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German Pages [257] Year 2010
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Magdalena Hoffmann
Der Standard des Guten bei Aristoteles: Regularitt im Unbestimmten Aristoteles’ Nikomachische Ethik als Gegenstand der Partikularismus-Generalismus-Debatte
BAND 82 ALBER PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495997628
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Über dieses Buch: Innerhalb der Metaethik wird in den letzten Jahren unter dem Stichwort »Generalismus-Partikularismus-Debatte« heftig über die Notwendigkeit und Funktionsweise von moralischen Prinzipien gestritten. Die prinzipienkritischen Partikularisten führen dabei häufig Aristoteles als Referenzautor an, da er in seiner Nikomachischen Ethik bereits wichtige Erkenntnisse formuliert habe, die gegen eine generalistische Moraltheorie sprechen würden. Diese partikularistische Lesart der Nikomachischen Ethik wird in der vorliegenden Dissertation einer kritischen Überprüfung unterzogen und zurückgewiesen. Der erste, systematische, Teil dient der begrifflichen und argumentativen Einführung in den Partikularismus. Anschließend werden auf der Grundlage einer genauen Analyse der Nikomachischen Ethik zentrale Elemente der partikularistischen Aristoteles-Interpretation wie die These von der Unexaktheit von Ethik, die Skepsis gegenüber praktischen Prinzipien, die Bedeutung der Wahrnehmung (aisthêsis) und der praktischen Vernunft (phronêsis) diskutiert und alternative Verständnismöglichkeiten eröffnet. Viel Beachtung erfährt auch die Konzeption des tugendhaften Menschen, der eine zentrale Rolle in der Nikomachischen Ethik einnimmt. Seine besondere Position wird – im Gegensatz zu der partikularistischen Auffassung – mit der Regularität begründet, die dem tugendhaften Menschen inhärent ist, und die ihn zu einer Normfigur qualifiziert. Die Autorin: Magdalena Hoffmann, Jahrgang 1977, studierte Politikwissenschaft, Neue Deutsche Literatur und Öffentliches Recht in Bonn und Warschau, ab 2001 zusätzlich Philosophie. 2007 promovierte sie in Philosophie an der Universität Bonn. Seit 2007 lebt und arbeitet sie in Zürich als wissenschaftliche Mitarbeiterin für den »neuen Ueberweg« (Band 5: Kaiserzeit und Spätantike).
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Magdalena Hoffmann Der Standard des Guten bei Aristoteles: Regularitt im Unbestimmten
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Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Heiner Hastedt, Konrad Liessmann, Guido Lhrer, Ekkehard Martens, Julian Nida-Rmelin, Peter Schaber, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep, Dieter Sturma, Jean-Claude Wolf und Ursula Wolf herausgegeben von Christoph Horn, Axel Hutter und Karl-Heinz Nusser Band 82
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Magdalena Hoffmann
Der Standard des Guten bei Aristoteles: Regularitt im Unbestimmten Aristoteles’ Nikomachische Ethik als Gegenstand der Partikularismus-Generalismus-Debatte
Verlag Karl Alber Freiburg / Mnchen https://doi.org/10.5771/9783495997628 .
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung fr Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Fhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier (surefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48383-1
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Vorwort
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Sommersemester 2007 bei der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn eingereicht habe. Herrn Prof. Dr. Christoph Horn danke ich für die intensive Betreuung der Arbeit; mit wichtigen Anmerkungen zu verschiedenen Versionen der Einzelkapitel sowie weiteren wertvollen Anregungen und Hinweisen hat er die Arbeit entscheidend gefördert. Herrn Prof. Dr. Wolfram Hogrebe möchte ich für die Übernahme des Zweitgutachtens danken. Die Arbeit wurde durch ein Promotionsstipendium des Cusanuswerks ermöglicht – dafür und für die ideelle Förderung über viele Jahre hinweg bin ich sehr dankbar. Ferner habe ich mich über einen großzügigen Druckkostenzuschuss freuen dürfen, den ich der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften zu verdanken habe. Den Herausgebern danke ich schließlich für die Aufnahme der Dissertation in die vorliegende Reihe, sowie Herrn Lukas Trabert und Martin Pauls vom Karl-Alber Verlag für die gute Betreuung der Publikation. Während der Promotion habe ich noch weitere Unterstützung erfahren dürfen: Für das gründliche Korrekturlesen einiger Kapitel danke ich Anna Schriefl und Dr. Burkhard Reis. Darüber hinaus bin ich insbesondere Beate Quakernack, Susanne Schmetkamp und Elif Senel für ihre Freundschaft dankbar, die ich in den Jahren der Promotion als sehr tragend empfunden habe. Eine ähnliche Bestärkung habe ich den zahlreichen Gesprächen mit Markus Roentgen zu verdanken. Widmen möchte ich dieses Buch meiner Familie, die meinen akademischen Weg stets mit liebender Gelassenheit begleitet hat. Zürich, im Frühjahr 2010
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Inhalt
Vorwort
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I. 1. 2. 3.
Einleitung . . . . . . . . Thematische Einführung Forschungsüberblick . . . Methodisches Vorgehen .
. . . .
13 13 19 28
II. 1. 2.
Der Partikularismus in allgemeiner Hinsicht . . . . . . . . . Metaethische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . Definitionen und Strömungen . . . . . . . . . . . . . . .
34 34 38
III. 1.
Varianten des Partikularismus . . . . . . . . Ontologischer Partikularismus . . . . . . . a. Holismus als Hintergrund . . . . . . . . b. Varianz als zentrales Merkmal . . . . . . c. Umgang mit Supervenienz . . . . . . . . d. Ablehnung von Universalität . . . . . . Epistemologischer Partikularismus . . . . . a. Gegen welche Prinzipien richtet sich dieser Partikularismus? . . . . . . . . . . . . . b. Zulässige Generalisierungen . . . . . . . c. Kritik an der Prinzipienethik . . . . . . .
. . . . . . .
43 43 43 44 46 48 49
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49 52 53
2.
IV. 1. 2.
. . . .
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Die Exaktheit von Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . Exaktheit und Wissenschaftlichkeit . . . . . . . . . . . Die verbleibende Exaktheit von Ethik . . . . . . . . . . a. typô-Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die Geltung von hôs-epi-to-poly-Regeln . . . . . . . c. Der Methodenpluralismus der Nikomachischen Ethik
. . . . . .
58 58 66 66 71 75
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Inhalt
V. 1.
2.
3.
Moralische Prinzipien in der Ethik des Aristoteles . . . Nachweis der Existenz moralischer Prinzipien . . . . a. Der Praxis-Begriff als Ausgangspunkt . . . . . . b. Die Bedingungen tugendhaften Handelns . . . . c. Die Unterscheidung von Handlung und Handeln Diskussion potentieller moralischer Prinzipien . . . a. Die mesotês-Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . b. Handlungsregeln in der Nikomachischen Ethik . c. Das Verhältnis des phronimos zu den moralischen Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epieikeia – Indiz für eine Ausnahmeethik? . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . 100 . . . 102
VI. Phronêsis – Die Bezeichnung von Urteilskraft bei Aristoteles? 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Phronêsis – ein vielschichtiger Begriff . . . . . . . . . . . a. Phronêsis als gute Ausübung von praktischer Wahrheit . b. Phronêsis als eine von fünf Haltungen zur Wahrheit . . c. Phronêsis als Handlungskompetenz . . . . . . . . . . d. Das Verhältnis der drei Verwendungsformen von phronêsis zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Allgemeines und Einzelnes im Kontext der phronêsis . . . a. Allgemeines als Bestandteil der phronêsis . . . . . . . b. Einzelnes als Objekt der phronêsis . . . . . . . . . . . 4. Der Überlegungsprozess des phronimos . . . . . . . . . . a. Die Schwierigkeit guter Überlegung . . . . . . . . . . b. Der praktische Syllogismus . . . . . . . . . . . . . . c. Praktische Deliberation im unbestimmten Kontext . . .
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111 111 113 114 119 124 125 127 127 130 133 134 138 144
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148 149 153 156
VIII. Die Normfigur als moralischer Akteur . . . . . 1. Die Konzeption der Normfigur . . . . . . . . a. Philologische Erörterung von spoudaios . . b. Die Identität von spoudaios und phronimos c. Der Begriff ›Normfigur‹ . . . . . . . . . .
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162 165 165 169 172
VII. 1. 2. 3.
Die Bedeutung der aisthêsis . . . . . . . . . Die aisthêsis als Situationserfassung . . . . . Die aisthêsis als Interpretationsleistung . . . Die aisthêsis als »allgemeine« Wahrnehmung
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Inhalt
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174 174 178 181 182 184 190 191 196 198 204 206 207 213 219
IX. Ergebnis: Der Standard des Guten . . . . . . . . . . . . .
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2.
3. 4.
5.
X.
Die Normfigur in partikularistischer Sicht . . . a. Grundkonsens und geteilte Lebenswelt . . . b. Interne Reflexion und Kritik . . . . . . . . . c. Die ›entnaturalisierte‹ Natur der Normfigur . d. Die Normfigur als Kriterium . . . . . . . . . Die Normfigur als Vorbild? . . . . . . . . . . . Eine Charakterstudie . . . . . . . . . . . . . . a. Die Lust im Leben des spoudaios . . . . . . . b. Der Wahrheitsbezug im Urteil der Normfigur c. Die Selbstliebe der Normfigur . . . . . . . . d. Die Freundschaft der Tugendhaften . . . . . Die Normfigur: Regularität in Menschengestalt . a. Unfehlbarkeit der Normfigur . . . . . . . . b. Unerschütterlichkeit der Tugend . . . . . . . c. Vollkommene menschliche Natur . . . . . .
Anhang
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register
233
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Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siglenverzeichnis
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I. Einleitung
1.
Thematische Einführung
»Wie gesagt scheint aber das Maß (metron) aller Dinge jeweils die Gutheit (aretê) und der Gute (ho spoudaios) zu sein.« (EN IX 4, 1166a12 f.)
Aristoteles beantwortet die Frage nach der letzten Norm im ethischen Handeln, indem er auf den guten, den klugen Menschen (spoudaios/ phronimos) verweist. Sein Fokus auf den tugendhaften, optimal agierenden Menschen macht ihn für Philosophen attraktiv, die Skepsis gegenüber einer an Prinzipien orientierten Moral hegen. Mittlerweile wird diese Ausrichtung auf den tugendhaften Menschen als Referenzpunkt unter dem Stichwort der ›Tugendethik‹ zusammengefasst und in erster Linie mit angelsächsischen Autoren assoziiert. Dabei gerät meist aus dem Blick, dass mit der Tugendethik lediglich ein Aspekt der sog. »Rearistotelisierung« 1 beschrieben ist. Bereits im Vorfeld der Tugendethik gab es vor allem in Deutschland eine breite Zuwendung zu Aristoteles, die im Zuge der »Rehabilitierung der praktischen Philosophie« 2 stattfand. Die in dieser Zeit aufgeworfenen Themen wie die Tätigkeit der phronêsis 3 (Gadamer), der aristotelische Handlungsbegriff (Arendt) oder die enge Verbindung von Ethos und Politik (Ritter) sind nach wie vor im gegenwärtigen Diskurs zur aristotelischen Ethik virulent, auch wenn sie durch neue Schwerpunkte, Perspektiven oder Terminologien eine Modifizierung erfahren haben. So taucht seit Vgl. Höffe (1998), S. 42–44. So der Titel eines Sammelbandes in zwei Teilbänden, herausgegeben von Manfred Riedel im Jahr 1972. Dieser Sammelband versammelt zahlreiche Beiträge, die das seit den 60er Jahren neu erwachte Interesse an Problemen und Aufgaben der praktischen Philosophie dokumentieren. Vgl. Riedel (1972). 3 Üblicherweise wird phronêsis mit »Klugheit« wiedergegeben. Ich möchte im Folgenden aber an der unübersetzten griechischen Form festhalten. Siehe zum Problem der Übersetzung Kap. VI.1. 1 2
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Einleitung
einigen Jahren in der vielfältigen Literatur zu Aristoteles’ Ethik der Begriff des ›Partikularismus‹ auf, mit dem seine Positionen klassifiziert werden. 4 Damit hat ein Terminus Eingang in die Aristotelesforschung gefunden, der sich zunächst in der analytischen Philosophie durchgesetzt hat, obwohl sein argumentatives Fundament von Beginn an mit Aristoteles assoziiert worden ist. Jede begriffliche Einordnung provoziert Widerspruch – auch in diesem Fall hat sich daraus eine selbständige Debatte entwickelt, die sog. Partikularismus-GeneralismusDebatte. Diese Debatte wird von vorwiegend angelsächsischen Philosophen um die Rolle und Funktion von moralischen Prinzipien beim Handeln geführt. Seitens der Partikularisten wird moralischen Prinzipien keine oder nur eine geringe Bedeutung zugemessen; stattdessen fordern sie, die Aufmerksamkeit auf die konkrete Handlungssituation zu lenken und mittels einer geschulten moralischen Sensibilität die moralisch adäquate Handlung zu erfassen. Mit diesem Ansatz ist eine Fundamentalkritik gegenüber generalistischen Ethiken, z. B. der utilitaristischen oder der kantianischen Ethik, verbunden, die ein Prinzip wie den Nutzenkalkül oder ein ›Testverfahren‹ wie den Kategorischen Imperativ zum Ausgangspunkt und Maßstab von Moralität erklären und damit einen allgemeingültigen Anspruch formulieren. Solche monistischen Ethiken eignen sich natürlich besonders gut als Angriffsfläche, doch auch Konzeptionen pluralistischer Ethiken wie die von Ross bleiben nicht unerwidert. Moderate Ausbuchstabierungen des Partikularismus akzeptieren zwar eine heuristische Funktion von moralischen Prinzipien, lehnen aber ihre handlungsanleitende Rolle ab und weisen der Handlungssituation immer noch eine vorrangige Bedeutung zu. Die Auslegung des Verhältnisses von Handlungssituation und moralischen Prinzipien ist m. E. die Trennlinie, die auch für moderate Formen von Partikularismus und Generalismus gilt: Wer die These von der Priorität der Handlungssituation vertritt, ist als Partikularist einzuordnen, wer hingegen den Vorrang von moralischen Prinzipien behauptet, ist als Generalist einzuordnen.
So hat beispielsweise Robert Louden einen Beitrag mit »Aristotle’s Practical Particularism« übertitelt; auch bei Nancy Sherman findet sich eine ausführliche Passage zu »Aristotelian Particularism« und Nicholas White diskutiert bereits mehrere Varianten eines Partikularismus in seinem Aufsatz »Ethical Particularism in Aristotle«. Siehe: Louden (1991); Sherman (1997); White (2004).
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Thematische Einführung
Ihren Ausgang hat die Debatte 1979 mit dem Aufsatz »Virtue and Reason« 5 von John McDowell genommen, der eine Kontrastierung zwischen einem sozusagen algorithmisch operierenden Generalismus und einem auf Wahrnehmung basierenden Partikularismus vornahm, indem er sich für letztere Position auf Aristoteles berief. Von McDowell stark inspiriert, sorgte insbesondere Jonathan Dancy für die Etablierung des Partikularismus, indem er dessen Anspruch in Auseinandersetzung mit seinen eigenen Kritikern immer wieder von Neuem begründet und verteidigt hat. Obwohl die ersten Formulierungen einer partikularistischen Position also bis in die späten 70er und frühen 80er zurückreichen, mussten noch mehrere Jahre vergehen bis die Klassifizierung ›Partikularismus‹ aufgegriffen wurde und durch entsprechende Berücksichtigung in der Sekundärliteratur an Akzeptanz gewann. Durch die relativ ›junge‹ Formulierung des Partikularismus ist die Debatte von einer Asymmetrie geprägt: Trotz der zunehmenden Popularität des Partikularismus ist festzuhalten, dass sich Partikularisten in der Position des Herausforderers befinden. Die Geschichte der Moralphilosophie ist bis in das 20. Jh. hinein vom Ringen um die Formulierung von Prinzipien dominiert gewesen. Trotz seiner starken Heterogenität hat der Generalismus dadurch in seinem Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Unparteilichkeit eine immer wieder aktualisierte Bestätigung erfahren. In der Erschütterung dieses für allzu selbstverständlich gehaltenen Anspruchs sind die Leistung der Partikularisten und die Bedeutung dieser Debatte zu sehen. 6 Bemerkenswert an der Entwicklung des Partikularismus ist die Überschneidung der Argumentation in historischer und systematischer Hinsicht. Von Beginn an war es insbesondere die aristotelische Ethik, die als historische Referenz interpretiert worden ist und auf deren Grundlage sich auch der Partikularismus systematisch entfaltete. Während es zu Beginn der Debatte zunächst um die Etablierung und Ausarbeitung des Partikularismus gegangen ist, hat sie insbesondere seit den 90ern an Intensität und Komplexität zugenommen, so dass mittlerweile von mehreren Spielarten des Partikularismus die Rede sein muss. Doch die anfängliche historische Variante ist bis in die Gegenwart virulent geblieben, und hat ihrerseits viele Impulse auch für die genuin philosophiehistorisch arbeitende Aristotelesforschung ge5 6
Vgl. McDowell (1979). Vgl. McKeever/Ridge (2006), S. 4. A
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Einleitung
geben. Es sind insbesondere John McDowell, Martha Nussbaum, Nancy Sherman und David Wiggins, die mit der partikularistischen Lesart von Aristoteles in Verbindung gebracht werden. Deren Aufsätze und Monographien sind zwar bekannt und werden häufig rezipiert, und sind ihrerseits Anlass für generalistische Repliken, doch bleibt die Debatte als solche weitgehend unberücksichtigt. Diese Forschungslücke möchte ich durch eine strukturelle Aufarbeitung der strittigen Punkte schließen, wobei ich mich bei der Gliederung und Intensität der diskussionswürdigen Aspekte an den partikularistischen Argumenten orientiere, da sie sich wegen ihrer Prägnanz gut als Basis einer Untersuchung eignen. Mit dieser Arbeit möchte ich klären, ob die partikularistische Auslegung der aristotelischen Ethik plausibel ist und ob sie überzeugen kann. Dieses Erkenntnisinteresse bringt es mit sich, dass ich bei der Diskussion eine kritische Distanz zu den Partikularisten einnehme, die sich – so ein Ergebnis der Arbeit – als wohlbegründet herausstellen wird. Der Vorrang des Partikularen, des Einzelnen in der aristotelischen Ethik ist die zentrale These von den aufgeführten Partikularisten, die viele Aspekte seiner Ethik berührt. Demnach verdient das Partikulare den Vorzug gegenüber generellen Prinzipien, weil es den Bedingungen menschlichen Handelns angemessener Rechnung trägt. Die Praxis besitzt nämlich eine Eigenständigkeit gegenüber der Theorie, weshalb sie auch nicht mit demselben wissenschaftlichen Instrumentarium erfasst werden kann. Die Praxis zeichnet sich durch Inkommensurabilität, Veränderlichkeit und Flexibilität aus, was sich auch im Umgang mit ihr widerspiegeln muss. Als Beispiel für einen adäquaten Zugang führen Partikularisten das sog. Lesbische Richtmaß an, das flexibel genug ist, um sich der Beschaffenheit der einzelnen Bauelemente anzupassen. 7 Dementsprechend anpassungsfähig gegenüber den kontextuellen Bedingungen müsse auch die moralische Handlung sein. Dies impliziert auch, dass nicht dieselbe Exaktheit von der Ethik als Disziplin erwartet werden darf wie von einer theoretischen Wissenschaft. Stattdessen bedarf es anderer Erkenntnisformen, wie der Wahrnehmung. Der Wahrnehmung weisen Partikularisten eine exponierte Rolle zu; die Tätigkeit der phronêsis wird in erster Linie als Wahrnehmung interpretiert, wodurch die Bestimmung der phronêsis als Überlegung in Zum Begriff und Verständnis vom »Lesbischen Richtmaß« siehe die Ausführungen im Kontext der epieikeia, Kap. V.3.
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Thematische Einführung
den Hintergrund tritt. Die Betonung der Wahrnehmung könnte vermuten lassen, dass es sich beim Partikularismus um eine subjektivistische Position handelt, doch dies trifft nur auf einen starken Partikularismus zu. Ein ethischer Objektivismus wird von vielen Partikularisten nicht aufgegeben, sondern nur erweitert. Die Rede von »richtig« und »falsch« ist nach wie vor zutreffend, nur ist die Erfassung des Richtigen allein dem tugendhaften Menschen vorbehalten. Er ist auch aus genau diesem Grunde dazu prädestiniert, als das alleinige Kriterium in der Moral zu gelten. Mit dieser Position bewegen sich Partikularisten unmittelbar im Raum der Tugendethik, ohne dass letztere die Spezifität des Partikularismus vollständig einfangen könnte. Diese kurze Übersicht stellte eine Art ›Extrakt‹ der Debatte dar, die mittlerweile einen solchen Spezifikationsgrad angenommen hat, dass Nicholas White bereits von mehreren Spielarten des Partikularismus auch in Bezug auf Aristoteles spricht.8 Während das zentrale und vereinigende Merkmal der Partikularisten die Betonung der Einzelfälle, der Situationswahrnehmung ist, differieren sie in der Insistenz, mit der sie diese Meinung formulieren, wie auch in der Wahl ihrer thematischen Schwerpunkte. Es gibt meiner Meinung nach zwei Strategien, mit denen die partikularistische Position kritisch zu hinterfragen ist: Die erste Strategie folgt der Dynamik der Partikularismus-Generalismus-Debatte: Die ›klassische‹ generalistische Erwiderung besteht demnach darin, den Regelskeptizismus der Partikularisten und ihre These von der Unexaktheit der Ethik in Frage zu stellen. Die zweite Strategie zielt auf den tugendethischen Aspekt der ›Aristoteles-Partikularisten‹ : Der ›tugendethische‹ Einwand bezieht sich auf deren Konzeption der Normfigur, an der Zweifel anzumelden sind. Ich möchte in dieser Arbeit beide Argumentationsstrategien verfolgen. Zum einen verspreche ich mir von diesem Vorgehen die größtmögliche stabile Basis der Kritik. Zum anderen garantiert m. E. erst die Kombination beider Strategien den adäquaten Umgang mit der aristotelischen Ethik. Denn ein erfolgreicher Einspruch gegen die partikularistische Interpretation hätte zur Folge, dass Aristoteles als ein Generalist gelten würde. Obwohl ich in diesem Kontext nachzuweisen versuche, dass es in der aristotelischen Ethik generalistische Elemente gibt, die von Partikularisten ignoriert werden, schiene mir ein solches 8
Vgl. White (2004), S. 54 f. A
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Einleitung
Resultat zu einer problematischen Wendung zu führen. Der Maßstab für das Gute ist bei Aristoteles nämlich der gute Mensch, die Normfigur 9 – ein Ergebnis, das Aristoteles als einen Generalisten qualifizieren würde, könnte diesen zentralen Punkt nicht einfangen. Aus diesem Grunde schließe ich noch die zweite Ebene der Kritik an. Es wird sich am Ende zeigen, dass sich beide Strategien sehr gut ergänzen und zu einem besseren Verständnis der aristotelischen Ethik beitragen. Denn die Konzeption der Normfigur ist m. E. durch eine starke Regularität gekennzeichnet, in der Handlungsregeln im Sinne von moralischen Prinzipien enthalten sind, ohne sie vollständig einfangen zu können. Daraus ist ein weiteres Ergebnis dieser Arbeit abzulesen: Die Partikularismus-Generalismus-Debatte ist sehr hilfreich, was die Klärung bestimmter Themen betrifft wie die Exaktheit von Ethik, die Existenz von Handlungsregeln oder die Tätigkeit der phronêsis, doch sie stößt an ihre Grenzen, wenn es um die Konzeption des tugendhaften Menschen geht. Mit der Fokussierung auf die partikularistische Lesart des Aristoteles ist zugleich eine Eingrenzung des Themas verbunden. Der erste systematische Teil ist dem Partikularismus in allgemeiner Hinsicht gewidmet, doch dabei handelt es sich keineswegs um eine erschöpfende Darstellung oder Diskussion. Dieser Teil dient nur seiner Vorstellung, Einordnung und der begrifflichen Klärung. Eine Untersuchung zu zeitgenössischen Apologeten von Aristoteles’ Nikomachischer Ethik bewegt sich unweigerlich in der Nähe der Tugendethik. Obwohl sich Partikularismus und Tugendethik recht nahe stehen, bisweilen sogar überschneiden, erfolgt keine intensive Berücksichtigung der Tugendethik, da sie nur von meinem Kernvorhaben ablenken würde. Im Kontext der Prüfung der partikularistischen Argumentation beschäftige ich mich mit vielen Aspekten der Nikomachischen Ethik, wobei sich aber der Grad der Intensität nach meinem Erkenntnisinteresse bemisst, das durch die partikularistische Position vorgegeben wird. Das heißt, dass diese Arbeit nicht als ein umfassender Kommentar zur Nikomachischen Ethik zu verstehen ist, der allen Details und Diskussionen gerecht zu werden versucht. Aus diesem Grunde ist in Bezug auf die behandelte Literatur eine Konzentration auf die gegenwärtige Literatur festzustellen, so dass antike oder mittelalterliche Kommentare nicht herangezogen werden. 9
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Zu dem Begriff der Normfigur, siehe Kap. VIII.1.c.
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Forschungsüberblick
2.
Forschungsüberblick
Die Formulierung des Partikularismus ist eingebettet in ein intellektuelles Klima, das sich durch eine wachsende Skepsis gegenüber generalistischen Ethiken ausgezeichnet hat. Der Fokus richtete sich zunehmend auf den Akteur und die Handlungssituation. Im angelsächsischen Raum drückte sich dies insbesondere in der Herausbildung einer modernen Tugendethik aus, die durch den Aufsatz »Modern Moral Philosophy« (1958) von Elizabeth Anscombe angestoßen wurde. 10 Anscombe hat darin Kritik an der vorherrschenden Prinzipienethik geübt, indem sie ihr ein unangemessenes Bild des moralisch Handelnden vorgeworfen hat. Die Auffassung, dass ein moralisches Urteil das Primat des Charakters gegenüber der Handlung zu berücksichtigen habe, gehört nach wie vor zur zentralen Überzeugung in der Tugendethik, selbst wenn es mittlerweile einen hohen Differenzierungsgrad gibt. 11 Aristoteles aber war und ist für Tugendethiker die zentrale Referenzfigur. Doch auch auf dem Kontinent, insbesondere in Deutschland, richtete man die Aufmerksamkeit auf Aristoteles; den Grundstein dieser Entwicklung legte bereits Heidegger mit seinen frühen Vorlesungen, wobei wichtige, wirksame Anregungen vor allem von Hans-Georg Gadamer und Hannah Arendt in den 60ern ausgingen. Gadamer sorgte insbesondere mit dem Kapitel »Zur hermeneutischen Aktualität des Aristoteles« in Wahrheit und Methode (1960) für neue Impulse, indem er eine Analogie zwischen der Tätigkeit der phronêsis bei Aristoteles und der Tätigkeit des Interpretierens in der Hermeneutik behauptete. Arendts ausführliche Analyse des aristotelischen Handlungsbegriffs in Vita activa oder Vom tätigen Leben (1960) 12 wiederum hatte eine stärkere Berücksichtigung der Bedingungen menschlicher Praxis zur Folge, deren politische Bezüge insbesondere Joachim Ritter unterstrich. So argumentierte Ritter in den Aufsätzen »Das bürgerliche Leben. Zur aristotelischen Theorie des Glücks« (1965) und »Politik und Ethik in Neben dem Aufsatz von Elizabeth Anscombe ist folgende Literatur zur Tugendethik besonders erwähnenswert: Foot (1978); Geach (1977); Crisp/Slote (1997); Hursthouse (1999). 11 Vgl. die Einleitung von Rippe und Schaber in: Rippe/Schaber (1998). 12 Zunächst erschien das Werk 1958 auf englisch unter dem Titel The human condition. 1960 wurde es dann in der von Arendt selbst vorgenommenen Übersetzung auf deutsch veröffentlicht. 10
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Einleitung
der praktischen Philosophie des Aristoteles« (1967) für die Aufhebung der ethischen Neutralisierung des Politischen. In dieser Atmosphäre traf John McDowell einen zentralen Nerv mit seinem Aufsatz »Virtue and Reason«, der 1979 erschien. Darin unterzog er das generalistische Konzept von Moral als Regelbefolgung mit Rückgriff auf Aristoteles und Wittgenstein einer fundamentalen Kritik. 13 Sie wurde in den nachfolgenden Jahren aufgegriffen, modifiziert und weiterentwickelt, worum sich besonders Jonathan Dancy verdient gemacht hat. Sowohl in Moral Reasons von 1993 als auch in zahlreichen Aufsätzen sowie in der 2006 erschienenen Monographie Ethics without Principles argumentiert Dancy für einen Partikularismus, den er im Rahmen einer holistischen Theorie der Gründe verortet. Dancy moniert vor allem die Blindheit des Generalismus gegenüber kontextuellen Details und wirft ihm eine unangemessene Simplifizierung der moralischen Wirklichkeit vor. 14 Durch seine vielen Publikationen und der offensiven Verwendung der Bezeichnung ›Partikularismus‹ hat er entscheidend dazu beigetragen, dass sich dieser Begriff durchsetzen konnte und mittlerweile als eine eigenständige moralphilosophische Position wahrgenommen wird. Als weitere prominente Vertreter des Partikularismus sind u. a. David McNaughton, David Bakhurst und Jay Garfield zu nennen. McNaughton hebt in seinem Buch Moralisches Sehen hervor, dass der Partikularismus letztlich besser geeignet sei, die moralische Urteilsbildung einzufangen, da die ›Checklistenkonzeption‹ von Generalisten nur bedingt tauge. 15 Jay Garfield hingegen richtet sein Augenmerk insbesondere auf die Bedeutung des Partikularismus für einen neuen Zugang zum moralischen Lernen und moralischer Motivation. 16 David Wittgenstein erfreut sich häufiger Berücksichtigung durch Partikularisten, da er mit seiner Auffassung von Moral als einem »Sprachspiel« eine originelle Konzeption erarbeitet hat. Demnach besitzt die Moral – wie jedes Spiel – ihre Regeln, so dass moralisches Handeln der Idee einer regelfolgenden Praxis entspricht; allerdings werden Regeln durch Kommunikation festgelegt, so dass jegliche Interpretation, Erklärung und Rechtfertigung notwendigerweise niemals zu einem Ende kommen könne, wenn es nicht an einem bestimmten Punkt zu einer unmittelbaren, schweigenden Übereinkunft käme. Diese Möglichkeit entspricht dem menschlichen Wesen, ebenso wie es dem Menschen zukommt, diese intuitive Erkenntnis in einen Kontext, in ein partikulares Spiel, einbetten zu wollen. 14 Vgl. Dancy (1993), S. 64. 15 Vgl. McNaughton (2003), S. 236. 16 Vgl. Garfield (2 2003). 13
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Bakhurst wiederum verteidigt die Bedeutung einer geteilten Lebenswelt, wenn er die Vorzüge des Partikularismus unterstreicht.17 Insbesondere seit den neunziger Jahren ist eine starke Zunahme der Literatur zum Partikularismus zu verzeichnen, wozu auch die generalistische Kritik als Reaktion auf die partikularistischen Anliegen beigetragen hat. Insbesondere die argumentative Belastbarkeit und Plausibilität des Partikularismus wird von Generalisten wie Brad Hooker, Roger Crisp, Toni Rønnow-Rasmussen oder Sean McKeever und Michael Ridge in Zweifel gezogen, wenn sie Partikularisten ein simplifizierendes Verständnis moralischer Prinzipien oder gar triviale Aussagen vorwerfen. 18 Neben den erwähnten Monographien und Aufsätzen sticht in der Literatur nach wie vor der Sammelband Moral Particularism von Brad Hooker und Margaret Little heraus, da er einen hervorragenden Einblick über die verschiedenen Positionen und die aktuelle Auseinandersetzung gewährt. 19 Der hier nur knapp skizzierte, rege Diskurs spiegelt sich nicht zuletzt in einer zunehmenden Differenzierung mehrerer Arten von Partikularismus wider, wovon auch mehrere Aufsätze zeugen, deren erklärtes Ziel die Systematisierung partikularistischer Positionen ist. 20 Wie an den bislang vorgestellten Autoren und der Literatur zu erkennen ist, ist die Debatte angelsächsisch dominiert. Im deutschsprachigen Raum wird die Debatte zumeist in systematischen Darstellungen der Ethik oder Lehrbüchern rezipiert und diskutiert. 21 Daneben hat sich insbesondere Bernward Gesang um eine systematische Auseinandersetzung mit der Strömung des Partikularismus verdient gemacht. In seiner Monographie Kritik des Partikularismus (2000) konfrontiert er eine Variante des Partikularismus mit einem utilitaristischen Gegenmodell. Auch mit seinem Aufsatz »Der Streit um den moralischen Partikularismus« von 2003 hat er viel zu einem besseren Verständnis beigetragen, indem er darin mehrere Varianten des Partikularismus unterscheidet und wichtige partikularistische Argumente anhand des
Vgl. Bakhurst (2 2003). Vgl. Hooker (2 2003); Crisp (2 2003); Rønnow-Rasmussen (1999); McKeever/Ridge (2006). 19 Hooker/Little (Hgg.) (2 2003). 20 Vgl. dazu Sinnott-Armstrong(1999); McKeever/Ridge (2005); Lance/Little (2006). 21 Als Beispiel sei genannt: Schaber/Wolf (1998). 17 18
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platonischen Dialogs Politikos diskutiert. 22 Dies verdient besondere Aufmerksamkeit, da nicht Platon, sondern Aristoteles als der antike Referenzautor für Partikularisten gilt. John McDowell hat durch zahlreiche Aufsätze zur aristotelischen Ethik maßgeblich auf die partikularistische Interpretation von Aristoteles Einfluss genommen. Wie bereits erwähnt, hat der Artikel »Virtue and Reason«, der 1979 in der Zeitschrift Mind publiziert worden ist, eine enorme Wirkung erzielt. Ähnlich wie Anscombe argumentiert McDowell für eine Tugendethik, die von ›innen heraus‹ konzipiert ist und deren Ausgangspunkt der tugendhafte Mensch ist. Tugend setzt McDowell mit einer Sensitivität gleich, die gegenüber der in einer Handlungssituation inhärenten moralischen Forderung bewiesen wird. In der Bezeichnung von Tugend als einer speziellen Form der Sensitivität, die wahrnehmungsähnlich funktioniert, hat McDowell den Grundstein für eine partikularistische Lesart des Aristoteles gelegt. Unmittelbar damit verbunden ist seine These von der Unkodifizierbarkeit der Konzeption eines guten Lebens, der eudaimonia, die stattdessen nur im Lichte der Handlungssituation erkannt werden kann. Daraus resultiert auch seine Ablehnung eines Modells, dem zufolge sich moralische Überlegung in Form von Deduktion aus generellen Prinzipien äußere. Dass die eudaimonia nichts anderes als die jeweilige Konzeption des Akteurs von einem guten Leben ist, unterstreicht McDowell in dem 1980 erschienenen Aufsatz im Rorty-Sammelband Essays on Aristotle’s Ethics, indem er eine indikativische Lesart der eudaimonia von einer gerundivischen absetzt. Damit verknüpft ist auch sein Plädoyer für eine wertneutrale Auslegung des ergon-Arguments, das er auch in dem 1988 publizierten Artikel »Some Issues in Aristotle’s Moral Psychology« weiterverfolgt. Darin greift er auch seine Kritik an dem Deduktionsmodell von moralischer Überlegung wieBernward Gesang entnimmt dem späten Dialog Politikos drei Argumente partikularistischer Façon, wenn er die umstrittene Angemessenheit von Gesetzen diskutiert: Das Argument der Unähnlichkeit von Fällen, die eine Regelanwendung verbiete; das Induktionsproblem, das sich bei einer Anwendung konstanter Regeln auf diachrone Umstände ergebe, sowie das Argument der Rigidität, die eine Veränderung zugunsten einer angemesseneren Handlungsweise untersage. Vgl. Gesang (2003), S. 249 ff. Diese Einordnung Platons ist allerdings umstritten. Kihlbom argumentiert, dass die Einschätzung der Ethik als einer technê und als ein Wissen von der Idee des Guten dagegen spreche, da die Ethik dementsprechend über die Merkmale der Erlernbarkeit, der Präzision und der Anleitung verfüge. Vgl. Kihlbom (2002), S. 1 ff. 22
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der auf, indem er sich mit dem sog. Regel-Fall-Syllogismus intensiv auseinandersetzt. In den Aufsätzen, die McDowell in den 90ern verfasst, schließt er an die genannten Themen an und entwickelt sie vor dem Hintergrund seines moralischen Realismus weiter. So konkretisiert er in dem Sammelband Aristotle and Moral Realism 23 von 1995 veröffentlichten Beitrag »Eudaimonism and realism in Aristotle’s ethics« seine Auffassung von der Wahrnehmung des tugendhaften Menschen durch eine nähere Diskussion seiner Einbettung in die polis. McDowell zufolge können nur Handlungen als ›nobel‹ erkannt werden, wenn dieser Bewertung eine geteilte Lebenswelt zugrunde liegt; ein externer Standpunkt zur Einschätzung des phronimos (des Menschen, der über phronêsis verfügt) ist demnach ausgeschlossen. In dem Aufsatz »Deliberation and Moral Development in Aristotle’s Ethics« von 1996 führt er diesen Gedanken fort und ergänzt ihn durch eine Untersuchung des unauflösbaren Wechselverhältnisses von charakterlichen und intellektuellen Tugenden. Ebenfalls 1996 erscheint sein Artikel »Incontinence and Practical Wisdom in Aristotle«, in dem er sich mit der Interpretation von David Wiggins zur Willensschwäche bei Aristoteles auseinandersetzt. Dieser Aufsatz enthält weitere wertvolle Informationen zum Wahrnehmungskonzept von McDowell, da er darin die Wahrnehmung des Tugendhaften von der des ›bloß‹ Beherrschten unterscheidet. Ferner gibt er über die Differenzen zwischen McDowell und Wiggins Auskunft. In dem Aufsatz »Two Sorts of Naturalism«, der 1996 publiziert wird, bündelt McDowell seine Überlegungen zu dem Umfeld des phronimos, indem er dessen erfolgreich abgeschlossenen moralischen Bildungsprozess als eine »zweite Natur« tituliert. Die vom phronimos ausgeübten Tugenden sind demnach die Fortsetzung eines natürlichen Prozesses, der durch die moralische Erziehung eingeleitet und begleitet wird. In vielerlei Hinsichten ähneln sich die Positionen von McDowell und David Wiggins; beide argumentieren vor dem Hintergrund eines moralischen Realismus. Insbesondere mit dem Aufsatz »Deliberation and Practical Reason« von 1980 hat Wiggins Kritikpunkte von McDowell aufgegriffen und ihn seinerseits mit seiner Interpretation der aisthêsis (Wahrnehmung) als einer Art situativer Aufmerksamkeit
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Vgl. Heinaman (1995). A
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beeinflusst. Ferner äußert er darin auch Bedenken an der Formalisierung eines Überlegungsprozesses durch einen Regel-Fall-Syllogismus – ein wichtiger Aspekt in seiner Aristotelesrezeption. Ebenfalls in diesem Jahr erschien sein Aufsatz »Weakness of Will, Commensurability, and the Objects of Deliberation and Desire«, der, wie bereits oben erwähnt, auch Unterschiede zwischen McDowell und Wiggins anzeigt. Wichtig ist für Wiggins die antiutilitaristische Motivation, das Konzept von Kommensurabilität in Frage zu stellen, wofür er in Aristoteles mit seiner Absage an ein einheitliches Maß (wie die platonische Idee des Guten) und dem Zugeständnis von Unexaktheit der Ethik einen geeigneten Bezugspunkt sieht. 24 Die Einordnung von Martha Nussbaum in die Riege der Partikularisten mag überraschen, da sie in einigen Aufsätzen Aristoteles’ Universalismus gegenüber kommunitaristischen Ambitionen verteidigt hat, indem sie u. a. seine Ausführungen zur menschlichen Natur normativ versteht und sie auch selbst im Kontext ihres ›Fähigkeitenansatzes‹ weiterentwickelt. 25 Ferner spricht sie sich dezidiert für einen Nutzen von Moraltheorie aus. Im neuen Vorwort zur jüngsten Auflage von Fragility of Goodness (2001) wehrt sie sich darüber hinaus gegen die fälschliche Annahme, sie sympathisiere mit anti-theoretischen Positionen, die häufig als partikularistisch wahrgenommen werden. Die Bezeichnung ›Partikularismus‹ scheint ihr grundsätzlich nicht zu behagen; im Kontext eines Kolloquiums in Münster im Jahr 2000 versucht sie in der schriftlichen Kommentierung der Beiträge ihre Klassifizierung als Partikularistin möglichst abzuschwächen. 26 Nicht zuletzt die Verschiebung ihres Interesses auf die Stoa könnte den Eindruck unterstützen, dass Martha Nussbaum substantielle Veränderungen an ihren inhaltlichen Positionen der 80er und 90er vorgenommen hat. Selbstverständlich müssen Nussbaums Vorbehalte gegenüber ihrer Klassifizierung als Partikularistin ernst genommen werden; dennoch spricht m. E. viel dafür, an dieser Einordnung festzuhalten, auch wenn sie sicher als eine moderate Partikularistin zu verstehen ist. Trotz der Distanzierung von der anti-theoretischen Strömung in dem neuen Vorwort zu Fragility of Goodness, nimmt sie keine Veränderungen an Vgl. dazu Wiggins (1997) und Wiggins (2006). Als ein Beispiel dafür: Nussbaum (1999). 26 Vgl. die Erwiderung von Martha Nussbaum auf ihre Einschätzung als Partikularistin durch Karakus/Moyar/Quante/Halbig und Vieth, in: Kallhoff (2001), S. 130 f. 24 25
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dem Kerntext vor, der aufgrund seiner Argumentation als partikularistisch zu bezeichnen ist. Bereits 1978 hat Martha Nussbaum in einem der kommentierenden Essays, die ihre Übersetzung von Aristoteles’ De Motu Animalium ergänzt haben, Positionen eingenommen, die in nuce als partikularistisch eingeschätzt werden können. In dem Essay »Practical Syllogisms and Practical Science« argumentiert sie gegen die Parallelisierung von theoretischen und praktischen Syllogismen, da praktischen Syllogismen nicht dieselbe Art von Notwendigkeit zugrunde liege. Im Kontext der verschiedenen Formulierungen eines praktischen Syllogismus kritisiert sie die Aufmerksamkeit, die dem Regel-Fall-Syllogismus zuteil werde, da er ihrer Meinung nach nur im Rahmen von Willensschwäche von Belang ist und ferner den Überlegungsprozess als eine bloße Deduktionsleistung darstelle. Ferner spricht sie sich gegen eine generalistische Vorstellung von Regeln aus; diese sind nur solange gültig, wie sie vom Partikularen bestätigt werden. Sie erkennt zwar generalistischen Regeln einige nützliche Funktionen wie Orientierungshilfe und Effizienz zu; nichtsdestoweniger dominiert das Partikulare in letzter Konsequenz. In der Folgezeit verfolgte Nussbaum diese Ansätze weiter, indem sie sich stärker der Nikomachischen Ethik des Aristoteles zuwandte. Insbesondere in der Monographie The Fragility of Goodness von 1986 führt sie die Idee von inkommensurablen Gütern, der Verletzlichkeit des Lebens gegenüber Schicksalsschlägen und die Bedeutung von Emotionen aus, wobei sie letztere mit vielen literarischen Beispielen unterstreicht. In der Essaysammlung Love’s Knowledge führt sie diese Gedanken weiter; vor allem in dem Essay »The Discernment of Perception: An Aristotelian Conception of Private and Public Rationality« finden sich viele Passagen partikularistischer Natur. So betont Nussbaum die Priorität des Partikularen, die durch eine größere Flexibilität und Konkretheit gegenüber den Einzelfällen begründet sei. Bei der Erfassung des Partikularen spielt die Wahrnehmung eine zentrale Rolle, die bei Nussbaum aber stärkere interpretative Züge besitzt als bei McDowell und Wiggins. Dies liegt auch daran, dass sie den Emotionen einen großen Anteil an der Wahrnehmung zuspricht. Ferner unterstreicht sie die Selbständigkeit der Praxis, die charakterisiert ist durch Veränderlichkeit, Unbestimmtheit sowie Singularität. Daher entziehe sich die Praxis einer präzisen wissenschaftlichen Erfassung. Auch ihre frühen Äußerungen zu generellen Regeln greift sie wieder auf, indem A
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sie ihnen zwar eine wichtige Funktion zugesteht, aber nur eine Geltung von ›Faustregeln‹. Seit den 90ern hat Nussbaum ihr philosophiehistorisches Interesse auf die Hellenistische Philosophie ausgeweitet, wobei sie sich besonders der Stoa zuwandte. Deren Universalismus hält sie für besser ausgereift als den von Aristoteles, den sie in mehreren Aufsätzen untersucht und gegen eine kommunitaristische Interpretation verteidigt hat. Aber auch die Bedeutung der Emotionen hat sie kontinuierlich herausgestrichen, angefangen von der Essaysammlung The Therapy of Desire (1994) bis hin zu der umfassenden Monographie Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions (2001). Gemäß Nussbaum drücken Emotionen wertvolle Informationen aus, die im ethischen Überlegungs- und Urteilsprozess stärker berücksichtigt werden sollten; in Aristoteles findet sie diesen Gedanken zum ersten Mal adäquat umgesetzt, selbst wenn sie sich in den genannten Schriften in erster Linie mit dem stoischen Ansatz beschäftigt. Nancy Sherman knüpft in ihrer partikularistischen Argumentation an viele Gedanken von Nussbaum an. In ihrer 1989 erschienenen Monographie The Fabric of Character räumt sie den Emotionen ebenfalls eine große Bedeutung bei der Situationserfassung ein, die das Fundament moralischen Handelns darstellt. Trotz ihres partikularistischen Akzents ist Sherman darauf bedacht, generelle Elemente der aristotelischen Ethik zu berücksichtigen, was sich auch 1997 in dem Unterfangen widerspiegelt, Kant und Aristoteles füreinander fruchtbar zu machen (Making a Necessity of Virtue). Die letztgenannten Philosophen wie McDowell, Wiggins, Nussbaum und Sherman haben die generalistische Auffassung von Aristoteles mit ihren Publikationen in hohem Maße herausgefordert, weshalb sie besondere Berücksichtigung finden werden, ohne dass damit das partikularistische Spektrum vollständig erfasst wäre. So sind in den letzten Jahren Sammelbände zur aristotelischen Ethik erschienen, in denen sich das partikularistische Anliegen wie ein roter Faden durchzieht: Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang der 1991 erschienene Sammelband Essays in ancient Greek philosophy IV. Aristotle’s Ethics von John P. Anton & Anthony Preus wie auch der Sammelband Aristotle, Virtue and the Mean von 1995, den Richard Bosley, Roger A. Shiner und Janet D. Sisson herausgegeben haben. Ferner verdient der 2005 publizierte Sammelband Virtue, Norms, and Objectivity. Issues in Ancient and Modern Ethics von Christopher Gill Beach26
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tung, der in mehreren Aufsätzen die Frage nach dem partikularistischen Gehalt von Aristoteles aufwirft. Die partikularistische Interpretation des Aristoteles ist (natürlich) nicht unerwidert geblieben; unter den Vertretern eines Generalismus bei Aristoteles ist besonders Terence Irwin anzuführen. Er ist geradezu tonangebend, da er nicht nur in zahlreichen Aufsätzen eine generalistische Position einnimmt, sondern auch, weil er sich explizit mit der partikularistischen Interpretation auseinandersetzt. Es sind vor allem McDowell und Wiggins, mit denen er sich in Aufsätzen wie »Ethics as an Inexact Sciene: Aristotle’s Ambitions for Moral Theory« oder »Aristotle’s Use of Prudential Concepts« beschäftigt. Ansonsten erfährt die partikularistische Lesart meist ›partiellen‹ Widerstand, sprich: es werden zumeist einzelne Aspekte des Partikularismus in Frage gestellt. So hat Georgios Anagnostopoulos der partikularistischen These von der substantiellen Unexaktheit der Ethik und der strikten Trennung von theoretischen und praktischen Wissenschaften in der Monographie Aristotle on the Goals and Exactness of Ethics eine alternative Lesart gegenübergestellt, der zufolge auch die praktischen Wissenschaften wie die Ethik über kognitive Ziele verfügten, die sie mit theoretischen Wissenschaften gemeinsam hätten. Im Kontext der epieikeia wird die partikularistische Interpretation durch Jacques Brunschwig und Christoph Horn kritisch beleuchtet, die beide zu dem Ergebnis kommen, dass die epieikeia nicht als eine Aufhebungsinstanz des Gesetzes verstanden werden sollte, sondern als dessen Fortführung und Korrektur. 27 Christoph Kaczor zweifelt in seinem Aufsatz »Exceptionless Norms in Aristotle?« die zentrale partikularistische These an, dass es keine strikten, ausnahmslosen moralischen Prinzipien bei Aristoteles gebe. Dabei konzentriert er sich insbesondere auf die Verbote des Mords, Diebstahls und Ehebruchs. Im Rahmen der Diskussion von moralischen Prinzipien nimmt auch die Frage nach dem Prinzipiencharakter der mesotês-Lehre eine prominente Stelle ein. Dabei dominiert eine Interpretation der tugendhaften Mitte, der zufolge sie situationsrelativ und akteurrelativ ist. Letztere Position wird von Lesley Brown in Frage gestellt, indem er die Normativität des phronimos unterstrichen wissen möchte. Michael Winter setzt sich explizit mit McDowells These von der Unkodifizierbarkeit von Ethik in seinem 27
Brunschwig (1996); Horn (2006). A
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Aufsatz »Are fundamental principles in Aristotle’s ethics codifiable?« auseinander, wo er den Nachweis anstrebt, dass es im Kontext von hôsepi-to-poly-Aussagen durchaus zu gehaltvollen Prinzipien kommen kann. Timothy Chappell wiederum meldet Bedenken an der partikularistischen Fokussierung auf die aisthêsis an, da darin eine Reduktion der phronêsis zu sehen ist. 28 Die Debatte zwischen Partikularisten und Generalisten in Bezug auf Aristoteles findet auf der textlichen Grundlage der Nikomachischen Ethik statt, weshalb ich sie ebenfalls zu meiner Basis mache. Argumentativ ist die Konzentration auf die EN auch deshalb legitim, weil die wichtigen Ausführungen zur epieikeia und zur phronêsis in den drei ›gemeinsamen‹ Büchern der EN und der Eudemischen Ethik angesiedelt sind. Unter den deutschen Übersetzungen der Nikomachischen Ethik favorisiere ich die im Jahr 2006 erschienene von Ursula Wolf. Alle Zitate der EN in dieser Arbeit sind ihr entnommen. Wolfs Übersetzung zeichnet sich m. E. dadurch aus, dass sie darauf verzichtet, den Kontext der polis sprachlich rekonstruieren zu wollen, wie es vor allem bei der Übersetzung von Franz Dirlmeier aber auch bisweilen bei Olof Gigon festgestellt werden kann. Ferner ist Wolfs Übersetzung gut lesbar, was sie positiv von dem etwas antiquiert anmutenden Stil von Eugen Rolfes abhebt.
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Methodisches Vorgehen
Die Verknüpfung eines systematischen Erkenntnisinteresses mit einem historischen Autoren erfordert in besonderem Maße Sorgfalt bei der begrifflichen Grundlegung und der argumentativen Darstellung, daher möchte ich eine wichtige Unterscheidung voranstellen: Wenn von ›Partikularismus‹ in dieser Arbeit die Rede ist, meine ich die Strömung in der gegenwärtigen Moralphilosophie, die durch ihre Kritik am Generalismus bekannt geworden ist. Von dem Begriff ›Partikularismus‹ zu unterscheiden sind partikularistische Argumente oder Positionen, die sich durch die Philosophiegeschichte hindurch ziehen. Mit dieser Differenzierung soll keine inhaltliche Trennung von historischen partikularistischen Argumenten und dem systematischen Partikularismus der Gegenwart propagiert werden, sondern lediglich der 28
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Chappell (2005) und (2006).
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Tatsache Rechnung getragen werden, dass bei der Übertragung gegenwärtiger Kategorien auf frühere Philosophen Vorsicht geboten ist. Im Umgang mit früheren Philosophen wie Aristoteles kann es also nur darum gehen, zu prüfen, inwieweit ihre Ansätze und Argumente den gegenwärtigen systematischen Partikularismus stützen und ob sie zu Recht als Referenzautoren von den Partikularisten angeführt werden. Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil (Kap. II und III) ist systematischer Natur. Während ich im zweiten Kapitel eine Begriffserklärung und eine Kontextualisierung auf einer allgemeinen Ebene vornehme, ist das dritte Kapitel spezifischer, da ich darin zusätzlich zwischen Strömungen des Partikularismus unterscheide und deren zentrale Thesen inhaltlich darstelle. Im zweiten Kapitel setze ich zunächst mit einer metaethischen Einordnung des Partikularismus ein, damit er im Koordinatensystem moralischer Kategorien besser verortet werden kann. Es folgt ein Überblick über verschiedene Definitionen von Partikularismus, auf dessen Grundlage ich einen ›Ontologischen Partikularismus‹ von einem ›Epistemologischen Partikularismus‹ abgrenze. Diese Separierung dient mir zur selben Zeit als Strukturvorgabe für das dritte Kapitel, in dem ich die Thesen und Positionen dieser zwei Versionen genauer ausbuchstabiere. Während der ›Ontologische Partikularismus‹ insbesondere Handlungsgründe in den Blick nimmt, widmet sich der ›Epistemologische Partikularismus‹ in erster Linie der Frage nach der Funktion von moralischen Prinzipien. Den ›Ontologischen Partikularismus‹ behandele ich vor allem der Vollständigkeit halber und der besseren Kontrastierung zum ›Epistemologischen Partikularismus‹. Letzterer dient mir zur Erarbeitung eines Vokabulars und von Kritikpunkten, die mir bei der partikularistischen Interpretation des Aristoteles noch von Nutzen sein werden. Dieser erste Teil der Arbeit legt das systematische Fundament für die nachfolgende Prüfung der These vom Partikularismus bei Aristoteles, die historischer Natur ist. Die Analyse der Aspekte, die Partikularisten bei Aristoteles vorfinden, erfolgt in zwei Teilen. In dem ersten dieser Teile (Kap. IV – VII) untersuche ich verschiedene Elemente der aristotelischen Ethik, auf die Partikularisten wiederholt als Indizien zurückgreifen. In dem zweiten Teil der Aristotelesinterpretation (Kap. VIII) diskutiere ich die Konzeption der Normfigur. Jeder dieser Teile steht für eine der eingeschlagenen Strategien im Umgang mit dem Partikularismus, die ich in der thematischen Einführung vorgestellt habe. A
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Den Auftakt des zweiten Teils, mit dem ich die Diskussion der partikularistischen Position beginne, bildet das vierte Kapitel, das die Überschrift »Die Exaktheit von Ethik« trägt. Daran ist bereits zu erkennen, dass ich der These von der (vermeintlichen) Unexaktheit von Ethik skeptisch gegenüberstehe und stattdessen den Nachweis erbringen möchte, dass sich Aristoteles mehrerer Strategien bedient, um die Ethik einer theoretischen Erfassung zugänglich zu machen. Dazu lege ich im ersten Unterkapitel die Korrelation von Exaktheit (akribeia) und Wissenschaftlichkeit dar, um im nächsten Unterkapitel die Frage nach der verbleibenden Exaktheit in der Ethik zu beantworten. In diesem Kontext beschäftige ich mich mit dem ›Grundrisswissen‹ (typô) und dem ›Zumeistwissen‹ (hôs-epi-to-poly). Diese beiden Wissensformen werden von Partikularisten als Beweise dafür angeführt, dass es weder qualifizierte noch ausnahmslose Moralprinzipien in der aristotelischen Ethik gibt, was meiner Meinung nach nicht zutrifft, da der Begriff typos mit einem höheren Spezifikationsgrad verträglich ist als bislang angenommen und das ›Zumeistwissen‹ durchaus eine ernstzunehmende Beweiskraft besitzt. Auch den methodischen Pluralismus, durch den sich die Nikomachische Ethik auszeichnet, werte ich als ein Indiz für das Bestreben des Aristoteles, die Ethik bis zu ihrem eigenen Exaktheitsgrad theoretisch zu fundieren. Anschließend setze ich mich im fünften Kapitel mit moralischen Prinzipien im Sinne von Handlungsregeln in der Ethik des Aristoteles auseinander, deren Existenz bzw. deren verbindliche Geltung von Partikularisten bestritten wird. In der Tat ist prima facie kein ›Regelkatalog‹ etc. in der Nikomachischen Ethik ausfindig zu machen, was allerdings nicht darauf schließen lassen muss, dass es keinerlei Regeln gibt. Der Anhaltspunkt für den Nachweis von Handlungsregeln ist m. E. vielmehr im Begriff der praxis zu sehen, der zwischen zwei Handlungsbegriffen changiert, welche ich zu Beginn des Kapitels erläutere. Dieses Ergebnis dient mir als argumentative Basis im nächsten Abschnitt, in dem ich ermitteln möchte, von welchen Handlungsregeln die Rede ist. Während die mesotês-Lehre keine konkrete Orientierung gewährt, lassen sich im Kontext der Gegenstandsbereiche der einzelnen Tugenden durchaus Handlungsregeln feststellen. Der phronimos bzw. die Normfigur steht in keinem Konkurrenzverhältnis zu ihnen, sondern hat sie ›inkorporiert‹, ohne dass sich darin seine Exzellenz bereits erschöpfen würde. Die phronêsis wird von Partikularisten wegen ihrer Fokussierung 30
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Methodisches Vorgehen
auf das Einzelne und wegen ihrer Abgrenzungen von epistêmê und technê besonders stark für ihre Position in Anspruch genommen. Zu Beginn des sechsten Kapitels nehme ich eine Art ›Begriffsbestimmung‹ der phronêsis vor, die mir wegen der Komplexität und Disparität der Stellen dringend geboten scheint. Dabei komme ich zu dem Ergebnis, dass in Buch VI der Nikomachischen Ethik insgesamt drei Auffassungen von phronêsis zu unterscheiden sind, nämlich 1) phronêsis als Tugend des rationalen Seelenteils, dessen ergon in der praktischen Wahrheit besteht 2) phronêsis als eine von fünf ›Wahrheitshaltungen‹ – in diesem Kontext kann sie als eine Überlegungskompetenz in allgemeiner Hinsicht eingeordnet werden – und letztlich 3) phronêsis als Handlungskompetenz in Einzelsituationen. Diese Differenzierung halte ich für notwendig, weil ein Problem der partikularistischen Position in der allzu einseitigen Betonung der letzten Verwendungsweise von phronêsis besteht. Da die phronêsis für Partikularisten insbesondere durch ihre Ausrichtung auf das Einzelne attraktiv ist, scheint mir eine Klärung des Verhältnisses vom Allgemeinen und Einzelnen im Kontext der phronêsis wichtig zu sein, die ich im Anschluss an die Strukturerörterung vornehme. Im folgenden Unterkapitel (Der Überlegungsprozess des phronimos) steht die spezifische Kompetenz des phronimos zur Diskussion, welche in der partikularistischen Argumentation allzu sehr in den Hintergrund gerät. Die Skepsis der Partikularisten äußert sich insbesondere in ihrer Kritik am sog. Regel-Fall-Syllogismus, einer Formulierungsvariante des praktischen Syllogismus, weshalb ich darauf näher eingehe. Im darauf folgenden Kapitel (Kap. VII) wende ich mich der Einordnung der aisthêsis zu, die von Partikularisten als moralische Sensitivität interpretiert wird, wobei es Unterschiede im partikularistischen Spektrum gibt. Während McDowell und Wiggins sie als eine Form der Situationserfassung verstehen, setzen Nussbaum und Sherman den Akzent auf ihre Interpretationsleistung. Beide Konzepte stimmen aber in ihrer Einschätzung von aisthêsis als der wichtigsten Ausdrucksform von phronêsis überein; auch ihre moralische Konnotation wird geteilt, an der ich hingegen Zweifel anmelden möchte. Dazu gehe ich auf die einschlägigen Textpassagen ein, wobei ich zu dem Ergebnis komme, dass die aisthêsis im Kontext von phronêsis als eine Art »allgemeine Wahrnehmung« zu begreifen ist. Nachdem ich in den Kapiteln IV-VII die zentralen Anliegen der partikularistischen Position diskutiert habe, gehe ich im dritten Teil A
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(Kap. VIII) zu der Analyse der Normfigur als moralischem Akteur über. Bevor ich mich der partikularistischen Auffassung widme, stelle ich eine Vorstellung dieser Konzeption voran, die sowohl eine philologische Erörterung, den Nachweis der Identität von spoudaios und phronimos, sowie eine terminologische Klärung von ›Normfigur‹ enthält. Nach diesen grundlegenden Ausführungen gehe ich im Kontext der partikularistischen Lesart der Normfigur insbesondere auf McDowells Interpretation ein, weil er unter den Partikularisten die detailliertesten Auskünfte zur Einschätzung der Normfigur gibt. Innerhalb von McDowells Aufsätzen zu Aristoteles spielt die geteilte Lebenswelt keine geringe Rolle, was eine gewisse Nähe zum Kommunitarismus offenbart. Da die Sozialität der Normfigur einen zentralen Aspekt ihrer Konzeption berührt, greife ich im nächsten Unterkapitel die Frage nach ihrem Vorbildcharakter auf. Im Anschluss daran möchte ich mittels einer Art Charakterstudie die spezifischen Eigenschaften der Normfigur untersuchen, die in meinen Augen zentral für das adäquate Verständnis sind. Den verschiedenen Kennzeichen der Normfigur sind zusätzlich einige systematische Eigenschaften wie Beständigkeit in der Tugend, gleich bleibende Persönlichkeit oder Ausrichtung am Natürlichen gemeinsam, was auf eine immanente Regularität in der Konzeption der Normfigur vermuten lässt. Diese Hypothese möchte ich im letzten Kapitel einer Prüfung unterziehen, indem ich mich mit Aspekten wie Unfehlbarkeit, Unerschütterlichkeit in der Tugend sowie der vollkommenen menschlichen Natur auseinandersetze.
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II. Der Partikularismus in allgemeiner Hinsicht
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Metaethische Einordnung
Erst im Laufe der 90er hat sich der Begriff des Partikularismus als Bezeichnung für eine selbständige moralphilosophische Strömung etablieren können. Es sind daher immer noch bestimmte Unsicherheiten mit diesem Namen verbunden, was sich darauf zurückführen lässt, dass der Partikularismus viele Affinitäten zu anderen Konzepten aufweist. Dies erschwert die Bestimmung seines genuinen Gehalts. Außerdem sind Partikularisten unterschiedlicher moralphilosophischer Provenienz, so dass der Terminus ›Partikularismus‹ als eine Art ›cross-border-Kategorie‹ bezeichnet werden kann. Im Folgenden möchte ich die Koordinaten des Partikularismus auf der ›Landkarte‹ moralphilosophischer Begriffe bestimmen, indem ich Unterscheidungen und Abgrenzungen zu anderen unterschiedlichen ethischen Strömungen und Konzepten vornehme. Zu Beginn möchte ich zunächst ein häufiges Missverständnis mit Hilfe des geeigneten Widerparts ausräumen: Nicht Universalismus, sondern Generalismus ist der richtige Gegenbegriff zu Partikularismus. Der Universalismus lässt sich als eine Position verstehen, die auf jegliche singuläre Terme in der Formulierung von Prinzipien oder Regeln verzichtet und sie stattdessen mit einem Allquantor versieht. 1 Dementsprechend ist Singularität, nicht Partikularismus der Gegenbegriff zu Universalismus. Obwohl der Allquantor prima facie umfassende Unparteilichkeit garantiert, sind universelle Prinzipien denkbar, die sehr konkret sein können. Im Gegensatz zum Universalismus ist der Generalismus ein komparativer Begriff, der die Extension eines Diese Auffassung von Universalismus geht auf R. M. Hare zurück, auf den sich Partikularisten vorwiegend in ihrer Abgrenzung und Opposition bzgl. des Universalismus beziehen. Vgl. Hare (1992), S. 88.
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Metaethische Einordnung
moralischen Prinzips ausdrückt, womit die Menge an Situationstypen gemeint ist. 2 Ein Grund für die häufige Vermengung von Generalismus und Universalismus besteht darin, dass generalistische Ethiken zumindest das basalste Universalisierungskriterium kennen, nämlich, dass auf zwei Situationen, die in allen relevanten Hinsichten identisch sind, dasselbe Prinzip angewendet werden muss. Darüber hinaus greifen de facto viele generalistische Ethiken auch auf anspruchsvollere Varianten von Universalisierungskriterien zurück, so dass es eine Art ›praktizierte‹ Verknüpfung gibt, ohne dass es sich dabei um einen notwendigen Zusammenhang handeln würde. Eine zentrale These des Partikularismus ist die von der Unkodifizierbarkeit des moralischen Handelns. Sie besagt, dass der Versuch, die Komplexität ausgeübter Moralität mit Hilfe von moralischen Prinzipien zu systematisieren, fehlschlagen muss. Moralische Prinzipien seien nämlich keine Hilfe, sondern manchmal sogar ein Hindernis bei der Erfassung einer Situation, da sie den Kontext mit ihrer eindimensionalen Ausrichtung häufig reduzierten. 3 Eine Folge der These von der Unkodifizierbarkeit ist eine fundamentale Skepsis gegenüber der theoretischen Konstruktion von Moral, die meist unter dem Stichwort der Anti-Theorie zusammengefasst wird. Darin drückt sich Widerstand gegen die Annahme aus, dass Moral nur dann rational sei, wenn sie auf einem System von Prinzipien basiere. Weder die Theoretisierung, noch die Konsistenz oder Vollständigkeit moralischen Handelns seien essentiell, um von Moralität sprechen zu können. 4 Auch wenn ein Teil der Partikularisten der Strömung der Anti-Theorie zugeordnet werden kann (z. B. John McDowell), gibt es keine notwendige Verbindung zwischen dem Partikularismus und der Anti-Theorie. Insbesondere ein moderater Partikularismus, der Generalisierungen im Sinne von ›Faustregeln‹ zulässt, dürfte sich vom Anliegen der Anti-Theoretiker schon recht weit entfernt haben. 5 Auffällig ist, dass viele Partikularisten moralische Realisten sind; dazu zählen beispielsweise John McDowell, David Wiggins, Jonathan Dancy oder David McNaughton. Letzterer geht so weit, zu behaupten,
Vgl. Gesang (2000), S. 9. Vgl. McNaughton (2003), S. 223. 4 Vgl. Clarke/Simpson (1989), S. 2 f. 5 Vgl. Nussbaum (2 2003). Insbesondere Martha Nussbaum argumentiert für den Nutzen einer Moraltheorie, ohne moralische Prinzipien verabsolutieren zu wollen. 2 3
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dass ein moralischer Realismus letztlich in einen Partikularismus münde. 6 Unter einem moralischen Realismus ist die Ansicht zu verstehen, dass es moralische Tatsachen gibt, die als Fundament für ein moralisches Urteil taugen. 7 Beim moralischen Realismus gilt es noch zwischen einem nicht-naturalistischen und einem naturalistischen moralischen Realismus zu unterscheiden. Alle eben erwähnten Vertreter eines Partikularismus gehören der ersten Kategorie an, dem nichtnaturalistischen moralischen Realismus, dem zufolge die moralischen Tatsachen sich nicht auf natürliche Tatsachen reduzieren lassen. Innerhalb dieses Zweigs gibt es zahlreiche Möglichkeiten der Interpretation, was unter moralischen Tatsachen zu verstehen ist, die in diesem Kontext nicht näher ausgeführt zu werden brauchen. Denn abgesehen von der konkreten Ausbuchstabierung der moralischen Tatsachen besteht eine Gemeinsamkeit darin, dass die Existenz von moralischen Tatsachen nach einer besonderen Form der Wahrnehmung verlangt. Diese geforderte moralische Sensitivität führt bei den genannten Philosophen zu einer partikularistischen Position, die die Priorität der Handlungssituation u. a. damit begründet, dass moralische Tatsachen je nach Kontext verändert auftreten können, so dass adäquates moralisches Handeln sich in der Aktivierung dieser Wahrnehmung in jeder einzelnen Situation ausdrücke. Neben dem moralischen Realismus wird als ein ›Herkunftsort‹ des Partikularismus auch die hermeneutische Ethik bzw. narrative ethics angeführt. 8 Darunter ist eine Art ›Auslegungskunst‹ des moralischen Kontextes zu verstehen, die sich dem besseren Verstehen des Geschehens verschrieben hat. Dazu gehört es, Aufschluss über die Details, die Voraussetzungen der Akteure und deren Motivationen zu bekommen. Das Augenmerk richtet sich auch hier wieder auf die Situation und ihren Kontext, wobei zur selben Zeit ihr umfassendes Verständnis innerhalb der Biographie des Akteurs angestrebt wird. Unter den Partikularisten, die sich mit Aristoteles auseinandersetzen, wären m. E. Martha Nussbaum und Nancy Sherman diesem Anliegen zuzuordnen, die beide die Situationswahrnehmung als eine Art ›Lesen‹ im Sinne des Interpretierens auffassen. Auch in anderer Hinsicht ist eine narrative Vgl. McNaughton (2003), S. 223. Bei den Ausführungen zum moralischen Realismus greife ich vor allem auf die Ausführungen von Peter Schaber zurück. Vgl. Schaber/Wolf (1998), S. 134–144. 8 Vgl. Lance/Little (2006), S. 568. 6 7
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Metaethische Einordnung
Komponente, zumindest bei Nussbaum, festzustellen: In ihren Werken verwendet sie häufig zahlreiche literarische Beispiele, anhand derer sie eine präzise Beschreibung des Kontextes vornimmt, um auf diese Weise die Sensitivität gegenüber den Details und Voraussetzungen einer Situation zu erhöhen. Die Kontextsensitivität ist auch der Ansatzpunkt, um die Frage aufzuwerfen, inwieweit der Partikularismus einem moralischen Relativismus ähnelt. Eine solche Ähnlichkeit ließe sich nur bei einem radikalen Partikularismus konstatieren, der letztlich die Geltung moralischer Werte überhaupt bezweifeln würde und dementsprechend auch die Möglichkeit von moralischen Urteilen. Stattdessen scheint es angemessener, den Partikularismus beim moralischen Pluralismus anzusiedeln, der mehrere Quellen von moralischen Werten einräumt, dabei aber die Möglichkeit rationaler Bedingungen zu ihrer Bestimmung vorsieht. Es scheint auf den ersten Blick eine natürliche Affinität zwischen Partikularismus und Kommunitarismus zu geben, da die Berücksichtigung der konkreten Handlungssituation stets auch die der Lebenswelt impliziert. Prominente Partikularisten wie John McDowell und David McNaughton sehen darüber hinaus in der moralischen Erziehung, die als eine Art des ›Vertrautwerdens‹ mit den Werten einer konkreten Gemeinschaft eingeschätzt wird, das Fundament der moralischen Urteilsfähigkeit. Dennoch mündet ein moralischer Partikularismus nicht notwendigerweise in den Kommunitarismus, wie das Beispiel von Martha Nussbaum zeigt. Obwohl sie als eine (moderate) Partikularistin einzuordnen ist, betont sie den universellen Zug der aristotelischen Ethik, die sich ihr zufolge keineswegs bloß als eine Spiegelung athenischer Tugenden begreifen lässt. 9 Sie rekurriert stattdessen auf den universellen Charakter der menschlichen Natur, den sie in ihrem eigenen ›Capabilities-Ansatz‹ fruchtbar zu machen versucht hat. Die Betonung des Einzelnen durch den Partikularismus, das häufig mit der Handlungssituation gleichgesetzt wird, legt es nahe, ihn mit dem Begriff der Situationsethik zu identifizieren. Doch dies wäre irre-
Dies drückt sie explizit wie folgt aus: »Mir geht es hier vor allem um den Hinweis, daß sich der aristotelische Partikularismus ganz und gar mit der aristotelischen Objektivität vereinbaren läßt. Wenn eine gute und tugendhafte Entscheidung je nach dem gegebenen Kontext anders ausfällt, bedeutet das nicht, daß sie nur in Bezug auf oder innerhalb eines begrenzten Kontextes richtig ist; […].« Nussbaum (1999), S. 249.
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Der Partikularismus in allgemeiner Hinsicht
führend, da die Situationsethik sich einem ganz anderen Hintergrund verdankt, der religiöser Natur ist. Unter Situationsethik ist der Ansatz von Joseph Fletcher zu verstehen, der sich in der namensgebenden Monographie Situation Ethics von 1966 dafür ausgesprochen hat, die christliche Ethik in jeder Situation so zu praktizieren, dass das christliche Gebot der Liebe adäquat umgesetzt wird. Die partikularistische Kontextberücksichtigung ist zwar in diesem Ansatz auch zu erkennen, doch besitzt er durch die Festlegung auf das christliche Liebesgebot eine unabweisbare generalistische Komponente. Abschließend soll noch das Verhältnis des Partikularismus zur Tugendethik geklärt werden. Die Affinität dieser beiden Strömungen ist in ihrem Anspruch zu sehen, den moralischen Akteur vor dem Hintergrund seiner Umwelt ernst zu nehmen. Der tugendhafte Mensch wird zur zentralen Instanz erklärt, indem er lernt, den Kontext richtig einzuschätzen und entsprechend zu handeln. In der Tat sehen Partikularisten, die sich auf Aristoteles berufen, in diesem Merkmal ein zusätzliches Indiz für die Plausibilität ihrer Position. Eine Tugendethik muss allerdings nicht per se partikularistisch sein, da die Konzeptionen des tugendhaften Menschen stark variieren können.
2.
Definitionen und Strömungen
Wer nach einer kanonischen Definition von ›Partikularismus‹ sucht, wird mit diesem Unterfangen scheitern – die Antworten auf die Frage »Was ist Partikularismus?« variieren stark, so dass mit Richard Holton festzuhalten bleibt: »moral particularism is not a single doctrine, but a family of doctrines« 10 . Zwei Gründe zeichnen für diese begriffliche Unklarheit verantwortlich: Zum einen wird der Partikularismus als Gegenpart zum Generalismus konzipiert, wobei aber nicht sorgfältig genug zwischen Generalismus und Universalismus unterschieden wird, so dass es zu einer Gemengelage zwischen methodischer Skepsis und akteurrelativer Kritik unter dem Stichwort ›Partikularismus‹ kommt. 11 Zum anderen zielen die Versuche, die Bezeichnung des ParHolton (2002), S. 191. Vgl. die Kritik Bernward Gesangs an der oft ausbleibenden Unterscheidung zwischen Generalismus und Universalismus: Gesang (2000), S. 9.
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Definitionen und Strömungen
tikularismus genauer auszubuchstabieren, auf unterschiedliche Merkmale des Generalismus, je nachdem, ob ein epistemologisches oder ein ontologisches Interesse im Mittelpunkt steht. 12 Jonathan Dancy beispielsweise führt folgende Motivation für seinen Partikularismus an: »For the main aim of my particularist position is to break the stranglehold of a certain conception of how moral reasons function – the generalist conception under which what is a moral reason in one situation is necessarily the same reason wherever it occurs.« 13
Ähnlich sehen es auch Jackson, Pettit und Smith, wenn sie den Partikularismus u. a. mit folgendem Kennzeichen versehen: »According to these theorists, the relationship between descriptive or nonevaluative information, on the one hand, and a moral or evaluative verdict, on the other, is not merely complex – […] – it is irreducibly complex. There is no codifiable pattern to be found in the passage from the descriptive to the ethical, and vice versa.« 14
Mit der nicht vorhersehbaren Wechselbeziehung zwischen der deskriptiven und der normativen Ebene, die u. a. auch Brad Hooker 15 und Margaret Little 16 in ihren Beiträgen als das Signifikante am Partikularismus benennen, ist eng verbunden eine Sensibilität dem Einzelfall gegenüber, die David Bakhurst als ein zentrales Kennzeichen des Partikularismus anführt: »Conversely, we can infer that particularism encourages sensitivity to the fine details of particular cases and willingness to inquire of each property exactly how it may be morally relevant. The particularist must be attuned to complexity […].« 17
Die sorgfältige Prüfung des Einzelfalls steht auch für David McNaughton und Piers Rawling im Vordergrund, aus der sie dann eine fundamentale Skepsis gegenüber einer allzu mechanischen Anwendung von moralischen Prinzipien ableiten: Die beiden angeführten Gründe schließen sich nicht aus – im Gegenteil: die Art und Weise der Kritik am Generalismus bzw. Universalismus hängt eng mit dem Blickwinkel zusammen, von dem aus argumentiert wird. 13 Dancy (2 2003), S. 131. Dieser Motivation ist Dancy treu geblieben; sie war bereits in Moral Reasons, S. 60 ausführlich von ihm dargelegt worden. 14 Jackson/Pettit/Smith (2 2003), S. 80. 15 Vgl. Hooker (2 2003), S. 6. 16 Vgl. Little (2 2003), S. 288. 17 Bakhurst (2 2003), S. 169. 12
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Der Partikularismus in allgemeiner Hinsicht
»The term ›ethical particularist‹ has sometimes been used, in a broad and loose way, as a label for anyone who expresses hostility to the view that a decision about what we ought to do in some particular case can be mechanically ›read off‹ from a general moral principle or principles. Rather, it is urged, a correct moral verdict can only be reached by paying close attention to the individual case […].« 18
Diese Auswahl 19 an Definitionen dient dazu, sich einen groben Überblick über die unterschiedlichen Akzentsetzungen von Partikularisten zu verschaffen, wobei aber zwei einheitliche Momente festgehalten werden können: Alle Partikularisten kommen darin überein, dass 1) Skepsis gegenüber der Invarianz von moralischen Gründen/Prinzipien geboten ist und 2) der Einzelfall, das Kontextuelle an einer Handlung, eine Aufwertung im moralischen Urteilsprozess durch eine ausgebildete moralische Sensibilität erfahren muss. Wenn auch diese beiden Merkmale als der ›gemeinsame Kern‹ aller Partikularisten bezeichnet werden kann, sollen die verschiedenen Stoßrichtungen des Partikularismus, die in den Definitionen bereits angedeutet sind, weiterhin unterschieden bleiben. Dies erscheint mir erforderlich, da die beiden angeführten Kennzeichen nicht ausreichen, um die Komplexität und die je nach vertretener Spielart variierenden Diskussionspunkte gebührend einzufangen. Außerdem wird an den Merkmalen noch nicht hinreichend deutlich, was das genuin Partikularistische an ihnen ist, da auch affine Strömungen der Moralphilosophie wie die Situationsethik oder der Akteurrelativismus ebenfalls diese Charakteristika aufweisen könnten. In der Literatur wird ebenfalls zwischen Formen des Partikularismus differenziert, wobei sich eine Systematisierung in zwei Strömungen durchgesetzt hat, die nicht miteinander zu verwechseln sind, wie Jay Garfield ausführt: »For there are two versions of the particularist/ universalist debate, reflecting two very different conceptions of the subject matter of that debate.« 20 Die Bezeichnungen für diese beiden Konzeptionen von Partikularismus weichen stark voneinander ab; so Mc Naughton/Rawling (2 2003), S. 256. Es handelt sich bei den angeführten Definitionen nicht um eine erschöpfende Darstellung. Dennoch sind zentrale Merkmale des Partikularismus genannt und weitere Definitionen hätten keinen hohen Informationswert mehr. Außerdem werden die Vielfalt und die Komplexität des Partikularismus in den folgenden Einzelpunkten noch gebührend berücksichtigt. 20 Garfield (2 2003), S. 181. 18 19
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Definitionen und Strömungen
trennt beispielsweise Garfield einen epistemologischen Partikularismus von einem ontologischen Partikularismus, 21 McNaughton und Rawling unterscheiden zwischen einem ›moral-verdict-particularism‹ und ›moral-valence-particularism‹, 22 und Cullity und Holton schließlich zwischen einem ›particularism about reasons‹ und einem ›particularism about principles‹. 23 Die letztere Differenzierung taucht auch bei Roger Crisp auf, der aber statt ›principles‹ von ›rules‹ spricht und darüber hinaus noch eine dritte Form des Partikularismus einführt und zwar die des ›particularism about motivation‹. 24 Walter SinnottArmstrong hält eine Unterteilung in zwei Varianten ebenfalls für zu grob und differenziert dementsprechend sogar zwischen vier Formen des Partikularismus. 25 Bernward Gesang wiederum sondert einen ›Interessenpartikularismus‹ von einem ›methodischen Partikularismus‹ ab. 26 Selbst wenn die Bezeichnungen wechseln, lässt sich eine Kongruenz hinsichtlich der Unterscheidungskriterien feststellen. Als solche Unterscheidungskriterien sind zu nennen: i) der Gegenstand ii) die Vertreter iii) die Ausprägung Als Gegenstand des moralischen Partikularismus werden einerseits moralische Fakten (ontologischer Partikularismus) und andererseits moralisches Wissen (epistemologischer Partikularismus) von Garfield angeführt, wobei auch die Unterscheidung zwischen moralischen Gründen auf der einen Seite und moralischen Prinzipien auf der anderen Seite getroffen wird (Cullity/Crisp), die aber bei näherem Hinsehen dasselbe darunter verstehen. Auch die alternative Bezeichnung von McNaughton/Rawling lässt sich dazu durchaus analog setzen. Die inhaltliche Übereinstimmung dieser Bezeichnungen besteht darin, dass Vgl. ebd. Vgl. Mc Naughton/Rawling (2 2003), S. 256, 258. 23 Vgl. Cullity (2002), S. 170. 24 Vgl. Crisp (2 2003), S. 23. Da die dritte Klassifikation, der Partikularismus der Motivation, ebenso wie der Partikularismus der Gründe von Dancy ausgehend konzipiert wird, ist diese Unterscheidung nicht so gehaltvoll wie die zwischen einem Partikularismus der Regeln und dem Partikularismus der Gründe. Deswegen nehme ich von dieser zweiten Unterscheidung Abstand. 25 Vgl. Sinnott-Armstrong (1999). 26 Vgl. Gesang (2000), S. 11, 17. 21 22
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ein ontologischer Partikularismus (oder Partikularismus der Gründe) darauf abzielt, das Fundament generalistischen moralischen Denkens in Frage zu stellen, indem die Invarianz moralischer Entitäten 27 in Zweifel gezogen wird. Ein epistemologischer Partikularismus (oder Partikularismus der Prinzipien) nimmt stattdessen den Vorgang des moralischen Urteilens ins Visier. Dabei steht insbesondere das Wechselverhältnis zwischen Prinzipien und Wahrnehmung des Einzelfalls im Mittelpunkt. Aus der getroffenen Unterscheidung resultiert auch, dass andere Schwerpunkte diskutiert werden. Während bei einem ontologischen Partikularismus der Holismus als ›Hintergrundannahme‹ mitschwingt und sich die Debatte an den Auffassungen von Universalität und Supervenienz orientiert, entzündet sich der epistemologische Partikularismus an der Allgemeinheit und Ausnahmslosigkeit von Prinzipien sowie ihrer Funktion im moralischen Deliberationsprozess. Dass die Trennlinie zwischen den beiden Formen von Partikularismus einheitlich verläuft, selbst wenn diese unterschiedlich bezeichnet werden, offenbart sich am meisten unverfälscht bei der Zuordnung der typischen Vertreter. Während der ontologische Partikularismus unmittelbar mit Jonathan Dancy 28 verbunden ist, wird John McDowell als der ›Ideengeber‹ des epistemologischen Partikularismus angeführt. Auch hinsichtlich der Ausprägung, dem Grad an Stärke, gilt übereinstimmend, dass Dancys Partikularismus, der ontologische Partikularismus, als radikaler eingeordnet wird als der epistemologische Partikularismus McDowells. Innerhalb der jeweiligen Ausrichtung sind ebenfalls noch graduelle Unterschiede zu verzeichnen. 29
Auch wenn ich hier allgemein von »Entitäten« spreche, ist doch zumeist von moralischen Gründen die Rede. 28 Vor allem mit seinem Werk Moral Reasons von 1993 hat sich Dancy als der bekannteste Vertreter dieser partikularistischen Spielart profiliert. 29 Vgl. Cullity (2002), S. 170. 27
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III. Varianten des Partikularismus
1.
Ontologischer Partikularismus
a.
Holismus als Hintergrund
Der pointierteste Vertreter eines ontologischen Partikularismus ist Jonathan Dancy, dessen Werk Moral Reasons (1993) die Grundgedanken seiner Kritik am Generalismus enthält. Seitdem hat sich eine eigenständige Debatte um diesen Ansatz entwickelt, die mittlerweile ein beachtliches Ausmaß angenommen hat. 1 Dancy möchte seinen Partikularismus in einem ›Holismus der Gründe‹ verankert wissen. ›Holismus der Gründe‹ bezeichnet in diesem Zusammenhang die Annahme, dass sich Gründe sensitiv zu ihrem Kontext verhalten und in diesem Sinne in ein ›Ganzes‹ eingebettet sind. Demnach sind Gründe variant, indem sie in einer Situation für eine Handlung und in einer anderen dagegen sprechen mögen. Für Dancy ist der Partikularismus innerhalb der Moralphilosophie untrennbar mit einem holistischen Gesamtansatz verbunden; er sieht in seinem Partikularismus einen möglichen Ausdruck des Holismus. 2 Während er in Moral Reasons noch undifferenziert von einem Holismus an sich ausgeht, unterscheidet er in seinem Aufsatz »The Particularist’s Progress« Stufen der Kontextsensitivität. 3 Von einem starken Holismus ist die Rede, wenn er sich auf alle Gründe bezieht und sich diese durch irgendeine Veränderung des Kontextes auch in irgendeiner Weise verändern. Sie sind demnach komplett ihrer Umgebung ausgesetzt. Die schwächste Ausformulierung eines Holismus besagt, dass einige Gründe in bestimmten Situationen fähig sind, Vgl. u. a. Gay (1985); Rønnow-Rasmussen (1999); Jensen/Lippert-Rasmussen (2005); Kihlbom (2002); Crisp (2 2003); Jackson/Pettit/Smith (2 2003). 2 Vgl. Dancy (2 2003), S. 130. 3 Ebd. 1
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Varianten des Partikularismus
sich durch Veränderungen des Kontextes ebenfalls zu verändern. Was die Sensitivität der Gründe betrifft, spricht sich Dancy für die letztgenannte, schwache Version aus; in Hinblick auf die Reichweite verortet er aber seinen Partikularismus weitaus großflächiger, indem er alle Gründe darin enthalten wissen möchte. Alle Gründe (auch moralische) sind in der Lage, sich zu verändern. Sie sind nach Dancy dazu fähig, weil ihr Grund-Sein eine solche Veränderung zulässt; an dieser Erklärung wird auch deutlich, warum sich sein partikularistischer Ansatz ohne weiteres als ontologisch bezeichnen lässt. Das Grund-Sein unterliegt Veränderungen, ohne dass sich etwas an der Bezeichnung als Grund ändern muss. Allerdings schränkt Dancy seine Position dahingehend ein, dass es einige wenige privilegierte Gründe geben möge, die sich de facto nicht verändern (z. B. dass willentlich zugefügter, keinem Zweck dienender Schmerz immer schlecht ist). In dieser Einschränkung möchte er allerdings keine Schwächung seines Ausgangspunktes sehen, da einige wenige de facto invariante Gründe sehr viel mehr variante Gründe implizieren, was nach Dancy ausreichend ist, um den »Würgegriff« der Generalisten bezüglich der Voraussagbarkeit des Verhaltens von Gründen zu lockern. 4 Außerdem sei die de-factoInvarianz einiger Gründe noch kein Argument gegen ihre mögliche Veränderlichkeit. Zusammengefasst weist der Holismus zwei Merkmale auf: 1. Was ein Grund in einer Situation ist, kann sich ändern oder sogar ins Gegenteil verkehren. 2. Die Kombination von Gründen ist nicht als bloße Addition zu denken.
b.
Varianz als zentrales Merkmal
Vor dem Hintergrund des Holismus erklärt Dancy die Varianz von Gründen, ausgelöst durch kontextuelle Veränderungen, zum zentralen Charakteristikum seines Partikularismus. Doch wie genau funktioniert diese Varianz? Im vorigen Abschnitt ist kurz angeklungen, dass das Grund-Sein Veränderungen unterliegen kann, ohne dass die Bezeichnung als Grund inadäquat erscheinen muss. Dancy schildert seine Position folgendermaßen: »When I talk of altering a reason, I mean to suggest not that the consideration which is a reason is altered, but that
4
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Vgl. S. 131.
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its nature as a reason changes.« 5 Man kann sich das Grund-Sein nach Dancy demnach wie ein Konglomerat von Potentialitäten vorstellen, die über eine positive und negative Bestimmung in derselben Relation zu einem neutralen Nullpunkt verfügen. Der Kontext ist verantwortlich, wie die Bestimmung letztlich ausfällt. Für Dancy ist diese Vorstellung von einem Grund so fundamental, dass er Unterschiede hinsichtlich der Anwendungsbereiche als nachgeordnet empfindet. So geht er davon aus, dass sich theoretische und praktische Gründe identisch verhalten, wobei er die Identität ihres Verhaltens aus ihrem Grund-Sein ableitet. Ähnlich geht er auch bezüglich moralischer Gründe vor, deren holistischen Charakter er aus dem der anderen Gründe folgert. So kommt er zu dem Schluss, dass eine atomare Struktur eines moralischen Grundes – wie sie von Generalisten angenommen wird – schon deshalb unplausibel ist, weil sich dann ein moralischer Grund so sehr von den anderen, holistischen Gründen unterscheiden würde, dass er seiner Natur nach nicht mehr als Grund gelten könne. Dabei ist für ihn die Möglichkeit der Veränderlichkeit das entscheidende Kriterium, unabhängig davon, ob die Veränderlichkeit auch in der Realität zu konstatieren ist. Dancy ist der Ansicht, dass ein Holismus in der Theorie der Gründe lediglich dazu verpflichtet, das zu berücksichtigen, was passieren könnte, ohne dass es tatsächlich passieren muss. 6 So ist es denkbar, dass jeder Grund veränderbar ist, auch wenn sich einige nicht verändern. Wenn sie sich nicht verändern, dann wegen ihres besonderen Gehalts, nicht wegen ihres Grund-Seins. Eine solche Invarianz wäre epistemischer Art, nicht aber konstitutiver. Es wäre nach Dancy daher eine zu hybride Konzeption von Rationalität, wollte man diese Unterschiede in den eigenen Überlegungen festhalten. Plausibler und griffiger ist es demnach, von einer Art von Gründen auszugehen. Die Grenzen dieser Konzeption sind deutlich zu sehen: Nicht nur, dass das letzte Argument pragmatischer Natur recht schwach ist; Dancy versäumt es zusätzlich, seine These der Varianz von Gründen auch unter Berücksichtigung der verschiedenen Anwendungsbereiche zu begründen. Indem er ein identisches Verhalten allein aus der Identität des Grund-Seins ableitet, immunisiert er sich gegen Argumente, die den spezifischen Charakter eines Grundes angemessen beachtet wissen wollen. Denn dies ist letztlich die zentrale Frage bei beispiels5 6
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Varianten des Partikularismus
weise moralischen Gründen, die invariant erscheinen: Tun sie dies, weil die Möglichkeit ihrer Veränderung durch ihren moralischen Gehalt blockiert ist oder weil sie gar nicht besteht? Und wie lassen sich solche ›Blockaden‹ noch von der generalistischen Konzeption unterscheiden, die besagt, dass gewisse deskriptive Tatsachen eine bestimmte Normativität fixieren? Hier ist ein Punkt angesprochen, der bei der weiteren Beschäftigung mit Supervenienz noch näher ausgeführt wird.
c.
Umgang mit Supervenienz
Der Begriff ›Supervenienz‹ zielt auf das Verhältnis zwischen zwei Arten von Eigenschaften ab. Insbesondere ist die Frage von Interesse, ob eine Art von Eigenschaften nur bei Präsenz der anderen auftritt. Innerhalb der Moralphilosophie stellt sich Supervenienz so dar, dass eine Fixierung von moralischen Eigenschaften durch deskriptive angenommen wird. Das besagt, dass deskriptiv identische Situationen auch normativ identisch sind. So wird das Auftreten und/oder Verursachen von Schmerz gemeinhin als Merkmal einer schlechten moralischen Eigenschaft eingeordnet, während ein Lustgefühl positiv konnotiert ist. Supervenienz ist ein Merkmal generalistischer Moralkonzeptionen, schließlich ist ein prognostizierbares Verhältnis der beiden Ebenen notwendig für die Allgemeinheit und Zuverlässigkeit moralischer Prinzipien. Ein Generalist muss von der Möglichkeit einer Ähnlichkeit und Vergleichbarkeit auf der einen Ebene ausgehen, die dann natürlich dieselben Bewertungen auf der anderen Ebene zur Folge hat. Doch wie verhält sich ein Partikularist zur Supervenienz? Dancy hält seinen Partikularismus grundsätzlich für vereinbar mit Supervenienz. Allerdings unterscheidet er zwischen Supervenienz und »resultance« 7 . Mit »resultance« bezeichnet er ein Verhältnis zwischen zwei Ebenen, das notwendigerweise besteht, wenn von einer Eigenschaft der einen Ebene eine entsprechende auf der anderen Ebene folgt. 8 Es ist ein in genau einer determinierten Form bestehendes Kausalverhältnis. Für Dancy besteht ein zentrales Missverständnis in der
Da eine Übersetzung von »resultance« mit »Resultat«, »Ergebnis« oder »Schlussfolgerung« missverständlich wäre, belasse ich es bei dem Originalausdruck. 8 Vgl. Dancy (1993), S. 73. 7
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Ontologischer Partikularismus
Debatte zwischen Partikularisten und Generalisten darin, dass Generalisten »resultance« in der eben vorgestellten Form meinen, wenn sie von Supervenienz sprechen. Im Gegensatz zu »resultance« begründet Supervenienz nach Dancy aber ein Konzept, das tatsächlich definiert werden kann und zwar wie folgt: Eine Eigenschaft P superveniert über Eigenschaften der Klasse C nur im folgenden Fall: Wenn ein Objekt die Eigenschaft P hat und einige Eigenschaften der Klasse C, dann besitzt ein anderes Objekt mit exakt denselben Eigenschaften der Klasse C auch die Eigenschaft P in derselben Art und Weise und Intensität. 9 Diese Definition von Supervenienz erscheint auf dem ersten Blick nicht verschieden von der Erklärung von »resultance«, doch Dancy äußert sich dazu noch explizit. Er sieht zwei grundlegende Unterschiede. Der erste besteht darin, dass Supervenienz nicht den Einzelfall berücksichtigt. 10 Supervenienz bezieht sich abstrakt auf eine Klasse von Eigenschaften, die gerade präsent sind – vorige Situationen werden in keinerlei Weise in die Überlegungen einbezogen. Der zweite Unterschied hat mit einer unterstellten Identitätsbeziehung der beiden Ebenen zu tun, die aber nur im Falle eines Konzepts von »resultance« angenommen wird, nicht aber bei der Supervenienz. 11 Da sich Dancys Vorwürfe an den Generalismus auf die Ableitung von moralischen Prinzipien aus Einzelfällen und einer konstituierenden Beziehung zwischen der deskriptiven und moralischen Ebene beziehen, ist es nun plausibel, warum er den Partikularismus mit Supervenienz vereinbart sehen kann, nicht aber die Konzeption von »resultance«. Er kann zwar eine große Ähnlichkeit beider Konzeptionen nicht leugnen, verortet die sich daraus ergebende Schnittmenge aber ausschließlich epistemisch, was nicht seine Ebene der Auseinandersetzung ist. Letztlich ist Supervenienz im moralischen Diskurs für ihn uninteressant, da sie seiner Meinung nach nicht mehr als Trivialität enthält und die zentralen Punkte der Debatte sich an den Voraussetzungen einer generalistischen Auffassung von »resultance« entzünden. 12
Ebd., S. 77. Vgl. ebd., S. 78. 11 Ebd. 12 Vgl. ebd., S. 79. 9
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Varianten des Partikularismus
d.
Ablehnung von Universalität
Zu Dancys ontologischem Partikularismus gehört auch die Ablehnung von Universalität, die Hare vertritt. Diese Spezifizierung ist notwendig, da es unterschiedliche Definitionen von Universalität gibt, die miteinander oder mit den Begriffen ›Generalismus‹ und ›Unparteilichkeit‹ verwechselt werden können. Hares Auffassung von Universalität besagt, dass die Formulierung moralischer Prinzipien mit einem Allquantor beginnt. 13 Universalität ist demnach ein formales, logisches Kriterium, das auf singuläre Termini wie Eigennamen, Bezugsobjekte und Raum-Zeit-Determinanten verzichtet. Das Gegenteil von Universalität ist also Singularität, nicht Spezifität. 14 Diese steht nämlich im Widerspruch zur Allgemeinheit, die – anders als Universalität – ein komparativer Begriff ist. 15 Dennoch gibt es einen starken Zusammenhang von Universalität und Generalismus, da letzterem das basalste Universalisierungskriterium inhärent ist, das besagt, dass auf Situationen, die in relevanten Eigenschaften übereinstimmen, dasselbe Prinzip anzuwenden sei. 16 Wenn sich Dancy gegen die Universalität à la Hare wendet, zielt sein zentraler Vorwurf gegen das Konzept der ›relevanten Ähnlichkeit‹ von Situationen, die dann gegeben ist, wenn alle Eigenschaften geteilt werden, die Gründe für das Ursprungsurteil des Akteurs waren. Das Problem dieses Konzepts sei nämlich, dass ein Universalist bei der Verteidigung der ›relevanten Ähnlichkeit‹ seine Argumentationsbasis stetig erweitern und damit zwangsläufig unterhöhlen müsse. Eine solche Erweiterung finde jedes Mal statt, wenn der Universalist eine Ähnlichkeit dadurch erzeuge, dass er auch fehlende Gegengründe oder überhaupt abwesende Eigenschaften mitberücksichtigt. Dancy hält diese Verteidigungsstrategie nicht per se für unmöglich, sondern lediglich für sehr schwach. Für problematisch hält er auch die Motivation eines Universalisten, die er in dem Festhalten am ›Subsumtionsmodell von Rationalität‹ verankert sieht. Er argumentiert nicht gegen das Erfordernis von
13 14 15 16
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Vgl. Hare (1989), S. 52. Vgl. Hare (1992), S. 88. Vgl. Gesang (2000), S. 9. Vgl. ebd., S. 9 f.
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Gründen und Rationalität, sondern gegen die herrschende Auffassung von Rationalität als einer Unterordnung von Einzelfällen unter generelle moralische Prinzipien, die der komplexen Realität nicht gerecht werde. 17 Neben der Rigorosität und der Prognostizierbarkeit beanstandet er die Externalität dieses Ansatzes, der einem Außenseiter ohne eigenes Regelverständnis ihre Weitergabe ermögliche. 18 Stattdessen sei es notwendig, die »natural shapelessness« von Moral anzuerkennen, so dass der Versuch, moralisch relevante Eigenschaften vom Kontext zu isolieren, aufgegeben werden müsse. Moralisch relevante Eigenschaften seien vielmehr nur in ihrem Kontext adäquat zu erfassen. Der gerade ausgeführte Vorbehalt gegenüber der universalistischen Motivation scheint der zentrale Beweggrund Dancys in seiner Kritik an Hare zu sein. Sein Widerstand gegen dessen Verständnis von Universalisierung hält jedenfalls einer genauen Prüfung nicht stand, wie Jörg Schroth in seiner Untersuchung zur Universalisierbarkeit moralischer Urteile feststellen musste. 19
2.
Epistemologischer Partikularismus
a.
Gegen welche Prinzipien richtet sich dieser Partikularismus?
Der Partikularismus der Prinzipien ist in erster Linie epistemologisch ausgerichtet, da weniger die Existenz als vielmehr die Funktion von generellen Prinzipien im moralischen Deliberationsprozess einer starken Kritik unterzogen wird. Es wird moralischen Prinzipien zwar eine pädagogische und heuristische Bedeutung zugestanden, 20 nicht aber eine handlungsanleitende Funktion. Bevor ich die Kritik näher ausführe, möchte ich zunächst eine knappe ›Phänomenologie der Prinzipien‹ geben, um im anschließenden Abschnitt genauer unterscheiden
Vgl. ebd., S. 82. Vgl. ebd., S. 84. 19 Vgl. Schroth (2001). In § 7 prüft Schroth den Universalisierungsvorwurf Dancys gegenüber Hare und kommt zu dem Ergebnis, dass Dancy Hare ein zu starke Variante von Universalisierung unterstellt. Diese Fehlinterpretation ist allerdings durch Hares eigenen schwankenden Sprachgebrauch begünstigt worden. 20 Vgl. Little (2 2003), S. 295. 17 18
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zu können, mit welcher Art von Generalisierungen auch Partikularisten konform gehen. 21 Prinzipien, Normen, Regeln Häufig wird die partikularistische Position für ›Prinzipien‹, ›Normen‹ und ›Regeln‹ gleichermaßen formuliert. So gehen beispielsweise David McNaughton und Piers Rawling von »weak moral principles« 22 aus, wo die Redeweise von ›Normen‹ vielleicht angemessener wäre. Der häufige Hinweis auf »rules« wiederum verdankt sich Wittgenstein, der mit seinen ›Regelfolgen‹ wichtige Impulse für Partikularisten geliefert hat. Grundsätzlich fallen die Unterschiede nicht stark ins Gewicht, da die partikularistische Pointe dieselbe bleibt und man auch dann noch mit partikularistischen Argumenten strukturell arbeiten kann, wenn man die genannte Differenzierung außer Acht lässt – allerdings muss die Kritik bisweilen als verfehlt zurückgewiesen werden. So ist es problematisch mit dem Verweis auf ›Regelfolgen‹, die von Wittgenstein auf jeglichen Bereich der menschlichen Praxis zutreffen (nicht exklusiv auf die moralische Sphäre), höherstufige moralische Normen oder oberste moralische Prinzipien anzugreifen. Im Rahmen dieser Vorstellung des epistemologischen Partikularismus soll jetzt in erster Linie von Prinzipien die Rede sein, da an ihnen die partikularistische Kritik am deutlichsten zutage tritt. Dabei verstehe ich unter Prinzipien entweder formale Prinzipien, die zur Beurteilung einzelner Normen herangezogen werden können, wie die Goldene Regel oder der Kategorische Imperativ oder oberste inhaltliche Prinzipien wie die Prinzipien der Gerechtigkeit bei John Rawls. Als Normen hingegen sind mehr oder weniger stark generalisierte Handlungsanweisungen zu verstehen, die als Basis für Urteile fungieren. Regeln wiederum sind ebenfalls Handlungsanweisungen, wobei sie in zweierlei Hinsicht von Normen und Prinzipien verschieden sind: Zum einen sind sie weniger spezifisch auf den moralischen Bereich hin konzipiert, so gibt es auch Verkehrsregeln, Benimmregeln etc. Zum anderen sind Regeln positiv gesetzt, während Normen und in noch höherem Maße Prinzipien einer stärkeren Begründung bedürfen.
Bei der folgenden ›Phänomenologie der Prinzipien‹ waren insbesondere die Ausführungen von Ulrik Kihlbom aufschlussreich. Vgl. Kihlbom (2002), S. 29–37. 22 Vgl. McNaughton/Rawling (2 2003), S. 271. 21
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Strikte moralische Prinzipien Die bereits erwähnten formalen Prinzipien (Goldene Regel, Kategorischer Imperativ etc.) wie auch oberste inhaltliche Prinzipien (z. B. Gerechtigkeit bei Rawls) zählen zu den strikten, moralischen Prinzipien, die eine Gesetzmäßigkeit in der Beurteilung moralischer Handlungen begründen. Demnach fungiert ein striktes moralisches Prinzip als eine Art Lackmuspapier, das je nach Befolgung oder Zuwiderhandlung den moralischen bzw. unmoralischen Gehalt der Handlung anzeigt. Strikte moralische Prinzipien weisen aufgrund ihres gesetzmäßigen Charakters die Merkmale der a) Ausnahmslosigkeit und b) der Prognostizierbarkeit auf. Ferner beanspruchen sie für sich, moralische Ansprüche und Forderungen zu formulieren, so dass man von einer c) Kodifikation von Moral auf der Grundlage von Prinzipien sprechen kann. Diese drei Charakteristika sind es auch, die im Zentrum der partikularistischen Kritik stehen. Ceteris-Paribus-Prinzipien Prinzipien, die mit einer ceteris-paribus-Klausel versehen sind, erfahren durch einen einschränkenden Nachsatz (»es sei denn, …«) eine Schwächung ihrer Formulierung. Diese ›Schwächung‹ entkräftet das Merkmal der Ausnahmslosigkeit von strikten moralischen Prinzipien, wodurch nur noch eine vorläufige Verpflichtung (im Gegensatz zu einer endgültigen) begründet wird. Dieses Charakteristikum bringt Reiner Wimmer auf den Punkt: »Die Klausel macht also Ausnahmen möglich, indem sie offen lässt, ob der im Vordersatz des Prinzips erfasste Sachverhalt eine für den Nachsatz hinreichende Bedingung formuliert.« 23 Da das Prinzip also bis zur Klärung des Sachverhalts nur dem ersten Anschein nach gültig ist, werden die Begriffe ›ceteris paribus‹ und ›prima facie‹ in der Regel synonym gebraucht, wenn auch die Verwendung von ›prima facie‹ meist im Kontext der Ethik von Ross geschieht. Ross stellt insofern eine interessante Figur dar, als sein Status innerhalb der Kategorien Generalismus bzw. Partikularismus umstritten ist. Während Kihlbom ihn dem Lager der Generalisten zurechnet, ordnet ihn Holton als einen Partikularisten ein. Da die einschränkende Funktion einer ceteris-paribus-Klausel bzw. die schwächere Geltung eines prima-facie-Prinzips lediglich eines der drei angeführten Kennzeichen von strikten moralischen Prinzipien, die Aus23
Wimmer (1980), S. 302. A
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nahmslosigkeit, betrifft, spricht m. E. mehr dafür, ihn als einen Generalisten zu bezeichnen, der allerdings eine Pluralität von Prinzipien konzediert. Pro-tanto-Prinzipien Eng verbunden mit der ceteris-paribus-Klausel bzw. den prima-faciePrinzipien sind pro-tanto-Prinzipien, die nicht selten mit ihnen verwechselt werden. Der Grund dafür ist in ihrer ebenfalls einschränkenden Wirkung hinsichtlich der Ausnahmslosigkeit von strikten moralischen Prinzipien zu sehen. Auch pro-tanto-Prinzipien führen einen Nachsatz bei sich (»soweit-es-zutrifft«), der aber nur dann Geltung entfaltet, wenn das moralische Prinzip in einer Situation relevant ist, ohne dass andere Prinzipien eine Rolle spielen. Pro-tanto-Prinzipien sind also nur in moralisch einfachen Situationen von Bedeutung, 24 anders als prima-facie-Pflichten, die bei moralischen Konflikten wichtig sind.
b.
Zulässige Generalisierungen
Generalisten zeichnen häufig ein Bild von Partikularisten, das sie als willkürlich agierende, nicht vertrauenswürdige und letztlich moralisch dubiose Menschen diskreditieren soll. So führt beispielsweise Brad Hooker aus: »In so far as they reject general moral principles, particularists leave us unable to form confident expectations about what they will do.« 25 Dieser Vorwurf ist allerdings überzogen, da moderate Partikularisten durchaus einige moralische Generalisierungen im Alltagsleben akzeptieren, ohne ihnen allerdings einen Prinzipiencharakter zugestehen zu wollen. Ulrik Kihlbom listet etwa traditionelle moralische Kanons und moralische Vorschriften als akzeptable Generalisierungen auf, 26 wobei er sie keineswegs absolut im Sinne von Ausnahmslosigkeit verstanden wissen möchte. Er hält sie im moralischen Lern- und Rechtfertigungsprozess für nützlich, ohne seine partikularistische Position aufgeben zu wollen. Ähnlich argumentiert auch Richard Holton, der seinen Prinzipienpartikularismus nur hinsichtlich der »investigative«, 24 25 26
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Vgl. Kihlbom (2002), S. 36. Hooker (2 2003), S. 22. Vgl. Kihlbom (2002), S. 38.
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der aufspürenden und handlungsanleitenden Funktion von Prinzipien formuliert, ihn aber nicht auf ihre »justificatory«, die rechtfertigende Bedeutung ausdehnt. 27 Das möglicherweise Irritationen auslösende partikularistische Zugeständnis einer rechtfertigenden Funktion von Prinzipien ist insofern nachvollziehbar, als moderate Partikularisten auf Prinzipien basierende moralische Urteile ex post durchaus gelten lassen. Jay Garfield gehört beispielsweise zu dieser Gruppe, indem er moralische Regeln in der Moralpädagogik und im kritischen Reflexionsprozess als relevant anerkennt, da sie in der Lage sind, auf das ›Typische‹ hinzuweisen, was insbesondere bei der Bildung eines moralischen Urteilsvermögens durchaus Orientierung geben könne. 28 Allerdings betont er dabei die Signifikanz einer gemeinsamen Lebenswelt, denn nur ›dieselbe bewohnte Welt‹ (hier verweist er auf Wittgenstein und Heidegger) halte Orientierung bereit. An dieser Stelle geht der Prinzipienpartikularismus in einen Kommunitarismus über, mit dem auch David McNaughton sympathisiert, wenn er lediglich Prinzipien gelten lässt, derer sich Leute im Alltag bedienen. 29 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Partikularisten Generalisierungen gelten lassen, die nicht a) ausnahmslos, b) prognostizierbar und c) kodifizierbar sind. Die im letzten Abschnitt vorgenommene Unterscheidung von Prinzipien (strikte Prinzipien, ceteris-paribus-Prinzipien, pro-tantoPrinzipien) hat deutlich gemacht, dass keinesfalls alle Merkmale erfüllt sein müssen, um eine Provokation für Partikularisten zu sein, denn auch die ›schwächeren‹ Prinzipien bieten noch genügend Angriffsfläche.
c.
Kritik an der Prinzipienethik
Die Kritik von Partikularisten an der Prinzipienethik lässt sich in drei zentrale Vorwürfe zusammenfassen: a) Ausnahmslosigkeit, b) Prognostizierbarkeit und c) Kodifikation von Moral. Im Rahmen des Vorwurfs der Ausnahmslosigkeit wird insbesondere die Rigorosität von Prinzipien angegriffen, die in manchen Fällen zu absurden moralischen
27 28 29
Vgl. Holton (2002), S. 196. Garfield (2 2003), S. 200. McNaughton (2003), S. 236. A
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Handlungen nötige. 30 Ferner wird die Gesetzmäßigkeit von Prinzipien angekreidet, die zugleich auch die Voraussetzung für die Prognostizierbarkeit ist. Der heftigste Widerspruch wird allerdings angesichts der prinzipienethischen Ambition erhoben, mit der Formulierung von Prinzipien Moral zu kodifizieren. Ausnahmslose Prinzipien stellen die strengste Ausbuchstabierung des generalistischen Anspruchs dar. Anders als die ceteris-paribusPrinzipien oder pro-tanto-Prinzipien zeichnen sich ausnahmslose moralische Prinzipien dadurch aus, dass sie keinerlei Einschränkung durch nachfolgende Klauseln zulassen, weshalb sie in den Augen von Partikularisten Ausdruck einer dogmatischen Haltung sind, die der moralischen Praxis gänzlich unangemessen ist. Der Vorwurf der Prognostizierbarkeit muss vor dem Hintergrund der Beziehung zwischen nicht-moralischen und moralischen Eigenschaften eingeordnet werden. Wird bestimmten nicht-moralischen Eigenschaften eine Art ›Fixierungspotential‹ in Bezug auf moralische Eigenschaften zugeschrieben, wie es durch Prinzipien geschieht, geht damit einher, dass bereits vor einer Handlung ein moralisches Urteil ausgesprochen werden kann (sofern es nicht im Moment der Handlung zu unabsehbaren Hindernissen und Veränderungen kommt). Gegen diese Prognostizierbarkeit wehren sich Partikularisten, indem sie bestreiten, dass man bereits vor der Ausführung der Handlung absehen könne, ob irgendeine nicht-moralische Eigenschaft überhaupt moralisch relevant sein wird und, wenn es so ist, ob sie für oder gegen die Handlung sprechen wird. 31 Zwar könne man moralische Urteile fällen, allerdings nur im Nachhinein. Erst ex post könne man feststellen, ob die betreffende Handlung unter einen Typus falle und ob dementsprechend auf eine Generalisierung zur Beurteilung zurückgegriffen werden könne. Aus diesem Grunde räumen Partikularisten Prinzipien zwar eine mögliche rechtfertigende Funktion ein, nicht aber eine handlungsanleitende. Die erhobene Kritik an der Ausnahmslosigkeit und Prognostizierbarkeit enthält bereits gewichtige Einwände, doch der Vorwurf der als problematisch eingeschätzten Kodifikation von Moral zielt geradezu in das Herz der Prinzipienethik. Bei dem Angriff auf die Kodifikation geht es weniger um den Akt der Formulierung und Begründung von 30 31
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In diesem Zusammenhang wird gerne auf Kants Lügenverbot hingewiesen. Vgl. McNaughton (2003), S. 227.
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Prinzipien als vielmehr um den damit erhobenen Rationalitätsanspruch. Demnach liegt dem generalistischen Bestreben, die Komplexität praktizierter Moralität mit Hilfe von moralischen Prinzipien systematisieren zu wollen, eine Fehleinschätzung zugrunde. Moralische Prinzipien seien nämlich bisweilen sogar ein Hindernis bei der Erfassung einer Situation, da sie den Kontext mit ihrer eindimensionalen Ausrichtung häufig reduzieren. 32 Aus diesem Grunde wehren sich auch Partikularisten gegen die Annahme, dass Moral nur dann rational sei, wenn sie auf einem System von Prinzipien basiere. Weder die Theoretisierung, noch die Konsistenz oder Vollständigkeit moralischen Handelns seien essentiell, um von Moralität sprechen zu können. 33
32 33
Vgl. McNaughton (2003), S. 223. Vgl. Clarke/Simpson (1989), S. 2 f. A
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Teil II
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IV. Die Exaktheit von Ethik
Zu der partikularistischen Position in Bezug auf Aristoteles gehört die Betonung der Unexaktheit von Ethik aufgrund ihres veränderlichen, nicht fixierten, unbestimmten Charakters. Dieser wird letztlich darauf zurückgeführt, dass sich Ethik im Handeln äußert, was stets in einer konkreten, einzelnen Situation geschieht. Da Partikularisten sich für eine Priorität der Wahrnehmung in einzelnen Handlungssituationen gegenüber der Anwendung allgemeiner Prinzipien aussprechen und es nach Aristoteles vom Einzelnen keine Wissenschaft geben könne, kommen sie schließlich zu dem Schluss, dass der dominantere Teil der Ethik einer wissenschaftlichen Erörterung entzogen sei. Die Ethik als Wissenschaft sei somit in substantieller Weise unexakt. Exaktheit (akribeia) ist bei Aristoteles ein Merkmal von Wissenschaftlichkeit, das allerdings je nach Wissenschaft differieren kann. Mit Hilfe dreier Kriterien von Genauigkeit gebe ich im ersten Unterkapitel einen Überblick über das aristotelische Wissenschaftssystem, um anschließend die Ethik besser darin verorten zu können. Im Vergleich zu theoretischen Wissenschaften wird in der Tat ein geringerer Exaktheitsgrad der Ethik zu konzedieren sein. Dieser Unterschied sollte allerdings nicht als Aufgabe jeglicher Exaktheit in der Ethik missverstanden werden. Stattdessen ist vielmehr die Frage zu verfolgen, wie viel Exaktheit möglich ist. Diesem Erkenntnisinteresse widme ich mich im zweiten Unterkapitel, indem ich die zwei charakteristischen Wissensformen der Ethik, das ›Grundrisswissen‹ und das ›Zumeistwissen‹, sowie die von Aristoteles selbst verwendeten Methoden untersuche.
1.
Exaktheit und Wissenschaftlichkeit
Es überrascht, dass der Begriff akribeia, den ich im Folgenden mit »Exaktheit« wiedergeben möchte, von Aristoteles selbst in einer un58
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exakten Weise verwendet worden ist. 1 Zum einen versieht er zahlreiche verschiedene Dinge mit diesem Attribut, wie ein Blick in den Index von Bonitz zeigt: In der Auflistung finden sich Sinne, Intellekt, Maßeinheiten, Definitionen und Argumente. 2 Zum anderen lassen sich zwei Formen von Exaktheit unterscheiden, nämlich eine epistemische Exaktheit und eine ontologische Exaktheit, auf die ich noch später im Abschnitt ausführlich eingehen werde. 3 Die Vielfalt in der Verwendung spiegelt sich in den potentiellen Bedeutungen wider: Barnes weist darauf hin, dass man an manchen Stellen bei akribeia von »Sicherheit« sprechen könne, an anderen von »Strenge« oder an einigen von »Präzision«. 4 Auch »Klarheit«, »Genauigkeit« oder eben »Exaktheit« sind als Übersetzungen denkbar. Ursprünglich stammt der Begriff akribeia aus der Sprache des Handwerks, wo er den festen ›Sitz‹ eines Gegenstandes bezeichnet hat. 5 Schnell hat er auch in der Sprache des Gerichts Eingang gefunden; dort bekam er allerdings bald den negativen Beigeschmack von Pedanterie. Das Ideal des exakten Wissens hatte dagegen länger Bestand; insbesondere Platons Philosophie galt dafür als Paradigma. Er fasste die Idee des Guten sowohl als Erkenntnisquelle und Seinsquelle auf und vertrat dementsprechend die Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft. Damit verfügte er über ein einheitliches Kriterium für Exaktheit. 6 Aristoteles hingegen zog eine Trennlinie zwischen Theorie und Praxis und propagierte auf diese Weise einen epistemischen Pluralismus, der sich in seiner Einteilung der Einzelwissenschaften widerspiegelt. So nimmt Aristoteles in Metaphysik VI 1 und XI 7 eine Unterteilung der Wissenschaft in drei Gattungen vor, nämlich auf a) Betrachtung (theôria), b) Herstellung (poiêsis) und c) Handlung (praxis) ausgerichtete (Einzel-)Wissenschaften. Das Kriterium zur Unterteilung der drei Wissenschaftsgattungen ist ihr spezifisches Ziel (telos): Während die theoretischen Wissenschaften die Wahrheit zum Ziel haben, sind die beiden anderen Wissenschaften auf das Werk (ergon) ausgerichtet (Metaph. VI 1, 993b19–21), wobei sie sich nochmal darin unterscheiden, ob das Ziel außerhalb ihrer Tätigkeit liegt, wie es bei den 1 2 3 4 5 6
Vgl. Anagnostopoulos (1994), S. 2. Vgl. Bonitz (2 1955), s. v. akribeia. Anagnostopoulos spricht stattdessen von einer formalen und materialen Exaktheit. Vgl. Barnes (2 1994), S. 189 in seiner Ausgabe der APo. Zur Geschichte des Begriffs und seinem Wandel: vgl. Kurz (1970), S. 151. Vgl. Kullmann (1998), S. 44 f. A
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Die Exaktheit von Ethik
herstellenden Wissenschaften der Fall ist oder ob es innerhalb der Tätigkeit bereits vollzogen wird wie bei den auf Handlung ausgerichteten Wissenschaften. In Metaph. VI 1 wird aber noch ein anderer Maßstab für die Einteilung angeführt: Die Würdigkeit des jeweiligen Gegenstands (1026a20–22). Während das spezifische Ziel der Wissenschaften die Unterteilung in drei Gattungen begründet hat, erlaubt diejenige nach dem Wissenschaftsgegenstand auch eine innerhalb der Gattungen: Die theoretischen Wissenschaften sind in Theologie, Mathematik und Physik aufzufächern (Metaph. VI 1, 1026a19), die praktischen in Ethik und Politik, die poietischen in Kunst, Rhetorik, Ackerbau etc. 7 Die genannten Wissenschaften können wiederum in Disziplinen unterteilt werden, z. B. die Mathematik in Geometrie, Arithmetik usw. Die theoretischen Wissenschaften sind den praktischen und poietischen vorgeordnet wie folgender Stelle zu entnehmen ist: »Nun haben die betrachtenden Wissenschaften den Vorzug vor den anderen, und diese (die Theologie) wieder unter den betrachtenden« (Metaph. VI 1, 1026a22 f.). Offenbar ermöglicht die Würdigkeit des Gegenstandes die Hierarchisierung der Wissenschaften. Nun stellt sich die Frage, welche Auswirkungen diese Systematisierung auf den Exaktheitsgrad der Einzelwissenschaften hat: Besteht ein Zusammenhang zwischen dem Status einer Wissenschaft und dem Ausmaß ihrer Exaktheit? Am besten lässt sich diese Frage mit Hilfe folgender Stelle in der Analytica Posteriora I 27 klären: »Genauer ist eine Wissenschaft gegenüber einer anderen Wissenschaft, und vorrangig, die sich sowohl auf das Daß als auch auf das Weshalb als dieselbe richtet und nicht auf das Daß, getrennt von der auf das Weshalb gerichteten; und die nicht von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird, gegenüber der von einem Zugrundeliegenden, wie etwa die Arithmetik gegenüber der Harmonik; und die von weniger Dingen abhängt, gegenüber der von einem Zusatz abhängenden, wie etwa gegenüber der Geometrie die Arithmetik.« (87a31–36)
Drei komparative Kriterien für Genauigkeit klingen hier an: 8 1) Eine Wissenschaft ist dann genauer, wenn sie nicht nur tatsachenorientiert ist, sondern auch die Ursachen zum Inhalt hat, sprich: wenn sie möglichst vollständig in ihrer Erklärungskraft ist. Diese Form der Exaktheit Einen guten, auch graphischen, Überblick gewährt: Barnes (1992), Kapitel 6. Vgl. auch die Erläuterungen von Wolfgang Detel zu diesem Kapitel, in seiner Ausgabe der APo.: Detel (1993), S. 459–464.
7 8
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ist epistemischer Art. 2) Eine Wissenschaft ist dann genauer, wenn sie einer anderen Wissenschaft als epistemische Basis vorgeordnet ist, indem letztere z. B. auf Erkenntnisse der ersteren in ihrer eigenen Methodik zurückgreift. Zu einem solchen Rückgriff kommt es vor allem bei angewandten Wissenschaften, die über eine komplexere Struktur verfügen, so dass hier sowohl epistemische als auch ontologische Überlegungen eine Rolle spielen. 3) Ferner verfügt eine Wissenschaft über mehr Genauigkeit, wenn ihr Gegenstandsbereich möglichst wenig komplex ist; diese Form der Exaktheit ist ontologischer Art. Alternativ lassen sich die epistemische und ontologische Exaktheit auch als formale und materielle Exaktheit benennen wie es Anagnostopoulos getan hat. 9 Formale Exaktheit bezeichnet demnach den Grad an Genauigkeit, den die Methodik (z. B. Klassifizierungen, Erklärungen, Beweise) einer Disziplin bereithält, während materielle Exaktheit den Grad an Exaktheit abhängig vom Gegenstand der Disziplin festlegt. 10 Für das bessere Verständnis des ersten Kriteriums ist die »epistemische Stufenleiter« 11 , die Aristoteles in Metaphysik I 1 konzipiert, hilfreich: Ausgehend von der Sinneswahrnehmung über das dazukommende Erinnerungsvermögen stellt die nachfolgende Erfahrung (empeiria) bereits eine Annäherung an das Wissen dar, das die höchste epistemische Qualität besitzt. 12 Aufschlussreich ist nun der Unterschied zwischen Personen, die über Erfahrung bzw. Wissen verfügen; während die Erfahrenen nur das »Dass« (to hoti) kennen, ist den Wissenden auch das »Warum« (dihoti) bekannt. Mit dem »Dass« sind Fakten, Symptome, Phänomene gemeint, die mittels Wahrnehmung bzw. Induktion (epagôgê) gesichert werden. Das »Warum« impliziert Ursachenwissen, das durch Demonstrationen (apodeixis) ausgedrückt wird. In I 2 der Analytica Posteriora gilt nur die letztere Kenntnis als Wissen. Diese ausschließlich anmutende Aussage wird in I 13 insofern relativiert, als dort Aristoteles vom »Wissen des Dass« und vom »Wissen des Warum« schreibt. Der Wissensbegriff erfährt also eine Erweiterung, wenn auch nach wie vor nach der Intensität der Erklärungskraft unterschieden wird. Diese Ausweitung kann darauf zurückVgl. Anagnostopoulos (1994), S. 102. Vgl. ebd., S. 122. 11 Rapp (2001), S. 132. 12 Im Original wird der Begriff der technê (Herstellungswissen, Kunst) benutzt; der Kontext stellt allerdings klar, dass hier eine synonyme Verwendung von technê und epistêmê vorliegt. 9
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geführt werden, dass Aristoteles anerkannt hat, dass bereits die Feststellung von Fakten schwierig ist, bestimmter methodischer Hinweise bedarf und sich nicht in einer unorganisierten Anhäufung von Beobachtungen erschöpft.13 Der Grund für die größere Erklärungskraft des Ursachenwissens – und damit auch für die größere Genauigkeit – liegt darin, dass das Tatsachenwissen des hoti prinzipiell fallibel ist und nur solange Gültigkeit besitzt, wie es kein Gegenbeispiel gibt. Beim Ursachenwissen hingegen ist ein Irrtum aufgrund der für die Demonstration charakteristischen Beschränkung auf wahre, unvermittelte Prämissen ausgeschlossen. Ferner unterscheidet sich die apodeixis von anderen logisch gültigen Deduktionen (syllogismos) dadurch, dass sie in ihren Prämissen die Ursache für die in der Konklusion ermittelte Tatsache anführt, was ihre Erklärungskraft sicherstellt. John Ackrill spricht in diesem Kontext vom »schwachen« Wissen des »Dass« und vom »starken« Wissen des »Warum«. 14 Die Unterscheidung vom Wissen des »Dass« und dem Wissen des »Warum« ist auch für das Verständnis des zweiten Kriteriums bedeutsam: Sind diese zwei Arten des Wissens auf verschiedene Wissenschaften verteilt, so ist diejenige genauer und der anderen vorgeordnet, die sich mit dem Wissen des »Warum« auseinandersetzt. Dies hat nicht allein mit der stärkeren epistemischen Erklärungskraft des Ursachenwissens zu tun; es kommt noch eine wichtige ontologische Komponente hinzu. Am Beispiel von Arithmetik und Harmonik lässt sich diese Verflechtung gut darstellen: 15 Nach Aristoteles ist Arithmetik reine Mathematik während Harmonik angewandte Mathematik ist, weil sich erstere abstrakt mittels der Zahl mit Verhältnissen beschäftigt, während letztere die Verhältnisse der Töne zum Inhalt hat. Der Harmonik liegt die stoffliche Dimension der Töne zugrunde, während die Arithmetik durch ihren abstrakten Zugang ›unbelasteter‹ ist. Die Arithmetik und die Harmonik sind in gewisser Weise auf denselben Gegenstand (Verhältnislehre) bezogen, doch das ›ontologische Surplus‹ der Harmonik weist ihr ›nur‹ die Sphäre des sinnlich Erfahrbaren und das entsprechende Wissen des »Dass« zu. Beim zweiten Kriterium ist bereits implizit die zentrale These anVgl. Detel (1993), S. 282. Vgl. Ackrill (1985), S. 149 f. 15 Bei den nachfolgenden Erläuterungen zum Beispiel Arithmetik-Harmonik habe ich von der Kommentierung von W. Detel zu Apo. I 13 profitieren können. 13 14
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geklungen, die beim dritten Kriterium zum Tragen kommt: Je weniger Zusätze eine Wissenschaft aufweist, d. h. je einfacher ihr Gegenstandsbereich ontologisch strukturiert ist, desto genauer ist sie. Auch hier lohnt ein Blick auf das Beispiel von Arithmetik und Geometrie: Anders als die Arithmetik weist die Geometrie eine zusätzliche Komplexität auf, indem räumliche Positionen und Dimensionen zu ihrem Gegenstandsbereich gehören. 16 Dem dritten Kriterium ist noch eine andere wichtige Erkenntnis zu entnehmen, nämlich dass die ontologische Struktur eines Wissensgegenstands die epistemische Qualität der jeweiligen Wissenschaft bestimmt. Je einfacher die ontologische Struktur ausfällt, desto allgemeiner und aussagekräftiger ist auch das Wissen: je ontologisch reduzierter, desto epistemisch konzentrierter. Zugleich geht mit der Entwicklung zu mehr Reduktion und Konzentration eine größere Genauigkeit einher – was auf den ersten Blick sogar kontraintuitiv wirken mag, da Genauigkeit häufig mit Komplexität und Differenziertheit assoziiert wird. Genauigkeit wird also nicht durch Erklärungsdiversität erlangt, sondern durch Erklärungsintensität. Das jeweilige Optimum an potentieller Genauigkeit ist in jeder Einzelwissenschaft durch ihren Gegenstand festgelegt, was sich im »Prinzip der gegenstandsgerechten Genauigkeit« 17 niederschlägt. Exemplarisch dazu heißt es in der Nikomachischen Ethik: »Unsere Ausführungen werden dann ausreichen, wenn ihre Klarheit und Bestimmtheit dem vorliegenden Stoff entspricht; denn man darf nicht bei allen Erörterungen denselben Grad von Genauigkeit suchen, sowenig wie bei handwerklichen Produkten.« (I 1, 1094b11–14)
Die Mahnung von Aristoteles, nicht einen einheitlichen Maßstab von Genauigkeit allen Untersuchungen von Einzelwissenschaften zugrunde zu legen, wird von einigen Interpreten 18 so verstanden, dass sich Aristoteles damit von einer ›Wissenschaftshierarchie‹ distanziert habe. Indem jede Einzelwissenschaft über ihre eigenen Prinzipien verfüge und damit epistemisch selbständig sei, gelte der jeweilige Maßstab von Genauigkeit nur innerhalb der Einzelwissenschaft – ein Vergleich mit anderen Wissenschaften nach Maßgabe der Genauigkeit sei damit der Boden entzogen. 19 Auch wenn diese Argumentation prima facie 16 17 18 19
Vgl. ebd. Höffe (1995), S. 21. Vgl. Höffe (2 1996), S. 104; Kullmann (1998), S. 46. Vgl. Höffe (2 1996), S. 105. A
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Die Exaktheit von Ethik
einleuchtet, ist noch eine andere Interpretation der aristotelischen Warnung denkbar, der zufolge ein Vergleich der Wissenschaften scheitern muss, weil er eine Vergleichbarkeit suggeriert, die bereits wegen des divergierenden Status des Wissenschaftsgegenstands verneint wird. Während bei der ersten Interpretation ein einheitlicher Maßstab wegen der Selbständigkeit der Wissenschaften abgelehnt wird, wird dieser bei letzterer Erklärung wegen der implizit zugrunde gelegten ontologischen Rangfolge negiert. Das Prinzip der gegenstandsgerechten Genauigkeit wäre demnach nicht eine Aufhebung der Wissenschaftshierarchie, sondern eine unmittelbare Folge und Ausdruck dieser. Führt man sich die Passagen in der Analytica Posteriora und in der Metaphysik zur Genauigkeit vor Augen, spricht viel für die zweite Antwort, denn die jeweilige Genauigkeit ist lediglich das Indiz, nicht aber das Kriterium für den Stellenwert einer Wissenschaft, der stattdessen vom Gegenstand abhängig gemacht wird. Bei aller Relativierung der Genauigkeit darf aber nicht unberücksichtigt bleiben, dass Exaktheit in einem absoluten Sinne stets ein Merkmal von Wissenschaftlichkeit ist und somit alle Einzelwissenschaften als Wissenschaften über Exaktheit verfügen, selbst wenn sich bei ihnen Unterschiede im Grad von Exaktheit feststellen lassen. Anagnostopoulos fängt diesen Sachverhalt gut ein, wenn er zwischen den »proper goals« und den »ultimative goals« einer Wissenschaft differenziert; die »proper goals« seien die unmittelbar kognitiven Ziele einer jeden Disziplin, während die »ultimative goals« die eigentümlichen letzten Zwecke einfangen würden (z. B. bei der Ethik die Praxis). 20 Auch wenn die letzten Zwecke über die kognitiv erfassbaren hinausgehen, sind sie nichtsdestoweniger auf sie als konstitutive Bestandteile angewiesen, so dass es weniger epistemologische Unterschiede zwischen praktischen und theoretischen Disziplinen gibt als bislang angenommen. 21 Er fasst dieses Ergebnis folgendermaßen zusammen: »Ethics, then, may be practical in virtue of its (ultimative, Anm. M. H.) goals, but this does not imply that it does not share some important features with the disciplines whose goals are theoretical.« 22 Wenn Ethik auch unexakter als theoretische Wissenschaften ist, besteht keinerlei Zweifel an ihrer Zugehörigkeit zum aristotelischen 20 21 22
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Vgl. Anagnostopoulos (1994), S. 73. Vgl. ebd., S. 100. Ebd.
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Exaktheit und Wissenschaftlichkeit
Wissenschaftssystem. In EN I 1, 1094a24–28 verortet Aristoteles die Ethik bei der Wissenschaft der Staatskunst: »Man sollte annehmen, dass es Gegenstand derjenigen Disziplin ist, die am meisten leitet und anordnet. Als so beschaffen erweist sich die Politik (hê politikê).« Etwas weiter im Text wiederholt er diese Aussage, wobei er die Ethik als eine Disziplin einordnet: »Unsere Untersuchung ist also auf diese Dinge gerichtet und stellt eine Art politische Untersuchung dar« (EN I 1, 1094b10 f.). Die Übersetzung von hê politikê mit dem Begriff der Politik suggeriert zunächst, dass die Ethik ein Teil der Politik und damit ihr gegenüber nachrangig sei. Einem solchen Verständnis liegt allerdings eine Engführung der Bezeichnung hê politikê zugrunde; nicht die Politik im Sinne von Staats- und Verfassungslehre ist hier gemeint, sondern vielmehr der gesamte Bereich der praktischen Philosophie. 23 Ethik ist also weniger exakt als theoretische Wissenschaften, gewährleistet aber nach wie vor als Wissenschaft die Redeweise von Genauigkeit: Weniger exakt bedeutet daher nicht die Aufgabe eines wissenschaftlichen Anspruchs, wie es einige Partikularisten verstehen. Der Grund für einen – im Vergleich zu theoretischen Wissenschaften – geringeren Grad an Exaktheit ist folgender: Ethik als Gegenstand hat mit dem »guten Leben und dem guten Handeln« (eu zên kai eu prattein) zu tun (EN I 2, 1095a19), wodurch das Augenmerk auf die Bedingungen des Handelns gerichtet wird, das sich stets nur partikulär vollzieht. Allgemeine Aussagen, die ihre Geltungskraft ihrer Abstraktion verdanken, können daher nicht denselben Stellenwert in der Ethik innehaben wie in den theoretischen Wissenschaften. Ferner gibt es sowohl im Leben als auch im Handeln einen unter keinen Umständen auszuschließenden Rest an Kontingenz, der unbedingte Aussagen im Sinne von Notwendigkeit problematisch erscheinen lässt. In den methodischen Passagen der Nikomachischen Ethik ist häufig davon die Rede, dass man lediglich ein typô-Wissen (Grundrisswissen) und ein hôs-epi-to-poly-Wissen (Zumeistwissen) in der Ethik erlangen könne. Diese zwei Charakterisierungen des ethischen Wissens sind m. E. die Konsequenzen aus der Berücksichtigung von Partikularität und Kontingenz, nicht aber die Gründe für einen geringeren Grad an Genauigkeit. Daraus folgt, dass sie nicht als Nachweis für die mangelnde Exaktheit von Ethik angeführt werden können, sondern viel-
23
Vgl. Rapp (2001), S. 15 f. A
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Die Exaktheit von Ethik
mehr Aufschluss über den verbleibenden Spielraum an Genauigkeit geben können.
2.
Die verbleibende Exaktheit von Ethik
Das zentrale Problem bei der Feststellung von Exaktheit in der Ethik sind die zahlreichen methodischen Aussagen in der Nikomachischen Ethik, die sich auf verschiedene Sachverhalte beziehen. Ferner lässt sich zusätzlich zu den expliziten Methodenpassagen auch aus den von Aristoteles selbst verwendeten Argumentationsformen Parallelinformationen zu seiner Vorstellung von Exaktheit entnehmen. Um diese Diffusion begrifflich zu begrenzen, werde ich zunächst auf die Aussageformen eingehen und anschließend den Methodenpluralismus diskutieren. Dieses uneinheitliche Erscheinungsbild der Ethik als Wissenschaft dient Partikularisten als vermeintlicher Beweis für ihre Unexaktheit. Ich möchte nun dieser Lesart eine andere Interpretation gegenüberstellen: Das Nebeneinander unterschiedlicher Ansätze scheint vielmehr ein Indiz dafür zu sein, dass sich Aristoteles mehrerer methodischer Strategien bedient hat, um die Praxis so weit wie möglich theoretisch zu bewältigen. Im Folgenden beschäftige ich mich zunächst mit den zwei charakteristischen Aussageformen der Ethik: denen des Grundrisswissens (typô) und des Zumeistwissens (hôs-epi-to-poly).
a.
typô-Wissen
Der Begriff typos bezeichnete ursprünglich sowohl das Instrument zum Prägen als auch den Abdruck in einem Siegelring. 24 In den Äußerungen Aristoteles’ zur Methodik in der Ethik kommt typos in erster Linie im Dativ vor, was sich am besten als »im Umriss/Grundriss« übersetzen lässt – in Bezug auf das Wissen, das nur in typô-Aussagen bestimmt werden kann, werde ich daher im Folgenden die Bezeichnung »Grundrisswissen« wählen. Das Grundrisswissen ist als ein Indiz für das Ausmaß an potentieller epistemischer Exaktheit von Ethik einzuordnen; anders als beim hôs-epi-to-poly-Wissen finden sich Aussagen zum ersteren nur im 24
66
Vgl. Höffe (2 1996), S. 112.
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Die verbleibende Exaktheit von Ethik
Kontext von allgemeinen Begriffsbestimmungen, z. B. wenn Aristoteles in EN I 1, 1094a22–26 darauf hinweist, dass fortan das Gute und Beste als Ziel zu bestimmen heißt: »dann müssen wir zumindest im Umriss zu erfassen versuchen, was es sein könnte und zu welcher Wissenschaft oder Fähigkeit es gehört«. Die Widersprüchlichkeit und Vagheit der Ethik verhindert zwar ihre vollständige und erschöpfende Erfassung mittels wissenschaftlicher Vorgehensweise, nicht aber ihre Skizzierung in Grundzügen, die keinen geringeren Wahrheitsanspruch erhebt als andere Wissenschaften. So schreibt Aristoteles in EN I 1, 1094b19 unmissverständlich davon, »grob und im Umriss die Wahrheit (aletheia) aufzuzeigen«. Der häufige Verweis von Aristoteles darauf, dass man sich in der Ethik mit dem Grundrisswissen zufrieden geben müsse (vgl. EN I 1, 1094b19–25/EN I 11, 1101a24–28/EN II 2, 1103b34–1140a8), dient Partikularisten wie Robert Louden, Martha Nussbaum, Arash Abizadeh und John McDowell als Beweis dafür, dass die Einzelurteile in der konkreten Handlungssituation gegenüber allgemein formulierten Prinzipien vorrangig seien. 25 Letztere seien nämlich zwangsläufig zu unspezifisch, um die Komplexität des Einzelfalls einzufangen, was Aristoteles mit dem bescheidenen Anspruch auf ein Grundrisswissen richtig erfasst habe. Unabhängig davon, ob sich Partikularisten in der Hinsicht zu Recht auf Aristoteles berufen (dies ist gleich noch näher zu untersuchen), haben sie den Kern des Problems mit dem Grundrisswissen getroffen: Es ist ein Problem der Spezifität (= Qualifizierung). Im Bereich der Praxis, die sich in partikularen Situationen äußert, hängt Exaktheit von dem Grad an Spezifität ab, den ihre Prinzipien, Erklärungen und Formulierungen aufweisen. Metaphorischer ausgedrückt lässt sich dieses Problem in das Bild eines Hausbaus übersetzen: Es geht bei der Feststellung von verbleibender Exaktheit beim Grundrisswissen um die Frage, ob Aristoteles lediglich einen Grundriss im Sinne einer Grundstückszeichnung im Sinne hatte, die nur Auskunft über die Maße und Stockwerke gibt oder ob er bereits die Grundmauern gemeint hat, die den Spielraum an Veränderungen in der konkreten Vollendung einschränken. Folgende Stelle in der Nikomachischen Ethik beispielsweise legt nahe, dass es in erster Linie Pragmatismus gewesen sei, der Aristoteles von einer eingängigeren Ausführung abgehalten habe: 25
Vgl. Louden (1992), S. 162; McDowell (1998a), S. 34; Nussbaum (1990), S. 67 ff. A
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Die Exaktheit von Ethik
»Auf diese Weise soll das Gut skizziert sein. Denn man muss wohl zuerst skizzieren und dann später die Details ausfüllen. Man sollte annehmen, dass jeder in der Lage ist, das fortzuführen und im Detail auseinander zu legen, was einmal gut skizziert ist, und dass die Zeit hierbei ein guter Entdecker oder Mitarbeiter ist […].« (EN I 7, 1098a20–24)
Eine nähere Ausfüllung der skizzenhaften Grundrisse ist demnach schlichtweg nicht erforderlich – ihre Möglichkeit wird aber keinesfalls negiert, wie C. D. C. Reeve betont: »Hence neither text gives us a compelling reason to believe that Aristotle’s sketch of the good is intrinsically sketchy, that it could not be filled out in detail and made exact.« 26 Dieser Sichtweise liegt eine Auffassung von Skizze zugrunde, die zumindest so weit fortgeschritten sein muss, dass sie nicht mehr beliebig veränderbar ist – die einzige Veränderung besteht nur noch in der Vollendung, in dem Übergang von der Skizze zum abgeschlossenen Bild (oder in der Fertigstellung des Hauses). Diese Lesart muss auch Otfried Höffe vorschweben, wenn er das (zeitlich) Provisorische, das Unfertige am Grundrisswissen betont. 27 In diesem Sinne möchte er das Grundrisswissen nicht als ungenau im Sinne von a) unscharf, b) oberflächlich, c) subjektiv unzuverlässig oder d) objektiv fehlerhaft verstanden wissen, sondern lediglich als ungenau im Sinne von mangelnder Ausführlichkeit. 28 Dennoch bleibt ein Zweifel zurück, ob Aristoteles nicht doch einen grundlegenden Vorbehalt gegenüber einer anspruchsvollen theoretischen Erfassung menschlichen Handelns geäußert hat, so heißt es in Buch II 2 der Nikomachischen Ethik: »Doch dies sei im Voraus festgestellt, dass jede Erklärung im Bereich des Praktischen (pas ho peri tôn praktôn logos) im Umriss und nicht mit Exaktheit zu geben ist (typô kai ouk akribôs opheilei legesthai). So haben wir ja auch zu Anfang gesagt, dass die verlangten Erklärungen sich nach dem Gegenstand (kata tên hylên) richten müssen. Was mit dem Handeln zu tun hat und förderlich ist, besitzt keine Stabilität (ouden hestêkos echei), ebenso wenig wie die Dinge, die mit der Gesundheit zusammenhängen. Wenn aber derart die Erklärung des Allgemeinen (tou katholou logou) ist, dann ist die Erklärung der Einzelfälle (kath’ hekasta) noch weniger genau.« (1103b34– 1104a7)
26 27 28
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Reeve (1995), S. 24. Vgl. Höffe (2 1996), S. 160. Vgl. Höffe (1995), S. 21.
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Diese Aussagen suggerieren dreierlei: a) in der Ethik könne es keine ausnahmslosen Prinzipien geben, b) in der Ethik dürfen keine spezifisch formulierten (= keine genauen) Prinzipien erwartet werden und c) mit schwindendem Allgemeinheitsgrad gewinnen diese Aussagen an Schärfe. Nun berührt der erste Punkt der Rigorosität der Prinzipien nicht das Grundrisswissen, sondern das Zumeistwissen, welches ich im nächsten Abschnitt erörtern werde. An der These b) ist zunächst zu unterstreichen, dass der Begriff typô hier offensichtlich als Gegensatz zu akribôs fungiert; als Begründung wird der Stoff/Gegenstand (hylê) angeführt, was im Falle der Ethik laut Aristoteles die Frage nach dem Leben ist, das eudaimonia aufweist. Leben ist für ihn Aktivität, Praxis, was sich also in Handlungen ausdrücken muss. Da Handlungen einzelne Situationen darstellen, müsste eine akribische, nicht umrisshafte Ethik in eine Kasuistik münden, wogegen sich Aristoteles allerdings explizit ausspricht: »Aber da die Dinge, die geschehen, zahlreich sind und alle möglichen Unterschiede zulassen, und einige uns mehr, andere weniger betreffen, erweist es sich als eine lange, ja endlose Aufgabe, die entsprechenden Differenzierungen für jeden einzelnen Fall vorzunehmen; vielleicht wird eine allgemeine Skizze genügen.« (EN I 11, 1101a24–28)
Ein solcher Anspruch ist nicht nur nicht einzulösen, sondern offenbart eine moralische Unreife: Eine allzu detaillierte Erörterung ist letztlich unnütz und sogar störend. Es bestünde nämlich die Gefahr, dass die Ausführungen als rein intellektuelle Handreichungen missverstanden werden würden, und die Bedeutung von souveränem Umgang mit der Lust, der als ebenso zentral gilt, dadurch in den Hintergrund treten könnte. Dies erklärt auch, warum Aristoteles eine ethische Vorbildung als Bedingung für den Nutzen der Ausführungen angibt: »[…] ihre Unzulänglichkeit hängt nicht von der Zeit ab, sondern ergibt sich daraus, dass sie vom Affekt geleitet leben und auf diese Weise ihre jeweiligen Ziele verfolgen. Solchen Menschen bringt das Erkennen keinen Nutzen – ebenso wenig wie den Unbeherrschten. Hingegen wird für diejenigen, die ihre Strebungen nach der Vernunft gestalten und entsprechend handeln, das Wissen über diese Dinge von vielfältigem Nutzen sein.« (EN I 1, 1095a7–11)
Ethisch vorgebildete Menschen brauchen keine strikten Handlungsanweisungen, weil sie bereits die Grundzusammenhänge internalisiert haben – aus diesem Grunde müssen unspezifische, allgemein formuA
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Die Exaktheit von Ethik
lierte Prinzipien nicht durch exaktere ersetzt werden. 29 Umrisshafte Prinzipien fungieren also als eine Art Strukturgitter (oder Grundmauern), die Raum für die individuelle Kontextualisierung lassen (oder für die Fertigstellung des Hauses). 30 Wichtig ist hieran, dass aber diese wenig spezifischen Prinzipien uneingeschränkt gelten, denn das Grundrisswissen darf nicht mit dem Zumeistwissen verwechselt werden: Die Aussagen, die grundrisshaft getroffen werden, sind unvollständig, aber immer geltend, während das Zumeistwissen sich stets im Kontext von Überlegung und Gesetzen abspielt, dann aber nicht absolut gilt. 31 Es lässt sich also konstatieren, dass eine an Kasuistik anmutende Spezifität von Prinzipien gar nicht ein erstrebenswertes Beispiel für akribisch verfahrende Moraltheorie für Aristoteles ist. Aus diesem Grund ist der Anspruch, den Partikularisten an die Formulierung von allgemeinen Prinzipien stellen, damit sich die generalistische Position als überzeugend erweisen kann, verfehlt. McDowell zufolge müssten die Regeln eine Situationsrelativität beinhalten und in universalen Termen formuliert sein. 32 Diese umfassend geforderte Situationsrelativität würde aber geradewegs in die von Aristoteles’ abgelehnte Kasuistik münden, die auch von Generalisten nicht anvisiert wird. Die Frage bleibt aber, ab welchem Grad an Spezifität das Grundrisswissen aufhört ein solches zu sein. Aus dem Kontext zweier Textstellen der Nikomachischen Ethik lässt sich womöglich eine Antwort ableiten, denn in ihnen kommt zum Ausdruck, dass die vorhergehenden Ausführungen einen Umriss lieferten: Nachdem Aristoteles in EN I 5 die eudaimonia durch die Merkmale der Endzielhaftigkeit, Vollendetheit, Selbstzwecklichkeit und Autarkie bestimmt hat und sie in EN I 6 (1098a16 f.) im Rahmen des ergon-tou-anthrôpou-Arguments als »Tätigkeit der Seele im Sinn der Gutheit« definiert hat, stellt er zu Beginn von EN I 7 fest, damit ihren Umriss gezeichnet zu haben. Ein ähnliches Bild ergibt sich in EN III 8, wo er nach der Erörterung der Tugenden als Mitte und Haltung, ihrer Entstehungen und Betätigung sowie ihrer Freiwilligkeit zum Ergebnis kommt, ihren Umriss aufgezeigt zu haben. In beiden Fällen hat er auf systematisch verfahrende 29 30 31 32
70
Vgl. Irwin (2 2003), S. 114. Vgl. Höffe (2005b), S. 612. Vgl. Höffe (1995), S. 27. Vgl. McDowell (1998a), S. 34.
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Weise die Definition des jeweiligen Untersuchungsgegenstands geliefert; die Erarbeitung dieser Grundlinien erfolgte in durchaus genauer Manier. 33 Trotz dieser gewissenhaft vorgenommenen definitorischen Einkreisung der Glückseligkeit und der Tugenden, muss aber zugestanden werden, dass für die Konkretisierung noch ein großer Spielraum übrig geblieben ist. Typô-Aussagen bewegen sich auf einer Allgemeinheitsstufe der Definitionen, Worterklärungen und Gattungszuordnungen; doch die konkrete Handlung bewegt sich im Bereich des Einzelnen (kath’hekaston), wie Aristoteles häufig betont (EN II 7, 1107a31/ EN III 2, 1110b33/EN VI 8, 1141b16/EN VII 3, 1146a8 ff./EN VII 5, 1147a4). Doch dieser fällt gar nicht mehr in den Gegenstandsbereich des typô-Wissens, sondern die Erkenntnis im Bereich von kath’hekaston wird der phronêsis, bzw. der aisthêsis überantwortet. Es bleibt also festzustellen, dass typô-Aussagen auf einer allgemeinen epistemischen Ebene von Definitionen und Begriffsklärungen durchaus für Orientierung mit uneingeschränkter Geltungskraft sorgen.
b.
Die Geltung von hôs-epi-to-poly-Regeln
Während sich die Diskussion des typô-Wissens um den möglichen Qualifizierungsgrad im Bereich des Partikularen drehte, berührt die Geltung von hôs-epi-to-poly-Regeln die Frage nach dem Verhältnis von Regelhaftigkeit und Kontingenz in der Praxis. Führt man sich vor Augen, dass die Praxis sich durch eine unaufhebbare Unverfügbarkeit 34 auszeichnet, könnte man geneigt sein, jegliche Regelhaftigkeit zu verneinen oder sie als bloße Zusammenfassung des Konventionellen zu bagatellisieren. Auf der anderen Seite unterscheiden sich Handlungen in ihrer ontologischen Struktur genuin von notwendigen und immer geltenden Prinzipien der theoretischen Wissenschaften. Die Geltung von hôs-epi-to-poly-Regeln scheint in diesem Spannungsfeld von Notwendigkeit, Regelhaftigkeit auf der einen Seite und Kontingenz, Unverfügbarkeit auf der anderen Seite eine eigentümliche Zwischenstellung einzunehmen. Lässt sich dieser Eindruck verifizieren und welche epistemischen Konsequenzen sind daraus zu ziehen? Stützen sich Partikularisten zu Recht auf diese vermeintlich bescheidene Art 33 34
Vgl. Wolf, U. (2002), S. 60. Vgl. Elm (1996), S. 63. A
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der Geltung, um ihre These von der fehlenden Rigorosität bei Aristoteles zu untermauern? Die Formulierung hôs-epi-to-poly erklärt sich keineswegs von selbst – denn unterschiedliche Interpretationen sind von diesem »Zumeist« 35 denkbar: Handelt es sich bei »zumeist« um a) eine Wahrscheinlichkeitsannahme, die »zumeist« als »häufig auftretend« auffasst oder um b) eine normative Annahme, die »zumeist« im Sinne von »normal« oder »natürlich« versteht? 36 Von der Beantwortung dieser Frage hängt zu einem großen Teil die Plausibilität des partikularistischen Einwands ab, denn bei einer Wahrscheinlichkeitsannahme ist die Abweichung als eine prinzipielle Größe einzukalkulieren, wodurch Prinzipien eine fundamentale Schwächung erfahren. Sollte es sich allerdings um eine normative Annahme handeln, ist die Abweichung eine Ausnahme, die den kontingenten Bedingungen geschuldet ist; Prinzipien wären dann zwar als ausnahmslos widerlegt, könnten aber trotzdem eine größere normative Kraft als bloße ›Faustregeln‹ für sich beanspruchen. Für die Auffassung von hôs-epi-to-poly als »häufiger auftretend« führt Reeve eine Stelle in der Rhetorik an, in der es heißt: »[…] (und weil) das Wahrscheinliche nicht das ist, was immer, sondern das, was nur in der Regel eintritt […]« (Rh. II 25, 1402b20 f.). 37 Dem hält Irwin in scharfsinniger Weise entgegen, dass Aristoteles in Bezug auf die Zuträglichkeit von Wohlstand ebenfalls von einer Zumeistannahme ausgeht, was einem statistischen Verständnis zufolge bedeuten würde, dass Wohlstand häufiger Gutes generieren würde als wenn er fehlen würde. Diese Konklusion wird allerdings von Aristoteles verneint, da Wohlstand nur bei richtigem Gebrauch etwas Gutes zur Folge habe (vgl. EN IV 1, 1120a3 f.), was eine normative Verwendung nahelegt. 38 Es sind zwar selbstverständlich Fälle vorstellbar, in denen eine Koinzidenz von »zumeist« als »häufiger auftretend« und »natürlich« zu konstatieren ist, doch ist sie keinesfalls zwingend. Für die Interpretation von »zumeist« als »normal« bzw. »natürlich« spricht auch, dass Aristoteles den Ausdruck hôs-epi-to-poly
Im Aristoteleslexikon gibt Otfried Höffe als Übersetzungen von hôs-epi-to-poly »meistens« und »in der Regel« an, vgl. Höffe (2005a), S. 264. 36 Vgl. Irwin (2 2003), S. 106. 37 Vgl. Reeve (1995), S. 15 f. 38 Vgl. Irwin (2 2003), S. 109 f. 35
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häufig im Kontext von einem Subjekt und seiner dynamis bzw. dynamis und energeia verwendet, womit auf eine dem Wesen inhärente Regularität angespielt wird (selbst wenn sie durch interne oder externe Faktoren gestört werden kann). 39 Dass Aristoteles eine natürliche Regularität bei Zumeistannahmen behauptet hat, drückt sich u. a. darin aus, dass er sie nicht vom Deduktionsverfahren ausschließt: »Vom Zufälligen gibt es kein Wissen durch Demonstration. Weder notwendig nämlich noch häufig ist das Zufällige, sondern abweichend von diesen Dingen kommt es vor; die Demonstration dagegen richtet sich auf eines dieser Dinge. Jede Deduktion nämlich kommt entweder durch notwendige oder durch häufig zutreffende Prämissen zustande, und wenn die Prämissen notwendig sind, dann ist auch die Konklusion notwendig, wenn aber häufig zutreffend, dann ist auch die Konklusion von dieser Art. Daher, wenn das Zufällige weder häufig noch notwendig ist, so dürfte es von ihm keine Demonstration geben.« (APo. I 30, 87b19–27)
Wie dieser Stelle zu entnehmen ist, wendet Aristoteles die logische Form des Syllogismus sowohl auf notwendige als auch auf zumeistAussagen an, was nicht unproblematisch ist – zumindest, wenn man letztere als Wahrscheinlichkeitsaussagen versteht. Wenn man hingegen hôs-epi-to-poly als eine Ausdrucksweise für eine Regularität, die von Natur aus (unter Normalbedingungen, ohne irreguläre Störfaktoren) gilt, auffasst, kann man Aristoteles’ Äußerung als sinnvoller einstufen. 40 Ferner taucht in der soeben zitierten Passage der wichtige Begriff der tychê (Zufall) auf, der hilfreich für die Abgrenzung zu und für die Einordnung von hôs-epi-to-poly ist. Die Unterscheidung wird folgendermaßen von Aristoteles vorgenommen:
Vgl. Winter (1997), S. 315 ff. Winter spricht sich mit Verweis auf die natürliche Regularität dezidiert gegen eine Gleichsetzung von hôs-epi-to-poly und »meistens« aus: »So, hôs-epi-to-poly in this technical sense is not synonymous with ›most‹. It is therefore improper and misleading to understand the phrase hôs-epi-to-poly as meaning ›most‹. The two expressions may sometimes overlap in important ways, but this need not always to be so. More important, many uses of the word ›most‹ need not imply the presence of an underlying law or relationship, but the technical sense of hôs-epi-to-poly that Aristotle often utilizes always does imply the presence of some necessary law or rlationship.« (S. 316). 40 Vgl. die Kommentierung von W. Detel zu APo. I 30 im zweiten Halbband der von ihm übersetzten und erläuterten Ausgabe der Analytica Priora (Berlin 1993), S. 476– 486. 39
A
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Die Exaktheit von Ethik
»Nachdem das bestimmt ist, wollen wir noch einmal darüber sprechen, daß »kann sein« auf zwei Weisen ausgesagt wird: In einer (besagt es), was allermeist so eintritt (to hôs-epi-to-poly), aber an Notwendigkeit nicht heranreicht (kai dialeipein to anagkaion), z. B. daß ein Mensch graue Haare bekommt oder daß er an allem zu- oder abnimmt, oder überhaupt, was dem natürlichen Gang nach auf ihn zutrifft – das hat nämlich nicht stetige Notwendigkeit bei sich, weil der Mensch nicht immer ist; wenn aber der Mensch da ist, tritt es entweder mit Notwendigkeit oder doch allermeist so auf –; in einer anderen (besagt es) die unbestimmten Ereignisse (to aoriston), was denn so oder auch nicht so sein kann; wie z. B.: Da bewegt sich ein Lebewesen, oder während es dahergeht, ereignet sich ein Erdbeben, oder überhaupt, was sich so von Ungefähr zuträgt (to apo tychês ginomenon); hier ist ja nichts dem natürlichen Gang nach mehr so als genau gegenteilig.« (APr. I 13, 32b4–13)
Das Auftreten einer Gegebenheit als hôs-epi-to-poly wird als eine Art ›knapp verfehlte Notwendigkeit‹ klassifiziert, während ein zufälliges Geschehen als immanent unabschätzbar und jeglicher Natürlichkeit entzogen eingestuft wird; erhellend ist an dieser Stelle auch die Parallelisierung des Unbestimmten (to aoriston) mit dem Zufälligen (to apo tychês ginomenon). So ist festzuhalten, dass zwar sowohl Zumeistannahmen als auch Zufallsaussagen beide dem Bereich dessen angehören, was auch anders sein kann, dass aber der Geltung von »zumeist« eine basale Regularität zugrunde liegt, die wegen der Möglichkeit einer ›Vereitelung‹ oder ›Störung‹ der anvisierten Praxis nicht das Attribut der Notwendigkeit zugesprochen bekommt. Die Ursache dafür ist darin zu sehen, dass die Welt »essentially enmattered« 41 ist, weshalb sowohl Aussagen über die Natur (physis) und das Handeln (praxis) nur meist gültig sind. 42 Es ist also keineswegs eine Eigenart der Ethik, die durch Zumeistannahmen zum Ausdruck kommt. Durch das ständige Insistieren der Partikularisten darauf, dass hôs-epi-to-poly-Regeln nicht ausnahmslos gelten, sondern eben nur zumeist, geht die wichtige Information unter, dass diese Regeln immerhin zumeist gelten. 43 Die These einer fundamentalen Unkodifizierbarkeit der Ethik scheint vor diesem Hintergrund schwer aufrecht zu erhalten zu sein. Der Bereich, den ›hôs-epi-to-poly‹-Aussagen abdecken, sind der 41 42 43
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Reeve (1995), S. 21. Vgl. Höffe (2005a), S. 264 f. Vgl. Chappell (2006), S. 148.
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Überlegung (bouleusis) zugänglich. Aristoteles äußert sich dazu explizit: »Die Überlegung findet also im Bereich derjenigen Dinge statt, die meistens geschehen, wo aber ungewiss ist, wie sie ausgehen werden, und dort, wo unbestimmt ist, wie zu handeln ist« (EN III 5, 1112b8 f.). Da die Prinzipienerkenntnis nicht dem Bereich der bouleusis zugeordnet wird, ist zu schließen, dass Prinzipienaussagen uneingeschränkt und nicht »zumeist« gelten. Diese Schlussfolgerung wird von manchen Interpreten unterstützt: So machen beispielsweise Anagnostopoulos und Irwin darauf aufmerksam, dass sowohl die Verbote von Mord, Ehebruch und Diebstahl ausnahmslos gelten, als auch die Aussagen über das natürliche Streben nach eudaimonia und die Bestimmung der Tugenden mittels der mesotês-Lehre. 44 Interessant ist die Charakterisierung der verbotenen Handlungen, denn Aristoteles bezeichnet sie als solche, die »haben Namen, die die Schlechtigkeit bereits implizieren.« (EN II 6, 1107a12 f.). Damit handelt es sich nach der Unterteilung, die er in APo. I 30, 87b19–27 liefert, um eine notwendige Aussage, nicht aber um eine zumeist gültige oder zufällige. Dieser Kategorisierung zufolge unterscheidet sich übrigens eine zufällige Aussage von einer Zumeistaussage darin, dass die erstere eine über bloße Akzidentien ist, während letztere eine Wesensaussage ist, wenn auch nicht eine notwendige. 45 Abschließend lässt sich erstens festhalten, dass ›hôs-epi-topoly‹-Aussagen über eine weitaus stärkere Regularität verfügen als es von Partikularisten zugestanden wird. Zweitens sind sie eine Form der Aussagen über Ethik und zwar die, die im Rahmen von Überlegung getroffen werden können. Beide Ergebnisse schwächen also den partikularistischen Vorbehalt gegenüber einer Redeweise von Exaktheit in der Ethik ab.
c.
Der Methodenpluralismus der Nikomachischen Ethik
Wie bereits zu Beginn dieses Kapitels angeklungen ist, erleichtert das Nebeneinander der beiden charakteristischen Aussageformen nicht gerade Aristoteles’ Verständnis vom möglichen Grad an Exaktheit in der
44 45
Vgl. Anagnostopoulos (1994), S. 375 f.; Irwin (2 2003), S. 111. Vgl. Höffe (2 1996), S. 113 f. A
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Die Exaktheit von Ethik
Ethik. Ähnlich unklar ist, welcher Methode(n) sich Aristoteles selbst in der Nikomachischen Ethik bedient hat. Diesbezüglich lassen sich grundsätzlich zwei Interpretationsströmungen unterscheiden, die am meisten bei der unterschiedlichen Interpretation des ergon-Arguments in EN I 6 zutage treten: 46 Auf der einen Seite gibt es die Ansicht, dass Aristoteles sich (ausschließlich) der dialektischen Methode verschrieben hätte, auf der anderen Seite wird auf metaphysische oder psychologische Argumentationen verwiesen, die Aristoteles verwendet habe. Zur Erklärung, was unter der »dialektischen« Methode zu verstehen ist, sei der Blick auf folgende Textstelle in EN VII 1 gerichtet, die Aristoteles seiner Analyse der Willensschwäche voranstellt: »Wir müssen nun, wie auch sonst, zuerst darlegen, was über die Gegenstände wahr zu sein scheint (tithentas ta phainomena), und die Schwierigkeiten durchgehen, um dann auf diese Weise, wenn möglich, die Wahrheit aller anerkannten Meinungen (panta ta endoxa) über diese Affektionen nachzuweisen, oder wenn nicht, [wenigstens] die Wahrheit der meisten und wichtigsten Meinungen (ta pleista kai kuriôtata). Denn wenn wir die Schwierigkeiten auflösen und die anerkannten Meinungen bestehen bleiben, dann wird der Gegenstand ausreichend geklärt sein.« (1145b2–7)
Den Auftakt der Untersuchung bilden die phainomena, die den Grundstein allen dialektischen Argumentierens bilden. 47 Die Übersetzung von phainomena mit »Gegenstände« scheint mir nicht sehr geglückt zu sein, stattdessen gibt wohl »Phänomene« den Begriff am besten wieder. Die Sammlung der Phänomene kann zu Schwierigkeiten führen, die so aufgelöst werden sollen, dass die Wahrheit der endoxa bestätigt werden kann. Unter endoxa sind »anerkannte Meinungen« zu verstehen. Letztlich geht es also bei der dialektischen Methode um eine Art der Rückversicherung, indem die den Meinungen zugrunde liegenden Phänomene geprüft werden. Aristoteles unterscheidet zwischen Formen von endoxa, die sich im Umfang des Personenkreises unterscheiden: Zum einen gibt es die ›umfassende‹ endoxa, sprich: alle anerkannten Meinungen sind darin enthalten. Zum anderen ist noch von endoxa die Rede, die die meisten und wichtigsten Meinungen beinhalVgl. dazu: Jörn Müller (2006a). Diesem Aufsatz sind neben Müllers eigenem konzeptualistischen Ansatz eine gute Übersicht über die Vertreter und genauen Positionen der beiden Strömungen zu entnehmen. 47 Vgl. Owen (1975), S. 115. 46
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ten, worunter diejenigen von den sophoi (weise Männer) zu verstehen sind. 48 Die Methode der Dialektik basiert auf dem Gedanken, dass der Mensch in einer Beziehung zur Wahrheit steht, so dass in den Meinungen aller oder zumindest einiger Autoritäten immer ein Anteil an Wahrheit aufzufinden sei, den es freizulegen gilt. 49 Die von Aristoteles getroffene Unterscheidung zwischen den panta ta endoxa und den ta pleista kai kuriôtata ist nicht zu ignorieren: es ist durchaus denkbar, dass es bisweilen die Minderheitsmeinungen sind, die der Wahrheit entsprechen. 50 Die erste Verwendungsweise (panta endoxa) könnte zwar vermuten lassen, dass Aristoteles einer Art des Common Sense nahe gestanden habe, doch dies ist allein schon wegen seiner häufig abfälligen Einschätzung der »Vielen« (hoi polloi) auszuschließen. 51 Auch an anderen Stellen der Nikomachischen Ethik kann ein dialektisches Vorgehen des Aristoteles festgestellt werden (z. B. in EN VII 12, 1152b8–12), allerdings stellt sich die Frage, ob das emphatische Urteil von Burnet geteilt werden kann, der sie als »dialectical throughout« eingeordnet hat. 52 Hardie beispielsweise gibt zu Bedenken, dass Aristoteles häufig Prämissen diskutiere, die seine eigenen seien. 53 Auch Irwin meldet Zweifel an, indem er die mangelnde Belastbarkeit der endoxa anführt. Die Ambitionen des Aristoteles seien in der Nikomachischen Ethik höher, als dass die Prüfung von Meinungen eine hinreichende Basis der Wahrheitsermittlung liefern könne. 54 In EN I 2 gibt es eine prominente Passage, die nahe legt, dass die Induktion ein ebenfalls von Aristoteles gewählter Zugang ist, mit dem er zu den ersten Prinzipien (archê) vorzudringen sucht. Dort heißt es: »Dabei sollten wir beachten, dass es einen Unterschied gibt zwischen Begründungen, die von den Prinzipien ausgehen, und solchen, die zu den Prinzipien hinführen. Mit Recht nahm daher auch Platon diese Schwierigkeit immer
Vgl. auch folgende Definition von endoxa in der Topik: Top. I 1, 100b21–23. Vgl. Müller, J. (2006a), S. 28. 50 Vgl. Barnes (1980), S. 503. 51 Vgl. Voigtländer dazu; Voigtländer (1980). 52 Burnet (1900), v. 53 Vgl. Hardie (2 1980), S. 39. 54 Vgl. Irwin (1981), S. 201. Allerdings kommt Irwin letztlich zu einem ähnlichen Ergebnis wie Burnet, wenn auch aus einem anderen Grund. Er nimmt nämlich an, dass die Ethik in quasi abgeleiteter Form dialektisch sei, indem sie auch auf psychologische und metaphysische Annahmen rekurriere, die wiederum selbst das Ergebnis der dialektischen Methode seien. 48 49
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wieder auf, indem er untersuchte, ob der Weg von den Prinzipien kommt oder zu ihnen führt […]. Man muss nämlich von dem Bekannten ausgehen. Doch dieses ist von zweifacher Art. Das eine ist das für uns Bekannte, das andere das überhaupt Bekannte. Vermutlich müssen wir also mit dem für uns Bekannten anfangen.« (1095a30–1095b4)
Anschließend schränkt er den Adressatenkreis ein, indem er lediglich die wohlerzogenen, charakterlich guten Menschen anspricht. Diese Bedingung wirkt elitär, hat aber einen methodischen Hintergrund: nur diejenigen, die bereits genug Erfahrung mit tugendhaften Handlungen gesammelt haben, sind in der Lage, die erlangten Konklusionen einzuschätzen und zu reflektieren. 55 Demnach könnte dieses Vorgehen als ein Bestandteil der dialektischen Methode gesehen werden, da es eine Art ›zusätzliche Prüfung‹ der endoxa darstellt, indem diese mit den Gegebenheiten des Erfahrenen abzugleichen sind. Das ergon-tou-anthrôpou-Argument hingegen scheint mit der dialektischen Methode nicht hinreichend eingefangen zu sein. So greift Aristoteles dabei auf Prämissen zurück, die beispielsweise in der Psychologie oder Metaphysik als gültig vorausgesetzt werden. 56 So geht die darin zum Vorschein kommende Auffassung von der Seele auf die Dreigliederung von vegetativer, animalischer und rationaler Seele auf das Schema in De Anima zurück. Diese Einschätzung ist jedoch umstritten; so behauptet z. B. Gómez-Lobo, dass man keinerlei Kenntnisse von Aristoteles’ De anima oder der Metaphysik besitzen müsse, um das ergon-Argument als plausibel anzuerkennen. 57 Auf die metaphysischen und biologischen Implikationen des ergon-Arguments gehe ich in Kap. VIII.5.c. noch ausführlicher ein, weshalb ich an dieser Stelle nur auf einen Aspekt aufmerksam machen möchte, der gegen eine ›Neutralisierung‹ des ergon-Arguments spricht: die exzellente Vernunfttätigkeit des Menschen, mit der die gute Ausübung des ergon beschrieben wird, findet ihren personalen Ausdruck in der Figur des spoudaios, der zugleich als »vollkommen« in der Ausgestaltung der menschlichen Natur gilt (EE VII 2, 1237a30). In dieser Aussage ist eine wichtige teleologische Grundannahme enthalten, vor deren Hintergrund erst die Normfigur adäquat eingeordnet werden kann, was für das Verständnis der menschlichen Natur und dem genuinen mensch55 56 57
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Vgl. Kraut (1998), S. 288 f. Vgl. Monan (1968), S. 105–115. Vgl. Gómez-Lobo (1991), S. 54.
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lichen Gut, die eudaimonia, entscheidend ist. Insbesondere was die aristotelische Teleologie betrifft, kann es also im besten Fall (Ausdruck dessen ist der spoudaios) zu einer Kongruenz von ethischen und biologischen Überlegungen kommen, die mit bloßer Dialektik nicht einzufangen wäre. 58 Abschließend ist daher festzustellen, dass sich kein eindeutiges Bild in Bezug auf Aristoteles’ gewählte Methodik in der Nikomachischen Ethik ergibt, was wiederum insofern aufschlussreich ist, als dass daraus gefolgert werden kann, dass Aristoteles einen Methodenpluralismus vertrat. 59 Dies unterstreicht den Eindruck, der bereits im Zuge vom typô-Wissen und hôs-epi-to-poly-Aussagen gewonnen werden konnte: Aristoteles bedient sich mehrerer Verfahren, um den größtmöglichen Grad an Exaktheit im Bereich des Veränderlichen zu erreichen.
58 59
Vgl. dazu Szaif (2004). Vgl. Bostock (2000), S. 234 f. A
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V. Moralische Prinzipien in der Ethik des Aristoteles
Im vorigen Kapitel konzentrierte ich mich auf die These der Partikularisten von der Unexaktheit der Ethik. Ich bin zu dem Resultat gekommen, dass Aristoteles sich mehrerer Strategien bedient, um den verbleibenden Spielraum an Exaktheit auszuschöpfen. Im Kontext des Grundriss- und Zumeistwissens ist auch häufig von generellen Prinzipien oder Regeln die Rede gewesen. Diese Verwendung bedarf nun der Ausführung, denn ob und falls ja, welche Prinzipien es in der Ethik des Aristoteles gibt, ist eines der zentralen Themen in der Debatte zwischen Partikularisten und Generalisten. Ein mögliches Indiz für moralische Prinzipien könnte im Ausdruck deî vermutet werden, der in der gesamten Nikomachischen Ethik immer wieder auftaucht. Er wird in deutschsprachigen Ausgaben einheitlich mit »sollen« übersetzt (vielmehr: »man soll«), während er in den englischsprachigen Übersetzungen teils mit »duty«, teils mit »right« oder »required« wiedergegeben wird. 1 Hinter der Frage nach der adäquaten Übersetzung steht aber vielmehr die Diskussion, inwiefern deî als imperativisch im moralischen Sinne zu verstehen ist. Nicholas White beispielsweise beklagt die Abmilderung des verpflichtenden Gehalts von deî, wenn er auf die Grenzen einer puristischen tugendethischen Auslegung von Aristoteles verweist. 2 Neben der Bedeutung eines tugendhaften Charakters gebe es nämlich darüber hinaus auch externe Kriterien und Handlungsanweisungen, die über dieselbe Geltung verfügen. Zwar sei im phronimos die Diskrepanz zwischen »imperative« und »attractive« Formulierungen aufgehoben, doch könne daraus nicht im Umkehrschluss ein kompletter Verzicht auf moralische Prinzipien abgeleitet werden. Richard Kraut hingegen Siehe die Auflistung und Kritik von Kraut an den Übersetzungen von Crisp und Ross (duty), Irwin (right) und Rowe (required). Vgl. Kraut (2006), S. 159 f., 163 f. 2 Vgl. White (2002), S. 110–113. 1
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bestreitet einen genuin moralischen Gehalt von deî – ein Ausdruck, der ihm zufolge für die gesamte praktische Sphäre anwendbar ist. 3 Zwar befürwortet er eine Übersetzung mit »should«, die er aber nicht als Ausdruck einer moralischen Pflicht verstanden wissen will. Durch deî wird demnach keine eigene Kategorie von Handlungsgründen erschlossen. Diese Diskrepanz kann m. E. dadurch aufgehoben werden, dass man den Ausdruck deî als einen Hinweis auf Handlungsregeln versteht, ohne ihm selbst die Begründungslast aufzuerlegen. Nun finden sich bei Aristoteles prima facie nur wenige Ausführungen zu Handlungsregeln, woraus allerdings noch nicht auf ihre Abwesenheit geschlossen werden sollte. Stattdessen ist ein indirekter Zugang zu wählen, da Aussagen zu Regeln bei Aristoteles häufig implizit in den Passagen zur Praxis und im Kontext der Tugenden zu finden sind.
1.
Nachweis der Existenz moralischer Prinzipien
a.
Der Praxis-Begriff als Ausgangspunkt
Der Begriff der praxis ist schwer einzufangen, weshalb viele Interpreten ihn mittels Unterscheidungen zu anderen Begriffen wie theôria (Betrachtung) oder poiêsis (Herstellung) einzugrenzen versuchen. Der zentrale Unterschied zur theôria ist der Gegenstandsbereich: Während sich die theôria auf das Unveränderliche, Notwendige und Ewige richtet, ist von praxis die Rede, wenn etwas »anders sein kann«. Dies trifft allerdings auch auf die Tätigkeitsform der poiêsis zu, mit der die praxis noch die Gemeinsamkeit teilt, dass der Mensch in beiden Fällen als die »Bewegursache« identifiziert wird. Als Unterscheidungsmerkmal zwischen diesen beiden hingegen dient der ›Ort‹ ihrer Zweckursache, das Ziel der Tätigkeit: Bei der poiêsis besteht das Ziel außerhalb der Tätigkeit, bei der praxis ist es in der Tätigkeit selbst enthalten. Theoretisch mag diese Differenzierung nachvollzogen werden, doch in phänomenaler Hinsicht stößt man schnell an die Grenzen der gegebenen Charakterisierung, weshalb viele Autoren sie letztlich als inadäquat ablehnen. 4 Die Art des Zieles ist noch für eine andere Unterscheidung Vgl. Kraut (2006), S. 164. Siehe dazu insbesondere Ebert (1976), aber auch Müller, A. W. (2006), S. 201 ff.; Ackrill (1980), S. 94.
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aufschlussreich – sie dient auch der Differenzierung zwischen praxis und tugendhafter praxis: Nach Reeve ist nämlich das Ziel von tugendhafter praxis dadurch gekennzeichnet, dass es ein Ziel ist, das seinetwegen und der eudaimonia wegen angestrebt wird. 5 Ein Problem des praxis-Begriffs im Kontext der Nikomachischen Ethik ist sicherlich, dass er sehr variabel verwendet wird. An einigen Stellen (z. B. III 3, 1111a25 f.) bekommt man den Eindruck, dass jegliches Handeln (prattein) davon umfasst wird, andere Stellen wiederum deuten auf eine restriktivere Verwendung hin, indem beispielsweise Kindern eine Handlungsfähigkeit abgesprochen wird, weil sie noch nicht zu vorsätzlichem Handeln in der Lage seien. Der letztgenannte ›qualifizierte‹ praxis-Begriff setzt offensichtlich die prohairesis (Vorsatz) voraus. Da es im Kontext der Nikomachischen Ethik und speziell in dem der phronêsis um tugendhaftes Handeln geht, möchte ich mich im Folgenden darauf konzentrieren, wie tugendhafte praxis definiert wird. Als das zentrale Charakteristikum tugendhafter praxis gilt, dass sie wie von einem tugendhaften Menschen vollzogen wird. Anders als bei der poiêsis, bei der die Qualität des Produkts letztlich der Beurteilungsmaßstab für die Güte der Herstellung ist und nicht für die des Herstellenden, gibt es keine ›Entlastung‹ dieser Art für den Handelnden im ethischen Kontext. Sein Handeln offenbart seine Persönlichkeit, weil sich in seinem Handeln seine Zielauffassung zeigt – die Art der Ziele aber besitzt persönliche Aussagekraft. Aristoteles begnügt sich allerdings nicht mit dem bloßen Hinweis auf den tugendhaft Handelnden, sondern gibt darüber hinaus in EN II 3 Bedingungen für die nötige Verfassung des Handelnden an: »Hingegen werden die Dinge, die aufgrund der Tugenden entstehen, nicht schon dann auf gerechte oder mäßige Weise getan, wenn sie selbst sich auf bestimmte Weise verhalten, sondern erst, wenn auch der Handelnde in einer bestimmten Verfassung handelt, und zwar erstens wissend, zweitens vorsätzlich – und zwar vorsätzlich um der Handlung selbst willen –, drittens aus einer festen und unveränderlichen Disposition heraus. […] Die getanen Dinge werden dann also gerecht und mäßig genannt, wenn sie so beschaffen sind, wie sie der Gerechte und der Mäßige tun würden. Gerecht und mäßig ist aber nicht (schon), wer solche Dinge tut, sondern wer sie außerdem so tut, wie es die gerechten und mäßigen Menschen tun.« (1105a28–1105b9)
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Vgl. Reeve (1995), S. 106.
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Die hier angeführten Bedingungen werde ich im Folgenden näher ausführen.
b.
Die Bedingungen tugendhaften Handelns
Eine tugendhafte Handlung hat der zitierten Passage zufolge nicht nur eine bestimmte Beschaffenheit, sondern zeichnet sich zusätzlich dadurch aus, dass sie 1) wissentlich, 2) vorsätzlich, 3) um der Handlung selbst willen sowie 4) aus einer stabilen Haltung heraus erfolgt. An früherer Stelle hat Aristoteles tugendhaftes Handeln darüber hinaus dadurch charakterisiert, dass es 5) erfreulich ist, sprich: gerne vollzogen wird. Die erste Bedingung, das Wissen um die Tugendhaftigkeit des eigenen Handelns, irritiert, wenn man sich die Textstellen vor Augen führt, in denen Aristoteles sich skeptisch zu den Möglichkeiten des Wissens in der Praxis äußert. Auch innerhalb der zitierten Stelle scheint er diese erste Voraussetzung wieder relativieren zu wollen, wenn er dem Wissen »kein oder nur ein geringes Gewicht« zugesteht (EN II 3, 1105b2 f.). Diese Zurücksetzung des Wissens lässt sich meiner Meinung nach dadurch erklären, dass es in den Kapiteln 1–3 von Buch II um die Entstehung von charakterlichen Tugenden geht, die durch Gewöhnung und stetige Übung erworben werden. Ein zu großes Augenmerk auf das Wissen hätte an dieser Stelle die Gefährdung von Aristoteles’ eigener These zur Folge, nach der sich moralische Unterweisung nicht in (bloßer) Erkenntnis, sondern in ihrer Umsetzung ausdrücken müsse (EN II 2, 1103b26–30). Dass Aristoteles aber keineswegs die Bedeutung von Wissen negiert, wird ex negativo insbesondere an EN III 2 deutlich, wo er sich ausführlich und subtil mit dem Handeln aufgrund von Unwissenheit (di’ agnoian) und in Unwissenheit (agnoôn) im Kontext der Diskussion von Freiwilligkeit beschäftigt. Die Differenz zwischen diesen Formen der Unwissenheit ist nicht einfach zu eruieren, da Aristoteles zusätzliche Ebenen der Unterscheidungen innerhalb dieser Formen mittels der Folgereaktion des Bedauerns einzieht; diese wiederum aber in beiden Varianten erörtert. So nimmt er auf der einen Seite innerhalb des Handelns aufgrund von Unwissenheit eine Abgrenzung vor zwischen dem Handelnden, der im Anschluss Bedauern empfindet und dementsprechend gegen sein Wollen (akôn) tätig war und demjenigen, der kein Bedauern spürt und daher A
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ohne sein Wollen (ouch hekôn) gehandelt hat (EN III 2, 1110b21 ff.). Auf der anderen Seite benutzt er die Reaktion des Bedauerns auch im Kontext des Handelns in Unwissenheit als ein Indiz, um eine bestimmte Form der Unwissenheit als eine Handlung gegen das Wollen zu klassifizieren, obwohl er zuvor das Handeln aufgrund von Unwissenheit von dem in Unwissenheit separiert hat (EN III 2, 1110b24 f.). Möglicherweise erleichtert die Binnendifferenzierung im Rahmen der Diskussion von Handeln in Unwissenheit das adäquate Verständnis: Insgesamt geht Aristoteles von Unwissenheit auf drei Ebenen aus; zunächst spricht er von einer Unwissenheit im Vorsatz, anschließend führt er die Unkenntnis des Allgemeinen an und zuletzt die Unwissenheit des Einzelnen, der Handlungsumstände (EN III 2, 1110b31– 1111a2). Allein auf der letzten Ebene lässt Aristoteles – mit Einschränkungen – die Möglichkeit des Bedauerns und des Mitleids und der Verzeihung zu, weil es ein Handeln gegen das Wollen sei, während die Unkenntnis des Vorsatzes einen schlechten Menschen offenbare und die Unkenntnis des Allgemeinen als tadelnswert gelte. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum für einen Menschen das Wissen »über das, was er tun und was er unterlassen soll« (EN III 2, 1110b28 f.) eine zentrale Voraussetzung für seine tugendhafte Verfassung ist. Diese Folgerung widerspricht der Einschätzung, dass moralisches Handeln epistemisch unbestimmt sei. 6 Die vordergründige Vernachlässigung des Wissens wird also durch die an anderer Stelle erfolgende komplexe Phänomenologie des Handelns unter Bedingungen von Unwissenheit widerlegt. Der zweiten Bedingung, die Notwendigkeit eines Vorsatzes 7 (prohairesis) als Ausgangspunkt einer tugendhaften Handlung, misst Aristoteles am meisten Bedeutung zu. In III 4 führt er explizit aus: »[…]; denn der Vorsatz gilt als besonders eng mit der Tugend verbunden und soll noch mehr als die Handlungen Unterschiede im Charakter von Menschen anzeigen« (1111b5 f.). Der Vorsatz nimmt offensichtlich die exponierte Rolle eines Indikators für die Verfassung eines Menschen ein. Der Vorsatz fällt in den Bereich des Freiwilligen, der allerAuf diesen Vorwurf gehe ich im Rahmen des phronêsis-Kapitels ausführlicher ein. Die Übersetzung von prohairesis variiert: Gigon beispielsweise gibt sie mit »Entscheidung« wieder; im Englischen wird sie häufig als »choice« übersetzt. Zentral an der prohairesis ist ihr intentionaler Charakter, weshalb ich im Folgenden bei Wolfs Formulierung »Vorsatz« festhalte, auch wenn an manchen Stellen die Wiedergabe mit »Entscheidung« treffender sein mag.
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dings weiter gefasst ist, da auch Kinder und Tiere daran Anteil haben können und spontane Launen ebenfalls darunter fallen (EN III 4, 1111b6–10). Der Vorsatz ist dem Wunsch (boulêsis) ähnlich, von dem er sich jedoch darin unterscheidet, dass der Vorsatz sich auf den eigenen Wirkbereich (ta eph’hêmin) beschränkt (EN III 4, 1111b19 f.). Diesen Gegenstandsbereich teilt er sich mit der Überlegung (bouleusis), wobei diese erst noch den Inhalt des Vorsatzes bestimmen muss (EN III 5, 1113a2 ff.). Letztlich kommt Aristoteles zu folgender Definition der prohairesis: »Da nun Gegenstand des Vorsatzes etwas Erstrebtes und Überlegtes unter denjenigen Dingen ist, die in unserer Macht stehen, wird auch der Vorsatz ein mit Überlegung verbundenes Streben nach den Dingen sein, die in unserer Macht stehen.« (EN III 5, 1113a9 ff.)
Insbesondere in der Formulierung »ein mit Überlegung verbundenes Streben« kommt der spezifische Charakter des Vorsatzes gut zum Tragen: Er bezeichnet die mit Rationalität verbundene Willentlichkeit. 8 Aus diesem Grunde kann der Vorsatz auch so gut ausdrücken, welches Verständnis des Guten der Akteur besitzt: 9 Wenn er sich tugendhaftes Handeln vornimmt, dann nur, weil er es als gut anerkannt hat. Der Vorsatz ist eng mit der nächsten Bedingung verbunden, die besagt, dass eine Handlung um ihrer selbst willen ausgeführt werden solle. Dies hängt einerseits eng mit dem Begriff der praxis zusammen, dem zufolge das Handlungsziel in der Handlung selbst liegt, während es bei der poiêsis außerhalb der Handlung zu verorten ist. Doch die Formulierung »um ihrer selbst willen« ist noch stärker, da darin die zusätzliche Anforderung ausgedrückt wird, dass die Handlung aus intrinsischen Gründen gewählt sein soll, wodurch der motivationale Aspekt in den Vordergrund tritt. Eine tugendhafte Handlung zeichnet sich demnach dadurch aus, dass sie allein wegen ihrer Tugendhaftigkeit angestrebt wird, ohne dass andere Komponenten wie die Aussicht auf externe Güter die Motivation ›kontaminieren‹. 10 Für den rationalen Anteil der prohairesis argumentiert insbesondere Sorabji, in: Sorabji (1980), S. 201–205. 9 Siehe dazu: Korsgaard (1996), S. 215. 10 Vgl. Kraut (1976), S. 236. Häufig spricht Aristoteles auch davon, dass eine Handlung »um des kalon willen« ausgeführt werden solle. Diese Bezeichnungen »um ihrer selbst willen« und »um des kalon willen« sind nicht als synonym zu verstehen, wobei es aber eine starke Verknüpfung gibt. Das kalon verfügt noch zusätzlich über eine ästhetische 8
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Die vierte Bedingung, die feste und unveränderliche Disposition, zielt auf eine Regularität ab, die im Charakter des Handelnden verankert ist. Unter der »Festigkeit« – im griechischen Text steht das Adverb bebaiôs – ist eine Art ›Unverführbarkeit‹ durch Überredungen anderer oder eine Resistenz gegenüber Schwierigkeiten, die sich beim guten Handeln auftun können, zu verstehen. 11 Der Begriff der »Unveränderlichkeit«, der durch das Adverb ametakinêtôs wiedergegeben wird, beschreibt dagegen eine nicht mehr zu verlassende Stufe der moralischen Entwicklung, wobei unklar ist, ob die Unveränderlichkeit als ausnahmslos oder als ›lediglich‹ stabil zu interpretieren ist. Die Diskussion über die Regularität werde ich im dritten Hauptteil ausführlich vornehmen, weshalb ich an dieser Stelle nur festhalten möchte, dass diese Bedingung offensichtlich punktuelle moralische Handlungen als unzureichend betrachtet. Obwohl die Lust beim tugendhaften Handeln nicht bei den zitierten Bedingungen genannt worden ist, kommt ihr eine wichtige Rolle als motivationale Kraft hin zur Tugendhaftigkeit zu – sofern sie richtig gebraucht wird. Denn durch die Lust wird das Streben bzw. das Vermeiden initiiert, auf dessen Gegenstände die (charakterliche) Tugend ausgerichtet ist (EN II 2, 1104b30 ff.). Aus diesem Grunde ist es so zentral, von Jugend an Lust bei den wählenswerten Dingen wie dem Werthaften (kalon), dem Nützlichen (sympheron) und dem Angenehmen (hêdy) auszubilden; auf diese Weise wird eine fundamentale Weichenstellung vorgenommen. Beim erwachsenen Menschen ist seine Disposition durch wiederholtes Handeln bereits so gefestigt, dass die Lust dann als ein Seismograph für seine Tugendhaftigkeit dient: »Als Anzeichen der Dispositionen müssen wir die Lust oder Unlust nehmen, die die Taten begleitet: Wer sich der körperlichen Lust enthält und sich gerade daran freut, ist mäßig, wer dies aber ungern tut, ist unmäßig. Wer dem Furcht Erregenden standhält und das mit Freude tut oder wenigstens ohne Unlust, der ist tapfer, wer hingegen Unlust empfindet, ist feige. Denn die Charaktertugend ist auf Lust und Unlust bezogen.« (EN II 2, 1104b3–9)
Auch wenn die Lust beim tugendhaften Handeln nicht explizit in dem ›Katalog der Bedingungen‹ auftaucht, ist sie nichtsdestoweniger ein unabdingbarer Bestandteil der tugendhaften Handlung. An der Lust Komponente, die sich auch in der lustvollen Ausführung und Sichtbarkeit der Handlung widerspiegelt. Vgl. dazu: Lear (2006), S. 117. 11 Vgl. Sarah Broadie (1991), S. 89.
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beim guten Handeln verläuft nämlich nicht zuletzt die Grenzlinie zwischen dem Tugendhaften und einem ›bloß‹ beherrschten Menschen.
c.
Die Unterscheidung von Handlung und Handeln
Nach der Diskussion der angeführten Zusatzbedingungen möchte ich auf die Unterscheidung zwischen zwei Handlungstypen eingehen, die in diesem Zitat enthalten ist. Auf der einen Seite ist von Handlungen die Rede, die »sich auf bestimmte Weise verhalten«; auf der anderen Seite werden Handlungen angeführt, die darüber hinaus über die aufgelisteten Bedingungen verfügen und im engeren Sinne als tugendhaft gelten. Begrifflich werden beide Handlungstypen als praxis benannt, was eine zentrale Schwäche dieses Terminus offenbart: er ist ungenau. Anselm W. Müller versucht in seinem rezenten Aufsatz »Zur Teleologie der aristotelischen phronêsis« dieser Unschärfe zumindest in der deutschen Sprache beizukommen, indem er zunächst zwischen einer materialen und einer formalen Komponente des Handelns differenziert und anschließend jeder Komponente den entsprechenden Handlungstyp zuordnet. 12 Unter der materialen Komponente des Handelns versteht er ihre Beschaffenheit, die Art und Weise ihrer Beschreibung (z. B. gerechte Handlung). Diese Form der praxis möchte er als Handlung verstanden wissen. Die formale Komponente des Handelns hingegen beinhaltet die bereits erklärten Bedingungen; es geht hierbei um den Vollzug von Tugend im Sinne der Aktualisierung einer tugendhaften Verfassung (z. B. Handlung eines gerechten Menschen). Diese Variante von praxis bezeichnet er als Handeln. Da der konkrete Akt in erster Linie durch seine Beschaffenheit Wirkung entfaltet und die Haltung des Handelnden sich einem phänomenalen Zugriff entzieht, bleibt auch bei dieser Differenzierung das Problem der fehlenden Transparenz bestehen, das wohl als unaufhebbar akzeptiert werden muss. Der Begriff des Handelns ist also weiter gefasst als der eines Akts, denn er beinhaltet zusätzlich zu der Beschreibung eines äußerlich wahrnehmbaren Geschehens auch Aussagekraft über seine genuine Tugendhaftigkeit. Der Begriff Handeln ist aber nicht nur umfassender,
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Vgl. Müller, A. W. (2006), S. 203 f., 208. A
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sondern auch normativ vorrangig dem der Handlung gegenüber. Dies ist aus folgender Textstelle in EN VI 13 abzuleiten: »Wie wir sagen, dass manche Menschen gerechte Handlungen tun, ohne schon gerecht zu sein – zum Beispiel diejenigen, die das von den Gesetzen Angeordnete widerwillig oder aufgrund von Unwissenheit oder aus einem anderen Grund und nicht aufgrund der Anordnungen selbst tun (obwohl sie gerade tun, was man soll, und alles tun, was der Gute tun muss) –, ebenso besteht, so scheint es, die Möglichkeit, dass jemand die jeweiligen Handlung in einer bestimmten Disposition tut, so dass er ein guter Mensch ist; […].« (1144a13–19)
Die konkrete Handlung kann also ein Akt von Gerechtigkeit sein, ohne dass sie selbst schon gerecht im eigentlichen Sinne ist, sprich: von einem tatsächlich gerechten Menschen vollzogen wird. Wenn eine Handlung als ein gerechter Akt bezeichnet werden kann, ohne dass die strukturellen Bedingungen tugendhaften Handelns erfüllt sind, ist daraus zu schließen, dass inhaltliche Vorgaben existieren müssen, die eine solche Charakterisierung erlauben. Im moralischen Kontext bezeichnet man solche inhaltlichen Bestimmungen, die darüber hinaus von normativer Relevanz sind, als Prinzipien (hier: im Sinne von Handlungsregeln). Auf die vormals eingeführte Unterscheidung von Handlung und Handeln übertragen, lässt sich folgern, dass eine tugendhafte Handlung in der Befolgung eines Prinzips besteht, während tugendhaftes Handeln die Aktualisierung einer tugendhaften Haltung ausdrückt. Für die partikularistische Position ergibt sich ein ambivalentes Bild angesichts dieses Ergebnisses: Auf der einen Seite erfährt sie eine Schwächung, weil ein starker Partikularismus, der jegliche Prinzipien in der aristotelischen Ethik verneint, abgelehnt werden kann. 13 Wenn Prinzipien die Einordnung von Handlungen erlauben, nehmen sie eine nicht zu vernachlässigende Rolle ein. Auf der anderen Seite besitzt der Begriff des Handelns ein Primat gegenüber dem der Handlung; dementsprechend gilt die Aktualisierung einer (tugendhaften) Haltung als vorrangig gegenüber der Anwendung von Prinzipien, was die partikularistische Argumentation unterstützt. Fraglich ist allerdings, ob die Vorrangstellung des Handelns gegenüber der Handlung eine Art ›ÜberSo aber vertreten durch Janet Sisson in der Einleitung zum Apeiron-Sammelband »Aristotle, Virtue and the Mean«, wo sie die Position vertritt, dass Prinzipien bei Aristoteles keine Rolle spielen: »In Aristotelian ethics, there are no codes of rules, […].« Vgl. Sisson (1995) (viiif.).
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trumpfung‹ darstellt, oder ob darunter eine ›Ausweitung‹ zu verstehen ist. Partikularisten wie Abizadeh und auch Devereux halten offensichtlich ein Szenario der Abwägung für denkbar, bei dem gegebenenfalls dem tugendhaften Handeln der Vorzug gegeben werden müsste. 14 Dagegen zeigt das letzte Textbeispiel, dass es keinen inhaltlichen Widerspruch zwischen der gerechten Handlung und dem gerechten Handeln gibt; in beiden Fällen besteht der Akt der Gerechtigkeit in der Befolgung der Gesetze, lediglich die Haltung der Handelnden ist voneinander unterschieden. Dies spricht in meinen Augen dafür, den Begriff des Handelns als umfassender, aber nicht inhaltlich divergierend zu interpretieren. Das tugendhafte Handeln ist demnach keine Alternative zur Befolgung von Prinzipien, sondern diese ist ohnehin darin enthalten, ergänzt durch die entsprechende Haltung. Diese Argumentation möchte ich in den nachfolgenden Abschnitten weiterverfolgen, indem ich zunächst untersuche, welche moralischen Prinzipien in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles existent sind. Im Anschluss daran gehe ich der Frage nach, wie die Normfigur, das Paradigma eines tugendhaften Menschen, sich gegenüber Prinzipien verhält.
2.
Diskussion potentieller moralischer Prinzipien
Wenn von Prinzipien bei Aristoteles die Rede ist, ist zunächst Vorsicht geboten. Der Begriff »Prinzip« (archê) ist nämlich ein zentraler Begriff der aristotelischen Philosophie, der im Kontext seiner Ursachen-Lehre ontologisch und als der Ausgangspunkt von Beweisen epistemologisch zu verstehen ist. Auch die Ethik verfügt über Prinzipien in diesem Wortverständnis – zwei werden von Aristoteles selbst genannt: Als eine praktische Wissenschaft hat die Ethik mit Handlungen zu tun, deren Prinzip (archê) ihr Zweck (hou heneka) ist (»beim Handeln aber ist das Worum-willen das Prinzip«, EN VII 9, 1151a16). Das Worumwillen, der Zweck wird als die Glückseligkeit (eudaimonia) identifiziert (EN I 6, 1097b20 f.). Der handelnde Mensch hingegen ist insofern Prinzip, als er als Bewegursache von Handlungen gilt (vgl. EN III 1, 1110a15 ff./EN VI 3, 1139b5). Der Zweck spielt eine wichtige Rolle für die Strebensanalyse, während der Mensch als Bewegursache vor allem im Kontext der moralischen Verantwortung thematisiert wird. 14
Vgl. Devereux (1986), S. 498; Abizadeh (2002), S. 288 f. A
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Moralische Prinzipien in der Ethik des Aristoteles
Das jeweilige Handlungsziel ist also ontologisch ein Prinzip, und die eudaimonia als Endpunkt ethischer Zielketten gilt als das erste Prinzip. 15 Die exklusive Bedeutung der eudaimonia für die aristotelische Ethik ist unbestritten, fraglich bleibt aber, inwieweit die eudaimonia als ein Moralprinzip nach modernem Verständnis gelten kann. Da die tugendethische Konzeption von einem guten Leben die charakterlichen Tugenden in die richtige Handlungsweise einschließt, ist dem ratlosen Menschen nicht geholfen, wenn man ihn auf die Handlungen eines tugendhaften Menschen verweist – schließlich möchte er wissen, worin diese bestehen. 16 Die eudaimonia scheint daher als ein handlungsanweisendes Prinzip nicht in Frage zu kommen. Aufgrund dieser starken Abstraktion kann die partikularistische Kritik an ihrer Unbestimmtheit nachvollzogen werden. Denn es ist gerade ihre handlungsanleitende Funktion, die von Partikularisten in Frage gestellt wird, da die eudaimonia wegen ihres unbestimmten und allgemeinen Charakters kaum Orientierung in konkreten Situationen biete. 17 Dieser Punkt verdient Aufmerksamkeit: Sind aus der Bestimmung von eudaimonia tatsächlich keinerlei andere moralische Prinzipien abzuleiten, die ausnahmslos gelten und dennoch konkreter sind? Aristoteles hat diesen Einwand selbst antizipiert, denn er beginnt das sechste Kapitel des ersten Buches mit den Worten: »Doch zu sagen, dass das beste Gut im Glück besteht, ist wohl offensichtlich ein Gemeinplatz, und man wünscht sich, noch genauer erläutert zu haben, was es ist.« (1097b22 ff.)
Es folgt das ergon-tou-anthrôpou-Argument, das mit der Konklusion endet, dass sich das glückselige Leben »als Tätigkeit der Seele im Sinn der Gutheit« ausdrücke. Dieser Bestimmung sind metaphysische und psychologische Implikationen eigen, die diesen Schluss rechtfertigen. 18 Denn die »Tätigkeit der Seele« hängt m. E. entschieden davon ab, wie Aristoteles die menschliche Seele begreift, die er insbesondere in der Schrift De anima untersucht. Die Voraussetzungen des ergonArguments wie der Aufbau der Seele, die Auffassung von der Seele als Form des belebten Körpers, die menschliche Natur im Allgemeinen Vgl. Reeve (1995), S. 29. Vgl. Striker (2006), S. 133. 17 Vgl. McDowell (1996a), S. 20 f. 18 Vgl. Irwin (1980), S. 48. Zu den metaphysischen und psychologischen Implikationen des ergon-Arguments äußere ich mich in Kap. VIII.5.c. 15 16
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sind für Aristoteles Prinzipien, die die Basis für seine Ethik bilden. 19 Allerdings gehören diese Prinzipien – wie die eudaimonia – aufgrund ihres basalen Charakters zu einer Klasse von Prinzipien, die ich als ›konstitutiv‹ bezeichnen möchte, da sie die Grundlage seines ethischen Konzepts bilden.
a.
Die mesotês-Lehre
Von einer Wirkungskraft im Sinne von Handlungsbestimmung kann erst auf der Ebene der mesotês-Lehre die Rede sein, in der die Bestimmung der Tugend gemäßen Tätigkeit der Seele mündet. Der »Lehre von der Mitte« zufolge besteht die (ethische) Tugend im Handeln nach der durch die richtige Überlegung (orthos logos) festgelegten Mitte, und zwar so wie der phronimos es zu tun pflegt (EN II 6, 1106b36– 1107a2). Die mesotês-Lehre gehört zu den heftig umstrittenen Elementen der aristotelischen Ethik – die Spannbreite der Meinungen reicht von Bernard Williams’ Urteil, dass es sich dabei um »einen der berühmtesten und zugleich überflüssigsten Teile« des aristotelischen Systems handele, 20 bis zur emphatischen Position von Christof Rapp, der die gesamte Tugendlehre von Aristoteles unmittelbar mit ihr verbunden sieht. 21 In diesem Kontext spielt die Frage, inwiefern die mesotês-Lehre selbst ein moralisches Prinzip darstellt, eine wichtige Rolle: Können der Doktrin von der Mitte verbindliche Handlungsregeln entnommen werden oder zeichnet sie sich umgekehrt gerade durch ihre hohe Flexibilität und fehlende Anweisung aus? 22 Aristoteles führt seine Auffassung von der Mitte in EN II 5 mit folgenden Worten ein: »Bei allem Kontinuierlichen und Teilbaren kann man einen größeren, einen kleineren oder einen gleichen Betrag nehmen, und dies entweder in Bezug auf die Sache selbst oder in Bezug auf uns. Das Gleiche ist eine Art Mittleres zwischen Übermaß und Mangel. Ich nenne aber das Mittlere der Sache das, was gleich weit von beiden Extremen entfernt ist, und das ist für alle ein und Vgl. Sarah Broadie (1991), S. 28. Williams (1999), S. 58. 21 Vgl. Rapp (2006), S. 100. 22 Positiv beantwortet Irwin diese Einschätzung der mêsotes-Lehre. Vgl. Irwin (2 2003), S. 111. Die Beiträge in dem Sammelband von Bosley/Shiner/Sisson hingegen schätzen sie allesamt negativ ein. Vgl. Bosley/Shiner/Sisson (1995). 19 20
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dasselbe. Hingegen meine ich mit dem Mittleren in Bezug auf uns, was weder zu viel noch zu wenig ist; dies ist nicht eines, und es ist auch nicht für alle dasselbe.« (1106a26–32)
Der Unterscheidung zwischen einer Mitte der Sache nach und der Mitte in Bezug auf uns (pros hêmas) ist deutlich zu entnehmen, dass letztere, die für die Bestimmung der Tugend maßgeblich ist, keine fixe Größe sein kann. Anders als bei einer arithmetisch bestimmbaren Mitte (die Mitte von zwei und acht ist beispielsweise fünf) gilt es, die Mitte der Tugend immer wieder neu auszutarieren. Die tugendgemäße Mitte ist kein Durchschnittswert, da die Extreme keineswegs denselben Abstand von der Mitte haben müssen, was die Bestimmung der Mitte so schwer macht. Aus diesem Grund ist es auch verfehlt, eine Art Durchschnittlichkeit mit Hilfe der Empfehlung des Maßhaltens einzuführen. Die geistesgeschichtliche Tradition des Ideals vom Maßhalten, das im Diktum »Nichts im Übermaß« (mêden agan) seine allgemeine Formulierung fand, 23 verführt zwar zu einer solchen Lesart, erweist sich aber in Bezug auf Aristoteles als irreführend. Eine extrem erscheinende Handlung kann nämlich je nach Begebenheit als eine tugendhafte gelten. Heftiger Zorn mag beispielsweise im Falle einer schwerwiegenden Ehrverletzung die tugendhafte Mitte ausdrücken, während er im Kontext einer beiläufigen Beleidigung als übertrieben zu kennzeichnen wäre. 24 Die Mitte der Tugend markiert stets das Optimum aller Handlungen (vgl. EN II 6, 1107a6 ff.). Wenn nun aus der mesotês-Lehre nicht die Handlungsregel des Maßhaltens gefolgert werden kann, ist sie dann komplett hinfällig als ein moralisches Prinzip? Aristoteles gibt in EN II 9 zumindest die Anweisung, dass man dem Verhaltensmuster, zu dem man in der Regel neigt, gegensteuern müsse, um die Mitte besser zu treffen. Diese Handlungsempfehlung ist allerdings psychologischer, nicht normativer Natur. Daneben gibt es noch die Interpretation, nach der die tugendhafte Mitte in einer mittleren Disposition gegenüber der Handlung bestehe. 25 Doch auch diese Auffassung basiert letztlich Einen guten Einblick in den geistesgeschichtlichen Kontext gibt das Kapitel VIII von Henry Osborn Taylor (2 1964). 24 Aristoteles weist im Kontext der Sanftmut darauf hin, dass das bloße Erdulden von Beschimpfungen letztlich einen sklavischen Charakter offenbare, da ein solcher Mensch sich zu passiv verhalte und zur Selbstverteidigung unfähig sei. Allerdings deutet die differenzierte Phänomenologie von Formen des Zorns darauf hin, dass die Verfehlung durch übermäßigen und unangebrachten Zorn weitaus häufiger vorkommt. 25 Vgl. Urmson (1988), S. 34. 23
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auf einem Verständnis von der Mitte, das die mesotês als eine Art Handlungsanleitung begreift, was mit den vielen zu berücksichtigenden Parametern schwer zu vereinbaren ist. In EN II 5 nennt Aristoteles einige: »Dagegen sie zu empfinden, wann man soll, bei welchen Anlässen und welchen Menschen gegenüber, zu welchem Zweck und wie man soll, ist das Mittlere und Beste, und dies macht die Tugend aus.« (1106b21 f.)
Durch die Einführung dieser Parameter macht Aristoteles auf ein Moment der Flexibilität aufmerksam, das die mesotês-Lehre wenig praktikabel macht. Streng genommen potenziert er mit den Parametern die ohnehin präsente Flexibilität, denn in der Definition der Mitte, die er in 1106a26–32 gibt, ist bereits ein changierendes Element vorhanden, die »Mitte für uns«. Fraglich ist, was genau Aristoteles mit der »Mitte für uns« meint: Ist die tugendhafte Mitte variabel, weil die Handlungssituationen stets verschieden ausfallen können (situationsrelative Position) oder weil der jeweils Handelnde eine unterschiedliche Konstitution aufweist (akteurrelative Position)? Ich möchte diese Frage näher diskutieren, weil ihr meiner Meinung nach wichtige Erkenntnisse in Hinsicht auf die Funktion des phronimos zu entnehmen sind. Im Folgenden möchte ich mich zunächst der akteurrelativen Deutung zuwenden. Auf die Frage, wen Aristoteles mit »uns« gemeint haben könnte, sind bereits zahlreiche Interpretationsvorschläge gemacht worden. Das Spektrum der Antworten reicht von einer individualistischen Lesart, nach der die tugendhafte Mitte für jeden Handelnden qua Person eine andere wäre, bis zu einer kollektivistischen Interpretation, der zufolge die richtige Mitte sich nach dem gesellschaftlichen Status des Akteurs bemisst. 26 Ferner ist auch zwischen der Mitte je nach moralischem Entwicklungsstadium oder speziellen Attributen unterschieden worden. Trotz der Vielfalt in der Bestimmung des terminus comparationis, nach dem sich die Mitte ausrichtet, stimmen diese Ansätze alle darin überein, dass sie den Ursprung der Variabilität auch oder ausschließlich im moralischen Akteur verorten. Im Kontrast dazu hat sich Lesley Brown gegen jegliche akteurrelative Interpretation gewandt und stattdessen für eine generalistische Lesart plädiert, der zufolge das »wir« (hêmas) alle Menschen (»relative to us as human beings«) Vgl. die Diskussion aller hier aufgeführten Interpretationsvorschläge in Leighton (1992), S. 50 f.
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umfasst. 27 Dieser Qualifizierung liegt laut Brown eine inhärente Normativität zugrunde, da sie die menschliche Natur berücksichtige. Insbesondere zwei Aspekte in der Argumentation von Brown verdienen Beachtung: Zum einen sieht er eine Spannung zwischen einem akteurrelativen Ansatz und der Rolle des phronimos bei der Bestimmung der mesotês, zum anderen befürwortet er eine neuartige Lesart des sog. Milo-Beispiels. Die Figur des phronimos ist unmittelbarer Bestandteil der mesotês-Lehre, indem ihm die Bestimmung der Mitte obliegt: »Die Tugend ist also eine Disposition, die sich in Vorsätzen äußert, wobei sie in einer Mitte liegt, und zwar der Mitte in Bezug auf uns, die bestimmt wird durch die Überlegung (logos), das heißt so, wie der Kluge (phronimos) sie bestimmen würde.« (EN II 6, 1106b36–1107a2)
Der phronimos ist demnach die maßgebliche Instanz für die Festlegung der tugendhaften Mitte, die auch hier als »Mitte in Bezug auf uns« charakterisiert wird. Kraft seiner Überlegungskompetenz ist er für diese exponierte Rolle legitimiert. Aufgrund seiner Autorität fungiert er selbst als Standard, an dem sich der jeweilige Akteur zu orientieren hat. An diesem Punkt setzt die Spannung zwischen einem akteurrelativen Ansatz und der Rolle des phronimos ein: Eine akteurrelative Lesart müsste den Standard im Akteur selbst verorten, anstatt in der Figur des phronimos. Nach Brown basiert die Flexibilität der »Mitte in Bezug auf uns« auf den sich verändernden Parameter einer Handlungssituation – die Herausforderung der Bestimmung der Mitte bestehe demnach darin, sich in der Situation zu fragen, wie der phronimos sie in einer solchen Situation fixieren würde, und nicht, welche Mitte für einen selbst die adäquate ist. 28 Auch bei der Interpretation des Milo-Beispiels favorisiert Brown eine objektive Auslegung, indem er den moralischen Akteur im Trainer verortet, der das unterschiedliche Maß festlegt. 29 Das Beispiel lautet wie folgt: »Hingegen meine ich mit dem Mittleren in Bezug auf uns, was weder zu viel noch zu wenig ist; dies ist nicht eines, und es ist auch nicht für alle dasselbe. Wenn zum Beispiel zehn viel und zwei wenig ist, dann nimmt man als das der Vgl. Brown (1997). Vgl. ebd. (1997), S. 80 f. 29 Dieser Auffassung schließt sich Rosalind Hursthouse in einem aktuellen Aufsatz an. Vgl. Hursthouse (2006b). 27 28
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Sache nach Mittlere sechs, da es um den gleichen Betrag übertrifft und übertroffen wird; das ist die Mitte nach der arithmetischen Proportion. Das Mittlere in Bezug auf uns darf man jedoch nicht so nehmen. Wenn für jemanden Nahrung von zehn Minen zu viel und Nahrung von zwei Minen zu wenig ist, dann wird der Trainer (ho aleiptês) nicht Nahrung von sechs Minen vorschreiben (prostaxei); denn vielleicht ist auch das für denjenigen, der die Nahrung aufnehmen soll, zu viel oder zu wenig – für Milon wenig, für einen Anfänger in den athletischen Übungen viel. […] So meidet also jeder Kundige (pas epistêmôn) Übermaß und Mangel, das Mittlere dagegen sucht er und wählt eben diese, […].« (EN II 5, 1106a31–1106b6)
In der Regel wird diese Passage als Ausdruck einer flexiblen Mitte gedeutet, die in der unterschiedlichen Konstitution, Trainingsstand der beiden Akteure (Milon und der Anfänger) etc. begründet liegt. Der Kontrast zur arithmetischen Mitte »der Sache nach« lässt die Variabilität noch stärker hervortreten. Brown lenkt m. E. nun zu Recht das Augenmerk darauf, dass es der Trainer, der Kundige ist, der das jeweils richtige, wenn auch unterschiedliche, Maß bestimmt. 30 An anderer Stelle in EN II 5 weist Aristoteles selbst darauf hin, dass es jeder Kundige (pas epistêmôn) ist, der die »Mitte für uns« wählt. Dieses Ergebnis hat eine wichtige Konsequenz für das adäquate Verständnis vom phronimos: Der phronimos besitzt offensichtlich das Wissen, das benötigt wird, um sich in diesem unbestimmten Kontext zurechtfinden zu können. Unklar bleibt allerdings, an welchen Orientierungsmarken sich alle anderen Menschen, die nicht phronimoi sind, festhalten können – die folgende Untersuchung von möglichen Handlungsregeln beabsichtigt die Klärung.
b.
Handlungsregeln in der Nikomachischen Ethik
Bislang haben die Ausführungen zur mesotês-Lehre deutlich gemacht, dass sich aus ihr nur vage Anleitungen mit einem hohen Flexibilitätsgrad ableiten lassen, die der Kontextualisierung bedürfen. Es ergibt sich daher in Bezug auf die Ausdrücke mesotês, orthos logos sowie deî ein sehr ambivalentes Bild: Sie deuten auf eine Normativität hin, die aber nicht näher bestimmt ist, so dass man sie nicht mit dem Begriff Vgl. Brown (1997), S. 87 f. Die überzeugende Zurückweisung der akteurrelativen Interpretation durch Brown schließt aber nicht aus, dass bestimmte Eigenschaften des Handelnden im Kontext der Situationsparameter berücksichtigt werden.
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von Handlungsregeln strapazieren möchte. Fraglich bleibt aber, ob der Gegenstandsbereich für diese Prinzipien überhaupt sehr groß ist, denn in dem ›Tugendkatalog‹ der Nikomachischen Ethik verzichtet Aristoteles durchaus nicht auf die Formulierung von konkreten Handlungsregeln. Auch in anderer Hinsicht äußert er sich ausgesprochen präzise: Handlungen wie Mord, Ehebruch oder Diebstahl werden als ausnahmslos schlecht bezeichnet und nehmen eine besondere Stellung innerhalb der mesotês-Lehre ein. Diese beiden Typen von Handlungsregeln unterziehe ich im Folgenden einer genaueren Untersuchung. Anders als man aufgrund von Aristoteles’ Äußerungen zum Grundrisswissen vermuten könnte, begnügt er sich keineswegs mit der Skizzierung einer Ethik: Nachdem er die Tugend in Buch II und III allgemein abgehandelt hat, wendet er sich ab III 9 den einzelnen Tugenden in unterschiedlich ausführlichen Passagen zu. Den Auftakt gibt er mit den Worten an: »Nehmen wir jetzt die einzelnen Tugenden wieder auf und sagen, was sie sind, welches ihr Gegenstandsbereich ist und wie sie sich in ihm betätigen […].« (1115a4 f.). Die nachfolgenden Bestimmungen von Tapferkeit, von Mäßigkeit, von Tugenden im Umgang mit äußeren Gütern, von sozialen Tugenden und Gerechtigkeit dienen der Identifizierung der jeweiligen Mitte, die die gebotenen Handlungen anzeigt. Da der ›Tugendkatalog‹ als die beabsichtigte Ausbuchstabierung der mesotês-Lehre zu sehen ist, verfügt er auch über ihre entsprechende Normativität. Mit der Definition der einzelnen Tugenden geht folglich die Formulierung von praktischen Prinzipien im Sinne von verbindlichen Handlungsregeln einher. 31 In Buch V 3 der Nikomachischen Ethik lassen sich gleich mehrere Handlungsregeln der folgenden Passage entnehmen: »Das Gesetz ordnet aber auch an, die Taten des Tapferen zu tun (z. B. seinen Posten nicht zu verlassen, nicht zu fliehen, nicht die Waffen wegzuwerfen), ebenso die Taten des Mäßigen (z. B. nicht Ehebruch zu begehen oder Gewalttaten zu verüben) und des Sanftmütigen (z. B. andere nicht zu schlagen oder zu beleidigen), und ebenso für die anderen Tugenden und Laster, indem es das eine befiehlt, das andere verbietet – auf richtige Weise, wenn das Gesetz richtig festgelegt wurde, und weniger gut, wenn es flüchtig entworfen wurde.« (1129b19–25)
Über drei Tugenden kann man hier mittels ihrer Repräsentanten und deren Verhaltensformen Näheres erfahren: Tapferkeit, Mäßigkeit und 31
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Vgl. Anagnostopoulos (1994), S. 375 f.
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Sanftmut. Es werden einzelne Handlungstypen wie »Nicht den Posten verlassen« angeführt, die offensichtlich den ›materiellen‹ Gehalt dieser Tugenden anzeigen und deshalb auch durch Gesetz angeordnet werden können. Die den jeweiligen Tugendträgern zugewiesenen Handlungen stellen offensichtlich die Befolgung von geltenden Handlungsregeln dar, die eine zusätzliche Stützung durch das Gesetz erfahren. Es ist anzunehmen, dass diese Regeln eine hôs-epi-to-poly-Geltung besitzen, da sie zum einen in Ausnahmesituationen von der mesotês-Lehre übertrumpft werden können (wenn Situationsparameter eine Abweichung erforderlich machen) und zum anderen, weil positive Gesetze selbst eine hôs-epi-to-poly-Geltung entfalten. Die Verknüpfung mit dem Gesetz erhellt noch einen anderen wichtigen Aspekt: Der Tapfere verhält sich qua seiner Tugend wie es die Regel vorsieht. Das Gesetz aber ordnet sie an, um auch andere Menschen zu solchen Handlungen anzuhalten. Dieses Ergebnis unterstützt im Übrigen die in Kapitel V.1.c. vorgenommene Unterscheidung zwischen einer Handlung und Handeln: Handeln stellt eine bestimmte Handlung unter Erfüllung der Zusatzbedingungen dar; letztere sorgen dafür, dass der Tugendhafte mit der entsprechenden Haltung gar nicht der Sanktionskraft des Gesetzes bedarf. Ferner geht aus dieser Stelle hervor, dass jede Tugend über solche Regeln verfügt. Gegen die Bestimmung von Handlungsregeln in Form von Gesetzen könnte nun der Einspruch erhoben werden, dass es dabei zu einer Vermengung der legalen und moralischen Sphäre kommt, so dass der Nachweis genuin moralischer Handlungsregeln nach wie vor ausgeblieben ist. Einem solchen Verständnis liegt allerdings ein modernes Konzept von Moralität zugrunde, das die Durchdringung von Ethik und Politik in der Antike missachtet. Aristoteles ist eine solche Trennung von Sphären der Legalität und Moralität fremd, schließlich möchte er seine Ethik als einen Teil der Politik verstanden wissen, wie er sowohl zu Beginn als auch am Ende der Nikomachischen Ethik unterstreicht (vgl. I 2 1094b10 f./X 10). 32 Aus diesem Grunde ist es legitim, den Ort für die konkret ausbuchstabierten Handlungsregeln in den (guten) Gesetzen zu suchen. 33 Doch wie verhält es sich mit dem zweiten Typus von Handlungsregeln? Innerhalb der Ausführungen zur Doktrin der Mitte gibt es eine Schofield spitzt diese Verknüpfung folgendermaßen zu: »For Aristotle, there is just one sphere – politics – conceived in ethical terms.« Schofield (2006), S. 305. 33 Vgl. Striker (2006), S. 136. 32
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Passage, die irritierend ist, weil in ihr die sonst zu berücksichtigenden Bedingungen des richtigen Handelns (»wann man soll, bei welchen Anlässen und welchen Menschen gegenüber, zu welchem Zweck und wie man soll«, EN II 5, 1106b21 f.) außer Kraft gesetzt werden: Bestimmte Handlungen wie Ehebruch, Diebstahl und Mord werden ausnahmslos und generell als »schlecht« tituliert: »Nicht jede Handlung und nicht jeder Affekt lässt allerdings eine Mitte zu. Einige haben nämlich Namen, die die Schlechtigkeit bereits implizieren, zum Beispiel Schadenfreude, Schamlosigkeit, Neid, und im Fall der Handlungen Ehebruch, Diebstahl, Mord. All diese und ähnliche Dinge werden so benannt, weil sie selbst schlecht sind, und nicht das Übermaß oder der Mangel an ihnen. Man kann also in diesem Bereich niemals das Richtige treffen, sondern immer nur fehlgehen.« (EN II 6, 1107a8–15)
Ist diese Stelle nun als eine Ausnahme von der mesotês-Lehre zu verstehen oder ist sie mit ihr kompatibel? Die nachfolgenden Bemerkungen zum erfolglosen Versuch, eine Mitte bei ungerechten, feigen oder unmäßigen Handlungen zu finden, zeigen meiner Meinung nach, dass Aristoteles diesen Fehler exemplarisch mit den Handlungen von Ehebruch, Diebstahl und Mord vorführen wollte. Denn wer nicht versteht, dass die Situationsparameter nur beim Ermitteln der Mitte anzuwenden sind (und nicht im Bereich der Extremen), begeht nach Aristoteles einen schweren kategorialen Fehler, weil er sich innerhalb eines Bereichs der Verfehlung mit Mitteln der Tugend zu orientieren versucht. Dennoch scheint es einen strukturellen Unterschied zu geben zwischen einer feigen Handlung und einem Mord: Die feige Handlung bedarf zu ihrer Bestimmung auch die des Mutes – erst der Abstand zur tugendhaften Mitte sagt etwas über die abweichende Handlung aus. Während die Flucht in einer gefährlichen Situation nicht als feige bezeichnet werden braucht, kann sie in einer (bloß) unangenehmen Situation ein feiges Verhalten darstellen. Die Handlung der Flucht weist nicht dasselbe ›Fixierungspotential‹ wie die des Mordes auf: Jede Handlung, die unter den Sachverhalt des Mordes fällt, ist schlecht, während dies für eine Flucht nicht zutreffen muss. Das Verbot von Mord (und auch Diebstahl und Ehebruch) stellt folglich für Aristoteles eine ausnahmslose Norm dar – ein moralisches Prinzip, das nicht verletzt werden darf. 34 In diesem Kontext ist Aristoteles von seinem Diktum, dass es
34
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Vgl. Kaczor (1997), S. 42 f.
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in der Ethik nur hôs-epi-to-poly–Regeln gebe, selbst abgewichen. 35 Der Verweis darauf, dass diese Handlungen »die Schlechtigkeit bereits implizieren« sollte dabei nicht ausschließlich analytisch und damit als trivial verstanden werden. 36 Zum einen darf bezweifelt werden, dass die antiken Lebensverhältnisse so homogen waren, dass eine solche Selbstverständlichkeit des Sprachgebrauchs vorausgesetzt werden dürfte. 37 Zum anderen fällt die Klärung des Sachverhalts keineswegs leicht. Aristoteles weist auf dieses Problem in der Rhetorik hin, wo Angeklagte eine bestimmte Handlung zwar zugeben, sie aber nicht als Mord, Diebstahl oder Ehebruch verstanden wissen wollen: »Da man häufig zwar darin übereinstimmt, dass eine Tat erfolgt ist, jedoch in der Anklageformulierung oder in dem, worauf sich die Anklage bezieht, nicht übereinstimmt, – wie zum Beispiel zwar darin, dass einer genommen, nicht aber darin, dass er gestohlen habe, oder, dass einer zuerst geschlagen, nicht aber, dass er jemand übermütig misshandelt habe, oder, dass einer zwar mit jemandem geschlafen, nicht aber Ehebruch begangen habe, oder dass einer zwar gestohlen, nicht aber, dass er Tempelraub begangen habe – es habe nämlich nicht dem Gott gehört –, oder dass einer zwar fremdes Land bebaut habe, nicht aber, dass es öffentliches war, oder, dass einer, sich zwar mit den Feinden unterhalten habe, nicht aber, dass er Verrat begangen habe –, muss man deswegen wohl darüber Definitionen aufstellen, was Diebstahl, was übermütige Misshandlung, was Ehebruch ist […].« (Rh. I 13, 1373b38–1374a8)
Die verbotenen Handlungen werden von vielen Partikularisten vernachlässigt bzw. als unbedeutend eingeschätzt; deutlich ist aber, dass diese Ausführungen mit einem starken Partikularismus, der keinerlei Prinzipien in der aristotelischen Ethik gelten lassen will, nicht vereinbar sind. Möglicherweise liegt ein Grund für die Vernachlässigung auch darin, dass die verbotenen Handlungen als rein institutionell und damit politisch begründet eingeschätzt werden. 38 Dies ist sicher zutreffend, wenn auch die Gegenüberstellung von Moral und Politik bei Aristoteles überspitzt ist: eine gesetzliche Überschreitung kann durchaus auch aus moralischer Sicht eine falsche Handlung sein.
35 36 37 38
Vgl. Chappell (2006), S. 148. Vgl. Hardie (2 1980), S. 136 f. Vgl. Kaczor (1997), S. 53 ff. Vgl. Gómez-Lobo (1995), S. 18 f., FN 8. A
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c.
Das Verhältnis des phronimos zu den moralischen Prinzipien
Bislang habe ich Prinzipien in der Ethik identifiziert und klassifiziert, nun möchte ich ein Resümée ziehen. Insgesamt sind zwei Klassen von Prinzipien zu unterscheiden: 1) konstitutive Prinzipien wie die Bestimmung der eudaimonia als höchstes Gut oder die Definition des menschlichen ergon als tugendgemäße Tätigkeit der Seele sowie 2) moralische, praxisbezogene Prinzipien wie die Handlungsregeln, die im Kontext der Einzeltugenden vorkommen und die Verbote von Mord, Diebstahl und Ehebruch. Auf diesen Typus von Prinzipien möchte ich nun mein Augenmerk richten, da diese dem modernen Verständnis von moralischen Prinzipien als verbindlichen Handlungsregeln sehr nahe kommen. Doch gilt es zuvor innerhalb der moralischen Prinzipien die Binnendifferenzierung noch näher zu erklären. Es gibt Handlungsregeln, bei denen von einer hôs-epi-to-poly-Geltung ausgegangen werden kann und Handlungsregeln, die ausnahmslos gelten (verbotene Handlungen wie Mord, Diebstahl, Ehebruch). Die Ersteren können also durch die mesotês-Lehre übertrumpft werden können, sofern sich eine Situation aufgrund ihrer Parameter als eine Ausnahme herausstellen sollte. Die Bestimmungen der Einzeltugenden können daher nur als ceteris-paribus-Prinzipien aufgefasst werden, während die negativen Handlungsregeln unbedingte Geltung beanspruchen. Als Ergebnis kann also festgehalten werden, dass es durchaus praktische Prinzipien in der aristotelischen Ethik gibt, die über einen normativen Gehalt verfügen. Dieser Befund stellt eine große Herausforderung für Partikularisten dar, die sie bislang nur unzureichend bzw. gar nicht angenommen haben; stattdessen muss von einer systematischen Vernachlässigung einschlägiger Textstellen gesprochen werden. Womöglich hängt diese Unachtsamkeit aber auch damit zusammen, dass sich die Partikularisten auf die phronêsis in ihrer Verwendung als Handlungskompetenz konzentrieren, die sich vorrangig bei neuartigen oder strittigen Fällen bewährt. Es ist anzunehmen, dass sich solche Situationen im Falle der Übertrumpfung von positiven Handlungsregeln ergeben, die in der Tat noch der Prüfung bedürfen und somit Spielraum für die moralische Urteilskraft eines phronimos bieten. Hier klingt bereits ein zentraler Gedanke für das adäquate Verständnis des phronimos an, den ich im nachfolgenden Abschnitt detailliert ausführen werde: Die Exzellenz des phronimos beweist sich in moralisch herausfordernden Situatio100
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nen. Interpretiert man die exponierte Begabung des phronimos auf diese Weise, dann geht damit auch die Ablehnung eines allzu sehr am moralischen Alltagsverständnis orientierten phronimos-Bildes einher, dem zufolge er sich bereits im Kontext von gewöhnlichen Situationen auszeichne oder sich im Gegensatz zu gegebenen Regeln verhalte. Eine potentiell kompetitive Gegenüberstellung von moralischen Prinzipien und dem phronimos, wie sie von Devereux und Abizadeh u. a. vertreten wird, scheint mir nicht plausibel zu sein. Zur besseren Erläuterung dieser Kritik möchte ich kurz an das eingangs diskutierte Verhältnis von tugendhafter Praxis im Sinne von Aktualisierung einer tugendhaften Haltung (Handeln) und einem tugendhaften Akt (Handlung) erinnern: Es hat sich gezeigt, dass die Haltung, die den angeführten Bedingungen (wissentlich, vorsätzlich, um der Handlung selbst willen, stabil und mit Lust vollzogen) genügen muss, dem Akt gegenüber vorrangig und umfassender ist. So ist beispielsweise ein gerechter Akt in der Haltung eines gerechten Menschen internalisiert, weshalb die Vorstellung, dass ein gerechter Mensch einen ungerechten Akt wie z. B. Diebstahl vollziehen könne, ausgeschlossen ist. Ebenso verhält es sich mit dem Verhältnis von moralischen Prinzipien und dem phronimos: Seine Konzeption ist ebenfalls als vorrangig und umfassender zu klassifizieren, ohne dass aber damit eine Aufhebung der Handlungsregeln verbunden wäre. Das bedeutet, dass dem phronimos das Wissen um die Handlungsregeln und deren Befolgung zueigen ist, ohne dass sich darin bereits seine Exzellenz erschöpfen würde. Die Analogisierung der Relationen zwischen Akt und Haltung einerseits und moralischen Prinzipien und phronimos andererseits ist m. E. zulässig, weil der phronimos über eine tugendhafte Haltung verfügt. 39 Wenn der phronimos also als letzte Instanz in moralischer Hinsicht gilt, dann ist damit keine Absage an geltende Handlungsregeln verbunden; stattdessen kann vielmehr angenommen werden, dass der phronimos aufgrund seiner deliberativen Kompetenz in der Lage ist, sie selbst dann ›im Geiste‹ fortzuschreiben, wenn sie an ihre Grenzen stoßen.
Den Nachweis der Identität von ho phronimos und ho spoudaios (tugendhafter, vortrefflicher Mensch) führe ich in Kap. VIII.1.b.
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3.
Epieikeia – Indiz für eine Ausnahmeethik?
Warum taucht die Diskussion der epieikeia (Billigkeit) in diesem Kapitel zu moralischen Prinzipien in der Ethik des Aristoteles auf? Auf den ersten Blick spielt die epieikeia eine marginale Rolle: sie nimmt wenig Raum in der Nikomachischen Ethik ein; ihr ist lediglich ein Kapitel in dem umfangreichen fünften Buch zur Gerechtigkeit gewidmet. Dennoch ist die epieikeia von großer Bedeutung, da ihrem Kontext Näheres über das Verhältnis von Regeln und Ausnahmen zu entnehmen ist. 40 Schließlich geht es dort (auch) um das Problem der Allgemeinheit von Gesetzen und deren Anwendung bei schwierigen Einzelfällen. Diese strukturelle Ähnlichkeit zum Problem der allgemeinen Geltung von moralischen Prinzipien im Verhältnis zu partikularen Situationen ist auch der Grund, warum Partikularisten die epieikeia als ein Indiz für ihre Position anführen. Gemäß ihrer Lesart dient die epieikeia als ein Beweis dafür, dass die Gesetze aufgrund ihres allgemeinen Charakters grundsätzlich mangelhaft sind und niemals ausreichend, so dass sie nicht mehr als den Status von ›Faustregeln‹ für sich beanspruchen können. 41 Daher kommt der epieikeia ein höherer Rang zu, da sie das Gesetz durch ihre Sorgfalt und Angemessenheit dem Einzelfall gegenüber »übertrumpft«. 42 Die epieikeia wird damit in letzter Konsequenz zu einer eigenen und vom Gesetz unabhängigen Rechtsquelle erklärt. Ferner ist die von Aristoteles verwendete Analogie der »lesbischen Regel«, die sich flexibel den Gegebenheiten anpasst, von besonderem Interesse für Partikularisten, da sie darin die Bestätigung für ein situationsangemessenes Agieren der epieikeia sehen. 43 Im Zentrum der textlichen Auseinandersetzung stehen in erster Linie die Ausführungen zur Gerechtigkeit im fünften Buch der Nikomachischen Ethik (V 14, 1137b11–1138a2); ergänzend sei auch auf Stellen in der Rhetorik (I 13 und I 15), sowie in der Politik (II 8) hingewiesen. Auf folgende Textstelle in der Nikomachischen Ethik, 40 Der Titel von Brunschwigs Aufsatz zur epieikeia: »Rule and Exception: On the Aristotelian Theory of Equity« bringt diesen Sachverhalt schön zum Ausdruck. Vgl. Brunschwig (1996). 41 Für diese Deutung der partikularistischen Position im Zusammenhang mit der epieikeia, siehe Horn (2006). 42 Vgl. Abizadeh (2002), S. 269. Abizadeh spricht in diesem Zusammenhang von »override«. 43 Vgl. Wiggins (1997), S. 61 f. und Nussbaum (1986), S. 303 ff.
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die bereits kanonischen Charakter in allen Aufsätzen zur epieikeia besitzt, möchte ich explizit eingehen: »Die Schwierigkeit wird dadurch hervorgerufen, dass das Billige zwar ein Gerechtes ist, aber nicht das Gerechte nach dem Gesetz, sondern als Berichtigung (epanorthôma) des gesetzlich Gerechten. Der Grund liegt darin, dass jedes Gesetz allgemein ist, sich aber über manche Dinge keine richtigen allgemeinen Sätze aufstellen lassen. Wo es nun nötig ist, allgemein zu sprechen, dies aber nicht auf richtige Weise möglich ist, da nimmt das Gesetz die Regel, die meistens richtig ist (hôs epi to pleon), durchaus wissend, dass dies fehlerhaft ist. Und doch ist das Gesetz deshalb nicht weniger richtig. Denn der Fehler liegt nicht im Gesetz, auch nicht beim Gesetzgeber, sondern in der Natur der Sache. Denn so ist nun einmal die Handlungsmaterie beschaffen. […] Dies ist also das Wesen des Billigen, eine Berichtigung des Gesetzes zu sein, insofern dieses wegen seiner Allgemeinheit eine Lücke aufweist.« (EN V 14, 1137b11–27)
Es stellt sich nun die Frage, ob die Allgemeinheit des Gesetzes als Folie für das Wirken der epieikeia notwendig ist, so dass sie von ihm abhängig und daher nachrangig ist oder ob sie stets als ein eigenes Prinzip bei der Rechtsprechung präsent ist, bei ›typischen‹ Fällen aber nicht zum Einsatz kommt. Diese Frage lässt sich am besten beantworten, wenn man untersucht, was genau unter »Berichtigung« des Gesetzes durch die epieikeia zu verstehen ist. Im Griechischen steht das Wort epanorthôma, was sowohl Wiederherstellung als auch Verbesserung heißen kann. Dem Wortlaut nach ist man also geneigt, die »Berichtigung« eher schwach im Sinne einer Verbesserung oder Weiterführung zu verstehen, nicht aber stark im Sinne eines Ersatzes oder einer Aufhebung. Auch der Intention nach liegt diese Sichtweise näher, denn schließlich ist das Gesetz nicht per se mangelhaft, sondern nur manchmal wegen seines allgemeinen Charakters – die Notwendigkeit und Verbindlichkeit des Gesetzes steht hier beispielsweise nicht zur Disposition. Es lässt sich also festhalten, dass die Anwendung des Gesetzes bisweilen Probleme aufwirft, nicht aber die Rechtsquelle des Gesetzes selbst. Durch diesen Hinweis ist allerdings die partikularistische Kritik an einer prinzipiellen Mangelhaftigkeit des Gesetzes noch nicht restlos ausgeräumt, denn es ist ja denkbar, dass jede Gesetzesanwendung sich mit dem Problem der Anwendung auf den Einzelfall konfrontiert sieht und daher Gesetze niemals ausreichend sind. 44 Diese Interpretation 44
Vgl. Abizadeh (2002), S. 268. A
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lässt sich allerdings durch Aristoteles’ eigene Spezifizierung widerlegen: In 1137b14 heißt es nämlich »über manche Dinge« (peri eniôn), so dass keinesfalls vom Regelfall ausgegangen werden sollte. 45 Ferner führt er in 1137b20 aus, dass es dann zu einer Verbesserung des Versäumten kommt, wenn »ein einzelner Fall eintritt, der vom allgemeinen Gesetz nicht erfasst wird« (symbê d’epi toutou para to katholou). Es sind also strittige oder neuartige Fälle, die für eine Korrektur durch die epieikeia in Betracht kommen. Keinesfalls trifft dies auf jeden Fall zu. An dieser Stelle bietet es sich an, die Ausführungen in der Rhetorik zur Hilfe zu nehmen, denn dort gibt es das Beispiel eines Falles sowie nähere Hinweise auf die Bedingungen, unter denen es zu einer Berichtigung kommt: »Dies ergibt sich einesteils mit der Absicht der Gesetzgeber, anderenteils unfreiwillig; unfreiwillig, wenn es ihnen verborgen bleibt, mit Absicht, wenn sie es nicht definieren können, sondern wenn zwar die Notwendigkeit besteht, allgemeine Aussagen zu treffen, es sich aber nicht allgemein, sondern nur in der Regel so verhält. Sowie bei dem, was wegen der Unendlichkeit nicht leicht zu definieren ist (kai hosa mê radion diorisai di’ apeirian), wie zum Beispiel die Verwundung mit einem Eisen (bestimmt werden müsste durch die Angabe), mit einem wie großen und wie beschaffenen Eisen: Denn es dürfte wohl die Zeit eines Lebens nicht ausreichen, um (alles) aufzuzählen. Wenn ein Fall also unendlich ist, aber der gesetzlichen Regelung bedarf, dann ist es notwendig, die Fälle nur im Allgemeinen zu formulieren, so dass, wenn einer, der einen Fingerring trägt, die Hand hebt oder schlägt, zwar nach dem geschriebenen Gesetz schuldig sein wird und Unrecht tut, in Wahrheit aber kein Unrecht begeht, und dies ist das Billige.« (Rh. I 13, 1374a28–1374b1)
Als Beispiel wird hier der Fall geschildert, dass jemand, der einen Eisenring am Finger trägt, und einen Schlag ausführt, dem Wortlaut des Gesetzes nach sich strafbar gemacht hat – nicht aber wegen des Schlags als solchem, sondern aufgrund der »Verwendung« eines Eisengegenstandes, die den Schlag unter den Tatbestand der Körperverletzung subsumieren lässt. Nun ist es recht augenscheinlich, dass ein Fingerring einen Schlag nicht ›qualitativ‹ verändert, so dass eine solche Maßnahme als zu streng erachtet wird. Der Wortlaut des Gesetzes schlägt hier fehl, weil der Begriff des Eisengegenstandes nicht hinreichend spezifiziert worden ist – ein solcher Grad an Spezifikation muss aber nach Aristoteles aufgrund der »Unendlichkeit« der mög45
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Vgl. Horn (2006), S. 149.
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lichen Einzelfälle unerfüllt bleiben – allerdings nur dann, wenn die Abgrenzungen schwer vorzunehmen sind. Dies ist ein Beispiel für eine »freiwillige« Gesetzeslücke, es wird aber noch ein weiteres Szenario entworfen, das wie folgt aussieht: Der Gesetzgeber kann keine genauen Abgrenzungen vornehmen, sieht aber Handlungsbedarf, so dass die Gesetze nur eine hôs-epi-to-poly-Geltung für sich beanspruchen können. Ist dies nun eine spitzfindige, aber überflüssige Unterscheidung, da die beiden genannten Formen der schwierigen Abgrenzung dasselbe Problem schildern oder lässt sich eine inhaltliche Differenzierung vornehmen? Auf den ersten Blick könnte man davon ausgehen, dass die »Unendlichkeit« der möglichen Einzelfälle eine andere Art von Ausnahme begründet als allgemeine Richtlinien, die »nur« hôs-epi-to- poly gelten, obwohl beide Formen der bewusst in Kauf genommenen Gesetzeslücken es mit einem Grenzziehungsproblem zu tun haben. Denn bei Ausnahmen, die sich durch ihre Abweichung von den hôs-epi-to-poly-Gesetzen ergeben, kann es sich nur um solche handeln, die durch eine unaufhebbare Kontingenz vom ›Standardfall‹ abweichen. 46 Ausnahmen hingegen, die durch die »Unendlichkeit« begründet sind, sind strukturell mit den unzähligen Arten des Gegenstands verbunden: Nimmt man als allgemeine Richtlinie dieses Beispiels das Prinzip an, dass die Schwere des Verbrechens vom verwendeten Gegenstand abhängt, 47 wird deutlich, dass beim Beispiel des Fingerrings aus Eisen das Problem der Abgrenzung durch Spezifizierung in den nicht quantifizierbaren Gegenständen aus Eisen besteht, die potentiell alle zur Waffe werden könnten, ohne Waffen zu sein (wie im Fall des Eisenrings). Trotz dieser (theoretischen) Unterscheidung von ›Kontingenz-Ausnahme‹ und ›Gegenstands-Ausnahme‹ ist es in der Praxis kaum möglich, sie aufrecht zu erhalten, da sie dort zusammenkommen: Das Beispiel des Eisenrings, das streng genommen eine ›Gegenstandsausnahme‹ ist, fällt auch mit der Kontingenz der Tatsache, dass der ›Schläger‹ einen Eisenring trägt, zusammen. Was es nun festzuhalten gilt, ist, dass es bei diesen freiwilligen Auslassungen des Gesetzgebers sich weniger um Lücken im Sinne eines Mangels, der ersetzt werden muss, handelt, als vielmehr um Lücken im Sinne eines Spielraums für die Verbesserung durch
46 47
Vgl. die Ausführungen zu hôs epi to poly in Kap. IV 2.c. Vgl. Horn (2006), S. 154. A
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Konkretisierung. 48 Es kommt darin nicht eine Unzulänglichkeit des Gesetzgebers zum Ausdruck, sondern vielmehr eine verantwortungsvolle Ausübung, die durch Selbstbeschränkung die Gefahr einer ungerechten Anwendung bannt. Für strittige und neuartige Fälle – denn nur bei diesen ergibt sich das Problem der Abgrenzung – ist die epieikeia als Anwendungsprinzip einkalkuliert; diese Art des Einsatzes ist aber nicht mit der partikularistischen Interpretation der epieikeia als einer stets gegenwärtigen Aufhebungsinstanz des Gesetzes zu verwechseln. Die epieikeia ist die Verlängerung und Konkretisierung des Gesetzes, welches dadurch nicht eine Schwächung erfährt. Denn gerade diese Art der Anwendung kann bisweilen dem ›Geist‹ des Gesetzes besser entsprechen, so dass vielmehr von einer Stärkung die Rede sein müsste. 49 Dass Aristoteles nicht an einer Schwächung des Gesetzes gelegen ist, bringt eine Stelle in der Politik gut zutage, in der er zur Vorsicht hinsichtlich einer allzu leichtfertigen Veränderung der Gesetze mahnt und sogar einzelne Fehler des Gesetzgebers hinzunehmen bereit ist, um die Stabilität des Gesetzes zu garantieren. 50 Neben den freiwilligen Auslassungen, gibt es auch solche, die dem Gesetzgeber unbewusst unterlaufen sind: »Wenn nun das Gesetz allgemein spricht, aber ein einzelner Fall eintritt, der vom allgemeinen Gesetz nicht erfasst wird, dann ist es richtig, dort, wo der Gesetzgeber eine Lücke lässt und den Fall durch die allgemeine Formulierung verfehlt, dies zu berichtigen – indem man sagt, was auch der Gesetzgeber selbst gesagt hätte, wenn er da gewesen wäre, und was er in das Gesetz aufgenommen hätte, wenn er es gewusst hätte.« (EN V 14, 1137b19–24) Brunschwig gibt dies im Englischen mit der Unterscheidung »gaps« und »deficiencies« wieder. Vgl. Brunschwig (1996), S. 138 f. 49 So auch W. von Leyden: »The implication again is that equity, by making explicit a qualification intended or understood but not actually expressed in the formulation of a general rule of law, confirms rather than abolishes the law.« Von Leyden (1985), S. 97. 50 So heißt es in Pol. II 8, 1269a8–18: »Außerdem ist es besser, auch geschriebene Gesetze nicht einfach unberührt zu lassen. Denn wie bei den andern Künsten, ist es auch bei der politischen Ordnung unmöglich, alles genau festzulegen. Denn niedergeschrieben wird das Allgemeine, die Handlungen betreffen aber das Einzelne. Daraus ergibt sich also, daß einzelne Gesetze gelegentlich geändert werden müssen. Betrachtet man es aber auf andere Weise, so scheint große Vorsicht notwendig zu sein. Ist die Korrektur unbedeutend, dagegen bedenklich, die Menschen daran zu gewöhnen, daß die Gesetze leicht aufgehoben werden können, so ist es klar, daß man einzelne Fehler der Gesetzgeber und der Regenten auf sich beruhen lassen sollte. Denn der Nutzen bei der Veränderung ist geringer als der Schaden, wenn die Gewohnheit beginnt, den Regierenden nicht zu gehorchen.« 48
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Diese Textstelle geht sowohl auf das bereits besprochene Szenario ein, dass der Gesetzgeber durch eine zu allgemeine Behandlung Fehler macht als auch auf den Fall – der an dieser Stelle von Interesse ist – nämlich, dass der Gesetzgeber eine Situation überhaupt nicht antizipiert hat. In einem solchen Fall besteht die Korrektur durch die epieikeia nicht in der Konkretisierung, sondern in einer Weiterführung der Intention des Gesetzgebers. Diese Weiterführung eröffnet zwar einen größeren Spielraum zur Veränderung, ist aber nichtsdestoweniger nicht als ein regelloses ›Erfinden‹ misszuverstehen: Unabhängig davon, ob man sich hier Brunschwig anschließen möchte, der in der Intention des Gesetzgebers die »fundamental rule of equity according to Aristotle« 51 sieht oder ob man die Interpretation von Leydens favorisiert, der unter epieikeia »a principle of natural justice« 52 versteht, wird daran deutlich, dass der die epieikeia ausübende Richter nicht willkürlich agieren kann. Wenn nun aber sowohl die freiwilligen wie auch die unfreiwilligen Auslassungen des Gesetzgebers nicht als ein Indiz für ein gleichrangiges Verständnis von Gesetz und epieikeia dienen, wie ist dann die Rede von der epieikeia als etwas »Besserem« zu verstehen? Meines Erachtens sollte man diesen Komparativ nicht als ein Werturteil auffassen, sondern als ein Tätigkeitsurteil: Die epieikeia überragt das Gesetz nicht an Bedeutung oder Wert, sondern ist schlichtweg schwerer auszuüben, weil sie viele dianoetische Fähigkeiten in Anspruch nimmt (vgl. EN VI 12, 1143a19–24). Vor diesem Hintergrund ist die Beschreibung des ho epieikês zu beachten; in EN V 14 (1137b34– 1138a2) wird er wie folgt geschildert: »Daraus geht dann auch hervor, wer ein billig eingestellter Mensch ist. Wer sich nämlich solche Dinge vornimmt und sie tut und wer nicht im schlechten Sinn zu genau am Recht klebt, sondern dazu neigt, weniger zu beanspruchen, obwohl er das Gesetz auf seiner Seite hat, der ist billig eingestellt. Diese Disposition ist die Billigkeit; sie ist eine Art Gerechtigkeit und nicht eine von dieser verschiedene Disposition.«
Der ho epieikês zeichnet sich durch Nachsichtigkeit und Wohlwollen aus. Außerdem verzichtet er auf eine pedantische Auslegung des Rechts, selbst wenn es zu seinen Ungunsten ist. Der epieikês ist offensichtlich derart souverän in seinem Umgang mit Gesetz und Recht, 51 52
Brunschwig (1996), S. 151. Von Leyden (1985), S. 96. A
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Moralische Prinzipien in der Ethik des Aristoteles
dass er sich den Verzicht erlauben kann, ohne dass es ihm als Schwäche ausgelegt wird. Er gilt nämlich als moralisch gut, geradezu perfekt, wie an vielen Stellen der Nikomachischen Ethik ausgeführt wird. 53 Angesichts dieser Charakterisierung drängt sich die Frage auf, in welchem Verhältnis der ho epieikês zum Vermögen der epieikeia steht, denn im Gegensatz zu vielen anderen ›Repräsentationsfiguren‹ 54 wie dem Mutigen, dem Freigiebigen etc. scheint es keine vollständige Kongruenz von epiekeia und dem epieikês zu geben. Denn die Fähigkeit zur Vervollständigung und Fortführung des Gesetzes (epieikeia) muss nicht unbedingt in Nachsicht resultieren wie sie der epieikês übt. 55 Allerdings scheint die Annahme einer konzeptionellen Parallelität der Tatsache besser gerecht zu werden, dass die Korrekturen des Gesetzes aus der Sicht eines nachsichtigen Richters beschrieben werden (Rh. I 13). Für Aristoteles scheint es daher einen engen Zusammenhang zwischen der Fortführung des Rechts und dem nachsichtigen, souveränen Wesen des epieikês gegeben zu haben. Im Kontext der epieikeia gilt es noch auf die Ausführungen Aristoteles’ zum lesbischen Richtmaß einzugehen, das von Partikularisten als Analogie zur notwendigen Flexibilität von Urteilskraft immer wieder angeführt wird. David Wiggins beispielsweise konzediert der Praxis etwas genuin Undefinierbares und Unvorhersehbares;56 ihm zufolge bleibe allein »the metric of the Lesbian rule« 57 übrig, um sich in der Ethik zu orientieren. Dabei bezieht er sich auf folgende Textstelle in der Nikomachischen Ethik: »Das ist auch der Grund, warum nicht alles durch das Gesetz geregelt ist: dass es Dinge gibt, über die man keine Gesetze aufstellen kann, so dass ein [besonderer] Beschluss (psêphisma) nötig ist. Denn wo die Sache unbestimmt ist, ist auch der Maßstab (kanôn) unbestimmt, wie der bleierne Maßstab, der beim Hausbau auf Lesbos verwendet wird. Der Maßstab passt sich nämlich der Gestalt des Steins an und ist nicht starr, und so passt sich auch der
Vgl. EN IV 15, 1128b21/EN IX 8, 1168a33 ff./EN IX 8, 1169a16. Sowohl textliche Indizien als auch systematische Überlegungen sprechen dafür, von einer Synonymie von ho epieikês, ho phronimos und ho spoudaios auszugehen. Siehe dazu meine Ausführungen zur philologischen Erörterung von spoudaios in VIII.1.a. 54 Diesen Begriff erläutere ich ausführlicher in VIII.1.c. 55 Vgl. Georgiadis (1987), S. 165. Zur Diskussion dieser Differenz siehe auch Horn (2006), S. 143 f., 165 f. 56 Vgl. Wiggins (1997), S. 61. 57 Wiggins (1980), S. 229. 53
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Epieikeia – Indiz für eine Ausnahmeethik?
Beschluss den Sachverhalten an, ähnlich wie bei der lesbischen Bauart ein bleiernes Richtmaß zur Verwendung kommt. Denn wie dieses Richtmaß sich der Gestalt des Steines angleicht und nicht dieselbe Länge behält, so gleicht das Plebiszit sich den besonderen faktischen Verhältnissen an.« (EN V 14, 1137b27–32)
Bevor ich mich inhaltlich mit der partikularistischen Interpretation der lesbischen Bauweise als Analogon auseinandersetze, sei auf die technische Erklärung dieser Bauweise mittels zweier Interpretationen von Stewart und Burnet hingewiesen, die bei Gauthier/Jolif referiert werden: 58 Nach Stewart besteht das Richtmaß in einem flexiblen Bleistück, das sich der Oberfläche eines bereits hingelegten Steins so anpasst, dass dessen ›Abdruck‹ als Muster bei der Suche nach einem für ihn passenden Stein zum Drauflegen dient. Burnet zufolge ist unter dem lesbischen Richtmaß eine Leiste aus Blei zu verstehen, die im Vergleich zur dorischen nicht gerade, sondern gewellt ist. Welche Interpretation auch immer die korrekte sein mag – als Quintessenz ist beiden zu entnehmen, dass es sich bei dem lesbischen Richtmaß um ein Bleimaß handeln muss, das dank seiner Biegsamkeit und Anpassungsfähigkeit in der Lage ist, auch mit nicht ebenen Oberflächen umzugehen. Mir scheint nun folgender Zweifel an der partikularistischen Auslegung angebracht zu sein: Im Kontext der Passage zum unbestimmten Richtmaß ist nicht von der epieikeia die Rede, sondern von einem zu fällenden Beschluss (psêphisma), womit ein Plebiszit gemeint sein dürfte. Auch wenn der Gegenstandsbereich von epieikeia und psêphisma insofern identisch ist, als beide die Unzulänglichkeit der Gesetze zu korrigieren versuchen, besteht ein zentraler Unterschied: Während die epieikeia stets die Korrektur eines vorhandenen Gesetzes darstellt, wird der Beschluss nur dann virulent, wenn ein Gesetz von vorne herein als Entscheidungsmöglichkeit ausfällt. Während die epieikeia die Fortsetzung des Gesetzes zum Inhalt hat, stellt ein solcher Beschluss seine Ersetzung in Form einer ad hoc Entscheidung dar. Der Spielraum für die Ausübung der epieikeia ist also viel kleiner als beim Beschluss; beim Beschluss wird er durch die faktische Gegebenheit eröffnet, bei der epieikeia dagegen wird er maßgeblich vom existierenden Gesetz eingegrenzt. Der Verweis der Partikularisten auf das unbestimmte Richtmaß bzw. auf das flexible lesbische Richtmaß muss daher in Bezug auf die epieikeia als nicht zutreffend bezeichnet werden. Nun 58
Vgl. Gauthier/Jolif (1958), S. 434 im Kommentarteil ihrer Ausgabe. A
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Moralische Prinzipien in der Ethik des Aristoteles
könnte man den Partikularisten for the sake of argument den Punkt der völligen Unbestimmtheit von Praxis konzedieren, selbst wenn der Bezugspunkt der epieikeia nicht zutreffend ist. Doch auch dies wäre in Frage zu stellen: Wie die Ausführungen zur Exaktheit von Ethik gezeigt haben, verfolgt Aristoteles mehrere Strategien zur Bewältigung des Partikularen und Kontingenten.
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VI. Phronêsis – Die Bezeichnung von Urteilskraft bei Aristoteles?
1.
Einführung
Die Ausführungen von Aristoteles zur phronêsis in Buch VI der Nikomachischen Ethik offerieren nach Ansicht der Partikularisten die meisten Belege für ihre Position. Sie stützen sich dabei auf wiederholte Aussagen, dass sich das Handeln auf das Einzelne konzentriere (VI 12) und dass es im Zweifelsfall wichtiger sei als die Kenntnis des Allgemeinen (VI 8). Da das Allgemeine mit moralischen Prinzipien gleichgesetzt wird, folgt daraus, dass das partikulare Urteil in der Handlungssituation gegenüber moralischen Prinzipien als vorrangig eingeschätzt wird. Die Erfassung des Einzelnen wird der Wahrnehmung (aisthêsis) zugesprochen, welche eine zentrale Rolle in der Ausübung von phronêsis einnehme. Am deutlichsten bringt Robert Louden die partikularistische Position auf den Punkt: »Particularism is the dominant feature of Aristotle’s moral epistemology – moral judgement rests with perception of particulars and universal principles are not of much help in capturing the requisite details of the situation […].« 1
Diese Kritik an der generalistischen Position, dass generelle Prinzipien nachrangig und von wenig Hilfe sind, zielt letztlich darauf ab, die phronêsis ausschließlich als eine Art Urteilskraft im Sinne von moralischer Sehkraft zu verstehen, die sich über eine strenge kriteriologische Eingrenzung erhebt. Alternativ wird sie als ein Interpretationsvermögen 2 oder die Fähigkeit, eigene Antworten auf ungelöste Fälle zu finden, 3 beschrieben. Dieses Verständnis von phronêsis wirkt sich natürlich auch auf die Auffassung vom phronimos aus: Devereux bei-
1 2 3
Louden (1992), S. 103. Vgl. Rese (2003), S. 114. Vgl. Wiggins (1980), S. 237. A
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Phronêsis – Die Bezeichnung von Urteilskraft bei Aristoteles?
spielsweise bezeichnet ihn als einen Menschen, der eben diese Fähigkeit der Urteilskraft besitzt und daher als die letzte Autorität im Bereich des Praktischen gelten dürfe – im Zweifel auch im Gegensatz zu oder unabhängig von moralischen Prinzipien. 4 In diesem Sinne argumentiert auch Abizadeh, der die Figur des phronimos explizit als ein Indiz für eine partikularistische Auffassung anführt, da in der generalistischen Einschätzung der phronêsis als »passive application of universal principles to particular circumstances« seine Bedeutung als Urteilsfähiger unzulässig geschmälert würde. 5 Bevor ich mich der partikularistischen Position zuwende, möchte ich im folgenden Kapitel zunächst die Struktur von Buch VI der Nikomachischen Ethik herausarbeiten, da diese so undurchsichtig ist, dass sie nur mit Hilfe einer Differenzierung von drei Verwendungsweisen der phronêsis an Plausibilität gewinnt. Außerdem ist diese Unterscheidung ein Bestandteil meiner Argumentation, die u. a. darauf hinausläuft, dass die partikularistische Lesart der phronêsis zu einseitig ist und deren Anteil an Allgemeinheit missachtet. Der inhaltlichen Bestimmung der phronêsis möchte ich Folgendes zum Problem der Übersetzung voranstellen: Eine adäquate Übersetzung von phronêsis ist kaum möglich, ohne dass damit nicht eine interpretatorische Vorentscheidung bereits getroffen wäre. Da die phronêsis zahlreiche Autoren beschäftigt hat, die ihre Auslegung auch sprachlich zum Ausdruck bringen wollten, führte dies zu der Situation, dass es eine Fülle von Übersetzungen gibt: 6 Grob gesprochen gibt es zwei Übersetzungslinien; die eine setzt den Akzent auf den kalkulierenden, schlussfolgernden Anteil, indem sie phronêsis mit »Klugheit« wiedergibt (so Gigon, Rolfes und Wolf), während die andere den moralischen und wahrnehmungsorientierten Aspekt der phronêsis unterstreicht, wie etwa Dirlmeier (und zuvor Jaeger), der die phronêsis als »sittliche Einsicht« übersetzt. Diese zwei Tendenzen sind auch in anderen Sprachen zu konstatieren; im Französischen favorisiert Aubenque die Übersetzung »prudence«; Gauthier/Jolif hingegen haben sich für »sagesse« als Bezeichnung für die phronêsis entschieden. Ähnlich verhält es sich im Englischen, wo die ›nüchterne‹ Übersetzung der Vgl. Devereux (1986), S. 497 f. Abizadeh (2002), S. 270. 6 Bei der nachfolgenden Auflistung profitiere ich von dem Überblick, den Theodor Ebert im dritten Abschnitt seines Aufsatzes gegeben hat, vgl. Ebert (1995), S. 172 f. 4 5
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Phronêsis – ein vielschichtiger Begriff
phronêsis als »prudence« von Rackham bevorzugt wird, während Ross sie als »practical wisdom« übersetzt. Angesichts dieser Divergenz werde ich am griechischen Ausdruck phronêsis festhalten, da der unübersetzte Ausdruck den größten vorbehaltlosen argumentativen Raum eröffnet.
2.
Phronêsis – ein vielschichtiger Begriff
Die Ausführungen zur phronêsis gehören zu den schwierigsten Passagen der Nikomachischen Ethik, was sich in zahlreichen Einzeldebatten und entsprechender Fülle an Literatur niederschlägt. Die bekannteste Auseinandersetzung kreist um die Frage, ob die phronêsis instrumenteller Art ist, indem ihr lediglich die Mittelwahl obliegt, oder ob ihr auch eine Zielerkenntnis innewohnt. 7 Eine eng damit verbundene Kontroverse hat sich an der Frage entzündet, ob Aristoteles ein Humeaner avant la lettre gewesen sei, indem er die phronêsis mit keinerlei motivierender Handlungskraft ausgestattet habe; diese würde demnach allein von charakterlichen Tugenden abhängen. Insbesondere Julius Walter und später William Fortenbaugh stehen für diese Interpretationsrichtung, die der phronêsis keine entscheidende Rolle beim moralischen Handeln zugesteht. 8 Ferner ist bereits viel über die richtige Formulierung des sogenannten praktischen Syllogismus gestritten worden. Der Grund für die vielen Positionen liegt m. E. darin, dass sich in der Tat Textstellen finden lassen, die jede denkbare Position erlauben. Daher wird eine plausible Interpretation der phronêsis sich nicht allein auf einzelne Stellen stützen dürfen, sondern wird den argumentativen Kontext berücksichtigen müssen. Das Buch VI der Nikomachischen Ethik, das dem Buch V der Eudemischen Ethik entspricht, ist nämlich sehr disparat aufgebaut – eine genaue Lektüre legt es nahe, von unterschiedlichen Verwendungsformen der phronêsis auszugehen. Diesen Punkt möchte ich im Folgenden durch eine präzise Analyse des sechs-
Vgl. dazu Kap. VI.4.a. J. Walter zufolge werden die Ziele ausschließlich durch die ethischen Tugenden erfasst. W. Fortenbaugh betont die Möglichkeit, dass ein tugendhafter Mensch tugendhaft handeln könne, ohne dass er die phronêsis überhaupt aktiviert. Vgl. Walter (1874), S. 208–212; Fortenbaugh (1975), S. 70–75.
7 8
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Phronêsis – Die Bezeichnung von Urteilskraft bei Aristoteles?
ten Buches ausführen, wobei ich drei Formen der phronêsis voneinander unterscheiden möchte. Das Buch VI ist in deutschen Übersetzungen in 13 Kapitel unterteilt. 9 Das erste Kapitel setzt damit ein, dass Aristoteles eine nähere Bestimmung des orthos logos, der für die Bestimmung der Mitte bei den charakterlichen Tugenden maßgeblich ist, in Aussicht stellt. Es folgt in Kapitel 2 die Beschreibung der phronêsis als gute Ausübung praktischer Wahrheit. Die Kapitel 3–7 können als eine Sinneinheit zusammengenommen werden, denn in jedem der Kapitel wird eine der fünf Dispositionen der Seele zum Treffen der Wahrheit charakterisiert – in diesem Kontext gilt die phronêsis als eine von fünf Wahrheitshaltungen. Die Kapitel 8–12 lassen sich ebenfalls als eine Einheit einordnen, denn sie dienen der Darlegung der Fähigkeiten zum Handeln – die phronêsis tritt hier als Handlungskompetenz auf. Das letzte Kapitel schließt inhaltlich an die beiden ersten Kapitel wieder an, denn sowohl die beiden Tugenden des vernünftigen Seelenteils als auch das Verhältnis von Klugheit und charakterlichen Tugenden werden diskutiert. Die drei eingeführten Begriffe für die phronêsis sind nicht als zusätzliche Übersetzungsvorschläge zu verstehen, sondern vielmehr als Überschriften über ›Argumentationseinheiten‹. Die Berücksichtigung des argumentativen Kontextes eröffnet die vielversprechende Perspektive, das Buch VI einer Strukturierung zu unterziehen, bei der weder die Differenzierungen vernachlässigt werden noch das Bindeglied völlig preisgegeben wird. Im Folgenden werde ich zunächst mittels der drei Verwendungsformen die verschiedenen Akzente der phronêsis beleuchten. Im Anschluss gehe ich der Frage nach ihrem Verhältnis zueinander nach.
a.
Phronêsis als gute Ausübung von praktischer Wahrheit
Das zweite Kapitel von Buch VI überrascht: Nachdem am Ende von Kapitel 1 eine nähere Bestimmung des orthos logos versprochen worDie Kapiteleinteilung in englischsprachigen Ausgaben weicht von der Struktur deutschsprachiger Ausgaben ab. Dies betrifft in Bezug auf Buch VI in erster Linie versetzte Kapitelanfänge; insbesondere ab dem achten Kapitel kommt es zu Verschiebungen. Diese Differenzen sind allerdings nicht so gravierend, dass meine Unterteilung in Argumentationseinheiten dadurch hinfällig werden würde. Zum Ursprung der Divergenz vgl. Reis (2008).
9
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Phronêsis – ein vielschichtiger Begriff
den ist, muten die Ausführungen in Kapitel 2 wie ein Rückschritt an; die Aussagen bewegen sich auf einem sehr allgemeinen Niveau. In vielerlei Hinsicht knüpft Aristoteles an die bereits in Buch I entwickelten Grundlagen an. So greift er die Struktur der Seele wieder auf, um im Anschluss an die charakterlichen Tugenden nun die dianoëtischen Tugenden zu erörtern. Dianoëtische Tugenden unterscheiden sich von ethischen Tugenden darin, dass sie die Tugenden desjenigen Seelenteils sind, der »Vernunft besitzt« (logon echon, EN I 13, 1102a28) und zwar »im eigentlichen Sinn und in sich selbst« (to mên kuriôs kai en autô, EN I 13, 1103a1). Anders als die ethischen Tugenden verdanken sich die dianoëtischen nicht der Gewöhnung, sondern »größtenteils der Belehrung« (to pleion ek didaskalias), was Erfahrung und Zeit benötige (EN II 1, 1103a15 ff.). Erfahrung gilt offenbar – anders als Gewöhnung – als ein wichtiger Bestandteil von intellektueller Kompetenz. Der im eigentlichen Sinne vernünftige Seelenteil wird in Kapitel 2 einer spezifischeren Untersuchung unterzogen, indem gemäß einer Unterscheidung nach Gegenstandsbereichen in EN VI 2, 1139a12 noch genauer zwischen einem »wissenschaftlichen« (to epistêmonikon) und einem »überlegenden« (to logistikon) Vermögen dieses Seelenteils differenziert wird. Der »wissenschaftliche« (wissende, forschende) Bereich ist auf Unveränderliches, notwendig Seiendes ausgerichtet, während der »überlegende« (folgernde, abwägende) Part sich auf das konzentriert, was »anders sein kann« (EN VI 2, 1139a8) und Überlegung erfordert (1139a12 ff.). Im Kontext von Buch VI ist Variabilität weniger als ein Verweis auf die unaufhebbare Kontingenz des Lebens zu verstehen, sondern vielmehr als Handlungsfreiheit. 10 Dies wird insbesondere an der ›Ursachenkette‹ in VI 2 deutlich, anhand deren Aristoteles die Entwicklung einer Handlung darstellt: Eine Handlung geht demnach unmittelbar auf einen Vorsatz (prohairesis) zurück, der wiederum aus der Verknüpfung von Streben (orexis) und zweckgerichteter Überlegung (logos ho heneka tinos) hervorgeht. Ausgangspunkt all dieser Phänomene ist aber der Mensch (EN VI 2, 1139a31 ff./EN VI 2, 1139b3 ff.). 11 Analog zum ergon-Argument in I 6 ermittelt Aristoteles die So auch Sarah Broadie (1991), S. 214. Im Kontext von Überlegung, Vorsätzlichkeit und Handlungsfähigkeit im Allgemeinen wird stets der Mensch als Bewegursache angeführt und thematisiert, auch in Buch III.
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Tugend des überlegenden Teils mittels seiner eigentümlichen Funktion, die er in der Kontrolle von Handeln und Wahrheit (EN VI 2, 1139a18) sieht, wobei er drei Vermögen als Kandidaten diskutiert: Wahrnehmung (aisthêsis), Denken (nous) und Streben (orexis). Da Tiere ebenfalls über Wahrnehmung verfügen, aber nicht handeln können, schließt er Wahrnehmung aus. Anstatt nun Denken und Streben gesondert zu diskutieren und sich für ein Vermögen zu entscheiden, erörtert er sie gemeinsam, wobei die Pointe des ergon des überlegenden Teils genau in dieser Verknüpfung besteht, die sich begrifflich in der Bezeichnung »praktische Wahrheit« äußert. Die jeweilige Art der Wahrheitserkenntnis ist also das ergon der beiden Komponenten des vernünftigen Seelenteils, und deren gute Ausübung drückt sich jeweils in den ihnen entsprechenden Tugenden aus. Ohne dass die Verschiedenheit von theoretischer und praktischer Wahrheit unbeachtet bleiben soll, verdient die Ausrichtung auf die Wahrheit als das verbindende Kennzeichen beider Teilvermögen des vernünftigen Seelenteils besondere Aufmerksamkeit, denn diese Ausrichtung ist zugleich das Distinktionsmerkmal zum Seelenteil, der nur insofern Anteil an der Vernunft hat, als er ihr gehorcht.12 Aristoteles unterstreicht die Wahrheitserkenntnis als die spezifische Leistung beider Vermögen explizit in EN VI 2, 1139b12: »Die Funktion beider denkender Bestandteile ist also die [Erkenntnis der] Wahrheit« (amphoterôn dê tôn noêtikôn moriôn alêtheia to ergon). In Kapitel 2 ist nur abstrakt von den beiden Tugenden die Rede, die der jeweiligen Wahrheitserkenntnis entsprechen – erst in Kapitel 13 werden sie explizit benannt: sophia und phronêsis. Phronêsis ist also laut Kapitel 2 die gute Ausübung praktischer Wahrheit oder anders ausgedrückt: die gute Verfassung desjenigen Vernunft-Seelenteils, der es mit der praxis zu tun hat. Offensichtlich liegt hier – wie beim ergon-Argument in I 6 – ein allgemeiner Begriff von Tugend vor: Tugend als qualitativer Ausdruck der ergonAusübung. Es geht hier noch nicht um die konkrete Handlung, sondern um ihre Grundlagen. Dafür spricht auch, dass an dieser Stelle noch von einem undifferenzierten Begriff von praxis auszugehen ist; undifferenziert insofern, als hier die Unterscheidung von poiêsis und praxis als zwei Handlungsweisen noch keine Rolle spielt. Die Bezeichnung phronêsis sollte folglich im Kontext von VI 2 nicht ausschließlich moVgl. Natali (2001), S. 12. Er konstatiert ebenfalls eine Vernachlässigung des Wahrheitsmoments bei der Interpretation der phronêsis.
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ralisch interpretiert werden, sondern vielmehr als Ausdruck einer gelungenen Rationalität im Sinne der Kohärenz von Streben und Überlegung verstanden werden. Die Kohärenz spiegelt sich im Konzept der praktischen Wahrheit wider, wobei letztere dadurch definiert ist, dass sie eine gleichzeitige Ausrichtung und Affirmation von Überlegung (logos) und Streben (orexis) beim Vorsatz (prohairesis) erfordert; die Überlegung muss dabei wahr sein und das Streben richtig. Aristoteles beschreibt dieses Wechselspiel folgendermaßen: »Was beim Denken Bejahung und Verneinung ist, ist beim Streben das Aufsuchen und Meiden. Also muss, da die charakterliche Tugend eine sich in Vorsätzen äußernde Disposition und der Vorsatz ein überlegtes Streben ist, eben deshalb die Überlegung wahr und das Streben richtig sein, wenn der Vorsatz gut sein soll, und was der denkende Teil bejaht und der strebende Teil verfolgt, muss dasselbe sein. Dies ist das praktische Denken und die praktische Wahrheit.« (EN VI 2, 1139a21–27)
Die homogene Ausrichtung von Überlegung und Streben ist also bei der für die charakterliche Tugend wichtigen prohairesis zentral. Eine widerstreitende oder falsche Orientierung kann nämlich nicht die der Tugend adäquate Wahl garantieren. Nun lässt sich aber fragen, inwiefern eine Überlegung fehlgehen kann und was das Streben von der richtigen Ausrichtung ablenken kann. Die Antwort ist m. E. dem Kontext der prohairesis zu entnehmen: Als Ursprung der prohairesis werden in EN VI 2, 1139a32 f. das Streben und die auf einen Zweck gerichtete Überlegung genannt; wenige Zeilen weiter wird der Zweck schlechthin als eupraxia, das richtige Handeln, identifiziert, auf das auch das Streben ausgerichtet ist. Daraus lässt sich nun schließen, dass die Überlegung dann wahr ist, wenn sie eupraxia als Zweck begreift und das Streben richtig ist, wenn es dies bekräftigt. Eine falsche Überlegung hingegen liegt dann vor, wenn dieser Zweck der Erkenntnis entzogen wird, weil sich Lust und Unlust ›dazwischen schieben‹. In EN VI 5, 1140b16–20 beschreibt Aristoteles dieses Phänomen: »Denn die Ursprünge des Getanen liegen in ihrem Zweck und in ihrem Grund. Demjenigen aber, der durch Lust und Unlust verdorben ist, zeigt sich sofort der Ursprung nicht mehr, und auch nicht, dass man zu diesem Zweck oder aus diesem Grund alles wählen und tun soll – denn die Schlechtigkeit verdirbt den Ursprung.«
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An dieser Stelle sei vorab darauf verwiesen, dass sich der spoudaios vor allem dadurch auszeichnet, dass er auch in Bezug auf Lust/Unlust unbestechlich ist, so dass eine Täuschung bei ihm als ausgeschlossen gelten darf. Es bleibt also noch die Frage offen, auf welche Weise das Streben abgelenkt werden kann, selbst wenn die Überlegung wahr ist. Aristoteles entwickelt die Antwort darauf in den Kapiteln 1–11 des siebten Buches: Es handelt sich dabei um das Phänomen der Unbeherrschtheit, das die Differenz zwischen Vernunftausspruch und Streberichtung begründet: »Es ist nun verbreitete Meinung, […] dass der Beherrschte und derjenige, der bei seiner Überlegung bleibt, derselbe ist, und ebenso der Unbeherrschte und derjenige, der von seiner Überlegung abweicht. Der Unbeherrschte weiß, dass es schlecht ist, was er tut, und tut es dennoch aufgrund des Affekts. Der Beherrschte andererseits weiß, dass die Begierden schlecht sind und folgt ihnen wegen der Überlegung nicht.« (EN VII 2, 1145b10–14)
So ist zur praktischen Wahrheit festzuhalten, dass sie dann gegeben ist, wenn die prohairesis durch die Übereinstimmung von wahrer (nicht ›bestochener‹) Überlegung und richtigem (beherrschtem) Streben gekennzeichnet ist. Das Konzept der praktischen Wahrheit birgt aber – neben dem komplizierten Ineinandergehen von desiderativen und kognitiven Momenten – noch grundsätzliche Schwierigkeiten: Was soll unter einer praktischen Wahrheit zu verstehen sein, die per definitionem mehr beinhalten muss als die theoretische Aussage »wahr« oder »falsch«? Wie kommt das praktische Element bei dieser Wahrheitsform zum Tragen? Eine reizvolle Antwort liefert Alejandro Vigo: Ihm zufolge ist praktische Wahrheit als eine »Wahrheit der Handlung« 13 aufzufassen – eine Wahrheit, die »in und mit der Handlung selbst realisiert« 14 wird. 15 Mit diesem Ansatz setzt er sich nach eigenen Worten bewusst von der »traditionellen« Antwort ab, die die praktische Wahrheit als eine wahre Aussage über eine Handlung versteht. Dem ist entgegenzusetzen, dass eine (theoretische) Aussage nicht dadurch praktisch wird, dass sie sich auf eine Handlung bezieht. Auch erhält die Interpretation von Vigo dadurch Unterstützung, dass die Konklusion des praktischen SyllogisVigo (1998), S. 303. Ebd.; Alternativ schreibt Vigo auch, dass die praktische Wahrheit »konstituiert bzw. hervorgebracht« wird, S. 302. 15 Ähnlich auch: Graeser (2 1993), S. 241; Rese (2003), S. 200. 13 14
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mus nach Aristoteles in der Handlung besteht (vgl. EN VII 5, 1147a25– 28). Gegen Vigo könnte man einwenden, dass seine Argumentation zu dem Ergebnis führe, dass Wahrheit generiert werden könne – eine Position, die problematisch erscheint. Allerdings nur dann, wenn man von einer kriterienlosen Genese ausgeht, die aber durch die Voraussetzungen von richtigem Streben und wahrem Vernunfturteil für praktische Wahrheit ausgeschlossen wird. Vigo hat meiner Meinung nach zu Recht den Blick auf den Ursprung der Handlung gelenkt, wenn er die prohairesis als Verbindung von Streben und Vernunft und als Bedingung des Handelns anführt. Allerdings bleibt er an dieser Stelle stehen, anstatt die prohairesis wiederum auf ihren Ausgangspunkt, den Menschen, zurückzuführen. Denn die wiederholte Aussage des Aristoteles, dass der Mensch die Bewegursache von praxis sei, birgt m. E. den Schlüssel zum Verständnis von praktischer Wahrheit. Denn anstatt das Konzept von praxis allein auf die konkrete Äußerung, die Handlung, zu reduzieren, sollte vielmehr der Blick auf ihren Ursprung, den Menschen, gerichtet werden. Auf diese Weise wird verständlich, warum die gleichmäßige Ausrichtung von Streben und Überlegung als praktische Wahrheit gilt, schließlich sind dies die beiden Vermögen in einem Menschen, die ihn zum Handeln befähigen. Durch die zusätzlichen Kriterien der Richtigkeit (in Bezug auf das Streben) und Wahrheit (hinsichtlich der Vernunft) folgt, dass allein die Seele des tugendhaften Menschen über die phronêsis im Sinne der guten Ausübung der praktischen Wahrheit verfügt: Indem der tugendhafte Mensch aus zahlreichen Handlungsmöglichkeiten durch Gewöhnung und Überlegung die richtige und damit die gute Handlung hervorbringt, bringt er insofern Wahrheit zur Geltung, als er gemäß seiner natürlichen Ausrichtung auf die eudaimonia tätig ist.
b.
Phronêsis als eine von fünf Haltungen zur Wahrheit
Während die phronêsis bislang nur mit der sophia auf einer Stufe stand, wird in den Kapiteln 3–7 eine neue Liste eröffnet: Die phronêsis wird als eine von fünf Haltungen gekennzeichnet, mit denen die Seele die Wahrheit durch Bejahen oder Verneinen trifft (EN VI 3, 1139b15 f.). Der Fokus der Untersuchung richtet sich fortan auf den intellektuellen Aspekt der phronêsis. Der griechische Text gibt streng genommen keinen Aufschluss darüber, unter welchen Begriff diese A
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Elemente fallen (es ist nur von peri autôn bzw. von hois die Rede). Da aber sowohl im Kontext von Wissenschaft als auch von Herstellungswissen und phronêsis von einer Haltung (hexis) die Rede ist, liegt es nahe, davon auszugehen, dass sich die Pronomina auf die hexeis im vorigen Satz beziehen. Der angesprochene Wahrheitsbezug ist es wohl auch, der Aristoteles in diesem Kontext von Haltungen sprechen lässt und nicht von Fähigkeiten (dynameis). 16 Die stabile Disposition zur Wahrheitsfindung kommt mit dem Ausdruck hexis offenbar besser zum Ausdruck. Genannt werden ferner das Herstellungswissen (technê), die Wissenschaft (epistêmê), die Weisheit (sophia) sowie (intuitives) Denken (nous). Diese Aufzählung irritiert, da die Aneinanderreihung der Wahrheitshaltungen eine Gleichrangigkeit suggeriert, mit der aber die Sonderstellung von phronêsis und sophia als Tugenden der beiden Bestandteile des vernünftigen Seelenteils nicht vereinbar ist. Diese Irritation ist jedoch aufzulösen, wenn man sich vor Augen führt, dass in den Kapiteln 3–7 von Buch VI der Nikomachischen Ethik eine spezifischere Argumentationsebene erreicht ist. An dieser Stelle stehen nicht die phronêsis und sophia als Tugenden in toto im Mittelpunkt, sondern werden gemeinsam mit anderen Dispositionen zur Wahrheit erörtert. Dies wirkt sich natürlich auch auf den Charakter der Ausführungen aus: Fragen der Abgrenzung, des Verhältnisses zueinander und Spezifika jeder einzelnen Wahrheitsdiposition treten in den Vordergrund, so dass sich dieser Auflistung viel an Informationen entnehmen lässt. Aus diesem Grund möchte ich kurz alle Haltungen gemäß ihrer Reihenfolge erläutern, wobei ich mein besonderes Augenmerk auf die phronêsis richten werde. Aristoteles setzt mit der Wissenschaft (epistêmê) ein, die hier nur für das gilt, was 1) unmöglich anders sein kann, 2) notwendig ist, 3) ewig ist und 4) lehr- und lernbar ist (EN VI 3, 1139b20–27). Führt man sich die Unterscheidung von einem »schwachen« und einem »starken« Wissen in Kapitel IV dieser Arbeit vor Augen, wird schnell deutlich, dass Aristoteles im Kontext von Buch EN VI 3 den restriktiveren Wissenschaftsbegriff im Sinne von Wissen um die Gründe (dihoti) für epistêmê verwandt hat. 17 Dafür spricht auch, dass er die Induktion als Methode zur Prinzipienerkenntnis anführt (EN VI 3, 1139b28 f.). Die charakteristische Form des Treffens der Wahrheit ist für die Wissen16 17
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Vgl. Wolf, U. (2002), S. 143 f. Vgl. dazu meine Ausführungen in Kap. IV.1.
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schaft der Beweis, weshalb sie auch als hexis apodeiktikê (EN VI 3, 1139b31 f.) bezeichnet wird. Die Bestimmung von technê in EN VI 4 setzt zunächst mit der ihr zugewiesenen Tätigkeitsform ein, dem Herstellen (poiêsis). Das Herstellen wird explizit vom Handeln (praxis) unterschieden. Obwohl beide denselben Gegenstandsbereich haben, nämlich das, »was anders sein kann«, und beide im Menschen den Ursprung (im Sinne der Bewegursache) verorten, beharrt Aristoteles auf ihrer Unvereinbarkeit, ohne in diesem Kapitel näher Auskunft darüber zu geben. Gemäß der strikten Trennung von Herstellen und Handeln differenziert er auch zwischen der technê als der »mit Überlegung verbundenen Disposition des Herstellens« (meta logou hexis poiêtikê: EN VI 4, 1140a4 f.) und der »mit Überlegung verbundenen Disposition des Handelns« (meta logou hexis praktikê: EN VI 4, 1140a4) als die sich im nachfolgenden Kapitel noch die phronêsis herausstellen wird. Fraglich ist, was unter »mit Überlegung« (meta logou) zu verstehen ist und welcher Art die Überlegung ist. Diese Frage berührt die Diskussion um die ›richtige‹ Formalisierung im Kontext des sog. praktischen Syllogismus, die ich an späterer Stelle aufnehmen werde. Bei den Ausführungen zur phronêsis wählt Aristoteles einen bemerkenswerten Einstieg: Er verweist auf die spezifische Eigenschaft des phronimos, die im Überlegen (bouleuesthai) bestehe (EN VI 5, 1140a26). Der Modus und der Gegenstand der Überlegung wird noch näher bestimmt: Der phronimos überlegt auf »schöne Weise« (kalôs) 18 und er tut dies in Hinsicht auf das »für ihn Gute und Zuträgliche« (ta autô agatha kai sympheronta) oder, noch allgemeiner formuliert, auf das, »was überhaupt dem guten Leben zuträglich ist« (pros to eu zên holôs). Die Überlegung bezieht sich demnach nicht auf einen Teilaspekt des Lebens wie Gesundheit oder Kraft (EN VI 5, 1140a26 ff.). Verwirrend ist allerdings, dass die generelle Bestimmung später relativiert wird, wenn es dann heißt, dass als klug auch derjenige gilt, der »im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel gut überlegen« kann, das nicht Gegenstand von technê ist (EN VI 5, 1140a29 f.). Da Aristoteles offenIn den meisten deutschen Übersetzungen wird »kalôs« an dieser Stelle mit »gut« übersetzt. Dies dürfte insbesondere vor dem Hintergrund, dass der phronimos sich auch durch Wohlberatenheit auszeichnet, legitim sein. Allerdings spricht auch nichts dagegen, »kalôs« durchaus wörtlich zu verstehen: Es mag auch eine »Schönheit« beim Überlegen im Sinne von Eleganz und Effizienz geben. Ein solcher Gedanke klingt in Buch III an.
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sichtlich einen Kausalzusammenhang eröffnen möchte – er leitet die letzte Bemerkung mit den Worten ein, dass sie als Indiz (sêmeion d’hoti) für die allgemeine Bestimmung diene – liegt es nahe, einen induktiven Schluss anzunehmen: Wenn Menschen hinsichtlich eines bestimmten Bereichs auf das Ziel hin gut überlegen können und (bereits) klug genannt werden, dann werden sie es umso mehr, wenn sie es auf das Ziel schlechthin – das gute Leben – können. Dass Aristoteles letztlich an der allgemeineren Formulierung von phronêsis interessiert war, zeigt auch die nachfolgende Definition in EN VI 5, 1140b4 ff.: »Es bleibt also, dass sie eine mit Überlegung verbundene wahre Disposition des Handelns ist, die sich auf das bezieht, was für den Menschen gut und schlecht ist« (peri ta anthrôpô agatha kai kaka). Nach diesem unvermittelten Einstieg kehrt Aristoteles zu seinem ursprünglichen Erkenntnisinteresse an der phronêsis als Wahrheitshaltung zurück, indem er den Gegenstandsbereich von Überlegung diskutiert. Überlegung bezieht sich demnach auf das, was auch anders sein kann und was einem selbst möglich ist (EN VI 5, 1140a31 ff.). Der Verweis auf das, was auch anders sein kann, dient der Abgrenzung der phronêsis von der Wissenschaft, die sich gemäß VI 3 auf das Unveränderliche, Ewige und Notwendige bezieht. Die Unterscheidung von phronêsis und technê erfolgt zunächst nur durch den Verweis, dass es sich bei den ihnen zugewiesenen Tätigkeitsformen – praxis und poiêsis – um zwei verschiedene Gattungen handele. Unmittelbar danach wird die Erklärung nachgeliefert: »Das Ziel der Herstellung ist von dieser selbst verschieden, das der Handlung nicht. Denn das gute Handeln selbst ist Ziel« (EN VI 5, 1140b6 f.). Ein weiterer Unterschied wird am Ende des Kapitels angeführt – während bei der technê selbst der absichtlich herbeigeführte Fehler noch eine Könnerschaft offenbart, ist dies bei der phronêsis nicht der Fall: Es kann kein schlechtes Handeln aufgrund/ mit Hilfe der phronêsis geben. In den Ausführungen zur phronêsis findet sich ein Abschnitt, der wie ein Exkurs anmutet, indem zunächst ein Bezug zur Politik hergestellt wird und danach das Verhältnis von Besonnenheit und phronêsis Beachtung findet. Der Verweis auf Perikles als Beispiel für einen phronimos unterstützt die vorher vorgestellte Definition von phronêsis als einer allgemeinen Überlegung. In diesem Kontext kommt nämlich durch den Gemeinschaftsbezug noch eine numerische Dimension von Allgemeinheit ins Spiel. Als maßgeblich für die verantwortliche Tätigkeit eines phronimos scheint insbesondere die Tugend der Besonnenheit (sôphrosynê) zu sein, deren Bedeutung für 122
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die phronêsis sogar etymologisch hergeleitet wird (EN VI 5, 1140b11 f.). Der Besonnenheit wird die Bewahrung des richtigen Urteils über die Selbstzwecklichkeit von Handeln zugetraut, indem sie durch rechten Umgang mit Lust und Unlust die Trübung des Urteils verhindert. In den Bemerkungen zum nous in EN VI 6 geht Aristoteles logisch sehr stringent vor. Ausgehend von der Prämisse, dass jede Wissenschaft auf Prinzipien als Ausgangspunkte des Beweises angewiesen sei (1140b32 f.), kommt er mit Hilfe eines Ausschlussverfahrens zu dem Resultat, dass der nous für die Erfassung der Prinzipien zuständig sei (1141a7 f.). Die Wissenschaft scheidet aus, weil ihre Tätigkeit sich im Beweis niederschlägt, den sie als Fundament anerkennt und nicht selbst zum Gegenstand macht (1140b34). Die technê und die phronêsis werden als Kandidaten abgelehnt, weil sie bereits aufgrund ihres Gegenstandsbereichs nicht die Bedingungen für ein Urteil über das Allgemeine und Notwendige liefern können (1140a34–1141a1). Die Weisheit hingegen kommt nicht für die (ausschließliche) Erfassung der Prinzipien in Betracht, weil der Weise auch über Beweise verfüge (1141a2 f.). Was sich bislang implizit aufgrund des Verfahrens ergeben hat, wird von Aristoteles am Ende des sechsten Kapitels explizit hergeleitet – nämlich, dass allein der nous die Prinzipien selbst zum Gegenstand haben könne (1141a7 f.). Interessant ist hierbei, dass die diskutierten (und verworfenen) Dispositionen ausnahmslos als täuschungsresistent bezeichnet werden (1141a3 f.). Die Irrtumsfreiheit ist folglich nicht vom Gegenstandsbereich abhängig, denn auch die phronêsis wird hier in der Verwendung der Tugend des überlegenden Seelenteils genannt. Die phronêsis trifft also auch unter Bedingungen der Veränderlichkeit die Wahrheit. Die Weisheit wird in EN VI 7 als letzte zu erörternde Wahrheitsdisposition zunächst nicht mittels ihres Gegenstands eingeführt, sondern durch den sie auszeichnenden Grad an Genauigkeit. Dieser Zugang erlaubt es Aristoteles, die Weisheit auch als eine »Gutheit des Herstellungswissens« (1141a12) zu bezeichnen. Diese ›spezielle‹ Weisheit wird allerdings schnell durch einen Verweis auf eine ›allgemeine‹ Weisheit abgelöst (1141a13), deren Allgemeinheit am besten durch ›umfassendes Wissen‹ beschrieben wird. Denn der Weise verfügt nicht nur über die Fähigkeit des Beweisens, sondern besitzt auch das Prinzipienwissen, das durch den nous bereitgestellt wird. So kommt Aristoteles zu dem Ergebnis, dass die Weisheit die Verbindung von WissenA
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schaft und nous ist (1141a18 f.). Mit der Prinzipienerkenntnis geht auch eine ontologische Aufwertung der Wissenschaft einher, denn die Weisheit bezieht sich auf die am »höchsten geschätzten Gegenstände« (1141a19 f.). Irritierend ist allerdings die nachfolgende Trennung von phronêsis und politischem Wissen, schließlich wurde in VI 5 ein expliziter Bezug zwischen beiden hergestellt. Als Erklärung ist denkbar, dass Aristoteles an dieser Stelle die restriktivere Definition von phronêsis als die gute Überlegung auf ein bestimmtes Ziel vor Augen hatte, während die allgemeinere Definition von phronêsis hier als politisches Wissen bezeichnet wird. Die enge Auslegung von phronêsis erlaubt ihm sogar ihre Anwendung auf Tiere, während das politische Wissen dem Menschen vorbehalten ist. Allerdings sollte diese Unterscheidung nicht überbewertet werden, denn aus dem Kontext von Buch VI geht klar hervor, dass Aristoteles bis auf diese zwei Stellen stets die anspruchsvollere Variante der phronêsis vertritt.
c.
Phronêsis als Handlungskompetenz
Ab Kapitel 8 greift Aristoteles die phronêsis wieder auf, indem er zunächst in einer Art Resümee Gedanken aus Kapitel 5 (phronêsis als Wahrheitshaltung) bündelt. So führt er nochmals das Charakteristikum des phronimos, die Fähigkeit zur guten Überlegung, sowie den Gegenstandsbereich von Überlegung bzw. phronêsis auf. Danach bekommen die Ausführungen aber einen anderen Charakter, denn dort greift Aristoteles erstmals im Kontext der phronêsis die Frage auf, wie das Verhältnis von Allgemeinem und Einzelnem bei ihr ausfällt. Der Begriff der praxis, von dem bislang generell die Rede war und der meist der Abgrenzung zur poiêsis diente, wird nun in die Konkretion der Handlung überführt. Insbesondere in den Kapiteln 8 und 9 spielt die Frage, über welches Wissen der phronimos vorrangig zu verfügen habe, eine zentrale Rolle. Das Kapitel 10 widmet sich der Wohlberatenheit, die ich als zur phronêsis zugehörig auffasse, denn die inhaltliche Übereinstimmung ist frappant. In den beiden nachfolgenden Kapiteln 11 und 12 geht es um die Erörterung von mit der phronêsis verwandten Tugenden. Zu diesen ›Schwestern‹ der phronêsis zählen die Verständigkeit (synesis), die Einsicht (gnômê) und die Wahrnehmung (aisthêsis als praktischer nous verstanden). Ebenso wie die phronêsis 124
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haben all diese Tugenden mit dem Einzelnen zu tun, so dass Aristoteles in Kapitel 12 zusammenfassen kann: »Nun kann man wohl sagen, dass alle diese Dispositionen auf denselben Punkt zulaufen. Denn wir sprechen von Einsicht, Verständigkeit, Klugheit und intuitiver Vernunft, indem wir von denselben Menschen sagen, dass sie Einsicht haben, intuitive Vernunft besitzen, klug und verständig sind. Denn alle diese Fähigkeiten haben mit dem Einzelnen zu tun.« (1143a25–29)
Da diese Tugenden einen gemeinsamen Fluchtpunkt besitzen, nämlich die Ausrichtung auf das Einzelne, möchte ich sie im Sinne von Handlungskompetenz als eine Einheit auffassen und die phronêsis als das Gefüge dieser Einheit. Diese Bündelung ist meiner Meinung nach insbesondere vor dem Hintergrund meines Interesses am phronimos legitim, denn später fügt Aristoteles noch hinzu: »Alles, was Gegenstand des Handelns ist, gehört aber zum Einzelnen und Letzten. Dieses muss der Kluge kennen.« (EN VI 12, 1143a32 ff.). 19 Angesichts dieser Aussage muss eine Beschäftigung mit dem phronimos notwendigerweise die anderen Tugenden und deren Beschreibungen integrieren, selbst wenn sie begrifflich von der phronêsis unterschieden sind. In einem kürzlich erschienenen Artikel hat Rosalind Hursthouse auf den Missstand der vernachlässigten ›Teiltugenden‹ hingewiesen und sich ebenfalls für einen integrativeren Ansatz ausgesprochen.20 Die Fokussierung auf das Einzelne verleiht den Kapiteln 8–12 eine große Attraktivität für die Partikularisten, weshalb ich mich im Folgenden der näheren Ausbuchstabierung der phronêsis als Handlungskompetenz widmen werde. Zuvor aber gehe ich noch darauf ein, wie nun die drei eingeführten Verwendungsformen der phronêsis zueinander in Beziehung stehen.
d.
Das Verhältnis der drei Verwendungsformen von phronêsis zueinander
Zur Erinnerung: Zu Beginn habe ich auf der Basis von Kapitel 2 die phronêsis als gute Ausübung von praktischer Wahrheit erklärt. Dabei An dieser Stelle bezieht sich »dieses« auf »alles, was Gegenstand des Handelns ist« und nicht auf das Einzelne und Letzte, so dass meine Zusammenfassung der Tugenden in der phronêsis legitim ist. 20 Vgl. Hursthouse (2006a). 19
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spielte die Übereinstimmung von richtigem Streben und einem wahren Vernunfturteil die zentrale Rolle. Dies ist die allgemeinste Bestimmung von phronêsis – auf dieser Ebene steht das Verhältnis von Streben und Intellekt im Mittelpunkt, indem der Mensch als handelnde Person, als Bewegursache, für den praktischen Charakter der Wahrheit sorgt. Die phronêsis taucht hier als Tugend, als eine Haltung des gesamten überlegenden Seelenteils auf; als Haltung, die zum richtigen Handeln befähigt. Anschließend führte ich im Kontext der Kapitel 3–7 die fünf Dispositionen zur Wahrheit aus, zu denen auch die phronêsis gehört. Als Wahrheitshaltung ist die phronêsis als gute Überlegung im allgemeinen Sinn in Bezug auf das gute Leben bzw. auf gutes Handeln in Erscheinung getreten. Diese Ausführungen sind in zweifacher Hinsicht bereits spezifischer als die zur praktischen Wahrheit: Zum einen ist der praxis-Begriff differenzierter, indem er in Abgrenzung zu der anderen Form von Tätigkeit, dem Herstellen (poiêsis), ermittelt wird. Zum anderen wird die allgemeine Ebene von Charakter/Streben und Intellekt verlassen – sie ist nur noch in den Äußerungen zur Bedeutung von Mäßigkeit als »Bewahrerin« der phronêsis gegenwärtig. Die phronêsis ist in diesem Kontext nicht mehr Ausübung praktischer Wahrheit in allgemeiner Hinsicht, sondern eine von mehreren Wahrheitshaltungen und wird nun als gute Überlegung in Bezug auf das gesamte menschliche Leben bezeichnet. Zuletzt leitete ich aus den Ausführungen der Kapitel 8–12 die Bedeutung der phronêsis als einer Handlungskompetenz ab, die sich in der konkreten Handlungssituation bewährt. Mit der Abwesenheit des Wahrheitsbegriffs (sei es als praktischer Wahrheit, sei es als Wahrheitshaltung) scheint auch die Ebene von Allgemeinheit verlassen worden zu sein; stattdessen überwiegt nun die Konzentration auf das Einzelne, auf die konkrete Handlungssituation. Mit der Fokussierung auf das Einzelne geht einher, dass das Verhältnis vom Allgemeinen und Einzelnen in den Blickpunkt gerät. Dies zeigt sich auch daran, dass die Erläuterungen immer spezifischer werden; nicht nur der Gegenstand von guter Überlegung ist jetzt von Interesse, sondern auch die Art des Überlegens (im Kontext der Wohlberatenheit) sowie die Vielfalt des Umgangs mit einer Situation (Teiltugenden). Stellt man die drei Verwendungsformen von phronêsis nebeneinander, kann man eine Entwicklung vom Allgemeinen zum Konkreten hin feststellen: Als Tugend hat die phronêsis die praktische Wahr126
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Allgemeines und Einzelnes im Kontext der Phronêsis
heit zum Ziel, als Wahrheitshaltung die gute Überlegung in allgemeiner Hinsicht und als Handlungskompetenz die gute Überlegung in einer konkreten Situation. Diese zunehmende Spezifität macht deutlich, dass es sich keineswegs um widersprüchliche Definitionen von phronêsis handelt; stattdessen sollte man davon ausgehen, dass es sich bei ihnen wie mit einer russischen Matrioschka-Puppe verhält: Alle Puppen sehen gleich aus, unterscheiden sich aber in der Größe und sind in der jeweils größeren Form enthalten. So sind alle Definitionen der phronêsis strukturell gleich, weisen aber einen anderen Spezifikationsgrad auf. Mit dem zunehmenden Spezifikationsgrad geht zugleich eine stärkere Konzentration auf die intellektuelle Ausübung der phronêsis einher.
3.
Allgemeines und Einzelnes im Kontext der Phronêsis
Auf der Ebene der phronêsis als Handlungskompetenz gerät das Einzelne in den Blickpunkt der Ausführungen, wodurch sich die Frage nach dem Verhältnis vom Allgemeinen und Einzelnen stellt. Dem Kontext der Kapitel 8–12 in Buch VI der Nikomachischen Ethik sind viele Informationen dazu zu entnehmen, auf deren Basis ich im Folgenden untersuche, welche Rolle das Allgemeine überhaupt noch in der konkreten Handlung spielt. In diesem Zuge möchte ich auch Zweifel an dem partikularistischen Verständnis von der Priorität des Partikularen anmelden; m. E. bezieht sich diese Aussage des Aristoteles lediglich darauf, dass das Einzelne in der Handlung phänomenologisch mehr Beachtung erfährt. Außerdem wird die Erfassung des Einzelnen seitens der Partikularisten nahezu ausschließlich der aisthêsis überantwortet, wodurch die anderen ›Teiltugenden‹ und die Erfahrung in den Hintergrund geraten, denen sie ebenfalls zugewiesen wird.
a.
Allgemeines als Bestandteil der phronêsis
Die starke Fokussierung der Partikularisten auf das Einzelne lässt den allgemeinen Anteil der phronêsis in den Hintergrund treten. Dabei hat bereits die Strukturanalyse von Buch VI der Nikomachischen Ethik gezeigt, dass das Einzelne erst auf der Ebene der konkreten Handlung Beachtung erfährt, während die Ausführungen in den Kapiteln 1–7 A
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das Einzelne unberücksichtigt lassen. Im Kontext der phronêsis als Tugend des logistikon und als Haltung zur Wahrheit dominierte das Allgemeine, wie etwa in der Erstreckung der Überlegung auf das gesamte Leben. Die phronêsis als Handlungskompetenz ist, wie ich dargelegt habe, die spezifischste Variante von phronêsis, ohne dass sie den anderen Ausdrucksweisen widersprechen würde. Fraglich ist, wie das Allgemeine auf der Ebene der konkreten Handlung zum Vorschein kommt. Dass es eine Rolle spielt, wird u. a. an folgendem Hinweis in EN VI 8 deutlich: »Auch hat die Klugheit nicht nur (monon) mit dem Allgemeinen zu tun, vielmehr muss sie auch das Einzelne erkennen.« (1141b14 f.)
Diese Aussage zielt zwar auf die Sensibilisierung gegenüber dem Einzelnen, doch ist ihr zugleich zu entnehmen, dass das Allgemeine auch in der konkreten Handlung noch präsent ist. Zum besseren Verständnis des Verhältnisses von allgemein und einzeln trägt folgende Passage aus EN V 10 bei, die es thematisiert: »Jede Bestimmung, die gerecht und gesetzlich ist, verhält sich wie das Allgemeine zum Einzelnen. Denn die Handlungen, die getan werden, sind viele, von den Bestimmungen aber ist jede [nur] eine, da sie ein Allgemeines ist.« (1135a5–8)
In dieser Passage werden die Handlungen mit dem Einzelnen identifiziert, das als die Instantiierung einer allgemeinen Bestimmung, eines Gesetzes zu verstehen ist. Die vielen einzelnen Handlungen sind demnach Anwendungen eines Gesetzes. Gibt es nun ein Pendant zum Gesetz im Kontext der phronêsis? Auf den ersten Blick würde man das gesamte gute Leben, die eudaimonia selbst, als das Allgemeine schlechthin im Kontext der phronêsis definieren. Dies ist insofern zutreffend, als die eudaimonia qua Prinzip ein Universales ist. Doch im Zuge der Diskussion von praktischen Prinzipien hat sich bereits herausgestellt, dass sich aus der eudaimonia keine unmittelbaren Handlungsanweisungen folgern lassen wie es beispielsweise bei Gesetzen der Fall ist. Stattdessen bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass es im Gegenstandsbereich der Tugenden Handlungsregeln gibt, die mit den Gesetzen identisch sein dürften. Für diese Sichtweise spricht auch folgende Parallelisierung von politischem Wissen und phronêsis in EN VI 8:
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Allgemeines und Einzelnes im Kontext der Phronêsis
»Das politische Wissen (politikê) und die Klugheit (phronêsis) sind dieselbe Disposition, ihr Sein ist jedoch nicht dasselbe. Von der mit dem Staat befassten Klugheit ist die leitende (architektonikê) das Gesetzgebungswissen. Die andere Form, die sich mit dem Einzelnen befasst, hat den gemeinsamen Namen »politisches Wissen«. Sie ist handlungsbezogen und überlegend, denn ein Staatsbeschluss ist, als letzter Schritt in einem Überlegungsprozess, etwas, das durch Handeln ausgeführt werden kann. […] Man nimmt gewöhnlich aber auch an, dass die Klugheit insbesondere diejenige Art ist, die den Handelnden selbst und die einzelne Person betrifft; diese hat den gemeinsamen Namen »Klugheit«. Von den anderen Arten ist eine die Leitung des Hauses, eine andere Gesetzgebung, die dritte politisches Wissen, und davon ist die eine Art die überlegende, die andere die richterliche.« (1141b23–33)
Politisches Wissen und die phronêsis können wegen ihres unterschiedlichen Seins nicht als identisch bezeichnet werden, aber doch als strukturell gleich, da sie über dieselbe Haltung verfügen. Während die phronêsis sich in erster Linie auf den einzelnen Menschen bezieht, ist das politische Wissen wegen seines Bezugsobjekts, die polis, umfassender; mit anderen Worten: Politisches Wissen ist die in der politischen Sphäre ausgeübte phronêsis. 21 Aus diesem Grunde sind die Ausführungen zur Struktur des politischen Wissens auch für die phronêsis relevant. Daraus folgt, dass auch die phronêsis über ein leitendes Wissen (architektonikê) verfügt, das nicht mit dem Einzelnen beschäftigt ist. Dafür spricht auch, dass Aristoteles die genannten Unterscheidungen in EN VI 11 zum Teil auch für die phronêsis durchdekliniert, wenn er sie als »Anweisungen gebend« (epitaktikê) beschreibt, während die zur phronêsis gehörende Verständigkeit (synesis) »nur« urteilend sei (kritikê) (1143a8 ff.). Aristoteles spezifiziert noch, was unter »Anweisungen gebend« zu verstehen ist, nämlich: zu bestimmen, »was man tun soll oder nicht« (ti gar deî prattein hê mê) (1143a8 f.). Diese Ausführungen zum ›architektonischen‹ Wissen der phronêsis nivellieren den Anspruch der Partikularisten, die Priorität der phronêsis im Einzelnen zu sehen. Das Wissen um das Allgemeine, um die Handlungsregeln ist ebenso notwendig für das erfolgreiche Agieren der phronêsis wie die Achtsamkeit gegenüber dem Einzelnen. 22 Wie lässt sich dann aber erklären, dass Aristoteles bisweilen doch einen Vorrang des Einzelnen zu behaupten scheint? In EN VI 8 heißt es nämlich:
21 22
Vgl. Schofield (2006), S. 318. Vgl. Anagnostopoulos (1994), S. 367. A
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»Nun bezieht sich die Klugheit aufs Handeln, so dass man beides [Wissen des Einzelnen und Erfahrung vom Einzelnen] haben muss, oder mehr noch das zweite.« (1141b21 f.)
Zur Beantwortung dieser Frage wende ich mich im Folgenden dem Begriff des Einzelnen zu.
b.
Einzelnes als Objekt der phronêsis
Wenn Partikularisten sich für die Priorität des Einzelnen aussprechen, dann liegt dem eine bestimmte Konzeption des Einzelnen zugrunde: Nussbaum bezeichnet es als »ultimate particulars«23 und Wiggins führt in diesem Kontext die »unendlichen Möglichkeiten« an. Offensichtlich verstehen sie unter dem Einzelnen singuläre, individuelle Situationen. Diese Interpretation ist allerdings keinesfalls zwingend. Denn die Frage ist, ob mit dem Einzelnen Handlungstypen (types of action) oder individuelle Handlungen (tokens of action) gemeint sind – nach der ersten Interpretation würde selbst das Einzelne noch Allgemeinheit aufweisen, während bei der zweiten Auffassung das Einzelne im absoluten Sinne von Individualität zu verstehen wäre. Der aristotelischen Verwendung von kath’hekaston ist keine eindeutige Antwort zu entnehmen, da es Textstellen gibt, die für beide Lesarten Anlass bieten: 24 So spricht das Beispiel vom Verzehr des leichten Fleisches für die spezifischere Variante: »Wenn jemand nämlich weiß, dass leichtes Fleisch gut verdaulich und gesund ist, aber nicht weiß, welches Fleisch leicht ist, wird er keine Gesundheit bewirken; vielmehr wird das derjenige können, der weiß, dass Geflügelfleisch leicht und gesund ist.« (EN VI 8, 1141b18–21)
Das Einzelne wird hier als »Geflügelfleisch« identifiziert, was bedeutet, dass es lediglich ein spezifischerer Typus im Vergleich zum allgemeineren Typus des »leichten Fleisches« ist. 25 Auch die Darstellungen der einzelnen charakterlichen Tugenden können als die spezifischeren Formulierungen von Aristoteles’ allgemeiner mesotês-Lehre verstanden werden; zu Beginn von EN II 7 stellt er ihre Anwendung auf »die ein23 24 25
130
Nussbaum (1986), S. 299; so auch Sherman (1997), S. 248; Wiggins (1997), S. 61. Vgl. Devereux (1986), S. 485. Vgl. Anagnostopoulos (1994), S. 174 f.
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zelnen Fälle« (ta kath’hekasta) in Aussicht, die er zunächst nur auflistet, um sich dann ab EN III 9 eingehender mit ihnen zu beschäftigen. Insbesondere John Cooper hat das Verständnis von ta kath’hekasta als die spezifischere Formulierung des Allgemeinen bestärkt. Gegen diese Auffassung gibt Louden zu Bedenken, dass dieser Sprachgebrauch zwar in den theoretischen Schriften zutreffend sei, nicht aber für die ethischen Werke, die sich mit der praxis beschäftigen. 26 Stattdessen müssten »particulars« als individuelle Handlungen bzw. Situationen verstanden werden. Diese Sichtweise findet Unterstützung in folgender Textpassage: »Ferner: Der Fehler in der Überlegung kann entweder das Allgemeine oder das Einzelne betreffen, zum Beispiel entweder den Satz, dass alles schwere Wasser schlecht ist, oder den Satz, dass dieses bestimmte (todi) Wasser schwer ist. Dass aber die Klugheit nicht wissenschaftliche Erkenntnis ist, ist offensichtlich. Denn sie bezieht sich wie gesagt auf das Letzte (eschaton); was Gegenstand des Handelns ist, ist ja von dieser Art.« (EN VI 9, 1142a20–25)
Als das Einzelne wird hier ein ganz konkretes, individuelles Wasser bezeichnet, was noch durch das Demonstrativpronomen todi stärker zum Ausdruck kommt. Cooper bezweifelt dies, indem er mittels anderer Textstellen nachzuweisen versucht, dass weder der Begriff kath’ hekaston noch das Demonstrativpronomen auf ein Individuelles verweisen müsse, sondern mit der Auffassung eines bloß spezifischeren Typus kompatibel sei. 27 Allerdings weist Devereux daraufhin, dass Coopers Lesart nicht erklären könne, warum dann die phronêsis von der epistêmê explizit unterschieden wird, schließlich gäbe es auch von spezifischen Typen Wissen. 28 Diesem Einwand liegt der anspruchsvolle Begriff von Wissen im Sinne von Ursachenwissen zugrunde; dass es daneben auch das schwächere Tatsachenwissen gibt, habe ich in Unterkapitel IV.1. ausgeführt, weshalb ich die Anmerkung von Devereux letztlich als nicht überzeugend betrachte. Auf der anderen Seite scheint Coopers Interpretation zu sehr durch argumentative Hintergrundannahmen motiviert zu sein. 29 Die beiden exemplarischen Textstellen lassen m. E. nur den Schluss zu, dass beide Verwendungsweisen von ta Vgl. Louden (1991), S. 165. Vgl. Cooper (2 1986), S. 28 f. 28 Vgl. Devereux (1986), S. 487 f. 29 Dieser Gedanke klingt in der Argumentation von Devereux an. Vgl. Devereux (1986), S. 486, FN 10. 26 27
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Phronêsis – Die Bezeichnung von Urteilskraft bei Aristoteles?
kath’hekasta zutreffend sind, so dass näher zu untersuchen ist, welche Konsequenzen dies für die partikularistische Position hat. Zunächst gilt es festzuhalten, dass das partikularistische Verständnis vom Einzelnen durch dieses Resultat an Plausibilität verloren hat. Textstellen, die das Einzelne als Handlungstypen (action-types) beschreiben, entkräften das Szenario einer fundamentalen Unbestimmtheit des Praktischen. Außerdem ist es fraglich, ob die aisthêsis dann noch die exponierte Rolle spielen kann, die ihr Partikularisten zuweisen. Die Erfassung von ganzen Handlungstypen mittels der Wahrnehmung wirkt wenig überzeugend. Dies führt mich zu dem Aspekt der Konzentration auf die aisthêsis in Bezug auf das Einzelne. Wenn man sich die Kapitel 11 und 12 des sechsten Buches der Nikomachischen Ethik vergegenwärtigt, drängt sich der Eindruck auf, dass es sich bei der Konzentration auf die aisthêsis in erster Linie um eine inhaltliche Reduktion handelt. 30 Bereits im Rahmen der Erörterung von phronêsis als Handlungskompetenz habe ich darauf hingewiesen, dass die phronêsis mehrere Teiltugenden umfasst, die allesamt auf das Einzelne und Letzte ausgerichtet sind. Neben der aisthêsis, auf die ich in Kap. VII ausführlich eingehen werde, sind noch die urteilenden Teiltugenden zu nennen. Aristoteles unterscheidet in der Hinsicht zwischen der Verständigkeit (synesis) bzw. der Wohlverständigkeit (eusynesia), sowie der Einsicht (gnômê) und Nachsicht (syngnômê). Die Verständigkeit besitzt denselben Gegenstandsbereich wie die phronêsis, unterscheidet sich allerdings darin von ihr, dass sie nicht als anweisend (epitaktikê), sondern als urteilend (kritikê) gekennzeichnet wird (EN VI 11, 1143a6–10). Auch die Einsicht ist mit dem Urteilen befasst, wobei ihr Gegenstandsbereich eingegrenzt ist, da sie nur mit dem Urteil über das Billige (epieikês) befasst ist (EN VI 11, 1143a20). Mit der Einsicht unmittelbar verbunden ist die Nachsicht (syngnômê), die offensichtlich die aus der Einsicht resultierende Haltung darstellt (EN VI 11, 1143a21–24). Zöge man die Analogie von phronêsis und politischem Wissen in VI 8 zu Hilfe, würden die Verständigkeit und die Einsicht den richterlichen Zweig darstellen. Das Urteil, das sich aus diesen Teiltugenden speist, zeichnet sich auf zweifache Art und Weise aus: Zum einen ist es richtig
Gegen diese Missachtung der ›Teiltugenden‹ hat jüngst Rosalind Hursthouse Stellung bezogen. Vgl. Hursthouse (2006a).
30
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Der Überlegungsprozess des phronimos
und wahr (EN VI 11, 1143a24) und zum anderen besteht darüber Konsens zwischen guten Menschen (EN VI 12, 1143a31 f.). Allen diesen Tugenden sowie der aisthêsis ist es gemeinsam, dass die Erfahrung (empeiria) eine besonders wichtige Rolle bei ihrer Erlangung und Ausübung spielt. Aus diesem Grunde besitzen die »unbewiesenen Aussagen und Meinungen« der Erfahrenen eine ebenso große Geltung wie Beweise (EN VI 12, 1143b11 ff.). Dies legt nahe, dass die Erfahrung auch eine Form der praktischen Rationalität darstellt, ebenso wie die Überlegung (bouleusis). Im Gegensatz zur Überlegung dürfte sich aber die Erfahrung in erster Linie im alltäglichen Vollzug der phronêsis äußern und nicht im Kontext schwieriger Situationen, ohne dass daraus eine Unterschätzung oder Abwertung abgeleitet werden soll. In der Bedeutung der Erfahrung könnte nun der Schlüssel liegen, der die Frage zu beantworten hilft, mit der ich diese Ausführungen begonnen habe: Indem Aristoteles auf die Notwendigkeit von Erfahrung bei der Erfassung des Einzelnen hinweist, möchte er deutlich machen, dass ein Wissen vom Allgemeinen nicht ausreichend ist, wenn nicht noch die Dimension der alltäglichen Erfahrung hinzukommt. 31 Dieses Anliegen ist allerdings nicht stark genug, um daraus eine tatsächliche Priorität des Einzelnen zu folgern, so dass letztlich eine Gleichrangigkeit des Allgemeinen und Einzelnen angenommen werden sollte. 32
4.
Der Überlegungsprozess des phronimos
Auf den Überlegungsprozess des phronimos möchte ich aus mehreren Gründen ausführlich eingehen: Die Überlegung (bouleusis) wird in der partikularistischen Interpretation, deren Fokus auf die aisthêsis gerichtet ist, zwangsläufig in den Hintergrund geschoben. Dabei wird der phronimos aber insbesondere durch seine Fähigkeit zur guten Überlegung charakterisiert (vgl. EN VI 5, 1140a25–28/VI 8, 1141b9 f.). Diese stellt sich, wie sich zeigen wird, als schwierig und anspruchsvoll heraus, so dass gegen die Unterschätzung der deliberativen Begabung des phronimos Einspruch erhoben werden muss. Die ›klassische‹ Darstellung eines Überlegungsprozesses, der in eine Handlung mündet, ist der 31 32
Vgl. Anagnostopoulos (1994), S. 367. Vgl. Schofield (2006), S. 318. A
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sogenannte praktische Syllogismus, dem ich mich im Anschluss widme. Besonders starke Kritik seitens der Partikularisten erfährt in diesem Zusammenhang eine bestimmte Formulierung des praktischen Syllogismus, nämlich der Regel-Fall-Syllogismus, den ich daher vorrangig behandele. Die Bedenken können allerdings nicht überzeugen; selbst im Fall der Überlegung im unbestimmten Kontext kann der Regel-Fall-Syllogismus angewandt werden, auch wenn er einer wichtigen Ergänzung bedarf. Bei der Erörterung des Überlegungsprozesses des phronimos greife ich sowohl auf Passagen zur bouleusis als auch zur phronêsis sowie der euboulia zurück und verknüpfe sie miteinander, was mir legitim erscheint, da eine Division dieser Elemente inhaltlich nicht aufrechterhalten werden kann. Die begriffliche Unterscheidung lässt sich mit einem unterschiedlichen Erkenntnisinteresse erklären: Bei den Ausführungen zur bouleusis in III 5 ist es um die Ermittlung des Gegenstandbereichs und des Gegenstands selbst gegangen, was insbesondere der Abgrenzung zur boulêsis und prohairesis diente. Die Bestimmung der phronêsis als gute Überlegung darüber, was gut ist für den Menschen, ergänzt die ›formale‹ Bestimmung der bouleusis mit moralischer Relevanz. Die euboulia wiederum buchstabiert die Art und Weise der guten Überlegung aus. Die verschiedenen Begriffe beleuchten also einzelne Aspekte eines Überlegungsprozesses und schließen sich daher in keiner Weise aus. Ferner wird der phronimos explizit als derjenige im Kontext der phronêsis bezeichnet, der »gut zu überlegen« weiß und der zur selben Zeit auch über Wohlberatenheit verfügt (EN VI 8, 1141b10–14).
a.
Die Schwierigkeit guter Überlegung
Mit Hilfe einer Prüfung mehrerer potentieller Kandidaten ermittelt Aristoteles in III 5 durch ein Ausschlussverfahren den Gegenstandsbereich der bouleusis. 33 Er schließt Überlegung über das Ewige (z. B. Kosmos), sowie über regelmäßige Bewegung (Sonnenwenden), unzuverlässig eintretende Ereignisse (Dürre) und Zufälliges (Schatzfund) aus. Ferner bestreitet er, dass Überlegung über Unmögliches, über VerDie nachfolgenden Ausführungen beziehen sich in erster Linie auf die Textpassage EN III 5, 1112a18–29.
33
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Der Überlegungsprozess des phronimos
gangenes, sowie über Fremdes (Verfassung der Spartaner) erfolgt, so dass er schließlich zu dem Ergebnis kommt, dass Überlegung sich auf diejenigen Dinge bezieht, »die in unserer Macht (ta eph’hêmin) stehen und durch Handeln bewirkt werden können; sie sind es, die noch übrig bleiben« (EN III 5, 1112a30 f.). Überlegung kann sich also nur auf etwas richten, was im eigenen Wirkungsbereich liegt, weil man nur in diesem Aktivitätsradius als Bewegursache agieren kann. Diese allgemeine Formulierung des Gegenstandsbereichs der bouleusis schränkt Aristoteles aber noch weiter mit folgenden Worten ein: »Die Überlegung findet also im Bereich derjenigen Dinge statt, die meistens (en tois hôs epi to poly) geschehen, wo aber ungewiss ist, wie sie ausgehen werden, und dort, wo unbestimmt ist, wie zu handeln ist (adêlois de pôs apobêsetai, kai en hois adioriston).« (EN III 5, 1112b8 ff.)
Diese Bestimmung gerät bisweilen aus dem Blickfeld. Aus ihr geht deutlich hervor, dass sowohl der gesamte Bereich der Regeln, die eine hôs-epi-to-poly-Geltung besitzen, als auch unbestimmte, neuartige Situationen zum Gegenstandsbereich der Überlegung gehören. 34 Auf Letzteres weist Aristoteles im Zusammenhang mit der phronêsis hin, wenn er betont, dass die Überlegung insbesondere in einer nicht klar definierten Lage vonnöten ist. 35 Darüber hinaus definiert er das Überlegen als »eine Art des Suchens« (EN VI 10, 1142a32/auch III 2) und grenzt die euboulia mit dem Verweis auf ihre Unbestimmtheit vom Wissen (epistêmê) (EN VI 10, 1142a34) und von der Meinung (doxa) (EN VI 10, 1142b11 f.) ab. Geschicktes Erraten (eustochia) ist die Wohlberatenheit wiederum nicht, weil sie mit Begründung erfolgt und nach einem Überlegungsprozess, der eine gewisse Zeit erfordert (EN VI 10, 1142b2–5). 36 Ein weiterer Hinweis zum Gegenstandsbereich von Überlegung gibt Anlass zur Diskussion: In Buch III 5 der Nikomachischen Ethik, in dem bereits eine definitorische Einkreisung der bouleusis vorgenommen wird, heißt es, dass sich die Überlegung nicht auf die Ziele Reeve hat diesen Sachverhalt gut erfasst, wenn er den Gegenstandsbereich der Überlegung zwischen den exakten Wissenschaften einerseits und ihrem gänzlichen Fehlen andererseits verortet. Vgl. Reeve (2006), S. 207. 35 So heißt es zusätzlich in VI 9: »Ferner: Wie man seine eigenen Angelegenheiten ordnen soll, ist nicht klar und bedarf der Untersuchung« (1142a10 f.). 36 Inwiefern dieses Merkmal eines Überlegungsprozesses mit spontanem tugendhaftem Handeln vereinbar ist, siehe Reeve (2006), S. 209 f. 34
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bezieht, sondern auf das, »was zu den Zielen führt« (peri tôn pros ta telê) (1112b12). 37 Gemäß dieser Aussage scheint die Überlegung auf eine bloße Mittelwahl reduziert zu sein. 38 Dieses Verständnis ist allerdings anzuzweifeln: Der Ausdruck pros ta telê kann sich nämlich auch auf die konstitutiven Bestandteile eines Ziels richten, so dass der Vollzug einer tugendhaften Handlung nicht von der kognitiven Erfassung des Handlungsziels und der motivationalen Einstellung zu ihm getrennt werden kann. Für diese Auffassung spricht, dass der phronêsis eine wahre Erfassung des Ziels zugestanden wird (EN VI 10, 1142b33). 39 Die Schwierigkeit guter Überlegung wird nicht zuletzt an den Möglichkeiten des Scheiterns deutlich. Insgesamt sind drei Fehlerquellen zu identifizieren, die unterschiedlicher Natur sind: 1) Auf einer basalen Ebene kann praktische Deliberation fehlschlagen, wenn der Überlegende über einen schlechten Charakter verfügt; in diesem Fall möchte ich von einem charakterlichen Fehler sprechen. Innerhalb des Überlegungsprozesses unterscheidet Aristoteles zum einen 2) zwischen einem epistemischen Fehler, der in der Unkenntnis des Allgemeinen oder Einzelnen bestehe und zum anderen 3) einem logischen Fehler bei Gebrauch des falschen Mittelbegriffs. Die Tatsache, dass ein schlechter Charakter die kognitive Leistung der Überlegung beeinträchtigen kann, erscheint dann plausibel, wenn man sich die unmittelbare Verbindung von phronêsis und Gutheit in EN VI 13 vor Augen führt. Dort heißt es: »Denn diejenigen Schlüsse (syllogismoi), die die Gegenstände des Handelns zum Thema haben, haben einen Ausgangspunkt (archên) […]. Dieser Ausgangspunkt aber zeigt sich nur dem guten Menschen. Denn die Schlechtigkeit (mochthêria) verdreht (diastrephei) das Urteil und bewirkt, dass man sich über die Ausgangspunkte der Handlungen täuscht (diapseudesthai). Deshalb ist es offenkundig unmöglich, klug zu sein, wenn man nicht gut ist.« (1144a31–1144b1)
Mit Hilfe einer weiteren Stelle lässt sich auflösen, welcher Art die Täuschung ist, die ein »verdrehtes« Urteil zur Folge hat: In VI 5 schildert Aristoteles – unter Zuhilfenahme einer etymologischen Erklärung – Siehe dazu auch die Parallelstellen: EN III 5, 1112b33/EN III 7, 1113b3/EN VI 13, 1145a5. 38 Besonders prägnant führt Tuozzo diese Position aus; vgl. Tuozzo (1991). 39 Vgl. dazu: Taylor, C. C. W. (2003), S. 148. 37
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die Bedeutung der Besonnenheit (sôphrosynê) für die phronêsis: Die Besonnenheit garantiert die »klare Sicht« auf den Handlungszweck, weil es offensichtlich der falsche Umgang mit den Lüsten ist, der den Ursprung verzerrt und eine Täuschung provoziert. Dem Kontext ist darüber hinaus zu entnehmen, dass mit dem Zweck bzw. dem Ursprung das gute Handeln (eupraxia) selbst gemeint sein muss. Neben diesem charakterlichen Defizit führt Aristoteles in EN VI 9 explizit folgende Fehlerquelle beim Überlegen an: »Der Fehler in der Überlegung kann entweder das Allgemeine oder das Einzelne betreffen, zum Beispiel entweder den Satz, dass alles schwere Wasser schlecht ist, oder den Satz, dass dieses bestimmte Wasser schwer ist.« (1142a20–23)
Das Beispiel zeigt, dass Aristoteles nicht einen logischen Fehler im Auge hatte, sondern einen epistemischen. Eine Person kann beim Überlegen fehlgehen, wenn sie nicht über Wissen verfügt, sei es auf der allgemeinen, sei es auf der einzelnen Ebene. Aus III 2 kann besser als im vorliegenden Beispiel abgeleitet werden, welcher Art die Unwissenheit im Kontext des Handelns ist. Unwissenheit auf dem Niveau des Allgemeinen weist ein Mensch dann auf, wenn er sich in Unkenntnis darüber befindet, »was er tun und was er unterlassen soll« (1110b28 f.). Unwissenheit im Einzelnen wiederum offenbart ein Mensch, wenn ihm die Umstände der Handlung zum Teil unbekannt sind (1110b33– 1111a1). Es stellt sich nun die Frage, welche Art des Wissens in unbestimmten Situationen einschlägig ist. Im Rahmen einer Ausnahmesituation ist es m. E. denkbar, von einem allgemeinen Wissen in Bezug auf die positive Handlungsregel zu sprechen, von der es abzuweichen gilt. Sie muss bekannt sein, damit die Ausnahme als solche Geltung bekommen kann, ähnlich wie ein Gesetz existent und bekannt sein muss, um die epieikeia im Falle einer Sondersituation ausüben zu können. Im Kontext der Spezifizierung der Mitte mag das allgemeine Wissen die Kenntnis des Handlungs- und Affektbereichs umfassen. Mit der Kenntnis des Einzelnen sind stets die Handlungsumstände gemeint, deren Zahl und Inhalt je nach auszuübender Tugend variieren kann. Dementsprechend scheint es mir plausibel zu sein, auch im unbestimmten Kontext davon auszugehen, dass der phronimos über ein Wissen in Hinsicht auf die Rahmenbedingungen als auch über die relevanten Handlungsfelder verfügt. A
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Im Rahmen der euboulia weist Aristoteles ferner auf einen logischen Fehler hin, der unterlaufen kann, wenn der falsche Mittelbegriff verwandt wird. So heißt es in EN VI 10, 1142b22 ff.: »Es ist aber auch möglich, es (Gutes) durch einen falschen Schluss zu erreichen. Man kann richtig treffen, was man tun soll, aber nicht auf dem richtigen Weg; die mittlere Prämisse (ton meson horon) kann vielmehr falsch sein.«
Mit dem Terminus mesos horos ist die logische Verknüpfung der Prämissen durch den sog. Mittelbegriff gemeint. 40 Der Mittelbegriff ist beiden Prämissen gemeinsam, taucht aber in der Konklusion nicht mehr auf und fungiert als Ursache bzw. Erklärung. 41 Ein Überlegungsprozess, dem ein falscher Mittelbegriff zugrunde liegt, muss daher als insgesamt missraten betrachtet werden, denn die richtige Handlung verdankt sich dann einem bloßen Zufall. Der Hinweis auf den logischen Fehler erfolgt im Kontext der euboulia, der »Richtigkeit des Denkens« (EN VI 10, 1142b12 f.), was m. E. als ein Indiz dafür gewertet werden kann, dass die euboulia die Fähigkeit zur richtigen Schlussfolgerung bezeichnet und weniger die inhaltlichen Vorgaben der Überlegung. Aus der Diskussion der potentiellen Fehler beim Überlegen ist nun ex negativo die Exzellenz des phronimos besser hervorzuheben. Wenn er als derjenige beschrieben wird, der gut zu überlegen weiß, bedeutet das, dass er 1) wegen seines guten Charakters eine unverstellte Sicht auf den Handlungszweck schlechthin hat, die eudaimonia, dass er 2) über das ultimative Maß an Wissen verfügt, das man in einem unbestimmten Kontext überhaupt haben kann, und schließlich, dass er 3) stets den richtigen Mittelbegriff bei der Schlussfolgerung wählt.
b.
Der praktische Syllogismus
In diesem Vokabular klingt bereits das Schema des sogenannten praktischen Syllogismus an, der als ein »formales Modell für die Struktur des Handelns« 42 oder alternativ als ein »Paradigma kausaler Erklärung 40 Die Wiedergabe von mesos horos als »mittlere Prämisse« ist missverständlich, da es sich beim Mittelbegriff nicht um eine Prämisse handelt. 41 Vgl. Gottlieb (2006), S. 222. 42 Elm (1996), S. 282.
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Der Überlegungsprozess des phronimos
von Handlungen« 43 verstanden werden kann. Die Bezeichnung ›praktischer Syllogismus‹ ist streng genommen kein terminus technicus, der dem aristotelischen Corpus zu entnehmen ist. Anders als in der Analytica priora, wo Aristoteles den (theoretischen) Syllogismus (syllogismos) ausführt und ihn zum zentralen Begriff seiner Logik erhebt, greift er im Kontext von Aktivität und Handlung zu ähnlichem Vokabular an manchen Stellen, ohne diese Ausführungen analog als einen praktischen Syllogismus zu benennen. Von manchen Autoren wird daher bestritten, dass diese Passagen zum besseren Verständnis von praktischer Überlegung und resultierender Handlung beitragen. 44 Diese fundamentale Skepsis gegenüber einem auf die Praxis angewandten syllogistischen Schema hat sich jedoch letztlich nicht durchgesetzt, was sich in den zahlreichen Formulierungsvorschlägen und Auslegungen in der Sekundärliteratur widerspiegelt, die ein beinahe unüberschaubares Maß angenommen haben. 45 Eine erschöpfende Behandlung des praktischen Syllogismus würde daher den Rahmen dieser Arbeit sprengen und von meinem Erkenntnisziel ablenken. Stattdessen möchte ich knapp die verschiedenen Formulierungen eines praktischen Syllogismus vorstellen und mich anschließend auf die partikularistische Kritik am sog. Regel-Fall-Syllogismus konzentrieren. Eine Schwierigkeit im Umgang mit dem praktischen Syllogismus liegt darin, dass es nicht eine einzige, gleichlautende Formulierung an mehreren Stellen gibt, sondern mehrere Varianten, die in verschiedenen Werken auftauchen. Dementsprechend disparat wirken die Ausführungen. Als das basale Modell eines praktischen Syllogismus wird die Formulierung in De Motu Animalium betrachtet: »Dass nun die Handlung die Schlussfolgerung darstellt, ist klar; die Prämissen, die zu einer Handlung führen, entstehen aber auf zwei Arten, sowohl durch das Gute als auch durch das Mögliche (dia te tou agathou kai dia te tou dynatou).« (7, 701a24 f.)
Der Begriff der Handlung ist hier als sehr niederschwellig einzuordnen, da auch Tieren eine Aktivität nach diesem Syllogismus zugeGraeser (2 1993), S. 243. Vgl. Annas (1993), S. 91–94; Hardie (2 1980), S. 244. 45 Zum praktischen Syllogismus äußern sich u. a. folgende Autoren ausführlich: Allan (1955); Ando (3 1971), Kap. 5; Cooper (2 1986), Kap. 1; Gottlieb (2006); Müller, A. W. (1982). Vgl. auch den lesenswerten Überblicksartikel von Klaus Corcilius zu den verschiedenen Interpretationsansätzen: Corcilius (2008). 43 44
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traut wird. Es geht daher vielmehr um die Erklärung von Bewegung. D. J. Allan hat in den zwei aufgeführten Prämissen in De Motu Animalium eine Art ›Keimzelle‹ für zwei weitere Artikulationen gesehen, die er aus ihnen abgeleitet hat. Ihm zufolge könne man aus der ›Prämisse des Möglichen‹ einen Syllogismus konstruieren, der von einem gewünschten Ziel ausgeht und dessen Untersatz das Mittel zur Umsetzung dessen bestimmt, während die ›Prämisse des Guten‹ als Syllogismus beschrieben werden könne, der der Realisierung einer Regel entspreche. 46 Diese Interpretation sah sich in der Folgezeit dem Vorwurf ausgesetzt, beide angeführten Prämissen als Obersätze zu verstehen, anstatt sie als einen Syllogismus selbst einzuordnen. 47 Daraus ist aber noch nicht die Negation der beiden skizzierten Modelle abzuleiten, da es für beide, auch unabhängig von Allans Konstruktion, Textstellen als Indizien gibt. Ein Beispiel für den ›Ziel-MittelSyllogismus‹ ist in EN III 5 zu sehen, wo er im Kontext der bouleusis dargelegt wird: »[…]; sondern wenn man das Ziel festgesetzt hat, untersucht man, wie und wodurch es sich verwirklichen lässt« (1112b15 f.). Dem zufolge ist das Ziel im Obersatz formuliert, während die »Mittel« im Untersatz ausgedrückt werden. Dass der Begriff des »Mittels« nicht ausschließlich instrumentell verstanden werden sollte, hat David Wiggins in seinem bekannten Aufsatz von 1980 »Deliberation and Practical Reason« überzeugend dargelegt, indem er ihn auf der Grundlage der Übersetzung von ta pros to telos auf jegliche Überlegungsschritte ausgedehnt hat, die ein konstitutives Element zur Erreichung des Ziels darstellen. 48 In der Nikomachischen Ethik VII 5 (auch De anima III 11, 434a16–21) taucht auch noch das zweite Modell des praktischen Syllogismus auf, dem zufolge sich die obere Prämisse auf eine allgemeine Annahme richtet und die untere Prämisse eine einzelne Anwendung ausdrückt: »Die eine Meinung ist allgemein, die andere hat es mit dem Einzelnen zu tun, für das bereits die Wahrnehmung zuständig ist. Wenn nun aus beiden Sätzen einer wird, dann muss die Seele im einen Fall [bei der theoretischen Erkenntnis] notwendigerweise die Schlussfolgerung bejahen und im Fall von Prämissen, die ein Tun betreffen, sofort handeln.« (1147a25–28) 49 Vgl. Allan (1955), S. 330 f., 336. Vgl. u. a. Wiggins (1980), S. 230. 48 Vgl. ebd., S. 223 f. 49 Eine alternative Form findet sich in De anima (III 11, 434a16–21): »Da die eine Annahme und Überlegung allgemein ist, die andere auf das Einzelne geht – denn die 46 47
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Gemeinsam ist diesen Formulierungen, dass deren Konklusion auf eine Handlung/Bewegung ausgerichtet ist, während der theoretische Schluss auf Wahrheit zielt. 50 Ebenso teilen beide Arten von Syllogismen ihre ›Form‹ : Wie in der Unterscheidung von Ober- und Untersatz anklingt, wird ein Syllogismus mittels zweier Prämissen und der entsprechenden Konklusion dargestellt. Ein häufiger Einwand gegen eine allzu emphatische Argumentation auf der Basis des praktischen Syllogismus lautet, dass die Beispiele keine genuin ethische Relevanz entfalten und eher dem Bereich der technê zuzuordnen seien. 51 Einen möglichen Ausweg mag man in dem sog. Regel-Fall-Syllogismus sehen, dessen Obersatz sich in einer Handlungsregel ausdrückt, während der Untersatz ihre Anwendung in einem konkreten Fall beschreibt. Da in dem Verständnis von einer Regel stets eine allgemeine Komponente enthalten ist, und eine Handlungssituation mit dem Begriff des »Einzelnen« aufgefangen wird, erscheint es mir legitim, den »Regel-Fall-Syllogismus« als eine von dem »Allgemein-Einzeln-Syllogismus« abgeleitete Form der Handlungserklärung zu akzeptieren. 52 Dagegen verwahren sich Vertreter des Partikularismus, die in dem Regel-Fall-Syllogismus die Formulierung eines zentralen generalistischen Missverständnisses sehen. Dieser Syllogismus stellt z. B. nach Martha Nussbaum eine problematische Übertragung eines theoretischen Modells auf die Praxis dar. 53 Überhaupt ist der Regel-FallSyllogismus den Partikularisten zufolge als eine inadäquate Engfüheine sagt aus, dass ein solcher Mensch solches tun muss, die andere aber, dass dieses hier von solcher Art ist, und ich ein solcher Mensch bin –; so bewegt nunmehr diese zweite Meinung, nicht die allgemeine; oder beide, aber die eine ruht mehr in sich, die andere nicht.« 50 Die These von der Handlung als Konklusion ist mehreren Bedenken ausgesetzt: Zum einen wird bezweifelt, dass eine theoretische Formalisierung überhaupt eine Handlung erklären könne. Vgl. dazu Broadie, A. (1974). Zum anderen ist strittig, ob es sich dabei um eine ausgeführte Handlung drehen muss oder ob (lediglich) ein Entschluss zum Handeln ausreicht. Siehe: Sherman (1989), S. 67 f. 51 Vgl. Wolf, U. (2004), S. 40. 52 Allerdings sollten die Unterschiede der verschiedenen Formulierungen nicht überbetont werden – es sind nicht sich per se ausschließende, sondern bisweilen auch sich ergänzende Arten der Handlungserklärung. So halten viele Interpreten wie David Charles, M. R. Thornton und Friederike Rese die beiden Modelle in der EN grundsätzlich für miteinander kompatibel. Vgl. dazu: Charles (1984), S. 262; Rese (2003), S. 105; Thornton (1982), S. 60. 53 Vgl. Nussbaum (1978), S. 171 f. A
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rung von Überlegung abzulehnen. 54 Ein grundlegender Einwand richtet sich dabei auf die Zurückweisung von Regeln in der aristotelischen Ethik: wo es keine Handlungsregeln gebe, dort könne es (natürlich) auch keinen Syllogismus geben, dessen Untersatz die Regelanwendung ausdrücke. 55 Wie ich im fünften Kapitel zu zeigen versucht habe, handelt es sich bei dieser Behauptung der völligen Regelabstinenz um ein zu pauschales Urteil. Auch wenn Aristoteles mit der mesotês–Lehre in erster Linie eine Ausbuchstabierung der Gegenstandsbereiche einzelner Tugenden geleistet hat, sind darin auch hôs-epi-to-poly-Regeln enthalten, die für den Regel-Fall-Syllogismus in Frage kommen. 56 Letztlich muss man sogar davon ausgehen, dass der Gegenstandsbereich jeder Tugend eine bestimmte ›materielle Füllung‹ besitzt, die sich in hôs-epi-to-poly-Regeln niederschlägt, denn anders könnte keine Unterscheidung zwischen einer tugendhaften Handlung und einer tugendhaften Haltung gemacht werden. 57 Neben diesem fundamentalen Einwand richtet sich das hauptsächliche Bedenken von Partikularisten gegen das Deduktionsschema des Regel-Fall-Syllogismus, dem zufolge die phronêsis auf eine »mechanische Anwendung« von Regeln reduziert werde. 58 Wiggins spitzt dies auf folgende Aussage zu: »In no case there will be a rule to which a man can simply appeal to tell him what to do.« 59 Diesem Verständnis des Regel-Fall-Syllogismus liegt eine simplifizierende, beinahe karikierende Auffassung einer Regelanwendung zugrunde. McDowell führt in
Vgl. McDowell (1998a), S. 27–30; Wiggins (1980), S. 229 f. Vgl. Wiggins (1980), S. 231; Rese (2003), S. 116; McDowell (1998a), S. 27. 56 Obwohl die Formulierung »allgemeine« Prämisse (zu der ich die Handlungsregel als Obersatz analog setze) nahelegt, dass es sich dann nur um ausschließlich geltende Handlungsregeln handeln dürfte (und nicht um solche mit einer hôs-epi-to-poly-Geltung), eröffnet die Stelle APo. I 30, 87b19–27 m. E. eine Möglichkeit auch mit diesen syllogistisch zu arbeiten. 57 Vgl. dazu meine Argumentation in Kap. V.1.c. 58 Am pointiertesten drückt McDowell diese Kritik aus, wenn er schreibt: »If one attempted to reduce one’s conception of what virtue requires to a set of rules, then, however subtle and thoughtful one was in drawing up the code, cases would inevitably turn up in which a mechanical application of the rules would strike one as wrong […].« McDowell (1979), S. 336. 59 Wiggins (1980), S. 234. Anschließend schränkt Wiggins aber diese Aussage auf die Fälle von verbotenenen Handlungen ein. 54 55
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diesem Kontext genauer aus: »[…] applying the blueprint would require only general capacities for gathering information, and the capacity for logical inference.« 60 Wenn man sich aber Aristoteles’ Ausführungen zu den potentiellen Fehlerquellen beim Überlegen vor Augen führt, ergibt sich ein anderes Bild: Anders als McDowell scheint er zu wissen, dass sowohl die richtige Identifizierung der Situation als ein Fall für Regelanwendung (Kenntnis des Einzelnen) als auch die richtige Schlussfolgerung schwierig sind. Hinter der harschen Kritik am RegelFall-Syllogismus scheint mir noch ein anderes, eher strategisches Interesse zu liegen: Dieser Syllogismus weist der Wahrnehmung eine nur marginale Rolle zu, die für Partikularisten aber die zentrale Bedeutung einnimmt. 61 Dies spiegelt sich auch in ihren eigenen Interpretationen eines praktischen Syllogismus wider: Die Wahrnehmung wird zur entscheidenden Instanz beim moralischen Handeln erklärt, weshalb auch eine Revision des Obersatzes im Lichte einer partikularen Wahrnehmung für möglich erklärt wird, womit die Behauptung einer potentiellen Nachrangigkeit des Allgemeinen verbunden ist. 62 McDowell geht sogar so weit, jegliche Formulierung des Obersatzes im Vorfeld für gänzlich unrealistisch zu halten; dieser könne erst im Kontext des Einzelnen ermittelt werden. 63 Auch bei Wiggins trägt die Wahrnehmung die zentrale Begründungslast, indem sie auf der Basis des ›hervorstechenden Merkmals‹ die dazu passende obere Prämisse aktiviert. 64 Die aufgeführten Interpretationen zielen in dieselbe Richtung: Dem Einzelnen und seiner Bestimmung als Untersatz durch die aisthêsis wird mehr Bedeutung für die Entstehung und Begründung der richtigen Handlung beigemessen. In einer Hinsicht aber könnte der partikularistische Einwand gegen den Regel-Fall-Syllogismus berechtigt sein. Im Rahmen von offenen moralischen Situationen stellt sich die Frage, ob dieses Modell damit umgehen kann. Denn trotz der Existenz von Regeln kann es zu unbestimmten Situationen kommen – dieses Szenario ist bei Aristoteles auf zweierlei Weise denkbar, die beide die positiven Handlungs-
60 61 62 63 64
McDowell (1996a), S. 21. Vgl. McDowell (1998a), S. 28. Vgl. Nussbaum (1990), S. 69. Vgl. McDowell (1996b), S. 101. Vgl. Wiggins (1980), S. 234. A
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regeln, die hôs-epi-to-poly gelten, betreffen. In beiden Fällen würde die Unbestimmtheit daraus resultieren, dass die Grenzen der hôs-epito-poly-Geltung erreicht wären und eine neuartige Handlungsweise gefordert wäre. Beim ersten Fall wäre die Geltung durch eine höherrangige Verpflichtung herausgefordert, die eine Art ›Übertrumpfung‹ zur Folge hätte. Im zweiten Fall könnten neuartige oder abweichende Situationsparameter ein Überdenken der Handlungsregel nötig machen.
c.
Praktische Deliberation im unbestimmten Kontext
Zunächst möchte ich mich mit dem Fall beschäftigen, in dem eine höherrangige Verpflichtung eine Rolle spielt. Dieses Szenario hat Aristoteles offensichtlich antizipiert, denn in Buch IX 2 der Nikomachischen Ethik führt Aristoteles selbst ein Beispiel für die ›Übertrumpfung‹ einer Handlungsregel an, die man ansonsten zu befolgen habe. Das Beispiel lautet wie folgt: »In der Regel (hôs epi to poly) soll man eher Wohltaten erwidern als den Gefährten einen Gefallen erweisen, wie man auch eher ein Darlehen dem zurückgeben soll, dem man es schuldet, als (das Geld) einem Gefährten zu geben. Vielleicht trifft aber auch das nicht immer zu. Muss zum Beispiel derjenige, der durch ein Lösegeld aus den Händen von Räubern befreit wurde, wiederum seinen Befreier loskaufen, wer immer das ist, und muss er ihm das Geld zurückzahlen, wenn dieser nicht in Gefangenschaft ist, aber das Geld verlangt, oder soll er seinen Vater loskaufen? Man sollte meinen, dass man seinen Vater sogar noch eher loskaufen soll als sich selbst. Wie gesagt muss man also im Allgemeinen (katholou) das Geschuldete zurückerstatten; wenn aber das (bloße) Geben auf überragende Weise werthafter oder notwendiger ist (ean d’ hyperteinê hê dosis tô kalô hê tô anagkaiô), dann muss man sich in diese Richtung entscheiden.« (1164b31–1165a4)
Die positive Handlungsregel lautet in diesem Fall: »Geschuldetes Geld muss zurückgezahlt werden/empfangene Wohltaten müssen erwidert werden«. Sie ist aber nur in der Regel (hôs epi to poly) gültig, weshalb eine Ausnahme beispielsweise dann denkbar ist, wenn der eigene Vater entführt worden ist und seine Befreiung mit Hilfe des geschuldeten Geldes möglich ist. Nach partikularistischer Ansicht offenbart die Abweichung generell die Unzulänglichkeit von Handlungsregeln, weshalb sie nicht als Obersatz eines praktischen Syllogismus fungieren 144
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sollten. 65 Allerdings liegt hier meiner Meinung nach eine Art ›induktive Übertreibung‹ vor: Das Zugeständnis von Ausnahmen stellt die Geltung einer Regel noch nicht vollends in Frage. Aristoteles selbst erkennt das Deduktionsverfahren auch für hôs-epi-to-poly-Prämissen an (APo. I 30, 87b19–27). In einer Replik auf John McDowell hat Michael Winter auf der Grundlage des aristotelischen Verständnisses von hôs-epi-to-poly auf überzeugende Weise dafür argumentiert, dass auch Obersätze mit einer ceteris-paribus-Klausel einen generalistischen Charakter aufweisen, der sie für einen Regel-Fall-Syllogismus qualifiziert. 66 Nun könnte ein Partikularist darauf verweisen, dass die ›Übertrumpfung‹ der positiven Handlungsregel durch eine neuartige Situation (entführter Vater) ausgelöst worden ist, weshalb sich eine ›mechanische‹ Anwendung ohne genaue Prüfung des Einzelfalles verbiete. Dieser Einwand ist zweifellos berechtigt, da im Kontext der positiven Handlungsregeln, die alle ›nur‹ für gewöhnlich gelten, ihre Anwendung nicht blind erfolgen darf und am Einzelfall geprüft werden muss. Sobald sich herausstellt, dass ein singulärer Situationsparameter eine ceteris-paribus-Klausel erfordert, ist diese der Handlungsregel hinzuzufügen. Durch diese eventuelle ›Rückkopplung‹ erfährt das Deduktionsverfahren eine Schwächung, da es erst ex post im Sinne moralischer Rechtfertigung vollzogen werden kann, es aber nicht ex ante die gebotene Handlung anzeigen kann. Folglich muss dem partikularistischen Einspruch gegen die Funktion des Regel-Fall-Syllogismus im Rahmen der positiven Handlungsregeln zugestimmt werden, ohne dass die prinzipielle Möglichkeit seiner Formulierung in Frage gestellt werden muss. Aus diesem Ergebnis ist jedoch noch nicht eine Stärkung der partikularistischen Position abzuleiten. Davon wäre erst dann zu sprechen, wenn die unbestimmte Situation nicht nur der Auslöser wäre, sondern zugleich auch die Begründung für die Qualifizierung der Handlung als tugendhaft beinhalten würde. In dem angeführten Beispiel führt Aristoteles aber die überragende Werthaftigkeit bzw. Notwendigkeit als Grund an – d. h. er argumentiert auf der Ebene von allgemeinen konstitutiven Prinzipien. Die zweite Klasse von unbestimmten moralischen Situationen betrifft neuartige Situationen oder solche, die von den positiven Hand65 66
Vgl. McDowell (1996a), S. 21 f. Vgl. Winter (1997), S. 318. A
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lungsregeln offensichtlich abweichen. Dieses Szenario wiederum muss Aristoteles vor Augen gehabt haben, wenn er wiederholt betont, dass die Konkretisierung der richtigen Mitte für tugendhaftes Handeln das sine qua non sei. Wenn also die Handlungsregeln, die Aristoteles im Kontext der Beschreibungen der Einzeltugenden bestimmt, den spezifischen Gegebenheiten, sprich: den Situationsparametern, nicht vollständig entsprechen, dann muss dem Einzelfall Rechnung getragen werden. In einer solchen Situation dürfte das Vorgehen dasselbe wie beim ersten Szenario der ›Übertrumpfung‹ sein: Der Handlungsregel – dem Obersatz im praktischen Syllogismus – müsste eine ceteris-paribusKlausel hinzugefügt werden, die die Besonderheit einfängt. Dementsprechend lautet auch das Ergebnis gleich: Ein Regel-Fall-Syllogismus kann durchaus in solchen unbestimmten Kontexten formuliert werden. Fraglich bleibt nun, wie und durch welche Kapazität sich die Formulierung der ceteris-paribus-Klausel vollzieht. Festzuhalten bleibt, dass dieser Zusatz auf der Ebene der allgemeinen Handlungsregel geäußert wird. Wenn man sich die von Aristoteles selbst erörterte Parallelität von phronêsis und dem gesetzgeberischen Wissen in EN VI 8 vor Augen hält, liegt es nahe, auch in anderer Hinsicht eine Parallelität anzunehmen, nämlich die von Handlungsregeln und Gesetzen. Für Gesetze aber, die sich bisweilen wegen ihrer Allgemeinheit als zu pauschal herausstellen können, gibt es eine von Aristoteles als korrigierende Instanz verstandene Fähigkeit: die epieikeia. Die Diskussion, die ich in Kapitel V.3. zur epieikeia geführt habe, könnte also m. E. strukturell gleich in der Argumentation lauten, weshalb ich mich an dieser Stelle auf die Übertragung der Ergebnisse konzentriere. Die epieikeia hat sich in mehreren Hinsichten als eine ›Fortführung‹ des Allgemeinen erwiesen. So stellt sie eine Verlängerung oder Konkretisierung des allgemeinen Gesetzes dar, wenn vom Gesetzgeber Lücken im Sinne von Spielräumen vorgesehen waren. Im Fall von Tätigkeiten, die im Gesetz noch nicht antizipiert worden sind, übernimmt sie die Weiterführung der gesetzgeberischen Intention. Der Fokus der epieikeia ist somit stets das allgemeine Gesetz, dem sie auf diese beiden Weisen Rechnung trägt. Eine Anwendung dieses Resultats auf die Handlungsregeln dürfte demnach folgendes bedeuten: Wenn die hôs-epi-to-poly-Geltung von Handlungsregeln an ihre Grenzen stößt, bewahrt die epieikeia deren allgemeinen Anteil, indem sie den Obersatz mit Hilfe einer ceterisparibus-Klausel ergänzt und ihn somit für die Deduktionsleistung der 146
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Der Überlegungsprozess des phronimos
Überlegung wieder zugänglich macht. Unbestimmte Situationen erweisen sich folglich nicht als ein Indiz für die Unzulänglichkeit der generalistischen Konzeption eines Regel-Fall-Syllogismus; vielmehr wird daran deutlich, dass der partikularistischen Kritik an der ›mechanischen Anwendung‹, an der Deduktion, ein verzerrtes Bild zugrunde liegt.
A
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VII. Die Bedeutung der aisthêsis
Die These von der Vorrangigkeit des Einzelnen, die von Partikularisten vertreten wird, wirkt sich stark auf ihre Interpretation der aisthêsis (Wahrnehmung) aus. Ihnen zufolge ist sie das zentrale Vermögen im Rahmen der phronêsis, da ihr die Erfassung der moralisch richtigen Handlungsweise zugesprochen wird. Diese Einschätzung irritiert angesichts der wenigen Ausführungen zur aisthêsis in Buch VI der Nikomachischen Ethik. Dort taucht sie an nur zwei Stellen auf: In VI 9 (1142a26–30) wird sie mittels einer Analogie zu einer mathematischen Analyse näher beschrieben und in VI 12 (1143b5) wird ihr die Erfassung von Einzelfällen zugewiesen. Letztere Textstelle ist in einem Kontext verortet, der sich mit mehreren ›Teiltugenden‹ der phronêsis auseinandersetzt, die es allesamt mit dem Letzten und dem Einzelnen zu tun haben. Woraus speist sich dann aber die große Anziehungskraft der aisthêsis auf die Partikularisten? Es ist die erwähnte Ausrichtung auf das Einzelne, die nicht nur in Buch VI der aisthêsis zugeordnet wird, sondern auch in Textpassagen auftaucht, die über die Nikomachische Ethik verteilt sind und meist im Zusammenhang mit der Besonderheit von praxis stehen. Die aisthêsis scheint daher eine Sonderstellung unter den mit dem Einzelnen vertrauten ›Teiltugenden‹ einzunehmen, indem ihr das Urteil über das Einzelne im besonderen Maße zukommt. Als ein Beispiel sei auf folgende Textpassage in EN II 9 hingewiesen, wo es um die Frage nach der zulässigen Abweichung von der Mitte geht: »Doch wie weit und wie viel man abweichen muss, um tadelnswert zu sein, lässt sich schwer durch Überlegung bestimmen, wie auch alles Übrige, was in den Bereich des Wahrnehmbaren gehört. Solches hängt von den einzelnen Umständen (kath’hekasta) ab, und das Urteil (krisis) liegt hier in der Wahrnehmung (aisthêsis).« (1109b20–23) (vgl. u. a. auch: EN IV 11, 1126b4/EN VII 5, 1147a26)
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Die aisthêsis als Situationserfassung
Diese und andere gleichlautende Passagen müssen aber nicht zwingend partikularistisch ausgelegt werden, da die Aussage, dass das Einzelne dem Urteil der Wahrnehmung unterliegt, nicht notwendigerweise in die These ihrer moralischen Erklärungskraft münden muss. Dies wäre erst dann der Fall, wenn man a) den Gegenstandsbereich des Einzelnen als sehr umfassend einschätzt und die Wahrnehmung dementsprechend als das zentrale Vermögen der phronêsis darstellt, und wenn b) die Wahrnehmung moralisch ›aufgeladen‹ wird und damit auch als Argument für die Priorität des Partikularen gelten kann. Im Folgenden rekonstruiere ich zunächst die partikularistischen Interpretationen von aisthêsis, wobei eine Unterscheidung zwischen McDowell und Wiggins einerseits und Sherman, Nussbaum andererseits nötig ist. Anschließend prüfe ich diese Lesarten kritisch, indem ich mit Hilfe zentraler Textstellen die Funktion der aisthêsis im Kontext der phronêsis analysiere.
1.
Die aisthêsis als Situationserfassung
Die am meisten ausgefeilte Interpretation der aisthêsis ist bei John McDowell zu finden, der sie durch seine Schriften hindurch ergänzt und verteidigt hat. Als eine seiner Inspirationsquellen führt McDowell explizit David Wiggins an, der der aisthêsis ebenfalls eine wichtige Rolle zuweist, wobei Unterschiede zwischen ihnen zu konstatieren sind, die im Laufe des Kapitels noch zur Sprache kommen. McDowells Sichtweise basiert auf seiner Version eines moralischen Realismus, der zufolge Werte genauso erfasst werden können wie sekundäre Qualitäten, z. B. Farben. Unter Werten versteht McDowell eine besondere Klasse von Handlungsgründen, die im Zuge einer erfolgreichen moralischen Erziehung angeeignet werden; als Exempel eines solchen abgeschlossenen Prozesses führt er den phronimos bzw. spoudaios an. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass die von ihm als richtig erfassten Handlungsgründe tatsächlich welche sind und sich nicht als scheinbare Gründe entpuppen. 1 Aus diesem Grunde fungiert seine Wahrnehmung als Kriterium für die Wahrheit des Erkannten. Die erworbene Vertrautheit mit den relevanten Werten äußert sich beim Tugendhaften in einer Sensitivität ihnen gegenüber, die in der 1
Vgl. McDowell (1996a), S. 22. A
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Die Bedeutung der aisthêsis
konkreten Handlungssituationen bewiesen wird und von McDowell und auch Wiggins häufig als eine Art ›Sehen‹ beschrieben wird. Die von Partikularisten generell oft verwendete Sehensmetaphorik sollte allerdings nicht zu wörtlich im Sinne eines moralischen Sehorgans verstanden werden. Auch eine Art ›geistige Schau‹ im Sinne eines ethischen Intuitionismus ist nicht gemeint. Stattdessen ist darunter vielmehr eine Haltung der Aufmerksamkeit gegenüber der Situation zu verstehen. Wiggins erklärt es folgendermaßen: »A man usually asks himself ›What shall I do?‹ […] in response to a particular context. This will make particular and contingent demands on his moral or practical perception, but the relevant features of the situation may not all jump to the eye. To see what they are, to prompt the imagination to play upon the question and let it activate in reflection and thought-experiment whatever concerns and passions it should activate, may require a high order of situational appreciation, or, as Aristotle would say, perception (aisthêsis).« 2
Die moralische Sensitivität, die Situationswahrnehmung, scheint diesem Zitat zufolge ähnlich wie ein Scheinwerfer zu funktionieren, der die Situation nach wichtigen Merkmalen absucht, bis er das gesuchte Objekt, das in besonderer Weise hervorsticht, erfasst. Auf das ›Hervorstechen‹ möchte ich im Folgenden genauer eingehen, da die »salient features« viel Raum in partikularistischen Ausführungen einnehmen. Die ›hervorstechenden Merkmale‹ bezeichnet McDowell an anderer Stelle als »potentially action-inviting features« 3 , was den Schluss nahe legt, dass es sich dabei um Eigenschaften handelt, die als Handlungsgründe in Frage kommen. Terence Irwin hat zu Bedenken gegeben, dass die Bezeichnung des ›Hervorstechens‹ äquivok ist, da sie einerseits als Relevanz, andererseits als Entschiedenheit verstanden werden kann. 4 Diese Unterscheidung möchte ich aufgreifen, da sie zum besseren Verständnis der partikularistischen Position beiträgt. Denn die Wahrnehmung von bestimmten Situationseigenschaften allein ist noch kein Indiz für Partikularismus; auch ein Generalismus kann nicht darauf verzichten. Es ist vielmehr die Interpretation des ›Hervorstechens‹, die diese beiden Auffassungen voneinander trennt. Situationseigenschaften können in der ersten Bedeutungsweise (Relevanz) hervorstechen, indem sie sich als moralisch relevante Fak2 3 4
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Wiggins (1980), S. 232 f. McDowell (1996b), S. 101. Vgl. Irwin (2 2003), S. 125 f.
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Die aisthêsis als Situationserfassung
toren abzeichnen. Unbedeutsame Details, die die Überlegung nur ablenken würden, geraten damit automatisch in den Hintergrund. Die Aufmerksamkeit gegenüber moralisch relevanten Eigenschaften kann demnach den Überlegungsprozess strukturieren und entlasten. Dieses Verständnis ist nicht als partikularistisch zu qualifizieren, da die Wahrnehmung keine Priorität besitzt, sondern nur ein Bestandteil moralischen Überlegens ist. Anders verhält es sich, wenn mit dem ›Hervorstechen‹ eines Merkmals die entscheidende Kraft gemeint ist, die alle anderen Eigenschaften verblassen lässt. Mit der Wahrnehmung dieses einen exklusiven Merkmals ist die Klärung der Situation verbunden; der Wahrnehmende weiß, wie er zu handeln hat. In dem Fall wird die Wahrnehmung sogar zu einer Fähigkeit erklärt, die Konflikte lösen oder Prioritäten setzen kann. 5 McDowell bestätigt diese Einschätzung, wenn er der aisthêsis die Kompetenz zuspricht, bei mehreren relevanten Bedenken den entscheidenden Ausschlag zu geben: »It is by virtue of his seeing this particular fact rather than that one as the salient fact about the situation that he is moved to act by his concern rather than that one.« 6
Das partikularistische Verständnis von ›Hervorstechen‹ ist demnach dadurch gekennzeichnet, dass die Situationswahrnehmung bei einem einzigen Merkmal haften bleibt, das zugleich als Handlungsgrund fungiert – auf diese Weise wird die einzig adäquate Handlung angezeigt. Während es bei McDowell unstrittig ist, dass er die partikularistische Überzeugung vom einen, am meisten hervorstechenden Merkmal teilt, fällt die Einschätzung von Wiggins schwerer. Laut Irwin verfolgt Wiggins nämlich die erste Variante, während McDowell die zweite favorisiert. Daher kommt er zu dem Ergebnis, dass Wiggins trotz seiner Betonung der Wahrnehmung knapp vor einer partikularistischen Position ›abbremst‹. Nicholas White hingegen sieht keinen gravierenden Unterschied zwischen Wiggins und McDowell, was deren Einschätzung von der Funktion der aisthêsis betrifft, und wendet sich daher in seiner Kritik an ihrem Wahrnehmungskonzept konsequenterweise an beide Philosophen. 7 Für die Einschätzung einer Gleichrangigkeit
5 6 7
Vgl. ebd., S. 126. McDowell (1979), S. 344. Vgl. White (2004), S. 59 ff. A
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Die Bedeutung der aisthêsis
spricht m. E., dass Wiggins, wie McDowell, ebenfalls von einem »most salient feature« spricht. 8 Zum besseren Verständnis des am meisten hervorstechenden Merkmals greift McDowell zu der Metapher des »silencing«, des »Zum-Schweigen-Bringens«: Was die Klasse von hervorstechenden Merkmalen, die Handlungsgründe, generell auszeichne, sei ihre Fähigkeit, andere Aspekte der Situation von vorneherein nicht zur Geltung kommen zu lassen. Daher dürfe man sich die Erfassung des einen, entscheidenden Handlungsgrunds auch nicht als eine Abwägung, Gewichtung oder Übertrumpfung vorstellen, da die anderen Aspekte gar nicht erst für einen solchen Deliberationsprozess in Frage kommen. 9 Auf die aristotelische Ethik übertragen, sieht McDowell den zentralen Unterschied zwischen dem Tugendhaften und allen anderen Menschen in seiner Sensitivität: Seine Wahrnehmung ist so optimal, dass das Konzept des »silencing« bei ihm greift, während allen anderen Menschen mehrere Handlungsgründe attraktiv erscheinen können und sie innere Kämpfe austragen müssen. 10 Dies sei an einem Beispiel verdeutlicht: Der Tugendhafte kann zwar durchaus die Attraktivität von Sprüngli-Pralinen erkennen, ohne aber dabei den Wunsch zu verspüren, sie zu vernaschen. In dieser Unterscheidung kommt noch ein anderer Aspekt seiner Wahrnehmung zum Tragen: sie ist auch Ausdruck davon, dass die motivationale Verfassung des Tugendhaften exzellent ist, so dass er nur durch den richtigen, moralischen Handlungsgrund zum Handeln bewegt wird. 11 In der Wahrnehmung des einen, am meisten hervorstechenden Merkmals kommt es zu einer Koinzidenz der propositionalen Bestimmung der richtigen Handlung und der Handlungsmotivation. Dies ist nach McDowell auch der Grund, weshalb die Wahrnehmung des Tugendhaften sich selbst von der des Beherrschten unterscheidet: Beim Beherrschten funktioniert das »Zum-SchweigenWiggins (1980), S. 234. Vgl. McDowell (1979), S. 344 f. 10 Irwin hält McDowell vor, dass er zwei Arten von ›silencing‹ gebraucht, ohne diese aber zu differenzieren: Auf der einen Seite gibt es das ›local silencing‹, auf der anderen Seite das ›global silencing‹. Das ›local silencing‹ betrifft nur die Eigenschaften der jeweiligen Handlungssituation, während das ›global silencing‹ das gesamte Leben betrifft. Diese Unterscheidung ist insofern relevant, als McDowell nur Aussagen des Aristoteles zum letzteren anführen kann, aber auf der Basis des ersteren argumentiert. Vgl. Irwin (2006), S. 126 f. 11 Vgl. McDowell (1996b), S. 102. 8 9
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Die aisthêsis als Interpretationsleistung
Bringen« noch nicht vollständig; seine ›Empfänglichkeit‹ gegenüber dem einen hervorstechenden Merkmal ist noch nicht vollständig garantiert, da er noch gegen die Stimmen der Verführung ankämpfen muss und den Wunsch des Naschens niederschlagen muss. Daher kann der beherrschte Mensch nach McDowell lediglich eine »imperfekte Annäherung« 12 an die Situationswahrnehmung des Tugendhaften erreichen. Dies zweifelt Wiggins an, indem er die Trennlinie zwischen ›Wahrnehmungstypen‹ nicht zwischen dem Tugendhaften und anderen Menschen zieht, sondern zwischen beherrschten und unbeherrschten Menschen. 13 Denn die Differenz zwischen der Handlung eines Beherrschten und der Handlung eines Unbeherrschten sei nur dann plausibel, wenn man auch von einem Unterschied in ihrer Wahrnehmung ausgehe. Die Handlung eines tugendhaften und eines beherrschten Menschen hingegen sei identisch, allein die Haltung des Beherrschten sei im Vergleich sub-optimal. Nach Wiggins beinhaltet die Handlung die Erklärung des Wahrgenommenen, während bei McDowell nicht allein die Handlung, sondern nur die zuverlässig optimal verlaufende Handlung den Unterschied in der Wahrnehmung anzeigt. In dieser Hinsicht vertritt McDowell also eine stärkere Version des Partikularismus als Wiggins, da er sein Konzept der Wahrnehmung zusätzlich mit einem Internalismus versieht, der eng mit seiner Idee einer »zweiten Natur« verbunden ist. 14
2.
Die aisthêsis als Interpretationsleistung
Die Interpretation von McDowell und Wiggins ist stark von ihrem moralischen Realismus geprägt, der Tugend mit der Sensitivität gegenüber dem in einer Situation hervorstechenden Handlungsgrund identifiziert. Innerhalb des partikularistischen Spektrums gibt es aber auch Vertreter, die sich gegen die Fokussierung auf Handlungsgründe als Objekte moralischer Sensitivität aussprechen. Es sind vor allem Martha Nussbaum und Nancy Sherman, die für ein erweitertes Verständnis der aisthêsis plädieren. Diese umfassende Auffassung von Ebd. Vgl. Wiggins (3 1998), S. 251. 14 Auf die Bedeutung der »zweiten Natur« gehe ich im Kontext der partikularistischen Interpretation der Normfigur in VIII. 2 ein. 12 13
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Die Bedeutung der aisthêsis
der aisthêsis lässt sich treffend mit dem Stichwort der »Inklusivität« einfangen – eine Bezeichnung, die Nussbaum selbst verwendet. 15 Demnach sind in der aisthêsis sowohl emotionale und kreative als auch intellektuelle Komponenten enthalten. 16 Sherman möchte es als ein ›Alternativmodell‹ verstanden wissen. So übt sie Kritik an McDowells Konzeption von »silencing«, weil es die Situation unter einem einzigen Gesichtspunkt isoliert, anstatt ihrer komplexen Struktur gerecht zu werden. 17 Daran lässt sich gut der Unterschied zu dem Ansatz von McDowell und Wiggins verdeutlichen: Während Nussbaum und Sherman eine weitflächige Konzeption vertreten, ist die von McDowell und Wiggins fokussierend, indem sie das ›hervorstechende Merkmal‹ betonen. 18 Mit dem inklusiven Verständnis von aisthêsis argumentieren Nussbaum und Sherman für eine stärkere Berücksichtigung von Emotionen, da die Wahrnehmung des Partikularen nicht nur eine ausschließlich kognitive Fähigkeit sei, sondern auch die affektive Seite des Menschen beanspruche. 19 Emotionen fungieren demnach als ›Informationsträger‹ und stellen damit eine Form der Bewertung und Erfassung des Partikularen dar. Dies tun sie auf zweierlei Weise: Zum einen, indem sie eine Bewertung ausdrücken und zum anderen, indem sie zu geschätzten Objekten hinführen und so deren Wert explizit verdeutlichen. 20 Damit spielen sie eine wichtige Rolle bei der Situationserfassung – sie schärfen die Wahrnehmung durch eine persönliche Beteiligung des Akteurs, die ihn aufmerksamer gegenüber wichtigen Details werden lässt. 21 Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass jemand, Vgl. Nussbaum (1990), S. 80. Vgl. ebd. 17 Vgl. Sherman (1997), S. 261. 18 Sherman weist in diesem Kontext darauf hin, dass bei der Situationserfassung es weniger um deren ›Form‹ (shape) als vielmehr um ihre ›Landschaft‹ (landscape) geht. Vgl. Sherman (1997), S. 261. 19 Vgl. Sherman (1997), S. 248; Nussbaum (1986), S. 80. Dass Sherman und Nussbaum Emotionen aber nicht als rein affektive Regungen einordnen, sondern ihnen stattdessen auch eine kognitive Dimension zusprechen, wird im Folgenden deutlich. 20 Vgl. Sherman (1997), S. 248 f. So neu ist der Gedanke nicht: Dass eine erhöhte Sensitivität (auch emotionaler Art) des Menschen dazu führt, dass er den Wert bestimmter Güter höher zu schätzen weiß, hat bereits Max Scheler in seiner materialen Wertethik formuliert, vgl. z. B. Scheler (1916), S. 277. Für diesen Hinweis danke ich Herrn W. Hogrebe. 21 Vgl. Sherman (1989), S. 47. 15 16
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der die Ausbildung und Kultivierung seiner Emotionen im Zuge seiner moralischen Entwicklung vernachlässigt hat, nicht nur darin ein Defizit zu beklagen hat, sondern auch in seiner Wahrnehmung. 22 Die Wahrnehmung einer Situation nimmt demnach die gesamte Persönlichkeit des Akteurs in Anspruch, weil erst das gelungene Zusammenspiel seiner kognitiven und emotionalen Fähigkeiten garantiert, dass er die Umstände richtig ›liest‹. Der Begriff des ›Lesens‹ fängt die Eigenart dieses Ansatzes gut ein: In der Wahrnehmung aktiviert der Akteur seine Fähigkeit, ein Geschehen zu sehen und auch zu interpretieren. 23 Denn in der Beschreibung und Zusammenstellung der Informationen nimmt der Akteur selbst Einfluss darauf, welches Handlungsziel sich ihm zeigt. 24 Der Erwerb dieser Fähigkeit verdankt sich der Erfahrung, welcher eine bedeutende Rolle zugestanden wird. 25 Darin und auch in der Betonung des interpretativen und narrativen Charakters der aisthêsis ähneln die Ausführungen stark denen von Gadamer, die Friederike Rese in der Monographie Praxis und Logos bei Aristoteles aufgegriffen und ergänzt hat. Ferner nimmt der öffentliche Raum Einfluss, indem der eigene Horizont durch Dialog und Diskussion erweitert werden kann. Dies kann auch in Form der Beratschlagung vonstatten gehen: Sherman zufolge ist die Wahrnehmung einer Situation nämlich nicht gleichbedeutend mit einer unmittelbaren Konfrontation, die Prozesse der (gemeinsamen) Reflexion und Interpretation ausschließt. 26 Eine strenge Trennung der deliberativen und perzeptiven Elemente der phronêsis sei stattdessen überaus künstlich und führe in die Irre. 27 Eine Konsequenz dieser Aufhebung ist auch, dass der Wahrnehmung nicht ein Platz im Kontext der phronêsis zugewiesen wird, sondern dass sie an unterschiedlichen Stellen präsent ist, d. h. sowohl vor als auch während der Deliberation. Ebenso wenig wie diese Aspekte deutlich unterschieden werden Vgl. Nussbaum (1990), S. 79. Vgl. Sherman (1989), S. 29. 24 Mit dieser Aussage geht Sherman noch einen Schritt weiter als Aristoteles, der in EN III 7, 1114bff. sagt, dass der Charakter dafür verantwortlich ist, wie sich einem ein Ziel zeigt. Sherman behauptet nicht nur das, sondern zusätzlich, dass der Akteur in der Wahrnehmung selbst Einfluss darauf nehmen kann. Vgl. Sherman (1989), S. 34. 25 Vgl. Abizadeh (2002), S. 287. 26 Vgl. ebd., S. 255 f. 27 Vgl. ebd., S. 285, 288. 22 23
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Die Bedeutung der aisthêsis
können, funktioniert dies beim Verhältnis zwischen der partikularen und generellen Ebene. Vielmehr müsse man sich das Verhältnis vom Generellen und Partikularen als ein kontinuierliches Wechselspiel vorstellen, wodurch den deliberativen Momenten und den generellen Aspekten ebenfalls Spielraum zugewiesen wird (wenn auch ein geringerer als den partikularen). 28 Daher solle man die aisthêsis trotz ihrer zentralen Bedeutung, die sie zu einer entscheidenden Instanz macht, nicht als willkürlich agierend verstehen. 29 Auch in der stärkeren Berücksichtigung des Deliberativen und Generellen unterscheidet sich das partikularistisch schwächere, »inklusive Modell« von Nussbaum und Sherman stark vom fokussierenden, das McDowell und Wiggins befürworten. 30
3.
Die aisthêsis als »allgemeine« Wahrnehmung
Die vorhergehenden Rekonstruktionen der aisthêsis als eine Form der Situationserfassung einerseits und als eine Art der Interpretation andererseits stimmen, ungeachtet ihrer inhaltlichen Differenzen, darin überein, dass sie der aisthêsis die zentrale Bedeutung im Kontext der phronêsis zusprechen. Ob diese Einschätzung einer genauen Prüfung – die ich auf der Basis der relevanten Textstellen in der Nikomachischen Ethik vornehmen möchte – standhalten kann, soll das Erkenntnisinteresse der nachfolgenden Ausführungen sein. Im Zentrum der Analyse der Relation von phronêsis, aisthêsis und nous stehen zwei Textstellen, die beide recht opak sind und sich darüber hinaus widersprechen. Eine der beiden Textstellen findet sich in VI 9 und lautet wie folgt: »Denn sie (die phronêsis, Anm. M. H.) bezieht sich wie gesagt auf das Letzte; was Gegenstand des Handelns ist, ist ja von dieser Art. Sie bildet also den Gegensatz zum intuitiven Denken (nous). Denn das intuitive Denken hat die höchsten Begriffe zum Gegenstand, die sich nicht begründen lassen, die Klugheit aber das Letzte, von dem es keine Wissenschaft, sondern nur Wahrnehmung (aisthêsis) gibt – Wahrnehmung nicht derjenigen Dinge, die jeweils einem bestimmten Wahrnehmungssinn eigen sind, sondern so, wie
28 29 30
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Vgl. Nussbaum (1986), S. 75, 95; Sherman (1997), S. 255. Vgl. Nussbaum (1986), S. 306. Vgl. Sherman (1997), S. 245 f.
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Die aisthêsis als »allgemeine« Wahrnehmung
wir wahrnehmen, dass das Letzte in der mathematischen Analyse das Dreieck ist; denn auch in der Mathematik wird man hier stehen bleiben. Aber dies ist eher Wahrnehmung als Klugheit, jedoch eine andere Art Wahrnehmung [als diejenige, die sich auf die Gegenstände jeweiliger Sinne bezieht].« (1142a24– 30)
Dem ist nun Folgendes zu entnehmen: 1) Die phronêsis wird als dem nous entgegengesetzt bezeichnet. Dementsprechend wäre auf einer Skala, die von den ersten Prinzipien bis zum Letzten, der partikularen Situation reicht, der nous am einen Ende und die phronêsis am anderen Ende einzuzeichnen; 2) von dem Letzten, das dem Bereich der phronêsis angehört, gibt es nur Wahrnehmung; 3) die Wahrnehmung ist nicht sensueller Art. Die erste Aussage bereitet noch keine Probleme, wenn man bedenkt, dass Aristoteles in all seinen Schriften dem nous die nicht-diskursive Erkenntnis von den ersten Prinzipien zuordnet. Da es sich hierbei um die Prinzipien der ersten Philosophie handelt, ist der nous der Endpunkt der höchsten Abstraktion. Das Letzte bezeichnet in diesem Kontext die konkrete Situation 31 ; gemäß der vielen Hinweise, nach denen die phronêsis mit dem Einzelnen und Letzten zu tun hat (hier ist es gleichbedeutend), überrascht die Platzierung der phronêsis am entgegengesetzten Ende im Vergleich zum nous zunächst nicht. Allerdings irritiert die ausschließliche Zuweisung der konkreten Situation an die phronêsis, was durch die zweite Behauptung noch mal bekräftigt wird. Diese Aussage verwundert insofern, als die phronêsis in VI 5 als die Fähigkeit, wohl zu überlegen »darüber, was überhaupt dem guten Leben zuträglich ist« (1140a28) definiert wird. Dies widerspricht sowohl der zeitlichen Zuspitzung als auch der Nichtbeachtung des deliberativen Moments, die in der exklusiven Zuweisung von konkreter Situation und Wahrnehmung zum Ausdruck kommt. Für den Moment sei dies nur als Problem identifiziert – es wird später noch mal aufgegriffen. Die schwierigste Passage betrifft die Analogie von aisthêsis, die zur phronêsis gehört, mit der aisthêsis, mit der man ein Dreieck als (letzte) geometrische Figur identifiziert. Die Interpretation dieser Analogie führt direkt in die Diskussion der verschiedenen Auffassungen von aisthêsis, weshalb ich sie an dieser Stelle nach hinten verschieben möchte, um zuvor auf die andere Textstelle eingehen zu können, der
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Vgl. Wolf, U. (2002), S. 150. A
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Die Bedeutung der aisthêsis
ebenfalls viel für das Verhältnis von phronêsis, aisthêsis und nous zu entnehmen ist. Sie findet sich in VI 12: »Auch die intuitive Vernunft (nous) bezieht sich auf das Letzte in beiden Richtungen; denn sowohl die obersten Begriffe wie die letzten [untersten] Dinge sind Gegenstand des intuitiven Denkens und nicht der Begründung (logos). Dasjenige intuitive Denken, das mit Beweisen operiert, betrifft die ersten und unveränderlichen Begriffe, dasjenige aber, das im Bereich des Handelns operiert, bezieht sich auf das Letzte und Mögliche, das heißt auf die zweite Prämisse. Denn dies ist der Ausgangspunkt für den Zweck, da man von den Einzelfällen zum Allgemeinen (katholou) gelangt. Diese muss man also durch Wahrnehmung (aisthêsis) erfassen, und diese Wahrnehmung ist intuitives Denken.« (1143a35–1143b5)
Diese Ausführungen widersprechen der eingangs besprochenen insofern, als hier der nous an beiden Enden der Skala auftaucht, und explizit mit der aisthêsis gleichgesetzt wird, die zuvor der phronêsis zugeordnet worden ist. Allerdings wird hier zwischen zwei Arten des nous unterschieden, was die Aporie aufzulösen hilft: Der theoretische nous, ist derjenige, der in der anderen Textstelle aufgeführt worden ist, während der praktische nous hier an die Stelle der phronêsis tritt. Bemerkenswert ist die Differenzierung zwischen dem nous und dem logos: In VI 2 ist die phronêsis als die aretê genau dieses Vermögens bezeichnet worden, so dass man zu der paradoxen Erkenntnis gelangt, dass der nous zum einen an Stelle der phronêsis genannt wird und zugleich von ihr unterschieden wird. Es lässt sich also festhalten, dass es einen Bereich der phronêsis geben muss, der vom nous separiert ist und der vielmehr mit der bouleusis in Verbindung steht und einen der gleichbedeutend mit dem nous ist, der dann wiederum als aisthêsis bezeichnet wird. Nun gibt es bereits zwei Hinweise, die für die Interpretation von aisthêsis hilfreich sind: Sie gleicht der aisthêsis, mit der ein Dreieck als letzte geometrische Figur erkannt wird und sie ist praktischer nous. Zur näheren Erklärung dieser ›geometrischen‹ aisthêsis wird bisweilen auf das Geometerbeispiel in Buch III 5 im Kontext der Überlegung verwiesen: 32 »Denn wer überlegt, scheint in der beschriebenen Weise zu untersuchen und zu analysieren, gerade so, wie man es bei einer geometrischen Figur macht (und während offenbar nicht jede Untersuchung eine Überlegung ist – die 32
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Vgl. Engberg-Pedersen (1983), S. 206.
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Die aisthêsis als »allgemeine« Wahrnehmung
mathematische Suche zum Beispiel nicht – ist jede Überlegung eine Untersuchung). Das, was in der Analyse das Letzte ist, wird dann im Prozess der Verwirklichung das Erste sein.« (1112b20–24)
Die Textstellen in III 5 und VI 9 bringen nun gemeinsam etwas Licht in das Funktionieren der Wahrnehmung: Die Wahrnehmung des Geometers, dass das letzte Mathematische das Dreieck sei, hat in dieser Erkenntnis ihr Ende gefunden, weil darin der letzte Schritt der Analyse erreicht worden ist. 33 Dementsprechend würde die aisthêsis, die ein Mensch in einer konkreten Situation ausübt, den Moment einfangen, in dem er ein Urteil fällt, das den Schlusspunkt seiner Überlegung und der Ausgangspunkt seiner Handlung gleichermaßen markiert. Ursula Wolf nennt diese eigentümliche aisthêsis eine »allgemeine Wahrnehmung« 34 – eine Bezeichnung, die ich für ausgesprochen passend erachte. Durch das zusätzliche Attribut »allgemein« wird zweierlei deutlich: Zum einen kommt der »rationale Kontext« 35 dieser Wahrnehmungsausübung zum Ausdruck, denn es handelt sich um die Wahrnehmung eines Urteils als letzten Schritt von Überlegung, Prüfung und Begründung. Indem zum anderen dieser Prozess der Analyse auf eine reflektierte Vorstellung von eupraxia als Anhaltspunkt angewiesen ist, bringt selbst die konkrete Situation noch ein allgemeines Moment zum Ausdruck. 36 Auch Sorabji unterstreicht den generellen BeZum ›Stehenbleiben‹ der Wahrnehmung siehe auch: APo. II 19, 100a15–100b2: »Wenn nämlich eines der undifferenzierten Dinge zum Stehen kommt, so gibt es ein ursprünglich Allgemeines in der Seele – in der Tat nämlich wird zwar das Einzelne wahrgenommen, aber jede Wahrnehmung richtet sich auf das Allgemeine, wie etwa auf Mensch, jedoch nicht Kallias den Menschen […|.« 34 Wolf, U. (2002), S. 151. 35 Vgl. Engberg-Pedersen (1983), S. 206. 36 Vgl. Wolf, U. (2002), S. 152 ff. Wie zu erwarten war, bereitet diese Analogie den Partikularisten Schwierigkeiten, so dass sie leichte Abwandlungen für nötig erachten. Nach Nussbaum besteht der Unterschied zwischen einem Mathematiker und einem klugen Menschen darin, dass der Mathematiker von den partikularen Gegebenheiten eines Dreiecks bei seiner Analyse absehen könne, während der Kluge dies nicht dürfe. Sherman sieht einen Unterschied darin, dass die Tätigkeit des Mathematikers weniger riskant im Sinne von persönlicher Hingabe sei und weniger ergänzender Fähigkeiten bedürfe – ohne aber die Analogie ganz aufgeben zu wollen. Die Pointe der Analogie liege in der Erfassung des entscheidenden Lösungsschrittes, die sowohl auf ein mathematisches Problem als auch auf eine schwierige ethische Situation zutreffe. Allerdings bestreitet sie, dass es sich bei der mathematischen Lösung um die letzte Figur handele, was problematisch erscheint. Diese Textstelle ist also mit dem Modell von Nussbaum und Sherman nur dann kompatibel, wenn man Modifizierungen vornimmt. Die Reduk33
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Die Bedeutung der aisthêsis
zug zum »guten Leben«, die die aisthêsis aufweist, wenn sie als phronêsis respektive praktischer nous tituliert wird. Ferner weist er aber noch darauf hin, dass es eine praktische Wahrnehmung geben kann, die viel ›gewöhnlicher‹ funktioniert und deshalb durch reine Erfahrung praktiziert werden kann: »The perception in question is called nous (intuitive reason) […]. In both chapters nous is very closely linked with practical wisdom, which, as we have seen, also involves something like perception, and which, […], also grasps propositions of the form »this is what courage requires now«. I suggest the relation is this, that the word nous is applied to the perception of such facts but that this perception sometimes comes not from practical wisdom but from mere experience. It is only when the perception is influenced by our knowledge of the good life that it is called a judgment of practical wisdom.« 37
Dieser zusätzlichen Unterscheidung von »allgemeiner Wahrnehmung« und »gewöhnlicher Wahrnehmung« schließt sich Irwin an, der in diesem Zusammenhang auf die Stelle in EN III 5, 1112b34–1113a hinweist, bei der die Wahrnehmung nur aussagt, dass das Brot fertig gebacken ist. 38 Ähnlich sieht es Nicholas White, der die aisthêsis schlicht als »a capacity to pass judgements about particular cases« auffasst und sie von dem starken moralischen Impetus befreien möchte. 39 Abschließend lässt sich also festhalten, dass die Einordnung der aisthêsis als »allgemeine Wahrnehmung« (und auch »gewöhnliche Wahrnehmung«) stark der partikularistischen Interpretation widerspricht, die der aisthêsis einen viel stärkeren, genuin moralischen Gehalt zuweist.
tion der aisthêsis auf ein Analogon zur Erfassung einer letzten, basalen geometrischen Figur dürfte mit dem inklusiven Modell tatsächlich schwer vereinbar sein. 37 Sorabji (1980), S. 215. 38 Vgl. Irwin (2 2003), S. 127. 39 Vgl. White (2004), S. 59.
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Teil III
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VIII. Die Normfigur als moralischer Akteur
Die Analyse der phronêsis hat die Fokussierung der Partikularisten auf die aisthêsis deutlich gemacht. Die aisthêsis wird von ihnen als Wahrnehmung moralischer Gründe und als spezifische Kontextsensitivität interpretiert. Diese Auffassung könnte in eine subjektivistische respektive relativistische Position münden, von der sich aber Partikularisten mit Verweis auf die Normfigur distanzieren. 1 Die Normfigur fungiert in ihrer Perspektive als Kriterium für die wahrheitsgemäße Wahrnehmung und ist dementsprechend der Garant für Objektivität. Die Normfigur hat folglich eine wichtige Rolle in der partikularistischen Argumentation inne, die eine eingehendere Prüfung erfordert, welche nun in diesem dritten Hauptteil erfolgt. Auf diese Weise soll auch dem spezifischen Charakter der aristotelischen Ethik, die den tugendhaften Menschen zu »Richtschnur und Maß« (EN III 6, 1113a32 f.) erklärt, angemessen Rechnung getragen werden. Mit der Konzentration auf die Normfigur geht dieser Part der Arbeit über den klassischen Fokus der Partikularismus-Generalismus-Debatte mit den Aspekten wie Exaktheit von Ethik, Bedeutung von Handlungsregeln, Funktion der Wahrnehmung etc. hinaus. Stattdessen steht im Folgenden die Frage im Mittelpunkt, ob die partikularistische Interpretation der Normfigur überzeugen kann. Bevor ich auf das partikularistische Verständnis der Normfigur eingehe, möchte ich im ersten Kapitel dieses dritten Hauptteils das begriffliche Fundament für die nachfolgende Untersuchung legen. Dazu nehme ich zu Beginn eine philologische Erörterung von ›spoudaios‹ vor, da sich diese Bezeichnung – anders als phronimos – keineswegs von selbst erschließt. In diesem Zusammenhang berücksichtige ich Diesem Vorwurf begegnet Abizadeh mit dem Verweis auf die mögliche nachträgliche Rechtfertigung des phronimos sowie auf die intersubjektive Komponente der Emotionen, vgl. Abizadeh (2002), S. 289 f.
1
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Die Normfigur als Moralischer Akteur
auch den Sprachwandel, den der Begriff ›spoudaios‹ erfahren hat. Im Anschluss daran führe ich den Nachweis, dass die Bezeichnungen phronimos und spoudaios sich auf ein und dieselbe Figur beziehen müssen. Obwohl eine solche Identität häufig implizit angenommen wird – auch von Partikularisten – finden sich mitunter abweichende Meinungen in der Literatur, die diese zumeist selbstverständlich vorgenommene Gleichsetzung in Frage stellen. Im letzten Unterkapitel des ersten Kapitels möchte ich den Begriff der »Normfigur« erklären, der m. E. die Sonderstellung des phronimos/spoudaios adäquat zum Ausdruck bringt. Im zweiten Kapitel folgt die Analyse der Normfigur aus partikularistischer Sicht. Dabei ist von besonderem Interesse, wie die Normfigur die sie auszeichnende Wahrnehmungsfähigkeit erlangt hat und ob bzw. welche Interaktion mit ihrem Umfeld stattfindet. Auf folgende Aspekte konzentriere ich mich bei der Untersuchung ihrer Genese und ihres Kontextes, die von Partikularisten besonders betont werden: a) Grundkonsens und geteilte Lebenswelt, b) interne Reflexion und Kritik und c) »entnaturalisierte« Natur der Normfigur. Diese Punkte fasse ich dann unter d) die Normfigur als Kriterium zusammen. Obwohl die Normfigur in der partikularistischen Argumentation eine wichtige Rolle einnimmt, ist ihr wenig systematische Aufmerksamkeit geschenkt worden, was sich u. a. in der dürftigen Literatur dazu ausdrückt. McDowell hat sich zu diesem Themenkomplex noch am ausführlichsten geäußert, weshalb seine Aufsätze im Mittelpunkt stehen. Eine Rekonstruktion der partikularistischen Position zur Normfigur scheint mir vor diesem Hintergrund umso notwendiger zu sein. Diese werde ich vornehmen, indem ich die zahlreichen, bislang unverbundenen Aussagen von McDowell zur Normfigur bündele und strukturiere. Im Anschluss daran möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Frage lenken, inwieweit die Normfigur als ein Vorbild zu verstehen ist. Bisweilen stößt man nämlich auf Aussagen von Partikularisten, die die Normfigur als ein ›Musterexemplar‹ bezeichnen. Diese Auffassung bewegt sich zwar im Umkreis der These von der ›geteilten Lebenswelt‹, ich möchte sie jedoch von der Rekonstruktion getrennt diskutieren, da diese Frage zu den meistdiskutierten Punkten bezüglich der Normfigur gehört, die bereits viele andere Autoren – unabhängig von der partikularistischen Lesart – beschäftigt hat. Aus diesem Grunde öffne ich den Kreis der diskutierten Autoren in diesem Unterkapitel. Die partikularistische Interpretation der Normfigur lässt viele A
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Eigenschaften (und die entsprechenden Textstellen) unberücksichtigt, was m. E. zu einem eindimensionalen Bild führt, das der Konzeption der Normfigur nicht gerecht wird. Mit Hilfe einer Charakterstudie möchte ich das Porträt ergänzen und korrigieren. Dabei untersuche ich folgende Aspekte: Das Leben des spoudaios wird in EN VII 14 als lustvoller als das anderer Menschen bezeichnet. Diesem Hinweis möchte ich nachgehen, indem ich die spezifische Lust des spoudaios herausarbeite. Im Kontext der Lust des spoudaios wird auch stets seine Täuschungsresistenz betont, der ich mich im nachfolgenden Abschnitt zuwende, wenn ich den Wahrheitsbezug in seinem Urteil analysiere. Dieser ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass er als »Richtschnur und Maß« (EN III 6) gilt. Aber auch in anderer Hinsicht ist diese Bezeichnung zutreffend: Im Rahmen der Freundschaftsbücher gilt das Selbstverhältnis des spoudaios als paradigmatisch für Freundschaft überhaupt, weshalb ich es im Anschluss erörtere. Als derjenige, der über das optimale Selbstverhältnis und Selbstliebe verfügt, ist der spoudaios für die höchste Form der Freundschaft, die der Tugendhaften, prädestiniert, mit deren Untersuchung ich die Charakterstudie zu einem Abschluss bringe. Neben der Korrektur der verengten partikularistischen Auffassung von der Normfigur wird bei der Charakterstudie noch ein neuer Aspekt auftreten, den ich im letzten Kapitel dieses Teils behandele. Bei allen genannten Eigenschaften kommt zum Vorschein, dass die Konzeption der Normfigur unmittelbar mit der aristotelischen Auffassung der menschlichen Natur verknüpft ist, deren vollkommener Ausdruck sie ist. Der Normfigur liegt nämlich eine Regularität im Sinne von Persönlichkeitsstabilität zugrunde, die nur vor dem Hintergrund einer Vollendung adäquat eingeordnet werden kann. Diese Position möchte ich ausführen und untermauern, indem ich sowohl die Unfehlbarkeit der Normfigur als auch die Unerschütterlichkeit ihrer Tugend diskutiere. Abschließend greife ich den Gedanken der vollkommenen menschlichen Natur, die in der Normfigur ihren Ausdruck findet, nochmals explizit auf.
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Die Konzeption der Normfigur
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Philologische Erörterung von spoudaios
Die Bezeichnung der personalen Figuren in der Nikomachischen Ethik erklärt sich in der Regel von selbst; so zeichnet sich der Mutige (ho andreios) durch Mut (hê andreia) aus, der Besonnene (ho sôphrôn) durch Besonnenheit (hê sôphrosynê) usf. Der Begriff ho spoudaios hingegen ist schwerer einzufangen, da er zusätzlich zu seiner Grundbedeutung, die ich im folgenden Absatz erläutern werde, eine moralische Färbung erfahren hat, die sich erst mit Aristoteles durchgesetzt hat. 2 Diese Parallelität spiegelt sich bis heute in den Übersetzungen wider. Während eine Übersetzungströmung sich eng an die Ursprungsbedeutung hält, favorisiert eine andere die übertragene, moralische Bedeutung. Die Grundbedeutung ist der Wortgruppe von ho spoudaios zu entnehmen, zu der sowohl das gleichlautende Adjektiv wie auch die Verben speudô bzw. spoudazô und das Substantiv hê spoudê gehören. Diese Wörter können zum einen mit »Eifer« bzw. »sich beeilen, hasten« wiedergegeben werden, zum anderen mit »Ernst« bzw. »etwas ernsthaft betreiben, etwas zielstrebig angehen«. Dementsprechend kann auch das Adjektiv (und seine Substantivierung) mit »schnell« oder »ernsthaft, energisch« übersetzt werden, wobei letzteres nach Liddell & Scott & Jones 3 geläufiger ist. Dem schließt sich Francis Sparshott an, wenn er als die wörtliche und dominante Bedeutung von spoudaios einen Modus der Emphase im Sinne von »etwas ernst nehmen« angibt und daraus eine zweite ableitet, nämlich die von »wert, ernst genommen zu werden«. 4 Auch Pierre Aubenque betont die Wechselseitigkeit von ernster Aktivität und der Reaktion der Wertschätzung als Konsequenz: »le spoudaios est l’homme qui inspire confiance par ses travaux, celui auprès duquel on se sent en sécurité, celui que l’on prend au sérieux.« 5 Die Dimension der Ernsthaftigkeit ist noch bei Platon – gemäß der Grundbedeutung – die dominante, auch
Vgl. Schniewind (2003), S. 31. Liddell & Scott & Jones (2001), S. 1630. Die weiteren Informationen beziehen sich ebenfalls auf Liddell & Scott & Jones. 4 Vgl. Sparshott (1994), S. 50. 5 Aubenque (4 2004), S. 45. 2 3
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wenn sich bereits eine ethische Komponente abzeichnet. 6 Sie ist darüber hinaus stärker in der Form des Ernstes (spoudê) präsent als in seiner Personifizierung (spoudaios); insbesondere in den Nomoi kommt der Gegenüberstellung von Spiel (paidia) und Ernst (spoudê) eine wichtige Rolle zu. 7 Auch bei Aristoteles ist diese Entgegensetzung noch wahrzunehmen: In EN X 6, 1177a3 ff. werden die ernsthaften Dinge höher als die lächerlichen eingeschätzt. Dementsprechend ist auch der Ernsthafte besser als der weniger Ernsthafte: »Ferner nennen wir die ernsthaften Dinge besser als die lächerlichen und vergnüglichen und die Tätigkeiten des jeweils Besseren – sei es von den Bestandteilen der Seele oder von zwei Menschen – ernsthafter.«
Ernst beinhaltet offensichtlich eine Qualitätsaussage. In dieser Einschätzung von Ernst klingt die übertragene Bedeutung bereits an. Liddell & Scott & Jones nehmen in Hinsicht auf Personen nämlich noch eine Binnendifferenzierung vor, indem sie neben 1) ernst, aktiv, zielstrebig, noch zwischen 2) gut, exzellent (in funktioneller Hinsicht) und 3) gut (in moralischer Hinsicht) unterscheiden. Die beiden letztgenannten Übersetzungsmöglichkeiten, die die übertragene Bedeutung zum Ausdruck bringen, favorisiert die zweite Übersetzungsströmung; sie konzentriert sich bei der Wiedergabe mehr auf den Kontext, in dem vom ho spoudaios die Rede ist. Insbesondere im Rahmen des ergontou-anthrôpou–Arguments verwendet Aristoteles dieses Wort zur Unterscheidung einer spezifischen Leistung nach ihrer Qualität: Die gute/ vortreffliche (spoudaios) Ausübung des ergon wird als aretê bezeichnet, so dass der spoudaios dementsprechend mit »der Gute«, »der Vortreffliche« oder »der Tugendhafte« übersetzt wird. Aristoteles weist selbst auf die Nähe von spoudaios und aretê in den Kategorien hin, wo es heißt: »Manchmal aber wird, auch wenn es für eine Qualität einen Namen gibt, das nach ihr als so und so beschaffen Benannte nicht paronymisch so benannt. Zum Beispiel wird der treffliche Mensch (spoudaios) so genannt nach der Tüchtigkeit (aretê), denn weil er Tüchtigkeit besitzt, wird er trefflich ge-
So konstatiert A. Schniewind: »De manière générale on constate que Platon prépare le terrain pour une conception éthique du terme spoudaios.« Schniewind (2003), S. 36. 7 Diese Gegenüberstellung wird ausführlich in der Monographie von E. Jouët-Pastré untersucht; in der Einleitung wird sie sogar zum »leitmotiv« erklärt. Jouët-Pastré (2006), S. 10. 6
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Die Konzeption der Normfigur
nannt; aber er wird nicht paronymisch nach der Tüchtigkeit benannt.« (Cat. 7, 10b5–10)
Über den Grad der Qualität/Güte des spoudaios herrscht Uneinigkeit: Während beispielsweise Hubertus Busche im Aristoteles-Lexikon die Person des spoudaios mit »der Vortreffliche« übersetzt, der »ohne nähere Zusatzbestimmung die Exzellenz eines Menschen in seinem Menschsein, sofern sein ganzer seelischer Habitus von außergewöhnlichem Habitus ist« 8 zum Ausdruck bringt, setzt sich Ursula Wolf bewusst davon ab. Sie möchte im spoudaios lediglich »gute Qualität«, nicht aber die »extreme Spitze des Hervorragenden« ausgedrückt sehen. 9 Aus diesem Grunde wählt sie auch in ihrer 2006 erschienenen Übersetzung der Nikomachischen Ethik die Bezeichnung »der Gute« für den spoudaios. 10 In englischen und französischen Übersetzungen ergibt sich ein ähnlich unentschiedenes Bild: Während Ross 11 und Rackham 12 spoudaios mit »the good man« oder »the virtuous man« übersetzen, favorisiert Irwin 13 »the excellent man«. Rowe 14 hingegen umgeht das Problem einer Begriffsentscheidung, indem er zwischen diesen Formen changiert. Gauthier und Jolif 15 bedienen sich derselben Lösung wie Ross und Rackham durch die Bezeichnungen »le vertueux« oder »l’homme bon«, ebenso Eugen Rolfes 16, der in seiner Übersetzung den spoudaios mit »der Tugendhafte« wiedergibt. Im Vergleich zu diesen Übersetzungen ist denen von Olof Gigon 17 und insbesondere von Franz Dirlmeier 18 eine politisch anmutende Konnotation zu entnehmen: An manchen Stellen greift Gigon nämlich zur Bezeichnung »der Edle«, während Dirlmeier freimütig vom »vollendeten Repräsentanten edlen Lebens« oder »dem hochwertigen Menschen« schreibt. Die Übersetzung von Dirlmeier wirkt problematisch, da darin ein aristokratiBusche (2005), S. 534. Vgl. Wolf, U. (2002), S. 39. 10 Vgl. Wolf, U. (2006). 11 Vgl. Ross (1925). 12 Vgl. Rackham (1962). 13 Vgl. Irwin (1985). 14 Vgl. Rowe/Broadie (2002). 15 Vgl. Gauthier/Jolif (1958). 16 Vgl. Rolfes (4 1985). 17 Vgl. Gigon (2001). 18 Vgl. Dirlmeier (5 1969). 8 9
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sches Ideal zum Ausdruck kommt, das z. B. Rudolf Schottlaender gerade für den spoudaios explizit verneint. Schottlaender betont stattdessen die »Unbelastetheit« dieses Begriffs und die genuine persönliche Leistung des spoudaios. 19 Inwiefern sich Aristoteles beim spoudaios von herrschenden Mannesidealen leiten ließ, wird noch im Kontext der Charakterstudie zu erörtern sein. Auf der anderen Seite mag zumindest für einige Textstellen (EN IX 8, 1169a16 ff./EN IX 8, 1168a33/EN IX 9, 1170a3) eine aristokratisch anmutende Übersetzung legitim sein, denn für diese konstatiert der Index Aristotelicus von Bonitz eine Synonymie von spoudaios und epieikês, 20 was mit »der Rechtschaffene«, »der Anständige« übersetzt werden kann und eine noble Gesinnung verrät. Als weitere synonyme Begriffe zum spoudaios sind ho epainetos (der Lobenswerte) und insbesondere ho agathos (der Gute) aufgeführt. 21 Ungeachtet der konkret gewählten Übersetzung ist das Moment der politischen Aktivität beim spoudaios zu betonen; bei Aristoteles sind der spoudaios und der sophos noch nicht identisch. Der spoudaios ist dem bios politikos zuzurechnen, während der sophos dem bios theôretikos verpflichtet ist. 22 Die Aufhebung dieser Sphären tritt bei den Stoikern ein, die sich in der synonymen Verwendung von spoudaios und sophos widerspiegelt. 23 Bei den Stoikern stellt der spoudaios das typische Ideal des Weisen dar. In dieser Bedeutung wird spoudaios häufig auch bei Plotin verstanden, wobei Alexandrine Schniewind ihm eine eigene Wortverwendung zuweist, die sie mittels ihrer Untersuchung des spoudaios einzufangen versucht.24 Die Informationen zum Sprachwandel wie auch die zahlreichen vorgestellten Übersetzungsversionen zeigen, wie schwer es ist, den spezifischen Charakter des spoudaios sprachlich zu erfassen. Bei Aristoteles sind insbesondere die moralische Qualität wie auch die Aktivität des spoudaios zu betonen, ohne die Dimension des Ernstes völlig vernachlässigen zu wollen. Kaum einer Übersetzung dürfte es gelingen, diese Aspekte adäquat in sich zu vereinen, weshalb ich an der griechischen Originalform spoudaios festhalten möchte; alternativ spreche 19 20 21 22 23 24
168
Vgl. Schottlaender (1980), S. 385. Vgl. Bonitz (2 1955), S. 271. Vgl. ebd., S. 697. Vgl. Schniewind (2003), S. 38 f. Vgl. ebd., S. 44. Vgl. Schniewind (2003).
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ich auch abstrakt von der Normfigur, wobei diese Bezeichnung sich auch auf den phronimos erstreckt, wie aus dem folgenden Abschnitt ersichtlich wird.
b.
Die Identität von spoudaios und phronimos
Die partikularistische Interpretation geht implizit von einer Identität von spoudaios und phronimos aus, ohne einen Nachweis dafür zu erbringen. Je nach Fokus bewegen sich die Ausführungen im Kontext des spoudaios oder des phronimos. Während McDowell häufiger auf den spoudaios mit seinem genuinen Wahrnehmungsvermögen Bezug nimmt, konzentriert sich z. B. Nussbaum auf den phronimos, der für sie insbesondere politische Aktivität symbolisiert. McDowell aber weist beispielsweise die eine richtige Ansicht dem spoudaios oder dem phronimos zu, was die Vermutung einer Identitätsunterstellung zulässt, zumal er mit keinem Wort das Verhältnis der beiden zueinander thematisiert. 25 Auch Nussbaum äußert sich dazu nicht explizit. Da sie aber den guten Charakter des phronimos unterstreicht, darf daraus geschlossen werden, dass sie ebenfalls eine Identität annimmt. Das Phänomen der stillschweigenden Gleichsetzung von spoudaios und phronimos ist weit verbreitet, weshalb ein Nachweis häufig nicht erbracht wird oder die Frage nach der Relation der beiden Begriffe bei gleichzeitiger Identität ihres Bezugsobjekts nicht gestellt wird. 26 Dass der Frage nach der Identität und Relation keineswegs mit einer solchen Selbstverständlichkeit begegnet werden sollte, bringt beispielsweise Gómez-Lobo zum Ausdruck, der die Gleichsetzung als ein »final misunderstanding«27 einordnet. Aus diesem Grunde möchte ich mich zunächst dem Nachweis einer Identität widmen, indem ich zuerst textliche Indizien anführe, die ich anschließend mit Argumenten stütze. Danach beschäftige ich mich mit der schwierigen Frage, wie die Relation dieser beiden Begriffe zu verstehen ist. Es gibt mehrere Textstellen in der Nikomachischen Ethik, die die These der Identität rechtfertigen. Die augenfälligste findet sich in Buch Vgl. McDowell (1995), S. 202. Als Beispiele für eine derartige implizite Gleichsetzung seien exemplarisch genannt: White (2005), S. 145 f.; Cooper (2 1986), S. 101. 27 Gómez-Lobo (1995), S. 32. 25 26
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VII 11 (1152a7 f.), wo der phronimos explizit als »spoudaios« (sittlich gut) bezeichnet wird. Dies entspricht auch dem bekannten Topos von der Einheit der Tugend, von dem Aristoteles nicht abweicht. Insbesondere in Buch VI 13 führt er die wechselseitige Durchdringung von Tugendhaftigkeit und Klugheit aus: »Aus dem Gesagten ist also klar, dass man weder im eigentlichen Sinn gut sein kann ohne die Klugheit noch klug ohne die Tugend des Charakters« (1144b30 ff.). Die Formulierung »im eigentlichen Sinn gut« ist auf die Unterscheidung zwischen natürlicher und vollkommener Tugendhaftigkeit zurückzuführen. Es ist allerdings unzweifelhaft, dass Aristoteles eine Ungleichzeitigkeit oder eine mangelnde Einheit nur bei den natürlichen Tugenden konzediert (1144b35 ff.), nicht aber bei den erworbenen, die jedoch gerade die Leistung des spoudaios/phronimos darstellen. Mit dem Zugeständnis der Einheit der Tugend ist unmittelbar die These von der Identität verknüpft, was Ralf Elm wie folgt ausdrückt: »[…] also wird vor dem Hintergrund der Einheit von Phronesis und Arete die Identität des sittlich Integren und Klugen, des spoudaios und phronimos, klar.« 28 Deswegen ist Martin Ganters Versuch nicht überzeugend, den spoudaios in erster Linie als einen Vertreter der ethischen aretê und den phronimos als den der intellektuellen Tugenden (abgesehen von der sophia), zu interpretieren. 29 Es liegt die Vermutung nahe, dass er sich dabei an eine Art ›Arbeitsteilungsmodell‹ der Seele anlehnt, nach dem die beiden Begriffe jeweils für den nicht-rationalen und den rationalen Teil der Seele stehen. Dies würde jedoch der wechselseitigen Durchdringung der Tugenden diametral entgegenstehen. Außerdem ordnet Aristoteles Eigenschaften wie Diskretion, Verständigkeit und Klugheit »denselben Menschen« (EN VI 12, 1143a26 ff.) zu; aufgrund der inhaltlichen Nähe dieser Eigenschaften zur Urteilsfähigkeit des spoudaios ist die Ausweitung dieser Aussage auf ihn nahe liegend. Ferner sind sowohl der spoudaios als auch der phronimos als Normfiguren einzuordnen, wie noch im nächsten Abschnitt deutlich wird. Beide fungieren als Standards – der spoudaios, indem er explizit als Norm bezeichnet wird, der phronimos durch die Festlegung der rechten Mitte. Nun kann es nicht zwei gleichrangige Standards der Ethik geben, ohne dass es Hinweise gäbe, wann man sich an welchem zu orientieren hätte. Solche Verweise finden sich aber nicht in der Nikomachischen Ethik, so dass davon aus28 29
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Elm (1996), S. 260. Vgl. Ganter (1974), S. 85.
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zugehen ist, dass Aristoteles die Identität von spoudaios und phronimos implizit stets vor Augen hatte. Ein Grund dafür, dass die Identität als problematisch eingestuft wird, mag damit zusammenhängen, dass die Relation der beiden Bezeichnungen Fragen aufwirft. Zwei Erklärungen sind als Antworten denkbar: In einem ›Absorptionsmodell‹ wäre der Begriff des phronimos in dem des spoudaios enthalten, so dass dem spoudaios eine Art ›Primat‹ zukäme. Ein ›Komplementaritätsmodell‹ hingegen nimmt lediglich Akzentuierungen mit Hilfe der verschiedenen Bezeichnungen vor. Für das ›Absorptionsmodell‹ spricht die Tatsache, dass allein der spoudaios als »Richtschnur und Maß« (EN III 6, 1113a32 f.) genannt wird, nicht aber der phronimos. Dagegen ist allerdings einzuwenden, dass die phronêsis als spezifische Tugend des phronimos bereits eine aretê darstellt, so dass die Auffassung einer ›qualitativen‹ Vollendung in Form des spoudaios mit dem aretê-Begriff unvereinbar ist. Das ›Komplementaritätsmodell‹ halte ich für überzeugender, da es einerseits der Identität gerecht wird, ohne andererseits die Besonderheiten der Bezeichnungen zu vernachlässigen. Je nach Art der momentanen Tätigkeit tritt die Normfigur an einigen Stellen als spoudaios auf, an anderen als phronimos, ohne dass diese Bezeichnungen inkompatibel wären. Im Gegenteil: Wie kann jemand wie der spoudaios »Richtschnur und Maß« genannt werden, ohne dass er zugleich in der Lage wäre, die rechte Mitte bei seiner Ausübung der ethischen Tugenden zu bestimmen, wie es dem phronimos zugesprochen wird? Die Komplementarität der beiden Bezeichnungen führt Wolfgang Kersting vor allem darauf zurück, dass beide genannten Eigenschaften auf ihre Wirksamkeit durch Handeln angewiesen sind, wodurch »die üblichen Dichotomien in der Handlungstheorie« aufgehoben seien. 30 Elm bringt die wechselseitige Durchdringung bei gleichzeitiger begrifflicher Unterscheidung auf den Punkt:< »Die verschiedenen Bezeichnungen fassen lediglich jeweils eine der zwei Seiten der Einheit ins Auge. Beim Phronimos ist die Seite der Erfassung, Überlegung und Anordnung des jeweiligen Worumwillen akzentuiert, beim Spoudaios mehr das faktische Erstreben des Guten. Im Grunde aber sind der Phronimos und Spoudaios identisch, eine und dieselbe Person, deren Erfassen und Erstreben des Guten im Zustand der wechselseitigen Vollendung von Phronesis und Arete Hand in Hand gehen. Infolge dieser Einheit ist überall 30
Kersting (2005), S. 38. A
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dort, wo Aristoteles von der Arete oder dem Spoudaios spricht, stets die Phronesis inbegriffen bzw. der Phronimos mitgemeint.« 31
In diesem Zitat kommt zudem die interpretatorische Konsequenz der These von der Identität gut zum Ausdruck: Textstellen zum spoudaios müssen als Ergänzung bei Erläuterungen zum phronimos mitberücksichtigt werden (und umgekehrt). Damit eröffnet sich ein Interpretationsspielraum, der in der bisherigen Forschung nicht hinreichend genutzt worden ist. Anders als Martin Ganter, der die Identität von spoudaios und phronimos mit dem Verweis auf ihr ›Wirkungsfeld‹ bestreitet, verneint sie Alfonso Gómez-Lobo aus einem prinzipiellen Vorbehalt gegenüber einem »privileged individual« 32 , das die Bezeichnung eines Maßstabs verdiene. Die Bezeichnung spoudaios könne man nur auf einen Menschen anwenden, sofern ihm die Wahrheit erscheine und er keinen Fehler mache. Da es einen solchen Menschen, dessen Verständnis kontinuierlich richtig sei, jedoch nicht geben könne, müsse man dem spoudaios die Anerkennung einer solchen exponierten Tugend generell verweigern. Dieser Punkt berührt aber weniger die Frage nach der Identität als vielmehr die nach der Fehlbarkeit der Normfigur, weshalb er als Einwand gegen die Identität nicht überzeugen kann, zumal es – wie in diesem Unterkapitel deutlich geworden sein dürfte – sehr gute, geradezu zwingende Gründe für eine Identitätsannahme gibt.
c.
Der Begriff ›Normfigur‹
Ein Charakteristikum der Nikomachischen Ethik ist die Veranschaulichung von ethischen Aussagen anhand von Figuren. Diese stark personalisierte Ausrichtung überrascht nicht, da es schließlich das Kennzeichen der (antiken) Tugendethik ist, dass sie der Beschaffenheit des Charakters eine zentrale Bedeutung einräumt. Die häufigen Hinweise auf verschiedene Typen von Menschen haben folglich nicht nur eine didaktische Funktion im Sinne einer besseren Lebenseinbettung, sondern sind Bestandteil der tugendethischen Pointe, dass die Bewertung
31 32
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Elm (1996), S. 260. Gómez-Lobo (1995), S. 32.
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einer Handlung unter Berücksichtigung des Charakters des Handelnden vorzunehmen sei. 33 Wenn auch dieser Zusammenhang für alle Figuren gilt, lassen sich meiner Meinung nach drei Arten von Figuren innerhalb der Nikomachischen Ethik unterscheiden: 1) Die ›Repräsentationsfiguren‹ einer Einzeltugend (z. B. der Mutige, der Besonnene, der Hochherzige etc.). 2) Daneben gibt es weitere Figuren, die jeweils eine spezielle Eigenschaft darstellen, die nicht im Katalog der ethischen Tugenden der Bücher EN III 9-V aufzutauchen. Es soll hierbei von den ›Attributsfiguren‹ wie der Glückselige, der Unbeherrschte etc. die Rede sein. Der Unterschied zwischen 1) und 2) ist marginal, da beide Arten von Figuren ausschließlich durch ihre Eigenschaften charakterisiert sind. Davon abzugrenzen sind 3) die beiden Figuren des spoudaios und phronimos, die eine herausragende Stellung einnehmen, da sie zur Norm erhoben werden; aus diesem Grunde wähle ich für sie die Bezeichnung ›Normfiguren‹. Streng genommen ist der Plural inkorrekt; wie dem vorigen Abschnitt zu entnehmen ist, muss von einer Identität ausgegangen werden, so dass es letztlich nur eine Normfigur gibt, die unter den Bezeichnungen phronimos und spoudaios bekannt ist. Der Begriff der Normfigur leitet sich von der Aussage ab, dass der spoudaios als »kanôn kai metron« (Richtschnur und Maß) fungiert (EN III 6, 1113a32 f.) – er ist also der Maßstab, die Norm. Der spoudaios ist damit kein Verweis auf eine Instanz außerhalb seiner selbst, sondern er selbst ist eine immanente Norm, indem er Inbegriff der vollendeten menschlichen Natur ist. 34 Der Begriff der menschlichen Natur darf dabei nicht in erster Linie biologisch verstanden werden, 35 sondern normativ und objektivierend. 36 Aus diesem Grunde ist die Auffassung von Werner Jaeger, nach der der spoudaios allein seinem »autonomen Gewissen« 37 unterstellt ist, abzuschwächen. Dies mag auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen: Wenn der spoudaios die Norm ist, ist er dann nicht per se autonom? Doch die menschliche Natur und die ethische Souveränität behindern sich nicht gegenseitig in der Figur der spoudaios, sondern unterstützen sich wechselseitig und sind nicht vonVgl. Rippe/Schaber (1998), S. 11 f. Vgl. Verhaeghe (1980), S. 317. 35 Siehe dazu Williams und MacIntyre, die Aristoteles als Vertreter eines »metaphysischen Biologismus« interpretieren. Vgl. Williams (1999), 3. Kapitel; MacIntyre (2 1997), 9. Kapitel. 36 Vgl. Szaif (2004), S. 71. 37 Jaeger (2 1955), S. 89. 33 34
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einander zu trennen. Seine ethische Eigenständigkeit ist keine Anwendung einer abstrakten Idee der menschlichen Natur, sondern ihr vollkommener Vollzug. Ferner ist der genannte Widerspruch aufgehoben, weil die vollendete Aktualisierung menschlicher Natur es mit sich bringt, dass sie nur immanent in einer einzelnen Person stattfinden kann bei gleichzeitigem allgemeinem Gehalt. Erst in der Verbindung von Einzelheit und Allgemeinheit kann der spoudaios seine Funktion als Normfigur entfalten. Dieselbe Funktion wie beim spoudaios lässt sich auch dem phronimos zuordnen: Anders als sein Name es vermuten lassen könnte, ist der phronimos nicht bloßer ›Repräsentant‹ der phronêsis. Die phronêsis wird nämlich vom phronimos her bestimmt, nicht umgekehrt. So heißt es: »Was die Klugheit ist, können wir erfassen, indem wir schauen, welche Menschen wir klug nennen.« (EN VI 5, 1140a24 f.). Nun könnte man einwenden, dass vorher bereits eine positive Bestimmung der phronêsis im Sinne der rechten Vernunft in Buch VI 1 gegeben wurde. Das ist aber nicht überzeugend, da auch diese vom phronimos her entfaltet wird, wie bereits in Buch II 6 zum Ausdruck kommt: »Die Tugend ist also eine Disposition, die sich in Vorsätzen äußert, wobei sie in einer Mitte liegt, und zwar der Mitte in Bezug auf uns, die bestimmt wird durch die Überlegung, das heißt so, wie der Kluge sie bestimmen würde« (1106b36–1107a2).
Der phronimos ist folglich ebenso wie der spoudaios der äußerste Maßstab, 38 was unweigerlich zur These ihrer Identität, wie im vorigen Unterkapitel dargelegt, führen muss.
2.
Die Normfigur in partikularistischer Sicht
a.
Grundkonsens und geteilte Lebenswelt
Der aristotelische Zugang zur Moral wird von Partikularisten – gemessen an einem modernen Verständnis – als indirekt und wenig informativ charakterisiert. Indirekt, weil es der Normfigur bedarf, um die moralisch richtige Handlung identifizieren zu können; wenig informativ, weil kaum moralische Normen aufgeführt werden. 39 Das Fehlen von 38 39
174
Vgl. Aubenque (4 2004), S. 44. Vgl. McDowell (1996a), S. 23. Dass es sich beim letzteren Punkt um ein vorschnelles
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expliziten moralischen Handlungsregeln wird von Partikularisten als ein Beweis für einen ethischen Grundkonsens zwischen dem phronimos und seiner Umgebung angeführt. Nur vor diesem Hintergrund sei es nämlich nachvollziehbar, dass Aristoteles der Verweis auf die tugendhafte Person ausreiche. 40 Zur Unterstreichung dieser These führt McDowell folgende Textstelle in der Nikomachischen Ethik an: »Daher muss, wer für das Hören von Ausführungen über das Werthafte und Gerechte, allgemein über die Themen der politischen Untersuchung, geeignet sein will, bereits einen guten Charakter erworben haben.« (EN I 2, 1095b4 ff.)
Da das Auditorium nur aus wohlerzogenen und gereiften Menschen bestehe, müssten substantielle ethische Fragen nicht mehr erörtert werden. Der Konsens basiere auf einer geteilten Lebenswelt und bedürfe dementsprechend nicht der expliziten Ausführung. 41 McDowell bestreitet sogar die Annahme, dass es einen Standpunkt der externen Beurteilung gebe, unabhängig von Erziehung und Lebenswelt. 42 Aus diesem Grunde komme dem moralischen Entwicklungsprozess eine wichtige Rolle zu, denn im Zuge dessen lerne man die internen Konzeptionen des kalon 43 kennen. Erst derjenige, der eine moralische Erziehung aufweisen kann und mit den gesellschaftlichen Normen vertraut geworden ist, eigne sich zu ihrer Reflexion. Doch wie geht diese moralische Entwicklung vonstatten? Zwei Gedanken sind für McDowell wichtig: Durch Gewöhnung, durch das stetige Üben von tugendhaftem Handeln wird zum einen die konzeptionelle Fähigkeit zum Verständnis des kalon einstudiert, und zum anderen wird damit zugleich auch die moralische Motivation zur Befolgung dessen geformt. Während der erste Aspekt einen hinreichend intellektuellen Anteil auch in der Gewöhnung vertritt, zielt der zweite auf die Aufhebung der Kluft zwischen Erkenntnis und Streben. In dieser Auffassung ist impliziert, dass bereits der Erwerb der charakterlichen Tugenden eine Vorstellung
Urteil handelt, habe ich in Kapitel V.2.b nachgewiesen, wo zumindest für die Verbotsregeln eine materielle Ausbuchstabierung wie auch Ausnahmslosigkeit konzediert werden muss. 40 Vgl. McDowell (1995), S. 206 f. 41 Vgl. ebd. (1995), S. 207. 42 Vgl. ebd. (1995), S. 202. 43 Kalon (»the noble«) versteht McDowell als einen Sammelbegriff für die in einer Situation auftretende moralische Forderung, die sich in den Einzeltugenden unterschiedlich präsentieren kann. A
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vom guten Leben beinhaltet und nicht erst im Anschluss daran ausschließlich von der phronêsis bereitgestellt wird. McDowell verneint eine strikte Trennung zwischen charakterlichen Tugenden und den intellektuellen Tugenden. 44 So fasst er erstere als eine Vorform der phronêsis auf. Demnach ist jemand, der die charakterlichen Tugenden besitzt, bereits in der Lage, Handlungen als gut und kalos zu erkennen, und dementsprechend zu handeln. 45 Damit setzt sich McDowell über die Trennung der Seelenteile, die Aristoteles in EN I 13 vornimmt, hinweg. 46 Seine Argumentation ist gegen eine intellektualistische Interpretation der aristotelischen Ethik gerichtet, die dahingehend zu verstehen sei, dass der Inhalt eines durch die phronêsis anvisierten Zwecks grundsätzlich auch in einem Akt des puren Intellekts zu erkennen sei. 47 Dieser Stoßrichtung scheint ein verzerrtes Bild der Gegenposition zugrunde zu liegen, denn es sprechen gute Gründe für eine stärkere Gewichtung der phronêsis, ohne sogleich eine Art »Wesensschau« daraus abzuleiten. Obwohl McDowell die Separierung von charakterlichen und intellektuellen Tugenden aufzuheben sucht, manifestiert er sie, indem er die charakterlichen Tugenden letztlich als hinreichend für tugendhaftes Handeln klassifiziert und die phronêsis lediglich als eine Art »Luxusausführung« dessen einschätzt – sie stellt die verfeinertere Variante dar, ohne aber substantiell zum Verständnis des kalon beizutragen. Das Konzept, das McDowell in Bezug auf den moralischen Entwicklungsprozess vertritt, lässt die in diesem Kontext gewichtigere Unterscheidung zwischen natürlichen und »eigentlichen« Tugenden gänzlich außer Acht. Diese Differenzierung greift Aristoteles in EN VI 13 auf, wo er u. a. das Verhältnis von phronêsis und charakterlichen Tugenden erörtert. Zum Begriff der natürlichen Tugenden heißt es dort:
McDowell sieht in der Trennung eher eine Art der veranschaulichenden Erklärung. Siehe dazu folgende Aussage: »The division into excellences of character and intellectual excellences looks like a mere expository convenience.« McDowell (1996a), S. 27. 45 Mit dieser Auffassung begibt sich McDowell in die Nähe von Julius Walter und William Fortenbaugh, die den ethischen Tugenden die zentrale Rolle beim tugendhaften Handeln zudachten und die phronêsis als eine Fähigkeit zur Zweck-Mittel-Überlegung interpretierten. Letzteres lehnt McDowell ab, indem er auf die wichtige Rolle der aisthêsis im Kontext der phronêsis hinweist, dennoch ist eine starke Affinität bei der Betonung der ethischen Tugenden zu konstatieren. 46 Vgl. ebd., S. 27. 47 Vgl. McDowell (1996a), S. 19, S. 23. 44
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»Wenn man aber das Denken erwirbt, bedeutet das einen Unterschied für das Handeln, und die Disposition, die bisher der Tugend nur ähnlich war (hexis homoia ousa), wird dann eine Tugend im eigentlichen Sinn sein. Wie es beim meinenden Bestandteil [der Seele] zwei Arten gibt, die Geschicklichkeit und die Klugheit, so gibt es also auch im Bereich des Charakters zwei Arten, einerseits die natürliche Tugend (aretê physikê), andererseits die Tugend im eigentlichen Sinn (hê kuria), und von diesen beiden kommt die Tugend im eigentlichen Sinn nicht ohne Klugheit zustande (ou ginetai aneu phronêseôs).« (1144b12–17)
Wie aus dieser Passage ersichtlich wird, sind natürliche Tugenden eine Vorform charakterlicher Tugenden, die bereits vielversprechende Akte tugendgemäßen Verhaltens beinhalten können, doch es fehlt ihnen noch die nötige Stabilität und die präzise Ausrichtung, die sich erst im Zuge der phronêsis einstellen. Die Präsenz der phronêsis zieht die Demarkationslinie zwischen natürlichen und charakterlichen Tugenden. Darin ist die These von der Einheit der Tugenden impliziert, denn demnach kann es keine charakterlichen Tugenden ohne die phronêsis geben; im Begriff der charakterlichen Tugenden ist die phronêsis bereits immer enthalten. Dies lässt sich durch einen Blick auf den ›Tugendkatalog‹ der Bücher III 9- V noch besser verdeutlichen: Alle aufgeführten Tugenden stellen eine Anwendung der mesotês-Lehre dar, in der die phronêsis durch die Feststellung, dass sich die Mitte der Tugendhaftigkeit nach dem richtigen Urteil des phronimos bemisst, stets gegenwärtig ist. Selbst wenn sich die Beschreibung der Tugenden mit dem Ethos der polis deckt, stellen sie keine Ausbuchstabierung von Üblichkeiten dar. Die von McDowell angeführte geteilte Lebenswelt mag die Tugenden mit typischen Beispielen einfärben; die Bestimmung der Tugenden ist aber stets durch die mesotês-Lehre determiniert. Die nacheinander erfolgende Behandlung von charakterlichen und intellektuellen Tugenden suggeriert zwar, dass bereits vollständig tugendhaftes Handeln ohne phronêsis, die nicht explizit erwähnt wird, möglich ist. Dies ist jedoch ein Trugschluss, wenn man bedenkt, dass das argumentative Fundament des Tugendkatalogs in Buch II gelegt wird, wo die mesotês-Lehre eingeführt wird. 48 Aus diesem Grunde erweist sich die Position McDowells, die charakterlichen Tugenden als eine umfassende Vorfom der phronêsis zu verstehen und ihr dementsprechend keinen wichtigen Einfluss beim 48
Vgl. Sorabji (1980), S. 211. A
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tugendhaften Handeln einzuräumen, als nicht haltbar. Dies mindert zugleich den Einfluss der Lebenswelt, denn die moralische Entwicklung kann dann nicht ausschließlich auf die Formung von charakterlichen Tugenden beschränkt werden, sondern muss auch die intellektuelle Ausbildung der phronêsis integrieren.
b.
Interne Reflexion und Kritik
Eine gewisse Vernachlässigung des intellektuellen Moments bei Aristoteles lässt sich auch bei McDowells Interpretation des Verhältnisses von dem Wissen des »Dass« (hoti) und dem Wissen des »Warum« (dihoti) konstatieren. Die Relation dieser beiden Wissensformen ist insofern interessant, als ihr wichtige Informationen für das kritische Potential einer Gesellschaft zu entnehmen sind. Indem Partikularisten die Bedeutung der geteilten Lebenswelt unterstreichen und die moralische Entwicklung als ein »Vertrautwerden« mit ihr interpretieren, begeben sie sich in die Nähe des Kommunitarismus, der gewachsene, moralische Traditionen und lokale bzw. regionale Vorstellungen gegenüber einem Universalismus verteidigt. Martha Nussbaum wehrt sich allerdings gegen eine solche Assoziation, da sie die kontextsensitive Haltung des Partikularismus mit einem auf den Grundfähigkeiten des Menschen basierenden Universalismus für durchaus vereinbar hält. 49 Diese Diskussion greife ich im nächsten Kapitel auf, wenn es um die Normfigur als Vorbild geht; im Rahmen der partikularistischen Konzeption der Normfigur geht es mir zunächst in erster Linie um die Frage nach den Revisionsmöglichkeiten und um das Kritikpotential in einem Umfeld, für das externe Maßstäbe der Beurteilung nicht gelten (sollen) – so McDowell 50 . McDowell nimmt die Nähe zum Kommunitarismus zwar wahr, und bezieht auch indirekt Stellung, wenn er das Problem erörtert, ob das Urteil des phronimos bloß das Ergebnis einer speziellen sozialen Gruppenvorstellung sei. 51 Dennoch ist es auffällig, wie sehr er die Kommunitarismusdebatte in Bezug auf Aristoteles ignoriert, die sich bei seiner Argumentation geradezu aufdrängt. Offensichtlich geht es 49 50 51
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Vgl. dazu exemplarisch: Nussbaum (1999). Vgl. McDowell (1995), S. 202. Vgl. ebd., S. 212.
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ihm weniger um die Ablehnung eines universalen Geltungsraumes von Tugenden, als vielmehr um die Stärkung seiner These, dass der Ort ihrer Beurteilung innerhalb der entsprechenden Gesellschaft zu suchen ist. Insbesondere an folgender Textstelle entzündet sich die Frage, inwiefern eine (kritische) Außenperspektive möglich ist: »Denn Ausgangspunkt ist das Dass (hoti), und wenn uns dies hinreichend deutlich ist, wird nicht noch darüber hinaus das Warum (dihoti) erforderlich sein.« (EN I 2, 1095b6 f.)
Unter dem Wissen des »Dass« lässt sich faktisches Wissen verstehen, während das Wissen des »Warum« die Kenntnis des Grundes beinhaltet. Zwei mögliche Interpretationen vom Verhältnis zwischen hoti und dihoti stehen sich gegenüber: McDowell versteht unter dem Wissen des »Dass« das Verständnis von werthaften (kalos) Handlungen, wie es im Laufe der moralischen Entwicklung erlangt worden ist. Das Wissen des »Warum« unterscheidet sich kaum von dem des »Dass«; es spiegelt lediglich eine stärkere Reflexionsstufe wider. 52 Daher gibt es nach McDowell auch keine klaren Grenzen zwischen diesen beiden Wissensformen: Wer im Besitz des »Dass-Wissens« ist, ist es auch potentiell hinsichtlich des »Warum-Wissens«. Es gibt keinen epistemischen »Qualitätssprung«, allein die Durchdringung und Explizitheit ist auf dem Niveau des »Warum-Wissens« ausgeprägter. 53 Er beschreibt es folgendermaßen: »[…] moving beyond the ›that‹ to the ›because‹ is moving from unreflective satisfaction with piecemeal applications of the outlook to a concern with how they hang together, so that intelligibility accrues to the parts from their linkage into a whole.« 54
Was auf der Ebene des »Dass«-Wissens Stückwerk geblieben sei, füge sich beim »Warum«-Wissen zu einem kohärenten Zusammenhang. Myles Burnyeat hingegen möchte die beiden Wissensformen stärker separiert wissen, wenn er der Sphäre des hoti zwar eine Kenntnis von tugendhaften Handlungen zuweist, dem Bereich des dihoti aber ihr
Vgl. ebd., S. 218. Dort setzt McDowell das Wissen des »Warum« mit dem Besitz der phronêsis gleich: »[…] full-blown possession of the because, the intellectual virtue of practical wisdom, is no more than possession of the that in a reflectively adjusted form.« 53 Vgl. McDowell (1996a), S. 31. 54 Ebd. 52
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Die Normfigur als Moralischer Akteur
tatsächliches Verständnis überträgt. 55 Der Mensch, der das »Warum«Wissen besitzt, ist fähig, sich selbständig moralisch zu orientieren, während der Mensch des »Dass«-Wissens noch des Ratgebers, der Unterweisung bedarf. 56 Das Verhältnis der beiden Wissensformen ist für die Frage nach der Revisionsmöglichkeit insofern von Bedeutung, als das ›fließende‹, ineinander übergehende Verständnis von McDowell die Frage aufwirft, ob und woher eine Korrektur der akzeptierten Vorstellungen von tugendhaften Handlungen vorgenommen werden könnte. Das von McDowell behauptete Kontinuitätsverhältnis von hoti und dihoti hat schließlich zur Folge, dass sich kein Wechsel des Standpunktes beim Übergang vollziehen kann. 57 Aus diesem Grunde konstatiert er auch ein statisches Moment in der aristotelischen Ethik, das er aber nicht als »Dogmatismus« verstanden wissen will. So sieht er in der besseren Durchdringung des Inhalts vom »Dass«-Wissen auf der Stufe vom »Warum«-Wissen ein Pendant zum sokratischen Topos des geprüften Lebens. 58 Dennoch konzediert er, dass es keine Option für eine daraus resultierende substantielle Änderung des materiellen Gehalts des »Dass«-Wissens gibt: »There is no suggestion that an increase in reflectiveness and explicitness will alter the substance of the conception.« 59
Diese Aussage lässt einer kritischen Untersuchung im Grunde genommen keinen Raum; nichtsdestoweniger ist McDowell darum bemüht, einen Spielraum für eine potentielle Revision zu eröffnen, der »im Geiste der aristotelischen Ethik« 60 sei: Eine Veränderung ist demnach dann denkbar, wenn sich bestimmte Wahrnehmungen auf der Ebene von hoti als illusorisch erweisen, indem sie nicht in das kohärente Schema des dihoti passen. 61 Allerdings besteht McDowell darauf, diese Revision intern vorgenommen zu wissen; in diesem Kontext verweist Vgl. Burnyeat (1980), S. 71. Als eine solche Unterweisung schätzt Burnyeat die Ausführungen der Nikomachischen Ethik selbst ein. Das Auditorium besteht zwar aus wohlerzogenen Menschen, die in Besitz des Wissens von hoti sind; dennoch bedürfen sie, um vollends tugendhaft zu werden, des systematischen Verständnisses. Vgl. Burnyeat (1980), S. 71. 57 Vgl. McDowell (1995), S. 215. 58 Vgl. ebd., S. 212. 59 McDowell (1996a), S. 31. 60 Vgl. ebd. 61 Vgl. McDowell (1995), S. 214. 55 56
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er auf Neuraths Bild vom Seemann, der sein Schiff bei voller Fahrt repariert. 62 Dass Wahrnehmungen des hoti auf der Ebene von dihoti als illusorisch entlarvt werden können, überrascht nun allerdings, da sich auf diese Weise das »Warum«-Wissen doch nicht als eine bloße reflektiertere Variante des »Dass«-Wissens präsentiert.
c.
Die ›entnaturalisierte‹ Natur der Normfigur
Die vorhergehenden Abschnitte dieses Kapitels haben die zentrale Bedeutung der Lebenswelt und des moralischen Entwicklungsprozesses verdeutlicht, der sich laut McDowell durch die Gewöhnung an tugendhaftes Handeln vollzieht und sich in der Aneignung des hoti-Wissens ausdrückt. Der Fokus liegt auf den charakterlichen Tugenden, weil sie den wichtigen Part der Motivation innehaben; wenn der moralische Bildungsprozess abgeschlossen ist, drückt sich dies im optimalen Fall in einer Selbstverständlichkeit des tugendhaften Handelns aus, die McDowell als »zweite Natur« bezeichnet. 63 Die Vorstellung einer »zweiten Natur«, die McDowell in diesem Kontext bemüht, ist erklärungsbedürftig: Während die »erste Natur« physiologisch verstanden werden kann, und die angeborenen Anlagen eines Menschen umfasst, drückt sich im Begriff der »zweiten Natur« der durchlaufene Sozialisationsprozess aus, der im Erwerb des Logos im Sinne von konzeptioneller Kenntnis des kalon seinen Ausdruck findet. 64 Auf die aristotelische Ethik übertragen, entspricht die »zweite Natur« einer tugendhaften Verfassung, die im Kontext der polis eingeübt und stabilisiert worden ist. Der phronimos bzw. spoudaios stellt die perfekte Instantiierung der »zweiten Natur« dar, weshalb er als Kriterium für die Wahrheit des Erkannten fungieren kann. An anderer Stelle benutzt McDowell den deutschen Begriff der »Bildung« als synonym für die »zweite Natur«. 65 Daran wird ersichtlich, dass die Rede von einer »zweiten Natur« nicht als eine naturalistische Position verstanden werden darf, denn gegen diese spricht sich McDowell dezidiert 62 63 64 65
Vgl. McDowell (1998a), S. 36 ff. Vgl. McDowell (1998b), S. 188 f. Vgl. ebd., S. 183 f. Vgl. McDowell (1994), S. 84. A
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aus. Der Tugendhafte ist seiner Meinung nach nicht die ideale Verkörperung eines ›inneren Verwirklichungsprogramms‹, das in der menschlichen Natur teleologisch angelegt ist. 66 Er ist vielmehr das in seiner moralischen Qualität hervorragende Ergebnis eines kulturellen Sozialisationsprozesses. Die Absage an jegliche Teleologie innerhalb der menschlichen Natur provoziert zur Nachfrage bezüglich des ergonArguments. McDowell versteht das ergon-Argument als die unaufregende Ausbuchstabierung der These, dass das, was dem Menschen an besonderem Vermögen zukommt, zugleich das ist, was für ihn gut ist. 67 Aus diesem Grunde verbiete sich auch jeglicher Präskriptivismus – das Streben nach der eudaimonia lässt sich demnach nur indikativisch und nicht gerundivisch formulieren. 68 Ohne dass Martha Nussbaum den Ausdruck der »zweiten Natur« aufgreift, stimmt sie mit McDowell in ihrer Ablehnung einer teleologischen Interpretation des aristotelischen Naturbegriffs im Sinne eines metaphysisch-realistischen Essentialismus überein. 69 Allerdings unterscheidet sie sich insofern von McDowell, als sie den Naturbegriff als solchen für durchaus vielversprechend erklärt, indem sie ihn zur Basis eines eigenen Ansatzes, dem sog. Fähigkeitenansatz, macht.
d.
Die Normfigur als Kriterium
Der spoudaios/phronimos wird von Partikularisten als das Kriterium der moralisch richtigen Handlung angeführt. Er ist die letzte Autorität; sein Urteil bestimmt die moralisch richtige Handlung, schließlich ist das wahr, was ihm als wahr erscheint.70 Der Begriff des Kriteriums (kritêrion) ist als terminus technicus bei Aristoteles noch nicht festVgl.McDowell (1995), S. 208. Vgl. ebd. McDowell formuliert es folgendermaßen: »In any case, there is no warrant for taking talk of the ergon of a human being as an allusion to a general teleology. The notion of the ergon of an X is just the notion of what befits an X to do.« 68 Vgl. McDowell (1980), S. 359. Mit der Unterscheidung von »indikativisch« und »gerundivisch« lehnt sich McDowell an Anthony Kennys Sprachgebrauch an. Eine indikativische Formulierung des Strebens lautet: »eudaimonia is that for whose sake all action is undertaken«, während die gerundivische wie folgt heißt: »eudaimonia is that for whose sake all action ought to be undertaken«. (Die Unterstreichungen habe ich zur besseren Verdeutlichung vorgenommen). 69 Vgl. Müller, J. (2006b), S. 149. 70 Vgl. McDowell (1995), S. 202. 66 67
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zustellen, er gewinnt erst im Zuge der Stoa an systematischer Bedeutung. 71 Terminologisch gesehen erscheint es allerdings legitim, dieses Verständnis auf den Begriff der Richtschnur (kanôn) oder des Maßstabs (metron) auszuweiten, wie der spoudaios häufiger bezeichnet wird. Inwieweit es inhaltlich zulässig ist, bedarf noch der Diskussion. Fraglich ist nämlich, ob die Partikularisten die Normfigur als Kriterium im engeren Sinne oder womöglich vielmehr als eine Art Standard einordnen. Der Unterschied zwischen Kriterium und Standard ist im Verhältnis zur Wahrheit zu sehen: Während ein Kriterium die Wahrheit selbst bestimmt und festlegt, dient der Standard ihrer Bestimmung, oder anders formuliert: ein Kriterium koinzidiert mit der Wahrheit, ein Standard aber folgt ihr. 72 Angesichts der bisherigen Ergebnisse spricht viel dafür, das enge Verständnis, das vom Kriterium, bei den Partikularisten anzunehmen. Denn abgesehen von der Normfigur gibt es keinerlei normativen Aspekte in der partikularistischen Interpretation, die Ausdruck der in den Dingen erscheinenden Wahrheit sein könnten: Die phronêsis wird jeder Allgemeinheit enthoben und auf ein kontextsituatives Vermögen reduziert, das sich in der Form der aisthêsis äußert und die menschliche Natur wird von jeglicher Teleologie ›befreit‹. Martha Nussbaum beispielsweise betont wiederholt die kriteriologische Funktion der Normfigur für die richtige Entscheidung oder Urteil. 73 Wegen der Angemessenheit des Urteils hat es eine normative Bindungskraft auch für die Anderen. Aus der Verkörperung von Moralität wird zugleich eine ablehnende Haltung gegenüber moralischen Handlungsregeln abgeleitet; die Normfigur ist demnach per se bereits ein Indiz für eine partikularistische Lesart. Diese beiden Aspekte gehören in der Argumentation eng zusammen: Das adäquate Verständnis vom phronimos als Kriterium für die moralisch richtige Handlung kann – so z. B. McDowell – nur partikularistischer Natur sein.
Vgl. Borsche (1976), S. 1247. Borsche führt bei Aristoteles lediglich eine Textstelle in der Metaphysik (Metaph. IX 6, 1063a) an. In der Nikomachischen Ethik ist häufiger von der Tätigkeit des Urteilens, des Unterscheidens die Sprache. 72 Diese Unterscheidung zwischen Kriterium und Standard entnehme ich Hamlyn (1989), S. 94 f. 73 Vgl. Nussbaum (1986), S. 290; (1990), S. 62; (1994), S. 64. 71
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3.
Die Normfigur als Vorbild?
Die Rekonstruktion der partikularistischen Konzeption von der Normfigur hat gezeigt, dass die Sozialisation der Normfigur und ihre kriteriologische Funktion eine zentrale Bedeutung für die Partikularisten haben. Die Normfigur agiert in einer vertrauten Lebenswelt und fungiert als Kriterium für die moralisch richtige Handlung qua Wahrnehmung. Sie ist – epistemologisch gesehen – der Garant für moralische Objektivität. Innerhalb ihrer Umgebung besitzt sie aber auch Vorbildcharakter. Nancy Sherman spricht beispielsweise von einem »example«, einem »concrete paradigm«, an dem man sich zu orientieren hätte: »On the Aristotelian view, to learn about virtue and moral reasoning we need to turn to a concrete paradigm. There is no algorithm we can appeal to for general guidance, no procedure that formalizes our practice. In a certain palpable way, virtue is an embodied matter. Its subject matter is concrete particulars, its methods are those revealed in practice and exemplified in action.« 74
Das exemplarische Handeln der Normfigur soll demnach Orientierung geben können, wenn Regeln in der unzuverlässigen Sphäre des Praktischen nicht greifen. Diese Einordnung der Normfigur als Vorbild wirft die Frage auf, ob sich ihr Vorbildcharakter in der Repräsentanz herrschender Sittlichkeitsvorstellungen erschöpft oder ob die Normfigur auch darüber hinaus moralisch adäquat zu agieren weiß. Aristoteles’ Hinweis auf den phronimos, wenn es um das richtige Urteil über die angemessene Mitte geht, sowie seine Bezeichnung des spoudaios als »Richtschnur und Maß« (EN III 6, 1113a32 f.) wird von Partikularisten als ein heuristisches Verfahren gedeutet, das auf der Basis einer geteilten Lebenswelt funktioniert. Demnach kann Aristoteles auf die Konkretisierung seiner Ausführungen verzichten und es an zentralen Stellen bei dieser Anmerkung belassen, weil er gewiss sein kann, dass seine Zuhörer verstehen, von wem die Rede ist. Die Normfigur ist dieser Auffassung zufolge eine leibhaftige Person, die anderen als Vorbild dient. Ein solches Verständnis setzt die öffentliche Bekanntheit und Anerkennung der Normfigur voraus, so dass sie als eine Art paradigmatischer Verkörperung eines ethischen Grundkonsenses einzuordnen wäre. Leider schenken Partikularisten diesem Aspekt der 74
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Sherman (1997), S. 239 f.
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Normfigur – abgesehen von der Betonung einer geteilten Lebenswelt – wenig Aufmerksamkeit. Meiner Meinung nach sind aber der Frage nach dem Vorbildcharakter der Normfigur wichtige Erkenntnisse für ihr Verständnis zu entnehmen. Sollte sich nämlich herausstellen, dass die Normfigur als eine Art ›Musterexemplar‹ einer bestimmten Gesellschaft konzipiert ist und sich ihre Normativität in einer Vorbildfunktion erschöpft, wäre ein Generalismus mit seinem Anspruch auf Allgemeingültigkeit schlecht aufrecht zu erhalten. Es stellt sich daher die Frage, ob sich Aristoteles an einem bestimmten historischen Typus von Menschen orientiert hat und inwieweit seine Ethik kommunitaristische Züge trägt. Am Anfang soll Franz Dirlmeiers Einschätzung des spoudaios als »der vollendete Repräsentant edlen Lebens« 75 stehen, da sie in nuce eine Position beinhaltet, die gegenwärtig unter dem Stichwort ›Kommunitarismus‹ diskutiert wird. Dirlmeiers Übersetzung impliziert ein sehr aristokratisches Verständnis vom spoudaios, das durch seinen Kommentar noch zugespitzt wird, wo er die Konzeption des spoudaios auf die hellenistische Tradition zurückführt. Dort schreibt er: »[…] letzte Norm sind für Ar. in der NE die edelsten Traditionen seines Volkes. Aber das spricht er so nicht aus, es steckt höchstens in seiner Erhebung der Hellenen über die Barbaren, die er mit derselben ungebrochenen Sicherheit formuliert wie Eurip. […] oder Isoc. […]. Für die Frage, wieso die hellenischen Traditionen Allgemein-gültiges enthalten, hat er noch keine Distanz […].« 76
Seine Fokussierung auf die hellenistische Tradition hat viel Widerspruch geerntet; Pierre Aubenque beispielsweise konzediert zwar kulturelle Anleihen bei den ›Repräsentationsfiguren‹, doch die Normfigur weise eine viel konstantere Bedeutung auf, nämlich die der allgemeinen menschlichen Natur und nicht bloß die einer einzelnen ethnischen Gruppe. 77 Es stehen sich also eine traditionalistische, kulturell imprägnierte Interpretation und eine allgemeingültige, universale gegenüber. Dirlmeier (5 1969), S. 18. Ebd., S. 284. 77 Vgl. Aubenque (4 2004), S. 49. Günther Bien verweigert sich sogar einer Diskussion von Dirlmeiers Ausführungen mit Verweis auf dessen »völkerpsychologische Relativierung«: »Dirlmeiers völkerpsychologische Relativierung der Aristotelischen Antwort […] macht diese Antwort irrelevant für jeden, der an ihr zunächst als an einer sachlich begründeten und systematisch evtl. bedeutsamen Auskunft interessiert war.« Bien (1972), S. 360, FN 12. 75 76
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Diese Entgegensetzung hat seit den achtziger Jahren ihre Fortsetzung in der so genannten Kommunitarismus-Universalismus-Debatte gefunden. 78 Insbesondere Alasdair MacIntyre hat mit seinem Buch After Virtue eine wichtige Rolle in dieser Debatte gespielt; darin hat er eine Verwahrlosung der moralischen Sprache konstatiert, die infolge des Scheiterns der Aufklärung – dem Bemühen um eine rational gerechtfertigte Moral – eingetreten sei. 79 Als Ausweg aus dieser desaströsen Situation plädiert er für eine Rückbesinnung auf die Tugenden wie sie bei Aristoteles zu finden sind, denn das Scheitern der Moderne sei »nichts anderes als eine historische Folge der Zurückweisung der aristotelischen Tradition«. 80 Die Attraktivität des aristotelischen Ansatzes sieht er insbesondere in der gemeinschaftlich verfolgten Konzeption des Guten durch Bürger, die freundschaftlich miteinander verbunden sind. 81 Gegen diese Auffassung sprechen mehrere Punkte, die Christof Rapp konzise in einem Aufsatz vorgebracht hat, in dem er sich mit dem Ansatz von MacIntyre auseinandergesetzt hat. 82 So sei eine grundlegende Fehleinschätzung MacIntyres bei dem Anfangsmoment einer polis festzustellen. Er missachte nämlich den Unterschied zwischen Leben im Sinne von Überleben (zên) und dem guten Leben (eu zên), weshalb er das zunächst pragmatische Motiv bei der Gründung einer polis und die damit einhergehende Kooperation falsch einordne. 83 Außerdem identifiziere MacIntyre den guten, tugendhaften Menschen vorbehaltlos mit dem guten Bürger in der Politik. 84 Es könne zwar zu einer Koinzidenz der Tugend des vollkommenen Regenten und der Tugend des vollkommenen Mannes kommen, allerdings sei daraus noch keine unmittelbare Notwendigkeit der Identität beider Figuren zu fol-
Eine ausführliche Erörterung dieser Debatte mit besonderer Berücksichtigung der Positionen von MacIntyre und Nussbaum findet sich bei Gutschker (2002), S. 349–465. 79 Vgl. MacIntyre (2 1997), S. 74. 80 Ebd., S. 160. 81 Vgl. ebd. S. 203, 209. 82 Vgl. Rapp (1997). 83 Vgl. ebd., S. 63. In diesem Kontext sei auf folgende Textstelle in der Politik verwiesen: »Endlich ist die aus mehreren Dörfern bestehende vollkommene Gemeinschaft der Staat. Er hat gewissermaßen die Grenze der vollendeten Autarkie erreicht, zunächst um des bloßen Lebens willen entstanden, dann aber um des vollkommenen Lebens willen bestehend (ginomenê men tou zên heneken, ousa de tou eu zên).« (Pol. I 2, 1252b27–30). 84 Vgl. ebd., S. 66. 78
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gern. 85 Auch MacIntyres Verständnis von der Relation der Bürger zueinander sei von einem Missverständnis geprägt; so verwechsele MacIntyre die Nutzenfreundschaft mit der Tugendfreundschaft. 86 Die Position MacIntyres ist in ihrer kulturpessimistischen und modernitätsfeindlichen Manier eine sehr zugespitzte Formulierung des kommunitaristischen Anliegens. Doch auch in weitaus moderateren Tönen wird die Meinung, dass Aristoteles eine lokal oder auf eine soziale Gruppe begrenzte Moral vertreten habe, geäußert. Peter Simpson beispielsweise bezeichnet sie als »Gentlemanly Ethics« 87 , da allein die Meinung der Aristokraten ausschlaggebend sei. Wolfgang Kersting wiederum geht davon aus, dass die Normfigur in vorbildlicher Weise das vorherrschende Ethos repräsentiere. 88 In dieser Sichtweise ist ein besonderes Verständnis impliziert, nämlich dass die in der Nikomachischen Ethik beschriebenen Tugenden Ausdruck des Sittlichkeitsverständnisses der athenischen polis zu einer bestimmten Zeit seien. Allerdings ist es dann nicht nachzuvollziehen, warum Aristoteles manche Tugenden nicht zu benennen weiß. Das Beispiel der Tugend, die sich auf Ehrungen im kleineren Maßstab (im Vergleich zur megalopsychia) bezieht, weist vielmehr auf eine Traditionsungebundenheit hin. 89 Außerdem wird die von Kersting vorgebrachte Position dem argumentativen Aufbau der Nikomachischen Ethik nicht gerecht: Die ethischen Tugenden werden nach Einführung der mesotês-Lehre erörtert und deren Darstellung orientieren sich strikt an ihr. Die Ausführungen der Tugenden mögen durchaus kontextsensitive Passagen enthalten, doch deren Fundament verdankt sich der Konzeption von der Lehre von der Mitte, die darüber hinaus auch noch eine Situationsrelativität beinhaltet, die durch die dargestellten Tugenden gar nicht vollends eingeholt werden kann. Diese kontextsensitiven Passagen hängen auch damit zuMit dieser Unterscheidung setzt sich Develin genauer auseinander. Siehe Develin (1973). 86 Vgl. ebd., S. 72. 87 Simpson (2001), S. 99. 88 Vgl. Kersting (2005), S. 37. Konkret heißt es bei ihm zur Normfigur: »in ihm verdichten sich die Sittlichkeitsüberzeugungen seines Gemeinwesens auf vorbildliche Art«. 89 Vgl. Horn (1998), S. 123. In EN IV 10 äußert sich Aristoteles ausführlich zu der »Namenlosigkeit« dieser Tugend: »Da die mittlere Disposition keinen Namen hat (anônymou d’ousês tês mesotêtos), scheinen sich die Extreme um ihren Platz zu streiten, als sei er leer. […] Also lobt man diese Disposition, die die namenlose mittlere Disposition im Bereich der Ehre ist. […] Doch in diesem Fall scheinen nur die Extreme einander entgegengesetzt, weil das Mittlere keinen Namen hat.« (1125b17–21). 85
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sammen, dass sich der Tugenderwerb nur in einem Gemeinwesen vollziehen kann. Dieser partikulare Tugenderwerb ist aber nicht als eine Stellungnahme für eine partikulare Begrifflichkeit oder Rechtfertigung zu verstehen, wie etwa Höffe ausführt.90 Stattdessen sieht Höffe in dem Verzicht auf letztere den Grund, warum die Ethik des Aristoteles nach wie vor anregend und diskursfähig ist. 91 Von dem kommunitaristischen Fokus auf das Ethos einer Gemeinschaft bleiben ferner individuelle und universale Aspekte der aristotelischen Ethik unbeachtet. Wie sich noch im Rahmen der nachfolgenden Charakterstudie herausstellen wird, ist die Selbstliebe der Normfigur das Paradigma für Freundschaft. Die freundschaftliche Bande ist daher aus dem Selbstverhältnis und der Selbstliebe des spoudaios abgeleitet und nicht umgekehrt. Der zentrale universale Aspekt wiederum, mit dem ich mich im letzten Kapitel ausführlich beschäftigen werde, ist der der menschlichen Natur, die im ergon-tou-anthrôpou-Argument eine tragende Rolle spielt. Was den Rückgriff auf eine Universalität begründende menschliche Natur betrifft, nimmt Martha Nussbaum eine bemerkenswerte Position ein, indem sie sich dezidiert für eine Vereinbarkeit von Partikularismus und Universalismus ausspricht. 92 Diese Haltung verdankt sich insbesondere ihrer spezifischen Interpretation von menschlicher Natur, die sie zu einem eigenen systematischen Ansatz, dem so genannten Capabilities-Ansatz ausgearbeitet hat. 93 Aus der vorhergehenden kritischen Diskussion einer kommunitaristischen Position ist allerdings nicht der Schluss zu ziehen, dass die Konzeption der Normfigur auf eine Existenz außerhalb des Gemeinwesens und der Öffentlichkeit ausgerichtet sei. Ein solches Verständnis klingt bei Rudolf Schottlaender an, der eine Festlegung des spoudaios auf eine staatsmännische Aktivität bezweifelt. 94 Er spitzt diese Auffassung noch zu, indem er sogar eine ›Außenseiterrolle‹ für den spoudaios für möglich erachtet, da sein Urteil von der allzu lustbetonten Menge schnell abweiche. 95 Er weist damit zu Recht daraufhin, dass sich die Normfigur von der Menge, den polloi unterscheide, doch daraus ist Vgl. Höffe (1998), S. 56 f. Vgl. Höffe (2003), S. 125. 92 Diese Position vertritt sie am pointiertesten in: Nussbaum (1999). 93 Eine präzise Darstellung und gute Diskussion dieses Ansatzes findet sich bei Müller, J. (2006b), IV.5. 94 Vgl. Schottlaender (1980), S. 386. 95 Vgl. ebd., S. 388. 90 91
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noch keine Information über die tatsächliche politische Stellung der Normfigur abzuleiten, da diese von der jeweiligen Verfassung abhängig zu machen wäre. Angesichts der diskutierten Gegenargumente spricht viel dafür, Aristoteles zwar Kontextsensitivität zuzusprechen, ohne dass diese aber als ein Indiz für eine kommunitaristische Auslegung verstanden werden muss. Auch das Ergebnis der Ausführungen zur Billigkeit (epieikeia) der Normfigur unterstützt diese Lesart: Die Normfigur hat sich als vertraut mit den Gesetzen erwiesen; gleichzeitig besitzt sie aber die darüber hinausgehende seltene Begabung das Gesetz ›im Geiste fortzuschreiben‹, was von einer eigenen moralischen Souveränität zeugt. 96 Es stellt sich allerdings die Frage, wie dann beispielsweise mit Textstellen umzugehen ist, die die Normfigur als ein Vorbild einordnen: »Was die Klugheit ist, können wir erfassen, indem wir schauen, welche Menschen wir klug nennen.« (EN VI 5, 1140a24 f.). Insbesondere die Ausführungen zum phronimos in Buch VI legen nahe, dass Aristoteles die Orientierung an öffentlich agierenden Männern vorgeschwebt hat. So ist in VI 5 explizit von »Perikles und Menschen seiner Art« die Rede. Die Nennung von Perikles erfolgt zum ersten und einzigen Mal in einer der ethischen Schriften des Aristoteles; im Protreptikos und in der Eudemischen Ethik gelten noch Anaxagoras und Pythagoras als phronimoi im weiteren Sinne. 97 Anaxagoras wird in der Nikomachischen Ethik hingegen als ein sophos bezeichnet (wie auch Thales) – die stärkere Unterscheidung zwischen phronêsis und sophia in der Nikomachischen Ethik spiegelt sich offenbar in einer Neujustierung der Repräsentanten wider. Mit der Erwähnung von Perikles hält laut Aubenque die genuin politische Erfahrung Einzug in die Moral. 98 Für diese Einschätzung spricht m. E. auch der enge Zusammenhang von phronêsis und Staatskunst, der vor allem in Buch VI, Kapitel 8 dargestellt wird; in diesem Kontext wird die phronêsis als euboulia charakterisiert. In der euboulia als Beratschlagung ist der öffentliche Raum bereits impliziert. Die Bedeutungsvielfalt von phronêsis als praktischer Wahrheit und aisthêsis wird durch diese Fokussierung auf die euboulia allerdings eingeschränkt. Daher scheint es mir legitim zu 96 97 98
Vgl. ausführlicher dazu die Diskussion zur epieikeia in Kapitel V.3. Vgl. Aubenque (4 2004), S. 51 f.; Walzer (1929), S. 190. Vgl. Aubenque (4 2004), S. 55. A
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sein, in der expliziten Nennung von »Perikles und Menschen seiner Art« ein Mittel der Veranschaulichung zu vermuten, das in erster Linie didaktischen Gründen zu verdanken ist. Es ist denkbar, dass die konkreten Nennungen von Perikles, Anaxagoras und Thales in Buch VI der stärkeren Abgrenzung der phronêsis zur sophia dienen sollen, indem die Kontrastierung durch die Personifizierungen deutlicher hervortreten soll. Für diese Sichtweise würde auch sprechen, dass Aristoteles im Kontext des praktischen Könnens ebenfalls zur Personifizierung greift, vgl. EN VI 7, 1141a10. So kann zusammengefasst werden: Auch wenn Aristoteles in seinen Schriften an einigen Stellen zum Mittel der Exemplifizierung greift, muss dies noch nicht so ausgelegt werden, dass die Normfigur als ein Vorbild im Sinne der Repräsentation des herrschenden Ethos zu verstehen ist. Denn bis auf diese eine Stelle in EN VI 5 verzichtet Aristoteles auf jegliche namentliche Nennung eines phronimos; der spoudaios wird sogar überhaupt nicht mit einer historischen Person in Verbindung gebracht.
4.
Eine Charakterstudie
Die Vorbehalte gegenüber einer allzu starken Betonung der Vorbildfunktion der Normfigur habe ich im vorigen Kapitel deutlich gemacht. Wenn die Normfigur aber nicht (ausschließlich) als ein Vorbild zu interpretieren ist, welche Optionen des Verständnisses bleiben dann noch? Handelt es sich bei der Normfigur womöglich um ein Ideal, um ein normatives Ideal? Als ein solches betrachtet ihn David Glidden, der den phronimos 99 ein »imaginery ideal« bzw. »moral fiction« nennt. 100 Für diese Sichtweise spricht, dass Aristoteles die Schwierigkeit des tugendhaften Handelns anführt (vgl. EN II 5, 1106b31 ff.) und eine Korrelation zwischen Schwierigkeitsgrad und Seltenheit sieht: In EN II 9 heißt es: »Hierin liegt auch der Grund, warum es eine schwierige Aufgabe ist, gut zu sein. Denn in jedem einzelnen Fall ist das Finden der
99 Aufgrund der bewiesenen Identität von spoudaios und phronimos werde ich weiterhin nur die Bezeichnung spoudaios wählen, selbst wenn sich die Äußerungen in der Literatur auf den phronimos beziehen. Nur wenn die von mir abweichende Meinung der Nicht-Identität vertreten wird, nehme ich die Unterscheidung auf. 100 Glidden (1995), S. 106.
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Eine Charakterstudie
Mitte eine schwierige Aufgabe. […] Gutes Handeln ist daher selten, lobenswert und edel.« (1109a24 f./1109a29 f.). Allerdings ist aus der Seltenheit noch nicht die prinzipielle Unmöglichkeit der Realisierung abzuleiten. Auch würde eine fiktive Normfigur Aristoteles’ eigenem Anspruch diametral entgegenstehen, nicht nur einen Entwurf für die praktische Sphäre vorzulegen, sondern auch einen praktikablen, für den Menschen erreichbaren und umsetzbaren. Die Vorstellung von der Normfigur als einem fiktiven Ideal ist aus diesem Grunde nicht plausibel. Die Frage nach dem adäquaten Verständnis der Normfigur jenseits allzu pointierter Vorbildethik auf der einen Seite und Idealisierung auf der anderen Seite ist nach wie vor offen. Mir scheint es vielversprechend zu sein, nochmals zu den zentralen Textstellen zurückzukehren, die den spoudaios/phronimos zur Norm erklären. Dies möchte ich in Form einer »Charakterstudie« des spoudaios tun, da seine Eigenschaften wertvolle Informationen enthalten könnten. Ich konzentriere mich dabei auf den spoudaios, da der phronimos im Rahmen der phronêsis hinreichend behandelt worden ist. Über die gesamte Nikomachische Ethik verteilt finden sich Textstellen zum spoudaios. Anders als die ›klassischen‹ Tugendfiguren oder Attributsfiguren besitzt der spoudaios nicht eine exemplarische Eigenschaft. Stattdessen werden ihm mehrere Eigenschaften zugewiesen, die von großer Bedeutung sind. Erst vor ihrem Hintergrund wird nämlich ersichtlich, warum der spoudaios als »Richtschnur und Maß« (EN III 6, 1113a32 f.) bezeichnet wird. Als seine Eigenschaften sind zu nennen: Lust an der Tugend, richtige Urteilskraft, Bewusstheit und Willentlichkeit beim sittlichen Handeln, Freundschaftsbegabung, Selbstliebe und Lebensbejahung. Insbesondere die ungetäuschte Lust sowie seine Selbstliebe und Freundschaftsumgebung stechen heraus, weshalb ich sie im Folgenden ausführlicher erörtere.
a.
Die Lust im Leben des spoudaios
Der spoudaios, der als Normfigur über ethische Vortrefflichkeit verfügt, zeichnet sich vor allem durch seine Fähigkeit aus, das richtige Urteil in Bezug auf das Werthafte und die Lust zu fällen. »Richtig« heißt in diesem Kontext »wahr«, was an mehreren Stellen der Nikomachischen Ethik unterstrichen wird (III 6, 1113a25 ff./vgl. auch I 9, A
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1099a7–26/X 5 1176a10–19). Dieses Urteil fällt er aber nicht aus einem supra-hedonistischen Blickwinkel, sondern aus einer Perspektive der Vertrautheit mit Lust. Lust ist nämlich integraler Bestandteil im Leben eines spoudaios, mehr noch: Sein Leben ist nach Aristoteles sogar lustvoller als das der anderen Menschen (EN VII 14, 1154a5 ff.). Im Folgenden möchte ich dieser Aussage auf den Grund gehen, indem ich untersuche, worin die genuine Lust des spoudaios besteht. Die Bemerkung vom lustvolleren Leben legt einen Hedonismus nahe, dem zufolge die Lust das (einzig) Gute sei. Auch der Vergleich weist prima facie auf eine Kommensurabilität von Lust hin, die typisch für hedonistische Konzeptionen ist. Indem ich zunächst das Verhältnis von dem Guten und der Lust bei Aristoteles einer Analyse unterziehe und mich anschließend dem impliziten Wahrheitsbezug in der Lust des spoudaios zuwende, möchte ich diesen Eindruck korrigieren und zugleich seine eigentümliche Souveränität im Umgang mit Lust spezifizieren. An mehreren Stellen der Nikomachischen Ethik erörtert Aristoteles das Verhältnis zwischen dem Guten und der Lust, welches er vor dem Hintergrund der spezifischeren Frage diskutiert, in welcher Beziehung das höchste Gut, die eudaimonia, und Lust zueinander stehen. Am ausführlichsten geht er auf diese Relation in EN X 2 ein, wenn er die Ansicht des Eudoxos von Knidos diskutiert, der die Lust als das höchste Gut ansieht. 101 Dem widerspricht Aristoteles – wie schon Platon – mit dem Argument, dass die Lust nicht das höchste Gut sein könne, wenn sie andere Güter vergrößere, wie Eudoxos annehme. In dem Fall wäre sie nämlich als ein Gut unter mehreren einzuordnen, was der herausragenden Stellung des höchsten Guts zuwiderlaufe. Obwohl Aristoteles der Lust den Status des höchsten Guts verweigert, misst er ihr dennoch viel Bedeutung bei, indem er prüft, ob denn die eudaimonia nicht auch Lust sei. In I 9 bejaht Aristoteles dieses ausdrücklich, wo er – abweichend von der Inschrift zu Delos – für eine Koinzidenz des Besten, Schönsten und Lustvollsten in Form der eudaimonia argumentiert. Für welche Lust dies jedoch zutrifft, muss noch näher bestimmt werden, denn die Lüste sind der Art (tô eidei) nach verschieden (X 2, 1173b28). Diese These der Artverschiedenheit der Lüste ist letztlich der Grund, Aristoteles nicht als einen (klassischen) Hedonisten einzu101 Eine ausführlichere Darstellung und Diskussion der Argumentation des Eudoxos findet sich u. a. in: Horn (1998).
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ordnen, denn damit ist ein hedonistischer Kalkül im Sinne eines Mengenvergleichs nicht möglich. 102 Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Die Lust beim Lesen eines Nabokov-Romans kann nicht mit der Lust beim Essen eines guten Pastagerichts verglichen werden, da es an einer gemeinsamen Maßeinheit fehlt. Weder Gesichtsausdruck noch Pulsschlag etc. wären geeignete Parameter für einen Vergleich, denn die beiden Tätigkeiten des Lesens und Essens unterscheiden sich fundamental voneinander, was sich auf den Modus der Lustempfindung auswirkt. Hier ist eine aristotelische Position bereits angeklungen: Die Artverschiedenheit der Lüste hängt damit zusammen, dass auch zwischen Tätigkeiten (energeiai) verschiedener Art differenziert werden muss (X 5, 1175a25 ff.). Neben der Verschiedenheit der Tätigkeiten ist für die der Lüste noch die Beschaffenheit ihres Ursprungs ein weiterer Grund für die Unterscheidung (X 2, 1173b28 f.); Lust, die einer guten und schönen Quelle wie der Freundschaft oder Liebe entspringt, hat nichts gemeinsam mit Lust, die einen schlechten und verwerflichen Ursprung hat wie etwa eine Gewalttat. Wenn aber wegen der Artverschiedenheit der Lüste ein quantitativer Vergleich nach einer bestimmten Mengeneinheit ausgeschlossen ist, muss die Verwendung des Komparativs in Bezug auf Lust irritieren. Wie kann dann noch von einem »lustvolleren« (VII 14, 1154a5 ff.) Leben die Rede sein? Welche Art von Maßstab setzt Aristoteles für seine Behauptung voraus, dass das Leben des spoudaios lustvoller sei? Nun hat die Artverschiedenheit einen quantitativen Vergleich verhindert; eine Gegenüberstellung nach Qualität der Lust respektive ihrer Tätigkeit im Verhältnis zu einem objektiven Maßstab ist aber keineswegs ausgeschlossen. Aristoteles bedient sich mehrerer Abgrenzungen, um seine Position zu erläutern. So nimmt er eine Trennung zwischen notwendigen Dingen und an sich wählenswerten Dingen vor, die beide Lust bewirken können (VII 6, 1147b24–31). Notwendig sind diejenigen Sachen, die mit der Erhaltung zu tun haben – sei es der Selbsterhaltung (Essen und Trinken), sei es der Arterhaltung (Sexualität). Zu den an sich wählenswerten Gegenständen hingegen gehören äußere Güter wie Ehre, Sieg, Reichtum. Diesen beiden Klassen von lustbewirkenden Dingen ist gemeinsam, dass die mit ihnen verbundenen Lüste auch übertrieben ausgelebt werden können. Das Übermaß an körperlicher Lust wäre als 102
Vgl. Gonzalez (1991), S. 141. A
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Unmäßigkeit zu kritisieren, während es bei den an sich wünschenswerten Gegenständen als eine Unbeherrschtheit »mit einem Zusatz« zu tadeln wäre. Im Unterschied dazu gibt es auch Lüste, die kein Übermaß kennen wie die des Denkens, des Sehens, des Lernens – dies sind Lüste von Natur (hêdonai physei), denen akzidentielle Lüste (hêdonai kata symbebêkos) gegenübergestellt sind (VII 15, 1154b15 ff.). Die Vermutung liegt nahe, die Lüste von Natur mit den notwendigen Lüsten, die Ausdruck von natürlichen Bedürfnissen sind, gleichzusetzen. Dies wäre allerdings ein Fehlschluss, denn wenn im Kontext der Lüste von Natur die Rede ist, dann liegt dem nicht ein biologischer, sondern ein normativer Naturbegriff zugrunde. 103 Akzidentielle Lüste, die er von den Lüsten von Natur aus unterschieden hat, beschreibt Aristoteles auf zweierlei Weisen: 1) akzidentielle Lust als Aufhebung eines Mangelzustands (VII 13, 1152b33– 1153a2) und 2) akzidentielle Lust als Heilmittel (VII 15, 1154b17 f.). Was beide Darstellungen gemeinsam haben, ist die Betonung der Differenz zum optimalen, ausgeglichenen Zustand der Fülle, der Genügsamkeit und Gesundheit, deren Nivellierung Lust bereitet. Akzidentielle Lust ist folglich eine Empfindung, die sich bei einer Aktivität einstellt, die eine gute, begehrenswerte Verfassung zum Ziel hat. Ein vieldiskutiertes Problem im Kontext der Lust besteht darin, dass von ihr in Buch VII ausgesagt wird: »vielmehr muss man sie die Tätigkeit der naturgemäßen Disposition nennen, und statt ›wahrnehmbar‹ soll man sagen ›unbehindert‹« (alla mallon lekteon energeian tês kata physin hexeôs, anti de tou aisthêtên anempodiston, EN VII 13, 1153a14 f.), während es in Buch X heißt, dass sie das ist »was die Tätigkeit vollkommen macht« (teleioi de tên energeian hê hêdonê, EN X 4, 1174b23). Viele Autoren stimmen aber letztlich darin überein, beide Definitionen für miteinander vereinbar zu halten. Owen beispielsweise ist der Meinung, dass Buch VII und Buch X Antworten auf zwei unterschiedliche Fragen zur Lust präsentieren, so dass die darin entwickelten Theorien zur Lust nicht identisch seien, ohne aber inkompatibel zu sein. 104 Ähnlich argumentiert auch Pakaluk, indem er darauf hinweist, dass Buch VII eher eine objektive Definition von Lust bereitstelle, während Buch X vielmehr erkläre, wie Lust als Phänomen
103 104
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Vgl. Szaif (2004), S. 81. Vgl. Owen (1972), S. 136.
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funktioniere. 105 Annas wiederum betont, dass es beiden Modellen gemeinsam sei, dass sich der moralische Wert der Lust danach bemesse, welcher Art die Aktivitäten seien. 106 Bostock konzediert ebenfalls die Kompatibilität, indem er eher terminologische Schwankungen als eine substantielle Veränderung des Inhalts für die abweichenden Versionen von Buch VII und Buch X verantwortlich macht. 107 Auch ich sehe in den zwei Definitionen keine einander ausschließenden Bestimmungen von Lust: Beide haben schließlich gemeinsam, dass sie die Lust von Natur aus von akzidentieller Lust bzw. körperlicher Lust unterscheiden, wobei in beiden Büchern die Höherrangigkeit der Lust von Natur aus konstatiert wird. Das Stichwort der Höherrangigkeit der natürlichen Lust möchte ich aufgreifen, um wieder eine Brücke zur qualitativen Unterscheidung der Lüste zu schlagen: Die Bewertung von Lüsten hängt auch davon ab, ob sie reine Lust bereiten (natürliche Lüste = Lüste von Natur aus) oder ob sie von (punktueller) Unlust begleitet sein können (akzidentielle Lüste) oder ob sie auch lasterhaft sein können (notwendige Lüste). Wenn man sich nun vor Augen führt, dass der spoudaios in I 9 als derjenige gilt, der richtig über die Handlungen der Tugend urteilt, die lustvoll/erfreulich und zugleich gut und werthaft sind (EN I 9, 1099a21 ff.), und dies der Fall ist, weil denen, »die das Werthafte lieben, das angenehm ist, was von Natur aus angenehm ist (ta physei hêdea); so beschaffen aber sind die Handlungen der Tugend« (EN I 9, 1099a13 f.), dann überrascht die Parallelisierung dessen, was schlechthin gut (agathon haplôs) ist und was schlechthin lustvoll (hêdonê haplôs) ist, durch Aristoteles nicht. Explizit ist das folgender Textstelle der Eudemischen Ethik zu entnehmen: »Und dieselben Dinge sind Güter schlechthin und sind lustvoll schlechthin.« (EE VII 2, 1235b32; parallel: EN IX 9, 1170a13–16). Als Konsequenz der Identifikation von gut schlechthin und lustvoll schlechthin ist zu folgern, dass der spoudaios auch hinsichtlich der Lust als Richtschnur zu betrachten ist. 108 Als Ergebnis ist folgendes festzuhalten: Wenn das Leben des spoudaios lustvoller als das anderer Menschen eingeschätzt wird, dann des105 106 107 108
Vgl. Pakaluk (2005), S. 309. Vgl. Annas (1980), S. 288. Vgl. Bostock (1988), S. 251. Vgl. Gottlieb (1993), S. 35. A
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Die Normfigur als Moralischer Akteur
wegen, weil die natürlichen Lüste bei ihm die höchste Priorität genießen, während er den anderen nicht mehr als angemessen Bedeutung zumisst. 109
b.
Der Wahrheitsbezug im Urteil der Normfigur
Aristoteles bewertet das Leben des spoudaios als lustvoller, da es in erster Linie an den natürlichen Lüsten ausgerichtet ist. Bislang ist aber noch offen geblieben, woher sich der Wahrheitsbezug seines Urteils speist. Folgende Textstelle mag zur Klärung hilfreich sein: »[…], muss man dann sagen, dass überhaupt (haplôs) und in Wahrheit (kat’alêtheian) Gegenstand des Wünschens ein Gut ist, für den einzelnen Menschen aber das, was ihm als ein Gut erscheint? Für den guten Menschen (spoudaios) wäre es dann das, was in Wahrheit Gegenstand des Wünschens ist, für den Schlechten etwas Beliebiges, ebenso wie im physischen Bereich für Körper in guter Verfassung diejenigen Dinge gesund sind, die wahrhaft gesund sind, für die kranken Körper aber andere Dinge […]. Der Gute (spoudaios) beurteilt jedes Einzelne richtig, und in allen Einzelsituationen zeigt sich ihm, was wahr ist. Jede Disposition hat nämlich ihren eigenen Bereich des Werthaften und Angenehmen, und der Gute zeichnet sich vielleicht am meisten dadurch aus, dass er in allen Einzelfällen die Wahrheit sieht, indem er gewissermaßen Richtschnur (kanôn) und Maß (metron) dafür ist.« (EN III 6, 1113a23–33/vgl. auch EN I 9, 1099a7–26/EN X 5, 1176a10–19).
Dieser längeren Passage sind wichtige Hinweise zum spoudaios zu entnehmen: 1) Das Gut, das ihm als Gegenstand des Wünschens erscheint, ist tatsächlich ein Gut. 2) Seine gute ethische Verfassung ist der Grund für diese Koinzidenz. 3) Die Übereinstimmung garantiert den Wahrheitsanspruch in seiner Wahrnehmung, deshalb fungiert er als Richtschnur und Maß. Die dritte These fügt den ersten beiden nichts Substantielles hinzu, weshalb ich mich auf diese beiden im Folgenden konzentriere. Die Unterscheidung zwischen dem wahrhaft Guten und dem scheinbar Guten steht in einem engen Zusammenhang mit der medizinischen Gegenüberstellung vom gesunden und kranken Menschen. Die Analogie vom gesunden und kranken Menschen und dem spoudaios und anderen Menschen bemüht Aristoteles noch häufiger, um seine Spezifität 109
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Vgl. Annas (1980), S. 286.
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herauszustellen (vgl. EN X 5, 1176a13–16). Offensichtlich wird der spoudaios mit dem gesunden Menschen verglichen, dessen Gesundheit die Übereinstimmung von Sinneswahrnehmung und Beschaffenheit ihrer Objekte garantiert. 110 Auf die Ethik übertragen bedeutet dies, dass bei ihm die Diskrepanz zwischen dem Guten schlechthin und dem scheinbar Guten wegen seiner ethisch vortrefflichen Verfassung aufgehoben ist. 111 Diese Analogie ist allerdings nicht unproblematisch: Wie Lloyd richtig bemerkt, ist es einfacher, gesund und krank durch Entgegensetzung zu unterscheiden, als gut und schlecht – die Gruppe der nicht-schlechten und damit prima facie guten Menschen ist nämlich erheblich größer als die Sonderstellung des spoudaios es zulässt. 112 Ihr könne man nur gerecht werden, wenn man in dem spoudaios einen idealen moralischen Standard verkörpert sieht (und nicht ›bloß‹ moralische Güte), der in Aristoteles’ Konzeption der (menschlichen) Natur begründet liegt. 113 Das Wort »schlechthin« (haplôs), mit dem der gewünschte Gegenstand des spoudaios versehen wird, verrät einen Wahrheitsanspruch und Allgemeingültigkeit. Das schlechthin Gute (agathon haplôs) wird in III 6 mit dem »anscheinend Guten« (agathon phainomenon) kontrastiert. Die Lust der anderen Menschen ist auf das »anscheinend Gute« (phainomenon agathon) gerichtet; wegen ihrer »Verderbtheit« tut sich aber eine Kluft zum schlechthin Guten auf. So steht bei der Menge (hoi polloi) das Lustgewährende im Widerspruch; sie ist in unangemessener Weise der sinnlich-körperlichen Lust zugetan, was Aristoteles zu den harten Worten verleitet, dass sie »dem Leben des Viehs« den Vorzug gebe (EN I 3, 1095b19 f.). Wenn also von dem widersprüchlichen Lustgewährenden der Menge die Rede ist, ist damit eine falsche, der spezifischen Natur des Menschen unangemessene Güterordnung zu verstehen. Eine ethisch schlechte Verfassung hat demnach auch epistemische Konsequenzen: Sie offenbart sich in der Täuschung über die richtige Hierarchie von Gütern. 114 110 Joachim bezeichnet den spoudaios in seinem Kommentar zur Nikomachischen Ethik explizit als den ›moralisch gesunden Menschen‹ : »Just as the sweet ist hat which tastes sweet to the healthy palate, so the good ist hat which satifies, and is desired by, the spoudaios, the morally healthy man.« Joachim (1951), S. 104. 111 Vgl. Aubenque (4 2004), S. 46. 112 Vgl. Lloyd (1968), S. 78 f. 113 Vgl. auch Joachim (1951), S. 104. 114 Vgl. Ricken (1976), S. 98 f.
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Die Normfigur als Moralischer Akteur
Aristoteles muss das Täuschungspotential des Menschen als sehr hoch eingeschätzt haben, denn wiederholt warnt er davor, sich von der Lust ›bestechen‹ zu lassen. Aus diesem Grunde besteht die moralische Erziehung zunächst darin, Souveränität im Umgang mit der Lust/ Unlust zu erlangen. Wegen ihrer starken motivationalen Kraft sind Lust/Unlust die ›Angelpunkte‹ seiner Theorie, so dass Friedo Ricken zuzustimmen ist, wenn er sie als »Grundbegriffe« der aristotelischen Ethik verstanden wissen will. 115 Die Lust ist sogar, sofern sie bei der Ausübung von tugendhaften Handlungen eintritt, ein strukturelles Moment der Tugend, wie Aristoteles in Buch II 2 ausführt. An der Lust bei tugendhaften Handlungen ist der spoudaios zu erkennen – sie ist der ›Seismograph‹ für die ethische Intensität und Qualität seiner Handlungen. Dieser Punkt verdient Beachtung, denn die Lust an der Tugend unterscheidet den spoudaios vom enkratês. Der Beherrschte weiß zwar mit der Lust umzugehen, doch fehlt es ihm an der bejahenden Selbstverständlichkeit des spoudaios. Anders als der Beherrschte hat der spoudaios keinerlei inneren Widerstände zu überwinden – er hat bereits das Stadium der gleichen Ausrichtung seiner Seelenteile erreicht, die ihn unbehindert nach dem Guten streben lässt. Neben der Gegenüberstellung von agathon haplôs und agathon phainomenon gibt es noch die von agathon haplôs versus agathon tini in VII 13: Während agathon haplôs wieder das schlechthin Gute mit einem hohen Objektivitätsanspruch zum Ausdruck bringt, schwingt bei agathon tini (für jemand Bestimmten Gutes) eine deutlich subjektivere Note mit. Anders als beim agathon phainomenon muss sich diese Subjektivität nicht als eine Täuschung herausstellen, denn Aristoteles hält das Phänomen der »falschen Lüste« für möglich. 116 Zentral ist aber wiederum, dass beim spoudaios eine solche Abweichung vom agathon haplôs nicht vorstellbar ist, denn seine Lust besteht, wie das vorhergehende Kapitel zeigte, in den natürlichen Lüsten.
c.
Die Selbstliebe der Normfigur
Die Aussage, dass der spoudaios (und die Tugend) Maßstab sei, findet sich auch im Kontext der Freundschaftsbücher, in EN IX 4. Dort er115 116
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Vgl. ebd., S. 10. Vgl. Gottlieb (1993), S. 38 ff.
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örtert Aristoteles anhand mehrerer Merkmale das Selbstverhältnis des spoudaios, von dem sich erst die Freundschaft gegenüber anderen Menschen ableiten lasse. 117 Diese wichtige Behauptung ist systematisch sehr relevant: Aristoteles hat damit den Fokus auf den einzelnen Menschen gerichtet, was einer vorschnellen Vereinnahmung durch die Umwelt widerspricht. Cornelia de Vogel betont darüber hinaus, dass Aristoteles mit seinen Ausführungen zur Selbstliebe die traditionelle Ansicht verlassen habe. 118 Stattdessen habe er ein ausgeprägtes Gespür für die Besonderheit des einzelnen Menschen bewiesen: »Nun stellt sich aber heraus, daß gerade Aristoteles ein sehr entwickeltes Gefühl für die menschliche Individualität hatte und daß gerade dieses Bewußtsein der menschlichen Person in ihrer Einzigkeit die Grundlage seiner Lehre über die Freundschaft war.« 119
Für die Priorität des Selbstverhältnisses spricht außerdem, dass Aristoteles im Anschluss an diese Behauptung fünf Merkmale 120 einer Freundschaft aufzählt, von denen die Freundschaft gegenüber anderen zumindest eines erfüllen muss, während die Selbstbeziehung des spoudaios alle beinhaltet. 121 Seine Selbstbeziehung erweist sich damit als die maximale Variante einer positiven Beziehung. Das Selbstverhältnis des spoudaios wird in EN IX 4 folgendermaßen charakterisiert: 1) Er ist mit sich selbst in Übereinstimmung (homognômonei heautô) und strebt mit seiner ganzen Seele nach denselben Dingen (1166a13 f.). 2) Er wünscht sich selbst das Gute und tut es – um seiner selbst (heautou heneka) willen. Sein Selbst wird dabei in erster Linie mit dem denkenden Seelenteil (dianoêtikon) identifiziert (1166a14–17). 3) Er wünscht sich, dass er lebt und erhalten bleibt, wobei diese Aussage wiederum insbesondere den denkenden Teil betrifft. Seine Existenz ist ihm nämlich etwas Gutes und jeder Mensch möchte Vgl. dazu Benson (1990). Vgl. de Vogel (1985), S. 402. 119 De Vogel (1985), S. 404. 120 Die Merkmale listet Aristoteles mit folgenden Worten auf: »Denn als Freund bezeichnet man einen Menschen, (i) der das, was gut ist oder gut erscheint, wünscht und tut um des anderen willen, oder (ii) einen, der um des Freundes selbst willen wünscht, dass dieser existiert und lebt. So geht es Müttern im Verhältnis zu ihren Kindern und Freunden, die in Streit geraten sind. (iii) Andere verstehen unter einem Freund jemanden, mit dem man Zeit zusammen verbringt und der (iv) dieselben Dinge wählt, oder (v) jemanden, der Leid und Freude mit dem Freund teilt.« (EN IX 4, 1166a2–8) 121 Vgl. Gigon (1975), S. 85. 117 118
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für sich Gutes (1166a17–23). 4) Er will Zeit mit sich verbringen, denn er hat erfreuliche Erinnerungen, gute Hoffnungen für die Zukunft und reichlich Gegenstände zur Betrachtung (1166a23–27). 5) Er teilt Freud und Leid mit sich selbst; darin ist er kontinuierlich und ohne Bedauern (1166a28 f.). Wenige Zeilen später streift Aristoteles die Frage, inwieweit es überhaupt Freundschaft zu sich selbst geben könne, da sie nach zwei oder mehreren Parteien verlange (1166a33–1166b2). Er geht nicht weiter darauf ein, doch die aufgelisteten Merkmale dürften deutlich gemacht haben, dass er ein Selbstverhältnis im Sinne eines Verhältnisses mehrerer Seelenteile zueinander annimmt. Denn nur vor dem Hintergrund mehrerer Seelenteile können Aussagen von der »Übereinstimmung mit sich selbst«, und auch der Vorrang des »denkenden Teils« sinnvoll sein. Die gegenteilige Konzeption des spoudaios, der schlechte Mensch (phaulos), unterstützt dieses Verständnis, denn der schlechte Mensch ist u. a. durch die Entzweiung seiner Seele charakterisiert: »Denn ihre Seele ist in Aufruhr; der eine Teil empfindet aufgrund seiner Schlechtigkeit Schmerz, wenn er sich bestimmter Dinge enthält, während der andere sich freut, und der eine Teil zieht die Seele dahin und der andere dorthin, als würden sie sie auseinander reißen.« (EN IX 4, 1166b19–22) 122
Es liegt nahe, bei dem genannten Selbstverhältnis von dem zwischen dem nicht-rationalen und dem rationalen Seelenteil auszugehen, die Aristoteles in EN I 13 skizziert hat. Genauer gesagt, muss wohl nur das Element des nicht-rationalen Seelenteils gemeint sein, das der Vernunft gehorchen bzw. mit ihr übereinstimmen kann, das Strebevermögen (orektikon). Es ergibt sich also folgendes Bild: Das gute Selbstverhältnis des spoudaios besteht in der Harmonie, in der Übereinstimmung seines Strebevermögens (orektikon) mit seinem rationalen, denkenden Seelenteil (dianoêtikon), wobei die Übereinstimmung letztlich als eine affirmative Unterordnung des orektikon unter das dianoêtikon zu verstehen ist. 123 Der Begriff des dianoêtikon umfasst so122 Die Schilderung der Entzweiung, des Hin-und Hergerissen-Seins erinnert stark an Platons Beschreibung des tyrannischen Menschen in Politeia IX, 537d. 123 Dass ein bloßes Gehorchen nicht ausreichend ist, ist folgender Unterscheidung zwischen dem Beherrschten und dem Tapferen/Mäßigen zu entnehmen: »Doch scheint wie gesagt auch dieser Teil (der nicht-rationale, Anm. M. H.) an der Vernunft teilzuhaben; jedenfalls gehorcht er der Vernunft beim Beherrschten – und vermutlich ist er noch
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wohl das Element des rationalen Seelenteils, der auf Unveränderliches ausgerichtet ist und dessen Tugend die sophia darstellt, als auch den Part, dessen Gegenstandsbereich das Veränderliche ist und dessen Tugend die phronêsis ist. Der Vorrang, die Herrschaft des dianoêtikon, das als das Wesen des Menschen bezeichnet wird, entspricht exakt der eigentümlichen »charakteristischen Tätigkeit« des Menschen, die im ergon-Argument in EN I 6 konkludiert wird. Eine Schwierigkeit stellt allerdings der changierende Sprachgebrauch von Aristoteles dar; in 1166a19 gibt er die Tätigkeit des dianoêtikon mit phroneî wieder, in 1166a22 bezeichnet er den leitenden Teil als to nooûn. Erstere Bezeichnung legt eine Identifizierung des dianoêtikon mit dem praktischen logos nahe, während letztere einer Gleichsetzung mit dem theoretischen nous, wie er in X 7 beschrieben wird, entspricht. Auch in IX 8 ist die Verwendung von nous uneinheitlich, so dass sich keine klare Zuweisung vornehmen lässt. 124 Das dritte Merkmal des Selbstverhältnisses, der Wunsch nach Leben und Selbsterhaltung, ist wohl eine gedankliche Verlängerung des Wunsches nach Gutem für sich selbst, der im Kontext des zweiten Kennzeichens geäußert wird. Die Ausführungen zum vierten Charakteristikum des Selbstverhältnisses der Normfigur scheint mir insofern bedeutsam zu sein, als es alle Zeitdimensionen eines menschlichen Lebens umfasst, nämlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Darin spiegeln sich die Bemerkungen des Aristoteles wider, dass das gute Leben das Leben in seiner zeitlichen Gesamtheit umfasst. 125 Hier findet sich ein Moment der Beständigkeit, das im letzten Merkmal explizit ausgesprochen wird: Der spoudaios ist in seinem Denken und Fühlen treu, zuverlässig und kontinuierlich. Während in EN IX 4 das Selbstverhältnis des spoudaios im Mittelpunkt stand, greift Aristoteles in EN IX 8 das Thema wieder auf, wobei er es diesmal unter dem Stichwort der Selbstliebe diskutiert. 126 gehorsamer beim Mäßigen und Tapferen, denn bei ihm stimmt er in allem mit der Vernunft überein.« (EN I 13, 1102b25–28). 124 Gigon bringt diesen Sachverhalt gut auf den Punkt: »So stossen denn in unsern Texten der Eth.Nik. unbestreitbar zwei verschiedene Bedeutungen von noûs aufeinander.« Gigon (1975), S. 107. 125 Vgl. z. B.: EN I 6, 1098a17–20: »Hinzufügen müssen wir: ›in einem ganzen Leben.‹ Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling, auch nicht ein Tag. So macht auch ein Tag oder eine kurze Zeit keinen selig und glücklich.« 126 Auch Peter Schulz stellt fest, dass es zwischen EN IX 4 (Selbstverhältnis) und EN IX A
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Diese leichte Verschiebung drückt sich darin aus, dass im Kontext der Selbstliebe eine kompetitive Dimension Einzug hält. Aristoteles wirft nämlich die Frage auf, ob man sich selbst oder einen anderen am meisten lieben solle, was Konsequenzen für die Zuteilung des Guten nach sich ziehe. Die Antwort fällt differenziert aus, denn er unterscheidet zwei Arten von Selbstliebe. Die schlechte Form der Selbstliebe, die getadelt wird, definiert er folgendermaßen: »Diejenigen nun, die aus der Selbstliebe einen Vorwurf machen, nennen Menschen selbstliebend, die sich selbst den größeren Anteil an Geld, Ehre und körperlicher Lust zuteilen.« (EN IX 8, 1168b15 ff.)
Die Schlechtigkeit dieser Variante der Selbstliebe kann auf zwei Gründe zurückgeführt werden; zum einen kann in der Bevorzugung der eigenen Person eine Ungerechtigkeit gegenüber anderen vermutet werden, zumal äußere Güter knapp und deswegen stark umkämpft sind (1168b17 ff.). Zum anderen – und das ist der entscheidende Grund – besteht die Schlechtigkeit darin, sich in der Gier dem vernunftlosen Seelenteil überlassen und die Herrschaft des rationalen Seelenteils preisgegeben zu haben (1168b19 ff.). Der Mensch hingegen, der über die gute Selbstliebe verfügt, wird wie folgt charakterisiert: »Auf jeden Fall teilt er sich die werthaftesten Güter (ta kallista) zu, diejenigen, welche die besten Güter (malist’ agatha) sind, und er überlasst sich demjenigen seiner Bestandteile, der die oberste Leitung ausübt (charizetai heautou to kuriôtatô), und folgt diesem in allen Dingen.« (EN IX 8, 1168b29 ff.)
In der Herrschaft des kuriôtaton, mit dem der denkende Seelenteil gemeint ist, der bereits in IX 4 diskutiert worden ist, besteht demnach die richtige Form der Selbstliebe. Die Zuteilung der »werthaftesten Güter« ist eine unmittelbare Konsequenz davon. Doch was ist unter dieser Klasse von Gütern zu verstehen? Während sie hier noch im Plural genannt werden, ist in den nachfolgenden Passagen – wie auch an anderen Stellen – abstrakt vom Werthaften (to kalon) die Rede. Es erweist sich als ein inhärentes Element der Handlungen des spoudaios im Freundschaftskontext. Durch folgende Taten gegenüber Freunden wird er charakterisiert: Er setzt sich für seine Freunde ein und ist sogar be8 (Selbstliebe) einen Unterschied gibt. Er nimmt an, dass die dazwischen liegenden Kapitel diese Verschiebung einführen. Vgl. Schulz (2000), S. 243.
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reit, sich notfalls sogar für sie und sein Land zu opfern (1169a18 ff.). Er unterstützt seine Freunde materiell durch Geld (1169a26 f.) oder ideell, indem er ihnen Ämter und Ehren überlässt (1169a29 f.), selbst auf den eigenen Vollzug von Handlungen verzichtet er zugunsten seines Freundes (1169a32 ff.). Bei all diesen Taten aber, die prima facie gänzlich altruistisch erscheinen, kommt ihm das Werthafte zu, und dies in einem höheren Maße (1168b35–1169a1). Sein Altruismus scheint sich somit als eine subtile Form des Egoismus zu entpuppen. Diese Spannung zwischen vermeintlich altruistischen Handlungen gegenüber dem Freund und der damit einhergehenden ausgeübten Selbstliebe hat Anlass zu einer vielschichtigen Diskussion geführt, ob Aristoteles’ Konzeption letztlich auf einem ethischen Egoismus basiere. 127 Eine ausführliche Behandlung der Positionen würde zu weit von meinem Interesse einer Charakterstudie des spoudaios wegführen, weshalb ich nur kurz folgenden Gedanken bezüglich dieser Diskussion zur Sprache bringen möchte: Die Aussage des Aristoteles, dass sowohl der Gute als auch alle anderen von seinen werthaften Handlungen ›profitieren‹ (1169a11 ff.), lässt daran zweifeln, dass Aristoteles eine Entgegensetzung zwischen dem tugendhaften Handeln für andere und der dadurch sich betätigenden Selbstliebe angenommen hat. Vielmehr ist davon auszugehen, dass das kalon so kategorial verschieden ist von den anderen, umstrittenen Gütern, dass in ein- und derselben tugendhaften Handlung beide Formen des ›Nutzens‹ verwirklicht sind. 128 Die Selbstliebe des spoudaios zeichnet sich also dadurch aus, dass er dem besten Teil in sich, dem denkenden Seelenteil, durch tugendhaftes Handeln folgt.
127 Der Vorwurf des Egoismus wird auf zwei Ebenen erhoben: Auf der Freundschaftsebene besagt dieser Vorwurf, dass altruistisches Handeln, selbst dem Freund gegenüber, prinzipiell nicht möglich ist, weil der Tugendhafte stets durch seine eigene »Kalonmaximierung« motiviert handelt. Auf einer fundamentaleren Ebene wird argumentiert, dass die gesamte eudaimonia-Konzeption egoistisch sei, weil es stets um die eigene eudaimonia geht, und nicht um die der anderen Menschen. Aus diesem Grunde dürfte die eigene eudaimonia nicht zugunsten der anderer geopfert werden, was als die altruistische Handlung schlechthin gilt. Während Richard Kraut gegen den Egoismusvorwurf argumentiert, wurde er jüngst wieder von Erik Wielenberg erhoben. Vgl. Kraut (1989), Kapitel 2; Wielenberg (2004). Einen guten Überblick über diese Debatte gewährt Schulz (2000), S. 267–283. 128 Vgl. Politis (1993), S. 165.
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d.
Die Freundschaft der Tugendhaften
In EN VIII 3 führt Aristoteles drei Arten von Freundschaft an, die sich durch den Grund für das Zusammensein voneinander unterscheiden: Die »Nutzenfreundschaft« kommt durch wechselseitigen Nutzen (chrêsimon) zustande, die »Lustfreundschaft« basiert auf dem Gefühl des Angenehmen (hêdy), während die »Tugendfreundschaft« von der gemeinsamen Freude am Guten (agathon) begleitet ist. Alle drei Gründe werden als »liebenswert« (philêton) bezeichnet, die Tugendfreundschaft nimmt aber eine besondere Stellung innerhalb der Freundschaftsauffassung des Aristoteles ein, da sie in mehreren Hinsichten den beiden anderen Versionen von Freundschaft überlegen ist. Das Gute ist in dieser Art der Freundschaft nicht nur als Grund, als Bezugspunkt gegenwärtig, sondern wird auch durch die Personen selbst repräsentiert: Es ist die Freundschaft der Guten, der tugendhaften Menschen, weshalb sie die der Normfigur angemessene Beziehungsform sein dürfte. Freundschaft definiert Aristoteles als ein wechselseitiges, nicht verborgenes, Wohlwollen (eunoia) (EN VIII 2, 1155b32 ff.), wobei letzteres bedeutet, dass man dem Freund »um seiner selbst willen« (ekeinou heneka) Gutes wünscht (EN VIII 2, 1155b31). Inwieweit diese Aussage auch auf die Lust- und Nutzenfreundschaft zutrifft, ist umstritten; auf die Tugendfreundschaft ist sie jedoch anwendbar; sie ist sogar eines ihrer Merkmale. 129 Diesem Aspekt wende ich mich noch zu, zuvor möchte ich aber noch andere Charakteristika der Tugendfreundschaft erörtern, um sie von den beiden anderen Formen abzugrenzen und auf diese Weise ihre Verschiedenheit und Exzellenz besser hervortreten zu lassen. Auffällig ist der häufige Hinweis, dass die Tugendfreundschaft der Zeit und der Vertrautheit bedarf. Anders als bei der Nutzen-oder Lustfreundschaft, die durch ein (punktuelles) Anfangsbedürfnis ihren Ausgang nehmen und davon getragen werden, wächst die Tugendfreundschaft langsam und muss unterschiedliche Erfahrungen überstanden 129 John Cooper bestreitet, dass das gute Handeln dem Freund gegenüber ›um seines willen‹ allein auf die Tugendfreundschaft zutreffen soll und die Lust- und Nutzenfreundschaft gänzlich selbstzentriert sind.Stattdessen unterscheiden sie sich in anderer Hinsicht. Siehe Cooper (1999b). Andrew Payne zieht Coopers Argumentation in Zweifel, indem er dessen Grenzziehung zwischen der Freundschaft der Tugendhaften und den anderen Formen von Freundschaften kritisiert. Vgl. Payne (2000).
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Eine Charakterstudie
haben. Das Entstehen der Tugendfreundschaft gleicht einer wechselseitigen Prüfung der Persönlichkeit: Man selbst muss sich als liebenswert und vertrauenswürdig erwiesen haben und zur selben Zeit prüft man auch den anderen. Aus diesem Grunde ist diese Freundschaftsform auch vor der Verleumdung sicher: Da man sich im Laufe der Zeit selbst ein Urteil über das Wesen des Freundes gemacht hat, ist man gegenüber Verleumdungsversuchen immun. Die Tugendfreundschaft zeichnet sich ferner dadurch aus, dass sie anspruchsvoll ist und dementsprechend viel Achtsamkeit bedarf, um die erforderliche Intensität gewährleisten zu können. Mit der Intensität geht auch Exklusivität einher: Es ist nicht möglich, mit vielen in dieser Form befreundet sein, wie Aristoteles sowohl in EN VIII 7, 1158a10 ff. als auch in EN IX 10, 1171a10 f. unterstreicht. An beiden Stellen zieht er einen Vergleich zur erotischen Beziehung, die er nur mit einer einzigen Person für lebbar hält. Dieser Vergleich und auch der Hinweis, dass sich die »in Liedern gerühmten Freundschaften« nur unter jeweils zwei Menschen fänden, lässt sogar den Höchstgrad an Exklusivität vermuten. In jedem Fall misst Aristoteles einem hohen Anspruch und entsprechender Konzentration viel Bedeutung bei; die Ausdehnung von Freundschaftsbeziehungen auf viele Menschen erachtet er für unseriös. Aus diesem Anspruch resultiert auch die Seltenheit dieser Freundschaftsform, was in erster Linie darauf zurückzuführen ist, dass es nur wenige tugendhafte Menschen gibt, die dafür in Frage kämen. Sowohl der Hinweis auf die langsam wachsende, geprüfte Freundschaft als auch die Betonung ihres Anspruchs und ihrer Intensität unterstreichen die kategoriale Verschiedenheit der Tugendfreundschaft. Auffällig ist die häufige Betonung ihrer Beständigkeit und Dauerhaftigkeit, die m. E. sowohl intrapersonell als auch interpersonell begründet sind: 130 Einerseits ist die Tugendfreundschaft derart beständig, weil bereits die beiden ›Freundschaftsparteien‹ – jede für sich – ein Höchstmaß an Beständigkeit in der Selbstliebe aufweist (intrapersoneller Grund). Andererseits ist die Freundschaft der Tugendhaften so beständig, weil sie nicht-akzidentiell ist, was darauf zurückzuführen ist, dass sich die Freunde »um ihrer selbst willen« lieben (interpersoneller Grund). 130 Auf das Charakteristikum der Beständigkeit geht Schulz ausführlich ein. Siehe Schulz (2000), S. 197–206.
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Die Normfigur als Moralischer Akteur
Den Begriff des Akzidentiellen gebraucht Aristoteles in EN VIII 3 zur Charakterisierung der Nutzen- und der Lustfreundschaft (1156a16 f.). Im Kontext der Freundschaft besagt die Bezeichnung des Akzidentiellen, dass der Freund lediglich wegen einer bestimmten Eigenschaft geliebt wird, nicht aber wegen seines Wesens. 131 Aus diesem Grunde sind akzidentielle Freundschaften auch stärker Veränderungen ausgesetzt, weil sich beispielsweise der Nutzen erübrigt oder die Gefühle des Angenehmen schwächer werden. Umgekehrt heißt dies, dass sich die Freundschaft der Tugendhaften dadurch auszeichnet, dass sich die Freunde wegen ihres beständig guten Charakters lieben.
5.
Die Normfigur: Regularität in Menschengestalt
Die Charakterstudie des spoudaios legt ein anderes Bild der Normfigur nahe als es bislang die Partikularisten gezeichnet haben. So ist sein Leben lustvoller, weil es in erster Linie an natürlichen Lüsten ausgerichtet ist; seine Wahrnehmungsfähigkeit ist herausragend, aber nicht, weil er ›moralische Eigenschaften‹ sieht, sondern weil seine Konstitution ethisch optimal ist; dies drückt sich auch darin aus, dass er über Selbstliebe der richtigen Art verfügt, die in der Anerkennung der eigenen Rationalität besteht, welche ein hohes Maß auch an persönlicher Beständigkeit bedingt. Da sein Selbstverhältnis das Paradigma von Freundschaften ist, ist er auch für die beste Form der Freundschaft prädestiniert, nämlich die unter tugendhaften Menschen. Beständigkeit, Unerschütterlichkeit, gleich bleibende Persönlichkeit sind immer wieder auftretende Motive in dieser Charakterstudie. Sie sind Eigenschaften systematischer Natur, die m. E. eine Regularität in der Konzeption der Normfigur offenbaren, die in der partikularistischen Interpretation mit der Fokussierung auf ihre Wahrnehmung und Kontextsensitivität unberücksichtigt bleibt. Im Folgenden möchte ich darlegen, dass diese Hypothese von der Regularität im Wesen und Handeln der Normfigur gültig ist: Zu diesem Zweck untersuche ich, ob sie von Aspekten der Unvollkommenheit bzw. durch irritierende 131 So heißt es: »Diejenigen, deren Liebe im Nutzen gründet, lieben also den anderen wegen des für sie selbst Guten, und diejenigen, bei denen sie in der Lust gründet, wegen des für sie selbst Angenehmen; sie lieben ihn nicht, insofern er diese Person ist, sondern insofern er nützlich oder angenehm ist.« (EN VIII 3, 1156a14 ff.).
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Faktoren (z. B. Schicksalsschläge) beeinflusst wird und entsprechend moralisch fehlbar bzw. ablenkbar ist – sollte das Ergebnis negativ sein, wäre ein Maximum an stabiler, zuverlässiger Tugendhaftigkeit nachgewiesen, womit die Normfigur als Ausdruck von menschenmöglicher Regularität im ethischen Raum gelten dürfte. Dass Aristoteles ein solches Verständnis der Normfigur selbst nahelegt, möchte ich abschließend mittels eines Unterkapitels zur vollkommenen menschlichen Natur zeigen.
a.
Unfehlbarkeit der Normfigur
Meine Hypothese von der Verkörperung maximaler Regularität durch die Normfigur möchte ich untermauern, indem ich prüfe, ob die Normfigur fehlbar ist. Sollte nämlich der Normfigur ein beständig gutes, unfehlbares Verhalten nachzuweisen sein, würde dies stark für ein regulatives Konzept sprechen. Unter den Begriff der Fehlbarkeit fallen alle Handlungen, die nicht-tugendhaft sind. In jüngster Zeit hat die Frage von Fehlbarkeit viel Aufmerksamkeit erhalten; sowohl Shane Drefcinski 132 als auch Howard Curzer 133 haben sie explizit diskutiert und in ihren Aufsätzen offensiv die Meinung vertreten, dass man sich von einer ›idealisierenden‹ Interpretation des tugendhaften Menschen verabschieden müsse. Ihre gemeinsame Pointe besteht in der Ansicht, dass der Tugendhafte fehlgehen könne, ohne dass ihm dadurch die Bezeichnung eines Tugendhaften aufgekündigt werden müsse. Aristoteles hätte demnach nicht Perfektion beim Tugendhaften intendiert, sondern nur überdurchschnittliche Regelmäßigkeit und Wahrscheinlichkeit. Außerdem erlaube die aristotelische Unterscheidung zwischen einer Handlung und einer Haltung es, einzelne schlechte Handlungen zu vollziehen, ohne dass dadurch eine allgemein tugendhafte Haltung diskreditiert würde. Allerdings sprechen viele Passagen in der Nikomachischen Ethik dafür, dass sich der spoudaios durch eine ausnahmslos geltende Haltung der Tugend auszeichnet. Ausgehend von dem Satz »Denn nichts, was Menschen tun, weist so viel Beständigkeit (bebaiotês) auf wie die Betätigungen der Tugend« (EN I 11, 1100b12 f.), möchte ich klären, ob unter Bestän132 133
Vgl. Drefcinski (1996). Vgl. Curzer (2005). A
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digkeit eine stabile oder eine ausnahmslose Haltung zu verstehen ist. Der Unterschied besteht m. E. darin: Während eine stabile Haltung seltene Abweichungen zugesteht (ähnlich wie ein Seiltänzer, der durch einen suboptimalen Schritt kurz ins Wanken gerät), wäre eine ausnahmslose Haltung rigoros zu verstehen, bei der bereits eine schlechte Handlung die gesamte ›Tugendlaufbahn‹ abbrechen würde (ähnlich wie ein Seiltänzer, dessen Fehltritt ihn in die Tiefe stürzen lässt). Der Begriff der Beständigkeit kann auf zweifache Art und Weise interpretiert werden, nämlich quantitativ und zeitlich. Einer quantitativen Lesart zufolge beinhaltet »Beständigkeit« eine hohe, unbestimmte Anzahl an tugendhaften Handlungen, die sich zu einer Haltung verfestigt haben; laut Curzer würden einzelne fehlerhafte Handlungen daran gemessen nicht ins Gewicht fallen. Zeitlich verstanden besagt »Beständigkeit«, dass solche fehlerhafte Handlungen nie oder Curzer zufolge selten – gemessen an der Lebensspanne – vorkommen, so dass sie die ›Bilanz‹ des Lebens nicht nachhaltig beeinträchtigen können. Einzelne fehlerhafte Handlungen korrelieren natürlich mit ihrer Seltenheit – zentral ist lediglich, dass sie im Vergleich Ausnahmen bleiben. Bevor ich mit der Diskussion von fehlerhaften Handlungen fortfahre, sei vorher kurz nochmal an die Merkmale einer tugendhaften Handlung erinnert: Die Wahl des Guten nimmt bei der Bestimmung einer tugendhaften Handlung eine wichtige Rolle ein; sie ist eine der drei Bedingungen, die Aristoteles in EN II 3, 1105a28–33 anführt (und die ich in Kapitel V.1.b näher erörtert habe). Weder eine unbewusst noch zufällig noch zögerlich vollzogene gute Handlung wäre demnach eine tugendhafte Handlung. Interessant ist hier auch das Insistieren auf die feste und ohne Schwanken vorgenommene Handlung – dies spricht ebenfalls für Beständigkeit. Den drei Bedingungen einer tugendhaften Handlung vorausgegangen ist das zusätzliche Merkmal der Lust, die sie begleiten muss. Aristoteles weist den Gefühlen der Lust und Unlust eine starke Motivation und unterstützende Kraft zu, denn sie sind dafür verantwortlich, wonach man strebt und was man flieht (EN II 2, 1104b21–24). Hervorzuheben ist, dass gerade der Gute (agathos) sich dadurch auszeichnet, dass er vor allem die richtige Lust empfindet, sprich: die Lust am Guten. Eine Handlung, die den drei Bedingungen genügt und bei der der Handelnde Lust verspürt hat, genügt aber noch nicht, um ihn in den Status eines »Tugendhaften« zu versetzen. Entscheidend für diese Be208
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zeichnung ist seine Haltung, seine (stetige) Bereitschaft zu einer solchen Handlung, die ihm zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist. Damit eine (charakterliche) Tugend entsteht, sprich: sich zu einer Haltung (hexis) verfestigt, bedarf es der Gewöhnung (ethos) (EN II 1, 1103a17), was mit »häufigem Tun« (pollakis prattein) (EN II 3, 1105b4) gleichgesetzt werden kann. Hier kommt also die Quantität des Handelns ins Spiel: Aus dem wiederholten Ausführen der gleichen Handlung resultiert eine gleichmäßige Orientierung, ähnlich wie eine Kompassnadel konstant auf den Nordpol zeigt und sich bei jeder Irritation immer wieder zuverlässig auf ihn ausrichtet. Allerdings ist unklar, wie viele tugendhafte Handlungen ein Mensch vollziehen muss, bis er die Haltung eines tugendhaften Menschen angenommen hat. Nimmt man die Aussagen Aristoteles’ zur moralischen Entwicklung und Lebensalter zur Hilfe, lässt sich nur schließen, dass er eine lange Spanne an Lebenserfahrung voraussetzt. Die von Aristoteles getroffene Unterscheidung zwischen einer einzelnen Handlung und einer Haltung dient Curzer und Drefcinski als Argumentationsbasis: Ebenso wenig wie eine einzelne tugendhafte Handlung oder vereinzelte Handlungen eine tugendhafte Haltung ergeben, ebenso wenig könne eine tugendhafte Haltung durch eine einzelne falsche Handlung oder vereinzelte ›Ausreißer‹ verspielt werden. Die ursprüngliche Beständigkeitsaussage erfährt bei dieser Argumentation eine interessante spiegelverkehrte Umkehrung. Wenn nämlich Tugend sich durch Beständigkeit auszeichne, könne sie auch nicht so schnell verloren gehen, so dass einige »out-of-character«- Handlungen nicht ins Gewicht fallen. 134 Als ein Beispiel für die Unterscheidung von Handlung und Haltung kann die Textstelle 1134a17–23 in EN V 10 angeführt werden, in der Aristoteles zwischen einer ungerechten Handlung und Ungerechtigkeit als Haltung differenziert: »Da es möglich ist, dass jemand Unrecht tut, ohne deswegen schon ungerecht zu sein, stellt sich die Frage, welche Arten ungerechter Handlungen man begehen muss, um in der jeweiligen Art der Ungerechtigkeit ungerecht zu sein, zum Beispiel ein Dieb, ein Ehebrecher, ein Räuber. Oder werden sie sich gar nicht durch die Art der Handlung unterscheiden? Jemand könnte ja mit einer Frau schlafen im Wissen, wer sie ist, und doch so, dass der Ursprung der Handlung nicht ein Vorsatz, sondern ein Affekt ist (ou dia prohaireseôs 134
Vgl. Curzer (2005), S. 239. A
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archên alla dia pathos). Dann tut er also Unrecht, ist aber [dewegen] nicht ungerecht, wie zum Beispiel jemand kein Dieb ist, obwohl er gestohlen hat, oder kein Ehebrecher ist, obwohl er die Frau verführt hat usw.«
Wenn auch ein quantitatives Verständnis nahe liegt, hat Aristoteles hier den Vorsatz als das zentrale Kriterium benannt. Nicht die Zahl der Handlungen ist hier für die Qualifizierung entscheidend, sondern die Art des Ursprungs. Bemerkenswert ist ferner, dass auch das Wissen darüber, dass eine Frau verheiratet ist (sofern man dann mit ihr schläft), nicht eine ungerechte Haltung offenbart, sondern ein Unrecht begründet. Diese subtile Differenzierung lässt sich etwas später im selben Kapitel mit Hilfe von EN V 10, 1135b12–24 genauer nachvollziehen, wo Aristoteles eine Trennung zwischen drei Arten von Schädigungen vornimmt: Zunächst ist 1) von mit Unwissenheit getanen Versehen (agnoias amartêmata) die Rede, bei denen die Art und Weise der Handlung nicht der Intention entspricht, 2) ferner führt er die ungerechte Handlung (adikêma) an, die wissentlich, aber ohne vorherige Überlegung (im Zorn oder in anderen notwendigen oder natürlichen Affekten) vollzogen wird und 3) schließlich ist die Handlung zu nennen, die wissentlich und mit Vorsatz ausgeführt wird, weil der Handelnde ungerecht und schlecht (adikos kai mochthêros) ist. Rückübertragen auf die Argumentation von Curzer und Drefcinski besagt dieser ›Schädigungskatalog‹, dass nur eine ungerechte Handlung (Typ 2) womöglich mit einer tugendhaften Handlung konform geht. Der Mensch aber, der durch seine Affekte (pathê) bestimmt wird, ist der Willensschwache, so dass der Nachweis zu führen wäre, dass ein tugendhafter Mensch einmal oder gelegentlich unter Willensschwäche leidet – doch ist dies mit den Beschreibungen des spoudaios vereinbar? Drefcinski ist sich der Brisanz dieser Aussage wohl bewusst, doch auch hier verweist er darauf, dass vereinzelte nicht-rationale Handlungen noch nicht zur Willensschwäche als solcher beitragen, so dass ein tugendhafter Mensch einzelne Situationen der Willensschwäche erleben könne, ohne dass ihm deshalb schon das Attribut der Willensschwäche zukommen müsse. 135 Dabei verweist er auf den Unterschied zwischen Willensschwäche schlechthin und einer partikulären Willensschwäche in Bezug auf ein bestimmtes Gut in EN VII 6:
135
210
Vgl. Drefcinski (1996), S. 147.
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»Die anderen Dinge hingegen sind nicht notwendig, vielmehr als solche wählenswert, zum Beispiel Sieg, Ehre, Reichtum, Güter und angenehme Dinge dieser Art. Diejenigen nun, die diese Dinge gegen die in ihnen vorhandene Überlegung im Übermaß suchen, nennen wir nicht unbeherrscht überhaupt, sondern unbeherrscht mit dem Zusatz ›in Bezug auf Geld, Gewinn, Ehre, Zorn‹.« (1147b29–34)
Doch auch für Situationen von Willensschwäche schlechthin sieht er Raum, denn in EN V 7, 1132a2–6 wird Betrug und Ehebruch auch dem guten Menschen (epieikês) zugewiesen: »Denn es ist gleichgültig, ob ein guter Mensch einen schlechten betrogen hat oder ein schlechter Mensch einen guten, und ebenso, ob ein guter oder ein schlechter Mensch Ehebruch begangen hat. Vielmehr sieht das Gesetz nur auf den Unterschied, der durch den zugefügten Schaden entstanden ist, und behandelt die Personen als gleiche und fragt nur, ob der eine Unrecht tut, der andere Unrecht erleidet und ob der eine einen Schaden zugefügt, der andere Schaden erlitten hat.«
Der Kontext, in dem diese Aussage steht, weist allerdings darauf hin, dass sie nicht als eine Aussage über die Merkmale des guten Menschen taugt. Die zitierte Stelle ist nämlich vor dem Hintergrund der arithmetischen Proportionalität der ausgleichenden Gerechtigkeit einzuordnen, die sich – anders als die distributive Gerechtigkeit – durch eine strenge Unparteilichkeit auszeichnet, indem sie gerade nicht nach Würdigkeit der Handelnden unterscheidet. Durch die Gegenüberstellung eines guten und schlechten Menschen, der sich am jeweils anderen vergeht, wird die personale Unabhängigkeit von ausgleichender Gerechtigkeit pointiert veranschaulicht. Neben dieser kontextuellen Erklärung spricht aber noch ein prinzipielles Bedenken gegen die Behauptung von qualifizierter oder unqualifizierter Willensschwäche und Fehlbarkeit allgemein beim tugendhaften Menschen: Die Konzeption des spoudaios mit seinen Merkmalen der Unbestechlichkeit durch falsche Lust, der richtigen Lust am Guten und der Selbstliebe lässt schlichtweg keinen Raum für jegliches von der Tugend abweichendes Verhalten. Jegliche Quelle, sei es desiderativer oder kognitiver Art 136 , für fehlerhaftes Tun ist bei ihm 136 An dieser Stelle sei nochmals kurz an die Identität von spoudaios und phronimos erinnert: aufgrund der Deliberationsbegabung des phronimos sind auch kognitive Fehler beim praktischen Überlegen und der Identifizierung der richtigen Mitte ausgeschlossen.
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qua Konzeption ›trockengelegt‹. Im Gegenteil: er hat nur Gründe für gutes Handeln, und seine Freude daran gibt ihm noch zusätzlich Anreiz. Für eine solche ausnahmslose Interpretation von Beständigkeit spricht ferner auch, dass Aristoteles dem tugendhaften Menschen in EN IV 15 jede Scham und Reue abspricht, (weil ja der tugendhafte Mann wegen seines permanent tugendhaften Handelns darüber erhaben ist): »Die Scham ist auch kein Merkmal des guten Menschen (epieikês), da sie nur bei schlechten Handlungen eintritt; und solche Handlungen darf man nicht tun. […] Denn die Scham bezieht sich auf die gewollten Handlungen, der Gute aber wird niemals (oudepote) aus eigenem Wollen das Schlechte tun. Dann könnte die Scham etwas bedingt Anständiges sein: Wenn der Anständige eine solche Handlung tut, wird er sich schämen. Diese Möglichkeit besteht aber nicht bezüglich der Tugenden (ouk esti de touto peri tas aretas).« (1128b21–31, vgl. auch EN IX 4, 1166a27 ff.)
Die Abrede von Scham schließt also schlechtes Verhalten aus, das durch einen falschen Vorsatz (prohairesis) begründet wäre. Diese Stelle, in der die Scham auf eine Entscheidung zum falschen Handeln folgen müsste, weicht auf den ersten Blick von anderen ab, in denen die Scham (dies gilt auch für die Empörung (nemesis)) als »natürliche Vorstufen von Besonnenheit und Gerechtigkeit« 137 eingeführt wird. Analog zu der Unterscheidung von Geschicklichkeit (deinotes) und phronêsis, ist nämlich auch eine zwischen den natürlichen und den ›eigentlichen‹ Tugenden zu treffen, so dass die Scham den ersteren zugeordnet wird. Folgende Stelle in der Eudemischen Ethik bringt dies deutlich zum Ausdruck: »Alle diese Mitten sind zwar lobenswert, jedoch Tugenden sind sie nicht, sowenig ihre Gegenteile Schlechtigkeiten sind. Es fehlt nämlich das Moment der Entscheidung. Dies alles steht in den ›Einteilungen der Affekte‹ ; denn jede dieser Eigenschaften ist eine Affektion. Weil sie aber etwas Naturhaftes sind, tragen sie zu den natürlichen Tugenden bei. Es existiert nämlich, wie an späterer Stelle gesagt werden wird, praktisch jede Tugend in einer naturhaften Form und auch anders, nämlich in Verbindung mit sittlicher Einsicht.« (EE III 7, 1234a24–29)
Hier wird die Scham, von der im Vorfeld die Rede ist, von dem Moment der Entscheidung abgekoppelt. Die vordergründige Inkonsistenz 137
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Elm (1996), S. 111.
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der beiden angeführten Textstellen kann aufgelöst werden, wenn man daraus schließt, dass es bei den ›eigentlichen‹ Tugenden, die durch die phronêsis bestimmt werden, keinen Raum für Scham gibt, weil der Tugendhafte sich qua Tugendhafter nicht zu einem fehlerhaften Handeln wird entscheiden können.
b.
Unerschütterlichkeit der Tugend
Meine Hypothese, dass die Normfigur Ausdruck maximaler menschlicher Regularität ist, möchte ich im Folgenden noch stützen, indem ich das Problem der Unerschütterlichkeit von Tugend diskutiere. Dieser Aspekt betrifft die Frage, inwieweit die Tugendhaftigkeit der Normfigur durch den Verlust externer Güter, z. B. in Form eines Schicksalsschlags, gefährdet werden kann. Äußere Güter besitzen für tugendhaftes Handeln eine große Bedeutung: Die Tugend der Freigiebigkeit kann beispielsweise nur ausgeübt werden, wenn zumindest ein gewisser Wohlstand aufzuweisen ist. Tugendhaftigkeit als Disposition ist daher zwar eine notwendige Bedingung für die eudaimonia, aber keine hinreichende, da es zur eudaimonia noch der externen Güter (tôn ektos agathôn) bedarf (EN I 9, 1099a31 f.). 138 Externe Güter markieren, da sie dem Einfluss des Akteurs zu weiten Teilen entzogen sind, einen Bereich, der für kontingente Ereignisse besonders anfällig ist. Dies wirft folgende Frage auf: Sind die Sphären von externen Gütern und Tugendhaftigkeit trennbar oder wirkt sich der Verlust von äußeren Gütern auf diese aus? Sollte sich die Tugend als unerschütterlich erweisen, wäre dies ein starkes Indiz für die Annahme, dass die Konzeption der Normfigur die Grenzen maximaler menschlicher Kontingenzbewältigung markiert, was ein wichtiger Bestandteil von Regularität wäre. Martha Nussbaum zieht diese Position in Zweifel; in ihrer Monographie The Fragility of Goodness verdeutlicht sie anhand antiker Tragödien und der aristotelischen Ethik – wie der Titel bereits andeutet – in welchem Maße das menschliche Handeln der Kontingenz ausgesetzt
138 In Bezug auf die Bedeutung externer Güter für die eudaimonia unterscheidet sich die Nikomachische Ethik stark von der Eudemischen Ethik (und auch Magna Moralia). Siehe dazu Cooper (1999a), S. 292 ff.
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ist und wie substantiell verwundbar damit die aristotelische Konzeption von eudaimonia gewesen ist. Dabei diskutiert sie auch das Schicksal des Priamos, das Aristoteles in EN I 10 erwähnt: 139 »Es gibt ja viele Veränderungen im Leben und vielfältige Zufälle (pollai gar metabolai ginontai kai pantoiai tuchai kata ton bion), und der Glücklichste kann im hohen Alter in großes Unglück geraten, wie die trojanischen Sagen von Priamos erzählen. Wer aber ein solches Schicksal hat und elend (athliôs) stirbt, den wird niemand glücklich nennen.« (1100a5–9)
Das Beispiel des hochbetagten Priamos gilt in der Antike als Paradigma für einen grausamen Schicksalsschlag: Priamos, der König von Troja, muss im hohen Alter den Tod vieler seiner Söhne (u. a. den grausamen Tod des Hektor durch Achill) und die Zerstörung seiner Stadt erleben. Auch Aristoteles erkennt die Schwere dieses Schicksals an und gibt zu, dass angesichts dessen niemand glücklich genannt werden könne. Daran schließt er eine Diskussion von Solons Diktum an, dass niemand zu Lebzeiten glücklich genannt werden dürfe, 140 indem er erörtert, inwieweit Tote durch Ereignisse, die ihren Nachkommen oder Freunden zustoßen, unglücklich werden können. In diesen Ausführungen sind zwei argumentative Ebenen zu unterscheiden: Auf der einen Seite geht es um die Frage des Zeitpunkts (wann ist jemand glücklich zu preisen), auf der anderen Seite um das fundamentale Problem, wie sich »Wechselfälle des Schicksals« auf die eudaimonia auswirken. Streng genommen geht es also bei dem Beispiel des Priamos und der darauf folgenden Diskussion nicht um die Frage, ob seine Tugendhaftigkeit erschüttert worden ist, sondern inwieweit seine ›Glücksbilanz‹ gelitten hat und ob er daher noch als eudaimôn bezeichnet werden könnte. Dennoch steht es in einem engen Zusammenhang zur Frage der Tugendhaftigkeit, da es als ein pars pro toto für das Problem externer Güter in der aristotelischen Ethik gelesen werden kann. Bevor ich in diese Diskussion eintrete, möchte ich zunächst kurz darstellen, was unter der Bezeichnung der externen Güter bei Aristoteles zu verstehen ist. In EN I 8 unterscheidet Aristoteles drei Arten von Gütern: die äußeren (ektos), die körperlichen (peri sôma) und die seelischen (peri psychên), wobei letztere als die besten und höchsten Güter gelten
139 140
214
Vgl. Nussbaum(1986), Kap. 11. Vgl. dazu die Anekdote von Solon und Kroisus, in: Herodot, Historia I 30–33.
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(1098b12–15). 141 In EN I 10 werden die äußeren Güter näher spezifiziert und ihre Funktion unterstrichen: »Dennoch bedarf das Glück, wie gesagt, offenbar zusätzlich auch der äußeren Güter. Denn es ist unmöglich oder [zumindest] nicht leicht, werthafte Handlungen ohne Hilfsmittel (achorêgêton) zu tun. Bei vielen Handlungen benutzen wir Freunde, Reichtum und politische Macht als eine Art von Werkzeugen (kathaper di’organôn). Ferner gibt es Dinge, deren Fehlen die Glückseligkeit trübt (têtômenoi rypainousi to makarion), wie gute Herkunft, wohlgeratene Kinder, Schönheit; […].« (1099a31–1099b3)
Zu den äußeren Gütern gehören also – ganz allgemein gesprochen – alle Güter, die nicht vollständig in der Verfügungsgewalt des Handelnden stehen. In dieser Passage klingt aber noch eine weitere Differenzierung an: Es gibt äußere Güter, die bei der Ausführung werthafter Handlungen behilflich sind (Freunde, Reichtum, politische Macht) und solche, deren Abwesenheit bedauerlich ist (gute Herkunft, wohlgeratene Kinder, Schönheit). Das bedeutet, dass es einerseits äußere Güter gibt, die für die Ausführung von tugendhaften Handlungen wichtig sind und deren erster Bezugspunkt somit Handlungen sind. Andererseits existieren auch äußere Güter, die für die eudaimonia selbst von Bedeutung sind. Ich möchte diese Separierung durch die Bezeichnung von handlungsunterstützenden äußeren Gütern und glücksunterstützenden äußeren Gütern zum Ausdruck bringen. Innerhalb der Diskussion entwickelt Aristoteles diesen Gedanken weiter, indem er den Einfluss von Wechselfällen des Schicksals (tais tuchais) generell anzweifelt (EN I 11, 1100b7 f.), da die eudaimonia hauptsächlich von den Tätigkeiten der Tugenden abhänge, die das Maximum an Beständigkeit im menschlichen Leben darstellten (EN I 11, 1100b12 f.). Damit begibt er sich in die Nähe einer Position, die Sokrates und die Kyniker vertreten haben, nämlich die, dass die Tugendhaftigkeit notwendig und hinreichend für die eudaimonia sei. 142 Diese schwächt er allerdings ab, wenn er im Anschluss daran (EN I 11, 1100b22–29) einen Einfluss von Glücks- und Unglücksfällen kon-
141 Die körperlichen Güter sind in ihrem Status nicht immer eindeutig zuzuweisen. Auf der einen Seite gelten sie extern, wenn man den Bezugspunkt der Seele als Grenzmarke ansieht, auf der anderen Seite gelten sie als intern, wenn man die gesamte handelnde Person in den Blick nimmt. 142 Vgl. Irwin (1985), S. 94.
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zediert, je nach Größe und Häufigkeit. Während »kleine« Ereignisse keine Auswirkung auf das Leben eines Menschen haben, können »große und häufige« Glücksfälle das Leben glückseliger (makariôteron) machen, Unglücksfälle aber das glückselige Leben »zerdrücken und trüben« (thlibei kai lumainetai). Aristoteles gibt keine nähere Auskunft darüber, wie der quantitative Hinweis der Häufigkeit und der qualitative der Schwere bzw. Größe zu verstehen sind, allerdings dürfte das Beispiel des Priamos – der Verlust eines Kindes – als eines für die Größe eines Schicksalsschlags gelten. Was ist aber nun unter dem »Zerdrücken und Trüben« des glückseligen Lebens zu verstehen? Ist darin auch eine Erschütterung der Tugendhaftigkeit zu sehen? Dies möchte ich mit Hilfe folgender Passage in EN I 11 klären, die sich an die Bemerkungen zu der Häufigkeit und dem Ausmaß von Ereignissen anschließt: »Denn sie (die Unglücksfälle, Anm. M. H.) bringen Unlust mit sich (lypas te gar epipherei) und behindern viele Tätigkeiten (empodixei pollais energeiais). Doch selbst unter diesen Umständen scheint das Werthafte durch, wenn jemand gelassen viele und große Unglücksfälle erträgt, nicht aus Unempfindlichkeit, sondern weil er edel und stolz ist. Wenn aber, wie wir gesagt haben, für die Beschaffenheit des Lebens die Tätigkeiten entscheidend sind, dann kann keiner, der glückselig ist, unglücklich werden; denn niemals wird er tun, was verhasst und schlecht ist (oudepote gar praxei ta misêta kai ta phaula). Denn wir meinen, dass der wahrhaft Gute und Verständige die Wechselfälle des Lebens alle in guter Haltung trägt und immer das Angemessenste aus der Situation macht, […]. Wenn dem so ist, dann wird der Glückliche (ho eudaimôn) niemals unglücklich (athlios) werden können; er wird allerdings auch nicht selig (makarios) sein, wenn ihn Schicksalsschläge treffen, wie sie Priamos erlitten hat.« (1100b29–1101a8)
Es ergibt sich ein ambivalentes Bild: Auf der einen Seite gibt es eine ernstzunehmende Beeinträchtigung, da Unglücksfälle Unlust zur Folge haben und viele Tätigkeiten behindern. Auf der anderen Seite hält Aristoteles an der zentralen Bedeutung der Tugendhaftigkeit fest, und behauptet, dass sie vor dem Unglück bewahrt. Eine wichtige Unterscheidung, die diese Ambivalenz aufzulösen hilft, ist die zwischen eudaimôn und makarios, die insbesondere im letzten Satz des angeführten Zitats bedeutsam ist. Unter eudaimôn wäre demnach ein glücklicher, weil tugendhafter Mensch zu verstehen, während makarios den optimalen Zustand der Glückseligkeit unter Einschluss von günstigen Bedingungen ausdrücken würde. Diese ›kantianisch inspi216
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rierte‹ 143 Antwort wird von Nussbaum abgelehnt, indem sie anhand mehrerer Textpassagen der Nikomachischen Ethik den synonymen Gebrauch von eudaimôn und makarios nachzuweisen sucht.144 Anthony Kenny wiederum zweifelt dies an, indem er darauf hinweist, dass es sich bei makarios, anders als bei eudaimôn, um ein proleptisches Prädikat handele, weshalb erst diese Passage plausibel sei. 145 Selbst wenn man bei manchen Textstellen einen synonymen Sprachgebrauch von eudaimôn und makarios annehmen kann (wie man Nussbaum zweifellos konzedieren muss), sollte man m. E. bei der Priamos-Passage von einem Unterschied ausgehen, der von systematischer Bedeutung ist. Anders wäre der letzte Satz der zitierten Passage nämlich nicht zu verstehen; denn würde man makarios durch eudaimôn ersetzen (was bei einer Synonymie möglich sein müsste), käme man zu der widersprüchlichen Aussage, dass der Glückliche niemals unglücklich, aber auch nicht glücklich sein könne, wenn er solche Schicksalsschläge wie Priamos erfahren würde. Der letzte Satz in dieser Passage ist nur dann sinnvoll, wenn man eine Differenz zwischen eudaimôn und makarios annimmt, wobei makarios noch zusätzlich das wohlgesonnene Schicksal (eutychia) umfasst. 146 Fraglich ist allerdings, ob diese Unterscheidung womöglich nur bei den glücksunterstützenden äußeren Gütern eine Rolle spielt. Eine Schwierigkeit bleibt nämlich bestehen: Muss man nicht bei den handlungsunterstützenden äußeren Gütern, deren Verlust bestimmte tugendhafte Tätigkeiten behindert, vermuten, dass dann auch die Tugendhaftigkeit (und damit auch die eudaimonia) gefährdet ist? Aristoteles weist wiederholt, wie Nussbaum überzeugend ausführt, auf die Notwendigkeit der Ausübung von tugendhaften Handlungen hin. Eine bloß tugendhafte Disposition ist nicht ausreichend, denn sonst müsste man einen Schlafenden oder Untätigen, der die Tugend besitzt, glücklich nennen, wie Aristoteles in EN I 3 darlegt. Es bedarf der tatsächlichen, unbehinderten Ausführung der Tugend; jemand, der daran z. B. durch Folter gehindert wird (EN VII 14), kann ebenfalls nicht als glücklich bezeichnet werden. Insbesondere das letz-
143 Nussbaum wendet sich in diesem Kontext gegen die »Kant-influenced« Kommentatoren David Ross und H. H. Joachim. Vgl. Nussbaum (1986), S. 329. 144 Vgl. ebd., S. 329–333. 145 Vgl. Kenny (1992), S. 35. 146 Vgl. Wolf, U. (2002), S. 52.
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te Beispiel zeigt, dass es Aristoteles bei der Diskussion der Schicksalsschläge – trotz Anerkennung des Leids – weniger um die emotionalen Folgen als vielmehr um die damit einhergehende Aktivitätsbehinderung geht. Die zu klärende Frage lautet also: Inwieweit wird der gute Mensch durch Schicksalsschläge in seiner Aktivität außer Gefecht gesetzt, und wird auf diese indirekte Art seine Tugendhaftigkeit erschüttert? In EN I 11, 1100b29 f. führt Aristoteles Unlust und eine Behinderung von vielen Tätigkeiten (empodixei pollais energeiais) als Folgen von Schicksalsschlägen an, wobei er direkt im Anschluss betont, dass in diesem Fall zumindest das gelassene Ertragen in edler und stolzer Manier den guten Menschen auszeichnet. Und wenig später heißt es, dass er »immer das Angemessenste aus der Situation macht« (ek tôn hyparchontôn aei ta kallista prattein) (EN I 11, 1101a2 f.). In diesem Kontext vergleicht er ihn mit einem guten Strategen und einem guten Schuster, die beide in der Lage sind, aus dem vorhandenen Heer und dem gegebenen Material noch das bestmögliche Ergebnis zu erzielen (1101a3 ff.). Aus diesem Vergleich lassen sich zwei hilfreiche Informationen entnehmen: a) Der Gute erzielt immer das beste Ergebnis und b) von den Umständen hängt es ab, ob es sich dabei um das beste Ergebnis in einem absoluten Sinn handelt (= optimal) oder ob es ›nur‹ um ein bestes Resultat in einem relativen Verständnis geht (= bestmöglich). Diese Betonung der besten Handlungsweise lässt sich mit der Vorstellung, dass der Gute in seiner Tugendhaftigkeit prinzipiell gefährdet ist, nicht vereinbaren. Denkbar ist vielmehr, dass er in den vom jeweiligen Schicksalsschlag betroffenen Tätigkeiten nicht mehr das Optimum erreicht, sie aber dennoch ausüben kann. Für eine solche Interpretation spricht auch die Aussage in EN I 11 zur ›Regeneration‹ nach Schicksalsschlägen: »[…] noch wird er aus solchen schweren Unglücksfällen heraus in kurzer Zeit wieder glücklich werden, sondern, wenn überhaupt, dann erst nach Ablauf einer langen Zeitspanne, in der er große und edle Dinge erreicht.« (1101a11–13)
Die Tatsache, dass der Gute erst mit dem Erreichen großer und edler Dinge wieder glücklich genannt werden kann, scheint dafür zu sprechen, dass Aristoteles das optimale Ergebnis als Maßstab für unbehinderte tugendhafte Tätigkeit anlegt, während sich durch Leid belastete tugendhafte Tätigkeiten nur im bestmöglichen Resultat widerspiegeln, 218
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die aber noch nicht zur Nennung als eudaimôn qualifizieren. 147 Es wären demnach drei Stufen zu unterscheiden:148 Der Verlust von handlungsunterstützenden äußeren Gütern berührt die Tugendhaftigkeit nicht prinzipiell, verhindert aber ihre unbehinderte Tätigkeit und damit auch die Qualifizierung dieses Zustands als eudaimonia. Dieser ist gegeben, wenn tugendhafte Tätigkeiten ungetrübt ausgeübt werden können (wozu es der handlungsunterstützenden äußeren Güter bedarf). Wenn zur eudaimonia noch das Vorhandensein der glücksunterstützenden äußeren Güter hinzukommt, ist von der Glückseligkeit zu sprechen, die nur mit Hilfe von eutychia zustande kommt. Aus dieser Abstufung folgt, dass die Tugendhaftigkeit in keinem Fall, sei es durch den Verlust von handlungsunterstützenden, sei es durch den von glücksunterstützenden äußeren Gütern prinzipiell beschädigt werden kann.
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In der Charakterstudie spielte der Begriff der »Natur« implizit eine wichtige Rolle. So haben die Ausführungen zur Lust gezeigt, dass das Leben des spoudaios lustvoller ist, weil es am meisten an den natürlichen Lüsten (hêdonai physei) ausgerichtet ist. Das Selbstverhältnis bzw. die Selbstliebe des spoudaios, das durch die Rede vom »Selbst« bzw. vom »wahren Sein« des Menschen geprägt ist, ist ohne Rückgriff auf das ergon-Argument in EN I 6 nicht zu verstehen und führt geradewegs in die aristotelische Konzeption der menschlichen Natur. Der spoudaios gilt als »vollkommen« in dieser Hinsicht, 149 was die bisherigen Ergebnisse der ausnahmslosen und unerschütterlichen Tugendhaftigkeit unterstützt. Die optimal verwirklichte Natur des Menschen in der Normfigur scheint mir auch der Grund dafür zu sein, dass er als »Maßstab und Richtschnur« fungieren kann. Diese Sichtweise widerspricht der partikularistischen Auffassung von der Normfigur, derzufolge jeglicher Rekurs auf die menschliche Natur mit Hinweis auf
147 Die in diesem Zitat vorkommene Einschränkung »wenn überhaupt« widerspricht dem nicht; sie bezieht sich m. E. auf den Zeitraum, der einem für die ›Regeneration‹ bleibt. 148 Vgl. Kenny (1992), S. 35. 149 Vgl. EE VII 2, 1237a30. Wörtlich heißt es dort: ho dê spoudaios teleios.
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die damit verbundene metaphysische Teleologie abzulehnen ist. 150 Dieser Zurückweisung liegt allerdings eine Interpretation von Teleologie und ihrer Bedeutung für die Ethik zugrunde, die ihrem spezifischen Charakter bei Aristoteles nicht gerecht wird, was ich mit Hilfe einer kritischen Diskussion des partikularistischen Verständnisses des ergonArguments zeigen möchte. Zuvor aber möchte ich kurz auf das aristotelische Verständnis der menschlichen Natur eingehen. Gegenwärtig wird dem Naturbegriff in der aristotelischen Ethik viel Aufmerksamkeit zuteil: In Monographien und Aufsätzen wird seine systematische Bedeutung zunehmend freigelegt, nachdem dies lange Zeit meist nur im Kontext der hellenistischen Ethiken (insbesondere der Stoa) geschehen ist. 151 »Natur« (physis) ist bei Aristoteles ein Begriff, der eine prinzipielle Vielschichtigkeit aufweist. 152 Zum einen bezeichnet er das Wirkprinzip in jedem Lebewesen, das seine Entwicklung steuert; indem dieses Prinzip einem Lebewesen inhärent ist, dient es auch der Unterscheidung von Artefakten. Dazu heißt es in der Physik II 1: »[…] hat doch ein jedes Naturprodukt ein Prinzip seiner Prozessualität und Beharrung in ihm selbst […]. Ein Bett, ein Mantel und sonstiges dergleichen hat jedoch, insofern ihm jeweils diese besondere Bestimmtheit […] zukommt und insoweit es Artefakt ist, keinerlei in ihm selbst liegende Tendenz zu irgendwelcher Veränderung seiner selbst, […].« (192b12–19)
Zum anderen drückt sich im Ausdruck der Natur die vollendete Artform aus, die sich in entsprechender Tätigkeit zeigt; das Wesen eines Lebewesens muß dann bereits Wirklichkeit (entelechia) geworden sein und die bloße Möglichkeit hinter sich gelassen haben. 153 Diese Polarität von Natur als Wirkprinzip und Vollendung gilt für jedes Lebewesen; der Mensch allerdings unterscheidet sich insofern von Pflanzen und Tieren, als er auf seine eigene Wesensverwirklichung hin tätig werden 150 Martha Nussbaum nimmt mit ihrem »Fähigkeitenansatz« eine Sonderstellung innerhalb des partikularistischen Spektrums ein, weshalb die nachfolgenden Ausführungen nur begrenzt auf sie anzuwenden sind. Vgl. Nussbaum (1999). 151 Zu den Publikationen, die sich um die Analyse des Naturbegriffs für die aristotelische Ethik verdient gemacht haben, zähle ich insbesondere die Monographie von Jörn Müller (2006b): Physis und Ethos. Der Naturbegriff bei Aristoteles und seine Relevanz für die Ethik, sowie den Aufsatz von Szaif (2004): »Naturbegriff und Güterlehre in der Ethik des Aristoteles«. 152 Vgl. Szaif (2004), S. 75. 153 Vgl. Physik II 1, 193b7 f.
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muss. Während bei Pflanzen und Tieren ihre Vollendung durch einen naturwüchsigen Prozess geschieht, muss der Mensch die Distanz zwischen seinem Wesen als Möglichkeit einerseits und als Wirklichkeit andererseits durch eigenes Handeln aufheben. Szaif bringt diesen Sachverhalt pointiert zum Ausdruck, wenn er konstatiert, dass der Mensch »das, was er (im teleologischen Sinne) von Natur aus ist, nicht von Natur aus wird.« 154 Daraus ergeben sich wichtige Konsequenzen: Indem dem Menschen die Verantwortung für seine eigene Vollendung aufgetragen ist, ist auch ein Scheitern denkbar: Der Mensch kann durch falsches, ihm nicht gemäßes Verhalten, sein Wesen verfehlen. 155 Dieses Risiko spiegelt sich auch in folgendem Punkt wider: Anders als in der Tier- und Pflanzenwelt kann durch die fehlende naturwüchsige Regularität nicht davon ausgegangen werden, dass die volle Verwirklichung des Menschseins ein Normalfall ist. 156 Als Ausdruck dieses seltenen Moments gilt der spoudaios, der in der Eudemischen Ethik auch explizit so gekennzeichnet wird: »Vollkommen aber ist der Hochwertige« (ho dê spoudaios teleios). In dem ›Wörterbuch‹ (Buch V) der Metaphysik bezeichnet Aristoteles als »vollkommen« u. a. dasjenige, »was der Tüchtigkeit nach und im Guten in seinem Geschlecht nicht übertroffen werden kann« und führt weiter aus, dass diesem nichts »nach der Art der ihnen eigentümlichen Tätigkeit« fehle (1021b15–17). Jedem aufmerksamen Leser der (Eudemischen) und Nikomachischen Ethik wird angesichts dieses Vokabulars das ergon-touanthrôpou-Argument in den Sinn kommen, das mittlerweile eine Art ›Eigenleben‹ in der Forschungsliteratur führt. 157 Aristoteles bringt dieses Argument in EN I 6, nachdem er die materielle ›Füllung‹ der bislang nur abstrakt erörterten eudaimonia in Aussicht gestellt hat. 158 Das Argument lässt sich in unterschiedlich viele Teilschritte untergliedern, ich möchte es im Folgenden in drei Teilen diskutieren. 159 Szaif (2004), S. 74. Vgl. Müller, J. (2006b), S. 82. 156 Vgl. Szaif (2004), S. 77. 157 Als Auswahl zur Forschungsliteratur sei verwiesen auf: Gómez-Lobo (1991); Kraut (1979); Müller, J. (2003); Whiting (1986). 158 Ich konzentriere mich im Folgenden auf das ergon-Argument, wie es in der Nikomachischen Ethik geführt wird. Jüngst hat Jörn Müller, wie zuvor schon insbesondere Hutchinson, plausibel für eine unifizierende Interpretation der beiden ergon-Argumente in der EN und EE plädiert, vgl. Müller, J. (2003). 159 In der Literatur gibt es zahlreiche Varianten der Unterteilung: Beispielsweise dis154 155
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Im ersten Part des Arguments geht es um den ergon-Begriff, dessen Verständnis bereits viel über die nachfolgende Position aussagt. Aristoteles führt ihn mittels einer Analogie ein: »Wie man nämlich annimmt, dass für den Flötenspieler, den Bildhauer und jeden Fachmann in einem Herstellungswissen, allgemein für jeden, der eine bestimmte Funktion (ergon) und Tätigkeit (energeia) hat, »gut« (agathos) und »auf gute Weise« (eu) in der Funktion liegt, so sollte man annehmen, dass das wohl auch für den Menschen zutrifft, wenn er wirklich eine bestimmte Funktion hat. Sollten also wirklich der Schreiner und der Schuster bestimmte Funktionen und Tätigkeiten haben, der Mensch hingegen keine, sondern von Natur aus ohne Funktion sein? Oder kann man, ebenso wie offensichtlich das Auge, die Hand, der Fuß und allgemein jeder Körperteil eine bestimmte Funktion besitzt, so auch für den Menschen eine bestimmte Funktion neben all diesen Funktionen ansetzen?« (EN I 6, 1097b25–33)
In der Übersetzung von Ursula Wolf wird ergon mit »Funktion« wiedergegeben, was insofern problematisch ist, als damit suggeriert wird, dass der Mensch eine von außen ihm auferlegte Rolle zu spielen habe. Dieses Verständnis lehnt Jörn Müller plausibel mit dem Verweis ab, dass weder die polis noch irgendeine andere übergeordnete Instanz bei Aristoteles eine solche Zwecksetzung vornehmen könne. 160 Stattdessen plädiert er für die Übersetzung von ergon als »charakteristische Tätigkeit«, die auch schon von Kenny befürwortet worden ist. 161 Gegen diese wendet sich hingegen McDowell explizit, indem er ein statistisches Verständnis von »charakteristisch« annimmt und dies dann wegen der Verknüpfung mit der später noch zu erörternden »Exzellenz« zurückweist. 162 McDowell hat an dieser Stelle das zentrale Problem richtig erfasst, nämlich dass die hervorragende Realisierung des ergon beim Menschen kein Regelfall ist. Daraus ist allerdings noch nicht die Ablehnung der Übersetzung von ergon als »charakteristischer Tätigkeit« zu folgern, denn in diesem Fall liegt gerade kein statistischer Gebrauch von »charakteristisch« vor, sondern ein normativer; anders ist die Aussage des spoudaios als »vollkommen« nicht zu verstehen. Nachdem nun Aristoteles, rhetorisch eingekleidet, zu dem Ergebkutiert Jörn Müller es in zwei Teilschritten, Hutchinson untergliedert es in sechs Prämissen und Reeve sogar in zehn. Vgl. Müller, J. (2006b), S. 73–78; Hutchinson (1986), S. 55; Reeve (1995), S. 123-131. 160 Vgl. Müller, J. (2006b), S. 74 f. 161 Vgl. Kenny (1977), S. 27; Müller, J. (2006b). 162 Vgl. McDowell (1980), S. 366.
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nis gekommen ist, dass der Mensch qua Mensch auch über ein ergon verfügen müsse, geht er zu dessen Ermittlung mit Hilfe eines ausschließenden Verfahrens über. Dieses Vorgehen basiert auf der Dreistufung der seelischen Vermögen in De anima, wobei die Dreistufung durchaus als eine Wertskala verstanden werden darf: 163 »Welche nun könnte das sein? Das Leben scheint der Mensch mit den Pflanzen gemeinsam zu haben, gesucht ist aber die ihm eigentümliche Funktion (zêteitai de to idion). Das [vegetative] Leben der Ernährung und des Wachstums ist also auszusondern. Als Nächstes käme wohl das Leben der Wahrnehmung, doch auch dieses teilt der Mensch offenkundig mit dem Pferd, dem Rind und überhaupt mit jedem Tier. Übrig bleibt also ein tätiges Leben desjenigen Bestandteils in der menschlichen Seele (psychê), der Vernunft (logos) besitzt; von diesem hat ein Teil Vernunft in der Weise, dass er der Vernunft gehorcht, der andere so, dass er sie hat und denkt. Da aber auch von diesem letzteren Teil in zwei Bedeutungen gesprochen wird, müssen wir sagen, dass er im Sinn der Betätigung (energeia) zu verstehen ist, da er so im eigentlicheren Sinn bezeichnet werden dürfte.« (EN I 6, 1097b33– 1098a7)
Dem durchgeführten Ausschlußverfahren liegt der Gedanke zugrunde, dass das Eigentümliche (to idion) des Menschen eben sein ergon sei, das gleichzeitig die differentia specifica zu anderen Lebewesen begründet. Wichtig ist nun der Hinweis auf die Betätigung (energeia) des ergon: Erst in der Aktivität ist die charakteristische Seinsweise realisiert, die beim Menschen in der Vernunftbetätigung besteht. McDowell zufolge ist diese Bestimmung des ergon allein mit einem lüstern geführten Leben (bios apolaustikos), das vom appetitiven Seelenteil dominiert wird, nicht vereinbar. Abgesehen davon, sei das Ergebnis, dass das ergon des Menschen die Vernunftbetätigung sei, neutral. 164 Es könnten sich daraus keine Schlüsse ziehen lassen, in welcher Lebensform diese Vernunftbetätigung auszuüben sei; stattdessen sei eine Pluralität von Lebensentwürfen von dieser Definition des ergon abgedeckt. 165 Im Hintergrund seiner Argumentation steht für McDowell die Annahme, dass das ergon-Argument nicht zwangsläufig als Ausdruck von Aristoteles’ eigener eudaimonia-Konzeption zu verstehen ist. 166 Diese Interpretation lässt sich allerdings nur schwer mit dem In163 164 165 166
Vgl. Müller, J. (2003), S. 519. Vgl. McDowell (1980), S. 366. Vgl. McDowell (1980), S. 366 f. Vgl. ebd. A
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halt der Nikomachischen Ethik vereinbaren, der als die Ausbuchstabierung eines Lebens gemäß der Vernunft verstanden werden muss. 167 Nach der Bestimmung des menschlichen ergon ist eine neue Argumentationsebene festzustellen, indem Aristoteles eine zentrale Qualifizierung mittels des aretê-Begriffs vornimmt: Nicht die bloße Vernunfttätigkeit, sondern allein die sehr gute/exzellente Vernunfttätigkeit ermöglicht die abschließende und vollendete Realisierung der menschlichen Natur: 168 »Wenn nun die Funktion des Menschen eine Tätigkeit (energeia) der Seele entsprechend der Vernunft (kata logon) oder wenigstens nicht ohne Vernunft ist und wenn wir sagen, dass die Funktion eines So-und-So und die eines guten (spoudaios) So-und-So zur selben Art gehören, zum Beispiel die eines Kitharaspielers und die eines guten Kitharaspielers, und so überhaupt in allen Fällen, wobei das Herausragen im Sinn der Gutheit (kat’aretên) zur Funktion hinzugefügt wird […] – wenn das der Fall ist, wenn wir aber als Funktion des Menschen eine bestimmte Lebensweise annehmen, und zwar eine Tätigkeit nach der Seele oder der Vernunft entsprechende Handlungen, als die Funktion des guten Menschen (spoudaiou d’andros) aber, diese Handlungen auf gute und angemessene Weise zu tun, und wenn jede Handlung gut verrichtet ist, wenn sie im Sinn der eigentümlichen Tugend verrichtet ist – wenn es sich so verhält: dann erweist sich das Gut für den Menschen (to anthrôpinon agathon) als Tätigkeit (energeia) der Seele im Sinn der Gutheit, und wenn es mehrere Arten der Gutheit gibt, im Sinn derjenigen, welche die beste und am meisten ein abschließendes Ziel hat.« (EN I 6, 1098a7–18)
Dieser letzte argumentative Teilschritt erfährt häufig den größten Widerspruch – insbesondere der Wechsel vom exzellent ausgeführten ergon des Menschen zu seinem Gut (to antrôpinon agathon) wird als unzulässig kritisiert. Die Unzulässigkeit wird im Übergang von einer deskriptiven Ebene (Bestimmung des ergon) zu einer normativen (Folgerung des für den Menschen Guten) gesehen; dieser Vorwurf wird meistens unter dem Stichwort »naturalistischer Fehlschluss« zusammengefasst. 169 Wolf stellt diesen Einwand in Frage, indem sie darauf hinweist, dass streng genommen noch nicht aus der Vernunftbegabung selbst die Aufforderung zum vernünftigen Leben resultiert, sondern 167 Vgl. dazu: Szaif (2004), S. 81; Wilkes (1980). Beide gehen davon aus, dass es nur zwei Konzepte des tugendhaften Lebens geben kann, das politische und das theoretische. 168 Vgl. ebd., S. 518. 169 J. Müller macht zu Recht darauf aufmerksam, dass man zwischen zwei Arten des naturalistischen Fehlschlusses zu unterscheiden habe. Vgl. Müller, J. (2006b), Kap. IV.4.
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erst aus dem nachfolgenden Argumentationsschritt, dem der gut ausgeübten Vernunftbegabung. 170 Es gebe zwar nach wie vor einen problematischen Argumentationssprung, allerdings nicht zwischen einer deskriptiven und einer normativen Ebene, sondern zwischen zwei verschiedenen normativen Begriffen, dem der aretê und dem der eudaimonia (bzw. to anthrôpinon agathon), was letztlich auf die Konfusion zweier Teleologien zurückzuführen sei, einer funktionalen und einer ethischen. 171 Während Wolf zwei Teleologien unterscheidet, zieht McDowell jegliche Teleologie in Zweifel, wie ich im Kontext der partikularistischen Interpretation der Normfigur ausgeführt habe. Ihm zufolge ist das ergon-Argument auf die einfache Formel zu reduzieren, dass das, was der Menschen an besonderer Fähigkeit besitze, auch gut für ihn sei. 172 Gemäß seines internalistischen Ansatzes konzentriert sich McDowell ganz auf die Perspektive des Akteurs und verwahrt sich gegen jede externalistische, teleologische Erklärung. Sowohl die Interpretation in ausschließlich teleologischem Vokabular als auch ihre vollständige Negation scheint mir der aristotelischen Konzeption nicht ganz gerecht zu werden. Jan Szaif gibt auf diese Problematik eine Antwort, die den Vorteil hat, beide Intuitionen einzufangen, indem er Aristoteles die These der Kongruenz vom subjektiven Strebensziel und dem objektiven menschlichen Telos in der eudaimonia zuweist. In dieser Kongruenz kommt es dann auch zum entsprechenden Ausgleich zwischen der bloß internen Perspektive und der externen Evaluation. Zusammengefasst könnte man dies so formulieren: Die eudaimonia ist das (letzte) Ziel, das höchste Gut, woraufhin das natürliche Streben des Menschen ausgerichtet ist und zugleich markiert sie auch das artspezifische Ziel des Menschen, indem sie seinen »Vollendungsmodus« 173 bezeichnet. In der Figur des spoudaios erfährt sie ihre adäquate Realisierung: »Gemäß Aristoteles’ teleologischem Wesensbegriff ist das Wesen des Menschen erst im vortrefflichen Menschen uneingeschränkt verwirklicht. Und eben darum ist auch allein der vortreffliche Mensch der Maßstab dafür, was schlechthin für den Menschen und seine Möglichkeiten zu eudaimonischer Praxis das Zuträgliche ist.« 174 170 171 172 173 174
Vgl. Wolf, U. (2002), S. 43 f. Vgl. ebd., S. 44. Vgl. McDowell (1980), S. 366 f. Szaif (2004), S. 70. Ebd., S. 71. A
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Der spoudaios, die Normfigur, kann demnach nur als Standard, als Maßstab für andere Menschen fungieren, weil er das Leben der eudaimonia par excellence verkörpert, indem er das ergon des Menschen in sich zur Vollendung gebracht hat und gleichzeitig sich in seinem eigenen Streben und der entsprechenden Freude vollständig daran ausrichten konnte.
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IX. Ergebnis: Der Standard des Guten
Als das leitende Erkenntnisinteresse dieser Arbeit formulierte ich die Prüfung der partikularistischen Lesart der Nikomachischen Ethik. Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass sie aus mehreren Gründen nicht überzeugen kann, die ich an dieser Stelle referieren möchte, indem ich die Einzelresultate der Kapitel zusammenhängend präsentiere. Meine Untersuchung der partikularistischen Interpretation baute ich auf zwei Strategien auf, die unterschiedliche Schwerpunkte setzten. Im Rahmen der ersten Strategie bewegte ich mich innerhalb der Partikularismus-Generalismus-Debatte, indem ich mich auf die partikularistischen Thesen von der substantiellen Unexaktheit von Ethik, den fehlenden bzw. ungenügenden Handlungsregeln bei Aristoteles sowie ihrem Verständnis von phronêsis und aisthêsis konzentrierte. Anschließend stellte ich auf einer zweiten Ebene die partikularistische Konzeption der Normfigur in Frage. Auf beiden Argumentationsstufen lassen sich Schwächen der partikularistischen Position feststellen. Die Prüfung des Exaktheitsanspruchs der Ethik hat zwar ergeben, dass die Ethik als wissenschaftliche Disziplin weniger exakt ist als theoretische Wissenschaften. Daraus ist allerdings noch nicht die partikularistische Schlussfolgerung zu ziehen, dass ihr Anspruch als Wissenschaft vollständig aufgegeben werden müsse. Die Ethik gewährleistet als Wissenschaft nach wie vor die Redeweise von Genauigkeit, nur in einem geringeren Maße, da sie wegen ihres Gegenstandsbereichs – der Bereich des Veränderlichen – stärker von Kontingenz betroffen ist. Dessen ungeachtet bemüht sich Aristoteles um eine bestmögliche Einkreisung der verfügbaren Wissenschaftlichkeit, indem er sowohl das typô-Wissen als auch hôs-epi-to-poly-Aussagen als charakteristische Wissensformen von Ethik anführt und zusätzlich einen Methodenpluralismus praktiziert. In diesem Vorgehen ist daher vielmehr die Konsequenz aus seiner Berücksichtigung des Veränderungen unterlie-
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genden Gegenstandsbereichs der Ethik zu sehen, und nicht ein Indiz für die Unexaktheit von Ethik. Einer weiteren partikularistischen These zufolge zeichnet sich die Ethik des Aristoteles durch den Verzicht auf Handlungsregeln aus, die einen vergleichbaren Status wie moralische Prinzipien in der gegenwärtigen Moralphilosophie besitzen. Prima facie gibt es tatsächlich wenig Hinweise auf konkret formulierte Handlungsregeln, zumindest, wenn man eine Art ›Regelkatalog‹ erwartet. Eine genauere Auseinandersetzung mit dem Begriff von praxis hingegen hat gezeigt, dass darin eine Unterscheidung zwischen dem Akt einer Handlung und einem stabilen Handlungsverhalten, sprich: einer Haltung, impliziert ist, die sich als argumentative Basis für den Nachweis von Handlungsregeln eignet. Wenn nämlich eine Handlung als gerecht eingestuft werden kann, ohne dass der Handelnde eine entsprechende Haltung besitzt, muss es ›materielle‹ Bestimmungen von gerechten Handlungen geben. Im Anschluss daran nahm ich eine Diskussion der mesotês-Lehre vor, der jedoch keine handlungsanweisende Funktion zugesprochen werden kann. Im Rahmen dieser Erörterung hat sich aber herausgestellt, dass die Rolle des phronimos als Standard für die Festlegung der tugendhaften Mitte häufig wegen einer Fehlinterpretation der Formulierung »Mitte in Bezug auf uns« unterschätzt wird, was ein wichtiges Resultat für das bessere Verständnis des phronimos darstellt. Trotz der fehlenden Orientierung durch die mesotês-Lehre konnten danach durchaus Handlungsregeln in der Nikomachischen Ethik freigelegt werden, die gebotene Handlungen im Gegenstandsbereich der jeweiligen Tugend anzeigen und meist auch gesetzlich verankert sind. Diese Handlungsregeln verfügen über eine hôs-epi-to-poly-Geltung; darüber hinaus sind auch ausnahmslose Regeln zu konstatieren. Beide Arten von Handlungsregeln widerlegen die partikularistische Einschätzung, dass es keine Handlungsregeln gebe, oder allenfalls welche, die lediglich als ›Faustregeln‹ zu betrachten sind. Als ein Grund für die fehlende bzw. vernachlässigbare Funktion von Handlungsregeln wird seitens der Partikularisten die Figur des phronimos angeführt. Diese Auffassung missachtet m. E., dass der phronimos keineswegs in einem Konkurrenzverhältnis zu diesen Regeln steht, sondern dass er sie ›inkorporiert‹ hat. Er befolgt die Regeln qua seiner tugendhaften Haltung und geht zugleich über sie hinaus, weil er die Fähigkeit besitzt, auch in neuen oder prima facie dilemmatischen Situationen richtig zu handeln. Dieses Verständnis findet weitere Unterstützung in der epieikeia, die 228
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als eine Fortführung des Allgemeinen im Unbestimmten zu verstehen ist, und nicht als seine Aufhebung. Die Ausführungen des Aristoteles zur phronêsis sind für Partikularisten von besonderem Interesse, da ihr am meisten Hinweise für die Priorität des Einzelnen und seiner Erfassung durch die phronêsis als einer Form der aisthêsis zu entnehmen sind. Eine detaillierte Strukturanalyse des sechsten Buches hat jedoch gezeigt, dass bei einer solchen Konzentration auf die phronêsis als aisthêsis zentrale Elemente wie ihre Wahrheitsausrichtung und ihr Anteil an Allgemeinheit unberücksichtigt bleiben. Allgemeinheit spielt auch bei der phronêsis eine wichtige Rolle, anders wäre beispielsweise ihre Beschreibung als architektonische Tugend, die sich als handlungsanweisend zeigt, nicht nachzuvollziehen. Auch die Kompetenz der Überlegung (bouleusis) wird in der partikularistischen Interpretation unterschätzt. Dagegen muss allerdings Einspruch erhoben werden, da es drei gravierende (charakterliche, epistemische, logische) Fehlerquellen beim Überlegungsprozess gibt, weshalb sie sich als schwierig erwiesen hat. Im Rahmen der Überlegung steht besonders ihre Formalisierung durch den sog. Regel-FallSyllogismus im Zentrum der partikularistischen Kritik, die sich als nicht haltbar herausgestellt hat. Ein Motiv der partikularistischen Skepsis ist in diesem Kontext darin zu sehen, dass damit die aisthêsis eine Marginalisierung erfährt. Die Stellung der aisthêsis wird von Partikularisten besonders herausgehoben, worin sicherlich einer der größten Unterschiede zwischen Partikularisten und Generalisten zu sehen ist: Die aisthêsis wird in der partikularistischen Interpretation zu einem moralischen Vermögen aufgewertet, das handlungsbestimmend ist. Dabei gilt es zwischen zwei Ansätzen von aisthêsis zu unterscheiden: der erste Ansatz, der einem moralischen Realismus verpflichtet ist, nimmt einen fokussierenden Blickwinkel an, während der andere Zweig, der sich einem eher hermeneutischen Hintergrund verdankt, der Wahrnehmung einen interpretierenden Panoramablick zuspricht. Eine Auseinandersetzung mit den einschlägigen Textpassagen hat allerdings gezeigt, dass die Aufwertung der aisthêsis zu einer solchen entscheidenden Fähigkeit keine Unterstützung durch den Text erfährt. Ihr kommt zwar unbestritten eine wichtige Rolle zu, nämlich die der Anzeige des letzten Schritts vor der Handlung. Im Kontext der phronêsis fügt sie sich aber viel mehr ein als es von Partikularisten behauptet wird: sie ist ein integraler, aber kein exponierter Bestandteil der phronêsis. A
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Bereits auf der Ebene der generalistischen Widerlegung sind Bedenken gegenüber einer partikularistischen Interpretation angemessen. Eine Beendigung der Diskussion an dieser Stelle hätte aber ein unbefriedigendes Ergebnis zur Folge gehabt: Zwar konnte die partikularistische Lesart als wenig überzeugend klassifiziert werden, doch scheint der genuin aristotelische Charakter der Ethik noch nicht hinreichend zum Tragen gekommen sein, was insbesondere daran liegt, dass die wichtige Aussage, dass der Standard des Guten der vortreffliche Mensch sei, noch nicht auf adäquate Weise gewürdigt worden ist. In der Bedeutung des klugen und vortrefflichen Menschen sehen Partikularisten ihre Prinzipienskepsis bestätigt und durch eine attraktivere, personale Norm ersetzt. In ihren Augen zeichnet sich die Normfigur durch ihre besondere moralische Sensitivität aus, die sie im Zuge ihrer moralischen Entwicklung erworben hat, wie insbesondere den Ausführungen von McDowell zu entnehmen ist. Die partikularistische Konzeption der Normfigur spiegelt sich in einem starken Internalismus und der Absage an jegliche Teleologie wider, wodurch die geteilte Lebenswelt eine starke Rolle zugewiesen bekommt. Dies wirft die Frage nach ihrer öffentlichen Situierung auf, bei deren Beantwortung die Kommunitarismus-Universalismus-Debatte Berücksichtigung fand. Es stellte sich dabei heraus, dass die Normfigur nicht auf die Repräsentanz von athenischen Sittlichkeitsvorstellungen reduziert werden kann, sondern vielmehr eine allgemeine menschliche Dimension anspricht. Sie fungiert zwar als Vorbild, das aber Eigenschaften in ihrer Allgemeinheit verkörpert und weniger an konkrete historische Persönlichkeiten denken lässt. Mittels einer Charakterstudie setzte ich im Anschluss dem partikularistischen Verständnis der Normfigur eine alternative Lesart entgegen, indem ich mich auf die Eigenschaften konzentrierte, durch die sie besonders herausragt. Diesem Vorgehen liegt meine Überzeugung zugrunde, dass die Untersuchung ihrer spezifischen Eigenschaften mehr zur adäquaten Auffassung beitragen kann als die Begründung ihrer Wahrnehmungskompetenz mittels ihrer moralischen Entwicklung. Die Normfigur zeichnet sich durch ein lustvollereres Leben aus, da sie an den natürlichen Lüsten orientiert ist. Aufgrund ihrer ethisch optimalen Verfassung verfügt sie zudem über einen beständigen Wahrheitsbezug beim Urteilen. Ferner besitzt sie Selbstliebe, die darin besteht, dass sie sich gänzlich ihrem ›denkenden Seelenteil‹ anvertraut hat. Die Selbstliebe befähigt sie außerdem zur vollkommensten Form 230
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der Freundschaft, nämlich der Freundschaft unter Tugendhaften. Neben dem besseren Verständnis der Eigenschaften brachte die Charakterstudie ein weiteres Ergebnis zutage: In den Kennzeichen der Normfigur gab es immer wiederkehrende Hinweise auf Beständigkeit, Kontinuität, Natürlichkeit – systematische Eigenschaften, die den Gedanken nahe legten, dass die Normfigur die maximale menschenmögliche Regularität im Bereich von praxis darstellt. Dieses Resultat formulierte ich als Hypothese, um sie im letzten Kapitel mittels einer Untersuchung von Unfehlbarkeit, Unerschütterlichkeit in der Tugend und letztlich als Ausdruck der vollkommenen menschlichen Natur zu untermauern. Dabei hat sich herausgestellt, dass in der Normfigur ihr subjektives Streben und die objektive Erfüllung des menschlichen telos, die eudaimonia, kongruent sind, weshalb in ihr sowohl eine interne als auch eine externe Dimension vereinigt sind. Mit diesem Ergebnis hat aber eine interne Interpretation, die ausschließlich der Perspektive des Akteurs verpflichtet ist und keinerlei äußere evaluative Momente zulässt, wie sie von Partikularisten vertreten wird, an Überzeugungskraft verloren. Aus diesem Grunde sollte die Normfigur meiner Meinung nach nicht als ein Kriterium definiert werden. Stattdessen dürfte die Bezeichnung der Normfigur als Standard angemessener sein: Der Standard ist der Gute und zugleich verweist er qua seiner Konzeption auf das Gute.
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Register
Stellenverzeichnis EN I 1, 1094a22–26 67 EN I 1, 1094a24–28 65 EN I 1, 1094b10 f. 65 EN I 1, 1094b11–14 63 EN I 1, 1094b19 67 EN I 1, 1094b19–25 67 EN I 1, 1095a7–11 69 EN I 2 1094b10 f. 97 EN I 2, 1095a19 65 EN I 2, 1095a30–1095b4 77 f. EN I 2, 1095b4 ff. 175 EN I 2, 1095b6 f. 179 EN I 3, 1095b19 f. 197 EN I 6, 1097b20 f. 89 EN I 6, 1097b22 ff. 90 EN I 6, 1097b25–33 222 EN I 6, 1097b33–1098a7 223 EN I 6, 1098a7–18 224 EN I 6, 1098a16 f. 70 EN I 6, 1098a17–20 201 EN I 7, 1098a20–24 68 EN I 8, 1098b12–15 215 EN I 9, 1099a7–26 191 f., 196 EN I 9, 1099a13 f. 195 EN I 9, 1099a21 ff. 195 EN I 9, 1099a31 f. 213 EN I 10, 1099a31–1099b3 215 EN I 10, 1100a5–9 214 EN I 11, 1100b7 f. 215 EN I 11, 1100b12 f. 207, 215 EN I 11, 1100b22–29 215 EN I 11, 1100b29–1101a8 216 EN I 11, 1100b29 f. 218 EN I 11, 1101a2 f. 218 EN I 11, 1101a3 ff. 218
EN I 11, 1101a11–13 218 EN I 11, 1101a24–28 67, 69 EN I 13, 1102a28 115 EN I 13, 1102b25–28 201 EN I 13, 1103a1 115 EN II 1, 1103a15 ff. 115 EN II 1, 1103a17 209 EN II 2, 1103b26–30 83 EN II 2, 1103b34–1104a7 68 EN II 2, 1103b34–1140a8 67 EN II 2, 1104b3–9 86 EN II 2, 1104b21–24 208 EN II 2, 1104b30 ff. 86 EN II 3, 1105a28–33 208 EN II 3, 1105a28–1105b9 82 EN II 3, 1105b2 f. 83 EN II 3, 1105b4 209 EN II 5, 1106a26–32 92–93 EN II 5, 1106a31–1106b6 95 EN II 5, 1106b21 f. 93, 98 EN II 5, 1106b31 ff. 190 EN II 6, 1106b36–1107a2 91, 94, 174 EN II 6, 1107a6 ff. 92 EN II 6, 1107a8–15 98 EN II 6, 1107a12 f. 75 EN II 7, 1107a31 71 EN II 9, 1109a24 f. 191 EN II 9, 1109a29 f. 191 EN II 9, 1109b20–23 148 EN III 1, 1110a15 ff. 89 EN III 2, 1110b21 ff. 84 EN III 2, 1110b24 f. 84 EN III 2, 1110b28 f. 84, 137 EN III 2, 1110b31–1111a2 84 EN III 2, 1110b33 71 A
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Register EN III 2, 1110b33–1111a1 137 EN III 3, 1111a25 f. 82 EN III 4, 1111b5 f. 84 EN III 4, 1111b6–10 85 EN III 4, 1111b19 f. 85 EN III 5, 1112a18–29 134 EN III 5, 1112a30 f. 135 EN III 5, 1112b8 f. 75 EN III 5, 1112b8 ff. 135 EN III 5, 1112b12 136 EN III 5, 1112b15 f. 140 EN III 5, 1112b20–24 158 f. EN III 5, 1112b33 136 EN III 5, 1112b34–1113a 160 EN III 5, 1113a2 ff. 85 EN III 5, 1113a9 ff. 85 EN III 6, 1113a22–33 196 EN III 6, 1113a25 ff. 191 EN III 6, 1113a32 f. 162, 171, 173, 184, 191 EN III 7, 1113b3 136 EN III 7, 1114bff. 155 EN III 9, 1115a4 f. 96 EN IV 1, 1120a3 f. 72 EN IV 10, 1125b17–21 187 EN IV 11, 1126b4 148 EN IV 15, 1128b21 108 EN IV 15, 1128b21-31 212 EN V 3, 1129b19–25 96 EN V 7, 1132a2–6 211 EN V 10, 1134a17–23 209 EN V 10, 1135a5–8 128 EN V 10, 1135b12–24 210 EN V 14, 1137b11–27 103 EN V 14, 1137b11–1138a2 102 EN V 14, 1137b14 104 EN V 14, 1137b19–24 106 EN V 14, 1137b20 104 EN V 14, 1137b27–32 109 EN V 14, 1137b34–1138a2 107 EN VI 2, 1139a8 115 EN VI 2, 1139a12 115 EN VI 2, 1139a12 ff. 115 EN VI 2, 1139a18 116 EN VI 2, 1139a21–27 117 EN VI 2, 1139a31 ff. 115 EN VI 2, 1139a32 f. 117 EN VI 2, 1139b3 ff. 115
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EN VI 2, 1139b12 116 EN VI 3, 1139b5 89 EN VI 3, 1139b15 f. 119 EN VI 3, 1139b20–27 120 EN VI 3, 1139b28 f. 120 EN VI 3, 1139b31 f. 121 EN VI 4, 1140a4 121 EN VI 4, 1140a4 f. 121 EN VI 5, 1140a24 f. 174, 189 EN VI 5, 1140a25–28 133 EN VI 5, 1140a26 121 EN VI 5, 1140a26 ff. 121 EN VI 5, 1140a28 157 EN VI 5, 1140a29 f. 121 EN VI 5, 1140a31 ff. 122 EN VI 5, 1140b4 ff. 122 EN VI 5, 1140b6 f. 122 EN VI 5, 1140b11 f. 123 EN VI 5, 1140b16–20 117 EN VI 6, 1140a34–1141a1 123 EN VI 6, 1140b32 f. 123 EN VI 6, 1140b34 123 EN VI 6, 1141a2 f. 123 EN VI 6, 1141a3 f. 123 EN VI 6, 1141a7 f. 123 EN VI 7, 1141a10 190 EN VI 7, 1141a12 123 EN VI 7, 1141a13 123 EN VI 7, 1141a18 f. 124 EN VI 7, 1141a19 f. 124 EN VI 8, 1141b9 f. 133 EN VI 8, 1141b10–14 134 EN VI 8, 1141b14 f. 128 EN VI 8, 1141b16 71 EN VI 8, 1141b18–21 130 EN VI 8, 1141b21 f. 130 EN VI 8, 1141b23–33 129 EN VI 9, 1142a10 f. 135 EN VI 9, 1142a20–25 131 EN VI 9, 1142a21 f. 137 EN VI 9, 1142a24–30 156 f. EN VI 9, 1142a26–30 148 EN VI 10, 1142a32 135 EN VI 10, 1142a34 135 EN VI 10, 1142b2–5 135 EN VI 10, 1142b11 f. 135 EN VI 10, 1142b12 f. 138 EN VI 10, 1142b22 ff. 138
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https://doi.org/10.5771/9783495997628 .
Register EN VI 10, 1142b33 136 EN VI 11, 1143a6–10 132 EN VI 11, 1143a8 f. 129 EN VI 11, 1143a8 ff. 129 EN VI 11, 1143a20 132 EN VI 11, 1143a21–24 132 EN VI 11, 1143a24 133 EN VI 12, 1143a19–24 107 EN VI 12, 1143a25–29 125 EN VI 12, 1143a26 ff. 170 EN VI 12, 1143a31 f. 133 EN VI 12, 1143a32 ff. 125 EN VI 12, 1143a35–1143b5 158 EN VI 12, 1143b5 148 EN VI 12, 1143b11 ff. 133 EN VI 13, 1144a13–19 88 EN VI 13, 1144a31–1144b1 136 EN VI 13, 1144b12–17 177 EN VI 13, 1144b30 ff. 170 EN VI 13, 1144b35 ff. 170 EN VI 13, 1145a5 136 EN VII 2, 1145b2–7 76 EN VII 2, 1145b10–14 118 EN VII 3, 1146a8 ff. 71 EN VII 5, 1147a4 71 EN VII 5, 1147a25–28 119, 140 EN VII 5, 1147a26 148 EN VII 6, 1147b24–31 193 EN VII 6, 1147b29–34 211 EN VII 9, 1151a16 89 EN VII 11, 1152a7 f. 170 EN VII 12, 1152b8–12 77 EN VII 13, 1152b33–1153a2 194 EN VII 13, 1153a14 f. 194 EN VII 14, 1154a5 ff. 192–193 EN VII 15, 1154b15 ff. 194 EN VII 15, 1154b17 f. 194 EN VIII 2, 1155b31 204 EN VIII 2, 1155b32 ff. 204 EN VIII 3, 1156a14 ff. 206 EN VIII 3, 1156a16 f. 206 EN VIII 7, 1158a10 ff. 205 EN IX 2, 1164b31–1165a4 144 EN IX 4, 1166a2–8 199 EN IX 4, 1166a12 f. 13 EN IX 4, 1166a13 f. 199 EN IX 4, 1166a14–17 199 EN IX 4, 1166a17–23 200
EN IX 4, 1166a19 201 EN IX 4, 1166a22 201 EN IX 4, 1166a23–27 200 EN IX 4, 1166a27 ff. 212 EN IX 4, 1166a28 f. 200 EN IX 4, 1166a33–1166b2 200 EN IX 4, 1166b19–22 200 EN IX 8, 1169a18 ff. 203 EN IX 8, 1168a33 168 EN IX 8, 1168a33 ff. 108 EN IX 8, 1168b15 ff. 202 EN IX 8, 1168b17 ff. 202 EN IX 8, 1168b19 ff. 202 EN IX 8, 1168b29 ff. 202 EN IX 8, 1168b35–1169a1 203 EN IX 8, 1169a11 ff. 203 EN IX 8, 1169a16 108 EN IX 8, 1169a16 ff. 168 EN IX 8, 1169a29 f. 203 EN IX 8, 1169a32 ff. 203 EN IX 9, 1170a3 168 EN IX 9, 1170a13–16 195 EN IX 10, 1171a10 f. 205 EN X 2, 1173b28 192 EN X 2, 1173b28 f. 193 EN X 4, 1174b23 194 EN X 5 1176a10–19 192 EN X 5, 1175a25 ff. 193 EN X 5, 1176a10–19 196 EN X 5, 1176a13–16 197 EN X 6, 1177a3 ff. 166 APo. I 27, 87a31–36 60 APo. I 30, 87b19–27 73, 75, 142, 145 APo. II 19, 100a15–100b2 159 APr. I 13, 32b4–13 74 Cat. 7, 10b5–10 167 de An. III 11, 434a16–21 140 EE III 7, 1234a24–29 212 EE VII 2, 1235b32 195 EE VII 2, 1237a30 78, 219 MA 7, 701a24 f. 139 Metaph. V 16, 1021b15–17 221 Metaph. VI 1, 993b19–21 59 Metaph. VI 1, 1026a19 60 Metaph. VI 1, 1026a20–22 60 Metaph. VI 1, 1026a22 f. 60 Metaph. IX 6, 1063a 183
A
Der Standard des Guten bei Aristoteles: Regularität im Unbestimmten https://doi.org/10.5771/9783495997628 .
249
Register Ph. II 1, 192b12–19 220 Ph. II 1, 193b7 f. 220 Pol. I 2, 1252b27–30 186 Pol. II 8, 1269a8–18 106
Rh. I 13, 1373b38–1374a8 99 Rh. I 13, 1374a28–1374b1 104 Rh. II 25, 1402b20 f. 72 Top. I 1, 100b21–23 77
Personenregister Abizadeh, A. 67, 89, 101–103, 112, 155, 162 Ackrill, J. 62, 81 Allan, D.J. 139–140 Anagnostopoulos, G. 27, 59, 61, 64, 75, 96, 129–130, 133 Ando, T. 139 Annas, J. 139, 195–196 Anscombe, E. 19, 22 Anton, J. P. 26 Arendt, H. 13, 19 Aubenque, P. 112, 165, 174, 185, 189, 197 Bakhurst, D. 20–21, 39 Barnes, J. 59–60, 77 Benson, J. 199 Bien, G. 185 Bonitz, H. 59, 168 Borsche, T. 183 Bosley, R. 26, 91 Bostock, D. 79, 195 Broadie, A. 141 Broadie, S. 86, 91, 115, 167 Brown, L. 27, 93–95 Brunschwig, J. 27, 102, 106–107 Burnet, J. 77, 109 Burnyeat, M. 179–180 Busche, H. 167 Chappell, T. 28, 74, 99 Charles, D. 141 Clarke, S. 35, 55 Cooper, J. 131, 139, 169, 204, 213 Corcilius, K. 139 Crisp, R. 19, 21, 41, 43 Cullity, G. 41–42 Curzer, H. 207–210 Dancy, J. 15, 20, 35, 39, 41–49 de Vogel, C. 199
250
Detel, W. 60, 62, 73 Develin, R. 187 Devereux, D. 89, 101, 111–112, 130–131 Dirlmeier, F. 28, 112, 167, 185 Drefcinski, S. 207, 209–211 Ebert, Th. 81, 112 Elm, R. 71, 138, 170–172, 212 Engberg-Pedersen, T. 158–159 Fletcher, J. 38 Foot, Ph. 19 Fortenbaugh, W. 113, 176 Gadamer, H.-G. 13, 19, 155 Ganter, M. 170, 172 Garfield, J. 20, 40–41, 53 Gauthier 109, 112, 167 Gay, R. 43 Geach, P. 19 Georgiadis, C. 108 Gesang, B. 21–22, 35, 38, 41, 48 Gigon, O. 28, 84, 112, 167, 199, 201 Gill, Ch. 26 Glidden, D. 190 Gómez-Lobo, A. 78, 99, 169, 172, 221 Gonzalez, F. 193 Gottlieb, P. 138–139, 195, 198 Graeser, A. 118, 139 Gutschker, Th. 186 Hamlyn, D.W. 183 Hardie, W.F.R. 77, 99, 139 Hare, R. M. 34, 48–49 Heidegger, M. 19, 53 Heinaman, R. 23 Höffe, O. 13, 63, 66, 68, 70, 72, 74–75, 188
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Magdalena Hoffmann
https://doi.org/10.5771/9783495997628 .
Register Holton, R. 38, 41, 51–53 Hooker, B. 21, 39, 52 Horn, Ch. 27, 102, 104–105, 108, 187, 192 Hursthouse, R. 19, 94, 125, 132 Hutchinson, D.S. 221–222
Natali, C. 116 Nussbaum, M. 16, 24–26, 31, 35–37, 67, 102, 130, 141, 143, 149, 153–156, 159, 169, 178, 182–183, 186, 188, 213–214, 217, 220 Owen, G.E.L. 76, 194
Irwin, T. 27, 70, 72, 75, 77, 90–91, 150– 152, 160, 167, 215 Jackson, F. 39, 43 Jaeger, W. 112, 173 Jensen, K. 43 Joachim, H.H. 197, 217 Jolif 109, 112, 167 Jones, H.S. 165–166 Jouët-Pastré, E. 166 Kaczor, Ch. 27, 98–99 Kallhoff, A. 24 Kenny, A. 182, 217, 219, 222 Kersting, W. 171, 187 Kihlbom, U. 22, 43, 50–52 Korsgaard, Ch. 85 Kraut, R. 78, 80–81, 85, 203, 221 Kullmann, W. 59, 63 Kurz, D. 59 Lance, M. 21, 36 Lear, G. R. 86 Leighton, S. 93 Liddell, H.G. 165–166 Lippert-Rasmussen, K. 43 Little, M. 21, 36, 39, 49 Lloyd, G.E.R. 197 Louden, R. 14, 67, 111, 131 MacIntyre, A. 173, 186–187 McDowell, J. 15–16, 20, 22–27, 31–32, 35, 37, 42, 67, 70, 90, 142–143, 145, 149–154, 156, 163, 169, 174–183, 222– 223, 225, 230 McKeever, S. 15, 21 McNaughton, D. 20, 35–37, 39–41, 50, 53–55 Monan, J.D. 78 Müller, A.W. 81, 87, 139 Müller, J. 76–77, 182, 188, 220–224
Pakaluk, M. 194–195 Payne, A. 204 Pettit, Ph. 39, 43 Platon 22, 59, 77, 165–166, 192, 200 Politis, V. 203 Preus, A. 26 Rackham, H. 113, 167 Rapp, Ch. 61, 65, 91, 186 Rawling, P. 39–41, 50 Reeve, C.D.C. 68, 72, 74, 82, 90, 135, 222 Reis, B. 114 Rese, F. 111, 118, 141–142, 155 Ricken, F. 197–198 Ridge, M. 15, 21 Riedel, M. 13 Rippe, K.P. 19, 173 Ritter, J. 13, 19 Rolfes, E. 28, 112, 167 Ronnow-Rasmussen, T. 21, 43 Ross, W.D. 14, 51, 113, 167, 217 Rowe, C. 167 Schaber, P. 19, 21, 36, 173 Scheler, M. 154 Schniewind, A. 165–166, 168 Schofield, M. 97, 129, 133 Schottlaender, R. 168, 188 Schroth, J. 49 Schulz, P. 202–203, 205 Scott, R. 165–166 Sherman, N. 14, 16, 26, 31, 36, 130, 141, 149, 153–156, 159, 184 Shiner, R. 26, 91 Simpson, E. 35, 55 Simpson, P. 187 Sinnott-Armstrong, W. 21, 41 Sisson, J. 26, 88, 91 Slote, M. 19
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Der Standard des Guten bei Aristoteles: Regularität im Unbestimmten https://doi.org/10.5771/9783495997628 .
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Register Smith, M. 39, 43 Sorabji, R. 85, 159–160, 177 Sparshott, F. 165 Stewart 109 Striker, G. 90, 97 Szaif, J. 79, 173, 194, 220–221, 224–225 Taylor, C.C.W. 136 Taylor, H.O. 92 Thornton, M.T. 141 Tuozzo, Th. 136 Urmson, J.O. 92 Verhaeghe, J. 173 Vigo, A. 118–119 Voigtländer, H.-D. 77
von Leyden, W. 106–107 Walter, J. 113, 176 Walzer, R. 189 White, N. 14, 17, 80, 151, 160, 169 Whiting, J. 221 Wielenberg, E. 203 Wiggins, D. 16, 23–27, 31, 35, 102, 108, 111, 130, 140, 142–143, 149–154, 156 Wilkes, K. 224 Williams, B. 91, 173 Wimmer, R. 51 Winter, M. 27, 73, 145 Wittgenstein, L. 20, 50, 53 Wolf, J.-C. 21, 36 Wolf, U. 28, 71, 84, 112, 120, 141, 157, 159, 167, 217, 222, 224–225
Sachregister aisthêsis 15–17, 22–23, 25, 28, 31, 36, 42, 58, 61, 71, 111, 116, 124, 127, 132–133, 140, 143, 148–160, 162–163, 176, 180, 183–184, 189, 196, 206, 223, 227, 229 akribeia 16, 18, 30, 58–68, 75, 79, 110, 123, 162, 227 aletheia 31, 59, 67, 76–77, 114, 116–120, 122–128, 141, 149, 162, 164, 172, 181, 183, 189, 192, 196–197, 229–230 das Allgemeine, allgemein s. katholou aretê 13, 22–23, 30–32, 37, 70–71, 75, 81–84, 86–87, 90–94, 96–98, 113–117, 120, 122–126, 128, 130, 133, 136–137, 142, 153, 158, 164, 166, 170–179, 181, 186–187, 191, 195, 198, 201, 207, 209, 211–213, 215, 217, 224–225, 228–229, 231 Betrachtung, Erkenntnis, Theorie s. theôria Billigkeit s. epieikeia bouleusis 16, 70, 75, 85, 115, 117, 119, 121–122, 124, 126–128, 131, 133–140, 142, 147, 158–159, 210–211, 229 charakteristische Tätigkeit des Menschen s. ergon-tou-anthrôpou
252
Dass (Wissen vom) s. hoti dihoti 61–62, 120, 131, 178–181 das Einzelne, einzeln s. hekaston epieikeia 16, 27–28, 102–110, 137, 146, 189, 228 epieikês 107–108, 168, 211–212 epistêmê 31, 58–61, 63–67, 71, 120, 122– 123, 131, 135, 156, 227 ergon 31, 59, 78, 100, 116, 166, 182, 222– 224, 226 ergon-tou-anthrôpou 22, 70, 76, 78, 90, 115–116, 166, 182, 188, 201, 219–221, 223, 225 eudaimonia 22, 69–71, 75, 79, 82, 89–91, 100, 119, 128, 138, 182, 192, 203, 213– 217, 219, 221, 223, 225–226, 231 Exaktheit, Genauigkeit s. akribeia Generalismus 14–21, 25–28, 34–35, 38– 39, 42–48, 51–52, 54–55, 70, 80, 93, 111–112, 141, 145, 147, 150, 162, 185, 227, 229–230 Glück, Glückseligkeit s. eudaimonia (im) Grundriss, Umriss s. typô Handlung, Handeln s. praxis
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Magdalena Hoffmann
https://doi.org/10.5771/9783495997628 .
Register Haltung, Disposition s. hexis hêdonê 69, 86, 101, 117–118, 123, 164, 191–198, 202, 206, 208, 211, 219, 230 hekaston 16, 31, 58, 68, 71, 84, 102, 105– 106, 111, 124–133, 136–137, 140–141, 143, 148–149, 157–159, 196, 229 Herstellung s. poiêsis Herstellungswissen, Kunst s. technê hexis 31, 70, 82–83, 86–89, 92, 94, 97, 101, 107, 114, 117, 119–123, 125–129, 132, 142, 153, 174, 177, 187, 194, 196, 207–210, 213, 216–217, 228 hôs-epi-to-poly 30, 58, 65–66, 69–75, 79–80, 97, 99–100, 105, 135, 142, 144– 146, 227–228 hoti 61–62, 131, 178–181 Intellekt, (intuitives) Denken s. nous kanôn 162, 164, 171, 173, 183–184, 191, 195–196, 219 katholou 31, 68, 84, 104, 106, 111, 123– 124, 126–129, 131, 133, 136–137, 140– 146, 158–159, 229 Klugheit, praktische Weisheit s. phronêsis der kluge, praktisch weise Mensch s. phronimos Kommunitarismus 24, 26, 32, 37, 53, 178, 185–189, 230 Kriterium (als Ggs. zu Standard) 17, 149, 162–163, 182–184, 231 Lesbisches Richtmaß 16, 102, 108–109 Lust, Angenehmes s. hêdonê Maßstab/Maß (moralisch) s. metron Mensch, der über Billigkeit verfügt s. epieikês mesotês 27, 30, 70, 75, 91–100, 114, 130, 137, 142, 146, 174, 177, 184, 187, 191, 211, 228 metron 13, 18, 162, 164, 171–174, 183– 184, 191, 196, 198, 219, 225–226 die (richtige) Mitte s. mesotês moralische Prinzipien 14, 18, 21, 27, 29– 30, 35, 39–41, 46–52, 54–55, 80–81, 90–91, 95–97, 100–102, 111–112, 128–
129, 142, 144–146, 162, 175, 183, 227– 228 moralischer Realismus 23, 35–36, 149, 153, 229 Natur (insb. menschliche) s. physis Normfigur s. spoudaios, phronimos nous 116, 120, 123–124, 156–158, 160, 201 Partikularismus 14–22, 24–32, 34–44, 46–55, 58, 66–67, 70–72, 74–75, 80, 88–90, 99–100, 102–103, 106, 108– 112, 125, 127, 129–130, 132–134, 139, 141–145, 147–151, 153, 156, 159–160, 162–164, 169, 174–175, 178, 182–184, 188, 206, 219–220, 225, 227–231 phronêsis 13, 16, 18–19, 28, 30–31, 71, 82, 84, 100, 111–114, 116, 119–137, 142, 146, 148–149, 155–158, 160, 162, 170–172, 174, 176–179, 183, 189–191, 201, 212–213, 227, 229 phronimos 13, 17–18, 23, 27, 29–32, 78, 80, 89, 91, 93–95, 100–101, 108, 111– 112, 121–122, 124–125, 133–134, 137– 138, 149, 153, 162–165, 169–175, 177– 178, 181–185, 187–191, 196, 198, 201, 204, 206–7, 211, 213, 219, 225–227, 228, 230 physis 24, 32, 37, 73–74, 78, 90, 94, 163– 164, 173–174, 182–183, 185, 188, 197, 207, 219–221, 224, 231 poiêsis 59, 81–82, 85, 116, 121–122, 124, 126 polis 23, 28, 129, 177, 181, 186–188, 222, 254 praktischer Syllogismus 23–25, 31, 113, 118, 121, 134, 138–147, 229 praxis 13–14, 16, 19–20, 23, 25–26, 30, 35–36, 50, 54–55, 58–59, 64–69, 71, 74–75, 78, 81–92, 96–101, 105–106, 108, 110–111, 113–114, 116–117, 119, 121–126, 128–131, 135–143, 146, 148, 155–156, 158, 171, 175–181, 184, 190– 191, 195, 198, 202–204, 207–210, 212– 213, 215, 217, 221, 224–225, 228, 231 prohairesis 82, 84–85, 115, 117–119, 134, 209–210, 212
A
Der Standard des Guten bei Aristoteles: Regularität im Unbestimmten https://doi.org/10.5771/9783495997628 .
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Register psychê 31, 70, 78, 90–91, 100, 114–116, 119–120, 123, 126, 140, 159, 166, 170, 176–177, 198–202, 215, 223–224, 230 Regel-Fall-Syllogismus s. praktischer Syllogismus Richtschnur s. kanôn Seele, Seelenteil s. psychê Selbstliebe 164, 188, 191, 198–203, 205– 206, 211, 219, 230 sophia 116, 119–120, 123–124, 170, 189– 190, 201 spoudaios 13, 17–18, 23, 29–30, 32, 78– 79, 82, 87, 89–90, 101, 108, 118–119, 149, 152–153, 162–174, 178, 181–193, 195–213, 219, 221–222, 224–227, 230– 231 Staat, Gemeinwesen s. polis Standard 94, 170, 183, 197, 226–228, 230–231 technê 22, 31, 61, 120–123, 141 telos 59–60, 67, 78–79, 81–82, 85, 90, 113, 121–122, 124, 127, 135–136, 140, 182–183, 220–221, 224–225, 230– 231 theôria 59, 81, 140, 157
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Tugend, Tugendhaftigkeit s. aretê der tugendhafte Mensch s. spoudaios Tugendethik 13, 17–19, 22, 38, 80, 172 Tugendfreundschaft 164, 187, 204–206, 231 typô 30, 58, 65–71, 79–80, 96, 227 Überlegung s. bouleusis Unerschütterlichkeit der Tugend 32, 164, 206, 213–219, 231 Unfehlbarkeit 32, 164, 207–213, 219, 231 Universalismus 24, 26, 34–35, 37–39, 48–49, 178, 186, 188, 230 Unkodifizierbarkeit 22, 27, 35, 54, 74 Vorsatz, Entscheidung s. prohairesis Wahrheit s. aletheia Wahrnehmung s. aisthêsis Warum (Wissen vom) s. dihoti Weisheit s. sophia Werk, Leistung, charakteristische Tätigkeit s. ergon Wissen, Wissenschaft s. epistêmê Ziel, Teleologie s. telos zumeist s. hôs-epi-to-poly
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Magdalena Hoffmann
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Glossar
aletheia = Wahrheit aisthêsis = Wahrnehmung akribeia = Exaktheit, Genauigkeit apodeixis = Demonstration archê = Prinzip, Ursprung aretê = Tugend, Gutheit bebaiotês = Festigkeit, Beständigkeit bouleusis = Überlegung boulêsis = Wunsch deî = man soll dihoti = das Warum dynamis = Fähigkeit, Vermögen empeiria = Erfahrung energeia = Tätigkeit epagôgê = Induktion epieikeia = Billigkeit epieikês (ho) = Mensch, der über Billigkeit verfügt epistêmê = Wissen, Wissenschaft ergon = Werk, Leistung, charakteristische Tätigkeit ergon-tou-anthrôpou = charakteristische Tätigkeit des Menschen euboulia = Wohlberatenheit eudaimonia = Glückseligkeit hêdonê = die Lust, das Angenehme hekaston = einzeln hexis = Haltung, Disposition
hoti = das Dass (Tatsachen) hôs-epi-to-poly = zumeist kalon = das Werthafte kanôn = Richtschnur katholou = allgemein mesotês = die (richtige) Mitte metron = das Maß, der Maßstab nous = (intuitives) Denken, Intellekt orthos logos = die richtige Überlegung, die rechte Vernunft phronimos (ho) = der kluge, praktisch weise Mensch phronêsis = Klugheit, praktische Weisheit (z. Problem der Übersetzung s. XX) physis = Natur poiêsis = Herstellung polis = Staat, Gemeinwesen praxis = Handlung, Handeln prohairesis = Vorsatz, Entscheidung psychê = Seele sophia = Weisheit spoudaios (ho) = der tugendhafte Mensch (z. Problem der Übersetzung s. S. XX) technê = Herstellungswissen telos = Ziel theôria = Betrachtung, Erkenntnis typô = im Grundriss, im Umriss
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Siglenverzeichnis 1
Schriften von Aristoteles (in alphabetischer Folge) APo. Apr. Cat. de An. MA EE EN Metaph. Ph. Pol. Rh. Top.
Analytica posteriora Analytica priora Categoriae de Anima de Motu Animalium Ethica Eudemia Ethica Nicomachea Metaphysica Physica Politica Rhetorica Topica
Zweite Analytik Erste Analytik Von den Kategorien Über die Seele Über die Bewegung der Tiere Eudemische Ethik Nikomachische Ethik Metaphysik Physik Politik Rhetorik Topik
Bei diesem Siglenverzeichnis orientiere ich mich an den Abkürzungen in Liddell & Scott & Jones.
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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Magdalena Hoffmann
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