass die prohairesis etwas zum Gegenstand hat, was die Überlegung vorher beurteilt hat (krithen, 1113a3 – 5). Das lässt sich wie folgt verstehen: Während es für die Überlegung wesentlich ist, dass sie sich auf Dinge bezieht, die noch nicht feststehen, sondern die die Frage nach dem Wodurch zulassen, hat die prohairesis etwas Bestimmtes zum Inhalt, das die Überlegung als den am besten geeigneten und unmittelbar umsetzbaren Schritt ge-
Ähnlich Burnet 1900, 130; Gauthier/Jolif 1970, 204. Vgl. hierzu EN I 5, 1112b34– 1113a2: „Auch sind die Einzeldinge nicht Gegenstand der Überlegung, wie z. B., ob dies Brot ist oder ob es so gebacken wurde, wie es sollte; denn dies sind Sachen der Wahrnehmung.“ Vgl. auch EN VI 9, 1142a25 – 29: „Denn die Einsicht erfasst Definitionen, von denen es keinen Beweis gibt, während sie [i. e. die Klugheit (phronêsis); BL] das Letzte erfasst, von dem es kein Wissen, sondern nur Wahrnehmung gibt, nicht [Wahrnehmung] vom jeweils Speziellen, sondern die Art von Wahrnehmung, mit der wir [in den mathematischen Disziplinen] wahrnehmen, dass das Letzte das Dreieck ist. Denn auch dort wird man anhalten.“
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6 Behandlung des Spezifischen der prohairesis
funden hat, um ein vorgegebenes Ziel zu erreichen. Wäre dieser Schritt noch in irgendeiner Weise unbestimmt und wäre noch Raum für Fragen, so wäre der Schritt noch nicht unmittelbar realisierbar und könnte daher auch nicht zum Inhalt einer prohairesis werden. Andererseits hört man dann mit dem Überlegen auf, wenn man „den Ausgangspunkt der Handlung auf sich selbst zurückgeführt hat“ (1113a5 – 6). Den Ausgangspunkt einer Handlung auf sich zurückzuführen, bedeutet anscheinend, dass man im Prozess des Überlegens etwas gefunden hat, das sich unmittelbar im Handeln realisieren lässt, und das, wenn es Inhalt einer prohairesis wird, eine entsprechende Handlung verursachen kann. Aristoteles präzisiert noch, dass der Ausgangspunkt dabei auf den leitenden Teil (to hêgoumenon) einer Person zurückgeführt wird, da dieser Entschlüsse fasst.⁷¹³ Dieser leitende Teil wird meist mit der praktischen Vernunft (praktikos nous) idenfiziert.⁷¹⁴ Zur Illustration stellt Aristoteles einen Vergleich mit Homers Beschreibung alter Staatsverfassungen an, bei dem nicht ganz klar ist, wie er zu verstehen ist. Als Vergleichsfall dient eine Verfassung, bei der Könige dem Volk verkünden, wozu sie sich entschlossen haben. Der Vergleich ist offensichtlich unvollständig, so dass unklar bleibt, wie Aristoteles die Zuständigkeit von Überlegung, Strebung und prohairesis im Beispiel der Staatsverfassung genau verteilt sehen will. Relativ eindeutig ist, dass die Überlegung – bzw. die Beratschlagung, wie hier „βούλευσις/βουλή“ am besten zu übersetzen ist – Aufgabe der Könige ist. Fraglich ist jedoch, ob das Volk für die Strebung zuständig sein soll und ob die prohairesis vielleicht als das gemeinsame Resultat des Zusammenwirkens von König und Volk zu verstehen ist.⁷¹⁵ Dagegen spricht aber, dass es im Text heißt, dass die Könige die Entschlüsse fassen. Wenn die prohairesis Aufgabe eines Königs ist, wäre er auch für die Strebung zuständig, da die prohairesis eine Strebung ist, wie aus dem anschließenden Satz hervorgeht. Dem Volk käme dann nur die Rolle der Umsetzung der prohairesis zu; es wäre bloß notwendiges Werkzeug (vgl. organa, 1112b29) für die Realisierung der prohairesis des Königs.⁷¹⁶
Vgl. auch die entsprechende Parallelstelle in der EE (1226b12– 13): „Wir überlegen dies (so lange) auf alle Weise, bis wir den Anfang des Entstehens auf uns zurückgeführt haben.“ Aspasius identifiziert den leitenden Teil mit dem nous (vgl. Aspasius in Eth. Nic. CAG XIX/1 74.31– 32): „[…] und er führt es nicht nur auf die Person selbst zurück, sondern auf deren leitenden Teil, das heißt auf die Vernunft.“ [[…] καὶ ἀναγάγῃ οὐ μόνον εἰς αὑτὸν, ἀλλ’ αὑτοῦ εἰς τὸ ἡγούμενον, τουτέστιν εἰς τὸν νοῦν.] Dieser Deutung folgen z. B. Gauther/Jolif 1970, 205, und auch Joachim äußert diese Vermutung: Joachim 1951, Anm. 3, 103. Vgl. zu dieser Deutung: Gauthier/Jolif 1970, 205. Vgl. zu dieser Deutung: Stewart 1892, 268 – 269.
6.5 Zusammenhang von Überlegung und prohairesis (EN 1113a2 – 14)
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Die verbleibenden drei Sätze der Passage resümieren das bisher Gesagte und ziehen die Schlussfolgerung, dass die prohairesis als ein „mit Überlegung verbundenes Streben nach den Dingen, die bei uns liegen“ (hê prohairesis an eiê bouleutikê orexis tôn eph’ hêmin, 1113a10 – 11) zu bestimmen ist. Diese Konklusion beruht auf den Analysen der Gegenstände und des Prozesses der Überlegung. Diese haben gezeigt, dass die Überlegung sich auf die Dinge bezieht, die bei uns liegen, und dass die Überlegung von einem vorgegebenen Ziel ausgeht, das angestrebt wird, und dass sie nach den notwendigen Schritten sucht, um dieses Ziel zu realisieren. Wenn Aristoteles nun die prohairesis als eine mit Überlegung verbundene Strebung nach den Dingen, die bei uns liegen, bestimmt, so nimmt er zwar einen engen Zusammenhang zwischen Überlegung und prohairesis an, welcher Art dieser genau ist, sagt er jedoch nicht ausdrücklich. Das lässt sich aber möglicherweise aus dem Bisherigen konstruieren: In Bezug auf den Zusammenhang zwischen Überlegung und Handlung habe ich dafür argumentiert, dass der letzte Schritt der Überlegung nicht mit dem ersten Teil der Handlung zu identifizieren ist, denn ein Überlegungsprozess kann den letzten Schritt erreicht haben, ohne dass eine Handlung erfolgt. Nun bezeichnet Aristoteles die prohairesis bisweilen als die Ursache einer Handlung.⁷¹⁷ Das legt nahe, dass zusätzlich zu einer abgeschlossenen Überlegung auch noch eine prohairesis erforderlich ist, damit eine Handlung erfolgt, durch welche sich das gefundene, unmittelbar realisierbare Ziel erreichen lässt. Das heißt, dass die prohairesis, ebenso wie die Handlung, auf einen abgeschlossenen Überlegungsvorgang folgt.⁷¹⁸ Aber auch hier besteht keine Notwendigkeit, dass eine prohairesis folgt, wenn die Überlegung den letzten Schritt erreicht hat. Es ist bloß möglich, dass das Ergebnis einer Überlegung zum Inhalt einer prohairesis wird.⁷¹⁹ Ein weiterer Beleg für die Annahme, dass eine Überlegung erfolgreich abgeschlossen sein kann, ohne dass eine prohairesis resultiert, die das Ergebnis der Überlegung zum Inhalt hat, stellt der Unbeherrschte dar.⁷²⁰ Der Unbeherrschte ist
EN VI 2, 1139a31– 33: „Die Ursache einer Handlung – im Sinn des Woher [i. e. der Wirkursache resp. causa effiiciens; BL] der Bewegung, aber nicht im Sinn des Worumwillen [i. e. der Finalursache; BL] – ist also der Entschluss, und die [sc. die Ursache; BL] des Entschlusses sind Streben und Überlegen in Bezug auf das Worumwillen.“ Auf diese zeitliche Abfolge deutet auch der Satz in 1113a11– 12, sofern man „ἐκ“ hier auch im Sinn einer zeitlichen Folgebeziehung versteht: „Nachdem wir nämlich aus einem Überlegen heraus geurteilt haben, streben wir gemäß der Überlegung.“ Vgl. Corcilius 2008b, 252. Vgl. hierzu Müller 2008, 36: „[…] not every successful deliberation (i. e., one that ends in singling out some action to be done in order to achieve some desired goal) ends in decision. The uncontrolled agent can deliberate about how to satisfy his uncontrolled non-rational desire, but when he then acts (i. e., does the action he has devised in his deliberation as one that would
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6 Behandlung des Spezifischen der prohairesis
in der Lage, mittels einer Überlegung herauszufinden, wie sich seine Begierde am besten realisieren lässt, und es ist möglich, dass er auch entsprechend handelt. Allerdings hat diese Überlegung des Unbeherrschten keine prohairesis zur Folge, die er mit seiner Handlung umsetzt, denn sonst wäre er nicht unbeherrscht, sondern unmäßig. Das Beispiel zeigt, dass Aristoteles es für möglich hält, einen Überlegungsprozess erfolgreich abzuschließen, indem eine unmittelbar realisierbare Handlung gefunden wird, mit der sich ein erstrebtes Ziel erreichen lässt, ohne dass die Überlegung auch eine prohairesis zur Folge hat, welche die Handlung bestimmt. Allerdings hat er keine besondere Bezeichnung für diesen Strebenszustand, der auf einem Begehren beruht und Ergebnis eines entsprechenden Überlegungsvorganges ist.⁷²¹ Umstritten ist die Lesart des Satzes in 1113a11– 12. Ich folge der besser überlieferten Lesart, die „κατὰ τὴν βούλευσιν“ hat: „Nachdem wir nämlich aus einem Überlegen heraus geurteilt haben, streben wir gemäß der Überlegung.“ Der Marcianus (Mb) überliefert die Alternative „κατὰ τὴν βούλησιν“, wonach die Aussage lautete, dass wir gemäß unserem Wunsch streben.⁷²² Gegen die Lesart mit „Überlegung“ könnte man einwenden, dass sich die Überlegung auf die Dinge, die zum Ziel führen, bezieht, während sich das Streben auf die Ziele richtet, so dass es abwegig erscheint, ein Streben gemäß der Überlegung anzunehmen. Allerdings könnte man in dieser Formulierung auch ein wichtiges Indiz dafür erkennen, dass Aristoteles weniger strikt zwischen Zielen und Mitteln bzw. Dingen, die zum Ziel führen, unterscheidet, als es in EN III 5 sonst den Anschein hat.⁷²³ Denn eine Überlegung kommt nicht in Gang ohne ein Ziel, nach dem gestrebt wird und auf das sie gerichtet ist. Während des Überlegens bleibt der Bezug auf das festgesetzte Ziel stets als Bezugspunkt bestehen. Aus diesem Grund ist eine Überlegung ohne Ziel nicht möglich, und ein Ziel ist etwas, was angestrebt wird.
satisfy the desire), he does not act on decision.“ Als Beleg verweist Müller hier auf die Stellen EN III 2, 1111b13 – 15 und EN VII 9, 1151a5 – 7: „Dass die Unbeherrschtheit folglich keine Schlechtigkeit ist, ist klar (aber vielleicht irgendwie), denn jene [i. e. Unbeherrschtheit; BL] ist gegen den Entschluss, diese [i. e. Schlechtigkeit; BL] aber gemäß dem Entschluss.“ Müller 2008, 39: „Aristotle does not have a special word for the desiderative state that results from deliberation (functionally similar to decision) in cases of this sort.“ Aspasius nennt beide Alternativen. Der Lesart des Marcianus folgen Gauthier/Jolif und Irwin. Vgl. Grant 1866, 22: „There might seem to be something plausible in the change [to „κατὰ τὴν βούλησιν“; BL], because βούλευσις is represented as confining itself to means, hence how can we be said to desire κατὰ τὴν βούλευσιν? Consistently, our desires must depend on something else, namely βούλησις – deliberation is the faculty of attaining them. On the other hand, the phrases, βουλευτοῦ ὀρεκτοῦ, and βουλευτική ὄρεξις run the consideration of means and ends together.“
6.6 Analogien und Differenzen zwischen poietischen und praktischen Tätigkeiten
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6.6 Analogien und Differenzen zwischen poietischen und praktischen Tätigkeiten Schon viele Autoren haben kritisch angemerkt, dass Aristoteles bei seiner Erläuterung von moralisch relevantem Überlegen und Handeln⁷²⁴ in EN III keine erkennbare Abgrenzung zu praktischem Überlegen und Handeln im Allgemeinen⁷²⁵ vornimmt.⁷²⁶ Der Eindruck der Vermengung von moralisch bedeutsamem Überlegen und Handeln mit praktischem Denken und Handeln im Allgemeinen wird noch dadurch verstärkt, dass Aristoteles zur Illustration moralischen Überlegens und Handelns ausschließlich Beispiele aus dem Bereich der hervorbringenden Tätigkeiten wählt.⁷²⁷ Infolgedessen entsteht das Bild, dass er für moralisch relevantes Denken und Handeln dieselbe Struktur annimmt wie für praktisches Denken und Handeln im Allgemeinen. Die analoge Struktur besteht darin, dass für alle Arten von praktischem Denken offenbar gelten soll, dass es immer und ausschließlich auf die Dinge, die zum Ziel führen, gerichtet ist, während das, was Ziel des Handelns ist, nicht Gegenstand von praktischem Überlegen ist. Das hat zur Folge, dass praktisches Denken insgesamt auf die Rolle des Auffindens der richtigen Mittel, die für die Realisierung eines vorgegebenen Ziels erforderlich sind, beschränkt wird. Der Verdacht, dass Aristoteles nicht nur praktisches
Als ‚moralisch relevantes Überlegen und Handelnʻ bezeichne ich solches Überlegen und Handeln, das sich auf „das bezieht, was für den Menschen gut oder schlecht ist“, d. h. Überlegen und Handeln, das insofern einen Bezug zur eudaimonia hat, als es einen konstitutiven Beitrag für das Ermöglichen und Realisieren der eudaimonia leistet; vgl. EN VI 5, 1140b1– 7, zitiert in Anm. 682, S. 253. Zum praktischen Denken und Handeln im Allgemeinen rechne ich neben dem moralisch relevanten Überlegen und Handeln einerseits auch solches Denken und Handeln, das sich als rein prudentiell bezeichnen lässt und das es mit dem Finden der am besten geeigneten Mittel zu tun hat, ohne dass es aber einen bedeutsamen Bezug zur eudaimonia hat, und andererseits Denken und Handeln, das mit den herstellenden Tätigkeiten zu tun hat, die ebenfalls keinen genuinen Bezug zur eudaimonia haben.Vgl. zum Begriff der Klugheit: Aubenque 1986 bzw. 2007; Ebert 2006. Vgl. z. B. Hardie 1968, Cooper 1975, Kenny 1979, 147– 154; Wiggins 1980, Moss 2011. Manche Kommentatoren gehen tatsächlich davon aus, Aristoteles vermenge praktische und poietische Tätigkeiten, die er andernorts sorgfältig auseinanderhält, vgl. Gauthier/Jolif 1970, 203 – 204: „Nous avons déjà signalé comment dans tout ce passage Aristote applique à l’action morale une analyse faite pour la production, au risque de compromettre l’originalité qu’il a ailleurs reconnue à l’action morale; il en arrive ici à se contredire formellement, en déniant expressément à l’action (πρᾶξις) l’immanence dans laquelle il avait reconnu sa caractéristique propre, et en lui attribuant une fin extérieure à elle-même, ce qui partout ailleurs est la caractéristique propre de la production (ποίησις). […] Ramsauer a bien vu la contradiction, que Grant, Stewart et Dirlmeier s’efforcent en vain de masquer.“ Vgl. z. B. Cooper 1975, 1.
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6 Behandlung des Spezifischen der prohairesis
Denken im Allgemeinen, sondern auch moralisches Denken im Besonderen in dieser Weise auffasst, wird zusätzlich befördert durch seine Beschreibung der Klugheit (phronêsis) in EN VI. Die Klugheit führt er dort als eine der Verstandestugenden ein, und zwar als diejenige, die es mit moralischem Handeln zu tun hat.⁷²⁸ Im letzten Kapitel von EN VI scheint er dann eine klare Aufgabenteilung zwischen Charaktertugend und Klugheit anzunehmen, nach der die Tugend für das Erkennen und Festlegen des richtigen Ziels zuständig ist, während es bei der Klugheit liegt, die richtigen Mittel für die Realisierung des Ziels zu finden: [EN VI 13, 1144a7– 9]⁷²⁹ Denn die Tugend macht das Ziel richtig, die Klugheit die Dinge, die zum Ziel führen. [EN VI 13, 1145a4– 6]⁷³⁰ Es ist klar, dass der Entschluss nicht richtig sein wird ohne Klugheit oder ohne Tugend; denn die eine [i. e. die Tugend; BL] lässt uns das Ziel machen [und erreichen; BL], die andere [i. e. die Klugheit; BL] lässt uns die Dinge tun, die zum Ziel führen.
Auf der einen Seite halte ich diese Beschreibung der gesonderten Rollen von Klugheit und Charaktertugend zentral für die aristotelische Auffassung von Tugendhaftigkeit und tugendhaftem Handeln. Weil die charakterliche Verfasstheit einer Person tugendhaft ist, hat sie die richtigen Güter zum Ziel; und dank ihrer Klugheit ist die Person in der Lage, die richtigen Mittel zu identifizieren, um diese Ziele zu verwirklichen. Auf der anderen Seite verpflichtet diese Aufgabenteilung zwischen Charaktertugend und Klugheit aber nicht zwangsläufig zu der Ansicht, Aristoteles trenne damit strikt zwischen Tugend und Klugheit und degradiere die Klugheit zu einer bloß instrumentellen Fähigkeit, die ausschließlich mit dem Auffinden der richtigen Mittel befasst ist und die strukturell nichts von der Fähigkeit unterscheidet, in geschickter und effizienter Weise die passenden Mittel
Dass die Klugheit nicht nur die Fähigkeit des guten Überlegens über das Gute und Schlechte für den Menschen ist, sondern darüber hinaus auch die Disposition, entsprechend dieser Überlegung zu handeln, geht eindeutig aus den Bestimmungen der Klugheit in EN VI 5 in 1140b4– 6 und 1140b20 – 21 hervor: „Es bleibt also, dass sie eine mit Denken verbundene wahre Disposition ist, die sich auf die Dinge bezieht, die für den Menschen gut oder schlecht sind. […] Daher ist die Klugheit notwendigerweise eine mit Überlegung verbundene wahre Disposition des Handelns in Bezug auf die menschlichen Güter.“ Vgl. auch EN VI 8, 1141b14– 16: „Auch die Klugheit hat nicht nur mit dem Allgemeinen zu tun, sondern sie muss auch die einzelnen Dinge erkennen. Denn sie ist auf das Handeln bezogen, und das Handeln bezieht sich auf die einzelnen Dinge.“ EN VI 13, 1144a7– 9: ἡ μὲν γὰρ ἀρετὴ τὸν σκοπὸν ποιεῖ ὀρθόν, ἡ δὲ φρόνησις τὰ πρὸς τοῦτον. EN VI 13, 1145a4– 6: [δῆλον δέ…] καὶ ὅτι οὐκ ἔσται ἡ προαίρεσις ὀρθὴ ἄνευ φρονήσεως οὐδ’ ἄνευ ἀρετῆς· ἣ μὲν γὰρ τὸ τέλος ἣ δὲ τὰ πρὸς τὸ τέλος ποιεῖ πράττειν.
6.6 Analogien und Differenzen zwischen poietischen und praktischen Tätigkeiten
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im Bereich des Herstellens und Handelns im Allgemeinen zu finden.⁷³¹ Ich werde an späterer Stelle, nachdem ich die Bestimmung des Entschlusses in EE II 11 erläutert habe, auf das Verhältnis von Klugheit und Tugend zurückkommen.⁷³² Anhand der Erörterung in EE II 11 lässt sich m. E. nämlich zeigen, dass Aristoteles die Richtigkeit eines Entschlusses sowohl an die richtigen Mittel als auch an die richtigen Ziele knüpft und dass somit weder Charaktertugend noch Klugheit allein einen Entschluss richtig machen können, sondern Klugheit und Charaktertugend derart innig verbunden sein müssen, dass die eine ohne die andere nicht vorkommen kann, sondern beide ihre Aufgaben nur gemeinsam verrichten können.⁷³³ An dieser Stelle ist zunächst auf die Analogie zwischen praktischem Überlegen und Handeln im Allgemeinen und moralisch relevantem Überlegen und Handeln im Besonderen einzugehen. Denn Aristoteles gibt durchaus verschiedene Hinweise, die die Beschreibung der Struktur praktischen Denkens in EN III ergänzen und die den Eindruck einer unplausiblen Vermengung praktischen und moralischen Überlegens abschwächen. Ein erster wichtiger Gesichtspunkt betrifft die Annahme, dass Überlegen im Bereich des Handelns immer und ausschließlich auf die Mittel, die zum Ziel führen, gerichtet ist, während das Ziel nicht Gegenstand der Überlegung sein kann. Es trifft zwar zu, dass Aristoteles ein solches Charakteristikum der Überlegung in den Ethiken und auch in der Rhetorik mehrfach ausdrücklich erwähnt.⁷³⁴ Es wäre aber verfehlt, Aristoteles deswegen die abwegige Auffassung zuzuschreiben, dass jemand gar keine Überlegungen über Ziele anstellen kann oder dass jemand niemals zwischen verschiedenen möglichen Zielen, die nicht miteinander vereinbar sind, abzuwägen vermag. Ge-
Zudem unterscheidet Aristoteles eindeutig zwischen der Geschicklichkeit (deinotês) und der Klugheit (vgl. EN VI 13, 1144a25 ff.). Die Klugheit impliziert im Gegensatz zur Geschicklichkeit die Güte ihres Ziels, wohingegen die Geschicklichkeit einerseits zwar ebenso wie die Klugheit eine Fähigkeit ist, die richtigen Mittel zum angestrebten Ziel zu eruieren, andererseits kann ihr Ziel aber sowohl gut als auch schlecht sein. Vgl. Abschnitt „9.3 Das Verhältnis von Tugend und Entschluss (EE 1227b25 – 1228a2)“. Der deutlichste explizite Beleg für die Auffassung des gegenseitigen Implizierens von Charaktertugend und Klugheit ist die folgende Passage aus EN VI 13, insb. 1144b30 – 32: „Aus dem Gesagten wird also klar, dass man weder im eigentlichen Sinn gut sein kann ohne die Klugheit noch klug ohne die Charaktertugend.“ [δῆλον οὖν ἐκ τῶν εἰρημένων ὅτι οὐχ οἷόν τε ἀγαθὸν εἶναι κυρίως ἄνευ φρονήσεως, οὐδὲ φρόνιμον ἄνευ τῆς ἠθικῆς ἀρητῆς.] Vgl. zum Verhältnis von Tugend und Klugheit die Abschnitte „9.2 Die Tugend macht das Ziel und den Entschluss richtig“ und „9.3 Das Verhältnis von Tugend und Entschluss“. Vgl. EN I 4, 1111b26 – 27, EN III 5, 1112b11– 12, 1112b32– 34 und 1113a2– 5; EE II 10, 1226b9 – 20 und 1227a6 – 13; Rhet. II 6, 1362a18 – 20.
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gen ein derartiges Verständnis hat sich z. B. Cooper in seiner klassischen Arbeit zum praktischen Überlegen und zum höchsten Gut bei Aristoteles ausgesprochen: [Cooper 1975]⁷³⁵ Ends can be deliberated about and chosen as means to a higher end (and ultimately as means to the highest end). Two or more ends can conflict, and when they do the conflict is resolved by looking at a higher end (and ultimately to the highest end) to see which end is to be preferred, how far the requirements of the one are to be allowed to interfere with the pursuit of the other, and so on.
Es lässt sich am Text belegen, dass Aristoteles sowohl im Bereich der herstellenden Fertigkeiten als auch im Bereich des moralisch relevanten Handelns die Möglichkeit eines Überlegens über Ziele angenommen hat. Im Bereich der verschiedenen technai geht er von einer hierarchischen Anordnung der verschiedenen herstellenden Fertigkeiten aus. So ist beispielsweise die Sattlerei um der Reitkunst willen da, die Reiterei wiederum ist der Kriegskunst untergeordnet und die Strategik dient der politischen Tätigkeit bzw. Wissenschaft (hê politikê).⁷³⁶ Die politische Tätigkeit bzw. Wissenschaft bezeichnet er zudem zu Beginn der EN als die Disziplin mit der höchsten Autorität und Meisterschaft (kyriôtatês kai malista architektonikês), der beispielsweise neben der Strategik auch die Rhetorik und die Haushaltsführung untergeordnet sind.⁷³⁷ Die hierarchische Anordnung der verschiedenen Disziplinen bzw. Fertigkeiten ist so zu verstehen, dass der Sattler überlegt, mit Hilfe welcher Mittel sich am besten ein guter Sattel herstellen lässt. Der Reiter überlegt, was der Sattler überhaupt herstellen soll, und leitend ist dabei für ihn, was ihm am dienlichsten ist, um das Ziel seiner Tätigkeit der Reitkunst am
Cooper 1975, 18. EN I 1, 1094a9 – 18: „Bei denjenigen [sc. Tätigkeiten, Kunstfertigkeiten und Kenntnissen; BL] von ihnen, die unter eine einzige Fähigkeit fallen – wie die Sattlerei und die anderen Fertigkeiten, die zur Ausrüstung der Reiterei gehören, unter die Reitkunst fallen und diese und jede militärische Tätigkeit wiederum unter die Kriegskunst, und auf dieselbe Weise andere Tätigkeiten jeweils einer anderen Fähigkeit unterstehen – bei ihnen allen gilt, dass die Ziele der leitenden Fähigkeiten den Vorrang vor allen untergeordneten haben. Denn man verfolgt diese um jener willen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Tätigkeiten selbst Ziele der Tätigkeiten sind oder noch etwas anderes über sie hinaus, wie bei den genannten Arten von Kenntnissen.“ EN I 1, 1094a27-b3: „Es dürfte aber die [sc. Fähigkeit oder Kenntnis; BL] mit der höchsten Autorität und Meisterschaft sein [sc. die es mit der Erkenntnis des Guten zu tun hat; BL]. Als so beschaffen erweist sich die politische Wissenschaft. Denn diese ordnet an, welche Kenntnisse in den Staaten gebraucht werden, und welche davon jeder einzelne Bürger lernen muss und bis zu welchem Grad. Wir sehen, dass ihr [i. e. der politischen Wissenschaft; BL] selbst die am höchsten angesehenen Fähigkeiten untergeordnet sind, wie etwa die Kriegskunst, die Haushaltsführung und die Rhetorik.“
6.6 Analogien und Differenzen zwischen poietischen und praktischen Tätigkeiten
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besten zu realisieren. Der Stratege wiederum überlegt, was der Reiter zu tun hat, damit er sein Ziel – den Sieg im Kampf – am besten erreichen kann. Dabei ist das, was für den einen Ziel seiner Tätigkeit ist – wie z. B. der Sattel für den Sattler oder der Sieg für den Strategen –, für denjenigen, der eine übergeordnete Disziplin ausübt, Mittel zu seinem Ziel. Kraft dessen ist auch die Ausübung untergeordneter Disziplinen nicht nur auf ihr jeweiliges Ziel hin ausgerichtet, sondern geschieht auch zum Zweck der übergeordneten Tätigkeiten, die für jene leitend sind:⁷³⁸ „Thus what is an end in one practical context, and so not deliberated about there, is a means in another, where it is subject to deliberation.“⁷³⁹ Wichtig ist nun, zu prüfen, ob Aristoteles auch im Bereich des moralisch relevanten Überlegens und Handelns eine analoge hierarchische Struktur angenommen hat, die es erlaubt, die Behauptung, dass Überlegung nur die Mittel, die zum Ziel führen, zum Gegenstand hat, in ähnlicher Weise zu modifizieren. Der Vermutung einer strikten Analogie scheint prima facie die aristotelische Unterscheidung zwischen Praxis und Poiesis zu widersprechen. Der locus classicus für diese Unterscheidung, der zugleich auch die einzige Stelle ist, an der Aristoteles ein Kriterium für den Unterschied zwischen Praxis und Poesis angibt, kommt in EN VI vor: [EN VI 5, 1140b3 – 4 und 1140b6 – 7⁷⁴⁰]⁷⁴¹ Praxis und Poiesis gehören zu verschiedenen Gattungen. Denn bei der Poiesis ist das Ziel von dieser verschieden, nicht so bei der Praxis; denn das gute Handeln (eupraxia) selbst ist Ziel.
Ebert hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich die beiden elliptischen Aussagen im griechischen Text auf zwei verschiedene Weisen verstehen lassen: „[…] man kann die Unterschiedenheit bzw. Nicht-Unterschiedenheit des Telos, von der Vgl. Taylor 2006, 156; Cooper 1975, 15. Cooper 1975, 15. Vgl. auch Taylor 2006, 157: „[…] what we may call technical or departmental deliberation presupposes some aim internal to the practice, an aim which is not selecetd by that departmental deliberation itself.“ Die Zeilen 1140b6 – 7 scheinen mit großer Wahrscheinlichkeit mit den Zeilen 1140b4– 6 vertauscht worden zu sein und gehörten vermutlich ursprünglich direkt hinter 1140b4, so dass die zitierte Passage als zusammenhängender Text zu lesen ist. Grund für die Vertauschung der Zeilen könnte ein schlichtes Versehen sein, da die Sätze etwa gleichlang sind. Auf die notwendige Umstellung haben schon Muret und Rassow aufmerksam gemacht. Die meisten älteren englischsprachigen Übersetzer und Kommentatoren (Stewart, Greenwood, Rackham) folgen dieser Umstellung, ebenso Gauthier/Jolif. Neuere deutsche Übersetzungen dagegen (Gigon, Dirlmeier, Rolfes/Bien, Wolf) halten am überlieferten Text fest, ohne dies zu erläutern. Vgl. zum Vorschlag der Textumstellung: Ebert 1976, 12– 13. EN VI 5, 1140b3 – 4 und 1140b6 – 7: […] ἄλλο τὸ γένος πράξεως καὶ ποιήσεως. τῆς μὲν γὰρ ποιήσεως ἕτερον τὸ τέλος, τῆς δὲ πράξεως οὐκ ἂν εἴη· ἔστι γὰρ αὐτὴ ἡ εὐπραξία τέλος.
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hier die Rede ist, entweder auf die jeweilige Poiesis resp. Praxis beziehen oder auf Poiesis und Praxis überhaupt.“⁷⁴² Die allermeisten Autoren fassen die Stelle, wie Ebert zu Recht bemerkt, auf die erste Weise auf.⁷⁴³ Nach diesem Verständnis handelt es sich um die Unterteilung allen Tuns in zwei extensional distinkte Klassen, und es wird ausgeschlossen, dass eine Praxis ein Ziel haben kann, das nicht mit ihr identisch ist. Das heißt, dass gemäß der verbreiteten Deutung zwischen Praxis und Poiesis eine signifikante Differenz besteht, nach der im Unterschied zur Poiesis keine Praxis ein Ziel haben kann, das von ihr verschieden ist. Wäre diese Auffassung zutreffend, so ließe sich für Praxis nicht mehr die gleiche analoge hierarchische Struktur annehmen wie für technische Fertigkeiten. Und da die Unterscheidung zwischen Praxis und Poiesis in EN VI die Grundlage für den Unterschied zwischen Klugheit und technê darstellt, ließe sich für die Klugheit auch nicht mehr in derselben Weise wie für die technê begründen, dass Überlegung nicht nur auf die Mittel, sondern auch auf Ziele gerichtet sein kann. Denn wenn die Handlungen (praxeis), mit denen die Klugheit befasst ist, nicht auch etwas zum Ziel haben können, das über die Handlung hinausgeht, so hat es den Anschein, als sei die Rolle der Klugheit tatsächlich auf das Auffinden der richtigen Mittel, um eine Handlung zu realisieren, beschränkt. Allerdings führt Ebert überzeugende Argumente gegen das verbreitete Verständnis der elliptisch formulierten Unterscheidung in EN VI an: Er schlägt stattdessen vor, die Unterscheidung so zu verstehen, dass eine Poiesis niemals eine Poiesis zum Ziel hat, während das Ziel einer Praxis immer eine Praxis ist. Dies lässt sich aufgrund von Aristoteles’ Unterscheidung zwischen zwei Arten von Zielen in EN I 1 dadurch ergänzen, dass eine Poiesis immer ein Produkt (ergon) zum Ziel bzw. Ergebnis hat, während eine Praxis immer eine Tätigkeit bzw. eine energeia zum Ziel hat.⁷⁴⁴ Letzteres lässt es wiederum zu, dass eine Praxis eine
Ebert 1976, 13: Schematisch aufgeführt unterscheidet Ebert zwischen den beiden folgenden Auffassungen: (a1) Das Ziel einer Poiesis ist von der jeweiligen Poiesis unterschieden. (a2) Das Ziel einer Poiesis ist von Poiesis unterschieden. (= ist niemals eine Poiesis). (b1) Das Ziel einer Praxis ist von der jeweiligen Praxis nicht unterschieden. (b2) Das Ziel einer Praxis ist von Praxis nicht unterschieden (= ist immer eine Praxis). Vgl. z. B. Stewart (1892, Vol. 2, S. 43): „The end of doing is not something different from the doing […], whereas the end of making is something different from the process of making.“ Ebenso Greenwood, 1909, 42: „In ποίησις the activity and the result are different, in πρᾶξις they are the same.“ Vgl. auch Joachim (1951, 188 – 189 und 206 – 207). Vgl. EN I 1, 1094a3 – 5: „Es zeigt sich jedoch ein Unterschied bei den Zielen; denn die einen sind Tätigkeiten, die anderen sind Werke unabhängig von den Tätigkeiten“ [διαφορὰ δέ τις φαίνεται τῶν τελῶν· τὰ μὲν γάρ εἰσιν ἐνέργειαι, τὰ δὲ παρ᾿ αὐτὰς ἔργα τινά.] Vgl. dazu Ebert 1976, 15 – 16.
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energeia zum Ziel haben kann, die von ihr verschieden ist. Ein Beispiel für diesen Fall lässt sich dem letzten Teil der Passage in EN VI 5 entnehmen: Wenn nämlich unter eupraxia nichts anderes als eudaimonia verstanden wird,⁷⁴⁵ dann handelt es sich dabei um eine Praxis, die Ziel anderer Handlungen (praxeis), wie etwa des Denkens oder des tugendhaften Handelns, sein kann. Das Denken und das tugendhafte Handeln haben einerseits zwar sich selbst zum Ziel, denn diese Tätigkeiten geschehen Aristoteles zufolge um ihrer selbst willen; sie haben andererseits aber auch etwas von ihnen Verschiedenes zum Ziel, das ihnen übergeordnet ist und um dessentwillen sie geschehen, nämlich das höchste Ziel der eudaimonia. Ebert ist sich darüber im Klaren, dass diesem Verständnis der Unterscheidung von Praxis und Poiesis eine Textsstelle aus den MM entgegensteht. Dort heißt es ausdrücklich, dass jede Praxis nur um ihrer selbst willen geschieht, so dass ausgeschlossen ist, dass das Ziel einer Praxis eine Praxis ist, die von jener verschieden ist.⁷⁴⁶ Zu Recht gibt Ebert aber die zweifelhafte Autorenschaft der MM zu bedenken. Es erscheint überdies um so berechtigter, hier das gegenläufige Zeugnis aus den MM nicht zu berücksichtigen, weil sich in der EN eine Passage findet, die klar dafür spricht, dass Aristoteles auch bei moralisch relevanten Handlungen (praxeis) von einer hierarchischen Anordnung ausgeht: [EN I 5, 1097a34-b6]⁷⁴⁷ Als ein so beschaffenes Ziel gilt aber im höchsten Maß das Glück. Denn wir wählen es immer um seiner selbst willen und niemals um einer anderen Sache willen. Ehre, Lust, Vernunft
Dass dies Aristoteles’ Auffassung ist und er als Synonyme für „eudaimonia“ die Ausdrücke „gut leben“ und „gut handeln“ verwendet, legt die folgende Textstelle nahe (EN I 8, 1098b20 – 22): „Mit unserer Bestimmung stimmt auch überein, dass der Glückliche gut lebt und gut handelt. Denn das Glück wurde gewissermaßen als ein Gut-Leben und Gut-Handeln bestimmt.“ Vgl. auch EN I 2, 1095a17– 20: „Im Namen stimmen die meisten beinahe überein; denn sowohl die Leute aus der Menge als auch die kultivierten Leute sagen, es sei das Glück, und dabei setzen sie das Glück mit dem Gut-Leben und Gut-Handeln gleich.“ MM I 34, 1197a4– 12: „Bei den Tätigkeiten des Herstellens gibt es ein anderes Ziel neben dem Prozess des Herstellens. Wie z. B. neben der Baukunst, die ja eine Fertigkeit zur Errichtung eines Gebäudes ist, das Gebäude das Ziel ist, neben dem Prozess des Bauens, und gleichermaßen bei der Schreinerei und den anderen herstellenden Tätigkeiten. Bei den Tätigkeiten des Handelns gibt es kein anderes Ziel neben der Handlung, wie es z. B. neben dem Kitharaspielen kein anderes Ziel gibt, sondern dies selbst ist das Ziel, die Tätigkeit und das Handeln. Mit dem Handeln und mit dem, was im Bereich des Handelns liegt, ist die Klugheit befaßt; mit dem Herstellen und dem, was im Bereich des Herstellens liegt, dagegen die Kunstfertigkeit.“ EN I 5, 1097a34-b6: τοιοῦτον δ᾿ ἡ εὐδαιμονία μάλιστ᾿ εἶναι δοκεῖ· ταύτην γὰρ αἱρούμεθα ἀεὶ δι᾿ αὐτὴν καὶ οὐδέποτε δι᾿ ἄλλο, τιμὴν δὲ καὶ ἡδονὴν καὶ νοῦν καὶ πᾶσαν ἀρετὴν αἱρούμεθα μὲν καὶ δι᾿ αὐτὰ (μηθενὸς γὰρ ἀποβαίνοντος ἑλοίμεθ᾿ ἂν ἕκαστον αὐτῶν), αἱρούμεθα δὲ καὶ τῆς εὐδαιμονίας χάριν, διὰ τούτων ὑπολαμβάνοντες εὐδαιμονήσειν. τὴν δ᾿ εὐδαιμονίαν οὐδεὶς αἱρεῖται τούτων χάριν, οὐδ᾿ ὅλως δι᾿ ἄλλο.
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und jede Tugend dagegen wählen wir indes zwar um ihrer selbst willen (denn selbst wenn aus ihnen nichts weiter folgte, würden wir doch jedes von ihnen wählen), aber wir wählen sie auch um des Glücks willen, weil wir annehmen, dass wir durch sie glücklich werden. Das Glück wählt aber niemand um dieser Dinge willen oder überhaupt um einer anderen Sache willen.
Aristoteles qualifiziert hier die eudaimonia als das höchste Gut, das als einziges Gut nur um seiner selbst willen und um keiner anderen Sache willen gewählt wird. Für alle anderen Güter und Tätigkeiten, die um ihrer selbst willen gewählt werden, gilt dagegen, dass sie immer auch um des Glücks willen gewählt werden. Das macht deutlich, dass auch bei moralisch relevanten Handlungen eine hierarchische Ordnung anzunehmen ist, an deren Spitze das Glück steht, das das letzte Ziel aller Handlungen ist. Demnach lässt sich auch für moralisch relevantes Überlegen sagen, dass es Ziele zum Gegenstand haben kann: Denn es ist möglich, dass das, was Ziel einer eigentlichen Praxis wie etwa einer tugendhaften Handlung und als solches Ziel nicht Gegenstand von Überlegung ist, gleichwohl Gegenstand des Überlegens werden kann, nämlich in Hinblick auf den Beitrag, den diese Praxis zur Realisierung des höchsten Ziels, der eudaimonia, leistet. In diesem Fall ist die eigentliche Praxis wie z. B. eine tugendhafte Handlung allerdings nicht mehr als Ziel Gegenstand der Überlegung, sondern über sie wird nur als Beitrag zu einem übergeordneten eigentlichen Ziel überlegt. Ein zusätzliches Indiz, das in die Richtung dieser Deutung weist, ist auch darin zu erkennen, dass Aristoteles in 1112b15 davon spricht, dass Überlegung beginnt, nachdem man sich irgendein Ziel festgelegt bzw. gesetzt (themenoi telos ti) hat. Ein Ziel festzulegen, heißt, dass jemandem ein Ziel nicht schlicht von außen vorgegeben wird, sondern dass man selbst zumindest einen partiellen aktiven Beitrag zur Bestimmung und Setzung des Ziels leistet. Die aristotelische Unterscheidung zwischen Praxis und Poiesis erweist sich also als differenzierter, als es zunächst den Anschein hat. Die Abgrenzung zwischen Praxis und Poiesis ist nicht als eine Unterscheidung von zwei extensional verschiedenen Klassen zu verstehen, sondern als eine „aspektuelle Unterscheidung an Handlungen“⁷⁴⁸ bzw. als eine „intensionale Unterschiedenheit“⁷⁴⁹. Das heißt, es ist möglich, numerisch dieselbe Handlung als eine Praxis und als eine Poiesis zu betrachten. So lässt sich z. B. die Herstellung eines heilsamen Medikaments durch den Arzt als eine herstellende Tätigkeit ansehen; sie hat zu ihrem Resultat die fertige Medizin, d. h. ein Produkt, das außerhalb der Tätigkeit liegt und die Tätigkeit zeitlich überdauert. Zugleich lässt sich die Herstellung aber auch Corcilius 2011, 246 – 247. Ebert 1976, 21.
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als eine Handlung betrachten, bei der der Arzt etwa von dem Wunsch geleitet wird, seinen Beruf auszuüben, sich Anerkennung zu verschaffen oder jemandes Gesundheit wiederherzustellen, was alles letztlich auf das Ziel ausgerichtet ist, einen Beitrag zu seinem guten Leben zu leisten.⁷⁵⁰ Aristoteles’ Unterscheidung lässt es also einerseits zu, eine herstellende Tätigkeit unter dem Aspekt ihres Beitrags zur eudaimonia zu betrachten; und sie gestattet es andererseits, auch eine eigentliche Praxis, die ihr Ziel in sich selbst enthält, zugleich als ein Mittel zur Realisierung der eudaimonia anzusehen.⁷⁵¹ Vor diesem Hintergrund lässt sich nun auch verständlich machen, was Aristoteles’ Gründe gewesen sein könnten, die Überlegung in EN II 4 dadurch zu charakterisieren, dass sie nur die Dinge, die zum Ziel führen, zum Gegenstand hat. Er verwendet hier die Bezeichnung „τὰ πρὸς τὰ τέλη“, was häufig mit „Mittel“ bzw. „means“ wiedergegeben wird.⁷⁵² Diese Übersetzung führt leicht zu dem Missverständnis, Aristoteles beschränke damit die Überlegung auf eine rein instrumentelle Rolle, die im Auffinden der kausal notwendigen Mittel für die Realisierung eines angestrebten Ziels besteht. Zu Recht haben viele Autoren betont, dass der griechische Ausdruck eine deutlich weitere Bedeutung als Mittel in diesem instrumentellen Sinn hat; vielmehr lässt sich der Ausdruck auch allgemeiner im Sinn von Dinge, die zum Ziel führen bzw. Dinge, die zum Ziel beitragen bzw. Dinge, die das Ziel befördern begreifen.⁷⁵³ Ein ähnlicher Bedeutungsunterschied liegt im Übrigen auch bei den Wendungen „ἕνεκα“ und „χάριν“ vor, die Aristoteles oft verwendet, um auszudrücken, dass etwas um einer anderen Sache willen da ist:⁷⁵⁴ Das lässt sowohl das Verständnis zu, dass etwas ein instrumen Vgl. Ebert 1976, 21. Einen Hinweis, dass es Aristoteles bei der Abgrenzung zwischen Praxis und Poiesis um eine aspektuelle und keine strikt extensionale Unterscheidung zu tun ist, gibt auch die Formulierung in EN VI 4, 1140a5 – 6: „Weder ist die Praxis eine Poiesis noch ist die Poiesis eine Praxis.“ Dies schließt zwar eine Extensionsgleichheit aus, lässt aber eine Schnittmenge durchaus zu (vgl. Ebert 1976, 21). Vgl. Irwin 1975, 571: „The practical intellect is not concerned with means as opposed to ends. Insofar as it is concerned with constituent ‚meansʻ, it is also concerned with ends and, thereby, forms wishes for particular ends.“ Z. B. Ross 1998. Hardie 1968, 256; Cooper 1975, 19: „It is important to notice […] that the Greek expression ta pros ta telê, translated ‚meansʻ, covers more than just means: it signifies ‚things that contribute toʻ or ‚promoteʻ or ‚have a positive bearing onʻ an end.“ Vgl. auch Wiggins 1980, 223 – 224, der „things toward the end“ als Übersetzung vorschlägt, die hinreichend offen ist ein breites Verständnis zulässt. Vgl. auch Moss 2011, 242: „Successfully working out the things that promote an end is on [Aristotle’s] view complex, ethically demanding, and crucial to well-being – and this because ‚things toward an endʻ is a category far broader than what we think of as instrumental means.“ Vgl. z. B. EN I 1, 1094a9 – 18, hier: a15, zitiert in: Anm. 736, S. 272, sowie EN I 5, 1097a34-b5, hier: 1097b4, zitiert in: Anm. 747, S. 275.
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telles (kausal hinreichendes) Mittel ist, damit etwas zustande kommt; es lässt aber auch die Deutung zu, dass etwas zu einem Ziel in einem nicht-instrumentellen (bzw. nicht-kausalen) Sinn beiträgt.⁷⁵⁵ Greenwood hat im einleitenden Essay seiner Ausgabe von EN VI von 1909 diese Bedeutungsdifferenz eingeführt, um zu erläutern, in welchem Sinn sich die Klugheit auf die Dinge, die zum Ziel führen, bezieht: [Greenwood 1909]⁷⁵⁶ A thing may be a means to an end in either of two senses, as component part of it, or as wholly external to it. To take a trivial example, fire and basin and cloth are means to a pudding in the latter sense, suet and flour and currants in the former. Or again, Happiness being considered as the end, the contemplation of beautiful pictures may be considered rightly or wrongly as a means to this end in the component sense, the going to picture galleries as a means to it in the external sense […].
Greenwood unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Bedeutungen von „Mittel“ (means): Etwas kann entweder in einem externen Sinn (external sense) oder in einem konstitutiven Sinn (component sense) Mittel zu einem Ziel sein. Er mutmaßt, dass Aristoteles einzig an der folgenden Stelle in EN VI 13 diese Bedeutungsdifferenz tatsächlich „gefühlt“ habe:⁷⁵⁷ [EN VI 13, 1144a3 – 6]⁷⁵⁸ Dann stellen sie [i. e. die Klugheit und die Weisheit; BL] auch etwas her, aber nicht wie die Medizin die Gesundheit herstellt, sondern wie die Gesundheit [es tut] – so „stellt“ die Weisheit das Glück „her“. Denn da sie ein Bestandteil der ganzen Tugend ist, macht sie uns dadurch glücklich, dass wir sie besitzen und bestätigen.
Nach Greenwoods Unterscheidung ist die Medizin beispielsweise insofern ein externes Mittel für die Gesundheit, als aus ihrer Tätigkeit Behandlungsmethoden wie z. B. die Zufuhr von Wärme hervorgehen, die ihrem Ziel, der Gesundheit,
Wiggins 1980, 224: „It is a commonplace of Aristotelian exegesis that Aristotle never really paused to analyze the distinction between two quite different relations. (A) the relation x bears to telos y when x will bring about y, and (B) the relation x bears to y when the existence of x will itself help to constitute y. For self-sufficient reasons we are committed in any case to making this distinction very often on behalf of Aristotle when he writes down the words heneka or charin (for the sake of). […] The expression toward the end is vague and perfectly suited to express both conceptions.“ Greenwood 1909, 46 – 47. Greenwood 1909, 47. EN VI 13, 1144a3 – 6: ἔπειτα καὶ ποιοῦσι μέν, οὐχ ὡς ἡ ἰατρικὴ δὲ ὑγίειαν, ἀλλ᾿ ὡς ἡ ὑγίεια, οὕτως ἡ σοφία εὐδαιμονίαν· μέρος γὰρ οὖσα τῆς ὅλης ἀρετῆς τῷ ἔχεσθαι ποιεῖ καὶ τῷ ἐνεργεῖν εὐδαίμονα.
6.6 Analogien und Differenzen zwischen poietischen und praktischen Tätigkeiten
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extern sind und die sich als kausale Bedingungen für die Realisierung des Ziels auffassen lassen.⁷⁵⁹ Dagegen ist etwas ein konstitutives „Mittel“⁷⁶⁰ für etwas, wenn es teilweise oder vollständig dieses Ziel konstituiert: So ist beispielsweise ein ausgeglichener Zustand des Organismus einer Person das, worin ihre Gesundheit besteht, oder tugendhaftes Handeln ist etwas, das konstitutiv für die eudaimonia ist. In ähnlicher Weise wie in EN VI 13 trifft Aristoteles auch in EE I 2 eine Unterscheidung zwischen konstitutiven Teilen und dem, was lediglich notwendige Voraussetzung für etwas ist: [EE I 2, 1214b6 – 17]⁷⁶¹ Wenn man sich nun angesichts dieser (philosophischen oder populärwissenschaftlichen Thesen bzw. Kandidaten) klarmacht, dass jeder beliebige, der in der Lage ist, dem eigenen Entschluss gemäß zu leben, sich (möglicherweise unüberlegt und leichtsinnig) irgendein (beliebiges) Ziel des ‚auf schöne Weise Lebensʻ setzt, sei es Ehre, Ruhm, Reichtum oder Bildung, mit Blick worauf er alle seine Handlungen vollführt – denn sein Leben nicht auf irgendein (beliebiges) Ziel hin geordnet zu haben, gilt (allgemein) als Zeichen großer Dummheit – so ist es nun von allerhöchster Wichtigkeit, für sich selbst nicht unüberlegt und leichtsinnig zuerst festzulegen, in welchem Zustand unserer Verhältnisse das Leben gut ist, und was (andererseits) dasjenige ist, ohne welches ersteres den Menschen nicht zukommen kann. Denn es ist nicht dasselbe, gesund zu sein und die Dinge, ohne die es nicht möglich ist, gesund zu sein, zu haben; und gleichermaßen verhält sich dies auch bei vielen anderen Dingen, so dass auch schön zu leben und die Dinge, ohne die schön zu leben, nicht möglich ist, [sc. nicht dasselbe sind; BL].
Im vorangegangenen ersten Kapitel der EE hatte Aristoteles drei verschiedene Auffassungen zum höchsten Gut referiert. Danach wird das höchste Gut entweder
Cooper bezeichnet ein externes Mittel auch als „productive“ (Cooper 1975, 22). Wiggins gibt folgende Erläuterung zur ersten Bedeutung von „means“ (Wiggins 1980, 224): „The first notion, that of a means or instrument or procedure that is causally efficacious in the production of a specific and settled end, has as its clear cases such things as a cloak as a way of covering the body when one is cold, or some drug as a means to alleviate pain.“ „Mittel“ ist hierfür nicht der beste Ausdruck. Passender ist es, vom konstitutiven (Bestand‐) Teil zu sprechen. EE I 2, 1214b6 – 17: περὶ δὴ τούτων ἐπιστήσαντας, ἅπαντα τὸν δυνάμενον ζῆν κατὰ τὴν αὑτοῦ προαίρεσιν †θέσθαι† τινὰ σκοπὸν τοῦ καλῶς ζῆν, ἤτοι τιμὴν ἢ δόξαν ἢ πλοῦτον ἢ παιδείαν, πρὸς ὃν ἀποβλέπων ποιήσεται πάσας τὰς πράξεις (ὡς τό γε μὴ συντετάχθαι τὸν βίον πρός τι τέλος ἀφροσύνης πολλῆς συμεῖόν ἐστιν), μάλιστα δὴ δεῖ πρῶτον ἐν αὑτῷ διορίσασθαι μήτε προπετῶς μήτε ῥαθύμως, ἐν τίνι τῶν ἡμετέρων τὸ ζῆν εὖ, καὶ τίνων ἄνευ τοῖς ἀνθρώποις οὐκ ἐνδέχεται τοῦθ᾿ ὑπάρχειν. οὐ γὰρ ταὐτόν, ὧν τ᾿ ἄνευ οὐχ οἷόν τε ὑγιαίνειν· ὁμοίως δ᾿ ἔχει τοῦτο καὶ ἐφ᾿ ἑτέρων πολλῶν, ὡστ῾ οὐδὲ τὸ ζῆν καλῶς καὶ ὧν ἄνευ οὐ δυνατὸν ζῆν καλῶς. Übersetzung bis b14 nach Buddensiek 1999, 53.
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6 Behandlung des Spezifischen der prohairesis
als Vernunft (phronêsis), als Tugend oder als Lust bestimmt. Daraufhin stellt er im ersten Teil der zitierten Passage in EE I 2 verschiedene populäre Vorstellungen zum höchsten Gut vor: Ehre, Ruhm, Reichtum oder Bildung. Anschließend führt er als einen Punkt von „allerhöchster Wichtigkeit“ an, dass ein Unterschied vorzunehmen ist zwischen konstitutiven Teilen, d. h. das, worin das gute Leben besteht, und den dafür notwendigen Voraussetzungen, nämlich denjenigen Dingen, ohne die das gute Leben nicht zustande kommt. Die Unterscheidung zwischen konstitutiven Teilen und notwendigen Voraussetzungen hilft Aristoteles im Weiteren, die vorliegenden Meinungen zum Inhalt des guten Lebens voneinander abzugrenzen.⁷⁶² Hier wäre näher zu prüfen, ob externe Mittel, wie Greenwood sie in Bezug auf EN VI 13 bestimmt, und notwendige Voraussetzungen gleichzusetzen sind. Darauf kann ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen; wichtig ist für unseren Kontext, dass beide sich insofern von konstitutiven Teilen unterscheiden, als sie nicht konstitutiver Bestandteil des Ziels sind. Sie leisten nur einen kausalen Beitrag zur Realisierung eines Ziels, mit dem sie nicht identisch sind. Die Unterscheidung zwischen konstitutiven Teilen und externen Mitteln bzw. notwendigen Voraussetzungen erlaubt es also, der Beschreibung der Überlegung in EN III 4 einen plausibleren Sinn zu geben. Die Aussage muss nicht so verstanden werden, als beziehe sich Überlegung ausschließlich auf externe bzw. instrumentelle Mittel oder notwendige Voraussetzungen, die zu einem Ziel führen, sondern sie kann auch konstitutive Teile des Ziels zum Gegenstand haben. Die Beschreibung, die Aristoteles in EN III von Gegenstand und Prozess der Überlegung präsentiert, deutet darauf hin, dass er hier die Bezeichnung „Dinge, die zum Ziel führen“ in ihrer weitestmöglichen und variabel zu verstehenden Verwendung gebraucht. Wenn er in 1112b25 Geld erwähnt oder in 1112b29 von Werkzeugen (organa) spricht, so sind darunter wohl notwendige Voraussetzungen zur Realisierung eines Ziels zu verstehen. An instrumentelle Mittel ist dagegen bei den Dingen zu denken, mit denen es die verschiedenen erwähnten technai wie die Medizin und der Gelderwerb zu tun haben. Schließlich deuten manche, wie wir gesehen haben, das Geometrie-Beispiel, bei dem der Überlegungsvorgang mit dem Konstruieren einer geometrischen Figur verglichen wird (1112b20 – 24), als einen Hinweis darauf, dass Aristoteles bei den Gegenständen der Überlegung
Vgl. zu dieser Deutung der Passage: Buddensiek 1999, 50 – 54; hier: 53: „[Aristoteles] verschafft sich mit der Unterscheidung notwendiger Voraussetzungen und konstitutiver Teile ein Mittel (neben anderen) zur Unterscheidung aller ihm vorliegenden Meinungen über den Inhalt des guten Lebens. Diese Unterscheidung nicht anzuwenden und den eigenen Kandidaten nicht korrekt einzuordnen, ist Zeichen von Unüberlegtheit und Leichtsinn.“
6.7 Überlegung und „Praktischer Syllogismus“
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außerdem an konstitutive Teile gedacht hat.⁷⁶³ Auch wenn der Vergleich mit der geometrischen Analyse als Indiz kaum ausreicht, um in Hinblick auf EN III 4 von einer klaren Unterscheidung zwischen konstitutiven Teilen und externen Mitteln zu sprechen, so zeigen doch andere Passagen wie EE I 2 und EN VI 13, dass Aristoteles eine derartige Differenz angenommen hat. Es muss daher auch nicht besonders irritieren, wenn er zur Illustration von moralisch relevantem Denken ausschließlich Beispiele für poietische Tätigkeiten anführt: Auch moralisch relevantes Handeln weist eine hierarchisch geordnete Struktur auf, an deren Spitze die eudaimonia als höchstes Gut steht. Das lässt es zu, dass Überlegung auch Ziele zum Gegenstand haben kann, da Handlungen, die ihr Ziel in sich selbst enthalten, zugleich auch etwas sind, das um eines übergeordneten Ziels willen geschieht, und das als solches auch zum Gegenstand von Überlegung werden kann.⁷⁶⁴ Ferner sind die Dinge, die Gegenstand des moralisch relevanten Denkens sind, nicht nur instrumentelle Mittel, sondern auch konstitutive Bestandteile des angestrebten Ziels.
6.7 Überlegung und „Praktischer Syllogismus“ In diesem Abschnitt will ich das Wichtigste der Bestimmung, die Aristoteles in EN III 4 von der Überlegung (bouleusis), ihrem Verhältnis zur prohairesis und zu einer möglichen daraus resultierenden Handlung gibt, resümieren und zu einer Gesamtdarstellung zusammenführen. Darüber hinaus werde ich diese Darstellung der Überlegung zur aristotelischen Konzeption des „Praktischen Syllogismus“ in Beziehung setzen. Das ist insofern naheliegend, als zahlreiche Autoren in Aristoteles’ Konzeption des Praktischen Syllogismus eine Theorie des praktischen Überlegens bzw. Schlussfolgerns, wie er es in EN III bestimmt, erkannt haben. In der modernen praktischen Philosophie werden unter Praktischen Syllogismen üblicherweise Schlussfolgerungen verstanden, die in Analogie zu theoretischen So z. B. Cooper und Nussbaum, vgl. dazu die Zitate aus Cooper 1975, 20 und Nussbaum 1985, Anm. 27, 182 in meinen Anm. 706 und 707, S. 263. Von dieser Deutung, die z. B. Irwin (1975) und Wiggins (1980) vertreten, grenzt sich Moss deutlich ab. Sie ist zwar ebenfalls der Auffasung, dass praktische Überlegung konstitutive Teile des Ziels zum Gegenstand haben kann, lehnt aber die Annahme ab, dass das impliziert, dass Überlegung sich auch auf Ziele bezieht. Das Ziel moralisch relevanten Denkens, die eudaimonia, wird ihr zufolge allein durch die Tugend festgelegt. Aufgabe des Denkens ist hingegen nur, herauszufinden, worin dieses Ziels besteht; vgl. Moss 2011, 250: „Deliberation cannot teach us that eudaimonia consists of the life of virtuous activity – only character can do that – but it can work out the whole substance of that general goal, showing at every point what counts as an achievement of it.“
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Schlüssen gebildet sind und ebenfalls die Strutkur von mindestens zwei Prämissen und einer Konklusion haben. Im Unterschied zu theoretischen Schlüssen hat die erste Prämisse Praktischer Syllogismen aber eine Vorschrift oder eine Strebung und die zweite eine Handlungsmöglichkeit zu ihrem Inhalt, und die Konklusion ist entweder ein Imperativ zu einer bestimmten Handlung, die getan werden soll, oder die Konklusion wird sogleich mit der entsprechenden Handlung identifiziert.⁷⁶⁵ Zentral für meine Diskussion wird die Frage sein, was nach Aristoteles das Explanandum des Praktischen Syllogismus ist. Viele Autoren haben in der praktischen Überlegung das Explanandum (oder zumindest eines der Explananda) des Praktischen Syllogismus gesehen. Im Folgenden werde ich als Alternative zu dieser Deutung den Vorschlag betrachten, den Praktischen Syllogismus als eine Figur zur Erklärung der Ortsbewegung von Lebewesen zu verstehen. Nach diesem Verständnis ist der Praktische Syllogismus kein Modell für praktisches Überlegen (bouleusis), wie Aristoteles es in EN III bestimmt. Vielmehr stellt er eine Figur dar, um zu erklären, wie z. B. auf einen abgeschlossenen Überlegungsvorgang eine Handlung folgen kann. Dabei umfasst das Spektrum möglicher Explananda des Praktischen Syllogismus mehr als menschliche Handlungen, denen praktisches Überlegen vorausgegangen ist. Er stellt danach vielmehr ein Modell zur Erklärung animalischer Ortsbewegung im Allgemeinen dar, zu deren Antezedenzien praktische Überlegung zählen kann, aber nicht gehören muss. Die Differenz zwischen den beiden unterschiedlichen Deutungen davon, was das Explanandum des Praktischen Syllogismus ist, weist in eine ähnliche Richtung wie die Unterscheidung zwischen Handlungserklärung und Handlungsbegründung.⁷⁶⁶ Bei einer Erklärung geht es um die kausal wirksamen Ursachen, die für das Zustandekommen einer Bewegung relevant sind, nicht aber um die Gründe, die jemand für das Ausführen einer Bewegung hat. Bei einer Begründung geht es dagegen um die rational einsehbaren Gründe, die relevant dafür sind, zu verstehen, weshalb
Ich kann hier nicht näher auf die moderne Diskussion des Praktischen Syllogismus in der Handlungstheorie eingehen, zumal sich die Auffassungen des Praktischen Syllogismus z.T. deutlich unterscheiden. So bestehen Differenzen bezüglich der Frage, was unter den Prämissen und der Konklusion Praktischer Syllogismen zu verstehen ist; ein anderer strittiger Punkt ist die spezielle Gültigkeit praktischer Schlussfolgerungen. Zentrale Beiträge zur modernen Diskussion stammen von Anscombe, von Wright, Kenny, Geach und Hare. Ein Überblick über die wichtigsten Positionen findet sich in: Corcilius 2008c. Die Differenz zwischen Handlungserklärung und Handlungsbegründung entspricht der Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen, die von Wright näher ausgeführt hat (von Wright 1971). Von Wright argumentiert dafür, dass sich menschliche Handlungen nicht kausal mit Hilfe von Naturgesetzen erklären lassen, sondern intentional zu explizieren sind. Vgl. auch Corcilius 2008b, 275.
6.7 Überlegung und „Praktischer Syllogismus“
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jemand etwas getan hat. Es ist aber zu beachten, dass sich die Unterscheidung zwischen Handlungserklärung und Handlungsbegründung nur mit Vorbehalt auf Aristoteles anwenden lässt. Denn es wird sich zeigen, dass Aristoteles auch Denkvorgänge in den Kausalmechanismus der Handlungserklärung einbettet und sich somit die Grenze zwischen physikalischer Erklärung und Handlungsbegründung bisweilen verschiebt.⁷⁶⁷
6.7.1 Die Bestimmung der Überlegung in EN III 4 und ihre Relation zu Entschluss und Handlung Der Überlegungsprozess besteht nach Aristoteles darin, ausgehend von einem vorgegebenen bzw. festgelegten Ziel nach den geeigneten Schritten zu suchen, die für die Realisierung des Ziels notwendig sind. Man schreitet mit dem Überlegen durch die schrittweise Iterierung der Frage nach dem Wodurch voran, bis man zu einem Schritt gelangt, bei dem kein weiteres Fragen mehr sinnvoll ist, weil etwas erreicht ist, das sich unmittelbar durch eine Handlung realisieren lässt. Der letzte Schritt des Überlegungsprozesses ist also dasjenige untergeordnete Ziel, das als geeignetes Mittel für die Erreichung des festgelegten obersten Ziels gefunden wurde und das die handelnde Person direkt durch ihr Handeln realisieren kann. Das Letzte des Überlegungsprozesses nennt Aristoteles das Erste im Prozess des Hervorbringens (en tê[i] genesei), d. h. das Erste bei der Verwirklichung des Ziels. Was man beim Überlegen als unmittelbar umsetzbares Mittel für ein bestimmtes Ziel gefunden und zum Inhalt eines Entschlusses gemacht hat, ist demnach der erste Schritt der Handlung, um das Ziel zu realisieren. Dieser Beschreibung lassen sich wichtige Merkmale der Überlegung entnehmen.⁷⁶⁸ Überlegen ist ein Denkvorgang und als solcher eine Tätigkeit des rationalen Seelenteils. Ebenso wie andere Formen des Denkens ist Überlegen propositional, aber im Unterschied zu theoretischen Formen des Denkens ist praktisches Überlegen nicht deduktiv, sondern heuristisch, d. h. es geht beim Überlegen um das Auffinden der geeigneten Mittel für die Realisierung eines angestrebten Ziels (und es geht nicht um die Ableitung konkreter Annahmen aus einer allgemeinen Annahme).⁷⁶⁹ Geeignet sind diejenigen Mittel, die hypothetisch notwendig sind, um das gesetzte Ziel zu erreichen. Das festgelegte Ziel erfüllt Vgl. Abschnitt „6.7.3 Denken und animalische Ortsbewegung“. Vgl. hierzu Corcilius 2008b, 250 – 261 sowie 2008d, 165 – 166. Das schließt nicht aus, dass deduktive Schlussfolgerungen als ein Bestandteil in den Prozess des praktischen Überlegens eingehen können. Aber Deduktionen sind nicht wesentlich und notwendig für praktisches Überlegen (contra Barnes 1977, 217).
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beim praktischen Überlegen dieselbe Funktion wie die Prinzipien (hypotheseis) beim theoretischen Denken. Die praktische Überlegung ist damit befasst, durch die Wiederholung der Wodurch-Frage die untergeordneten Ziele zu finden, die in einer Verursachungsrelation zu dem obersten festgesetzten Ziel stehen. Überlegung setzt somit eine Kenntnis von Kausalrelationen als Kausalrelationen voraus, die aber kein Expertenwissen, sondern eine Art praktischen Wissens ist, über das man aufgrund von Erfahrung verfügt.⁷⁷⁰ Die Mittel, die die Überlegung als geeignete Mittel für die Realisierung des Ziels eruiert hat, können sowohl instrumentelle Mittel sein, die kausal notwendig für die Realisierung des Ziels sind, als auch konstitutive Teile, aus denen das Ziel besteht. Die Struktur der Überlegung verhält sich dabei invers zur Struktur des Ablaufs der entsprechenden Handlung.⁷⁷¹ Was im Denken zuletzt kommt, ist im Handeln das Erste, nämlich das letzte untergeordnete Ziel, das unmittelbar realisierbar ist. Und was im Denken am Anfang steht, ist beim Handeln wiederum das Letzte, nämlich das oberste gewünschte Ziel. Den letzten Schritt des Denkens, also das letzte untergeordnete Ziel, das die handelnde Person unmittelbar realisieren kann, bezeichnet Aristoteles als den ersten Schritt im „Prozess des Hervorbringens“. Diese Formulierung legt prima facie die Annahme nahe, dass das Ergebnis der Überlegung der erste Teil der Handlung ist, da man unter dem ersten Schritt der Handlung den Anfang der Handlung – im Sinn von deren erstem Teil – verstehen könnte. Gegen dieses Verständnis hat Corcilius jedoch einleuchtende Gründe angeführt. Er räumt zwar ein, dass das Letzte des Überlegungsprozesses „die erste Etappe des Handelns“ ist, bemerkt aber sogleich, „dass Aristoteles den letzten Schritt der Deliberation nicht mit dem Anfang der Handlung identifiziert, sondern, wie es an anderen Stellen heißt, als deren Prinzip bzw. Ausgangspunkt (archê) betrachtet“.⁷⁷² Corcilius verweist zur Stützung seiner Deutung auf die folgende Stelle in De An. III 10 und auf eine längere Passage aus Met. VII 7:
Vgl. Corcilius 2008b, 252– 255. Vgl. dazu EE II 10, 1227b32– 33: „Ausgangspunkt des Denkens ist also das Ziel; Ausgangspunkt des Handelns ist dagegen der Endpunkt des Denkens.“ sowie Met. VII 7, 1032b5 – 10: „Das Gesunde entsteht nun, wenn jemand, wie folgt, überlegt hat: Da Gesundheit dieser bestimmte Zustand ist, muß zur Herstellung des Gesunden ein anderer bestimmter Zustand vorliegen, sagen wir das Gleichmaß. Wenn aber dies erreicht werden soll, muß Wärme vorliegen. Und der Arzt denkt in dieser Weise immer weiter, bis er die Reihe zu etwas hingeführt hat, das er schließlich selbst verwirklichen kann. Die an diesen Punkt sich nunmehr anschließende Veränderung, die auf das Gesundsein gerichtet ist, heißt Herstellung [Übersetzung nach Frede/Patzig 1988].“ Vgl. De. An. 433a16 – 17 (s.u.). Corcilius 2008b, 251.
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[De. An. III 10, 433a15 – 17]⁷⁷³ Und auch jedes Streben besteht um eines bestimmten Zwecks willen; denn das, worauf sich das Streben bezieht, dies ist Ausgangspunkt der praktischen Vernunft; und das Letzte (in der vernünftigen Überlegung) ist Ausgangspunkt der Handlung.
An dieser Stelle ebenso wie im Passus in Met. VII 7⁷⁷⁴ bezeichnet „ἀρχή“ einen Ausgangspunkt bzw. ein Prinzip der Handlung, der bzw. das außerhalb der Handlung liegt und nicht als ein (zeitlich) erster Teil der Handlung aufgefasst werden darf. Daraus folgert Corcilius, dass das Letzte der Überlegung und das Erste der Handlung nicht zu idenfizieren sind, und er nimmt dies auch für Aristoteles’ Bestimmung der Überlegung in EN III 5 an. Diese Folgerung erscheint mir zutreffend und wichtig, und sie lässt sich durch unsere Passage stützen: Gesagt wurde, dass das Ergebnis der Überlegung in dem Auffinden des letzten untergeordneten Ziels besteht, das die handelnde Person unmittelbar realisieren könnte. Durch die Verwendung des Optativs (genoit’ an) in 1112b27 kommt zum Ausdruck, dass die Überlegung ihr Ende in einem untergeordneten, unmittelbar realisierbaren Ziel findet, selbst wenn die Realisierung dieser Handlung nicht folgt. Die Möglichkeit der ausbleibenden Umsetzung des letzten Schrittes der Überlegung stützt Corcilius’ Befund, dass das Letzte der Überlegung in Aristoteles’ Augen nicht mit dem Anfang der Handlung zu identifizieren ist. Das heißt, die Überlegung endet mit einer Proposition, nicht mit einer Handlung. Die Proposition, die das Ergebnis eines Überlegungsvorganges ist, hat indes eine Handlung zu ihrem Inhalt, welche die Überlegung als das letzte untergeordnete Ziel gefunden hat.
De. An. III 10, 433a15 – 17: καὶ ἡ ὄρεξις ἕνεκά του πᾶσα· οὗ γὰρ ἡ ὄρεξις, αὕτη ἀρχὴ τοῦ πρακτικοῦ νοῦ· τὸ δ᾿ ἔσχατον ἀρχὴ τῆς πράξεως. Übersetzung leicht verändert nach Corcilius. Met. VII 7, 1032b15 – 26: „Bei den Entstehungen und Veränderungen wird nun der eine Teil Überlegung, der andere Herstellung genannt. Der Teil, der vom Anfang der Sache und von der Form ausgeht, heißt Überlegung, der Teil jedoch, der vom Endpunkt der Überlegung ausgeht, heißt Herstellung. Auf entsprechende Weise entsteht auch jeder der anderen Zustände, nämlich der Zwischenstadien. Was ich meine, ist dies: Wenn jemand gesund werden soll, muß er einen Zustand des Gleichmaßes erreichen. Worin besteht nun der Zustand des Gleichmaßes? Hierin: Dies aber wird dann eintreten, wenn der Patient erwärmt wird. Worin aber besteht nun dies? Darin. Das ist aber schon der Möglichkeit nach vorhanden. Dies aber liegt bereits in seiner Macht. Was nun eigentlich etwas bewirkt und wovon der Prozess der Genesung seinen Ausgang nimmt, das ist, wenn er auf Kunst beruht, die Form, die sich in der Seele befindet. Wenn es sich aber um einen spontanen Ablauf handelt, dann nimmt die Veränderung von genau dem ihren Anfang, was auch den Ausgangspunkt des Wirkens für denjenigen abgäbe, der aufgrund von Kunst handelt, so wie es ja auch bei der ärztlichen Behandlung vorkommen kann, daß man von der Erwärmung ausgeht; diese aber erzeugt man hier durch Massage [Übersetzung nach Frede/Patzig 1988; Hervorhebung BL].“
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Diese Handlung ist für die handelnde Person direkt umsetzbar, sie muss aber nicht erfolgen. Damit es zu einer Handlung kommt, muss das Resultat der Überlegung (im Normalfall) zum Inhalt einer prohairesis werden. Die prohairesis hat das Ergebnis der Überlegung zu ihrem Inhalt, also diejenige Handlung, die die Überlegung als dasjenige untergeordnete Ziel gefunden hat, das für die handelnde Person unmittelbar realisierbar ist. Die prohairesis führt, sofern keine äußeren hindernden Umstände auftreten, zur Handlung. Unter möglichen äußeren Hinderungsgründen sind Faktoren zu verstehen, die außerhalb der seelischen Funktionen der handelnden Person liegen. Nicht dazu zu zählen sind dagegen nicht-rationale Begierden aufseiten der handelnden Person. Die Handlung kann zudem selbst dann noch ausbleiben, wenn die handelnde Person eine prohairesis erreicht hat und keine äußeren Hindernisse auftreten, und zwar dann, wenn die handelnde Person z. B. ihre Meinung ändert, wie zu handeln ist,⁷⁷⁵ oder wenn – wie beim Akratiker – noch andere Faktoren wie z. B. starke gegenläufige Begierden hinzutreten, welche die handelnde Person davon abbringen, ihrer prohairesis gemäß zu handeln. Den Fall des Akratikers sieht Aristoteles nicht als ein Beispiel an, bei dem äußere Umstände eine Handlung gemäß der prohairesis verhindern.⁷⁷⁶ Seiner Ansicht nach führen die gegenläufigen nicht-rationalen Begierden des Akratikers dazu, dass dieser vorübergehend in einer bestimmten Weise unwissend über den Inhalt seiner prohairesis ist und sein Wissen deswegen nicht adäquat „anwendet“ und in Gestalt einer entsprechenden Handlung umsetzt.⁷⁷⁷ Treten dagegen keine äußeren hindernden Umstände auf und bringt auch sonst nichts die handelnde Person von ihrer prohairesis ab, so kann die prohairesis unmittelbar zur Handlung führen. Damit die Person die Handlung entsprechend umsetzt, ist sie allerdings noch auf das Mitwirken ihrer Wahrnehmungsfähigkeit (aisthêsis) angewiesen. Die Wahrnehmung stellt ihr die nötigen Informationen zur Verfügung, um einschätzen zu können, ob eine geeignete Handlungssituation vorliegt.⁷⁷⁸ Das Erkennen der passenden Einzelumstände für die Handlung ist nach Aristoteles nicht mehr Aufgabe der Überlegung, sondern
Die Möglichkeit der Meinungsänderung bzw. Umbesinnung (change of mind), die dazu führt, dass eine beabsichtigte Handlung trotzdem nicht zustande kommt, erwähnt auch Anscombe: vgl. Anscombe 1957, §§ 2 und 52. Vgl. Lorenz 2014, 253 contra Charles 2009, 54– 55 in Bezug auf die Verwendung von „μὴ κωλυόμενον“ („wenn nichts hindert“) in EN VII 5, 1147b30 – 31. Vgl. Abschnitt „11.5 Zurechenbarkeit der Handlungen des Unbeherrschten und des Beherrschten“. Es ist eine immer wieder diskutierte Frage, um welche Art von Wahrnehmung es sich dabei handelt. Umstritten ist hierbei vor allem, wie stark konzeptuell angereichert die Wahrnehmung zu sein hat. Ich werde diese Kontroverse im Weiteren nur am Rande behandeln.
6.7 Überlegung und „Praktischer Syllogismus“
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der Wahrnehmung: „Auch sind die Einzeldinge (kath’ hekasta) nicht Gegenstand der Überlegung, wie z. B., ob dies Brot ist oder ob es so gebacken worden ist, wie es sollte; denn dies sind Sachen der Wahrnehmung“ (1112b34 – 1113a2). Dabei ist es variabel und kontextabhängig, was in einer Situation jeweils das Einzelne ist, das Gegenstand der Wahrnehmung ist.⁷⁷⁹ Es ergibt sich somit nach der Bestimmung in EN III 5 folgendes Bild der Überlegung: Die Überlegung ist in zweifacher Weise begrenzt: Zum einen ist sie begrenzt durch ein vorgegebenes Ziel, das nicht Gegenstand der Überlegung ist, und zum anderen ist sie begrenzt durch die Wahrnehmung, die für die Identifikation geeigneter Handlungsumstände zuständig ist. Der Überlegungsprozess endet, wenn eine Handlung gefunden ist, die ein erster notwendiger Schritt ist, um das Ziel zu verwirklichen und die die Person direkt ausführen kann. Dieses Ergebnis kann dann zum Inhalt einer prohairesis werden. Wenn keine hindernden Umstände auftreten, führt die prohairesis zur entsprechenden Handlung, wenn die Wahrnehmung das Vorliegen einer passenden Handlungssituation erkannt hat. Der Annahme, dass sich Überlegung nicht auf Einzelnes beziehen kann, scheinen verschiedene Passagen in der EN zu widersprechen. Eine nähere Betrachtung der für die Beurteilung dieser Annahme einschlägigen Stellen, hinterlässt m. E. den Eindruck, dass es gegenläufige Indizien gibt und es sich letztlich kaum überzeugend entscheiden lässt, ob Aristoteles gänzlich ausschließen will, dass sich Überlegung auf Einzelnes bezieht oder nicht. Intuitiv irritiert die Behauptung, völlig auszuschließen, dass wir Überlegungen über Einzelnes anstellen können. Die folgende Darstellung soll jedoch zeigen, dass die relevanten Textstellen kein eindeutiges Bild abgeben und es exegetisch haltbar ist, dafür zu votieren, dass Aristoteles nirgendwo explizit Überlegung auf Einzelnes bezieht. Mein Überblick über die diffizile Interpretation der diskutierten Passagen dient vor allem dazu, eine möglichst solide Beurteilungsgrundlage zur Verfügung zu stellen, welche Indizien sich den Texten entnehmen lassen. Ein Passus, auf den oft zugunsten der gegenläufigen Vermutung verwiesen wird, ist der Satz „ἔτι ἡ ἁμαρτία ἢ περὶ τὸ καθόλου ἐν τῷ βουλεύσασθαι ἢ περὶ τὸ καθ’ ἕκαστον“ in EN VI 9, 1142a20 – 22. Diesen Satz als Beleg für die Annahme anzuführen, dass sich Überlegung auch auf Einzelnes beziehen kann, liegt nahe, wenn er z. B. wie von Wolf übersetzt wird: „Ferner: Der Fehler in der Überlegung kann entweder das Allgemeine oder das Einzelne betreffen.“ Allerdings ist es auch möglich, den Satz etwas anders – und näher an der griechischen Wort-
Vgl. Cooper 1975, 32.
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stellung – wiederzugeben: „Ferner: Den Fehler gibt es entweder in Bezug auf das Allgemeine in der Überlegung oder in Bezug auf das Einzelne.“⁷⁸⁰ Diese alternative Übersetzung legt das Verständnis nahe, dass einerseits die Überlegung sich nur auf das Allgemeine bezieht, und dabei Fehler auftreten können, während es andererseits auch Fehler beim Einzelnen geben kann, in die dann aber (wie sich präzisierend ergänzen ließe) keine Überlegung involviert ist. Eine andere Erklärung, weshalb die Passage in EN VI 9 nicht so zu verstehen ist, dass Überlegung sich auf Einzeldinge bezieht, stammt von Cooper. Er argumentiert dafür, dass sich der Ausdruck „καθ’ ἕκαστα“ hier nicht auf Einzeldinge bezieht, sondern auf die niedrigsten Spezies bzw. auf einen untersten Typus (‚lowest speciesʻ im Sinn eines atomon eidos).⁷⁸¹ Die gleiche Ambiguität nimmt er auch für das Demonstrativpronomen „τόδε“ an, das im darauffolgenden Satz vorkommt, in dem Aristoteles die beiden Arten von Fehlern an einem Beispiel illustriert: „[…] denn [der Fehler] betrifft entweder den Satz, dass alles Wasser, das schwer wiegt, schlecht ist, oder den Satz, dass dies schwer wiegt.“⁷⁸² Cooper gründet sein Verständnis der ambigen Verwendbarkeit auf andere Textstellen, an denen Aristoteles „καθ’ ἕκαστον“ (im Singular oder Plural) oder „τόδε“ als Bezeichnung für eine bestimmte Art oder Spezies in Abgrenzung zu einer übergeordneten Gattung verwendet.⁷⁸³ Er ist dafür kritisiert worden, Stellen wie jene in 1142a20 – 23, die andere Autoren als eindeutige Belege für eine Verbindung von Überlegung und Praktischem Syllogismus auffassen, durch Verweis auf Parallelstellen „wegerklären“ zu wollen.⁷⁸⁴ Hier ist nicht der Raum, um näher auf Coopers Deutung
Die Übersetzung ist angelehnt an den Vorschlag von Corcilius, vgl. Corcilius 2008b, Anm. 12, 251– 252 sowie Corcilius 2008d, Anm. 10, 165. Die alternative Übersetzung lässt sich auch durch die Parallelstelle in der EE stützen, wo Aristoteles einen Unterschied zwischen zwei Arten von Fehlern einführt (EE II 10, 1226a33-b2). Auch dort handelt es sich um eine Unterscheidung zwischen solchen Fehlern, die bei der Überlegung auftreten, und solchen, die bei der Wahrnehmung (nicht aber bei der Überlegung) auftreten; vgl. dazu meinen Kommentar auf S. 255 – 256. Cooper 1975, 29. EN VI 8, 1142a22– 23: […] ἢ γὰρ ὅτι πάντα τὰ βαρύσταθμα ὕδατα φαῦλα, ἢ ὅτι τοδὶ βαρύσταθμον. Z. B. Met. III 4, 999b29 – 31; VII 7, 1032b18 – 21; Cat. 2b3. Für weitere Stellen: vgl. Cooper 1975, Anm. 30, 28. Nach Coopers Interpretation geht es in EN VI 9 zwar um praktische Überlegung, diese soll an dieser Stelle aber nicht mit Hilfe der Konzeption des Praktischen Syllogismus erklärt werden, obwohl Aristoteles dort syllogistisches Vokabular verwendet. Um seine These einer striken Trennung zwischen Überlegung und Praktischem Syllogismus aufrechterhalten zu können, muss Cooper den Gebrauch des syllogistischen Vokabulars anders erklären. Kritisiert wurde Cooper u. a. von Kenny: Kenny 1979, Anm. 2, 113. Vgl. auch: Corcilius 2008c, 115 – 116 und Anm. 39.
6.7 Überlegung und „Praktischer Syllogismus“
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einzugehen. Um die Passage in 1142a20 – 23 als Indiz für die Annahme, dass sich Überlegung nicht auf Einzelnes bezieht, gelten zu lassen, genügt indes bereits die erwähnte Übersetzungsvariante. Eine andere Passage, die prima facie dafür spricht, dass sich Überlegung auch auf Einzelnes beziehen kann, kommt in EN VI 8, 1141b14– 22 vor. An dieser Stelle charakterisiert Aristoteles die Klugheit (phronêsis), also diejenige Verstandestugend, die für die gute Überlegung zuständig ist, und sagt über die Klugheit, dass sie es nicht nur mit dem Allgemeinen zu tun hat, sondern auch das Einzelne erkennen muss.⁷⁸⁵ Cooper deutet auch diese Textstelle als ein Beispiel für eine Verwendung von „καθ᾿ ἕκαστα“, die sich nicht auf Einzeldinge, sondern auf spezifische Typen bezieht.⁷⁸⁶ Im Text folgt ein Beispiel, bei dem das Wissen des Klugen um das Allgemeine darin besteht, dass leichtes Fleisch gesund ist, und das Wissen um das Einzelne es zum Inhalt hat, dass Geflügelfleisch leichtes Fleisch ist. Dies macht deutlich, so Cooper, dass es sich bei Letzterem um ein Wissen um eine bestimmte Spezies (von Fleisch) und nicht um ein Einzelding (dieses Stück Geflügel) handeln muss. Eine andere und zusätzliche Erklärung dafür, dass Aristoteles in EN VI 8 Überlegung mit dem Einzelnen in Zusammenhang bringt, ist auch der Kontext der Passage, in der es um eine Bestimmung der Klugheit geht. Die Klugheit ist für Aristoteles nicht nur diejenige Verstandestugend, die es mit dem richtigen praktischen Überlegen zu tun hat, sondern er fasst sie auch als eine Tugend auf, die nur in Verbindung mit den Charaktertugenden vorkommt und die deswegen stets auch auf die Betätigung der Charaktertugenden bezogen ist. Dass die Klugheit eine hexis praktikê ist, bedeutet somit, dass sie keine Verstandestugend ist, die sich nur auf das Denken bezieht, sondern dass sie immer auch einen Bezug zum Handeln hat.⁷⁸⁷ Und da das Handeln es immer mit Einzelnem zu tun hat, ist auch die Klugheit stets auf Einzelnes bezogen. Der Bezug zu den Einzeldingen rührt dann aber nicht daher, dass die Klugheit sich auf praktische Überlegung über Einzelnes bezieht, sondern fußt auf ihrem Bezug zum Handeln. In dieser Weise lassen sich schließlich auch zwei weitere Passagen in EN VI deuten, in denen es heißt, dass die Klugheit sich auf das Letzte (eschaton) bezieht.⁷⁸⁸ Das Letzte identifiziert Aristoteles mit dem Einzelnen, so dass auch die Verbindung von Klugheit und dem Letzten als Indiz gewertet werden kann, dass die praktische Überlegung sich auf Einzelnes beziehen kann. Interpretiert man die
EN VI 8, 1141b14– 15: οὐδ᾿ ἐστὶν ἡ φρόνησις τῶν καθόλου μόνον, ἀλλὰ δεῖ καὶ τὰ καθ᾿ ἕκαστα γνωρίζειν· […]. Cooper 1975, 30 – 31. Vgl. EN VI 8, 1141b21: ἡ δὲ φρόνησις πρακτική. Das sind die Fortsetzung der ersten diskutierten Textstelle in EN VI 9, 1142a22– 30 und die Passage EN VI 12, 1143a25-b5.
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Passagen jedoch wiederum derart, dass es nicht der Überlegungsaspekt der Klugheit ist, der für den Bezug auf das Einzelne verantwortlich ist, sondern ihre Verbindung mit den Charaktertugenden und ihre Relation zum Handeln, so stehen auch sie nicht mehr im Gegensatz zu der Annahme, dass sich Überlegung nicht auf das Einzelne bezieht.
6.7.2 Praktisches Überlegen und ‚Praktischer Syllogismusʻ In diesem Abschnitt werde ich auf die Rezeption eingehen, die Aristoteles’ Behandlung der praktischen Überlegung in der Literatur erfahren hat, indem ich mich auf die Frage konzentriere, wie sich der sog. „Praktische Syllogismus“ – also eine Schlussfolgerung, die in Analogie zu einem theoretischen Schluss geformt ist, aber zur Konklusion eine Handlung (oder einen Imperativ) hat – zur praktischen Überlegung verhält. Aristoteles’ Behandlung der praktischen Überlegung ist Ausgangspunkt gewesen für intensive und weitverzweigte Diskussionen in der praktischen Philosophie des 20. Jahrhunderts.⁷⁸⁹ Zentraler Bezugspunkt für die Debatten ist die aristotelische Konzeption, die unter dem Titel „Praktischer Syllogismus“ Eingang in die Literatur gefunden hat. Für unseren Zusammenhang ist die Kontroverse über Aristoteles’ Verständnis des Praktischen Syllogismus insofern relevant, als manche Autoren den Praktischen Syllogismus als Erklärung von Denkvorgängen bzw. von Überlegung auffassen.⁷⁹⁰ Diese Auffassung lehnen andere ab und deuten den Praktischen Syllogismus stattdessen als ein Modell, um Ortsbewegung von Lebewesen zu erklären.⁷⁹¹ Schließlich gibt es auch Interpreten, die dem Praktischen Syllogismus beide Erklärungsleistungen zusprechen wollen.⁷⁹² Es ist an dieser Stelle nicht erforderlich, einen Überblick über die Entwicklung der Debatte
Es lässt sich dabei auf der einen Seite die Gruppe derjenigen unterscheiden, für die Aristoteles nur Ideengeber war, die aber davon ausgehend eigene Ansätze zum praktischen Folgern entwickelt haben (von Wright, Hare, Geach, Kenny). Auf der anderen Seite stehen diejenigen, denen es vornehmlich um die Exegese des aristotelischen Textes geht und auf die ich mich beziehen werde. Diese Unterteilung übernehme ich von Corcilius (Corcilius 2008b). Folgende Autoren verbindet die Auffassung, dass der Praktische Syllogismus ein Modell zur Erklärung praktischen Überlegens darstellt, auch wenn ihre Deutungen im Detail teilweise erhebliche Unterschiede aufweisen, die an dieser Stelle aber nicht weiter von Belang sind: Allan 1955, Anscombe 1957, Hardie 1980 [ursprünglich: 1968], Santas 1969, Modrak 1976, Kenny 1979, Mele 1981, A. Müller 1982, Charles 1984 (in chronologischer Reihenfolge). Etheridge 1968, Cooper 1975, Corcilius 2008a, 2008b und 2008d. Nussbaum 1985.
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und eine Darstellung der verschiedenen Positionen zu geben.⁷⁹³ Nach einigen einleitenden Bemerkungen werde ich die Interpretation präsentieren, nach welcher der Praktische Syllogismus ein Modell für die Ortsbewegung von Lebewesen darstellt. Diese Deutung halte ich als Interpretation bestimmter Textstellen für die am meisten überzeugende. Allerdings bietet sie m. E. nicht für alle Textstellen die adäquate Lesart. Manche Stellen lassen sich vielmehr besser so verstehen, dass Aristoteles den Praktischen Syllogismus hier als Konzeptualisierung eines praktischen Denkvorganges verwendet. Mir kommt es bei dieser Diskussion vor allem auf die Frage an, wie sich Überlegung und prohairesis, wie Aristoteles sie in EN III 5 bestimmt, zu seiner Konzeption des Praktischen Syllogismus verhalten. Aristoteles selbst präsentiert nirgendwo eine Theorie des Praktischen Syllogismus. Er verwendet selbst nicht einmal den Ausdruck „Praktischer Syllogismus“,⁷⁹⁴ und er gibt vor allem keine Erklärung für den Praktischen Syllogismus, etwa indem er ihn vom Theoretischen Syllogismus abgrenzt. Vielmehr präsentiert er verschiedene Beispiele, die später als Praktische Syllogismen identifiziert und bezeichnet wurden. Diese Beispiele, zusammen mit einigen verstreuten Hinweisen, bilden die Grundlage für eine Rekonstruktion der aristotelischen Konzeption des Praktischen Syllogismus. Konsens besteht unter den Interpreten darüber, dass der Praktische Syllogismus ein Modell zur Erklärung intentionalen Verhaltens sein soll, und zwar indem Gebrauch gemacht wird von Theorie und Terminologie der aristotelischen Syllogistik.⁷⁹⁵ Umstritten ist allerdings, welche Textstellen überhaupt Belegstellen für den Praktischen Syllogismus sind. Es sind im Grunde nur zwei Passagen, die von niemandem als Belegstellen in Frage gestellt werden, und zwar eine Passage aus der naturphilosophischen Schrift De Motu Animalium (MA) (701a7– 36), wo auch die meisten Beispiele für Praktische Syllogismen zu finden sind, und ein Passus aus der Behandlung der Akrasia in Buch VII der EN (1147a24-b3). Bei anderen Textstellen ist dagegen strittig, ob es sich um Belegstellen für den Praktischen Syllogismus handelt, obgleich dort syllogistisches Vokabular Verwendung findet. In der Bestimmung der Überlegung in EN III fehlt bezeichnenderweise syllogistisches Vokabular völlig, d. h. hier kommen
Einen nützlichen Überblick über die Interpretationen, die der aristotelische Praktische Syllogismus seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts erfahren hat, gibt Corcilius: Corcilius 2008b. Am nächsten kommt der Bezeichnung „Praktischer Syllogismus“ der Ausdruck „οἱ συλλογισμοὶ τῶν πρακτῶν“ in 1144a31-b1. Verschiedene Autoren haben argumentiert, dass es eine Fehldeutung dieser Passage ist, hier unter den „syllogismoi über die Gegenstände des Handelns“ Praktische Schlussfolgerungen zu verstehen (vgl. Etheridge 1968, 30; Kenny 1979, 111– 112). Vgl. dazu auch Corcilius 2008b, 255 – 257. Vgl. Corcilius 2008b, 247.
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weder „συλλογισμός“ (Schlussfolgerung) oder entsprechende Verbformen noch „πρότασις“ (Prämisse) noch „συμπέρασμα“ (Konklusion) oder „μέσος ὅρος“ (Mittelterm) vor.⁷⁹⁶ An anderen Stellen macht Aristoteles hingegen auch in Verbindung mit Überlegung (bouleusis) Gebrauch von syllogistischem Vokabular.⁷⁹⁷ Es sind vor allem diese Stellen, auf die sich Vertreter der Auffassung berufen, der Praktische Syllogismus sei (auch) Erklärungsmodell für praktische Überlegung, und die sie in der Folge z.T. auch auf die Behandlung der Überlegung in EN III übertragen. Gegen diese Ansicht wendet sich u. a. Corcilius und argumentiert, wie sich die Verwendung syllogistischen Vokabulars in Verbindung mit praktischer Überlegung an diesen Stellen auch anders deuten lässt, als dass hier mit Hilfe des Praktischen Syllogismus Überlegung erklärt wird. Ihm zufolge wird hier syllogistisches Vokabular nicht im technischen Sinn gebraucht, sondern entweder in einer weiteren Bedeutung von Inferenz oder Argument (1144a31-b1, Mem. 453a9 – 14) oder – im Fall von „μέσος ὅρος“ – als ein Analogon zur Rede von Mitteln, die zu einem vorgegebenen Ziel führen, was der Darstellung in EN III entspricht (1142b21– 16).⁷⁹⁸ Für die Stellen, an denen syllogistisches Vokabular in Verbindung mit Überlegung vorkommt, sind somit Zweifel gegenüber der Annahme möglich, dass hier der Praktische Syllogismus als Erklärungsmodell angewendet wird. Blickt man dagegen auf die beiden Passagen, bei denen Einigkeit herrscht, dass Aristoteles hier den Praktischen Syllogismus als Erklärungsfigur nutzt, so zeigt sich, dass dessen Explanandum nicht durchwegs Überlegung ist, sondern das Entstehen animalischer Ortsbewegung (in MA) oder das Zustandekommen einer akratischen Handlung, d. h. einer Handlung wider die richtige Überlegung (in EN VII 5). Die einschlägige Passage aus MA lautet folgendermaßen:⁷⁹⁹ [MA 7, 701a7– 33]⁸⁰⁰ [i] Wie aber kommt es, dass man (dasselbe) denkt, aber mal handelt, mal nicht handelt und
7-8
In der EE verwendet Aristoteles interessanterweise bei der Behandlung der Überlegung einmal das Verb „συμπεράνθαι“, hier offenbar ebenfalls in einem übertragenen Sinn („zu einem Schluss zusammenführen resp. schlussfolgern“); vgl. EE II 10, 1227a3 – 5: „Aber es ist klar, dass der Entschluss weder einfach Wunsch noch Meinung ist, sondern Meinung und Strebung (zusammen), wenn sie aus einer Überlegung heraus zu einem Schluss zusammengeführt werden.“ Die relevanten Stellen sind. EN VI 13, 1144a31-b1, EN VI 10, 1142b21– 26 und Mem. 453a9 – 14. Corcilius 2008b, 255 – 261. Die hochgestellten Ziffern, die vor der Abschnittsnummerierung stehen, geben die BekkerZeilen an. Die römischen Ziffern dienen mir für die folgende Diskussion zur Einteilung des Textes in kleinere Abschnitte. MA 7, 701a7– 33: [i] πῶς δὲ νοῶν ὁτὲ μὲν πράττει ὁτὲ δ᾿ οὐ πράττει, καὶ κινεῖται, ὁτὲ δ᾿ οὐ κινεῖται; [ii] ἔοικε παραπλησίως συμβαίνειν καὶ περὶ τῶν ἀκινήτων διανοουμένοις καὶ συλλογι-
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sich (mal) bewegt, sich mal aber nicht bewegt? 8-13[ii] Dies scheint sich auf ganz ähnliche Weise zuzutragen wie bei denen, die sich über Unbewegliches Gedanken machen und deduzieren. Aber dort ist das Ergebnis eine theoretische Betrachtung – denn wenn man die beiden Prämissen denkt, denkt man die Konklusion und setzt sie zusammen –, hier aber wird die Konklusion aus den beiden Prämissen die Handlung; 13-16[iii] wie wenn man z. B. denkt, dass jeder Mensch gehen soll, und man selbst ein Mensch ist, geht man sofort, oder wenn man denkt, dass jetzt kein Mensch gehen soll, und man selbst ein Mensch ist, bleibt man sofort stehen. Und man tut dies beides, wenn einen nichts hindert oder zwingt. 16-17 [iv] Ich sollte etwas Gutes tun, ein Haus ist etwas Gutes, also bringt man sofort ein Haus hervor. 17-21[v] Ich brauche Kleidung. Ein Mantel ist Kleidung. Ich brauche einen Mantel. Das, was ich brauche, soll ich herstellen. Ich brauche einen Mantel. Ich soll einen Mantel herstellen. Und die Konklusion ‚Ich soll einen Mantel herstellenʻ ist eine Handlung. Man beginnt die Handlung aber vom Ausgangspunkt. 21-25[vi] Wenn es einen Mantel geben soll, so ist dies hier zuerst notwendig, und wenn dies hier, dann das hier. Und dies macht man sofort. Dass nun die Handlung die Konklusion ist, ist offenkundig. Die Prämissen, die zur Handlung führen, entstehen aber durch zwei Formen, durch das Gute und durch das Mögliche. 25-29 [vii] So wie manche von denen, die dialektische Fragen stellen, so bringt auch das Denken die eine und offenkundige der beiden Prämissen nicht zum Stehen und erwägt sie überhaupt nicht, wenn z. B. das Gehen für einen Menschen ein Gut ist, so hält er sich nicht dabei auf, dass er selbst ein Mensch ist. Deswegen tun wir auch alles das, was wir ohne zu überlegen tun, schnell. 29-33 [viii] Denn wenn man entweder mit der Wahrnehmung in Bezug auf das Worumwillen aktiv ist, oder mit der Vorstellung oder der Vernunft, dann tut man das, wonach man strebt, sofort. An die Stelle einer Frage oder eines Gedankens tritt dann die Aktivität der Strebung: ‚Ich soll trinkenʻ, sagt die Begierde. ‚Dies hier ist trinkbarʻ, sagt die Wahrnehmung oder die Vorstellung oder die Vernunft. Sofort trinkt man.
ζομένοις ἀλλ᾿ ἐκεῖ μὲν θεώρημα τὸ τέλος (ὅταν γὰρ τὰς δύο προτάσεις νοήσῃ, τὸ συμπέρασμα ἐνόησε καὶ συνέθηκεν), ἐνταῦθα δ᾿ ἐκ τῶν δύο προτάσεων τὸ συμπέρασμα γίνεται ἡ πρᾶξις, [iii] οἷον ὅταν νοήσῃ ὅτι παντὶ βαδιστέον ἀνθρώπῳ, αὐτὸς δ᾿ ἄνθρωπος, βαδίζει εὐθέως, ἂν δ᾿ ὅτι οὐδενὶ βαδιστέον νῦν ἀνθρώπῳ, αὐτὸς δ᾿ ἄνθρωπος, εὐθὺς ἠρεμεῖ. καὶ ταῦτα ἄμφω πράττει, ἂν μή τι κωλύῳ ἢ ἀναγκάζῃ. [iv] ποιητέον μοι ἀγαθόν, οἰκία δ᾿ ἀγαθόν· ποιεῖ οἰκίαν εὐθύς. [v] σκεπάσματος δέομαι, ἱμάτιον δὲ σκέπασμα· ἱματίου δέομαι. οὗ δέομαι, ποιητέον· ἱματίου δέομαι· ἱματίον ποιητέον. καὶ τὸ συμπέρασμα, τὸ ἱμάτιον ποιητέον, πρᾶξίς ἐστιν. πράττει δ᾿ ἀπ᾿ ἀρχῆς. [vi] εἰ ἱμάτιον ἔσται, ἀνάγκη εἶναι τόδε πρῶτον, εἰ δὲ τόδε, τόδε· καὶ τοῦτο πράττει εὐθύς. ὅτι μὲν οὖν ἡ πρᾶξις τὸ συμπέρασμα, φανερόν· αἱ δὲ προτάσεις αἱ ποιητικαὶ διὰ δύο εἰδῶν γίνονται, διά τε τοῦ ἀγαθοῦ καὶ διὰ τοῦ δυνατοῦ. [vii] ὥσπερ δὲ τῶν ἐρωτώντων ἔνιοι, οὕτω τὴν ἑτέραν πρότασιν τὴν δήλην οὐδ᾿ ἡ διάνοια ἐφιστᾶσα σκοπεῖ οὐδὲν· οἷον εἰ τὸ βαδίζειν ἀγαθὸν ἀνθρώπῳ, ὅτι αὐτὸς ἄνθρωπος, οὐκ ἐνδιατρίβει. διὸ καὶ ὅσα μὴ λογισάμενοι πράττομεν, ταχὺ πράττομεν. [viii] ὅταν ἐνεργήσῃ γὰρ ἢ τῇ αἰσθήσει πρὸς τὸ οὗ ἕνεκα ἢ τῇ φαντασίᾳ ἤ τῷ νῷ, οὖ ὀρέγεται, εὐθὺς ποιεῖ. ἀντ᾿ ἐρωτήσεως γὰρ ἢ νοήσεως ἡ τῆς ὀρέξεως γίνεται ἐνέργεια. ποτέον μοι, ἡ ἐπιθυμία λέγει· τοδὶ δὲ ποτόν. ἡ αἴσθησις εἶπεν ἢ ἡ φαντασία ἤ ὁ νοῦς· εὐθὺς πίνει. Übersetzung nach Corcilius 2008b, leicht verändert.
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In MA 7 führt Aristoteles den Praktischen Syllogismus als ein Modell zur Erklärung der Ortsbewegung von Lebewesen ein. Der erste Satz des Kapitels in [i] macht deutlich, dass die zentrale Frage die nach dem Zustandekommen animalischer Ortsbewegung ist.⁸⁰¹ In Kapitel 6 hat er eine Einteilung aller an der Ortsbewegung beteiligten Seelenvermögen vorgenommen. Diese Einteilung betrifft eindeutig alle Lebewesen (zôa[i]) und macht keinen Unterschied zwischen Tieren und Menschen. Er teilt dabei die Seelenvermögen, die für die Ortsbewegung kausal relevant sind, in zwei Oberkategorien ein: Das ‚Denkenʻ (im weiten Sinn) (nous) umfasst die unterscheidungsfähigen Vermögen Wahrnehmung, phantasia und Denken (im engen Sinn), und das ‚Strebenʻ (orexis) schließt Begierde (epityhmia), thymos und Wunsch (boulêsis) ein. Der Kontext, in dem Aristoteles in direkter Fortsetzung in MA 7 den Praktischen Syllogismus einführt, legt nahe, dass er nun eine Erklärung für animalische Ortsbewegung generell, in Absehung von Unterschieden zwischen Tieren und Menschen, präsentieren will.⁸⁰² Um die Frage nach den Bedingungen für die Bewegung von Lebewesen zu beantworten, vergleicht Aristoteles in [ii] den Theoretischen Syllogismus mit dem, was in der Literatur die Bezeichnung „Praktischer Syllogismus“ erhalten hat. Die Frage, bezüglich welcher die Interpretationen deutlich auseinandergehen, ist, ob er damit einen Vergleich zwischen zwei Arten von Schlussfolgerungen aufstellt oder ob es sich um einen Vergleich zwischen einer Schlussfolgerung und einem Bewegungsvorgang handelt. Für diejenigen, die Letzteres befürworten, ist der hauptsächliche Grund für die Ansicht folgender: Die Tatsache, dass Aristoteles die Konklusion mit der Handlung identifiziert, spricht dafür, dass das Analogon, welches der Praktische Syllogismus illustrieren soll, keine logische Beziehung sein kann, sondern im Kausalmechanismus zu sehen ist. Dass die Konklusion die Handlung ist, sagt Aristoteles im obigen Zitat anscheinend mehrfach explizit (in
Aus den Sätzen hervor, die auf die Präsentation der verschiedenen praktischen Syllogismen folgen, geht hervor, dass die darauffolgenden Ausführungen in [ii] bis und mit [viii] (701a8 – 33) eine Antwort auf die Frage geben sollen (701a33-b1): „Auf diese Weise also setzen sich die Lebewesen in Bewegung und kommen zum Handeln, indem die unmittelbare Ursache der Bewegung eine Strebung ist und diese entweder durch Wahrnehmung oder durch Vorstellung und Denken zustande kommt. Von denjenigen, die danach streben zu handeln, machen oder handeln die einen aufgrund von Begierde oder thymos und die anderen aufgrund von (nicht-rationaler) Strebung oder Wunsch [Übersetzung leicht verändert nach Corcilius 2008b].“ Dass es um Ortsbewegung aller Lebewesen geht, bestätigt auch der Anfang der Schrift, wo Aristoteles ankündigt, eine gemeinsame (effizient-kausale) Erklärung für Bewegungen (kinêseis) wie Fliegen, Schwimmen, Laufen u. a.m. vorzustellen (MA 1, 698a1– 7). Schließlich resümiert er in MA 11, im Vorangegangenen eine Antwort auf die Ausgangsfrage gegegeben zu haben (704a3 – 4).
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[ii], [v] und [vi]), und auch die meisten der angeführten Beispiele ([iii], [iv], [vi] und [viii]) sind offenbar so formuliert, als bestehe die Konklusion in der Handlung.⁸⁰³ Demgegenüber müssen jene Autoren, welche die Analogie stattdessen als einen Vergleich zwischen zwei Arten von Denkvorgängen auffassen, vor allem mit der Schwierigkeit umgehen, wie es sich verstehen lässt, dass eine Handlung dem Text zufolge offenbar aus einer logischen Relation zwischen Propositionen zu folgen scheint.⁸⁰⁴ Diese Schwierigkeit besteht nicht, wenn die Analogie zwischen Theoretischem und Praktischem Syllogismus so aufgefasst wird, dass Aristoteles damit illustrieren will, dass zwischen einer Handlung und ihren Antezedenzien eine ähnliche Folgerungsbeziehung besteht wie zwischen einer Konklusion und den Prämissen, aus denen sie folgt.⁸⁰⁵ Das tertium comparationis ist demnach die Notwendigkeit, mit der sich etwas ereignet, wenn hinreichende Bedingungen vorliegen: So wie eine Konklusion mit logischer Notwendigkeit aus ihren Prämissen folgt, so folgt eine Handlung mit physikalischer Notwendigkeit aus ihren Antezedenzien.⁸⁰⁶ So verstanden handelt es sich bei dem Vergleich um eine
Ein weiterer Grund ist, dass sich der Untersatz eines Praktischen Syllogismus in Aristoteles’ Beispielen auf einen konkreten Gegenstand bezieht. Dies tritt besonders klar in dem abschließenden Beispiel zutage, wo Aristoteles zur Bezugnahme auf den konkreten Gegenstand das Demonstrativpronomen verwendet (MA 7, 701a31– 33: „An die Stelle einer Frage oder eines Gedankens tritt dann die Aktivität der Strebung: ‚Ich soll trinkenʻ, sagt die Begierde. ‚Dies hier ist trinkbarʻ, sagt die Wahrnehmung oder die Vorstellung oder die Vernunft. Sofort trinkt man.“ Wenn man annimmt, dass nach Aristoteles Überlegung sich nicht auf Einzelnes bezieht, kann der Untersatz des Praktischen Syllogismus nicht Teil eines Überlegungsvorganges sein, sondern illustriert die Rolle der Wahrnehmung für das Zustandekommen von Ortsbewegung (vgl. Cooper 1975, 46 – 58 sowie Corcilius 2008b, 267). Um dieser Schwierigkeit zu begegnen, haben Autoren im Wesentlichen zwei unterschiedliche Strategien gewählt. Eine Strategie besteht darin, die Identifikation zwischen Konklusion und Handlung nicht wörtlich zu verstehen, sondern die Konklusion stattdessen mit einem Imperativ oder einem Entschluss, also mit einer Proposition, gleichzusetzen (Charles, Kenny, Hardie). Eine andere Strategie ist der Versuch, die Annahme einer logischen Relation damit in Einklang zu bringen, dass die Konklusion eine Handlung ist, und zwar indem mit Hilfe von Zusatzannahmen und „Brückenprinzipien“ versucht wird, für eine besondere logische Relation bei Praktischen Syllogismen zu argumentieren (hierzu zählen insb. Nussbaum sowie ebenfalls Charles). Auch für die Beschreibung des theoretischen Analogons wählt Aristoteles Ausdrücke (syntithêmi, syllogizomenois, theôrêma), die sich nicht unbedingt auf den logischen Sachverhalt einer Folgerungsbeziehung beziehen, sondern die sich auch, vielleicht sogar besser, so verstehen lassen, dass damit auf das psychologische Ereignis des Schlussfolgerns Bezug genommen wird (Corcilius 2008b, 265 sowie Anm. 36). Erhärtet wird dieser Befund durch den Praktischen Syllogismus in EN VII 5 (1147a27– 28), wenn es in Bezug auf theoretisches Schlussfolgern heißt, dass „die Seele die Konklusion sagt“ (τὸ συμπερανθὲν ἔνθα μὲν φάναι τὴν ψυχήν). In MA spricht Aristoteles zwar im Zusammenhang des Praktischen Syllogismus in Kapitel 7 nicht explizit von Notwendigkeit, allerdings tut er dies in EN VII 5, wo er dieselbe Analogie
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Strukturanalogie zwischen heterogenen Gruppen von Entitäten: Die Analogie betrifft die notwendige Folgerungsbeziehung, die zwischen logischen Relata im Fall des Theoretischen Syllogismus und physikalischen Relata im Fall des Praktischen Syllogismus besteht.⁸⁰⁷ Was sind nun die Prämissen, die zur Handlung führen, (protaseis hai poiêtikai, 701a23), d. h. die Antezedenzien im Fall des Praktischen Syllogismus? Aristoteles sagt, dass die Prämissen des Praktischen Syllogismus „durch das Gute und durch das Mögliche entstehen“ (701a24– 25). In [viii] formuliert er neben anderen folgendes Beispiel für einen Praktischen Syllogismus, bei dessen Formulierung er die Begierde und die Kognition als imaginierte Sprecher auftreten lässt: Ich soll trinken. (poteon moi) [sagt die Begierde.] Dies hier ist trinkbar. (todi poton) [sagt die Wahrnehmung oder die phantasia oder das Denken.] Sofort trinkt man. (euthys pinei)
Diesem Beispiel lässt sich entnehmen, was die Antezedenzien Praktischer Syllogismen sind. Dass die Oberprämisse (praemissa maior) durch das Gute entsteht, heißt, dass sie zu ihrem Inhalt eine Strebung nach etwas hat, das für gut gehalten wird (z. B. ein Getränk).⁸⁰⁸ Das Gute ist demnach der Gehalt einer aktualen Strezwischen Theoretischen und Praktischen Syllogismen präsentiert (1147a25 – 28): „Die eine (Art von) Meinung ist nämlich allgemein, die andere dagegen betrifft die Einzeldinge, für die bereits Wahrnehmung zuständig ist; wenn nun eine aus ihnen wird, ist notwendig (anankê), dass dort die Seele die Konklusion sagt, während sie hier bei den praktischen (Meinungen) sofort handelt.“ Cooper 1975, 55: „To show something to be necessary is to explain why it happens, and by pressing this analogy Aristotle transfers the necessity of a syllogistic conclusion to an animal’s actions. Thus the talk of syllogisms here can be seen to have a definite and intelligible point, given Aristotle’s intention of explaining how self-motion occurs in animals.“ Die Formulierung der Oberprämisse kann dabei unterschiedlich lauten. Meist verwendet Aristoteles wie hier ein Verbaladjektiv, das sich wie ein lateinisches Gerundiv als Aufforderung übersetzen lässt (βαδιστέον, ποιητέον, ποτέον). In [iv] verwendet er „δέομαι“ (wörtl.: ich bedarf, benötige) in Verbindung mit dem Objekt ‚etwas Gutesʻ. Die Formulierungen in [v] und [vi] schließlich weichen von der Struktur der übrigen Praktischen Syllogismen ab: In [v] wird in Form eines Kettenschlusses explizit eine Zwischenkonklusion ausformuliert („Ich brauche einen Mantel. Ich soll einen Mantel herstellen.“ ἱματίου δέομαι· ἱπατίον ποιητέον), die erst danach mit einer entsprechenden Handlung idenfiziert wird. In [vi] hat der Syllogismus eine hypothetische Struktur („Wenn es einen Mantel geben soll, so ist dies zuerst notwendig, […]“ εἰ ἱματίον ἔσται, ἀνάγκη εἶναι τόδε πρῶτον, […]). Auf die besondere Form der letzten beiden Formulierungen werde ich später im Abschnitt „6.7.3 Denken und animalische Ortsbewegung“ eingehen. Insofern mit der Oberprämisse eine Strebung ausgedrückt werden soll, besteht jedoch kein relevanter Unterschied zwischen den verschiedenen Formulierungen.
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bung. Die Unterprämisse (praemissa minor) entsteht insofern durch das Mögliche, als sie Informationen über einen entsprechend geeigneten Einzelgegenstand zur Verfügung stellt (z. B. das Glas Wasser dort).⁸⁰⁹ Das Mögliche ist somit ein bestimmter unmittelbar verfügbarer Gegenstand, der geeignet ist, die Strebung zu erfüllen. Kommt beides zusammen – eine Strebung nach etwas und die Wahrnehmung, dass ein passender Gegenstand vorliegt –, folgt sofort (mit physikalischer Notwendigkeit) die entsprechende Handlung, wenn „nichts hindert oder zwingt“ (701a16). Die Unverzüglichkeit, mit der die Handlung aus den Antezedenzien folgt, zeigt, dass für ihr Zustandekommen kein weiteres Wahrnehmen oder Denken mehr erforderlich ist.⁸¹⁰ Die Antezedenzien eines Praktischen Syllogismus gehören nach diesem Verständnis also einer ganz anderen ontologischen Kategorie an als die Antezedenzien Theoretischer Syllogismen: Praktische Prämissen sind keine Propositionen, sondern sie setzen sich zusammen aus einer Strebung nach etwas, die im Obersatz steht, und einer Kognition, die einen zur Erfüllung der Strebung geeigneten Gegenstand zum Inhalt hat, die im Untersatz steht: [Cooper 1975]⁸¹¹ So in general one can say that a practical syllogism consists of a major and a minor premiss in which the major specifies a type of action to be done and the minor records by means of demonstratives and personal pronouns the fact that persons or objects of types specified in the major are present; and the performance of the action follows immediately, as the syllogism’s outcome.
Die Unterprämisse hat etwas Konkretes zum Inhalt, d. h. in ihr kommt entweder die Identifikation eines bestimmten aktual vorliegenden Gegenstandes zum Ausdruck, welcher der Strebung entspricht („dies hier ist trinkbar“), oder mit ihr wird eine unbestimmte Strebung auf die Person, die Subjekt des Praktischen Syllogismus ist, zurückgeführt („ich bin ein Mensch“). Die Konkretisierung der Unterprämisse auf einen bestimmten Gegenstand kommt dabei z. B. durch die Verwendung von Demonstrativpronomen oder Personalpronomen zum Ausdruck. Es mag prima facie erstaunen, dass sich Autoren, die eine Identifikation von Konklusion und Handlung ablehnen, ebenfalls ausgerechnet auf Aristoteles’ wiederholte Formulierung berufen, dass jemand sofort (euthys) handelt, wenn dafür hinreichende Bedingungen vorliegen. Sie deuten die Verwendung des Ausdrucks „sofort“ so, dass dadurch zwischen Konklusion und Handlung eine Lücke geschaffen wird, da nach dem Erreichen der Konklusion noch ein physiologischer Prozess nötig ist, damit die Handlung tatsächlich stattfindet. Dem scheint jedoch Aristoteles’ Gebrauch von „εὐθύς“ in den naturphilosophischen Schriften zu widersprechen, wo mit dem Ausdruck Unmittelbarkeit ausgedrückt wird (vgl. Bonitz, Index Aristotelicus s.v. 296a12– 17; Corcilius 2008b, 286 sowie Anm. 42). Als weiteres Indiz für die Verschiedenheit von Konklusion und Handlung wird auf die Wendung „wenn nichts hindert oder zwingt“ (MA 701a16) verwiesen. Dieses Indiz lässt sich bezweifeln, wenn unter den möglichen Hinderungsgründen externe Umstände zu verstehen sind. Cooper 1975, 25 – 26.
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Nach dieser Deutung, die prominent von Etheridge und v. a. Cooper vertreten und ausführlich von Corcilius aufgenommen und weitergeführt wurde, wird im Praktischen Syllogismus nur im metaphorischen Sinn von syllogistischem Vokabular Gebrauch gemacht: Die syllogistische Struktur dient zur Illustration einer Kausalrelation, die zwischen einer Strebung und einer Kognition besteht und die erklären soll, wie sich Lebewesen fortbewegen. Der Praktische Syllogismus soll dagegen nicht illustrieren, wie aus einem vorgegebenen Ziel in Verbindung mit den eruierten Mitteln, die zum Ziel führen, ein Entschluss (prohairesis) resultiert. Ich halte diese Deutung für wichtig, da sie für einige der Beispiele in MA eine überzeugende Lesart bereitstellt. Denn in einigen Beispielen identifiziert Aristoteles eindeutig die Konklusion eines Praktischen Syllogismus mit der Handlung; diese lassen sich am besten so verstehen, als bediene sich Aristoteles hier des syllogistischen Vokabulars, um in Analogie zum theoretischen Schließen ein Modell für die Bewegung von Lebewesen zu präsentieren. Allerdings führt es in die Irre, wenn man diese Interpretation auf alle Beispiele in MA bezieht und dadurch ausschließt, dass der Praktische Syllogismus Aristoteles zugleich auch als Modell für praktisches Schlussfolgern dient. Für einige der Beispiele, auf die ich im Folgenden Abschnitt näher eingehen werde, erscheint es vielmehr adäquat, sie so zu verstehen, dass hier die Konklusion nicht mit der Handlung identifiziert wird, sondern die Konklusion den Inhalt eines Entschlusses zum Gegenstand hat, zu der eine Person durch den mit Hilfe des Praktischen Syllogismus illustrierten Überlegungsvorgang gelangt ist und den sie nunmehr in eine Handlung umsetzen kann, wenn keine hindernden Umstände auftreten.
6.7.3 Denken und animalische Ortsbewegung Gleichwohl ist danach zu fragen, wie sich das Explanandum des Praktischen Syllogismus in Verbindung zum Überlegungsvorgang, wie Aristoteles ihn in EN III 4 beschreibt, bringen lässt. Wir haben gesehen, dass Aristoteles in MA eine Erklärung für animalische Ortsbewegung überhaupt – in Absehung von Unterschieden zwischen Tieren und Menschen – geben will. Aufgrund des naturphilosophischen Kontextes steht die Rolle, die dem Denken bei der Genese von Ortsbewegung zukommen kann, erwartungsgemäß nicht im Vordergrund. Die Beteiligung der Vernunft ist dagegen ein wichtiger Punkt in anderen Schriften, wie z. B. in De Anima (insbesondere De An. III 7, 10 und 11), in der Rhetorik und in den Ethiken. Da Aristoteles durchaus annimmt, dass auch das Denken eine kausal wirksame Rolle beim Zustandekommen von Ortsbewegung spielen kann, erscheint es als explanatorisches Desiderat, dass diese Funktion auch in einer allgemeinen Erklärung für animalische Ortsbewegung ihren Platz hat. Tatsächlich
6.7 Überlegung und „Praktischer Syllogismus“
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kommt die Rolle, die das Denken bei der Bewegungsgenese einnehmen können, in der Darstellung in MA vor, denn es finden sich explizite Hinweise, wie Denken in den Kausalmechanismus involviert sein kann, um wirksam zu werden. Aristoteles integriert menschliches Handeln als einen Sonderfall in die allgemeine Erklärung animalischer Ortsbewegung. Es ist ein Sonderfall, weil das Denken an irgendeiner Stelle der Bewegungsgenese kausale Auswirkungen haben kann. Der Passus, in dem Aristoteles Denken in der Beschreibung der Bewegungsgenese berücksichtigt, sind die Abschnitte [v] und [vi] der zitierten Textstelle. Dass Denken hier involviert ist, lässt sich an der jeweiligen Formulierung der Praktischen Syllogismen erkennen. Die Beschreibung in [v] kombiniert mehrere Syllogismen zu einem Kettenschluss und spiegelt dadurch Denkvorgänge wider. Dies ist zudem das einzige Beispiel in MA, in dem Aristoteles Zwischenkonklusionen („Ich brauche einen Mantel“ und „Das, was ich brauche, soll ich herstellen“) ausformuliert, anstatt die Konklusion direkt mit der Handlung zu identifizieren. Der praktische Syllogismus in [vi] weicht ferner durch seine hypothetische Formulierung von den übrigen Syllogismen ab. Die hypothetische Struktur gleicht der Beschreibung, die Aristoteles in EN III 4 vom Prozess des Überlegens gibt. Auch hier wird die Konklusion zunächst formuliert („[…] dann dies hier“), bevor sie mit der Handlung gleichgesetzt wird („Und dies macht man sofort.“). Die Syllogismen in den Abschnitten [v] und [vi] bieten somit Beispiele, bei denen Denkvorgänge in die Beschreibung des Praktischen Syllogismus eingebettet sind. Im darauffolgenden Abschnitt gibt Aristoteles außerdem Hinweise zu der Art und Weise, auf die Denken in den Verlauf der Bewegungsgenese involviert sein kann: Er sagt, dass das Denken die eine und offenkundige der beiden Prämissen nicht zum Stehen bringt und überhaupt nicht erwägt (tên heteran protasin tên dêlên oud’ hê dianoia ephistasa skopei ouden). Diese Bemerkung ist aus wenigstens zwei Gründen aufschlussreich. Indem Aristoteles hier ausführt, wie Denken normalerweise nicht in den Spontanablauf eines Bewegungsvorganges eingreift, anerkennt er zugleich, dass es dem Denken durchaus möglich ist, die gewöhnliche Verursachung von Ortsbewegung anzuhalten, zu verzögern oder sogar ganz auszusetzen. Der Bemerkung ist somit einerseits zu entnehmen, dass Aristoteles dem Denken die Fähigkeit einräumt, in die spontane Bewegungsabfolge zu intervenieren; andererseits geht aus der Textstelle hervor, dass er davon ausgeht, dass das tatsächliche Eingreifen des Denkens auch im Fall des menschlichen Handelns häufig unterbleibt, wenn es sich z. B. um offensichtliche oder routinemäßige Schritte handelt. Wie ist die Interventionsmöglichkeit des Denkens zu verstehen, wenn es die eine und offenkundige der beiden Prämissen zum Stehen bringt? Corcilius spricht sich dafür aus, das Verb „ἐφίστημι“ hier transitiv und mit „τὴν ἑτέραν πρότασιν
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6 Behandlung des Spezifischen der prohairesis
τὴν δήλην“ als zugehörigem Akkusativobjekt zu übersetzen.⁸¹² Die Aussage ist demnach so zu verstehen, dass das Denken die offenkundige Prämisse des Praktischen Syllogismus aufhalten kann. Eine Prämisse aufzuhalten, bedeutet hierbei offenbar so viel wie, dass eine Prämisse, die im Normalfall nur implizit vorliegt und nicht ausdrücklich gedanklich thematisiert wird, zum Gegenstand des Denkens gemacht wird, indem sie etwa auf ihre Vor- und Nachteile hin abgewogen und ggf. modifiziert, revidiert oder gar verworfen wird. Auf diese Weise kann das Denken den spontanen Bewegungsablauf anhalten, verzögern oder ganz aussetzen.⁸¹³ Welche der beiden Prämissen es ist, die das Denken derart zum Stehen bringen kann, geht aus dem Text nicht eindeutig hervor. Es spricht m. E. aber nichts dagegen, dass das Denken sowohl die erste als auch die zweite Prämisse zu seinem Gegenstand machen und dadurch aufhalten kann.⁸¹⁴ Denn das Denken kann zum einen das ‚Guteʻ, das Inhalt einer Strebung ist, einer Prüfung unterziehen, indem es untersucht, ob es wirklich ein erstrebenswertes Gut ist; es kann aber zum anderen auch das ‚Möglicheʻ bedenken, indem es eruiert, ob ein vorliegender Gegenstand ein geeignetes Gut ist. Auch im Text sind Anhaltspunkte für die Annahme zu finden, dass Aristoteles meint, dass das Denken sowohl den Untersatz als auch den Obersatz beeinflussen kann.⁸¹⁵ Dass Denken und Vernunft auf der Ebene der ersten Prämisse involviert sein können, tritt im Abschnitt [viii] zutage, wo es heißt, dass Vernunft ebenso wie Wahrnehmung oder Vorstellung in Bezug auf das Worumwillen aktiv werden können, d. h., auch die Vernunft kann bei der Bildung einer Strebung, die im Obersatz des Praktischen Syllogismus steht, mitwirken. Die Vernunft kann sogar einen notwendigen und signifikanten Anteil am Zustandekommen der Strebung haben, die im Obersatz steht, wie z. B.
Corcilius 2008b, Anm. 67, 283. Corcilius folgt damit Kollesch (1985), die ebenfalls das Verb – anders als die meisten anderen Übersetzer – transitiv übersetzt. Corcilius wechselt kommentarlos in seiner Charakterisierung der Möglichkeit, dass das Denken (dianoia) den spontanen Bewegungsablauf zum Stehen bringt, zu der Beschreibung, dass es eine rationale Strebung ist, die den automatischen Ablauf anhält (Corcilius 2008b, 283). Ich halte daran fest, dass es das Denken ist, das in den Bewegungsablauf intervenieren kann, da in der Textstelle nicht von einer rationalen Strebung bzw. einem Wunsch (boulêsis) die Rede ist. Es mag zwar sein, dass der Eingriff des Denkens die Bildung eines rationalen Wunsches zur Folge hat, der wiederum den Spontanablauf anhält. Dies steht aber nicht im Text, und da eine rationale Strebung etwas anderes ist als ein Denkvorgang, sollte an einer klaren Unterscheidung festgehalten werden. Contra Kollesch 1985. Die Vernunft kann darüber hinaus natürlich auch noch an der Bildung von längerfristigen Strebungen beteiligt sein. Die weiterreichende Frage, auf welche Weise die Vernunft überhaupt an Handlungen beteiligt ist, ist an dieser Stelle jedoch nicht Thema, da es hier um die Phase der unmittelbaren Verursachung animalischer Ortsbewegung geht.
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die Diskussion zum thymos (Zorn) zeigen wird.⁸¹⁶ Im Abschnitt [viii] kommt indessen auch die mögliche Beteiligung von Vernunft und Denken auf der Ebene der zweiten Prämisse zur Sprache, wenn gesagt wird, dass Vernunft ebenso wie Vorstellung oder Wahrnehmung die Funktion einnehmen kann, das ‚Möglicheʻ zu identifizieren; das Denken kann somit auch die nötigen Informationen zur Verfügung stellen, dass ein für den Strebensinhalt geeigneter Gegenstand vorliegt. Das Modell des Praktischen Syllogismus ist also sowohl auf der Ebene des Obersatzes als auch auf der des Untersatzes offen für eine Beteiligung von Denkprozessen.⁸¹⁷ Wenn das Explanandum des Praktischen Syllogismus die animalische Ortsbewegung ist, so müssen keine Denkvorgänge enthalten sein, wenngleich dies möglich ist. Die Präsentation des Praktischen Syllogismus in MA beleuchtet, dass die erste Prämisse des Praktischen Syllogismus kein Entschluss sein muss, sondern dass jede Art von Strebung, auch eine nicht-rationale Strebung, die Funktion des Obersatzes ausfüllen kann.⁸¹⁸ Wenn jedoch eine prohairesis in einen so verstandenen Praktischen Syllogismus integriert ist, so fungiert sie (als das Ergebnis eines abgeschlossenen Überlegungsprozesses) als Obersatz. Dass die prohairesis hier nicht die Rolle der Konklusion, sondern die der ersten Prämisse eines Praktischen Syllogismus einnimmt, ist nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass Aristoteles eine prohairesis als eine überlegte Strebung bestimmt, und als solche ist sie geeignet, die Funktion des Obersatzes im Praktischen Syllogismus zu erfüllen. Ist das Explanandum des Praktischen Syllogismus dagegen der Denkvorgang eines rationalen Lebewesens, der einer überlegten Handlung vorausgeht, so ist der Syllogismus als Konzeptualisierung dieses Denkvorgangs zu verstehen, an dessen Ende als Konklusion die prohairesis steht, die in der Folge, sofern keine Hindernisse vorliegen, in eine Handlung umgesetzt werden kann.
Vgl. Kapitel „10. Die Zurechenbarkeit von Handlungen aus thymos“. Corcilius 2008d, 176 – 177: „The practical syllogism […] is not an account of animal motion and human action in competition with a rational or teleological explanation, but in addition to it: the minimal conditions of animal motion specified by the practical syllogism, i. e. desire and a perception appropriate to that desire, can, and presumably also should, be informed by all the cognitive resources the animal in question has at his disposal, including thought and genuine practical reasoning.“ Vgl. Cooper 1975, 46 – 47: „[T]he practical syllogism does not represent a form of reasoning alternative to deliberation, but is rather the link by which a course of deliberation, yielding a decision to act (…), is enabled to produce an action in furtherance of this decision. […] the practical syllogism is not for the most part conceived of as a form of reasoning at all, but is only a way of expressing the content of the intuitive perceptual act by which the agent recognizes the presence and availability for the action of the ultimate means previously decided upon.“
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Was könnten mögliche Motiven gewesen sein, die Aristoteles zur metaphorischen Verwendung des Praktischen Syllogismus bewogen haben? Ein möglicher Grund ist, dass dies eine natürliche Weise zu sein scheint, wie ein Beobachter das Verhalten eines anderen Lebewesens beschreiben würde, nämlich indem er es aus seiner eigenen Perspektive analysiert. So könnte ein Mensch auch das Verhalten eines Tieres, das z. B. aus Hunger etwas Bestimmtes tut, ohne Weiteres in Form eines Praktischen Syllogismus beschreiben. Damit wird dem Tier aber nicht eine bestimmte Art des Schlussfolgerns zugeschrieben, sondern es wird zum Ausdruck gebracht, dass es dieselben kausalen Mechanismen sind, welche das analoge Verhalten bei allen Lebewesen angesichts einer Begierde wie dem Hunger erklären.⁸¹⁹ Außerdem haben wir im Abschnitt [vii] des Zitats gesehen, dass auch beim Zustandekommen menschlicher Handlungen Denken nicht unbedingt in die Antezedenzien involviert sein muss. Offenkundige Prämissen wie die, dass man selbst ein Mensch ist, werden nicht eigens im Denken erwogen; sie gehen vielmehr in den Spontanablauf der Verursachung einer Bewegung ein, ohne dass Überlegung stattgefunden hat. Die Idee dabei scheint zu sein, dass die offenkundige Prämisse implizit vorliegt, d. h., sie könnte explizit gemacht werden, wenn dies erforderlich ist; im Normalfall muss sie aber nicht explizit gemacht werden und es wäre nur ineffiezient und müßig, sie zum Gegenstand einer Überlegung zu machen, weil sie selbstverständlich ist und ihre implizite Anwendung z. B. der Routine entspricht. Es kann jedoch Umstände geben, in denen eine üblicherweise offenkundige Prämisse auf einmal nicht mehr selbstverständlich ist und sie im Denken erwogen wird. So könnte z. B. eine Person, die eine Verletzung an der Achillessehne hat, überlegen, ob es gut für sie ist, zu gehen. Im Normalfall ist es hingegen müßig, Überlegungen darüber anzustellen, ob Gehen der eigenen Gesundheit schadet. Die Behandlung des Denkens im Kontext der Analyse animalischer Ortsbewegung macht zweierlei deutlich: Einerseits bietet sie eine Erklärung dafür, wie Denken in den Kausalmechanismus der Bewegungsgenese eingebettet sein kann. Die Rolle des Denkens lässt sich als eine intervenierende Kraft erläutern: Denken wird kausal wirksam, indem es in den spontanen Bewegungsablauf auslösend, unterstützend, verzögernd oder verhindernd eingreift.⁸²⁰ Andererseits beleuchtet die Beschreibung in MA, dass auch menschlichen Handlungen nicht immer ein
Vgl. Cooper 1975, 54– 55. Bisher habe ich nur die negativen – verzögernden oder verhindernden – Wirkungen des Denkens beschrieben. Das war der konkreten Textgrundlage im Abschnitt [vii] geschuldet, wo nur diese Interventionsmöglichkeit erwähnt wird. Denkbar ist aber natürlich auch eine positive Wirkung des Denkens, wenn es z. B. beim Zustandekommen einer Strebung beteiligt ist oder eine schwache nicht-rationale Strebung durch rationale Erwägung noch verstärkt.
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expliziter Überlegungsvorgang, der in einer prohairesis resultiert, zugrunde liegen muss. Dieser Befund muss im naturphilosophischen Kontext von MA nicht irritieren, da für eine Handlungserklärung bloß die Frage zentral ist, wie sich Denken in die Bewegungsgenese integrieren lässt. Im Kontext der Handlungsbegründung verlangt es dagegen nach einer Begründung, ob und ggf. auf welcher Grundlage eine menschliche Handlung zurechenbar ist, die spontan und ohne Denken zu involvieren zustande gekommen ist. Diese Frage werde ich im Teil IV dieses Buches näher behandeln, in dem ich zwei Arten von Handlungen betrachten werde, die bei Aristoteles vorkommen und für die es spezifisch ist, dass ihnen kein Überlegungsvorgang und kein Entschluss vorausgehen. Die Frage nach deren Zurechenbarkeit ist wichtig für das Verständnis der aristotelischen Konzeption von Zurechenbarkeit, denn nach der Darstellung in EN III 1– 5 entsteht der Eindruck, dass eine zurechenbare Handlung laut Aristoteles stets willentlich und aufgrund einer prohairesis erfolgen muss. Nicht mehr voll zurechenbar erscheinen hingegen Handlungen, die spontan und ohne Mitwirken des Denkens erfolgen. Die beiden Sonderfälle menschlicher Handlungen, die ich näher betrachten werde, sind erstens plötzliche Handlungen und zweitens akratische Handlungen, die aus Voreiligkeit geschehen. Beide erwähnt Aristoteles beiläufig in den Ethiken. Bei der Beschreibung der voreiligen Handlungen macht er zudem Gebrauch von dem beschriebenen Interventionsmodell des Denkens: Hier erklärt das Ausbleiben des Denkens, dass eine voreilig-unbeherrschte Handlung zustande kommt, weil physiologische Faktoren wie Hitzigkeit und Schnelligkeit die Intervention des Denkens verhindert und dadurch die voreilige Handlung bewirkt haben. Plötzliche und voreilige Handlungen sind somit interessante Testfälle für die aristotelische Auffassung von Zurechenbarkeit, weil sie sich prima facie nicht ohne Weiteres in das Gesamtbild zurechenbarer Handlungen bei Aristoteles integrieren lassen. Sie lassen sich m. E. aber durchaus integrieren; allerdings wird dabei ersichtlich, dass die Zurechenbarkeit von Handlungen nicht in jedem Fall einen aktualen und ausdrücklichen Entschluss voraussetzt. Die Konzeption von Zurechenbarkeit bedarf vielmehr noch einer Präzisierung und Erweiterung, da in besonderen Fällen auch ein impliziter Entschluss, der auf den Charakterdispositionen der handelnden Person und deren richtiger Wahrnehmung der Handlungssituation beruht, ausreichend für die Zurechenbarkeit einer Handlung ist.
7 Positive Bestimmung der prohairesis in der Eudemischen Ethik (EE II 10, 1226b2 – 1227a5) Bisher waren die Abweichungen zwischen der Behandlung der prohairesis in der EE gegenüber derjenigen in der EN von geringer Bedeutung, so dass ich mich am Textverlauf in der EN orientiert habe und es ausgereicht hat, lediglich gezielt auf einzelne Punkte in der Erörterung in der EE zu verweisen. Dafür, den Schwerpunkt zunächst bei der EN zu legen, spricht, dass Aristoteles’ Einstieg in die Diskussion der prohairesis dort direkter erfolgt und die Struktur des Gedankenganges leichter nachvollziehbar erscheint als in der EE. Außerdem ist das Ausschlussverfahren in der EN umfassender und detaillierter. Demgegenüber ist die Argumentation zur positiven Bestimmung der prohairesis in der EE zum einen insgesamt länger und zum anderen weniger klar strukturiert im Vergleich zum Vorgehen in der EN, weshalb sie eine separate Betrachtung erfordert.
7.1 Überblick über den Argumentationsverlauf in EE II 10 Um die Besonderheiten der EE zu beleuchten, ist es sinnvoll, sich zuerst einen groben Überblick über den gesamten Argumentationsverlauf zu verschaffen. Der erste Teil von Kapitel 10 (1225b17– 1226b2) verläuft weitgehend parallel zur Vorgehensweise in der EN, und Differenzen sind nur von geringer Bedeutung. Eingangs formuliert Aristoteles das Thema der folgenden Untersuchung: Es soll bestimmt werden, welcher Gattung die prohairesis zuzuordnen ist und in welchem Verhältnis sie zum Willentlichen sowie zu Wunsch und Strebung steht (1225b17– 24). Anschließend folgt, ebenfalls wie in der EN, zuerst eine negative Bestimmung der prohairesis, indem Aristoteles ausschließt, dass die prohairesis mit einer der Strebungen Begehren, thymos oder Wunsch (1225b24– 37) oder aber mit Meinung (1226a1– 17) zu identifizieren ist. In den Zeilen 1226a17– 19 wiederholt er nochmals die Ausgangsfragen und geht daraufhin unvermittelt dazu über, den Gegenstandsbereich der Überlegung zu bestimmen (1226a19 – 1226b2). Inhaltlich stimmt die Eingrenzung des Gegenstandsbereichs der Überlegung im Wesentlichen mit der Behandlung in der EN überein; Abweichungen betreffen erneut nur kleinere Aspekte.⁸²¹ Allerdings wird in der EE erst nachträglich deut Eine Differenz ist, dass die Unterscheidung zweier Arten von Fehlern nur in der EE vorkommt. Ein anderer Unterschied könnte darin gesehen werden, dass es bei den Beispielen in der EN eher um die Gegenüberstellung von routinierten Vorgängen und Anwendungen, die Überlegen und Abwägen erfordern, geht, während in der EE an den Gegensatz zwischen Fällen zu denken https://doi.org/10.1515/9783110517583-009
7.1 Überblick über den Argumentationsverlauf in EE II 10
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lich, weshalb die Erörterung der Überlegung überhaupt eingeschoben ist: Erst im Zwischenfazit in 1226b2– 9 hält Aristoteles nämlich fest, dass die prohairesis nicht ohne ein Mit-Sich-zu-Rate-Gehen (boulê) möglich ist und auf einer mit Überlegung verbundenen Meinung (doxa bouleutikê) beruht (b9 – 10). Und noch etwas später bezeichnet er die prohairesis als eine mit Überlegung verbundene Strebung (orexis bouleutikê) nach den Dingen, die bei uns liegen (1226b17). Anders als in der EN bestimmt Aristoteles somit in der EE zunächst den Gegenstandsbereich der Überlegung, bevor er danach aufzeigt, dass die Überlegung offenbar eine notwendige Voraussetzung der prohairesis ist.⁸²² Weitgehend in Entsprechung zur EN (1112b11– 1113a2) ist dagegen wieder der Passus 1226b9 – 20, in dem Aristoteles den Prozess des Überlegens behandelt und festhält, dass die Überlegung sich nicht auf das Ziel, sondern auf die Dinge, die zum Ziel führen, bezieht. Mit dem Zwischenfazit in 1226b2– 9 beginnt in der EE die positive Bestimmung der prohairesis. Diese unterscheidet sich nun in einigen Punkten auffällig von der Behandlung in der EN, so dass die Argumentation im restlichen Teil von Kapitel 10 (1226b2– 1227b11) eine gesonderte Betrachtung verdient. Aristoteles formuliert im weiteren Verlauf des Kapitels zunächst drei vorläufige Beschreibungen der prohairesis, bevor er in 1227a2– 5 zur abschließenden positiven Bestimmung gelangt.⁸²³ Auf die positive Bestimmung der prohairesis folgt erneut ein Absatz (1227a5 – 18), der dem Nachweis dient, dass die Überlegung sich nicht auf die Ziele richtet und der inhaltlich die vorherigen Bemerkungen zur Überlegung ergänzt. Daran schließt ein Passus an, in dem zwischen etwas von Natur aus Gutem und etwas scheinbar Gutem unterschieden wird. Diesen Abschnitt, der wiederum große Nähe zur Parallelstelle in der EN aufweist, diskutiere ich daher an späterer Stelle im Zusammenhang mit EN III 6.⁸²⁴ Der letzte Teil von EE II 10 (1227a31– 1227b11) hat wiederum kein Gegenstück in der EN und verlangt eine separate Betrachtung: Hier verbindet Aristoteles die Diskussion der prohairesis mit der Behandlung der Tugenden und Schlechtigkeiten einerseits und von Lust und Schmerz andererseits. Verbindender Gedanke ist dabei offenbar, dass das wirklich Gute das Ziel der Tugend ist, während das scheinbar Gute oft nur Gegenstand der Lust, aber nicht der Tugend ist, nämlich dann, wenn das scheinbar
ist, in denen eine Vorgehensweise eruiert werden muss, und solchen, in denen evident ist, was zu tun ist (vgl. Woods 2005, 142). Die Behandlung der Überlegung ist in 1226b12 freilich noch nicht abgeschlossen. Auch im weiteren Verlauf von Kapitel 10 folgen noch andere Aspekte zum Prozess der Überlegung (vgl. 1226b9 – 1227b18). Vgl. Dirlmeier 1969, 293; Woods 2005, 143. Siehe Abschnitt „8.3 Das von Natur aus Gute und das scheinbar Gute in der EE (EE 1227a18 – 31)“.
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Gute nicht mit dem wirklich Guten identisch ist. Ich werde diesen Passus gemeinsam mit Kapitel 11 diskutieren, das inhaltlich an den letzten Teil von EE II 10 anschließt und ebenfalls keine Parallelstelle in EN III hat.
7.2 Drei vorläufige Bestimmungen der prohairesis Die Beschreibungen der prohairesis, die Aristoteles in Vorbereitung auf die endgültige Bestimmung in 1227a2 – 5 vorbringt, sind vorläufig, weil sie zwar alle ein wichtiges Merkmal der prohairesis benennen, dieses aber entweder noch zu wenig genau fassen oder es allein für die Bestimmung der prohairesis noch nicht ausreichend ist. Die erste vorläufige Charakterisierung in 1226b4 lautet, dass die prohairesis auf beidem beruht bzw. aus beidem (ex amphoin) hervorgeht. Dass es sich bei den beiden Dingen, auf denen die prohairesis beruht, um Wunsch und Meinung handeln muss, geht aus dem Kontext hervor, denn unmittelbar zuvor hat Aristoteles festgehalten, dass die prohairesis weder mit Wunsch noch mit Meinung noch mit beiden zusammengenommen identisch ist, wohingegen er gleich darauf einräumt, dass gleichwohl ein Zusammenhang zwischen diesen beiden und der prohairesis besteht, da jene, also Wunsch und Meinung, bei jedem auftreten, der sich entschließt.⁸²⁵ Welcher Art der Zusammenhang zwischen Wunsch und Meinung einerseits und einer prohairesis andererseits ist, präzisieren die weiteren vorläufigen Bestimmungen. Die zweite vorläufige Bestimmung folgt kurz darauf in 1226b9 und lautet, dass die prohairesis auf einer mit Überlegung verbundenen Meinung beruht (dio ek doxês bouleutikês estin hê prohairesis). Weshalb Aristoteles hier die Überlegung explizit als neues Merkmal mit der prohairesis in Verbindung bringt, geht aus dem vorausgehenden Satz hervor: Dort fügt er seine kurze etymologische Bemerkung zum Ausdruck „προαίρεσις“ an, die darauf aufmerksam macht, dass unter einem Entschluss die Wahl einer Sache vor einer anderen zu verstehen ist. Ich habe diese Bemerkung bereits ausführlich diskutiert.⁸²⁶ Wichtig an dieser Stelle ist im Speziellen, dass Aristoteles die Wahl, die einem Entschluss zugrunde liegt, insofern näher qualifiziert, als sie nicht ohne Untersuchung (skepsis) oder ein Mit-Sich-zuRate-Gehen (boulê) zustande kommen kann. Nicht jede beliebige Wahl ist somit
Dirlmeier diskutiert die Frage, ob es sich bei den beiden Dingen auch um Meinung und Überlegung handeln kann (Dirlmeier 1969, 293 – 294), spricht sich aber ebenfalls dafür aus, dass der Wunsch neben der Meinung gemeint sein muss, da andernfalls stark in den Text einzugreifen wäre. Siehe Abschnitt „4.3.2 Diskussionsfrage: Was drückt die Vorsilbe im Kompositum „προαίρεσις“ aus?“.
7.2 Drei vorläufige Bestimmungen der prohairesis
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dazu geeignet, als ein Entschluss zu gelten, sondern nur eine solche, der ein Überlegungsvorgang vorausgegangen ist. Die Überlegung kann Aristoteles hier ohne weitere Bemerkung als Kriterium für die prohairesis hinzunehmen, da er ihren Gegenstandsbereich zuvor schon eingehend behandelt hat (1226a19 – 1226b2). Das kurze Zwischenfazit enthält demnach drei wichtige Faktoren, die für die Bestimmung der prohairesis wesentlich sind: Sie beruht auf Wunsch und Meinung, wobei der Meinung wiederum eine Überlegung zugrunde liegt. Bevor die dritte vorläufige Bestimmung folgt, fügt Aristoteles einige Bemerkungen zum Prozess der Überlegung ein, die weitgehend den Ausführungen in der EN entsprechen: Zentral ist hierbei der Aspekt, dass sich die Überlegung nicht auf das Ziel richtet, sondern Gegenstand des Überlegens stets die Dinge sind, die zum Ziel führen, so dass eine Überlegung dann beendet ist, wenn „der Anfang des Entstehens“ auf die handelnde Person zurückgeführt ist und eine Handlung unmittelbar folgen kann. In der dritten vorläufigen Charakterisierung in 1226b16 – 17 bestimmt Aristoteles nun die prohairesis als eine mit Überlegung verbundene Strebung nach den Dingen, die bei uns liegen (hê prohairesis men estin orexis tôn eph’ hautô[i] bouleutikê). Diese Beschreibung könnte irritieren, hatte er doch zu Beginn von Kapitel 10 eindeutig festgehalten, dass der Entschluss nicht Strebung (orexis) ist, „denn er dürfte dann entweder Wunsch oder Begehren oder thymos sein“ (1225b24– 25). Diese Diskrepanz lässt sich zum einen damit erklären, dass an der früheren Stelle die einfache Identifikation von prohairesis mit jeder einzelnen der drei Arten von Strebung ausgeschlossen werden sollte.⁸²⁷ In 1226b17 wird dagegen die prohairesis als eine qualifizierte Art von Strebung bestimmt, nämlich als eine auf Überlegung beruhende Strebung, die auf die Dinge, die bei uns liegen, gerichtet ist. Woods schlägt zudem als Erklärung vor, dass es beim früheren Argument darum ging, dass der Entschluss nicht die Strebung ist, die am Anfang einer Überlegung steht und in Bezug auf deren Ziel die Überlegung nach den Mitteln zu dessen Verwirklichung sucht. Demgegenüber werde der Entschluss später mit einer Strebung identifiziert, die Ergebnis der Überlegung ist.⁸²⁸ Es lässt sich somit plausibel erklären, dass Aristoteles die prohairesis an dieser Stelle mit einer Strebung identifiziert, da es sich um eine qualifizierte Strebung handelt. Gleich-
Dass es um den Unterschied zwischen einer einfachen und einer qualifizierten Identifikation geht, wird auch in 1227a2– 5 nochmals deutlich, wo Aristoteles die gescheiterten Versuche, eine prohairesis schlicht mit Wunsch oder Strebung gleichzusetzen, durch die Formulierung aufnimmt: „ἡ προαίρεσις ὅτι οὔτε ἁπλῶς βούλησις οὔτε δόξα ἐστί, […]“ ([…]dass der Entschluss weder einfach Wunsch noch Meinung ist, [ist klar…; Hervorhebung BL]). Woods 2005, 144.
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wohl ist danach zu fragen, ob er einen besonderen inhaltlichen Grund gehabt haben könnte, die prohairesis nicht etwa mit einem mit Überlegung verbundenen Wunsch, sondern in allgemeiner Weise mit einer mit Überlegung verbundenen Strebung gleichzusetzen.⁸²⁹
7.3 Diskussionsfrage: Ist der Wunsch die einzige Art von Strebung, auf der eine prohairesis beruhen kann? Für die Auffassung, dass Aristoteles nicht ohne Grund die prohairesis als eine mit Überlegung verbundene Strebung – und nicht etwa spezifisch als einen mit Überlegung verbundenen Wunsch – bestimmt, steht Müller ein. Er führt den Wechsel in der Formulierung als ein Indiz für die Annahme an, dass Aristoteles möglicherweise nicht ausschließlich den Wunsch als die Art von Strebung ansieht, auf der eine prohairesis beruht, sondern dass auch eine nicht-rationale Strebung Element einer prohairesis sein kann: [Müller 2008]⁸³⁰ [P]erhaps the conclusion that wish is the exclusive desiderative element in decision, is too strong. Strictly speaking, the solution that Aristotle offers in the EE passage [i. e. 1226b2– 5; BL] to the puzzle about the uncontrolled agent only requires that wish is always involved in decision, but not that wish is the only desire involved in decision. […] in his positive characterization of what decision is he switches to the general word „desire“ (ὄρεξις) (1227a4– 5), not the specific word for rational desire (βούλησις). In fact, in both EN 3.3 (1113a11) and EE 2.10 (1226b17), decision is defined as „deliberate desire of the things that are up to us.“ There is thus some space, even in the face of the textual evidence just presented, to argue that although wish is always present in the one who decides, in his desicions, it is not necessarily the only kind of desire included in a decision, at least not in some cases.
Zunächst ist festzuhalten, dass auch Müller in keiner Weise abstreitet, dass den Ausführungen in der EE zufolge jede prohairesis auf einem Wunsch beruht. Die erste vorläufige Bestimmung in der EE bringt klar zum Ausdruck (und sogar klarer als es in der EN der Fall ist), dass Aristoteles Meinung und Wunsch als wesentliche Bestandteile einer prohairesis ansieht. Auch die abschließende positive Bestimmung nimmt dieses Merkmal wieder auf und präzisiert es noch, indem die prohairesis als das Ergebnis davon bestimmt wird, wenn Wunsch und Meinung durch Überlegung zusammengeführt werden. Gleichwohl tritt Müller der Auffassung Dirlmeier fällt die Verwendung von „ὄρεξις“ anstelle von „βούλησις“ ebenfalls auf; er erklärt sie schlicht durch einen sprachlichen Gesichtspunkt (Dirlmeier 1969, 294: „βούλησις ist durch ὄρεξις ersetzt, eine βούλησις βουλευτική hätte Ar. nicht riskiert.“ Müller 2008, 42– 43.
7.3 Diskussionsfrage: Ist der Wunsch die einzige Art von Strebung
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entgegen, dass der rationale Wunsch in jedem Fall die einzige Art von Strebung sein muss, auf der eine prohairesis beruht.⁸³¹ Er beruft sich zur Begründung dieser Behauptung darauf, dass der Wortlaut des Textes diesen Spielraum lässt, da Aristoteles an keiner Stelle explizit ausschließt, dass neben dem Wunsch noch andere Arten von Strebungen in das Zustandekommen einer prohairesis involviert sein können. Den sachlichen Grund für die Vermutung, dass Aristoteles eine prohairesis an manchen Stellen bewusst allgemeiner als eine auf Überlegung beruhende Strebung bestimmt, erkennt Müller darin, dass nicht-rationalen Strebungen bisweilen eine maßgebliche Bedeutung zukommt, um tugendhaftes Handeln von nicht-tugendhaftem Handeln zu unterscheiden. So lässt sich laut Müller der Unterschied zwischen dem Mäßigen und dem Beherrschten nur ziehen, wenn eine prohairesis nicht nur auf Wunsch und Überlegung beruht, sondern überdies noch auf nicht-rationalen Strebungen.⁸³² Denn sowohl der Mäßige als auch der Beherrschte haben das gleiche Ziel und sie haben beide den richtigen Entschluss gefasst, wie dieses Ziel zu erreichen ist; und trotzdem unterscheiden sie sich in Bezug auf ihren Charakter. Der Unterschied kommt darin zum Ausdruck, dass der Beherrschte Begierden verspürt, die seinem richtigen Entschluss
Als Vertreter einer solchen rationalistischen Auffassung der prohaireis, denen zufolge der rationale Wunsch die einzige Strebung ist, die Bestandteil einer prohairesis ist, nennt Müller an erster Stelle G.E.M. Anscombe (in Anscombe 1965) und als weitere Befürworter folgende Autoren: Burnet 1900, 132; Cooper 1975, Anm. 59, 47– 48; Irwin 1988, 337: „Decision is a deliberative desire (EN 1113a9 – 12); […]. It is a desire formed by deliberation beginning with some more general desire. But not just any general desire can underlie a decision; it must be a wish (boulêsis), a rational desire for the good, not an appetite or emotional desire.“; Kenny 1979, 96 – 100; Mele 1981; Reeve 1992, 88: „[…] what engenders a decision is not just any old desire, but a wish, a desire for the good or the apparent good, for eudaimonia or what appears to be eudaimonia.“ Müller 2008, 48 – 49: „[…] if decision involves only deliberation and wish, it cannot fully do the work that Aristotle assigns it in the passage [i. e. EN 3. 2.1111b5 – 6: ‚Decision seems to be most proper to virtue, and to distinguish characters from one another better than actions do; BL]. This can be best seen by comparing the self-controlled and the virtuous agent. Both the self-controlled and the virtuous person make the correct decision and they also both stick to it when they act. They differ, however, in their non-rational desires (i.e., in the way in which they experience pleasure and pain when they act according to their correct decisions). […] On the rationalistic conception of decision they seem to decide for their actions for the same reason (for example, because it is required by virtue). But if they both make the correct decision, then their decisions are the same (i.e., if they both decide for the same action and decide for it for the same reasons), even though their characters are not. As decisions, on Anscombe’s rationalistic interpretation, make no reference to the non-rational aspect of the soul, they do not help us to distinguish between self-controlled and virtuous agents. These agents make the same decision (and they both act on it), although they have different characters.“
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zuwiderlaufen, während der Mäßige genau das wünscht, was Gegenstand seines Entschlusses ist. Obwohl gegen den textlichen Befund, den Müller zugunsten seiner Interpretation anführt, nichts direkt einzuwenden ist, lassen sich andere textliche Hinweise anführen, die dagegen sprechen. So sagt Aristoteles in EE II 10 in 1226b2– 5, dass der Entschluss auf Meinung und Wunsch beruht, und auch in 1227a3 – 5 erwähnt er im selben Satz zunächst explizit den Wunsch, bevor er zur allgemeinen Bezeichnung „Strebung“ wechselt, um den Entschluss zu bestimmen. Auch in der EN finden sich Indizien, die dafür sprechen, dass einem Entschluss stets ein Wunsch zugrunde liegt: Ein eindeutiger Beleg wäre 1113a10 – 12, wenn man der weniger gut überlieferten Variante des Marcianus (Mb) folgt: „[D]er Entschluss [wird] mit Überlegung verbundenes Streben nach den Dingen sein, die bei uns liegen sein. Nachdem wir nämlich aus einem Überlegen heraus geurteilt haben, streben wir gemäß dem Wunsch.“⁸³³ Ein weiteres Indiz ist, dass Aristoteles den Entschluss zwar vom Wunsch unterscheidet, ihn jedoch als dem Wunsch verwandt (synengys) bezeichnet (1111b19 – 20). Zudem weist die wiederholte Charakterisierung des Wunsches als das, was das Ziel festlegt, und des Entschlusses als das, was die Dinge, die zum Ziel führen, betrifft, darauf hin, dass der Entschluss in besonderer Verbindung zum Wunsch steht.⁸³⁴ Es lassen sich also zahlreiche und z.T. eindeutige Textstellen anführen, die gegen Müllers Deutung sprechen.⁸³⁵
Vgl. meine Anm. 503, S. 188. Auch Lorenz argumentiert aufgrund der gleichen textlichen Befunde für die Ansicht, dass der Entschluss vom Wunsch abhängt; vgl. Lorenz 2009a, 188 – 189: „The parallel discussion in EE 2.10 does commit Aristotle to the view that decision depends on wish, since he there claims that decision arises from belief and wish together. But the Nicomachean Ethics discussion, too, in context suggests rather strongly that decision depends on the specific desire that is wish, since it depends on deliberation about how to promote some end, and in 3.4 Aristotle tells us that it is wish that is for the end.“ Der stärkste Textbeleg für Müllers Deutung ist m. E. die folgende Passage in EN VI 2, 1139a22 – 26: „Also muss, da die Charaktertugend eine Disposition ist, die sich in Entschlüssen äußert, und der Entschluss eine mit Überlegung verbundene Strebung ist, daher die Vernunft wahr sein und das Streben richtig, damit der Entschluss gut ist, und das, was [die Vernunft] bejaht, und das, was [das Streben] verfolgt, muss dasselbe sein.“ Müllers Argument ist, dass der Passus überflüssig ist, wenn die Strebung, auf der ein Entschluss beruht, immer und ausschließlich ein rationaler Wunsch ist. Denn da der Wunsch eine rationale Strebung ist, die dem rationalen Seelenteil zukommt, ist es nicht möglich, dass der Gegenstand des Wunsches nicht mit dem Gegenstand identisch ist, den die Vernunft bejaht: (Müller 2008, 45): „It is possible to interpret the passage as asserting that there must be an agreement between reason and the rational kind of desire (i. e. wish). This is what Aristotle should be saying if his conception of desire is one where decision includes only wish as its desirative
7.3 Diskussionsfrage: Ist der Wunsch die einzige Art von Strebung
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Darüber hinaus halte ich die inhaltlichen Schlüsse, die Müller aus seinen Beobachtungen zum Text zieht, nicht für zwingend. Eine zentrale Stelle, auf die er sich stützt (EN 1111b5 – 6), besagt, dass Entschlüsse besser dazu geeignet sind, Charaktere zu unterscheiden als Handlungen. Daraus folgt aber nicht, dass Entschlüsse allein immer hinreichend sind, um zwischen Charakterdispositionen zu differenzieren. Es ist möglich, dass für die Unterscheidung zwischen dem Beherrschten und dem Mäßigen die jeweiligen Entschlüsse nicht ausreichen, sondern dass darüber hinaus noch die nicht-rationalen Begierden zu berücksichtigen sind. Das erfordert aber nicht die Annahme, dass die nicht-rationalen Begierden auch in die prohairesis involviert sind. Allerdings bleibt dann zu erklären, in welcher Weise nicht-rationale Begierden involviert sind, so dass dies ausschlaggebend dafür ist, ob eine Person mäßig und damit tugendhaft ist oder ob sie nur beherrscht und damit zwar lobenswert, aber nicht tugendhaft ist. Auf diese Frage werde ich bei der Diskussion von EE II 11 zurückkommen, da sich in diesem Kapitel Hinweise dazu finden.⁸³⁶ Ein zweites zentrales Argument von Müller beruht auf der Ansicht, dass Aristoteles die Charaktertugend als eine Haltung, die sich in Entschlüssen äußert (hexis prohairetikê, 1106b6 – 1107a2 und 1139a22– 26), auffasst und diese dem nicht-rationalen Seelenteil zuordnet (EN I 13). Würde eine prohairesis ausschließlich auf einem rationalen Wunsch und einer Überlegung beruhen, bliebe Müller zufolge unklar, inwiefern Charaktertugenden dem nichtrationalen Seelenteil zuzuordnen sind und sich in Entschlüssen äußern.⁸³⁷ Dieser Punkt berührt eine weiterreichende Schwierigkeit, auf die ich später eingehen werde, nämlich die Fragen, erstens ob und inwiefern Tugenden tatsächlich als nicht-rationale Dispositionen der Seele, d. h. als Dispositionen (ausschließlich) des nicht-rationalen Seelenteils zu verstehen sind und zweitens wie das Ver-
component. However, wish is the decision that belongs to and originates in reason and so it cannot disagree with reason. On this interpretation the passage would advance a superfluous claim.“ Müllers Einwand könnte damit pariert werden, dass an dieser Stelle nicht explizit vom Wunsch die Rede ist, so dass zum korrekten Verständnis der Stelle ebenjene Überlegung anzustellen ist, die Müller ausführt; sich diesen Schritt vor Augen zu führen, erscheint indessen alles andere als überflüssig und trivial. Vgl. Abschnitt „9.2 Die Tugend macht das Ziel und den Entschluss richtig“. Müller gibt zwei mögliche Reaktionen an, die jeweils eines der beiden Konjunkte ablehnen bzw. verändern. Entweder akzeptiert jemand, dass Tugenden dem nicht-rationalen Seelenteil zukommen, bleibt dann aber eine Erklärung schuldig, inwiefern sich diese Dispositionen in rationalen Entschlüssen äußern können; die andere Option besteht darin, Charaktertugenden nicht nur als gute Dispositionen des nicht-rationalen Seelenteils, sondern der Gesamtseele zu verstehen (vgl. Müller 2008, 44). Für die erste Option verweist Müller auf Kosman 1980, für die zweite auf Irwin 1975. Auch Hendrik Lorenz (Lorenz 2009a) ließe sich m. E. der zweiten Position zuordnen.
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7 Positive Bestimmung der prohairesis in der Eudemischen Ethik
hältnis zwischen einer Tugend, die das Ziel richtig macht, und der phronêsis, welche die richtigen Mittel findet, um das Ziel zu erreichen, zu bestimmen ist.⁸³⁸
7.4 Final- und Wirkursache von Handlungen Bevor Aristoteles in 1227a3 – 5 die letzte und abschließende Bestimmung der prohairesis formuliert, folgt ein Abschnitt (1226b20 – 31), der in dieser Ausführlichkeit kein Gegenstück in der Behandlung in der EN hat. Die Passage lässt sich als eine weiterführende Erörterung der Überlegung verstehen, die sich als wesentliches Element einer prohairesis erwiesen hat. Zunächst zieht Aristoteles aus der Notwendigkeit des Überlegens die Folgerung, dass die prohairesis nur erwachsenen Menschen, die über die Fähigkeit zu überlegen verfügen, zukommt (1226b21– 23). Außerdem verbindet er die Diskussion zur Überlegung mit der VierUrsachen-Lehre: In einer kurzen, im OCT in Klammern gesetzten, Bemerkung in 1226b19 – 20 erklärt er, weshalb er die prohairesis als eine mit Überlegung verbundene Strebung bestimmt: Die Überlegung ist Ursprung und Ursache (archê kai aitia) der Strebung. Inwiefern die Überlegung Ursache der Strebung sein soll, wird im Abschnitt 1226b21– 32 erläutert. Die Erklärung besteht offenbar darin, dass die Überlegungsfähigkeit eine Fähigkeit ist, dank der ein Mensch in der Lage ist, das Worumwillen seiner Handlung zu erfassen (to theôrêtikon). Unter dem Worumwillen (hê hou heneka) ist die Finalursache zu verstehen, d. h. das Ziel, auf dessen Verwirklichung die Strebung gerichtet ist.⁸³⁹ Die Strebung ihrerseits ist die Wirkursache, d. h. das, was schließlich bewirkt, dass das Ziel verwirklicht wird. In Physik II illustriert Aristoteles den Unterschied zwischen der Wirkursache und der Finalursache am Beispiel eines Gläubigers, der auf den Marktplatz geht, um dort seinen Schuldner zu treffen und sein Geld zurückzuerhalten. Die Schulden einzutreiben, ist Finalursache seiner Handlung, auf den Markt zu gehen; der Entschluss des Gläubigers, zur Agora zu gehen, könnte als Wirkursache dafür bezeichnet werden, dass er sein Geld zurückerhält. Die Erläuterungen zur Finalursache stehen in der EE im Kontext eines Arguments dafür, dass der Entschluss nur bei vernunftbegabten Lebewesen vorkommt; bei Kindern, Tieren und Psychopathen liegen hingegen keine Entschlüsse
Vgl. Abschnitte „9.2 Die Tugend macht das Ziel und den Entschluss richtig“ und „9.3 Das Verhältnis von Tugend und Entschluss“. Phys. II 3, 194b32– 35: „Ferner [sc. ist etwas Ursache; BL] wie ein Ziel. Dies ist das, worumwillen etwas ist, wie das Gehen um der Gesundheit willen ist. Denn worumwillen geht einer spazieren? Wir sagen „um gesund zu sein“, und meinen, indem wir das sagen, die Ursache angegeben zu haben.“
7.4 Final- und Wirkursache von Handlungen
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vor, weil sie über keine Überlegungsfähigkeit verfügen.⁸⁴⁰ Wichtiger als dies ist aber die Funktion, die Aristoteles der Überlegung hier zuweist: Er beschreibt sie als die Fähigkeit, mit deren Hilfe das Worumwillen einer Handlung erfasst wird. Das bedeutet, die Überlegung ist dafür notwendig, dass eine Person etwas erfasst, das sie zum Ziel ihres Handelns macht. Erst wenn sie etwas erfasst und sich als Ziel gesetzt hat (keitai), kann sie Überlegungen darüber anstellen, wie sich das Ziel verwirklichen lässt. Aus dieser Charakterisierung geht ein wichtiges Merkmal hervor, das sich so nicht in der EN findet: Obwohl die Überlegungsfähigkeit eine Fähigkeit ist, mit deren Hilfe Ziele erfasst werden, bestimmt Aristoteles sie nicht als die Fähigkeit, Ziele zu wählen. Gleichwohl ist zu beachten, dass und wie er die Überlegung überhaupt mit der Finalursache von Handlungen in Verbindung bringt. Denn indem der Überlegung das Erfassen von Zielen zugewiesen wird, wird die strikte Beschränkung des Gegenstandsbereichs der Überlegung auf die Dinge, die zum Ziel führen, fraglich. Das überträgt sich, wie wir noch sehen werden, auf die abschließende Bestimmung der prohairesis: Denn auch die Frage, ob eine bestimmte prohairesis gut oder schlecht ist, hängt nicht nur davon ab, zu welchen Mitteln sich eine Person entschließt, um ein Ziel zu erreichen, sondern auch um welchen Ziels willen sie sich zu diesen Mitteln entschließt. Die Behandlung der Überlegung geht nach einem Unterbruch (1226b30 – 1227a5) in den Zeilen 1227a5 – 18 weiter, so dass ich diesen Abschnitt in meiner Kommentierung vorziehe. Inhaltlich kommt hier nichts Neues hinzu: Es geht erneut um den Prozess der Überlegung und um die wesentlichen Merkmale der Überlegung, nämlich dass sie immer um eines Ziels willen geschieht, dass sie aber selbst nie das Ziel zu ihrem Gegenstand hat. Die Wiederholung lässt sich als Betonung dieses inhaltlich wichtigen Kriteriums verstehen.⁸⁴¹ Aristoteles zieht hier einen Vergleich zwischen dem praktischen Überlegen und theoretischen Überlegungen:⁸⁴² Gemeinsam ist beiden, dass sie einer Voraussetzung (hypothe-
Allerdings könnte es etwas irritieren, dass Aristoteles die Fähigkeit, Ziele zu erfassen, als Unterscheidungskriterium zwischen Erwachsenen und nicht-vernünftigen Lebewesen anführt, denn auch Tiere und Kinder können Ziele erfassen. Das ließe sich damit erklären, dass Aristoteles die Überlegungsfähigkeit als Unterscheidungskriterium gegenüber nicht-vernünftigen Lebewesen angesehen hat, mit der Bemerkung zur Finalursache jedoch bereits die weitere Bestimmung der prohairesis im Auge hat, für die auch das Erfassen des Ziels wesentlich ist. Das Ziel erfassen zu können, könnte dabei bedeuten, das Ziel als Ziel zu erfassen, was impliziert, dass man Wissen darüber hat, was es heißt, dieses Ziel zu haben bzw. anzustreben. Über diese Fähigkeit verfügen nur rationale Lebewesen. Dirlmeier erklärt die Wiederholung damit, dass hier vor allem die besondere Bedeutung des Ziels unterstrichen werden soll (Dirlmeier 1969, 298). Aristoteles verweist hier auch auf eine frühere Erwähnung eines solchen Vergleichs. Gemeint ist vermutlich der erste Teil von Kapitel 6 aus EE II (1222b15 – 41). Andere Parallelstellen, die
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sis) bzw. eines Ursprungs (archê) bedürfen, damit sie stattfinden.⁸⁴³ In den theoretischen Wissenschaften ist die erforderliche Voraussetzung z. B. ein Axiom oder eine geometrische Annahme, die dann als Prämisse in einem deduktiven Beweis fungieren können. Für praktisches wie theoretisches Überlegen gilt also gleichermaßen, dass eine bestimmte Voraussetzung als Ausgangspunkt angenommen wird und von dieser ausgehend ein Überlegungsprozess in Gang kommt. Ein Unterschied besteht hingegen darin, wie man beim theoretischen und praktischen Überlegen zu den Voraussetzungen gelangt. Beim theoretischen Überlegen ist es der nous, mit dessen Hilfe die Prinzipien erfasst werden.⁸⁴⁴ Beim praktischen Überlegen wird das Ziel dagegen nicht kraft des nous erfasst, sondern es kommt dem Charakter zu, das Ziel festzulegen: [EE II 10, 1227b22– 25]⁸⁴⁵ Macht die Tugend das Ziel [richtig] oder die Dinge, die zum Ziel führen? Wir nehmen nun an, dass es das Ziel ist, denn dieses wird nicht durch Erwägung oder Vernunft erreicht. Es soll also dies wie ein Ursprung angenommen werden.
Aristoteles gibt daraufhin einige Beispiele für Ziele im Bereich des Handelns, wie z. B. Reichtum oder Lust. Um derentwillen stellt eine Person Überlegungen an, die zum Gegenstand haben, auf welche Weise sich das jeweilige Ziel am besten
Kommetatoren als mögliche Verweisstellen nennen (Dirlmeier und Solomon nennen 1214b6 ff., Woods außer 1222b15 f. noch 1226b10 – 12), erscheinen mir dagegen unwahrscheinlich, da dort nicht in ähnlicher Weise ein Vergleich zwischen praktischen und theoretischen Überlegungen gezogen wird. Vgl. auch EE II 11, 1227b28 – 32: „[…] denn ebenso wie in den theoretischen Wissenschaften die Voraussetzungen Ausgangspunkte sind, so ist auch in den praktischen Kunstfertigkeiten das Ziel Ausgangspunkt und Voraussetzung. Wenn dies gesund sein soll, dann ist es notwendig, dass dies und dies der Fall ist, wenn jenes so werden soll wie auch dort, dann ist es notwendig, wenn in Bezug auf das Dreieck zwei rechte Winkel sein sollen, dass dies und dies der Fall ist.“ EN VI 6, 1141a3 – 8: „Wenn nun die Dispositionen, mit denen wir die Wahrheit erreichen und uns niemals täuschen über das, was nicht anders sein kann, oder auch über das, was anders sein kann, Wissen und Klugheit, Weisheit und intuitive Vernunft sind, und wenn aber keines dieser drei (mit den dreien meine ich: Klugheit (phronêsis), Wissen (epistêmê), Weisheit (sophia)) Prinzipien betreffen kann, dann bleibt nur, dass es die intuitive Vernunft ist, welche die Prinzipien erfasst.“ EE II 10, 1227b22– 25: πότερον δ᾿ ἡ ἀρετὴ ποιεῖ τὸν σκοπὸν ἢ τὰ πρὸς τὸν σκοπόν; τιθέμεθα δὴ ὅτι τὸν σκοπόν, διότι τούτου οὐκ ἔστι λογισμὸς οὐδὲ λόγος. ἀλλὰ δὴ ὥσπερ ἀρχὴ τοῦτο ὑποκείσθω. Vgl. auch: EN VII 9, 1151a15 – 19: „Denn die Tugend und Schlechtigkeit zerstören oder bewahren den Ursprung, in den Handlungen ist das Worumwillen der Ursprung, so wie in den theoretischen Wissenschaften die Voraussetzungen [sc. der Ursprung sind; BL]. Weder dort lehrt aber die Vernunft den Ursprung, noch tut sie es hier; vielmehr verhilft uns die Tugend, entweder die natürliche oder die durch Gewöhnung erworbene, zum richtigen Meinen über den Ursprung.“
7.5 Positive Bestimmung der prohairesis (EE II 10, 1227a2 – 5)
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realisieren lässt. Die Person setzt dabei ihr Überlegen so lange fort, bis sie die Kette der erforderlichen Mittel so weit auf sich zurückgeführt hat, dass sie den Schritt, der als erstes zur Umsetzung nötig ist, direkt in die Tat umsetzen kann. Nach der Beschreibung der Überlegung als Finalursache folgen einige Zeilen (1226b30 – 1227a2), die sich als Antwort auf eine der Eingangsfragen von Kapitel 10 (1225b20 – 21) – nämlich die nach dem Verhältnis des Entschlusses zum Willentlichen – verstehen lassen, die in 1226a19 nochmals wiederholt wurde.⁸⁴⁶ Die Antwort lautet wie in der EN (1111b6 – 8), dass zwar alles, wozu man sich entschlossen hat, willentlich ist, dass aber nicht alles Willentliche auch etwas ist, wozu man sich entschlossen hat. Gemeinsam ist dem Willentlichen und dem, wozu man sich entschlossen hat, dass beides nur das zum Gegenstand haben kann, was bei einem liegt. Dagegen ist es für Willentliches nicht notwendig, dass es auf Überlegung beruht. Gegenstand eines Entschlusses kann aber nur etwas Willentliches sein, das auf einer Überlegung beruht oder vorher bedacht worden ist.⁸⁴⁷
7.5 Positive Bestimmung der prohairesis (EE II 10, 1227a2 – 5) In den Zeilen 1227a2– 5 bringt Aristoteles die positive Bestimmung der prohairesis vor: Er nimmt zunächst das negative Ergebnis aus der Passage 1225b19 – 1226a19 auf, demzufolge die prohairesis zwar weder einfach mit Wunsch noch mit Meinung zu idenzifizieren ist; er fährt aber fort, dass die prohairesis gleichwohl aus Wunsch und Meinung zusammen besteht, und zwar „wenn sie aus einer Überlegung heraus zu einem Schluss zusammengeführt werden“. Dass die prohairesis Wunsch und Meinung involviert, ist Ergebnis der drei vorläufigen Charakterisierungen in 1226b4 und 1226b9 und 1226b17. Neu kommt in der abschließenden Bestimmung hinzu, dass die Art, in der die prohairesis Wunsch und Meinung beinhaltet, präziser gefasst wird: Die prohairesis besteht insofern aus Wunsch und Meinung, als diese mittels einer Überlegung zu einem Schluss zusammengeführt werden (symperanthôsin). Aristoteles verwendet zur Beschreibung der Art, in der
EE II 10, 1225b19 – 21: „Denn man mag unsicher sein, […], ob das Willentliche und das, wozu man sich entschlossen hat, nicht dasselbe sind oder (doch) dasselbe sind.“ sowie 1226a19: „[…] und wie verhält er [i. e. der Entschluss; BL] sich zum Willentlichen?“. Aristoteles nennt in 1226b33 neben dem Überlegen noch das Vorbedenken (pronoêsantes) als eine Voraussetzung eines Entschlusses. Die Wortwahl lässt sich damit erklären, dass ein Vorbedenken ein spezifischer Fall von Überlegen ist. Im Anschluss verweist er nämlich auf die Praxis der Gesetzgeber, die neben willentlichen und unwillentlichen Unrechtstaten noch solche „aus Vorbedacht“ (pronoia) unterscheiden (1226b36 – 1227a2).
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7 Positive Bestimmung der prohairesis in der Eudemischen Ethik
Wunsch und Meinung zu einer prohairesis führen, einen Ausdruck, der sowohl in der Umgangssprache vorkommt, als auch eine Verwendung als logischer Fachterminus hat.⁸⁴⁸ Er gebraucht häufiger syllogistisches Vokabular, wenn er das Zustandekommen von Handlungen beschreibt. Das sollte nicht zu wörtlich verstanden werden, als sei gemeint, dass Wunsch und Meinung als Prämissen eines Schlusses fungieren, die in eine Konklusion in Form einer prohairesis münden. Von einer Schlussfolgerung ist hier vielmehr im übertragenen Sinn die Rede: Worauf es Aristoteles beim Vergleich mit dem logischen Schließen offenbar ankommt, ist, dass beim Zusammenkommen von Wunsch und Meinung in Gestalt eines Entschlusses mit vergleichbarer Notwendigkeit eine Strebung nach einer entsprechenden Handlung resultiert, wie sich eine Konklusion beim logischen Schließen aus den Prämissen ergibt.⁸⁴⁹ Gleichwohl ist aber wichtig, dass es laut Aristoteles die Überlegung ist, die Wunsch und Meinung derart zusammenführt, dass eine prohairesis resultiert. Das bringt erneut klar zum Ausdruck, dass in der EE Überlegung eine notwendige Voraussetzung für eine prohairesis ist.⁸⁵⁰ Die verbleibenden Zeilen von Kapitel 10 werde ich später kommentieren: Den Abschnitt 1227a18 – 31, in dem es um das von Natur aus Gute und das scheinbar Gute geht, bespreche ich gleich im Anschluss an die Behandlung des Wunsches in EN III 6. Den letzten Teil von Kapitel 10 erläutere ich abschließend zusammen mit Kapitel 11. Denn das letzte Kapitel von Buch II nimmt die im vorhergehenden Kapitel begonnene Erläuterung von Tugend und Laster auf und führt sie weiter.
„συμπεραίνειν“ kann sowohl eine umgangssprachliche Bedeutung haben wie z. B. etwas zusammen erreichen, etwas zusammenbringen, als auch im Sinn eines logischen Fachterminus die Bedeutung schlussfolgern (vgl. z. B.: APr. II 5, 57b18 – 21; vgl. auch EN VII 3 und 5, 1146a24– 26 sowie 1147a25 – 28). Vgl. die Diskussion zur Frage, ob der Praktische Syllogismus deliberatives Denken illustrieren soll (vgl. Abschnitt „10.3.1.2 Die spezifische Rationalität des thymos in EN VII 6 und 7“). Vgl. auch Woods 2005, 146: „[…] the word used is a technical term of Aristotle’s logic and suggests that he regarded the process whereby wish and belief yield a choice as their upshot as a piece of reasoning.“
8 Bestimmung des Verhältnisses zwischen prohairesis und Wunsch (boulêsis) (EN III 6, 1113a15-b2 bzw. EE II 10, 1227a18 – 31) Am Ende von Kapitel 5 in EN III hält Aristoteles resümierend als Bestimmung der prohairesis fest, dass sie ein mit Überlegung verbundenes Streben ist, sowie dass sie – ebenso wie die Überlegung – diejenigen Dinge zu ihrem Gegenstand hat, die bei uns liegen, und sie sich auf das bezieht, was zum Ziel führt. Diese umrisshafte Bestimmung der prohairesis lässt jedoch noch Entscheidendes offen: Fraglich ist, wie man jeweils zu einem Ziel gelangt, das seinerseits notwendige Voraussetzung für einen Überlegungsprozess ist, der schließlich in eine prohairesis münden kann. In Kapitel 6 greift Aristoteles diese Frage auf und erörtert nochmals ausführlicher den Wunsch. In EN III 4 hatte er den Wunsch von der prohairesis unter anderem dadurch abgegrenzt, dass dieser sich eher auf das Ziel bezieht, während sich jene auf das richtet, was zum Ziel führt.⁸⁵¹ Dieses Unterscheidungskriterium greift er zu Beginn von Kapitel 6 wieder auf. Im Unterschied zur früheren Stelle formuliert er nun noch etwas stärker, indem er nicht nur davon spricht, dass sich der Wunsch eher auf die Ziele bezieht, sondern indem er auf die abschwächende Formulierung verzichtet und den Wunsch so beschreibt, als beziehe er sich immer auf das Ziel.⁸⁵² Was aber auch diese Beschreibung noch offenlässt, ist die Frage, in welcher Weise der Wunsch seine Ziele auswählt. Auf diese Frage wird allerdings auch Kapitel 6 keine vollständige Antwort geben, sondern hierfür sind andere Stellen, z. B. aus EN VI, mit heranzuziehen.
8.1 Gegenstand des Wunsches: Das wahrhaft Gute und das scheinbar Gute (EN 1113a15 – 22) Aristoteles beginnt die Behandlung des Wunsches, indem er eine Schwierigkeit aufwirft. Er präsentiert zwei einander widerstreitende Positionen, die ihm zufolge beide unhaltbare Folgen haben.Vertreter der ersten Position meinen, dass sich der Wunsch immer auf das Gute bezieht. Befürworter der zweiten Position halten dagegen, dass sich der Wunsch immer auf das scheinbar Gute bezieht, also auf
Vgl. EN III 4, 1111b26 – 30 sowie Abschnitt „5.2.2 Wunsch (EN 1111b19 – 30 resp. EE 1225b32– 37)“. Ebenfalls ohne Einschränkung formuliert Aristoteles dies auch zu Beginn von EN III 7 in 1113b3 – 4. https://doi.org/10.1515/9783110517583-010
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8 Bestimmung des Verhältnisses zwischen prohairesis und Wunsch (boulêsis)
das, was einem jeden gut zu sein scheint. Die erste Auffassung lässt sich dem platonischen Sokrates zuordnen, während einige Sophisten Anhänger der entgegengesetzten Ansicht sind, denen Sokrates entgegentritt.⁸⁵³ Grundlage dieser Zuschreibungen ist wohl Platons Dialog Gorgias. Dort vertritt Polos, ein Schüler des Gorgias, die Auffassung, dass die Redner geschätzt werden, weil sie zu den mächtigsten in der Polis gehören.⁸⁵⁴ Mächtig sind die Redner, ebenso wie die Tyrannen, in Polos’ Augen, weil sie alles tun können, was sie zu tun wünschen: Sie können z. B. töten, wen sie zu töten wünschen, und sie können des Vermögens berauben, wen sie auszurauben wünschen. Dem widerspricht Sokrates. Er behauptet stattdessen, dass Redner wie Tyrannen eigentlich sogar zu den am wenigsten Mächtigen in der Polis zählen, da sie nicht tun, was sie zu tun wünschen, sondern nur das tun, was ihnen das Beste zu sein scheint. Den Unterschied zwischen dem scheinbar Besten und dem eigentlich Guten erklärt Sokrates dem uneinsichtigen Polos daraufhin damit, dass sich der Wunsch jeweils auf das Ziel bezieht und nicht auf die Dinge, die um eines Ziels willen getan und angestrebt werden: [Gorg. 467c5 – 7]⁸⁵⁵ Sokrates: „Scheinen Dir denn etwa die Menschen dasjenige zu wünschen, was sie jeweils tun, oder vielmehr jenes, um dessentwillen sie das tun, was sie tun?“
Wenn man z. B. eine bittere Medizin schluckt, die der Arzt zur Genesung verschrieben hat, so tut man nicht, was man wünscht. Denn das Schlucken der Medizin scheint nur etwas Gutes zu sein, es ist aber nicht wirklich etwas Gutes. Man schluckt die Medizin nicht um der Medizin selbst willen, sondern nur um der Gesundheit willen. Die Gesundheit ist ein wirkliches Gut. Sie ist das eigentliche Ziel der Handlung, ein Medikament einzunehmen, und auf sie richtet sich der Wunsch. Ebenso verhält es sich beim Tyrannen, der meint, er tue, was er wünscht, wenn er z. B. jemanden tötet: Was er tut, ist nur scheinbar etwas Gutes, denn was er eigentlich wünscht, ist nicht das Töten, sondern sind Reichtum und Macht. Dies sind die Ziele seiner Handlung; das Töten dagegen ist nur etwas, das er um dieser Ziele willen tut, nicht aber etwas, das er um seiner selbst willen wünscht und das wahrhaft etwas Gutes ist. Polos’ Irrtum besteht somit darin, etwas scheinbar Gutes für das eigentlich Gute zu halten und deswegen anzunehmen,
Vgl. Grant 1866, 23; Burnet 1900, 132; Joachim 1951, 104; Gauthier/Jolif 1970, 206 – 207. Gorg. 466b3 – 5: Sokrates: ‚Sie [i. e. die Redner; BL] scheinen mir gar nicht geschätzt zu werden.ʻ – Polos: ‚Wie, nicht geschätzt? Sind sie nicht die Mächtigsten in der Polis?ʻ. Gorg. 467c5 – 7: ΣΩ. πότερον οὖν σοι δοκοῦσιν οἱ ἄνθρωποι τοῦτο βούλεσθαι ὃ ἂν πράττωσιν ἑκάστοτε, ἢ ἑκεῖνο, οὗ ἕνεκα πράττουσι τοῦθ’ ὃ πράττουσιν; […].
8.1 Gegenstand des Wunsches: Das wahrhaft Gute und das scheinbar Gute
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dass derjenige, der tut, was ihm gut zu sein scheint, das tut, was er wirklich wünscht. Aristoteles scheint bei der Präsentation der Aporie in Kapitel 6 zwar eine Kontroverse wie jene im Gorgias vor Augen zu haben, geht aber nicht weiter darauf ein, wie der platonische Sokrates die Differenz zwischen dem scheinbar Guten und dem wirklich Guten begründet. Stattdessen beschreibt er zunächst, welche abwegigen Folgen sich aus beiden Positionen zu ergeben scheinen. Die erste Auffassung, dass das, was gewünscht wird, immer das Gute ist, habe zur Folge, „dass nicht gewünscht sei, was einer wünscht, der nicht richtig wählt“ (1113a17– 19). Dies begründet Aristoteles damit, dass etwas, wenn es gewünscht wird, auch gut sein müsse. Die erste Position legt einen somit darauf fest, dass alles das, was gewünscht wird, eo ipso auch gut ist. Das schließt den Fall aus, dass jemand etwas wünscht, was sich später als schlecht herausstellt; denn wenn es Gegenstand des Wünschens ist, muss es auch gut sein. Diese Konsequenz ist absurd, weil sie der Tatsache zuwiderläuft, dass jemand fälschlicherweise etwas Schlechtes für gut halten kann und zu tun wünscht. In diesem Fall wäre ein Anhänger der ersten Position dazu verpflichtet, entweder zu sagen, dass das Schlechte im Grunde etwas Gutes ist, weil es ja gewünscht wird, oder aber zu sagen, jemand wünsche eigentlich gar nicht das, was ihm zwar gut zu sein scheint, was aber tatsächlich nichts Gutes ist. Die zweite Position, nach der immer das gewünscht wird, was einem gut zu sein scheint, hat demgegenüber laut Aristoteles die unbefriedigende Konsequenz, dass es „kein von Natur aus Gewünschtes gibt“. Das bedeutet, dass es nichts wahrhaft Gutes geben kann, das jeder wünschte, der erkennt, dass es etwas Gutes ist. Gut ist vielmehr alles, was irgendeinem gut zu sein scheint. Aus diesem Relativismus⁸⁵⁶ folgt Abwegiges: Wenn z. B. dasselbe dem einen als gut und einem
Grant bringt die zweite Position in Verbindung mit dem Relativismus des Protagoras (Grant 1866, 24: „τοῖς δὲ τοῦ φαινομένου ἀγαθοῦ: This is a corollary of the doctrine of Protagoras. If the individual could only know what ‚seemedʻ to him, he could only wish for what seemed good. Thus the objective distinction between good and evil is done away with.“) Vgl. auch Stewart 1879, 270. Aristoteles setzt sich mit Protagoras’ Ansicht, dass der Mensch das Maß aller Dinge ist und daher auch nur das gut sein kann, was nur einem einzelnen gut erscheint, an verschiedenen Stellen in der Metaphysik auseinander: vgl. z. B. Met. X 6, 1062b13– 19: „Wenn dieser [i.e. Protagoras; BL] nämlich sagt, der Mensch sei das Maß aller Dinge, so meint er damit nichts anderes als, was einem jeden scheine, das sei auch sicher und fest so. Ist dies aber der Fall, so ergibt sich daraus, dass dasselbe ist und nicht ist und gut und schlecht ist, und dass ebenso die übrigen Gegensätze von demselben zugleich gelten, darum weil oft dies bestimmte Ding den einen schön scheint, den anderen im Gegenteil hässlich, und dasjenige, was einem jeden erscheint, das Maß des Dinges ist.“ Vgl. auch Met. III 3, 1009a6 – 15. Vgl. auch Platons Auseinandersetzung mit Protagoras’ Relativismus im Theaitet:Tht.152a, Tht. 160d, Tht. 170e, Tht. 171c, Tht. 178b; vgl. Joachim 1951, Anm. 1,
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anderen als schlecht erscheint, so ist es zugleich gut und schlecht; und wenn entgegengesetzte Dinge verschiedenen Personen gut zu sein scheinen, so sind eine Sache und ihr Gegenstück zugleich gut. Beide Positionen hält Aristoteles offenbar für nicht ausreichend, um den Gegenstand des Wunsches zu bestimmen.⁸⁵⁷ Denn aus beiden ergeben sich Folgen, die entweder den Tatsachen widersprechen oder die es ausschließen, dass es etwas wahrhaft Gutes gibt. Im zweiten Teil von Kapitel 6 entwickelt er eine Lösung für die präsentierte Schwierigkeit.
8.2 Aristoteles’ Lösungsvorschlag zur aufgeworfenen Schwierigkeit (EN 1113a22 – b2) Die Lösung, die Aristoteles vorbringt, versucht zu verbinden, was an den beiden widerstreitenden Positionen jeweils intuitiv zutreffend erscheint. Das gelingt ihm, indem er zwei Arten unterscheidet, auf die man etwas als etwas Gewünschtes bezeichnen kann. Wirklicher Gegenstand des Wunsches ist nur das, was „schlechthin und gemäß der Wahrheit“ etwas Gutes ist. Für jeden einzelnen aber ist Gegenstand seines Wünschens etwas, was ihm jeweils gut erscheint. Hierbei ist es möglich, dass die beiden Gegenstände des Wünschens auseinanderfallen: Jemand kann etwas scheinbar Gutes wünschen, was dann zwar tatsächlich Gegenstand seines Wunsches ist, das aber gemäß der Wahrheit nicht etwas Gutes, sondern womöglich sogar etwas Schlechtes ist. Aristoteles formuliert seine Lösung zunächst bloß als Frage (1113a22– 24). Der weitere Verlauf des Kapitels lässt sich aber als Begründung verstehen, so dass es naheliegt, dass er dies als Auflösung der Schwierigkeit ansieht. Mit Vertretern der ersten Position geht er darin einig, dass eigentlicher Gegenstand des Wunsches nur das ist, was schlechthin und wahrhaft gut ist. Wer jedoch nicht richtig erkennt, was das wahrhaft Gute ist, der kann auch beliebiges anderes wünschen, was ihm zwar gut zu sein scheint, was gemäß der Wahrheit aber nicht gut ist. Dabei ist laut Aristoteles das wahrhaft Gute, das eigentlicher Gegenstand des Wünschens ist, gleichzusetzen mit dem, was der gute Mensch (spoudaios)
104. Ein Indiz dafür, dass Aristoteles bei der zweiten Position tatsächlich den protagoreischen Relativismus im Blick gehabt haben könnte, ist, dass er in 1113a33 den guten Menschen als „Norm und Maßstab“ bezeichnet. Mit „μέτρον“ verwendet er dabei den Terminus, mit dessen Hilfe auch Protagoras den Menschen als Maß aller Dinge beschreibt (vgl. Burnet 1900, 133). Aristoteles behauptet zwar nicht explizit, dass beide Positionen nicht ausreichend sind (vgl. 1113a22– 23), legt dies den weiteren Überlegungen jedoch offenbar als Annahme zugrunde.
8.2 Aristoteles’ Lösungsvorschlag zur aufgeworfenen Schwierigkeit
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wünscht. Das heißt, der gute Mensch kann nicht etwas anderes wünschen als das schlechthin Gute; wünschte er etwas anderes, wäre er nicht gut, sondern womöglich sogar ein schlechter Mensch. Aristoteles führt hier somit den guten Menschen als heuristischen Maßstab für das ein, was gemäß der Wahrheit das Gute ist. Den guten Menschen zeichnet es aus, dass er in allen Einzelfällen richtig urteilt (ho spoudaios gar hekasta krinei orthôs, 1113a29 – 30), d. h., dass er jeweils erkennt, was wahrhaft gut ist. Dass der gute Mensch Maßstab für das wahrhaft Gute ist, erläutert Aristoteles mit Hilfe eines Vergleichs mit dem gesunden Menschen, der Maßstab dafür ist, was gesund ist. Der gesunde Körper zeigt an, was wahrhaft gesund ist, während der kranke Körper das als gesund anzeigt, was ihm jeweils als gesund erscheint und was vom wahrhaft Gesunden abweichen kann. Der gesunde Körper stellt somit den Normalzustand dar, der vorgibt, was als optimaler Zustand des Organismus gilt. Analog dazu fasst Aristoteles den guten Menschen als den im moralischen Sinn gesunden Menschen auf, der als Maßstab für den idealen Zustand der Seele dient.⁸⁵⁸ Damit ist einerseits ein objektiver Maßstab etabliert, anhand dessen sich beurteilen lässt, was das wahrhaft Gute ist; andererseits bleibt der Fall möglich, dass jemand etwas anderes als das wahrhaft Gute wünscht, und zwar wenn seine Seele sich nicht im optimalen Zustand, d. h. im Zustand des guten Menschen, befindet. Diese aristotelische Lösung der anfänglichen Schwierigkeit unterscheidet sich von der platonischen, auf die Aristoteles an dieser Stelle nicht weiter eingeht. Der platonische Sokrates würde die Aporie durch die Annahme der Idee des Guten lösen, die ein abstrakter, für sich existierender und objektiver Maßstab für das ist, was wahrhaft gut ist, während Aristoteles den guten Menschen als den heuristischen Maßstab ansieht. Dem platonischen Sokrates zufolge kann jemand, der die Idee des Guten erkannt hat, nicht darin fehlgehen, das wahrhaft Gute zu wünschen. Wer die Idee des Guten dagegen nicht erkennt, kann Beliebiges begehren, Gutes ebenso wie scheinbar Gutes, das er dann fälschlicherweise für gut hält.⁸⁵⁹
Vgl. Joachim 1951, 104; Burnet 1900, 132. Laut Grant löst Platon die Aporie aus dem Gorgias auf, indem er zwischen boulêsis und epithymia unterscheidet: Während die boulêsis immer das wahrhaft Gute zum Gegenstand hat, kann sich die epithymia auf Beliebiges beziehen. Allerdings verwendet Platon diese terminologische Differenzierung in der oben zitierten Passage (466 – 468) gar nicht, wenn Sokrates als adäquaten Gegenstand des Wunsches das Ziel bestimmt im Gegensatz zu den Dingen, die um des Ziels willen zu tun sind.Vgl. Grant 1866, 23: „[…] Plato distinguishes βούλησις from ἐπιθυμία, while Aristotle does not. The βούλησις of Plato is the higher will, or desire of the Universal. In this higher sense of the word wish, no one wishes except for what is good […]. In this sense the wish of the individual is in accordance with universal reason, and is an expression of it. In a lower sense, we
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8 Bestimmung des Verhältnisses zwischen prohairesis und Wunsch (boulêsis)
Taylor macht hier auf eine Schwierigkeit aufmerksam, die mit Aristoteles’ Analogie zwischen dem guten und dem gesunden Menschen als Maßstäbe für das wahrhaft Gute und die Gesundheit verbunden ist: Direkt mit der Einführung der Analogie mit dem Körper in guter Verfassung erweitert Aristoteles den Vergleich auf sekundäre Qualitäten wie Bitterkeit, Süße, Hitze und Schwere. Für sekundäre Qualitäten gilt, dass sie einem Gegenstand dann zukommen, wenn jemand sie unter normalen Bedingungen so wahrnimmt.⁸⁶⁰ Süß ist z. B. etwas, wenn es jemand, der über einen normal funktionierenden Geschmackssinn verfügt, unter Standardbedingungen als süß wahrnimmt. Süße ist demnach keine intrinsische Qualität, die Dingen unabhängig davon zukommt, wie sie jemandem erscheinen; es ist vielmehr konstitutiv für das Süß-Sein eines Gegenstandes, dass er jemandem unter normalen Bedingungen als süß erscheint.⁸⁶¹ Hier könnte man den Eindruck gewinnen, als wolle Aristoteles dieses Prinzip auch auf das Gesund-Sein und das Gut-Sein übertragen; das hieße, dass das Gesund-Sein bzw. das Gut-Sein verschiedenen Dingen insofern zukommt, als sie von jemandem im idealen körperlichen oder seelischen Zustand als gesund bzw. gut wahrgenommen werden. Taylor weist darauf hin, dass der Text hier nicht eindeutig ist und gegenläufige Hinweise enthält.⁸⁶² Dass der gute Mensch als Norm und heuristischer Maßstab für das wahrhaft Gute bezeichnet wird, könnte andeuten, dass wahrhaft gut ist, was der gute Mensch als solches beurteilt hat, so dass Gut-Sein einem Gegenstand nicht unabhängig davon zukommt, ob ein guter Mensch es als gut beurteilt, sondern im Gegenteil davon abhängt und dadurch konstituiert wird. Allerdings spricht die Bemerkung, dass der gute Mensch richtig beurteilt, was gemäß der Wahrheit das Gute ist, dafür, dass dem schlechthin Guten das Gut-Sein unabhängig davon zukommt, ob es als solches von einem Guten wahrgenommen wird. Auch wenn der Text an dieser Stelle die zweite Verständnisweise nicht deutlich zum Ausdruck bringt, so ist doch aufgrund anderer Stellen hinreichend klar, dass Aristoteles das Gut-Sein einer Sache nicht für etwas von einer Wahrnehmung oder Beurteilung des Guten Abhängiges auffasst.
wish with different parts of our nature, and thus wish for all sorts of things, bad as well as good. But to this latter kind of wish the name ‚desireʻ is appropriate.“ Zutreffend an Grants Erläuterung ist gleichwohl, dass der platonische Sokrates die Aporie mit Hilfe der Annahme eines wahrhaft Guten löst, das eigentlicher Gegenstand des Wunsches ist und als abstrakter und objektiver Maßstab dient. Vgl. auch Gauthier/Jolif 1970, 208. Taylor spricht hier vom „authoritative observer“, der sich dadurch auszeichnet, dass seine Wahrnehmungsorgane korrekt funktionieren und unter Standardbedingungen angewendet werden (Taylor 2005, 161). Taylor 2005, 161. Taylor 2005, 162– 163.
8.2 Aristoteles’ Lösungsvorschlag zur aufgeworfenen Schwierigkeit
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Eine weitere Frage ist, ob uns Kapitel 6 näher Aufschluss darüber gibt, wie sich der Wunsch zur prohairesis verhält. Burnet ist offenbar dieser Ansicht, denn er entnimmt der Passage die Aussage, dass der Wunsch der begehrende Anteil einer prohairesis ist: „We come now [sc. in 1113a15; BL] to the appetitive element in προαίρεσις […]“⁸⁶³ Joachim lehnt diese Deutung ab, da Burnet damit in seinen Augen nicht der aristotelischen Aufteilung gerecht wird, nach der sich der Wunsch auf das Ziel und die prohairesis auf die Dinge, die zum Ziel führen, beziehen. Denn wenn der Wunsch das strebende Element in der prohairesis wäre, so hätte dies nach Joachim zur Folge, dass der Wunsch sich nicht auf das Ziel, sondern ebenfalls auf die Dinge, die zum Ziel führen, bezöge. Das strebende Element in der prohairesis könne daher nicht der Wunsch sein, sondern es müsse sich dabei um eine der anderen Arten von Strebung, Begehren oder thymos, handeln.⁸⁶⁴ Diese Kritik an Burnet legt zunächst nahe, als gäbe es auf der einen Seite den Wunsch, der sich auf das Ziel richtet, und auf der anderen Seite die prohairesis, in die irgendeine Form von Strebung eingeht, die sich aber im Unterschied zum Wunsch nicht auf das Ziel bezieht. Allerdings räumt auch Joachim ein, dass die Trennung zwischen Wunsch und prohairesis nicht so schlicht und dichotomisch zu verstehen ist: Die Verbindung zwischen Wunsch und prohairesis besteht ihm zufolge vielmehr darin, dass die Dinge, die zum Ziel führen und die Gegenstand der prohairesis sind, als konstitutive Teile der Realisierung des Ziels aufzufassen sind. Die Dinge, die zum Ziel führen, sind also nicht bloß Mittel, um das Ziel des Wunsches zu erreichen, sondern es sind die Bestandteile, die zusammen das Ziel konstituieren.⁸⁶⁵ Das strebende Element der prohairesis und der Wunsch richten sich daher – obwohl sie verschieden sind und sich bezüglich ihrer Bezugsgegenstände unterscheiden – in gewisser Weise auch auf das gleiche: Denn die Dinge, die Gegenstand der prohairesis sind, sind Teile des Realisierungsprozesses des Ziels, auf das sich wiederum der Wunsch richtet.⁸⁶⁶ Außerdem
Burnet 1900, 132. Joachim 1951, 104: „Aristotle has drawn a sharp distinction between προαίρεσις as of the means and βούλησις as of the end. The appetitive element in προαίρεσις is ὄρεξις (appetition, impulse) in some form – Aristotle does not say in what form, but certainly not in the form of βούλησις. Any ὄρεξις apparently, except βούλησις, might enter into προαίρεσις provided it followed the lead of deliberation.“ Joachim 1951, 103: „The series of steps, or means, to the end is also a plurality of conditions each of which is a constituent part of the end: the end is the whole, of which they are the parts revealed by ‚analysisʻ; the end is itself partly fulfilled in the fulfilment of each of the means, and completely fulfilled in the fulfilment of all of them.“ Joachim 1951, 105: „And though the ὄρεξις in προαίρεσις is not the same as the ὄρεξις of the end, which is called βούλησις, yet the objects of the ὄρεξις in προαίρεσις (i. e. the means) are parts of that whole which is the object of βούλησις.“
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8 Bestimmung des Verhältnisses zwischen prohairesis und Wunsch (boulêsis)
verbindet die prohairesis und den Wunsch, dass eine prohairesis ein Ziel, das wiederum Gegenstand eines Wunsches ist, zur Voraussetzung hat; denn ohne Ziel findet keine Überlegung statt, die ihrerseits in eine prohairesis münden kann.⁸⁶⁷ Das Verhältnis zwischen prohairesis und Wunsch lässt sich somit gemäß den Hinweisen in den ersten Kapiteln von EN III vorläufig folgendermaßen auffassen: Einerseits steht eine prohairesis in Kontrast zum Wunsch, da der Wunsch sich auf das Ziel, die prohairesis dagegen auf die Dinge, die zum Ziel führen, bezieht. Andererseits stellen Wunsch und prohairesis auch nicht zwei getrennte und heterogene Dinge dar, sondern sie stehen in gegenseitiger Verbindung zueinander und haben Einfluss aufeinander.⁸⁶⁸ Ohne einen Wunsch kommt keine prohairesis zustande: Der Wunsch gibt das Ziel vor, und die Überlegung sucht nach den Schritten zu dessen Erreichung, welche wiederum Gegenstand einer prohairesis sein können. Die prohairesis hat somit die Schritte zum Gegenstand, die nötig sind, um das Ziel des Wunsches zu realisieren.⁸⁶⁹
Auch wenn es schwierig ist, ein geeignetes konkretes Beispiel zu geben, an dem man sich dies klarmachen kann, will ich es dennoch versuchen. Nehmen wir an, das Ziel des Wunsches einer Frau ist die Geburt eines eigenen Kindes. Den Wunsch nach einem eigenen Kind zu hegen, impliziert meiner Ansicht nach für die Frau, dass sie bestimmte notwendige Schritte zur Realisierung des Ziels, ein eigenes Kind zur Welt zu bringen, zugleich mit-wünscht. Zu den mitgewünschten Schritten zählen beispielsweise die Befruchtung einer eigenen Eizelle, die erforderlichen Monate der Schwangerschaft, das Zur-Welt-Bringen des Kindes, etc.. All diese notwendigen Schritte sind nicht bloß (beliebige) Schritte zur Realisiserung des gewünschten Ziels, der Geburt eines eigenen Kindes, sondern sie konstituieren das Ziel zugleich. Damit ist gemeint, dass sie (neben weiteren erforderlichen Schritten) diejenigen Schritte sind, die nicht nur notwendig sind, um das angestrebte Ziel zu erreichen, sondern in denen überhaupt die Verwirklichung der Geburt eines eigenen Kindes besteht. In diesem Sinn sind diese Schritte nicht nur (beliebige) Mittel zum Erreichen des gewünschten Ziels, sondern sie lassen sich als Teile des Realisierungsprozesses des Ziels, d. h. als die konstitutiven Bestandteile des Ziels, verstehen. Es bleibt zu prüfen, ob der Wunsch stets etwas Gedachtes ist und daher nicht nur als eine Strebung zu verstehen ist. Dieser Ansicht ist Joachim (1951, 105: „[…] our grasp of the end involves a form of thought as well as a form of ὄρεξις – νοήσις (or φαντασία) as well as βούλησις.“ Joachim 1951, 105: „[…] though προαίρεσις is contrasted, as of the means, with βούλησις, as of the end, this distinction is not to be taken as the separation of two heterogeneous things, external each to each. On the contrary, it is a distinction within a continuity. Thought and desire are necessarily present in both.“ Ich komme später zurück auf die Frage nach dem Verhältnis von Wunsch und Entschluss und diskutiere alternative Deutungen, vgl. Abschnitt „8.5 Die Relation zwischen Wunsch (boulêsis) und Entschluss (prohairesis)“.
8.3 Das von Natur aus Gute und das scheinbar Gute in der EE
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8.3 Das von Natur aus Gute und das scheinbar Gute in der EE (EE 1227a18 – 31) Auch in der EE folgt auf die Behandlung des Ziels, das Gegenstand des Wunsches, aber nicht der Überlegung ist, eine Unterscheidung zwischen dem eigentlich Guten und dem scheinbar Guten. Die Passage beginnt mit einem Satz, der zunächst irritiert: Denn nachdem Aristoteles zuvor deutlich gemacht hat, dass man Überlegungen nicht über das Ziel, sondern über die Dinge, die zum Ziel führen, anstellt, sagt er nun, dass man darüber „im einzelnen Fall“ (kata meros) Überlegungen anstellt. Prima facie ist es eine natürliche Lesart, „κατὰ μέρος“ auf das Ziel zu beziehen.⁸⁷⁰ Versteht man unter dem Einzelnen, auf das sich die Überlegung bezieht, Güter wie Reichtum und Sieg, ergibt sich aber die Schwierigkeit, dass Aristoteles sich zu widersprechen scheint: Denn bei Reichtum und Sieg handelt es sich um Dinge, die er üblicherweise als Ziele ansieht,⁸⁷¹ so dass es höchst seltsam anmutete, wenn er nun Ziele als Gegenstand von Überlegung anführte, was er zuvor bestritten hat. Daher denke ich, dass sich „κατὰ μέρος“ auf Dinge beziehen muss, die in einzelnen Situationen die geeigneten Mittel sind, um ein entsprechendes Ziel zu erreichen.⁸⁷² Dass es um Mittel und nicht um Ziele geht, machen auch die Beispiele (Medikament und Feldlager) klar. Die Parallelstelle in der EE enthält noch eine andere Besonderheit, die die Behandlung in EN III 6 ergänzt. Die Differenzierung zwischen verschiedenen Arten des Guten kommt zur Sprache, weil der Wunsch immer etwas zum Ziel hat, was für gut gehalten wird. Allerdings ist das, was für gut gehalten wird, nicht immer auch tatsächlich gut. Im Unterschied zur EN grenzt Aristoteles das scheinbar Gute in der EE nicht von dem „gemäß der Wahrheit Guten“ (kat’ alêtheian), sondern von dem „von Natur aus Guten“ (physei) ab. Der Grund für diese andere Ausdrucksweise wird in der darauffolgenden Erläuterung ersichtlich: Den Unterschied zwischen dem von Natur aus Guten und dem scheinbar Guten verbindet er hier mit der Unterscheidung zwischen vernünftigen und vernunftlosen Vermögen der Seele, die z. B. in Met. IX ausgeführt wird. Danach beziehen sich
Vgl. Kenny 1979, 79: „To me it seems more likely that here the expression ‚κατὰ μέροςʻ refers to the particular goods which are the goals of these deliberations – health and victory, which are only parts of the good for man; and that these goods are being contrasted with the overall good for man, τὸ ἁπλῶς ἄριστον, the best end which is the goal of human action, […].“ In 1227a14 hat er explizit den Reichtum als ein Beispiel für ein Worumwillen genannt. So auch Solomon 1925: „Men deliberate about the particular questions, e. g. the doctor whether he is to give a drug, or the general where he is to pitch his camp.“ sowie Dirlmeier 1969, 299: „κατὰ μέρος = καθ᾿ ἕκαστον. Gemeint sind die Mittel zum Ziel, […]“.
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8 Bestimmung des Verhältnisses zwischen prohairesis und Wunsch (boulêsis)
vernunftlose Vermögen immer nur auf eine einzige Sache, während sich vernünftige Vermögen stets auf Entgegengesetztes beziehen:⁸⁷³ [Met. IX 2, 1046b4– 10]⁸⁷⁴ Und diese [i. e. die mit Vernunft verbundenen Vermögen; BL] beziehen sich alle auf Entgegengesetztes, die vernunftlosen auf ein einziges Ding, wie z. B. das Warme nur Vermögen zu wärmen ist, die Arztkunst dagegen [Vermögen] von Krankheit und Gesundheit. Grund dafür ist, dass die Wissenschaft Begriff ist, derselbe Begriff aber erklärt die Sache und deren Privation, nur nicht auf dieselbe Weise, und betrifft in gewisser Weise beides, in gewisser Weise mehr das Seiende, […].
Vernunftlose Vermögen wie das Seh- oder das Hörvermögen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich jeweils nur auf eine einzige Gruppe von Gegenständen beziehen können, wie z. B. das Hörvermögen nur auf Töne und das Sehvermögen nur auf Farben. Vernünftige Vermögen wie die Wissenschaften können sich dagegen sowohl auf das beziehen, was ihr eigentlicher Gegenstand ist, d. h. was von Natur aus ihr Gegenstand ist, als auch auf das, was ihrer Natur entgegensteht. So bezieht sich die Arztkunst nicht nur auf die Gesundheit, die von Natur aus ihr Gegenstand ist, sondern auch auf die Krankheit.⁸⁷⁵ Der Zusammenhang dieser
Vgl. auch De An. III 3, 427b6 – 16; EN V 1, 1129a11– 16 Met. IX 2, 1046b4– 10: καὶ αἱ μὲν μετὰ λόγου πᾶσαι τῶν ἐναντίων αἱ αὐταί, αἱ δὲ ἄλογοι μία ἑνός, οἷον τὸ θερμὸν τοῦ θερμαίνειν μόνον ἡ δὲ ἰατρικὴ νόσου καὶ ὑγιείας. αἴτιον δὲ ὅτι λόγος ἐστὶν ἡ ἐπιστήμη, ὁ δὲ λόγος ὁ αὐτὸς δηλοῖ τὸ πρᾶγμα καὶ τὴν στέρησιν, πλὴν οὐχ ὡσαύτως, καὶ ἔστιν ὡς ἀμφοῖν ἔστι δ᾿ ὡς τοῦ ὑπάρχοντος μᾶλλον, […]. Man könnte angesichts dieser Unterscheidung zwischen vernunftlosen und vernünftigen Vermögen an Aristoteles’ Erwähnung der „von Natur aus guten Dinge“ (physei agatha) in EE VIII 3 (1248b26 – 1249a21) denken. Aristoteles unterscheidet im letzten Kapitel der EE im Kontext der Bestimmung der kalokagathia (wörtlich: des Schönen-und-Guten) innerhalb der Güter, die um ihrer selbst willen wählenswert sind, zwischen (a) solchen, die schön (kalon) und für sich genommen lobenswert sind, und (b) natürlichen Gütern, die nicht für sich genommen lobenswert sind. Natürliche Güter, wie z. B. Gesundheit und Reichtum, sind nur für den guten Menschen gut, d. h. für denjenigen, der sich im naturgemäßen Zustand befindet, und der infolgedessen aus dem von Natur aus Guten Nutzen ziehen kann. Für jemanden, der unverständig ist, sind natürliche Güter dagegen nicht gut, da er keinen Vorteil aus ihnen gewinnen kann und sie ihm womöglich sogar Schaden bringen. Zu den schönen und für sich lobenswerten Gütern zählen die Tugenden und die tugendhaften Handlungen. Diese Güter sind schön, weil sie um ihrer selbst willen gewählt werden. Aristoteles unterscheidet nun den bloß Guten, dessen Ziele natürliche Güter sind, vom Schönen-und-Guten, der sich dadurch auszeichnet, dass die Güter und Ziele, die er wählt und zu denen auch die natürlichen Güter gehören, nicht nur gut, sondern auch schön sind. Sie sind schön, weil der Schöne-und-Gute alle Güter um des Schönen willen wählt. Dagegen sind die Güter, die der bloß Gute wählt, zwar gut, aber nicht zugleich auch schön.Vgl. zu weiterführenden Diskussionen des Abschnitts in EE VIII 3: z. B. Woods 1992, 175 – 178; Buddensiek 1999, 213 – 228.
8.4 Die boulêsis: Der rationale Wunsch
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Unterscheidung mit der Diskussion des Wunsches besteht offenbar darin, dass es beim Wunsch wie bei den vernünftigen Vermögen möglich ist fehlzugehen.⁸⁷⁶ Anders als bei einem Erfolgsverb wie „Sehen“ kann Gegenstand des Wunsches wie der Wissenschaft nicht nur das sein, worauf sie sich von Natur aus beziehen, sondern auch das, was ihrer Natur entgegengesetzt ist.⁸⁷⁷ Der Wunsch richtet sich immer auf etwas Gutes. Das Gute kann das von Natur aus Gute sein, aber der Wunsch kann sich auch auf etwas Schlechtes beziehen, d. h. auf etwas, das der Natur entgegengesetzt ist, und zwar dann, wenn etwas fälschlicherweise gut zu sein scheint und für gut gehalten wird. Dass Aristoteles hier zur Unterscheidung zwischen dem wahrhaft Guten und dem scheinbar Guten als theoretischen Hintergrund die Annahme aufbietet, dass sich vernünftige Vermögen auf Entgegengesetztes beziehen, lässt sich mit dem Fortlauf des Textes erklären: Denn im Anschluss kehrt er zur Bestimmung von Tugend und Schlechtigkeit zurück und erklärt die Schlechtigkeiten als die Verkehrung zu den entgegengesetzten Extremen hin, während die Tugend das Treffen der richtigen Mitte ist. Bevor ich diesen Abschnitt gemeinsam mit EE II 11 näher diskutiere, sind zunächst einige zusammenfassende Hinweise zur boulêsis hilfreich.
8.4 Die boulêsis: Der rationale Wunsch Ich habe dafür argumentiert, dass eine prohairesis Aristoteles zufolge immer auf einer boulêsis beruht. Es ist daher zweckmäßig, nochmals festzuhalten, was er genau unter einer boulêsis versteht, um anschließend die Beziehung zwischen prohairesis und boulêsis genauer zu betrachten. Aristoteles unterteilt die Stre-
Der Zusammenhang ist zugegebenermaßen recht locker (vgl. Woods 2005, 149). Es ist kaum zu leugnen, dass Aristoteles hier relativ komplexe theoretische Annahmen aufbietet, die nicht unbedingt erforderlich sind für den Zweck, zwischen dem wirklich Guten und dem scheinbar Guten zu unterscheiden; vgl. Woods 2005, 150. Von einem deutlich engeren Zusammenhang zwischen Wunsch und Wissen geht Simpson aus: Er vermutet, dass der Wunsch nur dann fälschlicherweise das scheinbar Gute zum Gegenstand haben kann, wenn diesem eine Täuschung zugrunde liegt (Simpson 2013, 279): „Hence [Aristotle] would seem to intend the additional implication that will can only focus on a bad because it follows knowledge. For, unless it did so, the fact that science is of an unnatural opposite would not be relevant to will’s being of an unnatural bad.“ Simpsons Folgerung ist nicht überzeugend, denn der Verweis auf die Wissenschaft lässt sich auch bloß als Analogie verstehen, um das Vorhanden-Sein von Gegensätzen zu illustrieren. So verstanden ist der Vergleich mit der Wissenschaft nicht irrelevant; es ist aber auch keine weiterreichende inhaltliche Verbindung zum Wunsch anzunehmen. Vgl. Kenny 1979, 79 – 80.
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8 Bestimmung des Verhältnisses zwischen prohairesis und Wunsch (boulêsis)
bungen erschöpfend⁸⁷⁸ in drei Arten.⁸⁷⁹ Das Begehren (epithymia) und den thymos bestimmt er als nicht-rationale Strebungen, die boulêsis ist dagegen eine rationale Strebung. Die boulêsis ist rational, weil sie dem vernünftigen bzw. denkenden Seelenvermögen angehört und dadurch zustande kommt: [De An. III 9, 432b5 – 6]⁸⁸⁰ Denn im vernünftigen [sc. Seelenteil] entsteht der Wunsch, und im vernunftlosen das Begehren und der thymos, […]. [Top. IV 5, 126a13]⁸⁸¹ […] denn jeden Wunsch findet man im denkenden Seelenteil.
Demgegenüber beruhen nicht-rationale Strebungen entweder auf Wahrnehmung oder auf phantasia. Begehren oder thymos kommen dadurch zustande, dass jemand etwas als angenehm oder als unangenehm wahrnimmt oder sich vorstellt. Eine Sache als angenehm oder unangenehm wahrzunehmen oder sich vorzustellen, führt automatisch zu einem Streben, diese Sache zu erlangen oder zu vermeiden.⁸⁸² Im Gegensatz zu den nicht-rationalen Strebungen beruht der Wunsch auf einer Meinung, und zwar auf der Meinung, dass das, was Gegenstand des Wunsches ist, gut ist: [Rhet. I 10, 1368b37– 1369a4]⁸⁸³ Alles aber, was sie von sich selbst aus tun und wofür sie selbst etwas können, tun sie einesteils aus Gewohnheit und andernteils aufgrund von Streben, und zwar 〈von den Dingen,
Die Annahme, dass die drei Arten von Strebungen erschöpfend sein sollen, geht aus zahlreichen Stellen hervor, z. B. MA 6, 700b22: „Wunsch, thymos und Begehren sind alle Strebungen, […] [βούλησις δὲ καὶ θυμὸς καὶ ἐπιθυμία πάντα ὄρεξις […].Vgl. auch: De. An. 414b2; EE 1223a26 – 27, 1225b24– 26; MM 1187b36 – 37. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Aristoteles’ Theorie der Strebung und der verschiedenen Arten von Strebung findet sich bei Corcilius: Corcilius 2008a, 19 – 240; insb. 128 – 206. De An. III 9, 432b5 – 6: ἔν τε τῷ λογιστικῷ γὰρ ἡ βούλησις γίνεται, καὶ ἐν τῷ ἀλόγῳ ἡ ἐπιθυμία καὶ ὁ θυμός· […]. Top. IV 5, 126a13: […] πᾶσα γὰρ βούλησις ἐν τῷ λογιστικῷ. Den Automatismus, mit dem Begehren und thymos entsprechende Bewegungen auslösen, illustriert Aristoteles in MA anhand des „praktischen Syllogismus“ (vgl. MA 701a29 – 33): Ebenso wie beim Theoretischen Syllogismus die Konklusion mit Notwendigkeit aus den Prämissen folgt, folgt beim Praktischen Syllogismus eine Bewegung, wenn eine Strebung vorliegt und die Möglichkeit besteht, die Strebung zu verwirklichen. Rhet. I 10, 1368b37– 1369a4: ὅσα δὲ δι᾿ αὑτούς, καὶ ὧν αὐτοὶ αἴτιοι, τὰ μὲν δι᾿ ἔθος τὰ δὲ δι᾿ ὄρεξιν, 〈τῶν δὲ δι᾿ ὄρεξιν〉 τὰ μὲν διὰ λογιστικὴν ὄρεξιν τὰ δὲ δι᾿ ἄλογον· ἔστι δ᾿ ἡ μὲν βούλησις, 〈ἡ δὲ βούλησις〉 ἀγαθοῦ ὄρεξις (οὐδεὶς γὰρ βούλεται ἀλλ᾿ ἢ ὅταν οἰηθῇ εἶναι ἀγαθόν), ἄλογοι δ᾿ ὀρέξεις ὀργὴ καὶ ἐπιθυμία· [Übersetzung mit geringen Veränderungen nach Rapp; Hervorhebung BL].
8.4 Die boulêsis: Der rationale Wunsch
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die sie aufgrund von Streben [tun]〉 einesteils aufgrund von vernünftigem und andernteils aufgrund von vernunftlosem Streben. Das ist der Wunsch, 〈der Wunsch aber ist〉 ein Streben nach Gutem – keiner nämlich wünscht etwas, wenn er nicht meint, dass es gut sei; vernunftloses Streben aber sind Zorn und Begierde [Hervorhebung BL]. [EN V 11, 1136b7– 8]⁸⁸⁴ […] denn niemand wünscht etwas, von dem er nicht meint, dass es gut ist, […]. [EE II 7, 1223b6 – 7 und 1223b32– 33]⁸⁸⁵ Niemand wünscht, was er für schlecht hält. […] Denn niemand wünscht das, was er für schlecht hält.
Die Meinung, auf der ein Wunsch beruht, ist die Überzeugung, dass etwas gut ist. Der Wunsch ist demnach die Strebung nach etwas, von dem man meint, dass es gut ist. Dies kann entweder etwas wahrhaft Gutes oder etwas scheinbar Gutes sein, das zu Unrecht für gut gehalten wird.⁸⁸⁶ Weil ein Wunsch nicht allein durch Wahrnehmung und/oder phantasia zustande kommt, sondern wesentlich auf einer Meinung beruht, kommt er nur rationalen Lebewesen zu. Auch wenn eindeutig ist, dass sich der Wunsch von den anderen Strebungen durch seine Rationalität unterscheidet, ist gleichwohl umstritten, was diese Rationalität genau impliziert. Hierzu werden unterschiedlich weitreichende Ansichten vertreten, die sich anhand von zwei Gesichtspunkten unterscheiden lassen: Erstes Unterscheidungskriterium ist die Annahme, dass sich der Wunsch immer auf das höchste menschliche Gut im Sinn der eudaimonia bezieht, und zweitens die Annahme, dass der Wunsch immer auf einer Überlegung beruht.⁸⁸⁷ Eine besonders starke Auffassung vertritt Irwin, der beide Annahmen zugleich vertritt.Weiter verbreitet ist dagegen die etwas schwächere Auffassung, derzufolge Aristoteles zwar die erste Annahme zuzuschreiben ist, nicht aber die zweite. Ich EN V 11, 1136b7– 8: οὔτε γὰρ βούλεται οὐδεὶς ὃ μὴ οἴεται εἶναι σπουδαῖον, […]. EE II 7, 1223b6 – 7 und 1223b32– 33: βούλεται δ᾿ οὐθεὶς ὃ οἴεται εἶναι κακόν. […] βούλεται μὲν γὰρ οὐθεὶς ἃ οἴεται εἶναι κακά, […]. Pace Ross 1949. Ross hat unter Berufung auf einen Passus in der Metaphysik dafürgehalten, dass sich der Wunsch auf das wahrhaft Gute bezieht, während Begierde das scheinbar Gute zum Gegenstand hat (Ross 1949, 145: „Desire […] is of two kinds, wish and rational desire, which desires the good, and appetite or irrational desire, which desires the apparent good.“ Die Stelle in Met. XII 7, 1072a27– 28 lautet: „Denn das Begehrte ist das, was schön zu sein scheint, das Gewünschte ist primär das, was schön ist.“ [Bei dieser Bemerkung muss jedoch beachtet werden, dass Aristoteles in Bezug auf den Wunsch sagt, dass er sich primär (πρῶτον) auf das wirklich Schöne bezieht; das lässt m. E. zu, dass der Wunsch sich auch auf etwas beziehen kann, das fälschlicherweise gut zu sein scheint. Dass Aristoteles dies annimmt, geht zudem aus der Behandlung des Wunsches in EN III 6 eindeutig hervor. Ich folge in der Formulierung dieser beiden Annahmen Corcilius, vgl. Corcilius 2008a, 201– 207.
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8 Bestimmung des Verhältnisses zwischen prohairesis und Wunsch (boulêsis)
betrachte zuerst Irwins Auffassung, und führe anschließend aus, inwiefern ich auch die zweite, weniger weitreichende Auffassung noch für zu stark halte: [Irwin 1978]⁸⁸⁸ […] wish must itself be the result of deliberation about one’s overall good. If Aristotle does not mean this he cannot distinguish wish from other desires as he wants to.
Ein Problem für die Ansicht, dass jeder Wunsch Ergebnis eines Überlegungsprozesses ist, besteht darin, dass dies zu einem unendlichen Regress führt. Da eine Überlegung nach Aristoteles stets von einem Wunsch ausgeht, müsste es zu jeder Überlegung eine weitere Überlegung geben; gäbe es keinen Wunsch, ohne dass ihm ein Überlegungsprozess vorausgegangen ist, führte die Reihe der Überlegungen ins Unendliche. Einen derartigen unendlichen Regress schließt Aristoteles in EE VIII 2 explizit als Option aus.⁸⁸⁹ Ferner sagt Aristoteles, dass das Ergebnis einer Überlegung ein Entschluss ist; da aber ein Entschluss kein Wunsch ist, ist fraglich, inwiefern sowohl Entschluss als auch Wunsch Ergebnis von Überlegung sein können.⁸⁹⁰ Aus diesen Gründen erscheint es mir klar, dass der Wunsch nicht als Ergebnis einer Überlegung bestimmt werden kann. Das heißt freilich nicht, dass Überlegen keinen Einfluss auf das Formen von Wünschen haben kann: So kann z. B. bei unvereinbaren Handlungsoptionen Überlegung notwendig sein, um einen Wunsch gemäß der möglichen Alternativen zu for-
Irwin 1978, 257. Vgl. auch Irwin 1988, 337: „Decision is deliberate desire (EN 1113a9 – 12); and so it seems to be the sort of desire that will result from a rational appearance. It is desire formed by deliberation beginning with some more general desire. But not just any general desire can underlie a decision; it must be a wish (boulêsis), a rational desire for the good, not an appetite or emotional desire. […] The wise person deliberates with a view not to this or that limited end, but with a view to living well (i. e. happiness, eudaimonia) in general (1140a25 – 8). […] This deliberation about what promotes living well as a whole will form the wise person’s rational wish, the way she conceives happiness; and this conception of happiness will be the rational wish from which she begins the sort of deliberation that results in a decision.“ In der Passage 1248a15 – 30 im vorletzten Kapitel der EE geht es Aristoteles darum, das Prinzip der Bewegung in der Seele zu bestimmen. Zu diesem Zweck erwägt er hier die Möglichkeit, ob richtiges Begehren, Denken oder Überlegen durch Zufall (tychê) entstehen. Er verwirft diese Option mit dem Argument, dass es einen Anfangspunkt für die Aktivitäten der Seele geben muss, dass aber derjenige, der denkt, nicht denkt, bevor denkt, denn sonst müsste sich dieser Prozess bis ins Unendliche fortsetzen lassen. Da Aristoteles aber annimmt, dass es für das Denken einen Anfangspunkt geben muss und dies nicht der Zufall sein kann, sondern etwas Stärkeres (kreitton) sein muss, gelangt er in diesem Argumentationszusammenhang zu der Annahme, dass es der Gott (theos) sein muss, der das Prinzip der Bewegung in der Seele ist. Vgl. Woods 1992, 170. Vgl. zu diesen Kritikpunkten Mele 1994, 147– 148.
8.4 Die boulêsis: Der rationale Wunsch
331
men. Es ist aber kein konstitutives Merkmal des Wunsches, dass ihm ein Überlegungsprozess vorausgegangen ist. Weniger stark als Irwins Position ist die Auffassung jener, die meinen, jeder Wunsch beziehe sich auf das höchste menschliche Gut, d. h. das gute Leben im Sinn der eudaimonia. ⁸⁹¹ Auch die Annahme, dass sich der Wunsch immer auf die eudaimonia bezieht, begrenzt den Bereich des Wunsches erheblich. Zwar ist es möglich, dass die Überzeugung, dass ein Gegenstand gut ist, auf der Meinung beruht, dass der Gegenstand einen Beitrag zur eudaimonia des Wünschenden leistet und aufgrund dessen gut ist. So mag z. B. ein Arzt, wenn er seinen Beruf wählt, darüber nachdenken, wie das Ziel seiner Tätigkeit als Arzt seinem guten Leben als Ganzem dient. Ein derartiger Überlegungsprozess ist aber nicht in jedem Fall notwendig, um die Überzeugung zu haben, dass etwas gut ist.⁸⁹² Es kann auch ausreichen, dass man es z. B. für offensichtlich hält, dass etwas gut ist, selbst wenn man nicht unmittelbar in der Lage ist, explizit Gründe dafür anzugeben und aufzuzeigen, in welcher Weise es zum Erreichen der eigenen eudaimonia beiträgt.⁸⁹³ Es gibt noch andere Charakteristika des Wunsches, die gegen die Annahme sprechen, dass ein Wunsch immer einen Bezug zur eigenen eudaimonia impliziert: Aristoteles nimmt auch Wünsche an, die sich auf andere Personen beziehen, wie z. B. der Wunsch, ein bestimmter Athlet möge siegen. Weiter gibt es Wünsche, die sich auf Dinge richten, die zu erreichen nicht in der Macht des Wünschenden liegt. In beiden Fällen ist nicht zu erkennen, worin ein Bezug zur eigenen eudaimonia bestehen sollte. Schließlich führte dieses Verständnis zu ei-
Anscombe 1965: 155: „I suggest that the idea of rational wanting should be explained in terms of what is wanted being wanted qua conducive to or part of ‚doing wellʻ, or blessedness.“ Nussbaum 1985, 336: „What is βουλητόν is ranked and valued as a part of the agent’s overall life plan.“ Sherman 1989, 94: „To have the capacity for rational desire, boulêsis, on Aristotle’s view, is in general to be capable of a conception of happiness. More specifically, it is to be capable of setting the sort of end which happiness is, namely an end constrained by the following criterion: that it be most final, complete, worthwhile, and self-sufficient (NE I. 7)“ Vgl. auch Irwin 1975. Vgl. zu einer Kritik an der starken Lesart z. B. Mele 1984, 145: „It is just plain false, for example, that whenever a doctor deliberates with a view to a patient’s health, he is consciously aiming at his own happiness, or at some practical end which he takes to justify his productive end.“ Vgl. auch Cooper 1988, 242: „[A] rational desire or boulêsis is the practical expression of a course of thought about what is good for oneself, that is aimed at working out the truth about what is in fact good. Of course, in speaking thus about the function of logos (reason) [Aristotle] is describing how it operates when fully developed. He does not mean that whenever in any person a thought occurs that derives from or expresses his logos or reason, or whenever in consequence he has a boulêsis, the person has actually done any such investigating into the truth about what is good. All it means is that a logos-thought and a logos-desire are about the good in a way that lays claim to there being a reason for thinking this, and to thinking it for that reason.“
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8 Bestimmung des Verhältnisses zwischen prohairesis und Wunsch (boulêsis)
ner instrumentellen Auffassung des Wunsches, da jeder Wunsch sich stets nur auf etwas bezöge, das Mittel ist, um die eigene eudaimonia zu erreichen. Dem steht entgegen, dass Aristoteles den Wunsch dadurch bestimmt, dass er sich am meisten auf Ziele richtet, d. h. auf Dinge, die aufgrund ihrer eigenen Qualität gewünscht werden, wie z. B. tugendhaftes Handeln.⁸⁹⁴ Als weitere Besonderheit des Wunsches führt Corcilius an, dass er nur auf Angenehmes bezogen ist, nicht aber auf Schmerzvolles, während sich nicht-rationale Strebungen auf Angenehmes und auf Unangenehmes bzw. Schmerzvolles richten.⁸⁹⁵ Corcilius geht davon aus, dass sich der Wunsch sogar auf solche Dinge beziehen kann, „mit denen der Wünschende affektiv nichts zu tun hat, so dass konsequenterweise, wenn der Wünschende nicht bekommt, was er sich wünscht, dies für ihn nicht notwendig mit leidvollen bzw. lustmildernden Konsequenzen verbunden ist“.⁸⁹⁶ Corcilius denkt dabei wohl an Beispiele wie den Wunsch, dass ein bestimmter Athlet siegt oder dass man unsterblich ist. Allerdings ist es in diesen Fällen m. E. nicht überzeugend, zu verneinen, dass der unerfüllte Wunsch als lustmildernd empfunden wird, wenngleich man darauf keinen Einfluss hat. Denn auch die Niederlage eines anderen, dessen Sieg man sich gewünscht hat, kann als enttäuschend und leidvoll empfunden werden, und die Einsicht in die Tatsache, dass menschliches Leben endlich ist, kann ebenfalls enttäuschend sein. Dass der Wunsch als ein Streben nach Gutem bestimmt wird, bedeutet ebenfalls nicht, dass sich der Wunsch nur auf Angenehmes beziehen kann, sondern verweist bloß darauf, dass man das, was man wünscht, jeweils für gut halten muss, unabhängig davon, ob es auch tatsächlich gut ist. Stellt sich im Nachhinein heraus, dass man es irrtümlicherweise für gut gehalten hat, so ist diese Erfahrung in der Regel unangenehm. In dieser Hinsicht verhält sich der Wunsch somit m. E. gleich wie die nicht-rationalen Strebungen: Bei allen Arten von Strebung ist es möglich, dass die ausbleibende Erfüllung des Erstrebten als leidvoll empfunden wird.
Vgl. zu diesen Kritikpunkten: Corcilius 2008a, 202– 204. Top.VI 8, 146a36-b6: „ Wenn aber das Definierte relativ ist, entweder an sich oder gemäß der Gattung, muss man prüfen, ob versäumt wurde, in der Definition zu sagen, relativ zu was es ausgesagt wird, entweder an sich oder gemäß seiner Gattung, zum Beispiel, wenn das Wissen als ‚unumstößliche Annahmeʻ definiert wurde, oder der [Wunsch] als ‚schmerzloses Strebenʻ. Denn die Substanz aller Relativa ist relativ zu etwas anderem, da das Sein für jedes der Relativa genau damit identisch war, sich auf bestimmte Weise auf etwas zu beziehen. Es müsste also das Wissen als ‚Annahme dessen, was man wissen kannʻ, bezeichnet werden und der [Wunsch] als ‚Erstreben des Gutenʻ.“ [Hervorhebung BL].“ Corcilius 2008a, 160.
8.4 Die boulêsis: Der rationale Wunsch
333
Schließlich zeichnet sich der Wunsch dadurch aus, dass er oft und (bei Aristoteles) typischerweise Allgemeines, wie z. B. Glück, Gesundheit oder Reichtum, zum Gegenstand hat; dies verbindet ihn mit der Vernunft, die auch Allgemeines erfasst.⁸⁹⁷ Demgegenüber richten sich Begehren und thymos stets auf Konkretes, das durch Wahrnehmung oder phantasia erfasst wird und das sich unmittelbar durch eine Handlung erreichen lässt. Damit ist freilich nicht ausgeschlossen, dass auch der Wunsch sich auf Einzelnes richten kann.⁸⁹⁸ Oft bezieht er sich aber auf Dinge, die sich nicht unmittelbar realisieren lassen, und bisweilen hat er auch Dinge zum Gegenstand, die überhaupt nicht durch Handeln erreicht werden können. Daraus könnte nun gefolgert werden, dass der Wunsch für sich keine motivationale Rolle hat, d. h., dass er nicht allein für sich Bewegungen bzw. Handlungen veranlassen kann. Es ist umstritten, ob dem Wunsch eine motivationale Rolle gänzlich abzusprechen ist. Corcilius vertritt diese Auffassung und bezeichnet den Wunsch – im Unterschied etwa zu Begehren und thymos – als „nicht motivational autonom“.⁸⁹⁹ Er stützt sich dabei auf Textstellen, an denen Aristoteles ausdrücklich ausschließt, dass die Vernunft bzw. das Denken zu Ortsbewegung motivieren kann: [MA 6, 700b24– 26]⁹⁰⁰ Folglich bewegen unmittelbar der Gegenstand des Strebens und der Gegenstand des Denkens. Nicht aber alles, was Gegenstand des Denkens ist, sondern (nur) der Zweck von solchem, was möglicher Gegenstand von Handlungen ist. Deswegen ist es unter den Gütern (nur) das derartige, das bewegt, und nicht jedes Gute. [De. An. ΙΙΙ 9, 432b27– 29]⁹⁰¹ Denn die theoretische Vernunft denkt nichts, was Gegenstand einer Handlung wäre, und sie sagt auch nichts über das, was zu meiden und zu verfolgen ist, die Bewegung dagegen gehört stets entweder zu jemandem, der etwas meidet, oder zu jemandem, der etwas verfolgt.
Vgl. De An. II 5, 417b21– 23. So kann man z. B. auch den konkreten Wunsch haben, jetzt und hier eine ganz bestimmte Aufnahme der 7. Symphonie von Beethoven zu hören. Ein solcher Wunsch erfordert keine weitere Überlegung, sondern zur Umsetzung, d. h. dem Einlegen der CD und der Bedienung des Startknopfs, ist nur noch die Wahrnehmung nötig. Corcilius 2008a, 201. MA 6, 700b24– 26: οὐ πᾶν δὲ τὸ διανοητόν, ἀλλὰ τὸ τῶν πρακτῶν τέλος. διὸ τὸ τοιοῦτόν ἐστι τῶν ἀγαθῶν τὸ κινοῦν, ἀλλ’ οὐ πᾶν τὸ καλόν· [Übersetzung nach Corcilius 2008a]. De An. III 9, 432b27– 29: ὁ μὲν γὰρ θεωρητικὸς οὐθὲν νοεῖ πρακτόν, οὐδὲ λέγει περὶ φευκτοῦ καὶ διωκτοῦ οὐθέν, ἀεὶ δὲ ἡ κίνησις ἢ φεύγοντός τι ἢ διώκοντός τί ἐστιν. [Übersetzung nach Corcilius].
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8 Bestimmung des Verhältnisses zwischen prohairesis und Wunsch (boulêsis)
[EN VI 2, 1139a35 – 36]⁹⁰² Das Denken als solches bewegt jedoch nichts, sondern nur dasjenige Denken, das auf ein Worumwillen bezogen ist, das heißt, praktisch ist; […].
Die Vernunft für sich kann nach diesen Stellen nicht bewegen, wenn ihr Gegenstand etwas Allgemeines und somit kein Handlungszweck ist, d. h. kein Gegenstand, der Ziel von Handlungen ist. Damit Denken bewegen kann, muss der Gegenstand des Denkens auf ein prakton agathon bezogen werden, d. h. auf einen Einzelgegenstand, dessen Ausführung in der Macht der handelnden Person liegt und der für gut und erstrebenswert gehalten wird. Da nun Wünsche dem denkenden Seelenteil angehören und sie oft Allgemeines zum Gegenstand haben und auch Unmögliches betreffen können, muss ein Wunsch, damit er zu einer Handlung motivieren kann, auf ein prakton agathon bezogen werden. Gibt es kein prakton agathon zu einem Wunsch, etwa weil der Wunsch sich auf etwas Unmögliches wie Unsterblichkeit bezieht, so kann der Wunsch nicht motivational werden. Lassen sich jedoch konkrete Schritte identifizieren, durch die sich das gewünschte Ziel realisieren lässt und die in der Macht der handelnden Person stehen, so motiviert der Wunsch zu solchen Handlungen, mittels welcher sich der Wunsch realisieren lässt. Im Gegensatz zu Corcilius spricht Cooper dem Wunsch eine motivationale Rolle zu: [Cooper 1988]⁹⁰³ […] boulêsis is [Aristotle’s] preferred name for the movement toward action produced by the use of reason itself, on its own. […] First of all, when he says, as he does, e. g., at Nic. Eth. VIEE V, 1139a35 and again at de An. III 10, 433a23 that nous and dianoia by itself does not produce movement (i. e., any psychological movement toward or away from action), one must not assume that this means that reasoning about what to do does not lead to any movement toward acting except when it is coupled with some or other nonrational desire. There is also the rational orexis, and Aristotle’s theory of the three kinds of orexis shows that one movement toward action that such reasoning might lead to is precisely a boulêsis.
Cooper geht davon aus, dass der rationale Wunsch allein Bewegungen movitieren kann. Den Wunsch fasst er dabei als diejenige Strebung auf, die dafür sorgt, dass Denken zu einer Handlung führt. Er stützt seine Auffassung auf die folgende Stelle aus De Anima:
EN VI 2, 1139a35 – 36: διάνοια δ’ αὐτὴ οὐθὲν κινεῖ, ἀλλ’ ἡ ἕνεκά του καὶ πρακτική· […]. Cooper 1988, zitiert nach 1999, 241– 242.
8.4 Die boulêsis: Der rationale Wunsch
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[De An. III 10, 433a22– 25]⁹⁰⁴ Nun bewegt die Vernunft aber offenbar nicht ohne Strebung; der Wunsch ist nämlich Strebung, und wenn man sich gemäß der Überlegung bewegt, so bewegt man sich gemäß dem Wunsch.
Der Textstelle lässt sich entnehmen, dass die Vernunft nicht das bewegende Vermögen der Seele ist, sondern dass jede Bewegung, die gemäß der Vernunft geschieht, auch gemäß dem Wunsch erfolgt, weil der Wunsch eine Strebung ist und das Zustandekommen einer Bewegung eine Strebung voraussetzt. Daraus folgert Cooper, dass Aristoteles dem Wunsch die motivierende Kraft bei vernünftigen Bewegungen zuschreibt. Corcilius hält dieser Deutung entgegen, dass sie keine ausreichende naturphilosophische Erklärung für die Motivation durch den Wunsch liefert, da sie schlicht eine motivationale Autonomie des Wunsches behauptet. Stattdessen argumentiert Corcilius dafür, dass die motivationale Rolle des Wunsches sich kausal auf dieselben Mechanismen wie die nicht-rationalen Strebungen zurückführen lässt, so dass zu jedem Wunsch auch nicht-rationale Strebungen hinzukommen, für die Aristoteles ihrerseits eine naturphilosophische Erklärung liefert.⁹⁰⁵ Anders als Corcilius halte ich den obigen Textbeleg aus De Anima, ebenso wie Cooper, für ausreichend überzeugend, um darauf die Annahme zu gründen, dass es für Aristoteles der Wunsch ist, der zu vernünftigen Bewegungen motiviert. Dass Aristoteles hier nicht näher auf die naturphilosophischen Mechanismen eingeht, die der motivationalen Rolle des Wunsches zugrunde liegen, mag daran liegen, dass es ihm an dieser Stelle nicht darauf ankommt, dies näher auszuführen. Und da er andernorts die Verbindung zwischen dem rationalen Wunsch und vernünftigen Bewegungen genauer thematisiert, mag es ihm entbehrlich erscheinen, die motivationale Rolle des Wunsches hier explizit hervorzuheben. Für unseren Kontext lässt sich die Frage, wie die naturphilosophische Erklärung der motivationalen Rolle des Wunsches genau auszubuchstabieren ist, ausklammern. Relevant ist dagegen, wie zu erklären ist, dass der Wunsch zu einer Handlung führen kann, obwohl er sich häufig auf allgemeine Handlungsziele bezieht, die sich nicht direkt durch Handeln realisieren lassen. Um dies zu verstehen, ist es entscheidend, nochmals das Verhältnis zwischen Wunsch und Entschluss zu beleuchten.
De An. III 10, 433a22– 25: νῦν δὲ ὁ μὲν νοῦς οὐ φαίνεται κινῶν ἄνευ ὀρέξεως· ἡ γὰρ βούλησις ὄρεξις· ὅταν δὲ κατὰ τὸν λογισμὸν κινῆται, καὶ κατὰ βούλησιν κινεῖται [Übersetzung leicht verändert nach Corcilius]. Vgl. Corcilius 2008a, 176 – 200.
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8 Bestimmung des Verhältnisses zwischen prohairesis und Wunsch (boulêsis)
8.5 Die Relation zwischen Wunsch (boulêsis) und Entschluss (prohairesis) Die Schwierigkeit zu erklären, wie ein Wunsch nach etwas zu einer entsprechenden Handlung motiviert, rührt daher, dass sich der Wunsch häufig auf etwas Allgemeines bezieht, das sich nicht unmittelbar durch eine bestimmte Einzelhandlung realisieren lässt. Die Vielzahl möglicher Handlungen, die für die Verwirklichung des gewünschten Ziels geeignet sein könnten, hat zur Folge, dass ein derartiger allgemeiner Wunsch noch nicht direkt zu einer Handlung motiviert. Damit ein Wunsch zu einer Handlung führt, müssen zuerst die konkreten Schritte identifiziert werden, die nötig und geeignet sind, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Diese Schritte herauszufinden, ist Aufgabe der Überlegung. Die Überlegung ermittelt ausgehend von einem gewünschten Ziel die besten Mittel und Wege, mit deren Hilfe sich das Ziel verwirklichen lässt. Ein solcher Überlegungsvorgang kann zu zwei grundsätzlich unterschiedlichen Ergebnissen führen: (1) Er kann damit enden, dass eine Person zu der Überzeugung kommt, diejenige Handlung gefunden zu haben, die am besten geeignet ist und die der erste Schritt ist, um das Ziel zu erreichen. (2) Der Überlegungsprozess kann aber auch zu der Überzeugung führen, dass es keine oder zumindest keine geeignete Handlung gibt, durch die sich das Ziel erreichen lässt. Betrachten wir zunächst den ersten Fall: Ist eine unmittelbar ausführbare Handlung gefunden, die die Person für die am besten geeignete in Hinblick auf das Ziel hält, strebt sie danach, diese Handlung auszuführen. Diese Strebung, die am Ende eines Überlegungsprozesses steht und die sich auf diejenige Handlung bezieht, die der erste Schritt zur Verwirklichung eines gewünschten Ziels ist, nennt Aristoteles eine prohairesis, einen Entschluss. Daraus ergibt sich, dass der Entschluss diejenige Strebung ist, die zwar vom Gegenstand eines Wunsches ausgeht, die zu ihrem eigenen Gegenstand aber dasjenige hat, was die Überlegung als ersten konkreten Schritt gefunden hat, um den Gegenstand des Wunsches zu erreichen. Weil der Entschluss eine Strebung ist, die etwas zum Gegenstand hat, was der erste Schritt zur Verwirklichung eines Ziels ist, ist dem Entschluss immer auch ein Bezug auf dieses Ziel immanent. So ist m. E. auch Aristoteles’ Beschreibung zu verstehen, dass ein Entschluss immer auf etwas um einer anderen Sache willen gerichtet ist. Diese Beschreibung gibt insofern eine Antwort auf die Ausgangsfrage, als sie aufzeigt, dass der Entschluss die Erklärung dafür liefert, wie ein Wunsch handlungsmotivierend sein kann. Ein Wunsch ist dann handlungsmotivierend, wenn sein Gegenstand durch Überlegung auf eine konkrekte Einzelhandlung, die seiner Verwirklichung dient, zurückgeführt wird. Die Einzelhandlung ist Gegenstand eines Entschlusses, der unmittelbar handlungsmotivierend ist. Dieses Bild des Verhältnisses von Wunsch und Entschluss lässt allerdings noch offen, wie sich
8.5 Die Relation zwischen Wunsch (boulêsis) und Entschluss (prohairesis)
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beide zueinander verhalten. Eine Schwierigkeit ist, dass Aristoteles die Einteilung in drei Arten von Strebung als erschöpfend hinstellt. Allerdings bezeichnet er auch den Entschluss als Strebung (orexis bouleutikê, orexis dianoêtikê), so dass der Entschluss entweder mit einer der drei Strebungen identisch sein muss oder doch zusätzlich noch eine vierte Art von Strebung anzunehmen ist. Die Identität des Entschlusses mit einer der drei Arten von Strebung schließt Aristoteles an verschiedenen Stellen explizit aus, wie wir gesehen haben. Für die Annahme, dass er sie als eine vierte Art von Strebung auffasst, die neben den anderen steht, findet sich allerdings auch kein Hinweis im Text. Mit diesem Dilemma sind verschiedene Interpreten unterschiedlich umgegangen.⁹⁰⁶ Manche argumentieren dafür, dass der Entschluss den Wunsch als einen Bestandteil enthält, d. h., dass der Entschluss letztlich eine besondere Form des Wunsches ist, nämlich ein Wunsch, der sich auf die Mittel zu einem Ziel bezieht.⁹⁰⁷ Diese Deutung kann sich darauf berufen, dass Aristoteles in Bezug auf den Wunsch nur sagt, dass er sich eher (mallon) oder am meisten (malista)⁹⁰⁸ auf Ziele bezieht, was zulässt, dass manche Wünsche sich auch auf Wege, die zum Ziel führen, beziehen. Nussbaum erwägt eine derartige Deutung: [Nussbaum 1985]⁹⁰⁹ A possible solution might be the following: βούλησις is a desire for a rationally conceived goal, and, derivatively, for constituents of it and means to it, seen as such.
Die Auffassung, nach der sich manche Wünsche indirekt auch auf die Dinge, die zu einem Ziel führen, beziehen, widerspricht auch nicht der Aussage, dass der Entschluss nicht mit dem Wunsch identisch ist, da es allgemeine Wünsche geben kann, die keinem Entschluss entsprechen.
Mele (1984, 152– 156) unterscheidet zwischen drei möglichen Lösungsvorschlägen, die sich in der Literatur finden. Ich orientiere mich an dieser Unterteilung, gebe aber eigene Charakterisierungen der Positionen, die sich nicht zwangsläufig mit den Auffassungen, die Mele im Sinn hat, decken. Burnet vertritt diese Position, dessen Auffassung ich bereits an früherer Stelle erwähnt habe (vgl. S. 323). Er nennt den Wunsch explizit das „appetitive element“ des Entschlusses (Burnet 1900, 132). Vgl. EE 1226a13 – 16, EN 1111b26; anders lauten dagegen die Formulierungen in EN 1113a15 und 1113b3 – 5. Nussbaum 1985, 335 – 336.
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8 Bestimmung des Verhältnisses zwischen prohairesis und Wunsch (boulêsis)
Eine zweite Position besteht darin, abzustreiten, dass der Entschluss tatsächlich eine Strebung ist.⁹¹⁰ So abwegig das zunächst angesichts der mehrfachen expliziten Bestimmung des Entschlusses als einer orexis klingen mag, könnte sich ein Vertreter dieser Ansicht darauf berufen, dass Aristoteles den Entschluss mit keiner der drei Arten von Strebung identifiziert und ihn überdies in irritierender Weise variierend klassifiziert. In der EE sagt er, dass der Entschluss zwar weder Meinung noch Wunsch ist, aber gleichwohl auf beidem beruhe, und in EN VI 2 fasst er die vorhergehende Erörterung des Entschlusses wie folgt zusammen: „Deshalb ist der Entschluss entweder strebendes Denken oder denkendes Streben […]“.⁹¹¹ Aristoteles scheint hier dem Entschluss zwar eine enge Verbindung sowohl mit Denken bzw. Meinung als auch mit Strebung bzw. Wunsch zuzuschreiben, identifiziert ihn aber mit keinem von beiden, so dass offen bleibt, wie der Entschluss nun tatsächlich klassifiziert werden soll. Als dritte Position lässt sich noch eine Variante der ersten bestimmen: Sie nimmt auch an, dass der Entschluss eine Strebung ist, fasst aber den Wunsch nicht als den strebenden Bestandteil des Entschlusses auf. Vielmehr ist der strebende Bestandteil des Entschlusses eine Strebung sui generis: Sie ist zwar abgeleitet von einem Wunsch und infolgedessen eng damit verbunden, aber der Wunsch ist kein Bestandteil des Entschlusses. Es ist nicht leicht und eindeutig, zu entscheiden, welche Position Aristoteles’ Verständnis der Relation zwischen Entschluss und Wunsch oder allgemeiner Strebung am nächsten kommt oder sie sogar adäquat beschreibt. Es fehlen Textstellen, an denen er das Verhältnis genauer bestimmt; und die Aussagen, die sich zum Entschluss finden, sind erklärungsbedürftig und lassen sich nicht allesamt eindeutig miteinander vereinbaren. Mein Vorschlag hat Ähnlichkeit mit der ersten und der dritten Position. Die zweite Position halte ich für abwegig, da Aristoteles den Entschluss mehrfach explizit als orexis bezeichnet. Auch wenn nicht eindeutig ist, was für eine Art Strebung der Entschluss genau ist, so ist zumindest klar, dass Aristoteles ihn als eine Strebung auffasst. Schließlich ist der Entschluss handlungsmotivierend, und dafür muss er eine Strebung sein. Bevor ich meinen Vorschlag expliziere und an einem Beispiel illustriere, ist es hilfreich, zunächst die zweite (zu Beginn dieses Abschnitts genannte) Möglichkeit zu besprechen, wie der Suchprozess nach den geeigneten Wegen zur Verwirklichung eines gewünschten Ziels enden kann. Mündet ein Überlegungsvorgang in die Überzeugung, dass es entweder keine mögliche Handlung gibt, um ein ge Vgl. Mele 1984, 153 – 154. Mele führt diese Position an, ohne einen Vertreter zu nennen. Zur Veranschaulichung führt er den Vergleich mit dem Maulesel an, der ebenfalls weder Esel noch Pferd ist, aber auf beidem beruht. EN VI 2, 1139b4– 5: διὸ ἢ ὀρεκτικὸς νοῦς ἡ προαίρεσις ἢ ὄρεξις διανοητική […].
8.5 Die Relation zwischen Wunsch (boulêsis) und Entschluss (prohairesis)
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wünschtes Ziel zu erreichen, oder dass es zumindest keine geeignete Handlung gibt, so gibt man laut Aristoteles auf (aphistantai, EN 1112b25) – zu ergänzen ist hier wohl, dass man aufgibt, weiter zu überlegen, durch welche Handlung sich das Ziel des Wunsches erreichen lässt. Die meisten Autoren verstehen Aristoteles hier so, dass er meint, dass man gänzlich aufhört zu überlegen, wenn man auf etwas Unmögliches stößt. Kenny gibt zu bedenken, dass auch gemeint sein könnte, dass man die Suche nach geeigneten Wegen zum Ziel nicht völlig aufgibt, sondern andere Wege zu ermitteln versucht.⁹¹² Beide Deutungen sind vertretbar, und beide Möglichkeiten kommen sicher vor. Wozu Aristoteles an dieser Stelle allerdings nichts sagt, ist die Frage, was mit dem ursprünglichen Wunsch geschieht, wenn die Überlegung zu der Überzeugung führt, dass er sich durch keine mögliche Handlung realisieren lässt. Bleibt der Wunsch bestehen trotz der Einsicht, dass er etwas Unmögliches zum Gegenstand hat? Das Beispiel ließe sich auch noch variieren, indem die Überlegung über die möglichen Wege zu einem gewünschten Ziel zu dem Ergebnis führt, dass es keine geeignete Handlung gibt, durch die sich das Ziel erreichen lässt, d. h., dass die Person herausfindet, dass für die Erreichung des Ziels nur eine Handlung in Frage kommt, welche sie nicht bestrebt ist zu tun, weil sie sie z. B. als derart schmerzvoll und unangenehm empfindet, dass dies nicht durch das gewünschte Gut aufgewogen wird. Man kann hier an die ersten beiden Typen gemischter Handlungen denken, wie sie Aristoteles in EN III 1 beschreibt: Hier tut eine Person etwas, was sie unter normalen Umständen nicht tun würde, entweder weil sie dadurch ein größeres Übel vermeiden oder ein höheres Gut erreichen will.⁹¹³ Bleibt in solchen Fällen jeweils der ursprünglich gehegte Wunsch bestehen, obwohl die Person zu der Überzeugung gelangt ist, dass es keine geeignete Handlung zur Verwirklichung des gewünschten Ziels gibt, sondern etwas anderes stattdessen zu wählen ist? Mit diesen Fragen lässt sich m. E. umgehen, wenn man zwischen zwei Klassen von Wünschen unterscheidet. Wünsche der ersten Klasse nenne ich Wunschträume, Wünsche der zweiten Klasse bezeichne ich als realistische Wünsche. Der Wunsch nach Unsterblichkeit ist ein Wunschtraum, während der Wunsch, von seinen Zahnscherzen geheilt zu werden, ein realistischer Wunsch ist. Die Idee bei der Unterscheidung zweier Klassen von Wünschen ist, dass Wunschträume bestehen können, selbst wenn jemand überzeugt ist, dass sie nicht realisierbar sind, während realistische Wünsche nur so lange bestehen, wie eine Person deren Realisierung für möglich, d. h. für grundsätzlich in ihrer Macht stehend ansieht. Ob jemandes Wunsch ein Wunschtraum oder ein realistischer Wunsch ist, hat
Kenny 1979, 116; vgl. meine Anm. 700, S. 260. Vgl. Abschnitt „2.3.4 Typologie „gemischter Handlungen““.
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8 Bestimmung des Verhältnisses zwischen prohairesis und Wunsch (boulêsis)
Auswirkungen darauf, ob ein Wunsch handlungsmotivierend werden kann. Weiß eine Person, dass sie einen Wunschtraum hegt, ist nicht anzunehmen, dass sie Überlegungen zu dessen Realisierung anstellt. Hält eine Person den Gegenstand ihres Wunsches jedoch für möglich oder ist sich unsicher bezüglich dessen Realisierbarkeit, so ist anzunehmen, dass sie sich überlegt, auf welchem Weg das Ziel am besten zu erreichen ist. Findet sie dabei heraus, dass es keinen möglichen Weg gibt oder dass kein Mittel geeignet ist, um das gewünschte Ziel zu erreichen, so zeigt dies, dass der Wunsch nicht realistisch ist. In diesem Fall gibt die Person ihren Wunsch entweder auf, oder der Wunsch bleibt als Wunschtraum weiter bestehen. Es ist m. E. aber nicht sinnvoll, zu sagen, die Person habe nach wie vor einen realistischen Wunsch nach etwas, nachdem sie eingesehen hat, dass es keinen möglichen oder geeigneten Weg für sie gibt, den Wunsch zu realisieren. Die Mittel, die zur Realisierung eines Wunsches nötig sind, gehören somit implizit immer auch zum Gegenstand eines realistischen Wunsches. Erweisen sich die Mittel als unmöglich oder ungeeignet, so wird der Wunsch entweder aufgegeben oder bleibt als Wunschtraum bestehen. Das hat zur Folge, dass mit einem realistischen Wunsch immer auch implizit die möglichen Wege zur Realisierung des gewünschten Ziels mit-gewünscht werden, d. h., wenn eine Person etwas in dieser Weise wünscht, so wünscht sie implizit immer auch die möglichen geeigneten Mittel zur Verwirklichung mit. Wenn eine Person den realistischen Wunsch hat, von ihren Zahnschmerzen geheilt zu werden und sich eine schmerzvolle Operation beim Zahnarzt als das einzige Mittel dafür erweist, so heißt dies meinem Vorschlag zufolge, dass die Person auch die Operation wünscht, und zwar als das am besten geeignete Mittel, um ihr Ziel zu erreichen. Obwohl die Operation schmerzhaft ist und sie unter normalen Umständen nicht Gegenstand eines Wunsches wäre, so erstrebt die Person in dieser Situation die Operation, da sie um des gewünschten Ziels der Heilung willen geschieht. Mein Ansatz, mit der beschriebenen dilemmatischen Situation umzugehen, schließt an diese Überlegungen an. Er besteht in der Annahme, dass bei einem realistischen Wunsch, der etwas Allgemeines zum Gegenstand hat, immer auch implizit die möglichen Mittel, durch die sich das allgemeine Ziel realisieren lässt, mit-gewünscht werden. Wünschte man die Mittel zum Ziel nicht mit, so wünschte man auch das Ziel nicht wirklich, d. h. das Ziel wäre nicht Gegenstand eines realistischen Wunsches, sondern eines Wunschtraums. Dasjenige mit-gewünschte Mittel, das sich unmittelbar umsetzen lässt und das der erste Schritt auf dem Weg zur Verwirklichung des Ziels ist, ist Gegenstand des Entschlusses. Der Entschluss ist demnach die Strebung, deren Gegenstand der erste Schritt zur Realisierung des Ziels ist, das ein realistischer Wunsch zum Gegenstand hat. Das, was Gegenstand des Entschlusses wird, wird bereits implizit im Wunsch mit-gewünscht, der seinerseits das zum Gegenstand hat, zu dessen Verwirklichung der
8.5 Die Relation zwischen Wunsch (boulêsis) und Entschluss (prohairesis)
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Gegenstand des Entschlusses der erste Schritt ist. Ich will dies abschließend an einem Beispiel veranschaulichen. Nehmen wir an, eine Frau hege einen Kinderwunsch. Das Ziel ihres Wunsches, ein eigenes Kind zu haben, ist klarerweise etwas, was sich nicht unmittelbar erreichen lässt und was realistischer Wunsch vieler Frauen ist. Meine Annahme ist nun, dass eine Frau, wenn sie den Wunsch nach einem eigenen Kind hegt, dabei auch die möglichen Mittel, um diesen Wunsch zu verwirklichen, mitwünscht, d. h. sie wünscht, dass eine ihrer Eizellen befruchtet wird, dass sie neun Monate mit dem Kind schwanger sein wird, dass sie das Kind zur Welt bringen wird, etc.. Wünschte sie die Mittel nicht mit, d. h. lehnte sie es etwa ab, neun Monate Schwangerschaft auf sich zu nehmen, so wünschte sie sich nicht wirklich ein eigenes Kind, d. h. sie hätte keinen realistischen Wunsch nach einem eigenen Kind.⁹¹⁴ Zwar mag es sein, dass sich die Frau gleichwohl ein Kind wünscht, aber ohne den Wunsch, das Kind auch neun Monate in ihrem Bauch wachsen zu lassen, wäre dies m. E. kein realistischer Wunsch, sondern ein Wunschtraum. Ebenso kann auch eine Frau, die erfährt, dass sie unfruchtbar ist, gleichwohl den Wunsch nach einem eigenen Kind haben, dies wäre aber ebenfalls ein Wunschtraum. Hat die Frau eingesehen, dass es für sie unmöglich ist, ein Kind zu empfangen und auszutragen, führt ihr Kinderwunsch zu keinem Entschluss und wirkt somit nicht handlungsmotivierend. Findet eine Frau dagegen heraus, dass sie zwar auf natürlichem Wege kein Kind empfangen kann, dass dies aber mit Hilfe technischer Eingriffe wie einer Invitrofertilisation möglich sein könnte, so könnte sie sich zu diesem Vorgehen entschließen und die erforderlichen Schritte in die Wege leiten, um durch künstliche Befruchtung den Wunsch nach einem eigenen Kind zu realisieren. Sie könnte aber auch zu dem Entschluss kommen, die Behandlung abzubrechen und nicht die unter Umständen einzige mögliche Handlung ausführen, die zur Erfüllung ihres Wunsches nötig wäre. Hat die Frau diesen Entschluss gefasst, so kann sie zwar nach wie vor den Wunsch nach einem eigenen Kind hegen, dies wäre aber ein Wunschtraum und kein realistischer Traum, da sie nicht die notwendigen und geeigneten Mittel zu dessen Realisierung mitwünscht. Dass der ursprüngliche Wunsch impliziert, dass diejenigen Schritte mit-gewünscht werden, die zur Verwirklichung des gewünschten Ziels notwendig sind, heißt also, dass alle zur Realisierung des Ziels notwendigerweise zugehörigen Schritte mit-gewünscht werden. Freilich ist es oft der Fall, dass jemand schon dabei ist, die ersten notwendigen Schritte zur Realisierung eines Ziels in die Tat umzusetzen und erst im Laufe dessen realisiert, worin die weiteren erforderlichen
Ich sehe hier von der heute denkbaren Möglichkeit einer Leihmutterschaft ab.
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8 Bestimmung des Verhältnisses zwischen prohairesis und Wunsch (boulêsis)
Schritte bestehen, was diese möglicherweise bedeuten und weiter implizieren. So kann es gewiss vorkommen, dass eine Person erst im Zuge seines Handelns gewahr wird, dass sie anfangs keine realistische Vorstellung davon hatte, was ihr Wunsch tatsächlich als notwendige Teil-Schritte impliziert. An diesem Punkt ist zweierlei denkbar. Entweder akzeptiert die Person auch die notwendigen Schritte, über deren Tragweite sie sich erst während ihres Handelns bewusst geworden ist, weil auch diese nichts an ihrem Wunsch nach dem ursprünglichen Ziel ändern. Oder aber sie gibt ihr erstrebtes Ziel auf, weil sie die erforderlichen Schritte nicht auf sich zu nehmen bereit ist. In diesem Fall ist sich die handelnde Person darüber klargeworden, dass sie die Schritte, die für die Verwirklung des Ziels notwendig sind, nicht mit-gewünscht hat, so dass sie zu der Einsicht kommen muss, dass das ursprüngliche Ziel für sie keinen realistischen Wunsch, sondern allenfalls einen Wunschtraum darstellt.
9 Bestimmung des Verhältnisses der prohairesis zur Charaktertugend: Eudemische Ethik II 10, 1227a31-b11 und 11, 1227b12 – 1228a19 Die verbleibenden Abschnitte aus der EE lassen sich in drei größere Sinneinheiten aufteilen. Ich beginne mit dem letzten Abschnitt von Kapitel 10, dessen Kommentierung durch die Erörterung des Wunsches unterbrochen wurde. Anschließend verdient insbesondere der erste Teil von Kapitel 11 eine gründliche Betrachtung, weil er Wichtiges zum Verhältnis von Entschluss und Tugend enthält, wozu sich keine Entsprechung in EN III findet. Nach der Behandlung der zentralen Kapitel zum Entschluss in EE II und EN III will ich zum Abschluss der Behandlung von Aristoteles’ Bestimmung der prohairesis noch einige übergeordnete Leitfragen erörtern.
9.1 Die Charaktertugend ist eine Mitte zwischen zwei entgegengesetzten Extremen (EE 1227a31 – b11) Im Abschnitt „8.3 Das von Natur aus Gute und das scheinbar Gute in der EE (EE 1227a18 – 31)“ habe ich die Textpassage kommentiert, in der Aristoteles einen Vergleich zwischen Wissen und Wunsch anstellt, insofern sich beide auf Entgegengesetztes beziehen. Anhand dieser gegensätzlichen Bezugsgrößen unterscheidet er zwischen dem, worauf sich Wissen und Wunsch von Natur aus beziehen, und dem, worauf sie sich entgegen ihrer Natur beziehen. Von Natur aus bezieht sich der Wunsch auf das wahrhaft Gute, entgegen seiner Natur bezieht er sich auf das scheinbar Gute, das in Wahrheit schlecht ist. Im verbleibenden Teil von Kapitel 10 führt Aristoteles den Vergleich zwischen Wunsch und Wissen noch weiter, indem er diesen widernatürlichen Zustand näher erläutert. Er rekurriert dafür auf eine allgemeine Theorie von Veränderung, derzufolge eine Veränderung stets von einem Zustand ausgeht und hin zu einem entgegengesetzten oder dazwischenliegenden Zustand – und nicht etwa hin zu einem beliebigen Zustand – erfolgt.⁹¹⁵ So ist z. B. etwas, das hell wird, vorher dunkel oder etwas zwischen hell
Vgl. Cael. IV 3, 310a23 – 27: „Da nämlich die Veränderungen drei an der Zahl sind (nämlich diejenige nach der Größe, diejenige nach der Form und diejenige nach dem Ort), beobachten wir bei jeder dieser (drei), dass die Veränderung von den Gegensätzen ausgeht und zu den Gegensätzen und dem Dazwischenliegenden führt und sich nicht von einem beliebigen Ausgangspunkt zu einem beliebigen Ziel hin vollzieht.“ Vgl. auch Phys. I 5, 188a30-b26. https://doi.org/10.1515/9783110517583-011
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9 Bestimmung des Verhältnisses der prohairesis zur Charaktertugend
und dunkel gewesen. Ist die Veränderung eine Zerstörung (phthora), so geschieht sie vom guten Zustand hin zu einem schlechten. So erfolgt z. B. die Zerstörung der Gesundheit hin zur Krankheit oder hin zu einem Zustand zwischen Gesundheit und Krankheit. Die allgemeine Theorie der Zerstörung bringt Aristoteles unvermittelt in Verbindung mit einer Theorie der Täuschung (apatê): Auch für Täuschung, also das Fürfalschhalten eines wahren Sachverhalts, gilt, dass es sich auf das (dem Wissen über den Sachverhalt) Entgegengesetzte bezieht. Dass Aristoteles derart selbstverständlich von der Zerstörung zur Täuschung übergeht, lässt sich so verstehen, dass er damit eine Analogie zwischen einer ontologischen und einer epistemologischen Annahme aufstellen will: Ebenso wie die Zerstörung eines guten Zustands nicht zu einem beliebigen Zustand hin, sondern zu einem entgegengesetzten hin geschieht, so bezieht sich auch die Täuschung über einen wahren Sachverhalt nicht auf Beliebiges, sondern besteht ebenfalls im Fürwahrhalten des dem Wissen entgegengesetzten Sachverhalts. Anschließend überträgt Aristoteles die Beschreibung der Täuschung auf den Entschluss (prohairesis) und verbindet dadurch die Diskussion zu Veränderung, Zerstörung und Täuschung wieder mit dem Thema von Tugend und Schlechtigkeit. Der Entschluss verhält sich laut Aristoteles insofern gleich wie die Täuschung, als beide vom Mittleren (to meson) weg und hin zu entgegengesetzten Dingen erfolgen. Das Mittlere stellt den wahren Sachverhalt bzw. das wahrhaft Gute dar. Eine Täuschung weicht davon ab, wenn sie sich auf etwas bezieht, das dem Mittleren entgegengesetzt ist und das fälschlicherweise gut zu sein scheint. Entsprechend geht der Entschluss fehl, wenn er nicht das Mittlere trifft, sondern sich auf ein Mehr oder Weniger in Relation zum Mittleren richtet (1227a37– 38). Das, was das Mittlere über- oder unterschreitet, ist diesem entgegengesetzt. Es ist nur scheinbar gut, tatsächlich ist es schlecht, während das Mittlere das Gute darstellt. Im nächsten Schritt erläutert Aristoteles die Ursache dafür, dass das dem Mittleren Entgegengesetzte irrtümlicherweise für gut gehalten wird. Verantwortlich für das Abweichen des Entschlusses von der richtigen Mitte sind das Lustvolle und das Schmerzvolle. Denn es ist möglich, dass etwas, das dem Mittleren entgegengesetzt ist, jemandem lustvoll zu sein scheint und deshalb zu Unrecht für gut gehalten wird (oder schmerzvoll zu sein scheint und deswegen zu Unrecht für schlecht gehalten wird): In diesem Fall wird jemand durch etwas scheinbar Lustvolles oder Schmerzvolles getäuscht und entschließt sich aufgrund dieses Irrtums zu etwas Schlechtem, das der richtigen Mitte entgegengesetzt ist. Damit ist freilich nicht ausgeschlossen, dass etwas Lustvolles auch zu Recht als lustvoll erscheint und zutreffenderweise für gut gehalten wird. Aristoteles sagt selbst, dass die Tugend es mit Freude (hêdonê) und Schmerz (lypê) zu tun hat (1227b5 – 6).
9.2 Die Tugend macht das Ziel und den Entschluss richtig (EE 1227b12 – 25)
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Das Mittlere ist das wahrhaft Lustvolle, das dem Tugendhaften als lustvoll erscheint und das dieser zu Recht für gut hält. Übermaß und Mangel können dagegen jemandem, der nicht tugendhaft ist, zu Unrecht als lustvoll bzw. schmerzvoll erscheinen und irrtümlicherweise für gut bzw. für schlecht gehalten werden. Hierin besteht das Laster bzw. die charakterliche Schlechtigkeit. Kapitel 10 endet mit einer allgemeinen Charakterisierung der Tugend, die Ergebnisse der vorangegangenen Diskussion zusammenträgt: Aristoteles bestimmt die Charaktertugend als eine Mitte, die es mit Freude und Schmerz zu tun hat. Sie ist eine Haltung, die sich in Entschlüssen äußert, die sich auf die Mitte im Bereich der für uns lustvollen und schmerzhaften Dinge bezieht. Diesen Gegenstandsbereich präzisiert er nochmals dahingehend, dass es sich um Dinge handeln muss, nach denen sich der Charakter einer Person bestimmen und beurteilen lässt. Damit sollen Dinge ausgeklammert sein, die etwa Sache des Geschmacks oder anderer Vorlieben sind, wie z. B. ob jemand Süßes oder Bitteres für lustvoll hält. Allerdings gibt Aristoteles keinerlei Kriterium dafür an, welche Art von Empfindungen über Lustvolles und Schmerzvolles aufschlussreich sind für die Frage nach der charakterlichen Verfasstheit einer Person und welche demgegenüber irrelevant sind.
9.2 Die Tugend macht das Ziel und den Entschluss richtig (EE 1227b12 – 25) Das letzte Kapitel von EE II sticht aus verschiedenen Gründen hervor und verdient besondere Aufmerksamkeit. Das Kapitel hat keine direkte inhaltliche Entsprechung in EN III.⁹¹⁶ Es hat aber Berührungspunkte zu Ausführungen in EN VI und VII, also in zwei der gemeinsamen Bücher.⁹¹⁷ Außerdem bereitet der Text von Kapitel 11 z.T. große Schwierigkeiten, da manche Formulierungen stark komprimiert und bisweilen obskur sind, so dass verschiedene Emendationen vorgeschlagen worden sind und kaum eine Übersetzung frei von Problemen ist. Das Kapitel greift Dinge auf, die zuvor zur Sprache gekommen sind, ohne dass aber ein expliziter Rückbezug erfolgt. Woods beschreibt das Kapitel daher als einen lose hinzugefügten Appendix.⁹¹⁸ Das Kapitel ist jedoch für das Verständnis des Entschlusses von großem Interesse. Aristoteles gibt hier Hinweise zur Frage, worauf Woods 2005, 152; Kenny 1979, 81. Auch die Diskussion in den MM (1190a9-b6) hat enge Berührungspunkte mit den Ausführungen in EE II 11. Darauf werde ich jeweils an geeigneter Stelle eingehen (vgl. dazu auch Dirlmeier 1983, 261– 270 sowie Simpson 2014, 131– 135). Woods 2005, 151.
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sich der Entschluss bezieht und wonach sich Entschlüsse individuieren lassen, und er äußert sich über das Verhältnis von Tugenden und Schlechtigkeiten zum Entschluss, wie er es in dieser Weise und Deutlichkeit an keiner anderen Stelle tut. Das Kapitel 11 lässt sich in drei Abschnitte unterteilen, wobei die ersten beiden (1227b12– 25 und 1227b25 – 1228a2) thematisch eng zusammenhängen und für meine Fragestellung besonders wichtig sind. Hier geht es um die Relation von Charaktertugend und Entschluss. Der dritte und letzte Abschnitt (1228a2– 19) knüpft an das Ergebnis dieser Diskussion an und bezieht es auf die aktuelle Praxis des Lobens und Tadelns von Tugenden und Lastern. Der erste Abschnitt (1227b12– 25) lässt sich nochmals in vier Teile untergliedern. Im ersten (1227b12– 15) und vierten (1227b22– 25) stellt Aristoteles zwei Entscheidungsfragen, im zweiten Teil (1227b15 – 19) stellt er eine Überlegung zum Unterschied von Beherrschtheit (enkrateia) und Tugend an, der sich offenbar eine Antwort auf die erste Frage entnehmen lassen soll, und im dritten Teil (1227b19 – 22) kündigt er eine Schwierigkeit an, deren Relevanz und Bezug zur übrigen Diskussion prima facie nicht ganz deutlich werden. Die beiden Entscheidungsfragen in 1227b12 – 15 und 1227b22– 25 lassen sich folgendermaßen paraphrasieren: 1. (a) Macht (poiei) die Tugend (aretê) den Entschluss (prohairesis) fehlerfrei und das Ziel (telos) richtig (orthos), oder (b) macht die Tugend die Vernunft (logos) richtig? 2. (c) Macht die Tugend das Ziel (skopos) richtig oder (d) macht die Tugend die Dinge, die zum Ziel führen (ta pros ton skopon), richtig?
Zunächst sind einige Bemerkungen zum Verständnis der beiden Entscheidungsfragen nötig. Erstens geht aus dem Kontext hervor, dass unter Tugend hier und im ganzen Kapitel 11 jeweils Charaktertugend zu verstehen ist. Zweitens sind bei der ersten Frage die beiden Optionen, die für die erste Alternative (a) genannt werden, offenbar als gleichbedeutend aufzufassen: Dass ein Ziel richtig ist, heißt, dass ein Entschluss ohne Fehler bzw. richtig, ist, wobei die Richtigkeit eines Entschlusses im folgenden explikativen Nebensatz nochmals präzisiert wird. Die Option, nach der in (a) gefragt wird, ist also, ob die Tugend einen Entschluss insofern richtig macht, als das Worumwillen des Entschlusses richtig ist.⁹¹⁹ Die Option (c), die in der zweiten Entscheidungsfrage genannt wird, ist anscheinend identisch mit Option (a) der ersten Frage, da „σκόπος“ und „τέλος“ austauschbare Bezeich-
Dass mit dem Nebensatz diese präzisierende Erläuterung gegeben werden soll, legt die Schlussfolgerung in 1228a1– 2 nahe: „[…] dass aber das Ziel des Entschlusses richtig ist, davon ist die Tugend die Ursache.“ Vgl. auch Woods 2005, 152.
9.2 Die Tugend macht das Ziel und den Entschluss richtig (EE 1227b12 – 25)
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nungen für Ziel sind.⁹²⁰ Zu prüfen ist, ob und ggf. inwiefern sich die jeweiligen zweiten Optionen (b) und (d) unterscheiden. Drittens gehe ich davon aus, dass die Entscheidungsfragen so zu verstehen sind, dass sie die Wahl zwischen zwei Alternativen bieten, von denen eine zutreffend ist. Daraus folgt, dass sich aus der Falschheit einer Option auf die Wahrheit der Alternative schließen lässt. Für diese Annahme spricht, dass Aristoteles sich jeweils mit der Widerlegung einer Option begnügt und die andere Option nicht in Frage stellt.Viertens ist zu beachten, dass ich „λόγος“ in diesem Zusammenhang mit „Vernunft“ übersetze und nicht mit „Überlegung“, was naheliegen könnte, da „λόγος“ hier in Verbindung mit „ὀρθός“ steht und dies oft mit „richtiger Überlegung“ wiedergegeben wird. Gegen die Übersetzung „Überlegung“ spricht aber, dass dies im Deutschen leicht zu einer Vermengung mit Überlegung im Sinn einer bouleusis führen könnte. Das wäre irreführend, da es – wie ich im Weiteren zeigen möchte – bei den jeweiligen zweiten Optionen der beiden Entscheidungsfragen gerade um den Unterschied geht zwischen einerseits einer richtigen Überlegung (bouleusis), die auf die Mittel gerichtet ist, die zum Ziel führen, und andererseits der richtigen Vernunft (logos), die das Ziel betrifft.⁹²¹ Zur besseren Übersicht will ich eine kurze Darstellung vorausschicken, wie ich die Argumentation im Ganzen verstehe. Aristoteles’ Ziel in der Passage ist es, zu begründen, weshalb er die Alternative, die in (a) und (c) formuliert wird, für zutreffend hält. Dies tut er in zwei Schritten auf unterschiedliche Weise. Die Alternative (d), derzufolge die Tugend die Dinge, die zum Ziel führen, richtig macht, hält er für falsch, und er gibt im Anschluss an die Frage in b22– 25 einen Grund dafür an: Um das Ziel richtig zu machen, ist Tugend notwendig, denn das Ziel lässt sich nicht durch Vernunft und Überlegung erreichen. Daraus scheint er zu folgern, dass demgegenüber die Dinge, die zum Ziel führen, durch Vernunft und Überlegung erreicht werden, so dass dafür die Tugend nicht erforderlich ist. Diese Folgerung ist nicht überraschend angesichts dessen, was Aristoteles in Kapitel 10
So auch Woods 2005, 153: „The first alternative of the question at b12– 15 is clearly the same as that of the present one [i. e. the second question in b22– 23; BL] […].“ Im Englischen lässt sich dieser Unterschied mit dem Ausdruckspaar „reason“ (für logos) und „reasoning“ (für bouleusis) wiedergeben. Unter einem „correct reasoning“ ist dabei zu verstehen, dass die richtigen Mittel gefunden werden, die zu einem vorgegebenen Ziel führen. Über diese Fähigkeit können auch der Unbeherrschte und sogar der Unmäßige verfügen. Eine „correct reason“ kommt dagegen nur jenen zu, die das richtige Ziel erfassen, wie z. B. dem Beherrschten und dem Mäßigen.
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zur Überlegung gesagt hat.⁹²² Mit der Ablehnung von (d) ergibt sich, dass Alternative (c) richtig ist. Damit trifft auch Option (a) zu, die mit (c) identisch ist. Aristoteles’ Umgang mit Alternative (b) ist dagegen weniger direkt und eindeutig. Er zieht hierfür einen Vergleich zwischen Tugend und Beherrschtheit heran, der erläuterungsbedürftig ist. Der Vergleich dient m. E. dazu, zu zeigen, dass Option (b) in Aristoteles’ Augen zwar nicht falsch ist, dass die richtige Vernunft aber nicht hinreichend ist für Tugend. Alternative (a) enthält somit eine anspruchsvollere Bedingung als (b), die darin zum Ausdruck kommen soll, dass die Tugend das Ziel bzw. das Worumwillen des Entschlusses richtig macht. Was dieses zusätzliche Erfordernis der Tugend sein soll, das über die richtige Vernunft hinausgeht, sagt Aristoteles an dieser Stelle freilich nicht. Es liegt aber wegen der Abgrenzung von der Beherrschtheit nahe, dabei an die richtige Ausrichtung der Begierden zu denken: Im Unterschied zum Beherrschten empfindet der Tugendhafte keine Strebungen, die seiner richtigen Vernunft entgegenstehen, sondern seine Strebungen konvergieren mit seiner Vernunft. Nach meinem Verständnis unterscheiden sich also die Optionen (b) und (d), was auch anzunehmen ist, weil Aristoteles andernfalls zweimal dieselbe inhaltliche Frage stellte und rätselhaft bliebe, wozu die Bemerkungen dazwischen dienen sollen. Bei Option (d) geht es um die Frage, ob die Tugend dafür verantwortlich ist, die richtigen Mittel zu finden, um ein Ziel zu erreichen. Das schließt Aristoteles aus, weil dafür die Überlegung zuständig ist. Um einzusehen, wie Option (b) zu verstehen ist, muss geklärt werden, was mit dem Vergleich zwischen Tugend und Beherrschtheit gezeigt werden soll. Aristoteles reagiert hier auf Vertreter der Ansicht, dass die Tugend die Vernunft bzw. dass die Vernunft die Tugend richtig macht. In der Literatur wird diese Position meist mit Sokrates oder anderen Anhängern des sog. „Sokratischen Intellektualismus“ in Verbindung gebracht, wonach Tugend mit Wissen zu identifizieren ist.⁹²³ Dass die Vernunft richtig ist und über Wissen verfügt, ist dieser Auffassung zufolge notwendig und hinreichend für Tugend. Aristoteles lehnt die Identifizierung von Tugend und richtiger Vernunft ab, weil für ihn die richtige Vernunft nur für Beherrschtheit hinreicht, nicht aber für Tugend.⁹²⁴ Beherrschtheit ist zwar auch eine lobenswerte Charak-
Vgl. EE II 10, 1226b9 – 12 und 1227a5 – 18; siehe auch Abschnitte „6.3 Positive Bestimmung des Gegenstandes der Überlegung (EN 1112a30-b11 resp. EE 1226a17-b2 passim und 1226b9 – 20 passim)“ und „6.4 Der Prozess des Überlegens (EN 1112b11– 1113a2 resp. EE 1226b9 – 1227a5 und 1227a5 – 18 passim und 1227b25 – 33)“. Vgl. Dirlmeier 1969, 303; Woods 2005, 154. Aristoteles verweist in 1227b16 – 17 auf eine spätere Diskussion zu Beherrschtheit und Unbeherrschtheit. Er hatte zuvor in EE II 7 das Thema bereits behandelt, allerdings auf eine dialektische Weise, die zu keinem klaren Ergebnis geführt hat. In der EE folgt keine weitere Be-
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terhaltung, weil die Vernunft des Beherrschten nicht von der guten Mitte zu einem entgegengesetzten Zustand hin verkehrt ist, sondern das Richtige trifft. Aber Beherrschtheit ist für Aristoteles gleichwohl keine Tugend. Sie ist keine Tugend, weil der Beherrschte Begierden empfindet, die seiner richtigen Vernunft entgegenstehen. Tugendhaftigkeit setzt aber nicht nur richtige Vernunft voraus, sondern erfordert auch die richtige Ausrichtung der Begierden, d. h. die Übereinstimmung der Begierden mit der richtigen Vernunft. Beherrschtheit und Tugend sind insofern gleich beschaffen, als beide mit richtiger Überlegung (bouleusis) einhergehen. Dies zeigt, weshalb sich die Optionen (b) und (d) unterscheiden: Option (d) betrifft die Frage, ob jemand aufgrund seiner Charakterhaltung die richtigen Mittel für ein Ziel findet, während Option (b) der Frage gilt, ob jemand dank seines Charakters das richtige Ziel trifft. Die Fähigkeit, die richtigen Mittel für ein Ziel zu finden, ist indes nicht einmal hinreichend für Beherrschtheit. Denn auch der Unbeherrschte aus Schwäche ist in der Lage, richtig zu überlegen, um die geeigneten Mittel für sein Ziel zu finden.⁹²⁵ Deswegen lehnt Aristoteles Option (d) ab. Darüber hinaus sind Beherrschtheit und Tugend aber auch insofern gleich beschaffen, als beide – im Unterschied zur Unbeherrschtheit – mit richtiger Vernunft (logos) einhergehen, wobei die richtige Vernunft (logos resp. reason) über das richtige Überlegen (bouleusis resp. reasoning) in Bezug auf die Mittel hinausgeht. Beherrschtheit geht in dem Sinn mit richtiger Vernunft einher, als der Beherrschte das Ziel epistemisch richtig erfasst. In EN VII stellt Aristoteles den Beherrschten als jemanden hin, der über die richtige Vernunft und den richtigen Entschluss verfügt und danach handelt.⁹²⁶ Richtige Vernunft impliziert demnach einen richtigen Entschluss, dem eine Per-
handlung. Die ausführlichste Auseinandersetzung mit Beherrschtheit und Unbeherrschtheit kommt in EN VII vor, also einem der gemeinsamen Bücher; es ist denkbar, dass Aristoteles hier auf diese Textstelle anspielt. Vgl. EN VII 8, 1150b19 – 21; Kenny 1979, 83 – 84: „An incontinent man may differ from a virtuous man at the level of desire and of action, while being no different from him at the level of reason. But this is true only of one kind of incontinent […]: the weak-willed people who reason correctly but fail to abide by their reasonings (ἀσθενεῖς), who are contrasted with the headstrong incontinents (προπετεῖς), whose passions are so strong that they are led astray by passion without deliberating at all (1150b19 ff.).“ Vgl. auch Woods 2005, 153: „[…] correct reasoning is compatible with incontinence, when the results of such reasoning are not acted on, and even with intemperance (akolasia), where the reasoning is directed towards the wrong end.“ Vgl. EN VII 3 und 10, 1146a16 – 18 und 1151a29-b4; hier: 1151a29 – 30: „Ist nun derjenige beherrscht, der bei jeder beliebigen Überlegung und jedem beliebigen Entschluss oder wer beim richtigen Entschluss bleibt […]?“. Aristoteles gibt zwar an dieser Stelle keine direkte Antwort auf die Frage, aber der Fortlauf des Textes macht deutlich, dass er meint, dass der Beherrschte bei der richtigen Überlegung und dem richtigen Entschluss bleibt.
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son in ihren Handlungen folgt. Richtige Vernunft ist dabei nicht nur dem Beherrschten, sondern auch dem Tugendhaften zuzuschreiben. Aristoteles’ Haltung gegenüber Option (b) ist somit differenziert zu betrachten: Wenn damit danach gefragt werden soll, ob richtige Vernunft hinreichend ist für Tugend, so verneint er die Frage. Wenn die Frage aber so zu verstehen ist, dass zu prüfen ist, ob Tugend impliziert, dass jemand über die richtige Vernunft verfügt, so kann er eine zustimmende Antwort m. E. nicht ablehnen. Denn Tugendhaftigkeit impliziert, dass jemand über die richtige Vernunft und die richtigen Entschlüsse verfügt. An dieser Stelle ist Aristoteles darüber hinaus indes darum bemüht, deutlich zu machen, dass die richtige Vernunft noch nicht hinreichend für Tugend ist.⁹²⁷ Freilich sagt er an dieser Stelle nichts dazu, was den Unterschied zwischen dem Beherrschten und dem Tugendhaften ausmacht. Aus den Ausführungen in EN VII geht aber hervor, dass dem Beherrschten die richtige Ausrichtung der Begierden fehlt, um tugendhaft zu sein.⁹²⁸ Mit anderen Worten: Der Beherrschte ist im Gegensatz zum Tugendhaften nicht in der Lage, die Ziele auch motivational richtig zu erfassen. Man könnte meinen, diese Deutung führe zu einer Schwierigkeit: Nach meiner Darstellung geben die Alternativen (a) und (b) mögliche Antworten auf die Frage an, was hinreichend für Tugend ist. Option (b) gibt mit der richtigen Vernunft zwar ein Kriterium an, das auch auf Tugend zutrifft, das aber nicht ausreicht, um Tugend von Beherrschtheit zu unterscheiden. Es ist daher anzunehmen, dass Option (a) ein Merkmal angibt, das nur auf Tugend zutrifft und das lautet, dass das Ziel und der Entschluss richtig sind. Ein Problem scheint sich zu ergeben, weil Aristoteles auch für den Beherrschten annimmt, dass er über einen richtigen Entschluss verfügt. Es erscheint daher fraglich, inwiefern in Option (a) mit dem Richtig-Machen des Ziels und des Entschlusses überhaupt ein anspruchsvolleres Kriterium angegeben wird als mit der richtigen Vernunft in Alternative (b). An dieser Stelle gibt Aristoteles keinen Hinweis, der hilft, diese Frage zu beantworten. Aufschlussreich ist die Beschreibung des Mäßigen in EN III 15,
Im Ganzen folge ich mit meiner Deutung weitgehend der Darstellung bei Woods. Er bringt dieses Verständnis der Argumentationslinie folgendermaßen auf den Punkt (Woods 2005, 154): „We have to suppose that the question raised at b12– 15 concerns a choice between rival accounts of that virtue consists in. Although ‚makesʻ suggests that what is in question is simply alternative theses about what virtue is a sufficient condition for, on the view adopted the point at issue will be rather the converse: Is correctness of reasoning sufficient for virtue?“. EN VII 10, 1151b34– 1152a3: „Denn der Beherrschte ist wie der Mäßige in der Lage, nichts aufgrund der körperlichen Lust gegen die Überlegung zu tun; dabei hat der eine schlechte Begierden, der andere nicht, und der eine ist so beschaffen, dass er nicht Lust gegen die Überlegung empfindet, der andere so, dass er dies tut, aber nicht von der Lust geleitet wird [Übersetzung nach Wolf].“
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die helfen kann, den Unterschied zwischen dem Mäßigen und dem Beherrschten zu bestimmen: [EN III 15, 1119b15 – 18]⁹²⁹ Deshalb muss der begehrende [Seelenteil; BL] des Mäßigen mit der Vernunft übereinstimmen; das Ziel für beide ist nämlich das Schöne, und der Mäßige begehrt die Dinge, die man begehren soll, und wie man soll und wann; so ordnet es auch die Vernunft an.
Man könnte vermuten, dass der Mäßige sich vom Beherrschten dadurch abhebt, dass jener sich um des Schönen willen entschließt und handelt, während der Beherrschte nicht das Schöne zum Ziel seines Handelns hat. So setzt Müller beispielsweise das Sich-Entschließen und das Handeln um des Schönen willen damit gleich, dass eine Person begehrt, so zu handeln, wie es die richtige Vernunft vorschreibt.⁹³⁰ Das Schöne zum Ziel seines Handelns zu haben, setzte dann nicht nur voraus, dass eine Person sich zu den richtigen Handlungen entschließt, sondern erforderte zudem, dass sie diese Handlungen auch begehrt. Es lässt sich aber bezweifeln, ob dies tatsächlich die richtige Deutung des Unterschieds zwischen dem Mäßigen und dem Beherrschten ist. Denn insofern der Beherrschte auch über die richtige Vernunft und den richtigen Entschluss verfügt, trifft auch auf ihn zu, dass er um des Schönen willen handelt und er sich um dessentwillen entschließt. Die Passage in EN III 15 macht dagegen deutlich, dass die Differenz zwischen dem Mäßigen und dem Beherrschten darin besteht, dass auch der begehrende Seelenteil das Schöne zum Ziel hat. Den Mäßigen zeichnet es gegenüber dem Beherrschten aus, dass das Schöne auch Ziel seines begehrenden Seelenteils ist. Tugendhaftes Handeln verlangt also mehr, als dass eine Person nach der richtigen Vernunft handelt und das Schöne Ziel ihres vernünftigen Seelenteils ist. Tugendhaftigkeit ist erst dann erreicht, wenn auch der begehrende Seelenteil das Schöne zu seinem Ziel hat und Vernunft und nicht-rationales Streben übereinstimmen. Zur aufgeworfenen Schwierigkeit ist demnach zu sagen, dass ohne weitere Erläuterung tatsächlich nicht zu erkennen ist, dass mit dem Richtig-Machen des Ziels und des Entschlusses, ein anspruchsvolleres Kriterium angegeben
EN III 15, 1119b15 – 18: διὸ δεῖ τοῦ σώφρονος τὸ ἐπιθυμητικὸν συμφωνεῖν τῷ λόγῳ· σκοπὸς γὰρ ἀμφοῖν τὸ καλόν, καὶ ἐπιθυμεῖ ὁ σώφρων ὧν δεῖ καὶ ὡς δεῖ καὶ ὅτε· οὕτω δὲ τάττει καὶ ὁ λόγος. Diese Auffassung vertritt offenbar Müller, der Entschließen und Handeln um des Schönen willen als hinreichend für tugendhaftes Handeln ansieht. Vgl. Müller 2008, 74: „In deciding for a virtuous action the virtuous agent does not merely assent to an initial non-rational desire seeing that it is aimed at the right sort of thing. The virtuous agent finds it pleasant to act for the right reason and insofar he does so his appetites also aim at acting in that way. Now Aristotle’s way to express this is to say that when the virtuous agent decides for and does the action for the sake of the fine.“ [Hervorhebung BL].
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wird als mit der richtigen Vernunft, da beides auch auf den Beherrschten zutrifft. Das Kriterium eignet sich nur dann zur Abgrenzung des Mäßigen vom Beherrschten, wenn im Sinn von EN III 15 ergänzt wird, dass beim Mäßigen auch der begehrende Seelenteil nach dem Schönen strebt. Im weiteren Textverlauf betrachtet Aristoteles das Verhältnis von Tugend und Entschluss weiter. Aus der Diskussion zur ersten Entscheidungsfrage ist festzuhalten, dass er der Tugend zuschreibt, das Worumwillen des Entschlusses richtig zu machen. Das ist bedeutsam, weil Aristoteles damit zu verstehen gibt, dass zur Bestimmung eines Entschlusses auch das Ziel gehört und nicht nur die Dinge, die zum Ziel führen. Wie dies genau zu verstehen ist, lässt sich anhand des zweiten Textabschnitts erörtern. Einen Hintergrund für diese Diskussion liefert die Bemerkung in b19 – 22, die ich bisher unkommentiert gelassen habe. Aristoteles unterscheidet hier drei mögliche Fälle, wie Fehler beim praktischen Überlegen auftreten können: So kann man erstens beim Ziel fehlgehen, zweitens bezüglich der Dinge, die zum Ziel führen, oder drittens sowohl in Bezug auf das Ziel als auch in Hinblick auf die Dinge, die zum Ziel führen.⁹³¹ Aristoteles führt diese Trias als Schwierigkeit ein, erläutert aber nicht, worin er eine Schwierigkeit sieht oder wie sie sich lösen ließe. Der Zweck, die Unterscheidung an dieser Stelle einzuführen, liegt offenbar darin, dass Aristoteles im nächsten Abschnitt den Entschluss dadurch von der Tugend abgrenzt, dass der Entschluss sich auf die Dinge, die zum Ziel führen, bezieht, während die Tugend sich auf das Ziel bezieht, so dass Fehler bezüglich der Dinge, die zum Ziel führen, dem Entschluss zuzuschreiben sind, während Fehler bezüglich des Ziels auf die Tugend zurückzuführen sind. Ob diese Annahme haltbar ist, wird sich im nächsten Abschnitt zeigen.
9.3 Das Verhältnis von Tugend und Entschluss (EE 1227b25 – 1228a2) Der Fortlauf des Textes knüpft an die Annahme an, dass die Tugend das Ziel richtig macht und nicht die Dinge, die zum Ziel führen. Zur Untermauerung dieses Schlusses zieht Aristoteles einen Vergleich zwischen praktischem und theoretischem Überlegen. Der Vergleich zielt darauf ab, dass theoretisches wie praktisches Überlegen nicht das Ziel zum Gegenstand haben. Vielmehr haben beide Arten des Überlegens ein Ziel zur Voraussetzung, von dem die Überlegung ausgeht. Beim praktischen Überlegen ist ein Ziel vorgegeben. Aristoteles zieht hier als
Die gleiche Unterscheidung trifft Aristoteles auch in der Politik, behandelt sie dort aber nicht als theoretisches Problem; vgl. Pol. VII 13, 1331b26 – 32.
9.3 Das Verhältnis von Tugend und Entschluss (EE 1227b25 – 1228a2)
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Beispiel wiederum Kunstfertigkeiten heran, bei denen die technê das jeweilige Ziel festlegt, wie z. B. die Medizin als Ziel die Gesundheit vorgibt. Die Überlegung hat sodann die Realisierungsbedingungen für das Ziel zum Gegenstand, d. h. ihre Aufgabe ist das Auffinden der am besten geeigneten Mittel, um das Ziel zu erreichen. Beim theoretischen Überlegen dienen Hypothesen (hypotheseis) als Ausgangspunkt. Unter einer Hypothese ist vermutlich eine Annahme zu verstehen, die bewiesen werden soll, und nicht ein Axiom, aus dem etwas abgeleitet wird.⁹³² Für dieses Verständnis sprechen das erwähnte Beispiel, das in der aristotelischen Geometrie kein Axiom ist, und die Beschreibung, die Aristoteles anhand dieses Beispiels vom Gegenstand der theoretischen Überlegung gibt: Wenn das Dreieck zwei rechte Winkel haben soll, dann ist es notwendig, dass das und das der Fall ist. Nach den Bedingungen zu suchen, die notwendig sind, damit das Angenommene der Fall ist, bedeutet, einen Beweis für die Annahme zu liefern. Nach diesem Vergleich kommt Aristoteles darauf zurück, dass verschiedene Arten von Richtigkeit⁹³³ zu unterscheiden sind, nämlich Richtigkeit des Ziels und Richtigkeit der Dinge, die zum Ziel führen. Ferner äußert er die Vermutung, dass die Tugend das Ziel richtig macht, während die Vernunft die Dinge, die zum Ziel führen, richtig macht.⁹³⁴ Diese zunächst vorsichtig formulierte Hypothese soll offenbar in den folgenden Zeilen begründet werden.⁹³⁵ Die Zeilen 1227b36 – 1228a2 sind in Teilen sehr komprimiert, bisweilen sogar derart gerafft, dass die Sätze ungrammatisch sind. Das hat auch zu verschiedenen Eingriffen in den Text geführt, von denen ich die wichtigsten erwähnen werde. Zugleich ist der Passus höchst aufschlussreich für die Frage, was Aristoteles unter einem Entschluss versteht und in welcher Relation der Entschluss zur Tugend und zur Vernunft bzw. zur Klugheit (phronêsis) steht. Es lohnt sich daher, den Abschnitt genau zu betrachten. Aristoteles misst dem Entschluss eine zentrale Bedeutung bei, was daran zu erkennen ist, dass er im Anschluss an die Charakterisierung des Ent-
Vgl. Woods 2005, 155. Im Griechischen heißt es „πάσης ὀρθότητος“, was ich mit „verschiedene Arten von Richtigkeit“ wiedergebe. Wörtlich wäre eher mit „jede Richtigkeit“ zu übersetzen; aber da Aristoteles direkt darauf ein klares Kriterium angibt, anhand dessen sich unterschiedliche ‚Richtigkeitenʻ unterscheiden lassen (nämlich ob die Richtigkeit durch die Tugend oder durch die Vernunft zustande kommt), erscheint mir die Übersetzung mit „Arten von Richtigkeit“ sachlich besser geeignet. Dass die Vernunft die Dinge, die zum Ziel führen, richtig macht, sagt Aristoteles an dieser Stelle nicht in dieser Klarheit; aber da er annimmt, dass entweder die Vernunft oder die Tugend etwas richtig machen und dass die Dinge, die zum Ziel führen, nicht von der Tugend richtig gemacht werden, folgt, dass die Vernunft dafür verantwortlich ist. Dass es sich um eine im Weiteren zu beweisende Vermutung handelt, macht der Optativ in 1227b35 mit „ἄν“ deutlich (vgl. auch von Fragstein 1974, 120).
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schlusses in 1228a3 – 4 die Folgerung zieht, dass wir Menschen besser aufgrund ihrer Entschlüsse beurteilen als aufgrund ihrer Handlungen. Entschlüsse sollen also von zentraler Bedeutung sein, um Aufschluss über den Charakter einer Person zu erhalten. Der enge Zusammenhang von Charaktertugend und Entschluss kommt auch in Aristoteles’ Bestimmung der Charaktertugend als einer hexis prohairetikê zum Ausdruck, was sich am besten mit „einer Haltung, die sich in Entschlüssen äußert“ übersetzen lässt: Danach ist unter einer Charaktertugend eine seelische Verfasstheit zu verstehen, die eine Person in die Lage versetzt, die richtigen Entschlüsse zu fassen.⁹³⁶ Weshalb Entschlüsse mehr über die charakterliche Verfasstheit einer Person verraten als deren Handlungen, fußt auf Aristoteles’ Verständnis davon, was Entschlüsse sind, d. h. wodurch sie konstituiert sind, und was für deren Richtigkeit verantwortlich ist. Um diese Fragen geht es im vorliegenden Abschnitt. Wiederum will ich eine kurze Darstellung vorausschicken, wie ich Aristoteles’ Bemerkungen in den Zeilen 1227b36 – 1228a2 im Ganzen auffasse.⁹³⁷ Meinem Verständnis nach gibt er hier Antworten auf zwei zentrale Fragen. Die beiden Fragen lassen sich wie folgt formulieren, wobei sich die zweite nochmals in zwei Teilfragen aufteilen lässt: (1) Worin besteht ein Entschluss, d. h. was muss man wissen, damit sich angeben lässt, über was für einen Entschluss eine Person verfügt? (2) Was macht einen Entschluss richtig? a. Was ist Voraussetzung dafür, dass ein Entschluss richtig ist? b. Was ist dafür verantwortlich, dass ein Entschluss richtig ist?
Griechische Adjektive, die von Verben abgeleitet sind und auf -ikos oder -tikos enden, bezeichnen meist eine Fähigkeit oder Tauglichkeit (vgl. Kühner/Gerth 1892, 2. Band, 287– 288). Lorenz führt aus, inwiefern die Beschreibungen der einzelnen Verstandesvermögen in EN VI diesen sprachlichen Befund bestätigen. So bestimmt Aristoteles (i) das Wissen als eine hexis apodeiktikê, (ii) die Kunstfertigkeit als eine hexis poiêtikê und (iii) die Klugheit als eine hexis praktikê, was sich entsprechend als (i) eine Disposition, die einen befähigt, Beweise zu erstellen, (ii) als eine Disposition, die einen befähigt, Dinge auf eine bestimmte Art hervorzubringen, und (iii) als eine Disposition, die einen befähigt, auf bestimmte Weise zu handeln, verstehen lässt. Wenn Tugend als hexis prohairetikê bezeichnet wird, heißt dies demnach, dass Tugend einen befähigt, die richtigen Entschlüsse zu fassen. Vgl. Lorenz 2009a, 196 – 197. Zum besseren Überblick zitiere ich den Passus 1227b36 – 1228a2 nochmals: „Denn jeder Entschluss hat etwas zum Gegenstand und ist um einer Sache willen. Das Mittlere ist das Worumwillen, und dessen Ursache ist die Tugend, durch das sich um einer Sache willen Entschließen. Der Entschluss bezieht sich aber nicht auf dieses, sondern auf die Dinge, die um dessentwillen sind. Es gehört einem anderen Vermögen an, all die Dinge zu treffen, die man um des Ziels willen tun soll; dass aber das Ziel des Entschlusses richtig ist, davon ist die Tugend die Ursache.“
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Die Antwort auf Frage (1) gibt die Bedingungen an, die notwendig und hinreichend dafür sind, um zu wissen, über was für einen Entschluss eine Person verfügt. Diese Frage lässt sich als die Frage nach den Individuationsbedingungen von Entschlüssen verstehen. Die Antwort auf Frage (2a) beruht auf der Antwort auf Frage (1), da man die Individuationsbedingungen von Entschlüssen kennen muss, um die Voraussetzungen für die Richtigkeit eines Entschlusses ausmachen zu können. Die Antwort auf Frage (2b) gibt schließlich die Ursachen dafür an, damit die Voraussetzungen für die Richtigkeit eines Entschlusses erfüllt sind. Wie Aristoteles’ Antwort auf Frage (1) lautet, lässt sich m. E. dem Satz in 1227b36 – 37 entnehmen: „Denn jeder Entschluss hat etwas zum Gegenstand und ist um einer Sache willen.“ Um zu wissen, worin der Entschluss einer Person besteht, muss man angeben können, zu welchen Dingen sich jemand um welchen Ziels willen entschließt. Es ist also zweierlei erforderlich, um Entschlüsse zu individuieren: Es muss angegeben werden, um welchen Ziels willen sich jemand entschließt und zu welchen Mitteln sich jemand entschließt, um dieses Ziel zu erreichen. Daraus ergibt sich in Bezug auf Frage (2a), dass Voraussetzung für die Richtigkeit eines Entschlusses nicht nur die Richtigkeit des Ziels oder nur die Richtigkeit der Mittel für ein Ziel sein kann, sondern dass ein richtiger Entschluss nur dann vorliegt, wenn sich jemand für die richtigen Dinge um eines richtigen Ziels willen entscheidet. Auch Frage (2b) beantwortet Aristoteles m. E. zumindest teilweise explizit, und zwar in 1228a1– 2: „[…] dass aber das Ziel des Entschlusses richtig ist, davon ist die Tugend die Ursache.“ Der diesem Satz unmittelbar vorausgehende legt zudem nahe, dass Aristoteles etwas anderem als der Tugend zuspricht, verantwortlich für die Richtigkeit der Mittel zum Ziel zu sein, was er hier allerdings bloß unbestimmt als ein anderes Vermögen (allês dynameôs) bezeichnet. Im Weiteren will ich zu zeigen versuchen, dass er die Klugheit (phronêsis) als Ursache dafür ansieht, die richtigen Mittel für ein Ziel zu treffen. Meine Deutung der Passage besteht demnach darin, dass Aristoteles hier die Tugend als Ursache für das richtige Ziel eines Entschlusses und die Klugheit als Ursache für das Auffinden der richtigen Mittel zur Realisierung des Ziels betrachtet, und dass beide Arten von Richtigkeit notwendig sind, damit ein Entschluss richtig ist. Lässt sich diese Interpretation begründen, so hat dies Folgen für das Verständis des Verhältnisses von Charaktertugenden und Klugheit und damit für die Frage, was Charaktertugenden nach Aristoteles sind. Die zentrale Frage ist hier, ob die Klugheit ein konstitutiver Bestandteil von Charaktertugend ist, was zur Folge hätte, dass die Charaktertugend zumindest teilweise rational ist, da die Klugheit dem im eigentlichen Sinn rationalen Seelenvermögen angehört. Ich will die vorgeschlagenen Antworten nochmals anhand des Textes durchgehen und dabei auf mögliche Schwierigkeiten eingehen. Dass ein Ent-
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schluss⁹³⁸ zugleich auf die Mittel, die zum Ziel führen, und auf das Ziel bezogen ist, scheint Aristoteles’ wiederholten Aussagen zu widersprechen, dass sich ein Entschluss wie eine Überlegung auf die Dinge, die zum Ziel führen, nicht aber auf das Ziel selbst bezieht.⁹³⁹ Auch eine Aussage in unserem Abschnitt könnte suggerieren, dass er die Ansicht ablehnt, dass sich Entschlüsse auf Ziele beziehen (1227b38 – 39): „Der Entschluss bezieht sich aber nicht auf dieses, sondern auf die Dinge, die um dessentwillen sind“. Aus dem Kontext geht eindeutig hervor, dass sich hier das Demonstrativpronomen „τούτου“ auf das Worumwillen, d. h. das Ziel, bezieht. Trotz des ersten Anscheins muss diese Aussage aber nicht so gelesen werden, als könne sich der Entschluss nicht auf Ziele beziehen. Ausgeschlossen wird zwar, dass sich Entschlüsse ausschließlich auf Ziele beziehen; der Adversativsatz lässt aber das Verständnis zu, dass sich Entschlüsse insofern auf Ziele beziehen, als sie sich auf Dinge um bestimmter Ziele willen beziehen (tôn toutou heneka). Ein Entschluss bezieht sich somit weder ausschließlich auf ein Ziel noch ausschließlich auf Dinge, die zu einem Ziel führen, sondern konstitutiv für einen Entschluss ist, dass er sich jeweils auf Dinge als Mittel zur Realisierung eines bestimmten Ziels bezieht. So entschließt man sich weder nur dazu, einen Freund von seiner Krankheit zu kurieren, noch bloß dazu, für den Freund eine gesunde Mahlzeit zuzubereiten. Vielmehr entschließt man sich, dem Freund eine gesunde Suppe zu kochen, damit er gesund wird. Ziel des Entschlusses ist die Gesundheit des Freundes; auf dieses Ziel bezieht sich der Entschluss, weil er um dessentwillen die Zubereitung einer Suppe zum Inhalt hat. Dass der Entschluss sich auch auf das Ziel bezieht, bestätigt auch der bereits zitierte Satz in 1228a1– 2, wo Aristoteles die Tugend als die Ursache für die Richtigkeit des Ziels eines Entschlusses bezeichnet. Und noch ein weiterer Satz lässt sich so verstehen, als wolle Aristoteles hier sagen, dass der Entschluss sich auch auf das Ziel bezieht und dass die Tugend Ursache dafür ist, dass dieses Ziel das Mittlere, d. h. das richtige Ziel, ist. Allerdings ist der Satz in 1227b37– 38 schwer verständlich. In den MSS ist er folgendermaßen überliefert: οὗ μὲν οὖν ἕνεκα τὸ μέσον ἐστίν, οὗ αἰτία ἡ ἀρετή, τὸ προαιρεῖσθαι οὗ ἕνεκα. [Das Worumwillen ist das Mittlere, davon ist die Ursache die Tugend, das Sich-Entschließen um einer Sache willen.]
Es ist zu beachten, dass es im Folgenden immer um Entschlüsse im moralisch relevanten Sinn geht, d. h. um Entschlüsse, in denen sich Charaktertugend äußert. Vgl. EN III 4, 1111b26 – 27, EN III 5, 1112b11– 12 und 1113a2– 5; EE II 10, 1226b9 – 20.
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Eine Schwierigkeit dieser Überlieferung ist, dass der Satz stilistisch fragwürdig ist, da der Relativsatz wenig elegant angehängt ist und auch das zweite Anhängsel merkwürdig nachgeschoben wirkt. Die nachgeschobene Wendung, die im OCT mit einem Komma angetrennt ist, lässt sich als Apposition verstehen.⁹⁴⁰ Problematischer als die stilistischen Gründe ist aber, dass Aristoteles der Aussage der Apposition im nächsten Satz zu widersprechen scheint: Während er zuerst sagt, dass sich der Entschluss auf ein Ziel (ein Worumwillen) bezieht, negiert er im nächsten Satz, dass sich der Entschluss auf das Ziel bezieht. Fritzsche hat daher vorgeschlagen, das oben unterstrichene „τὸ“ in 1227b38 durch „τῷ“ zu ersetzen.⁹⁴¹ Die Wendung „τῷ προαιρεῖσθαι οὗ ἕνεκα“ ist dann nicht als Apposition, sondern als Modalsatz zu verstehen, der sich mit „indem man sich um einer Sache willen entschließt“ übersetzen lässt.⁹⁴² Das kommt m. E. sachlich dem näher, worauf es Aristoteles hier ankommt, nämlich dass die Tugend in der Weise Ursache des richtigen Ziels ist, als sie Ursache dafür ist, dass der Entschluss Dinge als Mittel zu einem richtigen Ziel zum Inhalt hat. Noch deutlicher wird dieser Sinn durch die Emendation, die Kenny vorschlägt, der „τὸ“ durch „τοῦ“ ersetzt und kein Komma vor dem Artikel liest.⁹⁴³ So ist die Wendung „τοῦ προαιρεῖσθαι οὗ ἕνεκα“ als Genitivobjekt zu „αἰτία“ zu verstehen, und der Satz besagt dann, dass die Tugend Ursache davon ist, dass das Mittlere das Worumwillen des Entschlusses ist. Mit anderen Worten: Die Tugend ist Ursache dafür, dass der Entschluss sich auf das richtige Ziel bezieht. Folgt man diesem Verständnis des Textes, so leistet der Passus einen originellen Beitrag zur Bestimmung des Entschlusses bei Aristoteles. Denn anders als an anderer Stelle anerkennt Aristoteles hier ausdrücklich, dass ein Entschluss
So Dirlmeier 1969, 306: „Im Zusammenhang des 11. Kap. kann man ja ἀρετή und προαίρεσις geradezu gleichsetzen.Wir haben also eine Apposition vor uns. So wie etwa MM 1200b18 ἡ κακία, ἡ θηριότης.“ Fritzsche 1851, 60. Dieser Lesart folgen Woods sowie Inwood und Woolf. Woods übersetzt z. B.: „The mean is the-thing-for-the-sake-of-which, of which virtue is the cause, by choosing with a view to that.“ Kenny 1979, 86 – 87: „[…] what Aristotle here says is that virtue is the cause of the mean’s being the goal of the choice, of the mean’s being the οὗ ἕνεκα of the προαίρεσις. If we must emend the τὸ of τὸ προαιεῖσθαι, it should be emended into τοῦ, not τῷ. Aristotle’s contorted sentence gets built up thus. He wants to say: ‚Virtue is the cause of the choice’s being for the sake of the mean.ʻ (ἡ ἀρετή ἐστιν αἰτία τοῦ προαιρεῖσθαι τοῦ μέσου ἕνεκα) He then wishes to stress the importance of the mean, and so brings it forward: ‚It is the mean that virtue is the cause of the choice’s being for the sake of. (τὸ μέσον ἐστίν, οὗ αἰτία ἡ ἀρετὴ τοῦ προαιρεῖσθαι οὗ ἕνεκα) He then wishes to link the whole with the previous mention of the οὗ ἕνεκα or ‚whereforeʻ: ‚It is the mean which is the wherefore which virtue is the cause of the choice’s being for the sake of.ʻ (οὗ μὲν οὖν ἕνεκα τὸ μέσον ἐστίν, οὗ αἰτία ἡ ἀρετὴ τοῦ προαιρεῖσθαι οὗ ἕνεκα)“.
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nicht nur die Mittel zu einem Ziel betrifft, sondern dass es für einen Entschluss ebenso konstitutiv ist, um welchen Ziels willen er sich auf die jeweiligen Mittel richtet. Demnach sind Entschlüsse danach zu individuieren, erstens auf welche Mittel sie sich beziehen und zweitens um welcher Ziele willen sie sich auf diese Mittel richten.⁹⁴⁴ Es steht noch aus, die vorläufige Antwort auf Frage (2b) anhand des Textes auszuführen. Wenn es für einen Entschluss gleichermaßen konstitutiv ist, wozu sich eine Person entschließt und worumwillen sie sich entschließt, setzt auch die Richtigkeit eines Entschlusses zweierlei voraus. Dass für die Richtigkeit von Entschlüssen zwei Bedingungen erfüllt sein müssen, hat Aristoteles schon im vorangehenden Abschnitt (1227b21– 22) vorbereitet, wenn er zwischen drei Arten, das Ziel zu verfehlen, unterscheidet. Dort war davon die Rede, dass ein Fehler entweder das Ziel, oder die Dinge, die zum Ziel führen, oder sogar beides betreffen kann. In den Zeilen 1227b39 – 1228a2 sagt er nun, dass zwei verschiedene Faktoren für die Richtigkeit der beiden konstitutiven Elemente von Entschlüssen verantwortlich sind. Die beiden Sätze, mit denen er diese zentrale Behauptung aufstellt, sind wiederum sehr knapp und vor allem der zweite bereitet Probleme. Kern der Behauptung ist in meinen Augen, dass die Tugend Ursache für die Richtigkeit des Ziels der Entschlüsse ist, während ein anderes – an dieser Stelle nicht weiter benanntes – Vermögen Ursache für die Richtigkeit der Mittel ist, die um des Ziels willen zu tun sind. Der Satz in 1228a1– 2 ist grammatikalisch problematisch, weil er in der Fassung, in der er in den MSS überliefert ist, keinen vollständigen Satz bildet: Der Satz beginnt mit einer Genitivkonstruktion (tou de to telos orthon einai tês prohaireseôs: „dass aber das Ziel des Entschlusses richtig ist“), der ein Relativsatz nachgeschoben wird (hou hê aretê aitia: „davon ist die Tugend die Ursache“), der sich auf den ganzen Vordersatz bezieht. Die grammatikalische Schwierigkeit lässt sich entschärfen, wenn man anstelle des einleitenden „τοῦ“ „τό“ liest.⁹⁴⁵ Eine andere Alternative geht auf Fritzsche zurück, der den relativen Anschluss „οὗ“ einklammert und die vorausgehende Genitivkonstruktion als von „αἰτία“ abhängig versteht: Danach wird mit dem Satz die Tugend als Ursache
So auch Lorenz; vgl. Lorenz 2009a, 191: „What the passage makes clear is that if we know what decision it is that someone is acting on, we thereby know both what goal he is pursuing, and what means he has decided on.We know both what the decision is of (the means in question), and what it is for the sake of (the goal in question). In this way, decisions are individuated as the kinds of decision they are by both what is decided on and the goal with a view to which the decision is made.“ Vgl. Woods 2005, 195; Kenny 1979, Anm. 1, 87.
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dafür bezeichnet, dass das Ziel des Entschlusses richtig ist.⁹⁴⁶ Unabhängig davon, ob man der grammatikalisch schwierigen Überlieferung der MSS oder der korrigierten Lesart von Fritzsche folgt, scheint mir die Aussage des Satzes dieselbe zu sein: Die Tugend wird als Ursache dafür bezeichnet, dass das Ziel des Entschlusses richtig ist. Betrachten wir als nächstes den vorangehenden Satz in 1227b39 – 1228a1, in dem Aristoteles ein anderes Vermögen dafür verantwortlich macht, die Dinge zu treffen, die man um eines Ziels willen tun soll. Die Auffassungen der Kommentatoren über die Frage, welches Vermögen Aristoteles mit dem unspezifisch bezeichneten anderen Vermögen meint, gehen auseinander: Manche sind der Ansicht, er meine damit die Klugheit (phronêsis),⁹⁴⁷ andere nehmen an, es gehe um die Geschicklichkeit (deinotês),⁹⁴⁸ und schließlich gehen einige davon aus, dass beide gleichermaßen gemeint sind.⁹⁴⁹ Ich halte die erste Antwort für richtig: Es ist die Klugheit, also eine der Verstandestugenden, die Aristoteles als Ursache für das Treffen der richtigen Mittel ansieht. Um diese Antwort zu begründen, ist ein Blick auf die Behandlung der Verstandestugenden in EN VI 13 hilfreich. Allerdings berufen sich Verfechter aller drei genannten Antworten auf die Diskussion des Verhältnisses der Klugheit zur Tugend im letzten Kapitel dieses gemeinsamen Buches. Es ist also zu erwarten, dass auch die Ausführungen in EN VI 13 Interpretationsspielraum lassen und jede Deutung begründungsbedürftig ist. Zwei Textstellen in EN VI 13 sprechen in meinen Augen dafür, dass Aristoteles hier in Bezug auf die Rolle, die der phronêsis für das Finden der richtigen Mittel zu einem bestimmten Ziel zukommt, dieselbe Position vertritt wie in EE II 11: [EN VI 13, 1144a7– 9]⁹⁵⁰ Denn die Tugend macht das Ziel richtig, die Klugheit die Dinge, die zum Ziel führen.
Vgl. Fritzsche 1851, 60. Die Athetierung Fritzsches übernehmen der OCT und Susemihl. Dirlmeier, Kenny, Simpson und Woods folgen in ihren Übersetzungen dieser korrigierten Version. Simpson 2013, 284: „This other power, an intellectual and not a moral virtue (prudence), belongs to the later discussion in Book Five.“ Woods 2005, 156: „In this passage, neither practical wisdom nor astuteness (deinotês) are mentioned, as they are in E.N., but there is no reason to doubt that astuteness is the ‚other capacityʻ mentioned at b40.“ Kenny 1979, 88: „[…] Aristotle is referring generically to congnitive elements between which he will later carefully distinguish: at the present stage of the discussion he does not need to cumber the text with yet premature distinctions […] between πρόνησις and δεινότης.“ EN VI 13, 1144a7– 9: ἡ μὲν γὰρ ἀρετὴ τὸν σκοπὸν ποιεῖ ὀρθὸν, ἡ δὲ φρόνησις τὰ πρὸς τοῦτον.
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[EN VI 13, 1145a4– 6]⁹⁵¹ Es ist klar, dass der Entschluss nicht richtig sein wird ohne Klugheit oder ohne Tugend; denn die eine [i. e. die Tugend; BL] lässt uns das Ziel machen [und erreichen; BL], die andere [i. e. die Klugheit; BL] lässt uns die Dinge tun, die zum Ziel führen.
In beiden Passagen stellt Aristoteles die Behauptung auf, dass die Tugend das Ziel und die Klugheit die Dinge, die zum Ziel führen, richtig machen. Hier findet sich also dieselbe Aufteilung in zwei Zuständigkeitsbereiche wie in EE II 11, mit dem einzigen Unterschied, dass hier das Vermögen, das verantwortlich ist für die Dinge, die zum Ziel führen, explizit beim Namen genannt und mit der Klugheit identifiziert wird. Die zweite Textstelle stellt außerdem die Verbindung zum Entschluss her: Vor dem Hintergrund von EE II 11 liegt es nahe, diese Aussage so zu verstehen, dass die Tugend den Entschluss in Bezug auf dessen Ziel richtig macht, während die Klugheit den Entschluss in Hinblick auf die Dinge, die um des Ziels willen gewählt werden, richtig macht. Der Deutung, dass es die Klugheit ist, welche für das Treffen der richtigen Mittel zum Ziel verantwortlich ist, scheint jedoch eine andere Passage in EN VI 13 zu widersprechen: [EN VI 13, 1144a20 – 22]⁹⁵² Der Entschluss wird also durch die Tugend richtig gemacht; die Dinge aber [richtig zu treffen], die natürlicherweise getan werden müssen, um dies (ekeinês) zu verwirklichen, ist nicht Sache der Tugend, sondern [ist Sache] eines anderen Vermögens [Hervorhebung BL].
Nach vorherrschender Meinung sagt Aristoteles hier folgendes:⁹⁵³ Zwar ist die Tugend zuständig für die Richtigkeit eines Entschlusses, sie ist aber nicht verantwortlich für das Treffen der richtigen Mittel, um diesen Entschluss zu verwirklichen; dafür ist ein anderes Vermögen verantwortlich, nämlich die Geschicklichkeit (deinotês), die im Fortlauf des Textes näher charakterisiert wird. Wenn diese Passage tatsächlich so aufzufassen ist, dass mit „ἐκείνης“ in 1144a21 auf den Entschluss, der in der Zeile zuvor erwähnt wurde, Bezug genommen wird, so lässt die Stelle kaum ein anderes Verständnis zu, als dass der Tugend abgesprochen wird, für das Treffen der richtigen Mittel zum Ziel verantwortlich zu sein.
EN VI 13, 1145a4– 6: [δῆλον δέ…] καὶ ὅτι οὐκ ἔσται ἡ προαίρεσις ὀρθὴ ἄνευ φρονήσεως οὐδ’ ἄνευ ἀρετῆς· ἣ μὲν γὰρ τὸ τέλος ἣ δὲ τὰ πρὸς τὸ τέλος ποιεῖ πράττειν. EN VI 13, 1144a20 – 22: τὴν μὲν οὖν προαίρεσιν ὀρθὴν ποιεῖ ἡ ἀρετή, τὸ δ’ ὅσα ἐκείνης ἕνεκα πέφυκε πράττεσθαι οὐκ ἔστι τῆς ἀρετῆς ἀλλ’ ἑτέρας δυνάμεως. Als vorherrschend lässt sich dieses Verständnis bezeichnen, weil beinahe alle Übersetzer, die ich konsultiert habe, den Satz in diesem Sinn wiedergeben und deuten (Dirlmeier 1969; Irwin 1999; Reeve 2014; Rowe 2002; Wolf 2006).
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Die Behauptung des Satzes widerspräche dann der bisherigen Deutung, da nicht die Klugheit, sondern die Geschicklichkeit das andere Vermögen ist, das die Ursache für die richtigen Mittel zum Ziel ist. Lorenz tritt diesem verbreiteten Verständnis jedoch mit einer interessanten Beobachtung entgegen:⁹⁵⁴ Er macht darauf aufmerksam, dass es sprachlich ebenso möglich ist, das Demonstrativpronomen „ἐκείνης“ auf „Tugend“ zu beziehen, so dass die Aussage des Satzes lautet, dass ein anderes Vermögen als die Tugend dafür zuständig ist, die Dinge zu tun, die natürlicherweise nötig sind, um die Tugend zu verwirklichen. Aufgabe der Geschicklichkeit ist demzufolge, die Handlungen zu identifizieren und auszuführen, die natürlicherweise zu tun sind, um die Tugend zu erwerben und auszubilden. Das ist eine völlig andere Aussage, als der Geschicklichkeit zuzuschreiben, für die Dinge, durch die sich der Inhalt von Entschlüssen realisieren lässt, zuständig zu sein. Nach Lorenz ist die Geschicklichkeit dagegen damit befasst, Handlungen zu finden und umzusetzen, die von Natur aus geeignet sind, um Tugend zu erwerben. Diese Deutung ist einwandfrei mit dem Kontext der Textstelle zu vereinbaren. Aristoteles führt kurz darauf aus, dass Tugend und Klugheit in engem Zusammenhang stehen und sich gegenseitig implizieren.⁹⁵⁵ Wenn Klugheit aber Tugend voraussetzt, kann die Klugheit nicht das Vermögen sein, dem es zukommt, die Tugend zu verwirklichen. Dafür ist ein anderes Vermögen zuständig, nämlich die Geschicklichkeit, die Aristoteles als ein Vermögen bestimmt, das seinen Besitzer findig darin macht, zu tun und zu erreichen, was zu einem vorgegebenen Ziel führt.⁹⁵⁶ Dabei ähnelt die Geschicklichkeit zwar der Klugheit, denn beide sind damit befasst, die geeigneten Mittel zu identifizieren, um ein Ziel zu erreichen.⁹⁵⁷ Gleichwohl sind Klugheit und Geschicklichkeit nicht identisch. Denn die Klugheit ist ausschließlich mit dem Auffinden der Mittel zum richtigen Ziel befasst, während die Geschicklichkeit sich auf jegliches Ziel, gleichgültig ob gut oder schlecht, bezieht.⁹⁵⁸ Nach der Einführung der Geschicklichkeit in EN VI 13 vergleicht Aristoteles das Verhältnis zwischen Klugheit und Geschicklichkeit mit dem Ver-
Lorenz 2009a, 203 – 204. EN VI 13, 1144b30 – 32: „Aus dem Gesagten ist also klar, dass man weder im eigentlichen Sinn gut sein kann ohne die Klugheit noch klug ohne die Tugend des Charakters.“ [δῆλον οὖν ἐκ τῶν εἰρημένων ὅτι οὐχ οἷόν τε ἀγαθὸν εἶναι κυρίως ἄνευ φρονήσεως, οὐδὲ φρόνιμον ἄνευ τῆς ἠθικῆς ἀρετῆς.] [Übersetzung nach Wolf]. EN VI 13, 1144a24– 26: „Diese [i. e. Geschicklichkeit; BL] ist so geartet, dass es zu tun und zu erreichen mag, was zum festgesetzten Ziel führt.“ [αὕτη δ’ ἐστὶ τοιαύτη ὥστε τὰ πρὸς τὸν ὑποτεθέντα σκοπὸν συντείνοντα δύνασθαι ταῦτα πράττειν καὶ τυγχάνειν αὐτοῦ.]. Vgl. EN VI 13, 1145b6 und 1144a24– 26. EN VI 13, 1144a26 – 29.
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hältnis zwischen natürlicher Tugend (physikê aretê) und Tugend im eigentlichen Sinn (aretê kyria).⁹⁵⁹ Er misst hier anscheinend der natürlichen Tugend eine ähnliche Rolle beim Erwerb von Charaktertugend zu wie der Geschicklichkeit: Beide sind wichtig für das Herausbilden von Tugend, weil sie helfen, dass eine Person so handelt, wie ein Tugendhafter handelt, auch wenn die Person selbst noch keine vollständige Tugend erworben hat. Indem sich die Geschicklichkeit am richtigen Ziel orientiert, dient sie der Entwicklung von Tugend, da sie die Handlungen zu identifizieren hilft, die nötig sind, um tugendhaft zu handeln und tugendhaft zu werden. Hier drängt sich die Frage auf, an was für Handlungen zu denken ist, von denen Aristoteles annimmt, dass sie natürlicherweise getan werden, um Tugend zu realisieren. Lorenz verweist hier auf ein instruktives Beispiel, das Aristoteles in EN II 9 gibt. Aristoteles gibt hier den Ratschlag, dass sich das Treffen der richtigen Mitte dadurch einüben lässt, dass man sich von einem der beiden einander entgegengesetzten schlechten Extreme, zu dem man von Natur aus häufig strebt, zu demjenigen Extrem hin, das diesem entgegengesetzt ist, drängen soll, um so im Ergebnis die richtige, dazwischenliegende Mitte zu treffen: [EN II 9, 1109b1– 7]⁹⁶⁰ Wir sollten auch untersuchen, zu welchen Dingen wir selbst leicht fortbewegt werden, denn verschiedene Leute neigen natürlicherweise unterschiedlichen Dingen zu. Dies werden wir erkennen von der Lust und dem Schmerz, die bei uns entstehen.Wir müssen uns selbst in die entgegengesetzte Richtung wegziehen. Denn wenn wir uns weit weg vom Fehlgehen ziehen, werden wir die Mitte erreichen, wie sie es beim Richten von gekrümmtem Holz tun.
Diese Passage ist aufschlussreich, um sich ein genaueres Bild davon zu machen, wie Tugenden nach Aristoteles erworben und entwickelt werden. Sein Ratschlag richtet sich offenbar an Personen, die bereits in der Lage sind, ihr eigenes Verhalten wahrzunehmen und zu reflektieren. Denn er rät jeder einzelnen Person, herauszufinden, zu welchen schlechten Extremen sie jeweils neigt, um entsprechend gegenzusteuern und in die entgegengesetzte Richtung zu streben. Dies soll dazu führen, die richtige Mitte zu treffen und dadurch schließlich die Tugend zu erwerben. Fasst man nun die Geschicklichkeit als das Vermögen auf, das für das Identifizieren der Handlungen zuständig ist, die natürlicherweise zu tun sind, um Tugend zu entwickeln, lässt sich ihre Rolle vor dem Hintergrund von EN II 9 wie EN VI 13, 1144b1– 17. EN II 9, 1109b1– 7 σκοπεῖν δὲ δεῖ πρὸς ἃ καὶ αὐτοὶ εὐκατάφοροί ἐσμεν· ἄλλοι γὰρ πρὸς ἄλλα πεφύκαμεν· τοῦτο δ’ ἔσται γνώριμον ἐκ τῆς ἡδονῆς καὶ τῆς λύπης τῆς γινομένης περὶ ἡμᾶς. εἰς τοὐταντίον δ’ ἑαυτοὺς ἀφέλκειν δεῖ· πολὺ γὰρ ἀπάγοντες τοῦ ἁμαρτάνειν εἰς τὸ μέσον ἥξομεν, ὅπερ οἱ τὰ διεστραμμένα τῶν ξύλων ὀρθοῦντες ποιοῦσιν.
9.3 Das Verhältnis von Tugend und Entschluss (EE 1227b25 – 1228a2)
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folgt näher beschreiben: Sie ist die Fähigkeit, dank der man das eigene Fehlverhalten wahrzunehmen und zu reflektieren lernt und die weiter dazu befähigt, ausgleichende und entgegenwirkende Maßnahmen zu finden, um dadurch das Handeln in die richtige Richtung zu lenken und so letztlich Tugend zu verwirklichen. Zusammenfassend möchte ich nochmals auf meine Hypothese zurückkommen, dass Aristoteles in EE II 11 die Annahme vertritt, dass die Tugend das Ziel des Entschlusses richtig macht, während die Klugheit den Entschluss in Hinblick auf die Dinge richtig macht, die um des Ziels willen gewählt werden. Es ist zu fragen, wie Aristoteles das Verhältnis von Charaktertugend und Klugheit konzipiert und ob er diesbezüglich in EN VI und in EE II dieselbe Auffassung vertritt, was man annehmen könnte, da er der phronêsis – wie ich versucht habe zu zeigen – dieselbe Rolle hinsichtlich des Auffindens der richtigen Mittel zum Ziel beimißt. Ich habe dafür argumentiert, dass die Annahme, dass die Tugend das Ziel des Entschlusses richtig macht, während die Klugheit den Entschluss in Hinblick auf die Dinge richtig macht, die um des Ziels willen gewählt werden, durch Aussagen in EN VI 13 gestützt wird und dass auch die Zeilen EN 1144a20 – 22 ein kompatibles Verständnis zulassen. Diese Beschreibung könnte ein merkwürdiges Bild von Charaktertugend nahelegen, nach dem die Charaktertugend ausschließlich mit dem Finden der richtigen Ziele befasst ist, während die Klugheit es mit dem Auffinden der Mittel, die zum Ziel führen, zu tun hat. Irritierend ist an diesem Bild, dass dadurch eine Kluft zwischen Charaktertugend und Klugheit entsteht und die Bedeutung der Charaktertugend auf die Rolle, das richtige Ziel festzulegen, reduziert wird. Dieses Bild erscheint abwegig, und es gibt m. E. ein einfaches Argument für die Annahme, dass Aristoteles Charaktertugend und Klugheit in der EN nicht in dieser Weise als getrennt nebeneinander stehend konzipiert hat. Vielmehr ist die Klugheit als der Charaktertugend eingebaut zu verstehen, so dass beide zusammen eine einheitliche Disposition der Seele bilden:⁹⁶¹ Aristoteles bestimmt Charaktertugend als eine Disposition, die sich in Ich folge hierbei im Wesentlichen der Argumentation von Lorenz, dessen Untersuchung zum folgenden Schluss führt (Lorenz 2009a, 206): „According to the view that emerges from my interpretation of 6.12– 13 [= EN VI 13], then, phronêsis as well as virtue of character is required to ensure correctness of decision. As we have seen, Aristotle seems to characterize virtue of character as a state that issues in decision. The idea, I take it, is that virtue of character is a state that consistently and reliably gives rise to excellent decisions. […] Aristotle evidently recognizes, at any rate in the Nicomachean Ethics, that being disposed to form excellent decisions is in part a matter of being disposed to succeed in identifying suitable ways of promoting one’s goals (1145a4– 6). This combination of claims strongly suggests that he thinks virtue of character includes as a constituent phronêsis, or at any rate the aspect of it that is required for ensuring correctness of decision.“
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9 Bestimmung des Verhältnisses der prohairesis zur Charaktertugend
richtigen Entschlüssen äußert. Entschlüsse sind genau dann richtig, wenn sie sich auf das richtige Ziel und auf die richtigen Dinge, die zu diesem Ziel führen, beziehen. Für das Auffinden der richtigen Mittel ist die Klugheit zuständig, für die richtigen Ziele die Charaktertugend. Die Charaktertugend kann nur dann eine Disposition sein, die sich in richtigen Entschlüssen äußert, wenn die Entschlüsse sowohl hinsichtlich ihrer Ziele als auch in Bezug auf die Mittel, die zum Ziel führen, richtig sind. Charaktertugend hat es somit ebenso mit dem Richtig-Machen der Dinge, die zum Ziel führen, wie mit den richtigen Zielen zu tun.⁹⁶² Um die richtigen Dinge, die zum Ziel führen, zu identifizieren und umzusetzen, ist sie auf das Mitwirken der Klugheit angewiesen. Weil die Charaktertugend nur dann eine Disposition sein kann, die sich in richtigen Entschlüssen äußert, wenn auch die Aufgabe erfüllt ist, für die die Klugheit verantwortlich ist, scheint Aristoteles die Klugheit somit in EN VI 13 als einen konstitutiven Bestandteil der Tugend aufzufassen. Für die EE scheint allerdings diese Konzeption des Verhältnisses von Charaktertugend und Klugheit nicht konsistent haltbar zu sein. Denn Aristoteles macht in EE II 1 (1220a10 – 11) und 4 (1221b27– 31) deutlich, dass er die Charaktertugenden hier ausschließlich dem nicht-rationalen Seelenteil zuordnet, so dass die Klugheit kein konstitutiver Bestandteil der Charaktertugend sein kann, sondern dem rationalen Seelenteil zugehörig ist. Die Annahme in EE II 11, dass die Tugend das Ziel des Entschlusses richtig macht, während die Klugheit den Entschluss in Hinblick auf die Dinge richtig macht, die um des Ziels willen gewählt werden, ist also im Kontext von EE II plausibler folgendermaßen zu deuten: Zwar macht die Tugend (als nicht-rationale Charakterhaltung) die Entschlüsse insofern richtig, als sie deren Ziel richtig macht; es ist aber ein anderes, dem rationalen Seelenteil zugehöriges Vermögen, nämlich die phronêsis, das die Dinge, die zum Ziel führen, richtig macht. Das heißt, dass zwar die Aufgabenteilung zwischen Charaktertugend und Klugheit in Bezug auf das Richtig-Machen von Entschlüssen in EN VI und EE II dieselbe ist, dass sich aber doch das Verhältnis zwischen Charaktertugend und Klugheit an beiden Stellen signifikant unter-
Lorenz 2009a, 201: „Aristotle’s main point in our remark in 6.13 is that while character-virtue in this way makes the goal correct, and may do so without phronêsis being put to use, the exercise of phronêsis is needed to make sure that the virtuous person succeeds in identifying and implementing appropriate means to the achievement of their goals. […] But to say all of this is plainly not to rule out the possibility that phronêsis turns out to be a constituent of character-virtue, so that character-virtue ensures correctness of the virtuous person’s goals by making him or her sensitive to the demands of the circumstances, and also ensures that the virtuous person identifies and implements suitable ways of promoting his or her goals, by applying phronêsis to the challenge of how best to reach a given goal in the particular circumstances in question.“
9.4 Relevanz der Entschlüsse für die moralische Beurteilung einer Person
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scheidet: Während die Klugheit sich in EN VI als konstitutiver Bestandteil der Charaktertugend deuten lässt, stellt Aristoteles im Kontext von EE II die Charaktertugend als Haltung des nicht-rationalen Seelenteils hin, von dem die Klugheit als Haltung des rationalen Seelenteils verschieden ist. Diese unterschiedliche Konzeption der Charaktertugend und von deren Relation zur Klugheit in EE II und in Buch VI der Nikomachischen Ethik, das auch als Buch V der Eudemischen Ethik überliefert ist, ist zudem für die Fragen nach der Zugehörigkeit der gemeinsamen Bücher und nach der Chronologie der beiden ethischen Schriften von Bedeutung. Aus der Annahme, dass Aristoteles die Charaktertugend in EN VI als Vermögen des rationalen Seelenteils konzipiert, sollte indes nicht direkt gefolgert werden, dass dieses Buch ursprünglich der EN angehört hat und diese die spätere und reifere Schrift ist. Denkbar ist auch, die Ausführungen in EN VI als Text zu verstehen, der ursprünglich Bestandteil der EE war, der aber in revidierter Form Eingang in die EN gefunden hat.⁹⁶³ Die Frage nach der Zugehörigkeit von Buch VI der EN bzw. Buch V der EE kann an dieser Stelle nicht näher behandelt werden. Sie müsste im weiteren Kontext diskutiert werden und alle drei gemeinsamen Bücher berücksichtigen. Wichtig ist an dieser Stelle jedoch, sich die Relevanz der vorherigen Diskussion für die Frage nach der Zugehörigkeit der gemeinsamen Bücher vor Augen zu führen.
9.4 Relevanz der Entschlüsse für die moralische Beurteilung einer Person (EE 1228a4 – 19) Der letzte Teil von Kapitel 11 bildet in verschiedener Hinsicht den inhaltlichen Abschluss von Buch II der EE. Der Abschnitt knüpft an die unmittelbar vorausgegangene Diskussion an und er greift zudem Bemerkungen auf, die ganz zu Beginn von Buch II stehen oder die am Anfang der Auseinandersetzung mit Verantwortung und Willentlichkeit, die in EE II 6 ansetzt, vorkommen. Die Schlussfolgerungen lassen sich in vier Punkten zusammenfassen. Der erste zentrale Aspekt, den Aristoteles am Ende des Kapitels explizit hinzufügt, ist eine Symmetriethese, und zwar die Annahme, dass Schlechtigkeit bzw. Laster (kakia) sich in der gleichen Weise (homoios) in Entschlüssen äußern wie Tugend. Die Symmetrie zwischen Tugend und Schlechtigkeit besteht darin, dass die Schlechtigkeit in der gleichen Weise Ursache dafür ist, dass jemandes Entschlüsse falsch sind, wie die Tugend dafür verantwortlich ist, dass jemandes Entschlüsse richtig sind. Wir haben im Abschnitt „9.3 Das Verhältnis von Tugend
Vgl. Lorenz 2009a, 179 – 180.
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9 Bestimmung des Verhältnisses der prohairesis zur Charaktertugend
und Entschluss (EE 1227b25 – 1228a2)“ gesehen, dass die Tugend nach Aristoteles Ursache dafür ist, dass das Worumwillen des Entschlusses richtig ist. Die Schlechtigkeit ist dementsprechend Ursache dafür, dass das Worumwillen bzw. das Ziel des Entschlusses schlecht ist: „In gleicher Weise macht auch die Schlechtigkeit den Entschluss zu einem Entschluss um der entgegengesetzten Dinge willen.“⁹⁶⁴ Die Symmetriethese ist aus mehreren Gründen bedeutsam. Erstens wird an ihr nochmals deutlich, dass die Richtigkeit von Entschlüssen sowohl in Bezug auf die Mittel als auch auf das Ziel, auf das sie gerichtet sind, zu beurteilen ist, und dass es die charakterliche Verfasstheit einer Person ist, die für die Richtigkeit resp. das Verfehlen des Ziels von Entschlüssen verantwortlich ist. Zweitens bringt die Symmetriethese zum Ausdruck, dass Aristoteles sowohl richtige als auch falsche bzw. schlechte Entschlüsse annimmt. Es ist zu vermuten, dass ein schlechter Entschluss entweder dann zustande kommt, wenn ein Überlegungsprozess von einem scheinbaren Gut ausgeht, das irrütmlicherweise für gut gehalten und gewünscht wird, und zu einem entsprechenden Entschluss führt, oder wenn der Überlegungsprozess zwar von einem wirklichen Gut ausgeht, die Überlegung aber an einem oder mehreren Punkten fehlgeht und daher zu einem falschen Entschluss führt. Entschlüsse sind somit ihrer Natur nach offen dafür, ob sie sich auf das richtige oder auf ein schlechtes Ziel beziehen, d. h. ob in ihnen Tugend oder Schlechtigkeit zum Ausdruck kommen. Drittens scheint die Symmetriethese für Aristoteles wichtig zu sein, weil er sich damit gegen eine Position wendet, wie sie Anhänger eines sog. Sokratischen Intellektualismus vertreten. In der EE kommt dies in der Bemerkung zum Ausdruck, dass es keine Notwendigkeit gibt, schlechte Dinge zu tun (1228a8 – 9). Noch deutlicher wird diese Position in EN III 7, wo Aristoteles die Frage nach der Verantwortung für den Charakter diskutiert. Ausgangspunkt für die Diskussion in diesem Kapitel ist die Widerlegung der Asymmetriethese, nach der Schlechtigkeiten im Gegensatz zu Tugenden unwillentlich sind:⁹⁶⁵ [EN III 7, 1113b14– 17]⁹⁶⁶ Die Aussage, dass niemand willentlich schlecht ist oder unwillentlich glückselig, scheint teils falsch zu sein, teils wahr. Denn glückselig ist niemand unwillentlich, die Schlechtigkeit aber ist willentlich.
EE II 11, 1228a4– 5. Die Bezeichnung „Asymmetriethese“ übernehme ich von Meyer. Davon abgeleitet verwende ich als Bezeichnung für die entgegengesetzte Position den Ausdruck „Symmetriethese“; vgl. Meyer 2011, 129 – 145; vgl. auch EN III 7, 1113b3 – 21. EN III 7, 1113b14– 17: τὸ δὲ λέγειν ὡς οὐδεὶς ἑκὼν πονηρὸς οὐδ’ ἄκων μακάριος ἔοικε τὸ μὲν ψευδεῖ τὸ δ’ ἀληθεῖ. μακάριος μὲν γὰρ οὐδεὶς ἄκων, ἡ δὲ μοχθηρία ἑκούσιον.
9.4 Relevanz der Entschlüsse für die moralische Beurteilung einer Person
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Aristoteles lehnt hier die Auffassung ab, dass für Schlechtigkeit eine andere Erklärung anzunehmen ist als für Tugend; vielmehr verhalten sich beide strukturell analog: Sie sind erstens willentlich, sie kommen zweitens in Entschlüssen zum Ausdruck, die auf einem Überlegungsprozess beruhen, der von einem für gut gehaltenen Ziel ausgeht, und sie verdienen drittens eine moralische Beurteilung, d. h. es ist angemessen, eine Person für solche Entschlüsse zu loben oder zu tadeln. Der zweite wichtige Aspekt, den Aristoteles am Ende von Kapitel 11 aus der vorangegangenen Diskussion aufgreift, ist, dass Willentlichkeit eine notwendige Voraussetzung für (gerechtfertigtes) Loben und Tadeln ist. In 1228a10 – 11 hält er fest, dass nur willentliche Handlungen gelobt oder getadelt werden: „Denn hässliche oder schlechte Handlungen, die unwillentlich sind, werden nicht getadelt, und gute, [die unwillentlich sind], werden nicht gelobt, sondern nur die willentlichen.“ Unwillentliche Handlungen, die aus Gewalt oder Zwang oder unwissentlich geschehen, verdienen demgegenüber weder Lob noch Tadel, sondern allenfalls Nachsicht oder Entschuldigung. Die Beobachtung, dass Willentlichkeit Voraussetzung für Lob und Tadel ist, ist Ausgangspunkt gewesen für die Betrachtung des Willentlichen und Unwillentlichen in den Kapiteln 7– 9 von Buch II. In Kapitel 6 leitet Aristoteles die darauffolgende Diskussion über Willentlichkeit wie folgt ein: [EE II 6, 1223a9 – 10 und 1223a13 – 18]⁹⁶⁷ Da also die Tugend und die Schlechtigkeit und die Werke, die daraus hervorgehen, teilweise lobenswert und teilweise tadelnswert sind (…), ist klar, dass sowohl die Tugend als auch die Schlechtigkeit sich auf die Handlungen beziehen, für die eine Person selbst verantwortlich ist und deren Ursprung sie ist. Es bleibt also zu bestimmen, wofür eine Person selbst verantwortlich ist und wovon sie Ursprung ist. Nun stimmen wir alle darin überein, dass jemand für all die Dinge, die willentlich und dem Entschluss des Einzelnen gemäß sind, verantwortlich ist, während er für das, was unwillentlich ist, nicht selbst verantwortlich ist. Und all die Dinge, zu denen sich jemand entschlossen hat, die tut er auch klarerweise willentlich. Deshalb ist klar, dass sowohl Tugend als auch Schlechtigkeit sich auf willentliche Dinge beziehen.
Aristoteles motiviert hier die Untersuchung von Willentlichkeit und Unwillentlichkeit durch zwei zentrale Behauptungen: Erstens ist Willentlichkeit eine not-
EE II 6, 1223a9 – 10 und 1223a13 – 18: ἐπεὶ δ᾿ ἥ τε ἀρετὴ καὶ ἡ κακία καὶ τὰ ἀπ᾿ αὐτῶν ἔργα τὰ μὲν ἐπαινετὰ τὰ δὲ ψεκτά (…), δῆλον ὅτι καὶ ἡ ἀρετὴ καὶ ἡ κακία περὶ ταῦτ᾿ ἐστιν ὧν αὐτὸς αἴτιος καὶ ἀρχὴ πράξεων. ληπτέον ἄρα ποίων αὐτὸς αἴτιος καὶ ἀρχὴ πράξεων. πάντες μὲν δὴ ὁμολογοῦμεν, ὅσα μὲν ἑκούσια καὶ κατὰ προαίρεσιν τὴν ἑκάστου, ἐκεῖνον αἴτιον εἶναι, ὅσα δ᾿ ἀκούσια, οὐκ αὐτὸν αἴτιον. πάντα δ᾿ ὅσα προελόμενος, καὶ ἑκὼν δῆλον ὅτι. δῆλον τοίνυν ὅτι καὶ ἡ ἀρετὴ καὶ ἡ κακία τῶν ἑκουσίων ἂν εἰησαν.
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9 Bestimmung des Verhältnisses der prohairesis zur Charaktertugend
wendige Bedingung für Lob und Tadel, und zweitens zählen Tugenden und Schlechtigkeiten ebenso wie die guten und schlechten Handlungen, die daraus hervorgehen, zu den lobenswürdigen resp. tadelnswerten Dingen.⁹⁶⁸ Der Schlusspassus in Kapitel 11 nimmt diese Thesen explizit auf: „Daher ist es notwendig, dass Schlechtigkeit und Tugend willentlich sind, denn es gibt keine Notwendigkeit, schlechte Dinge zu tun. Deshalb ist auch die Schlechtigkeit tadelnswert und die Tugend lobenswürdig.“⁹⁶⁹ Umstritten ist die Frage, inwiefern Willentlichkeit eine notwendige Voraussetzung dafür ist, dass Tugenden oder Schlechtigkeiten gelobt oder getadelt werden. Aus der zitierten Passage in EE II 6 geht deutlich hervor, dass Aristoteles im Fall von guten oder schlechten Handlungen annimmt, dass sie lobens- resp. tadelnswert sind, wenn sie willentlich geschehen und auf einem Entschluss beruhen. Fraglich ist aber, ob er auch im Fall von Tugend und Schlechtigkeit annimmt, dass sie Lob oder Tadel verdienen, weil sie willentlich erworben wurden. Anders formuliert: Ist Willentlichkeit auch eine notwendige Bedingung dafür, dass der Charakter lobens- resp. tadelnswürdig ist? Die Formulierung in 1228a7– 10 scheint diese Annahme nahezulegen, da hier Tugend und Schlechtigkeit ausdrücklich als willentlich bezeichnet werden. Das hieße, dass die Willentlichkeit des Charakters notwendige Voraussetzung dafür ist, dass eine Person für ihren Charakter und letztlich auch für die Handlungen, die auf diesem Charakter beruhen, Lob oder Tadel verdient. Meyer argumentiert gegen diese Auffassung, Aristoteles die Position zuzuschreiben, dass es dafür, dass Tugend und Schlechtigkeit lobens- resp. tadelnswürdig sind, notwendig ist, dass sie willentlich erworben wurden: „Nowhere in any of his discussions of voluntariness does Aristotle indicate that he thinks the praiseworthiness and blameworthiness of states of character requires that they be voluntary.“⁹⁷⁰ Meyer vertritt stattdessen die Ansicht, dass willentliche Handlungen lobens- und tadelnswürdig sein können, ohne dass angenommen werden muss, dass der Charakter, aus dem die Handlungen hervorgehen, willentlich ist. Ich werde im Kapitel „13.Willentlichkeit und Zurechenbarkeit von Charakterdispositionen“ ausführlich auf die Diskussion der Willentlichkeit des Charakters zurückkommen. An dieser Stelle ist zunächst wichtig zu sehen, dass die Beschreibung in 1228a7– 10 trotz des ersten Anscheins offen für Meyers Verständnis ist. Denn die scheinbar eindeutige Aussage in 1228a7– 8, dass Tugend und Schlechtigkeit willentlich sind, erläutert sie damit, dass Aristoteles häufig nicht zwischen der Aussage, dass Tugend und Schlechtigkeit willentlich sind („it is up to us to be good or bad“), und der Aussage,
Vgl. auch Meyer zu dieser Stelle: Meyer 2011, 40 – 41. EE II 11, 1228a7– 10. Meyer 2011, 35 – 58; hier: 44.
9.4 Relevanz der Entschlüsse für die moralische Beurteilung einer Person
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dass gute und schlechte Handlungen willentlich sind („it is up to us to do good or bad things“), unterscheidet.⁹⁷¹ Anhand verschiedener Stellen lasse sich zeigen, dass Aristoteles die Aussagen austauschbar verwendet, ohne auf den sachlichen Unterschied zwischen Handlungen und Charakterdispositionen Wert zu legen.⁹⁷² Auch der Kontext im letzten Teil von Kapitel 11 lässt Meyer zufolge dieses Verständnis zu, da hier mit einer Ausnahme Willentlichkeit nur Handlungen zugeschrieben wird.⁹⁷³ Präziser ist in diesem Punkt die Passage EE II 6, 1223a9 – 18, denn hier sagt Aristoteles, dass sich Tugend und Schlechtigkeit auf diejenigen Handlungen beziehen, für die eine Person verantwortlich ist, und verantwortlich ist eine Person für Handlungen, die willentlich und einem Entschluss gemäß geschehen. Nicht gesagt wird an dieser Stelle dagegen, dass Handlungen Lob und Tadel verdienen, weil der Charakter, aus dem sie hervorgehen, etwas Willentliches ist und eine Person dafür verantwortlich ist. Damit ist die Frage, ob Willentlichkeit für Aristoteles eine notwendige Bedingung für die Lobens- resp. Tadelnswürdigkeit des Charakters ist, noch nicht entschieden. Mit Blick auf die Schlusspassage in EE II 11 ist aber festzuhalten, dass die Formulierung offen ist für Meyers Lesart, dass Tugend und Schlechtigkeit Lob oder Tadel verdienen, selbst wenn nicht notwendigerweise die Bedingung gilt, dass der Charakter willentlich ist. Dies ist möglich, wenn man in 1228a7– 8 die Erwähnung von Schlechtigkeit und Tugend derart versteht, dass damit über die entsprechenden Handlungen gesprochen wird. Der dritte relevante Aspekt des Schlussabschnitts knüpft an das an, was unmittelbar zuvor zu den Entschlüssen und ihrer Verbindung mit den Tugenden gesagt wurde, nämlich dass Entschlüsse lobenswerter (epainetôteron) sind als Handlungen. Die Behauptung, dass sich Lob und Tadel primär auf Entschlüsse und nicht auf Handlungen beziehen, ist nicht überraschend. Entschlüsse sind zuverlässigere Indikatoren als Handlungen, ob eine Person tugendhaft oder schlecht ist, weil jemand auch aus Zwang oder aus Zufall gut oder schlecht handeln kann, ohne dass die Person gut oder schlecht ist. Es kommt vor, dass eine
Vgl. Meyer 2011, 41– 42. Meyer führt ihre Ansicht, dass Aristoteles nicht zwischen diesen Aussagen unterscheidet, in Bezug auf ein Argument in MM I 9 – 11 ein (1187a18 – 23): „Aber so scheint es bei uns zu liegen, gut oder schlecht zu sein. Ferner wird dies bestätigt durch unsere Praxis des Lobens und Tadelns. Denn Lob richtet sich auf die Tugend, und Tadel auf die Schlechtigkeit; aber Lob und Tadel beziehen sich nicht auf die unwillentlichen Dinge. Daher ist klar, dass es gleichermaßen bei uns liegt, die guten und die schlechten Dinge zu tun.“ Meyer weist auf die zitierte Passage in EE II 6 (1223a9 – 15) hin. Ihre Diskussion von EN III 7 werde ich im Abschnitt „13.4 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit des Charakters: 1113b21– 1114a31“ ausführlich behandeln. Vgl. Meyer 2011, Anm. 18, 55.
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Handlung den Charakter einer Person nicht korrekt anzeigt, weil andere Faktoren neben dem Charakter eine Handlung mitverursachen. Das ist bei Entschlüssen nicht der Fall. Aus Zufall kann man sich nicht entschließen, und Aristoteles schließt explizit aus, dass man sich aus Zwang entschließen kann (1228a14). Letzteres ist nicht selbstverständlich, da Aristoteles damit offenbar behauptet, dass sich der Entschluss bei gemischten Handlungen nur auf das Worumwillen der Handlung bezieht, nicht aber auf die Mittel, die notwendig sind, um das Ziel zu erreichen. Der Kapitän entschließt sich demnach nur zur Rettung des Schiffs, nicht aber zum Über-Bord-Werfen der Ladung. Der vierte und letzte Punkt in der Schlusspassage des Kapitels ist, dass die Betätigung der Tugend, d. h. tugendhafte Handlungen, wählenswerter (hairetôteron) ist als der Entschluss. Diese Behauptung könnte irritieren angesichts der Bemerkung, dass Entschlüsse lobenswerter sind als die Betätigung der Tugend. Ich fasse dies einerseits als ein Zugeständnis von Aristoteles an die Tatsache auf, dass Entschlüsse weniger offensichtlich sind als Handlungen und sich jemandem nicht einfach ansehen lässt, wie seine Entschlüsse beschaffen sind.⁹⁷⁴ Andererseits ist es für Aristoteles zentral, dass nicht der bloße Tugendbesitz das ist, wofür eine Person Lob verdient, sondern dass sich Lob auf die Betätigung der tugendhaften Disposition bezieht: [EE II 1, 1219a6 – 11]⁹⁷⁵ Und es soll also gelten, dass so wie die Dispositionen sich zueinander verhalten, so sollen sich auch die Werke, die auf ihnen beruhen, zueinander verhalten; und das Ziel ist das Werk einer jeden Sache. Aufgrund dessen ist klar, dass das Ziel besser ist als die Disposition. Denn das Ziel ist als Ziel das Beste. Denn es war angenommen worden, dass das Ziel das Beste und Letzte ist, um dessentwillen alles andere da ist. Dass also das Werk besser ist als die Disposition und Beschaffenheit, ist klar.
Die Betätigung von guten Dispositionen im Allgemeinen wird hier als besser als die Werke, die daraus hervorgehen, bezeichnet. Die Fähigkeit, gute Mäntel zu nähen, ist zwar etwas Gutes, aber besser ist die Ausübung dieser Fähigkeit, aus der am Ende ein brauchbarer Mantel resultiert. Ähnlich verhält es sich auch bei den Tugenden: Tugendbesitz allein ist noch nicht hinreichend für das Erreichen der eudaimonia; worauf es ankommt, ist die Betätigung der Tugenden in Form von
Vgl. Woods 2005, 157; vgl. auch Simpson 2013, 285. EE II 1, 1219a6 – 11: καὶ ὡς ἔχουσιν αἱ ἕξεις πρὸς ἀλλήλας, οὕτω καὶ τὰ ἔργα τὰ ἀπὸ τούτων πρὸς ἄλληλα ἐχέτω. καὶ τέλος ἑκάστου τὸ ἔργον. φανερὸν τοίνυν ἐκ τούτων ὅτι βέλτιον τὸ ἔργον τῆς ἕξεως· τὸ γὰρ τέλος ἄριστον ὡς τέλος· ὑπέκειτο γὰρ τέλος τὸ βέλτιστον καὶ τὸ ἔσχατον, οὗ ἕνεκα τἆλλα πάντα. ὅτι μὲν τοίνυν τὸ ἔργον βέλτιον τῆς ἕξεως καὶ τῆς διαθέσεως, δῆλον·
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Handlungen. Ferner ist Tugendbesitz auch kein Garant für tugendhafte Handlungen, denn auch der Tugendhafte kann unter Umständen, z. B. aus Zwang oder unwissentlich, schlecht handeln. Die eudaimonia erlangt der Tugendhafte jedoch nur durch tugendhafte Handlungen.⁹⁷⁶ Deshalb ist es einleuchtend, dass Aristoteles die Betätigung der Tugend als wählenswerter als den bloßen Tugendbesitz bezeichnet. Ferner ist die Betätigung der Tugend besser als die Entschlüsse, weil auch ein tugendhafter Entschluss unwirksam bleiben und nicht zur entsprechenden tugendhaften Handlung führen kann, wenn etwa hindernde Umstände auftreten. Mit der Diskussion des letzten Teils von EE II 11 ist die Betrachtung der Bestimmung der prohairesis in den Ethiken abgeschlossen. Aristoteles’ Auseinandersetzung mit der prohairesis ist nicht nur ausführlich, sondern auch vielschichtig und im Detail nicht immer leicht und eindeutig fassbar. Einerseits steht der Entschluss in enger Verbindung sowohl zum Wunsch als auch zu Überlegung und Meinung, andererseits grenzt Aristoteles ihn klar davon ab. Ich habe dafür argumentiert, den Entschluss als eine besondere Art von Strebung (orexis) aufzufassen: Der Entschluss geht vom allgemeinen Gegenstand eines rationalen Wunsches aus und er hat diejenige Einzelhandlung zum Inhalt, welche die Überlegung als den ersten notwendigen und am besten geeigneten Schritt identifiziert hat, um letztlich den Gegenstand des Wunsches zu realisieren. Ein Wunsch wird somit handlungsmotivierend, wenn sein Gegenstand durch Überlegung auf eine konkrete Einzelhandlung zurückgeführt wird, die ihrerseits Inhalt eines Entschlusses ist. Ein Entschluss führt direkt zu einer entsprechenden Handlung, wenn keine hindernden Umstände eintreten. Entschlüsse sind nach zwei Bedingungen zu individuieren: Um anzugeben, was für einen Entschluss eine Person gefasst hat, muss man erstens angeben, um welchen Ziels willen sie sich zu einer Handlung entschlossen hat, und zweitens, zu welchen Mitteln sie sich entschlossen hat, um dieses Ziel zu erreichen. Für die Richtigkeit eines Entschlusses ist daher zweierlei notwendig: Zum einen muss das Ziel, um dessentwillen sich eine Person zu einer Handlung entschließt, richtig sein, zum anderen müssen die Mittel, die sie wählt, um das Ziel zu realisieren, richtig sein. Für die Richtigkeit des Ziels ist nach Aristoteles die Tugend ausschlaggebend, während Ursache für die Richtigkeit der Dinge, die zum richtigen Ziel führen, die Klugheit ist. Klugheit und Charaktertugend erfüllen diese Funktionen dabei nach EN VI 13 nicht als voneinander getrennte Vermögen: Vielmehr lassen sich Aristoteles’ Ausführungen in EN VI 13 so interpretatieren, dass die Klugheit der
Vgl. Woods 2005, 156 – 157: „[…] even the virtuous sometimes act in the wrong way involuntarily; so possession of virtue is not by itself the best of all possible situations.“
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Charaktertugend eingebaut ist und mit dieser zusammen eine einheitliche Disposition der Seele bildet. Aristoteles bestimmt die Charaktertugend als eine Disposition, die sich in den richtigen Entschlüssen äußert. Damit die Entschlüsse einer Person richtig sind, müssen sie sowohl hinsichtlich ihres Ziels als auch hinsichtlich der Dinge, die zu diesem Ziel führen, richtig sein. Charaktertugend kann nur dann eine Disposition sein, die sich in den richtigen Entschlüssen äußert, wenn die Entschlüsse sowohl in Bezug auf ihre Ziele als auch in Bezug auf die Mittel, die zur Realisierung dieser Ziele dienen, richtig sind. Um die Dinge, die um des richtigen Ziels willen gewählt werden, richtig zu machen, ist die Charaktertugend auf das Mitwirken der Klugheit angewiesen, denn die Klugheit ist mit dem Auffinden der richtigen Mittel befasst. In Buch II der Eudemischen Ethik scheint diese Aufgabenteilung zwischen der Charaktertugend und der Klugheit indes noch derart konzipiert zu sein, dass die Klugheit als Vermögen des rationalen Seelenteils neben der Charaktertugend fungiert, die ausschließlich eine Haltung des nicht-rationalen Seelenteils ist. Demgegenüber legt der Text in EN VI 13 das Verständnis nahe, dass Aristoteles nunmehr die Klugheit als konstitutiven Bestandteil der Charaktertugend auffasst und damit die Charaktertugend nicht ausschließlich als ein nicht-rationales Seelenvermögen versteht. Leitende Frage von Teil III, der mit Aristoteles’ Bestimmung der prohairesis befasst ist, war, ob die prohairesis als eine hinreichende Bedingung für Zurechenbarkeit anzusehen ist. Dass diese Frage zu bejahen ist, lässt sich mit der Bestimmung der Charakterdispositionen als Dispositionen, die sich in Entschlüssen äußern, begründen. In den Entschlüssen, die eine Person fasst, kommt zum Ausdruck, wie ihr Charakter beschaffen ist; ihre Entschlüsse sind – anders als ihre Handlungen – hinreichende Beurteilungsgrundlage für ihre Charakterdispositionen. Für ihre Entschlüsse verdient eine Person Lob oder Tadel, weil sich darin ihr Charakter äußert. Deswegen lässt sich einer Person eine gute oder schlechte Handlung, zu der sie sich entschlossen hat, zurechnen. Hat sich der Entschluss damit als hinreichende Bedingung für die Zurechenbarkeit einer entsprechenden Handlung erwiesen, so drängt sich sogleich die Frage auf, ob ein Entschluss auch eine notwendige Bedingung für Zurechenbarkeit ist. Diese Annahme birgt Schwierigkeiten, denn dann wären nur solche Handlungen zurechenbar, die auf einem Entschluss beruhten, der wiederum das Ergebnis eines Überlegungsprozesses ist. Nicht zurechenbar wären demgegenüber dann allerdings beispielsweise Handlungen, die spontan erfolgt sind, oder Handlungen, die auf nicht-rationalen Emotionen beruhen und keine Überlegung involvieren. Das grenzt den Bereich der zurechenbaren Handlungen sehr ein. Es gibt kaum jemanden, der tatsächlich meint, eine Person sei nach Aristoteles nur dann für ihr Handeln zu loben oder zu tadeln, wenn ihre Handlung auf einem Entschluss beruht. Allerdings ist dann zu begründen, worin in diesem Fall die hinreichende
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Grundlage für die Zurechenbarkeit der entsprechenden Handlung zu sehen ist, wenn ihr kein Entschluss zugrunde liegt. Um diese Frage zu beantworten, werde ich in Teil IV bestimmte Arten von Handlungen untersuchen, welche nicht auf einem Entschluss beruhen und die Aristoteles offenbar nichtsdestoweniger als zurechenbar ansieht.
Teil IV: Anwendung der aristotelischen Konzeption von Zurechenbarkeit
10 Die Zurechenbarkeit von Handlungen aus thymos Aristoteles’ Auffassung des thymos ist nicht leicht zu fassen. Er entnimmt den Ausdruck „θυμός“ der griechischen Umgangssprache, insbesondere der gebildeten Sprache, wo er sowohl in Dichtung, Drama und Epos als auch in philosophischen Texten, beispielsweise bei Platon, ein häufiger Ausdruck ist.⁹⁷⁷ Allerdings legt er dem Ausdruck eine spezifische Bedeutung bei, und es ist kein leichtes Unterfangen, diese genau zu bestimmen. Das liegt einerseits daran, dass Aristoteles zwar regelmäßig und verteilt auf ein breites Spektrum an Schriften vom thymos spricht: Die Behandlung erstreckt sich auf naturphilosophische Werke (z. B. De Motu Animalium, De Partibus Animalium), die Ethiken, die Politik, die Rhetorik und De Anima. Andererseits findet sich nirgendwo eine eigene Abhandlung zum thymos, in der Aristoteles sein Verständnis klar darlegt.⁹⁷⁸ Überdies verwendet er den Ausdruck offenbar nicht nur in einer Bedeutung, sondern in (mindestens) zwei distinkten, jedoch auch nicht zusammenhanglosen Bedeutungen. Nur sucht man leider auch vergeblich nach Stellen, an denen er diese beiden Bedeutungen und den Unterschied dazwischen näher erläutert.⁹⁷⁹ Es ist also Aufgabe des Lesers, die verschiedenen Erwähnungen des thymos bei Aristoteles zu sichten und in Relation zueinander zu bringen, um anschließend den Versuch zu unternehmen, zu beurteilen, ob ihnen eine oder verschiedene kohärente Auffassungen zugrunde liegen. Eine umfassende Auseinandersetzung mit dem thymos ist an dieser Stelle zwar nicht zu leisten. Aristoteles’ Bemerkungen zum thymos sind aber insoweit unmittelbar relevant für meine Fragestellung, als sie Anhaltspunkte für eine Erklärung liefern, weshalb er Handlungen aus thymos offenbar häufig nicht – zumindest nicht im vollen Sinn –
Vgl. zum platonischen Verständnis des thymos: Frère 2004. Vgl. zu Homers Auffassung des thymos: Cheyns 1983. So z. B. auch Nussbaum 1985, 336: „[…] but we must conclude that Aristotle nowhere gives a sufficiently clear analysis of the objects of θυμός, of its relation to reason and pleasure, and of its various types and manifestations.“ Ähnlich auch Natali 2009, 114. Freilich ist es richtig, dass Aristoteles in Rhet. II 2 eine lange und detaillierte Darstellung des Zorns liefert, den er dort als erste einer ganzen Reihe von Emotionen behandelt, die ihm zufolge für den Redner wichtig sind, weil sie Einfluss auf die Urteilsbildung haben können. Für den Redner sind sie von Bedeutung, weil er seine Zuhörer u. a. durch ein Einwirken auf deren Emotionen überzeugen kann. Allerdings liegt der Behandlung des thymos in Rhet. II 2, wie ich im Folgenden zeigen will, eine bestimmte Verständnisweise des thymos zugrunde, nach der darunter eine Emotion zu verstehen ist, und diese Bedeutung nicht ohne Weiteres auf alle anderen Stellen übertragbar ist. https://doi.org/10.1515/9783110517583-012
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10 Die Zurechenbarkeit von Handlungen aus thymos
als zurechenbare Handlungen ansieht. Um dies sagen zu können, werde ich die zwei zentralen Verständnisweisen des thymos bei Aristoteles unterscheiden und näher bestimmen. Vor diesem Hintergrund wird erklärlich, ob und inwiefern Handlungen, die aufgrund des thymos geschehen, nach Aristoteles zurechenbar sein können. Eine Vorbemerkung zur Eingrenzung ist vorab nützlich. Zu Beginn von De Anima unterscheidet Aristoteles zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Perspektiven, aus denen sich das, was Emotionen (pathê) sind, behandeln lässt: So lässt sich der thymos sowohl aus Sicht des ‚Naturforschersʻ als auch aus der Perspektive des ‚Dialektikersʻ bestimmen, und beide Untersuchungen führen zu jeweils unterschiedlichen Ergebnissen. So bestimmt der eine den thymos als „Kochen des Blutes und des Warmen in der Herzgegend“, der andere dagegen als „Streben nach Wiedervergeltung“, oder anders formuliert: der eine gibt die Materie an, der andere die Form oder den Begriff. ⁹⁸⁰ Ich beschränke mich hier auf die Perspektive des Dialektikers, da ich den thymos als einen grundlegenden Faktor menschlichen Handelns betrachte, der für die Zurechenbarkeit von Handlungen relevant ist. Aus der Perspektive des Naturforschers lässt sich dagegen kein signifikanter Unterschied in der Bestimmung des thymos, des Zorns, bei Erwachsenen, Kindern oder Tieren benennen, da für alle die gleiche physiologische Erklärung gilt.
10.1 Vorläufer der aristotelischen Behandlung des thymos Wie bereits erwähnt, nimmt Aristoteles mit dem Ausdruck „θυμός“ einen Ausdruck auf, der vor ihm besonders in der gebildeten Sprache oft vorkommt. So ist „μῆνις“ – ein weiterer, häufig synonym verwendeter griechischer Ausdruck für Zorn resp. Wut – das erste Wort der Ilias: „Singe, Göttin, vom Zorn des Peleiaden Achilleus, der den Achaiern unendliche Leiden schuf, […]“⁹⁸¹. Achills Zorn kann mit Recht als einer der berühmtesten Fälle von Zorn in der Literatur bezeichnet werden. Achill ist von Agamemnon schwer beleidigt worden und sinnt auf Rache, um die empfundene Herabsetzung zu vergelten. Zu diesem Zweck fasst er den
De. An. I 1, 403a28-b2: „Der Naturforscher und der Dialektiker würden diese [sc. Emotionen; BL] wohl auf jeweils andere Weise bestimmen, wie z. B. was der Zorn ist. Der eine nämlich als Streben nach Wiedervergeltung oder etwas Derartiges, der andere dagegen als Kochen des Blutes und des Warmen in der Herzgegend. Von diesen nennt der eine die Materie, der andere die Form und den Begriff [meine Übersetzung; BL].“ Ilias I 1: μῆνιν ἄειδε, θεά, Πηληϊάδεω ᾿Aχιλῆος οὐλομένην, ἢ μυρί᾿ ᾿Aχαιοῖς ἄλγε᾿ ἔθηκε, […].
10.1 Vorläufer der aristotelischen Behandlung des thymos
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Entschluss, dem Krieg gegen die Trojaner so lange fernzubleiben, bis die Griechen in derart große Not geraten sind, dass Agamemnon genötigt ist, Achill Genugtuung zu verschaffen und ihn zum Eingreifen aufseiten der Griechen zu bewegen. Dabei nimmt Achills Zorn eine solche Heftigkeit an, dass ihm selbst sein Freund Patroklos Starrsinn und Gefühllosigkeit vorwirft.⁹⁸² Erst nach dem Tod des Patroklos bereut Achill seine Hartherzigkeit und greift wieder in die Kampfhandlungen ein. Dass auch Aristoteles literarische Beispiele wie die Epen Homers bei seiner Behandlung des thymos vor Augen hat, zeigen nicht zuletzt die wörtlichen Zitate, die er verschiedentlich anführt. So zitiert er etwa im Kontext der Behandlung der Tapferkeit aus thymos in EN III 11 (1116b23 – 1117a9) mehrere Wendungen von Homer, wie z. B. „warf ihm Kraft in den Zorn“ („σθένος ἔμβαλε θυμῷ“) und „erregte Kraft und Zorn“ („μένος καὶ θυμὸν ἔγειρε“), die angelehnt sind an Formulierungen in der Ilias. ⁹⁸³ In literarischen Verwendungen wie diesen geht der thymos oft einher mit Aggressivität und Wetteifer sowie einem kampfeslustigen Drang zum Sieg. In der Tragödie steht der thymos zudem oft in Verbindung mit leidenschaftlichen und überwältigenden Emotionen, die sich nicht (mehr) rational kontrollieren lassen. In Platons Seelenkonzeption in der Politeia stellt der thymos einen eigenständigen Seelenteil neben dem begehrenden (epithymêtikon) und dem vernünftigen Teil (logistikon) dar.⁹⁸⁴ Dem thymoeides, dem ‚mutvollenʻ Seelenteil, kommt es zu, dem vernünftigen Seelenteil zu gehorchen und ihm zu helfen.⁹⁸⁵ Als spezifische Tugend des mutvollen Seelenteils bezeichnet Platon die Tapferkeit, die sich darin äußert, dass jemand unverändert das als furchterregend empfindet, was die Vernunft als furchterregend anerkennt.⁹⁸⁶ Platon assoziiert das thymoeides mit dem Stand der Wächter in der Polis, die sich ebenfalls durch ihre Tapferkeit auszeichnen und dadurch den Herrschern helfen, die Gerechtigkeit in der Polis zu gewährleisten. Auch Kinder verfügen Platon zufolge bereits über den
Ilias XVI 33: „Dich schufen die finsteren Fluten und die hochragenden Felsen, denn starr ist Dein Herz und gefühllos.“ [γλαυκὴ δέ σε τίκτε θάλασσα πέτραι τ᾿ ἠλίβατοι, ὅτι τοι νόος ἐστὶν ἀπηνής.]. Zwar handelt es sich nicht um wörtliche Zitate, sehr nahe kommen die Zitate aber folgenden Stellen in der Ilias: Ilias XVI 529: „[…] füllte mit Kraft ihm das Herz“ [μένος δέ οἱ ἔμβαλε θυμῷ] sowie Ilias XV 232 und Ilias XV 594: „erregte den Mut“ [ἔγειρε μένος μέγα]. Vgl. Rep. 439e-441c, insb. Rep. 440e7– 441a5. Rep. 441e4– 7. Rep. 442b10-c4.
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thymos, nicht jedoch über das logistikon, und auch Tieren schreibt Platon thymos zu.⁹⁸⁷
10.2 Zwei Grundbedeutungen von „thymos“ bei Aristoteles Aristoteles’ Behandlung des thymos weist einige Übereinstimmungen mit der platonischen Auffassung auf; allerdings bestehen auch spezifische Unterschiede. Bei Aristoteles lassen sich zwei Grundbedeutungen von „θυμός“ unterscheiden: Zum einen bezeichnet er mit dem Ausdruck eine Art von Strebung, eine orexis; zum anderen versteht er unter dem thymos eine Emotion bzw. einen Affekt, ein pathos. ⁹⁸⁸ Es muss jedoch sogleich hinzugefügt werden, dass diese beiden Bedeutungen häufig gemeinsam auftreten und in sachlicher Verbindung zueinander stehen. Denn die Strebung geht oft einher mit dem Empfinden einer (starken) Emotion, und eine Emotion bestimmt Aristoteles an einer zentralen und einschlägigen Stelle in der Rhetorik als eine Strebung.⁹⁸⁹ Wenn unter dem thymos eine Strebung zu verstehen ist, so ist dabei an eine Art Drang zu denken, der eine Person meist schwungvoll oder impulsartig zu einer bestimmten Reaktion antreibt. Ist unter dem thymos dagegen eine Emotion zu verstehen, so ist damit eine Art schmerzhafte innere Erregung angesichts eines vermeintlichen Unrechts gemeint. Diese zweite Bedeutung kommt wohl dem näher, was wir heute üblicherweise als Zorn bezeichnen. Im Folgenden will ich diese beiden Bedeutungen von thymos bei Aristoteles anhand von Textstellen belegen und deren Verhältnis zueinander untersuchen. Eine kurze Bemerkung zur Übersetzung ist noch erforderlich, da für „θυμός“ eine bemerkenswerte Vielzahl unterschiedlicher Übersetzungen zu finden ist. Im Deutschen ist eine der häufigsten Übersetzungen für „θυμός“ bei Aristoteles „Zorn“⁹⁹⁰; als
Rep. 441a8-b1 und Rep. 441b3 – 4. Ich gehe davon aus, dass sich eine analoge Differenzierung auch in Bezug auf die epithymia machen lässt. So bezeichnet Aristoteles einerseits eine der drei Arten von Strebung (orexis) als epithymia; andererseits führt er die epithymia auch in den meisten Auflistungen von pathê als eine Art von Emotion auf (vgl. hierzu Abschnitt „10.4 Thymos als eine Emotion (pathos)“). Diese unterschiedlichen Bedeutungen in Aristoteles’ Verwendung von „ἐπιθυμία“ nehme ich im Deutschen dadurch auf, dass ich den Ausdruck, wenn damit eine Strebung gemeint ist, mit „Begehren“ übersetze, und für die Verwendung im Sinn einer Emotion „Begierde“ gebrauche. Rhet. II 1, 1378a30 – 32; zitiert in Anm. 1074, S. 407, vgl. Abschnitt „10.4 Thymos als eine Emotion (pathos)“. Mit „Zorn“ übersetzen z. B. überwiegend Wolf bei der Übersetzung der EN (ähnlich auch Dirlmeier), Rapp bei der Übersetzung der Rhetorik und W. Kullmann für PA.
10.2 Zwei Grundbedeutungen von „thymos“ bei Aristoteles
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Alternativen kommen „Wut“⁹⁹¹, „Mut(willen)“⁹⁹², „Gemütsaufwallung“⁹⁹³, „impulsiver Drang“⁹⁹⁴ oder „Erregung bzw. Aufregung“⁹⁹⁵ vor. Im Englischen wird meist mit „spirit“⁹⁹⁶ bzw. „spiritedness“⁹⁹⁷, „spirited desire“⁹⁹⁸, „spirited, competitive impulse“⁹⁹⁹, „passion“¹⁰⁰⁰, oder „anger“¹⁰⁰¹ übersetzt, im Französischen mit „emportement“ oder „courage“. Häufig bedienen sich Übersetzer und Autoren auch verschiedener Übersetzungen, um die Bedeutungsunterschiede in Aristoteles’ Verwendung von „θυμός“ abzubilden, so dass der thymos im Sinn einer Strebung oft mit „Mut(willen)/impulsiver Drang/passion/spiritedness/spirited desire“ bezeichnet wird, während auf den thymos im Sinn einer Emotion mit „Zorn/Erregung/Aufregung/anger“ Bezug genommen wird.¹⁰⁰² Allerdings setzt dies voraus, dass stets ersichtlich ist, welche Bedeutung jeweils vorliegt, und dies lässt sich nicht bei jeder Passage leicht und eindeutig feststellen, sondern setzt z.T. bereits eine bestimmte Deutung des Textes voraus. Aus diesem Grund behalte ich im Weiteren den griechischen Ausdruck weitgehend in Umschrift bei, um dem Verständnis der zu behandelnden Textstellen nicht durch die Übersetzung vorzugreifen.
So verfährt Rapp bisweilen anstelle von „Zorn“ für die Rhetorik. Schütrumpf verwendet z. B. „Mut“ in Pol. VII 7, 1327b36 – 38. „Mutwillen“ ist K. Fischers Vorschlag neben „Zorn“ in: Höffe 205, 594. Schütrumpf in Pol. VII 16, 1334b22 – 24. Buddensiek 1997 und 1999. Wolf verwendet „Erregung“ bisweilen anstelle von „Zorn“. Fischer gibt Aufregung als weitere Bedeutung an. Taylor übersetzt „θυμός“ in EN III 5 (1111b18 – 19) und 11 (1116b23 ff.) mit „spirit“, während er „ὀργή“ in EN II 5 (1105b22) und IV 11 (1125b26 ff.) mit „anger“ übersetzt. Irwin übersetzt „θυμός“ mit „spirit“, räumt aber ein, dass in 1105a8, 1111b18, 1116b23 und 1135b26 „temper“ eine besser passende Übersetzung zu sein scheint, weil der thymos dort jeweils mit Emotionen (entweder Stolz oder Zorn (anger, ὀργή)) verbunden ist (Irwin 1999, 322). Kenny übersetzt alternativ mit „(desire of) temper“ oder „anger“; Woods übersetzt mit „spirit“. So Nussbaum in der Übersetzung von MA. Cooper 1996a und 1996b und 1999; Lorenz 2006; Grönroos 2007. Cooper 1988. So Hamlyn in der Übersetzung von De An. II und III. Ross 1998 übersetzt „θυμός“ und „ὀργή“ gleichermaßen mit „spirit“. Vgl. z. B. die Anmerkung Rackhams (Rackham 1999, 167): „‚θυμόςʻ means both ‚spiritʻ or ‚high spiritʻ and also its manifestation in anger.ʻ“
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10.3 Thymos als eine Strebung (orexis) Eindeutig als Bezeichnung für eine Art von Strebung verwendet Aristoteles den Ausdruck „θυμός“, wenn er die verschiedenen Arten von Strebung (orexis) aufzählt. Üblicherweise unterscheidet er drei Arten von Strebung. In dieser Weise grenzt er den thymos z. B. in MA 7 und in De An. II 3 sowie III 9 von Begehren und Wunsch ab:¹⁰⁰³ [MA 7, 700b22 – 24]¹⁰⁰⁴ Wunsch und thymos und Begehren sind alle Strebungen, und der Entschluss ist Denken und Streben gemeinsam. Daher ist das erste, das bewegt, das Erstrebte und das Gedachte. [De An. II 3, 414a32-b2 und III 9, 432b5 – 6]¹⁰⁰⁵ Pflanzen haben allein das vegetative Vermögen, andere [Lebewesen] haben dieses und das Wahrnehmungsvermögen. Und wenn das Wahrnehmungsvermögen, dann auch das Strebevermögen. Denn Streben ist Begehren und thymos und Wunsch. […] denn im denkenden Teil [sc. der Seele; BL] gibt es den Wunsch, im nicht-rationalen Teil das Begehren und den thymos.
Innerhalb dieser Trias erinnern die beiden Strebungen Begehren und thymos an das platonische Seelenmodell, bei dem die Seele in einen denkenden (logistikon), einen muthaften (thymoeides) und einen begehrenden (epithymêtikon) Teil unterschieden ist.¹⁰⁰⁶ Vor dem platonischen Hintergrund leuchten somit auch die Übersetzungen „Mut(willen)/impulsiver Drang/spirit“ für „θυμός“ ein. Allerdings übernimmt Aristoteles die platonische Dreiteilung der Seele nicht. Vielmehr geht er in der EN von einem zweiteiligen Modell der Seele aus,¹⁰⁰⁷ bei dem er einen Teil, der Vernunft (logos) besitzt, von einem nicht-rationalen Teil (to alogon) ab-
Vgl. auch MM I 12 (1187b36 – 37): „Es ist das Streben, gemäß dem wir Dinge tun, und es gibt drei Arten von Streben: Begehren, thymos, Wunsch.“ [ἔστιν οὖν καθ᾿ ὃ πράττομεν ὄρεξις· ὀρέξεως δ᾿ ἐστὶν εἴδη τρία, ἐπιθυμία θυμὸς βούλησις.] Vgl. auch Rhet. I 10, 1368b37– 1369a4. MA 7, 700b22 – 24: βούλησις δὲ καὶ θυμὸς καὶ ἐπιθυμία πάντα ὄρεξις, ἡ δὲ προαίρεσις κοινὸν διανοίας καὶ ὀρέξεως· ὥστε κινεῖ πρῶτον τὸ ὀρεκτὸν καὶ διανοητόν. De An. II 3, 414a32-b2: […] ὑπάρχει δὲ τοῖς μὲν φυτοῖς τὸ θρεπτικὸν μόνον, ἑτέροις δὲ τοῦτό τε καὶ τὸ αἰσθητικόν. εἰ δὲ τὸ αἰσθητικόν, καὶ τὸ ὀρεκτικόν· ὄρεξις μὲν γὰρ ἐπιθυμία καὶ θυμὸς καὶ βούλησις, […] [meine Übersetzung; BL]. De An. III 9, 432b5 – 6: ἔν τε τῷ λογιστικῷ γὰρ ἡ βούλησις γίνεται, καὶ ἐν τῷ ἀλόγῳ ἡ ἐπιθυμία καὶ ὁ θυμός [meine Übersetzung; BL]. Vgl. auch EE II 7, 1223a26 – 27, 1225b24– 26 und Rhet. I 10, 1368b37– 1369a4. Vgl. Rep. 375a, Rep. 435e4, insb.: Rep. 440e3 – 441a. Lorenz weist darauf hin, dass dieses zweiteilige Modell der menschlichen Seele das detaillierteste im gesamten aristotelischen Werk ist (Lorenz 2006, 186), so dass der Textstelle zu Recht großes Gewicht beigemessen werden kann.
10.3 Thymos als eine Strebung (orexis)
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grenzt (EN I 13, 1102a27– 28).¹⁰⁰⁸ Beim nicht-rationalen Teil unterscheidet Aristoteles nochmals einen Teil, der keinerlei Anteil an der Vernunft hat und dem die physiologischen Fähigkeiten (Wachstum, Stoffwechsel etc.) zugeordnet werden (EN 1102a32– 33), und einen Teil, der insofern Anteil an der Vernunft hat, als er auf sie hören und ihr gehorchen kann: [EN I 13, 1102b28 – 31]¹⁰⁰⁹ Es scheint also, dass der nicht-rationale Teil der Seele zweifach ist. Der vegetative Teil hat nämlich in gar keiner Weise Anteil an der Vernunft, während der begehrende Teil und der strebende Teil im Allgemeinen (to d’ epithymêtikon kai holôs orektikon) auf irgendeine Weise Anteil [an ihr] haben, insofern sie auf sie hören und ihr gehorchen.
Dem nicht-rationalen Teil der Seele, der aber insofern rational ist, als er auf die Vernunft hören kann, ordnet Aristoteles an dieser Stelle die Strebung des Begehrens und „den strebenden Teil im Allgemeinen“ (holôs orektikon) zu. Viele Kommentatoren verstehen ihn hier so, als rechne er damit alle drei Arten von Strebung dem nicht-rationalen Seelenteil zu, also außer Begehren und thymos auch den Wunsch (boulêsis).¹⁰¹⁰ Allerdings hat Lorenz bedenkenswerte Gründe für die Annahme vorgebracht, unter einer orexis an dieser Stelle nur bloßes, d. h.
Unter den beiden ‚Teilenʻ der Seele sind in diesem Modell allerdings keine Teile wie im platonischen Modell zu verstehen. Vielmehr fasst Aristoteles die Seele als ein System von Fähigkeiten (Vermögen) auf, wie etwa Wahrnehmungs- oder Denkvermögen; die Vermögen lassen sich wiederum in unterschiedliche Aspekte bzw. untergeordnete Systeme unterscheiden bzw. zusammenfassen, wie z. B. das Subsystem der nicht-rationalen Vermögen und das Subsystem der rationalen Vermögen. Wenn ich von Teilen spreche, dann ist dies im Sinn derartiger Subsysteme bzw. Aspekte zu verstehen (vgl. zur Beschreibung der Seele als System von Vermögen: Lorenz 2009, 181; vgl. auch Lorenz 2006, Anm. 6, 187: „What warrants talk of the parts of the soul, then, is the fact that the soul has, or is constituted by, distinguishable capacities.“ Lorenz zieht diese Folgerung auf Grundlage einer Passage in EE II 1, wo Aristoteles im Zusammenhang seiner Erklärung, dass zwei Seelenteilen Vernunft zukommt, unvermittelt die Bemerkung einflicht, dass es nicht darauf ankomme, ob die Seele Teile habe oder nicht; vielmehr sei wichtig, fügt er hinzu, dass die Seele verschiedene Fähigkeiten habe (EE II 1, 1219b32– 33: […] (διαφέρει δ᾿ οὐδὲν οὔτ᾿ εἰ μεριστὴ ἡ ψυχὴ οὔτ᾿ εἰ ἀμερής, ἔχει μέντοι δυνάμεις διαφόρους […]). Vgl. zu einem ähnlichen Verständnis der Seele als einem System von Fähigkeiten: Corcilius/Gregoric 2010. EN I 13, 1102b28 – 31: φαίνεται δὴ καὶ τὸ ἄλογον διττόν. τὸ μὲν γὰρ φυτικὸν οὐδαμῶς κοινωνεῖ λόγου, τὸ δ᾿ ἐπιθυμητικὸν καὶ ὅλως ὀρεκτικὸν μετέχει πως, ᾗ κατήκοόν ἐστιν αὐτοῦ καὶ πειθαρχικόν· Vgl. z. B. Stewart 1892, 166: „i. e. τὸ ὀρεκτικὸν is the generic term: see De An. III 3, 414b2 (…) ὄρεξις μὲν γὰρ ἐπιθυμία καὶ θυμὸς καὶ βούλησις.“ Ähnlich auch Price 1995, 110: „[Aristotle] appears uncertain where to place rational desire, or wish: does it fall within the rational or within the non-rational part of the soul? […] ‚the appetitive and (to generalize) desiderativeʻ element is explicitly placed within the non-vegetative subdivision of the non-rational part (b28 – 30).“
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nicht-rationales Streben zu verstehen, das lediglich Begehren und thymos umfasst, wohingegen der Wunsch dem rationalen Seelenteil als eine rationale Form von Strebung zuzuordnen ist. Lorenz’ Annahme beruht auf der Beobachtung, dass Aristoteles „ὄρεξις“ nicht immer in einem generischen Sinn verwendet, so dass darunter alle Arten von Strebung fallen (wie z. B. im obigen Zitat aus De An. II 3, 414a32-b2), sondern bisweilen auch in spezifischer Weise, d. h. im Sinn von bloßer Strebung oder nicht-rationaler Strebung („mere desire“ oder „non-rational desire“), so etwa in MA 7, 701a36-b1.¹⁰¹¹ Ich habe an früherer Stelle bei der Behandlung des Wunsches ausgeführt, dass Aristoteles den Wunsch dem rationalen Seelenteil zuordnet und dass das m. E. zur Folge hat, dass der rationale Wunsch die einzige Strebung ist, auf der eine prohairesis beruhen kann.¹⁰¹² Wichtig für die Bestimmung des thymos ist hier vorderhand, dass Aristoteles in EN I 13 zum ‚strebenden Seelenteil im Allgemeinenʻ neben dem Begehren zumindest auch den thymos rechnet, denn wenn er dazu lediglich das Begehren zählte, wäre die zweite Formulierung nicht nur überflüssig, sondern irreführend. Der thymos gehört folglich dem nicht-rationalen Seelenteil an, für den Aristoteles an der zitierten Stelle annimmt, dass er auf den rationalen Seelenteil hören und ihm gehorchen kann.¹⁰¹³ MA 7, 701a36-b1: „[…] unter den Lebewesen, die danach streben zu handeln, tun oder handeln manche aufgrund von Begierde oder thymos, manche aufgrund von (bloßem) Streben oder Wunsch […]“. [[…] τῶν δ᾿ ὀρεγομένων πράττειν τὰ μὲν δι᾿ ἐπιθυμίαν ἢ θυμὸν τὰ δὲ δι〈ὰ〉 ὄρεξιν ἢ βούλησιν τὰ μὲν ποιοῦσι τὰ δὲ πράττουσι.]. Die besondere spezifische Verwendung von „ὄρεξις“ ist wohl auch Grund dafür, dass in späteren Editionen in 701b1 „ὄρεξιν ἢ“ gestrichen wurde. Ich halte dagegen an der Überlieferung fest, zumal sie sich sachlich als sinnvoll erweist. Weitere Belege für Lorenz’ Hypothese sind: EE II 8, 1224a24– 25: „Denn Streben und Vernunft stimmen nicht immer überein.“ [οὐ γὰρ ἀεὶ ἡ ὄρεξις καὶ ὁ λόγος συμφωνεῖ.] sowie De An. III 9, 433a6 – 8: „[…] aber auch die Begierde hat keine Kontrolle über diese Bewegung, denn die Beherrschten tun, obwohl sie streben und begehren, nicht die Dinge, auf die sich ihre Strebung bezieht, sondern folgen der Vernunft [meine Überstzung; BL].“ [[…] ἀλλὰ μὴν οὐδ᾿ ἡ ὄρεξις ταύτης κυρία τῆς κινήσεως· οἱ γὰρ ἐγκρατεῖς ὀρεγόμενοι καὶ ἐπιθυμοῦντες οὐ πράττουσιν ὧν ἐχουσι τὴν ὄρεξιν, ἀλλ᾿ ἀκολουθοῦσι τῷ νῷ.]. Price hat demgegenüber dieses Verständnis von „ὄρεξις“ für EN I 13 explizit in Frage gestellt, weil er bezweifelt, dass Aristoteles für die spezifische Verwendung die Wendung „ὅλως ὀρεκτικὸν“ gebraucht; vgl. Price 1995, 110: „Michael Frede puts to me that orexis and orektikos may be used either specifically or generically, and that here, within the phrase ‚the appetitive and (to generalize) desiderative partʻ, ‚desiderativeʻ covers anger but not wish. […] However, if orexis is usually generic […] how can orektikos be specific after the words kai holôs?“. Vgl. Abschnitt „7.3 Diskussionsfrage: Ist der Wunsch die einzige Art von Strebung, auf der eine prohairesis beruhen kann?“. Vgl. zur Kontrollierbarkeit des thymos durch die Vernunft Pol. III 16, 1287a28 – 32: „Wer nun dem Gesetz die Herrschaft überträgt, der scheint zu gebieten, dass Gott und die Vernunft allein herrschen, wer aber die Herrschaft von Menschen anordnet, der fügt dem noch das wilde Tier
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Weil der thymos eine nicht-rationale Strebung ist, überrascht es nicht, dass Aristoteles den thymos auch Kindern und Tieren zuschreibt. Das belegt auch eine Stelle in der Politik, wo er die Vorstellung einer natürlichen Entwicklung formuliert, nach der Kinder mit allen drei Arten von Strebung geboren werden, während sie die Vermögen des rationalen Seelenteils (bei natürlicher Entwicklung) erst später entwickeln.¹⁰¹⁴ Ferner schreibt er Tieren auch in der EE ausdrücklich den thymos zu: „Zorn und Begehren kommen aber auch bei den Tieren vor, Entschluss jedoch nicht.“¹⁰¹⁵ Diese Stellen zeigen, dass Kinder und Tiere für Aristoteles ebenso wie erwachsene Menschen über Begehren und thymos verfügen, allerdings unterscheiden sich Erwachsene von Kindern und Tieren dadurch, dass sie aufgrund ihres rationalen Seelenteils in der Lage sind, mit Hilfe der Vernunft (logos) die Strebungen des nicht-rationalen Seelenteils zu kontrollieren. Diese Möglichkeit besteht bei Kindern noch nicht, weil ihr rationaler Seelenteil noch nicht voll entwickelt und aktualisierbar ist;¹⁰¹⁶ und bei Tieren ist dies grundsätzlich nicht möglich, weil sie nicht über einen rationalen Seelenteil und Vernunft verfügen. Dies ist auch der Grund, weshalb die prohairesis nicht mit dem thymos zu identifizieren ist: Die prohairesis ist für Aristoteles etwas, was die Fähigkeit voraussetzt, den rationalen Seelenteil zu betätigen, und was somit Tieren und Kindern nicht zukommen kann.
10.3.1 Die Rationalität des thymos Allerdings bestreitet Aristoteles, wie wir gesehen haben, auch nicht jegliche Verbindung zwischen thymos und Vernunft, sondern er gesteht dem thymos in gewisser Weise einen Anteil am rationalen Seelenteil zu. Um die Teilhabe des thymos am rationalen Seelenteil genauer zu bestimmen, ist der weitere Kontext der bereits zitierten Passage aus EN I 13 aufschlussreich. Aristoteles fügt im letzten Kapitel von Buch I einige Erläuterungen zur Natur der Seele hinzu, weil diese
hinzu – denn so kann man den Charakter der Affekte beschreiben, und (ein Affekt wie) der thymos bringt Regierende, auch wenn sie die besten Menschen sind, (von einer unparteiischen Haltung) ab. Deswegen ist ein Gesetz Vernunft ohne Affekte [Übersetzung nach Schütrumpf 1991]. Pol.VII 16, 1334b22– 24: „Dies [i. e., dass der Körper früher als die Seele entsteht; BL] ist auch klar: Denn Kinder besitzen gleich bei ihrer Geburt thymos und Wunsch und Begierde, Überlegung und Vernunft kommen aber naturgemäß erst in fortschreitendem Alter hinzu [Übersetzung leicht verändert nach Schütrumpf 2005]. EE II 1, 1225b26 – 27: θυμὸς μὲν οὖν καὶ ἐπιθυμία καὶ τοῖς θηρίοις ὑπάρχει, προαίρεσις δ᾿ οὔ. Vgl. Pol. I 13, 1260a13 – 14. Hier sagt Aristoteles, dass bei Kindern das bouleutikon zwar schon vorliegt, aber noch unvollendet (atelês) ist.
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für den Politiker von Bedeutung sind, dessen Aufgabe es ist, sich um die Entwicklung der Tugenden zu bemühen, und der daher Kenntnis von der menschlichen Seele haben muss. Er beginnt die Beschreibung der menschlichen Seele, indem er einen nicht-rationalen Teil und einen Teil, der Vernunft hat, unterscheidet (1102a27– 28). Zum nicht-rationalen Teil gehört der Teil, der für Ernährung und Wachstum zuständig ist; dieser vegetative Teil ist für den Politiker nicht relevant, da er keinen Anteil an der menschlichen Tugend hat (1102b11– 12). Aristoteles fährt mit der Charakterisierung der menschlichen Seele fort, indem er einen anderen Aspekt des nicht-rationalen Seelenteils abgrenzt, der an der Vernunft teilhat (1102b13 – 14). Dies veranschaulicht er anhand der Handlungen des Beherrschten und des Unbeherrschten, deren Vernunft gelobt wird, weil sie zum richtigen Handeln antreibt, obwohl etwas anderes in ihnen sich der Vernunft widersetzt und sie bekämpft (1102b14– 25). Daraus folgert er, dass es in der menschlichen Seele neben der Vernunft noch etwas gibt, das sich ihr widersetzen kann, das aber gleichwohl auch an der Vernunft Anteil hat, wie es das Beispiel des Beherrschten zeigt: [EN I 13, 1102b23 – 1103a3]¹⁰¹⁷ Man sollte aber wohl auch bei der Seele nicht weniger davon überzeugt sein, dass es neben der Vernunft etwas gibt, was sich ihr widersetzt und sich gegen sie stemmt. In welcher Weise es von ihr verschieden ist, ist hier unerheblich. Doch scheint dieser Teil auch an der Vernunft Anteil zu haben, wie wir gesehen haben; denn zumindest beim Beherrschten gehorcht er der Vernunft – und vielleicht ist er beim Mäßigen und Tapferen noch folgsamer. Denn hier stimmt er in allem mit der Vernunft überein. Es scheint also, dass der nicht-rationale Teil der Seele zweifach ist. Der vegetative Teil hat nämlich in gar keiner Weise Anteil an der Vernunft, während der begehrende Teil und der strebende Teil im Allgemeinen auf irgendeine Weise Anteil [an ihr] haben, insofern sie auf sie hören und ihr gehorchen. In dieser Weise sagen wir auch, dem Rat des Vaters oder von Freunden Rechnung zu tragen, freilich nicht so, wie wir davon in der Mathematik sprechen. Dass das Nicht-Rationale sich in gewisser Weise auch von der Vernunft überzeugen lässt, zeigen auch das Ermahnen, alle Arten von Tadel und Ermunterung. Wenn man auch von diesem Teil sagen soll, er habe Vernunft, dann wird der
EN I 13, 1102b23 – 1103a3: ἴσως δ᾿ οὐδὲν ἧττον καὶ ἐν τῇ ψυχῇ νομιστέον εἶναί τι παρὰ τὸν λόγον, ἐναντιούμενον τούτῳ καὶ ἀντιβαῖνον. πῶς δ᾿ ἕτερον, οὐδὲν διαφέρει. λόγου δὲ καὶ τοῦτο φαίνεται μετέχειν, ὥσπερ εἴπομεν· πειθαρχεῖ γοῦν τῷ λόγῳ τὸ τοῦ ἐγκρατοῦς – ἔτι δ᾿ ἴσως εὐηκοώτερόν ἐστι τὸ τοῦ σώφρονος καὶ ἀνδρείου· πάντα γὰρ ὁμοφωνεῖ τῷ λόγῳ. φαίνεται δὴ καὶ τὸ ἄλογον διττόν. τὸ μὲν γὰρ φυτικὸν οὐδαμῶς κοινωνεῖ λόγου, τὸ δ᾿ ἐπιθυμητικὸν καὶ ὅλως ὀρεκτικὸν μετέχει πως, ᾗ κατήκοόν ἐστιν αὐτοῦ καὶ πειθαρχικόν· οὕτω δὴ καὶ τοῦ πατρὸς καὶ τῶν φίλων φαμὲν ἔχειν λόγον, καὶ οὐχ ὥσπερ τῶν μαθηματικῶν. ὅτι δὲ πείθεταί πως ὑπὸ λόγου τὸ ἄλογον, μηνύει καὶ ἡ νουθέτησις καὶ πᾶσα ἐπιτίμησίς τε καὶ παράκλησις. εἰ δὲ χρὴ καὶ τοῦτο φάναι λόγου ἔχειν, διττὸν ἔσται καὶ τὸ λόγον ἔχον, τὸ μὲν κυρίως καὶ ἐν αὑτῷ, τὸ δ᾿ ὥσπερ τοῦ πατρὸς ἀκουστικόν τι.
10.3 Thymos als eine Strebung (orexis)
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vernunftbesitzende Teil zweifach sein: Der eine hat Vernunft im eigentlichen Sinn und in sich, der andere wie etwas, das auf die Vernunft hört wie auf den Vater.
Der Passus zeigt, dass Aristoteles es auf eine Weise für zutreffend hält, nicht nur das Denkvermögen als rational zu bezeichnen, sondern auch die Strebungen des nicht-rationalen Seelenteils.¹⁰¹⁸ Sowohl das Begehren als auch der thymos sind insofern rational, als sie am rationalen Seelenteil Anteil haben. Allerdings unterscheidet Aristoteles zwei Weisen, in denen ein Seelenteil rational ist bzw. Vernunft besitzt (to logon echon, 1103a2): Der eine Teil verfügt „im eigentlichen Sinn und in sich über Vernunft“ (to men kyriôs kai en hautô[i]), der andere hat nur im erweiterten Sinn Anteil an der Vernunft, nämlich insofern er ihr gehorchen und von ihr beeinflusst werden kann. Spricht man im eigentlichen Sinn davon, dass ein Seelenteil Vernunft besitzt, so trifft dies nicht auf den nicht-rationalen Seelenteil zu; er ist nicht rational, weil er nicht für sich fähig ist, zu überlegen. Im erweiterten Sinn bezeichnet Aristoteles in EN I 13 hingegen sowohl das Begehren als auch den thymos als rational, weil beide Strebevermögen Anteil an der Vernunft haben. Was ist genau unter dieser Teilhabe des nicht-rationalen Seelenteils an der Vernunft zu verstehen? Um diese Frage soll es im Folgenden gehen. Sie ist zentral, da von der Art und Weise, in welcher der nicht-rationale Seelenteil an der Vernunft teilhaben kann, auch abhängt, inwieweit Handlungen, die auf Strebungen des nicht-rationalen Seelenteils beruhen, durch die Vernunft beeinflusst werden können und damit in einer gewissen Weise zurechenbar sind. Aristoteles illustriert die Teilhabe des nicht-rationalen Seelenteils an der Vernunft in der zitierten Passage zunächst am Beispiel des Beherrschten: Der Beherrschte verspürt starke und schlechte Begierden,¹⁰¹⁹ denen sein nicht-rationaler Seelenteil aber nicht folgt, sondern denen er sich widersetzt und stattdessen der Vernunft gehorcht. Noch „folgsamer“ (euêkoôteron) scheint, so Aristoteles, der nicht-rationale Seelenteil beim Tugendhaften wie etwa beim Mäßigen zu sein, denn hier stimmt das Streben des nicht-rationalen Seelenteils mit demjenigen der Vernunft überein. Er vergleicht die Fähigkeit des nicht-rationalen Seelenteils, auf die Vernunft zu hören (katêkoon) und ihr zu gehorchen (peitharchein), mit der Weise, wie Kinder auf den Rat des Vaters oder von Freunden hören. Außerdem
Mit dieser Formulierung ist offengelassen, ob zu den nicht-rationalen Strebungen nur das Begehren und der thymos oder auch noch zusätzlich der Wunsch zählen. Wäre der Wunsch zum rationalen Seelenteil zu rechnen, wäre er als rational im engen Sinn zu bezeichnen, andernfalls nur im weiten Sinn, demzufolge er an der Vernunft Anteil hat. Aus den genannten Gründen gehe ich jedoch davon aus, dass Aristoteles hier nur Begehren und thymos zum nicht-rationalen Seelenteil zählt, so dass ich im Weiteren nur diese Strebungen behandeln werde. Vgl. EN VII 3, 1146a9 – 16.
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10 Die Zurechenbarkeit von Handlungen aus thymos
fügt er hinzu, dass der nicht-rationale Seelenteil sich dabei in gewisser Weise von der Vernunft überzeugen bzw. überreden lässt (peithesthai pôs), was auch in den verschiedenen Formen des Ermahnens (nouthetêsis), des Tadels (epitimêsis) und der Ermunterung (paraklêsis) zum Ausdruck kommt. Angewendet auf den Unterschied zwischen dem Beherrschten und dem Unbeherrschten lässt sich der größere Anteil an der Vernunft beim Beherrschten demnach so verstehen, dass hier der nicht-rationale Seelenteil der Vernunft in der Weise besser gehorcht, wie auch manche Kinder gehorsamer sind als andere. Als zweites Unterscheidungsmerkmal entnimmt Lorenz der Umschreibung noch den Gedanken, dass manche Personen besser dazu in der Lage sind, ihren nicht-rationalen Seelenteil zu beeinflussen und anzuleiten, wie auch manche Menschen besser als andere darin sind, andere Personen mittels Tadel, Ermahnung oder Ermunterung in ihrem Handeln zu lenken oder zu überzeugen.¹⁰²⁰ Die metaphorischen Beschreibungen der Fähigkeit des nicht-rationalen Seelenteils, auf die Vernunft zu hören, bieten indes noch keine ausreichende Grundlage, um zu beurteilen, wie weitreichend in Aristoteles’ Augen der Anteil des nicht-rationalen Seelenteils an der Vernunft tatsächlich ist. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass sich in der Literatur unterschiedliche Deutungen dazu finden. Auf der einen Seite vertritt Cooper die weitreichende Auffassung, dass die Fähigkeit des nicht-rationalen Seelenteils, der Vernunft zu folgen, impliziert, dass auch der nicht-rationale Seelenteil in gewisser Weise eine Fähigkeit zum Überlegen besitzt und teilweise über die gleiche rationale Beurteilungsgrundlage verfügt wie der rationale Seelenteil.¹⁰²¹ Auf der anderen Seite verstehen Autoren wie z. B. Lorenz und Grönroos den Anteil des nicht-rationalen Seelenteils an der Vernunft in einem schwächeren Sinn, wonach dem nicht-rationalen Seelenteil keine Überlegungsfähigkeit zukommt und er über eine andere Beurteilungsgrundlage verfügt als die Vernunft.¹⁰²² Verantwortlich für die abweichenden Positionen sind vor allem die Deutungen zweier Textstellen: Der erste Grund ist eine unterschiedliche Interpretation der Aussage, dass der nicht-rationale Seelenteil „in gewisser Weise von der Vernunft überzeugt wird“ (1102b33). Der zweite Grund ist, dass die Behandlung des thymos im Rahmen der Diskussion der Unbeherrschtheit in EN VII Formulierungen enthält, die sich so verstehen lassen, als schreibe Aristoteles hier dem thymos eine gewisse Überlegungsfähigkeit zu. Ich
Lorenz 2006, 189. Cooper spricht davon, dass in den Ausführungen in EN VII der thymos die gleiche Bewertungsgrundlage („evaluative outlook“) z. B. über das, was als Beleidigung und Herabsetzung gilt, teilt. Vgl. Cooper 1996b und Cooper 1988. Ich werde gleich auf Coopers Auffassung im Detail eingehen. Lorenz 2006; Grönroos 2007.
10.3 Thymos als eine Strebung (orexis)
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behandele die Punkte der Reihe nach; der zweite lenkt dabei zudem den Blick auf einen wichtigen Unterschied zwischen thymos und Begehren.
10.3.1.1 Das Überzeugt-Werden des nicht-rationalen Seelenteils durch die Vernunft Wenn Aristoteles in EN I 13 sagt, dass die Strebungen des nicht-rationalen Seelenteils von der Vernunft überzeugt werden können, könnte dies prima facie die Vermutung nahelegen, dass damit aufseiten des nicht-rationalen Seelenteils die Fähigkeit vorausgesetzt wird, nicht nur die Anweisung der Vernunft zu vernehmen, sondern auch deren Gründe zu erfassen und sich als eigene Gründe zu eigen zu machen. So versteht Cooper Aristoteles’ Redeweise in EN I 13: [Cooper 1988]¹⁰²³ Aristotle holds that reason controls them [i. e. non-reasoning desires; BL] not just by getting them to ‚followʻ its directions (somehow or other), but by persuading them: the ideal is to persuade the nonrational desires to obey [cf. Nic. Eth. I 13, 1102b31]. Now this persuasion is only possible because the very same terms in which reason thinks about the circumstances of action and about the relative values of things in the world in general, are also employed by each of the types of nonrational desire as well. […] For reason to persuade anger (…) is for it to get its own view of what is good to prevail, in the sense that this conception comes to be adopted by the nonrational part itself, as well.
Für Coopers Verständnis spricht, dass Überzeugung bei Aristoteles in der Regel tatsächlich Vernunft voraussetzt. Dies wird z. B. deutlich in De An. III 3, wo Aristoteles dafür argumentiert, dass die phantasia etwas anderes ist als Meinung (doxa).¹⁰²⁴ Ein Schritt in der Argumentation ist, dass Meinung immer Überzeugung (pistis) und Überzeugt-Worden-Sein (pepeisthai) involviert (hepetai), und Überzeugung wiederum immer Vernunft (logos) beinhaltet. Da Tiere nun zwar über phantasia verfügen, nicht aber über Vernunft, kann die phantasia nicht mit Meinung identisch sein. Das Argument beruht also offenbar auf der Annahme, dass Überzeugung ebenso wie Meinung Vernunft erfordern. Allerdings gibt Aristoteles in EN I 13 einen Hinweis, dass er hier nicht in der gewöhnlichen Weise von Überzeugung sprechen will: Er sagt, dass der nicht-rationale Seelenteil sich in einer gewissen Weise (pôs) von der Vernunft überzeugen lässt. Mit dem Indefinitpronomen macht er kenntlich, dass er in unüblicher Weise
Cooper 1988, zitiert nach Cooper 1999, 245. De. An. III 3, 428a22– 24. Den Verweis auf diese Argumentation gibt auch Lorenz (2006, Anm. 12, 189).
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10 Die Zurechenbarkeit von Handlungen aus thymos
von Überzeugung spricht.¹⁰²⁵ Überzeugung muss hier also nicht im strikten Sinn verstanden werden, der zur Folge hätte, dass dem nicht-rationalen Seelenteil die Fähigkeit zuzuschreiben ist, Schlussfolgerungen zu erfassen, d. h. zu verstehen, warum etwas aus etwas folgt.¹⁰²⁶ Die Ausübung dieser Fähigkeit würde Aristoteles als Denktätigkeit ansehen, welche er nur dem rationalen Seelenteil im engen Sinn zugesteht.¹⁰²⁷ Die abgeschwächte Formulierung lässt es dagegen zu, ihn an dieser Stelle so zu verstehen, als schreibe er dem nicht-rationalen Seelenteil lediglich zu, Anweisungen der Vernunft insoweit zu verstehen, als es für deren Ausführung nötig ist. Das verlangt nicht, dass der nicht-rationale Seelenteil auch die vernünftigen Gründe, die für dieses Verhalten sprechen, erfasst und mit der Vernunft teilt. Aber auch wenn sich in Hinblick auf EN I 13 die Teilhabe des nicht-rationalen Seelenteils an der Vernunft im Sinn der schwächeren Lesart verstehen lässt, so bleibt immer noch die Frage offen, auf welche Weise der rationale Seelenteil Begehren und thymos stattdessen ‚überzeugtʻ. Aristoteles verweist zur Illustration auf Ermahnungen, Arten des Tadels und Ermunterungen. Das lässt sich so verstehen, dass die Vernunft das Begehren z. B. beeinflussen kann, indem sie ihm einen möglichen späteren Schmerz vor Augen hält, den das unmittelbare Verfolgen der Begierde nach sich ziehen kann, oder indem sie ihr aufzeigt, dass ein jetziger Verzicht auf etwas Angenehmes später noch größere Lust verspricht. In ähnlicher Weise könnte die Vernunft den thymos überzeugen, indem sie ihn auf beschämende Aspekte einer Handlung oder auf alternative und vornehmere Handlungen hinweist.¹⁰²⁸ Die Überzeugung durch die Vernunft besteht demnach darin, den nicht-rationalen Seelenteil über Eigenschaften und mögliche Konsequenzen von dessen Streben zu informieren und dadurch die Strebungen abzuschwächen, zu verstärken oder umzulenken.¹⁰²⁹ Diese Umlenkung erfordert keine Denktätigkeit aufseiten des nicht-rationalen Seelenteils, sondern beruht lediglich auf phantasiai, d. h. auf Vorstellungen, die Aristoteles der Wahrnehmungsfähigkeit zurechnet. Lorenz 2006, 189; Grönroos 2007, 259. Auch Platon anerkennt verschiedene Verständnisweisen von Überzeugung. Im Gorgias unterscheidet er zwischen Überzeugungen, die Meinungen ohne Wissen hervorbringen, und solchen, die zu Wissen führen; vgl. Gorg. 454e3 – 4: „Sokrates: ‚Willst Du also, dass wir zwei Arten des Überzeugens annehmen, die eine, die Meinung ohne Wissen hervorbringt, die andere, die Wissen hervorbringt?ʻ – Gorgias: ‚Ganz genau.ʻ“ Vgl. EN I 6, 1098a3 – 4: „Übrig bleibt also das tätige Leben desjenigen Seelenteils, der Vernunft besitzt; von diesem hat ein Teil in der Weise Vernunft, dass er der Vernunft gehorcht, der andere, indem er sie hat und denkt.“ Vgl. zu dieser Deutung: Lorenz 2006, 189. Vgl. Lorenz 2006, 190.
10.3 Thymos als eine Strebung (orexis)
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10.3.1.2 Die spezifische Rationalität des thymos in EN VII 6 und 7 Die zweite zentrale Stelle für die Frage nach dem Verhältnis des thymos zur Vernunft kommt im Zusammenhang der Behandlung der Unbeherrschtheit in der EN vor. Aristoteles erörtert im ersten Teil von EN VII das Phänomen der Unbeherrschtheit (akrasia), und unterscheidet im Zuge dessen in den Kapiteln 6 und 7 zwischen verschiedenen Arten von Unbeherrschtheit. Die Unbeherrschtheit im eigentlichen Sinn (haplôs) hat denselben Gegenstandsbereich wie die Unmäßigkeit, d. h. der Unbeherrschte im eigentlichen Sinn strebt nach übermäßiger Lust in den körperlichen Begierden nach Essen, Trinken und Sex, obwohl er weiß, ob und in welchem Maß er diesen Begierden folgen soll (EN VII 6, 1147b23 – 28). Dagegen handelt es sich laut Aristoteles nur der Ähnlichkeit nach (kath’ homoiotêta) um Unbeherrschtheit, wenn jemand ein Übermaß bei Dingen sucht, die nicht notwendig, sondern an sich wünschenswert (haireta kath’ hauta) sind, wie z. B. Geld, Gewinn, Reichtum, Ehre, Sieg oder thymos (EN VII 6, 1147b29 – 35). Zuvor hatte Aristoteles in EN VII 5 eine Erläuterung vorgebracht, in welcher Weise der eigentlich Unbeherrschte weiß, dass er nicht so handeln soll, wie er tatsächlich handelt (EN VII 5, 1147a24-b5). Das Modell, mit dessen Hilfe Aristoteles hier den inneren Konflikt des Unbeherrschten beschreibt, lässt den Eindruck entstehen, als gehe er erneut – wie auch in EN I 13 – von einer gewissen Rationalität des Begehrens, der epithymia, aus. Denn er beschreibt den Konflikt zwischen dem Begehren und der richtigen Meinung derart, als beruhe er stets auf miteinander konkurrierenden praktischen Schlussfolgerungen: [EN VII 5, 1147a31-b1]¹⁰³⁰ Wenn eine allgemeine Prämisse in der Person vorhanden ist, die das Genießen verbietet, und auch eine [andere], dass alles Süße angenehm ist, und dies ist süß (und diese Prämisse aktualisiert ist), und wenn gerade eine Begierde in der Person vorhanden ist, dann sagt die eine „meide dies“, die Begierde aber treibt an; denn sie kann jeden der Teile bewegen. Daher ergibt sich, dass das Unbeherrscht-Sein auf gewisse Weise aus Vernunft und Meinung resultiert […].
Diese Beschreibung suggeriert, dass die unbeherrschte Handlung darauf basiert, dass der Unbeherrschte z. B. aus den Prämissen, dass alles Süße angenehm ist und dass diese Feigen, die vor ihm liegen, süß sind, folgert, dass die Feigen angenehm sind. Hat der Unbeherrschte diese Konklusion einmal erreicht, treibt ihn sein Begehren an, sich ein paar Feigen zu nehmen und zu essen. Weil sich die EN VII 5, 1147a31-b1: ὅταν οὖν ἡ μὲν καθόλου ἐνῇ κωλύουσα γεύεσθαι, ἡ δέ, ὅτι πᾶν γλυκὺ ἡδύ, τουτὶ δὲ γλυκύ (αὕτη δὲ ἐνεργεῖ), τύχῃ δ᾿ ἐπιθυμία ἐνοῦσα, ἣ μὲν οὖν λέγει φεύγειν τοῦτο, ἡ δ᾿ ἐπιθυμία ἄγει· κινεῖν γὰρ ἕκαστον δύναται τῶν μορίων· ὥστε συμβαίνει ὑπὸ λόγου πως καὶ δόξης ἀκρατεύεσθαι, […].
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10 Die Zurechenbarkeit von Handlungen aus thymos
unbeherrschte Handlung somit anscheinend aus Prämissen und einer Schlussfolgerung ergibt, sagt Aristoteles wohl auch, dass die unbeherrschte Handlung „in gewisser Weise aus Vernunft und Meinung resultiert“. Diese Charakterisierung legt prima facie nahe, dass er auch bei der Diskussion der Unbeherrschtheit in EN VII von der Annahme ausgeht, dass die epithymia in gewisser Weise rational ist. Ihr Anteil an der Vernunft scheint darin zu bestehen, dass die Begierde nach körperlichen Dingen auf bestimmten Meinungen und Schlussfolgerungen bezüglich des Kontextes des Handelns beruht. Der Eindruck, dass Aristoteles dem nicht-rationalen Seelenteil eine gewisse Rationalität zuschreibt, wird noch dadurch verstärkt, dass er hier der epithymia sogar die Fähigkeit zum Schlussfolgern zuzusprechen scheint; und das wiederum lässt vermuten, dass er die gleiche Fähigkeit auch für den thymos annimmt. Allerdings wird kurz darauf in Kapitel 7 klar, dass Aristoteles in EN VII dem thymos eine Art von Rationalität zugesteht, die er der epithymia explizit abspricht.¹⁰³¹ Diese Differenzierung zwischen der Rationalität von thymos und epithymia hat keine Entsprechung in EN I 13, wo er beiden Vermögen gleichermaßen einen Anteil an der Vernunft zuerkennt.Welches ist die Art, in der zwar der thymos rational ist, das Begehren aber nicht? Eine Antwort auf diese Frage findet sich in EN VII 7. Dort vergleicht Aristoteles die eigentliche Unbeherrschtheit mit der Unbeherrschtheit in Bezug auf den thymos und argumentiert dafür, dass Letztere weniger schlimm (hêtton aischra) ist als die Unbeherrschtheit in Bezug auf die körperlichen Begierden: [EN VII 7, 1149a24-b3]¹⁰³² Dass aber die Unbeherrschtheit in Bezug auf den thymos weniger schlimm ist als die in Bezug auf die Begierden, wollen wir untersuchen. Der thymos scheint nämlich in gewisser Weise auf die Vernunft zu hören, sich aber zu verhören, wie die Schnellen unter den Dienern, die hinausstürzen, bevor sie den ganzen Auftrag gehört haben, oder wie Hunde, die bellen, wenn nur ein Geräusch ertönt, bevor sie nachgesehen haben, ob es ein Freund ist. So hört der thymos zwar, hört aber aufgrund seiner Hitzigkeit und Schnelligkeit seiner Natur nicht den
Vgl. Lorenz 2006, 191– 192; 191: „The comparison between spirit and appetite is supposed to show that spirit follows reason in a way, while appetite does not.“ EN VII 7, 1149a24-b3: ὅτι δὲ καὶ ἧττον αἰσχρὰ ἀκρασία ἡ τοῦ θυμοῦ ἢ ἡ τῶν ἐπιθυμιῶν, θεωρήσωμεν. ἔοικε γὰρ ὁ θυμὸς ἀκούειν μέν τι τοῦ λόγου, παρακούειν δέ, καθάπερ οἱ ταχεῖς τῶν διακόνων, οἳ πρὶν ἀκοῦσαι πᾶν τὸ λεγόμενον ἐκθέουσιν, εἶτα ἁμαρτάνουσι τῆς προστάξεως, καὶ οἱ κύνες, πρὶν σκέψασθαι εἰ φίλος, ἂν μόνον ψοφήσῃ, ὑλακτοῦσιν· οὕτως ὁ θυμὸς διὰ θερμότητα καὶ ταχυτῆτα τῆς φύσεως ἀκούσας μέν, οὐκ ἐπίταγμα δ᾿ ἀκούσας, ὁρμᾷ πρὸς τὴν τιμωρίαν. ὁ μὲν γὰρ λόγος ἢ ἡ φαντασία ὅτι ὕβρις ἢ ὀλιγωρία ἐδήλωσεν, ὃ δ᾿ ὥσπερ συλλογισάμενος ὅτι δεῖ τῷ τοιούτῳ πολεμεῖν χαλεπαίνει δὴ εὐθύς· ἡ δ᾿ ἐπιθυμία, ἐὰν μόνον εἴπῃ ὅτι ἡδὺ ὁ λόγος ἢ ἡ αἴσθησις, ὁρμᾷ πρὸς τὴν ἀπόλαυσιν. ὥσθ᾿ ὁ μὲν θυμὸς ἀκολουθεῖ τῷ λόγῳ πως, ἡ δ᾿ ἐπιθυμία οὔ. αἰσχίων οὖν· ὁ μὲν γὰρ τοῦ θυμοῦ ἀκρατὴς τοῦ λόγου πως ἡττᾶται, ὃ δὲ τῆς ἐπιθυμίας καὶ οὐ τοῦ λόγου.
10.3 Thymos als eine Strebung (orexis)
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Befehl, und strebt nach Rache. Denn die Vernunft oder die phantasia haben eine Beleidigung oder Geringschätzung angezeigt, und der thymos erzürnt sich sofort, als ob er geschlussfolgert hätte, dass man sich gegen Derartiges zur Wehr setzen müsse. Das Begehren dagegen strebt zum Genuss, wenn die Vernunft oder die Wahrnehmung nur sagt, dass sie süß ist. Somit folgt der thymos der Vernunft in gewisser Weise, das Begehren hingegen nicht. Es ist daher niedriger. Denn der Unbeherrschte im Zorn unterliegt in gewisser Weise der Vernunft, der andere unterliegt dagegen der Begierde und nicht der Vernunft.
Dass die Unbeherrschtheit in Bezug auf den thymos weniger schlimm ist als die eigentliche Unbeherrschtheit begründet Aristoteles hier damit, dass der thymos der Vernunft in einer Weise folgen kann, wie es beim Begehren nicht möglich ist.¹⁰³³ Das beruht darauf, dass der thymos in gewisser Weise der Vernunft unterliegen (hêttatai) kann, während das Begehren nur den Begierden, nicht aber der Vernunft, unterliegt. Das illustriert Aristoteles am Beispiel eines eiligen Dieners, der den Befehl seines Herrn nicht vollständig anhört und daher missversteht, so dass er ihn falsch ausführt. Sobald der thymos von der Vernunft oder der phantasia vernommen hat, dass eine Beleidigung vorliegt, strebt er nach Vergeltung, ohne dass er den Befehl (epitagma) der Vernunft zu Ende anhört, und zwar als ob er geschlussfolgert hätte, dass man sich gegen Derartiges zur Wehr setzen muss. Diese Art der Teilhabe des thymos an der Vernunft scheint eine anspruchsvollere zu sein als jene, die Aristoteles in EN I 13 thymos und epithymia gleichermaßen zugesteht. In EN VII 7 wird dem thymos die Fähigkeit zugesprochen, den Befehl der Vernunft zu hören und darauf zu reagieren, als ob er ge-
Cooper schließt aus dieser Textpassage, dass Aristoteles nur für die Unbeherrschtheit in Bezug auf den thymos angenommen hat, dass sie weniger schlimm ist als Unbeherrschtheit in Bezug auf die Begierden, d. h., dass die Unbeherrschtheit in Bezug auf den thymos auch weniger schlimm ist als die anderen Arten von Unbeherrschtheit der Ähnlichkeit nach, die sich auf wünschenswerte, aber nicht notwendige Begierden richten (vgl. Cooper 1996b, 259): „Aristotle argues at length in 7.6 [= EN VII 7; BL] that incontinence in spirited desires is less morally bad that incontinence in appetitive ones. It appears that this thesis concerns all appetitive incontinence – both the unqualified incontinence having to do with necessary bodily pleasures, and the qualified kinds having to do with pleasures that are not necessary, such as the pleasures of victory, honor, money, and gain. Thus he seems to be claiming that weakness in controlling spirited desires is less morally bad than any weakness in controlling appetites, whether necessary ones or not [Unterstreichung BL].“ Coopers Schlussfolgerung halte ich für verfehlt. Zwar begründet Aristoteles nur im Fall des thymos, weshalb dieser weniger schlimm als die Unbeherrschtheit schlechthin ist und diese spezifische Erklärung ist auch nur für den thymos adäquat, da es sich bei ihm um ein spezifisches Seelenvermögen handelt. Allerdings hat ein anderes entscheidendes Kriterium bei allen Arten von Unbeherrschtheit der Ähnlichkeit nach Gültigkeit, nämlich dass sie sich auf an sich Wünschenswertes und nicht auf die notwendigen körperlichen Begierden richten. Dieses Merkmal ist in meinen Augen das entscheidende Kriterium dafür, verschiedene Arten von Unbeherrschtheit als weniger schlimme Arten von Unbeherrschtheit einzustufen.
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10 Die Zurechenbarkeit von Handlungen aus thymos
schlussfolgert habe, wie angesichts von verwerflichen Dingen wie Beleidigungen und Geringschätzungen angemessen zu handeln ist. Wie ist diese spezifische Weise, der Vernunft zu folgen, zu verstehen, die Aristoteles hier nur für den thymos annimmt?¹⁰³⁴ Dazu sind unterschiedlich anspruchsvolle Deutungen vorgeschlagen worden, von denen ich jene von Cooper und Lorenz näher betrachten und vergleichen will. In der zitierten Passage nennt Aristoteles den Fall, dass die Vernunft oder die phantasia dem thymos aufzeigen, dass eine Beleidigung oder Geringschätzung vorliegt; der thymos reagiert darauf, „als ob er geschlussfolgert hätte“ (hôsper syllogisamenos), dass man sich dagegen wehren müsse. Hier ist zunächst wichtig, sich an folgenden Punkt zu erinnern, den ich im Zusammenhang des „Praktischen Syllogismus“ ausgeführt habe:¹⁰³⁵ Allein von der Verwendung syllogistischen Vokabulars sollte man nicht ohne Weiteres darauf schließen, dass Aristoteles annimmt, dass (deliberatives) Denken vorliegt und er einem Vermögen die Fähigkeit zum praktischen Überlegen zuspricht. Das wird in De Motu Animalium (MA) deutlich, wo er auch eine Handlung, die durch das Begehren und ohne Vernunft und Denken zustande kommt, in Form eines Praktischen Syllogismus beschreibt: [MA 7, 701a32– 36]¹⁰³⁶ Ich soll trinken, sagt das Begehren; dies hier ist ein Getränk, sagt das Begehren oder die phantasia oder die Vernunft. Und sofort trinkt [das Lebewesen]. Auf diese Weise also sind Lebewesen angetrieben, sich zu bewegen und zu handeln, die letzte Ursache der Bewegung ist Streben, und dieses entsteht entweder durch Wahrnehmung oder durch phantasia oder Vernunft.
Nicht alle Autoren teilen die Auffassung, dass Aristoteles in EN VII 7 dem thymos eine engere Verbindung zur Vernunft zuerkennt als der epithymia: Jimenez deutet den Vergleich des thymos, der den Befehl missversteht, mit einem eiligen Diener derart, dass der thymos wie die epithymia schnell und unreflektiert auf Handlungssituationen reagiert (vgl. Jimenez 2011, 70): „[…] the model that we find in NE 7.6 [= EN VII 7; BL] together with the examples from our passage lead us to the conclusion that thumos is a reactive emotion, and that it does not have a clear relation to reason.“ Jimenez’ Lesart halte ich nicht für überzeugend, da sich dem Text m. E. klare Hinweise entnehmen lassen, dass und inwiefern Aristoteles dem thymos in EN VII 7 eine spezifische Rationalität beimisst. Vgl. insb. Abschnitt „6.7.2 Praktisches Überlegen und ‚Praktischer Syllogismus‘“. MA 7, 701a32– 36: ποτέον μοι, ἡ ἐπιθυμία λέγει· τοδὶ δὲ ποτόν, ἡ αἴσθησις εἶπεν ἢ ἡ φαντασία ἤ ὁ νοῦς· εὐθὺς πίνει. οὕτως μὲν οὖν ἐπὶ τὸ κινεῖσθαι καὶ πράττειν τὰ ζῷα ὁρμῶσι, τῆς μὲν ἐσχάτης αἰτίας τῆς κινήσεως ὀρέξεως οὔσης, ταύτης δὲ γινομένης ἢ δι᾿ αἰσθήσεως ἢ διὰ φαντασίας καὶ νοήσεως.
10.3 Thymos als eine Strebung (orexis)
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Diese Stelle kommt in MA 7 vor, wo Aristoteles den Praktischen Syllogismus einführt. Aus dem Kontext geht hervor, dass Aristoteles eine Erklärung für die Ortsbewegung von Lebewesen im Allgemeinen, also für Menschen und Tiere, geben will.¹⁰³⁷ Menschliche Handlungen sind ein Sonderfall von Ortsbewegung, insofern hierbei Denken stattfindet; Denken ist hingegen keine notwendige Voraussetzung für animalische Ortsbewegung. Im zitierten Passus stellt Aristoteles die Art, in der ein Begehren wie der Durst dazu führt, dass man nach diesem Getränk, das jetzt vor einem steht und das unmittelbar verfügbar ist, strebt und es trinkt, als etwas dar, was sich ähnlich wie eine praktische Überlegung verhält. Corcilius argumentiert, dass Aristoteles in MA mit dem Praktischen Syllogismus nur eine strukturelle Analogie illustrieren will, die zwischen der logischen Notwendigkeit, mit der beim logischen Schließen die Konklusion aus den Prämissen folgt, und der „physikalischen“ Notwendigkeit besteht, mit der sich die Ortsbewegung von Lebewesen kausal aus ihren Antezedenzien ergibt.¹⁰³⁸ Die Antezedenzien animalischer Bewegung sind zum einen eine Strebung und zum anderen eines der drei kognitiven Vermögen, Vernunft, phantasia und Wahrnehmung. Die Funktion des kognitiven Vermögens bei der Verursachung von Bewegung besteht darin, Informationen über einen unmittelbar gegebenen und verfügbaren Einzelgegenstand bereitzustellen, der den Gehalt der Strebung erfüllt. Dabei ist es zwar möglich, dass die Informationen von der Vernunft geliefert werden, es ist aber nicht erforderlich, dass die Vernunft diese Leistung erbringt und damit Denken involviert ist. Dieselbe Funktion kann ebenso gut durch die Wahrnehmung oder die phantasia erfüllt werden. Der Praktische Syllogismus dient demnach in MA nicht ausschließlich und vornehmlich zur Illustration einer logischen Relation zwischen Prämissen und Konklusion; vielmehr soll er offenbar häufig eine effizient-kausale Relation zwischen den Antezedenzien animalischer Ortsbewegung und der Bewegung selber veranschaulichen.
Zu Beginn von MA 7 fragt Aristoteles danach, wie es kommt, dass ein Lebewesen (zô[i]on) zwar jeweils dasselbe denkt, aber einmal handelt, einmal nicht handelt und sich einmal bewegt, einmal aber nicht bewegt (MA 701a7– 8). Im vorangegangenen Kapitel hatte er alle an der Ortsbewegung beteiligten Vermögen der Seele unterschieden und sie unter die beiden Oberkategorien Strebung und Vernunft zusammengefasst. Strebung umfasst hierbei alle Arten von Strebung, d. h. Begehren, thymos und Wunsch; Denken schließt alle unterscheidenden Vermögen ein, also Wahrnehmung, phantasia und Denken. Die Ausgangsfrage in Kapitel 7 ist also so zu verstehen, dass Aristoteles hier nach einer allgemeinen Erklärungsfigur für alle Arten animalischer Ortsbewegung fragt (vgl. Corcilius 2008b, 262– 263). Vgl. zu dieser Deutung: Corcilius 2008b, insb.: 261– 274. Ich habe die unterschiedlichen Deutungen des „Praktischen Syllogismus“ im Zusammenhang mit der Überlegung näher diskutiert: vgl. Abschnitt „6.7.2 Praktisches Überlegen und ‚Praktischer Syllogismus‘“.
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10 Die Zurechenbarkeit von Handlungen aus thymos
Kommen wir nun zur Frage nach der spezifischen Rationalität des thymos in EN VII 6 und 7 zurück. Cooper vertritt hier die stärkere Lesart als Lorenz. Er erläutert die Weise, in welcher der thymos der Vernunft folgen kann, derart, dass der thymos die Beurteilungsgrundlage (evaluative outlook)¹⁰³⁹ mit der Vernunft teilt (shares): [Cooper 1996]¹⁰⁴⁰ Spirited desires, Aristotle points out, unlike appetites (however sophisticated), can or do directly incorporate some of the reasoned evaluative reflection that might lead (or might have led) to a decision to act as those desires themselves impel one to. Thus if you conceive that you have been subjected to some insult or slight (…), you may at once become angry (a special case of spirited desire, one for retaliation), as if (he says) reasoning (sullogisamenos) that it is right to fight back against this kind of behavior. […] In becoming aroused, spirited desire as it were puts this evaluative outlook [i. e. that insults and slights are bad and offensive things; BL], which it shares with reason, together (hôsper sullogisamenos) with the factual information that there has been an insult, so as to reach the conclusion that it is right to fight back against it [Hervorhebung BL].
Nach Cooper ist der thymos in der Lage, manche der durch Überlegung erreichten Beurteilungen der Vernunft nachzuvollziehen und sich anzueignen. Das erlaubt es, dass der thymos für sich allein, wenn er etwa von der Vernunft oder der phantasia die Information erhält, dass eine Beleidigung oder Geringschätzung vorliegt, so reagiert, als habe er sich aufgrund einer vernünftigen Schlussfolgerung für eine bestimmte Reaktion entschieden. Der thymos teilt z. B. mit der Vernunft die Beurteilung, dass Beleidigungen und Geringschätzungen etwas Schlechtes sind, gegen das man sich zur Wehr setzen muss. Diese Beurteilung wendet der thymos auf die konkrete Situation an, ohne dass die Vernunft dabei direkt involviert ist: So zürnt er z. B. in der Folge und treibt zu einer angemessenen Reaktion an, indem er die Beleidigung zu rächen versucht. Eine etwas schwächere Lesart bringt Lorenz vor, die sich von Coopers Vorschlag darin unterscheidet, dass Lorenz nicht von einer geteilten Beurteilungsgrundlage von thymos und Vernunft ausgeht. Obwohl der thymos auch nach seiner Deutung eine allgemeine Beurteilungsgrundlage von der Vernunft ableitet,
Unter einer Beurteilungsgrundlage ist hier eine Menge von bewertenden Annahmen zu verstehen, wie z. B. dass Beleidigungen und Geringschätzungen etwas Schlechtes sind, dem man sich zu widersetzen hat; vgl. Cooper 1996b, 261: „The crucial premise [sc. which spirited desire shares with reason; BL] is rather the presupposed evaluative proposition that insults and slights are bad and offensive things, normally to be resisted or retaliated against because they represent a disregard for the value of one’s own person that no self-respecting person can share, or act as if he did by accepting slights meekly.“ Cooper 1996b, 260 – 261.
10.3 Thymos als eine Strebung (orexis)
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übernimmt der thymos diese nur teilweise und in weniger differenzierter Form. Daher unterscheiden sich auch die Maßstäbe, nach denen der thymos und die Vernunft beurteilend auf eine Situation reagieren, signifikant voneinander.¹⁰⁴¹ Auf der anderen Seite ähneln sich thymos und Vernunft in Hinblick auf ihre Entwicklung und Formung. Im Unterschied zur epithymia bilden sich diese beiden Vermögen der menschlichen Seele sukzessive und über eine längere Zeit heraus. Die epithymia als das Vermögen, das Erwachsenen ebenso zukommt wie Kindern und Tieren, funktioniert derart, dass ein Lebewesen ihretwegen gleichsam mechanisch auf diejenigen Dinge reagiert, die als angenehm bzw. lustvoll wahrgenommen werden. Die Beurteilungsgrundlage, aufgrund deren die epithymia auf eine Situation reagiert, ist fest in einem Lebewesen verankert und ruft automatisch die entsprechenden Impulse hervor.¹⁰⁴² Demgegenüber entwickeln sich thymos und Vernunft allmählich während des Erziehungsprozesses unter dem Einfluss der richtigen Überlegung, des orthos logos, durch die bzw. den sie angeleitet werden und deren bzw. dessen Beurteilungsgrundlage sie sich schrittweise aneignen.¹⁰⁴³ Im Laufe der frühen Erziehung orientieren sich thymos und
Lorenz 2006, 193: „The central point is that, in appropriately conditioned adults, the functioning of spirit incorporates a general evaluative outlook which derives from correct reason [i. e. orthos logos, EN VII 6, 1147b31– 32; BL] and which partially reflects reason’s own evaluative outlook. It is part of reason’s own evaluative outlook that insults and slights are objectionable things that one should respond to in an appropriately hostile manner, unless there is good reason not to, as there might occasionally be in the varied circumstances of life. Spirit’s evaluative outlook concerning insults and slights is quite simply that they are objectionable things that must be responded to in an appropriately hostile manner. [footnote: On my view, then, the relevant part of spirit’s outlook is a cruder, and significantly different, version of its analogue in reason’s outlook. After all, it is only in a way that spirit, on Aristotle’s view, follows reason […].“ Die Beurteilungsgrundlage der epithymia ist dafür bestimmend, was ein Lebewesen als angenehm bzw. lustvoll wahrnimmt und wonach es infolgedessen strebt. Es gehört zur Natur aller Lebewesen, dass sie bestimmte Dinge als angenehm und andere als unangenehm empfinden. Deswegen beschreibt Lorenz diese Beurteilungsgrundlage als eine, die in der epithymia „fest verankert“ ist (Lorenz 2006, 194: „[Appetite’s evaluative outlook; BL] is, so to speak, hardwired into appetite.“). Das bedeutet, dass erstens alle Lebewesen aufgrund ihrer Natur manche Dinge als begehrenswert und andere als zu meidende wahrnehmen und dass dies zweitens dazu führt, dass Lebewesen mechanisch nach dem für sie Angenehmen streben und Unangenehmes meiden. Die feste Verankerung der Beurteilungsgrundlage der epithymia bedeutet jedoch nicht, dass die Vernunft bei vernunftbegabten Lebewesen keinerlei Einfluss darauf haben kann. Im Abschnitt „10.4 Thymos als eine Emotion (pathos)“ werden wir sehen, dass Aristoteles auch im Fall mancher pathê annimmt, dass sie kognitiv beeinflussbar sind. Unter dem orthos logos, der richtigen Überlegung, ist eine Art Maßstab für das tugendhafte Handeln zu verstehen, über die der Tugendhafte, der phronimos, aber auch der Unbeherrschte verfügen. Im Unterschied zum phronimos handelt der Unbeherrschte allerdings nicht entsprechend dem orthos logos; vgl. EN VII 6, 1147b31– 32: „Diejenigen nun, die diese Dinge entgegen der
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Vernunft bei den Heranwachsenden am orthos logos der Eltern, von Mitgliedern des oikos oder der polis. Ihre Formung ist aber auch bei Erwachsenen nicht unbedingt abgeschlossen. Vielmehr bleiben beide Vermögen weiterhin durch die Vernunft beeinfluss- und modifizierbar.¹⁰⁴⁴ Sie bedürfen möglicherweise einer Festigung oder Stärkung, und es ist auch möglich, dass sie angesichts einer neuen Situation, auf die zu reagieren ist, erneut auf eine Orientierung am orthos logos angewiesen sind. Zusammengefasst lässt sich somit sagen, dass die Deutungen von Cooper und Lorenz beide eine Erklärung geben, weshalb Aristoteles in EN VII 6 und 7 die Unbeherrschtheit in Hinblick auf den thymos als weniger schlimm ansieht als die Unbeherrschtheit in Hinblick auf das Begehren. Anders als in EN I 13 spricht Aristoteles hier dem thymos eine anspruchsvollere Art der Teilhabe an der Vernunft zu. Die spezifische Rationalität des thymos besteht darin, dass dieser auf Situationen reagieren kann, als ob er geschlussfolgert hätte. Die Interpretationen von Cooper und Lorenz unterscheiden sich aber in ihrem Verständnis, wie wörtlich das vermeintliche Schlussfolgern des thymos hier zu verstehen ist. Cooper geht von einer gemeinsamen Beurteilungsgrundlage von thymos und Vernunft aus. Lorenz sieht die Gemeinsamkeit darin, dass der thymos – wie die Vernunft, aber im Unterschied zur epithymia – auf eine Handlungssituation reagiert, indem er sie aufgrund einer Beurteilungsgrundlage einschätzt, die er von der Vernunft übernimmt und die für vernünftige Gründe zugänglich bleibt. Im Unterschied zur Vernunft involviert die Situationsbeurteilung des thymos aber kein Schlussfolgern in Form eines Praktischen Syllogismus. Die Beurteilungsgrundlage des thymos ist auch nicht dieselbe wie die der Vernunft, sondern von dieser abgeleitet und weniger differenziert. Anders als die epithymia reagiert der thymos jedoch auch nicht mechanisch, sondern seine Beurteilungsgrundlage bleibt offen für Modifikationen durch die Vernunft. Ich halte die Interpretation von Lorenz für überzeugender. Denn die abgeschwächten Formulierungen in EN I 13 und EN VII 7 deuten m. E. darauf hin, dass Aristoteles die Fähigkeit zum Schlussfolgern, die er dem thymos zuspricht, von derjenigen, welche ihm zufolge der Vernunft zukommt, abgrenzen will. Zu sagen, dass der thymos sich nur auf eine gewisse Weise
richtigen Überlegung übermäßig suchen, nennen wir nicht unbeherrscht schlechthin, sondern [unbeherrscht] mit einer Ergänzung wie z. B. bezüglich Geld oder Gewinn oder Ehre oder thymos […].“ EN X 10, 1180a1– 5: „Doch ist es vermutlich nicht ausreichend, dass Menschen, wenn sie jung sind, die richtige Erziehung und Fürsorge erhalten; sondern auch wenn sie erwachsen sind, müssen sie sich damit beschäftigen und sich daran gewöhnen; und dafür und überhaupt für das ganze Leben dürften wir wohl auch die Gesetze brauchen. Denn die vielen Leute gehorchen eher dem Zwang als dem Wort und eher Strafen als dem Schönen.“
10.3 Thymos als eine Strebung (orexis)
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von der Vernunft überzeugen lässt, und dass er auf Beleidigungen reagiert, als ob er geschlussfolgert hätte, sollte ernstgenommen werden; hätte Aristoteles den thymos tatsächlich in der Weise der Vernunft angleichen wollen, wie Cooper dies annimmt, so dürfte man wohl eine eindeutige Formulierung erwarten.
10.3.1.3 Ist das kalon das spezifische Ziel des thymos? Coopers weiterreichendes Verständnis der Rationalität des thymos beinhaltet noch einen anderen Gesichtspunkt, der zu diskutieren ist: Er erklärt die spezifische Rationalität des thymos mit einer besonderen Verbindung zwischen dem thymos und dem Schönen, dem kalon, die darin besteht, dass das Schöne das spezifische Ziel des thymos ist, nach dem sich dessen Streben richtet. Cooper stützt seine Hypothese, im kalon den spezifischen Bezugsgegenstand bzw. Wert des thymos zu sehen, auf eine Textpassage in EN II 3, wo Aristoteles drei gute und drei schlechte Gegenstände bzw. Werte unterscheidet, auf die sich Tugenden und Laster jeweils beziehen: [EN II 3, 1104b30 – 1105a1]¹⁰⁴⁵ Es gibt nämlich drei Gegenstände des Wählens und drei des Meidens: das Schöne (kalon), das Zuträgliche (sympheron) und das Angenehme (hêdys), sowie deren Gegenteile, das Schlimme (aischron), das Schädliche (blaberon) und das Unangenehme (lypêron); und der Gute trifft in Bezug auf all diese Gegenstände das Richtige, der schlechte Mensch verfehlt es, vor allem aber in Bezug auf das Angenehme. Denn dies ist allen Lebewesen gemeinsam, und es ist bei allen Gegenständen des Wählens involviert, denn auch das Schöne und das Zuträgliche erscheinen angenehm.
Als Bezugsgegenstände des Wählens, die dazu geeignet sind, dass jemand tugendhaft wird, nennt Aristoteles das (moralisch) Schöne bzw. das Wertvolle, das kalon,¹⁰⁴⁶ das Zuträgliche bzw. Vorteilhafte, das sympheron,¹⁰⁴⁷ und das Ange-
EN II 3, 1104b30 – 1105a1: τριῶν γὰρ ὄντων τῶν εἰς τὰς αἱρέσεις καὶ τριῶν τῶν εἰς τὰς φυγάς, καλοῦ συμφέροντος ἡδέος, καὶ [τριῶν] τῶν ἐναντίων, αἰσχροῦ βλαβεροῦ λυπηροῦ, περὶ ταῦτα μὲν πάντα ὁ ἀγαθὸς κατορθωτικός ἐστιν ὁ δὲ κακὸς ἁμαρτητικός, μάλιστα δὲ περὶ τὴν ἡδονήν· κοινή τε γὰρ αὕτη τοῖς ζῴοις, καὶ πᾶσι τοῖς ὑπὸ τὴν αἵρεσιν παρακολουθεῖ· καὶ γὰρ τὸ καλὸν καὶ τὸ συμφέρον ἡδὺ φαίνεται. Das griechische „καλόν“ ist kaum treffend zu übersetzen, da der griechische Ausdruck auch edel, nobel und wertvoll bedeutet. Ich entscheide mich für die Übersetzung mit „schön“, wobei zu bedenken ist, dass dabei insbesondere an das moralisch Schöne zu denken ist, wenngleich die ästhetische Bedeutung des Ausdrucks ebenfalls anklingen soll und mitzudenken ist; vgl. auch Cooper 1996b, 272. Vgl. auch meine Ausführungen zum Schönen bei Aristoteles in Anm. 176, S. 69 – 70.
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nehme bzw. Lustvolle, das hêdys. Diesen guten Werten sind die entgegengesetzten Bezugspunkte – das Schlimme, das aischron, das Schädliche, das blaberon, und das Unangenehme bzw. Schmerzhafte, das lypêron – gegenübergestellt. Diese sind zu meiden, weil jemand durch die Orientierung an ihnen schlecht wird. Cooper beruft sich außerdem auf die Beobachtung, dass Aristoteles üblicherweise drei Arten menschlicher Strebung (orexis) unterscheidet und dabei eindeutig den rationalen Wunsch (boulêsis) mit dem Guten bzw. mit dem, was gut zu sein scheint,¹⁰⁴⁸ und die epithymia mit dem Angenehmen bzw. Lustvollen als deren jeweiliges spezifisches Ziel in Verbindung bringt.¹⁰⁴⁹ Dies nimmt er zum Anlass, die dritte Strebung, den thymos, mit dem verbleibenden Bezugsgegenstand, dem kalon, zu korrelieren.¹⁰⁵⁰ Zwar räumt er ein, dass Aristoteles nirgendwo explizit von einem spezifischen Bezugsgegenstand des thymos spricht, aber er zeigt sich trotzdem überzeugt, dass Aristoteles dies im Sinn gehabt hat: [Cooper 1996]¹⁰⁵¹ I will argue that, in the specific case of the morally virtuous person, he intends to correlate it [i. e. spirited desire, thumos; BL] with the remaining object of choice from our list: spirited
Cooper hält dafür, dass unter dem sympheron in dieser Aufzählung nicht das Nützliche im Sinn eines brauchbaren Mittels (chrêsimon) zu einem bestimmten Zweck zu verstehen ist, sondern es hier mit dem Guten, dem agathon, gleichzusetzen sei (vgl. Cooper 1996b, 265 – 266: „‚The advantageousʻ, in short, is a stand-in here for ‚the goodʻ (to agathon).“) Cooper stützt diese Behauptung auf zwei Parallelstellen in der Topik (Top. I 13, 105a27– 28 und III 3, 118b27– 28), wo deutlich wird, dass Aristoteles in diesem Sinn zwischen dem Nützlichen (chrêsimon pros) und dem Zuträglichen (sympheron) unterscheidet. Vgl. auch die einleitende Bemerkung in der EE (EE I 1, 1214a1– 8), wo Aristoteles die Aussage der delischen Inschrift zurückweist, laut der das Gerechteste als das Schönste (kalliston), Gesundheit als das Beste (ariston) und das Erreichen dessen, was man liebt, als das Angenehmste (hêdiston) gelten. Dem entgegnet Aristoteles zu Beginn der EE, dass die eudaimonia als das oberste Ziel im Sinn des schönsten, besten und angenehmsten Ziels zu bezeichnen ist. Vgl. insb. EN III 6; dazu auch Moss 2012. Z. B. Rhet. I 11, 1370a17– 18: „Das Begehren ist nämlich Streben nach dem Angenehmen.“ Es ist wichtig zu berücksichtigen, dass Cooper die Annahme des kalon als des spezifischen Bezugsgegenstands des thymos nur in Bezug auf den moralisch Tugendhaften vertreten will, d. h. er behauptet nicht, dass auch bei Tieren und Kindern in einem früheren Stadium der thymos sich auf das kalon richtet (vgl. Cooper 1996b, 276). Im Fall von Kindern ergibt sich durch diese Einschränkung der These allerdings eine Spannung in Coopers Position, da er, wie wir weiter unten sehen werden, dem thymos und dessen Ausrichtung auf das kalon eine wichtige Scharnierfunktion im Prozess der Erziehung beimisst. Diese Funktion kann der thymos nur erfüllen, wenn er bereits das kalon zu seinem Bezugspunkt hat, bevor eine Person im Besitz der Charaktertugenden ist und über einen funktionsfähigen rationalen Seelenteil verfügt. Cooper 1996b, 266. Dieselbe Ansicht vertritt auch Grönroos, der als Begründung die Argumentation Coopers akzeptiert (Grönroos 2007, 261): „What makes spirited desire suited to do
10.3 Thymos als eine Strebung (orexis)
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desire is the desire through which the morally virtuous person is primarily motivated to pursue to kalon, the noble or fine or beautiful.
Das kalon als das spezifische Objekt des thymos zeichnet sich in Coopers Augen dadurch aus, dass es passend (prepon) ist.¹⁰⁵² Was unter dem Passenden zu verstehen ist, erklärt Cooper unter Rückgriff auf eine Passage in Met. XIII 3¹⁰⁵³ als etwas, das sich durch Ordnung (taxis), Symmetrie (symmetria) und Bestimmtheit (to hôrismenon) auszeichnet. Übertragen auf menschliches Handeln bedeutet das, dass jemand, der kraft seines thymos nach dem kalon strebt, in seinen Handlungen ein möglichst hohes Maß an Ordnung, Harmonie und Bestimmtheit zu erreichen versucht – Ordnung, Symmetrie und Bestimmtheit können z. B. in Bezug auf vergangene und zukünftige Handlungen, hinsichtlich der Handlungsumstände oder bezüglich Implikationen, Folgen und Voraussetzungen der Handlungen angestrebt werden.¹⁰⁵⁴ Dass Cooper trotz fehlender expliziter Textbelege Aristoteles die Annahme zuschreibt, das kalon als den spezifischen Gegenstand des thymos anzusehen, ist mit dem platonischen Hintergrund seiner Deutung zu erklären. Cooper zufolge übernimmt Aristoteles Platons Unterteilung des nicht-rationalen Seelenteils in einen begehrenden und einen muthaften Teil und sieht das thymoeides wie Platon als eng mit der Vernunft verbunden an.¹⁰⁵⁵ Das an Platon angelehnte Verständnis wird noch dadurch verstärkt, dass sich Cooper auf einen Aufsatz von Burnyeat bezieht, in dem dieser eine Deutung präsentiert, wie nach Aristoteles der Prozess zu verstehen ist, durch den jemand ein guter Mensch wird.¹⁰⁵⁶ Burnyeat stellt hier eine direkte Verbindung zwischen Aristoteles’ Begriff der Scham und dem platonischen thymoeides her und nimmt in der Folge an, dass sich der thymos –
this work [i. e. the transformation of the non-rational part of the soul to strive for values endorsed by reason; BL] on behalf of the non-rational part is the kind of objects, or values, it is set upon. For Aristotle distinguishes between the two kinds of non-rational desire by the kind of object each strives for: whereas appetite is always set upon pleasure (hêdonê), spirited desire is set upon an entirely different value, viz. what is fine and beautiful (to kalon).“ Vgl. Top. V 5, 135a12– 14 sowie EE VIII 3, 1249a9. Met. XIII 3, 1078a31-b6. Vgl. Cooper 1996b, 274– 276. Cooper erläutert in diesem Sinn auch die mesotês-Lehre: Eine tugendhafte hexis ist demnach insofern die richtige Mitte zwischen zwei Extremen, als diese Disposition geordnet und harmonisch ist, während davon abweichende Dispositionen zu Unordnung und Disharmonie führen (vgl. Cooper 1996, 275). Cooper 1996b, 257. Vgl. zu Coopers Verständnis einer engen Verbindung von thymos und Vernunft bei Aristoteles den Abschnitt „10.3.1.2 Die spezifische Rationalität des thymos in EN VII 6 und 7“. Burnyeat 1980.
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ebenso wie das thymoeides bei Platon – auf das kalon bezieht.¹⁰⁵⁷ Cooper folgt Burnyeat und schreibt ebenfalls dem thymos eine besondere Rolle im Prozess der moralischen Erziehung zu: Der thymos ist das Vermögen, das Menschen zu Beginn zum moralischen Handeln motiviert. Der thymos sorgt anfangs für das Streben nach dem kalon und ermöglicht es auf diese Weise, dass eine Person sich allmählich, auch wenn sie noch nicht tugendhaft ist und über den rationalen Seelenteil verfügt, nach dem Guten richtet und dazu gelangt, das kalon zu erkennen. Der thymos erfüllt demnach eine zentrale Scharnierfunktion im Prozess der Erziehung und der Herausbildung eines tugendhaften Charakters.¹⁰⁵⁸ Coopers und Grönroos’ Ansatz, das kalon als den spezifischen Bezugsgegenstand des thymos aufzufassen, hat zweifellos den Vorzug, ein klares Kriterium zu benennen, aufgrund dessen sich der thymos von der epithymia auf der einen Seite und der Vernunft auf der anderen abgrenzen lässt. Überdies bietet die Hypothese eine Erklärung, inwiefern der thymos enger mit dem logos verbunden ist als das Begehren. Allerdings sollte die intuitive Plausibilität der Deutung nicht über die mangelnden Textbelege hinwegsehen lassen. Denn wie auch die Autoren selbst einräumen, verbindet Aristoteles den thymos weder explizit mit dem kalon, noch bringt er eine Erläuterung des kalon als eines spezifischen Bezugspunkts des thymos im Sinn von Ordnung, Symmetrie und Bestimmtheit vor. Aus diesen Gründen halte ich es für ratsam, dem thymos kein spezifisches Ziel zuzuordnen.¹⁰⁵⁹
Burnyeat 1980, 79: „The fundamental insight here is Plato’s. For in discussing the development in the young of a set of motives concerned with what is noble and just, we are on the territory which Plato marked out for the middle part of his tripartite soul. The middle, so-called spirited part strives to do what is just and noble (Rep. 440cd), and develops in the young before reason (441a; cf. Ar. Pol. 1334b22 – 25). It is also the seat of shame: implicitly so in the story of Leontius and his indignation with himself for desiring to look on the corpses, explicitly in the Phaedrus (Phd. 253d, Phd. 254e). The connection with anger, which we shall also find in Aristotle, is that typically anger is this same concern with what is just and noble directed outward toward other people (cf. NE 5.8, 1135b28 – 29). Aristotle owes to Plato, as he himself acknowledges in 2.3, the idea that these motivating evaluative responses are unreasoned – they develop before reason and are not at that stage grounded in a general view of the place of the virtues in the good life – and because they are unreasoned, other kinds of training must be devised to direct them on to the right kinds of objects; chiefly, guided practice and habituation, as we have seen […].“ Vgl. Jimenez 2011, 65: „I am partially sympathetic to Cooper’s attempt to bridge the moral upbringing gap. He recognizes the need to equip the learner with at least a minimal motivation towards the noble, and presents us with a reasonable story from which we can explain moral development as a continuous process.“ Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommt auch Jimenez in ihrer Auseinandersetzung mit den Argumentationen von Cooper und Grönroos; vgl. Jimenez 2011, 66: „The problem here is not
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Aufschlussreich ist an den Deutungen von Cooper und Grönroos nichtsdestoweniger, auf welche Weise sie dem thymos eine wichtige Scharnierfunktion im Prozess der Erziehung und der Charakterbildung zubilligen. Für die Annahme, dass Aristoteles den thymos als einen wichtigen Faktor bei der charakterlichen Entwicklung ansieht, spricht auch eine Stelle in der Politik, wo er auf die natürliche Beschaffenheit der Bürger in der besten Polis eingeht:¹⁰⁶⁰ Die für die Polis beste natürliche Beschaffenheit bringen diejenigen mit, die von Natur aus mit Denkvermögen begabt (dianoêtikos) und mutvoll (thymoeides) sind, denn diese lassen sich am besten von den Gesetzgebern zur Tugend führen.¹⁰⁶¹ Auffällig ist an dieser Stelle, dass Aristoteles den thymos hier nicht nur als das Vermögen bestimmt, kraft dessen jemand sich gegen Unrecht zur Wehr setzt, sondern auch als das Vermögen, kraft dessen man freundlich ist und liebt.¹⁰⁶² Diese Beschreibung hebt sich deutlich ab von der Darstellung des thymoeides bei Platon und auch von der Charakterisierung, die Aristoteles sonst vom thymos gibt, wenn er mit dem thymos den Drang, empfundenes Unrecht zu vergelten, verbindet. In Pol. VII 7 stellt Aristoteles den thymos dagegen als eine natürliche Beschaffenheit von Menschen dar, die der Ausbildung von Tugenden förderlich ist und an der die Scharnierfunktion des thymos im Erziehungsprozess sichtbar wird. Dies ergänzt Lorenz’ Vorschlag, nach dem der thymos von der Vernunft eine Beurteilungsgrundlage übernimmt, ohne sie aber mit ihr zu teilen. Ich halte es dabei für sinnvoll, bei dem Zusammenwirken von thymos und Vernunft zwei Phasen zu unterscheiden. Im Prozess der Erziehung, während dessen eine Person allmählich ihre Seelenvermögen entwickelt und unter dem Einfluss von Erziehern ihre nicht-rationalen Seelenteile am rationalen Seelenteil auszurichten lernt, wirkt der thymos im Wesentlichen als ein Strebevermögen, das zum Handeln motiviert. Im Unterschied zur epithymia ist der thymos aber nicht nur durch ne-
only that the object of thumos is not easy to pin down in Aristotle, […], but rather that the textual evidence suggests that thumos might be merely reactive and might even be lacking a proper goal.“ Im Gegensatz zu Jimenez scheint mir der thymos bei Aristoteles aber nicht als etwas „bloß Reaktives“ zu verstehen zu sein. Die diskutierten Textstellen in EN VII 6 und 7 sprechen vielmehr dafür, dass er dem thymos eine gewisse Rationalität beigemessen hat, die der epithymia nicht zukommt. Pol. VII 7, 1327b18 – 1328a21, insb. 1327b19 – 20: „[…] wie beschaffen sie [i. e. die Bürger; BL] aber von Natur aus sein sollen, wollen wir jetzt darlegen.“ [[…] ποίους δέ τινας τὴν φύσιν εἶναι δεῖ, νῦν λέγωμεν.]. Pol. VII 7, 1327b36 – 38: „Damit ist nun klar, dass Menschen, die sich für den Gesetzgeber leicht zur Tugend lenken lassen sollen, von Natur aus zugleich vernunftbegabt und mutvoll sein müssen.“ Pol. VII 7, 1327b40 – 41: „[…], so ist es eben der thymos, welcher uns befähigt, freundlich zu sein, denn er ist dasjenige Seelenvermögen, kraft dessen wir lieben.“
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gative und positive Anreize beeinflussbar, sondern er lässt sich auch durch reflektierte Ermahnungen und Ermunterungen lenken und modifizieren. In der zweiten Phase, wenn eine Person bereits über ein aktualisierbares rationales Seelenvermögen verfügt, ist der thymos ein nicht-rationaler Seelenteil, der auch von der eigenen Vernunft beeinflusst werden kann. Infolgedessen kann er auch zu moralischen Handlungen motivieren, ohne dass (erneut) eine Überlegung stattfindet. Die Handlungen erfolgen aber gleichwohl gemäß der Vernunft, da der thymos gleichsam den Maßstab der Vernunft inkorporiert hat, insofern er zuvor durch die Vernunft beeinflusst und ‚überzeugtʻ worden ist. Liegt eine solche Handlung aus thymos vor, ist sie zurechenbar, da der thymos der Handlung eine Beurteilungsgrundlage zugrunde legt, die er zuvor von der Vernunft übernommen hat.
10.4 Thymos als eine Emotion (pathos) Meine Annahme ist, dass die zweite Bedeutung von thymos im Sinn einer Emotion, eines pathos, enger ist als die erste Bedeutung im Sinn einer Strebung bzw. einer Art von impulsivem Drang. Der thymos im Sinn einer Emotion kommt vielleicht dem intuitiven Verständnis des Zorns näher, wenn man dabei an eine innere Aufregung angesichts eines vermeintlichen Unrechts denkt, das den Wunsch nach Vergeltung aufkommen lässt. Die griechische Bezeichnung für diese Emotion ist meist „ὀργή“, und auch Aristoteles verwendet oft „ὀργή“, wenn er vom thymos in diesem spezifischen Sinn spricht. Allerdings kommt an manchen Stellen auch „θυμός“ vor, wenn eindeutig der Zorn im engen Sinn einer Emotion gemeint ist.¹⁰⁶³ Aristoteles nutzt somit die Termini „θυμός“ und „ὀργή“ nicht konsequent, um einen inhaltlichen Unterschied zwischen einer Art von Strebung und einer engeren Bedeutung im Sinn einer Emotion sichtbar zu machen. Stattdessen verwendet er „θυμός“ und „ὀργή“ teilweise austauschbar, und zwar verwirrenderweise sowohl im weiten Sinn als Bezeichnung für eine Strebung (d. h. „ὀργή“ im Sinn von „θυμός“¹⁰⁶⁴) als auch im engen Sinn als Name für eine
Ich werde im Folgenden im Deutschen meist vom Zorn sprechen, wenn in meinen Augen der thymos im engen Sinn einer Emotion gemeint ist, um ihn so terminologisch vom thymos im weiten Sinn einer Strebung abzugrenzen. So z. B. in Rhet. I 10, 1368b37– 1369a7: „Alles aber, was sie von sich selbst aus tun und wofür sie selbst etwas können, tun sie einesteils aus Gewohnheit und andernteils aufgrund von Streben, und zwar einesteils aufgrund von vernünftigem und andernteils aufgrund von vernunftlosem Streben. Das eine ist das Wünschen 〈das Wünschen aber ist〉 ein Streben nach Gutem – keiner nämlich wünscht etwas, wenn er nicht meint, dass es gut sei; unvernünftiges Streben aber ist Zorn
10.4 Thymos als eine Emotion (pathos)
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Emotion (d. h. „θυμός“ im Sinn von „ὀργή“¹⁰⁶⁵). Bisweilen kommt „θυμός“ auch in Verbindung mit dem Verb „ὀργίζεσθαι“ vor, so dass aufgrund des Kontextes erschlossen werden muss, ob der enge oder der weite Sinn vorliegt.¹⁰⁶⁶ Diese terminologische Variabilität macht es schwierig, jeweils eindeutig zwischen den verschiedenen Bedeutungen von thymos zu unterscheiden. Eine zusätzliche Schwierigkeit für die Klärung der Frage, was unter dem thymos im Sinn einer Emotion zu verstehen ist, besteht darin, dass es auch kein (orgê) und Begierde. Daher tun sie alles, was sie tun, notwendigerweise aus einem von sieben Gründen, aufgrund von Zufall, von Natur aus, durch Gewalt, aus Gewohnheit, aufgrund von Überlegung, aus Wut (thymon) und aus Begierde [Übersetzung leicht verändert nach Rapp].“ [ὅσα δὲ δι᾿ αὑτούς, καὶ ὧν αὐτοὶ αἴτιοι, τὰ μὲν δι᾿ ἔθος τὰ δὲ δι᾿ ὄρεξιν, τὰ μὲν διὰ λογιστικὴν ὄρεξιν τὰ δὲ δι᾿ ἄλογον· ἔστιν δ᾿ ἡ μὲν βούλησις, 〈ἡ δὲ βούλησις〉 ἀγαθοῦ ὄρεξις (οὐδεὶς γὰρ βούλεται ἀλλ᾿ ἢ ὅταν οἰηθῇ εἶναι ἀγαθόν), ἄλογοι δ᾿ ὀρέξεις ὀργὴ καὶ ἐπιθυμία. ὥστε πάντα ὅσα πράττουσιν ἀνάγκη πράττειν δι᾿ αἰτίας ἑπτά, διὰ τύχην, διὰ φύσιν, διὰ βίαν, δι᾿ ἔθος, διὰ λογισμόν, διὰ θυμόν, δι᾿ ἐπιθυμίαν.]. Dies zeigt ein Vergleich der Behandlungen der Charaktertugend der Sanftmut in EN IV 11 und EE III 3. Während Aristoteles die Sanftmut (praotês) in der EN als die richtige Mitte in Bezug auf den Zorn (orgê) bestimmt (EN 1125b26: πραότης δ᾿ ἐστὶ μεσότης περὶ ὀργάς), erläutert er sie in der EE im Rückgriff auf den thymos (1231b5 – 7: „Daher sind der Sanftmütige und der Heftige auf dieselbe Art zu verstehen, denn wir sehen, dass der Sanftmütige den Schmerz empfindet, der vom Zorn her entsteht, und dass er sich dazu auf eine Weise verhält.“ τὸν ἀυτὸν δὲ τρόπον ληπτέον καὶ περὶ πραότητος καὶ χαλεπότητος· καὶ γὰρ τὸν πρᾶον περὶ λύπην τὴν ἀπὸ θυμοῦ γιγνομένην ὁρῶμεν ὀντα, τῷ πρὸς ταύτην ἔχειν πῶς.). Dass Aristoteles in der EE „θυμός“ im engen Sinn von orgê verwendet, ist daran zu erkennen, dass er den thymos hier mittels derjenigen Kriterien bestimmt, die er sonst zur Bestimmung der orgê im engen Sinn anführt, nämlich dass sie mit Schmerzen verbunden ist und dass sie durch Herabsetzungen (oligôria) erregt wird (vgl. Rhet. II 2). Ein weiteres Beispiel dafür, dass Aristoteles „θυμός“ im engen Sinn von orgê verwendet ist Rhet. II 12, 1389a9 – 12: „[Die Jungen] sind ungestüm und jähzornig und befinden sich in einem solchen Zustand, dass sie dem Zorn (orgê[i]) Folge leisten. Auch erliegen sie ihrer Wut (thymou); wegen des Ehrgeizes nämlich halten sie es nicht aus, herabsetzend behandelt zu werden, sondern sind unwillig, wenn sie meinen, dass ihnen Unrecht geschehen ist [Übersetzung nach Rapp].“ [[οἱ νέοι…] καὶ θυμικοὶ καὶ ὀξύθυμοι καὶ οἷοι ἀκολουθεῖν τῇ ὀργῇ. καὶ ἥττους εἰσὶ τοῦ θυμοῦ· διὰ γὰρ φιλοτιμίαν οὐκ ἀνέχονται ὀλιγωρούμενοι, ἀλλ᾿ ἀγανακτοῦσιν, ἂν οἴωνται ἀδικεῖσθαι.]. So z. B. in EN III 11, wo Aristoteles von der eigentlichen Charaktertugend der Tapferkeit die Tapferkeit aus Zorn unterscheidet, die zwar der Charaktertugend ähnelt, ihr aber nicht gleichkommt, weil ihren Handlungen keine prohairesis zugrunde liegt (EN III 11, 1117a4– 7): „Aber die Tapferkeit aufgrund von thymos scheint die natürlichste Art zu sein, und wenn sie ergänzt wird mit prohairesis und dem Worumwillen, dann ist es Tapferkeit. Und Menschen empfinden Schmerz, wenn sie zürnen, und Lust, wenn sie sich rächen.“ [φυσικωτάτη δ᾿ ἔοικεν ἡ διὰ τὸν θυμὸν εἶναι, καὶ προσλαβοῦσα προαίρεσιν καὶ τὸ οὗ ἕνεκα ἀνδρεία εἶναι. καὶ οἱ ἄνθρωποι δὴ ὀργιζόμενοι μὲν ἀλγοῦσι, τιμωρούμενοι δ᾿ ἥδονται·] Da der Zorn an dieser Stelle mit dem Empfinden von Lust auf Rache in Verbindung gebracht wird, ist vermutlich vom thymos im engen Sinn einer Emotion die Rede.
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leichtes Unterfangen ist, zu bestimmen, was Emotionen Aristoteles zufolge überhaupt sind.¹⁰⁶⁷ Er gibt in den Ethiken und in der Rhetorik nicht, wie er es sonst zur Einleitung oft tut, eine Definition oder eine Unterscheidung von verschiedenen Gebrauchsweisen des Ausdrucks „πάθος“ an, sondern er präsentiert lediglich verschiedene Auflistungen von pathê. Die verschiedenen Listen, die er vorbringt, sind außerdem uneinheitlich und sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.¹⁰⁶⁸ Die längste Liste von pathê ist die in EN. Dieser fügen die Listen in der EE und in der Rhetorik noch einzelne pathê hinzu, wobei sie nicht alle pathê der EN wiederholen: [EN II 4, 1105b21– 23]¹⁰⁶⁹ Emotionen nenne ich Begierde, Zorn (orgê), Furcht,Verwegenheit, Neid, Freude, Zuneigung, Hass, Sehnsucht, Eifersucht, Mitgefühl, im Allgemeinen Dinge, auf die Lust oder Schmerz folgen. [EE II 2, 1220b12– 14]¹⁰⁷⁰ Emotionen nenne ich solche Dinge wie thymos, Furcht, Scham, Begierde, und im Allgemeinen Dinge, auf die meist wahrnehmbare Lust oder Schmerz für sich genommen folgen. [Rhet. II 1, 1378a20 – 23]¹⁰⁷¹ Die Emotionen sind die Dinge, durch welche sich (die Menschen), indem sie sich verändern, hinsichtlich ihrer Urteile unterscheiden und welchen Lust oder Schmerz folgen, wie zum Beispiel Zorn (orgê), Mitleid, Furcht und was es sonst noch Derartiges gibt sowie die Gegenteile von diesen.
An allen drei Textstellen wird als gemeinsames Merkmal der pathê genannt, dass ihnen Lust oder Schmerz folgen. Zudem tauchen in allen drei Listen entweder der thymos oder die orgê auf.¹⁰⁷² Ein auffälliger Unterschied besteht dagegen darin,
Vgl. zur Diskussion der Emotionen bei Aristoteles einführend: Cooper 1996, 238 – 257; Leighton 1982; Nussbaum 1996, 303 – 323; Striker 1980, 286 – 302; Rapp 2012, 45 – 68 sowie Rapp 2002, 543 – 583. Vgl. Buddensiek 1997, 135. Buddensiek versteht die Uneinheitlichkeit und Unvollständigkeit der Listen plausiblerweise als Hinweis darauf, dass Aristoteles’ Behandlung der pathê nicht notwendigerweise ein einheitliches Schema oder eine einheitliche Struktur dessen, was pathê sind, zugrunde liegt. EN II 4, 1105b21– 23: λέγω δὲ πάθη μὲν ἐπιθυμίαν ὀργὴν φόβον θάρσος φθόνον χαρὰν φιλίαν μῖσος πόθον ζῆλον ἔλεον, ὅλως οἷς ἕπεται ἡδονὴ ἢ λύπη· EE II 2, 1220b12– 14: λέγω δὲ πάθη μὲν τὰ τοιαῦτα, θυμὸν φόβον αἰδῶ ἐπιθυμίαν, ὅλως οἷς ἕπεται ὡς ἐπὶ τὸ πολὺ ἡ αἰσθητικὴ ἡδονὴ ἢ λύπη καθ᾿ αὑτά. Rhet. I 1, 1378a20 – 23: ἔστι δὲ τὰ πάθη δι᾿ ὅσα μεταβάλλοντες διαφέρουσι πρὸς τὰς κρίσεις, οἷς ἕπεται λύπη καὶ ἡδονή, οἷον ὀργὴ ἔλεος φόβος καὶ ὅσα ἄλλα τοιαῦτα, καὶ τὰ τούτοις ἐναντία. Vgl. Rapp 2002, 586: „In die (sic!) Emotionslisten der Eudemischen Ethik und von Über die Seele wird offenbar auf dieselbe Emotion mit dem Ausdruck ‚θυμόςʻ Bezug genommen.“
10.4 Thymos als eine Emotion (pathos)
407
dass die Begierde (epithymia) zwar in der EE und der EN mit aufgezählt wird, in der Rhetorik aber fehlt.¹⁰⁷³ Die spezifische Bedeutung des Zorns als einer Emotion wird am besten in der Rhetorik deutlich, wo Aristoteles auch eine Definition für den Zorn anführt. Ich werde mich daher auf diese Erörterung konzentrieren.
10.4.1 Die Behandlung des Zorns in der Rhetorik Aristoteles behandelt in der Rhetorik im Anschluss an die Auflistung der pathê zu Beginn von Buch II der Reihe nach die verschiedenen Einzelemotionen, die er stets mit einer Definition der jeweiligen Emotion einleitet. Als erstes und am ausführlichsten behandelt er den Zorn (1378a31– 1380a5). Das lässt sich auch als ein Indiz für die zentrale Bedeutung des Zorns für die Rhetorik verstehen. Aristoteles klassifiziert den Zorn als eine Emotion und bestimmt ihn näher wie folgt: [Rhet. II 1, 1378a31– 33]¹⁰⁷⁴ Es soll also Zorn (orgê) ein mit Schmerz verbundenes Streben nach einer anscheinenden Vergeltung sein für eine anscheinende Herabsetzung einem selbst oder einem der Seinigen gegenüber von solchen, denen eine Herabsetzung nicht zusteht.
Aristoteles fasst den Zorn in Rhet. II 1 als eine Emotion auf, die er näher als eine mit Schmerz verbundene Strebung nach Vergeltung für etwas, das als eine Herabsetzung erscheint, bestimmt. Hierbei ist Verschiedenes auffällig. Der Zorn ist die einzige Emotion, die er in Rhet. II als eine Strebung bestimmt. Dass er den Zorn als eine Strebung bestimmt, muss indes nicht erstaunen, wie wir im vorherigen Abschnitt gesehen haben. Zu erläutern ist hingegen, wie sich die Bestimmung des Zorns als einer Strebung zu der als einer Emotion verhält. Es erscheint mir einleuchtend, den Zorn als eine Emotion, wie er in Rhet. II definiert wird, als einen spezifischen Unterfall des thymos als Strebung aufzufassen.¹⁰⁷⁵ Der thymos als
Ich komme weiter unten auf die Frage zurück, ob Aristoteles Gründe gehabt haben könnte, die Begierde in der Rhetorik nicht mit aufzuzählen. Rhet. II 2, 1378a30 – 33: ἔστω δὴ ὀργὴ ὄρεξις μετὰ λύπης τιμωρίας [φαιμονένης] διὰ φαινομένην ὀλιγωρίαν εἰς αὐτὸν ἢ τῶν αὐτοῦ, τοῦ ὀλιγωρεῖν μὴ προσηκόντων. Übersetzung leicht verändert nach Rapp. Vgl. zu dieser Definition des Zorns auch: De An. I 1, 403a29-b1 (zitiert in Anm. 980, S. 378); Top. IV 5, 126a6 – 13, Top. VIII 1, 156a32– 33. So auch Cooper 1996b, 262: „It is very important to see that anger is indeed only one quite special instance of the kind of desire Aristotle has in mind in speaking of thumos in book 7 and elsewhere. On Aristotle’s view, and on the view that became standard in Greek philosophy, anger (orgê) is to be understood in what must seem to us a quite narrow way. It is an agitated, distressful desire to inflict pain in retaliation upon a person who has distressed and upset oneself by de-
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10 Die Zurechenbarkeit von Handlungen aus thymos
Strebung ist demnach ein generischer Oberbegriff, unter den verschiedene Arten ‚mutvollerʻ (bzw. thymoeidetischer) Strebungen fallen, von denen der Zorn, d. h. der thymos im engen Sinn wie er in Rhet. II bestimmt wird, ein besonderer Unterfall ist.¹⁰⁷⁶ Dass der Definition des Zorns in der Rhetorik ein enges und spezifisches Verständnis zugrunde liegt, zeigen die weiteren Erläuterungen:¹⁰⁷⁷ Den Zorn definiert Aristoteles als eine mit Schmerz verbundene Strebung nach Vergeltung bzw. nach dem, was dem Zürnenden als Vergeltung erscheint, für eine Herabsetzung (oligôria) bzw. für das, was dem Zürnenden eine Herabsetzung zu sein scheint. Eine Herabsetzung kommt z. B. durch Verachtung, Boshaftigkeit oder Übermut zustande. Dabei ist es notwendig, dass sich die Vergeltung gegen einzelne Personen (und nicht allgemein auf eine Art oder Gattung) richtet, und dass der Zorn gegenüber einzelnen Personen darauf beruht, dass diese dem Zürnenden selbst oder einer Person aus dem Umkreis des Zürnenden etwas angetan haben oder antun wollten. Schließlich ist der Zorn sowohl mit Schmerz als auch mit Lust verbunden. Schmerz entsteht durch die Herabsetzung. Lust resultiert aus der Hoffnung auf Vergeltung, und Lust stellt sich auch beim Gedanken an die angestrebte Vergeltung ein. Diese spezifische Bedeutung des Zorns ist mit dem Kontext in der Rhetorik zu erklären. Mit der Behandlung der Einzelemotionen verfolgt Aristoteles hier das Ziel, dem Redner anzugeben, in welcher Weise er seine Zuhörer durch die Beeinflussung von deren Emotionen überzeugen kann. Emotionen sind hier also nur insoweit von Interesse, als der Redner sie für seine Zwecke instrumentalisieren kann. Damit lässt sich auch plausibel begründen, weshalb auf der Liste der pathê livering an unjustified insult or belittlement to oneself or of some close relation or friend. […] In effect, as the definition in the Rhetoric clearly suggests, anger, so understood, is a special case of spirited desire, the case in which an agitated desire of that spirited type arises as a response to what one takes to have been such insulting or belittling behavior.“ Sowie auch Cooper 1996a, 249 – 250: „[…] Aristotle regularly distinguishes between anger and ‚spiritedʻ desire (thumos), using the latter as the name for his second type of desire and treating anger as a special case of it, the case where the desire is extremely agitated and distressed.“ Der Schmerz, der mit der Strebung des Zorns im Sinn einer Emotion verbunden ist, kann dabei nicht die differentia specifica sein, denn Aristoteles nimmt auch für andere Arten von thymos (wie auch für die Begierden) an, dass sie mit Lust oder Schmerz verbunden sind. Cooper erwägt jedoch die Möglichkeit, das Spezifische des Zorns in einer besonders ausgeprägten Art von Schmerz, z. B. in Gestalt einer starken inneren Aufregung, zu sehen (Cooper 1996b, Anm. 18, 262: „It seems, though, that [Aristotle] may intend by that phrase here [i. e. μετὰ λύπης; BL] to convey a specially high degree of distress, something like the ταραχή or turmoil he mentions frequently in the Rhetoric in discussing other emotions treated there (see 1382a21, 1383b14, 1386b18 – 19; and cf. Nic. Eth. 1125b34, in the discussion of good temper, where Aristotle says that the πρᾶος tends to be ἀτάραχος). That would contribute to marking off this specific desire within the genus.“ Vgl. dazu ausführlich: Rapp 2002, 525 – 542.
10.4 Thymos als eine Emotion (pathos)
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in der Rhetorik die Begierde fehlt: Notwendige Begierden, die sich auf Essen, Trinken und Sex beziehen, spielen für den Redner keine Rolle, weil sie nicht auf andere Personen und deren Handlungsweisen gerichtet sind.¹⁰⁷⁸ Relevant sind für den Redner dagegen diejenigen Emotionen, die Einfluss auf die Urteile der Zuhörer haben können. Unter dem Einfluss einer Emotion auf ein Urteil ist dabei wohl zu verstehen, dass sich Emotionen darauf auswirken können, zu welchen Urteilen jemand gelangt.¹⁰⁷⁹ So urteilt z. B. ein Zorniger anders als ein Sanftmütiger, ob und auf welche Weise eine Herabsetzung zu vergelten ist.
10.4.2 Gibt es bei Aristoteles pathê im engeren und im weiten Sinn? Es könnte nun der Verdacht entstehen, dass Aristoteles pathê im engeren Sinn von solchen im weiteren Sinn abgrenzen will. Verfechter dieser Vermutung könnten sich zudem darauf berufen, dass Aristoteles in Rhet. I 11 zwischen vernünftigen (meta logou) und nicht-vernünftigen (alogon) Begierden unterscheidet.¹⁰⁸⁰ Vernünftige Begierde bzw. Begierden mit logos sind solche, die aus einem Überzeugtsein (peisthênai) resultieren, wohingegen unvernünftige Begierden nicht aufgrund einer Annahme (hypolambanein) bestehen, sondern „von Natur aus“ (physei), d. h. durch Sinneswahrnehmungen und natürliche Bedürfnisse, entstehen. Unter pathê im engeren Sinn, die für den Redner von Bedeutung sind, könnte man demnach Emotionen verstehen, die auf Annahmen beruhen und infolgedessen enger mit dem logos verbunden sind. Demgegenüber sind pathê im weiten
Vgl. Rapp 2002, 571. Ein zweiter Grund für das Fehlen der epithymia könnte sein, dass Aristoteles diese bereits in Buch I als Motiv für Unrechttäter behandelt hat und er in der Rhetorik ein „Ökonomieprinzip“ beherzigt, das es verbietet, bereits behandelte Stichworte erneut zu traktieren (vgl. Nussbaum 1996, 289; sowie Rapp 2002, 571 und Buddensiek 1997, Anm. 18, 139). Vgl. Rapp 2002, 575 – 583, insb. 577. Rhet. I 11, 1370a18 – 27: „Von den Begierden nämlich sind die einen unvernünftig (alogoi), die anderen aber vernünftig (meta logou). ‚Unvernünftigʻ (alogous) nenne ich alle die Begierden, welche nicht daraus resultieren, dass eine Annahme über etwas gemacht wird; von solcher Art sind alle die, die als ‚natürlichʻ bezeichnet werden, wie die, die durch den Körper vorhanden sind – zum Beispiel die Begierde nach Nahrung, [Durst und Hunger], die Begierde nach jeder einzelnen Art von Nahrung, die Begierden, die mit dem Geschmack und der Sexualität zu tun haben, sowie überhaupt das, was den Tastsinn betrifft, und was den Geruchssinn [von Wohlriechendem], den Gehörsinn und den Gesichtssinn betrifft. ‚Vernünftigʻ (meta logou) nenne ich alle die Begierden, die aus einer Überzeugung resultieren; vieles natürlich begehrt man zu sehen oder zu erwerben, wenn man davon gehört hat und davon überzeugt ist [Übersetzung nach Rapp].“
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10 Die Zurechenbarkeit von Handlungen aus thymos
Sinn unvernünftig. Sie spielen für den Redner keine Rolle, da sie nicht aus einer Überzeugung resultieren und daher keine Verbindung zum logos haben. Ist diese Ansicht haltbar, derzufolge sich ein Unterschied zwischen pathê im engeren Sinn und pathê im weiteren Sinn anhand ihres Verhältnisses zum logos machen lässt?¹⁰⁸¹ Dagegen spricht zunächst, dass Aristoteles den Zorn in Rhet. I¹⁰⁸² als ein unvernünftiges (alogon) Streben bezeichnet, während er diese Emotion in Rhet. II als erstes pathos behandelt, das der Redner für seine Anliegen instrumentalisieren kann. Buddensiek wendet zudem ein, dass auch für einige der pathê im weiten Sinn gilt, dass sie durch den logos beeinflussbar sind, so dass das Verhältnis zum logos nicht als Unterscheidungskriterium dienen kann.¹⁰⁸³ Er stützt seinen Einwand auf die im vorherigen Abschnitt diskutierte Passage in EN VII 7, wo Aristoteles zwischen der Begierde und dem thymos unterscheidet:¹⁰⁸⁴ Da als mögliche Quellen für Begehren in EN VII 7, 1149a34– 35 Vernunft (logos) und Wahrnehmung genannt werden, und dieselben Anlässe auch als Ursprünge für vernünftige und nicht-vernünftige Begierden in Rhet. I 11 genannt werden, folgert Buddensiek, dass es sich nicht um verschiedene Typen von Begehren handeln kann, sondern dass es für Aristoteles vielmehr zum einen Begierden gibt, die der logos beeinflusst, und zum anderen solche, auf die der logos keinen Einfluss hat.¹⁰⁸⁵ So kann sich z. B. das Verlangen nach einem bestimmten Wein verstärken, wenn man mehr über dessen Exklusivität und Geschmacksnuancen erfährt, und auch das sexuelle Verlangen nach einer Person kann sich durch zusätzliche Informationen verändern. Buddensieks Befund, dass sich Begierde (epithymia) nicht insofern von pathê im engeren Sinn abgrenzen lässt, als Letztere den logos als einen Bestandteil enthalten, erscheint mir zutreffend. Allerdings muss dieses Ergebnis m. E. noch differenziert werden. Buddensiek beschränkt sich bei der Analyse der Verbindung, die zwischen dem logos und den verschiedenen Arten von Begierden besteht, auf den Punkt, ob der logos eine Begierde veranlassen kann (1149a34 – 35). Das heißt, es geht bei ihm um die Frage, ob die
Anhänger dieser Abgrenzung könnten auch auf das Fehlen der unvernünftigen Begierden in der Auflistung in Rhet. II verweisen (vgl. Rapp 2002, 571). Rhet. I 1369a4. Buddensiek 1997, 139 – 140. EN VII 7, 1149a24-b3; vgl. meine Anm. 1032, S. 392– 393. Buddensiek 1997, 140: „Auffälligerweise verwendet Aristoteles auch in der Einteilung in arationale Begierden und Begierden ‚mit logosʻ in der Rhetorik gerade Wahrnehmung und logos als die beiden Quellen oder Anlässe für Begierde. Daraus ergibt sich, oder zumindest liegt dies nahe, daß auch in der Passage der EN von beiden Arten von Begierden die Rede ist. Dies ist, wie mir scheint, genau dann möglich, wenn wir eben nicht verschiedene Typen von Begehren ansetzen: es ist möglich, daß logos uns sagt, was begehrenswert ist; dies heißt aber nicht, daß logos Teil des Begehrens als Begehren ist.“
10.4 Thymos als eine Emotion (pathos)
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Information, die für das Zustandekommen einer Begierde nötig ist, auch vom logos geliefert werden kann. Diese Möglichkeit gesteht Aristoteles in EN VII 7 in der Tat explizit zu. Zwar nimmt er auch an, dass manche Begierden nicht durch den logos beeinflussbar sind, wie z. B. die notwendigen Begierden nach Essen und Trinken, gegen deren Eintreten die Vernunft nichts tun kann.¹⁰⁸⁶ Aber der Fall des Beherrschten zeigt, dass auch die Begierden nach Notwendigem sich laut Aristoteles nicht völlig dem Einfluss des logos entziehen: Denn jenseits des Notwendigen können diese Begierden durch die Vernunft gelenkt werden, und den Mäßigen zeichnet es aus, dies besonders gut zu vermögen. Was Buddensieks Analyse m. E. übergeht, ist ein anderer Aspekt des Verhältnisses der verschiedenen Arten von Begehren zum logos, der auch in EN VII 7 zum Ausdruck kommt und bei dem im Unterschied zum vorherigen tatsächlich ein Unterschied zwischen epithymia und thymos vorliegt: Denn nur über den thymos sagt Aristoteles hier, dass er in gewisser Weise auf die Vernunft, den logos, hört, und er beschreibt die Verbindung zwischen dem Zur-Verfügung-Stellen der Information, dass eine Herabsetzung vorliegt, und dem Streben nach Vergeltung mit Hilfe der Formulierung, dass der thymos zürnt und danach strebt, sich zur Wehr zu setzen, als hätte er geschlussfolgert. In dieser Darstellung kommt die spezifische Verbindung des thymos zur Vernunft zum Ausdruck, und ich habe ausgeführt, wie sie sich m. E. plausibel deuten lässt. Der Kontext der Stelle macht deutlich, dass diese Charakterisierung nur den thymos betrifft und dass Aristoteles damit begründen will, weshalb die Unbeherrschtheit in Bezug auf den thymos weniger schlimm ist als die Unbeherrschtheit in Bezug auf die Begierden. Damit ergibt sich ein doppeltes Ergebnis: Wenn es um den Einfluss geht, den der logos in Hinblick auf verschiedene pathê bezüglich deren Zustandekommens haben kann, so geht der Unterschied quer durch die verschiedenen Typen von pathê: Es gibt Begierden (epithymiai), die der logos nicht steuern kann; es gibt aber auch solche, die durch die Vernunft beeinflusst werden können.¹⁰⁸⁷ Es ist
EN III 7, 1113b26 – 30: „Nun wird aber niemand ermutigt, Dinge zu tun, die nicht bei uns liegen oder die nicht willentlich sind, wie auch das Überzeugt-Werden, nicht zu erwärmen oder Schmerz oder Hunger oder etwas anderes dieser Art zu empfinden, witzlos ist; denn wir werden dies nicht empfinden.“ Vgl. auch EN III 15, 1119b7– 10: „Wenn sie [i. e. die Strebung; BL] nun nicht gut gehorcht und sich nicht der leitenden Instanz unterordnet, dann wird sie immer weiter wachsen; denn in einem Wesen ohne Verstand ist das Streben nach dem Angenehmen unersättlich und wahllos. Die Tätigkeit der Begierde vermehrt noch die angeborene Tendenz, und wenn die Begierden groß und heftig sind, dann vertreiben sie auch die Überlegung [Übersetzungen nach Wolf].“ Vgl. Rapp 2002, 571: „Der Unterschied, den Aristoteles tatsächlich macht, verläuft nicht zwischen Begierden und Emotionen, sondern quer durch die Begierden. […] Zumindest Hunger und Durst lassen sich als Begierden dem vegetativen Teil zurechnen, denn es ist auch so, dass
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10 Die Zurechenbarkeit von Handlungen aus thymos
anzunehmen, dass Gleiches auch für andere Emotionen gilt, und so auch für den thymos. Ein weiteres Indiz dafür ist, dass Aristoteles den thymos auch Tieren zuschreibt und dass er das Erregen zorniger Reaktionen bei Menschen und Tieren in den naturphilosophischen Schriften auf dieselbe Weise erklärt.¹⁰⁸⁸ Das heißt, es gibt auch beim thymos Strebungen, die der logos nicht steuern kann (entweder weil ein Lebewesen nicht über den logos verfügt oder weil z. B. die Strebung zu stark ist, als dass der logos sie beeinflussen könnte), sowie solche, auf die der logos Einfluss hat.Wird hingegen danach gefragt, in welcher Weise der thymos bei Lebewesen, die über einen vernünftigen Seelenteil verfügen, auf die Vernunft hören kann, so besteht hier ein wichtiger Unterschied zum Begehren. Denn anders als das Begehren kann der thymos nicht nur Informationen vom logos empfangen, sondern er ist darüber hinaus in der Lage, den Beurteilungsmaßstab von der Vernunft zu übernehmen und insoweit zu verinnerlichen, dass er in bestimmten Situationen reagieren kann, als hätte er einen Überlegungsprozess absolviert. Tatsächlich hat er aber keine Schlussfolgerung geleistet, sondern hat ohne zu überlegen einen vernünftigen Beurteilungsmaßstab auf eine bestimmte Situation angewendet, den der thymos nicht selbst entwickelt hat, sondern im Zuge der Charakterbildung von der Vernunft adaptiert hat. Handlungen, die auf dieser Art von thymos beruhen, sind aufgrund der Verbindung des thymos zum logos zurechenbar, wenn auch in einem abgeschwächten Maß gegenüber Handlungen, die auf einer prohairesis beruhen.
10.5 Schlussbemerkung Ausgangspunkt für meine Auseinandersetzung mit dem thymos war die Frage, ob Handlungen aus thymos nach Aristoteles ebenfalls als zurechenbare Handlungen
Aristoteles einmal sagt (EN 1113b27– 30), dass man Hunger und Durst niemandem ausreden kann. Aber damit ist offenbar noch nicht das Phänomen der Begierde erschöpft, denn insofern das Maß des für das Überleben Notwendigen sowie der Bereich der allein durch das körperliche Bedürfnis entstandenen Begierden überschritten ist, können auch Begierden auf die Vernunft hören (Rhet. 1370a18 ff.) und man wird – je nach Verhalten – gelobt oder getadelt, so dass sich in dieser Hinsicht die Begierden nicht anders als Emotionen verhalten.“ HA I 1, 488b12– 15: „Auch in Hinblick auf den Charakter unterscheiden sie [i. e. die Tiere (τὰ ζῷα); BL] sich auf folgende Weisen: Manche sind nämlich sanftmütig und nicht leicht erzürnbar und nicht angriffslustig, wie z. B. das Rind, andere sind leicht zu erzürnen und angriffslustig und ungelehrt, wie z. B. das Wildschwein; […]“ Vgl. Auch EN III 11, 1116b24– 26: „Denn die Tapferen scheinen auch wie die wilden Tiere aufgrund von Zorn auf diejenigen loszustürmen, die sie verwundet haben, weil auch die Tapferen mutvoll sind.“ Vgl. Auch HA VII 1, 588a16 – 25; HA II 4, 650b33 – 651a3.
10.5 Schlussbemerkung
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anzusehen sind. Ich habe dafür argumentiert, dass Aristoteles auch für manche Handlungen, die auf dem thymos beruhen, annimmt, dass sie zurechenbar sind, wenn auch nur in eingeschränkter Weise. Abschließend ist es indes wichtig festzuhalten, dass Aristoteles durchweg die klare Unterscheidung zwischen Handlungen aus thymos und den im eigentlichen Sinn zurechenbaren Handlungen aufrechterhält. Letztere beruhen auf einer prohairesis und sie allein gelten als tugendhafte Handlungen im eigentlichen Sinn, die im vollen Sinn Lob verdienen. Diese eindeutige Abgrenzung wird in einer Passage in EN III im Zusammenhang der Diskussion der Tapferkeit besonders deutlich. Aristoteles unterscheidet hier am Ende die eigentliche Tugend der Tapferkeit von fünf Arten von Tapferkeit, die jener zwar ähnlich sind, ihr aber nicht gleichkommen und daher nicht als Tugenden anzusehen sind. Eine der uneigentlichen Arten von Tapferkeit ist die Tapferkeit, die auf dem thymos beruht und die Aristoteles als die natürlichste Art von Tapferkeit bezeichnet: [EN III 11, 1116b23 – 26, 1116b30 – 31 und 1117a4– 9]¹⁰⁸⁹ Die Leute rechnen auch den thymos zur Tapferkeit. Denn auch diejenigen, die aus Zorn handeln, gelten als tapfer, wie die wilden Tiere, die sich auf jene stürzen, von denen sie verwundet worden sind, da auch die Tapferen muthaftig (thymoeideis) sind. […] Die Tapferen nun handeln aufgrund des Schönen, und der Zorn unterstützt sie dabei. […] Diejenige Tapferkeit, die durch den thymos entsteht, scheint die natürlichste [Form der Tapferkeit] zu sein, und damit es wirklich einmal Tapferkeit ist, sind die prohairesis und das Worumwillen hinzuzufügen. Menschen empfinden folglich auch Schmerz, wenn sie zürnen, und Lust, wenn sie Vergeltung üben. Doch Menschen, die aus diesen Gründen kämpfen, sind zwar kampfestüchtig, aber nicht tapfer. Denn sie handeln nicht um des Schönen willen und nicht, wie die [richtige] Überlegung es vorschreibt, sondern durch Affekt. Sie haben aber etwas [der Tapferkeit] Ähnliches.
Aus dieser Passage geht der Unterschied zwischen der eigentlichen Tugend der Tapferkeit und der Tapferkeit aus thymos deutlich hervor. Im eigentlichen Sinn tapfere Handlungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie um des Schönen (dia to kalon) willen ausgeführt werden. Solche Handlungen beruhen auf einer prohairesis, die hier offenbar als notwendige Bedingung aufgefasst wird, damit es das Schöne ist, um dessentwillen die tapfere Handlung geschieht. Demgegenüber
EN III 11, 1116b23 – 26, 1116b30 – 31 und 1117a4– 9: καὶ τὸν θυμὸν δ’ ἐπὶ τὴν ἀνδρείαν φέρουσιν· ἀνδρεῖοι γὰρ εἶναι δοκοῦσι καὶ οἱ διὰ θυμὸν ὥσπερ τὰ θηρία ἐπὶ τοὺς τρώσαντας φερόμενα, ὅτι καὶ οἱ ἀνδρεῖοι θυμοειδεῖς· […] οἱ μὲν οὖν ἀνδρεῖοι διὰ τὸ καλὸν πράττουσιν, ὁ δὲ θυμὸς συνεργεῖ αὐτοῖς· […] φυσικωτάτη δ᾿ ἔοικεν ἡ διὰ τὸν θυμὸν εἶναι, καὶ προσλαβοῦσα προαίρεσιν καὶ τὸ οὗ ἕνεκα ἀνδρεία εἶναι. καὶ οἱ ἄνθρωποι δὴ ὀργιζόμενοι μὲν ἀλγοῦσι, τιμωρούμενοι δ’ ἥδονται· οἱ δὲ διὰ ταῦτα μαχόμενοι μάχιμοι μέν, οὐκ ἀνδρεῖοι δέ· οὐ γὰρ διὰ τὸ καλὸν οὐδ’ ὡς ὁ λόγος, ἀλλὰ διὰ πάθος· παραπλήσιον δ’ ἔχουσί τι.
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10 Die Zurechenbarkeit von Handlungen aus thymos
erfolgt die tapfere Handlung aus thymos aufgrund eines impulsiven Drangs, empfundenes Unrecht zu vergelten. Zwar kann der Drang der Vernunft helfen (ho de thymos synergei autois) und damit tugendhaftes Handeln unterstützen; er allein ist aber nicht der Lage, damit die tapfere Handlung um des Schönen willen geschieht. Dafür ist eine prohairesis nötig, denn nur wenn diese hinzukommt, handelt es sich um eine tugendhafte Handlung, die um des Schönen willen geschieht und daher im vollen Sinn Lob verdient.
11 Zurechenbarkeit plötzlicher Handlungen und unbeherrschter Handlungen aus Voreiligkeit¹⁰⁹⁰ Die beiden Sonderfälle menschlicher Handlungen, die ich in diesem Kapitel diskutieren werde, sind plötzliche Handlungen und akratische Handlungen aus Voreiligkeit. Beide Arten von Handlungen haben gemeinsam, dass ihnen keine Überlegung vorausgegangen ist und ihnen kein aktualer und ausdrücklicher Entschluss zugrunde liegt. Sie weichen damit von dem Normalfall einer zurechenbaren Handlung ab, wie Aristoteles ihn in EN III 4– 6 bestimmt. Die Bestimmung einer zurechenbaren Handlung, die Buch III zu entnehmen ist, lässt sich wie folgt paraphrasieren: [Df. ZH*]¹⁰⁹¹ y ist eine zurechenbare Handlung ↔df.? y ist eine Handlung, y geschieht ohne Zwang, y geschieht nicht aufgrund von Unwissenheit um die Einzelumstände der Handlung und y geschieht aus einem (aktualen) Entschluss heraus
Nach dieser Bestimmung ist es hinreichend dafür, dass eine Handlung zurechenbar ist, dass sie erstens willentlich geschieht, d. h. weder aus Zwang noch aufgrund von Unwissenheit um die Einzelumstände, und dass sie zweitens auf einem Entschluss beruht. Plötzliche und voreilige Handlungen erfüllen nun zwar die Bedingungen für willentliche Handlungen; sie beruhen aber nicht auf einem Entschluss. Sollte [Df. ZH*] also tatsächlich die korrekte Definition für zurechenbare Handlungen darstellen, so wären plötzliche und voreilige Handlungen nicht zurechenbar. Das erscheint jedoch nicht plausibel, und im Folgenden werde ich zeigen, dass dies auch nicht Aristoteles’ Auffassung gewesen ist. Ich werde zunächst darstellen, wie er plötzliche und voreilige Handlungen charakterisiert, und anschließend zeigen, dass er sie als zurechenbar ansieht. Im nächsten Schritt stelle ich drei Interpretationen vor, deren gemeinsames Ziel es ist, die atypische Handlungsstruktur plötzlicher und voreiliger Handlungen innerhalb des aristotelischen Theorierahmens tugendhafter Handlungen zu erklären. Die Ansätze versuchen auf unterschiedliche Weise zu begründen, warum diesen Sonderfällen von Handlungen keine unmittelbare Überlegung und kein aktualer Entschluss vorausgeht und sie trotzdem zurechenbar sind. Das Ergebnis aller drei Ansätze ist,
Dieses Kapitel ist die überarbeitete Fassung eines 2013 erschienenen Aufsatzes: vgl. Lienemann 2013. Das dem Akronym hinzugefügte Sternchen soll anzeigen, dass es sich um eine vorläufige Definition handelt, die im Weiteren noch zu verbessern sein wird. https://doi.org/10.1515/9783110517583-013
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11 Zurechenbarkeit plötzlicher Handlungen und unbeherrschter Handlungen
dass die Rede von einem Entschluss in [Df. ZH*] näher qualifiziert werden muss, damit die Definition zufriedenstellend ist und auch auf plötzliche und voreilige Handlungen zutrifft. Obwohl die Ansätze zum Teil zutreffende Charakterisierungen enthalten, formuliere ich abschließend eine leicht abweichende eigene Erklärung für die Zurechenbarkeit plötzlicher und voreiliger Handlungen.
11.1 Plötzliche Handlungen Die Textbasis, auf deren Grundlage zu bestimmen ist, was Aristoteles unter plötzlichen und voreiligen Handlungen versteht, ist sehr dünn. Eine einschlägige Stelle für die Bestimmung plötzlicher Handlungen kommt zu Beginn der Diskussion der prohairesis in EN III 4 vor: [EN III 4, 1111b6 – 10]¹⁰⁹² Der Entschluss scheint nun etwas Willentliches zu sein, aber nicht dasselbe, sondern das Willentliche umfasst mehr. Denn am Willentlichen haben auch Kinder und die anderen Lebewesen teil, aber nicht an dem Entschluss; und plötzliche Handlungen nennen wir zwar willentlich, aber nicht dem Entschluss gemäß.
Zwei andere Textstellen finden sich in EE II 8 und 10: [EE II 8, 1224a2– 4]¹⁰⁹³ […] (dass es möglich ist, willentlich zu handeln, ohne zu wünschen, dies allein wurde gezeigt; viele Dinge aber, die wir wünschen, tun wir plötzlich, und niemand entschließt sich plötzlich zu etwas). [EE II 10, 1226b2– 5]¹⁰⁹⁴ Da der Entschluss also weder Meinung ist noch Wunsch, weder jedes von beiden für sich genommen noch beides zusammen (denn niemand entschließt sich plötzlich, man scheint aber plötzlich zu handeln und man wünscht plötzlich), daher also [beruht der Entschluss] auf beidem. Denn diese beide treten bei jemandem auf, der sich entschließt.
EN III 4, 1111b6 – 10: ἡ προαίρεσις δὲ ἑκούσιον μὲν φαίνεται, οὐ ταὐτὸν δέ, ἀλλ᾿ ἐπὶ πλέον τὸ ἑκούσιον· τοῦ μὲν γὰρ ἑκουσίου καὶ παῖδες καὶ τἆλλα ζῷα κοινωνεῖ, προαιρέσεως δ᾿ οὔ, καὶ τὰ ἐξαίφνης ἑκούσια μὲν λέγομεν, κατὰ προαίρεσιν δ᾿ οὔ. EE II 8, 1224a2– 4: […] (ἀλλ᾿ ὅτι καὶ μὴ βουλόμενον ἐνδέχεται πράττειν ἑκόντα, τοῦτο δέδεικται μόνον· πολλὰ δὲ βουλόμενοι πράττομεν ἐξαίφνης, προαιρεῖται δ᾿ οὐδεὶς οὐδὲν ἐξαίφνης). EE II 10, 1226b2– 5: ἐπειδὴ οὖν οὔτε δόξα οὔτε βούλησις ἐστιν προαίρεσίς {ἐστιν} ὡς ἑκάτερον, οὐδ᾿ ἄμφω (ἐξαίφνης γὰρ προαιρεῖται μὲν οὐθείς, δοκεῖ δὲ πράττειν καὶ βούλονται), ὡς ἐξ ἀμφοῖν ἄρα· ἄμφω γὰρ ὑπάρχει τῷ προαιρουμένῳ ταῦτα.
11.1 Plötzliche Handlungen
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In den beiden Passagen aus der EE wird ein zentrales Charakteristikum plötzlicher Handlungen genannt, das sie auszeichnet und das sie als unvereinbar mit einem Entschluss erscheinen lässt: Wesentlich für plötzliche Handlungen ist danach ihr extrem rasches Zustandekommen. Diese Erläuterung von Plötzlichkeit stimmt mit der Bestimmung überein, die Aristoteles in der Physik formuliert: [Phys. IV 13, 222b14– 15]¹⁰⁹⁵ „plötzlich“ bedeutet das, was der Kürze wegen in nicht-wahrnehmbarer Zeit auftritt.
Plötzliche Handlungen kommen in derart kurzer Zeit zustande, dass zwischen dem Wahrnehmen einer Handlungssituation und dem Vollzug einer Handlung keine Zeit ist, um eine Überlegung anzustellen und einen Entschluss zu einer bestimmten Handlung zu fassen. Setzte die Zurechenbarkeit einer Handlung voraus, dass ihr Überlegung vorausgegangen ist und sie auf einem Entschluss beruht, wären plötzliche Handlungen nicht zurechenbar. Dies erscheint jedoch kontraintuitiv, da man eine Person häufig auch für plötzliche Handlungen verantwortlich macht. Die Textgrundlage, anhand deren sich in Bezug auf Aristoteles für die Zurechenbarkeit plötzlicher Handlungen argumentieren lässt, ist jedoch noch spärlicher als die Passagen, an denen er über plötzliche Handlungen spricht. Es gibt aber zumindest eine eindeutige Textstelle, an der sich belegen lässt, dass auch plötzliche Handlung zurechenbar sind, und zwar ist dies eine kurze Bemerkung zu Beginn der Behandlung der einzelnen Charaktertugenden in EN III 11, die plötzliche tapfere Handlungen betrifft: [EN III 11, 1117a17– 22]¹⁰⁹⁶ Daher scheint auch einer tapferer zu sein, der bei plötzlicher Furcht furchtlos und unerschüttert ist als bei einer (im Vorhinein) deutlichen; denn jenes [resultierte] eher aus der Disposition,¹⁰⁹⁷ da es weniger von einer Vorkehrung herrührte. Denn beim deutlich Vorhersehbaren entschließt man sich zu etwas wohl aufgrund von Überlegung und aus der Vernunft heraus, beim Plötzlichen hingegen (nur) gemäß seiner Disposition.
Aristoteles unterscheidet hier zwischen tapferen Handlungen, die in vorhersehbaren Situationen erfolgen und die Zeit zum Überlegen lassen, und plötzlichen Phys. IV 13, 222b14– 15: τὸ δ᾿ ἐξαίφνης τὸ ἐν ἀναισθήτῳ χρόνῳ διὰ μικρότητα ἐκστάν· EN III 11, 1117a17– 22: διὸ καὶ ἀνδρειοτέρου δοκεῖ εἶναι τὸ ἐν τοῖς αἰφνιδίοις φόβοις ἄφοβον καὶ ἀτάραχον εἶναι ἢ ἐν τοῖς προδήλοις· ἀπὸ ἕξεως γὰρ μᾶλλον, [ἢ καὶ] ὅτι ἦττον ἐκ παρασκευῆς· τὰ προφανῆ μὲν γὰρ κἂν ἐκ λογισμοῦ καὶ λόγου τις προέλοιτο, τὰ δ᾿ ἐξαίφνης κατὰ τὴν ἕξιν. Der Parisiensis (Lb) und der Marcianus (Mb) haben in 1117a20 „ἢ καὶ“, der Laurentianus (Kb) und der Riccardianus (b) haben nur „ἢ“, während Susemihl „ἢ καὶ“ einklammert und Bywater die Ausdrücke durch „ἦν“ ersetzt. Ich folge Susemihl, aber auch die Beibehaltung von „ἢ καὶ“ veränderte den Sinn nicht wesentlich.
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tapferen Handlungen, die keine Zeit zum Überlegen lassen.¹⁰⁹⁸ Bemerkenswert ist, wie Aristoteles beide Typen tapferer Handlungen hinsichtlich ihrer Tugendhaftigkeit bewertet und womit er deren unterschiedliche Beurteilung begründet: Plötzliche tapfere Handlungen seien den überlegten tapferen Handlungen insofern überlegen, als sie (nur) gemäß der Disposition geschehen, wohingegen vorgenommene tapfere Handlungen geschehen, weil die handelnde Person sich aus Überlegung und Vernunft dazu entschlossen hat. Diese Äußerung ist deshalb auffällig, weil sie in starkem Gegensatz zu den klassischen Definitionen von prohairesis und tugendhaften Handlungen steht, die Aristoteles in der EN gibt, wenn er den Entschluss als ein „mit Überlegung verbundenes Streben nach den Dingen, die in unserer Macht stehen“, bestimmt (EN III 5, 1113a9 – 11). Die Unvereinbarkeit zwischen der Bemerkung zu plötzlichen tapferen Handlungen und dieser Definition, nach der Überlegung eine notwendige Voraussetzung für einen Entschluss ist, tritt noch verstärkt zutage, wenn man den letzten Satz des obigen Zitats aus EN III 11 anders als ich übersetzt und im Nebensatz, dem im Griechischen ein Verb fehlt, das Verb des Hauptsatzes „sich entschließen“ (prohairein) ergänzt. So verfährt Rowe, der mit „one decides according to one’s disposition“ übersetzt, und auch Irwin schließt sich diesem Verständnis an, wenn er in eckigen Klammern „we must decide“ hinzufügt.¹⁰⁹⁹ Akzeptierte man diese Ergänzung, so ginge Aristoteles hier davon aus, dass man sich bei plötzlichen Handlungen aus seiner Disposition heraus und ohne Überlegung zu der Handlung entschließt. Das läuft aber offenbar deutlich der Definition des Entschlusses in EN III 5 zuwider, nach der ein Entschluss Überlegung voraussetzt.¹¹⁰⁰ Wenn man zudem annimmt, dass ein Entschluss, der bei einer plötzlichen Handlung aus einer Disposition heraus erfolgt, ebenfalls plötzlich
Ich betrachte „logismos“ hier zunächst als Synonym zu „bouleusis“ und übersetze beides mit „Überlegung“ (vgl. für die synonyme Verwendung beider Ausdrücke EN VI 1, 1139a12– 13: „Denn to bouleuesthai und logizesthai sind dasselbe“; vgl. auch Segvic 2009, Anm. 1, 144. Vorbehalte dieser Gleichsetzung gegenüber werden im letzten Abschnitt zur Sprache kommen (vgl. Cooper 1975, Anm. 8, 7). Irwin bemerkt dazu (Irwin 1999, 214): „The Greek has no verb in the last clause; ‚decideʻ seems the only plausible verb to understand.“ Ähnlich auch Sorabji 1973/74, 111: „[…] according to 1117a22, the sudden acts of daring we are here concerned with are chosen. (The verb is presumably to be understood from the preceding line.).“ Vgl. auch EN III 4, 1112a15 – 16: „Denn Entschluss ist verbunden mit Denken und Überlegung.“ EE II 10, 1226b6 – 9: „Denn Entschluss ist Wahl, aber nicht ohne Qualifikation, sondern eines vor einem anderen. Und dies ist nicht möglich ohne Untersuchung und Mit-sich-zu-RateGehen. Deshalb beruht der Entschluss auf mit Überlegung verbundener Meinung“.
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stattfinden muss, so widerspricht die Ergänzung überdies den zitierten Stellen aus der EE, die plötzliches Sich-Entschließen ausschließen.¹¹⁰¹ Die Schwierigkeit der Unvereinbarkeit mit der Definition des Entschlusses kann jedoch vermieden werden, wenn man den letzten Nebensatz entweder (wie in meiner Übersetzung) gar nicht oder aber durch „handeln“ ergänzt.¹¹⁰² Demzufolge würde Aristoteles plötzliche tapfere Handlungen als tapferer (und somit tugendhafter und lobenswerter) als andere tapfere Handlungen bezeichnen, weil sie nicht aus einer Überlegung und einem Entschluss heraus resultieren, sondern nur gemäß der Disposition zustande kommen. Warum dem so ist, begründet Aristoteles an dieser Stelle indes nicht weiter. Das ist umso verwunderlicher, als die Behauptung, tugendhafte Handlungen könnten ohne vorherige Überlegung und Entschluss zustande kommen, der Definition tugendhafter Handlungen bzw. der Tugend in EN II 3 bzw. II 6 widerspricht: [EN II 3, 1105a28 – 33]¹¹⁰³ Aber bei den Dingen, die den Tugenden gemäß geschehen, ist es nicht so, dass gerecht oder besonnen gehandelt wird, wenn sie sich auf eine bestimmte Weise verhalten, sondern erst, wenn die handelnde Person sich in einer bestimmten Verfassung befindet, wenn sie erstens wissentlich handelt, zweitens infolge eines Entschlusses (prohairoumenos) und infolge eines Entschlusses für die Handlung um ihrer selbst willen und drittens aus einer festen und unveränderlichen Disposition heraus. [EN II 6, 1106b36 – 1107a1]¹¹⁰⁴ Die Tugend ist also eine Charakterdisposition, die sich in Entschlüssen über die Dinge, die bei uns liegen, äußert, […].
Diese klassischen Definitionen schließen aus, dass eine tugendhafte Handlung ohne Entschluss für die entsprechende Handlung zustande kommt, und da ein Entschluss auf einem Überlegungsvorgang beruht (vgl. EN III 4, 1112a15 – 16) und diesen durch eine Festlegung auf die als beste ausgewählte Option beendet (vgl.
Auf die Möglichkeit, dass Entschlüsse, die zu plötzlichen Handlungen führen, nicht unmittelbar vor der Handlung stattfinden, sondern in der Vergangenheit liegen, komme ich im dritten Abschnitt zurück. So verfährt z. B. Taylor, der mit „but in sudden cases one acts in accordance with one’s state of character“ übersetzt; Wolf ergänzt in ähnlicher Weise durch „reagieren“ (Wolf 2006); vgl. auch Price 2011, Anm. 26, 213. EN II 3, 1105a28 – 33: τὰ δὲ κατὰ τὰς ἀρετὰς γινόμενα οὐκ ἐὰν αὐτά πως ἔχῃ, δικαίως ἢ σωφρόνως πράττεται, ἀλλὰ καὶ ἐὰν ὁ πράττων πῶς ἔχων πράττῃ, πρῶτον μὲν ἐὰν εἰδώς, ἔπειτ᾿ ἐὰν προαιρούμενος, καὶ προαιρούμενος δι᾿ αὐτά, τὸ δὲ τρίτον ἐὰν καὶ βεβαίως καὶ ἀμετακινήτως ἔχων πράττῃ. EN II 6, 1106b36 – 1107a1: ἔστιν ἄρα ἡ ἀρετὴ ἕξις προαιρετική, ἐν μεσότητι οὖσα τῇ πρὸς ἡμᾶς, […].
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EN III 5, 1112b11– 20; insb. 1112b16 – 18), setzt anscheinend auch eine tugendhafte Handlung einen Überlegungsprozess voraus. Wie ist es also erklärlich, dass Aristoteles in EN III 11 eine plötzliche tapfere Handlung, der weder Überlegung noch Entschluss zugrunde liegen, nicht nur als tapfer bezeichnet, sondern sogar gegenüber den gewöhnlichen tapferen Handlungen als besonders tapfer auszeichnet? Auf mögliche Erklärungen komme ich weiter unten zu sprechen, wenn ich verschiedene Ansätze aus der Literatur diskutiere, die den Verdacht der Inkompatibilität auszuräumen und verständlich zu machen versuchen, wie tapfere Handlungen tugendhaft sein können, obwohl sie nicht aufgrund einer unmittelbar vorausgehenden Überlegung und eines Entschlusses zustande kommen. Zunächst ist festzuhalten, dass Aristoteles in Gestalt von plötzlichen tugendhaften Handlungen offensichtlich auch die Zurechenbarkeit plötzlicher Handlungen annimmt, die ohne Denken und Überlegung erfolgen.
11.2 Unbeherrschte Handlungen aus Voreiligkeit (propeteia) Unbeherrschte Handlungen aus Voreiligkeit erwähnt Aristoteles im Zusammenhang seiner Diskussion der Akrasia in EN VII. Er unterscheidet hier zwei Typen von Akrasia, nämlich einerseits den häufiger auftretenden Typus der Unbeherrschtheit aus Schwäche (astheneia) und andererseits Unbeherrschtheit aus Voreiligkeit (propeteia): [EN VII 8, 1150b19 – 22 und 1150b25 – 28]¹¹⁰⁵ Für die Unbeherrschtheit gilt, dass sie teils Voreiligkeit (propeteia) ist, teils Schwäche. Die einen überlegen nämlich und bleiben dann aber nicht bei dem Ergebnis ihrer Überlegung (ebouleusanto) wegen des Affekts (dia to pathos); die anderen werden durch den Affekt gelenkt, weil sie nicht überlegt haben. […] Am meisten sind die hitzigen und die reizbaren Menschen in Gestalt der Unbeherrschtheit aus Voreiligkeit unbeherrscht; die einen warten nämlich wegen ihrer Eiligkeit, die anderen wegen ihrer Heftigkeit die Vernunft nicht ab, denn es ist ihr Sein, der Vorstellung zu folgen.
Eine voreilige akratische Handlung unterscheidet sich von einer akratischen Handlung aus Schwäche dadurch, dass keine Überlegung stattfindet – und man kann ergänzen: dass dann auch kein Entschluss resultieren kann, da ein Ent-
EN VII 8, 1150b19 – 22 und 1150b25 – 28: ἀκρασίας δὲ τὸ μὲν προπέτεια τὸ δ᾿ ἀσθένεια. οἳ μὲν γὰρ βουλευσάμενοι οὐκ ἐμμένουσιν οἷς ἐβουλεύσαντο διὰ τὸ πάθος, οἳ δὲ διὰ τὸ μὴ βουλεύσασθαι ἄγονται ὑπὸ τοῦ πάθους· […] μάλιστα δ᾿ οἱ ὀξεῖς καὶ μελαγχολικοὶ τὴν προπετῆ ἀκρασίαν εἰσὶν ἀκρατεῖς· οἳ μὲν γὰρ διὰ τὴν ταχυτῆτα οἳ δὲ διὰ τὴν σφοδρότητα οὐκ ἀναμένουσιν τὸν λόγον, διὰ τὸ ἀκολουθητικοὶ εἶναι τῇ φαντασίᾳ.
11.2 Unbeherrschte Handlungen aus Voreiligkeit (propeteia)
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schluss eine Überlegung voraussetzt. Als Grund für das Ausbleiben der Überlegung bei voreiligen Handlungen gibt Aristoteles interessanterweise zwei physiologische Ursachen an: Zu voreiligen Handlungen neigen vor allem hitzige und reizbare Menschen, bei denen entweder ihre Eiligkeit (tachytês) oder ihre Heftigkeit (sphodrotês) verhindert, dass das Denken in die spontane Bewegungsgenese korrigierend eingreift. Aristoteles verwendet somit für die Charakterisierung des voreiligen Akratikers das beschriebene Interventionsmodell des Denkens und erklärt mit dem Ausbleiben des Denkens das Zustandekommen der unbeherrschten Handlung aus Voreiligkeit.¹¹⁰⁶ Hätte das Denken in die spontane Bewegungsgenese eingegriffen und den physiologisch bedingten Strebungen entgegengewirkt, so hätte die handelnde Person ihre akratische Handlung aufhalten und verhindern können. Wie verhält es sich nun mit der Zurechenbarkeit voreiliger Handlungen? Anders als bei plötzlichen Handlungen ist es bei voreiligen Handlungen leichter zu sehen, dass sie adäquater Gegenstand von Tadel und damit zurechenbar sind. Aristoteles betrachtet akratische Handlungen im Rahmen seiner Diskussion der Akrasia in EN VII 1– 11 offensichtlich als zurechenbare Handlungen. Dass er akratische Handlungen als zurechenbar ansieht, kommt in folgenden Punkten klar zum Ausdruck: Aristoteles bezeichnet die Unbeherrschtheit zwar nicht als Laster, aber als etwas sehr Ähnliches wie ein Laster, so dass er sie eine „Art von Laster“ (kakia tis) nennt, zum Bereich (genos) der Laster rechnet und sie zu den tadelnswerten Dingen zählt.¹¹⁰⁷ Die Unbeherrschtheit ist gleichwohl kein eigentliches Laster und unterscheidet sich von der Unmäßigkeit, da unbeherrschte Handlungen nicht aus einem schlechten Entschluss heraus resultieren. Vielmehr verfügt der Unbeherrschte anders als der Unmäßige nicht nur über das Wissen um die mäßige (d. h. tugendhafte) Handlung, sondern auch über den richtigen Entschluss, der diesem Wissen entspricht. Allerdings ist sein Wissen um die richtige Handlung zum Zeitpunkt des Handelns durch eine gegenläufige Begierde getrübt. Das führt dazu, dass er nicht aus seinem Entschluss heraus handelt, sondern seiner gegenläufigen Begierde folgt. Der Unbeherrschte ist für sein
Zum Interventionsmodell des Denkens vgl. Abschnitt „6.7.3 Denken und animalische Ortsbewegung“. EN VII 1, 1145a36-b2: „Denn man darf von keiner dieser beiden Seiten [sc. Unbeherrschtheit und Weichlichkeit sowie Beherrschtheit und Ausdauer; B.L.] annehmen, dass sie mit denselben Dispositionen zu tun haben wie Tugend und Laster, doch auch nicht, dass sie einem anderen Bereich angehören.“ EN VII 6, 1148a2– 4: „Die Unbeherrschtheit wird nicht nur als Fehler, sondern auch als eine Art Laster getadelt, entweder überhaupt oder in einem Teil, […].“ [ἡ μὲν γὰρ ἀκρασία ψέγεται οὐχ ὡς ἁμαρτία μόνον ἀλλὰ καὶ ὡς κακία τις ἢ ἁπλῶς οὖσα ἢ κατά τι μέρος, τούτων δ᾿ οὐδείς.].
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Handeln zu tadeln, weil er aufgrund seiner Begierde unmäßig handelt und damit seinen Entschluss zum Zeitpunkt seiner Handlung zum Schweigen bringt. Die Beispiele plötzlicher tugendhafter Handlungen und voreiliger akratischer Handlungen zeigen also, dass Aristoteles mit [Df. ZH*] noch keine zufriedenstellende Definition für zurechenbare Handlungen formuliert, da es zurechenbare Handlungen gibt, die ohne vorherige Überlegung und aktualen Entschluss geschehen. Da plötzliche tapfere Handlungen stattdessen laut EN III 11 aus einer Disposition heraus geschehen, liegt die Vermutung nahe, dass ihre Zurechenbarkeit damit zu erklären ist, dass sie eine fest verankerte Disposition voraussetzen und in einer plötzlich eintretenden Situation gleichsam automatisch aus dieser heraus erfolgen, d. h. diese aktualisieren, ohne dass dafür Überlegung und Entschluss unmittelbar vorausgehen müssen. Auch bei voreiligen Handlungen ist das Tadeln des voreiligen Handelns auf die seelische Verfasstheit des Unbeherrschten zurückzuführen, da er trotz des richtigen Entschlusses zur mäßigen Handlungsweise der gegenläufigen Vorstellung folgt und sich der Begierde hingibt, ohne zu überlegen. Die Analyse beider Arten von Handlungen zeigt, dass auch plötzliche und voreilige Handlungen eine Vorgeschichte haben und sie nicht aus dem Nichts heraus geschehen. Welches sind die Voraussetzungen für die Zurechenbarkeit plötzlicher Handlungen? Zwei Voraussetzungen erscheinen mir zentral:¹¹⁰⁸ Erstens muss die handelnde Person grundsätzlich fähig sein, aufgrund von Überlegung und Entschluss zu handeln. Zweitens muss die Handlung prinzipiell rationalisierbar sein, d. h. es muss möglich sein, Überlegungen und einen Entschluss anzugeben, die der plötzlichen Handlung in irgendeiner Weise zugrunde liegen und die diese (im Nachhinein) erklären können. Die erste Voraussetzung bedeutet, dass plötzliche Handlungen nur dann zugerechnet werden können, wenn die handelnde Person zurechnungsfähig ist, d. h. wenn sie vernunftbegabt ist, so dass sie fähig ist, aufgrund von Überlegung und Entschluss zu handeln. Um die zweite Bedingung näher zu beleuchten, diskutiere ich im Folgenden zuerst drei Ansätze, deren Ziel es ist, die Tugendhaftigkeit plötzlicher tapferer Handlungen (und damit deren Zurechenbarkeit) zu begründen. Anschließend formuliere ich meinen eigenen Vorschlag und entwickele schließlich eine revidierte und erweiterte Definition für zurechenbare Handlungen.
Ich greife hier die Kriterien auf, die Buddensiek als notwendige Antezendenzien einer jeden Handlung (im eigentlichen Sinn) nennt (vgl. Buddensiek 2008, 46).
11.3 Drei Ansätze, die Zurechenbarkeit plötzlicher Handlungen zu begründen
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11.3 Drei Ansätze, die Zurechenbarkeit plötzlicher Handlungen zu begründen Der erste Ansatz, die Äußerung in EN III 11 mit der klassischen Definition tugendhafter Handlungen zu vereinbaren, geht zwar davon aus, dass plötzlichen tapferen Handlungen weder Überlegung noch Entschluss vorausgehen; er nimmt aber gleichwohl an, dass sich nachträglich angeben lässt, welche Überlegung vor der Handlung stattgefunden haben könnte und zu welchem Entschluss sie geführt hätte, wenn ausreichend Zeit gewesen wäre. Dadurch ließe sich ex post facto erklären, wie die plötzliche Handlung zustande gekommen ist.¹¹⁰⁹ Diese Deutung lässt sich als hypothetischer Ansatz bezeichnen.¹¹¹⁰ Eine bündige Zusammenfassung des Ansatzes gibt Segvic, freilich ohne sich ihm anzuschließen: „If the agent acted on reasons, it is as if he had deliberated in accordance with a practical argument that spells out those reasons“.¹¹¹¹ Ein Vertreter des hypothetischen Ansatzes ist Cooper: [Cooper 1975]¹¹¹² […] it might be said, even when there has actually been no deliberation, the attempt to explain what one has done will take the form of setting out a course of deliberation by which one might have decided to do what one has done, and which contains the reasons one actually had in acting as one did. […] In this hypothetical guise, then, deliberation might be said to lie behind every moral decision, even those not actually reached by explicit calculation. Aristotle’s insistence that moral decisions are all of them ‚choicesʻ (proaireseis), and therefore supported by deliberation, can be defended, then, provided one understands by this only that moral decisions are always backed by reasons which, when made explicit, constitute a deliberative argument in favor of the decision. Insofar as those are one’s reasons it is as if one had deliberated and decided accordingly (even if one actually did no deliberating at all).
Eine ähnliche Position hat auch Broadie im Auge, die in Hinblick auf plötzliche tugendhafte Handlungen vorschlägt, dass „responses expressing the excellences can be formed spontaneously in the sense that, although they are backed by
Der hypothetische Ansatz wird von seinen Befürwortern nicht nur in Bezug auf plötzliche Handlungen vertreten, sondern auch hinsichtlich anderer Arten von zurechenbaren Handlungen, die offenbar ohne Überlegung und Entschluss stattfinden, wie z. B. routinierte bzw. besonders einfache Handlungen, die weder eine explizite Überlegung noch einen Entschluss erfordern (vgl. EN 1112b2; Cooper 1975, 6). Die Bezeichnungen übernehme ich zwar von Gibson, weiche aber in der Zuordnung mancher Autoren zu den einzelnen Ansätzen von seiner Darstellung ab (Gibson 2011). Segvic 2009, 148 [Hervorhebung im Original; BL]. Cooper 1975, 9 – 10.
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experience, they are not guided by decisions reached through any deliberation present or past“.¹¹¹³ Das gemeinsame Charakteristikum verschiedener Varianten des hypothetischen Ansatzes ist die Annahme, dass es tugendhafte Handlungen gibt, denen weder ein aktueller oder vergangener Überlegungsprozess noch ein Entschluss zugrunde liegt. Die Definition zurechenbarer Handlungen müsste demnach folgendermaßen modifiziert werden: [Df. ZH*hyp] y ist eine zurechenbare Handlung ↔df.? y ist eine Handlung, y geschieht ohne Zwang, y geschieht nicht aufgrund von Unwissenheit und y geschieht entweder mit einem aktualen Entschluss oder ein hypothetischer Entschluss ist von der handelnden Person ex post facto formulierbar.
Bei plötzlichen Handlungen ist es also nur möglich, im Nachhinein hypothetisch anzugeben, aus welcher Überlegung und welchem Entschluss heraus die Handlung resultiert wäre, wenn ausreichend Zeit gewesen wäre, wenngleich diese Überlegung und dieser Entschluss tatsächlich nicht stattgefunden haben. Diese Annahme ist jedoch problematisch, da Aristoteles den Überlegungsprozess, der zu einem Entschluss führt, als einen tatsächlichen und nicht nur als einen hypothetischen Prozess beschreibt (vgl. EN VI 9, 1142a31– 32, 1142a34, 1142b2, 1142b14– 15).¹¹¹⁴ Eine zweite Schwierigkeit ist exegetischer Natur: Es ist ein fragwürdiges Vorgehen, einzelne verstreute Textpassagen zum Anlass zu nehmen, die kanonische Definition tugendhafter Handlungen substantiell durch das Postulat hypothetischer Entschlüsse zu modifizieren. Diese Verfahrensweise ist vor allem dann bedenklich, wenn sie nicht notwendig ist, sondern auch andere Erklärungen möglich sind, die mit einer geringeren Revision des Textverständnisses auskommen.¹¹¹⁵ Der zweite Ansatz vermeidet zumindest die erste Schwierigkeit. Zwar setzt auch er nicht voraus, dass einer plötzlichen Handlung ein tatsächlicher Entschluss als Ergebnis eines Überlegungsprozesses unmittelbar vorausgeht. Ver Broadie/Rowe 2002, 44. So auch Segvic 2002, 150: „[…] [deliberation] is an actual process of arriving at a choice. It is, moreover, part of Aristotle’s account of choice that it is a desire of some sort which is causally explained by deliberation. This could not be so if deliberation were not something actual – an actual process, or activity, of some sort. Deliberation must therefore be understood straightforwardly as the process of arriving at a choice, and not be regarded in a hypothetical guise.“ Vgl. auch Price 2011, Anm. 26, 213: „[…] Aristotle regularly requires [choice] to be preceded by actual deliberation (…) – though some of these may have been performed in advance.“ Zum Beleg der zuletzt erwähnten Konzession verweist Price auf Cooper 1975, Irwin 1999 und Taylor 2006, auf deren Positionen ich im Folgenden zurückkommen werde. Vgl. Gibson 2011, 8.
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treter dieses Ansatzes gehen aber davon aus, dass die handelnde Person in der Vergangenheit Überlegungsprozesse durchlaufen hat, die zu Entschlüssen geführt haben, auf denen in mittelbarer Weise auch die später geschehenden plötzlichen Handlungen beruhen. Diese Deutung lässt sich als indirekter Ansatz bezeichnen. Ein Anhänger dieses Ansatzes ist Irwin, der zur Erklärung von EN III 11 bemerkt: „Aristotle implies that the virtuous person’s action sometimes results from his decision even if deliberation and decision do not immediately precede it“.¹¹¹⁶ Auch Reeve nimmt an, dass Aristoteles Möglichkeiten hat zu erklären, inwiefern manche tugendhaften Handlungen geschehen, ohne dass ihnen unmittelbar ein Überlegungsprozess vorausgegangen ist, der zu einem Entschluss geführt hat: [Reeve 2006]¹¹¹⁷ If, like the courageous person in a sudden alarm, we see right off what to do, it would just be silly for us to deliberate. But it would be wrong to conclude that we do not then act without prior deliberation. A weak-willed person, for example, has a state of character of the sort required for deliberate choice (NE VI 2, 1139a33 – 35; 9, 1142b18 – 20). It is not a virtuous state, of course, since his appetites and feelings, not being in a mean, oppose his rational wish. But since it may not be unchangeable or incurable (VII 8, 1150b29 – 35), he can deliberately choose to try to change his appetites. If he succeeds and becomes virtuous, he will have his virtuous state in part because he has deliberately chosen it. Actions done in the spur of the moment from that state will then be – indirectly – the result of prior deliberation and deliberate choice.
Nach Reeves indirektem Ansatz lässt sich die Zurechenbarkeit plötzlicher tapferer Handlungen damit begründen, dass sie aus einer Charakterdisposition heraus geschehen, welche die handelnde Person zuvor durch zahlreiche Entschlüsse, die das Ergebnis von Überlegungsprozessen waren, erworben hat. Da der Person die auf Überlegung beruhenden Entschlüsse und die daraus resultierenden Charakterdispositionen zugerechnet werden können, gilt dies auch für tugendhafte Handlungen, die später aus einer solchen Charakterdisposition heraus geschehen, selbst wenn der späteren Handlung nicht direkt ein Überlegungsprozess und ein Entschluss vorausgegangen sind. Die Definition zurechenbarer Handlungen müsste dann wie folgt modifiziert werden: [Df. ZH*ind] y ist eine zurechenbare Handlung ↔df. y ist eine Handlung, y geschieht ohne Zwang, y geschieht nicht aufgrund von Unwissenheit und y geschieht entweder mit einem aktualen Entschluss oder mit einem indirekten Entschluss, der auf einer Disposition beruht.
Irwin 1999, 214. Reeve 2006, 209 – 210.
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Ob es dem zweiten Ansatz gelingt, auch die zweite Schwierigkeit zu vermeiden, ist fraglich. Denn auch der indirekte Ansatz verändert ausgehend von einzelnen Stellen die klassische aristotelische Definition tugendhafter Handlungen. Er geht von der Annahme aus, dass einer tugendhaften Handlung auch ein Überlegungsprozess zugrunde liegen kann, der in der Vergangenheit liegt und bei einer plötzlichen Handlung nachträglich aktualisiert wird. Auch dies wäre eine erhebliche Modifikation der klassischen Bestimmungen, und es erscheint ratsam, zu prüfen, ob eine Erklärung nicht auch ohne derartige Eingriffe auskommen kann. Eine zweite Schwierigkeit des indirekten Ansatzes ist, dass er keine Erklärung dafür bietet, warum nach EN III 11 plötzliche tapfere Handlungen tugendhafter als überlegte tapfere Handlungen sind. Denn dass Überlegung und Entschluss in der Vergangenheit und nicht erst unmittelbar vor der Handlung stattgefunden haben, stellt keine plausible Begründung dafür dar, weshalb im ersten Fall tugendhaftere Handlungen erfolgen als im zweiten Fall.¹¹¹⁸ Der dritte Ansatz nimmt wie die beiden anderen Ansätze keinen aktualen Entschluss und keinen tatsächlichen Überlegungsprozess unmittelbar vor einer plötzlichen Handlung an; außerdem geht der dritte Ansatz nicht von einem früher zustandegekommenen Entschluss aus. Stattdessen begründen Vertreter dieses Ansatzes die Zurechenbarkeit plötzlicher Handlungen damit, dass solchen Handlungen ein impliziter bzw. unbewusster Überlegungsprozess vorausgegangen ist, der in kürzester Zeit unmittelbar vor der Handlung stattfindet und in einen unbewussten Entschluss zum Handeln mündet. Diese Deutung lässt sich als impliziter Ansatz bezeichnen. In einer unveröffentlichten Arbeit hat Gibson diesen Ansatz vertreten und folgendermaßen charakterisiert:¹¹¹⁹ [Gibson 2011]¹¹²⁰ It was argued […] that Aristotle probably recognizes that some deliberation can be implicit or unconscious. So it is possible that a person acts courageously in a sudden situation by deciding and deliberating then or immediately before the virtuous activity. On this account, then, it must be possible for deliberation to occur fast enough for the courageous person to decide what to do, or to complete the deliberation that began shortly before the situation arose.
Gibson 2011, 10. Sorabji scheint an eine ähnliche Erklärung zu denken, ohne sie Aristoteles aber eindeutig zuzuschreiben (Sorabji 1973/74, 115): „[…] it is unclear whether Aristotle recognizes that virtuous actions need not involve conscious reflection. For according to his official account, every virtuous act involves choice, choice involves deliberation, and deliberation involves search (zêtêsis).“ Gibson 2011, 21.
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Befürworter des impliziten Ansatzes rechtfertigen die Annahme, dass ein Überlegungsprozess sich nicht explizit vollziehen muss, damit, dass die tugendhafte Person in ihren Überlegungsprozessen nicht immer ihre Konzeption der eudaimonia vollständig und in expliziter Weise vor Augen haben muss, sondern dass manches nur in unbewusster, nicht ausdrücklich formulierter Weise ihr Überlegen und Handeln bestimmt.¹¹²¹ Hier müsste wohl noch ergänzt werden, dass es nicht nur die eudaimonia als letztes, sämtlichen anderen Handlungszielen übergordnetes Endziel ist, welches der handelnden Person nicht immer explizit vor Augen steht. Vielmehr können es auch kleinere, der eudaimonia untergeordnete Handlungsziele sein, die der handelnden Person nur implizit bewusst sind. Unter einer impliziten Überlegung könnte man dann eine Überlegung verstehen, bei der das Ziel, auf dessen Erreichung sie ausgerichtet ist, der handelnden Person nur implizit vorliegt, er dieses aber auf Nachfrage hin benennen und näher beschreiben könnte. Die Definition zurechenbarer Handlungen müsste laut dem impliziten Ansatz wie folgt lauten: [Df. ZH*impl] y ist eine zurechenbare Handlung ↔df. y ist eine Handlung, y geschieht ohne Zwang, y geschieht nicht aufgrund von Unwissenheit und y geschieht entweder mit einem aktualen Entschluss oder mit einem impliziten bzw. unbewussten Entschluss
Der implizite Ansatz weist m.E in die richtige Richtung, um die Zurechenbarkeit plötzlicher Handlungen zu begründen: Er gibt eine Erklärung für die Zurechenbarkeit plötzlicher Handlungen, ohne zu diesem Zweck die klassische Definition für tugendhafte Handlungen aufzugeben oder zu modifizieren und ohne die vielerorts eindeutig bekräftigte Annahme aufzuheben, dass ein Entschluss Ergebnis eines Überlegungsprozesses ist. Allerdings findet sich in EN III 11 kein direkter Hinweis auf einen impliziten Überlegungsvorgang und unbewusste Entschlüsse. Außerdem gibt die Annahme einer impliziten Überlegung sowie eines impliziten Entschlusses zu Fragen Anlass. Wenn dies als eine Überlegung sowie ein Entschluss expliziert wird, die prinzipiell von der handelnden Person ex post facto ausformulierbar sind, auch wenn sie nicht explizit vorliegen, so scheint der implizite Ansatz sich kaum noch vom hypothetischen zu unterscheiden. Versucht man hingegen auf andere Weise zu erläutern, was unter einer impliziten Überlegung zu verstehen ist, so scheint die Folge zu sein, dass es sich nicht mehr um eine
Vgl. Segvic 2009, 158: „Aristotle believes that if ethical deliberation […] is to be carried out properly, it is of importance that the agent’s overall conception of eudaimonia be available at every point during the deliberative process. It is not his view that one explicitly consults one’s whole conception of the good life. Not all of it is explicit or available for scrutiny.“
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11 Zurechenbarkeit plötzlicher Handlungen und unbeherrschter Handlungen
plötzliche Überlegung handeln kann, da auch implizites Überlegen sich über eine gewisse Dauer erstreckt. Aus diesen Gründen ist auch der implizite Ansatz allein noch nicht zufriedenstellend.
11.4 Der Dispositionen-Ansatz Der implizite Ansatz lässt sich präzisieren, wenn der Bemerkung in EN III 11 noch mehr Beachtung geschenkt wird, dass plötzliche tapfere Handlungen gemäß einer Disposition (kata tên hexin) geschehen. Hier stellt sich die Frage, aus welchem Grund Aristoteles tapfere Handlungen, die aus einer Disposition heraus geschehen, als tugendhafter bezeichnet als tapfere Handlungen, die auf einem expliziten Überlegungsprozess und einem Entschluss beruhen. Eine Erklärung dafür könnte im Entstehungsprozess und in der Beschaffenheit der Dispositionen einer Person zu finden sein. Aristoteles beschreibt den Erwerb von Charakterdispositionen als einen langwierigen Eingewöhnungsprozess, in dessen Verlauf eine Person immer wieder die den Dispositionen entsprechenden Handlungen ausführt, wodurch ihre Dispositionen sich allmählich entwickeln und verfestigen (vgl. EN II 1– 3, 1103a14– 1105b18). Verfügt eine Person schließlich über Charakterdispositionen, so ist sie aufgrund von diesen in der Lage, in jeder neuen Situation zu erkennen, was jeweils die tugendhafte Handlung ist, und diese infolgedessen auszuführen. Soweit spricht nichts dagegen, auch bei einer plötzlichen tapferen Handlung zu sagen, dass die handelnde Person in einer unerwartet eintretenden Situation ihre erworbene Charakterdisposition in Form einer tapferen Handlung aktualisiert, und zwar indem sie augenblicklich richtig erfasst, wie in der plötzlich eingetretenen Situation richtig zu handeln ist. Die unverzügliche richtige Reaktionsweise ist der Person möglich, weil sie über feste Charakterdispositionen zum tugendhaften Handeln verfügt. In ähnlicher Weise erklärt auch Taylor vermittels internalisierter Dispositionen die Zurechenbarkeit plötzlicher Handlungen: [Taylor 2006]¹¹²² As a result of his or her correct training, the courageous agent has internalized a pattern of response to situations of danger which enables him or her to respond correctly immediately, without having to stop to think. But that is not to say that the action is done without thought. Rather, we can say that all the crucial thinking has been done in advance, leaving only a gap for the recognition of the situation as calling for this response or that; once that gap is filled by perception, action follows immediately.
Taylor 2006, 189.
11.4 Der Dispositionen-Ansatz
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Diese Deutung lässt sich als Dispositionen-Ansatz bezeichnen. Kann mit Hilfe des Dispositionen-Ansatzes, der besonderes Gewicht auf Genese und Beschaffenheit der Dispositionen legt, die Zurechenbarkeit plötzlicher Handlungen begründet werden? Als eine von zwei Voraussetzungen für die Zurechenbarkeit von Handlungen hatte ich die prinzipielle Rationalisierbarkeit der Handlung genannt, d. h., es muss möglich sein, Überlegungen und einen Entschluss anzugeben, die der plötzlichen Handlung in irgendeiner Weise zugrunde liegen und die diese (im Nachhinein) erklären können.¹¹²³ Eine plötzliche Handlung ist rationalisierbar, wenn sie auf einer Disposition beruht. Der Erwerb der Disposition verdankt sich zahlreichen expliziten Überlegungsprozessen und Entschlüssen; verfügt eine Person über eine feste Disposition, ist sie infolgedessen in der Lage, Handlungssituationen – auch ohne expliziten oder impliziten Überlegungsvorgang – richtig zu erfassen.¹¹²⁴ Eine Situation richtig zu erfassen und dementsprechend zu handeln, bedeutet, zu erkennen, worin in einer konkreten Situation jeweils die richtige Handlung besteht, und dies ist letztlich die Handlung, die um des höchsten Ziels des guten Lebens willen geschieht. Eine Disposition wird somit auch dann aktualisiert, wenn jemand eine Situation richtig wahrnimmt und darauf so reagiert, wie es mit Blick auf das Erreichen ihres unmittelbaren guten Handlungsziels und letztlich in Bezug auf das gute Leben angemessen ist. Dafür ist es weder nötig, dass einer Person ihre Konzeption des guten Lebens vollständig in expliziter Form präsent ist, noch ist es unbedingt nötig, dass der Person stets ihre kleineren, der eudaimonia untergeordneten Handlungsziele explizit bewusst sind, so dass daraus Entschlüsse resultieren, auf denen ihre Handlungen beruhen: [Segvic 2009]¹¹²⁵ [The person of practical wisdom] is like the rest of us in that his conception of the good life is largely embodied in his dispositions to view particular situations, and respond to them, in certain ways. He does not reach his decisions from a carefully worked out scheme of values, which he simply applies to particular situations; his sight, Aristotle insists, is bound up with recognition of particulars. In some cases, a virtuous response demands an action that is
Das Kriterium prinzipieller Rationalisierbarkeit liegt m. E. auch Taylors Erläuterung plötzlicher tapferer Handlungen zugrunde (Taylor 2006, 189): „The agent acts for reasons, and can say afterwards what those reasons were, thus recapitulating a pattern of practical reasoning which was not gone through in advance or at the time of action. Though not deliberated, the action was deliberate, in the sense of ‘deliberate’ which is equivalent to ‚intentionalʻ.“ Dass eine Handlung deliberate ist, fasse ich als gleichbedeutend mit ihrer Rationalisierbarkeit auf. Vgl. Hursthouse, die von einem „perceptual model“ für das Wissen des phronimos spricht (Hursthouse 2006, 287). Segvic 2009, 159 – 160.
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11 Zurechenbarkeit plötzlicher Handlungen und unbeherrschter Handlungen
unpremeditated and uncalculated, like the courageous action Aristotle speaks of at EN III [11], 1117a17– 22.
Lässt sich mit dem Dispositionen-Ansatz auch erklären, warum plötzliche tapfere Handlungen tugendhafter als überlegte tapfere Handlungen sein sollen? Weder mit dem hypothetischen noch mit dem indirekten Ansatz ließ sich eine Antwort auf diese Frage geben. Gleiches scheint auch für den Dispositionen-Ansatz zu gelten, da die Dispositionen bei wohlüberlegten Handlungen nicht weniger aktualisiert werden, als wenn die handelnde Person augenblicklich erfasst, wie richtig zu handeln ist. Es erscheint vielmehr sonderbar, warum nicht eine Handlung, die auf einem expliziten Überlegungsvorgang und einem aktualen Entschluss beruht, als tugendhafter angesehen werden sollte, sagt doch Aristoteles selbst, dass Entschlüsse eher als Handlungen helfen, die Charaktere zu unterscheiden (EN III 4, 1111b5 – 6). Trotz dieses Anscheins besteht m. E. eine bessere Aussicht, die Frage nach der größeren Tugendhaftigkeit plötzlicher tapferer Handlungen mit dem Dispositionen-Ansatz zu beantworten. Es könnte Aristoteles in 1117a17– 22 bei der Gegenüberstellung von Handlungen, zu denen man sich aufgrund von Überlegung und Vernunft entschlossen hat, und plötzlichen Handlungen, die gemäß einer Disposition geschehen, auf folgenden Punkt angekommen sein: Erstere könnten Handlungen sein, die nicht auf einer Überlegung beruhen, die aus einer Charakterdisposition resultiert, sondern es könnten Handlungen gemeint sein, die erst zum Erwerb der entsprechenden Disposition hinführen. Aristoteles vergliche hier somit tapfere Handlungen, die aus einer Charakterdisposition resultieren und in manchen Fällen keinen expliziten Überlegungsprozess verlangen, mit tapferen Handlungen, die zwar äußerlich tapfer sind, die aber hinter jenen zurückbleiben, weil sie nicht auf einer Charakterdisposition beruhen, obwohl ihnen eine Überlegung zugrunde liegt.¹¹²⁶ Gegen diesen Erklärungsvorschlag spricht allerdings, dass im Kontext der Textstelle nichts darauf hindeutet, dass von Überlegung in dieser Dispositionen-konstituierenden Funktion die Rede ist. Eine andere Erklärungsmöglichkeit lässt sich formulieren, wenn man wie McDowell das spezifische Wissen des Tugendhaften als eine besondere Art von Wahnehmungsfähigkeit versteht. McDowell beschreibt diese Wahrnehmungsfähigkeit als eine zuverlässige Sensitivität für Forderungen, die von Situationen an
Als äußerlich tugendhaft bezeichne ich eine Handlung, die eine Person genauso ausführt, wie eine tugendhafte Person sie ausführen würde, die aber nicht auf einer tugendhaften Charakterdisposition beruht und die daher nicht innerlich tugendhaft ist (vgl. EN II 3, 1105b5 – 9). Die terminologische Unterscheidung ist angelehnt an Bobzien (vgl. Bobzien 2014b, Anm. 56, 102).
11.4 Der Dispositionen-Ansatz
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das Verhalten einer Person gestellt werden.¹¹²⁷ Dass die plötzliche tapfere Handlung tapferer ist als eine tapfere Handlung, die auf Überlegung und Vernunft beruht, ließe sich nach diesem Verständnis damit erklären, dass die Sensitivität für Forderungen, die sich von der Situation an das Verhalten stellen, bei derjenigen Person ausgeprägter ist, die sofort erkennt, wie richtig zu handeln ist, als bei derjenigen, die zunächst noch überlegen muss. McDowells Deutung des spezifischen Wissens des Tugendhaften eröffnet zwar eine plausible Erklärung für die größere Tapferkeit von plötzlichen tapferen Handlungen. Sie eignet sich aber nicht als generelle Interpretation für Tugendhaftigkeit. Denn Tugend mit einem durch die zuverlässige Sensitivität konstituierten Wissen gleichzusetzen, ist nicht zu vereinbaren mit der zentralen Bedeutung, die Aristoteles Überlegung und Entschluss in der Bestimmung der Tugend in EN III 4 und 5 offensichtlich beimisst. Aber auch wenn eine tugendhafte Handlung nach der klassischen Bestimmung auf einem überlegten Entschluss beruht, schließt das gleichwohl nicht aus, dass es Situationen geben könnte, in denen die tugendhafte Handlung es verlangt, sofort und ohne weiteres Überlegen zu handeln. So sind unerwartet auftretende Situationen denkbar – und eine Kampfsituation, die nach einer tapferen Handlung verlangt, ist hierfür ein guter Kandidat –, in denen es gerade adäquat und richtig ist, unverzüglich zu reagieren und sich nicht zuerst mit Abwägungen und ausdrücklichen Entschlüssen aufzuhalten. Außerdem sagt Aristoteles über routinierte Handlungen wie das Schreiben von Buchstaben ausdrücklich, dass es hier unangemessen ist, langwierige Überlegungen anzustellen anstatt sogleich zu handeln.¹¹²⁸ McDowell 1998a, 51: „A kind person has a reliable sensitivity to a certain sort of requirement that situations impose on behavior. The deliverances of a reliable sensitivity are cases of knowledge; and there are idioms according to which the sensitivity itself can appropriately be described as knowledge: a kind person knows what it is like to be confronted with the requirement of kindness. The sensitivity is, we might say, a sort of perceptual capacity.“ Freundlichkeit (kindness) ist das Beispiel für eine aristotelische Tugend, das McDowell in seiner Argumentation wählt. Vgl. EN III 5, 1112a34-b2. Cooper schlägt eine andere Begründung vor, weshalb Aristoteles plötzliche tapfere Handlungen als tugendhafter als überlegte bezeichnet. Er geht davon aus, dass plötzlichen Handlungen kein Überlegungsvorgang im „pejorativen Sinn“ zugrunde liegt, d. h. kein Kalkulieren, das sich nicht notwendigerweise am höchsten Ziel der eudaimonia orientiert, sondern das gleichermaßen zu tugendhaften und schlechten Handlungen führen kann. Ein Hinweis auf die pejorative Bedeutung könnte in der Verwendung von „logismos“ anstelle von „bouleusis“ in 1117a21 gesehen werden. Cooper 1975, Anm. 8, 7: „[…] it seems permissible to interpret the remarks about courage [in 1117a17– 22] not as implying that spur-of-the-moment braveries are not ‚chosenʻ, but only that, being expressions of a courageous ἕξις, they are not ‚calculatedʻ in the pejorative sense of the word.“
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Ein weiteres Argument für die größere Tugendhaftigkeit der plötzlichen tapferen Handlung lässt sich formulieren, wenn wir uns an die Diskussion der Frage erinnern, ob eine prohairesis immer die Wahl zwischen mindestens zwei Alternativen voraussetzt.¹¹²⁹ Ich hatte gegen die Annahme von mindestens zwei Alternativen argumentiert. Einer meiner Gründe ist gewesen, dass der Tugendhafte andernfalls nicht tugendhaft handeln könnte, wenn er nur eine einzige Alternative zu handeln hat. Diese Folgerung wäre nicht in Aristoteles’ Sinn.Wenn in einer unerwartet auftretenden Situation die tapfere Handlung nur dann möglich ist, wenn sofort und ohne weitere Überlegung gehandelt wird, besteht hier die tugendhafte Handlung einzig in der sofortigen tapferen Handlung. Jegliche weitere Überlegung ist nicht erforderlich, sondern vielmehr hinderlich und der Tugendhaftigkeit abträglich. Plötzliche tapfere Handlungen führen somit vor Augen, dass Aristoteles nicht in jedem Fall einen ausdrücklichen Entschluss und eine Überlegung als notwendige Bedingungen für eine zurechenbare Handlung ansieht. Wenn die Handlungsumstände derart sind, dass die tugendhafte Handlung nicht vereinbar ist mit einem expliziten Überlegungsprozess und einem Entschluss, so scheint es auch möglich zu sein, dass die tugendhafte Handlung direkt durch den tugendhaften Charakter verursacht wird. Für die Zurechenbarkeit einer Handlung ist es also letztlich nicht in jedem Fall erforderlich, dass sie auf einem Entschluss beruht. Vielmehr kommt es darauf an, dass in ihr der zugrundeliegende Charakter der handelnden Person zum Ausdruck kommt. Diese Besonderheit tritt außer bei den plötzlichen Hanldungen bei den Handlungen des Unbeherrschten und des Beherrschten zutage, die ich zum Abschluss dieses Anwendungsteils noch erörtern will.
11.5 Zurechenbarkeit der Handlungen des Unbeherrschten und des Beherrschten Die Handlungen des Unbeherrschten (im eigentlichen Sinn)¹¹³⁰ und des Beherrschten sind vor dem Hintergrund der Konzeption von Zurechenbarkeit, wie sie sich anhand von EN III 1– 6 rekonstruieren lässt, Sonderfälle: Der Beherrschte
Vgl. Abschnitt „4.3.5 Diskussionsfrage: Setzt eine prohairesis die Wahl zwischen mindestens zwei Alternativen voraus?“. Im Folgenden spreche ich immer nur über den im eigentlichen Sinn (haplôs) Unbeherrschten und nicht über den der Ähnlichkeit nach Unbeherrschten, der nur in einer bestimmten Hinsicht bzw. in einem bestimmten Bereich (kata meros), wie z. B. hinsichtlich des Zorns, unbeherrscht ist. Vgl. zu dieser Unterscheidung EN VII 6 und z. B. Lorenz 2009b.
11.5 Zurechenbarkeit der Handlungen des Unbeherrschten und des Beherrschten
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und der Unbeherrschte verfügen beide wie der Tugendhafte über den richtigen Entschluss, bleiben aber trotzdem hinter dem Tugendhaften zurück – und dies, obwohl der Beherrschte sogar aufgrund seines Entschlusses in der gleichen Weise handelt wie der Mäßige. Das zeigt wiederum, dass der Entschluss einer Person nicht in jedem Fall hinreichende Grundlage dafür ist, ob und in welchem Maß sie Lob oder Tadel für ihre Handlung verdient. Um zu sehen, was die Grundlage für die Lobens- bzw. Tadelnswürdigkeit des Beherrschten wie des Unbeherrschten ist, werde ich knapp Aristoteles’ Charakterisierung dieser beiden Typen von Akteuren skizzieren. Anschließend lässt sich bestimmen, worin deren jeweiliges Defizit gegenüber dem Mäßigen besteht und aufgrund wovon beide in gewissem Maß Lob bzw. Tadel für ihr Handeln verdienen. Meine Behandlung des Beherrschten und des Unbeherrschten wird sich auf das, was für die Frage nach der Zurechenbarkeit ihrer Handlungen wesentlich ist, beschränken. Es geht mir also ausschließlich um die Fragen, aufgrund wovon und inwieweit dem Beherrschten und dem Unbeherrschten ihre Handlungen zurechenbar sind. Ich werde aber nicht weiter auf die weitverzweigten Diskussionen zur aristotelischen Auffassung von Unbeherrschtheit und Beherrschtheit eingehen und zahlreiche damit verbundene Detailfragen beiseitelassen, da sie für meine Fragestellung nicht zentral sind. Aristoteles unterscheidet zu Beginn von EN VII vier Arten von Charakterdispositionen, und zwar die Charaktertugend (aretê), die Beherrschtheit (enkrateia), die Unbeherrschtheit (akrasia) und die Schlechtigkeit (kakia).¹¹³¹ Im Weiteren expliziert er, worin sich der Mäßige (d. h. der Tugendhafte), der Beherrschte, der Unbeherrschte und der Unmäßige (d. h. der Schlechte) voneinander unterscheiden. Gemeinsam ist ihnen, dass sie alle charakterliche Dispositionen haben, die sich auf Lust und Unlust im Bereich der notwendigen körperlichen Begierden nach Essen, Trinken und Sex beziehen.¹¹³² Der Mäßige ist derjenige, der stets die richtige Mitte im Bereich der körperlichen Begierden trifft; er wünscht das wahrhaft Gute und er verspürt keine gegenläufigen, nicht-rationalen Begierden. Der Unmäßige wählt dagegen stets eines der beiden Extreme, d. h. entweder ein Zuviel oder ein Zuwenig bei den körperlichen Dingen; er wünscht folglich etwas
Vgl. EN VII 1, 1145a15 – 18. Im Ganzen nennt er sechs Typen charaktlicher Dispositionen. Die verbleibenden Typen, tierische Rohheit (thêriotês) und göttliche bzw. übermenschliche Tugend (aretê hyper hêmas), liegen jedoch außerhalb des Bereichs von Tadel bzw. Lob und sind daher nicht weiter relevant für meine Frage nach der Zurechenbarkeit. Vgl. zu einer knappen Beschreibung der vier Typen von Akteuren: Bobzien 2014b, 101– 105. Vgl. Aristoteles’ Bestimmung der Mäßigkeit und Unmäßigkeit in EN III 13 – 15, insb. 1117b23 – 28 und 1118a23 – 26; zur Erläuterung desselben Gegenstandsbereichs von Mäßigkeit, Unmäßigkeit, Unbeherrschtheit (und Beherrschtheit): EN VII 6, 1147b23 – 28 und 1148a4– 11.
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scheinbar Gutes, was er zwar für gut hält, was aber nicht wahrhaft gut ist, und er verspürt dabei keinerlei gegenläufige Strebungen. Zwischen dem Mäßigen und dem Unmäßigen sind der Beherrschte und der Unbeherrschte zu verorten. Die Unbeherrschtheit bezeichnet Aristoteles als eine Art von Schlechtigkeit (kakia tis);¹¹³³ trotzdem ist der Unbeherrschte weniger schlecht und weniger tadelnswürdig als der Unmäßige:¹¹³⁴ [EN VII 9, 1151a20 – 25]¹¹³⁵ Es gibt aber einen, der durch einen Affekt außer sich ist und im Gegensatz zu seiner richtigen Überlegung (para ton orthon logon) steht und den der Affekt so sehr beherrscht, dass er nicht gemäß seiner richtigen Überlegung handelt, aber doch nicht so sehr, dass er so beschaffen wäre, dass er davon überzeugt ist, man solle ungehemmt solche Lüste verfolgen. Dieser ist der Unbeherrschte, der besser ist als der Unmäßige und nicht schlecht überhaupt. Denn das Beste bleibt bewahrt, der Ursprung [sc. des Handelns; BL].“
Anders als der Schlechte wünscht der Unbeherrschte das wahrhaft Gute, d. h. die richtige Mitte, er verfügt außerdem über die richtige Überlegung (orthos logos) und er gelangt aufgrund dessen auch zum richtigen Entschluss.¹¹³⁶ Allerdings verspürt er neben seinem rationalen Wunsch heftige gegenläufige nicht-rationale Begierden, die etwas zum Gegenstand haben, was nur scheinbar gut ist und wovon er auch weiß, dass es nicht wahrhaft gut ist. Diese nicht-rationalen Begierden verhindern, dass sein Entschluss eine entsprechende Handlung verursacht, so dass der Unbeherrschte gegen seine richtige Überlegung (para ton orthon logon) und gegen seinen Entschluss (para tên prohairêsin)¹¹³⁷ handelt. Seine nicht-rationalen Begierden verursachen einen vorübergehenden Zustand der Unwissenheit, so dass er zum Zeitpunkt seiner Handlung nicht weiß, was die richtige Handlung ist, die seinem rationalen Wunsch entspricht. Seine Unwissenheit hat aber nicht zur
Vgl. EN VII 6, 1148a2– 4. Aristoteles bezeichnet den Unbeherrschten im Gegensatz zum Unmäßigen als unheilbar (aniatos). Denn er bedauert (metamelêtikos) sein schlechtes Handeln nicht, sondern hält es vielmehr für gut und entschließt sich dazu. Das hat zur Folge, dass der Unbeherrschte leichter zu überzeugen ist, dass er schlecht handelt, als der Unmäßige; vgl. EN VII 8, 1150a19 – 25 und EN VII 9, 1150b29 – 36 und 1151a11– 28. EN VII 9, 1151a20 – 25: ἔστι δέ τις διὰ πάθος ἐκστατικὸς παρὰ τὸν ὀρθὸν λόγον, ὃν ὥστε μὲν μὴ πράττειν κατὰ τὸν ὀρθὸν λόγον κρατεῖ τὸ πάθος, ὥστε δ᾿ εἶναι τοιοῦτον οἷον πεπεῖσθαι διώκειν ἀνέδην δεῖν τὰς τοιαύτας ἡδονὰς οὐ κρατεῖ· οὗτός ἐστιν ὁ ἀκρατής, βελτίων τοῦ ἀκολάστου, οὐδὲ φαῦλος ἁπλῶς· σῴζεται γὰρ τὸ βέλτιστον, ἡ ἀρχή. Vgl. z. B. EN VII 6, 1147b31– 33 und VII 9, 1151a11– 14. Vgl. z. B. EN VII 6, 1148a9 – 10 und VII 9, 1151a6 – 8.
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Folge, dass seine Handlung unwillentlich geschieht.¹¹³⁸ Es ist vielmehr eine Unwissenheit, die bei ihm liegt, da sie auf seiner charakterlichen Verfasstheit beruht:¹¹³⁹ Sein charakterliches Defizit besteht somit darin, dass der nicht-rationale Seelenteil sich nicht in Übereinstimmung mit dem rationalen befindet und sich zum Zeitpunkt der unbeherrschten Handlung gegen die richtige Überlegung durchsetzt. Die Handlung des Unbeherrschten ist also ein weiteres Beispiel für eine Handlung, die nach Aristoteles zurechenbar ist, obwohl sie nicht auf einem Entschluss beruht. Grundlage für den Tadel, den der Unbeherrschte für seine Handlung verdient, ist seine Charakterdisposition; er handelt aufgrund einer Art von Schlechtigkeit. Außerdem verfügt er nicht über Klugheit, da Klugheit nur demjenigen zukommt, der tugendhaft ist.¹¹⁴⁰ Hier drängt sich die Frage auf, ob Aristoteles womöglich ein funktionales Äquivalent zu einem Entschluss annimmt, das die Handlung des Unbeherrschten verursacht. Schließlich kann auch der Unbeherrschte Überlegungen darüber anstellen, wie er das Ziel seiner nichtrationalen Begierden erreicht, und es scheint eine naheliegende Annahme zu sein, dass sein Überlegen zu einem Ergebnis führt, das Ursache seiner unbeherrschten Handlung ist. Allerdings erwähnt Aristoteles nirgends ein solches funktionales Äquivalent, das etwa einer Absicht (intention) in der modernen Handlungstheorie entspräche. Wir haben es also mit dem merkwürdigen asymmetrischen Befund zu tun, dass Aristoteles zufolge nur den Handlungen des Tugendhaften sowie des Beherrschten ein richtiger Entschluss und den Handlungen des Schlechten ein schlechter Entschluss zugrunde liegt, während beim Unbeherrschten etwas Entsprechendes fehlt, das Ergebnis seiner Überlegung und Auslöser seiner Handlungen ist.
Die besondere Art von Unwissenheit, die dem Handeln des Unbeherrschten zugrunde liegt, sowie deren Ursache behandelt Aristoteles in EN VII 3. Auf die zahlreichen unterschiedlichen Interpretationen, die für die Unterscheidung in diesem Kapitel vorgeschlagen wurden, kann ich an dieser Stelle nicht eingehen. Detaillierte Deutungen sowie weiterführende Literatur finden sich z. B. bei Corcilius 2008e, Pickavé/Whiting 2008; Lorenz 2014. Vgl. zu dieser Art von tadelnswerter Unwissenheit Abschnitt „3.2.5.2 Tadelnswerte Handlungen aufgrund von nicht-entschuldbarer Unwissenheit“. Vgl. EN VII 11, 1152a6 – 15; hier 1152a6 – 8: „Es ist auch nicht möglich, dass dieselbe Person zugleich klug und unbeherrscht ist; denn es ist gezeigt worden, dass man zugleich klug und gut im Charakter ist. Ferner gilt man als klug nicht nur wegen des Wissens [sc. um das richtige Handeln; BL], sondern auch wegen der Disposition [so] zu handeln. Aber der Unbeherrschte hat keine Disposition [so] zu handeln.“
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Die Beherrschtheit fasst Aristoteles als eine gute Disposition des Charakters auf, die aber hinter der Mäßigkeit zurückbleibt.¹¹⁴¹ Auf den Beherrschten trifft in gleicher Weise wie auf den Unbeherrschten zu, dass er das wahrhaft Gute wünscht, dass er über die richtige Überlegung verfügt und infolgedessen auch zum richtigen Entschluss gelangt. Inhalt seines Entschlusses ist eine Handlung, wie sie auch der Mäßige wählen würde. Im Unterschied zum Unbeherrschten handelt der Beherrschte aber auch seinem Entschluss entsprechend, d. h. sein Entschluss ist Ursache dafür, dass er die gleiche Handlung ausführt, wie sie auch der Mäßige ausführt. Die Handlungen des Mäßigen und des Beherrschten unterscheiden sich somit äußerlich nicht. Innerlich besteht aber ein wichtiger Unterschied, denn nur der Mäßige handelt aufgrund seiner tugendhaften Charakterdisposition. Wie ist dieser Unterschied genau zu verstehen? Es sind im Wesentlichen zwei Faktoren, welche die Differenz zwischen dem Mäßigen und dem Beherrschten ausmachen – der erste beruht auf den Begierden des nicht-rationalen Seelenteils, der zweite betrifft die Klugheit. Der Beherrschte empfindet – wie der Unbeherrschte – heftige und schlechte Begierden (epithymiai ischyrai kai phaulai), die nicht mit seinem rationalen Wunsch übereinstimmen, der das wahrhaft Gute zum Gegenstand hat.¹¹⁴² Er empfindet also einen inneren motivationalen Konflikt, den der Mäßige nicht kennt. Dieser Konflikt lässt sich noch näher beschreiben anhand der Lüste und Schmerzen, die Aristoteles dem Beherrschten zuschreibt. In der EN bemerkt er, dass der Beherrschte Lust an Handlungen gemäß seinen schlechten Begierden empfindet, sich davon aber nicht in seinem Handeln leiten lässt.¹¹⁴³ In der EE sagt er, dass der Beherrschte sich mit Gewalt (bia[i]) von seinen schlechten Begierden wegreißen muss, was dieser als unangenehm bzw. schmerzhaft empfindet.¹¹⁴⁴ Aber trotz dieser Schmerzen, die ihm sein Handeln gegen die eigenen starken Begierden bereitet, verspürt der Beherrschte dabei auch Lust wegen der Aussicht darauf, dass ihm die Handlung gemäß seiner richtigen Überlegung sogleich oder später einen Vorteil verschaffen wird.¹¹⁴⁵ Unterdrückt der Beherrschte Vgl. EN VII 9, 1151a27– 28. Wenig später bezeichnet Aristoteles die Beherrschtheit als etwas Gutes (spoudaion) und erläutert sie als eine Mitte zwischen zwei schlechten Charakterdispositionen, nämlich einerseits der Unbeherrschtheit und andererseits einer namenlosen Disposition, die sich darin äußert, dass man zu wenig Lust nach den notwendigen körperlichen Dingen verspürt (EN VII 11, 1151b23 – 30). Vgl. EN VII 3, 1146a9 – 16. Vgl. EN VII 11, 1151b34– 1152a3. Vgl. EE II 8, 1224a32– 36. Vgl. EE II 8, 1224b16 – 19: „Denn derjenige, der beherrscht handelt, empfindet Schmerz, weil er gerade jetzt gegen seine Begierde handelt, und er zieht Lust aus der Hoffnung, dass er später profitieren wird oder auch dass er jetzt schon davon profitiert, gesund zu sein.“
11.5 Zurechenbarkeit der Handlungen des Unbeherrschten und des Beherrschten
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z. B. unter Schmerzen sein akutes Verlangen nach einem Stück Torte, so verspürt er zugleich Lust an seinem Handeln, weil er die Hoffnung hat, von seinem beherrschten Handeln durch eine bessere Gesundheit zu profitieren. In diesem Punkt tritt ein weiteres Merkmal zutage, das für den Unterschied zwischen dem Beherrschten und dem Mäßigen zentral ist.¹¹⁴⁶ Im Gegensatz zum Beherrschten empfindet der Mäßige nicht wegen der Hoffnung auf einen späteren Nutzen Lust an seiner Handlung. Vielmehr wählt er die mäßige Handlung um ihrer selbst willen. Sie bereitet ihm Lust, weil mäßig zu handeln für ihn bedeutet schön zu handeln. Er wählt die richtige Handlung also um des Schönen willen und empfindet deshalb Lust an seiner Handlung. Anders dagegen der Beherrschte, der seine Handlung nicht wählt, weil es schön ist, so zu handeln, sondern wegen des Nutzens, den er sich davon erwartet. Der zweite wichtige Unterschied zwischen dem Beherrschten und dem Mäßigen besteht darin, dass nach EN VI 13 nur der Tugendhafte über Klugheit verfügt.¹¹⁴⁷ Das charakterliche Defizit des Beherrschten gegenüber dem Mäßigen betrifft also nicht nur dessen nicht-rationale Begierden, sondern ihm fehlt mit der Klugheit auch eine Verstandestugend. Worin äußert sich das Fehlen der Klugheit? Coope versucht, das charakterliche Defizit des Beherrschten zu erläutern und macht dies an zwei Aspekten fest. Der erste besteht darin, dass der Beherrschte nicht nur nicht in der Lage ist, das Schöne an seiner Handlung zu identifizieren, sondern dass ihm infolgedessen auch die Fähigkeit fehlt, Lust an dem Schönen seiner Handlung zu empfinden. Eine gute Handlung nicht nur als schön zu erkennen, sondern auch als schön zu empfinden, lässt sich nach Coope als eine Empfindungsfähigkeit des rationalen Seelenteils verstehen, über die nur der Kluge verfügt. Als zweites äußert sich ihr zufolge das Fehlen der Klugheit beim Beherrschten darin, dass in seinem Fall der rationale Seelenteil eine wichtige Funktion nicht ausreichend erfüllt: Die Vernunft des Beherrschten vermag es nicht, den nicht-rationalen Seelenteil davon zu überzeugen, dass die Begierden, die dieser verspürt, schlecht sind. Ich habe im Kapitel über die Zurechenbarkeit von Handlungen aus thymos näher ausgeführt, wie sich das Überzeugt-Werden des nicht-rationalen Seelenteils durch die Vernunft, wie Aristoteles es in EN I 13
Auf dieses Unterscheidungsmerkmal macht Coope aufmerksam: vgl. Coope 2012, insb. 153 – 154. Coope weist zu Recht darauf hin, dass Aristoteles in EN VII nicht explizit sagt, dass dem Beherrschten keine Klugheit zukommt und dass er dessen Charakterdisposition vielmehr als gut (spoudaios) bezeichnet. Allerdings schließt die Argumentation für die Einheit der Tugenden in EN VI 13 (1144b30 – 32) aus, dass eine Person, deren Charakterdispositionen keine eigentlichen Tugenden sind, über Klugheit verfügt (vgl. Coope 2012, 146 – 147).
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11 Zurechenbarkeit plötzlicher Handlungen und unbeherrschter Handlungen
beschreibt, verstehen lässt.¹¹⁴⁸ Der Beherrschte lässt sich aufgrund dessen als jemand beschreiben, der mit Hilfe seiner richtigen Überlegung in der Lage ist, seine schlechten Begierden zu unterdrücken; er kann sich Gründe vor Augen führen, die gegen eine Handlung gemäß seinen Begierden sprechen. Aber es gelingt ihm trotzdem nicht, seinen nicht-rationalen Seelenteil vollständig von der richtigen Handlungsweise zu überzeugen. Dafür wäre es erforderlich, dass er die gegenläufigen Begierden nicht nur beherrscht, sondern auf eine Weise zum Schweigen bringt, dass sie mit seiner richtigen Überlegung übereinstimmen, wie sie es beim Mäßigen tun. Er müsste also den nicht-rationalen Seelenteil derart überreden, dass dieser nicht nur weiß, was die tugendhafte Handlung ist, sondern dass er daran auch Lust empfindet und sie um ihrer selbst willen anstrebt. Der Beherrschte verdient daher zwar in gewisser Weise Lob für seine Handlung, zumal er äußerlich so handelt wie der Mäßige und aus diesem Grund eindeutig besser ist als der Unbeherrschte und erst recht als der Unmäßige. Gleichwohl ist er aber weniger lobenswert als der Mäßige. Dies ist auf seine charakterliche Verfasstheit zurückzuführen, da er zum einen starke schlechte Begierden verspürt, die es verhindern, dass er die richtige Handlung als schön empfindet, und da es zum anderen seiner Vernunft nicht gelingt, seine nicht-rationalen Begierden zum Schweigen und in Übereinstimmung mit seiner richtigen Überlegung zu bringen. Dies zu vermögen, wäre Zeichen dafür, dass er über die Verstandestugend der Klugheit verfügt. Die Fälle des Beherrschten und des Unbeherrschten sind somit aufschlussreich für die Frage nach der Zurechenbarkeit von Handlungen, weil sie aufzeigen, dass die Zurechnung einer Handlung in Form von Lob und Tadel nicht immer auf dem Entschluss der handelnden Person beruht. Grundlage für die Zurechenbarkeit der Handlungen des Beherrschten und des Unbeherrschten ist ihre jeweilige charakterliche Verfasstheit. Und für die Beurteilung der charakterlichen Verfasstheit einer Person sind sowohl deren charakterliche wie deren dianoetische Tugenden von Bedeutung.
Vgl. Abschnitt „10.3.1.1 Das Überzeugt-Werden des nicht-rationalen Seelenteils durch die Vernunft“.
Teil V: Zurechenbarkeit von Tugenden und Schlechtigkeiten
12 Textgrundlage: Nikomachische Ethik III 7 und 8 [EN III 7, 1113b3 – 14]¹¹⁴⁹ Da also Gegenstand des Wünschens das Ziel ist, Gegenstand des Überlegens und SichEntschließens aber die Dinge, die zum Ziel führen, dürften¹¹⁵⁰ wohl auch die Handlungen, die diese [i. e. die Gegenstände des Überlegens und Sich-Entschließens; BL] betreffen, gemäß dem Entschluss und willentlich sein. Und die Betätigung der Tugenden bezieht sich auf diese Dinge. Nun liegt auch die Tugend bei uns,¹¹⁵¹ und in gleicher Weise die Schlechtigkeit. Denn in welchen Fällen es bei uns liegt zu handeln, [liegt] auch nicht zu handeln [bei uns], und vice versa. ¹¹⁵² Daher gilt: Wenn zu handeln bei uns liegt, wo es schön ist zu handeln, wird auch nicht zu handeln bei uns liegen, wo es hässlich ist nicht zu handeln; und wenn nicht zu handeln bei uns liegt, wo es schön ist nicht zu handeln, [wird] auch zu handeln bei uns liegen, wo es hässlich ist zu handeln.Wenn es nun bei uns liegt, die schönen Dinge zu tun und die hässlichen, und gleichermaßen auch sie nicht zu tun, und dies [gerade]
EN III 7, 1113b3 – 14: ὄντος δὴ βουλητοῦ μὲν τοῦ τέλους, βουλευτῶν δὲ καὶ προαιρετῶν τῶν πρὸς τὸ τέλος, αἱ περὶ ταῦτα πράξεις κατὰ προαίρεσιν ἂν εἶεν καὶ ἑκούσιοι. αἱ δὲ τῶν ἀρετῶν ἐνέργειαι περὶ ταῦτα. ἐφ’ ἡμῖν δὲ καὶ ἡ ἀρετή, ὁμοίως δὲ καὶ ἡ κακία. ἐν οἷς γάρ ἐφ’ ἡμῖν τὸ πράττειν, καὶ τὸ μὴ πράττειν, καὶ ἐν οἷς τὸ μή, καὶ τὸ ναί· ὥστ’ εἰ τὸ πράττειν καλὸν ὂν ἐφ’ ἡμῖν ἐστί, καὶ τὸ μὴ πράττειν ἐφ’ ἡμῖν ἔσται αἰσχρὸν ὄν, καὶ εἰ τὸ μὴ πράττειν καλὸν ὂν ἐφ’ ἡμῖν, καὶ τὸ πράττειν αἰσχρὸν ὂν ἐφ’ ἡμῖν. εἰ δ’ ἐφ᾿ ἡμῖν τὰ καλὰ πράττειν καὶ τὰ αἰσχρά, ὁμοίως δὲ καὶ τὸ μὴ πράττειν, τοῦτο δ’ ἦν τὸ ἀγαθοῖς καὶ κακοῖς εἶναι, ἐφ’ ἡμῖν ἄρα τὸ ἐπιεικέσι καὶ φαύλοις εἶναι. Der Potentialis in 1113b4– 5, wie ihn der OCT übernimmt, ist in manchen MSS überliefert, so im Laurentianus (Kb) und – wie Susemihl in den Ausgaben von 1880 und 1887 berichtet – im Marcianus (Nb) sowie in der Ausgabe von Aldus Manutius. Susemihl versieht indes den Optativ in Verbindung mit „ἂν“ mit einem Fragezeichen (nescio recte). Da aber keine alternative Lesart überliefert ist und der Potentialis plausibel erscheint, folge ich dem Wortlaut im OCT. In den MSS (Kb, Mb, Lb, Ob) ist in 1113b6 „δὲ“ überliefert. Die alternative Lesart mit der Folgerungspartikel „δὴ“ geht laut den Apparaten von Susemihl und Bywater auf den Paraphrasten zurück (und vielleicht auch auf Aspasius, wobei der Text hier vermutlich korrupt ist oder eine Lacuna enthält) und sie wird in den modernen Textausgaben übernommen. Ein Grund für die Änderung von „δὲ“ in „δὴ“ in modernen Editionen könnte sein, dass das zweimalige Vorkommen von „δὲ“ im selben Satz Zweifel hervorruft. Allerdings hat dies Parallelen in der EN wie z. B. in 1103a8 – 10, so dass eine Emendation aus diesem Grund nicht erforderlich ist (vgl. Bobzien 2014, Anm. 25, S. 69). Gegen die Folgerungspartikel spricht aber in erster Linie, dass sie nur indirekt überliefert ist. Der Satz in 1113b6 – 7 lässt sich auch so als Konklusion verstehen; ohne starke Partikel kommt noch besser zum Ausdruck, dass es sich womöglich erst um ein vorläufiges Argument handeln soll, das durch das darauffolgende in 1113b7– 14 noch zusätzlich untermauert werden soll (vgl. dazu meinen Kommentar zur Stelle sowie Donini 2010, 143 – 146). Diese Übersetzung bedarf natürlich einer Erläuterung. Ich werde sie im Kommentar geben (vgl. dazu Bobzien 2013 und 2014a).Vgl. Abschnitt „13.2 Vertritt Aristoteles eine indeterministische Position?“. https://doi.org/10.1515/9783110517583-014
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war [i. S.v.: hieß; BL], gut und schlecht zu sein,¹¹⁵³ wird¹¹⁵⁴ es folglich auch bei uns liegen, gut oder schlecht zu sein.
Susemihl merkt in den Addenda zu seiner Ausgabe von 1887 an, dass der Satz „τοῦτο δ’ ἦν τὸ ἀγαθοῖς καὶ κακοῖς εἶναι“ in 1113b12 vermutlich zu streichen ist (Susemihl 1887, 246). Grund für seine Zweifel an der Echtheit des Sätzchens ist, dass Aristoteles mit der Identifikation von guten resp. schlechten Handlungen mit Gut- resp. Schlecht-Sein eine zentrale Behauptung aufstellen würde, die nicht ohne Weiteres aus dem bisher Gesagten hervorgeht und die so an dieser Stelle kaum zu erwarten ist. Es sind wohl in erster Linie inhaltliche Gründe gewesen, die Susemihl zu seinem Streichungsvorschlag bewogen haben. Da im griechischen Text nichts darauf hindeutet, dass es sich um eine spätere Ergänzung handelt, halte ich am überlieferten Text fest (vgl. auch Gauthier/Jolif 1970, 213: „Le texte semble corrompu. Susemihl (p. 246 de son édition, dans les Addenda) propose de supprimer τοῦτο δὲ ἦν… εἶναι. Nous croyons au contraire que les mots sont la clé du passage. L’imparfait ἦν indique qu’il s’agit d’une doctrine énoncée (comme il a été dit, c’est) ou d’une hypothèse précédemment faite (par hypothèse, c’est) ; c’est ce dernier sens qu’il faut retenir ici: l’hypothèse est celle qui a été faite 1113b8 – 9 : on a supposé qu’agir est le beau et ne pas agir le laid. Nous considérons donc les mots τὰ καλά et καὶ τὰ αἰσχρά comme la glose d’un lecteur qui n’a pas compris le sens de ἦν et le renvoi à l’hypothèse de 1113b8 – 9.“). Wie genau die Aussage des Satzes zu verstehen ist, hängt indes auch von der Deutung des Imperfekts „ἦν“ ab: Das Imperfekt kann entweder im definitorischen Sinn, wie es in der Wendung „τὸ τί ἦν εἶναι“ vorkommt, verstanden werden, oder im gewöhnlichen Sinn, so dass damit auf etwas, was zuvor gesagt wurde (Grant, 26: „is as we have said“), verwiesen wird. Grant spricht sich mit Hinweis auf Trendelenburgs Aufsatz zum τὸ τί ἦν εἶναι (1828) für das gewöhnliche Verständnis aus. Zu prüfen bleibt aber auch dann, worauf an dieser Stelle verwiesen wird: Grant vermutet, dass auf die vorhergehende Passage verwiesen wird, die er aber nicht näher bestimmt; Stewart dagegen schlägt als allgemeinen Referenzpunkt „the doctrine already established that the deliberate choice of τὰ καλά or τὰ αἰσχρά indicate a good or bad character: cf. iii. 4.2.“ (Stewart 1892, 274) vor. Dass unklar ist, worauf Bezug genommen wird, liegt auch daran, dass dies davon abhängt, um welche Behauptung es sich an dieser Stelle handeln soll, d. h., ob hier gutes/ schlechtes Handeln mit Gut-/Schlecht-Sein gleichgesetzt werden soll oder ob etwas anderes die Hauptaussage sein soll. Insbesondere Meyer argumentiert dafür, dass Aristoteles hier – wie auch an anderen Stellen – austauschbar von Handlungen und Charakter spricht (Meyer 2011, 42 sowie Anm. 16 und 17, 55). Worauf es ihr zufolge dagegen ankommt, ist die Parallelität von Tugend und Schlechtigkeit in Hinblick auf ihre Zurechenbarkeit (vgl. Meyer 2011, Kapitel 5; zu 1113b11– 14: Anm. 17, 55). Ich werde auf diese Diskussion im Kommentar eingehen. Manche MSS, so der Parisiensis (Lb) und die Marciani (Mb, Nb), und auch die Ausgabe von Aldus Manutius haben hier nach „ἄρα“ in 1113b13 das Futur „ἔσται“. Dafür könnte die Parallele zum vorhergehenden Satz sprechen, wo in 1113b10 in einem analog strukturierten Konditionalsatz ebenfalls das Futur im Konsequens verwendet wird. Ich folge in meiner Übersetzung diesem Vorschlag, da auch die Lesart ohne futurisches Verb, wie sie im OCT zu finden ist, dieses Verständnis nicht ausschließt (vgl. auch Reeve 2014, 247).
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[EN III 7, 1113b14– 21]¹¹⁵⁵ Die Aussage, dass niemand willentlich schlecht ist oder unwillentlich glückselig¹¹⁵⁶, scheint teils falsch zu sein und teils wahr. Denn glückselig ist niemand unwillentlich, die Schlechtigkeit aber ist willentlich. Oder es müsste mit dem gerade Gesagten gerungen werden, und man dürfte nicht sagen, dass der Mensch Ursprung und Erzeuger seiner Handlungen wie auch seiner Kinder ist. Wenn dies aber so zu sein scheint und wir sie [i. e. die Handlungen; BL] nicht auf andere Ursprünge neben denen, die in¹¹⁵⁷ uns liegen, zurückführen können, dann liegen auch diese Dinge, deren Ursprünge auch¹¹⁵⁸ in uns liegen, bei uns und sind willentlich.
EN III 7, 1113b14– 21: τὸ δὲ λέγειν ὡς οὐδεὶς ἑκὼν πονηρὸς οὐδ’ ἄκων μακάριος ἔοικε τὸ μὲν ψευδεῖ τὸ δ’ ἀληθεῖ. μακάριος μὲν γὰρ οὐδεὶς ἄκων, ἡ δὲ μοχθηρία ἑκούσιον. ἢ τοῖς γε νῦν εἰρημένοις ἀμφισβητητέον, καὶ τὸν ἄνθρωπον οὐ φατέον ἀρχὴν εἶναι οὐδὲ γεννητὴν τῶν πράξεων ὥσπερ καὶ τέκνων. εἰ δὲ ταῦτα φαίνεται καὶ μὴ ἔχομεν εἰς ἄλλας ἀρχὰς ἀναγαγεῖν παρὰ τὰς ἐν ἡμῖν, ὧν [καὶ] αἱ ἀρχαὶ ἐν ἡμῖν, καὶ αὐτὰ ἐφ’ ἡμῖν καὶ ἑκούσια. Victorius ändert in Zeile 1113b14 das in den MSS überlieferte „μακάριος“ in „μάκαρ“, was Susemihl und Bekker übernehmen. Anlass für die Änderung ist vermutlich, auf diese Weise den iambischen Trimeter der zitierten Redensart zu erhalten (vgl. Burnet 1900, 134). Dadurch wird nochmals betont, dass Aristoteles sich hier auf eine Formulierung bezieht, die er aus der Tradition übernimmt. Die Kommentare folgen mehrheitlich dem Anonymen Kommentator, der das Diktum dem komischen Dichter Epicharm (5. Jh.) zuschreibt. Relativ unstrittig ist aber auch, dass das Zitat Nähe zu platonischen Annahmen hat (vgl. Gauthier/Jolif 1970, 213; Taylor 2006, 165); so wird es auch im neunten Buch der Nomoi (Leg. 860d1-e3) zitiert (Grant 1866, 26 – 27). Zitiert wird der Satz ferner im pseudo-platonischen Dialog Über das Gerechte (περὶ δικαίου) (vgl. Grant 1866, 27). Ursprünglich war die Aussage des Satzes vermutlich eine etwas andere und weniger kontroverse, nämlich die, dass niemand willentlich erbärmlich oder unwillentlich glückselig wird. Da Aristoteles „πονηρὸς“ aber meist in der Bedeutung schlecht verwendet, wird mit dem Satz eine andere Aussage gemacht, die weniger selbstverständlich ist und auch nicht mehr der Intention des Dichters entspricht (vgl. Grant 1966, 27 sowie Stewart 1897, 275). Manche MSS – so der Parisiensis (Lb) und der Marcianus (Mb) – überliefern in 1113b20 „ἐφ’“ anstelle der Präposition „ἐν“ vor „ἡμῖν“, was auch Bekker übernimmt. Irwin votiert gegen die Lesart mit „ἐν“, der sowohl Susemihl als auch der OCT folgen, und verweist zur Begründung auf die wiederholte Verwendung von „ἐφ’“ in Verbindung mit „ἡμῖν“ in diesem Abschnitt (Irwin 1999, 208). Zugunsten von „ἐν“ könnte man allerdings auf den unmittelbaren Kontext verweisen, in dem es um den Ursprung von Handlungen geht und Aristoteles ausführt, dass solche Dinge bei uns liegen, deren Ursprung in uns liegt. Insofern das In-einer-Person-Liegen des Ursprungs einer Sache offenbar notwendiges Kriterium dafür ist, dass sie bei einer Person liegt, hängt die Verwendung beider Präpositionen eng zusammen; vgl. auch Burnet 1900, 135: „Now that of which the ἀρχή is ἐν ἡμῖν will itself be ἐφ’ ἡμῖν“. Stewart bemerkt allerdings zu Recht, dass das In-einerPerson-Liegen des Ursprungs einer Sache nicht hinreichend dafür ist, dass sie auch bei der Person liegt, wie z. B. im Fall der Bewegungen von Herz und Lungen (Stewart 1897, 276). Gleichwohl ist der Text an dieser Stelle in beiden Lesarten verständlich und plausibel, so dass ich der gut überlieferten Variante des OCT folge (vgl. auch Reeve 2014, 247). Manche MSS (Lb und Mb) haben in 1113b20 kein „καὶ“ vor „αἱ ἀρχαὶ“.
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[EN III 7, 1113b21– 30]¹¹⁵⁹ Und dies [i. e., dass wir Ursprung unserer Handlungen sind; BL] scheint sowohl durch jeden Einzelnen im Privaten als auch durch die Gesetzgeber bezeugt zu werden. Denn sie züchtigen und strafen diejenigen, die schlechte Dinge tun, sofern sie nicht aus Gewalt oder durch Unwissenheit, für die¹¹⁶⁰ sie nicht selbst verantwortlich¹¹⁶¹ sind, geschehen, wohingegen sie diejenigen ehren, die die schönen Dinge tun, um diese zu ermutigen und jene zurückzuhalten. Nun wird aber niemand ermutigt, Dinge¹¹⁶² zu tun, die nicht bei uns liegen oder die nicht willentlich sind, wie auch das Überzeugt-Werden, nicht zu erwärmen oder Schmerz oder Hunger oder etwas anderes dieser Art zu empfinden, witzlos ist; denn wir werden dies nicht empfinden.
EN III 7, 1113b21– 30: τούτοις δ’ ἔοικε μαρτυρεῖσθαι καὶ ἰδίᾳ ὑφ’ ἑκάστων καὶ ὑπ’ αὐτῶν τῶν νομοθετῶν· κολάζουσι γὰρ καὶ τιμωροῦνται τοὺς δρῶντας μοχθηρά, ὅσοι μὴ βίᾳ ἢ δι’ ἄγνοιαν ἧς μὴ αὐτοὶ αἴτιοι, τοὺς δὲ τὰ καλὰ πράττοντας τιμῶσιν, ὡς τοὺς μὲν προτρέψοντες τοὺς δὲ κωλύσοντες. καίτοι ὅσα μήτ’ ἐφ’ ἡμῖν ἐστι μήθ’ ἑκούσια, οὐδεὶς προτρέπεται πράττειν, ὡς οὐδὲν πρὸ ἔργου ὂν τὸ πεισθῆναι μὴ θερμαίνεσθαι ἢ ἀλγεῖν ἢ πεινῆν ἢ ἄλλ’ ὁτιοῦν τῶν τοιούτων· οὐθὲν γὰρ ἦττον πεισόμεθα αὐτά. Susemihl führt für die Wendung „δι᾿ ἄγνοιαν ἧς“ in Zeile 1113b24 drei abweichende Überlieferungen an: Danach hat der Marcianus (Mb) „οἷς“, der Laurentianus (Kb) dagegen „ἢ“ und der Paraphrast liest „ἧς“, wovon auch ich in meiner Übersetzung ausgehe. Nach der Variante des Laurentianus werden drei Ausschlussbedingungen aufgezählt, die jeweils mit der Disjunktion „ἢ“ verbunden sind, bei deren Vorliegen die Gesetzgeber von Bestrafungen absehen. Diese Lesart ist abwegig, da das dritte, allgemein formulierte Disjunkt auf einer anderen Stufe steht als die ersten beide Disjunkte, die die Ausschlussbedingungen spezifizieren. Die Lesart des Marcianus ist hingegen als Relativsatz zu verstehen, der sich auf beide Entschuldigungsbedingungen bezieht und sie dadurch näher charakterisiert, dass die handelnde Person nicht selbst verantwortlich ist für die Gewalt oder Unwissenheit, unter deren Einfluss ihre Handlung stattfindet. Die Lesart des Paraphrasten schließlich ist ebenfalls als Relativsatz zu verstehen, der allerdings nur an „δι᾿ ἄγνοιαν“ anschließt und somit nur die Unwissenheit als nicht selbstverschuldet näher qualifiziert. Sachlich erscheint die Lesart des Paraphrasten am überzeugendsten, der auch Susemihl und der OCT folgen; auch die meisten Kommentatoren gehen davon aus, dass Aristoteles hier nur die Unwissenheit näher qualifiziert. Dafür spricht, dass dies mit der vorangehenden Behandlung der Unwissenheit übereinstimmt, wo er bereits selbstverschuldete Unwissenheit wie z. B. Unwissenheit aufgrund von Trunkenheit als Entschuldigungsgrund thematisiert hat. Hier überliefern der Parisiensis (Lb) und der Marcianus (Mb) eine andere Wortstellung: „αἴτιοι αὐτοί“ anstelle von „αὐτοὶ αἴτιοι“. Letztere ist plausibler, da die Negation eher auf „αὐτοὶ“ als auf „αἴτιοι“ zu beziehen ist. Der Laurentianus (Kb) und der Riccardianus (Ob) überliefern in 1113b26 „ὅσα“, was Susemihl und der OCT übernehmen. Der Marcianus (Nb) hat dagegen die Präposition „πρός“ in Verbindung mit dem einfachen Relativpronomen „ἃ“. Der Marcianus (Mb) sowie der Parisiensis (Lb) haben schließlich „πρὸς ὅσα“. Die Überlieferung ist somit nicht eindeutig, deutet aber auf das quantitative Relativpronomen „ὅσα“ hin, was ohne Präposition zu erwarten ist.
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[EN III 7, 1113b30 – 1114a10]¹¹⁶³ Denn sie bestrafen auch für das Unwissend-Sein selbst, sofern eine Person für ihre Unwissenheit verantwortlich zu sein scheint, wie z. B. die Strafe für die Betrunkenen doppelt ist, denn der Ursprung liegt in der handelnden Person. Sie hat nämlich das Nicht-betrunkenSein in ihrer Kontrolle, und dies ist Ursache der [bzw. ihrer] Unwissenheit. Sie bestrafen auch diejenigen, die etwas in den Gesetzen nicht kennen, was man entweder kennen muss oder was nicht schwierig ist, und in gleicher Weise aber auch in anderen Fällen, in denen Personen aufgrund von Nachlässigkeit unwissend zu sein scheinen, weil das Nicht-unwissendSein bei ihnen lag. Denn sie haben die Kontrolle darüber, sorgfältig zu sein. Aber vielleicht ist die handelnde Person so beschaffen, dass sie nicht Sorgfalt übt. Aber Menschen sind selbst verantwortlich dafür, wie beschaffen sie geworden sind, indem sie nachlässig leben, und dafür, ungerecht oder unmäßig zu sein, die einen, indem sie schlechte Dinge tun, die anderen, indem sie ihr Leben mit Trinken und solchen Dingen zubringen; denn die einzelnen Tätigkeiten machen sie jeweils zu solchen [d. h. so beschaffenen] Menschen. Dies ist klar von denjenigen, die für irgendeine Art von Kampf oder Handlung üben; denn sie fahren unablässig fort, ihre Tätigkeiten auszuüben. Nicht zu wissen, dass die Dispositionen aus der Betätigung bei den jeweiligen Dingen heraus entstehen, kann nur bei einem vollkommen stumpfsinnigen Menschen vorkommen. [EN III 7, 1114a11– 21]¹¹⁶⁴ Ferner ist es unsinnig anzunehmen, dass eine Person, die ungerecht handelt, nicht wünscht, ungerecht zu sein, oder dass eine Person, die unmäßig handelt, [nicht wünscht], unmäßig zu sein.¹¹⁶⁵ Wenn jemand nicht unwissend Dinge tut, aufgrund deren er ungerecht sein wird, so
EN III 7, 1113b30 – 1114a10: καὶ γὰρ ἐπ’ αὐτῷ τῷ ἀγνοεῖν κολάζουσιν, ἐὰν αἴτιος εἶναι δοκῇ τῆς ἀγνοίας, οἶον τοῖς μεθύουσι διπλᾶ τὰ ἐπιτίμια· ἡ γὰρ ἀρχὴ ἐν αὐτῷ· κύριος γὰρ τοῦ μὴ μεθυσθῆναι, τοῦτο δ’ αἴτιον τῆς ἀγνοίας. καὶ τοὺς ἀγνοοῦντάς τι τῶν ἐν τοῖς νόμοις, ἃ δεῖ ἐπίστασθαι καὶ μὴ χαλεπά ἐστι, κολάζουσιν, ὁμοίως δὲ καὶ ἐν τοῖς ἄλλοις, ὅσα δι’ ἀμέλειαν ἀγνοεῖν δοκοῦσιν, ὡς ἐπ’ αὐτοῖς ὂν τὸ μὴ ἀγνοεῖν· τοῦ γὰρ ἐπιμεληθῆναι κύριοι. ἀλλ’ ἴσως τοιοῦτός ἐστιν ὥστε μὴ ἐπιμεληθῆναι. ἀλλὰ τοῦ τοιούτους γενέσθαι αὐτοὶ αἴτιοι ζῶντες ἀνειμένως, καὶ τοῦ ἀδίκους ἢ ἀκολάστους εἶναι, οἳ μὲν κακουργοῦντες, οἳ δὲ ἐν πότοις καὶ τοῖς τοιούτοις διάγοντες· αἱ γὰρ περὶ ἕκαστα ἐνέργειαι τοιοῦτους ποιοῦσιν. τοῦτο δὲ δῆλον ἐκ τῶν μελετώντων πρὸς ἡντινοῦν ἀγωνίαν ἢ πρᾶξιν· διατελοῦσι γὰρ ἐνεργοῦντες. τὸ μὲν οὖν ἀγνοεῖν ὅτι ἐκ τοῦ ἐνεργεῖν περὶ ἕκαστα αἱ ἕξεις γίνονται, κομιδῇ ἀναισθήτου. EN III 7, 1114a11– 21: ἔτι δ’ ἄλογον τὸν ἀδικοῦντα μὴ βούλεσθαι ἄδικον εἶναι ἢ τὸν ἀκολασταίνοντα ἀκόλαστον. εἰ δὲ μὴ ἀγνοῶν τις πράττει ἐξ ὧν ἔσται ἄδικος, ἑκὼν ἄδικος ἂν εἴη, οὐ μὴν ἐάν γε βούληται, ἄδικος ὢν παύσεται καὶ ἔσται δίκαιος. οὐδὲ γὰρ ὁ νοσῶν ὑγιής, καὶ εἰ οὕτως ἔτυχεν, ἑκὼν νοσεῖ, ἀκρατῶς βιοτεύων καὶ ἀπειθῶν τοῖς ἰατροῖς. τότε μὲν οὖν ἐξῆν αὐτῷ μὴ νοσεῖν, προεμένῳ δ’ οὐκέτι , ὥσπερ οὐδ’ ἀφέντι λίθον ἔτ’ αὐτὸν δυνατὸν ἀναλαβεῖν· ἀλλ᾿ ὅμως ἐπ’ αὐτῷ τὸ βαλεῖν [καὶ ῥῖψαι]· ἡ γὰρ ἀρχὴ ἐν αὐτῷ. οὕτω δὲ καὶ τῷ ἀδίκῳ καὶ τῷ ἀκολάστῳ ἐξ ἀρχῆς μὲν ἐξῆν τοιούτοις μὴ γενέσθαι, διὸ ἑκόντες εἰσίν· γενομένοις δ’ οὐκέτι ἔστι μὴ εἶναι. Rassow hat diesen und den folgenden Satz miteinander vertauscht, d. h. er hat den Satz, der in den Zeilen 1114a11– 12 überliefert ist (ἔτι δ’ ἄλογον τὸν ἀδικοῦντα μὴ βούλεσθαι ἄδικον εἶναι ἢ τὂν ἀκολασταίνοντα ἀκόλαστον.) hinter den Wenn-Satz platziert, der in den MSS in 1114a12 beginnt und in 1114a14 endet. Susemihl und Rackham folgen der Umstellung und auch Stewart
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wird er willentlich ungerecht sein; freilich wird er auch nicht, wenn er es nur wünscht, aufhören ungerecht zu sein und gerecht sein, denn auch der Kranke [wird] nicht gesund, [wenn er es (nur) wünscht]. Und wenn es sich bei ihm auf solche Weise verhält, ist er willentlich krank, indem er unbeherrscht lebt und den Ärzten nicht gehorcht. Damals war es ihm möglich, nicht krank zu sein, nachdem er seine Gesundheit preisgegeben hat, hingegen nicht mehr, wie es auch für jemanden, der einen Stein weggeschleudert hat, nicht mehr möglich ist, ihn zurückzuholen. Aber gleichwohl lag das Werfen¹¹⁶⁶ bei ihm, denn der Ursprung [war] in ihm. In derselben Weise war es am Anfang auch dem Ungerechten und dem Unmäßigen möglich, nicht so beschaffen zu werden,¹¹⁶⁷ weswegen sie willentlich so sind. Nachdem sie aber (einmal) so geworden sind, ist es (ihnen) nicht mehr möglich¹¹⁶⁸, nicht so zu sein.
befürwortet die Umstellung (unter modernen Übersetzern folgt Irwin der Umstellung): Der WennSatz führt die Überlegung aus der vorherigen Passage fort, in der der Zusammenhang von Unwissenheit und Unwillentlichkeit thematisiert wurde; der Satz, der mit „ἔτι“ beginnt, bringt dagegen mit der Frage, ob man etwas Schlechtes wünschen kann, einen neuen (platonischen) Punkt zur Sprache, wie er z. B. aus dem Gorgias bekannt ist (Stewart 1897, 276: „I think the run of the passage is much improved by the transposition.“). (Merkwürdigerweise schreiben Gauthier/Jolif (Gauthier/Jolif 1970, 214), dass Stewart Rassows Transposition ablehnt, was offensichtlich falsch ist). Sachliche Gründe sprechen also für die Umstellung; allerdings halte ich in der Übersetzung an der überlieferten Version fest und behandele die Umstellung im Kommentar. Die meisten MSS – Kb, Lb, Mb, Ob – sowie die vetusta translatio und auch Aldus Manutius haben in 1114a19 nur „βαλεῖν“. Susemihl (1880 und 1887) führt an, dass die Oxonienses (O1, 2) stattdessen „λαβεῖν“ haben; er folgt dieser Alternative und liest danach „καὶ ῥῖψαι“ („und Schleudern“), was Bywater einklammert. Zu dieser alternativen Lesart ist es wohl gekommen, da in der Variante lediglich zwei Buchstaben im Verb vertauscht sind und „λαβεῖν“ im Satz zuvor vorgekommen ist. Bei „λαβεῖν“ (holen, nehmen) erscheint das Hinzufügen von „ῥῖψαι“ notwendig, bei „βαλεῖν“ dagegen redundant, so dass es ursprünglich eine Randnotiz gewesen sein könnte, die nach der Änderung zu „λαβεῖν“ in den Text integriert wurde. Apelt kehrt in der Ausgabe von 1903 wieder zu „βαλεῖν“ zurück, allerdings ohne „καὶ ῥῖψαι“ einzuklammern; er vermerkt aber Bywaters Klammersetzung im Apparat. Ich folge der Version der MSS, der auch der OCT entspricht. Die meisten MSS – der Laurentianus (Kb), der Marcianus (Mb) und der Riccardianus (Ob) – haben den Infinitiv Aorist „γενέσθαι“, was auch Aldus Manutius und Bekker übernehmen; der Parisiensis (Lb) hat dagegen den Infinitiv Präsens „γίνεσθαι“. Manche MSS – Laurentianus (Kb), Marcianus (Mb) und Riccardianus (Ob) – haben in 1114a21 „οὐκέτι ἔστι“, was auch der OCT übernimmt. Susemihl dagegen liest „οὐκέτι ἔξεστιν“, was nach Bywater nur in der vetusta translatio überliefert ist. Der Parisiensis (Lb) und der Marcianus (Mb) haben bloß „οὐκ ἔξεστιν“. Susemihls Variante ist bedeutungsgleich mit derjenigen der MSS; sie erscheint auch sachlich passender als die Alternative des Lb und Mb, da der Fall des Wegwerfens eines Steins illustriert, wie etwas anfangs noch kontrollierbar ist, später dagegen nicht mehr.
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[EN III 7, 1114a21– 31]¹¹⁶⁹ Nicht nur die Schlechtigkeiten der Seele sind willentlich, sondern bei manchen [Menschen] auch die des Körpers, die wir auch tadeln; denn während man diejenigen nicht tadelt, die von Natur aus hässlich sind, [tadelt] man die, die so durch Mangel an Training und Nachlässigkeit sind. In gleicher Weise [sc. verhält es sich; BL] auch bei Schwäche¹¹⁷⁰ und Lähmung. Denn niemand würde wohl einen Menschen schmähen, der blind von Natur aus oder infolge von Krankheit oder infolge eines Schlages ist, sondern [würde wohl] Mitleid mit ihm empfinden.¹¹⁷¹ Aber jeder würde denjenigen tadeln, der aus Trunkenheit oder aus einer anderen Unmäßigkeit erblindet ist. Von den Schlechtigkeiten des Körpers werden also diejenigen getadelt, die bei uns liegen, diejenigen, die nicht bei uns liegen, dagegen nicht. Wenn dies so ist, dann dürften wohl auch in den anderen Fällen von Schlechtigkeiten die getadelten bei uns liegen. [EN III 7, 1114a31-b3]¹¹⁷² Wenn nun einer sagte, dass alle nach dem streben, was ihnen ein Gut zu sein scheint, dass sie aber nicht die Kontrolle über ihre Vorstellung haben, sondern dass auch das Ziel jedem so [beschaffen] erscheint, wie jemand gerade beschaffen ist – [sc. dann könnte man sagen; BL] wenn nun jeder für sich selbst irgendwie verantwortlich ist, welche Disposition er hat, dann wird er auch irgendwie selbst dafür verantwortlich sein, welche Vorstellung er hat. [EN III 7, 1114b3 – 12]¹¹⁷³ Wenn aber nicht¹¹⁷⁴, dann ist niemand für sich verantwortlich für sein schlechtes Handeln, sondern er tut diese Dinge aufgrund von Unwissenheit über das Ziel, indem er glaubt, durch
EN III 7, 1114a21– 31: οὐ μόνον δ᾿ αἱ τῆς ψυχῆς κακίαι ἑκούσιοί εἰσιν, ἀλλ᾿ ἐνίους καὶ αἱ τοῦ σώματος, οἷς καὶ ἐπιτιμῶμεν· τοῖς μὲν γὰρ διὰ φύσιν αἰσχροῖς οὐδεὶς ἐπιτιμᾷ, τοῖς δὲ δι᾿ ἀγυμνασίαν καὶ ἀμέλειαν. ὁμοίως δὲ καὶ περὶ ἀσθένειαν καὶ πήρωσιν· οὐθεὶς γὰρ ἂν ὀνειδίσειε τυφλῷ φύσει ἢ ἐκ νόσου ἢ ἐκ πληγῆς, ἀλλὰ μᾶλλον ἐλεήσαι· τῷ δ᾿ ἐξ οἰνοφλυγίας ἢ ἄλλης ἀκολασίας πᾶς ἂν ἐπιτιμήσαι. τῶν δὴ περὶ τὸ σῶμα κακιῶν αἱ ἐφ᾿ ἡμῖν ἐπιτιμῶνται, αἱ δὲ μὴ ἐφ᾿ ἡμῖν οὔ. εἰ δ᾿ οὕτω, καὶ ἐπὶ τῶν ἄλλων αἱ ἐπιτιμώμεναι τῶν κακιῶν ἐφ᾿ ἡμῖν ἂν εἶει. Der Parisiensis (Lb) und der Marcianus (Nb) fügen in 1114a25 nach „περὶ ἀσθένειαν“ noch „καὶ αἶσχος“ (Schande) hinzu, was auch Aldus Manutius übernimmt. Der Marcianus (Mb) fügt ebenfalls „αἶσχος“ ein, lässt die Konjunktion aber weg. Der Parisiensis (Lb) und der Marcianus (Nb) überliefern anstelle von „ἐλεήσαι“ die alternative synonyme Form für den Aorist Optativ „ἐλεήσειε“. Aldus Manutius dagegen ändert in den Infinitiv Aorist „ἐλεῆσαι“, was sprachlich problematisch ist, da es sich um einen Adversativsatz handelt, der einen Gegensatz zum οὐθεὶς-Satz darstellt und der daher parallel zu diesem Satz, in dem der Optativ steht, formuliert sein sollte. EN III 7, 1114a31-b3: εἰ δέ τις λέγοι ὅτι πάντες ἐφίενται τοῦ φαινομένου ἀγαθοῦ, τῆς δὲ φαντασίας οὐ κύριοι, ἀλλ᾿ ὁποῖός ποθ᾿ ἕκαστός ἐστι, τοιοῦτο καὶ τὸ τέλος φαίνεται αὐτῷ· εἰ μὲν οὖν ἕκαστος ἑαυτῷ τῆς ἕξεώς ἐστί πως αἴτιος, καὶ τῆς φαντασίας ἔσται πως αὐτὸς αἴτιος· Dieser gesamte Abschnitt 1114a31-b12 ist auch bei Alexander von Aphrodisias zu lesen, wie Susemihl anmerkt. EN III 7, 1114b3 – 12: εἰ δὲ μή, οὐθεὶς αὑτῷ αἴτιος τοῦ κακοποιεῖν, ἀλλὰ δι᾿ ἄγνοιαν τοῦ τέλους ταῦτα πράττει, διὰ τούτων οἰόμενος αὑτῷ τὸ ἄριστον ἔσεσθαι, ἡ δὲ τοῦ τέλους ἔφεσις οὐκ αὐθαίρετος, ἀλλὰ φῦναι δεῖ ὥσπερ ὄψιν ἔχοντα, ᾗ κρινεῖ καλῶς καὶ τὸ κατ᾿ ἀλήθειαν ἀγαθὸν
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diese Dinge das Beste für sich zu erreichen; das Streben nach dem Ziel ist dann nicht selbstgewählt, sondern man muss wie im Besitz eines Sehsinns geboren werden, mit dessen Hilfe man schön urteilen und das wahrhaft Gute wählen kann, und derjenige ist von Natur aus gut veranlagt, in dem sich dies natürlicherweise schön entwickelt hat. Denn das Größte und Schönste, das man auch nicht von einem anderen nehmen oder lernen kann, wird man vielmehr nur so besitzen, wie man von Natur aus veranlagt ist; und das Gut- und Schöngeboren-Sein dürfte wohl die vollkommene und wahrhafte Veranlagung sein. [EN III 7, 1114b12– 21]¹¹⁷⁵ Wenn dies wahr ist: Wie wird dann die Tugend eher willentlich sein als die Schlechtigkeit? Denn beiden, dem Guten und dem Schlechten, erscheint das Ziel gleichermaßen von Natur aus oder auf irgendeine Weise und ist gegeben, und die Menschen beziehen auch das Übrige
αἱρήσεται, καὶ ἔστιν εὐφυὴς ᾧ τοῦτο καλῶς πέφυκεν· τὸ γὰρ μέγιστον καὶ κάλλιστον, καὶ ὃ παρ᾿ ἑτέρου μὴ οἷόν τε λαβεῖν μηδὲ μαθεῖν, ἀλλ᾿ οἷον ἔφυ τοιοῦτον ἕξει, καὶ τὸ εὖ καὶ τὸ καλῶς τοῦτο πεφυκέναι ἡ τελεία καὶ ἀληθινὴ ἂν εἴη εὐφυΐα. In 1114b3 sind zwei abweichende Lesarten überliefert. Etwas breiter überliefert ist die Lesart „μηδεὶς“: Sie ist im Parisiensis (Lb), in den Marciani (Mb, Nb) sowie in der vetusta translatio überliefert und sie kommt bei Aldus Manutius, beim Anonymen Kommentator und beim Paraphrasten vor. Ihr folgen Rassow, Susemihl und Apelt. Die Lesart „μή οὐθεὶς“ ist dagegen im Laurentianus (Kb) und im Riccardianus (Ob) überliefert, und ihr folgen Bekker, Ramsauer, Bywater, Burnet sowie Rackham. In der zweiten Lesart „μή οὐθεὶς“, der ich in meiner Übersetzung folge, verdeutlicht das Komma zwischen der Negation und dem Zahlwort (εἰ δὲ μή, οὐθεὶς), wie der Ausdruck zu verstehen ist: Danach werden ab 1114b1 zwei Alternativen erwogen: Entweder ist eine Person verantwortlich für ihren Charakter (1114b1– 3) oder sie ist nicht verantwortlich für ihren Charakter (1114b3: εἰ δὲ μή); diese Alternativen haben trotz ihrer gegenläufigen Annahmen über die Verantwortung für den Charakter eine wichtige gemeinsame Folge: In beiden Fällen folgt für Tugend und Schlechtigkeit gleichermaßen, dass eine Person entweder für beides oder aber für keines von beiden verantwortlich ist. Diese Symmetrie scheint hier das eigentliche Argumentationsziel zu sein. Dazu werde ich Näheres im Kommentar sagen. Nach der alternativen Lesart „μηδεὶς“ ist der Konditionalsatz, der in 1114b3 beginnt, als zweiter Teil eines langgezogenen Antezedens zu verstehen, das in 1114a31 mit „εἰ δέ τις λέγοι“ beginnt und in b3 mit „εἰ μηδεὶς“ nochmals neu ansetzt und einen dritten zusammenfassenden Anlauf in 1114b12 mit „εἰ δὴ ταῦτα ἐστὶν ἀληθῆ“ nimmt (vgl. Stewart 1897, 279). Auch das ist eine mögliche Deutung der Passage. Allerdings ist dabei unklar, wie der eingeschobene Konditionalsatz in 1114b1– 3 zu verstehen ist, der offenbar eine Erwiderung auf den vorangehenden Wenn-Satz darstellt. In der Lesart mit „μή οὐθεὶς“ wäre er so zu verstehen, dass Aristoteles hier eine erste Antwort auf die aufgeworfene Schwierigkeit gibt, dass die Vorstellung vom Guten nicht bei uns liegt, mit der diese Annahme sich widerlegen lässt. Ich folge der Lesart „μή οὐθεὶς“, die eine gewisse Grundlage in den MSS hat, die mir aber v. a. inhaltlich plausibler erscheint. EN III 7, 1114b12– 21: εἰ δὴ ταῦτ’ ἐστὶν ἀληθῆ, τί μᾶλλον ἡ ἀρετὴ τῆς κακίας ἔσται ἑκούσιον; ἀμφοῖν γὰρ ὁμοίως, τῷ ἀγαθῷ καὶ τῷ κακῷ, τὸ τέλος φύσει ἢ ὁπωσδήποτε φαίνεται καὶ κεῖται, τὰ δὲ λοιπὰ πρὸς τοῦτο ἀναφέροντες πράττουσιν ὁπωσδήποτε. εἴτε δὴ τὸ τέλος μὴ φύσει ἑκάστῳ φαίνεται οἱονδήποτε, ἀλλά τι καὶ παρ᾿ αὐτῷ ἐστιν, εἴτε τὸ μὲν τέλος φυσικόν, τῷ δὲ τὰ λοιπὰ πράττειν ἑκουσίως τὸν σπουδαῖον ἡ ἀρετὴ ἑκούσιόν ἐστιν, οὐθὲν ἧττον καὶ ἡ κακία ἑκούσιον ἂν εἴη· ὁμοίως γὰρ καὶ τῷ κακῷ ὑπάρχει τὸ δι᾿ αὐτὸν ἐν ταῖς πράξεσι καὶ εἰ μὴ ἐν τῷ τέλει.
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auf dieses¹¹⁷⁶, was auch immer sie tun. Ob also das Ziel jedem Menschen nicht natürlicherweise irgendwie beschaffen erscheint, sondern etwas auch bei ihm¹¹⁷⁷ liegt, oder ob zwar das Ziel natürlich ist, die Tugend aber [gleichwohl] willentlich ist, weil der Gute die übrigen Dinge [i. e. die Dinge, die zum Ziel führen; BL]¹¹⁷⁸ willentlich tut: Die Schlechtigkeit dürfte gleichwohl nicht weniger willentlich sein [sc. als die Tugend; BL]. Denn auch auf den Schlechten trifft gleichermaßen das „durch ihn“ in Bezug auf seine Handlungen zu, wenn nicht auch¹¹⁷⁹ in Bezug auf sein Ziel. [EN III 7, 1114b21– 25]¹¹⁸⁰ Wenn nun, wie gesagt wird, die Tugenden willentlich sind, (denn wir sind selbst in gewisser Weise mit-verantwortlich¹¹⁸¹ für die Dispositionen, und indem wir irgendwie beschaffene Menschen sind, setzen wir uns ein so beschaffenes Ziel), dann dürften wohl auch die Schlechtigkeiten willentlich sein, denn sie verhalten sich gleichermaßen. [EN III 8, 1114b26 – 30]¹¹⁸² Wir haben somit die Tugenden im Allgemeinen erörtert, haben ihre Gattung im Umriss bestimmt, nämlich dass sie Mitten und Dispositionen sind; [wir haben erörtert,] wodurch sie
Die MSS haben in 1114b15 den Plural „ταῦτα“. Aspasius hingegen verwendet den Singular „τοῦτο“, was Aldus Manutius übernimmt. Dem Singular folgen auch Susemihl (unter Hinzufügung der Apostrophierung) und Bywater. Beim Singular ist das Demonstrativpronomen auf das Ziel, beim Plural auf die jeweiligen Ziele des Guten und Schlechten zu beziehen, was beides sprachlich und sachlich möglich ist. Der Laurentianus (Kb) hat in 1114b17„αὐτόν“, der Parisiensis (Lb), die Marciani (Mb, Nb) und der Riccardianus (Ob) dagegen den Dativ „αὐτῷ“. Ich lese „αὐτῷ“, da „παρά“ hier mit dem Dativ stehen muss. Vgl. zu dieser Erläuterung: Grant 1866, 31; Stewart 1897, 281; Burnet 1900, 138. Der Laurentianus (Kb) und die vetusta translatio lassen „εἰ μὴ“ aus, was Aldus Manutius übernimmt. So ist eine einfache Konjunktion zu lesen ohne vorbehaltliche Einschränkung in Bezug auf die Ziele („in Bezug auf seine Handlungen und auf sein Ziel“). EN III 7, 1114b21– 25: εἰ οὖν, ὥσπερ λέγεται, ἑκούσιοί εἰσιν αἱ ἀρεταί (καὶ γὰρ τῶν ἕξεων συναίτιοί πως αὐτοί ἐσμεν, καὶ τῷ ποιοί τινες εἶναι τὸ τέλος τοιόνδε τιθέμεθα), καὶ αἱ κακίαι ἑκούσιοι ἂν εἶεν· ὁμοίως γάρ. Der Laurentianus (Kb) hat als Variante zu „τῶν ἕξεων συναίτιοί“ in 1114b22 „τῶν αἰτίων ἕξεων“ (frei übersetzt: „denn uns selbst kommen die verantwortlichen Dispositionen zu“). Allerdings ist es gut möglich und leuchtet auch sachlich ein, dass Aristoteles hier das Adjektiv „συναίτιος“ verwendet: Denn zum einen ist dies ein Ausdruck, den auch Platon häufiger gebraucht und der daher Aristoteles geläufig war (vgl. Tim. 46d; vgl. auch Grant 1866, 31– 32); außerdem passt der Ausdruck sachlich, da Aristoteles dem Menschen eine Art Mit-Verantwortung für den eigenen Charakter zuspricht. Wie diese Mit-Verantwortung zu verstehen ist, diskutiere ich im Kommentar. EN III 8, 1114b26 – 30: κοινῇ μὲν οὖν περὶ τῶν ἀρετῶν εἴρηται ἡμῖν τό τε γένος τύπῳ, ὅτι μεσότητές εἰσιν καὶ ὅτι ἕξεις, ὑφ᾿ ὧν τε γίνονται, ὅτι τοῦτων πρακτικαὶ 〈καὶ〉 καθ᾿ αὑτάς, καὶ ὅτι ἐφ᾿ ἡμῖν καὶ ἑκούσιοι, καὶ οὕτως ὡς ἂν ὁ ὀρθὸς λόγος προστάξῃ. Ich folge in der Übersetzung der Reihenfolge des Textes, wie sie in den MSS überliefert ist und wie sie Bekker akzeptiert und auch der OCT übernimmt. Scaliger hat dagegen eine Textumstellung vorgeschlagen und vertauscht die Zeilen 1114b30 – 1115b3 („οὐχ ὁμοίως δὲ … διὰ τοῦτο ἑκούσιοι“)
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entstehen, nämlich dass sie sich von sich selbst aus in den Dingen betätigen, durch die sie entstehen, und dass sie bei uns liegen und willentlich sind, und dass sie so sind, wie die richtige Überlegung vorschreibt¹¹⁸³. [EN III 8, 1114b30 – 1115a3]¹¹⁸⁴ Die Handlungen und die Dispositionen sind aber nicht in der gleichen Weise willentlich. Denn über die Handlungen haben wir von Anfang an bis zum Ende die Kontrolle, da wir die Einzelumstände kennen, aber bei den Dispositionen nur am Anfang, wohingegen das, was im Einzelnen noch hinzukommt, nicht bekannt ist, wie bei den Krankheiten. Aber weil es bei uns liegt, sie so oder nicht so zu gebrauchen, deshalb sind sie willentlich.
mit den Zeilen 1114b26 – 30 („κοινῇ μὲν οὖν … ὀρθὸς λόγος προστάξῃ “). Er vermutet, dass die Zeilen 1114b26 – 30 ihren ursprünglichen Platz an einer anderen, früheren Stelle im Text hatten und der Passus beginnend mit „κοινῇ μὲν οὖν …“ ursprünglich die vorherige Diskussion abschließen sollte. Spengel (205 – 206) versteht das Ende der Diskussion in EN III 7 ähnlich, hält die Zeilen 1114b30 – 1115a3 dabei sogar bloß für eine später hinzugefügte Randnotiz, die nicht in den Text gehört. Susemihl und Apelt folgen der Umstellung der beiden Abschnitte. Ich halte dagegen am überlieferten Text fest, da alle MSS den Text so wiedergeben. Außerdem enthalten beide Absätze Zusammenfassendes zur vorhergehenden Diskussion, für dessen Präsentation die Reihenfolge nicht relevant ist, da die Anmerkung nicht argumentativ aufgebaut ist, sondern eine Überleitung zur anschließenden Untersuchung der einzelnen Tugenden darstellt (vgl. Grant 1866, 32). Der Parisiensis (Lb) überliefert anstelle von „προστάξῃ“ „προστάξει“, was aber abwegig ist, da mit „ἄν“ kein Futur steht. Der Marcianus (Mb) hat als Variante den Optativ „προστάξειεν“, so dass der Satz als Potentialis zu verstehen wäre („und dass sie so sind, wie die richtige Überlegung wohl vorschreiben würde“) und mit dem Satz nur eine Möglichkeit geäußert würde. Nötig ist diese vorbehaltliche Ausdrucksweise an dieser Stelle jedoch nicht, da in EN II 6 die Tugendhaftigkeit unter Verweis auf den Klugen und die richtige Überlegung bestimmt worden ist. EN III 8, 1114b30 – 1115a3: οὐχ ὁμοίως δὲ αἱ πράξεις ἑκούσιοί εἰσιν καὶ αἱ ἕξεις· τῶν μὲν γὰρ πράξεων ἀπ᾿ ἀρχῆς μέχρι τοῦ τέλους κύριοί ἐσμεν, εἰδότες τὰ καθ᾿ ἕκαστα, τῶν ἕξεων δὲ τῆς ἀρχῆς, καθ᾿ ἕκαστα δὲ ἡ πρόσθεσις οὐ γνώριμος, ὥσπερ ἐπὶ τῶν ἀρρωστιῶν· ἀλλ᾿ ὅτι ἐφ’ ἡμῖν ἦν οὕτως ἢ μὴ οὕτω χρήσασθαι, διὰ τοῦτο ἑκούσιοι.
13 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit von Charakterdispositionen Die Kapitel 7 und 8 beschließen die Diskussion von Willentlichkeit und Unwillentlichkeit sowie der Zurechnung in Buch III der Nikomachischen Ethik. Am Ende von Kapitel 8 kündigt Aristoteles die Behandlung der einzelnen Charaktertugenden an, welche die restlichen Kapitel von Buch III und das gesamte Buch IV einnehmen und mit der Erörterung der Gerechtigkeit in Buch V fortgesetzt wird. In den ersten fünf Kapiteln von Buch III wurden die Willentlichkeit und Unwillentlichkeit von Handlungen analysiert. In Kapitel 7 wendet Aristoteles sich nun der Frage nach der Willentlichkeit und der Zurechenbarkeit des Charakters zu. Die Behandlung der Willentlichkeit und Zurechenbarkeit des Charakters schließt insofern stringent an jene der Willentlichkeit und Zurechenbarkeit von Handlungen an, als sich solche Handlungen als zurechenbar erwiesen haben, die auf dem jeweiligen Charakter der handelnden Person beruhen, d. h. Handlungen, die aus der charakterlichen Verfasstheit der Person resultieren. In solchen Handlungen kommt der Charakter der handelnden Person zum Ausdruck. Für die Zurechenbarkeit von Handlungen ist ihre Verbindung zum zugrundeliegenden Charakter zentral. Eine wichtige Diskussionsfrage im Folgenden wird sein, ob Aristoteles darüber hinaus der Auffassung ist, dass die Zurechenbarkeit von Handlungen die Zurechenbarkeit des Charakters voraussetzt. Ich werde im Anschluss an Meyer die Ansicht vertreten, dass dies nicht der Fall ist. Die Auseinandersetzung mit dem Charakter in EN III 7 hat keine Parallelen in der Eudemischen Ethik oder in den Magna Moralia, so dass es diesmal nur vereinzelte Bemerkungen aus diesen Schriften sind, die gelegentlich eine Ergänzung liefern. Ich werde die Passage aus der EN abschnittweise kommentieren und im Zuge dessen einige umstrittene Fragen diskutieren, die für meine Fragestellung von Bedeutung sind. Das Kapitel 7 aus EN III gehört zu den meistdiskutierten; und die Interpretationen, die dazu vorlegt wurden, unterscheiden sich teilweise erheblich. Nicht einmal bei der Frage, was das hauptsächliche Argumentationsziel ist, das Aristoteles in diesem Abschnitt verfolgt, herrscht Einigkeit. Manche erkennen den Hauptzweck des Kapitels in der Widerlegung der sog. „Asymmetriethese“, die meist als Sokratische These identifiziert wird und nach der nur die Tugenden willentlich sind, während die Laster unwillentlich sind.¹¹⁸⁵ Andere dagegen sehen das Argumentationsziel in dem Nachweis der Willentlichkeit und
Diese Position wird prononciert von Meyer vertreten (Meyer 2011). https://doi.org/10.1515/9783110517583-015
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13 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit von Charakterdispositionen
Zurechenbarkeit des Charakters.¹¹⁸⁶ Nochmals andere schreiben Aristoteles aufgrund von Formulierungen in diesem Kapitel die Position eines Indeterministen und die Annahme des Inkompatibilismus zu.¹¹⁸⁷ Ich gehe davon aus, dass sich die ersten beiden Deutungen nicht ausschließen und dass es nicht ein einziges Ziel ist, das Aristoteles mit seiner Argumentation in Kapitel 7 verfolgt. Es geht ihm vielmehr sowohl um die Verteidigung der Willentlichkeit und Zurechenbarkeit des Charakters als auch um die Widerlegung der Asymmetriethese. Die Zuschreibung einer indeterministischen Position ist dagegen in meinen Augen nicht haltbar, da die Grundlage im Text nicht ausreichend ist. Ich unterteile den Text von Kapitel 7 in vier größere Abschnitte, und zwar in die folgenden: 1113b3 – 14, 1113b14– 21, 1113b21– 1114a31 und 1114a31-b25.
13.1 Einführung und Zurückweisung der Asymmetriethese: 1113b3 – 14 Ich beginne meine Kommentierung mit den Zeilen 1113b3 – 14. Der Abschnitt enthält einige intrikate Probleme, die einerseits sprachlicher Natur sind und andererseits die Argumentation betreffen. Zur besseren Orientierung will ich einleitend mein Verständnis der Passage umreißen. Ebenso wie Meyer denke ich, dass Aristoteles hier gegen die Asymmetriethese argumentieren will, nach der es zwar bei uns liegt, gut bzw. tugendhaft zu handeln, nicht aber, schlecht bzw. lasterhaft zu handeln. Ich gehe somit nicht davon aus, dass er in diesen Zeilen bereits für die Willentlichkeit und Zurechenbarkeit des Charakters argumentieren will. Um dies zu sehen, ist ausschlaggebend, wie das Argument in den Zeilen 1113b3 – 7 zu verstehen ist. Hierfür wiederum ist es entscheidend, wie man die Verwendung der Ausdrücke „αἱ τῶν ἀρετῶν ἐνέργειαι“ (Betätigungen der Tugenden) und „ἀρετή/κακία“ (Tugend resp. Schlechtigkeit) in 1113b5 – 7 deutet. Des Weiteren halte ich es für verfehlt, Aristoteles aufgrund dieses Abschnitts, insbesondere der Zeilen 1113b7– 8, eine indeterministische Position zuzuschreiben, derzufolge eine Person die freie Wahl hat, wie sie handelt, d. h., dass sie fähig ist, so oder auch anders zu handeln. Bobzien hat in einer minuziösen Analyse der
Die allermeisten Interpreten sind der Auffassung, dass der Nachweis, dass auch der Charakter (und nicht nur Handlungen, die auf dem Charakter beruhen) bei uns liegen, ein wichtiges Argumentationsziel in EN III 7 ist. Die Deutungen unterscheiden sich aber in der Frage, ob Aristoteles eine überzeugende Begründung für diese Annahme liefert und ob dies sein einziges bzw. hauptsächliches Argumentationsziel ist. So räumt Meyer dies zwar als ein wichtiges Ziel der Argumentation ein, vertritt aber gleichwohl nicht die Ansicht, dass dies das zentrale Ziel ist. Z. B. Destrée 2011.
13.1 Einführung und Zurückweisung der Asymmetriethese: 1113b3 – 14
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relevanten Zeilen nachgewiesen, dass der Satz eine Übersetzung, die diese Interpretation stützt, nicht zulässt. Ihre Argumentation wird Gegenstand des nächsten Abschnitts „13.2 Vertritt Aristoteles eine indeterministische Position? (1113b7– 8)“ sein. Das Kapitel 7 beginnt mit einem direkten Rückgriff auf zwei zentrale Aussagen aus der bisherigen Untersuchung in den vorausgehenden Kapiteln. Aristoteles wiederholt erstens die Annahme, dass der Wunsch (boulêsis) sich auf das Ziel bezieht, und zweitens die Ansicht, dass Gegenstand der Überlegung (bouleusis) und des Entschlusses (prohairesis) die Dinge sind, die zum Ziel führen. Die erste Annahme hat Aristoteles in EN III 4 (1111b26 – 27)¹¹⁸⁸ bei der Abgrenzung des Entschlusses vom Wunsch und in EN III 6 (1113a15)¹¹⁸⁹ bei der näheren Bestimmung des Wunsches geäußert. Die zweite Annahme ist bezüglich der Überlegung in EN III 5 (1112b11– 12)¹¹⁹⁰ vorgekommen, in Hinblick auf den Entschluss findet sie sich ebenfalls an der ersten der eben genannten Stellen in EN III 4. Weiter hält er fest, dass auch die Handlungen, die diese Dinge betreffen, willentlich und dem Entschluss gemäß sind. Gemeint sind damit Handlungen, die dieselben Gegenstände betreffen wie Überlegung und Entschluss.¹¹⁹¹ Daran schließt Aristoteles die Aussage an, dass auch die „Betätigungen der Tugenden“ diese Dinge, d. h. die Gegenstände von Überlegung und Entschluss, betreffen. Daraus scheint er schließlich zu folgern, dass dann auch die Tugend und die Schlechtigkeit bei uns liegen. Zunächst ist ein kleiner Punkt erwähnenswert: Aristoteles verwendet in 1113b3 – 7 sowohl „willentlich“ (hekousion) als auch die Wendung „es liegt bei uns“ (eph’ hêmin). Ich gehe davon aus, dass die Ausdrücke an dieser Stelle gleichbedeutend und austauschbar zu verstehen sind.¹¹⁹² Damit soll indes nicht behauptet werden, dass die Ausdrücke synonym sind, und auch nicht, dass Aristoteles sie überall austauschbar verwendet. Für das Verständnis des vorlie-
EN III 4, 1111b26 – 27: „Ferner bezieht sich der Wunsch eher auf das Ziel, der Entschluss dagegen auf das, was zum Ziel führt; […].“ EN III 6, 1113a15: „Dass der Wunsch sich auf das Ziel bezieht, wurde gesagt.“ EN III 5, 1112b11– 12: „Wir überlegen aber nicht die Ziele, sondern das, was zu den Zielen führt.“ Grant merkt an, dass der Ausdruck ambig ist (Grant 1866, 26). Allerdings macht der Kontext ausreichend deutlich, dass mit dem Demonstrativpronomen auf dieselben Dinge Bezug genommen werden soll, die zuvor als Gegenstand von Überlegung und Entschluss bestimmt worden sind, d. h. Handlungen, durch die ein Ziel realisiert wird. Ich schließe mich damit der Auffassung von Donini an, der ebenfalls für diese Stelle eine Korrespondenz der Ausdrücke annimmt, zugleich aber einräumt, dass „eph’ hêmin“ manchmal eine engere Bedeutung als „hekousion“ hat, manchmal hingegen auch eine weitere (Donini 2010, 137– 138).
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13 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit von Charakterdispositionen
genden Arguments ist jedoch die Bedeutungsgleichheit der Ausdrücke anzunehmen. Die eigentliche Schwierigkeit bereiten jedoch die beiden Sätze in den Zeilen 1113b5 – 7. Klärungsbedürftig ist zum einen, was unter den „Betätigungen der Tugenden“ zu verstehen ist. Der Ausdruck „αἱ τῶν ἀρετῶν ἐνέργειαι“ ist ambig, da damit einerseits Handlungen bezeichnet werden können, die einer gefestigten charakterlichen Disposition vorausgehen und letztlich dahin führen; andererseits können damit aber auch Handlungen gemeint sein, die aus einem etablierten Charakter resultieren und Aufschluss über die charakterliche Verfasstheit einer Person geben. Dass es sich um Handlungen handelt, aus denen schließlich ein fester Charakter hervorgeht, hat Burnet gemeint.¹¹⁹³ Irwin bringt zudem verschiedene sprachliche Befunde zugunsten dieses Verständnisses vor.¹¹⁹⁴ Dafür spricht, dass Aristoteles auch an anderen Stellen Handlungen, die zum Tugenderwerb führen, als „ἐνέργειαι“ bezeichnet.¹¹⁹⁵ In Erwiderung auf die gegenläufige Annahme, dass es sich um Handlungen, die aus dem festen Charakter resultieren, handelt, kann ferner darauf verwiesen werden, dass Aristoteles diese üblicherweise mit dem Ausdruck „ἐνέργειαι κατὰ [τὴν] ἀρετήν“ bezeichnet. Neben diesen sprachlichen Indizien scheint für dieses Verständnis vor allem auch zu sprechen, dass sich damit den Zeilen 1113b3 – 7 offenbar ein glasklares Argument entnehmen lässt:¹¹⁹⁶ Wenn die Handlungen, die zu einer festen Disposition führen,
Burnet 1900, 134: „If the activities which produce goodness are voluntary, then goodness is in our power.“ Irwin 1980, Anm. 45, 154. Während Irwin in dieser Anmerkung die Ansicht vertritt, dass es sich bei den Betätigungen der Seele um Handlungen handelt, die zum Tugenderwerb führen, hat er offenbar in seinem Kommentar seine Meinung geändert: Irwin 1999, 208: „These activities are probably those that result from having a virtue; […].“ Z. B. in EN II 1, 1103b21– 23: „Mit einem Wort: Die Dispositionen entstehen aus den entsprechenden Tätigkeiten. Aus diesem Grund müssen wir den Tätigkeiten, die wir ausüben, eine bestimmte Qualität geben, eben weil den Unterschieden zwischen diesen die Dispositionen entsprechen.“ [καὶ ἑνὶ δὴ λόγῳ ἐκ τῶν ὁμοίων ἐνεργειῶν αἰ ἕξεις γίνονται. διὸ δεῖ τὰς ἐνεργείας ποιὰς ἀποδιδόναι· κατὰ γὰρ τὰς τούτων διαφορὰς ἀκολουθοῦσιν αἱ ἕξεις.] Auch in EN III 7 verwendet er später in 1114a7 „ἐνέργειαι“ in diesem Sinn, freilich in Verbindung mit einer anderen Wendung, nämlich in „περὶ ἕκαστα ἐνέργειαι“. Ich fasse die Aussagen in den Zeilen 1113b3 – 7 als ein Argument auf, dessen Konklusion der Satz in b6 – 7 angibt. Das ist nicht unstrittig, da in den meisten MSS in b6 anstelle der Folgerungspartikel „δή“ ein schlichtes „δέ“ überliefert ist, das nur indirekt (offenbar über den Paraphrasten) überliefert ist. Allerdings lassen sich die Zeilen auch ohne Folgerungspartikel als – erstes und vorläufiges – Argument verstehen. In diesem Fall wird vielleicht besser verständlich, weshalb das zweite Argument in 1113b7– 14 folgt: Dies ist dazu gedacht, dass erste Argument zu stützen, das Aristoteles möglicherweise für sich allein noch nicht als hinreichend überzeugend angesehen hat (vgl. zu einer ähnlichen Deutung: Donini 2010, 142– 146).
13.1 Einführung und Zurückweisung der Asymmetriethese: 1113b3 – 14
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willentlich sind, dann sind auch die Dispositionen, die daraus entstehen, willentlich. Dieser Lesart zufolge präsentiert Aristoteles hier also ein Argument für die Willentlichkeit des Charakters. Ich denke jedoch, dass der Ausdruck „αἱ τῶν ἀρετῶν ἐνέργειαι“ anders zu verstehen ist und dass infolgedessen auch ein wichtiger Grund für die Annahme, es gehe hier um die Willentlichkeit des Charakters, wegfällt. In der Tat versteht die Mehrzahl der Interpreten den Ausdruck „αἱ τῶν ἀρετῶν ἐνέργειαι“ so, dass damit Handlungen, die aus einem festen Charakter resultieren, bezeichnet werden.¹¹⁹⁷ Sprachlich ist dieses Verständnis nicht ausgeschlossen, auch wenn Irwins Hinweise zeigen, dass es eine ungewöhnliche Bezeichnung für solche Handlungen ist.¹¹⁹⁸ Entscheidend ist aber, dass der Kontext eindeutig für diese Deutung spricht.¹¹⁹⁹ Denn in den bisherigen Kapiteln von EN III ging es Aristoteles – mit Ausnahme der zweimaligen Erwähnung von Handlungen von Kindern und Tieren – ausschließlich darum, Handlungen zu bestimmen und zu diskutieren, die aus einem festen Charakter resultieren, und nicht solche, durch die der Charakter geformt wird. Das wird z. B. in Kapitel 6 deutlich, wo er über den Guten (spoudaios) und den Schlechten (phaulos) spricht; und da Kapitel 7 offensichtlich damit einsetzt, bisher Gesagtes aufzugreifen und zu resümieren, ist anzunehmen, dass er sich in seiner Analyse weiter auf Handlungen solcher Personen konzentriert, die über einen fest verankerten Charakter verfügen. Nähme man dagegen an, Aristoteles meine hier mit den Betätigungen der Tugenden mit einem Mal Handlungen, die zum Charaktererwerb führen, so wäre dies ein plötzlicher und völlig unvorbereiteter Wechsel im argumentativen Vorgehen.¹²⁰⁰ Das erscheint abwegig. Ich gehe daher davon aus, dass er hier über die Handlungen des Tugendhaften spricht, d. h. desjenigen, dessen Handlungen aus dem tugendhaften Charakter resultieren. Weiter unten in Kapitel 7 wird er sich freilich in der Tat auch noch Handlungen zuwenden, die zum Charaktererwerb führen. Aber an dieser Stelle ist die Frage der Charakterbildung noch nicht Gegenstand der Diskussion. Geht man von dieser Deutung aus, so ergibt sich jedoch eine Schwierigkeit, die Irwin vermeiden konnte: Das Argument in 1113b3 – 7 erweist sich bei wörtlichem Verständnis als eindeutig ungültig. Dass das Argument ohne ergänzende
Vgl. Ackrill 1978. Donini 2010, 144: „[…] ‚the activities of the virtuesʻ mentioned at 1113b5 must be the actions expressing the fully developed personality of a spoudaios“. Bobzien 2014, 97; Irwin 1999, 208. Vgl. auch Grant 1866, 26: „This is an unusual expression.“ Eine parallele Verwendung des Ausdrucks findet sich indes in 1173a14– 15. Hier folge ich der Deutung von Donini (Donini 2010, 144). Vgl. Donini 2010, 144.
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13 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit von Charakterdispositionen
Annahme ungültig ist, haben viele erkannt und darauf unterschiedlich reagiert.¹²⁰¹ Prägnant führt Meyer die Ungültigkeit des Arguments in ihrer Rekonstruktion vor Augen: [Meyer 2011]¹²⁰² (1) Actions concerning deliberation, decision, and wish are voluntary. (1113b3 – 5) (2) The activities of the virtues 〈and presumably also of the vices〉 concern deliberation and decision. (1113b5 – 6) (3) Therefore, „both virtue (aretê) and in the same way vice (kakia) are up to us.“ (1113b6 – 7)
Bei wörtlichem Verständnis schließt Aristoteles hier von der Willentlichkeit tugendhafter Handlungen auf die Willentlichkeit von Tugenden und Lastern, d. h. von Dispositionen bzw. Zuständen der Seele. Es ist kaum anzunehmen, dass er ein derart offensichtlich ungültiges Argument für eine solch wichtige Annahme vorbringt.¹²⁰³ Interpreten, die die ersten beiden Prämissen als Aussagen über Handlungen, die aus dem Charakter resultieren, verstehen, argumentieren daher meist dafür, dass die Konklusion anders zu verstehen ist:¹²⁰⁴ Demnach verwendet Aristoteles hier die Ausdrücke „ἀρετή“ und „κακία“ in lockerer Weise und bezeichnet damit tugendhafte und schlechte Handlungen.¹²⁰⁵ Dieser Vorschlag lässt sich untermauern, wenn man die folgenden Zeilen 1113b7– 14 hinzunimmt. Diese Zeilen sollen offenbar eine zusätzliche Begründung für die Konklusion in
Ackrill 1978, 224; Ott 2000, 69; Broadie 2002, 319 – 320; Donini 2010, 146. Meyer 2011, 130. Ackrill 1978, 224 ff. Anders deutet Ott das Argument. Er versteht das Argument als ein ad hominem-Argument gegen Platons Annahme in den Nomoi, nach der die Tugend willentlich und das Laster unwillentlich ist (Leg. 860d-861b). Die scheinbare Ungültigkeit des aristotelischen Arguments ist nach Ott darauf zurückzuführen, dass es sich um ein enthymematisches Argument handelt, dessen fehlende Prämisse sich aber leicht aufgrund des platonischen Arguments in den Nomoi ergänzen lässt: Zu ergänzen ist die Annahme, dass eine Handlung genau dann willentlich ist, wenn sie aus einem willentlichen Charakter resultiert (Ott nennt diese Annahme ‚strong link thesisʻ). Nach Ott verzichtet Aristoteles auf die Nennung dieser Annahme, weil sie sich vor dem platonischen Hintergrund von selbst versteht (vgl. Ott 2000, insb. 69). Aristoteles akzeptiert diese Annahme laut Ott selbst nicht, sondern nutzt sie nur zum Zwecke seines Arguments. Gegen Otts Verständnis des Arguments spricht, dass Aristoteles den Leser bzw. Zuhörer mit keinem Deut auf ein mögliches ad hominem-Argument hinweist; vielmehr gibt er hier offenbar seine eigene Meinung wieder. Dem Argument lässt sich außerdem auch auf andere Weise ein plausibler Sinn abgewinnen, ohne dass man eine derartige platonische Prämisse als vorausgesetzt annehmen muss. Meyer 2011, 130 – 131; Donini 2010, 146.
13.1 Einführung und Zurückweisung der Asymmetriethese: 1113b3 – 14
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1113b5 – 6 darstellen:¹²⁰⁶ Aristoteles leitet das Argument mit der Folgerungspartikel „γάρ“ ein, und die Schlussfolgerung des zweiten Arguments lautet ähnlich wie die vorherige: „[…] folglich [wird es] auch bei uns liegen, gut oder schlecht zu sein“ (1113b14). Direkt vor dieser Konklusion formuliert Aristoteles die Annahme, dass schöne oder hässliche Dinge zu tun dasselbe ist wie gut oder schlecht zu sein.¹²⁰⁷ Diese explizite Gleichsetzung von Gut-Sein und Gut-Handeln bzw. Schlecht-Sein und Schlecht-Handeln stützt die Vermutung, dass er auch im Argument zuvor unter Tugenden und Lastern gute und schlechte Handlungen verstanden hat. Damit wäre eine Möglichkeit aufgezeigt, wie sich das Argument in den Zeilen 1113b3 – 7 als formal gültiges interpretieren lässt. Allerdings irritiert die Identifizierung von Gut- resp. Schlecht-Sein mit guten resp. schlechten Handlungen erheblich, denn sie scheint der aristotelischen Auffassung von Tugenden und Lastern zu widersprechen:¹²⁰⁸ Danach sind Tugenden und Laster Dispositionen der Seele und sie sind strikt zu unterscheiden von Handlungen, und zwar sowohl von Handlungen, durch die sie erworben werden, als auch von Handlungen, die aus ihnen resultieren. Eine tugendhafte Handlung auszuführen, ist nach Aristoteles nicht hinreichend dafür, tugendhaft zu sein, denn es ist möglich, dass jemand wie ein Tugendhafter handelt, ohne tugendhaft zu sein (EN 1105b7– 9). Außerdem ist der Tugendhafte auch dann tugendhaft, wenn er gerade nicht seine Tugend betätigt wie z. B. im Schlaf (EN 1098b33 – 1099a3). Es ist also erklärungsbedürftig, weshalb Aristoteles sich hier eine derart lockere Terminologie durchgehen lässt.¹²⁰⁹ Er könnte sich dabei lediglich am üblichen Sprachgebrauch orientieren, da sich im Griechischen – wie übrigens auch im Deutschen – „gut sein“ im Sinn von „gut handeln“ verwenden lässt.¹²¹⁰ Ferner
Bobzien bringt eine etwas andere Deutung vor (Bobzien 2013, 2014a und 2014b): Sie versteht die Aussage in b6 – 7 als Angabe dessen, was mit dem folgenden Argument erwiesen werden soll. Es ist ein durchaus übliches Vorgehen der aristotelischen Dialektik, das Zu-Zeigende vorauszuschicken und den Beweis darauf folgen zu lassen. Letztlich besteht m. E. kein gewichtiger Unterschied zwischen dieser Deutung und dem Vorschlag, den ich präsentieren werde, da auch meinem Verständnis nach die Aussage in b6 – 7 als vorläufige Konklusion zu verstehen ist, die durch das Folgende gestützt werden soll. Ich gehe davon aus, dass Schön-Handeln und Gut-Handeln sowie Hässlich-Handeln und Schlecht-Handeln als gleichwertig anzusehen sind (vgl. Burnet 1900, 134: „The passage shows clearly that the various Attic equivalents for ἀγαθός and κακός are used without any distinction of meaning.“ Vgl. EN II 5 – 9; MM I 5 – 9; EE II 1– 5. Susemihl hat daher in den Addenda zu seiner Ausgabe von 1887 vorgeschlagen, den Satz „τοῦτο δ᾿ ἦν τὸ ἀγαθοῖς καὶ κακοῖς εἶναι“ in 1113b12 zu streichen. So kann man z. B. sagen „Peter war unmäßig“, womit man meint, dass Peter etwas Unmäßiges getan hat, weil er z. B. unmäßig getrunken hat. Vgl. Meyer 2011, 131.
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könnte er sich nach der Ausdrucksweise seiner Kontrahenten richten, die von der Gleichsetzung ausgehen. Dass Aristoteles hier auf eine gegenläufige Position reagiert, zeigt das Zitat, das direkt im Anschluss an die Konklusion in 1113b14– 17 folgt.¹²¹¹ Demzufolge ließe sich die explizite Gleichsetzung in 1113b13 – 14 sogar so auffassen, als wolle er damit die für ihn unübliche Terminologie unterstreichen und Missverständnissen vorbeugen. Ein Indiz dafür könnte sein, dass er im zweiten Argument anstelle der abstrakten singulären Terme „ἀρετή“ und „κακία“ substantivierte Infinitive verwendet, bei denen es näherliegt anzunehmen, dass sich die Ausdrücke nicht auf Dispositionen, sondern auf Handlungen, die aus den Dispositionen resultieren, beziehen.¹²¹² Schließlich könnte er auch bewusst zweimal den Singular verwendet haben, während er sonst als Bezeichnungen für Charakterdispositionen meist den Plural „ἀρεταί“ und „κακίαι“ verwendet.¹²¹³ In jedem Fall liegt die Vermutung nahe, dass in 1113b6 – 7 und 1113b14 entsprechende Ausdrucksweisen vorliegen: Wenn Aristoteles „Gut-Sein“ bzw. „SchlechtSein“ als Bezeichnung für gute und schlechte Handlungen verwendet, ist anzunehmen, dass er auch zuvor mit den abstrakten singulären Termen auf Handlungen, die aus Dispositionen resultieren, Bezug nimmt.¹²¹⁴ Damit ergibt sich, dass Aristoteles in den Zeilen 1113b3 – 14 zwei Argumente gegen die Asymmetriethese vorbringt. In beiden Argumenten lautet die Konklusion, dass schlechte Handlungen, die aus einem schlechten Charakter resultieren, in der gleichen Weise willentlich sind, wie gute Handlungen, die auf einem tugendhaften Charakter beruhen. Das zweite Argument lässt sich als zusätzliche Begründung des ersten Arguments verstehen. Das erste Argument könnte als noch nicht hinreichend und somit vorläufig erscheinen, weil es noch zu wenig deutlich wird, dass es keine Aussage über charakterliche Dispositionen, sondern über Handlungen, die aus dem Charakter resultieren, enthält. Das zweite Argument
Zu den Kontrahenten, die Aristoteles bei seinem Argument vor Augen hatte, zählen sicherlich Platon bzw. Sokrates. Er könnte sich mit der Gleichsetzung also auch an Platon orientiert haben. Das heißt jedoch nicht, dass das Argument bloß als ad hominem-Argument zu verstehen ist, denn die Konklusion – wenn sie als Aussage über gute und schlechte Handlungen verstanden wird – gibt m. E. Aristoteles’ eigene Ansicht wieder. Dies erwägt Donini (Donini 2010, 146): „[…] we could hypothesize that Aristotle, having realized the ambiguity of his language and precisely in order to exclude the possibility of a reference to habits, then added the lines 7– 14, carefully measuring the words in line 14 to avoid using the abstract nouns, virtue and vice, which might lead one to think of the habits of character.“ Bobzien 2014b, 98: „Aristotle’s use of the singular terms ‚virtueʻ and ‚viceʻ suggests that he is talking about virtue and vice as characteristics manifested in an action, and about the agent qua agent of the action, rather than about the character dispositions.“ Vgl. Meyer 2011, 131.
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liefert eine präzisere Begründung dafür und stützt daher das erste Argument.¹²¹⁵ Beide Argumente sind demnach nicht dazu gedacht, den Nachweis für die Willentlichkeit des Charakters zu erbringen. Vielmehr ist zweimaliges Argumentationsziel die Widerlegung der Asymmetriethese.¹²¹⁶
13.2 Vertritt Aristoteles eine indeterministische Position? (1113b7 – 8) Der erste Abschnitt von EN III 7 ist noch aus einem anderen Grund von zentraler Bedeutung und hat Anlass geboten zu einer überaus eifrigen und beständigen Rezeption. Der Satz, mit dem das zweite Argument für die Symmetriethese beginnt („Denn wenn zu handeln bei uns liegt, [liegt] auch nicht zu handeln bei uns und vice versa“), ist immer wieder als Beleg herangezogen worden, um Aristoteles eine indeterministische Position zuzuschreiben. Die Beharrlichkeit, mit der zu diesem Zweck auf den Satz in 1113b7– 8 verwiesen wurde und wird, steht dabei in markantem Gegensatz zu dessen Kürze und dessen fehlender Eindeutigkeit. Da dieses Sätzchen zur Rechtfertigung einer so zentralen These wie der Zuschreibung einer indeterministischen Position herangezogen wird, ist es eine nähere Untersuchung wert. Ich werde mich dabei überwiegend an der detallierten Analyse orientieren, die Bobzien zu diesem Satz vorgelegt hat und in der sie die häufig zu findende Zuschreibung des Indeterminismus zurückweist.¹²¹⁷ Der kurze Satz, um den es geht, lautet im griechischen Text wie folgt (1113b7– 8): ἐν οἷς γάρ ἐφ’ ἡμῖν τὸ πράττειν, καὶ τὸ μὴ πράττειν, καὶ ἐν οἷς τὸ μή, καὶ τὸ ναί·
Zu dem Satz sind in den Manuskripten keine Varianten überliefert. Eine im Englischen häufig zitierte Übersetzung des Satzes ist die von Rackham in der Loeb-Ausgabe:
Dies zeigt nochmals, dass sich meine Deutung von zwei aufeinanderfolgenden Argumenten in 1113b3 – 14, von denen das zweite das erste begründen und stützen soll, nicht wesentlich von Bobziens Vorschlag unterscheidet, die nur ein Argument annimmt, das in 1113b6 – 7 mit der Annahme, die es zu zeigen gilt, beginnt, worauf das eigentliche Argument in 1113b7– 14 folgt (Bobzien 2013, 2014a und 2014b). Meyer 2011, 131; Donini 2010, 146; Bobzien 2014b, 100. Bereits Loening hat dezidiert die Auffassung, wie sie z. B. Zeller vertreten hat, zurückgewiesen, dass Aristoteles die Annahme der Willensfreiheit im Sinn des Indeterminismus zuzuschreiben ist: vgl. dazu insbesondere die Kapitel 16 und 18 bei Loening (Loening 1903).
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[Rackham 1926] For where we are free to act we are also free to refrain from acting, and where we are able to say No we are also able to say Yes.¹²¹⁸
Mit welcher Begründung lassen sich die Zeilen 1113b7– 8 in dieser oder einer bloß stilistisch anderen Übersetzung¹²¹⁹ heranziehen, um Aristoteles eine indeterministische Position in Bezug auf den freien Entschluss (indeterministic free choice) zuzuschreiben? Unter Indeterminismus ist hier die Annahme zu verstehen, dass keine andere Ursache als die handelnde Person vollständig oder hinreichend determiniert, welchen Entschluss sie fasst. Sie hat zum Zeitpunkt ihres Entschlusses die Möglichkeit, sich so oder anders zu entschließen, ohne von anderen Ursachen dazu gezwungen oder daran gehindert zu werden (‚could-have-doneotherwiseʻ requirement).¹²²⁰ Jüngst hat Destrée mit Bezug auf unseren Satz die Ansicht vertreten, dass Aristoteles hier einen kausalen Indeterminismus annimmt:¹²²¹ Rackham 1926. Ähnlich übersetzt auch Taylor (Taylor 2006): „[…] where acting is up to us, not acting is up to us too, and where one can say No, one can also say Yes.“ Ebenso übersetzen in neueren englischsprachigen Übersetzungen auch die folgenden Autoren: Irwin 1999: „For when acting is up to us, so is not acting, and when no is up to us, so is yes“. Broadie/Rowe 2002: „For when acting depends on us, not acting does so too, and when saying no does so, saying yes does so too.“ Reeve 2014: „For where acting is up to us, so is not acting, and where saying ‚Noʻ is up to us, so is saying ‚Yesʻ.“ Bobzien führt eine Reihe von älteren Übersetzungen an, in denen ebenso eine derartige Übersetzung gewählt wird, wie z. B. bei Stahr 1863, R.Williams 1869, Peters 1881 und Ostwald 1962 (vgl. Bobzien 2014a, Anm. 29, 71). Als stilistische Varianten betrachte ich solche, die „ἐφ’ ἡμῖν“ z. B. mit „es liegt bei uns“ („it is up to us“), „fähig sein zu“, „frei sein zu“ oder anderen sachlich gleichwertigen Wiedergaben übersetzen. Dies ist freilich nicht die einzige Bestimmung des Indeterminismus und sie wird sicher nicht von allen geteilt. Meine Formulierung orientiert sich einerseits an Aristoteles, andererseits an den Annahmen von Vertretern der indeterministischen Position. Deshalb spreche ich von Indeterminismus in Bezug auf Entschlüsse und nehme keine vollständige Undeterminiertheit („keine andere Ursache determiniert vollständig und hinreichend, welchen Entschluss jemand fasst“) an (vgl. Bobziens Definition in: Bobzien 2014a). Destrée verwendet die Bezeichnung „could-have-done-otherwise requirement“; vgl. Destrée 2011. Als weitere Vertreter einer indeterministischen Deutung nennt Bobzien z. B. Rapp 1995a, 131: „Eine Handlung um ihrer selbst willen wählen, heißt gerade, daß wir diese Handlung und ihre immanenten Ziele selbst für zustimmungswürdig halten. Weil wir diese Zustimmung auch nicht geben könnten (III 7, 1113b7 ff.), sind wir für die Handlungen, die wir um ihrer selbst willen wählen, voll verantwortlich.“ Vgl. auch Broadie, die Aristoteles als „Proto-Indeterministen“ – in Abgrenzung zu einem Libertarianer – bezeichnet (Broadie 1991, 153– 159; hier: 158: „Aristotle may therefore be described as a ‚proto-indeterministʻ insofar as the determinist would reject a position like Aristotle’s, but not as a ‚libertarianʻ in the sense of one who knowingly takes a stand against determinism with regard to volition“).
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[Destrée 2011]¹²²² The first thing to be noted is the force of the expressions ‚saying Yesʻ, and ‚saying Noʻ: ‚For when acting depends on us, not acting does so too, and when saying No does so, saying Yes does so too.ʻ It is obvious that Aristotle is here relying on a common way of thinking about our actions: in any case where we can say Yes, we also have the very possibility of saying No. […] And since one always has the very possibility of saying either Yes, or No, it means that acting this or that way depends on the way one will answer in the given case. In sum, from the way Aristotle relies on the connection that we commonly presume between speaking (‚Yesʻ, ‚Noʻ) and action (compliance and refusal), it seems to be beyond any reasonable doubt, as Broadie very aptly says, that Aristotle assumes that ‚the agent is at least implicitly aware of the options as options (1991: 153), and that, one might add, the agent has the real possibility, or the choice, to go for one option instead of the other.
Destrées Argumentation für eine indeterministische Position hängt wesentlich von zwei Punkten ab, die beide auf einer interpretierenden Übersetzung des Satzes beruhen: Dies sind erstens das Hinzufügen von „saying“, zu dem sich keine einzige Entsprechung im griechischen Satz findet, und zweitens die Übersetzung von „μή“ mit „No“ („Nein“) in Verbindung mit „saying“. Dass der Satz im Griechischen nicht eindeutig ist, ist nicht zu bestreiten. Verantwortlich dafür ist die extrem verkürzte und elliptische Formulierung – insbesondere des zweiten Teils – des Satzes. Um die Schwierigkeit von Destrées Übersetzungswahl zu sehen, ist eine Wort-für-Wort-Wiedergabe des Griechischen hilfreich: Denn wo zu handeln bei uns liegt, [liegt] auch nicht zu handeln [bei uns], und das nicht [bei uns liegt], [liegt] auch das ja [bei uns].¹²²³
Im zweiten elliptischen Satzteil irritiert – im Griechischen wie im Deutschen – die Zusammenstellung von „τὸ μή“ und „τὸ ναί“ bzw. von „das nicht“ und „das Ja“. Als Gegenstück zu „τὸ ναί“ bzw. „das Ja“ erwartet man „τὸ οὐ“ bzw. „das Nein“. Dieses Problem übergehen alle, die mit „saying No“ übersetzen, da die wörtliche Übersetzung von „μή“ „(saying) Not“ lauten müsste. Außerdem ist die Ergänzung von „sagen“ erklärungsbedürftig, denn im Text steht kein entsprechender Aus-
Destrée 2011, 292. Die Ergänzungen in eckigen Klammern stehen nicht im griechischen Text, sind aber unstrittig. In meiner wörtlichen Wiedergabe weiche ich von Bobziens Vorgehen insofern ab, als ich im ersten und zweiten Satzteil zwei unterschiedliche syntaktische Rollen bzw. Funktionen von „τὸ“ annehme. Während Bobzien zwei wörtliche Übersetzungen anführt, die beide je eine der beiden möglichen syntaktischen Rollen von „τὸ“ für den ganzen Satz zugrunde legen, kombiniere ich die beiden Optionen und übersetze „τὸ“ je unterschiedlich: Im ersten Teil nimmt „τὸ“ die syntaktische Rolle einer Infinitivkonstruktion ein, im zweiten Teil ist es dagegen natürlicher, „τὸ“ als bestimmten Artikel aufzufassen (vgl. Bobzien 2013, 104– 105).
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druck und durch die Hinzufügung wird interpretierend in den Text in Richtung einer indeterministischen Annahme eingegriffen.¹²²⁴ Bobzien weist die Ergänzung zu Recht als ungerechtfertigt zurück: Weder bei Aristoteles noch überhaupt in einem griechischen Text, der im Thesaurus Linguae Graecae erfasst ist, kommen „τὸ μή“ und „τὸ ναί“ als direktes Gegensatzpaar und a fortiori nicht in einer expliziten oder impliziten Verbindung mit einem Verb des Sagens vor.¹²²⁵ Da sich die Übersetzung von Destrée somit in zwei zentralen Punkten als anfechtbar erweist, ist es geboten, nach einer Alternative zu suchen, die sich besser begründen lässt. Bobzien entwickelt eine solche, indem sie zuerst nach anderen Ergänzungen zu „τὸ μή“ und „τὸ ναί“ fragt. Als natürlich erscheint eine Ergänzung mit „πράττειν“. Es finden sich auch parallele Textstellen, in denen Aristoteles „μή“ in Verbindung mit „ἐφ’ ἡμῖν“ verwendet und „πράττειν“ zu ergänzen ist.¹²²⁶ Außerdem passt dies zum mehrmaligen Vorkommen von „πράττειν“ in den Zeilen 1113b7– 14. Nimmt man diese Ergänzung an, so ist aufgrund der parallelen Satzstruktur auch zu „τὸ ναί“ „πράττειν“ zu ergänzen. Dies bereitet allerdings Probleme, da sich bei dieser Ergänzung als Übersetzung „das ja Handeln“ ergibt, was im Deutschen ebenso unverständlich ist wie im Griechischen.¹²²⁷ Trotzdem haben viele Übersetzer und Kommentatoren den elliptischen Satz sachlich auf diese Weise verstanden, so dass die Aussage des Satzes ist, dass das Nicht-Handeln ebenso wie das Handeln bei uns liegt. Dieses Verständnis liegt jenen Übersetzungen zugrunde, die den Satzteil „τὸ μή καὶ τὸ ναί“ schlicht mit „vice versa“ oder Ähnlichem übersetzen, wie z. B. Wolf: „Denn wo es bei uns liegt zu handeln, liegt es auch bei uns, nicht zu handeln, und umgekehrt.“¹²²⁸ Die Eine mögliche Erklärung findet sich bei Taylor (Taylor 2006, 164). Er versucht die Ergänzung mit Hilfe einer Textstelle in EN VI zu erklären (EN VI 2, 1139a21– 22: „Was beim Denken Bejahung und Verneinung sind, sind in der Strebung Verfolgung und Flucht.“ [ἔστι δ᾿ ὅπερ ἐν διανοίᾳ κατάφασις καὶ ἀπόφασις, τοῦτ᾿ ἐν ὀρέξιν δίωξις καὶ φυγή·]). Die Stelle zeigt aber nicht, dass Aristoteles Handeln als eine Art des Bejahens auffasst, sondern nur, dass Handeln und Bejahung im Denken etwas gemeinsam haben (Bobzien 2013, 107). Bobzien 2013, 105 – 107; Bobzien 2014a, 65 – 66. In dialektischen Kontexten finden sich zwar Formulierungen, die Verben des Sagens mit griechischen Ausdrücken für „ja“ und „nein“ kombinieren. Allerdings fehlen hier die bestimmten Artikel, es steht die Negation „οὐ“ und überdies sind die Beispiele nicht ohne Weiteres auf den ethischen Kontext übertragbar. EN III 1, 1110a17– 18: „Und bei Handlungen, bei denen die Bewegungsursache im Handelnden liegt, liegt es bei ihm, zu handeln oder nicht [zu handeln] [Hervorhebung BL]“ [ὧν δ’ ἐν αὐτῷ ἡ ἀρχή, ἐπ’ αὐτῷ καὶ τὸ πράττειν καὶ μή] sowie EN VII 1143a8 – 9. Bobzien 2013, 110: „τὸ ναί seems not to square straightforwardly with τὸ μή, no matter how interpreted. Any interpreter is saddled with this issue.“ Bobzien nennt auch Gauthier/Jolif als Beispiel, was mir jedoch fragwürdig erscheint. Zwar übersetzen sie an der Stelle zunächst mit „et réciproquement“, fügen danach aber noch „là où le non est on notre pouvoir, le oui l’est aussi“ hinzu, womit sie zumindest das von Bobzien kritisierte
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vice versa-Übersetzung spiegelt gut die extreme Knappheit des Griechischen wider. „τὸ ναί“ wäre hiernach als emphatisches Gegenstück zu „nicht zu handeln liegt bei uns“ im Sinn von „dann [liegt] auch zu handeln bei uns“ zu verstehen. Fragwürdig daran ist jedoch, dass es keine antiken griechischen Parallelen zu einem solchen emphatischen Gebrauch von „τὸ ναί“ gibt. Es finden sich höchstens verschiedene Parallelen im byzantinischen Griechisch, so dass sich zumindest sagen lässt, dass die elliptische Formulierung im Griechischen ein Verständnis im Sinn der vice versa-Übersetzung zulässt, auch wenn zu berücksichtigen ist, dass das byzantinische Griechisch kaum als zufriedenstellender Beleg für das klassische Griechisch taugt.¹²²⁹ Ferner beruft Bobzien sich zur Illustration auf das heutige Deutsch, wo sich eine Parallele zu der abkürzenden Verwendung von „ναί“ in Gestalt des emphatischen „doch“ findet – in diesem Sinn ist der Satz in 1113b7– 8 wie folgt zu übersetzen:¹²³⁰ (SB) Denn wenn es bei uns liegt zu handeln, [liegt es] auch [bei uns] nicht zu handeln, und wenn [es bei uns liegt] nicht [zu handeln], dann doch auch [zu handeln] [Hervorhebung BL].
Dieser Alternativvorschlag hat mehrere sprachliche Vorzüge gegenüber der Übersetzung von Destrée u. a.: Er ist nicht auf ein Hinzufügen eines Verbs des Sagens angewiesen, er bewahrt die Bedeutung von „μή“ („nicht“) und es finden sich Parallelen zum abkürzenden Gebrauch von „ναί“. Außerdem spricht ein sachlicher Grund für diese Deutung: Die Übersetzung (SB) macht nämlich verständlich, weshalb Aristoteles den Satz möglicherweise formuliert. Er könnte den Zweck haben, die Zweiseitigkeit (two-sidedness) als zentrales Element in der logischen Struktur des Ausdrucks „etwas liegt bei jemandem“ (ἐπί + Dativ) zum Ausdruck zu bringen: Verständnis nahelegen. Mit „vice versa“ übersetzt beispielsweise Hardie (1980, 178), und auch Bobzien befürwortet am Ende diese Übersetzung. Bobzien weist den Gebrauch der Phrase „τὸ ναί“ im Sinn einer entsprechenden emphatischen Abkürzung beim Grammatiker Georgius Choeroboscus aus dem 9. Jh. nach, außerdem bei Eustratius von Nicea (ca. 1050/1060 – ca. 1120) und bei Manuel II Palaelogus (1350 – 1425) (vgl. Bobzien 2013, 111– 112; Bobzien 2014a, Anm. 19, 68). Bobzien gibt die deutsche Übersetzung als Beleg für den emphatischen Gebrauch eines abkürzenden „ναί“ an (Bobzien 2013, 112; Bobzien 2014a, 68). Daher verwende ich die Initialen Bobziens (SB), um darauf Bezug zu nehmen. Ich weiche jedoch von ihrem Vorschlag in zwei Punkten ab: Erstens ist ihre Wortstellung im letzten Teil des deutschen Satzes nicht korrekt („dann auch doch“), und zweitens setzt sie anstelle der drei letzten eckigen Klammerpaare doppelte eckige Klammern mit dem Hinweis, diese seien nicht erforderlich, damit der Satz sinnvoll ist. Ich halte den Satz ohne diese Ergänzungen für unverständlich und setze daher einfache Klammern.
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[Bobzien 2013]¹²³¹ Aristotle never provides a philosophical account of what it is for something to be ἐφ’ ἡμῖν (as he does of the voluntary, deliberation, choice, virtue, etc.). He uses ἐφ’ ἡμῖν and other ἐπί + dative personal pronoun constructions as expressions of ordinary language which are generally understood by speakers of the language. In reading (SB), [the sentence in 1113b7– 8] makes explicit something people who speak the language assume: that doing something is up to us if and only if not doing it is up to us, too.
Aristoteles weist zwar wiederholt auf die Zweiseitigkeit der Wendung „ἐφ’ ἡμῖν“ hin,¹²³² gebraucht sie im Allgemeinen aber bloß als einen geläufigen Ausdruck der Umgangssprache und verzichtet darauf, dieses Merkmal explizit zu machen. Das könnte – wenn auch zugegebenermaßen auf versteckte Weise – in dem elliptischen Satz in 1113b7– 8 geschehen. Gemäß dem Verständnis in (SB) leistet der Satz in 1113b7– 8 auch einen wichtigen Beitrag für das Argument als Ganzes. Das erste Argument schließt, wie ich angenommen habe, mit der Konklusion in 1113b6 – 7 („Auch die Tugend liegt (also) bei uns, und in gleicher Weise die Schlechtigkeit.“). Diese Schlussfolgerung hält Aristoteles möglicherweise noch für vorläufig und nicht ausreichend begründet; vielleicht wegen der vermeintlichen Gleichsetzung von tugendhaften und lasterhaften Handlungen und Dispositionen. Deswegen reicht er womöglich ein zweites Argument zur Präzisierung und Stützung nach. Das zweite Argument soll eine Begründung für das erste darstellen (gar), und seine Konklusion enthält sinngemäß fast dieselbe Aussage wie diejenige des ersten Arguments („[…] folglich [wird es] auch bei uns liegen, gut oder schlecht zu sein.“).¹²³³ Das zweite Argument beginnt mit ebenjenem intrikaten Satz in b7– 8, der als dessen erste Prämisse fungiert. Mit deren Hilfe argumentiert Aristoteles als erstes für eine Zwischenkonklusion (eingeleitet mit „ὥστε“) in 1113b8 – 11. Diese entspricht in Inhalt und Aufbau genau der ersten Prämisse (SB) mit dem einzigen Unterschied, dass jene durch evaluative Attribute angereichert ist. Das Ergänzen der evaluativen Attribute erklärt sich mit dem Kontext der Textstelle. In Kapitel 7 bringt Bobzien 2013, 113. Hinweise auf die Zweiseitigkeit sind auch in den Passagen, die ich bereits diskutiert habe, vorgekommen, so z. B. in EE 1225a9 – 10; 1225b35 – 36; 1226a27– 28; 1226b30 – 31 sowie in EN 1110a17– 18, 1115a2– 3. Bobzien versteht die argumentative Struktur anders. Ihr zufolge formuliert Aristoteles in b6 – 14 nur ein Argument. Der Satz in b6 – 7 schickt die zu zeigende Annahme voraus (ist also nicht Konklusion eines ersten Arguments, das in b3 beginnt), während die Zeilen 1113b7– 14 die Begründung liefern und die Konklusion in 1113b14 die Annahme wiederholt. Das, was gezeigt werden soll, vorauszuschicken, ist ein übliches dialektisches Vorgehen bei Aristoteles. Allerdings hat diese Lesart die Schwierigkeit, zufriedenstellend zu erklären, welchen Beitrag die Zeilen b3 – 6 leisten. Deswegen gehe ich von zwei sich ergänzenden Argumenten aus.
13.2 Vertritt Aristoteles eine indeterministische Position? (1113b7 – 8)
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Aristoteles erstmalig seit dem Anfang von Buch III (1109b30 – 31) Willentlichkeit, Handlung und Tugend zusammen. Es geht nun darum, aufgrund des Gesagten nachzuweisen, in welcher Weise Tugenden und Laster in Handlungen, die bei uns liegen, realisiert werden, so dass die handelnde Person wegen der Handlung Lob oder Tadel für ihren Charakter verdient. Relevant für den Kontext ist also der moralische Aspekt von Tugenden und Lastern, der in Handlungen zum Ausdruck kommt; diesen steuert die mit evaluativen Prädikaten angereicherte Version bei.¹²³⁴ Dabei ist diese Version genau parallel aufgebaut wie der Satz in 1113b7– 8: Aristoteles gibt die vier möglichen Kombinationen von Handeln und Nicht-Handeln mit tugendhaftem und lasterhaftem (bzw. schönem und hässlichem)¹²³⁵ Handeln an und beginnt dabei jeweils mit der tugendhaften Seite. Dies erklärt nebenbei auch, weshalb im elliptischen Satzteil die negative der positiven Seite vorausgeht („τὸ μή καὶ τὸ ναί“). Die Übersetzung (SB) ist also aus sprachlichen wie sachlichen Gründen einer Übersetzung wie jener von Destrée vorzuziehen. Was heißt das nun für die Frage, ob Aristoteles eine indeterministische Position zuzuschreiben ist? Der Satz, auf den sich Befürworter einer solchen Zuschreibung häufig stützen, gibt eine solche Deutung nicht her, da die Zuschreibung auf einer Übersetzungsentscheidung beruht, die abzulehnen ist. Dass es bei uns liegt, zu handeln oder nicht zu handeln, heißt nicht, dass wir kausal indeterminiert sind in Bezug darauf, ob wir uns zum Handeln oder zum Nicht-Handeln entschließen. Das „ἐφ’ ἡμῖν“ bringt nur die Zweiseitigkeit des Entschlusses und des Handelns zum Ausdruck. Das heißt nicht, dass die handelnde Person die freie Wahl hat, sich für das Handeln oder für das Nicht-Handeln zu entschließen; es bedeutet vielmehr, dass es ohne äußere Ursachen und im Rahmen der Kontextbedingungen von der handelnden Person, d. h. von ihrer charakterlichen Verfasstheit zum Zeitpunkt des Entschlusses, abhängt, ob sie sich zum Handeln oder zum Nicht-Handeln entschließt. Zu einem solchen Fazit kommt auch Bobzien:¹²³⁶
Bobzien 2014b, 99: „The purpose of 1113b7– 14 is then to set out how the moral aspects of the virtues and vices (that which makes them virtues or vices) are manifested in action in such a way that praise and blame can be attached to the agents for the resulting noble or base action (qua noble or base action).“ In den Aufsätzen zum Satz 1113b7– 8 von 2013 und 2014a scheint Bobzien dagegen anzunehmen, dass Aristoteles hier für die Willentlichkeit von tugend- und lasterhaften Dispositionen argumentiert (vgl. Bobzien 2013, 114; 2014a, 69). Dieses mögliche Missverständnis räumt sie im Beitrag 2014b jedoch aus (2014b, 98): „Aristotle’s use of the singular terms ‚virtueʻ and ‚viceʻ suggests that he is talking about virtue and vice as charateristics manifested in an action, and about the agent qua agent of the action, rather than about the character dispositions.“ Sie stimmt diesbezüglich also mit Meyer überein. Vgl. meine Anm. 1207, S. 457. Bobzien argumentiert in diesem Artikel, dass das Problem von kausalem Determinismus und Entschlussfreiheit erst durch eine irrtümliche Vermengung der aristotelischen Konzeption
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[Bobzien 1998]¹²³⁷ […] Aristotle’s concept of what depends [on] us does not entail indeterminism. We have no reason to assume that he has anything more in mind than that the things that depends [sic!] on us are those which on a generic level it is possible for us to do and not to do, given that we are not externally prevented from doing them. In the two Ethics, all the concept of what depends on us does is give the general range of courses of action from which we can choose. The concept is independent of (and prior to) Aristotle’s concept of deliberate choice, and of any mental capacity we have. It is taken as a basic concept, undefined and generally understood, by means of which the scope of the objects of deliberate choice is determined.
13.3 Der aristotelische Kompatibilismus: 1113b14 – 21 Die Frage, ob Aristoteles eine indeterministische Position zuzuschreiben ist, ist indessen mit einer anderslautenden Interpretation des Satzes in 1113b7– 8 noch nicht erledigt. Auch die nächsten Zeilen 1113b14– 21 werden als Nachweis für den Indeterminismus herangezogen, der sich nicht mit der Annahme eines kausalen Determinismus vereinbaren lässt. Jedoch ist auch diese Zuschreibung umstritten: Die Textstelle wird nämlich gleichermaßen als Beleg für eine kompatibilistische Position herangezogen, derzufolge Aristoteles kein indeterministischer Freiheitsbegriff zuzusprechen ist, sondern ein deterministischer, der indes mit dem kausalen Determinismus vereinbar ist. Der Abschnitt beginnt damit, dass Aristoteles eine Aussage zitiert, der er im ersten Teil beipflichtet, die er im zweiten Teil aber zurückweist. Sie lautet: „Niemand ist willentlich schlecht oder unwillentlich glückselig.“ Der Anonyme Kommentator schreibt die Redewendung dem Komiker Epicharmos (5. Jh.) zu.¹²³⁸
von freiem Entschluss und Handlung mit stoischen Ansichten zum kausalen Determinismus und zur moralischen Verantwortung „entdeckt“ worden ist. Erst bei Alexander von Aphrodisias finde sich ihr zufolge eine eigentliche Theorie der Entschlussfreiheit und eine Thematisierung des sog. „Problems des freien Willens“.Vgl. auch Dihle 1982; M. Frede 2011, 29: „[The] choice one makes in Aristotle is not, at least necessarily, a choice between doing X and not doing X, let alone a choice between doing X and doing Y. It is a matter of choosing to do X or failing to choose to do X, such that X does not get done.“ Frede schreibt Alexander einen indeterministischen Freiheitsbegriff zu; vgl. 97– 98: „[Alexander] is willing to claim that under identical conditions, both internal and external, that is to say, under the same external circumstances and the same internal conditions of the mind, it is still possible to choose and to act otherwise (De fato 192, 22 ff.).“ Vgl. dazu auch Lienemann 2012. Bobzien 1998, 144. Anon. in Eth. Nic. CAG XX 155.10. Dasselbe Zitat kommt auch im unechten platonischen Dialog „Über das Gerechte“ (Peri dikaiou) vor (Grant 1866, 27). Sinngemäß findet sie sich häufig in
13.3 Der aristotelische Kompatibilismus: 1113b14 – 21
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Im poetischen Kontext hatte sie vermutlich eine andere Bedeutung, als sie bei Aristoteles erhält: Anfänglich ist „πονηρός“ wohl in der Bedeutung unglücklich zu verstehen; wenn man dazu die Bedeutung von „ἄκων“ im Sinn von gern bedenkt, erhält der erste Teil der Aussage einen naheliegenden Sinn.¹²³⁹ Aristoteles’ Ablehnung der Aussage hingegen fusst darauf, dass er „πονηρός“ wie sonst auch im Sinn von schlecht verwendet. Eine Begründung für seine Zurückweisung hat er bereits mit den beiden vorherigen Argumenten für die Symmetriethese geliefert. Aristoteles fährt darauf mit dem Einwand eines kausalen Deterministen fort. Indem dieser davon ausgeht, dass alle Handlungen durch Ursachen determiniert sind, die außerhalb der handelnden Person liegen, bestreitet er, dass „der Mensch Ursprung und Erzeuger seiner Handlungen wie seiner Kinder ist“. Welche Art von externen determinierenden Ursachen der imaginierte Opponent annimmt, ist hier nicht weiter spezifiziert. Man sollte zunächst nicht nur an eine äußere Bewegungsursache denken, wie sie bei gewaltsamen Handlungen vorliegt (vgl. 1110a1), sondern die Bezeichnung in einem weiten Sinn auffassen, so dass zu den möglichen Ursachen so Unterschiedliches wie die genetische Konstitution, Kontextbedingungen des Erziehungsprozesses oder der Zustand des Universums zusammen mit den Kausalgesetzen gezählt werden können.¹²⁴⁰ Aristoteles merkt an, dass er zuvor behauptet hat, was der Opponent hier bestreitet: „Es scheint also, dass der Mensch […] die Ursache der Handlungen ist (1112b31– 32).“¹²⁴¹ Er macht unmissverständlich deutlich, dass er an dieser Annahme festhalten will, und fügt explizit hinzu, dass sich demnach Handlungen „nicht auf andere Ursprünge neben denen, die in uns liegen, zurückführen lassen“. Die Antwort, mit der er den Einwurf des kausalen Deterministen zurückweist, ist sehr unterschiedlich gedeutet worden: Sie wird einerseits als Beleg für eine indeterministische Position zitiert. Andererseits wird sie auch in einem schwächeren Sinn gedeutet, in dem sie mit der Annahme eines kausalen Determinismus kompatibel ist.¹²⁴² Wiederum bin
den platonischen Dialogen, z. B. in Prot. 345d-e, Men. 77– 78, Gorg. 475e, Gorg. 509e, Leg. 860d1– 861e3. Vgl. Grant 1866, 27; Burnet 1900, 134; Stewart 1892, 275; Loening 1903, 255 – 256; Gauthier/ Jolif 1970, 213; Taylor 2006, 165. Auf den poetischen Ursprung des Zitats ist auch der Änderungsvorschlag von Victorius zurückzuführen, der das in den MSS überlieferte „μακάριος“ durch „μάκαρ“ ersetzt, um einen iambischen Vers zu erhalten. Taylor 2006, 166. Vgl. auch 1113a5 – 7: „Jeder hört nämlich auf zu untersuchen, wie er handeln soll, wenn er den Ausgangspunkt der Handlung auf sich zurückgeführt hat, und zwar auf den leitenden Teil in sich, denn dieser ist es, der sich entschließt.“ Die Kontroverse, ob Aristoteles eine indeterministische oder eine deterministische Position vertreten hat, reicht zurück bis in die Antike. So hat Cicero Aristoteles in De Fato als Deterministen klassifiziert, während Alexander von Aphrodisias ihn in seiner Schrift De Fato als Indeterministen
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13 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit von Charakterdispositionen
ich der Ansicht, dass die Stelle die Zuschreibung des Indeterminismus nicht verlangt und möglicherweise nicht einmal erlaubt. Die Kontroverse um ihre richtige Deutung lohnt eine Untersuchung, da sie für das Verständnis der aristotelischen Konzeption von moralischer Zurechnung bzw. Verantwortung zentral ist. Die Debatte, ob Aristoteles eine indeterministische Position zuzuschreiben ist oder nicht, betrifft die Frage, wie es zu verstehen ist, dass der Ursprung einer Handlung in uns liegt und sie nicht auf andere Ursprünge daneben zurückführbar ist. Vertreter einer indeterministischen Deutung fassen diese Aussage im unbedingten Sinn auf (unconditional interpretation), wonach willentliche Handlungen nur durch Ursachen, die in der handelnden Person liegen, und durch keine anderen externen Ursachen, wie z. B. durch die natürliche Beschaffenheit oder die Erziehung einer Person, bedingt sind. Die handelnde Person ist somit die unbedingte Ursache (uncaused cause) ihrer Handlung. Es liegt zum Zeitpunkt ihrer Handlung allein bei ihr, ob sie so oder anders handelt.¹²⁴³ Anhänger einer bedingten Lesart gehen dagegen davon aus, dass die Handlung einer Person zwar nicht gewaltsam, d. h. durch eine äußere Bewegungsursache, zu der die handelnde Person nichts beiträgt (1110a1– 3), zustande kommt. Gleichwohl ist die Handlung durch die Strebungen und Meinungen der handelnden Person bedingt. Ihre Strebungen und Meinungen sind durch ihren Charakter determiniert. Der Charakter ist als eine interne Ursache anzusehen, da er von der handelnden Person abhängt und nicht extern erzwungen ist. Dass derart konträre Ansichten zu Aristoteles’ Theorie vertreten werden, rührt daher, dass seine Bemerkungen
hinstellt. Die Vielfalt gegenläufiger Ansichten setzt sich auch in der neuren und neusten Literatur fort. Loening führt 1903 mehr als ein Dutzend Verfechter einer indeterminierten Willensfreiheit an (Loening 1903, Anm. 2 und 3, 275 – 276) und Wittmann zählt knapp 20 Jahre später über 20 Anhänger auf (Wittmann 1921, 4– 5). In der jüngeren Literatur wird Aristoteles zwar seltener eine indetermistische Position zugeschrieben; aber es lassen sich eine Reihe von Autoren nennen, denen diese Auffassung zuzuschreiben ist, auch wenn sich deren Auffassungen im Detail unterscheiden: Sorabji 1980, Natali 2004 (Kap. 8 und 9), Broadie 1991; Destrée 2011. Eine deterministische Position wird Aristoteles dagegen um die Wende vom 19. zum 20. Jh. z. B. zugeschrieben von: Loening 1903 oder Gomperz 1896. Am Ende des 20. Jahrhunderts findet sich diese Zuschreibung in: Roberts 1989, Everson 1990, Bobzien 1998, Donini 2010 und Meyer 2011. Ich unterscheide hier in Anlehnung an Hardie zwischen einer bedingten und einer unbedingten Interpretation (Hardie 1980, 178). In ähnlicher Weise hat auch Joachim eine Unterscheidung zwischen zwei möglichen Deutungen vorgenommen, für die sich jeweils unterschiedliche Indizien anführen lassen. Zur Stützung der unbedingten Interpretation verweist Joachim auf De Int. 9, während auf die bedingte Deutung Stellen hindeuten, an denen Aristoteles den Entschluss einer Person als Ausdruck ihres Charakters bestimmt (Joachim 1951, 110 – 111).
13.3 Der aristotelische Kompatibilismus: 1113b14 – 21
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nicht eindeutig sind und sich Anhaltspunkte sowohl zugunsten der unbedingten als auch der bedingten Interpretation anführen lassen.¹²⁴⁴ Mit der Frage, ob Aristoteles von einem indeterministischen oder einem deterministischen Begriff von Willentlichkeit ausgeht, ist die Frage verbunden, welcher Begriff von Verantwortung bzw. Zurechnung ihm zuzuschreiben ist. So sind manche, wie z. B. Roberts, der Auffassung, dass moralische Verantwortung einen indeterministischen Begriff der Willentlichkeit verlangt:¹²⁴⁵ Wenn sich zeigen sollte, dass der aristotelische Begriff von Willentlichkeit entweder deterministisch¹²⁴⁶ zu verstehen ist oder dessen Indeterminiertheit nicht konsistent konzipiert ist,¹²⁴⁷ so läßt sich dieser Auffassung zufolge Aristoteles höchstens ein Begriff von kausaler Verantwortung, nicht aber von moralischer Verantwortung zuschreiben. Andere dagegen, die Aristoteles einen deterministischen Begriff von Willentlichkeit zusprechen, argumentieren dafür, dass dieser hinreicht als Grundlage für moralische Verantwortung.¹²⁴⁸ Die beiden Fragen – ob Aristoteles ein deterministischer oder ein indeterministischer Begriff von Willentlichkeit zuzuschreiben ist, und ob der jeweils als adäquat identifizierte Begriff von Willentlichkeit für moralische Verantwortung hinreicht – sind dabei als voneinander unabhängig zu betrachten: Unter den Verfechtern eines deterministischen Begriffs von Willentlichkeit finden sich sowohl solche, die Aristoteles aufgrund dessen einen Begriff der moralischen Verantwortung zuschreiben (z. B. Loening, Meyer, Brickhouse), als auch solche, die darin den Grund sehen, Aristoteles einen solchen abzusprechen (Roberts, B. Williams, Cooper). Und von jenen, die Aristoteles einen indeterministischen Begriff von Willentlichkeit zuschreiben, sehen einige diesen als hinreichend für moralische Verantwortung an (Destrée, Sorabji), andere dagegen halten ihn für unzureichend und meinen, dass Aristoteles’ Begründung moralischer Verantwortung scheitert (Furley). Ich werde im Folgenden
Vgl. Joachim 1951, 110; Hardie 1980, 178. So z. B. Roberts 1989, 25: „[Aristotle’s] notion of voluntariness, which isolates one particular kind of cause or explanation, does not coincide, as far as I can see, with any later notion of moral responsibility.“ Die gleiche Annahme findet sich z. B. auch bei B. Williams 1985, Everson 1990, 99 und Cooper 2013. Auch Furley nimmt an, dass ein interner Ursprung andere externe Faktoren, wie z. B. die Eltern, ausschließt (Furley 1967). Roberts vertritt die Ansicht, dass Aristoteles wegen seines deterministischen Begriffs von Willentlichkeit kein Begriff von moralischer Verantwortung zugeschrieben werden kann (Roberts 1989). Vgl. auch B. Williams 1985. Diese Ansicht lässt sich Gauthier/Jolif (Gauthier/Jolif 1970, 215, 219) sowie Furley zuschreiben. Furley fasst Aristoteles’ Bestimmung von Willentlichkeit indeterministisch auf, wendet aber ein, dass Aristoteles dabei determinierende Faktoren ignoriert hat (Furley 1967, 194).Vgl. das Zitat auf S. 480. So z. B. Loening und Meyer.
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13 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit von Charakterdispositionen
die verschiedenen Positionen anhand von exemplarischen Vertretern umreißen und ausführen, weshalb ich den aristotelischen Begriff von Willentlichkeit als deterministisch verstehe und als hinreichend für moralische Verantwortung auffasse. Im letzten Abschnitt habe ich Destrée als Vertreter einer indeterministischen Interpretation behandelt und ausgeführt, weshalb eines seiner zentralen Argumente dafür keine ausreichende Grundlage im Text hat.¹²⁴⁹ Ein Befürworter einer schwächeren indeterministischen Lesart ist Sorabji. Er vertritt die Ansicht, dass Aristoteles’ Begriff von Willentlichkeit zwar mit kausaler Verursachung vereinbar ist, aber Notwendigkeit ausschließt und deshalb in einem moderaten Sinn indeterministisch ist.¹²⁵⁰ Ihm zufolge schließen die Wendungen, dass „etwas bei uns liegt“ (eph’ hêmin) bzw. dass „der Ursprung in uns liegt“ (archê en hêmin), Notwendigkeit aus: [Sorabji 1980]¹²⁵¹ Concerning the first [sc. ἐφ᾿ ἡμῖν], Aristotle says at NE III [7], 1113b7– 8 that what is up to us to do, is equally up to us to refrain from doing (similarly Phys.VIII 4, 255a8 – 10). So here he sees the dual possibility of acting or not acting which is incompatible with necessity. […] The concept of an action being up to us is connected in its turn with the concept of our being, or having within us, the ‚originʻ (archê) of the action. This again implies a dual possibility in the case of humans: whenever we are, or have within us, the origin, then it is up to us to perform the action (III [7], 1113b20 – 21, 1114a18 – 19), or to refrain (III 1, 1110a17; EE II 6, 1223a2– 7), and the action cannot be necessary (NE VI 4, 1140a10 – 16).
Sorabji geht davon aus, dass eine Person sich zum Zeitpunkt ihrer Handlung frei dazu entschließen kann, ob sie handelt oder nicht. Beide Möglichkeiten stehen ihr zu diesem Zeitpunkt offen; es ist nicht kausal determiniert, ob sie handelt oder nicht. Dieses Verständnis scheinen manche von Aristoteles’ Formulierungen, auf die sich Sorabji beruft, in der Tat nahezulegen.¹²⁵²
Andere Argumente von Destrée stützen sich auf andere scheinbare textliche Evidenzen wie die Verwendung der Wendung „die Ursache liegt in der handelnden Person“ sowie des Ausdrucks „kyrios“ und des Verbs „exestin“. Auf den Verweis auf diese Beispiele lässt sich jedoch ebenfalls erwidern, dass sie keine indeterministische Lesart verlangen. Vgl. dazu auch die folgenden Erläuterungen zur Rede von einer „internen Ursache“. Vgl. Sorabji 1980, Kap. 14, hier 233: „I have so far combatted the idea that Aristotle thinks of human action as involving a break in causation. I see no clear evidence of this. The other half of my claim, however, is that he does perceive a failure in necessitation. He does not regard our actions as having been necessary all along“. Sorabji 1980, 234. EN 1, 1110a17– 18: „Und bei Handlungen, bei denen die Bewegungsursache im Handelnden liegt, liegt es bei ihm, zu handeln oder nicht [zu handeln].“ sowie EE II 6, 1223a4– 7: „Daher ist
13.3 Der aristotelische Kompatibilismus: 1113b14 – 21
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Dem halten Befürworter einer Interpretation im Sinn einer bedingten Freiheit entgegen, dass sich die Wendungen „ἐφ᾿ ἡμῖν“ sowie „ἀρχὴ ἐν ἡμῖν“ auch anders verstehen lassen. Dass eine Handlung bei einer Person liegt bzw. ihren Ursprung in ihr hat, bedeutet demnach, dass es maßgeblich vom individuellen Charakter der Person zum Zeitpunkt der Handlung abhängt, ob sie so oder anders handelt. Gewiss hängt es anteilig auch von der individuellen Natur der handelnden Person ab, wie sie handelt; aber worauf es dabei m. E. ankommt, ist, dass die individuelle Natur jedem einen gewissen Spielraum zur individuellen charakterlichen Gestaltung lässt, und es die Ausprägung des individuellen Charakters ist, die dafür entscheidend ist, ob und wie eine Person in einer bestimmten Situation handelt. Ferner ist eine Person nicht durch eine externe Ursache zum Handeln gezwungen. Gleichwohl ist es in bestimmter, signifikanter Hinsicht determiniert, ob und wie sie handelt. Aber weil die Ursache, die determiniert, ob und wie sie handelt, zu einem signifikanten Teil eine interne ist – nämlich ihr Charakter bzw. ihre charakterbedingten Strebungen und Meinungen –, liegt es gleichwohl an ihr und hat einen internen Ursprung, ob sie handelt oder nicht.¹²⁵³ Everson beispielsweise stützt seine Erklärung, was es heißt, dass eine Handlung bei der handelnden Person liegt, auf den Unterschied zwischen der allgemeinen Natur des Menschen (bzw. von Lebewesen im Allgemeinen) und dem individuellen Charakter eines bestimmten Menschen.¹²⁵⁴ Die allgemeine Natur ist angeboren und kommt allen (normalen) Mitgliedern einer Spezies zu; sie sagt nichts über den individuellen Charakter eines Menschen aus. Affekte und Handlungen, die durch die allgemeine menschliche Natur verursacht sind, liegen nicht beim Menschen und verdienen weder Lob noch Tadel. So ist z. B. die Fähigkeit, Furcht oder Zorn zu empfinden, angeboren und natürlich. Dagegen beruht es auf dem individuellen Charakter einer Person, dass sie in einer bestimmten Situation und in einem bestimmten Maß Furcht oder Zorn empfindet. Wann und wovor sich jemand fürchtet oder wie stark und wem gegenüber jemand Zorn verspürt, sagt etwas über den Charakter des Einzelnen aus und dafür sind Lob und Tadel angemessen.¹²⁵⁵ klar, dass es bei allen solchen Dingen, deren Ursprung der Mensch ist und über die er Kontrolle hat, möglich ist, dass sie geschehen oder nicht [geschehen], und bei diesen Dingen, bei denen es bei ihm liegt, ob sie geschehen oder nicht, er die Kontrolle darüber hat, dass sie sind oder nicht sind.“ Everson 1990, 90. Everson 1990, 93. Everson spricht zwar von der individuellen Natur einer Person in Abgrenzung zur allgemeinen Natur des Menschen; aber seine Ausführungen zeigen, dass er unter der individuellen Natur einer Person das versteht, was ich hier als individuellen Charakter bezeichne, dem wiederum eine individuelle Natur als „Gestaltungsmasse“ zugrunde liegt. Vgl. EN II 4, 1105b31– 1106a2: „[…] denn wir werden nicht entsprechend der Emotionen gelobt oder getadelt (denn man lobt nicht den, der Furcht oder Zorn empfindet, und tadelt nicht
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13 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit von Charakterdispositionen
Hier ist an Aristoteles’ Unterscheidung in EN V 10 (1136a6 – 9) zwischen unwillentlichen Handlungen, die entschuldbar, und solchen, die nicht-entschuldbar sind, zu erinnern. Als nicht-entschuldbar bezeichnet Aristoteles dort Handlungen, die aufgrund von Unwissenheit geschehen, die durch einen unmenschlichen oder unnatürlichen Affekt verursacht sind. Ich habe argumentiert, dass diese Handlungen keine Entschuldigung verdienen, weil das Empfinden solcher Affekte auf ein charakterliches Defizit zurückzuführen ist.¹²⁵⁶ Es ist zu beachten, dass die Wendung, dass „der Ursprung in uns liegt“ (archê en hêmin), auch in einer weiten Bedeutung gebraucht werden kann, so dass sie nicht mit der des Ausdrucks „etwas liegt bei uns“ (eph’ hêmin) übereinstimmt. Erstens nimmt Aristoteles Vorkommnisse an, die natürlich sind und ihren Ursprung in uns haben, die aber nicht bei uns liegen bzw. worüber wir keine Kontrolle haben, so dass er sie als weder willentlich noch unwillentlich beschreibt, wie z. B. das Alt-Werden oder das Sterben.¹²⁵⁷ Hierzu würde ich auch Bewegungen zählen, die er in De Motu Animalium (MA) als nicht-willentliche Bewegungen beschreibt, wie z. B. den Schlaf oder das Atmen.¹²⁵⁸ Zweitens nimmt er Vorkommnisse an, die ebenfalls natürlich sind und die insofern bei uns liegen, als sie auf den Affekten oder Vorstellungen einer Person beruhen, über die die Person trotzdem keine Kontrolle hat, weil die ursächlichen Affekte oder Vorstellungen natürlich bzw. menschlich sind und nicht auf dem individuellen Charakter eines Einzelnen beruhen. Beispiele dafür sind Affekte, denen zu widerstehen die menschliche Natur übersteigt, wie sie Aristoteles in EN III 2 (1110a24– 26) und EE II (1225a19 – 25) anführt¹²⁵⁹. Hierzu würde ich auch Bewegungen rechnen, die er in MA als unwillentliche Bewegungen bezeichet, wie das (heftige) Schlagen des Herzens oder die Erektion des Penis.¹²⁶⁰ Daraus wird ersichtlich, dass in manchen
den, der schlechthin erzürnt ist, sondern den, der das auf eine bestimmte Weise ist); vielmehr lobt oder tadelt man entsprechend der Tugenden und der Laster.“ Vgl. Abschnitt „3.2.4.1 Loening: Handlungen aufgrund von Trunkenheit als unwillentliche, aber tadelnswerte Handlungen“. EN V 10, 1135a33-b2: „Denn auch viele Dinge, die von Natur aus bestehen, tun oder erleiden wir wissentlich, und dennoch ist es weder willentlich noch unwillentlich, wie z. B. das Alt-Werden oder das Sterben.“ MA 11, 703b8 – 11: „Mit den nicht-willentlichen [Bewegungen] meine ich solche wie Schlaf und Wachen und Atmen, und andere dieser Art (denn weder Vorstellung noch Strebung hat schlechthin die Kontrolle über etwas von diesen).“ Vgl. Abschnitt „2.3.4.2 Fälle der Gruppen [III] und [IV]: Handlungen unter überwältigender Gewalt“. MA 11, 703b5 – 8: „Bei unwillentlichen [Bewegungen] meine ich solche wie die des Herzens und die des Penis (denn diese werden oft bewegt, wenn etwas erscheint, aber ohne dass die Vernunft etwas befiehlt.“
13.3 Der aristotelische Kompatibilismus: 1113b14 – 21
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Kontexten ein Unterschied zwischen den Wendungen, dass „etwas bei uns liegt“ (eph’ hêmin) und dass „der Ursprung in uns liegt“ (archê en hêmin), bestehen kann, insofern jene eine engere Bedeutung haben kann als diese.¹²⁶¹ Die Wendungen „ἐφ᾿ ἡμῖν“ sowie „ἀρχὴ ἐν ἡμῖν“ müssen also nicht bedeuten, dass eine Handlung nicht determiniert ist. Es ist möglich, sie so aufzufassen, dass damit zwar ausgeschlossen ist, dass eine Handlung durch eine äußere gewaltsame Ursache erzwungen ist; dies ist aber vereinbar damit, dass die Handlung durch eine interne Ursache determiniert ist. Es besteht dann zwar die theoretische Möglichkeit, dass eine Person handelt oder nicht handelt, d. h., es ist grundsätzlich denkbar, dass sie die Handlung ausführt, sie unterlässt oder eine andere Handlung ausführt.¹²⁶² In einer bestimmten Situation legt aber zum Zeitpunkt der Handlung die jeweilige charakterliche Verfasstheit einer Person fest, ob und wie sie handelt. Sie hat in diesem Moment somit nicht die freie Wahl, sich für oder gegen das Handeln zu entschließen, wenngleich grundsätzlich beide Alternativen möglich sind. Zum Zeitpunkt der Handlung bedingt aber der Charakter der Person, über welche Strebungen und Meinungen sie verfügt; und auf ihren Strebungen und Meinungen beruht es wiederum, zu welcher Handlung sie sich entschließt. Dass Handlungen in dieser Weise durch Ursachen, die in der handelnden Person liegen, determiniert sind, findet eine Bestätigung in der Analyse des Praktischen Syllogismus, die ich in Abschnitt „6.7.2 Praktisches Überlegen und ‚Praktischer Syllogismus“ präsentiert habe. Ich habe dafür argumentiert, den Praktischen Syllogismus auch als Analogie zu verstehen: Tertium comparationis des Vergleichs ist die Notwendigkeit, mit der etwas aus etwas folgt, wenn hinreichende Bedingungen vorliegen: So wie beim Theoretischen Syllogismus die
Vgl. dazu auch den Appendix („‚Up to usʻ and internal origin“) von Meyer: Meyer 2011, 185 – 189. Loening beschreibt diese theoretische Möglichkeit als eine abstrakte Möglichkeit (Loening 1903, 285 – 296): „So ist auch der menschliche Wille a l s A b s t r a k t u m ein ἐνδεχόμενον ἄλλως oder ἐναντίως ἔχειν, kann sich i n a b s t r a c t o auf Entgegengesetztes richten; ferner hängt er von Ursachen (Vorstellungen) ab, die i n a b s t r a c t o ganz verschieden beschaffen sein und in ganz verschiedener Richtung Einfluß auf das Wollen üben können. Aber mit keinem Worte ist dadurch gesagt, daß i m E i n z e l f a l l die Bildung und Bestimmung des Willens unabhängig von den i n d i e s e m E i n z e l f a l l vorliegenden und sich geltend machenden ursächlichen Momenten sei, daß der Wille sich auch k o n k r e t b e s t i m m t e n M o t i v e n g e g e n ü b e r beliebig auf Entgegengesetztes richten oder nur aus sich selbst heraus dies oder jenes wählen könne. Nur unter dieser Voraussetzung aber könnte man hier doch von einer F r e i h e i t des Willens reden.“ Everson spricht in gleicher Weise von einer begrifflichen bzw. epistemischen Möglichkeit (epistemic possibility or conceptual possibility), die der tatsächlichen Möglichkeit zum Zeitpunkt der einzelnen Handlung gegenübersteht (Everson 1990, 96 – 97).
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13 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit von Charakterdispositionen
Konklusion mit logischer Notwendigkeit aus ihren Prämissen folgt, so folgt beim Praktischen Syllogismus eine Bewegung bzw. eine Handlung mit physikalischer Notwendigkeit aus ihren Antezedenzien. Die Antezedenzien einer Handlung sind eine Strebung und eine Kognition. Die syllogistische Struktur dient Aristoteles zur Illustration der Kausalrelation, die zwischen einer Strebung, einer Kognition und einer daraus resultierenden Bewegung besteht. Die Analogie soll allgemein animalische Bewegungsgenese erklären, schließt menschliches Handeln als Sonderfall aber mit ein.¹²⁶³ Der Praktische Syllogismus veranschaulicht demzufolge die Notwendigkeit, mit der menschliches Handeln zum Zeitpunkt der Handlung determiniert ist: Der Charakter der handelnden Person bestimmt, welche Strebungen und Meinungen sie zum Zeitpunkt der Handlung hat; und aus diesen Antezedenzien folgt die Handlung notwendigerweise, sofern keine hindernden Umstände eintreten (MA 8, 702a10 – 17) oder die Strebungen und Entschlüsse der handelnden Person sich ändern. Die Analyse einiger zentraler Argumente, die Anhänger eines indeterministischen Begriffs von Willentlichkeit bei Aristoteles anführen, zeigt somit, dass diese Zuschreibung anfechtbar ist und dass sich gute sachliche wie textliche Gründe zugunsten einer deterministischen Deutung benennen lassen. Allerdings ist ein zentrales systematisches Problem dieser Interpretation noch unerwähnt geblieben: Die Annahme, dass der Charakter einer Person zum Zeitpunkt ihrer Handlung determiniert, ob und wie sie handelt, schließt offenbar die Möglichkeit von sog. „out-of-character“-Handlungen aus. Darunter verstehe ich Handlungen, die eine Person typischerweise in einer neuartigen, plötzlich auftretenden Situation ausführt und die nicht ihrem (bis dato geformten) Charakter entsprechen und über die sich rückblickend sagen lässt, die Person sei während des Handelns nicht sie selbst gewesen. Ich kann hier auf diesen Sonderfall nicht ausführlich eingehen. Ich will dazu nur anmerken, in welche Richtung eine Antwort hier m. E.
Sorabji schließt die Beschreibung in MA als Beispiel für eine notwendige Determination von Handlung aus, indem er darauf verweist, dass Aristoteles hier die Bewegung von Lebewesen im Allgemeinen erklären wolle und daher den Sonderfall menschlicher Handlung aus dem Blick verliere (vgl. Sorabji 1980, 239): „I think the special context of animal motion has made Aristotle think of rather simple examples. The Chapter 9 passage explicitly confines itself to the motion of animals, and even though human action is illustrated elsewhere, there are no examples in which there are rival desires.“. Weshalb eine solche Deutung von Aristoteles’ Anliegen in MA 8 und 9 irreführend ist, habe ich im Abschnitt „6.7.2 Praktisches Überlegen und ‚Praktischer Syllogismus“ ausgeführt. Aus ähnlichen Gründen scheitert auch Sorabjis Überlegung, den Praktischen Syllogismus in EN VII 5 als Illustration einer notwendigen Determiniertheit von Handlungen zurückzuweisen. Sorabji stellt den Fall der akratischen Handlung als Sonderfall hin, in dem ihm zufolge zwar Notwendigkeit vorliege, der aber nicht auf Handlungen im Allgemeinen zu übertragen sei (Sorabji 1980, 239).Vgl. zu einer ähnlichen Kritik an Sorabjis Argumentation: Everson 1990, 91– 92.
13.4 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit des Charakters: 1113b21 – 1114a31
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gehen müsste: Der deterministische Begriff von Willentlichkeit scheint tatsächlich zu bedeuten, dass Aristoteles damit ausschließt, dass der Tugendhafte anders als tugendhaft handeln kann, es sei denn, er befindet sich in nicht-selbstverschuldeter Unwissenheit oder unter Zwang. Geschieht gleichwohl eine Handlung, durch die jemand aus seiner charakterlichen Rolle zu fallen scheint, so muss es sich um einen Fall handeln, bei dem jemand z. B. (noch) keinen gefestigten Charakter erworben hat, was durch ebendiese Handlung sichtbar wird. Die Möglichkeit von „out-of-character“-Handlungen stellt ein weniger gravierendes Problem dar, wenn man davon ausgeht, dass die Beschreibung, die Aristoteles vom Tugendhaften gibt, ein Ideal ist, das in dieser Weise selten realisiert wird, sondern nach dem vielmehr die allermeisten Zeit ihres Lebens streben und dem sie sich mit unterschiedlichem Erfolg annähern. Sich gegen die Möglichkeit, „outof-character“-Handlungen zu begehen, zu wappnen, zählt dann mit zum Gewöhnungsprozess, mittels dessen man einen tugendhaften Charakter zu erwerben sucht. Es bleibt noch zu fragen, ob ein deterministischer Begriff von Willentlichkeit hinreicht, um Aristoteles die Annahme einer Konzeption von moralischer Verantwortung zuzuschreiben. Um eine Antwort auf die Frage zu geben, ob einer Person eine Handlung moralisch zuzurechnen ist, obwohl sie durch ihren Charakter determiniert ist, bietet es sich an, den folgenden längeren Textabschnitt von EN III 7 hinzuzunehmen: Die Zeilen 1113b21– 1114a31 sind die zentrale Textstelle, in der Aristoteles die Annahme der Verantwortung für den eigenen Charakter behandelt.
13.4 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit des Charakters: 1113b21 – 1114a31 Zunächst werde ich die Textstelle erläutern, in der Aristoteles die Willentlichkeit des eigenen Charakters behandelt, bevor ich auf die Frage eingehe, ob sich ihm ein Begriff von moralischer Verantwortung zuschreiben lässt. Von den allermeisten wird anerkannt, dass er in 1113b21– 1114a31 für die Auffassung argumentiert, dass der Charakter etwas Willentliches ist. Auseinander gehen die Ansichten dagegen darin, ob es ihm gelingt, damit eine ausreichende Begründung für die moralische Zurechenbarkeit des Charakters zu präsentieren. In den Zeilen 1113b21– 1114a4 verweist Aristoteles auf die öffentliche Praxis des Züchtigens und Strafens. Er beruft sich auf diese Handlungen, weil sie bezeugen, dass die Gesetzgeber bei deren Ausübung implizit die Wirksamkeit dieser
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13 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit von Charakterdispositionen
Praxis voraussetzen.¹²⁶⁴ Bei der Praxis des Strafens und Züchtigens wie auch der des Ermutigens wird davon ausgegangen, dass der Adressat die Kontrolle darüber hat, ob und wie er handelt. Läge sein Handeln nicht bei ihm, wäre es sinnlos, ihn durch Sanktionen von etwas abhalten oder zu etwas ermuntern zu wollen. Aristoteles zieht hier einen instruktiven Vergleich mit körperlichen Beschaffenheiten. Bei diesen ist es ebenfalls witzlos, eine Person zu etwas zu ermutigen oder sie von etwas abzuhalten, das zu beeinflussen nicht bei ihr liegt, wie z. B. Schmerz und Hunger zu verspüren oder zu erwärmen. Diese Empfindungen beruhen auf der allgemeinen Natur des Menschen und sind nicht beeinflussbar. Dabei ist freilich zu beachten, dass Aristoteles bei naturbedingten körperlichen Empfindungen durchaus differenziert. So nimmt er an, dass dasselbe körperliche Defizit sowohl durch eigenes Zutun als auch rein naturbedingt auftreten kann: Blindheit kann z. B. durch Trunkenheit eintreten, sie kann aber auch angeboren oder durch Krankheit entstanden sein (1114a25 – 28). Außerdem haben wir gesehen, dass Aristoteles auch von unmenschlichen oder unnatürlichen Affekten spricht, die anders zu behandeln sind als natürliche und menschliche (EN V 10, 1136a5 – 9). Ein unmenschlicher Affekt besteht z. B. darin, so hatte ich vorgeschlagen, wenn ein im Prinzip menschlicher Affekt im Übermaß oder Untermaß vorliegt, wie etwa wenn jemand Furcht vor einer Maus verspürt. Solche normabweichenden Affekte sind durchaus vermeidbar gewesen: Sie rühren von einer Unzulänglichkeit des zugrundeliegenden Charakters her und verdienen keine Entschuldigung, weil die jeweilige Person es in der Hand hatte, deren Empfinden entgegenzuwirken. Trotz dieser notwendigen Differenzierung lässt sich aber sagen, dass für die Mehrzahl der körperlichen Empfindungen gilt, dass sie von Natur aus bestehen und nicht zu beeinflussen sind. Deshalb verdienen sie keine Züchtigungen oder Ermunterungen. Im nächsten Schritt verweist Aristoteles darauf, dass die Praxis des Züchtigens und Strafens außerdem voraussetzt, dass manche Formen von Unwissenheit selbstverschuldet sind, da es bei der handelnden Person lag, sie zu vermeiden. Er nennt hier als erstes Beispiel den Fall der Trunkenheit, die Unwissenheit zur Folge
Der Verweis auf die Praxis der Gesetzgeber ist als stützendes Indiz, nicht als Beweis zu verstehen. Aristoteles beruft sich auf die allgemeine Praxis und hebt hervor, dass damit implizit Willentlichkeit des menschlichen Handelns vorausgesetzt wird. Vgl. Grant 1866, 27: „[The argument drawn from the constitution of society, from the fact of rewards and punishment; BL] proves an instinctive belief existing in society, exactly coincident with the position of Aristotle, that the individual is the cause of particular acts. […] [T]his fact is not sufficient to disprove a metaphysical system which would represent legislature, judge, criminal, and the whole world, as forced to do what they do by an irresistible succession of cause and effect. But ethically and politically it is sufficient to justify a practical assumption of freedom.“ Vgl. auch Meyer 2011, 133 – 134.
13.4 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit des Charakters: 1113b21 – 1114a31
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hat (1113b30 – 33). Das Beispiel der Unwissenheit aufgrund von Trunkenheit war bereits im Kontext der Behandlung der Unwissenheit als ein möglicher Entschuldigungsgrund vorgekommen. In EN III 2 (1110b24– 27) hatte Aristoteles dafür argumentiert, dass der Betrunkene anders zu behandeln ist als derjenige, der aufgrund von Unwissenheit über die Einzelumstände seiner Handlung eine Handlung ausführt. Auch wenn er in EN III 2 die Handlungen des Betrunkenen nicht explizit als willentlich bezeichnet, habe ich dafür argumentiert, dass er sie als willentlich auffasst, da ihm zufolge in diesem Fall die Ursache der Unwissenheit in der handelnden Person liegt.¹²⁶⁵ Als empirischen Fall, der dies bestätigt, zitiert Aristoteles in EN III 7 das Gesetz des Pittakos, nach dem Handlungen in Trunkenheit die doppelte Strafe erhalten. Ich hatte dafür argumentiert, dass der Betrunkene deswegen eine doppelte Strafe verdienen könnte, weil er erstens für seine Trunkenheit und zweitens für seine Handlung in Unwissenheit zu sanktionieren ist. Allerdings heißt das nicht, dass Aristoteles das Gesetz des Pittakos gutheißt: Er führt es bloß als empirischen Beleg an. Ein weiterer Fall von Unwissenheit, der von den Gesetzgebern geahndet wird, ist derjenige, wenn jemand etwas in den Gesetzen nicht kennt, was man entweder kennen sollte oder was nicht schwierig ist (1113b33 – 1114a3). Dieser Fall von Unwissenheit ist ebenfalls selbstverschuldet, weil es wiederum bei der handelnden Person lag, ihn zu vermeiden. Der Fall, dass Unwissenheit über die Gesetze keine Entschuldigung verdient, ist ebenfalls bereits in den Ausführungen zur Unwissenheit in EN III 2 vorgekommen. Er fällt dort m. E. unter die Unwissenheit über das Allgemeine, worunter Unwissenheit über das moralisch Richtige zu verstehen ist, die keine Entschuldigung, sondern Tadel verdient (1110b32– 33).¹²⁶⁶ Außerdem erwähnt Aristoteles in der EE das Beispiel einer Person, der solches Wissen fehlt, „das [zu besitzen] leicht oder notwendig war und das sie aufgrund von Nachlässigkeit, Lust oder Schmerz nicht hat“ (EE II 9, 1225b14– 16); auch dort stellt er diesen Fall als tadelnswert hin.¹²⁶⁷ Die Praxis der Gesetzgeber spiegelt somit, dass verschiedene Formen von Unwissenheit sanktioniert werden, weil davon ausgegangen wird, dass es bei der handelnden Person lag, in diesen Zustand der Unwissenheit zu geraten. Selbstverschuldete Arten von Unwissenheit verdienen keine Entschuldigung, sondern sind zu bestrafen, um so darauf hinzuwirken, dass künftig derartige Zustände der Unwissenheit vermieden werden.
Vgl. Abschnitt „3.2.4.5 Beurteilung der alternativen Deutungen von Handlungen aufgrund von Trunkenheit“. Vgl. Abschnitt „3.3 Handlungen in Unwissenheit über das moralisch Richtige“. Vgl. Abschnitt „3.2.5 Aristoteles’ Behandlung von Handlungen in Unwissenheit in der EE“, hier: Anm. 403, S. 151.
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13 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit von Charakterdispositionen
In Zeile 1114a4 bringt Aristoteles selbst einen Einwurf gegen die Ansicht vor, dass Handlungen zu sanktionieren sind, die in Unwissenheit geschehen und bei denen die Ursache der Unwissenheit in der Nachlässigkeit der handelnden Person besteht: „Aber vielleicht ist die handelnde Person so beschaffen, dass sie nicht Sorgfalt übt.“ In Antwort auf diesen Einwand präsentiert er nun die Annahme, dass wir für unseren Charakter verantwortlich sind. Ich stimme Meyers Deutung zu, die unterstreicht, dass Aristoteles’ Argumentationsziel in EN III 7 bis hierhin die Widerlegung der Sokratischen Asymmetriethese gewesen ist und dass er erst an dieser Stelle die Frage nach der Verantwortung für den eigenen Charakter einführt.¹²⁶⁸ Um für die Annahme der Verantwortung für den eigenen Charakter zu argumentieren, greift er auf die Theorie des Charaktererwerbs zurück, wie er sie in EN II entwickelt hat.¹²⁶⁹ Demnach werden Tugenden und Laster durch das regelmäßige und wiederholte Ausführen entsprechender ähnlicher Handlungen erworben, woraus schließlich eine stabile Charakterdisposition resultiert: [EN II 2, 1103a31-b2]¹²⁷⁰ Die Tugenden hingegen erwerben wir, indem wir sie zuerst betätigen, wie auch bei den anderen Herstellungskünsten. Denn was man erst lernen muss, um es zu tun, lernen wir, indem wir es tun. Zum Beispiel wird man Baumeister, indem man baut, und Kitharaspieler, indem man Kithara spielt. So werden wir auch gerecht, indem wir die gerechten Dinge tun, mäßig, indem wir die mäßigen Dinge tun, tapfer, indem wir die tapferen Dinge tun.
Eine Person wird also nachlässig, weil sie wiederholt nachlässig lebt und handelt, bis sie infolgedessen schließlich einen nachlässigen Charakter erworben hat.Weil die Handlungen, aus denen schließlich ein bestimmter Charakter resultiert, willentlich sind, ist auch der Charakter willentlich erworben. Dass sich die Willentlichkeit der Handlungen, die zum Charaktererwerb führen, auf die Willentlichkeit des Charakters überträgt, bringt Aristoteles in 1114a12– 14 zum Ausdruck: „Wenn jemand nicht unwissend Dinge tut, aufgrund deren er ungerecht sein wird, so wird er willentlich ungerecht sein […].“ Er führt in dem Abschnitt, an dessen Anfang diese Aussage steht, die Annahme noch weiter aus, dass der Charakter willentlich ist, weil er aus willentlichen Handlungen hervorgegangen ist. Bevor
Meyer 2011, 132 und 135. Vgl. Grant 1866, 28: „This passage contains exactly the same theory of formation of moral states as that given at the beginning of Book II. But it is written independently of the former passage […].“ Vgl. auch Donini 2010, 148. EN II 2, 1103a31-b2: τὰς δ᾿ ἀρετὰς λαμβάνομεν ἐνεργήσαντες πρότερον, ὥσπερ καὶ ἐπὶ τῶν ἄλλων τεχνῶν· ἃ γὰρ δεῖ μαθόντας ποιεῖν, ταῦτα ποιοῦντες μανθάνομεν, οἷον οἰκοδομοῦντες οἰκοδόμοι γίνονται καὶ κιθαρίζοντες κιθαρισταί· οὕτω δὴ καὶ τὰ μὲν δίκαια πράττοντες δίκαιοι γινόμεθα, τὰ δὲ σώφρονα σώφρονες, τὰ δ᾿ ἀνδρεῖα ἀνδρεῖοι.
13.4 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit des Charakters: 1113b21 – 1114a31
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ich diese ausführlichere Begründung in den Zeilen 1114a11– 21 im Abschnitt „13.4.2 Mit-Verantwortlichkeit der Heranwachsenden für den eigenen Charakter (1114a11– 31)“ näher betrachten werde, ist es angezeigt, eine Schwierigkeit zu behandeln, die immer wieder in Aristoteles’ Konzeption des Charaktererwerbs gesehen wurde.
13.4.1 Stellt Aristoteles’ Konzeption des Charaktererwerbs eine Schwierigkeit für die Annahme der Verantwortung für den eigenen Charakter dar? In Aristoteles’ Auffassung, dass Charaktertugenden durch Gewöhnung und durch die Ausübung der entsprechenden Tätigkeiten entstehen, haben viele Autoren eine große Schwierigkeit für die Annahme gesehen, dass wir für unseren Charakter verantwortlich sind. Der zentrale Grund für die Zweifel besteht darin, dass er den Prozess des Charaktererwerbs derart beschreibt, dass es zu Beginn nicht vollständig bei der handelnden Person liegt, wie sie handelt. Vielmehr steht sie unter dem Einfluss von Eltern, Familie und Erziehern, die ihr vorgeben, wie sie zu handeln hat. Demnach hat es den Anschein, als lägen die Handlungen, die zum Charaktererwerb führen, nicht vollständig bei einer Person, sondern als seien sie auch auf externe Ursachen zurückzuführen. Verstärkt wird die Skepsis gegenüber der Annahme, dass wir für unseren eigenen Charakter verantwortlich sind, zusätzlich dadurch, dass Aristoteles ausdrücklich der Erziehung in der frühesten Kindheit eine zentrale Bedeutung zuspricht: [EN II 2, 1103b21– 25]¹²⁷¹ Und mit einem Wort: Die Dispositionen entstehen somit aus den entsprechenden Tätigkeiten. Deshalb muss man den Tätigkeiten eine bestimmte Beschaffenheit geben, denn den Unterschieden dazwischen entsprechen die Dispositionen. Es bedeutet also keinen kleinen Unterschied, ob man schon von Kindheit an so oder so gewöhnt wird, sondern es hängt viel davon ab, oder eher [hängt] alles [davon ab] [Hervorhebung BL].
Weil Aristoteles der Erziehung in der frühen Kindheit einen maßgeblichen Anteil am Charaktererwerb beimisst, meinen manche Autoren, dass es ihm nicht gelinge, moralische Verantwortung für Handlungen, die auf dem Charakter beru-
EN II 2, 1103b21– 25: καὶ ἑνὶ δὴ λόγῳ ἐκ τῶν ὁμοίων ἐνεργειῶν αἱ ἕξεις γίνονται. διὸ δεῖ τὰς ἐνεργείας ποιὰς ἀποδιδόναι· κατὰ γὰρ τὰς τούτων διαφορὰς ἀκολουθοῦσιν αἱ ἕξεις. οὐ μικρὸν οὖν διαφέρει τὸ οὕτως ἢ οὕτως εὐθὺς ἐκ νέων ἐθίζεσθαι, ἀλλὰ πάμπολυ, μᾶλλον δὲ τὸ πᾶν. Vgl. auch EN II 3, 1104b11– 13: „Daher muss man, wie Platon sagt, sofort von Kindheit an in bestimmter Weise erzogen werden, dass man bei denjenigen Dingen Lust und Schmerz empfindet, bei denen man [das tun] soll; denn dies ist die richtige Erziehung.“
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13 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit von Charakterdispositionen
hen, zu begründen. Sie nehmen an, dass moralische Verantwortung für Handlungen voraussetzt, dass die Handlungen aus Charakterdispositionen resultieren, für die die handelnde Person moralisch verantwortlich ist. Da aber die Begründung der moralischen Verantwortung für den Charakter zu scheitern scheint, entbehrten auch Handlungen, die auf dem Charakter beruhen, einer nötigen Grundlage für moralische Verantwortung.¹²⁷² Bevor ich diesen Argumentationsschritt aufgreife, betrachte ich zunächst den Einwand, dass der Einfluss der frühen Erziehung die moralische Verantwortung für den eigenen Charakter unterminiert. Prägnant ist dieser Verdacht von Furley geäußert worden: [Furley 1967]¹²⁷³ [Aristotle’s general reply to the Socratic parody; BL] lies of course in his insistence that a man’s dispositions are established by nothing but his own actions, the source of which is certainly ‚in himselfʻ and cannot be traced back any further. Is is odd that Aristotle never (to my knowledge) asks himself why the discipline of parents and teachers is not to be taken as an external cause of a man’s dispositions. Our own experience of ‚juvenile delinquency,ʻ and the generally held belief that young people’s crimes may be due not to wickedness but to faulty environment, raise this question at once. But Aristotle seems never to have considered this point.
Ich halte die Sorge von Furley u. a. für unbegründet und denke, dass Aristoteles’ Theorie des Charaktererwerbs keine Schwierigkeit für die Annahme der Verantwortung für den eigenen Charakter bedeutet. Vorab ist zu sagen, dass kaum anzunehmen ist, dass er den möglichen Einwand, dass der Einfluss von Eltern und Erziehern auf die frühe Erziehung die Verantwortung der handelnden Person unterminieren könnte, schlicht übersehen oder ignoriert hat. Vielmehr scheint er ihn deswegen nicht zu thematisieren, weil er darin keinen gravierenden Einwand gesehen hat. Dafür, dass ihm der Einwand nicht unbekannt gewesen ist, spricht, dass er im Timaios vorkommt und ihm vermutlich zumindest von dort vertraut gewesen sein müsste:¹²⁷⁴ [Tim. 87a7-b8]¹²⁷⁵ Wenn außerdem die Staatsverfassungen von derart schlecht beschaffenen Menschen schlecht sind und (von ihnen) in den Städten privat und öffentlich schlechte Reden gehalten
Z. B. von Adkins 1960; Hardie 1980; Engberg-Pedersen 1983; Urmson 1988; Roberts 1989. Furley 1967, 194. Die gleiche Kritik äußern auch Ross, Joachim, Gauthier/Jolif und B. Williams: Ross 51949, 201; Joachim 1951, 96 – 97; Gauthier/Jolif 1970, 219 – 220; B. Williams 1985, 38. Donini 2010, 149. Tim. 87a7-b8: πρὸς δὲ τούτοις, ὅταν οὕτω κακῶς παγέντων πολιτεῖαι κακαὶ καὶ λόγοι κατὰ πόλεις ἰδίᾳ τε καὶ δημοσίᾳ λεχθῶσιν, ἔτι δὲ μαθήματα μηδαμῇ τούτων ἰατικὰ ἐκ νέων μανθάνηται, ταύτῃ κακοὶ πάντες οἱ κακοὶ διὰ δύο ἀκουσιώτατα γιγνόμεθα· ὧν αἰτιατέον μὲν τοὺς φυτεύοντας
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werden und darüber hinaus keinerlei Lernstoff, der dem abhelfen könnte, von Jugend auf gelernt wird, dann werden wir alle, die wir schlecht sind, auf zwei ganz unbeabsichtigte Weisen schlecht. Dafür muss man immer eher den Erzeugern Vorwürfe machen als den Erzeugten und den Erziehern eher als den Erzogenen und muss natürlich, so gut man kann, darauf bedacht sein, durch Erziehung, Tätigkeiten und Lerninhalte der Schlechtigkeit zu entfliehen und das Gegenteil zu ergreifen.
Platon wirft hier die Frage auf, welche Bedeutung dem schlechten Einfluss von Eltern, Erziehern und politischen Institutionen in Hinblick auf die Erziehung des Einzelnen zukommen kann. Diese Frage stellt Aristoteles nicht, und es gibt m. E. verschiedene Gründe, warum er es nicht tut. Ein erster nicht unwichtiger Grund ist der historische Hintergrund, vor dem Aristoteles schreibt und von dem er in seinen Ausführungen in der EN ausgeht. So sind das vollständige Fehlen von Erziehung oder die Möglichkeit einer extrem nachteiligen und schädlichen Erziehung zwar denkbare Fälle; sie sind aber nicht das, wovon Aristoteles ausgeht. Vielmehr geht er vom spezifischen politischen und sozialen Kontext im damaligen Athen bzw. im antiken Griechenland seiner Zeit aus, wo gute ökonomische, soziale und institutionelle Bedingungen gegeben sind und unter den Bürgern ein gewisser Grundkonsens über die richtige Erziehung und das richtige Verhalten vorherrscht.¹²⁷⁶ Mit vielen Bemerkungen macht Aristoteles immer wieder deutlich, dass er sich auf seinen eigenen sozialen und politischen Kontext stützt und voraussetzt, dass ein gewisser common sense in Fragen des richtigen Verhaltens vorhanden ist. Gerade die zahlreichen Verweise auf die Praxis des Lobens und Tadelns sind so zu verstehen, dass er sich hier auf eine verbreitete Praxis von Lob und Tadel als Grundlage und Ausgangspunkt für seine Annahmen beruft. Fernerhin sagt er zu Beginn von Buch I explizit, wen er als geeignete Adressanten der Ausführungen in der Nikomachischen Ethik ansieht: [EN I 2, 1095b4– 13]¹²⁷⁷ Daher muss jemand schon gut erzogen und gewöhnt sein, um einer Vorlesung über Fragen des Schönen, des Gerechten und generell über politische Fragen hinreichend folgen zu
ἀεὶ τῶν φυτευομένων μᾶλλον καὶ τοὺς τρέφοντας τῶν τρεφομένων, προθυμητέον μὴν, ὅπῃ τις δύναται, καὶ διὰ τροφῆς καὶ δι᾿ ἐπιτηδευμάτων μαθημάτων τε φυγεῖν μὲν κακίαν, τοὐναντίων δὲ ἑλεῖν. [Übersetzung Paulsen/Rehn 2003]. Darauf weisen auch Meyer und Donini hin. Meyer 2011, 140 – 141; Donini 2010, 152. EN I 2, 1095b4– 13: διὸ δεῖ τοῖς ἔθεσιν ἦχθαι καλῶς τὸν περὶ καλῶν καὶ δικαίων καὶ ὅλως τῶν πολιτικῶν ἀκουσόμενον ἱκανῶς. ἀρχὴ γὰρ τὸ ὅτι, καὶ εἰ τοῦτο φαίνοιτο ἀρκούντως, οὐδὲν προσδεήσει τοῦ διότι· ὁ δὲ τοιοῦτος ἔχει ἢ λάβοι ἂν ἀρχὰς ῥᾳδίως. ᾧ δὲ μηδέτερον ὑπάρχει τούτων, ἀκουσάτω τῶν Ἡσιόδου· οὗτος μὲν πανάριστος ὃς αὐτὸς πάντα νοήσῃ, ἐσθλὸς δ᾿ αὖ κἀνεῖνος ὃς εὖ εἰπόντι πίθηται.
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13 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit von Charakterdispositionen
können. Ausgangspunkt ist nämlich das ‚Dassʻ; und wenn dies jemandem deutlich genug ist, dann wird er nach dem ‚Warumʻ keinen weiteren Bedarf haben. Wer gut erzogen ist, der hat schon die Prinzipien oder kann sie sich mit Leichtigkeit aneignen. Wer aber weder über das eine noch über das andere verfügt, der sollte auf die Worte Hesiods hören: „Der beste von allen ist, wer alle Dinge selbst erkennt, Edel ist aber auch, wer einem guten Ratgeber folgt. Wer aber weder selbst erkennt, noch sich zu Herzen nimmt, was er von einem anderen hört, der ist ein unbrauchbarer Mensch.“
Die adäquaten Zuhörer der Nikomachischen Ethik sind diejenigen, die bereits gut erzogen sind und Charaktertugenden partiell durch Gewöhnung erworben haben. Von diesen nimmt Aristoteles an, dass sie bereits über das „Dass“ verfügen. Als Erklärung dafür, was unter dem „Dass“ zu verstehen ist, halte ich diejenige für überzeugend, die Burnyeat im Anschluss an antike Kommentatoren gibt: Demnach ist mit dem „Dass“ gemeint, dass jemand bereits über eine gewisse Erfahrung im tugendhaften Handeln verfügt und weiß, welche Handlungen gerecht, mäßig, tapfer etc. sind.¹²⁷⁸ Ein solches Wissen darum, welche Handlungen tugendhaft sind, hat derjenige mitzubringen, der ein geeigneter Zuhörer für den Inhalt der EN ist. Was ihm noch fehlt und was er durch die Vorlesungen darüber hinaus lernen soll, ist das „Warum“, d. h. die Gründe, weshalb Dinge tugendhaft sind und andere nicht. Um Wissen über das „Warum“ zu besitzen, benötigt je-
ὃς δέ κε μητ᾿ αὐτὸς νοέῃ μήτ᾿ ἄλλου ἀκούων ἐν θυμῷ βάλληται, ὃ δ᾿ αὖτ᾿ ἀχρήιος ἀνήρ. Burnyeat 1980, 71– 72: „The contrast here [in 1095b2– 13; BL], between having only ‚the thatʻ and having both ‚the thatʻ and ‚the becauseʻ as well, is a contrast between knowing or believing that something is so and understanding why it is so, and I would suppose that Aristotle quotes the Hesiodic verses in all seriousness. The man who knows for himself is someone with ‚the becauseʻ – in Aristotle’s terms he is a man of practical wisdom equipped with the understanding to work out for himself what to do in the varied circumstances of life – while the one who takes to heart sound advice learns ‚the thatʻ and becomes the sort of person who can profit from Aristotle’s lectures. These lectures are no doubt designed to give him a reasoned understanding of ‚the becauseʻ which explains and justifies ‚the thatʻ which he already has or can easily get hold of. What, then, is ‚the thatʻ? The ancient commentators are agreed that Aristotle has in mind knowledge about actions in accordance with the virtues; these actions are the things familiar to us from which we must start, and what we know about them is that they are noble or just. This fits an earlier statement (1.3. 1095a2– 4) that the lectures assume on the part of their audience a certain experience in the actions of life, because they are concerned with these actions and start from them. It also conforms to what 1.4 says is the subject matter of the lectures for which knowledge of ‚the thatʻ is a prerequisite: things noble and just.“ Burnyeats Verständnis findet sich bei Aspasius, Eustratius und Heliodor. Auch Stewart interpretiert das „dass“ entsprechend: vgl. Stewart 1892, 54– 56.
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mand zusätzlich Klugheit (phronêsis). Wer auch über die Klugheit verfügt, besitzt die Charaktertugenden vollständig (EN VI 13, 1144b30 – 32 und 1145a1– 2). Aristoteles’ Beschreibung der geeigneten Zuhörer für die EN macht deutlich, dass er von verschiedenen Phasen der Erziehung ausgeht. Darin besteht ein zweiter wichtiger Grund, der gegen Furleys Determinationsthese spricht. Am Anfang des Erziehungsprozesses stehen die kleinen Kinder, die noch nicht einmal über das „Dass“ verfügen und die erst von ihren Erziehern lernen müssen, welche Dinge tugendhaft und schön sind und welche nicht. Unter der Anleitung der Erzieher müssen sie selbst Erfahrungen machen, welche Dinge tugendhaft sind und was zu vermeiden ist; und indem sie wiederholt so handeln, wie der Tugendhafte handelt, erwerben sie sukzessive selbst die Tugenden bzw. das „Dass“. Dabei ist es plausibel anzunehmen, dass Aristoteles das Einüben der verschiedenen Charaktertugenden insofern differenziert gesehen hat, als nicht jede der Tugenden von der frühesten Phase an erworben wird, sondern der richtige Zeitpunkt für den Erwerb der einzelnen Tugenden unterschiedlich auf die verschiedenen Etappen der Kindheit verteilt ist. Das liegt daran, dass die Einübung der jeweiligen Tugenden entsprechende Erfahrungen voraussetzt, von denen manche mit großer Wahrscheinlichkeit nicht von der frühesten Kindheit an gemacht werden.¹²⁷⁹ So erfordert z. B. der Erwerb der Tapferkeit, dass man Gefahrensituationen, wie z. B. einer Kampfsituation, ausgesetzt ist und sich auf diese Weise ans Fürchten oder Muthaben gewöhnt (vgl. 1117b27– 1118b8). Die Gerechtigkeit verlangt den Austausch mit anderen Menschen,¹²⁸⁰ und die Freigiebigkeit setzt Erfahrung mit Mangel voraus, die Jugendliche laut Aristoteles noch nicht machen.¹²⁸¹ Dass sich der Erziehungsprozess über verschiedene Phasen erstreckt, in deren Verlauf die Heranwachsenden in zunehmendem Maß selbst dazu in der Lage sind, ihren Charakter einzuüben und zu festigen, hält Aristoteles zudem ausdrücklich in EN X im Zusammenhang seiner Ausführungen zur moralischen Erziehung in der Polis fest:
Vgl. Meyer 2011, 124– 125. EN II 1, 1103b14– 21: „Indem wir nämlich im Verkehr mit anderen Menschen so oder so handeln, werden die einen von uns gerecht, die anderen ungerecht, und indem wir in Gefahrensituationen handeln und uns ans Fürchten oder Muthaben gewöhnen, werden wir tapfer oder feige. Ebenso steht es auch mit den Handlungen im Bereich der Begierde und des Zorns. Die einen werden mäßig und mild, die anderen unmäßig und erzürnbar, indem sich die einen in derartigen Situationen so verhalten, die anderen so [Übersetzung leicht verändert nach Wolf].“ Vgl. Rhet. II 12, 1389a13 – 15: „[…] und dies beides [i. e. ehrgeizig und begierig nach Überlegenheit; BL] sind [Jugendliche] mehr, als dass sie geldgierig wären; geldgierig nämlich sind sie am wenigsten, weil sie noch keine Erfahrung mit dem Mangel gemacht haben, […]. [Übersetzung Rapp].“
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[EN X 10, 1179b34– 1180a5]¹²⁸² Daher müssen das Aufziehen und die Beschäftigungen durch Gesetze geordnet werden; denn was zur Gewohnheit geworden ist, wird nicht mehr als unangenehm empfunden. Doch reicht es vermutlich nicht aus, dass Menschen in jungen Jahren die richtige Erziehung und Fürsorge erhalten; da sie auch noch als Erwachsene diese Beschäftigungen betreiben und an sie gewöhnt sein sollen, brauchen wir auch dazu Gesetze, und folglich überhaupt für das ganze Leben. Denn die meisten Menschen gehorchen eher dem Zwang als Worten und eher Strafen als dem Schönen.
Aristoteles beschreibt hier, dass sich die Zuständigkeit der Gesetzgeber nicht nur auf die früheste Phase der Erziehung bezieht. Auch Erwachsene, die bereits eine gewisse Einübung in die Tugenden absolviert haben, benötigen in der Regel nach wie vor eine Anleitung durch die Gesetze, damit sie weiter tugendkonstituierende Tätigkeiten ausüben und sich ihr tugendhafter Charakter festigt. Ein Erwachsener verfügt bereits zu einem gewissen Teil über das „Dass“: Er besitzt einen reicheren Erfahrungsschatz als ein Kind und auch seine affektiven und kognitiven Fähigkeiten sind bereits weiterentwickelt. Gleichwohl ist der Charakter in dieser Phase noch nicht gefestigt: Abweichende Handlungen und Affekte sind möglich und der erwachsenen Person fehlt es noch an Wissen um das „Warum“, das nötig ist, um volle Tugendhaftigkeit zu erreichen. Eine detaillierte und m. E. in weiten Teilen plausible Deutung des Erziehungsund Entwicklungsprozesses vom kleinen Kind hin zum tugendhaften Erwachsenen hat Sherman vorgestellt.¹²⁸³ Sie wendet sich mit ihrer Analyse gegen ein mechanisches und statisches Verständnis des Charaktererwerbs. Auf drastische Weise ließe sich ein solches mechanisches Modell folgendermaßen beschreiben: Ein Kind nimmt während der Erziehungsphase passiv Anweisungen von seinen Erziehern auf und wird durch Sanktionen, stimulierende Mittel oder andere manipulierende Maßnahmen in seinem Verhalten konditioniert und darauf getrimmt, die vorgegebenen Regeln zu befolgen und die verlangten Handlungen auszuführen, ohne selbst aktiv bei der Wahl der Handlungen mitzuwirken. Irgendwann als Erwachsener verfügt die Person dann mit einem Mal über einen aktivierbaren rationalen Seelenteil und ist in der Lage, selbst Überlegungen über ihr Handeln anzustellen und Entschlüsse zu fassen. Auch wenn diese Darstellung
EN X 10, 1179b34– 1180a5: διὸ νόμοις δεῖ τετάχθαι τὴν τροφὴν καὶ τὰ ἐπιτηδεύματα· οὐκ ἔσται γὰρ λυπηρὰ συνήθη γενόμενα. οὐχ ἱκανὸν δ᾿ ἴσως νέους ὄντας τροφῆς καὶ ἐπιμελείας τυχεῖν ὀρθῆς, ἀλλ᾿ ἐπειδὴ καὶ ἀνδρωθέντας δεῖ ἐπιτηδεύειν αὐτὰ καὶ ἐθίζεσθαι, καὶ περὶ ταῦτα δεοίμεθ᾿ ἂν νόμων, καὶ ὅλως δὴ περὶ τὸν βίον· οἱ γὰρ πολλοὶ ἀνάγκῃ μᾶλλον ἢ λόγῳ πειθαρχοῦσι καὶ ζημίαις ἢ τῷ καλῷ. Sherman 1989, Kapitel 5, S. 157– 199 sowie Sherman 1999b, 231– 260.
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überzeichnet ist, so vermag auch eine moderate Version des mechanischen Erziehungsmodells nicht zu erklären, wie der Übergang vom nicht-vernunftbegabten Kind zum Erwachsenen erfolgt.¹²⁸⁴ Sherman präsentiert stattdessen ein sukzessiv fortschreitendes Entwicklungsmodell, bei dem auch die Erziehung kleiner Kinder nicht rein mechanisch erfolgt, sondern bereits die sich entwickelnden perzeptiven, emotionalen und kognitiven Fähigkeiten des Kindes anspricht. Ein Indiz dafür, dass Aristoteles den Eingewöhnungsprozess nicht mechanisch auffasst, besteht darin, dass er für die frühe Phase der Erziehung keine harten Sanktionsmaßnahmen empfiehlt, sondern oft von Ermunterungen und Ermahnungen (vgl. EN I 13, 1102b33) oder Lob und Tadel spricht. Mit solchen Erziehungsmethoden soll die Ausbildung der diakritischen Fähigkeiten und schließlich der eigenen Überlegungs- und Entschlussfähigkeit des Heranwachsenden gefördert werden. Zentral für Shermans Deutung ist, dass Kinder schon sehr früh über bestimmte erworbene Wahrnehmungen, Vorstellungen und Meinungen verfügen, an die die Erziehungsmaßnahmen anknüpfen, indem sie in unterstützender und fördernder Weise darauf einwirken sollen. Es lassen sich mit Sherman im Wesentlichen zwei wichtige Etappen im Erziehungsprozess unterscheiden. In der ersten Phase steht die Ausbildung der emotionalen und perzeptiven Fähigkeiten im Mittelpunkt. Auch das Kind verfügt nach Aristoteles bereits über den rationalen Seelenteil und das Überlegungsvermögen (bouleutikon), allerdings liegt dieses noch in unvollendeter (atelês) Form vor (Pol. I 13, 1260a13 – 14). Die frühe Erziehung ist daher vor allem darauf gerichtet, die diskriminatorischen Fähigkeiten des Kindes zu fördern. Die Unterscheidungsfähigkeit ist wichtig für die Ausbildung des Wahrnehmungsvermögens und auch für die affektive Entwicklung des Kindes. Ein wachsender Erfahrungsschatz hilft dabei, Situationen leichter und differenzierter wahrzunehmen, zu vergleichen und adäquat einzuschätzen. Damit wächst die Fähigkeit des Kindes, angemessen sowohl im Handeln als auch affektiv auf Unterschiede und Besonderheiten einer Situation zu reagieren: [Sherman 1989]¹²⁸⁵ The discrimination of ethical relevance will ground affective responses. By tutoring the child’s vision of the world, by instructing him to attend to these features rather than those, desires become focused and controlled in specific ways.
Sherman 1999b, 158: „My motive in taking a serious look at the process of moral education is the belief that the mechanical theory of habituation ultimately makes mysterious the transition between childhood and moral maturity.“ Sherman 1989, 169.
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Die Erziehung der perzeptiven und affektiven Fähigkeiten des Kindes beeinflussen Eltern und Erzieher dadurch, dass sie das Kind dazu bringen, Situationen richtig wahrzunehmen, d. h. diejenigen Aspekte an der Situation zu erkennen und zu beurteilen, die für das Identifizieren eines angemessenen Verhaltens relevant sind.¹²⁸⁶ Wenn Kinder bereits über einen gewissen Erfahrungsschatz verfügen und eigene Urteile bilden können, wirken die Erzieher durch Ermunterungen oder Ermahnungen, Lob oder Tadel und andere Maßnahmen darauf ein, Kinder entweder in ihrem Handeln zu bestärken und zu unterstützen oder ihre Wahrnehmungen, Vorstellungen, Meinungen und Emotionen umzulenken und zu korrigieren, wenn sie in die Irre gehen. Aristoteles spricht hier auch von Überzeugung (peithesthai), was anzeigt, dass Kinder nicht bloß passiv Befehle aufnehmen und befolgen, sondern dass es sich um eine Anleitung handelt, in welcher der wachsenden Urteilsfähigkeit des Kindes Rechnung getragen wird.¹²⁸⁷ Welche Rolle die Überzeugung im Prozess der Erziehung spielt, haben wir bereits bei der Behandlung des thymos gesehen.¹²⁸⁸ In EN I 13 sagt Aristoteles, dass der nichtrationale Seelenteil in gewisser Weise durch die Vernunft überzeugt wird, und er vergleicht dies damit, wie Kinder auf den Rat des Vaters oder von Freunden hören und diesem Rechnung tragen (1102b31– 1103a1). Ich hatte das „Überzeugt-Wer-
Sherman 1989, 171– 172: „[T]he child is not an empty box in which beliefs are instilled, but an individual who has, to a greater or lesser degree, already formed certain construals and judgements, which become adjusted and revised through interaction with an adult. Education is thus a matter of bringing the child to more critical discriminations. The Aristotelian presupposition is that the ability to discriminate is already there and in evidence, as is an interest and delight in improvement.What is required is a shifting of beliefs and perspectives through the guidance of an outside instructor. Such guidance cannot merely be a matter of bringing the child to see this way now, but of providing some sort of continuous and consistent instruction which will allow for the formation of patterns and trends in what the child notices and sees.“ Sherman 1989, 172: „Though the educator persuades and exhorts, the goal is not to manipulate beliefs and emotions – to influence an outcome here and now – but to prepare the learner for eventually arriving at competent judgements and reactions on his own. Any method which secures rational obedience must at the same time encourage the child’s own development. This implies that the child borrows the eyes of wisdom (1144b10 – 12), ‚listens to the words of elders and of the more experiencedʻ (1143b11– 13), not passively but in a way that actively engages his own critical capacities. Accordingly, Aristotle would probably object to the parent who says, ‚Do this, don’t do thatʻ without further descriptions or explanations. The child can legitimately ask ‚whyʻ, and some description and explanation will be in order. What is required is some dialogue and verbal exchange about what one sees (and feels) and should see (and feel); in other words, actual descriptions which articulate a way of perceiving the situation and which put into play the relevant concepts, considerations and emotions (see Pol. 1253a12).“ Vgl. Abschnitt „10.3.1.1 Das Überzeugt-Werden des nicht-rationalen Seelenteils durch die Vernunft“.
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den“ des nicht-rationalen Seelenteils an früherer Stelle derart gedeutet, dass es sich um ein Verstehen von Anweisungen handelt, wie es für die Ausführung der entsprechenden Handlung nötig ist, dass dies aber kein Erfassen von Schlussfolgerungen oder Gründen impliziert.¹²⁸⁹ Aristoteles illustriert in EN I 13 ein solches Überzeugen am Beispiel von Ermahnungen, Ermunterungen und Formen des Tadels. Mit diesen Mitteln werden dem Kind verschiedene Aspekte seines Handelns und möglicherweise zu erwartende angenehme und unangenehme Folgen davon aufgezeigt, um dadurch die Strebungen des Kindes zu stärken, abzuschwächen oder umzulenken. Das Kind benötigt zur Aufnahme solcher Informationen nur ein Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen, jedoch noch keine ausgebildete Überlegungsfähigkeit. Die Schulung der diskriminatorischen Fähigkeiten des Kindes spielt auch für die Entwicklung seiner affektiven Fähigkeiten eine Rolle. Hierbei könnte man sogar vermuten, dass auch Eltern umgekehrt von Kindern lernen können.¹²⁹⁰ Denn Aristoteles schätzt offenbar die Empfindungsfähigkeit von Kindern als stärker ausgeprägt ein als jene von Erwachsenen: Kinder sind oft empathischer und empfinden Emotionen intensiver und reiner. In EN IV 15 bezeichnet Aristoteles die Scham als angemessenen Affekt bei Jugendlichen, da diese häufig nach ihren Affekten leben und Fehler machen, wovon die Scham sie abzuhalten vermag.¹²⁹¹ In der Rhetorik differenziert er zudem sehr ausführlich entsprechend den Altersgruppen Jugend, Blütezeit und Alter, von welcher Art eine Person jeweils hinsichtlich ihrer Emotionen und Charaktereigenschaften beschaffen ist: Hier sagt er über die Jungen, dass sie eher wählen, das Schöne zu tun als das Nützliche, und die Begründung dafür lautet: „[…] denn sie leben eher durch den Antrieb des Charakters als durch die Überlegung, es richtet sich aber die Überlegung auf das Nützliche, die Tugend aber auf das Schöne.“¹²⁹² Diese Äußerungen sprechen dafür, dass Aristoteles Kindern wohl eine stärkere und weniger getrübte Empfindsamkeit zuerkennt als Erwachsenen; diese Empathiefähigkeit kann die Eltern
Vgl. auch Lorenz 2006, 189 – 190. Diese Überlegung bringt Sherman vor. Damit knüpft sie zwar an aristotelische Äußerungen an, geht in ihrer Deutung aber möglicherweise darüber hinaus, wie sie selbst auch einräumt (Sherman 1989, 173): „Perhaps more than Aristotle suggests, we should not assume that the direction of exchange flows solely from parent to child, for the child’s vision may sometimes instruct the adult’s.“ EN IV 15, 1128b15 – 19: „Dieser Affekt [i. e. die Scham; BL] ist nicht für jedes Alter passend, sondern für die Jugend. Wir denken nämlich, dass die jungen Menschen Scham empfinden sollten, weil sie nach dem Affekt leben und viele Fehler begehen, von der Scham aber zurückgehalten werden. Und wir loben unter den Jugendlichen diejenigen, die Scham empfinden […].“ Rhet. II 12, 1389a33 – 35: τῷ γὰρ ἤθει ζῶσι μᾶλλον ἢ τῷ λογισμῷ, ἔστι δὲ ὁ μὲν λογισμὸς τοῦ συμφέροντος ἡ δὲ ἀρετὴ τοῦ καλοῦ. [Übersetzung Rapp].
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ihrerseits daran erinnern, welche Emotionen zu haben angemessen ist, wenn bei ihnen das nötige Einfühlungsvermögen nachlässt oder in den Hintergrund tritt. In der zweiten Erziehungsphase geht es anschließend um die Kultivierung des rationalen Seelenteils. Eine heranwachsende Person ist hier bereits in der Lage, angesichts eines vorgegebenen Ziels zu überlegen, durch welche Mittel sich dieses am besten erreichen lässt, und sie vermag sich aufgrund dessen für den am besten geeigneten Weg zu entschließen. Sie ist aber noch nicht zur Bildung einer prohairesis in der Lage. Zur vollständig entwickelten Vernunftfähigkeit fehlt ihr noch die Fähigkeit, eine tugendhafte Handlung nicht nur als Mittel zu einem angestrebten Ziel zu wählen, sondern sich zur Handlung um ihrer selbst willen zu entschließen. Das heißt, die heranwachsende Person muss nicht nur lernen, welche Handlungen tugendhaft und erstrebenswert sind, sondern sie muss auch die Fähigkeit erwerben, diese Handlungen als richtige Handlungen wertzuschätzen und sie um ihrer selbst willen und nicht um eines externen Ziels willen zu wünschen und zu wählen. In dieser zweiten Phase des Erziehungsprozesses ist eine Person bereits fähig, ihre nicht-rationalen Strebungen und ihr eigenes Handeln selbst zu prüfen, darauf einzuwirken und sie nach ihrer eigenen rationalen Überlegung auszurichten. Eine nähere Analyse des Erziehungsprozesses zeigt somit, dass Aristoteles die Erziehung eines Kindes zum Erwachsenen nicht als einen statischen Prozess betrachtet. Vielmehr erfolgt die Erziehung in differenzierter und flexibler Weise und variiert entsprechend zu den zunehmenden perzeptiven, affektiven und kognitiven Fähigkeiten des Kindes. Dadurch wird der Determinismusverdacht von Furley und anderen Autoren entschärft, denn bereits von der frühen Kindheit an sprechen die Erziehungsmaßnahmen die Fähigkeiten des Kindes an und das Kind wird nicht bloß passiv von außen konditioniert. Je mehr ein Kind heranwächst und seine Urteilsfähigkeit entwickelt, umso mehr liegt es auch bei ihm, Situationen wahrzunehmen und einzuschätzen, welche Handlung zu wählen ist.
13.4.2 Mit-Verantwortlichkeit der Heranwachsenden für den eigenen Charakter (1114a11 – 31) Nach der Diskussion der Frage, ob Aristoteles’ Konzeption des Charaktererwerbs die Annahme der Verantwortung für den eigenen Charakter unterminiert oder nicht, komme ich zur Kommentierung des Textes in EN III 7 zurück. Im Abschnitt 1114a11– 31 begründet Aristoteles die Annahme, dass der Charakter willentlich ist, weil er aus willentlichen Handlungen resultiert. Dabei präzisiert er diese Annahme in zweifacher Hinsicht. Er hält fest, dass derjenige, der dabei ist, eine Charakterdisposition zu entwickeln, erstens weiß, dass aus seinen Hand-
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lungen ein entsprechender Charakter resultiert, und dass er zweitens, wenn er auf eine bestimmte Weise handelt, auch wünscht, einen entsprechenden Charakter zu haben. Der erste Punkt knüpft an die Bemerkung in 1114a8 – 10 an,¹²⁹³ nach der es nur bei einem völlig stumpfsinnigen Menschen vorkommen kann, „nicht zu wissen, dass die Dispositionen aus der Betätigung bei den jeweiligen Dingen heraus entstehen“.¹²⁹⁴ Mit dem zweiten Punkt reagiert Aristoteles offenbar auf einen Einwurf, der sich in der Parallelstelle in den MM ausführlicher findet und dort Sokrates zugeschrieben wird: [MM I 9, 1187a5 – 10]¹²⁹⁵ Nachdem nun über die Tugend gesprochen wurde,¹²⁹⁶ wäre das nächste, was zu untersuchen ist, ob es möglich ist, sie zu erwerben oder nicht, oder ob es vielmehr, wie Sokrates sagte, nicht bei uns liegt, gut zu sein oder schlecht. Denn wenn irgendeiner jemanden, wie er sagte, fragte, ob er gerecht oder ungerecht sein wolle, so würde wohl niemand wünschen, ungerecht zu sein.
Die Sokratische Annahme, dass niemand das Schlechte wünscht und deshalb auch nicht willentlich Schlechtes tut, findet sich in verschiedenen platonischen Dialogen, z. B. im Protagoras in Auseinandersetzung mit dem Gedicht des Simonides (Prot. 345d9-e4) und im Gorgias (Gorg. 509e5 – 7). Auch in den MM wird als Antwort auf die Sokratische Annahme die Ablehnung der Asymmetrieannahme vorgebracht und dieser entgegengehalten, dass man ebenso etwas Gutes als auch etwas Schlechtes wünschen kann.
Da der Satz in 1114a12– 14 sachlich an die Bemerkung in 1114a8 – 10 anküpft, haben manche eine Textumstellung vorgeschlagen und die Sätze in 1114a11– 12 und 1114a12– 14 vertauscht, so dass es zunächst um den Zusammenhang zwischen Unwillentlichkeit und Unwissenheit geht und im nächsten Schritt erst der Aspekt des Wünschens hinzukommt. Sachlich leuchtet die Umstellung ein. Der Sinn lässt sich aber auch in der überlieferten Version erfassen, da die Aussagen so kurz aufeinanderfolgen (vgl. meine Anm. 1165, S. 445 – 446). Der Ausdruck „κομιδῇ ἀναίσθητος“, den ich mit „stumpfsinnig“ übersetzt habe, ist auch im Griechischen ein sehr starker Ausdruck (Burnet 1900, 136). So übersetzt Cooper den Ausdruck z. B. mit „total blockhead“ (Cooper 2013). Deshalb ist auch nicht anzunehmen, dass sich der Vorwurf an Platon richtet, sondern dass Aristoteles hier eine Meinung anspricht, die er für völlig absurd und keiner weiteren Betrachtung für nötig hält. MM I 9, 1187a5 – 10: ἐπεὶ δ᾿ οὖν ὑπὲρ ἀρετῆς εἴρηται**, μετὰ τοῦτ᾿ ἂν εἴη σκεπτέον πότερον δυνατὴ παραγενέσθαι ἢ οὔ, ἀλλ᾿ ὥσπερ Σωκράτης ἔφη, οὐκ ἐφ᾿ ἡμῖν γενέσθαι τὸ σπουδαίους εἶναι ἢ φαύλους. εἰ γάρ τις, φησίν, ἐρωτήσειεν, ὁντιναοῦν πότερον ἂν βούλοιτο δίκαιος εἶναι ἢ ἄδικος, οὐθεὶς ἂν ἕλοιτο τὴν ἀδικίαν. Susemihl nimmt in 1187a5 eine Lacuna an, da zum Verb „εἴρηται“ ein Objekt zu fehlen scheint. Ramsauer schlägt als Ergänzung für die Lacuna („nachdem nun über die Tugend gesprochen wurde, was sie ist“). Ich denke, dass der Nebensatz weder im Deutschen noch im Griechischen eine Ergänzung benötigt, so dass auch keine Lücke angenommen werden muss.
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Im nächsten Schritt weist Aristoteles in 1114a13 – 14 darauf hin, dass die Annahme der Willentlichkeit des Charakters auch nicht dadurch in Frage gestellt wird, dass ein erworbener Charakter etwas fest Verankertes ist, das sich dann, wenn er einmal erworben ist, nicht mehr ändern lässt – zumindest nicht unmittelbar und auf bloßen Wunsch hin. Diesen Punkt zu unterstreichen, ist ihm offenbar ein Anliegen, denn er bringt ihn in den Zeilen 1114a14– 21 auf verschiedene Weise zum Ausdruck. Zur Illustration zieht er erneut einen Vergleich mit körperlichen Beschaffenheiten: So liegt es auch bei einer Krankheit anfangs bei einer Person, gesund zu bleiben und Krankheiten zu vermeiden, wenn sie auf den Rat der Ärzte hört und mäßig lebt. Handelt sie jedoch wiederholt willentlich diesen Empfehlungen entgegen, so verdirbt sie allmählich ihre Gesundheit und beginnt krank zu werden. Ist sie einmal krank geworden, so liegt es nicht mehr bei ihr, gesund zu sein, zumindest nicht von jetzt auf gleich und bloß dadurch, dass sie es wünscht. In gleicher Weise nimmt Aristoteles an, dass es zu Beginn bei der handelnden Person liegt, Tugenden oder Laster zu erwerben. Hat sie jedoch einmal einen Charakter entwickelt, verhält es sich damit wie mit einem weggeschleuderten Stein, der nach dem Abwurf nicht mehr aufzuhalten ist: Die Veränderung des Ist-Zustandes liegt nicht mehr bei der Person, auch wenn sie sich willentlich in diesen Zustand gebracht hat und es bei ihr lag, das Ergebnis zu vermeiden. Im folgenden Abschnitt führt Aristoteles den Gedanken weiter, dass Arten von Schlechtigkeit, die zu vermeiden einer Person möglich waren, Tadel verdienen. Diese Annahme ist nicht neu, aber Aristoteles resümiert in den Zeilen 1114a21– 31 nochmals in allgemeiner Form seine Ablehnung der Asymmetriethese. Er bezieht sie dabei gleichermaßen auf seelische wie auf körperliche Schlechtigkeiten, denn für beide gilt, dass eine Person in solchen Fällen, in denen es bei ihr lag, zu verhindern, in einen schlechten Zustand zu geraten, Tadel verdient, wohingegen sie Entschuldigung und Mitleid verdient, wenn sie die Schlechtigkeit nicht vermeiden konnte. So sind unterschiedliche Reaktionen angemessen, je nachdem, ob jemand aus Trunkenheit erblindet oder aus Krankheit, oder wenn jemand nachlässig wird, weil er entweder zu wenig trainiert hat oder weil er schwach und gelähmt ist. Aristoteles’ Charakterisierung der unterschiedlichen adäquaten Reaktionsarten auf selbstverschuldete und nicht-selbstverschuldete Formen von Schlechtigkeit hat ein prägnantes Vorbild im Protagoras. ¹²⁹⁷ Dort Prot. 323c8-e3: „Bei allen Mängeln, bei denen die Menschen voneinander glauben, sie hätten sie von Natur aus oder durch Fügung des Geschicks, zürnt niemand denen, die damit behaftet sind, oder weist sie zurecht oder belehrt oder bestraft sie, damit sie eine derartige Eigenschaft ablegen, sondern man bedauert sie. Wer wäre so töricht, dass er versuchte, z. B. gegenüber den Hässlichen oder Kleinwüchsigen oder Schwachen eine von diesen Maßnahmen zu
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konstatiert Protagoras im Gespräch mit Sokrates, dass man auf schlechte Eigenschaften oder Verhaltensweisen unterschiedlich reagiert, je nachdem, ob sie entweder von Natur aus oder zufällig bestehen oder aber durch Belehrung, Übung und Lehre hätten vermieden werden können. Aristoteles führt mit seinen Überlegungen und Vergleichen mit körperlichen Schlechtigkeiten die Widerlegung der Asymmetriethese und die Argumentation für die Annahme der Willentlichkeit des eigenen Charakters zusammen. Letztere sollte den Nachweis erbringen, dass der Erwerb des eigenen Charakters etwas Willentliches ist, weil die Handlungen, aus denen er hervorgeht, willentlich sind. Da dies indes gleichermaßen für den Erwerb eines guten wie eines schlechten Charakters gilt, ist damit zugleich auch die Ablehnung der Asymmetriethese bestätigt. So lautet das allgemeine Fazit des Abschnitts 1114a29 – 31, das die Schlussfolgerung bezüglich der körperlichen Schlechtigkeiten auf die seelischen überträgt, wie folgt: „Wenn dies so ist, dann werden auch in den anderen Fällen von Schlechtigkeiten diejenigen getadelt, die bei uns liegen.“ Im Abschnitt 1114a8 – 31 verdienen zwei Punkte eine nähere Betrachtung, da sie erneut die Frage nach der Willentlichkeit des eigenen Charakters berühren. Der erste Punkt betrifft das Wissen, das Aristoteles denjenigen zuschreibt, die dabei sind, ihren Charakter zu entwickeln. Dieser Punkt wird Thema des nächsten Abschnitts „13.4.2.1 Wissen um die Folgen der charakterkonstituierenden Handlungen“ sein. Der zweite Punkt reicht über die Textstelle hinaus und richtet sich auf die Frage, wie Aristoteles die adäquaten Reaktionsweisen auf willentliche Handlungen konzipiert und ob er dabei einen Unterschied zwischen den Reaktionen im Fall von Kindern und im Fall von Erwachsenen annimmt. Diese Frage behandele ich im Abschnitt „13.4.2.2 Differenzierung zwischen den adäquaten Reaktionsarten gegenüber Kindern, Heranwachsenden und Erwachsenen?“. Beide Punkte geben dabei weiter Aufschluss darüber, wie Aristoteles die Mit-Verantwortung der einzelnen handelnden Person für ihren Charakter konzipiert hat.
ergreifen? Dass nämlich diese Dinge, d. h. was eine ansehnliche Erscheinung ausmacht und das Gegenteil davon, für den Menschen von Natur aus und durch Fügung des Geschicks zustande kommen, das weiß man, wie ich glaube. Dagegen all die guten Eigenschaften, von denen man meint, sie würden den Menschen durch Bemühung, Übung und Lehre zu eigen: Wenn einer diese Eigenschaften nicht hat, sondern die ihnen entgegengesetzten schlechten, sind sie, meine ich, der Grund, dass es zu den Zornesausbrüchen, Bestrafungen und Zurechtweisungen kommt [Übersetzung Manuwald].“
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13.4.2.1 Wissen um die Folgen der charakterkonstituierenden Handlungen An wen denkt Aristoteles, wenn er sagt, dass es am Anfang (ex archês) bei der handelnden Person lag, einen Charakter zu erwerben? Dieser Person schreibt er Wissen davon zu, dass aus ihren willentlichen Handlungen bei regelmäßiger Wiederholung ein entsprechender Charakter resultieren wird (vgl. 1114a12– 14 und ex negativo 1114a8 – 9). Das Wissen, über das eine Person verfügen muss, damit sie nach Aristoteles’ Kriterien willentlich handelt, ist Wissen um die Einzelumstände ihrer Handlung. Das Wissen davon, dass aus den einzelnen willentlichen Handlungen bei regelmäßiger Wiederholung ein entsprechender Charakter hervorgeht, muss somit auch zum Wissen um die Einzelumstände gehören. Die zentrale Frage ist nun, wem Aristoteles ein solches Wissen zuspricht, d. h. von welchen Akteuren er annimmt, dass sie wissen, dass aus ihren Handlungen ein entsprechender Charakter resultiert. Irwin ist der Ansicht, dass Aristoteles nur an Erwachsene denken kann, die trotz der Formung ihres Charakters während der Kindheit noch zu dessen Modifikation in der Lage sind. In Bezug auf 1114a9 – 12 schreibt Irwin: „Only an adult could be expected to know that his actions will form his states of character; and only an adult can reasonably be assumed to wish to be intemperate when he does intemperate actions.“¹²⁹⁸ Irwin bezweifelt somit, dass sich die Argumentation für die Willentlichkeit des eigenen Charakters in 1114a8 – 31 auf den Charaktererwerb bei Kindern beziehen kann, da Kinder noch nicht über das Wissen verfügen, dass aus ihren Handlungen ein entsprechender Charakter hervorgeht. Die Argumentation beziehe sich stattdessen ausschließlich auf Erwachsene, die bereits die Erziehung während der Kindheit hinter sich haben. Dieselbe Position vertritt auch Cooper: [Cooper 2013]¹²⁹⁹ It is important to notice that the earlier actions that Aristotle is referring to here are ones that we do as grown-up people, possessed of the full power of deliberation about what is good and bad for human beings, and so for oneself, and of decision-making on the basis of it. He is not speaking about our initial actions, under the direct guidance of our parents, as children, in which we begin to acquire habits of feeling and action – at a time when we do not yet possess the full power of practical reasoning. […] if someone does what they know will make them unjust, they are voluntarily unjust once they have become that sort of person (a12– 13).
Die Deutung von Irwin und Cooper halte ich nicht für zwingend. Donini präsentiert ein interessantes Argument gegen diese Annahme.¹³⁰⁰ Es geht aus von der
Irwin 1980, 140. Cooper 2013, 308 – 309. Donini 2010, 154– 155: „[we …] can nevertheless admit that, with respect to the subjects undergoing their development whom Aristotle has in mind and who are usually and firstly
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Beobachtung, dass auch Kinder und Heranwachsende über ein Wissen um die Einzelumstände ihres Handelns verfügen; dieses ist nötig, damit ihre Handlungen willentlich sind. Donini räumt zwar ein, dass Kinder und Heranwachsende noch nicht in derselben Weise wie Erwachsene Wissen davon haben, dass aus ihren willentlichen Handlungen ein entsprechender Charakter resultiert; aber er weist darauf hin, dass es zu den zentralen Inhalten der Erziehung zählt, sie auf diesen Zusammenhang aufmerksam zu machen. Ermunterungen und Ermahnungen dienen dazu, Kindern beizubringen oder in Erinnerung zu rufen, welche Folgen ihr Handeln haben kann. Demnach ist es laut Donini möglich, die Argumentation für die Willentlichkeit des Charakters auch auf Kinder anzuwenden: Da bei Kindern und Heranwachsenden der Inhalt von Ermahnungen und Ermunterungen zum Wissen um die Einzelumstände des Handelns gehört und dazu auch Informationen über die Folgen der eigenen Handlungen gehören, lässt sich ihnen auch Wissen darum zuschreiben, dass aus ihren willentlichen Handlungen bei regelmäßiger Wiederholung ein entsprechender Charakter resultiert. Damit ist freilich nicht behauptet, dass Aristoteles bei den Akteuren, denen er Wissen um die Folgen ihrer Handlungen zuschreibt, in erster Linie (oder überhaupt) an Kinder denkt und nicht an Erwachsene, die bereits über ein entwickeltes Überlegungsvermögen verfügen. Ich teile die Einschätzung, dass es an dieser Stelle vor allem um Erwachsene geht. Wichtig an Doninis Erwiderung ist aber, dass er damit eine Möglichkeit aufzeigt, bereits bei Kindern und Heranwachsenden in einer gewissen Weise ein Wissen um den Zusammenhang zwischen ihren Handlungen und dem daraus resultierenden Charakter anzunehmen und ihnen infolgedessen auch schon in einem abgeschwächten Maß eine Mit-Verantwortung für die Entwicklung ihres Charakters zuzuschreiben. Da es sich dabei um ein Wissen handelt, das sie von ihren Erziehern empfangen und über das sie noch nicht selbständig verfügen, ergibt sich, dass daraus gleichwohl noch nicht dasselbe Maß an Mit-Verantwortung für den eigenen Charakter resultiert wie im Fall einer überlegungsfähigen erwachsenen Person.
children, adolescents, and youths – not adults – what distinguishes the particular circumstances surrounding their actions is the admonishment of the educator (whether legislator or authoritative parent) who will constantly remind them that by always behaving in the recommanded way, they will grow up well and will eventually become men bearing excellent characters, good and respected citizens. It is surely reasonable to assume that this admonishment is one of the concrete facts of the particular situation in which the subject undergoing his formation whom Aristotle has in mind will find himself acting; but, if such is the case, it is also (almost entirely) justified to assert that every agent will be aware of the remote consequences of his behavior; this is, in effect, information that educators always provide to the agents Aristotle would have in mind.“
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13.4.2.2 Differenzierung zwischen den adäquaten Reaktionsarten gegenüber Kindern, Heranwachsenden und Erwachsenen? Der zweite Punkt betrifft die Frage, ob und ggf. inwiefern Aristoteles bei der Zurechenbarkeit von Handlungen im Fall von Kindern, Heranwachsenden und Erwachsenen differenziert. Dass er bezüglich der Zurechenbarkeit einen Unterschied annimmt, kommt in meinen Augen am deutlichsten darin zum Ausdruck, dass er zwischen verschiedenen Reaktionsarten unterscheidet, die jeweils in Bezug auf Kinder, Heranwachsende und Erwachsene angemessen sind. Beides – sowohl eine Differenzierung von Reaktionsarten als auch eine solche der Zurechenbarkeit von Handlungen – haben verschiedene Autoren nachdrücklich bestritten. Sie weisen darauf hin, dass Aristoteles in Hinblick auf Kinder und Erwachsene dieselben Bedingungen aufstellt, unter denen ihre Handlungen willentlich geschehen, nämlich wenn sie weder aufgrund von Unwissenheit um die Einzelumstände der Handlung noch aus Gewalt oder Zwang geschehen. Außerdem nimmt Aristoteles diesen Autoren zufolge keine Differenzierung zwischen verschiedenen Reaktionsweisen vor, die jeweils in Bezug auf Kinder oder auf Erwachsene angemessen sind, wenn sie willentlich gut oder schlecht handeln. In beiden Fällen erwähnt Aristoteles z. B. Bestrafungen und Belohnungen als angemessene Reaktionen, ohne dass dabei ein Unterschied gemacht wird, ob deren Adressaten Kinder oder Erwachsene sind. So hat z. B. Roberts jegliche Differenzierung zwischen Kindern und Erwachsenen bei Aristoteles bestritten und aus der Gleichbehandlung der Sanktionen geschlossen, dass er bei Kindern und Erwachsenen auch keinen Unterschied in der Verantwortung für ihre Handlungen annimmt: [Roberts 1989] ¹³⁰¹ It is far from obvious […] that Aristotle sees the actions of adults, in general, as different from those of children in a way that could be expected to infect his conception of the role or nature of punishment (or reward) in the two cases. One ‚deservesʻ punishment, for Aristotle, if there is something wrong with one’s soul of the sort that might be correctable. Thus, animals, small children, and fully mature adults will all be in need of punishment for the same reason. In the case of animals and small children, correcting what is wrong with them will be a matter of redirecting irrational desires. In the case of adults there will be rational desires as well that are in need of change. […] Aristotle does not, in discussing responsibility for action, go out of his way to distinguish adults from children because he thinks that many adults are very much like children.
Roberts’ Argumentation vermag in meinen Augen nicht zu überzeugen, weil sie von einer unzutreffenden Deutung der Reaktionsweisen im Fall von Kindern und
Roberts 1989, 26 – 27.
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Erwachsenen ausgeht. Sie nimmt an, dass Lob und Tadel bei Aristoteles ausschließlich die Funktion haben, zukünftiges Verhalten zu beeinflussen; sie anerkennt hingegen keine Funktion, in der Lob und Tadel verwendet werden, um einer Person ihr gutes oder schlechtes Handeln zuzurechnen, d. h. sie dafür moralisch verantwortlich zu machen.¹³⁰² Lob und Tadel dienen demnach auch dann, wenn sie sich an Erwachsene richten, nicht dazu, ihnen ihr Handeln zuzurechnen, sondern haben bloß die Funktion, das zukünftige Verhalten von Erwachsenen zu steuern. Eine ähnliche Position wie Roberts hat jüngst auch Cooper vertreten. Auch er geht davon aus, dass bei Kindern und Erwachsenen dieselben Bedingungen erfüllt sein müssen, damit sie für ihre Handlungen Lob oder Tadel verdienen. Es wäre ihm zufolge verfehlt, bei Aristoteles eine besondere Art von „moralischem Lob“ oder „moralischem Tadel“ anzunehmen, die nur Erwachsene für ihre Handlungen verdienen und womit ihnen moralische Verantwortung für ihr Handeln zugerechnet wird, die sich Kindern noch nicht zuschreiben lässt. Das bringt Cooper zu dem Ergebnis, dass es verfehlt ist, Aristoteles eine Konzeption von moralischer Verantwortung zuzuschreiben. Zutreffend ist nur, ihm eine Konzeption von kausaler Verantwortung zuzusprechen, die durch die Bedingungen von Willentlichkeit bestimmt wird: [Cooper 2013]¹³⁰³ Philosophers who discuss ‚moralʻ responsibility match that with another concept. They conceive of a special sort of praise and, especially, blame: ‚moral praiseʻ or ‚moral blameʻ, to which only adults are, it is generally thought, legitimately subject. If, then, Aristotle’s theory of responsibility concerns adult human agents’ responsibility for what they do, […] and if he regards it as important […] to link responsibility to praiseworthiness and blameworthiness, should we conclude, despite the appearances by his inclusion of other than adult human agents as in some way or to some degree responsible for some of what they do, that his theory really does concern, perhaps as a special case, specifically ‚moralʻ responsibility? Perhaps he sees an important difference between the responsibility for actions that children and animals have and adult agents’ responsibility? Because of special features of adult agency, perhaps he holds that adults often satisfy not only the same criteria that these other agents do when they act responsibly, but additional ones too, making them ‚morallyʻ responsible and subject to ‚moralʻ praise and blame, as well? In what follows I will argue that we should answer these questions with a firm ‚noʻ.
Roberts 1989, Anm. 10, 34: „Praise and blame are seen as affecting future actions […]. I see no reason for taking the passages in which Aristotle describes the aim of punishment as reform as anything other than statements of his considered view on the question […].“ Cooper 2013, 269.
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Um es gleich vorwegzunehmen: Ich halte die Auffassung, die Cooper mit einem bestimmten „No“ zurückweist, für zutreffend. Cooper bestreitet, ebenso wie Roberts, m. E. zu Unrecht, dass sich bei Aristoteles eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Weisen findet, auf die man auf das Handeln von Kindern und auf dasjenige von Erwachsenen reagiert. Eine Differenzierung zwischen Reaktionsarten ist einerseits in Aristoteles’ Unterscheidung zwischen verschiedenen Funktionen des Bestrafens zu erkennen. Andererseits ist seine Rede von Lob und Tadel aufschlussreich, um zu sehen, dass er einen Unterschied annimmt, je nachdem, ob die Adressaten Kinder oder Erwachsene sind. Ich betrachte zunächst die verschiedenen Funktionen, die eine Bestrafung haben kann, bevor ich im nächsten Abschnitt auf Aristoteles’ Rede von Lob und Tadel eingehe. Aristoteles verwendet als Bezeichnungen für eine Bestrafung sowohl „κόλασις“ (Bestrafung) als auch „τιμωρία“ (Vergeltung). Häufig gebraucht er die Ausdrücke austauschbar; eine Bemerkung in der Rhetotik zeigt aber, dass er in bestimmten Kontexten auch distinkte Bedeutungen mit den Ausdrücken verbindet:¹³⁰⁴ [Rhet. I 10, 1369b12– 14]¹³⁰⁵ Es gibt aber einen Unterschied zwischen Vergeltung und Bestrafung; das eine Mal nämlich ist die Bestrafung (kolasis) um des Erleidenden willen da, das andere Mal die Vergeltung (timôria) um dessentwillen, der sie ausführt, damit er Genugtuung erfährt.
Aristoteles grenzt hier Bestrafung (kolasis) von Vergeltung (timôria) insofern ab, als sich eine Bestrafung auf die Person bezieht, die für ihr Handeln sanktioniert werden soll, während die Vergeltung der schlecht handelnden Person sich auf die geschädigte Person bezieht, der jene Unrecht zugefügt hat. Eine Vergeltung dient somit dazu, die schlechte Handlung zu rächen und dadurch der geschädigten Person Genugtuung bzw. einen Ausgleich zu verschaffen. Eine Bestrafung dient dagegen der Abschreckung und hat den Zweck, die bestrafte Person (oder auch andere Personen, die Zeugen der Bestrafung sind) in ihrem künftigen Handeln zu beeinflussen, vor ähnlichen Handlungen abzuschrecken und zu korrigieren. Vergeltung und Bestrafung erfüllen demnach unterschiedliche Funktionen und
Vgl. Irwin 1999, 321: „Aristotle applies two terms to punishment, timôrein (‚exact a penaltyʻ) and kolazein. Though they are sometimes used together (1126a28, 1180a9), Aristotle conforms to the distinction drawn at Rhet. 1369b12. Hence, timôria is concerned with satisfaction for the harm done and so often involves revenge (1126a21, 1126a28; 1149a31). Kolazein, by contrast, is forwardlooking, concerned with restraining (or ‚temperingʻ; see 1119a33) and improving the offender.“ Rhet. I 10, 1369b12– 14: διαφέρει δὲ τιμωρία καὶ κόλασις· ἡ μὲν γὰρ κόλασις τοῦ πάσχοντος ἕνεκά ἐστιν, ἡ δὲ τιμωρία τοῦ ποιοῦντος, ἵνα πληρωθῇ.
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sie setzen Verschiedenes aufseiten ihres Adressaten voraus.¹³⁰⁶ Eine Bestrafung ist in die Zukunft gerichtet und hat einen „reformativen“ Zweck¹³⁰⁷, indem sie künftig ähnlichen Handlungen durch Abschreckung entgegenzuwirken und die bestrafte Person zu korrigieren versucht. Eine Vergeltung richtet sich dagegen auf die geschädigte Person, indem durch die Vergeltung des Täters ein Schaden, den die geschädigte Person erlitten hat, gerächt und dadurch ausgeglichen werden soll. Wir haben gesehen, dass Aristoteles in der Rhetorik den Zorn (thymos) als eine Strebung nach einer Vergeltung für eine Herabsetzung durch jemanden, dem eine solche Herabsetzung nicht zusteht, bestimmt. Rächt jemand aus berechtigtem Zorn eine Herabsetzung, die ihm zugefügt wurde, so ist dies ein Beispiel für eine Vergeltung. Diese Art der Sanktionierung hat nicht den primären Zweck, die gerächte Person künftig von derartigem Handeln abzuschrecken; vielmehr kommt in der Rache zum Ausdruck, dass die Herabsetzung der Person zugerechnet und sie dafür durch die Sanktion zur Rechenschaft gezogen wird. Aristoteles’ Distinktion zwischen zwei verschiedenen Funktionen von Strafe in der Rhetorik ist somit ein erster eindeutiger Beleg dafür, dass er bei den Reaktionsarten gegenüber schlechten Handlungen durchaus differenziert: Einer Vergeltung liegt die Zu-
Eine ähnliche Argumentation bringt Brickhouse in Antwort auf Roberts vor: vgl. Brickhouse 1990, 142: „[Aristotle] sometimes endorses quite different responses to undesirable conduct, one of which is plainly not appropriate for animals or children. In […] 1113b22– 24, for example, in a passage intended to show that it is reasonable to think vice is voluntary, Aristotle remarks that ‚private individuals and legislatorsʻ alike dispense both ‚corrective treatmentʻ (κολάζουσι) and ‚vengeanceʻ (τιμωροῦνται see also 1180a8 – 9). […] Although both forms of punishments serve to deter others from wicked action (NE III [7], 1113b25 – 26), κόλασις is also intended to serve the ‚forward-lookingʻ aim of reforming the agent, whereas τιμωρία serves the ‚backward-lookingʻ goal of exacting revenge. […] [A]ny plausible defense of ‚taking revengeʻ on wrongdoers requires that it not be inflicted on children precisely because revenge must be deserved, and children, though they act voluntarily, are obviously not morally accountable agents. Unless it can somehow be explained away, Aristotle’s endorsement of τιμωρία as a legitimate form of punishment certainly suggests that he was prepared to draw a further distinction within the notion of the voluntary.“ Brickhouse schreibt wiederholt in der zitierten Passage „τιωρία“ anstelle von „τιμωρία“, was wohl ein Versehen ist. Die Rede von einer „reformativen“ Bestrafung übernehme ich von Sorabji, der zwischen einer „retributiven“ und einer „reformativen“ Art des Bestrafens unterscheidet. Allerdings ist Sorabji der Ansicht, dass Aristoteles der reformativen Funktion des Strafens keine wichtige Rolle beimisst (Sorabji 1980, 289): „[Aristotle] mentions the reformative theory [sc. of punishment; BL] as a view of others (NE III 5, 1113b26, X 9, 1180a12), and sometimes pays lip service to it himself (Rhet. I 10, 1369b12; EE I 3, 1214b32, II 1, 1220a35; NE II 3, 1104b16). But we have already seen that in many cases Aristotle is pessimistic about chances of changing a man, once his habits are formed (NE 1114a13 – 21, 1150a21, 1150b32, 1151a4, 1152a30 – 31).“ Die zentralen Funktionen der Strafe bei Aristoteles sieht Sorabji dagegen erstens in der Wiederherstellung von Gleichheit und zweitens in der Abschreckung anderer Personen vor schlechten Handlungen.
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rechnung einer schlechten Handlung zugrunde und die gerächte Person wird durch die Strafe dafür verantwortlich gemacht. Eine Bestrafung beruht dagegen nicht auf einer solchen Zurechnung einer schlechten Handlung; sie hat vielmehr eine korrigierende und formative Funktion und ist auf zukünftiges Handeln gerichtet.
13.4.2.3 Die formative und die zurechnende Funktion von Lob und Tadel Der zweite Beleg für die Annahme, dass Aristoteles eine klare Unterscheidung zwischen verschiedenen adäquaten Reaktionsweisen gegenüber unterschiedlichen Akteuren trifft, basiert auf seiner Rede von Lob und Tadel. Ich bin der Ansicht, dass sich eine Differenzierung zwischen verschiedenen Funktionen findet, die Lob und Tadel sowie im Allgemeinen reaktive Einstellungen¹³⁰⁸ einnehmen können. Zwar gibt Aristoteles in den Ethiken im Gegensatz zur Rhetorik keine explizite Erklärung zu seiner Verwendung von „Lob“ und „Tadel“;¹³⁰⁹ aber auch in den Ethiken scheint er von Lob und Tadel nicht nur zufällig und beiläufig zu sprechen, sondern mit den Begriffen ein bestimmtes Verständnis zu verbinden, das sich in systematischer Weise rekonstruieren lässt.¹³¹⁰ Es lassen sich systematisch (mindestens) zwei grundlegende Funktionen unterscheiden, die Lob und Tadel haben können,¹³¹¹ und es ist zu prüfen, ob Aristoteles in beiden Funktionen von Lob und Tadel spricht. Die erste Funktion lässt sich als formativ-gewöhnende Funktion beschreiben. Sie ist auf das zukünftige Verhalten der handelnden Person gerichtet, sie kann aber auch an Dritte gerichtet sein, die Zeugen der gelobten oder getadelten Handlung sind. Lob dient hier dazu, die damit adressierte Person künftig zu ähnlichen Handlungen zu er-
Unter „reaktiven Einstellungen“ (reactive attitudes) verstehe ich im Anschluss an Strawson emotional gefärbte Einstellungen wie die des Grolls, der Dankbarkeit, des Übelnehmens u. a., die wir anderen gegenüber als Reaktion auf ihr Handeln einnehmen (Strawson 1962; vgl. auch Wallace 1994; McKenna/Russell 2008). In der Rhetorik kommt Lob im Zusammenhang der sog. Lobrede (enkômion) vor, die zur dritten Gattung von Reden der aufzeigenden Gattung (genos epideiktikon) gehört. Die Lobrede soll nach Aristoteles die Tugend des Gelobten bzw. etwas Schönes am Gelobten aufzeigen (vgl. Rhet. I 9, 1366a23 – 36 und I 3, 1358b27– 29). Ich knüpfe mit dem Versuch einer systematischen Rekonstruktion der aristotelischen Verwendung von „Lob“ und „Tadel“ an die Analysen von Moline (Moline 1989) und Meyer (Meyer 2011) sowie unveröffentlichte Arbeiten von Buddensiek an. Damit soll nicht ausgeschlossen sein, dass Lob und Tadel auch noch andere Funktionen erfüllen können, wie z. B. eine motivierende, eine wert-konstitutierende oder eine anzeigende Funktion. Von solchen weiteren Funktionen sehe ich jedoch im Weiteren ab, da sie für unseren Zusammenhang nicht relevant sind.
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muntern; Tadel hat den Zweck, korrigierend zu wirken und den Adressaten in Zukunft von derartigen Handlungen abzuschrecken. In dieser Weise helfen Lob und Tadel bei der Charakterbildung und unterstützen den Prozess der Habituation. Hierbei handelt es sich um eine prospektive Form des Lobens und Tadelns, die in die Zukunft gerichtet ist. Die zweite Funktion von Lob und Tadel lässt sich als zurechnende Funktion beschreiben. In dieser Funktion zeigen sie an, was einer Person zugerechnet wird, d. h. wofür eine Person verantwortlich gemacht wird. In dieser Weise beziehen sich Lob und Tadel nicht auf künftiges Verhalten, sondern sind in die Vergangenheit gerichtet, indem sie hervorheben, dass etwas seinen Ursprung in der gelobten oder getadelten Person hat und diese deswegen für das verantwortlich gemacht wird, weswegen sie gelobt oder getadelt wird. Hierbei handelt es sich um eine retrospektive Form von Lob und Tadel.¹³¹² Die Frage ist nun, ob sich in Aristoteles’ Rede von Lob und Tadel in den Ethiken eine solche Differenzierung zwischen einer formativen und einer zurechnenden Funktion ausmachen lässt. Roberts und Cooper gehen davon aus, dass sich kein solcher Unterschied findet und dass Aristoteles Lob und Tadel – ebenso wie Bestrafung, Belohnung oder reaktive Einstellungen im Allgemeinen – stets bloß prospektiv und in formativer Funktion verwendet. Das halte ich systematisch für unplausibel und auch aufgrund des Textes nicht für gerechtfertigt. Tatsächlich ist es vielmehr so, dass Aristoteles’ Rede von Lob und Tadel in den Ethiken überwiegend und gerade an wichtigen Textstellen im Sinn der zurechnenden Funktion zu verstehen ist, während er in Kontexten, in denen man erwartete, dass Lob und Tadel in formativ-gewöhnender Funktion vorkommen, erstaunlicherweise gar nicht davon spricht.¹³¹³ So kommen in der Passage in EN II (1103a14– 1105b18), in der Aristoteles den Prozess des Charaktererwerbs behan-
Die Bezeichnungen „prospektiv“ und „retrospektiv“ übernehme ich von Meyer. Sie unterscheidet in der gleichen Weise zwischen zwei Funktionen von Lob und Tadel und erläutert, dass Lob und Tadel nur in der retrospektiven Funktion eine Grundlage für die Annahme moralischer Verantwortung darstellen können (Meyer 2011, 39 – 40): „If the praise and blame in question are retrospective moral evaluations of agents for what they have done or failed to do, then we have good reason to suppose moral responsibility is Aristotle’s concern in these contexts. However, for all we have seen so far, the praise and blame for which Aristotle thinks voluntariness is necessary might simply be tools of behavioural control and character formation justified by purely prospective considerations. If this is the case, then his concern with voluntariness is not a concern with moral responsibility.“ Es sei sogleich angemerkt, dass Meyer im Folgenden aufzeigt, dass Aristoteles Lob und Tadel auch in retrospektiver Funktion verwendet, und zwar dann, wenn der tugendhafte oder lasterhafte Charakter einer Person aufgrund von Handlungen, die aus dem Charakter resultieren, gelobt oder getadelt wird. Darauf macht Buddensiek aufmerksam („Die Funktion von Lob und Tadel in Aristoteles’ Ethik“, unveröffentliches Manuskript, 2013).
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delt, „ἔπαινος“ und „ψόγος“ und die zugehörigen Verben und Verbaladjektive gar nicht vor; und Gleiches gilt auch für die Parallelstellen in der EE (1220a26-b6, 1221b27– 1228a8) sowie in den MM (1185b13 – 1186a35). Dass Aristoteles im Kontext des Gewöhnungsprozesses des Charakters nicht von Lob und Tadel spricht, muss freilich nicht so gedeutet werden, dass er die Verwendung von Lob und Tadel in erzieherischer Funktion nicht kennt oder nicht annimmt. Das wäre ebenfalls unplausibel, da er sicher auch anerkennt, dass Kinder und bisweilen auch Tiere für ihr Handeln und Verhalten gelobt und getadelt werden. Zudem war ihm vermutlich die formative Funktion von Lob und Tadel auch von Platon bekannt, der in den Nomoi „erziehendes Lob und [erziehenden] Tadel“ expressis verbis erwähnt.¹³¹⁴ Dass Aristoteles die formativ-gewöhnende Funktion von Lob und Tadel aber nicht eigens thematisiert, ist wohl damit zu erklären, dass er in den Ethiken an Lob und Tadel hauptsächlich in einer anderen Funktion, und zwar der zurechnenden, interessiert ist.
13.4.2.4 Aristoteles’ kanonische Theorie von Lobenswürdigkeit Von Lob und Tadel spricht Aristoteles in den Ethiken vornehmlich und – wie im Folgenden deutlich werden sollte – sachlich im eigentlichen Sinn stets im Zusammenhang mit Tugend und Schlechtigkeit. Dass er über ein sehr klares Verständnis von Lobenswürdigkeit verfügt, kommt eindeutig darin zum Ausdruck, dass er sowohl in der EN als auch in der EE explizit ausführt, was in seinen Augen adäquater Gegenstand von Lob ist.¹³¹⁵ Gemäß dieser klassischen Definition von Lobenswürdigkeit muss Lob so aufgefasst werden, dass es in zurechnender Funktion verwendet wird. Aristoteles erläutert sein Verständnis von Lobenswür-
Leg. V, 730b5-c1: „[…] all das also, worin nicht das Gesetz, sondern erziehendes Lob und Tadel den einzelnen lenksamer und williger für die Gesetze machen, die wir erlassen werden, das müssen wir danach erörtern.“ [ὅσα μὴ νόμος, ἀλλ᾿ ἔπαινος παιδεύων καὶ ψόγος ἑκάστους εὐηνίους μᾶλλον καὶ εὐμενεῖς τοῖς τεθήσεσθαι μέλλουσιν νόμοις ἀπεργάζεται, ταῦτ᾿ ἐστὶν μετὰ τοῦτο ἡμῖν ῥητέον.] Auf die gleiche Weise lautet auch die Bestimmung von Lobenswürdigkeit in den MM: MM I 2, 1183b20 – 23 und 1183b26 – 27: „Denn von den Gütern sind manche ehrenhaft (timia), manche lobenswürdig (epaineta), und manche sind Vermögen. Mit dem Ehrenhaften meine ich so Beschaffenes wie das Göttliche, das Bessere, wie die Seele, Vernunft, das Ältere, der Anfang und solche Dinge; […] mit den lobenswürdigen Dingen meine ich Dinge wie die Tugenden, denn Lob entsteht von den Handlungen diesen gemäß.“ Vgl. auch Rhet. I 9, 1366a35-b1: „Wenn also dies das Schöne ist, dann ist notwendigerweise die Tugend schön; sie ist nämlich gut und dabei lobenswert (epaineton). Tugend aber ist, wie es scheint, die Fähigkeit, Güter zu beschaffen und zu bewahren, sowie eine Fähigkeit, viele und große Wohltaten zu erweisen, und zwar alle Arten von Wohltaten bei allen Dingen [Übersetzung Rapp; Hervorhebung BL].“
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digkeit an den relevanten Textstellen in den Ethiken, indem er das Lob (epainos) von der Preisrede, dem enkômion, abgrenzt: [EN I 12, 1101b12– 18 und 1101b31– 34]¹³¹⁶ Nun scheint alles Lobenswürdige dafür gelobt zu werden, weil es auf eine bestimmte Art beschaffen ist und sich auf eine bestimmte Weise in Relation zu etwas verhält; denn wir loben den Gerechten und den Tapferen sowie allgemein den Guten und die Tugend wegen ihrer Handlungen und Werke und ebenso loben wir den Starken und den Läufer und alle anderen, weil sie von einer bestimmten Art sind und in einer bestimmten Relation zu etwas Gutem und Hervorragendem stehen. […] Gegenstand des Lobes ist nun aber die Tugend, denn durch sie sind Menschen disponiert, schöne Handlungen auszuführen; Gegenstand der Preisreden sind dagegen die Werke, die körperlichen ebenso wie die der Seele [Hervorhebung BL]. [EE II 1, 1219b8 – 15]¹³¹⁷ Ferner gilt das Lob der Tugend wegen ihrer Werke, und die Preisreden [gelten] den Werken; und es sind diejenigen, die gewinnen, die bekränzt werden, und nicht die, die das Vermögen haben, zu gewinnen, aber nicht gewinnen; und das Urteil, wie beschaffen jemand ist, beruht auf dessen Werken. Ferner: weshalb wird die eudaimonia nicht gelobt? Weil die anderen Dinge ihretwegen gelobt werden, entweder indem sie zu ihr führen oder indem sie ihre Teile sind. Deshalb ist Glücklichpreisung sowohl etwas anderes als Lob als auch [etwas anderes] als Preisrede. Denn Preisrede ist eine Rede über ein einzelnes Werk, das Lob darüber, dass jemand allgemein so beschaffen ist, Glücklichpreisung über das Ziel [Hervorhebung BL].
Laut diesen Erläuterungen, die Aristoteles’ klassische Bestimmung von Lobenswürdigkeit darstellen, verdient etwas Lob, weil „es auf eine bestimmte Art beschaffen ist und sich auf eine bestimmte Weise in Relation zu etwas verhält“ (1101b13). Als Beispiele für etwas Lobenswürdiges nennt er den Gerechten und den Tapferen bzw. allgemein den Guten sowie die Tugend (aretê). Er kann hier austauschbar vom Tugendhaften wie von der Tugend als den angemessenen Adressaten von Lob sprechen, weil es der Besitz der Tugend ist, der den Tugendhaften als solchen bestimmt. Der Tugendhafte verdient Lob, weil seine
EN I 12, 1101b12– 18 und 1101b31– 34: φαίνεται δὴ πᾶν τὸ ἐπαινετὸν τῷ ποιόν τι εἶναι καὶ πρός τι πῶς ἔχειν ἐπαινεῖσθαι· τὸν γὰρ δίκαιον καὶ τὸν ἀνδρεῖον καὶ ὅλως τὸν ἀγαθόν τε καὶ τὴν ἀρετὴν ἐπαινοῦμεν διὰ τὰς πράξεις καὶ τὰ ἔργα, καὶ τὸν ἰσχυρὸν δὲ καὶ τὸν δρομικὸν καὶ τῶν ἄλλων ἕκαστον τῷ ποιόν τινα πεφυκέναι καὶ ἔχειν πως πρὸς ἀγαθόν τι καὶ σπουδαῖον. […] ὁ μὲν γὰρ ἔπαινος τῆς ἀρετῆς· πρακτικοὶ γὰρ τῶν καλῶν ἀπὸ ταύτης· τὰ δ᾿ ἐγκώμια τῶν ἔργων ὁμοίως καὶ τῶν σωματικῶν καὶ τῶν ψυχικῶν. EE II 1, 1219b8 – 15: ἔτι δ᾿ οἱ ἔπαινοι τῆς ἀρετῆς διὰ τὰ ἔργα, καὶ τὰ ἐγκώμια τῶν ἔργων· καὶ στεφανοῦνται οἱ νικῶντες, ἀλλ᾿ οὐχ οἱ δυνάμενοι νικᾶν, μὴ νικῶντες δέ· καὶ τὸ κρίνειν ἐκ τῶν ἔργων ὁποῖός τις ἐστιν. ἔτι διὰ τί ἡ εὐδαιμονία οὐκ ἐπαινεῖται; ὅτι διὰ ταύτην τἆλλα, ἢ τῷ εἰς ταύτην ἀναφέρεσθαι ἢ τῷ μόρια εἶναι αὐτῆς. διὸ ἕτερον εὐδαιμονισμὸς καὶ ἔπαινος καὶ ἐγκώμιον. τὸ μὲν γὰρ ἐγκώμιον λόγος τοῦ καθ᾿ ἕκαστον ἔργου, ὁ δ᾿ ἔπαινος 〈τοῦ〉 τοιοῦτον εἶναι καθόλου, ὁ δ᾿ εὐδαιμονισμὸς τέλους.
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charakterliche Beschaffenheit ihn zu einem Tugendhaften macht. Sein Charakter disponiert den Tugendhaften dazu, jeweils auf eine bestimmte Weise, nämlich tugendhaft, zu handeln und zu empfinden.¹³¹⁸ Des Lobes würdig ist der Tugendhafte also dank seines Charakters, der ihn zu bestimmten Werken bzw. Ergebnissen disponiert. Ihm gebührt demnach Lob nicht für die Ergebnisse, die durch seinen Charakter bedingt sind, wie z. B. Handlungen, Handlungsfolgen oder auch Emotionen, sondern eigentlicher Gegenstand von Lob ist ausschließlich sein Charakter. Demgegenüber gilt die Preisrede den gelungenen Werken (erga), und zwar sowohl den körperlichen als auch den seelischen, wie z. B. dem Sieg im Wettkampf oder einer intellektuellen Leistung. Aristoteles’ Theorie von Lobenswürdigkeit beruht also auf der Annahme, dass Tugend oder auch Personen, die tugendhaft sind, wegen der Wirkungen und Ergebnisse ihrer Tugend Lob verdienen. In gleicher Weise begründet er auch in der Rhetorik die Lobenswürdigkeit damit, dass sie „die Fähigkeit ist, Güter zu beschaffen und zu bewahren“ (Rhet I 9, 1366a36 – 37). Es ist also die kausal-effiziente Rolle der Tugend, deretwegen die Tugend bzw. der Tugendhafte Lob verdient.¹³¹⁹ Das Lob richtet sich auf den Tugendhaften.¹³²⁰ Grund für die Lobenswürdigkeit seines tugendhaften Charakters ist dabei aber nicht, dass er für seinen Charakter kausal verantwortlich ist. Gelobt wird seine Tugend vielmehr, weil sie Ursache dafür ist, dass er tugendhaft handelt und auf die richtige Weise empfindet. Das heißt, die Lobenswürdigkeit der Tugend setzt nicht voraus, dass der Tugendhafte Ursache seines Charakters ist: Sie schließt es zwar auch nicht aus, aber die Lobenswürdigkeit der Tugend verlangt nicht als notwendige Bedingung die Willentlichkeit des eigenen Charakters.¹³²¹
Zu beachten ist, dass der Charakter eine Person nicht nur zu bestimmten Handlungen, sondern auch zu bestimmten Emotionen disponiert (vgl. EN II 4, 1105b25 – 26): „Dispositionen sind das, gemäß dem wir den Affekten gegenüber gut oder schlecht disponiert sind.“ [ἕξεις δὲ καθ᾿ ἃς πρὸς τὰ πάθη ἔχομεν εὖ ἢ κακῶς.]. Ich folge hier der Deutung von Meyer; vgl. Meyer 2011, 45: „Aristotle’s account of the praiseworthiness of virtue makes it quite clear that virtue is praiseworthy because of its causal powers.“ Analoges gilt selbstverständlich auch für den Lasterhaften und dessen schlechte Charakterdispositionen. Tatsächlich präsentiert Aristoteles, wie wir gesehen haben, in EN III 7 ein Argument für die Annahme der Willentlichkeit des eigenen Charakters. Die Annahme, dass der Charakter etwas Willentliches ist, fungiert aber nicht als notwendige Bedingung für die Lobenswürdigkeit des Charakters. Lob verdient der Charakter vielmehr aufgrund seiner kausalen Wirkungen. Vgl. zu dieser Deutung Meyer 2011, 46: „[Aristotle] does not claim that anything praiseworthy is something for which the recipient of praise must be efficient-causally responsible. He claims rather that we must be responsible for the things because of which we are praised and blamed (1223a11).“
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Dass die Tugend Lob verdient, beruht stattdessen nach Aristoteles auf den Dingen, deren Ursache die Charakterdisposition ist. Anders formuliert: Grund für die Lobenswürdigkeit der Tugend ist ihre kausale Wirkung.¹³²² [EE II 6, 1223a9 – 15]¹³²³ Da nun Tugend und die Schlechtigkeit und deren Werke in manchen Fällen lobenswürdig und in anderen tadelnswürdig sind (denn gelobt und getadelt wird man nicht aufgrund der Dinge, die aus Notwendigkeit oder aus Zufall oder von Natur aus geschehen, sondern [aufgrund der] Dinge, deren Ursache wir selbst sind; denn für die Dinge, deren Ursache ein anderer ist, erhält dieser Tadel und Lob), ist klar, dass die Tugend und die Schlechtigkeit die Handlungen betreffen, deren Ursache man selbst ist und deren Ursprung.
Anhand dieser Textstelle lässt sich die Struktur von Lob und Tadel, die Aristoteles annimmt, nochmals präzisieren. Empfänger von Lob ist der Tugendhafte und Rezipient von Tadel ist der Schlechte. Gegenstand von Lob oder Tadel ist dabei deren jeweilige Charakterdisposition. Tugend und Schlechtigkeit wiederum betreffen solche Handlungen, deren Ursache die jeweilige charakterliche Beschaffenheit der Person ist, d. h. tugendhafte bzw. schlechte Handlungen. Dabei sagt Aristoteles nicht, dass der Tugendhafte bzw. der Schlechte wegen ihres jeweiligen Charakters Lob bzw. Tadel verdienen. Vielmehr ist die Aussage so zu verstehen, dass der Tugendhafte sowie der Schlechte bzw. ihr jeweiliger Charakter wegen der Handlungen oder Emotionen, deren Ursache ihr Charakter ist, gelobt oder getadelt werden. Aristoteles sagt nirgendwo, dass der Tugendhafte bzw. der Lasterhafte wegen (dia) oder aus bzw. infolge von (ek/apo) ihrer Tugend bzw. Schlechtigkeit gelobt oder getadelt werden. Ihr Charakter ist der Grund, aus dem sie
Meyer illustriert den Begriff von Verantwortung, den Aristoteles für den Charakter annimmt, mittels einer instruktiven Analogie zu technischen Fertigkeiten und natürlichen Vermögen (Meyer 2011, 50: „[…] Aristotle no more requires than the agent be responsible for her character in order to be responsible for the action or feeling produced by that character than he requires that the statuary be responsible for his statuary skill in order to be responsible for the statue he produces using that skill, or requires that a man be responsible for his reproductive powers in order to be called the ‚origin and generatorʻ of his children.“ Ein Baumeister ist verantwortlich für die Statue, die er anfertigt, ohne dass dies verlangt, dass er verantwortlich ist für den Erwerb seiner Fertigkeit. In gleicher Weise trägt jemand Verantwortung für die Ergebnisse, die sein Charakter hervorbringt, ohne dass dies verlangt, dass er für den Erwerb seines Charakters verantwortlich ist. Die Verantwortung für den Charakter beruht auf den Produkten, die der Charakter verursacht; darin kommt der Charakter zum Ausdruck. EE II 6, 1223a9 – 15: ἐπεὶ δ᾿ ἥ τε ἀρετὴ καὶ ἡ κακία καὶ τὰ ἀπ᾿ αὐτῶν ἔργα τὰ μὲν ἐπαινετὰ τὰ δὲ ψεκτά (ψέγεται γὰρ καὶ ἐπαινεῖται οὐ διὰ τὰ ἐξ ἀνάγκης ἢ τύχης ἢ φύσεως ὑπάρχοντα, ἀλλ᾿ ὅσων αὐτοὶ αἴτιοι ἐσμέν· ὅσων γὰρ ἄλλος αἴτιος, ἐκεῖνος καὶ τὸν ψόγον καὶ τὸν ἔπαινον ἔχει), δῆλον ὅτι καὶ ἡ ἀρετὴ καὶ ἡ κακία περὶ ταῦτ᾿ ἐστιν ὧν αὐτὸς αἴτιος καὶ ἀρχὴ πράξεων.
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gelobt oder getadelt werden; deswegen ist er der eigentliche Gegenstand von Lob und Tadel.¹³²⁴ Tugendhafte oder schlechte Handlungen oder andere Werke, deren Ursache der Charakter ist, sind dagegen Anlass dafür, den Charakter einer Person zu loben oder zu tadeln. Meyer hat die Struktur von Lob und Tadel in dieser Form auf prägnante und präzise Art herausgearbeitet. Sie räumt aber ein, dass Aristoteles außerhalb der zentralen Textstellen, in denen er sein klassisches Verständnis von Lobens- und Tadelnswürdigkeit präsentiert, auch in laxerer Weise von Lob und Tadel spricht. Wo es hingegen um die klassische Definition geht, verwendet er konsequent die folgenden variierenden Formulierungen, um die wesentliche Struktur von Lob und Tadel auszudrücken. Er spricht davon, ‒ dass der Tugendhafte wegen seiner Werke (EE II 1, 1219b8 – 9: dia ta erga; EN I 12, 1101b14– 16) gelobt wird; ‒ dass der Tugendhafte infolge von (ek + Genitiv) Handlungen und Emotionen (Rhet. 1387b22: ek tôn praxeôn) oder für (epi + Dativ) Handlungen und Emotionen gelobt wird (EN 1109b30 – 31, 1110a23, 1127b18; MM 1188a19); ‒ und in den MM wird gesagt, dass Lob von den Handlungen (apo + Genitiv) entsteht, die der Tugend gemäß sind (MM I 2, 1183b27: apo tôn kat’ autas praxeôn).
Demgegenüber sagt Aristoteles, dass die Tugend „Gegenstand des Lobes“ ist, was er mit Hilfe eines Genetivus obiectivus ausdrückt (EN 1101b31– 32: ὁ μὲν γὰρ ἔπαινος τῆς ἀρετῆς), oder er spricht davon, dass das Lob die Handlungen betrifft, die gemäß den Tugenden geschehen (kata + Akkusativ; vgl. z. B. EN 1006a1– 2: κατὰ δὲ τὰς ἀρετὰς καὶ τὰς κακίας ἐπαινούμεθα ἢ ψεγόμεθα, „wir loben gemäß den Tugenden und tadeln gemäß den Schlechtigkeiten.“). Empfänger von Lob und Tadel sind somit die tugendhafte und die schlechte Person. Sie werden jeweils für ihren Charakter gelobt bzw. getadelt, und sie werden anläßlich von Handlungen oder Emotionen gelobt oder getadelt, die durch ihren Charakter bedingt sind.
Meyer 2011, 47: „[Aristotle] never in these contexts [i. e. contexts which contain his canonical account of praiseworthiness; BL] claims that we are praised or blamed because of, from, or for states of character.“ Ein Gegenbeispiel könnte man in den MM vermuten, allerdings ist dies nicht nur wegen der fraglichen Authentizität der Schrift wenig tragfähig. Die Stelle lautet (MM I 9, 1187a20 – 21): „Lob ist nämlich für die Tugend und Tadel für die Schlechtigkeit.“ [ἐπὶ μὲν γὰρ τῇ ἀρετῇ ἔπαινος, ἐπὶ δὲ τῇ κακίᾳ ψόγος·]. Meyer führt gegen die Zulässigkeit dieses Gegenbeispiels zusätzlich ins Feld, dass Aristoteles hier „ἀρετή“ und „κακία“ – wie er das verschiedentlich tut – locker im Sinn von Bezeichnungen für tugendhafte und lasterhafte Handlungen verwendet (vgl. meine Bemerkung zu Meyer auf S. 456 f.).
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Außerhalb von Kontexten, in denen Aristoteles sein klassisches Verständnis von Lobens- und Tadelnswürdigkeit präsentiert, erlaubt er sich auch eine weniger strikte Terminologie. So spricht er bisweilen davon, dass Handlungen Lob oder Tadel verdienen, und auch Emotionen bezeichnet er hin und wieder als lobensoder tadelnswert.¹³²⁵ Aber auch diese gelegentlich abweichenden Ausdrucksweisen sind mit dem klassischen Verständnis vereinbar. Meyer schlägt vor, Aristoteles’ Rede von Lobenswürdigkeit (und Tadelnswürdigkeit) als ein Beispiel für einen zentriert mehrdeutigen Ausdruck zu verstehen – auch wenn Aristoteles selbst „lobenswürdig“ nicht explizit in dieser Weise charakterisiert.¹³²⁶ Er grenzt z. B. in der Metaphysik Ausdrücke wie „gesund“, „ärztlich“ oder „sein“ dadurch von zufällig mehrdeutigen Ausdrücken (wie im Deutschen z. B. „Bank“) ab, dass sie etwas Gemeinsames aufweisen, d. h., dass alle solchen Ausdrücke in allen Verwendungen stets auf etwas Bestimmtes hin (pros hen) bezogen sind.¹³²⁷ Auf dieses Gemeinsame trifft der Ausdruck im primären Sinn zu. So ist im Fall von „gesund“ das Gemeinsame die Gesundheit, die stets primär von einem Organismus, der sich im naturgemäßen Zustand befindet, ausgesagt wird, während alle anderen Verwendungen von „gesund“, wie z. B. in Bezug auf Nahrung oder Gesichtsfarbe, immer im nachgeordneten Sinn, d. h. in Bezug auf den Organismus, gesund genannt werden. Übertragen auf den Ausdruck „lobenswürdig“ heißt das, dass die tugendhafte Charakterdisposition im primären Sinn lobenswert ist, während der Ausdruck in allen weiteren Verwendungen wie z. B. in Bezug auf Handlungen oder Emotionen immer als auf diesen zentralen Bezugspunkt be-
Dass Handlungen und/oder Emotionen etwas Lobenswürdiges bzw. Tadelnswürdiges sind, sagt Aristoteles z. B. an den folgenden Stellen: EN X 5, 1175b28 – 29: „Denn auch die Begierden nach werthaften Dingen sind lobenswert, die nach niedrigen Dingen aber tadelnswert.“ [καὶ γὰρ αἱ ἐπιθυμίαι τῶν μὲν καλῶν ἐπαινεταί, τῶν δ᾿ αἰσχρῶν ψεκταί.]. EE 1248b19 – 23 (Übersetzung angelehnt an Kenny 2011, anders Dirlmeier 1969): „Unter diesen Gütern [Gütern, die Ziele haben, die um ihrer selbst willen gewählt werden; BL] sind alle diejenigen schön, die – für sich existierend – lobenswert sind. Denn das sind jene, von denen Handlungen ausgehen, die gelobt werden und die auch selbst lobenswürdig sind, wie z. B. die Gerechtigkeit selbst und die gerechten Handlungen und auch die mäßigen [Handlungen], denn die Mäßigkeit ist ebenfalls lobenswert.“ [τούτων δὲ καλά, ὅσα δι᾿ αὑτὰ ὄντα πάντα ἐπαινετὰ ἐστίν. ταῦτα γάρ ἐστιν ἀφ᾿ ὧν αἵ τε πράξεις εἰσὶν ἐπαινεταὶ καὶ αὐτὰ ἐπαινετά, δικαιοσύνη καὶ αὐτὴ καὶ αἱ πράξεις, καὶ αἱ σώφρονες· ἐπαινετὴ γὰρ καὶ ἡ σωφροσύνη.]. Vgl. auch EN III 1, 1109a29. Meyer 2011, 49: „To apply terminology that Aristotle uses in another context, we may say that in his view praiseworthiness is a ‚focalʻ (pros hen) notion.“ Vgl. Met. 1003a33-b6 sowie EE 1236a17– 22. Die englische Bezeichnung „focal meaning“ geht auf Owen zurück (Owen 1960, 1984). Mit meiner Übersetzung „zentrierte Mehrdeutigkeit“ folge ich Künne (Künne 1975, 45). Varianten im Deutschen sind „Brennpunktbedeutung“ (von Savigny in der Übersetzung von Owens Aufsatz in Hager 1969) oder „systematische Mehrdeutigkeit“ (Frede/Patzig 1988). Vgl. auch Lienemann 2010, 325 – 330.
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zogen zu verstehen ist. Zu sagen, dass eine Handlung Lob verdient, bedeutet demnach, dass eine Person für ihre Handlung zu loben ist, weil die Handlung durch ihren tugendhaften Charakter verursacht ist, der eigentlicher Gegenstand des Lobes ist. Handlungen und Emotionen einerseits und andererseits die Charakterdisposition bzw. die Person, die über einen tugendhaften oder schlechten Charakter verfügt, sind somit in gewisser Weise beide lobenswert, allerdings aus verschiedenen Gründen und in unterschiedlicher Weise. Handlungen und Emotionen verdienen im sekundären Sinn Lob bzw. Tadel, weil sie Produkte eines lobenswerten bzw. tadelnswerten Charakters sind. Tugend oder Laster verdienen demgegenüber im primären Sinn Lob oder Tadel, weil der Charakter Ursache guter oder schlechter Handlungen und Emotionen ist. Die handelnde Person schließlich ist als Besitzerin des Charakters der Empfänger von Lob und Tadel.¹³²⁸
13.4.2.5 Zusammenfassung und Aristoteles’ Konzeption der Mit-Verantwortung für den eigenen Charakter Bevor ich den letzten Teil der Textpassage in EN III 7 kommentiere, fasse ich in diesem Abschnitt zunächst das bisher Gesagte in den wesentlichen Punkten zusammen, und führe anschließend aus, wie es m. E. zu verstehen ist, dass Aristoteles erwachsene Menschen als mit-verantwortlich für ihren eigenen Charakter bezeichnet. Wir haben gesehen, dass das Kapitel 7 ein zentraler Bezugspunkt ist für die Fragen, welcher Begriff von Willentlichkeit und welcher Begriff von Verantwortung sich Aristoteles zuschreiben lassen. In einem ersten Schritt habe ich die Ansicht zu widerlegen versucht, dass er einen indeterministischen Begriff von Willentlichkeit annimmt. Stattdessen habe ich dafür argumentiert, dass ihm ein in gewissem Sinn deterministischer Begriff zuzuschreiben ist. Aristoteles’ Begriff von Willentlichkeit ist derart, dass es möglich ist, dass etwas willentlich und gleichzeitig in einer bestimmten Weise determiniert ist. Denn willentlich ist auch das, was durch den Charakter determiniert ist, und zwar indem der Charakter einer Person bestimmt, zu welchen Handlungen sie sich entschließt. So sind beispielsweise die tugendhaften Handlungen einer tugendhaften Person willent-
Meyer 2011, 49 – 50: „For Aristotle, praiseworthiness (to epaineton) is a focal (pros hen) notion because it is with reference to his canonical definition of praiseworthiness that all praiseworthy things (agents, their states, and their actions and feelings) are praiseworthy. States are praiseworthy if they produce good actions and feelings; agents are praiseworthy if their states produce good actions and feelings; and the feelings and actions produced by a state are praiseworthy if they are good. While many different things are praiseworthy, they are all praiseworthy because of their relation to the one fundamentally and non-derivatively praiseworthy thing: a praiseworthy state of character.“
13.4 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit des Charakters: 1113b21 – 1114a31
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lich und determiniert, indem sie durch ihren tugendhaften Charakter bestimmt werden. Der Charakter ist wiederum willentlich, da die Handlungen, die letztlich zu ihm geführt haben, willentlich geschehen sind. Da der Charakter etwas Willentliches ist, sind auch die Handlungen, die aus dem Charakter resultieren, willentlich. In einem zweiten Schritt habe ich dafür argumentiert, dass der deterministische Begriff von Willentlichkeit hinreichend dafür ist, Aristoteles auch einen Begriff von moralischer Verantwortung zuzuschreiben. Dass er einen Begriff von moralischer Verantwortung vertritt, habe ich durch unterschiedliche Argumente gegen verschiedene mögliche Gegenpositionen verteidigt. Ein Bedenken lautete, dass Aristoteles’ Konzeption des Charaktererwerbs, und hierbei insbesondere der Einfluss der Erzieher, die Annahme der Verantwortung für den Charakter unterminieren. Dieser Einwand ist aus verschiedenen Gründen abzuweisen. Erstens ist daran zu erinnern, dass Aristoteles’ deterministischer Begriff von Willentlichkeit nicht verlangt, dass eine Person sich zum Zeitpunkt ihrer Handlung vollständig aus eigenen Stücken, d. h. ohne irgendwelchen anderen Einflüssen zu unterliegen, zu dieser Handlung entschließt. Willentlichkeit setzt laut Aristoteles nur voraus, dass eine Person sich nicht aufgrund von Unwissenheit und nicht aus externer Gewalt oder Zwang für eine Handlung entschließt. Der Einfluss von Erziehern stellt aber keinen Fall von externer Gewalt oder Zwang (und auch keinen von Unwissenheit) dar, der die Willentlichkeit der Handlung ausschlösse. Somit gilt, dass auch Kinder, die sich unter dem Einfluss von Erziehern für Handlungen entschließen, willentlich (wenn auch noch nicht in zurechenbarer Weise) handeln. Dies könnte auch erklären, weshalb Aristoteles den Einfluss von Erziehern bei der Behandlung der Willentlichkeit des Charakters an keiner Stelle berücksichtigt: Er ist unerheblich angesichts seines Begriffs von Willentlichkeit.¹³²⁹ Eine zweite Erwiderung schließt an diesen Punkt an. Ich habe die Frage erörtert, an welche Akteure Aristoteles im Textabschnitt 1113b21– 1114a31 denkt, wenn er über diese sagt, dass die archê ihrer Handlungen in ihnen liegt und sie über Wissen davon verfügen, dass die regelmäßige Ausführung ihrer Handlung in einen entsprechenden Charakter mündet. Meine Antwort war, dass er in erster Linie an Erwachsene denkt, die bereits wissen, welche Handlungen gut oder schlecht sind, die aber noch nicht über einen gefestigten Charakter verfügen. Gleichwohl ist nicht ausgeschlossen, auch Kindern ein gewisses Wissen vom Zusammenhang zwischen ihren Handlungen und dem daraus resultierenden Charakter zuzusprechen, da ihre Erzieher ihnen dieses Wissen über die Umstände ihres Handelns zur Verfügung stellen. Das Wissen um den Zusammenhang nimmt
Vgl. Donini 2010, 149 – 150.
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13 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit von Charakterdispositionen
sukzessive zu, und parallel dazu wächst auch die Mit-Verantwortung der Heranwachsenden für ihren Charakter und die Handlungen, die aus ihrer Charakterdisposition resultieren. In einem kurzen Resümee am Ende von Kapitel 7 sagt Aristoteles, dass wir selbst in gewisser Weise mit-verantwortlich für die Dispositionen (1114b22– 23: tôn hexeôn synaitioi pôs autoi esmen), d. h. für Tugenden und Laster, sind. Ich fasse diese Rede vom „Mit-verantwortlich[‐Sein]“ (synaitios) für den eigenen Charakter so auf, dass Menschen einerseits zwar keine uneingeschränkte und volle Verantwortung für ihren Charakter haben, dass andererseits aber ihre Mit-Verantwortung für den eigenen Charakter im Zuge ihres Heranwachsens stetig zunimmt und im Erwachsenenalter, wenn sie über einen gefestigten Charakter verfügen, ihre umfassendste Form annimmt. Eine vollständige und unbegrenzte Verantwortung für den eigenen Charakter liegt allerdings auch im Erwachsenenalter nicht vor. Denn Aristoteles anerkennt auch andere Einflussfaktoren. Er macht es nicht zur Bedingung für die Verantwortung für den eigenen Charakter, dass eine Person uneingeschränkt verantwortlich für die Handlungen ist, aus denen der Charakter resultiert.¹³³⁰ Dieser progressive Begriff von Mit-Verantwortung entspricht Aristoteles’ Beschreibung des Charaktererwerbs. In der frühesten Phase der Kindheit verfügt ein Kind noch nicht über die Fähigkeit, die richtigen Handlungen zu wählen, und ist daher auf die Hilfe der Erzieher angewiesen, denen die Aufgabe zukommt, die diskriminatorischen Fähigkeiten des Kindes zu schulen und weiterzuentwickeln. In einer späteren Phase übernehmen mehr und mehr die Gesetzgeber in der Polis die Aufgabe, die Fürsorge für die Erziehung und die Praxis auszuüben. Ihr Gegenüber sind nun nicht mehr Kinder, sondern heranwachsende Bürger, die dabei sind, durch die Wahl entsprechender Handlungen ihren Charakter auszubilden. In diesem Stadium tragen die heranwachsenden Erwachsenen mehr und mehr Verantwortung für die Entwicklung ihres Charakters, bis sich dieser schließlich vollständig gefestigt hat. Aristoteles’ Formulierungen legen es nahe, dass er selbst in diesem fortgeschrittenen Stadium, wenn der Charaktererwerb weitgehend oder sogar gänzlich ab In entsprechender Weise differenziert auch Meyer zwischen einem vollen und einem qualifizierten Begriff von Verantwortung für den eigenen Charakter und argumentiert dafür, dass Aristoteles nur von einem qualifizierten Begriff ausgeht; vgl. Meyer 2011, 127: „[…] Aristotle appears to give us several explicit indications that he is arguing for qualified rather than full responsibility for character. In the last section of the chapter (1114a31-b25) he appeals more than once to the conclusion of his argument that we are responsible for our states of character, and in each case he states the conclusion with a qualifying demur [i. e. in b2, b17 and 23; die Textstellen zitiere ich im Haupttext; BL]. [These locutions] are perfectly consistent with the thesis of qualified responsibility for character – the thesis that, assuming that one’s upbringing and social context provide one with the information about which sorts of activities are good and bad, it is up to us whether we develop a disposition to perform the good ones rather than the bad ones.“
13.4 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit des Charakters: 1113b21 – 1114a31
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geschlossen ist, nur eine Mit-Verantwortung und keine volle Verantwortung für den eigenen Charakter annimmt. Denn neben der Beschreibung, dass wir „in gewisser Weise mit-verantwortlich“ für unsere Charakterdispositionen sind, sagt er im letzten Abschnitt von EN III 7 auch, dass „jeder selbst irgendwie verantwortlich“ (b2) dafür ist, welche Dispositionen er hat, und dass „etwas auch bei [jedem Menschen] liegt“ (b17), wie beschaffen er ist. Diese einschränkenden Formulierungen deuten darauf hin, dass er einen eingeschränkten Begriff von Verantwortung für den eigenen Charakter angenommen hat.¹³³¹ Wenn Aristoteles in der Passage 1113b21– 1114a31 die Annahme der Willentlichkeit des Charakters einführt, so spricht einiges dafür, dass er sich hier mit seinen Ausführungen auf den heranwachsenden Bürger im Umfeld der Polis bezieht. Dass er auf die Praxis des Strafens und Züchtigens verweist, macht deutlich, dass er an erzieherische Maßnahmen denkt, die sich an Personen richten, welche bereits über ein gewisses Wissen verfügen, welche Handlungen gut und welche schlecht sind. Strafen haben hier die Funktion, den Charakter weiter zu formen und von schlechten Handlungsweisen abzuschrecken. Welche Handlungen die Personen jeweils wählen, liegt aber bei diesen, denn sie unterliegen keinem Zwang und sie verfügen über das erforderliche Wissen. Indem sie bestimmte Handlungen wählen, wirken sie kontinuierlich daran mit, ihren eigenen Charakter zu entwickeln. Daraus resultiert ihre Mit-Verantwortung an ihrem Charakter. Es mag zwar sein, dass eine unzureichende früheste Erziehung es verhindert, dass jemand späterhin in der Lage ist, die richtigen Handlungen zu wählen, aus denen ein tugendhafter Charakter folgt.¹³³² Eine richtige Erziehung von Beginn an mag also eine notwendige Bedingung für die Entwicklung eines tugendhaften Charakters sein, sie ist aber in jedem Fall nicht hinreichend. Denn in einer späteren
Ähnlich auch Irwin (1999, 211): „In saying that we are jointly responsible, Aristotle acknowledges that we are not the sole causes of our states since nature and upbringing contribute also.“ Vgl. auch Burnet 1900, 138 – 139: „The argument may be summed up thus. (1) Our πράξεις are in our power and we have full responsibility for them. (2) Our ἕξεις proceed from our πράξεις and are so far in our power.We have partial responsibility for them, that is we are reponsible at the start (ἐν ἀρχῇ). (3) Our φαντασία of the τέλος depends on our ἕξις, so we are just as reponsible for that.“ So wichtig die notwendigen familiären und sozialen Ermöglichungsbedingungen für die Entwicklung eines tugendhaften Charakters sein mögen, geht Aristoteles im Kontext von EN III 7 darauf nicht weiter ein. Die Bedeutung, die der Einfluss natürlicher Begabungen auf die Charakterentwicklung haben kann, scheint er dagegen durchaus im Blick zu haben. Denn im Zuge der abermaligen Zurückweisung der Asymmetriethese in der Passage 1114a31-b25 erwähnt er die natürliche Veranlagung (euphyïa) als einen Faktor, der Einfluss auf die Willentlichkeit des Charakters haben kann (vgl. dazu Abschnitt „13.5 Abermalige Zurückweisung der Asymmetriethese (1114a31-b25)“).
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13 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit von Charakterdispositionen
Phase der Erziehung trägt die heranwachsende Person selbst eine zunehmende Mit-Verantwortung dafür, welche Handlungen sie wählt. Sie verfügt über das nötige Wissen, sich zu den richtigen Handlungen zu entschließen; und sollte sie sich irren, wirken Gesetze und Strafen korrigierend auf die Formung des Charakters.¹³³³ Eine Person erwirbt ihren Charakter somit dadurch, dass sie sich regelmäßig und kontinuierlich zu entsprechenden Handlungen entschließt und diese ausführt. Deshalb ist ihr Charakter etwas Willentliches, wofür ihr eine MitVerantwortung zukommt, da sie sich willentlich zu den Handlungen entschlossen hat, die zum Charaktererwerb geführt haben. Aristoteles beschreibt diesen Zusammenhang zwischen den charakterkonstituierenden Handlungen und dem Charakter gegen Ende von Kapitel 7 selbst: „[…] die Tugend aber [ist] willentlich, weil der Gute die übrigen Dinge willentlich tut: […].“¹³³⁴ Unter den „übrigen Dingen“ sind hier m. E. die Dinge bzw. Handlungen zu verstehen, die zum Charakter führen. Der Charakter wird also deswegen als etwas Willentliches bezeichnet, weil die Handlungen, aus denen der Charakter letztlich resultiert, willentlich erfolgt sind. Zwar ist dieser Satz Teil eines hypothetischen Arguments, so dass die Aussage nicht so verstanden werden darf, als gebe sie Aristoteles’ eigentliche Auffassung wieder. Aber auch wenn Aristoteles tatsächlich sogar noch mehr behaupten will, als dass wir nur Kontrolle über die Handlungen haben, aus denen der Charakter hervorgeht, so ist die schwächere Annahme bereits eine Stütze für die Annahme der Willentlichkeit des Charakters. Tatsächlich denke ich jedoch, dass Aristoteles sogar die stärkere Annahme vertreten will, nämlich dass der Charakter auch insofern etwas Willentliches ist, als es bei uns liegt, die Ziele unserer Handlungen zu wählen und auf diese Weise unseren Charakter zu gestalten und zu modifizieren.¹³³⁵ Schließlich habe ich die Auffassung diskutiert, dass ein Begriff von Verantwortung, nach dem Verantwortung für den eigenen Charakter auf der Willentlichkeit der Handlungen, die zum Charakter führen, beruht, nicht ausreicht für einen Begriff von moralischer Verantwortung. Anhänger dieser Ansicht meinen, Aristoteles lasse sich daher nur ein Begriff von kausaler Verantwortung zuschreiben. Gegen diese Auffassung habe ich eingewandt, dass sich bei Aristoteles durchaus zwischen einer formativen und einer zurechnenden Funktion von Lob und Tadel unterscheiden lässt. In formativer Funktion dienen Lob und Tadel dazu, den Charakter einer Person zu formen; dieser Funktion dienen auch Strafen Ähnlich auch: Brickhouse 1991, 147 und Meyer 2011, 140 – 141. EN III 7, 1114b18 – 19: […] τῷ δὲ τὰ λοιπὰ πράττειν ἑκουσίως τὸν σπουδαῖον ἡ ἀρετὴ ἑκούσιόν ἐστιν, […]. Vgl. die Abschnitte „9.3 Das Verhältnis von Tugend und Entschluss (EE 1227b25 – 1228a2)“ und „9.4 Relevanz der Entschlüsse für die moralische Beurteilung einer Person (EE 1228a4– 19)“.
13.5 Abermalige Zurückweisung der Asymmetriethese (1114a31-b25)
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und Züchtigungen, wie er sie in EN III 7 erwähnt. Im eigentlichen Sinn werden Lob und Tadel hingegen in zurechnender Funktion verwendet. In dieser Funktion beziehen sie sich auf Tugend und Schlechtigkeit. Die Differenzierung zwischen zwei unterschiedlichen Funktionen von Lob und Tadel (und anderen Reaktionsweisen auf die Handlungen, Werke oder Emotionen von Personen) zeigt auf, dass sich nach Aristoteles zwischen der Verantwortung, die einem Kind oder einer heranwachsenden Person zugeschrieben wird, und jener, die einem Erwachsenen zukommt, unterscheiden lässt. Nur eine erwachsene Person, die über gefestigte Charakterdispositionen verfügt, trägt im eigentlichen Sinn moralische Verantwortung für ihre Handlungen und ihren Charakter. Eine heranwachsende Person hat dagegen nur eine begrenzte moralische Mit-Verantwortung für ihren Charakter, während ein kleines Kind noch nicht moralisch verantwortlich für seinen Charakter und seine Handlungen ist.
13.5 Abermalige Zurückweisung der Asymmetriethese (1114a31-b25) Ich komme nun zur Kommentierung des letzten Abschnitts von EN III 7. Die Passage von 1114a31 bis 1114b25 enthält ein einziges zusammenhängendes, aber verschachtelt konstruiertes Argument. Dessen Konklusion wird lauten, dass die Schlechtigkeit nicht weniger willentlich ist als die Tugend. Das Kapitel schließt also mit einer erneuten Zurückweisung der Sokratischen Asymmetriethese. Meyer deutet diesen Abschluss des Kapitels als ein weiteres Indiz dafür, dass Aristoteles’ hauptsächliches Argumentationsziel in EN III 7 die Widerlegung der Asymmetriethese ist.¹³³⁶ Eingebettet in die Anfangs- und die Schlusspassage (1113b3 – 21 und 1114a31-b25), in denen Aristoteles jeweils Einwände gegen diese These präsentiert, stehe zwar eine Passage, in der er für die Verantwortung für den eigenen Charakter argumentiert. Diese Argumentation versteht Meyer aber als Teil der Auseinandersetzung mit der Asymmetriethese, so dass sie dieser beinahe untergeordnet erscheint. Wir haben gesehen, dass Aristoteles die Annahme der Verantwortung für den Charakter im Kontext einer Argumentation einführt, durch die er nachzuweisen versucht, dass nicht nur bestimmte Handlungen bei uns liegen, sondern auch bestimmte Zustände von Unwissenheit wie z. B. im Fall von Trunkenheit. Dass auch manche Formen von Unwissenheit für nicht-entschuldbar gehalten werden, illustriert er anhand der Praxis des Strafens und Züchtigens. Meyer sieht in der Annahme, dass auch bestimmte Formen von
Meyer 2011, 144.
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13 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit von Charakterdispositionen
Unwissenheit Sanktionen verdienen, die entscheidende Verbindung zur Sokratischen Asymmetriethese. Denn danach beruhen auch schlechte Handlungen auf einer Form von Unwissenheit, und zwar der Unwissenheit darüber, was das Gute ist und worin die richtigen Handlungen bestehen. Aristoteles’ Ablehnung der Asymmetriethese besteht sodann zum einen in dem Nachweis, dass bestimmte Formen von Unwissenheit wie etwa die Unwissenheit über das Gute, wie sie der Schlechtigkeit zugrunde liegt, insofern willentlich sind, als es auch hier zu Beginn bei der handelnden Person lag, in diesen Zustand zu geraten oder ihn zu vermeiden. Zum anderen hält Aristoteles der Sokratischen These entgegen, dass Tugend nicht einfach gleichzusetzen ist mit dem Wissen um das Gute. Wissen um das Gute allein ist nicht hinreichend für Tugendhaftigkeit. Zum Besitz eines tugendhaften Charakters gehört außerdem der Erwerb gefestigter Charakterdispositionen, die sich darin äußern, dass eine Person sich zu den richtigen Handlungen entschließt und die richtigen Emotionen verspürt. Wenngleich Meyer somit die Argumentation für die Verantwortung für den eigenen Charakter als Bestandteil der Auseinandersetzung mit der Sokratischen Asymmetriethese auffasst, so räumt sie gleichwohl ein, dass Aristoteles auch der Annahme, dass wir für unseren Charakter verantwortlich sind, eine wichtige Bedeutung beimisst.¹³³⁷ Entscheidend ist in ihren Augen aber, dass er die Annahme der Verantwortung für den eigenen Charakter nicht als notwendige Bedingung für die Annahme einführt, dass wir für unsere Handlungen verantwortlich sind. Auch wenn ich Meyers Schlussfolgerung teile, dass die Lobens- bzw. Tadelnswürdigkeit von Handlungen nicht die Verantwortung für den eigenen Charakter voraussetzt, so stellt die Annahme der Verantwortung für den eigenen Charakter in meinen Augen für Aristoteles in diesem Kapitel aber durchaus ein wichtiges unabhängiges Argumentationsziel dar. Denn der Annahme, dass nur Handlungen, die auf einem tugendhaften Charakter beruhen, im eigentlichen Sinn Lob verdienen und zurechenbar sind, kommt eine eigene zentrale Bedeutung (sowohl innerhalb der ersten acht Kapitel von Buch III als auch in der EN als Ganzer) zu, die unabhängig ist von der Kritik an der Asymmetriethese. Betrachten wir nun den verschachtelten Gedankengang im Abschnitt 1114a31b25 näher. Das komplexe Argument lässt sich am besten als ein dilemmatisch aufgebautes hypothetisches Argument auffassen. Das Dilemma besteht zwischen den beiden entgegengesetzten Positionen, dass entweder unser Charakter und damit auch unsere Vorstellung (phantasia) vom Guten bei uns liegen oder dass weder Charakter noch unsere Vorstellung davon, was das Gute ist, bei uns liegen, sondern dass beides durch die Natur determiniert ist. Aristoteles nimmt nach-
Meyer 2011, 144.
13.5 Abermalige Zurückweisung der Asymmetriethese (1114a31-b25)
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einander beide Seiten des Dilemmas hypothetisch an, um zu zeigen, dass sich bei beiden Alternativen dieselbe Konsequenz ergibt: In beiden Fällen verhalten sich Tugend und Schlechtigkeit in derselben Weise hinsichtlich der Frage, ob sie willentlich oder unwillentlich sind. Damit liefert er ein Argument für die Symmetriethese, ohne sich damit aber auf eine der beiden hypothetischen Ausgangsannahmen festzulegen. Welcher Anfangsannahme des Dilemmas Aristoteles selbst zustimmt, ist nicht Teil der Argumentation, sondern ist eine davon unabhängige Frage. Dass er die erste Seite annimmt, nach der uns (Mit‐)Verantwortung für unseren Charakter und damit auch für unsere Vorstellung vom Guten zukommt, hatte indes die Argumentation in der vorangegangenen Passage bereits gezeigt (1113b21– 1114a31). Von diesem Ergebnis abstrahiert er jedoch im folgenden Abschnitt 1114a31-b25, um zu verdeutlichen, dass die Asymmetriethese selbst dann unhaltbar ist, wenn man die Annahme der Verantwortung für den eigenen Charakter nicht teilt. Aristoteles’ eigene Auffassung kommt auch in dem komplexen hypothetischen Argument vor. Er formuliert sie in der als Konditional formulierten Bemerkung in den Zeilen 1114b1– 3, ohne dass er hier seine eigene Haltung dieser Annahme gegenüber zu erkennen gibt: „[…] wenn nun jeder für sich selbst irgendwie verantwortlich ist, welche Disposition er hat, dann wird er auch irgendwie selbst verantwortlich sein, welche Vorstellung er hat.“¹³³⁸ Um die Grundstruktur des Arguments nachzuvollziehen, gebe ich zunächst einen Überblick über die verschiedenen darin besprochenen Alternativen und Konsequenzen: I.
Unsere Handlungen sind durch unsere Vorstellung (phantasia) vom Guten determiniert. Unsere Vorstellung ist durch unseren Charakter determiniert. (1114a31-b1) a. Wir sind (irgendwie) für unseren Charakter verantwortlich und daher sind wir auch irgendwie für unsere Vorstellung verantwortlich. (1114b1– 3) II. Unsere Handlungen sind durch unsere Vorstellung vom Guten determiniert und unsere Vorstellung ist durch die Natur determiniert. (1114b3) a. Angenommen II. ist zutreffend, dann gilt trotzdem die Symmetriethese, denn dann ist die Tugend gleichermaßen unwillentlich wie die Schlechtigkeit. (1114b3 – 16) b. Daher folgt die Symmetriethese unabhängig davon, ob (1114b16 – 21) i. II nicht zutreffend ist, sondern unsere Vorstellung vom Guten auch bei uns liegt und nicht nur durch die Natur determiniert ist; (1114b16 – 17) oder ii. II zutreffend ist, d. h. das Ziel durch die Natur determiniert ist, aber die Handlungen, die zum Ziel führen, bei uns liegen. (1114b17– 18)
Auch Stewart bezeichnet die Bemerkung als „Aristotle’s own view here parenthetically stated in conditional form“ (Stewart 1892, 279). Ebenso Gauthier/Jolif 1970, 215: „C’est la vraie réponse d’Aristote […].“
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13 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit von Charakterdispositionen
Die Darstellung des verschachtelten Arguments lässt erkennen, dass Aristoteles ausgehend von gegensätzlichen Anfangshypothesen jeweils folgert, dass die Symmetriethese gilt. Unabhängig davon, ob angenommen wird, dass wir (1) für unseren Charakter und die Vorstellung vom Guten (zumindest irgendwie) verantwortlich sind (in I.a. und II.b.i.), oder ob (2) unsere Vorstellung durch die Natur determiniert ist (II.a.), oder ob (3) zwar unsere Vorstellung vom Guten durch die Natur determiniert ist, nicht aber die Handlungen, die zum Ziel führen (II.b.ii.), in jedem Fall folgt, dass es sich mit unserer Schlechtigkeit nicht anders verhält als mit unserer Tugend, sondern beide in der gleichen Weise entweder willentlich oder unwillentlich sind. Der Gedankengang ist dabei so gegliedert, dass Aristoteles in I.a. und II.b.ii. die Verantwortung für den eigenen Charakter in zwei Varianten annimmt und eingebettet dazwischen in II.a und II.b.i. die Gegenposition erwägt, nach der unser Charakter und unsere Vorstellung vom Guten durch die Natur determiniert sind. In der Argumentation kommen zwei neue Aspekte hinzu. Das Argument diskutiert die Frage nach der Willentlichkeit von Schlechtigkeit und Tugend nicht vorrangig in Bezug auf den Charakter, wie dies bisher der Fall gewesen ist, sondern in Bezug auf unsere Vorstellung (phantasia) vom Guten bzw. das, was uns als ein Gut erscheint (tou phainomenou agathou). Der locus classicus für Aristoteles’ Verständnis der phantasia ist De An. III 3. Dort bestimmt er die phantasia als eine Bewegung (kinêsis), die sich als Folge einer Wahrnehmung im Körper ereignet, die dort gespeichert wird und dadurch für neue Verwendungen wie z. B. in der Erinnerung oder beim Denken zur Verfügung steht. Im Unterschied zu Wahrnehmungen können Vorstellungen auch falsch sein; Denken wiederum beruht auf Vorstellungen und ist ohne diese nicht möglich. Im Kontext von EN III 7 ist es nicht nötig, diese Bestimmung der phantasia im Detail heranzuziehen.¹³³⁹ Es genügt, an die Bestimmung des Wunsches in EN III 6 zu erinnern, wo Aristoteles zwischen dem (wahrhaft Guten) (tagathou) und dem, was gut zu sein scheint, unterscheidet (tou phainomenou agathou).¹³⁴⁰ Der Wunsch einer Person hat etwas zum Gegenstand, was ihr als gut erscheint. Anders formuliert: Die Person hat eine Vorstellung von etwas als etwas Gutem, das Gegenstand ihres Wunsches werden
Stewart zitiert zwar aus der Textpassage in De An., kommt schließlich aber auch zum Schluss, dass diese technische Bestimmung der phantasia an dieser Stelle nicht relevant ist (Stewart 1892, 278): „It [sc. φαντασία] is used here simply for ‚the idea that this or that is goodʻ. Hence it is almost equivalent to ‚a desire or wish for this or thatʻ.“ Auch Grant schlägt vor, dass unter einer phantasia hier schlicht so etwas zu verstehen ist wie „an impression or idea of the good received passively, and in itself erroneous“ (Grant 1866, 30 – 31). Vgl. EN III 6, 1113a15 – 16. Vgl. Abschnitt „8. Bestimmung des Verhältnisses zwischen prohairesis und Wunsch (boulêsis) (EN III 6, 1113a15-b2 bzw. EE II 10, 1227a18 – 31)“.
13.5 Abermalige Zurückweisung der Asymmetriethese (1114a31-b25)
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kann, so dass sie danach strebt. Die Argumentation gegen die Asymmetriethese rekurriert auf die Vorstellungen einer Person vor dem Hintergrund der Annahme, dass auch Vorstellungen – in ähnlicher Weise wie Handlungen – in gewisser Weise von ihrer Beschaffenheit abhängen. Es werden nun aber verschiedene Auffassungen zu dieser Art von Abhängigkeit vertreten. Eine Position hält dafür, dass Vorstellungen durch unseren Charakter bestimmt sind, während die Gegenposition annimmt, dass jemandes Vorstellungen durch die Natur festgelegt sind. Dass Aristoteles der ersten Ansicht zustimmt, machen andere Stellen deutlich, so insbesondere, wenn er ausführt, dass die Tugend das Ziel richtig macht,¹³⁴¹ da dies impliziert, dass die tugendhafte Disposition einer Person dafür ausschlaggebend ist, dass ihr das wahrhaft Gute als gut erscheint. An dieser Stelle kommt es Aristoteles aber nicht in erster Linie darauf an, welche der beiden Ansichten zutreffend ist. Relevant ist hier vielmehr, dass die Determiniertheit der Vorstellung einer Person – gleichgültig, ob der Charakter oder die Natur die Vorstellung bestimmt – in jedem Fall nicht zur Folge hat, dass ein Unterschied zwischen ihren guten und schlechten Vorstellungen besteht: Sind die Vorstellungen einer Person durch die Natur determiniert, so sind gute Vorstellungen ebenso unwillentlich wie schlechte. Sind sie dagegen durch den Charakter determiniert, liegen die schlechten ebenso wie die guten bei der Person und sind willentlich. Der zweite neue Punkt in der Passage ist die Rede von der Natur sowie von der natürlichen Veranlagung (euphyïa). Die natürliche Veranlagung rechnet Aristoteles in der Rhetorik zu den Gütern. Als Beispiele für natürliche Veranlagungen nennt er dort „gutes Gedächtnis, gute Lernfähigkeit, Scharfsinn und solche Dinge […]“.¹³⁴² Derartige natürliche Talente sind Güter, weil deren Besitz Menschen befähigt, (andere) Güter hervorzubringen. Die natürliche Veranlagung ist ebenso wie viele körperliche Güter angeboren. In der Passage 1114a31-b25 zieht Aristoteles den Vergleich mit einem guten Sehsinn. Auch ein solches körperliches Gut kommt einer Person von Natur aus zu und befähigt sie dazu, eine Sache besonders gut zu tun wie z. B. besonders gut bzw. überaus angemessen Dinge zu sehen und zu beurteilen. In den Besitz solcher Güter zu kommen, liegt nicht bei einer Person, sondern beruht auf ihrer natürlichen Ausstattung. Bis zu dieser Stelle hat Aristoteles in EN III 7 noch nicht den Einfluss diskutiert, den die natürliche Veranlagung auf die Entwicklung des Charakters und letztlich auch auf die Handlungen einer Person haben kann. Auch unter den Autoren, die Aristoteles’
Vgl. EN VI 13, 1144a7– 9 und 1145a5 – 6; siehe auch Abschnitt „9.2 Die Tugend macht das Ziel und den Entschluss richtig (EE 1227b12– 25)“. Rhet. I 6, 1362b2: […] μνήμη, εὐμάθεια, ἀγχίνοια, πάντα τὰ τοιαῦτα· […].
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13 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit von Charakterdispositionen
Begründung für die Verantwortung für den eigenen Charakter als unzureichend kritisieren, führt, soweit ich sehe, keiner als Einwand an, dass die Natur determiniert, wie eine Person beschaffen ist. Das ist erstaunlich, da Aristoteles selbst der „ersten Natur“¹³⁴³, also der natürlichen angeborenen Beschaffenheit einer Person, durchaus eine gewisse Bedeutung beimisst.¹³⁴⁴ Andere Stellen in der EN zeigen, dass er die unterschiedlichen natürlichen Veranlagungen bei den Menschen nicht für irrelevant in Hinblick auf ihre Möglichkeiten ansieht, einen tugendhaften Charakter zu erwerben. So anerkennt er beispielsweise naturbedingte Defizite beim Menschen, die diesen temporär oder sogar dauerhaft daran hindern können (EN VII 8, 1150a18 – 24), einen tugendhaften Charakter zu entwickeln (z. B. EN I 10, 1099b18 – 20). Zudem erwähnt er Menschen, die mit schlechten natürlichen Dispositionen (mochtêrias physeis), die bis zur Tierhaftigkeit (theriôtês) reichen können, geboren werden (EN VII 5, 1148b18). Andere natürliche Defizite betreffen ferner die Affekte, wenn eine Person z. B. unnatürliche Affekte, wie z. B. Angst vor einer Maus, verspürt. All dies sind Mängel, die einer Person von Natur aus zukommen können; dadurch kann ihre natürliche Veranlagung derart stark beeinträchtigt sein, dass sie nicht in der Lage ist, einen tugendhaften Charakter zu entwickeln. Andererseits kann die natürliche Veranlagung eines Menschen dessen Chancen, einen tugendhaften Charakter zu erwerben, auch begünstigen. Natürliche Talente wie ein gutes Gedächtnis und Lernfähigkeit sind sicherlich gute Voraussetzungen, um im Zuge des Erziehungsprozesses die Tugenden zu entwickeln. Eine besondere Rolle scheint Aristoteles hier den natürlichen Tugenden (physikai aretai) beizumessen, wenngleich ich offenlassen möchte, inwiefern er selbst natürliche Tugenden annimmt und in diesen eine Voraussetzung für die Entwicklung des eigenen Charakters sieht.¹³⁴⁵ Er führt natürliche Tugenden in EN VI 13 in Entsprechung zu den eigentlichen Tugenden ein und spricht von einer natürlichen Gerechtigkeit, einer natürlichen Mäßigkeit, einer natürlichen Tapferkeit etc. Im Unterschied zu den eigentlichen Tugenden (kyriai aretai) bezeichnet er die natürlichen Tugenden als angeboren und spricht Unter der „zweiten Natur“ ist demgegenüber die Natur zu verstehen, die eine Person erwirbt, indem sie durch Gewöhnung und Erziehung ihren Charakter entwickelt. Vgl. zur Unterscheidung von „erster Natur“ und „zweiter Natur“: McDowell 1998c. Vgl. auch Burnet 1900, 138: „Of course Aristotle admits the importance of εὐφυΐα both in practical and theoretical matters.“ Stewart 1892, 279 – 280: „That εὐφυΐα is highly prized by Aristotle is shown by the place which φυσικὴ ἀρετή (E.N. VI 13.1) and εὐγένεια (…) occupy in his system.“ Vgl. auch die ausführlichere Untersuchung zur Bedeutung der Natur für die Entwicklung des Charakters in: Leunissen 2012. Auch Stewart verweist auf die Behandlung der natürlichen Tugenden in EN VI 13 als Beleg dafür, welche Bedeutung Aristoteles natürlichen Einflüssen bei der Entwicklung des Charakters beigemessen hat (Stewart 1892, 279 – 280).
13.5 Abermalige Zurückweisung der Asymmetriethese (1114a31-b25)
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sie nicht nur heranwachsenden oder erwachsenen Menschen zu, sondern auch Kindern und Tieren. Er stellt hier die natürlichen Tugenden als eine Art Grundlage dar, von der ausgehend rationale Lebewesen die eigentlichen Tugenden entwickeln können.¹³⁴⁶ All diese Bemerkungen zum Einfluss, den die natürliche Beschaffenheit einer Person auf ihre Entwicklungsmöglichkeiten haben kann, machen deutlich, dass Aristoteles der „ersten Natur“ durchaus eine gewisse Bedeutung beimisst. Dass er den möglichen Einfluss der natürlichen Veranlagung auf die Vorstellungen an dieser Stelle ins Gespräch bringt, ist daher kaum nur eine Annahme, die er bloß hypothetisch zur Widerlegung der Asymmetriethese erwägt. Vielmehr räumt er der guten natürlichen Ausstattung einer Person offenbar einen gewissen Anteil im Prozess des Charaktererwerbs ein. Zwar hat er in der vorangehenden Passage deutlich gemacht, dass er eine Mit-Verantwortung für den eigenen Charakter annimmt; die Rede von der Mit-Verantwortung, die im Laufe des Erziehungsprozesses sukzessive zunimmt, lässt es aber gerade zu, dass auch andere Einflussfaktoren eine Rolle spielen können. Dass an der Verantwortung für den eigenen Charakter verschiedene Faktoren einen Anteil haben können, deuten auch die unterschiedlichen einschränkenden Formulierungen an; so spricht er z. B. (im Teil II.b.i und ii. der Argumentation) davon, dass beim Ziel „irgendetwas auch bei [uns] liegt“ oder dass zwar das Ziel natürlich ist, trotzdem aber die übrigen Dinge willentlich sind. Ähnlich wie im Fall der Erziehung scheint daher auch für die natürliche Veranlagung zu gelten, dass ein Mangel daran eine gute charakterliche Entwicklung verhindern kann. Eine gute natürliche Veranlagung mag daher in gleicher Weise wie eine richtige Erziehung eine notwendige Voraussetzung für die Entwicklung eines tugendhaften Charakters sein. Sie ist aber in jedem Fall nicht hinreichend. Denn es liegt in zunehmendem Maß bei der heranwachsenden Person, zu welchen Handlungen sie sich entschließt und welchen Charakter sie auf diese Weise entwickelt. Auf die komplexe Argumentation, die der Widerlegung der Asymmetriethese dient, folgt ein kurzes Fazit, in dem Aristoteles die Ergebnisse dieser Textpassage mit der vorausgehenden zusammenführt: Wenn die Tugenden willentlich sind,
EN VI 13, 1144b4– 9 und 1144b12– 14: „Denn man meint im Allgemeinen, dass uns jede der Tugenden auf gewisse Weise von Natur aus (physei) zukommt; denn wir sind sofort von Geburt an gerecht, mäßig, tapfer und alles andere. Und trotzdem suchen wir nach dem Guten im eigentlichen Sinn als nach etwas anderem und wollen, dass uns diese Tugenden auf andere Weise zukommen. Denn die natürlichen Dispositionen (hai physikai hexeis) kommen auch Kindern und Tieren zu, doch ohne Denken sind sie offensichtlich schädlich. […] Wenn man aber das Denken erwirbt, bedeutet das einen Unterschied für das Handeln, und die Disposition, die bisher der Tugend nur ähnlich war, wird dann eine Tugend im eigentlichen Sinn (kyriôs aretê) sein.“
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13 Willentlichkeit und Zurechenbarkeit von Charakterdispositionen
weil wir mit-verantwortlich (synaitios)¹³⁴⁷ für unsere Charakterdispositionen sind, dann gilt die Symmetriethese, d. h. dann wären auch unsere Schlechtigkeiten willentlich, da wir dafür in derselben Weise mit-verantwortlich sind. Mit diesem Resümee zeigt Aristoteles, dass er ein zweifaches Argumentationsziel in diesem Kapitel verfolgt hat und meint, erreicht zu haben: erstens die Widerlegung der Asymmetriethese und zweitens die Annahme der Mit-Verantwortung für den eigenen Charakter. Dem fügt das folgende kurze Kapitel 8 nichts Wesentliches mehr hinzu. Es dient vielmehr einesteils der Überleitung zur Behandlung der einzelnen Charaktertugenden in den restlichen Kapiteln von Buch III und in Buch IV, indem Aristoteles an zentrale Aspekte der Bestimmung der Charaktertugenden aus den Büchern II und III erinnert.¹³⁴⁸ Andernteils hebt er nochmals die unterschiedliche Art von Willentlichkeit hervor, die uns in Hinblick auf unsere Handlungen und auf unseren Charakter zukommt: Handlungen liegen vom Anfang bis zum Ende bei uns. Charakterdispositionen liegen zwar nicht mehr in gleicher Weise bei uns, wenn wir sie einmal erworben haben. Gleichwohl sind sie willentlich, weil es am Anfang bei uns lag, sie zu erwerben. Inwiefern dies nach Aristoteles ausreicht, um die Annahme der Verantwortung für den eigenen Charakter zu begründen, hat seine Behandlung des Charakters in EN III 7 erweisen sollen.
Der Ausdruck „συναίτιος“ als Bezeichnung für eine begleitende Ursache (im Gegensatz zur primären Ursache) kommt häufiger bei Platon vor (vgl. z. B. Gorg. 519b2, Tim. 46d1, Plt. 287b7). Auch Aristoteles verwendet „συναίτιος“ in De An. zur Beschreibung einer solchen Mitursache. Er bezeichnet dort das Feuer als Mitursache von Ernährung und Wachstum; das Feuer begleitet dabei die Seele, die die eigentliche Ursache ist (De. An. II 4, 416a14). Die Vermutung liegt nahe, dass die beiden Passagen 1114b26 – 30 und 1114b30 – 1115b3 vertauscht worden sind. Denn Letztere enthält ein Resümee zum unmittelbar vorausgegangenen Kapitel 7, während die Zeilen 1114b30 – 1115b3 eine weitergefasste Zusammenfassung der Bestimmung der Charakterdispositionen darstellen. Susemihl und Apelt haben daher eine Umstellung des überlieferten Textes vorgenommen, die sachlich einleuchtet (vgl. dazu ausführlich: meine Anm. 1182, S. 449 – 450).
14 Ergebnis und Ausblick Woyzeck: Ja Herr Hauptmann, die Tugend! ich hab’s noch nicht so aus. Sehn wir gemeinen Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur, aber wenn ich ein Herr wär und hätt ein Hut und eine Uhr und en Anglaise und könnt vornehm reden, ich wollt schon tugendhaft sein. Es muss was Schöns sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl. Georg Büchner, Woyzeck (1836/37) Und ich erkenne das Grauenvolle, das ich zu tun gedenke. Doch mein Zorn ist stärker als meine vernünftigen Gedanken, der schuld ist an dem größten Übel für die Sterblichen. καὶ μανθάνω μὲν οἷα δρᾶν μέλλω κακά, θυμὸς δὲ κρείσσων τῶν ἐμῶν βουλευμάτων, ὅσπερ μεγίστων αἴτιος κακῶν βροτοῖς. Euripides, Medea ¹³⁴⁹
Die Frage danach, was wem in welchem Maß zu Recht zugerechnet werden kann, begegnet einem nicht erst, seit die neuzeitliche Rechtswissenschaft den Begriff der Zurechnung dem Ausdruck nach geprägt hat. Es ist eine sich immer wieder stellende Frage, die auch Aristoteles beschäftigt hat. Dass sein Zurechnungsbegriff ein anderer ist als unser neuzeitlicher, macht ihn nicht minder interessant. Im Gegenteil. Originell ist an Aristoteles’ Zurechnungsbegriff, dass er Willentlichkeit nicht als notwendige Bedingung für Zurechenbarkeit auffasst. Willentlichkeit ist nicht notwendig für Zurechenbarkeit, wenn ein charakterliches Defizit der handelnden Person Ursache für die Unwillentlichkeit ist. Die charakterliche Verfasstheit der Person ist für die Zurechenbarkeit ihrer Handlungen grundlegend. Spezifisch für den aristotelischen Zurechnungsbegriff ist weiter, dass eine prohairesis, ein Entschluss, zwar eine hinreichende Bedingung für die Zurechenbarkeit einer Handlung ist, ohne dass sie aber in jedem Fall notwendig für Zurechenbarkeit ist. Euripides, Medea, 1078 – 1080. Übersetzung nach Eller 2005. https://doi.org/10.1515/9783110517583-016
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14 Ergebnis und Ausblick
Besondere Arten von Handlungen wie plötzliche tapfere Handlungen zeigen, dass Aristoteles Handlungen annimmt, die zurechenbar sind, ohne dass sie auf einer Überlegung und einem expliziten Entschluss beruhen. Grundlage für die Zurechenbarkeit solcher Handlungen ist wiederum, dass sie aus der Charakterdisposition der handelnden Person resultieren. Ein drittes zentrales Merkmal des aristotelischen Zurechnungsbegriffs ist, dass Aristoteles Grade der Zurechenbarkeit annimmt. Das Maß, in dem eine Handlung zurechenbar ist, kommt darin zum Ausdruck, inwieweit eine Person für ihre Handlung Lob oder Tadel verdient. Wie lobens- oder tadelnswürdig eine Handlung ist, beruht wiederum auf dem Grad der Willentlichkeit oder Unwillentlichkeit der Handlung. Die Graduierbarkeit der Begriffe des Willentlichen und Unwillentlichen kommt dadurch zustande, dass sich jeweils ein starrer und ein variabler Begriff unterscheiden lassen. Aristoteles’ starrer Begriff des Willentlichen ist mit Hilfe der beiden Ausschlusskriterien – Abwesenheit von Gewalt bzw. Zwang und Unwissenheit über die Einzelumstände der Handlung – zu bestimmen. Die variablen Begriffe von Willentlichkeit und Unwillentlichkeit kommen darin zum Ausdruck, wie gern oder ungern bzw. widerwillig eine Person eine Handlung ausführt. Man kann es als einen Vorteil von Aristoteles’ Zurechnungsbegriff ansehen, dass bei ihm keine explizite Unterscheidung zwischen Recht und Moral besteht. Gleichwohl findet sich der Sache nach eine ähnliche Abgrenzung auch in seiner Konzeption von Zurechnung, die indes ohne eine begriffliche Unterscheidung zwischen moralischer und rechtlicher Zurechnung auskommt. Der starre Begriff von Willentlichkeit legt fest, unter welchen Bedingungen eine Handlung nicht unwillentlich geschieht, sondern als willentlich zu betrachten ist. Dies betrifft die rechtliche Zurechnung einer Handlung. Die moralische Beurteilung einer Handlung tritt dagegen in verschiedenen weiteren Differenzierungen zutage, die Aristoteles vornimmt, wie z. B. die Unterscheidung zwischen unwillentlichen und nicht-willentlichen Handlungen, und in seiner Diskussion gemischter Handlungen. Ausbleibende Reue ist ein Zeichen dafür, dass eine Person eine schlechte Handlung, die sie unwissentlich ausgeführt hat, nicht als unangenehm empfindet. Ihr nachträgliches Empfinden der unwillentlichen Handlung gegenüber sagt etwas über ihre charakterliche Verfasstheit aus, auch wenn ihr die Handlung rechtlich nicht zuzurechnen ist. Gemischte Handlungen betrachtet Aristoteles in der EN als willentliche Handlungen, weshalb sie rechtlich zurechenbar sind. Gleichwohl sagt der Umstand, ob eine Person z. B. eine schlechte Handlung um eines größeren Guts willen mit oder ohne Widerwillen wählt, etwas über ihre charakterliche Verfasstheit aus. Wählt sie die schlechte Handlung widerstrebend, heißt das, dass die Handlung nach dem variablen Begriff des Willentlichen zu einem gewissen Maß unwillentlich geschieht. Deswegen ist die Person für ihre
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Handlung auch nur in einem gewissen Maß zu tadeln, selbst wenn ihr die Handlung rechtlich zuzurechnen ist. Grundlage für Zurechenbarkeit bei Aristoteles ist die charakterliche Disponiertheit einer Person. Die hauptsächlichen Vollzugsformen der Zurechnung sind Lob und Tadel. Angemessene Adressaten für Lob oder Tadel sind erwachsene Personen, denn nur sie verfügen über einen ausgebildeten Charakter. Wird eine erwachsene Person für ihre Handlung gelobt oder getadelt, so wird sie damit für ihre Handlung moralisch verantwortlich gemacht. Von dieser zurechnenden Funktion von Lob und Tadel lässt sich eine formative Funktion abgrenzen; in dieser sind angemessene Adressaten vernunftbegabte Lebewesen, die noch dabei sind, ihren Charakter zu entwickeln. Lob und Tadel dienen in diesem Fall dazu, die Heranwachsenden bei der Ausbildung ihrer charakterlichen Dispositionen zu lenken, zu korrigieren oder zu unterstützen. Dabei nimmt die Zurechnungsfähigkeit der heranwachsenden Personen in dem Maß zu, wie sie sukzessive ihre rationalen Vermögen entwickeln und ihnen damit stetig anwachsende Mit-Verantwortung für ihren Charakter und ihr Handeln zukommt. Die Vielschichtigkeit des aristotelischen Zurechnungsbegriffs lässt sich am besten durch eine Erörterung der Art erschließen, wie Aristoteles mit besonderen Typen von Handlungen umgeht. Die Analyse von Handlungen aus thymos hat gezeigt, dass in einem abgeschwächten Sinn auch Handlungen zurechenbar sind, die auf den nicht-rationalen Strebungen einer Person beruhen. Zurechenbar sind damit nicht nur Handlungen, sondern auch solche Strebungen und Emotionen, in denen sich die charakterliche Beschaffenheit einer Person äußert. Der Charakter ist nicht nur Ursache für rationale Wünsche, sondern wirkt sich auch auf die rational beeinflussbaren Strebungen und Emotionen des nicht-rationalen Seelenteils aus. So sind auch Handlungen in einem gewissen Maß zurechenbar, die auf solchen nicht-rationalen Strebungen und Emotionen beruhen, auf welche die Vernunft (logos) einwirken könnte. Darin liegt die große Herausforderung, wenn es das Handeln der Medea zu beurteilen gilt. Verdient sie Nachsicht, weil sie aus berechtigtem Zorn gehandelt hat? Oder ist sie dafür zu tadeln, dass ihre Vernunft ihren Zorn nicht gebändigt und gelehrt hat, dass Kindsmord unter keinen Umständen entschuldbar ist? Weitere Konturen lässt sich Aristoteles’ Zurechnungsbegriff anhand seiner Behandlung der Handlungen des Unbeherrschten und des Beherrschten geben. Bei beiden besteht das Defizit im Vergleich zum Mäßigen darin, dass sie Strebungen verspüren, die ihrer richtigen Überlegung und ihrem richtigen Entschluss entgegenstehen. Beim Unbeherrschten vermag sich der rationale Seelenteil nicht gegen die gegenläufigen nicht-rationalen Begierden durchzusetzen, weswegen er für seine Handlung Tadel verdient. Dass auch der Beherrschte, obwohl er äußerlich in der gleichen Weise handelt wie eine mäßige Person, nicht in derselben
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Weise wie der Mäßige Lob verdient, beruht darauf, dass es seinem rationalen Seelenteil (noch) nicht gelungen ist, die gegenläufigen Strebungen zum Schweigen zu bringen. Der Beherrschte bleibt hinter dem Mäßigen zurück, weil seine nicht-rationalen Begierden nicht mit seinem richtigen Entschluss übereinstimmen und weil er nicht über Klugheit verfügt. Klugheit kommt nur dem Tugendhaften zu, der alle Charaktertugenden besitzt; die fehlende Klugheit führt beim Beherrschten dazu, dass er sich nicht um des Schönen willen zu seiner Handlung entschließt und seine beherrschte Handlung nicht als angenehm empfindet. Meine Analyse von Sonderfällen von Handlungen, mit deren Hilfe sich der aristotelische Zurechnungsbegriff erschließen lässt, hat sich auf Beispiele aus den Ethiken konzentriert. Es wäre lohnend, die Untersuchung noch auf andere Fälle auszudehnen, die auch außerhalb der ethischen Schriften vorkommen. Ein interessanter Fall sind z. B. Fehler (hamartêmata, hamartiai), d. h. Handlungen, die aufgrund von selbstverschuldeter Unwissenheit geschehen. Aristoteles diskutiert Fehler außer in EN V 10 insbesondere in der Poetik. Bei tragischen Fehlern wie dem Vatermord des Ödipus stellt sich die Frage, ob solche Handlungen zu einem gewissen Maß zurechenbar sind, weil die Unwissenheit auf ein charakterliches Defizit zurückzuführen ist. Das heißt, es ist zu untersuchen, ob es ein zurechenbares Versäumnis der handelnden Person ist, dass sie sich über relevante Umstände ihrer Handlung in Unwissenheit befindet. Oder sind solche Handlungen vielmehr als entschuldbar zu betrachten, weil die Handlung unwillentlich geschehen ist und deren Ergebnis faktisch nicht rational erwartbar gewesen ist? Aristoteles’ Analyse von Fehlern gibt darüber hinaus Anlass zu der Frage, inwieweit er damit den juristischen Begriff der Fahrlässigkeit vorbereitet, da man in seiner Unterscheidung dreier Schädigungsarten – Unglücksfall (atychêma), Fehler und Unrechtstat (adikêma) – einen Vorläufer der später im Römischen Recht etablierten und geläufigen Trias von casus, culpa und dolus sehen könnte.¹³⁵⁰ Eine andere Schwierigkeit besteht darin, ob Frauen ihre Handlungen zuzurechnen sind.¹³⁵¹ Die Frage danach, inwieweit Frauen zurechnungsfähige Subjekte sind, stellt sich wegen ihrer besonderen charakterlichen Beschaffenheit, wie Aristoteles sie in der Politik beschreibt: Frauen verfügen danach zwar über einen rationalen Seelenteil, dieser ist aber nicht leitend. Zu untersuchen ist hier, welche Funktion Lob und Tadel haben, wenn Frauen die Adressaten sind. Gegen eine formative Verwendung spricht, dass Lob und Tadel bei Frauen nicht auf die Entwicklung des rationalen Seelenteils einwirken, da dieser prinzipiell keine Vgl. dazu z. B. Daube 1969. Diese Fragestellung behandele ich gesondert in einem Beitrag für einen Sammelband zum Thema von Staat und Natur in der antiken politischen Philosophie, dessen Publikation in Vorbereitung ist.
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leitende Funktion wahrnehmen kann. Gegen die zurechnende Funktion spricht, dass Frauen nicht zu voller Tugendhaftigkeit fähig sind und ihnen damit ihre Handlungen nicht voll zurechenbar sind. Zu prüfen ist hier, ob Lob und Tadel in Bezug auf Frauen nochmals eine andere Funktion haben oder ob Frauen mit Lob und Tadel doch – zumindest in einem gewissen Maß – ihre Handlungen zugerechnet werden. Weiter lässt sich fragen, inwiefern sog. natürliche Sklaven zurechnungsfähige Subjekte sind. Über Sklaven sagt Aristoteles in der Politik, dass sie überhaupt nicht über ein überlegendes Seelenvermögen verfügen. Haben Lob und Tadel damit, wenn sie an Sklaven gerichtet werden, nur dieselbe konditionierende Funktion wie in Bezug auf Tiere? Fernerhin lässt sich die Frage nach der Zurechenbarkeit auch auf die überindividuelle Ebene ausdehnen. So lässt sich im Kontext der Politik danach fragen, ob sich auch der Polis als Ganzer Handlungen zurechnen lassen. Die Antwort wird davon abhängen, wer als Bürger der Polis anzusehen ist und wie das Verhältnis zwischen Bürgern und Polis zu bestimmen ist. Die Rekonstruktion des Zurechnungsbegriffs und die skizzierten Anschlussfragen zeigen auf, in welcher Weise sich die aristotelische Konzeption der Zurechnung für aktuelle Diskussionen zu Zurechenbarkeit und Verantwortung fruchtbar machen lässt. Eine wichtige Anfrage für moderne Debatten ist in Aristoteles’ Behandlung der Moralentwicklung bei Kindern zu erkennen, lenkt er doch das Augenmerk auf die geteilten Verantwortlichkeiten von natürlichen Voraussetzungen, dem sozialen Umfeld sowie dem eigenen Anteil der Heranwachsenden auf die Entwicklung ihres Charakters. Eine weitere Perspektive bringt Aristoteles ein, wenn er sich mit dem Zusammenwirken von rationalen und nicht-rationalen Vermögen beim Menschen befasst, das maßgebliche Auswirkungen auf die Handlungen einer Person haben kann. Ein dritter Aspekt, den man prima facie bei Aristoteles eher nicht zu finden erwartet, besteht in der Vorstellung von per se schlechten Handlungen, die eine Person unter keinen Umständen ausführen sollte. Ein Woyzeck bohrt den Stachel in den Zuschauer. Sein Schicksal drängt uns Fragen auf, die wir nicht abweisen können. Das Schöne an Aristoteles ist, dass er unser Verständnis und unser Urteilsvermögen für Schicksale wie jenes Woyzecks schärft. Noch schöner ist, dass er es uns nicht abnimmt, selbst zu denken und zu handeln.
Teil VI: Anhang
15 Bibliographie 15.1 Textausgaben, Übersetzungen und Kommentare zu Autoren der Antike und des Mittelalters 15.1.1 Aristoteles¹³⁵² APo (Analytica Posteriora). [Ross] Aristotelis Analytica Priora et Posteriora. Recensuit brevique adnotatione critica instruxit W.D. Ross, praefatione et appendice auxit L. Minio-Paluello. Oxford: 1964. (OCT) — [Detel] Aristoteles. Zweite Analytik. Analytica Posteriora. Griechisch – Deutsch. Griechischer Text nach W.D. Ross. Übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Wolfgang Detel. Hamburg: 2011. Cael. (De Caelo). [Moraux] Aristote. Du Ciel. Texte établi et traduit par Paul Moraux. Paris: 1965. (Budé) — [Jori] Aristoteles. Über den Himmel. Übersetzt und erläutert von Alberto Jori. Band 12/3. Darmstadt: 2009. Cat. (Categoriae). [Minio-Paluello] Aristotelis Categoriae et Liber de Interpretatione. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit L. Minio-Paluello. Oxford: 1949. — [Ackrill] Categories and De Interpretatione. Translated with notes by J. L. Ackrill. Oxford: 1963. De. An. (De Anima). [Ross] Aristotelis De Anima. Recognovit brevique adnotatione instruxit W.D. Ross. Oxford: 1956. (OCT) — [Corcilius] Über die Seele. De Anima. Griechisch-Deutsch. Übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Klaus Corcilius. Hamburg: 2017. — [Förster] De Anima Libri III. Recensuit Aurelius Förster. Budapest: 1912. — [Hamlyn] De Anima. Books II and III (with Passages from Book I). Translated with Introduction and Notes by D.W. Hamlyn. Oxford: 21993. — [Hicks] De Anima. With translations, introductions and notes by R.D. Hicks. Hildesheim/Zürich/New York: 1990 [ursprünglich erschienen in Cambridge: 1907]. EE (Ethica Eudemia). [Walzer/Mingay]. Aristotelis Ethica Eudemia. Recensuerunt brevique adnotatione critica instruxerunt R.R. Walzer [et] J.M Mingay, praefatione auxit J.M. Mingay. Oxford u. a.: 1991. (OCT) — [Dirlmeier] Eudemische Ethik. Übersetzt und kommentiert von Franz Dirlmeier. Band 7. Berlin: 21969. — [Fritzsche] Adolph Theodor Hermann Fritzsche: [Aristotelis Ethica Eudemia] Eudemi Rhodii Ethica. Regensburg: 1851. — [Inwood/Woolf] Eudemian Ethics. Translated and Edited by Brad Inwood and Raphael Woolf. Cambridge: 2013. — [Kenny] The Eudemian Ethics. A New Translation by Anthony Kenny. Oxford: 2011.
Wenn mehrere Textausgaben angegeben sind, habe ich in nach der an erster Stelle genannten zitiert, wenn nichts anderes vermerkt ist. https://doi.org/10.1515/9783110517583-017
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15 Bibliographie
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15.1 Textausgaben, Übersetzungen und Kommentare zu Autoren
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15 Bibliographie
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15.1.2 Übrige Autoren Alexander: Alexandri Aphrodisiensis. Praeter commentaria scripta minora. De anima liber cum mantissa. Edidit Ivo Bruns. Supplementum Aristotelicum. Vol. 2, Pars 1. Berlin: 1887. — Praeter commentaria scripta minora. Quaestiones, De fato, De mixtione. Edidit Ivo Bruns. Supplementum Aristotelicum. Vol. 2, Pars 2. Berlin: 1892. — Ethical Problems. Translated by R.W. Sharples. London: 1990. — On Fate. Text, translation and commentary R.W. Sharples. London: 1983. Anaximenes: Ars rhetorica quae vulgo fertur Aristotelis ad Alexandrum. Edidit Manfred Fuhrmann. Leipzig: 1966. (Teubner) Anonymos: Scholia eis to Γ tôn autôn Êthikôn. In: Heylbut, Gustavus: Eustratii et Michaelis et Anonyma in Ethica Nicomachea Commentaria. Berlin: 1892. (CAG XX) Antiphon: Orationes et fragmenta. Edidit F. Blass. Leipzig: 1908. (Teubner)
15.1 Textausgaben, Übersetzungen und Kommentare zu Autoren
531
— [Brodersen] Antiphon: Gegen die Stiefmutter. Apollodoros: Gegen Neaira (Demosthenes 59). Frauen vor Gericht. Eingeleitet, herausgegeben und übersetzt von Kai Brodersen. Darmstadt: 2004. — [Gagarin] Antiphon: The Speeches. Cambridge: 1997. Aspasius: In Ethica Nicomachea quae supersunt Commentaria. Edidit Gustavus Heylbut. Berlin: 1889. (CAG XIX/1) — [Konstan] On Aristotle. Nicomachean Ethics 1 – 4, 7 – 8. Translated by David Konstan. London: 2006. Cicero: De finibus bonorum et malorum. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit L.D. Reynolds. Oxford: 1998. (OCT) Demosthenes: Demosthenis Orationes. Recognovit apparatu testimoniorum ornavit adnotatione critica instruxit M.R. Dilts. Tomus I. Oxford: 2002. (OCT) — [Butcher] Demosthenis orationes. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit S.H. Butcher. Oxford: 1903. (OCT) — [Fuhr] Demosthenis orationes. Edidit Carolus Fuhr. (editio maior). Vol I, Pars 1. Leipzig: 1914. [Nachdruck ist 2015 erschienen in Berlin/Zürich: DeGruyter] (Teubner) Diogenes Laertius: Lives of Eminent Philosophers. Edited with Introduction by Tiziano Dorandi. Cambridge: 2013. — [Jürß] Leben und Lehre der Philosophen. Aus dem Griechischen übersetzt und herausgegeben von Fritz Jürß. Stuttgart: 1998. Euripides: Fabulae. Edidit J. Diggle. Vol. 1. Insunt Cyclops, Alcestis, Medea, Heraclidae, Hippolytus, Andromacha, Hecuba. Oxford: 1984. (OCT) — [Buschor] Euripides: Ausgewählte Tragödien. Bd. 1. Übersetzt von E. Buschor. Zürich/Düsseldorf: 1996. — [Eller] Euripides: Medea. Übersetzt und herausgegeben von Karl Heinz Eller. Stuttgart: 2005. Heliodor: Heliodori In Ethica Nicomachea Paraphrasis. Edidit Gustavus Heylbut. Berlin: 1889. (CAG XIX/2) Homer: Homeri Opera. Recognoverunt brevique adnotatione critica instruxerunt David B. Monro et Thomas W. Allen. 2 Bde. Oxford: 31920. (OCT) — [van Thiel] Homeri Ilias. Iterum recognovit Helmut van Thiel. Hildesheim: 1996. — [Schadewaldt] Homer: Ilias. Übersetzt von Wolfgang Schadewaldt. Frankfurt/M.: 1992. — [Voß] Homer: Ilias. Übersetzt von Johann Heinrich Voß. München: 32004. Platon: Opera. Tomi I – V. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit Ioannis Burnet. Oxford 1900. (OCT) — Platon: Opera. Tomus I. Recognoverunt brevique adnotatione critica instruxerunt E.A. Duke, W.F. Hicken, W.S.M. Nicoll, D.B. Robinson, J.C.G. Strachan. Oxford. 1995. (OCT) — Platon: Opera. Respublica. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit S. R. Slings. Oxford. 2003. (OCT) — [Manuwald] Platon: Protagoras. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Bernd Manuwald. Göttingen 2006. — [Rehn/Paulsen] Platon: Timaios. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Thomas Paulsen und Rudolf Rehn. Stuttgart 2003. — [Meyer] Plato: Laws I and II. Translated with an Introduction and Commentary by Susan Sauvé Meyer. Oxford: 2015.
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15 Bibliographie
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15.3 Verzeichnis der zitierten Literatur
533
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Namensregister Ackrill, J.L. 455 – 456 Adkins, A.W.H. 480 Alexander von Aphrodisias 447, 466 – 468 Allan, D.J. 290 Anscombe, G.E.M. 7, 132, 282, 286, 290, 309, 331 Antiphon 173, 196 Aspasius 37, 60, 95, 108, 116 – 117, 126, 130, 140, 168, 170 – 172, 181 – 182, 185, 188, 231, 240 – 242, 266, 268, 441, 449, 482 Aubenque, P. 269 Austin, J.L. 28, 32 Barnes, J. 55, 283 Bayertz, K. 5 Blöser, C. 3 – 4, 27 Bobzien, S. 9, 28, 430, 433, 441, 452, 455, 457 – 466, 468 Bonitz, H. 71, 84, 93, 190, 193 – 196, 214, 297 Bostock, D. 121, 128 Brickhouse, T.C. 469, 497, 510 Broadie, S. 61, 63, 65, 79, 115, 128, 208, 423 – 424, 456, 460, 468 Buddeberg, E. 5 Buddensiek, F. 38, 40, 70, 279 – 280, 381, 406, 409 – 410, 422, 498 – 499 Büchner, G. 519 Burkert, W. 170 Burnet 18, 75, 103 – 104, 116, 158 – 159, 166, 168, 170, 182, 189, 202, 255, 262, 265, 309, 318, 320 – 321, 323, 337, 443, 448 – 449, 454, 457, 467, 489, 509, 516 Burnyeat, M.F. 401 – 402, 482 Bywater 167 – 168, 188, 417, 441, 446, 448 – 449 Charles, D. 18 – 20, 24 – 25, 143, 286, 290, 295 Cheyns, A. 377 Cicero 32, 37, 467 Coope, U. 437
https://doi.org/10.1515/9783110517583-018
Cooper, J. 8, 40, 89, 105, 228, 263, 269, 272 – 273, 277, 279, 281, 287 – 290, 295 – 298, 301 – 302, 309, 331, 334 – 335, 381, 388 – 389, 393 – 394, 396, 398 – 402, 406 – 408, 418, 423 – 424, 431, 469, 489, 492, 495 – 496, 499 Corcilius, K. 228, 232, 242, 246, 267, 276, 282 – 285, 288, 290 – 295, 297 – 301, 328 – 329, 332 – 335, 383, 395, 435 Crisp, R. 7, 166, 187 Dahl, N.O. 9 Darjes, J.G. 3 Daube, D. 522 Demosthenes 203 Denniston, J.D. 156 Destrée, P. 452, 460 – 463, 468 – 470 Detel, W. 154 Dihle, A. 28 – 30, 115, 466 Diogenes Laertius 37 Dirlmeier, F. 18, 37, 39, 57, 68, 71, 77, 84 – 85, 92, 101, 115 – 116, 168, 172, 191, 194 – 198, 200 – 201, 205, 223, 269, 305 – 306, 308, 313 – 314, 325, 345, 348, 357, 359 – 360, 380, 505 Donini, P.L. 39, 441, 453 – 456, 458 – 459, 468, 478, 480 – 481, 492, 507 Ebert, Th. 210, 269, 273 – 274, 276 – 277 Echeñique, J. 4, 9, 12, 14 – 16, 42, 50, 52, 54, 72, 84, 86, 88 – 90, 93 – 94, 99 – 104, 124, 135, 138, 141 – 143, 157, 171 Engberg-Pedersen, T. 480 Etheridge, S. 290 – 291, 298 Euripides 22, 93, 105, 124, 171, 519 Everson, St. 468 – 469, 471, 473 – 474 Fahnenschmidt, G. Feinberg, J. 12 Fischer, J.M. 5 Flashar 38 Förster, E. 228 Frankfurt, H. 64 Frede, D. 31, 55
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546
Namensregister
Frede, M. 28, 30, 284 – 285, 384, 466, 505 Frère, J. 377 Fritzsche, A.Th.H. 71, 84, 93 – 94, 193 – 194, 198, 200 – 201, 357 – 359 Furley, D. 469, 480, 488 Gauthier, R.A. 18 – 20, 26, 79 – 80, 93, 108, 120 – 121, 164 – 166, 168, 184 – 185, 187 – 188, 202 – 203, 209, 228, 232, 235, 238, 253 – 254 265 – 266, 268 – 269, 273, 318, 322, 442 – 443, 446, 462, 467, 469, 480, 513 Gibson, J.A. 423 – 424, 426 Gigon, O. 18, 273 Giphanius 162 Grant, A. 18, 61, 75, 77, 79, 93, 122, 129 – 131, 149 – 150, 158, 161, 170, 173 – 174, 183, 185, 187, 202, 228, 235, 238, 250, 253, 258 – 259, 262, 268 – 269, 318 – 319, 321, 442 – 443, 449 – 450, 453, 455, 466 – 467, 476, 478, 514 Greenwood, L.H.G. 273 – 274, 278, 280 Grönroos, G. 381, 388, 390, 400, 402 – 404 Grosseteste 187 Habermas, J. 4 Halbig, Ch. 7 – 8 Hamlyn, D.W. 381 Hardie, W.F.R. 28, 205, 207, 218, 269, 277, 290, 295, 463, 468 – 469, 480 Heinaman, R. 9, 18, 24 – 25, 86 – 89, 138 – 140, 142, 144 – 145, 152 Heliodor 170, 482 Hicks, R.D. 192 Homer 22, 188, 217, 379 Hruschka, J. 3 Huby, P. 28 Hursthouse, R. 8, 61 – 62, 64, 429 Ingensiep, H.W. 53 Inwood, B. 72, 84, 92, 101, 152, 193, 195 – 197, 200, 357 Irwin, T. 9, 12, 18, 33, 55, 61, 64, 68, 77, 119, 122, 143, 166, 184, 186 – 188, 202, 205 – 206, 209, 268, 277, 281, 309, 311, 329 – 331, 360, 381, 418, 424 – 425, 443, 445 – 446, 454 – 455, 460, 492, 496, 509
Jaeger, W. 39 – 40 Jimenez, M. 394, 402 – 403 Joachim, H.H. 18, 93, 164, 207, 219 – 221, 266, 274, 318, 320 – 321, 323 – 324, 468 – 469, 480 Jolif, J.Y. 18 – 20, 26, 79 – 80, 93, 108, 120 – 121, 164 – 166, 168, 184 – 185, 187 – 188, 202 – 203, 209, 228, 232, 235, 238, 253 – 254, 265 – 266, 268 – 269, 273, 318, 322, 442 – 443, 446, 462, 467, 469, 480, 513 Kahn, Ch.H. 27 – 28, 31, 33 Kant, I. 3 Kenny, A. 18 – 21, 29, 37, 40, 50, 55, 61 – 62, 71, 75, 84 – 85, 100, 103, 118 – 119, 124, 133, 143, 163, 170 – 171, 197, 201, 205, 260, 269, 282, 288, 290 – 291, 295, 309, 325, 327, 339, 345, 349, 357 – 359, 381, 505 Kollesch, J. 300 Kosman, L.A. 311 Kraus, O. 18, 128 Kühner, R. 354 Künne, W. 250, 505 Kullmann, E. 238 Kullmann, W. 380 Langmeier, B. 8 Larenz, K. 6 Lee, H.D.P. 203 Leighton, St. R. 406 Leunissen, M. 516 Lienemann, B. 28, 250, 415, 466, 505 Liske, M.-T. 9 Loening, R. 3 – 4, 18, 26, 78, 126 – 129, 131, 133 – 138, 142, 163, 459, 467 – 469, 473 Loomis, W.T. 203 Lorenz, H. 150, 154, 206 – 207, 233, 286, 310 – 311, 354, 358, 361 – 364, 381 – 384, 388 – 390, 392, 394, 396 – 398, 403, 432, 435, 487 Luraghi, S. 217 Manuwald, B. 490 – 491 Maschke, R. 128, 203 McDowell, J. 430 – 431, 516
Namensregister
Mele, A.R. 104, 290, 309, 330 – 331, 337 – 338 Meyer, S.S. 9 – 12, 14, 16, 18 – 19, 23, 28, 42, 50, 52, 55, 68, 84 – 86, 89 – 90, 101, 103 – 104, 135, 139 – 142, 144, 157 – 163, 366, 368 – 369, 442, 451 – 452, 456 – 459, 465, 468 – 469, 473, 476, 478, 481, 483, 498 – 499, 502 – 506, 508, 510 – 512 Michelet 131, 162 Mingay, J.M. 41 Modrak, D.K.W. 290 Moline, J.N. 21, 24, 498 Morison, B. 154 Moss, J. 269, 277, 281, 400 Müller, A.W. 290 Müller, J. 267 – 268, 308 – 312, 351 Natali, C. 9, 377, 468 Nickel, R. 113, 152 Nielsen, K.M. 75 – 76, 78, 103, 109, 205 Nussbaum, M.C. 8, 55, 107, 263, 281, 290, 295, 331, 337, 377, 381, 406, 409 Ostwald, M. 460 Ott, W. 456 Owen, G.E.L. 55, 250, 505 Pakaluk, M. 18 – 20, 38, 61, 64, 216 Patzig, G. 284 – 285, 505 Paulsen, Th. 480 – 481 Peters, F.H. 161, 460 Pickavé, M. 435 Platon 26, 40, 80, 125, 203, 238, 250, 254, 321, 377, 379, 390, 401, 403, 449, 458, 479 – 481, 489, 500, 518 Price, A.W. 383 – 384, 419, 424 Rapp, Ch. 8 – 9, 28 – 29, 34, 72, 205, 207, 215 – 222, 251, 328, 380 – 381, 405 – 412, 460, 483, 487, 500 Ravizza, M. 5 Reeve, C.D.C. 309, 360, 425, 442 – 443, 460 Rehn, R. 480 – 481 Rhodes, P.J. 245 Rickert, G. 18, 21 – 23, 67 Rippe, K.P. 7
547
Roberts, J. 9, 62, 468 – 469, 480, 494 – 499 Ross, W.D. 18, 118, 196, 216, 262, 277, 329, 381, 480 Rowe, Ch.J. 18, 37, 40, 77, 79, 99, 115, 128, 186, 209, 360, 418, 424, 460 Rowe, W.D. 64 Russell, D.A. 84, 191 Ryle, G. 28, 32 Santas, G. 290 Schaber, P. 7 Schächer, E.J. 37 Schleiermacher, F.D.E. 37 – 38 Schütrumpf, E. 381, 385 Segvic H. 418, 423 – 424, 427, 429 – 430 Sherman, N. 331, 484 – 488 Siegler, F.A. 100, 118 – 120, 137 – 139, 144 Simpson, P.L.P. 37 – 39, 71, 84, 86, 92, 101, 151, 195, 223, 327, 345, 359, 370 Slote, M. 7 Smith, H. 141 Sophokles 22 – 23 Sorabji, R. 31 – 32, 66, 103, 205, 418, 426, 468 – 470, 474, 497 Spengel, L. 38, 86, 450 Stahr, A. 460 Stewart, J.A. 18, 60 – 61, 68 – 69, 77, 79, 81, 130 – 131, 155 – 156, 160 – 161, 163 – 164, 166, 168 – 171, 181, 183, 231 – 232, 235, 242 – 243, 248, 252, 261, 266, 269, 273 – 274, 319, 383, 442 – 443, 445, 448 – 449, 467, 482, 513 – 514, 516 Stocker, M. 106 – 107 Strawson, P. 10, 12 – 13, 498 Striker, G. 406 Susemihl, F. 41, 84 – 86, 137, 168, 184 – 186, 188 – 189, 191, 193 – 196, 198, 200 – 201, 259, 359, 417, 441 – 450, 457, 489, 518 Taylor, C.C.W. 18, 75, 77, 99 – 100, 103 – 105, 108, 122, 129, 143, 157 – 158, 165 – 166, 168, 170 f., 174, 187, 230, 234, 250, 273, 322, 381, 419, 424, 428 – 429, 443, 460, 462, 467 Thomas von Aquin 27, 31 – 33 Tuozzo, Th.M. 9
548
Urmson, J.O.
Namensregister
18, 61, 65, 120 – 121, 480
von Fragstein 201, 353 von Pufendorf, Samuel 3 von Wright, G.H. 282, 290 Wallace, R.J. 10, 13, 498 Walzer, M. 107 Walzer, R. 41, 67 – 68, 238 Watson, G. 12 – 13 Werner, M. 5 Whiting, J. 109, 435 Widerker, D. 64 Wiggins, D. 269, 277 – 279, 281
Williams, B. 8, 469, 480 Williams, R. 460 Wittmann, M. 468 Wolf, U. 18 – 19, 26, 186 – 187, 205, 214 – 215, 273, 287, 350, 360 – 361, 380 – 381, 411, 419, 462, 483 Wolff, Ch. 3 Woods, M. 18, 53, 55, 57, 71, 84 – 86, 92, 99, 101, 150 – 151, 157, 173, 192 – 193, 195 – 197, 199 – 201, 220, 223, 230, 239, 254 – 255, 304 – 305, 307, 314, 316, 327, 345 – 350, 353, 357 – 359, 370 – 371, 381 Woolf, R. 72, 84, 92, 101, 152, 193, 195 – 197, 200, 357
Stellenregister An den mit „(Ü)“ gekennzeichneten Stellen findet sich eine Übersetzung der jeweiligen Passage im Haupttext; an den mit „(Ü: Fn)“ gekennzeichneten Stellen findet sich eine Übersetzung in einer Fußnote auf der angegebenen Seite. Im Register sind die Schriften des Aristoteles in der Reihenfolge der Bekker-Ausgabe aufgeführt, die Werke Platons sind alphabetisch geordnet und die übrigen Autorennamen stehen ebenfalls in alphabetischer Reihenfolge. Alexander von Aphrodisias De fato 192, 22 ff. 466 Anonymos in Eth. Nic. CAG XX 141.10–11 CAG XX 155.10
108 466
Antiphon (Gegen die Stiefmutter) I 27
196
Aristoteles Categoriae 2b3
288
Analytica Priora 57b18–21
316
Analytica Posteriora 71a24–29 71b9–13 72b19–27
154 254 197
Topica 100b21–101a17 101b1–4 104a4–b17 105a27–28 116b23 118b27–28 126a6–13 126a12–13 126a13 135a12–14 146a36–b6 156a32–33
55 55 55 400 88 400 407 235 328 (Ü) 401 332 (Ü: Fn) 407
https://doi.org/10.1515/9783110517583-019
188a30–b26
343
Physica 192b8–16 194b32–35 197a36–b18 201a3–9 201a11–15 222b14–15 253b34 255a8–10
250 312 (Ü: Fn) 251 248 248 417 (Ü) 52 470
De Caelo 276a12 296a32–33 310a23–27
52 249 343 (Ü: Fn)
De Generatione et Corruptione 310b7 52 330b30–33 52 De Anima 403a28–b2 403a29–b1 413a17–19 413b2–4 414a32–b2 414b2 416a14 417a26–b2 417b21–23 427b6–16 427b16–18 427b20–26 428a22–24 429b17 432b5–7
378 (Ü: Fn) 407 192 52 382 (Ü), 384 228, 328, 383 518 152 333 326 228 (Ü: Fn) 228 (Ü: Fn) 389 228 235
550
Stellenregister
432b5–6 432b10 432b27–29 433a6–8 433a15–17 433a16–17 433a22–26 433a22–25 433a23
228 (Ü), 328 (Ü), 382 228 333 (Ü) 384 (Ü: Fn) 285 (Ü) 284 228, 242 335 (Ü) 334
De Memoria 451a23–b10 453a9–14
256 292
De Historia Animalium 488b12–15 588a16–25
412 412
De Partibus Animalium 650b33–651a3
412 (Ü: Fn)
De Motu Animalium 698a1–7 700b19 700b22–24 700b22 700b24–26 701a7–36 701a7–33 701a7–8 701a8–33 701a16 701a23 701a24–25 701a29–33 701a31–33 701a32–36 701a33–b1 701a36–b1 702a10–17 703b5–8 703b8–11 704a3–4
294 228 382 (Ü) 328 333 (Ü) 291 (Ü) 292 395 294 297 296 296 328 295 (Ü: Fn) 394 (Ü) 294 384 (Ü: Fn) 474 472 (Ü: Fn) 472 (Ü: Fn) 294
De Generatione Animalium 742b26–28 250
Problemata Physica 859a1–967b27
128
Metaphysica 995a24–b4 996b20–21 1003a33–b6 1006a1–2 1009a6–15 1023a8–9 1026a7–10 1032b5–10 1032b15–26 1032b18–21 1042a32–b3 1046b4–10 1048a21–24 1062b13–19 1069b9–13 1071b4–5 1072a21–26 1072a27–28 1075a11–15 1078a31–b6
55 192 505 504 320 57 249 284 285 (Ü: Fn) 288 248 326 (Ü) 231 (Ü: Fn) 319 (Ü: Fn) 248 249 249 329 (Ü: Fn) 249 401
Ethica Nicomachea 1094a1–2 1094a3–5 1094a9–18 1094a27–b3 1095a14–15 1095a17–20 1095b2–13 1095b4–13 1097a20–21 1097a34–b6 1097a34–b5 1097b4 1098a3–4 1098b20–22 1098b33–1099a3 1099b18–20 1101b12–18 1101b13 1101b14–16 1101b31–34 1101b31–32
213 (Ü) 274 (Ü: Fn) 272 (Ü: Fn), 277 272 (Ü: Fn) 214 275 482 481 (Ü) 214 275 277 (Ü) 277 390 (Ü: Fn) 275 457 516 16, 501 (Ü) 501 504 501 (Ü) 96 (Ü: Fn), 504 (Ü)
Stellenregister
1102a27–28 1102a32–33 1102b11–12 1102b13–14 1102b14–25 1102b23–1103a3 1102b28–31 1102b31–1103a1 1102b31 1102b33 1103a2 1103a8–10 1103a14–1105b18 1103a31–b2 1103b14–21 1103b21–25 1103b21–23 1104b11–13 1104b16 1104b30–1105a1 1105a8 1105a28–33 1105b5–9 1105b7–9 1105b21–23 1105b22 1105b25–26 1105b31–1106a2 1106b6–1107a2 1106b24–27 1106b36–1107a2 1106b36–1107a1 1109a20–24 1109a29 1109b1–7 1109b30–35 1109b30–34 1109b30–32 1109b30–31 1109b30 1109b32 1109b35–1110a4 1110a1–3 1110a1 1110a2–3 1110a3
383, 386 383 386 386 386 386 (Ü) 383 (Ü) 486 389 388, 485 387 441 428, 499 478 (Ü) 483 (Ü: Fn) 479 (Ü) 454 (Ü: Fn) 479 497 232 (Ü: Fn), 399 (Ü) 381 419 (Ü: Fn) 430 457 406 (Ü) 381 502 (Ü: Fn) 96 (Ü: Fn), 471 (Ü) 311 23 226 (Ü: Fn) 419 (Ü) 23 505 362 (Ü) 21, 96 138 133 465, 504 61 99, 103 60 (Ü) 468 467 60 20
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552
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1148a4–11 1148a9–10 1148a9 1148b12–13 1148b18 1149a24–b3 1149a31 1149a32–b3 1149a34–35 1149b4–6 1149b31–1150a1 1149b34–1150a1 1150a18–24 1150a19–25 1150a21 1150a23–27 1150b19 ff. 1150b19–22 1150b19–21 1150b25–28 1150b29–1151a28 1150b29–36 1150b29–35 1150b32 1151a4 1151a5–7 1151a6–8 1151a11–28 1151a11–14 1151a15–19 1151a20–25 1151a27–28 1151a29–b4 1151a29–30 1151b23–30 1151b34–1152a3 1152a6–15 1152a6–8 1152a30–31 1173a14–15 1175b28–29 1179b4–7 1179b34–1180a5 1180a1–5 1180a8–9
214 f. (Ü: Fn), 229, 433 434 230 234 516 392 (Ü), 410 496 234 410 135 15 169 516 434 497 214 f. (Ü: Fn) 349 420 (Ü) 349 420 (Ü) 159 434 425 159, 497 497 268 (Ü: Fn) 434 434 434 314 434 (Ü) 436 349 349 (Ü) 436 350 (Ü: Fn), 436 435 435 (Ü: Fn) 497 455 505 (Ü: Fn) 15 484 (Ü) 398 (Ü: Fn) 497
Magna Moralia 1180a9 1180a12 1183b20–23 1183b26–27 1183b27 1185b13–1186a35 1187a5–10 1187a5 1187a18–23 1187a20–21 1187b36–37 1188a19 1188b5–6 1188b5 1188b8–11 1188b19 1188b26–27 1188b31 1188b34–35 1189a12–16 1189b9–19 1189b18–25 1190a9–b6 1195a14–b4 1195a17–19 1195a28–34 1197a4–12 1200b18
496 497 500 (Ü: Fn) 500 (Ü: Fn) 504 500 489 (Ü: Fn) 489 369 138, 504 328, 382 504 54 68 57 (Ü: Fn) 73 73 173 112 223 (Ü) 262 (Ü: Fn) 255 (Ü: Fn) 345 112 175 144 (Ü: Fn) 275 (Ü: Fn) 357
Ethica Eudemia 1214a1–8 1214b6 ff. 1214b6–17 1214b32 1219a6–11 1219b8–16 1219b8–15 1219b8–9 1219b16 1219b32–33 1220a26–b6 1220a35 1220b12–14 1222b18–20 1221b27–1228a8 1223a2–7
400 314 279 (Ü) 497 370 (Ü) 16 501 (Ü) 504 13 383 500 497 406 (Ü) 20 500 470
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1223a4–7 1223a9–18 1223a9–15 1223a9–10 1223a11 1223a13–18 1223a16–22 1223a26–27 1223a33 1223b6–7 1223b29–36 1223b32–33 1224a2–4 1224a3 1224a13–30 1224a13–18 1224a13–15 1224a20 1224a23 1224a24–25 1224a25 1224a27–30 1224a28–30 1224a30–1225a2 1224a30–31 1224a32–36 1224a36 1224a38–b1 1224b5–11 1224b5–7 1224b7–8 1224b11–15 1224b13–14 1224b16–19 1224b21–24 1224b26–29 1225a1–8 1225a1–2 1225a2–8 1225a2 1225a8–19 1225a9–27 1225a9–13 1225a9–11 1225a9–10 1225a11–33 1225a12–13
470 (Ü: Fn) 369 138, 369, 503 (Ü) 367 (Ü) 502 367 (Ü) 227 (Ü: Fn) 228, 328, 382 56 (Ü: Fn) 329 (Ü) 33 329 (Ü) 416 (Ü) 193 51 f. (Ü), 56 71 56 52 53, 57 384 (Ü: Fn) 53 f. 15 20, 226 55 62 (Ü) 436 56 (Ü: Fn) 56 57 (Ü) 53 52 (Ü: Fn) 52 (Ü: Fn) 58 436 (Ü: Fn) 58 (Ü) 58 (Ü) 59 55 (Ü: Fn) 66 (Ü), 71, 83 71 84 (Ü) 24 85 85 464 91 (Ü) 87
1225a12 1225a15 1225a17–19 1225a17–18 1225a17 1225a19–25 1225a19–22 1225a19 1225a22–25 1225a24–25 1225a27–30 1225a36–b8 1225b2–6 1225b2 1225b4–5 1225b6 1225b8–16 1225b8–10 1225b8 1225b9 1225b10 1225b14–16 1222b15 f. 1225b17–1226b2 1225b17–24 1225b19–21 1225b19–20 1225b20–21 1225b21–26 1225b24–1226a17 1225b24–37 1225b24–31 1225b24–26 1225b24–25 1225b26–27 1225b27–30 1225b32–37 1225b33 1225b35–36 1226a1–17 1226a1–6 1226a2 1226a3–4 1226a4–6 1226a6 1226a7–17 1226a7–8
557
87 71 71 (Ü: Fn), 93 71 87 472 99 87 81 (Ü), 97 (Ü) 92 99 146 (Ü) 175 147 173 147 151 (Ü) 86, 123 (Ü: Fn) 152 151 123, 153 477 314 304 189 (Ü), 225 f., 304 315 (Ü: Fn) 225 315 228 228 190 (Ü), 304 229 328, 382 307 226, 385 230 235, 317 182, 190 464 190 (Ü), 238, 304 238 190 184, 191, 240 241 191, 238 239 89
558
Stellenregister
1226a11–13 1226a13–16 1226a15–17 1226a17–b2 1226a17–20 1226a17–19 1226a18–19 1226a19–1226b2 1226a19 1226a27–28 1226a29 1226a30–33 1226a30 1226a33–b2 1226a33–35 1226a36–37 1226b2–1227b11 1226b2–1227a5 1226b2–9 1226b2–5 1226b2 1226b3 1226b4 1226b5–6 1226b6–9 1226b6–8 1226b8 1226b9–1227b18 1226b9–1227a18 1226b9–1227a5 1226b9–20 1226b9 1226b10–12 1226b12–13 1226b12 1226b15 1226b16–17 1226b17 1226b18 1226b19–20 1226b19 1226b20–31 1226b20 1226b21–1227a5
240 237, 337 239 (Ü: Fn) 191 (Ü), 245, 247, 252, 348 225 304 225 304, 307 315 464 252 192 251 288 253 255 305 245, 304 193 (Ü), 228, 243– 245, 305 308, 310, 416 (Ü) 193 193 193, 306, 315 244 418 (Ü: Fn) 205 f. 193, 246 305 245 257, 348 194 (Ü), 252, 271, 305, 348, 356 306, 315 314 266 194, 305 194 194, 307 305, 307 f., 315 194 312 194 312 246 195 (Ü)
1226b21–32 1226b21–23 1226b22 1226b27 1226b30–1227a5 1226b30–1227a2 1226b30–36 1226b30–31 1226b33 1226b34–1227a2 1226b34–36 1226b35 1226b36–1227a2 1226b37–38 1227a2–5 1227a3–5 1227a4–5 1227a5–18 1227a6–13 1227a16 1227a18–31
1227a19 1227a20 1227a21–22 1227a30 1227a31–b11 1227a37–38 1227b5–6 1227b12–1228a19 1227b12–25 1227b12–15 1227b15–19 1227b19–22 1227b21–22 1227b22–25 1227b25–1228a2 1227b25–33 1227b28–32 1227b32–33 1227b34–1228a2 1227b36–1228a2
312 312 195 196 313 315 225 464 315 203 (Ü: Fn) 225 196 315 196 305–307, 315 292 (Ü: Fn), 310, 312 308 196 (Ü), 257, 305, 313, 348 271 197 197 (Ü), 305, 316 f., 325, 343, 514 197 198 198 198 198 (Ü), 245, 305, 343 344 344 343 199 (Ü), 345 f., 515 346 346 346 358 314 (Ü: Fn), 346 227, 271, 346, 352, 366, 510 200 (Ü), 257, 348 314 (Ü: Fn) 284 (Ü: Fn) 200 (Ü) 353 f.
Stellenregister
1227b36–37 1227b37–38 1227b38–39 1227b38 1227b39–1228a2 1227b39–1228a1 1228a1–2 1228a1 1228a2–19 1228a3–4 1228a4–19 1228a4–5 1228a7–10 1228a7–8 1228a8–9 1228a9–11 1228a10–11 1228a14 1231b5–7 1236a17–22 1248a15–30 1248b16–26 1248b19–23 1248b26–1249a21 1249a9
355 356 (Ü) 356 200 f., 357 358 359 346, 355 f., 358 201 201 (Ü), 346 354 365, 510 366 368 368 f. 366 137 367 370 405 (Ü: Fn) 505 330 70 505 (Ü: Fn) 326 401
Politica 1253a12 1260a12–14 1260a13–14 1274b19–21 1274b20–23 1287a28–32 1323a27–34 1327b18–1328a21 1327b19–20 1327b36–38 1327b40–41 1331b26–32 1332a7–16 1334b17–25 1334b20–25 1334b22–25 1334b22–24
486 15 385 (Ü: Fn), 485 142 143 (Ü: Fn) 384 136 (Ü: Fn) 403 (Ü: Fn) 403 (Ü: Fn) 381, 403 403 (Ü: Fn) 352 110 (Ü) 228 235 (Ü: Fn) 402 381, 385 (Ü: Fn)
Rhetorica 1358b27–29
498
1359a30–b1 1362a18–20 1362a18–19 1362b2 1366a23–36 1366a35–b1 1366a36–37 1367b21–26 1367b27–28 1368b32–37 1368b37–1369a7 1368b37–1369a4 1369a1–4 1369a4 1369b12–14 1369b12 1370a17–18 1370a18–27 1370a18 ff. 1374b2–23 1378a20–23 1378a30–32 1378a31–1380a5 1378a31–33 1382a21 1383a6–8 1383b14 1385b13–16 1386b18–19 1387b22 1389a9–12 1389a13–15 1389a35–36 1399b13–19 1399b15–19 1399b18–19 1399b18 1399b19 1402b9–12 Poetica 1449b27 1452a2–3 1452a36–b1 1452b32–33 1453b5 1454a7
246 271 257 515 498 500 (Ü: Fn) 502 205, 215 (Ü) 13 72 (Ü: Fn) 404 (Ü: Fn) 328 (Ü), 382 228 410 496 (Ü) 496 f. 400 409 (Ü: Fn) 412 104 406 (Ü) 380 407 (Ü) 407 408 251 (Ü: Fn) 408 104 408 504 405 (Ü: Fn) 483(Ü: Fn) 487 (Ü) 93, 220 f. (Ü) 222 222 221 221 142
104 104 104 104 104 171
559
560
Stellenregister
Aspasius in Eth. Nic. CAG XIX/1 CAG XIX/1 59.16–17 CAG XIX/1 59.23–25 CAG XIX/1 61.26–28 CAG XIX/1 63.7–9 CAG XIX/1 63.9–15 CAG XIX/1 63.11–12 CAG XIX/1 63.24–25 CAG XIX/1 63.25–29 CAG XIX/1 63.28–29 CAG XIX/1 64.30 CAG XIX/1 64.31–33 CAG XIX/1 65.4–5 CAG XIX/1 68.8–14 CAG XIX/1 68.22 CAG XIX/1 69.18–21 CAG XIX/1 69.30–33 CAG XIX/1 69.33–34 CAG XIX/1 72.33 CAG XIX/1 74.31–32 CAG XIX/1 151.19–27
170 60 (Ü: Fn) 60 (Ü: Fn) 96, 108 116 (Ü: Fn) 117 (Ü: Fn) 117 (Ü: Fn) 126 (Ü: Fn) 130 140 (Ü: Fn) 168 171 172 231 181 240 (Ü: Fn) 242 242 185 266 (Ü: Fn) 37
Demosthenes 4. Phil. [or. 10]
203
Euripides Medea 1078–1080
519
Homer Ilias I1 XV 232 XV 594 XVI 33 XVI 529
378 379 (Ü: Fn) 379 (Ü: Fn) 379 (Ü: Fn) 379 (Ü: Fn)
Platon Apologie 25e Gorgias 454e3–4 466b3–5 467b–468c
160
390 318 (Ü: Fn) 160
467c5–7 475e 509e 509e5–7 519b2
318 (Ü) 467 467 489 518
Menon 77a–78e 77b–78b
467 160
Nomoi 730b5–c1 860d–862a 860d–861b 860d1–861e3 860d1–e3 889a–c
500 160 456 467 443 250
Parmenides 143d–e
203
Phaidon 253d 254e
402 402
Politeia 375a 435e4 439e–441c 440cd 440e3–441a 440e7–441a5 441a8–b1 441b3–4 441e4–7 442b10–c4
382 382 379 402 382 379 380 380 379 379
Politikos 287b7 292b–c
518 238
Protagoras 323c8–e3 345d–e 345d6–e6 45d9–e4
490 (Ü: Fn) 467 160 489
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Sophistes 267b–268d Theätet 152a 160d 170b 170e 171c 176c 178b 196c–200d
207a–208a
254
125
320 320 125 320 320 125 320 113
Timaios 37e1–38a6 46d 46d1 87a7–b8
250 449 518 480 (Ü)
Thomas von Aquin Summa Theologiae I–II, q. 6, prooe. I–II, art. 5 und art. 7
33 32
561
Sachregister Affekt, s.a. Emotion, pathos 21, 35, 44, 61, 99, 134 – 136, 380, 385, 413, 420, 434, 471 – 472, 476, 487, 484, 516 agathon, s. gut / das Gute agnoia, s. Unwissenheit aitia, s. Ursache, Finalursache, Wirkursache akolasia, s. Unmäßigkeit akôn / akousios, s. unwillentlich, unfreiwillig, Unwillentlichkeit akrasia, s. Unbeherrschtheit ameleia, s. Nachlässigkeit, Fahrlässigkeit anankê, s. Zwang, Notwendigkeit andreia, s. Tapferkeit archê, s. Ausgangspunkt, Prinzip astheneia, s. Schwäche, Unbeherrschtheit aus Schwäche Asymmetriethese 366, 451 – 452, 458, 478, 490, 509 – 518 aufgrund von Unwissenheit (di’agnoian) s. Unwissenheit Ausgangspunkt, s. archê, Prinzip 34, 83, 187, 200, 236, 266, 284 – 285, 293, 314, 343, 353, 467, 482 Bedauern (metameleia) 61, 63, 82, 114 – 115, 119 – 122, 174, 176 Begehren (epithymia), s.a. Begierden (epithymiai) 30, 34, 52, 68, 78, 135, 181, 190, 214 – 215, 226, 228 – 229, 231 – 234, 242, 268, 304, 307, 321, 323, 328, 330, 333, 380, 382 – 383, 385, 387, 389 – 395, 397 – 398, 400, 402 – 403, 407 – 412 Begierden (epithymiai), s.a. Begehren 27, 29, 54, 102, 135, 214, 229 – 231, 234, 286, 309, 311, 348 – 350, 387, 391 – 393, 408 – 411, 433 – 437, 505, 521 Beherrschtheit (enkrateia) 199, 346, 348 – 350, 421, 433, 436 Beratung, s. Überlegung, bouleusis Bestrafung, s. kolasis 13, 134, 139, 142 – 143, 496 – 497, 499 bia, s. Gewalt
https://doi.org/10.1515/9783110517583-020
boulêsis, s. Wunsch bouleusis / boulê, s. Überlegung Charakterdisposition (hexis êthikê / hexis prohairetikê) s.a. Charaktertugend 4, 11, 16, 35, 43, 45, 96, 146, 303, 311, 372, 425, 428, 433, 436 – 437, 451, 458, 480, 502, 509, 511 – 512, 518 Charaktererwerb 24, 455, 478 – 477, 492, 508, 510 Charaktertugend, s.a. Charakterdisposition 15, 199, 233, 245 – 246, 264, 270 – 271, 289, 310 – 311, 343, 345 – 346, 354 – 356, 362 – 363, 371, 400, 405, 417, 433, 451, 479, 482 – 483, 518, 522 Chronologie der aristotelischen Werke 37, 39 – 41, 365 deinotês, s. Geschicklichkeit Determinismus 27, 465 – 467 Dinge, die zum Ziel führen (ta pros to telos) 194 – 195, 198 – 199, 237 – 239, 257, 261, 263 – 264, 268 – 270, 277, 280, 305, 310, 313 – 314, 323 – 325, 346 – 347, 352 – 353, 356, 358 – 360, 364, 441, 449 Dirty hands-Handlungen 96, 106 – 109 Disposition (hexis) s.a. Charakterdisposition, Charaktertugend 11, 21, 35, 77, 80, 82, 136, 189, 226, 233, 253, 270, 310 – 311, 314, 354, 363, 370, 372, 401, 417 – 419, 421 – 422, 425, 428 – 430, 433, 435 – 436, 445, 447, 449 – 450, 454 – 456, 458, 464 – 465, 479, 489, 502, 508, 513, 515 – 517, 521 doxa, s. Meinung doxa bouleutikê, s. Meinung dynamis, s. Vermögen Echtheit der aristotelischen Werke 36 – 40, 42, 442 Eingewöhnungsprozess, s.a. Charaktererwerb, Gewöhnung, Gewöhnungsprozess 14, 428, 475, 485
Sachregister
Emotion (pathos) s.a. Affekt 4, 9, 11, 13, 16, 21, 23 – 24, 35, 45, 61, 92, 96, 102, 104, 190, 372, 377 – 381, 397, 404 – 412, 471, 486 – 487, 502 – 505, 511 – 512, 521 energeia, s. Tätigkeit 274 enkrateia, s. Beherrschtheit Entscheidung, s.a. Entschluss, prohairesis, Vorsatz, Wahl 203 – 205, 209 – 211, 213, 218 – 219 Entschluss, s.a. Entscheidung, prohairesis, Vorsatz, Wahl 17, 33 – 35, 43 – 45, 59, 88, 113, 146, 159, 162 – 165, 169, 179 – 183, 187 – 191, 193 – 196, 199 – 204, 206 – 216, 223, 226 – 227, 230, 232, 237, 239 – 240, 242, 244, 246, 257, 260, 262, 267 – 268, 270 – 271, 279, 283, 292, 295, 298, 301, 303, 306 – 307, 309 – 312, 315, 324, 330, 335 – 338, 340 – 341, 343 – 346, 349 – 358, 360, 363 – 364, 366 – 372, 379, 382, 385, 415 – 436, 438, 441, 453, 460, 466, 468, 510, 515, 519, 521 Entschuldigung, s.a. syngnômê, Verzeihung 99 – 104, 134 epainos, s. Lob und Tadel eph’ hêmin, s. liegt bei uns epithymia / epithymiai, s. Begehren, Begierden Erziehung 14 – 15, 24, 45, 397 – 398, 400, 402 – 403, 468, 479 – 481, 483 – 486, 488, 492 – 493, 508 – 509, 516 – 517 eudaimonia, s. Glück / höchstes Gut 13, 23, 89, 110, 253, 269, 275 – 277, 279, 281, 309, 329 – 331, 370, 400, 427, 429, 431, 501 Fahrlässigkeit, s.a. Nachlässigkeit, ameleia 522 Fehler (hamartia / hamartêma) 159, 192, 199, 255, 287, 346, 352, 358, 421, 487, 522 Feigheit (deilia) 70, 79 – 82, 137 Finalursache (causa finalis) 263 – 264, 267, 312 – 313, 315 formative Funktion von Lob und Tadel, s.a. Lob und Tadel 498, 500, 521 Frauen 15, 341, 522 freiwillig, s. willentlich
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gemeinsame Bücher 36 – 37, 40, 163, 345, 349, 365 gemischte Handlungen 25, 73 – 74, 76 – 78, 83, 87, 89 – 91, 93, 95 – 96, 100, 102, 107, 109 – 110, 145, 181, 218, 220, 520 Geschicklichkeit (deinotês) 271, 359 – 362 Gewalt, s. bia 7, 21, 23, 31, 33, 43, 49 – 52, 54 – 67, 69 – 75, 78, 81, 83 – 84, 86 – 89, 91 – 95, 97 – 98, 106 – 107, 111 – 112, 114, 117 – 119, 130 – 131, 145, 151, 367, 405, 436, 444, 494, 507, 520 Gewöhnung (ethos) 314, 479, 482, 516 Gewöhnungsprozess 14, 475 Glück, s. eudaimonia, höchstes Gut Gott, s.a. Unbewegter Beweger 330, 384 – 385 Grade von Willentlichkeit und Unwillentlichkeit / Graduierbarkeit 78, 80, 520 gut / das Gute (agathon) – das (wahrhaft) Gute (tagathon) 188 – 189, 198, 228, 232, 243, 246, 270, 293, 296, 317, 319, 321 – 322, 344, 512 – das scheinbar Gute (to phainomenon agathon) 305, 317, 325, 327, 329, 343 – das von Natur aus Gute 305, 325, 343 Handlung, s. praxis 108, 175, 253, 258, 264, 273 – 274, 276 – 277, 369, 508 hêdonê, s. Lust hekôn / hekousios, s. willentlich Herstellung (poiêsis) 4, 253, 258, 264, 273 – 274, 276 – 277, 284 – 285 hexis, s. Disposition hexis êthikê / hexis prohairetikê, s. Charakterdisposition hou heneka, s. Worumwillen, Weswegen imputatio, s.a. Zurechnung, Zurechnungsurteil 3 in Unwissenheit (agnoôn) s. Unwissenheit Indeterminismus 459 – 460, 466, 468 Inkompatibilismus 452 kalokagathia, s. das Schöne-und-Gute 69, 326 Kinder 6, 10, 14 – 16, 33, 50, 53, 74, 95, 179 – 180, 225, 229, 313, 379, 385, 387,
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Sachregister
416, 443, 467, 483, 485 – 487, 492 – 494, 496, 500, 507 – 508 Kinderwunsch 341 Klugheit (phronêsis) 43 – 44, 136, 253, 265, 269 – 271, 274 – 275, 278, 280, 289, 312, 314, 353 – 355, 359 – 361, 363 – 364, 371, 435 – 437, 483, 522 kolasis, s. Bestrafung 496 – 499 Kompatibilismus 466 Kosmos 183, 240, 248 – 249 liegt bei uns (eph’ hêmin) 31, 228, 235, 267, 453, 460, 463, 470, 472 – 473 Lob und Tadel (epainos kai psogos) 6 – 7, 9 – 17, 43, 93, 96 – 97, 101, 103, 137, 140, 145, 169, 264, 367 – 369, 372, 433, 438, 465, 471, 481, 485 – 486, 495 – 496, 498 – 500, 503 – 506, 510, 520 – 522 – formative Funktion von Lob und Tadel 498, 500, 521 – zurechnende Funktion von Lob und Tadel 11, 16, 498 – 499, 523 Lust (hêdonê) 78 – 82, 92, 97, 122, 135, 151, 154, 156, 189, 197, 199, 215, 232 – 233, 275, 280, 305, 314, 350, 362, 390 – 391, 405 – 406, 408, 413, 433, 436 – 437, 477, 479 lypê, s. Schmerz, Unlust Mäßigkeit (sôphrosynê) 8, 13, 79, 136, 233, 433, 436, 505, 516 Meinung (doxa) 34, 181 – 182, 190 – 193, 195, 206, 226, 228, 237 – 244, 292, 296, 304, 306 – 308, 310, 315, 328 – 329, 331, 338, 371, 389 – 392, 416, 418 – überlegende Meinung (doxa bouleutikê) 34, 228, 238, 389 metameleia, s. Bedauern mit-verantwortlich (synaitios) 45, 449, 506, 508, 518 Mitleid (eleos) s.a. syngnômê 96, 99 – 101, 120, 123, 132, 137, 145, 156, 167, 174, 196, 406, 447, 490 Mitte (mesotês) 23, 199, 226, 327, 343 – 345, 349, 362, 436
moralische Verantwortung, s. Verantwortung 7 – 10, 14, 16, 64, 469, 479, 495, 511 Nachlässigkeit (ameleia) 135, 139, 151 – 155, 179, 445, 447, 477 – 478, 522 natürliche Tugend 516 natürlicher Affekt 99 nicht-rationaler Seelenteil, s. Seele, psychê nicht-willentlich (ouch hekôn / ouch hekousios) 25, 61, 82, 114 – 118, 132 Notwendigkeit (anankê), s.a. Zwang orgê, s.a. Zorn, thymos 405 – 407 (animalische) Ortsbewegung 232, 248, 282, 290, 292, 294 – 295, 298 – 302, 333, 395 ouch hekôn / ouch hekousios, s. nicht-willentlich pathos 134, 380, 397, 404, 410, 420 phronêsis, s. Klugheit plötzliche Handlung 43, 45, 179 – 180, 225, 303, 415 – 417, 422 – 423 poiêsis, s.a. Herstellung 4, 253, 258, 264, 273 – 274, 276 – 277 Praktischer Syllogismus 163, 261, 281, 290 – 292, 294 praxis, s.a. Handlung 108, 175, 253, 258, 264, 273 – 274, 276 – 277, 369, 508 Prinzip, s. Ausgangspunkt, archê prohairesis, s.a. Entschluss, Entscheidung, Vorsatz, Wahl 17, 27 – 28, 31, 33 – 36, 42, 44, 88, 113, 159, 164, 179 – 181, 183, 189, 202 – 206, 209 – 210, 212 – 214, 216 – 218, 223 – 229, 231 – 245, 247, 257 – 258, 261, 263 – 267, 281, 286 – 287, 291, 298, 301, 303 – 309, 311 – 313, 315, 317, 323 – 324, 327, 336, 343 – 344, 346, 371 – 372, 384 – 385, 405, 412 – 413, 416, 418, 432, 453, 488, 514, 519 propeteia, s. Voreiligkeit, Unbeherrschtheit aus Voreiligkeit prospektiver Begriff von Verantwortung, s. Verantwortung psogos, s. Lob und Tadel psychê, s. Seele
Sachregister
rationaler Seelenteil, s. Seele reaktive Einstellungen 10, 13, 498 – 499 realistischer Wunsch 339 – 341 retrospektiver Begriff von Verantwortung, s. Verantwortung richtige Mitte, s.a. Mitte (mesotês) 362, 401, 405, 433 – 434 Schmerz (lypê), s.a. Unlust 56, 62, 66, 70, 78 – 83, 92, 114 – 116, 118 – 119, 135, 151, 154, 156, 176, 190, 199, 215, 233, 305, 344 – 345, 362, 390, 405 – 408, 411, 413, 436, 444, 476 – 477, 479 das Schöne (to kalon) 69 – 70, 95, 232, 329, 351, 399, 413, 437, 487, 500 das Schöne-und-Gute (kalokagathia) 69, 326 Schwäche (astheneia), s.a. Unbeherrschtheit aus Schwäche 260, 349, 420, 447 Seele (psychê) – rationaler Seelenteil 229, 235, 283, 310 – 311, 384 – 385, 387 – 390, 400, 402 – 403, 437 – 438, 484 – 485, 488, 522 – nicht-rationaler Seelenteil 45, 234, 311, 383, 385 – 390, 392, 401, 436 – 438, 486 – 487, 521 Sklaven 236, 523 starrer Begriff von Willentlichkeit / Unwillentlichkeit, s. Willentlichkeit, Grade von Willentlichkeit und Unwillentlichkeit / Graduierbarkeit 44, 78, 82 – 83 synaitios, s. mit-verantwortlich syngnômê, s. Entschuldigung, Verzeihung 93, 99 – 104, 134 Tätigkeit (energeia) 274 Tapferkeit (andreia) 21, 69, 79, 136 – 137, 233, 379, 405, 413, 431, 483, 516 telos, s. Ziel thymos, s.a. Zorn, orgê 13, 30, 33 – 34, 43, 45, 98, 133, 179, 228 – 230, 233 – 234, 294, 301, 304, 307, 323, 328, 333, 377 – 385, 387 – 388, 390 – 396, 398 – 408, 410 – 413, 437, 486, 497, 521 Tiere 10, 14, 33, 50, 53, 136, 169, 179, 229, 234, 251, 313, 385, 389, 395, 412 – 413, 500, 523
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timôria, s. Vergeltung Trunkenheit 41, 44, 86, 125 – 133, 135, 137 – 145, 158 – 159, 179, 444, 447, 472, 476, 490, 511 Tugend (aretê) – Charaktertugend (hexis prohairetikê) 15, 199, 233, 245 – 246, 264, 270 – 271, 289, 310 – 311, 343, 345 – 346, 354 – 356, 362 – 363, 371, 400, 405, 417, 433, 451, 479, 482 – 483, 518, 522 – natürliche Tugend (physikê aretê) 516 Überlegung (bouleusis / boulê) 9, 29, 34 – 36, 38, 44, 51, 56, 62, 88, 102, 113, 135, 163, 169, 179, 183, 185 – 187, 192 – 195, 197, 204 – 206, 209, 211, 215, 217, 219, 226, 235 – 236, 242, 244 – 268, 270 – 271, 273 – 274, 276 – 277, 280 – 283, 285 – 292, 295, 302, 304 – 308, 310 – 313, 315, 317, 324 – 325, 329 – 330, 333, 335 – 336, 339, 347 – 350, 352, 356, 366, 371 – 372, 385, 395 – 397, 404 – 405, 411, 413, 415, 417 – 420, 422 – 427, 430 – 432, 434 – 436, 438, 446, 450, 453, 474, 487 – 488, 520 – 521 Überlegungsprozess 45, 208 – 210, 259, 262, 264, 267 – 268, 283, 287, 314, 317, 330 – 331, 336, 366 – 367, 412, 420, 424 – 428, 430, 432 Unbeherrschtheit (akrasia) 113, 152, 229, 230, 234, 268, 348, 388, 391 – 393, 398, 411, 420 – 421, 433 – 434, 436 – Unbeherrschtheit aus Schwäche (astheneia) 260, 349, 420, 447 – Unbeherrschtheit aus Voreiligkeit (propeteia) 43, 45, 303, 415, 420 – 421 Unbewegter Beweger, s.a. Gott 249 unfreiwillig s. unwillentlich Unlust (lypê) s.a. Schmerz 62, 70, 78, 115, 433 Unmäßigkeit (akolasia) 13, 79 – 82, 136, 391, 421, 433, 447 unwillentlich (akôn / akousios) 9, 18, 19 – 21, 24 – 26, 33, 43, 49, 55, 58 – 59, 61 – 62, 70 – 71, 73 – 76, 78, 80 – 84, 86 – 87, 90 – 92, 96 – 102, 113 – 119, 123, 130, 132 – 135, 137 – 142, 144 – 147, 151,
566
Sachregister
153, 155 – 156, 160, 165 – 166, 173 – 174, 176, 202, 218, 227, 366 – 367, 435, 443, 451, 456, 466, 472, 513 – 515, 520, 522 Unwillentlichkeit 17, 36, 41, 49, 77 – 79, 81 – 84, 98, 103 – 104, 112, 124, 145, 446, 451, 489, 519 – starrer Begriff von Willentlichkeit und Unwillentlichkeit, s.a. Grade von Willentlichkeit und Unwillentlichkeit / Graduierbarkeit 44, 78, 82 – 83 – variabler Begriff von Willentlichkeit und Unwillentlichkeit, s.a. Grade von Willentlichkeit und Unwillentlichkeit / Graduierbarkeit 44, 78, 80, 82 – 83, 520 Unwissenheit (agnoia) – Unwissenheit im Entschluss (hê en tê[i] prohairesei agnoia) 123, 156, 159 – 164, 226 – Unwissenheit über das Allgemeine (hê [agnoia] katholou) 141, 158 – 160, 162 – 164, 174, 226, 477 – Unwissenheit über das Nützliche (agnoei ta sympheronta) 160, 162 – 163 – aufgrund von Unwissenheit (di’ agnoian) 33, 60 – 61, 65, 78, 82, 112 – 118, 120, 122 – 134, 138 – 142, 146 – 147, 149 – 151, 153, 155 – 158, 167, 174, 176, 415, 424 – 425, 427, 447, 472, 477, 494, 507 – in Unwissenheit (agnoôn) 49, 113, 123 – 129, 131 – 132, 134, 137, 139 – 140, 142, 144 – 146, 148, 150 – 151, 153, 156 – 158, 165, 169, 171, 173, 176, 192, 477 – 478, 522 Ursache, s.a. aitia, Finalursache, Wirkursache variabler Begriff von Willentlichkeit und Unwillentlichkeit, s. Willentlichkeit, Unwillentlichkeit, Grade von Willentlichkeit und Unwillentlichkeit / Graduierbarkeit 44, 78, 80, 82 – 83, 520 Verantwortung 4 – 7, 9 – 10, 12, 14, 17, 20, 32, 36, 42, 45, 64, 100, 365 – 366, 448 – 449, 466, 468 – 469, 475, 478 – 480, 488, 491, 493 – 495, 499, 503, 506 – 511, 513 – 514, 516 – 518, 521, 523 – moralische Verantwortung 7 – 10, 14, 16, 64, 469, 479, 495, 511
– prospektiver Begriff von Verantwortung 5 – 6, 14, 499 – retrospektiver Begriff von Verantwortung 5 – 6, 14, 499 Vergeltung (timôria) 393, 404, 407, 411, 413, 496 – 498 Vermögen (dynamis) 152 Verzeihung, s.a. syngnômê, Entschuldigung 93, 99 – 100, 102 Voreiligkeit (propeteia) s. Unbeherrschtheit aus Voreiligkeit Vorsatz, s.a. Entschluss, Entscheidung, prohairesis, Wahl 203 – 204, 213 – 216 Wahl, s.a. Entschluss, Entscheidung, prohairesis, Vorsatz 31, 76, 88, 110, 162, 193, 203 – 207, 216 – 224, 233, 255, 306, 347, 418, 432, 452, 465, 473, 484, 508 Weswegen (hou heneka) s.a. Worumwillen 173, 175 Willensbegriff 19, 27 – 31, 33 – 34 willentlich (hekôn / hekousios) 9, 18 – 22, 24 – 26, 31 – 33, 36, 43, 49, 51, 55, 57 – 59, 66, 69 – 70, 73 – 76, 78 – 85, 90 – 91, 96, 100 – 103, 108, 112 – 117, 123, 130, 132 – 133, 135, 138 – 140, 142, 144 – 145, 147, 151, 153, 155, 160, 162, 180, 196, 202 – 203, 218, 225, 227 – 228, 237, 303, 315, 366 – 368, 411, 415 – 416, 441, 443 – 444, 446 – 451, 453, 455 – 456, 458, 466, 472, 477 – 478, 488 – 494, 506 – 507, 510 – 515, 517, 520 Willentlichkeit 7, 17, 20, 22 – 26, 29, 31, 35 – 36, 41, 43, 49 – 50, 66, 76 – 84, 86, 90, 92, 96 – 97, 104, 112, 116, 119, 130, 132, 145, 179, 365, 367 – 369, 451 – 452, 455 – 456, 459, 465, 469 – 470, 474 – 476, 478, 490 – 493, 495, 502, 506 – 507, 509 – 510, 514, 518 – 520 – starrer Begriff von Willentlichkeit / Unwillentlichkeit, s.a. Grade von Willentlichkeit und Unwillentlichkeit / Graduierbarkeit 44, 78, 82 – 83 – variabler Begriff von Willentlichkeit und Unwillentlichkeit, s.a. Grade von Willentlichkeit und Unwillentlichkeit / Graduierbarkeit 44, 78, 80, 82 – 83, 520
Sachregister
Wirkursache (causa efficiens) 194, 263 – 264, 267, 312 Worumwillen (hou heneka) 77, 90, 146 – 150, 155, 173, 175, 195 – 197, 200, 264, 267, 293, 300, 312 – 314, 325, 334, 346, 348, 352, 354, 356 – 357, 366, 370, 405, 413 Wunsch (boulêsis) 30 – 34, 43 – 44, 52, 58 – 59, 64, 121, 164, 181 – 182, 188, 190 – 191, 193, 195 – 196, 198, 206, 228, 232, 234 – 239, 243 – 244, 257 – 258, 268, 277, 292, 294, 300, 304, 306 – 311, 315, 317 – 318, 321 – 325, 327 – 341, 343, 371, 382 – 385, 387, 395, 400, 404, 416, 434, 436, 453, 490, 514 Wunschtraum 339, 341 – 342 Ziel (telos) 11, 23, 34 – 35, 74, 77, 87 – 90, 108 – 109, 121, 149 – 150, 155, 162, 164, 173, 175, 181 – 182, 186, 188, 191, 194 – 201, 207, 209, 216, 224, 232, 236 – 237, 239 – 240, 246, 253 – 255, 257 – 260, 266 – 268, 270 – 281, 283 – 285, 287, 292, 298, 305, 307, 309 – 314, 317 – 318, 321, 323 – 325, 331, 334, 336 – 337, 339 – 343, 345 – 352, 354 – 361, 363 – 364, 366 – 367, 370 – 371, 399 – 400, 402,
567
408, 415, 422, 427, 431, 435, 441, 447 – 449, 452 – 453, 488, 501, 513 – 515, 517 Zorn (thymos), s.a. orgê 13, 21, 43, 45, 54, 92, 96, 98, 102, 123, 125 – 126, 128 – 130, 132 – 133, 135, 141, 156, 158, 179, 181, 190, 226, 228, 233, 235, 243, 301, 329, 378 – 381, 385, 393, 404 – 407, 410, 412 – 413, 471, 497, 519, 521 Zurechenbarkeit 6 – 7, 10, 15, 24, 30 – 31, 35 – 36, 41, 43 – 45, 86, 96, 130, 133, 179, 214, 229, 261, 286, 301, 303, 368 – 369, 372, 377 – 378, 415 – 417, 420 – 423, 425 – 429, 432 – 433, 437 – 438, 442, 451 – 452, 475, 494, 519, 521, 523 zurechnende Funktion von Lob und Tadel, s.a. Lob und Tadel 11, 16, 498 – 499, 523 Zurechnung (imputatio) 3 – 7, 9 – 10, 12, 17, 27, 35 – 36, 42 – 43, 438, 468 – 469, 498, 519 – 521, 523 Zurechnungsbegriff 4, 6 – 7, 17, 35, 42, 519 – 522 Zurechnungsurteil 4, 27 – 28, 32, 35 Zwang (anankê), s.a. Notwendigkeit 21, 24, 31, 33, 43, 49 – 52, 55 – 56, 59 – 61, 66 – 69, 71 – 73, 84 – 85, 89, 92 – 96, 106, 109, 111 – 112, 114, 117, 119, 145, 296, 367, 369, 371, 398, 415, 424 – 425, 427, 475, 484, 494, 507, 509, 520