Erlebtes und Gedachtes: Kriegsreden [D. Vorl. enth. insges. 3 Werke. Reprint 2021 ed.] 9783112441343, 9783112441336


127 85 4MB

German Pages 58 [68] Year 1918

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Erlebtes und Gedachtes: Kriegsreden [D. Vorl. enth. insges. 3 Werke. Reprint 2021 ed.]
 9783112441343, 9783112441336

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Erlebtes und Gedachtes Kriegsreden von

E. -Schwartz Professor an der Universität Straßburg

1. Der Krieg als nationales Erlebnis 2. Das deutsche Selbstbewußtsein 3. Weltreich und Weltfriede

'Straßburg Verlag von K. I. Trübner 1917

Der Krieg als nationales Erlebnis Rede gehalten im Saal der Aubette zu Straßburg

am 24. Oktober 1914 Von

E. Schwartz Professor an der Universität Straßburg

Der Reinertrag ist für die durch den Krieg Geschädigten

in Elsaß-Lothringen bestimmt.

Straßburg. Verlag von Karl I. Trübner.

1914.

Alle Rechte vorbehalten.

Fast drei Monate schon dauert der Krieg. Die Zeiten der ins völlig Ungewisse starrenden Zorge und der ersten erlösenden Ziegesfreude liegen weit hinter uns; aus seiner Jugend mit ihrem Schwung, ihren dahinstürmenden Er­ folgen, ist der Krieg in sein Mannesalter getreten, das in zäh ausharrendem Ringen dem großen Ziel entgegenstrebt. Ein männliches Ztandhalten, das nicht Tag für Tag einem träumerischen wünschen oder zagender Furcht zur Beute fallen will, ist das Mindeste, das wir von uns fordern müssen, wenn wir des Heldentums derer, die draußen im Felde stehen und uns hier die Sicherheit vor dem Feinde schaffen, nicht ganz unwert sein wollen; aber nur die Seele ist des nicht versagenden Mutes fähig, die ein ungeheures Ge­ schehen nicht dumpf aus sich lasten läßt, die sich bemüht, da­ durch, daß sie sich über sich selbst klar wird, diesen Druck zu verteilen und die widerstände zu erkennen, die sie ihm ent­ gegensetzen kann, wenn der große geschichtliche Llugenblick uns nicht als ein kleines Geschlecht erfinden soll, so müssen wir uns entschließen, ihn mit vollem Bewußtsein zu er­ leben; und so möchte ich Sie alle zu einer Stunde der inneren Sammlung auffordern, der Rechenschaft von dem, was unser Volk erlebt: ich weiß wohl, daß meine Worte nur den Llnstoß hergeben können, daß Ihr eigenes Denken und Fühlen das Beste dazu tun muß. Die furchtbare Mannigfaltigkeit freilich von Sorge und Trauer, die die Einzelnen jetzt erleben, die muß ich den Einzelnen zu tragen überlassen: ich kann und will nicht von ihr reden. Richt als ob ich diesem Erleben auch nur ein Guentchen von seiner Schwere nehmen wollte; die theatralische Mahnung, das eigene Leid im Meer des alli

2 gemeinen Wehs zu begraben, verstummt gegenüber den Tränen, die überall in der Stille fließen; nein, die schweren Opfer, die mit großem Sinn gebracht werden, verlangen auch groß und schwer getragen zu werden von allen. Das Schwerste ist eben, daß jeder sein eigenes Leid auf seine eigenen Schultern nehmen muß, und doch die Pflicht hat, sich um des Ganzen willen nicht zerdrücken zu lassen; darum muß, wer jetzt zu einer Gemeinschaft spricht, den weichen Schleier des Schweigens über all das ziehen, was der Krieg von Menschenglück und Menschenfreude in den Häusern Deutschlands zerstampft; ein wort, das allen gilt, muß alle zwingen, sich in dem Einen zu finden, das nicht trösten, aber die Kraft zum Ertragen geben kann: wer jetzt leidet, der leidet für alle, und leidet darum nicht umsonst. Das hat das Erlebnis dieses Krieges uns gelehrt, daß ein Dolk unendlich viel mehr ist, als die Summe all der Individuen, aus denen es sich zusammensetzt. Jn den Seiten des Friedens hat das einzelne Ich das Recht, sich seine eigene Welt zu zimmern, um nicht zu der Horde zu gehören, zu den Dielzuvielen; wer's will, kann sogar das dankbare Bewutztsein zurückdrängen, daß die Säfte und Kräfte, die fein stolzes Einzeldasein nähren und erhalten, zum guten Teile ihm aus der Allgemeinheit zufließen: einen romanischen Despotismus der sog. öffentlichen Meinung, ein im falschen Sinne demokratisches Nivellieren des Denkens und Fühlens, hat das Deutschland Kants und Schillers nie ertragen und wird es hoffentlich nie ertragen. Mer all die individuellen Wasser und wästerchen, deren Fluten, rein oder unrein, tief oder seicht, durch die deutschen Fluren Jahr für Jahr un­ gehemmt murmelten und rauschten, sind unkenntlich ge­ worden, als der Hagelsturm des europäischen Angriffs sich gegen uns entlud: jede, auch die sorgfältigst gepflegte Schätzung des eigenen Wertes ist zu einem Nichts zusammen­ geschrumpft, und in eherner Wesenheit hat sich das Ganze des Dolkes erhoben, als das Einzige, das jetzt halt und wert

3 hat; über allem Einzelschicksal thront, von allen als höchste Wirklichkeit gefühlt, das Erleben der Allgemeinheit, schiller konnte mahnen, sich ans Vaterland anzuschließen, weil da­ mals noch dem einzelnen Deutschen die Wahl gelassen war, sich ein irdisches Vaterland zu erstreiten oder der Bürger einer außerweltlichen Gemeinschaft der Geister zu bleiben: für uns steht nach den Jahren der Sehnsucht und des Leidens, nach den Kriegen, die uns die Einheit brachten, und den 44 Jahren friedlicher Arbeit im Schutz des Reiches diese Frage nicht mehr zur persönlichen Entscheidung. Vas Er­ leben der nationalen Zusammengehörigkeit passiert nicht mehr die Schranke einer Überlegung, eines sich aufraffenden Entschließens: es ist eine unmittelbare Notwendigkeit von einer Evidenz, wie sie nur eine im Grund der Seele empfundene und darum geglaubte Offenbarung besitzt. Nicht als ob etwas völlig Neues, noch nicht vagewesenes, damit in unser Leben hineingesprungen wäre: das könnte nur ein kurzsichtiger Beobachter wähnen, der über den sich durch­ kreuzenden und verschlingenden Spaltungen und Streitereien des weinens und Glaubens, den wachtkämpfen der Inter­ essen, den mehr geräuschvoll aufschäumenden als in der Tiefe wühlenden Unterschiedsempfindungen nördlicher und süd­ licher, westlicher und östlicher Stämme übersehen hat, daß die lange, gemeinsame Arbeit aller im gemeinsamen, großen Reich ein Einheitsgefühl geschaffen und genährt hat, das im tiefsten Grunde jede Einzelexistenz trägt. Wehe dem Volk, das hofft, ein Krieg werde neue Kräfte schaffen: er ruft hervor, was verborgen, vielleicht gehemmt und getrübt, aber was da ist; er ist die große Probe, ob die ein­ heitliche Kraft, die ein Volk zu spüren glaubt, auch echt ist. Es fehlte nicht an Symptomen, die ernste Volks­ genossen trübe stimmen konnten, und mancher legte sich, als die Gefahr des Weltkriegs heranzog, die bange Frage vor, ob das reich und blühend gewordene veutschland sich mit derselben sittlichen Tüchtigkeit werde verteidigen können, mit der das arme, fast vernichtete Preußen vor

4 hundert Jahren einen übermächtigen Gegner angegriffen und niedergeworfen hatte. Nichts ist schwerer zu ertragen, als eine Reihe von guten Tagen, das gilt von den Völkern so gut wie von den Einzelnen. Reiner, der sich mit solchen Sorgen getragen, wird sich schämen, zu gestehen, daß ihn sein eigenes Volk eines Besseren belehrt hat. Vie Jugend in Waffen, die singend, mit Laub bekränzt, hinauszog wie zum Fest, die Landwehr, die mit kraftvollem Ernst Haus und Hof verließ, der Reichstag, der, zum erstenmal ein­ stimmig, sich mit dem vierten Nugust ein venkmal setzte, würdig des Jahrestages von Weißenburg, schon diese ersten Zeichen mußten auch den verzagtesten den Glauben geben: ein solches Volk wird bleiben in der Welt, damit die Welt nicht jeden wert und Sinn verliert. Und mit stolzem Zurück­ denken, mit ruhiger Zuversicht können wir jetzt sagen: der Glaube hat nicht getrogen und wird nicht trügen, so grimmig der Krieg auch noch tobt und so wenig sich ein Ende absehen läßt. Vie Wahrheit des schönen Wortes, das w. v. humbold 1813 entfuhr, „es gibt nur zwei gute und wohltätige Potenzen in der Welt, Gott und das Volk", sie haben wir alle so erlebt, daß wir sie nie vergessen können. 1870 folgte die Nation mit williger Begeisterung dem Genie des großen Staatsmannes, der sie zur Einheit führte: 1914 stand das gesamte Volk auf, in freiem Glauben an seine Größe und im vertrauen auf seine Kraft, um all den Feinden die Spitze zu bieten, vor denen die Staatskunst der Diplomaten es nicht beschützt hatte. Spät, nach vielem Kämpfen und Ringen, kommen bedeutende Menschen zum Bewußtsein ihrer selbst: auch unser Volk hat eine lange, des Haders und der Zeristenheit volle Geschichte erfahren müssen, ehe in einem Augenblick ungeheuerster Gefahr alle seine Säfte und Kräfte zusammenschossen zu einem willen und zu einem Tun, ehe es, um es mit einem Wort zu sagen, sich selbst in seinem vollen Umfang, in seiner ganzen Größe erlebte. Ruch der echteste, heiligste Wille zum nationalen Leben

5 würde uns nicht vor der Schande der Niederlage, vor den Schrecken des Unterganges bewahrt haben, wenn er nicht wie ein mächtiger Strom sein Bett gefunden hätte, in dem er gegen den Feind dahinsahren konnte: wieder einmal seit 44 Jahren hat jeder, vom höchsten bis zum Geringsten, den Segen der militärischen Sucht erlebt, die dem Ganzen und jedem Einzelnen verbürgt, datz die eingesetzte volle Manneskraft auch an ihrer Stelle volle Llrbeit tut, wieder einmal hat das ganze Deutschland erlebt, datz die Schöpfung, durch die der preutzische Staat sich aus tiefem Fall erhoben, durch die er der Nation Reich und Kaiser wiedergegeben hat, zugleich auch die wahre und echte Demokratie dar­ stellt, die den Staat daraus gründet, datz jeder seine Pflicht tut zu jeder Seit, im Kriege und im Frieden. Das romanische Empfinden fatzt die Tapferkeit als die Be­ tätigung persönlicher Ruhmliebe, als die Manifestation nationalen Hasses, und drängt immer wieder auch den nicht im Heere dienenden Bürger dazu, zur Mordwaffe gegen den Landesfeind zu greifen, so ohnmächtig ein solches Beginnen ist; uns ist es durch ein Jahrhundert militärischer Volkserziehung in Fleisch und Blut übergegangen, datz die Pflicht, fürs Vaterland zu kämpfen, nur dann erfüllt werden kann, wenn jeder sich in die Sucht des Ganzen einordnet, weil es für den Einzelnen keinen Ruhm und keine Ehre gibt, wenn das Ganze zugrunde geht, und umgekehrt das Ganze nur siegt, wenn jeder einzelne seine ganze Kraft daran setzt. Erst dadurch, datz der Krieg nur die höchste Leistung eines lange schon geübten Dienstes ist, datz diese Übung durch 44 Jahre hindurch die Nation, sagen wir es nur, gedrillt hat, ist er zu einem Erlebnis des ganzen Volkes geworden, von einer ganz anderen Tiefe und Grütze, als der von 1870, wo die allgemeine Wehrpflicht erst wenige Jahre für einen grotzen Teil Deutschlands bestand. Schon damals hat dieses Erleben die Seele der deutschen Stämme für viele, viele Jahre mit einem neuen grotzen Inhalt er­ füllt; es hat ein- für allemal die Reste des alten Stammes-

6 Haders beseitigt. Mögen sehr gescheite Leute noch so sehr sich sträuben gegen eine Auffassung, die das historische Ge­ schehen nach den großen Kriegen ordnet, mögen sie darin Recht haben, daß das, was in Zeiten des Friedens im völkerleben unaufhörlich wächst und vergeht, darum die Zukunft nicht weniger bestimmt, weil diese geräuschlose Mannigfaltigkeit der Beobachtung schwerer zugänglich ist, das bleibt doch richtig, daß nur das große Erleben, wie der Krieg es dem Volk aufzwingt, das volksempfinden bis in seine Tiefen aufwühlt. Nichts hat das Elsaß trotz der 200 Fahre lang bewahrten deutschen Sprache, trotz dem bis in die Wurzel hinein deutschen Stammescharakter fester im Bonn der französischen Erinnerungen gehalten, als die großen Kriege, die es gemeinsam mit Frankreich seit der Revolutionszeit erlebt hatte: daß das letzte dieser Erleb­ nisse, die Katastrophe von 1870, eine Tragödie gewesen war, hat seine Nachwirkung kaum geschwächt. Gewiß ist die langjährige Arbeit, die das Reich hier geleistet hat, nicht vergeblich gewesen; aber eine solche, regierende und ver­ waltende, lehrende und arbeitende Tätigkeit wird vom Volke nicht mit dem herzen erlebt, sie ist wie eine Saat, die schwer aufgeht, weil ihr der Regen fehlt. Den hat der Krieg gebracht, das erste große Erlebnis, das dem Reichs­ lande mit Deutschland gemeinsam ist. All die Generationen von Altdeutschen und Einheimischen, die ihr Bestes daran gesetzt haben, unser schönes, vielgeprüftes Land immer fester und inniger dem Reiche anzugliedern, und nun in der Erde ruhen, die sie im Leben so geliebt, sie haben dort drunten dem Sturm neuen deutschen Lebens gelauscht, der über ihre Gräber dahin­ brauste, als die Frage, ob deutsch oder wälsch, statt eines unehrlichen Spiels mit halben Hoffnungen, gebieterischer, blutiger Ernst wurde. Der Kaiser rief, und alle kamen: das ist die runde und klare Antwort, die Neudeutschland aus alle Zweifel und Sorgen gegeben hat; seine Söhne, die für das ganze Deutschland im Felde gestanden, werden, ob

7

sie nun siegreich heimkehren oder den Heldentod gestorben sind, ein nie verstummendes Zeugnis dafür ablegen, datz ein gesundes und kraftvolles Leben in diesen Landen nur dann blühen und gedeihen kann, wenn sie das bleiben und werden, wozu sie bestimmt sind, eine warte und Hochburg deutscher Gesittung und deutscher Tatkraft. wir brauchen uns nicht zu ärgern, wenn unsere Gegner mit der frohen Botschaft, die Welt vom deutschen Militarismus zu befreien, auf den Gimpelfang gehen. Die Schmähungen, die sie gegen die allgemeine Wehrpflicht schleudern, widersprechen ihrem eigenen Tun. Frankreich hat ja den redlichen versuch gewagt, das napoleonische System, das sich geschichtlich bewährt, als dem Dolkscharakter gemäß bewiesen hatte, aufzugeben, und unsere Institutionen nachzumachen. Niemand unter uns wird dem Gegner seine Ächtung versagen, der sein Bestes einsetzt für seine nationalen Hoffnungen, wenn auch diese Hoffnungen von dem Äugenblick an nicht mehr rein waren, die Nation ihrem willen, ihr staatliches und sittliches Leben nach dem Zusammenbruch von 1870 zu erneuern, untreu wurde, als die Republik den Glauben verlor, das, was sie ihr Ideal nannte, aus eigener Kraft zu verwirklichen, und sich dem russischen Zaren als gehorsame Sklavin verkaufte. Anders steht es mit England: es befindet sich in einem eigentümlichen Dilemma. (Es ist ein wesentlicher Zug der imperialistischen Politik, die zu besorgen der freiheitsstolze Brite mit erstaunlicher Dertrauensseligkeit einigen ge­ wissenlosen Spielernaturen überläßt, daß das Edelste, das die Nation für ihre Weltherrschaft opfert, edles Metall ist, und doch stellt sich jetzt schon heraus, datz es damit allein nicht geht. Die Zeiten sind eben vorüber, in denen englische Siege mit deutschem Blut erfochten wurden, und wir können es abwarten, wie lange die Franzosen gewillt sind, sich zu­ gleich für russische und englische wachtträume zu verbluten, wenn auch vielleicht noch nicht in diesem Krieg, einmal wird der Tag kommen, wo auch für das Inselvolk der viel-

8 geschmähte Militarismus der letzte Rettungsanker sein wird; dann ist es mit dem Imperialismus des Geldsacks vorbei. Vas ist eben das Furchtbare eures Militarismus, wen­ den die Gegner ein, daß ihr Europa zwingt, ihn nach­ zumachen. Da kein Großstaat auf ein stehendes Heer ver­ zichten kann, bedeutet der Einwand nichts anderes, als daß die Rrmen und Geringen für mehr oder weniger Lohn ihr Blut hergeben sollen, damit die oberen Zehntausend ungestört sich ihren geistigen und materiellen Genüssen widmen, es sei denn, daß man nach französischem und englischem Muster die wesentliche Aufgabe der Zivilisation darin sieht, Spahis, Ghurkas, Senegalesen usw. zum Kampf gegen europäische Kulturvölker abzurichten, wir können ein solches Zukunfts­ ideal unseren Gegnern neidlos überlassen und brauchen uns nicht zu entrüsten, wenn sie auf unsere allgemeine Wehrpflicht schimpfen, aus den, ich möchte sagen, fleisch­ gewordenen kategorischen Imperativ staatlicher Mannes­ pflicht, weil sie sich selbst für unfähig halten, diese Pflicht zu erfüllen. Denn so verschlungene und unberechenbare Wege die Geschichte geht, das eine hat sie noch immer ge­ lehrt, daß Völker, die zu weichlich und zu feige geworden sind, ihre Freiheit und Größe selbst zu verteidigen, dem Untergang verfallen sind, früher oder später. Schwerer zu tragen ist, daß nicht nur unsere unmittel­ baren Gegner, nein, das Ausland überhaupt, sich noch immer nicht darein gefunden hat, daß aus dem Volk von Dichtern und Denkern ein Volk von wehrhaften, sogar sehr wehr­ haften Männern geworden ist. Freilich sind unsere geistigen Siege vor denen auf der Erde erfochten; erst als unsers Dichter und Philosophen uns aus dem Elend des dreißig­ jährigen Krieges erhoben und mit dem Gefühl eigenen Wertes erfüllt hatten, haben wir die Pflicht gefühlt, mit den Waffen unsere Einheit und unsere Stellung in der Welt zu erkämpfen. Aber wir gestatten niemand, daraus einen Widerspruch in unserem Wesen abzuleiten. Sollten wir ver-

9 gessen, daß der Philosoph des die konkrete Welt subli­ mierenden Idealismus die Reden an die deutsche Ration ge­ halten hat, daß E. UI. Llrndt uns an den Gott erinnert hat, der Eisen wachsen ließ, daß derselbe Goethe, der die Idee einer Weltliteratur schuf und zu den Freiheitskriegen so wenig ein inneres Verhältnis gewinnen konnte wie zur französischen Revolution, den Wahrspruch unseres modernen Denkens und Tuns geprägt hat, daß nur der sich Freiheit und Leben verdient, der sie täglich erobern muß? von Schiller nicht zu reden, dessen Freund 1813 eine Klage darüber, daß die Schillerschen Söhne nicht am Kriege teil­ nahmen, mit den Worten schloß: „ver Vater dieser jungen Leute wäre selbst mitgegangen, lebte er noch und hätte einen Rest von Gesundheit." Wenn die Wissenschaft schon in dem Deutschland des Bundestages und der Kleinstaaterei eine Heimat gefunden hat wie in keinem anderen Lande, so war das wahrhaftig kein Grund, dieser Misere kein Ende zu machen: es hat den Universitäten Berlin, Bonn und Straßburg nichts von wissenschaftlicher Strenge, von der Reinheit der Forschung genommen, daß der nationale Ge­ danke sie geschaffen hat. Vie tragische Rolle der Hellenen, die den Ruhm, die Welt mit ihrem Geist erleuchtet zu haben, mit dem Untergang ihres nationalen Daseins haben bezahlen müssen, verdiente umso weniger nachgeahmt zu werden, als auch jene nicht aus freiem Willen das Mar­ tyrium übernommen haben, die Knechte ihrer Schüler zu sein. Es dürfte doch wohl ein Vorzug sein, daß wir das große Erbe unserer Denker und Dichter nicht gebrauchen wollen, um eine mitleidige Achtung mächtigerer Völker zu verdienen, daß wir die Pflicht im tiefsten Herzen empfinden, den Boden aus dem es entsprossen, zu hüten, wie ein Land, das heilig ist durch den Geist, den es gezeugt. Wir berauschen uns nicht an der Phrase vom Kampf der Rassen, weil wir wissen, daß Kulturvölker nicht gezüchtet werden wie Rennpferde und Hühnerhunde; uns treibt nicht ein dumpfer Instinkt vererbter Zusammengehörigkeit zu

10

fanatischem Widerstand gegen den Angreifer, sondern wir erleben als ein gebildetes Volk all das, was uns der Geist und die Arbeit von Jahrhunderten vermacht hat, noch ein­ mal wieder, im höchsten Sinne, wenn wir alles daran setzen, es vor der Zerstörung zu bewahren. Dies innere Erleben mutz uns entschädigen dafür, datz wir einsam sind in Europa. Auch das ist ein Erlebnis, das unserem Volke der Krieg gebracht hat, und ich möchte davor warnen, es leicht zu nehmen. Mit zornigem Schelten kann man sich ja betäuben, aber das Erlebnis als solches bleibt, und es dürfte besser und mutiger sein, es klar und gefatzt zu betrachten. (Es ist verschiedenes zu unterscheiden: die diplomatische Intrigue Eduards VII., der es glückte, den in Frankreich und Rußland schwehlenden Hatz gegen Deutschland zu giftiger Flamme anzublasen; darauf haben Heer und Flotte die richtige Antwort gegeben und tun es noch —, die Lügen und Verleumdungen, mit denen die presse der Ver­ bündeten namentlich im Anfang des Krieges uns wenigstens auf dem Papier aus der Reihe der Kulturnationen strich; — das ist ein Kampfmittel, wie es eine anrüchige Aktien­ gesellschaft gebraucht, die mit unsauberen Angriffen gegen die Konkurrenz den drohenden Bankerott zu verschleiern sucht. Solchen Gesellen klopft man mit beharrlicher Geduld und überlegenem hohn aus die Finger: man darf ihnen aber nicht das Vergnügen machen, moralische Entrüstung an sie zu verschwenden. Dagegen greift es uns als einem ge­ bildeten Volk, das sich zur europäischen Gemeinschaft rechnet, in der Tat ans herz, wenn wir sehen müssen, datz die Intelligenz nicht nur unserer Gegner — das mag der Leidenschaft des Augenblicks zugerechnet werden —, sondern auch eines großen Teiles der Neutralen für unsere Art und unser Wesen ein erschreckend geringes Verständnis zeigt, daß ihr das Gefühl für die Werte abgeht, die das wilde Be­ streben, uns zu vernichten, zerstören will. Darin verrät sich allerdings, wie ich schon sagte, daß man sich in Europa

11

immer noch nicht daran gewöhnt hat, daß aus dem ge­ bildeten, aber armen, ein mächtiges und reiches veurlchland geworden ist. Völker lernen eben langsam, und die Lektion von 1870 ist nicht ausgiebig genug gewesen. Anders als bei uns, hat bei Franzosen und Engländern der literarische und kulturelle Aufstieg den politischen begleitet, oder ist ihm gefolgt, so daß die geistigen Erfolge ihrer Sprachen, ihrer Dichter und Schriftsteller die der Diplomaten, Generale und Flottenführer unterstützten und ihren Siegen und Er­ oberungen im Bewußtsein der schwächeren Völker das De­ mütigende nahmen. Dasselbe Deutschland, das die Horden Ludwigs XIV. schonungslos verheerten, ließ sich lange Seit durch den künstlerischen und literarischen Glanz blenden, der vom Hofe seines schlimmsten Feindes ausstrahlte; die ursprünglich durchaus unfranzösische und eigenartige Kulturentwicklung Italiens und Spaniens ist durch den nivellierenden Radikalismus der fran­ zösischen Revolution und ihrer Propaganda verflacht, ihre politische Macht durch den Rachbar, wenn er übermächtig wird, schwer bedroht: trotzdem kreist die gesamte politische und unpolitische Tagesliteratur dieser Länder um die pariser Sentralsonne, und bietet den Franzosen immer wieder Anlaß, von der Solidarität der lateinischen Rasse zu fabeln. Vie Bewunderung der eng­ lischen Institutionen, die die englische Geschichtsschreibung in glänzende Beleuchtung zu rücken verstand, die Sympathie mit den großen Humoristen und weniger großen Roman­ schreibern Englands hat vor allem uns lange über die Gefahren der englischen Seeherrschaft getäuscht. Gewesenes bewahrt lange seinen Schimmer; wir sind einsam und ver­ kannt, weil wir noch ein junges Volk sind, trotz unserer langen Geschichte. Vas zeigt sich auch noch in etwas anderem. Gin starkes Vehikel des Ansehens und des Einflusses der Franzosen sowohl wie der Engländer sind die festen Formen ihrer gesellschaftlichen Kultur, die den einzelnen 4en Lebens-

12 und Verkehrsgewohnheiten einer ganzen Nation unter­ werfen und damit besonders rasch und sicher die Kreise be­ zwingen, die diesem Druck nichts Individuelles entgegen­ zustellen haben. Derartige feste Formen bilden sich nur da aus, wo eine politische und geistige Überlegenheit durch lange Anerkennung so selbstverständlich geworden ist, daß sie auch dann noch dauert und nach außen hin wirkt, wenn die realen Unterlagen geschwunden sind. Umgekehrt ist unsere Machtstellung und unser Reichtum zu jungen Datums, als daß bei uns sich derartig feste Formen hätten entwickeln können; was an Ansätzen da war, hing mit den guten und schlechten Seiten der Kleinstaaterei zu eng zu­ sammen, um die Luft auch nur des Großstaats zu ver­ tragen, von dem Eindruck auf andere Nationen ganz zu schweigen. In Friedenszeiten wird ein solcher Mangel an gesellschaftlichem Ansehen leicht genommen, gerade von den Vesten, weil sie sich das vertrauen auf den inneren wert deutscher Art nicht rauben lassen wollen; wenn der Krieg die Leidenschaften des Völkerhasses entfesselt, strömen sie über die feinere Wertschätzung hinweg, die durch die gröbere, aber nicht so leicht zu beseitigende Anerkennung äußerer Kulturformen nicht geschützt wird. Vas ist sicherlich kein Hindernis für den Sieg, aber es versperrt uns den weg auch zu den Herzen, auf deren gerechte Würdigung zu ver­ zichten uns schwer wird; nur langsam und allmählich wird diese Sperre schwinden, wir müssen eben siegen, und nach dem Siege unserer Art treu bleiben, ohne die werte gering zu schätzen, die ältere fremde Kulturen uns bieten: dann werden wir uns durchsetzen, wenn auch erst nach geraumer 3eit. Jetzt treibt ein begreiflicher Nationalismus aller­ hand Blasen an die Oberfläche; man schwärmt von einer deutschen Mode, proskribiert Fremdwörter meist sehr un­ schuldiger Art, ändert die Aufschriften von Gasthöfen und Cafes und derartiges mehr: wo's Sturm und Wellen gibt, spritzt der Schaum. Man mag ihn spritzen lassen, soll aber nicht vergessen, daß der Schaum nur oben schwimmt. Bleibt

13 unser Wesen kräftig und gesund, so wird es in geduldigem Wachsen seine eigenen Formen entwickeln, die dem Leben unserer Enkel die gewinnende Charis geben werden, die man in dem unseren noch vermißt. Wir haben jetzt mehr für die Größe, als für die Reize unseres nationalen Daseins zu sorgen; und wenn wir uns dazu erziehen, unsere europäische Einsamkeit einmal von höherer Warte aus zu betrachten, wird sie uns weniger bedrücken und keinenfalls entmutigen. Dagegen kann ich den Trost nicht gelten lassen, daß die europäische Kulturgemeinschaft durch den Krieg ja doch zer­ stört sei; auf unser Verhältnis zum übrigen Europa komme nichts mehr an. Dem Ving, das in der viplomatensprache Europa hieß, wird freilich kein ernsthafter Wann eine Träne nachweinen: was dies Europa an kläglicher Ohn­ macht und Ratlosigkeit zutage förderte, haben wir, mindestens seit dem Balkankrieg, nur zu sehr erlebt. (Es ist auch unser gutes deutsches Recht, zu behaupten und zu beweisen mit den Waffen, daß ein Europa ohne Deutschland, wie es unsere Gegner offen als ihr Ziel hinstellen, für uns ein wertloser Schemen ist. Über das Europa, das die Denkarbeit des 17. und 18. Jahrhunderts an die Stelle der mittelalterlichen Einheitskultur gesetzt, England und Preußen vor der napoleonischen Universalmonarchie be­ wahrt, die langen Friedensperioden des letzten Jahr­ hunderts ausgestaltet haben zu einer Stätte des Austausches materieller und geistiger Werte, des Wettbewerbs der Völker um die verschiedenartigsten Ziele, vergängliche und unvergängliche, das Europa ist mit unserem Leben so ver­ wachsen, daß schon seine Gefährdung ein Erlebnis ist, so ungeheuer, daß es auf unserer Volksseele nicht nur lasten darf, sondern lasten muß, wenn wir ein gebildetes, ein Kulturvolk sein und bleiben wollen. Wan kann ja hoffen, daß der internationale handel die jetzt verschütteten Wege wieder finden wird, weil das Bedürfnis dazu zwingt: die bildende und dichtende Kunst kann sogar vielleicht auf die

14 Resonanz über die Grenzen des eigenen Volkes hinaus für lange Zeiten verzichten, wie sie es in vergangenen Perioden unserer Geschichte auch hat tun müssen. Freilich würde es eine unsägliche Verarmung gerade unseres Wesens be­ deuten, wenn bei dem Aufhören des künstlerischen und literarischen Austausches uns der Vorzug verloren gehen würde, fremde Schaffensart ohne Reid und Vorurteil nach­ empfindend zu genießen; nur das Volk hat ein echtes Be­ wußtsein eigener geistiger Größe, das, unbesorgt um diese, offen seine Rügen über seine Grenzen schweifen läßt. Vie schwerste Sorge erwächst der wissenschaftlichen Forschung. Sie ist zum Tode verurteilt, wenn sie, durch fremden und eigenen Rationalismus abgesperrt, ihre Fäden nicht mehr über die Scheidewände der Staaten und Sprachen hinweg spinnen kann. Ms Deutschland noch arm war und mühselig sein tägliches Brot erwarb, hat seine Wissenschaft schwer darunter gelitten, daß sie in den dürftigen Kammern seiner Schulmeister und Professoren über ihren Problemen brüten mußte, daß ihr die Mittel fehlten, hinaus zu gehen zum Beobachten, zum Sammeln der Tatsachen, zum vurchforschen der Schätze, die in anderen Ländern aufgespeichert lagen, va entwickelte sich die Neigung zur abstrakten Vergewalti­ gung des Wirklichen, zu einer in beschränktem Material sich um sich selbst drehenden Gelehrsamkeit, zu all den Fehlern, die uns nicht mit Unrecht immer und immer wieder vor­ gehalten werden. Das wurde anders, als wir unseren Reichtum und unseren Weltverkehr der Wissenschaft nutzbar machen konnten; wir wagten uns an Aufgaben, die nicht nur die Kräfte eines einzelnen Menschen, nein, auch eines einzelnen Volkes überstiegen, und die schönsten Erfolge winkten auf allen Gebieten. All dies reiche Feld feinsten geistigen Schaffens liegt nun verödet, angefangene Funda­ mente stolzer Bauten starren traurig dem Schicksal ent­ gegen, unvollendet zu verfallen; auf den Stätten, wo sich die Intelligenz der Völker auch trotz schwerer politischer Spannung zu gemeinsamer Arbeit die Hände reichte, lagern

15

jetzt, alles Leben ertötend, die giftigen Dämpfe fanatischen Hasses. Ts ist nur zu sehr zu fürchten, datz manche Forscher­ existenz diesem Kriege zum Opfer fällt; und wenn solche Opfer auch federleicht wiegen gegenüber der Fülle blühender Jugend, die aus den Schlachtfeldern dahinsinkt, so wird man doch der deutschen Wissenschaft eine leise und zurückhaltende Klage um die Hoffnungen, die sie begraben muß, nicht ver­ übeln: denn gerade diese Klage ist vielleicht das wahrste Seugnis dafür, daß wir nicht das Volk von Barbaren sind, wofür unsere Feinde uns ausgeben. Ich eile zum Schluß, vielleicht war es zu kühn, von unserem Erleben zu reden, wo dieses Erleben erst beginnt, und wir noch weit davon entfernt sind, das ganze Erleben rückschauend betrachten zu können. Ts wird ja nicht ein­ mal mit dem Ende des Krieges abgeschlossen sein. Der Krieg von 1870 brachte die Erfüllung von Hoffnungen, die eine lange Seit des Sehnens und Ringens schon geklärt hatte: man könnte mit einem gewissen Recht sagen, daß sein Antlitz nach rückwärts gekehrt war. wer damals jung war, wird sich noch erinnern, wie dies Gefühl des £tbfchlusses, der Vollendung auf uns drückte: was blieb uns Epigonen noch zu tun übrig, wo die Hoffnung der Väter in strahlender Erfüllung dastand? Vieser Krieg schaut nach vorwärts; er hat mit ungeahnter Gewalt die Türe aufgestoßen zu einer anderen Seit: vor uns liegen Ruf­ gaben, so groß, so neu, wie wir in unseren kühnsten Träumen nicht geahnt haben. Wit zitterndem Staunen ge­ steht ein Geschlecht, das Jahrzehnte lang jedes große Er­ leben gefürchtet hat, sich selbst ein: eine neue Epoche der Weltgeschichte beginnt, und wir sind dabei gewesen, wallend und wogend brodeln vor uns die Rebel der Sukunft, nur ein Felsen ragt in dunkler Deutlichkeit auf: der Glaube an den Gott, der unser Volk noch nie verlassen hat, wenn es sich nicht selbst aufgab, und der harte Wille zu harren und zu hoffen, zu wirken und zu schaffen bis zum siegreichen Ende.

16

Des Sommers Hitze ist vergangen, der herbst schüttelt die Blätter und der lange, dunkle Winter naht: die Stille des Wartens umfängt die Seele. Leise pochen Töne an ihr Ohr; es ist die Stimme der Blutter, der heimatlichen Erde: „Ich fühle alle eure Schmerzen; es sind meine, mehr denn je. Ich sehe eure Augen sich zurückwenden zu den Fluren des Friedens, die goldig erglänzen im Schimmer sehnenden Gedenkens; auf mir lastet die Nacht des Todes und der Trauer. Und doch wage ich die Frage an euch alle, auch an die, die am schwersten getroffen sind: möchtet ihr es nicht erlebt haben, daß ich euch rief zu meinem Schutz? daß die heilige Flamme meiner Liebe einmal wenigstens in euerem Leben alles niedrige und gemeine verzehrt hat, daß ihr aus einem satten, genießenden, Feste feiernden Geschlecht ein Volk von Helden geworden seid? Ich höre die Antwort, die aus eurem tiefsten herzen mir entgegen­ schreit: denn ich kenne die Rinder, die ich geboren, und weiß, daß ich ihnen gelte über alles."

Das deutsche Selbstbewußtsein Rede gehalten in Lennep am 15. März 1915

Von

E. -Schwartz Professor an der Universität Straßburg

Der Reinertrag ist für die Hinterbliebenen der im Felde

Gefallenen bestimmt.

Straßburg.

Verlag von Karl I. Trübner.

1915.

Alle Rechte vorbehalten.

Druck von M. Du Mont Schauberg, Straßburg.

ßls der Krieg ausbrach, plötzlich, ungewollt von Kaiser und Volk, hat es wohl niemand in Deutschland gegeben, der nicht bis in die Grundfesten seines Daseins erschüttert worden wäre. Beneidenswert alle, denen militärische Be­ rufe und Pflichten draußen oder daheim einen festen Platz anwiesen, auf dem das Gebot, alle Kraft zusammen­ zunehmen, auch über das Leben hinaus, jedem, dem Höchst­ gestellten und dem einfachsten Manne des Volkes, ein sicheres Gleichgewicht der Seele gab: wir anderen, die der Krieg nicht brauchte, und denen er die Beschäftigungen jäh aus den Händen riß, die uns im Jrieöen begeisterten, auf­ rechterhielten oder die Seit vertrieben, je nachdem, wir fühlten uns alle wie in einen Wirbel gerissen, hinaus­ geschleudert ins Ungewisse, dem Tage preisgegeben: längst nicht allen gelang es, sich an eine Tätigkeit zu klammern, die nicht nur in der eigenen Vorstellung gemeinnützig war. Vas ist jetzt lange vorüber. Allmählich lenken die wieder wirksam werdende Macht der Gewohnheit, mehr noch Gram und Sorge, die sich täglich weiter ausbreiten, mit sicherem Swang die Menschen in die Gleise des Lebens zurück, das sie im Frieden führten. Möglich ist das freilich nur, weil unser Heer, wie ein Riese, seine Arme nach beiden Seiten ausreckend, die Schrecknisse des Krieges über die Grenzen im Westen und Osten ins feindliche Gebiet geschoben hat; auch England, das so lange geliebte und gefürchtete, dessen in allen Erdteilen gesungenes Nationallied die Meeres­ herrschaft fordert, hält seine Flotte in respektvoller Ent­ fernung von unseren Inseln und Küsten und wagt in seinen eigenen Gewässern nicht, seine Handelsflagge zu zeigen. So sicher indes und berechtigt unser vertrauen auf die deutschen

2

Waffen ist, wir müssen uns davor hüten, durch die er­ zwungene oder freiwillige Gewöhnung an das tägliche Da­ sein und Wirken stumpf und gemein zu werden, zu vergeffen, daß wir unser Wesen treiben in einer Festung, deren Mauern die Besten und Edelsten unserer Volksgenossen sind, die täglich, ja stündlich die unerhörtesten Mühen und Ge­ fahren bestehen um die Fluten eines grimmigen, unerbitt­ lichen Hasses von unseren Fluren fernzuhalten. Woher dieser Hatz sich angesammelt hat, den der Krieg nicht ge­ schaffen, sondern nur aus langem Glimmen zur Flamme angeblasen hat, ist ein wichtiges und schwieriges Problem, das einstweilen beiseite gestellt werden mag: jetzt kommt es für uns lediglich darauf an, uns über das 3iel dieses Hasses nicht zu täuschen. Mag das, was unsere Feinde jeder für sich vom Kriege erhoffen, noch so sehr auseinander­ laufen, darin sind sie einig, datz sie Deutschland aus dem Kreis der europäischen Kulturvölker ausstreichen, ihm das nehmen wollen, auf das kein großes Volk verzichten kann, das Recht, feine nationale Einheit und Geschlossenheit selbst zu schaffen und zu bewahren. (Es ist die Ver­ nichtung jedes deutschen Lebens, das diesen Xiamen ver­ dient, die vor jener lebendigen Mauer lauert, und eben, weil jene Mauer eine lebendige ist, so kann sie nur halten, wenn der unerschöpfliche und unbezwingliche Lebensmut und Lebenswille des gesamten Volkes sie immer wieder durchströmt. Wie ohne die unerbittliche Wahrheit des Todes die Wahrheiten des Menschenherzens und des Menschen­ willens zu Spiel und Schein hinabsinken würden, so ist der Krieg die unbarmherzige probe auf die Wahrheit und Wirk­ lichkeit staatlicher Macht und staatlicher Kraft. (Es hängt von der Art des Staates ab, ob auch die Gesamtheit des Volkes von einer solchen probe betroffen wird; im sieben­ jährigen Kriege z. B. haben der Monarch selbst, seine Armee und seine Beamten, sie bestehen müssen, nur in geringerem Matze die Untertanen, weil die lebendige Kraft des Staates auf den König und das vom Volke streng geschiedene Mili-

3 tär und Beamtentum beschränkt war. Wo aber, wie jetzt, in einem Umfange, der in der Geschichte seinesgleichen nicht hat, das gesamte Volk zur Verteidigung des natio­ nalen Staates ausgeboten ist, da gilt die Probe allerdings -em Volke selbst im weitesten und im höchsten Sinne. Um siegreich aus ihr hervorzugehen, sind in erster Linie sittliche und geschichtlich gewachsene Kräfte unwägbarer firt nötig, deren Wurzeln in Tiefen reichen, zu denen keine bewußte Reflexion hinabzusteigen vermag; sie offenbaren sich in diesem Krieg von Anfang an bis jetzt mit unmittelbarer Gewalt, und erzeugen in uns allen einen Glauben an unser Volk, den keine Drohung schreckt und kein Zweifel zer­ nagt. Wie jede große Empfindung, bedarf dieser Glaube an und für sich der Worte nicht, die ihn weder wecken noch ausschöpfen können; er findet feinen echtesten Ausdruck im Tun, und sein wahres Wesen enthüllt sich nur an den Stätten, wo der militärische und wirtschaftliche Sieg erkämpft und vorbereitet, wo die Wunden, die der Krieg schlägt, die Sorgen, die er schafft, geheilt und gelindert werden. Aber er ist auch kein blinder Fanatismus, dessen qualmendes Feuer jedes Nachdenken erstickt; er hat, ich möchte sagen, Ruhepausen, in denen er sich auf sich selbst besinnen, seiner klar bewußt werden möchte, um neue Kraft zu sammeln, nicht so sehr für die Gegenwart, die ihn immer von neuem anfacht, als für die kommende Zeit, in der der große Sturm­ wind des kriegerischen Geschehens nicht mehr braust und das Gemeine, aus dem der Mensch nun einmal gemacht ist, seine Rechte wiederum beansprucht. Darum wage ich es, Ihnen einige Betrachtungen vorzulegen über das Selbst­ bewußtsein, das der Deutsche jetzt von sich hat und haben soll; sie erheben keinen weiteren Anspruch, als dieses oder jenes wachzurufen, was in Ihnen auch ohne meine Worte lebendig ist. Der zu höchster Kraft angespannte Glaube an das eigene Volk wird mit natürlicher Notwendigkeit zum Zorn gegen den Feind des Volkes. Über dieser Zorn ist nur bei

4 dem der im Kampf gegen den bewaffneten Gegner sein eigenes Leben einsetzt, echt und heilig; er bedarf nicht nur der Worte nicht, sondern er wird durch sie unedel und un­ echt. Wer vom sicheren Hafen aus mit Wortgeschossen nach feindlichen Völkern wirft, bekehrt diese nicht und tut ihnen auch nichts zuleide, aber er schadet sich und seinem eigenen Volk. Das gilt nicht nur von dem leidenschaftlichen Schelten und blutdürstigen phantasieren, das sich im Privatgespräch und am Stammtisch austoben mag, aber nicht in die Ksfentlichkeit gehört; gefährlicher ist die feinere Form des Schmähens, die gegen Rrt und Wesen der feindlichen Völker richtend und verdammend zu Felde zieht. Das ist ver­ ständlich und entschuldbar, wenn es im Grunde nicht diesen selbst, sondern ihrer falschen und übertriebenen Nachahmung durch das eigene Volk gilt. In dem Sinne haben unsere Väter vor hundert Jahren das Franzosentum bekämpft, das damals nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich seine Herrschaft weit und tief in Deutschland ausgebreitet hatte, und wenn jetzt jemand mit scharfer Kritik englischer Sitten die Rnglomanie treffen will, die in dem Jahrzehnt vor dem Krieg tatsächlich gerade in unserer höheren Gesellschaft im Schwange war, so soll es ihm mehr als verziehen sein. Solche wohlgemeinten und unter Umständen notwendigen Gewaltsamkeiten nationaler Selbstbesinnung sind immer noch sehr verschieden von einer gewissen hochmütigen, um nicht zu sagen pharisäischen Rrt, die meint, das Selbst­ bewußtsein des eigenen Dolkes dadurch zu stärken, daß sie die Kultur und das Wesen der anderen Nationen kurzweg für minderwertig und hassenswert erklärt. Die Seele eines fremden Volkes zu erkennen, ist schwer, heute mehr denn je, wo die Nationen sich straff zusammenfassen und das nationale Prinzip auch auf Gebiete wie Kunst, Wissenschaft, Religion übergreift, die sonst völkerverbindend wirken; und vollends sind die Seiten eines Krieges zwischen den stärksten europäischen Mächten völkerpsychologischen Betrachtungen, die immer eine ungewöhnliche Freiheit und Ruhe des

5 Geistes verlangen, so ungünstig wie möglich. Wir erklären mit vollem Recht eine europäische Kulturgemeinschaft für wertlos, aus der Deutschland ausgeschaltet ist, und treten mit aller Kraft unserer Waffen dafür ein, daß wir ein gleichberechtigtes Glied dieser Gemeinschaft bleiben; aber die Torheit soll uns fern liegen, die anderen Völker, weil sie jetzt mit uns kämpfen, aus dieser Gemeinschaft als inferior und minderwertig zu verbannen. Es kann viel­ leicht noch lange dauern, bis die Völker es wieder lernen im Wettkampf um die Güter des Friedens und der Gesittung sich gegenseitig in ihrer Eigenart zu achten, aber kommen muß eine solche Zeit wieder, wenn anders die europäische Kultur nicht zugrunde gehen soll, und wenn es jetzt nicht angeht, für diese Zukunft etwas zu tun, so sollen wir doch alles unterlassen, was geeignet ist, sie noch weiter hinauszuschieben oder ganz unmöglich zu machen. In anderer Weise soll das deutsche Selbstbewußtsein zu den Fremden in Gegensatz gebracht und über ihre Feind­ schaft erhoben werden, wenn versucht wird, aus den poli­ tischen, religiösen, kulturellen Erscheinungen unserer ge­ schichtlichen Vergangenheit einen spezifisch deutschen Geist gewissermaßen herauszudestillieren, dem dann besondere Vorzüge zugeschrieben werden. Dabei treten gewiß mancher­ lei schöne und treffende Gedanken zutage, und doch möchte ich behaupten, daß solche versuche, im Ganzen betrachtet, zu jenen Blüten des Krieges gehören, die derselbe Sturm, der ihren Samen gebracht, auch wieder verwehen wird. Es gilt hier, leicht verändert, das Wort Mephistos, daß, was man den Geist des Volkes heißt, im Grund der Herren eigener Geist ist. Wer will sich unterfangen, eine, auch nur einigermaßen bestimmbare geistige Einheit aufzufinden, die so entgegengesetzte Pole unseres nationalen Lebens wie Luther und den alten Fritz, Goethe und Bismarck auf die gleiche Formel bringt? Wir sind mit Recht stolz auf den Reichtum unserer ererbten Mannigfaltigkeit, darauf, daß die Kraft der verschiedenen Stammesindividualitäten

6 gerade innerhalb des geeinten Reiches das Gesamtdasein der Nation belebt und einer aufsaugenden Zentralisation glück­ lich widerstrebt; soll es da den Denker reizen, eine in der Wirklichkeit nicht vorhandene Einförmigkeit des deutschen Urgeistes philosophisch oder historisch zu konstruieren? Und sollte auch das Unmögliche möglich sein, und es gelingen, die Vergangenheit eines Volkes wie des deutschen in einen Begriff zusammenzufassen, sein Geist und sein Leben würden diesem versuch, sie zu erwischen, doch entschlüpfen, wenn uns ein lieber Mensch gestorben ist, dann suchen wir sein Wesen mit aller Kraft sehnsüchtiger Erinnerung zum Bilde zu ge­ stalten, und gestehen uns doch immer wieder, wie dürftig das alles bleibt, grade weil es für ewig abgeschlossen und unbeweglich ist; wir vermissen die holden, schönen Über­ raschungen, die sein Fühlen und sein Tun, sein hoffen und wollen uns boten, als sie noch in lebendiger Fülle sich in beständiger Bewegung erneuerten, wir bemühen uns wohl, den Geist eines vergangenen Volkes zu fassen, und fühlen doch, daß wir seinen Reichtum aus den gebliebenen Resten nur ahnen, uns ihm in immer wiederholten versuchen nur nähern können, ohne ihn je in seiner entschwundenen Totalität auszuschöpfen: um so lieber werden wir darauf verzichten, den unendlichen Geist unseres noch lebenden Volkes in irgend eine beschränkende und einengende Be­ stimmung einzusperren. So lange er noch voll Kraft und Leben ist, rauscht er in beständiger Bewegung dahin, bald in dunkle Tiefen versickernd und dann wieder ausschäumend im Licht des Tages, bald sich in weiter Behaglichkeit ausbreitend und bald dahinstürmend im engen Sette der Not und der Gefahr: nur der versteht ihn, der kühn und stark sich von ihm tragen läßt. Unsre Geschichte ist reich an Wechsel zwischen tiefem Fall und überraschendem Aufstieg; aber auch die feinste Kon­ struktion eines in dieser Geschichte kontinuierlich fortwir­ kenden Geistes würde niemals die wunderbare und wunder­ volle Überraschung haben herausrechnen können, die die Erhebung des gesamten Volkes gegen den europäischen An-

7 griff, die seine unverzagte Ausdauer uns allen bereitet hat und immer wieder bereitet in einem Kriege, an den bloß zu denken uns noch vor einem Jahr mit Schrecken und Grauen erfüllte, vor dem Kriege konnte mancher zweifeln, ob wir noch wert seien der großen Seit von 1813 su gedenken; jetzt sind wir uns stolz des gleichen Geistes bewußt, nicht durch Kombination und Konstruktion, sondern weil wir ihn so er­ lebt haben und erleben, daß wir ihn spüren werden, so lange die Geschlechter auf deutschem Boden wandeln und wirken, die die schmerzensvolle Größe dieser Tage an sich erfahren haben. weil der deutsche Geist unendlich ist, macht er alle ver­ suche zuschanden, ihn aus irgend welchen Teilen seiner Ver­ gangenheit zu errechnen; ebenso vermessen ist es, ihm für die Zukunft eine bestimmte Rolle zuweisen zu wollen. Man predigt uns jetzt oft und laut, daß wir ein Weltvolk werden müssen, wenn das heißen soll, daß unsere Jugend hinaus­ ziehen soll, um fremder Menschen Städte und Sri zu er­ kennen, daß unserem Forschergeist auch die Schrecken der Wüstenglut und des ewigen Eises keine Schranken setzen dürfen, daß unsere Handelsschiffe ungehemmt alle Meere befahren müssen und der Deutsche überall geachtet und, wenn nötig, gefürchtet wird als das tüchtige Glied eines tüchtigen Volkes, dann wird jeder freudig zustimmen, freilich auch den Wunsch hinzusügen, daß ein solches hinausdrängen in die Welt uns endlich von dem ge­ fährlichen Philistertum befreie, das kein höheres Siel des Strebens kennt, als die sichere Versorgung im festbesoldeten Amt und die Aussicht aus ersessene Pen­ sionsberechtigung, daß ferner die innere Gewalt neuen veutschtums stark genug werde, um auch das kühnste hinausstreben am Vaterlande festzuhalten und zu verhüten, -aß grade unsre besten und tatkräftigsten Elemente dauernd an die Fremde verloren gehen. Eine andere Frage ist, ob es zuträglich ist, jetzt, wo uns eine Welt von Feinden noch umgibt, weltpolitische Programme hinauszurufen und bei

8 allem zur Schau getragenen hasse gegen England es als die notwendigste Ausgabe des deutschen Geistes hinzustellen, datz dem echt englischen Gewächs des Imperialismus eine deutsche Nachahmung erstehe, für die man seltsamer und bezeich­ nender Meise ein deutsches Mort noch nicht gefunden hat, so eifrig auch die Jagd auf sehr viel harmlosere Fremd­ wörter betrieben wird: der Schluß liegt verführerisch nahe, datz dieses Ving deutschem Mesen so fremd ist, daß wir eben kein Mort dafür haben und haben wollen. Über auch wenn hinter dem Mort Meltpolitik sich keine imperia­ listischen Pläne verstecken, sollte man doch recht sparsam mit ihm umgehen. In gewissem Sinne ist jede auswärtige Politik jetzt Meltpolitik, weil die wirtschaftlichen Inter­ essen Deutschlands überall hin sich verzweigen und andrer­ seits unsre Lage in der Mitte Europas uns immer wieder zwingen wird, die koloniale und die europäische Politik auf einander abzustimmen. Mozu aber eine solche Politik Weltpolitik nennen? Das Schlagwort wird sie nicht besser machen und höchstens Gegnern und Neidern ein anderes, für uns unbequemes liefern, daß wir nach der Weltherr­ schaft streben. Es ist noch niemals einem Staat zum heil ausgeschlagen, wenn er programmatische, prinzipielle, ge­ wissermaßen aus seiner Natur abgeleitete Siele seiner Politik proklamierte; gerade die großen Machtkomplexe der alten und der neueren Geschichte sind allmählich, man könnte fast sagen organisch, dadurch zusammengewachsen, daß das in jedem Falle Erreichbare gewollt und durchge­ setzt, aber auch zur rechten Seit aus das verzichtet wurde, was sich nicht halten und eingliedern ließ und darum mehr eine Schwächung als eine Verstärkung der Macht bedeutete. Das lehren die römische und englische Geschichte, dasselbe auch die Friedrichs des Großen und Bismarcks. Darum möge das gerade jetzt durchaus be­ rechtigte Nraftgefühl des nationalen Selbstbewußtseins statt in Sukunftsprogrammen zu schwelgen sich lieber in politische Selbsterziehung umsetzen, die sich daran gewöhnt,

9 aus unserer Lage und unseren Erfolgen nüchtern das Jacit zu ziehen und in zäher Arbeit des Politikers, des Kaufmanns, des Industriellen die Ziele zu finden, die er­ reichbar sind und eben darum mit jeder Generation, ja mit jeder Konstellation wechseln. Erst spätere Geschlechter mögen den deutschen Geist preisen, der still und sicher seinen Weg gegangen ist: auch von ihm soll das Wort gelten, daß niemand weiß von wannen er kommt und wohin er geht. Ich habe geglaubt, die eben vorgetragenen Zweifel und Einwände, die mir durch manche Beobachtungen der Richtung, die die öffentliche Meinung hie und da nimmt, nahe gelegt wurden, nicht zurückhalten zu sollen, obgleich ich die unwillige Frage voraussehe, ob denn überhaupt darauf verzichtet werden soll, unser nationales Selbstbe­ wußtsein in bestimmter Form auszusprechen, verzichtet werden soll in einer Zeit, die, wenn irgend eine, geeignet ist, es zu noch vor kurzem ungeahnter höhe zu erheben. Grade weil das möglich und notwendig ist, schien es mir ratsam, die Wege nicht einzuschlagen, die von dem abführen, was jetzt wahr und wichtig ist. Wenn ein Ungeheures auf den Menschen einstürmt, wenn unter dem Druck einer Ge­ fahr, die seine ganze Existenz bedroht, die Kräfte seines Wollens, Denkens, Fühlens in eine Einheit zusammen­ schießen, dann gibt ihm eine Betrachtung all dessen, was er einst war oder einmal sein wird, keinen halt; wenn sein Bewußtsein nicht zerflattern und sich verlieren soll, muß es sich in dem sammeln, was aus all seinem Erleben und Tun in der ihn niederzwingenden Gegenwart zur unmittel­ baren Wahrheit wird. Dann und nur dann wird die in ihm schlummernde Kraft lebendig, die ihn davor rettet, sich selbst aufzugeben. Im Leben der Völker ist es ebenso: denn ein lebendiges, freies Volk ist so gut ein Individuum wie der einzelne freie Mensch. Unser wahres Selbstbewußt­ sein ist nicht ein erst zu bestimmendes, abzuleitendes Etwas, sondern das in dem wir uns zusammengefunden haben, als

10

der Krieg von allen Seiten über uns herstürzte, und uns noch zusammenfinden, wo er kein Ende zu nehmen scheint und ein unmenschlicher Feind uns mit Not und hunger schrecken möchte, wir sind ein wehrhaftes Volk und wir werden uns verteidigen, so lange noch ein wann da ist, der die Waffe tragen kann: das war das Gefühl, das uns alle beseelte in jenen Llugusttagen, als wir die Regi­ menter, singend, bekränzt hinausmarschieren sahen zur Grenze, als nicht nur alle, auch die ältesten Jahr­ gänge der Landwehr, sondern gar der Landsturm aufgeboten wurde zum Seichen, daß das gesamte Volk in Waffen stehen müsse. Dasselbe Gefühl belebt jetzt alle die daheim ge­ blieben sind, die ihre Ersparnisse dem Reich zur Verfügung stellen, die keine wüh und Nrbeit scheuen, damit mit unsren Vorräten hausgehalten und dem Lande alles abgewonnen wird, was wir brauchen, so daß die Drohungen des Feindes zuschanden werden. Es fehlt in der neueren Geschichte nicht an Beispielen nationalen Widerstandes, der vor dem Äußersten nicht zurückschreckte; ich will nur an das Frankreich von 1792, an den spanischen Guerillakrieg gegen Napoleon, an den Brand von Moskau 1812 erin­ nern: aber solche Nufwallungen verzweifelter Leidenschaft scheinen uns nicht an den Sinn hinanzureichen, mit dem wir das Llufgebot der gesamten wehrhaften Mannschaft und noch nie dagewesene Eingriffe in die tägliche Wirtschaft nicht er­ tragen, nein freudig begrüßt und gefördert haben nach allen Kräften. Denn wir sind uns bewußt, daß jetzt in voller Wahrheit und Größe etwas erschienen ist, was wir als Siel und Idee schon ein ganzes Jahrhundert gehabt haben, von den Seiten an, wo wir wieder begannen, für unsere Einheit und Freiheit zu leiden, zu kämpfen und zu sterben, den Volksstaat, in dem jeder seine Kraft und sein Leben einsetzt für das Ganze, weil nur das Ganze ihm möglich macht, ein freier und sittlicher Mensch zu sein und zu bleiben. Vas ist ein Staatsgedanke, der in der Not der Fremdherrschaft am Llnfang des vorigen Jahrhunderts zu-

11 fammenwuchs aus dem altpreußischen Pflichtgefühl, das den Zusammenbruch des fridericianifchen Beamten- und Ultlitärftaats überdauerte, aus der idealistischen Ethik der deut­ schen Philosophie und dem mehr geahnten als erforschten Idealbild des antiken Bürgerstaats. Er könnte als Utopie erscheinen und wäre eine solche geblieben, wenn er nicht gleich bei seiner Entstehung durch die allgemeine Wehrpflicht in eiserne, blutige Wirklichkeit umgesetzt wäre: möglich war das allerdings nur, weil der ideale Gehalt dieses neuen Gedankens in dem überlieferten Gefüge der preußischen Armee und des preußischen Königtums ein felsenhartes Ge­ fäß fand, wie alle Gedanken, die zu geschichtlichen und politischen Realitäten werden, ist auch dieser ein nicht ein­ faches Gebilde; die Spannung zwischen seinen altpreußi­ schen und neudeutschen Elementen, die der mächtige Schwung der Befreiungskriege überflog, hat in den Leiden und Kämpfen um die Einheit immer wieder überwunden werden müssen, im Großen sowohl wie in den Seelen der einzelnen Menschen. Sie tritt auch jetzt noch zutage in Zeiten der Müdigkeit oder gesteigerter innerer Gegensätze, wie sie im Leben eines Volkes nicht ausbleiben: denn wie jede Idee, so ragt auch der preußisch-deutsche Staatsgedanke über die Wirklichkeit hinaus und muß immer wieder von neuem zu einem Ziel werden, das in eine bessere und höhere Zu­ kunft weist, fius den mißdeuteten Eindrücken solcher Zeiten nationaler Windstille und innerdeutscher Wirbel, zu­ sammen mit der immer noch nicht erstorbenen Erinnerung an die in früheren Zeiten so oft mit Glück geübte franzö­ sische Ausnutzung unserer Uneinigkeit entstehen dann in der ausländischen Publizistik die uns grotesk anmutenden Phantasien, daß Deutschland von Preußen befreit werden müsse, Phantasien, die insofern einen richtigen Kern haben, als die Trennung Preußens vom übrigen Deutschland den Nerv unseres nationalen Lebens, den deutschen Staatsge­ danken selbst treffen würde. Unser eigenes Bewußtsein spottet ruhig und sicher dieser haßgeborenen Träume: der

12

Staatsgeüanke von 1813 ist immer wieder lebendig ge­ worden, wenn die Ration als solche bedroht war; er ist hineingewachsen ein ganzes Jahrhundert hindurch in das ganze, große Deutschland, er ist unmittelbarer Glaube unser aller geworden, von dem einsamen Denker bis zu den Scharen der Arbeiter, vom Großkausmann, dessen Schiffe über die Meere lausen, bis zum Bauern, der den Pflug über den Acker seiner Väter führt, vom Kaiser bis zum Wehrmann. Das ist das Wunder unserer Tage, daß dieser Gedanke und dieser Glaube in Deutschland lebt wie nie zu­ vor, in den Tausenden von Freiwilligen, die zu den Fahnen eilten, ehe ein Befehl sie rief, in den jungen Regimentern, die singend bei Langemark die feindlichen Gräben stürmten, in den Seeleuten, die mit wehender Flagge untergingen im Kampf gegen die Übermacht, in all dem stillen, an­ spruchslosen Heldentum, das Millionen deutscher Soldaten Tag für Tag bewähren, in einem Krieg, der Mut und Ge­ duld jedes einzelnen auf die härteste Probe stellt. Vieser zum Glauben gewordene Staatsgedanke hat Selbstsucht und Genußsucht aus uns hinausgefegt in einer Seit, in der die deutsche Wirtschaft eine ungeheure Fülle von Reichtümern geschaffen und aufgehäuft hatte, und er verbietet Tausenden von Herzen zu verzagen und zu verzweifeln, obgleich ihnen Wunden geschlagen sind, die kein Wort tröstet und keine Seit heilt. Das wahre und echte deutsche Selbstbewußtsein ist be­ gründet und bestimmt durch die geschichtlich gewordene und immer von neuem werdende Idee des deutschen Dolksstaates. Es braucht und soll uns nicht darüber täuschen, daß auch die feindlichen Völker ihren ihrer Art entsprechenden Patriotismus besitzen; je kräftiger es ist, um so ruhiger vermag es sich mit diesem und seinen eigentümlichen Formen zu vergleichen. Seit und Zweck der Rede gestatten nicht, diese Vergleichung mit auch nur annähernder Voll­ ständigkeit durchzuführen; nur einige Betrachtungen über besonders charakteristische Eigentümlichkeiten mögen hier Platz finden.

13

Der französische Staatsbegriff, immer noch beherrscht von der rationalistischen Theorie des 18. Jahrhunderts, geht aus von dem souveränen willen der Gesamtheit, die als die Summe der einzelnen Individuen gefaßt wird; diese Indi­ viduen werden einander absolut gleich gesetzt, sind gewisser­ maßen Eitome ohne wesentliche Unterschiede der (Qualität; ihre Vereinigung läuft auf eine ßööition hinaus, und die reine Majorität der Sahl entscheidet, wo der Gesamtwille zum Durchbruch gelangt, schlägt er jeden widerstand des Einzelnen rücksichtslos nieder, ja mehr als das, er hebt den Einzelwillen einfach auf. Das ermöglicht heroischen widerstand gegen den auswärtigen Feind, gegen den der Gesamtwille der Nation gerichtet ist, aber es zerstört zu­ gleich in auffallender weife die Kraft des individuellen Denkens und wollens; nirgendwo herrscht die öffentliche Meinung mit solcher Übermacht, wie in dem sich feiner Freiheit rühmenden Frankreich. Bei aller feiner bis zum Tyrannischen sich steigernden Gewalt, bleibt indes der nationale Gesamtwille für den Franzosen eine Abstraktion, die durch schaffende Tätigkeit in dauernde Wirklichkeit über­ zuführen, er sich nicht zum Siele fetzt; er ist auch in den Seiten der größten nationalen Aufopferung weit davon ent­ fernt, den wirklich vorhandenen Staat mit dem abstrakt gefaßten nationalen Gesamtwillen zu identifizieren. Im Gegenteil, dem realen Staat, der Regierung gegenüber, läßt jeder seinen Eigenwillen zu eigenem Nutzen und Dor­ teil sehr entschieden wirksam werden. Der Franzose kann pour la gloire de la patrie Unerhörtes vollbringen, aber er wird nur selten und in geringem Maß das sein, was wir opferwillig nennen. In der Elbhängigkeit von dem ab­ strakten Gefamtwillen vermag er sich, im Guten wie im Bösen, seines eigenen Selbst mit einer Rückhaltlosigkeit zu entäußern, die die Welt mehr als einmal in Erstaunen oder Schrecken gesetzt hat; aber dem jeweils vorhandenen Staat gegenüber grenzt er sorgfältig die Sphäre seiner privat­ rechte ab und wacht eifersüchtig darüber, daß der Staat nicht in sie eingreift. Dasselbe Volk, das in der Revolution alle

14

privaten Verhältnisse schonungslos umgestaltete, ist nicht dazu zu bringen, eine wirkliche Besteuerung und Selbst­ einschätzung des privaten Einkommens einzuführen. In anderer Weise bestimmt das englische Wesen das Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtheit. Zunächst sieht es so aus, als sei der Engländer noch eigensinniger darauf bedacht, feine persönliche Unabhängigkeit gegen den Staat zu sichern, als sein Nachbar südlich des Kanals; sein Haus gilt ihm als Burg gegen den Gläubiger und die Exekutive der öffentlichen Gewalt. Ja, die Selbständigkeit des Einzelnen ist in England ungleich aktiver als in Frank­ reich; die Erziehung zielt konsequent darauf ab, dem werden­ den Glied des britischen Volkes eine möglichst hohe Mei­ nung von sich beizubringen und ihm einzuimpfen, datz er auf eigenen Beinen stehen, sich auf sich selbst verlassen mutz. Das führt aber durchaus nicht zu einer Auflösung des öffentlichen Wesens; dies ist vielmehr gewohnt, den Einzelnen, dem es einen wichtigen Posten anoertraut, so frei und unbeschränkt, wie irgend möglich, für das öffent­ liche Intereste wirken zu lassen, und eine durch Gene­ rationen vererbte politische Erziehung hält im Individuum das Bewußtsein aufrecht, daß das eigene und das öffentliche Intereste tatsächlich zusammenfallen, was der Engländer für den Staat leistet, will er freiwillig leisten; aber der Staat darf damit rechnen, daß er Individuen findet, die ein ungewöhnliches Maß persönlicher Entschlostenheit und Energie zu seiner Verfügung stellen. Solange das indi­ vidualistische, jeder Zwangsorganisation abholde System sich die Bezwingung und Beherrschung nichteuropäischer, der technischen Zivilisation entbehrender Massen zum Ziel setzte, hat es mit verhältnismäßig geringen Mitteln und Opfern ungemeine Erfolge erzielt und ein herrenoolk erzogen, das scheinbar mühelos eine ungeheuere Überzahl beherrscht, weil die einzelnen Organe dieser Herrschaft ein so sicheres Be­ wußtsein ihrer Überlegenheit besitzen, daß die Beherrschten sich ihm ebenso fügen, wie eine Herde sich den Hirten ge-

15 fallen läßt. Dagegen würde den kontinentalen Staaten, die durch die absoluten Monarchien des 17. und 18. Jahr­ hunderts dazu erzogen sind, ihre Kräfte straff zusammen­ zufassen, England kaum gewachsen, geschweige denn über­ legen gewesen sein, wenn die englischen Staatsmänner es nicht bis auf den heutigen Tag meisterhaft verstanden hätten, die Mächte des Festlandes immer wieder unter­ einander in Streit zu bringen und auf diese weise fremde Truppen für englische Interessen Kämpfen zu lassen; ob Eng­ land, wie früher, diese Politik durch die Zahlung von Subsidien bestreitet, oder, wie man jetzt sagt, den europäischen Krieg finanziert, macht für das Resultat nichts aus. Diese Andeutungen, so kurz und unvollständig sie sind, genügen doch, um wie durch scharfes Seitenlicht die unter­ scheidenden Merkmale des deutschen Staatsgedankens heroortreten zu lassen. Er darf nicht dahin mißverstanden werden, daß wir alle in blindem Gehorsam erstarrte Ma­ schinen in der Hand der Beamten und Offiziere sind: solch törichte Vorstellungen werden schon dadurch widerlegt, daß kein Volk der Welt so zu prinzipieller Opposition neigt, wie das deutsche, und es im gewöhnlichen Leben schwer hält, auch nur ein Dutzend deutscher Staatsbürger unter einen Hut zu bringen. Über das sitzt uns allen im Blut, daß der deutsche Staat mehr ist als eine Abstraktion und mehr als eine Interessengemeinschaft des Einzelnen und der Gesamtheit, daß er eine lebendige, ideale Kraft ist, die sich nährt von den Kräften des einzelnen, lebendigen Indi­ viduums, welcher Art sie sein mögen, die aber groß, stark, unabhängig sein muß, wenn das einzelne Individuum das werden soll, was es vermag und wozu es bestimmt ist. Und es gibt dieser Idee die menschliche Wärme, die un­ mittelbar emporquellende Empfindung, daß sie sich für uns verkörpert in dem sichtbaren Führer und Herrn, im Kaiser, mit dem diese Seit der allgemeinen Gefahr und der all­ gemeinen Größe uns in Einigkeit und Treue verbunden hat. Sie ist wahr, die Idee, weil sie um so mehr nach wirklich-

16 kett verlangt, je höher die Wogen des nationalen Lebens uns tragen, und doch nie ganz in diese Welt eingeht; sie hat viele unersetzliche und unvergeßliche Gpfer gefordert, aber sie macht auch den Tod, in den unsere Jugend mit mutiger Selbstverständlichkeit geht, zu des tiefsten Lebens ver­ klärender Erfüllung. Eines Individuelle ist ein unauflösbares Geheimnis, und die Individualität eines Volkes noch mehr als die des einzelnen Menschen: sie kann empfunden werden, aber dem trivialen Begreifen ist sie unzugänglich. Wir sollen daher nicht erstaunen, wenn unsern Gegnern die in der all­ gemeinen Wehrpflicht fleischgewordene Idee des deutschen Volksstaates unverständlich und unheimlich ist, und wir können sie mit ruhigem Bewußtsein unserer selbst gewähren lassen, wenn sie von der englischen Nützlichkeitsphilosophie den Schimpfnamen Militarismus borgen, um gegen den Staatsgedanken zu Hetzen, dessen Kraft sie am eigenen Leibe spüren, und den Eingriff auf unser vasein mit der Phrase zu dekorieren, daß Europa, oder gar die Menschheit, vom Militarismus befreit werden müsse. Diese Manier, sehr realen Machtzielen den Mantel eines allgemeinen Inter­ esses umzuhängen, ist ein Rest alter Gewohnheiten, der aus den Zeiten stammt, in denen Frankreich und England schon Staaten, sogar ausgeprägte Machtstaaten waren, aber das politische Meinen noch stark im Banne universaler Ge­ danken befangen war. So unterjochte das revolutionäre Frankreich seine Nachbarn im Namen der Freiheit, Gleich­ heit und Brüderlichkeit, und behauptete England, für die Freiheit der Welt gegen Napoleon I. zu Kämpfen, versäumte aber nicht, sich bei der Gelegenheit ein gutes Teil der Welt anzueignen. Trotzdem war in diesen Schlagworten ein wahrer Kern enthalten, der ihnen zur Wirkung verhalf: die revolutionären Ideen und der erwachende Widerstand der Völker gegen die drohende Universalmonarchie waren Ten­ denzen, die über die französischen und englischen Grenzen hinausreichten und deren Propaganda wie eine glänzende

17

Wolke die Erfolge der napoleonischen und britischen Waffen der europäischen Welt größer und strahlender erscheinen ließen. Das jetzige (berede von Militarismus ist nichts als eine Phrase, deren Leere sich darin offenbart, daß seit 1870 die Kontinentalmächte alle versucht haben die wichtigste Institution unseres natio­ nalen Staates nachzumachen, obgleich sie bei ihnen nicht wie bei uns unmittelbar aus der Idee des Staates und den wurzeln des nationalen Wesens hervorgewachsen ist, Eng­ land dagegen mit seinem zäh festgehaltenen System frei­ williger Anwerbung die Heeresmassen nicht aufbringt, die sein Imperialismus gebraucht, wir können dies Schlag­ wort ruhig verhallen lassen; die nationale Existenz, für die zu Kämpfen wir jetzt so phrasenlos bekennen, wie es unsere Däter 1813 und 1870 getan haben, braucht nicht mit tönen­ den Schlagworten umkleidet zu werden, weil sie für uns ein idealer wert von unmittelbarer Evidenz ist. Und doch verzichten wir Deutschen darum mit Nichten auf die werte, welche an Räume und Seiten nicht gebunden sind; wenn unsre Staatsidee die unbedingte Hingabe des einzelnen In­ dividuums verlangt, so bedarf sie, um immer wieder von neuem der Wirklichkeit angenähert werden zu können, solcher Individuen, die ein Ewiges in sich tragen, weil sie, jeder in seinem Kreis und nach seiner Kraft, ein höchstes wollen und in erlösendem Streben sich aus dem eigenen Ich hinausheben. Der Staat versündigt sich an seinem eigensten Wesen und zerstört sich selbst, wenn er sich Ziele steckt, die jenseits seiner Selbständigkeit, seines von allen anderen Staaten scharf abgegrenzten Lebens liegen; das Indivi­ duum, die wenschenseele, hat das Recht und die Pflicht, werte zu erhalten und zu schaffen, an denen alle teilhaben, die verdienen, Menschen zu heißen. AIs der Friede von Luneville vom heiligen römischen Reich deutscher Ration nur noch einen kläglichen Trüm­ merhaufen übrig gelassen hatte, schrieb Schiller: „Deutsches Reich und deutsche Nation sind zweierlei Dinge .... wenn

18 auch das Imperium unterginge, so bliebe die deutsche würde unangefochten. Sie ist eine sittliche Größe, sie wohnt in der Kultur und im Charakter der Nation, der von ihren politischen Schicksalen unabhängig ist. ... Gr (der Deutsche) ist erwählt von dem Weltgeist, während des Seitkampfes an dem ewigen Bau der Menschenbildung zu arbeiten, zu bewahren, was die Seit bringt.... nicht im Augenblick zu glänzen und seine Holte zu spielen, sondern den großen Prozeß der Seit zu gewinnen. Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte, doch der Tag des Deutschen ist die (Ernte der ganzen Seit.“ Der Jammer einer Nation, die dem Untergang zuzueilen scheint, und die Größe der einsamen vichterseele, die sich mit dem Traum einer Weltherrschaft des Geistes trösten möchte, spricht aus diesen Worten. (Es ist, als ob sich das Lebensfeuer der Nation in den Funken ge­ rettet hätte, der im Individuum noch fortglimmt, wenn die Gesamtheit sich ausgelöst hat: aus demselben Funken sind die Flammen emporgeschlagen, die 1813 die Fremdherrschaft verzehrten und jetzt sie fernhalten. Unser Volk muß sich immer mit Stolz bewußt bleiben, wie es sich vor dem tragischen Lose bewahrt hat, das von der Erde ihm versagte über den Sternen suchen zu müssen: aber darum darf es das nicht aufgeben, was sein Trost geblieben war, als es sein altes Heich verlor, das Königreich des Geistes. Tausende unsrer Besten, blühende Jugend und reife Männer, die hofften und strebten zu wirken und zu schaffen, damit Deutschland seinen Teil behalte an den unvergänglichen Gütern, haben ihre Seele dahingegeben für die Freiheit des Bodens, auf dem das Volk der Dichter und Denker gewachsen ist; wir, die überlebenden und die, welche heranwachsen, schulden ihnen die heilige Pflicht, unserem Volk das zu bewahren, ohne das auch der Glanz des Sieges und der Macht erbleicht und verfliegt, den ewigen Geist und die unsterbliche Seele.

Weltreich und Weltsriede Vortrag gehalten zum Besten des Gustav-Adolf-Bereins

in Freiburg am 11. Oktober 1916

von

E. Hchtvarh Professor an der Universität Straßburg

-Straßburg Verlag von Karl I. Trübner 1916.

Alle Rechte Vorbehalten

Druck von M. DuMont Schauberg, Straßburg.

Es ist eine schwere Aufgabe, in der jetzigen Kriegszeit als vaheimgebliebener zu vaheimgebliebenen zu reden. Unter denen, die vor mir sitzen, ist niemand, an desien Türe nicht die Sorge pocht, und nur zu wenige, in deren Haus nicht die Trauer als dauernder East eingekehrt ist. Alles Denken und Fühlen wendet sich immer wieder, wie die Magnete zum Pol, dem Kampf um die Grötze, die Unver­ sehrtheit, das Dasein des Vaterlandes zu. Jeder mutz jeden Tag von neuem sich Mut und Zuversicht erkämpfen, den Druck und die Spannung immer wieder und erst recht über­ winden, wenn sie sich bis zum Unerträglichen steigern; diese Pflicht kann ihm kein Redner abnehmen, wären ihm auch Engelszungen verliehen. Und doch habe ich geglaubt der Aufforderung, hier zu sprechen, mich nicht versagen zu dürfen, weil, wer jetzt einer Darbietung, die geistig wenigstens sein will, lauscht und seine Seele, wenn auch nur für eine kurze Spanne Zeit, stille werden lätzt, eine Tapfer­ keitsleistung vollbringt, durch die er sich unserer Brüder nicht ganz unwürdig erweist, die drautzen, in (Vst und West, Tag und Rächt mit übermenschlicher Aufopferung die Fluten eines wahnsinnigen Völkerhasses zurückdämmen und ihr Blut dafür hingeben, datz dem deutschen Geist die grotze und freie Heimat bewahrt bleibt. Richt um den Krieg auch nur einen Augenblick zu vergessen — das sei ferne, — nein, um klaren und ruhigen Sinnes zu bleiben, uns vor Kleinmut, Dumpfheit, nichtigem Gezänk zu bewahren, wollen wir den Slick schweifen lasten über vergangene Epochen; wenn die Geschichte auch auf keine Frage der Gegenwart eine direkte Antwort gibt, so verleiht sie doch dem Rachdenken weite

4 und Größe, wie eine Zeit von schreckenvollster Erhaben­ heit sie bedarf. 3n langen Friedensperioden oder in Ländern, die, wie die vereinigten Staaten, vor einem Existenzkriege sicher zu sein glauben, pflegt das Phantom eines dauernden Weltfrie­ dens aufzutauchen und um so mehr Gläubige zu finden, je un­ vorstellbarer einem friedegewohnten Geschlecht der Krieg wird, ver Kulturstolz, den solche Friedenszeiten erzeugen und nähren, läßt die kriegerischen Epochen der Vergangenheit leicht als ein mehr oder weniger überwundenes Stadium der Entwicklung erscheinen und verleitet immer wieder dazu, die geschichtliche Erfahrung zu vergessen und Theorien von einem Weltfrieden zu konstruieren, der aus rechtlichen und moralischen Grundsätzen basiert sei; daß der faktische Friedenszustand stets lediglich durch eine bestimmte Kräfte­ verteilung, nicht durch ein nur in der Idee existierendes Völkerrecht aufrechterhalten wird, pflegt um so leichter übersehen zu werden, je länger die unerbittliche wachtprobe des Krieges ausbleibt, wenn die pazifistischen Schwärmer sich zu konsequentem Denken entschließen wollten, müßten sie als die notwendige Voraussetzung ihres Ideals ein Weltreich postulieren von so machtvoller ilberlegenheit, daß jeder versuch, sich seiner direkten oder in­ direkten Botmäßigkeit zu entziehen, aussichtslos wäre; sie müßten dies um so eher, als die längste Friedensperiode, welche die Geschichte kennt, tatsächlich durch ein solches Weltreich herbeigeführt und aufrecht erhalten ist. Dos Imperium Romanum hat, seitdem Augustus nach Beendi­ gung der Bürgerkriege und der Eroberung Ägyptens den Ianustempel schloß, über 200 Jahre, viele Generationen lang, unter der Fax Augusta, dem Kaiserfrieden gestanden, llur ein einziges Wal, bei dem Sturz der claudischen Dynastie, flammte der Bürgerkrieg, der damals nur noch ein Krieg zwischen den Kaiserheeren sein konnte, für ein Jahr wieder auf; eine Erneuerung des kaiserlichen Regiments machte ihm rasch ein Ende für lange Zeit. Die nur selten aussetzenden, meist defensiven Kämpfe an den Grenzen störten

5 den Reichsfrieden so wenig, wie eine heutige Großmacht durch Kolonialkriege sich in ihrer Existenz bedroht fühlt; gelegentliche, die gloire der kaiserlichen Armee mehrende Eroberungen bedeuteten für das allgemeine Bewußtsein so viel oder so wenig wie die unausbleiblichen militärischen Rückschläge oder diplomatischen verzichte. Kriege sind im römischen Reich zur Sage geworden, sagt ein griechischer Schriftsteller unter Antoninus Pius mit vollem Recht. Vas Reich umfaßte die Wittelmeerländer im weitesten Sinne; Rhein, Donau und Euphrat, im Süden die Hilkatarakte und die wüste, im Osten der Ozean bildeten seine Grenzen; England war der äußerste Vorposten. 3n diesem ganzen Gebiet entwickelte sich unter dem Kaiserfrieden ein materielles Gedeihen, ein Hochstand der äußeren Zivilisa­ tion, wie nie zuvor und, wenn man die Betrachtung auf die Rlittelmeerländer beschränkt, auch nie nachher. Ohne Schranken und Gefahren vermittelte der handel die Pro­ dukte dieser von der Natur gesegneten Landstriche; das Prestige des Reichs deckte ihn sogar noch weit über die Grenzen hinaus: bis Zanzibar, Südarabien, Indien wagten sich die Schiffe, und über der chinesischen Karawanenstraße, die das kostbarste Produkt des fernen Ostens, die Seide, durch die tibetanischen Steppen und über die eisigen Pässe des Pamir brachte, lag damals im Okzident das Geheimnis nicht, das später diese Pfade mit einem undurchdringlichen Nebel bedeckte. Ein Netz eisenfester Straßen, die vielfach heute noch dem Gebrauch dienen, überzog die Länder; bis in die entlegensten Bergtäler, an den Rand der wüste, in die winterliche Kälte des Nordens erstreckten sich wuchtig, wie für eine ewige Dauer bestimmt, die Thermen, Theater, Wasserleitungen,Brücken,Wachttürme, Grenzwälle—Bauten, deren spärliche, von den Jahrtausenden zernagte Reste jetzt noch mit unmittelbarer Eindringlichkeit von der Kraft des den Weltfrieden erzwingenden Weltreichs zeugen, was diese Ruinen ahnen lassen, bestätigen Geschichte und Litera­ tur: all jene Gebiete, in denen einst uralte orientalische Kulturen, die nur zu geistiger Einheit fähige Zersplitte-

6 rung der Hellenen, die durch militärische und diplomatische Technik geschaffenen und zusammengehaltenen hellenistischen Monarchien, die noch ungebrochene Uaturkrast der Kelten, Iberer, Rordafrikaner in wechselvoller Mannigfaltig­ keit ihre blutigen, leidvollen Schicksale erlebt hatten, sie lagen, unter dem Regiment der Täsaren geeint, im Schimmer eines von keiner Gefahr bedrohten Friedens so ruhig da, wie das zwischen ihnen flutende Meer an einem windstillen Sommertag; wie alle Kämpfe und Kriege ver­ hallt, zu einer keine Leidenschaften mehr weckenden Unter­ haltung müßiger Stunden geworden waren, so rührte sich, von vereinzelten Rufwallungen und Resten alter Unab­ hängigkeit abgesehen, in dem ungeheuern Völkergemenge kein nennenswerter widerstand gegen das kaiserliche Rom. Der Gallier, Spanier, Uumidier sah ohne Bitterkeit und Sträuben seine angeborene Rrt und Sprache vor der latei­ nischen Zivilisation dahinschmelzen wie Schnee an der Sonne, der griechische Redner und der ägyptische Priester glaubten ihrer Vergangenheit kein Unrecht zu tun, wenn sie dem Kaiser mit einer auch über das verlangte hinaus­ gehenden Loyalität huldigten; ja, selbst die Juden, die als einziges Kulturvolk noch einen nationalen widerstand ge­ wagt und entsetzlich gebüßt hatten, die Thristen, denen der Kaisersriede rechtlich entzogen war, beteten pro salute Caesaris zu ihrem Gott, was nie zuvor und nie nachher erreicht ist, hier war es eine, viele Menschengeschlechter überdauernde Wirklichkeit geworden: ein Weltreich, gegen dessen Weltfrieden niemand auch nur wünschte sich aufzu­ lehnen. Gin griechischer Lobredner des kaiserlichen Rom schließt den vergleich zwischen der Zwist- und jammer­ reichen hellenischen Vergangenheit und der strahlenden Gegenwart mit den Worten ab: „wie jede Kunst ihrem Material entspricht, so hat sich erst, als die Herrschaft ihre volle Größe, die Macht ihre höhe erreichte, die Kunst des herrschens gebildet; beide sind durch einander gekräftigt: durch die Größe der Herrschaft gewann die Erfahrung des

7 herrschens notwendig an Kraft und durch die Fähigkeit, gerecht und billig zu herrschen, wuchs die Herrschaft." ver kränkliche, abergläubische Rhetor, dem die klassizistische Form der Kunstrede das Ziel des Strebens war, erhob nie den Anspruch ein Geschichtsschreiber zu sein; trotzdem ent­ halten jene fein gedrechselten Sätze eine für alle Zeiten gültige historische Wahrheit. Wie das Sein des einzelnen Menschen nicht von Geburt an wie in einem Keim fertig vorgebildet daliegt, sondern erst durch das, was er handelnd und leidend erfährt und erlebt, sich, wachsend, reifend und verfallend immer von neuem formt, so ist auch Wesen und Art der Völker mit Nichten etwas von vornherein Be­ stimmtes, sondern entsteht erst in der Zeiten langem Lauf, in einem fortwährenden Wechsel des Beharrens und Neu­ werdens. Weltmacht und Weltherrschaft sind kein Schicksal, das mit gewissermaßen astrologischer Notwendigkeit einem dazu prädestinierten Volk zufällt, sind ebensowenig die logisch sich ergebende Folge dieser oder jener Anlagen und Eigenschaften. Sie kommen immer nur unter besonders günstigen Umständen in meist sehr langsamer Entwicklung zustande, und das Volk, das sie gewinnt, lernt die Kunst des Aneignens und herrschens erst durch die Übung von Generationen, bis schließlich sich das Voppelverhältnis bildet, das dem griechischen Rhetor jene geistvoll formu­ lierte Bewunderung römischer Herrschaft und römischer Herrscherkunst entlockt. Wie Rom nicht in einem Tage gebaut ist, so läßt sich auch in der knappen Frist, die einem Vortrag zuge­ messen ist, kein Bild davon zeichnen, wie die Römer all­ mählich, durch zähe, immer wieder den verhältnisten sich anpassende Benutzung unvergleichlich günstiger Umstände die alleinigen Beherrscher der Mittelmeerländer, d. h. der damaligen Kulturwelt geworden sind. Nur einige, aus dem Verlauf der Ereignisse sich ohne weiteres heraushebende Beobachtungsreihen mögen hier kurz skizziert werden, ver letzte, auf die Dauer stets des Erfolges sichere Hebel ihrer Macht war ihre militärische Überlegenheit; sie beruhte nicht

8 auf einer naturhaften, der keltischen oder germanischen ver­ gleichbaren Tapferkeit oder auf einer von genialen Persön­ lichkeiten immer wieder geübten Strategie — die römischen Heerführer und gar die Flottenkommandanten haben oft versagt —, sondern auf einer Heeresorganisation, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem erwachsen war, was als die eigentümlichste Leistung des römischen Gemein­ wesens angesehen werden mutz, der Einigung der italischen Stämme zu einem Wehrbund unter der Führung Roms. (Es war das mit Nichten ein nationaler Staat im modernenSinne des Wortes, aber doch eine politische Form, die der römischen Regierung eine Volkskraft von einem Umfang und einer Unerschöpflichkeit zur Verfügung stellte, wie sie weder die Handelsrepublik Karthago noch die hellenistischen Mo­ narchien besaßen, eine Form ferner, die durch ein prak­ tisches System von Koloniegründungen und Austausch der Bürgerrechte Italien zugleich mit Zentren römischen Wesens durchsetzte und der römischen Bürgergemeinde fortwährend neues Blut zuführte. Als dieser merkwürdige Bundesstaat festgefügt und in sich geschlossen in die Mittelmeerwelt eintrat, gab es in ihr noch eine stattliche Reihe von Mächten mit hochentwickelter materieller und geistiger Kultur, im Besitz einer glänzen­ den militärischen und politischen Tradition, aber keine, die dem gefährlichen, halbbarbarischen Neuling eine politisch zusammengefatzte nationale Kraft hätte entgegenstellen können. Den mutigsten und zähesten widerstand fand er sogar bei einer Stadt, die am weitesten von einem National­ staat entfernt war, der punischen Republik an der Nord­ spitze Afrikas, die als eine Zwingburg sich zwischen und über eine rasse- und sprachfremde eingeborene Bevölkerung gesetzt hatte und ihre Kriege nur mit Söldnerheeren führen konnte, die ihr selbst unter Umständen gefährlich wurden. Aber die klugen Handelsherren verstanden es, die Numider, ja auch die Spanier für sich zu gewinnen, und brachten aus ihrer Mitte Generale hervor, die aus diesen ungezügel­ ten Kräften furchtbare Heere aufstellten und führten; erst

9 als Rom es ebenfalls gelernt hatte, Iberer und Afrikaner seinen Interessen dienstbar zu machen, gelang es ihm, die Rivalin auf die Knie zu zwingen. Vie Hellenen, die sich mit nicht ganz unberechtigtem, wenn auch für sie verhängnisvollem Stolz das Monopol der Kultur zuschrieben, haben den Römern mehr geholfen als widerstanden. Sie waren zwar durch ihr literarisches und künstlerisches Schaffen eine geistige Einheit von kulturell unbesieglicher Widerstandskraft geworden, aber in der poli­ tischen Entwicklung den umgekehrten weg wie die Italiker gegangen. Nachdem die versuche der stärksten Einzel­ gemeinden, sich die anderen zu unterwerfen, immer wieder mißglückt waren, entschied sich schließlich das Hellenentum in Theorie und Praxis für den Grundsatz, daß der autonome Stadtstaat die einzige politische Jorm sei, in der der freie Hellene existieren könne. Dem makedonischen Königtum, das immer wieder, mit sanfterem oder strengerem Zwang, der Zersplitterung ein Ende zu machen versuchte, half es nichts, daß Alexander an der Spitze eines Hellenenbundes den persischen Erbfeind seines Reiches beraubt hatte; die Griechen des Mutterlandes sahen in eben diesem Königtum, obgleich es der hellenischen, nicht etwa einer nicht vorhan­ denen makedonischen Kultur ungeahnte weiten erschlossen hatte, ihren schlimmsten Jeind. wenn sie auch aus eigener Kraft ihm nicht widerstehen, geschweige denn es besiegen konnten, so bildeten sie doch durch ihre Bereitwilligkeit, sich jedem Gegner anzuschließen, für es eine beständige Ge­ fahr, und diese Gefahr war groß genug, um die Entwick­ lung grade der hellenistischen Monarchie zu hemmen und zu lähmen, die durch die Einheitlichkeit und Tüchtigkeit des durch ein einzigartiges Treuoerhältnis mit seinen Königen verbundenen Makedonenvolkes an und für sich mehr Lebens­ kraft und Anspruch auf geschichtliche Dauer hatte als die glänzenderen, mit materiellen Mitteln reicher ausgestat­ teten Reiche der Seleukiden und Ptolemäer. Diese waren zwar in den ersten Generationen ihres bestehens durch un­ gewöhnlich bedeutende Herrscher, eine vorzüglich organi-

10

fierte, humane Verwaltung und eine energische Förderung griechischer Wissenschaft und Technik geradezu Musterbilder eines aufgeklärten Absolutismus gewesen, aber sie hatten von vornherein darauf verzichtet, den soldatischen Hochmut der Makedonen, .den Sildungsftolz der sich in ihren Städten absondernden Hellenen und die dumpfe, passive Resistenz der Grientalen so zu überwinden, daß aus den heterogenen Massen ein neues, der Einheit wenigstens zustrebendes Ganze sich zusammenkristallisieren konnte: auch nur die Ansätze eines Reichsbürgerrechts haben sich nie in ihnen entwickelt. AIs sie mit Rom zusammengerieten, hatten sie ihre höhe schon überschritten; die ritterliche Urkraft der makedonischen Fürstengeschlechter war in scheußlichen Fa­ milienzwisten und seniler Dekadenz verbraucht, und das einheimische, orientalische Wesen drang von außen und innen in bedrohlicher Reaktion gegen die makedonisch­ griechische Herrschaft vor. Das Schlimmste war, daß die hellenistischen Monarchien, in ihren aufreibenden Rivali­ tätskämpfen um Grenzländer und die Herrschaft über das ägäische Meer befangen, die von Westen heraufziehende Ge­ fahr nicht sahen; sie duldeten es, daß der Rest der West­ griechen, der sich seine Unabhängigkeit bewahrt hatte, eine Leute der Römer wurde, sie unterstützten den Makedonenkönig nicht, als er dem genialen Karthager bei dem heroischen versuch, den italischen Sund zu sprengen, einen, allerdings ungenügenden und schwächlichen Seistand leistete, und ließen von ihren Zänkereien nicht ab, als Rom durch den Angriff auf Makedonien den Kampf gegen sie alle ein­ leitete. Es gewann das Spiel, wesentlich durch die teils in den Verhältnissen begründete, teils selbstverschuldete Schwäche seiner Gegner. Sieben Menschenalter waren nach dem Beginn des Krieges mit Karthago verflossen, da sah sich Rom als die unumschränkte Herrin der damaligen Kulturwelt. Ts hatte damit nicht etwa ein einmal aufgestelltes politisches Pro­ gramm verwirklicht; als es die Hand auf Sizilien legte,

11 ahnte es noch nicht einmal den Zusammenstoß mit den hellenistischen Monarchien, und dachte bei dem Angriff aus Makedonien noch nicht daran, daß dieser in ferner Zukunft einmal an den Ufern des Euphrat und Nil zum Stehen kommen werde. Roch viel weniger fiel es den klugen Poli­ tikern am Tiber jemals ein, sich einer eifersüchtigen Welt als die kommende und berufene Weltmacht selbst vor­ zustellen; sie redeten nie von Weltpolitik, wenn sie sie noch so energisch betrieben, sondern pflegten lieber die nützlichere Kunst, immer die Angegriffenen zu spielen und sich als Be­ schützer irgend einer unterdrückten Freiheit aufzutun. Sie hatten das um so leichter, als die griechischen Stadtstaaten ohnehin in beständigem offenen oder geheimen Kampf mit den Königreichen lagen; ihre verfallene republikanische Vergangenheit erhielt durch den zuerst sehr gnädig auf­ tretenden Schutz des mächtigen Freistaats eine neue Poli­ tur; diese sich auch auf das Geistige übertragende Verbin­ dung, die Rom an Stelle der hellenistischen Großstädte mehr und mehr zum Brennpunkt des griechischen Lebens machte, hat den inneren Zerfall der hellenistischen Monarchien wesentlich beschleunigt. So rücksichtslos und brutal die römische Politik trotz aller schönen Vorwände ausschließlich für ihre eigenen Interessen sorgte, so vorsichtig war sie mit eigentlichen Eroberungen. Sie annektierte, namentlich in der ersten Zeit, nur sehr wenig, im Osten so gut wie nichts, und begnügte sich, solange es irgend ging, mit einem System abhängiger und wehrloser Kleinstaaten, die erst dann auch den Schein der Selbständigkeit verloren, wenn sie von der geschenkten Freiheit einen nach römischer Meinung gefähr­ lichen Gebrauch machten. Denn je behutsamer die römische Republik ihren direkten Landbesitz erweiterte, um so strenger wahrte sie das Prestige ihrer unbedingten Über­ legenheit. Es kam nicht selten vor, daß sie ihre Kriege an­ fänglich nachlässig führte und Schlappen auch von Gegnern erlitt, die ihr nicht ernsthaft gefährlich werden konnten; solche Erfolge sind den Feinden Roms immer Verhängnis-

12

voll geworden: sie mutzten sie mit der völligen Vernichtung büßen, damit die Welt lerne, sich vor nichts mehr zu hüten, als Rom zu besiegen. (Es konnte nicht ausbleiben, daß diese ungeheure Machterweiterung auf die Sieger um so übler zurück­ wirkte, je weniger die Furcht vor einem ebenbürtigen Gegner ihrem yerrschaftswillen einen heilsamen Saum anlegte. Die konsequente Durchführung der weltbezwingen­ den Politik war nur möglich gewesen durch eine Oligarchie, die die militärische Überlegenheit des italischen Bundes mit der diplomatischen Geschmeidigkeit und Sicherheit hand­ habte, wie sie nur eine lange, zur ,Erbweisheit< werdende Tradition erzeugt und gewährleistet; eben an ihren Er­ folgen und ihrer Tradition ist diese Oligarchie schließlich zugrunde gegangen. In den widerstandslosen Besitz der Macht gelangt, wurde sie zu einem furchtbaren Beispiel für das Böse der Macht. Mit der so gut wie schrankenlosen Amtsgewalt ausgestattet, die der römische Beamte im Be­ reich der militärischen Kompetenz und vor allem gegenüber dem Uichtbürger besaß, sahen diese llobili in den Provinzen nichts als Ausbeutungsobjekte; höchstens die Großkapita­ listen und Steuerpächter trieben es noch ärger, nur zu oft wurde das Plünderungsgeschäft gemeinsam gemacht. Nie­ mals hat die Welt eine so verwüstende Mißwirtschaft, ein solches Anhäufen von Reichtümern in den Händen weniger und eine so schamlose Korruption gesehen wie in dem letzten Jahrhundert der römischen Republik; daß einzelne Persön­ lichkeiten, wesentlich unter dem Einfluß griechischer philo­ sophischer Ethik, sich reinhielten in diesem Meer von Hab­ gier und Ehrgeiz und gegen den Strom zu schwimmen versuchten, änderte an dem Ganzen so gut wie nichts. Eine solche Fülle mißbrauchter Macht mußte zu fürchterlichen Krisen führen, nicht von feiten der Unterdrückten — die waren wehrlos —, aber durch die Kämpfe unter den herrschenden selbst; in immer wieder einsetzenden Revolu­ tionen brach das Senatsregiment der stadtrömischen Uobilität vor den Augen der von ihm besiegten Welt allmählich

13 zusammen. Vie Struktur des römisch-italischen Bundes­ staats veränderte sich von Grund aus. Dadurch, datz die italischen Bundesgenossen sich das volle römische Bürger­ recht erkämpften, wurde der Zuspruch der stadtrömischen Bürgerschaft durch die Wahl der Beamten und die Gesetz­ gebung die letzte staatliche Machtquelle zu sein, eine auf die Dauer nicht haltbare Fiktion. Zugleich fanden die römi­ schen Generale es militärisch richtiger und für ihre persön­ lichen Zwecke vorteilhafter, wenn sie ihre Heere nicht mehr aus der gesamten Bürgerschaft aushoben, sondern aus den unteren Klaffen Berufsarmeen bildeten, die sie durch die Aussicht aus Beute und Versorgung zu ergebenen Werk­ zeugen ihrer Pläne machten; der Senat, einst der Herr der Welt, bedeutete jetzt nur solange etwas, als es diesen Gene­ ralen beliebte, seine Autorität anzuerkennen, wenn die Welt nicht zu einem Hexenkessel der wildesten Leidenschaften werden sollte, bedurfte es eines starken Mannes, der in dem Thaos Ordnung schaffte. Gr mutzte aus der herrschenden Oligarchie selbst hervorgehen, da nur diese im Besitz der politischen und militärischen Machtmittel war, und nicht nur von rücksichtsloser Willenskraft, son­ dern vor allem ein überragendes Genie sein: nur ein un­ bedingter Erfolg ermöglichte und rechtfertigte die unerlätzliche Zertrümmerung der einer inneren Erneuerung un­ fähigen oligarchischen Tradition. Damit schien freilich auch gegeben zu sein, datz die Weltherrschaft ihren römisches Eharakter einbützte: wie sollte dieser sich behaupten, wenn das eigenartigste Gebilde des römischen Staats, das im Wesen oligarchische, der Form nach aus Volkswahlen her­ vorgehende Senatsregiment nicht mehr der Schwerpunkt des Ganzen war? Datz die Republik der Militärmonarchie weichen mutzte, war durch die Siege Eäfars und die Unüberwindlichkeit seiner ihn selbst überdauernden Legionen ent­ schieden: die letzte Phase der Revolutionskämpfe drehte sich darum, ob aus dem Imperium Romanum eine über­ nationale Weltmonarchie mit dem Mittelpunkt im Osten werden solle oder ob sich Formen finden Hetzen, die das,

14 was die Zeit forderte, mit den Überlieferungen der repu­ blikanischen Vergangenheit vereinigten und damit die Kontinuität des römisch-italischen Staates sicherten. Der große Cäsar, radikal wie alle genialen Herrschernaturen, war entschlossen, den Senat zu entnationalisieren, die Hauptstadt zu verlegen und nach der Eroberung des Ostens sich das Diadem Alexanders aufs Haupt zu setzen: die Oli­ garchie, ohnmächtig ihn auf dem Schlachtfeld zu besiegen, räumte ihn mit feigem Mord hinweg. (Es war ein Glück für die gequälte Welt, daß es seinem Adoptivsohn, dem klugen Cäsar Augustus, gelang, den Kompromiß zu schließen, der endlich dem Reich den Frieden gab: die republikanische Magistratur und der Senat blieben der Form nach bestehen; er selbst begnügte sich als Führer des Senats, als berufener Vertrauensmann des römischen Volkes und als oberster Kriegsherr des Reichsheeres, die Machtfülle in seiner Hand zu vereinigen, die nötig war, um den äußeren Frieden und die innere Wohlfahrt aller Teile des Reiches zu sichern. Vas treibende Motiv dieser groß gedachten Selbstbeschränkung war das Bestreben, das römisch-italische Wesen zu erhalten und zu erneuern. Den Senat und die Robilität hoffte der Kaiser dadurch sittlich zu regenerieren, daß er sie als seine Organe an der Reichs­ verwaltung beteiligte; er erreichte wenigstens soviel, daß in den Provinzen an Stelle des fürchterlichen Mißregiments der Oligarchie eine, im großen und ganzen menschliche und gut geordnete Verwaltung trat. 3um Heerdienst sollten zwar alle Teile des Reiches, die über eine wehrhafte Be­ völkerung verfügten, herangezogen, aber dadurch, daß der Dienst in der Garde und den Legionen an das römische Bürgerrecht geknüpft wurde, die Präponderanz der Italiker gewahrt werden. Die schweren Versäumnisse, die das oli­ garchische, nur auf Plünderungen und zweifelhafte mili­ tärische Lorbeeren erpichte Gligarchenregiment sich in den noch unzivilisierten Gebieten des Westens hatte zuschulden kommen lasten, holte Augustus nach, indem er, das von seinem Adoptivvater durch die Eroberung Galliens be-

15 gönnens Werk fortsetzend, den unabhängigen Rest Spaniens und die Gebirgsvölker an den Nord- und (Vstgrenzen (vberitaliens unterwarf: damit waren der lateinischen Zivilisa­ tion weite Länder zur Expansion und friedlichen Eroberung erschlossen; zahlreiche Veteranenkolonien arbeiteten mit überraschend schnellem Erfolge diesem Ziele zu. Zu einem Weltreich gehört eine Weltkultur, deren be­ redteste und sichtbarste Zeugen Literatur und Kunst sind. Vie römische Literatur war von Anfang an eine Schülerin und Nachahmerin der griechischen gewesen, ohne darum auf die eigene Art zu verzichten; ihre Geschichte ist in der republikanischen Zeit ein auf- und abwogendes Ringen der nationalen Sprache und Denkweise mit den Formen und Ideen der hellenischen Vorbilder. In der fieberhaft erregten Revolutionszeit sproß, ein merkwürdiges Schauspiel in dieser Welt voller Greuel und Verderbnis, eine Fülle von rednerischen und dichterischen Talenten hervor, die jenen Äusgleichungsprozeß mit genialem Schwung und straffster künstlerischer Arbeit förderten. Als das Weltreich von Augustus neu begründet war, hatten die Schriftsteller und Redner der letzten republikanischen Epoche, vor allem Ticero, eine Prosa geschaffen, die neben dem Griechischen eine gebildete Weltsprache sein konnte, weil sie imstande war, griechische Weltanschauung und Wissenschaft zu ver­ mitteln; daß Augustus eine vichtergeneration um sich scharen und fördern konnte, in deren besten Vertretern das durch den Kaiserfrieden neu gestärkte, jetzt mit dem Stolz der Weltherrschaft erfüllte römische Selbstbewußtsein sich mit souveräner Beherrschung der hellenischen Formen ver­ einigte, war ein Glückssall, wie er der Poesie und einem Weltherrscher nur selten zuteil wird: Alexander war er versagt geblieben. Rom wurde auch geistig die Herrscherin der Welt; weder in Prosa noch in Poesie konnten die da­ maligen Griechen irgendwie mit den lateinischen Produk­ tionen jenes Zeitalters wetteifern. In den bildenden Künsten blieben jene freilich die Meister; doch bot der kaiserliche Wille, aus dem unordentlich gebauten, äußerlich

16

unscheinbaren republikanischen Nom eine Prunkstadt zu schaffen, die es mit den grotzen hellenistischen Zentren auf­ nehmen konnte, der Architektur eine um so glänzendere Aufgabe, als sie um die Mittel nicht verlegen zu sein brauchte: es erstand eine Bautenpracht, an deren Ruinen noch nach Jahrtausenden eine neue künstlerische Schaffens­ kraft sich entzünden sollte. So sah es so aus, als sei die Weltherrschaft, die das römisch-italische Wesen an den Rand des Untergangs ge­ bracht hatte, ihm mehr noch als der Welt schließlich zum Segen ausgeschlagen; nie hat die Sonne so über der welt­ beherrschenden Stadt geleuchtet, wie in den Tagen, da der Kaiser Augustus dem von ihm begründeten und nach ihm genannten Frieden jenen Altar errichtete, der mit seinen klassisch hellenischen Formen und seiner römischen Bestim­ mung das neue, den römischen Westen und den griechischen Osten friedlich einigende Weltreich symbolisierte. Über es war doch nur der satte Glanz des herbstes: die Zeichen, daß der Winter nahe, mehrten sich bald. Augustus' Hoffnung, der italischen Nation die Herrschaft dadurch zu sichern, daß sie den Hauptteil der Pflicht, das Reich zu verwalten und zu verteidigen, übernahm, erwies sich nach wenigen Generationen als unerfüllbar. Am schnellsten schwanden die Reste der alten Nobilität dahin; die ehemaligen unumschränkten Herren der Welt fanden sich nicht in die Rolle, folgsame Glieder eines großen Or­ ganismus zu sein, und gingen entweder in lasterhafter Dekadenz oder als frondierende Verschwörer zugrunde. Das erschütterte an und für sich das Reich nicht; auch der kritische Augenblick glitt schnell vorüber, in dem die augusteische Dynastie selbst, die nie aufgehört hatte sich zur Nobilität zu rechnen und nach den beiden ersten Kaisern deren per­ sönliche Vepravation bis zur Verrücktheit steigerte, in elendester moralischer Misere unterging. Und doch kommt, wenn auch das Reich als solches intakt blieb, in seine Physiognomie mit den Flaviern ein anderer Zug hinein. Vie alte römische Gesellschaft ist ausgestorben; die führen-

17 den Männer, die Kaiser eingeschlossen, zeigen, auch in der äußeren Erscheinung, den Typus der allmählich emporgekom­ menen munizipalen, sehr bald auch provinzialen Beamtenund Gffizierssamilie und haben nichts mehr von jenen echt­ römischen Aristokraten, denen Macht und Herrschaft zur innersten Natur geworden waren: edel angelegte In­ dividuen wie Hadrian und Marcus verraten ihren bürger­ lichen Ursprung darin, daß sie das Kaiserdiadem als schwere Last tragen. Steigt man in die mittleren und tieferen Schichten hinab, so beobachtet man, wie das römisch-italische Element immer weniger hinreicht, dem Reich die nötigen Beamten, Offiziere und Soldaten zu liefern; in wachsender Menge dringen die provinzialen ein, und schon im 2. Jahr­ hundert ist es nach dem Zeugnis des schon öfter zitierten griechischen Rhetors so weit, daß das römische Bürgerrecht nicht mehr ein in der Regel vollgültiges Zeugnis römisch­ italischer Nationalität ist, sondern eine soziale Stufe, ein Privileg, das durch Besitz, erfolgreiches Talent, Heeresdienst erworben wird. In diese entnationalisierte Oberschicht rücken als ein weiteres, alles Nationale und Traditionelle auflösendes Element in immer steigendem Maße die Frei­ gelassenen aus; die Paradoxie des römischen Rechts, die Freilassung und Erteilung des Bürgerrechts zusammen­ fallen läßt, wird durch soziale Schichtung immer weniger korrigiert, vom Standpunkt der äußeren Zivilisation aus betrachtet, war es keine geringe Leistung, daß die von klein­ lichen Eingriffen sich fernhaltende, aber im Bedürfnisfalle scharf durchgreifende kaiserliche Verwaltung in Afrika, Spanien, Gallien die Reste barbarischer Wildheit, die die griechischen Ethnologen und Historiker in der republika­ nischen Zeit noch zu farbenreichen Schilderungen unge­ brochener Volkskraft begeistert hatte, unerbittlich be­ seitigte. Aber wie die lateinische Sprache die einheimischen Idiome in die niedersten Schichten zurückdrängte und ihnen damit jede höhere Entwicklung abschnitt, so keimte auch aus diesen romanisierten Kelten, Iberern, Afrikanern kein frisches, neues Leben: was aus ihnen nach oben drängte,

18

dem blieb letzthin doch nichts anderes übrig, als in dem entnationalisterten Schematismus der kaiserlichen Ver­ waltung oder Armee ein Unterkommen zu suchen. Ebensowenig führten diese neuen Elemente der schnell sich erschöpfenden Literatur frisches Blut zu. Schon unter Hadrian ist der völlige verfall in allen literarischen Gat­ tungen offenkundig; das einzige, was sich auf allerdings glänzender höhe hielt, war die Rechtswissenschaft; sie blieb auch in den Händen der provinzialen echtrömisch, während aus allen anderen Gebieten der lateinische Geist die griechi­ schen Formen um so weniger mit neuem Inhalt erfüllen konnte, je mehr sich das römisch-italische Wesen verflüch­ tigte; auch eine archaistische Mode stellte die innere Leere nur greller ans Licht. Vas Hellenentum im Osten erholte sich in ein paar Menschenaltern von dem Mißregiment der Oligarchie und den Verwüstungen der Bürgerkriege, freilich nur soweit das noch möglich war. Venn das eigentliche Griechenland blieb entvölkert; dafür daß die alten, nur an Kunstschätzen und Erinnerungen reichen Städte ein klägliches vafein führten und viele Ruinen vergeblich auf Reubesiedelung harrten, war es kein voller Ersatz, daß die Zivilisation des Kaiserfriedens in den asiatischen Provinzen manchen halb­ barbarischen Restern zu einer luxuriösen Existenz verhalf und Bithynier, Rappadoker, Eilicier, Syrer durch griechische Sprache und Bildung in die Oberschicht einrückten, die im Osten, mit oder ohne römisches Bürgerrecht, von denen ver­ treten wurde, die das sprachen oder schrieben, was man damals ein gebildetes Griechisch nannte. Vas Hellenentum wurde immer mehr aus einem nationalen ein kultureller, um nicht zu sagen sprachlich-literarischer Begriff; es konnte zu einem nationalen Leben um so weniger gelangen, als es gerade infolge der Stellung, die die augusteische Monarchie ihm anwies, die Kontinuität seiner sprachlichen und lite­ rarischen Entwicklung mit seltsam jäher Rücksichtslosigkeit unterbrochen hatte. Der große Gäsar und sein ihn getreu kopierender

19 Marschall, Marc Anton, hatten den revolutionären Ge­ danken verfolgt, mit ihren Berufsheeren die orientalische Weltmonarchie Alexanders aufzurichten; damit würde das politische und kulturelle Ideal des von den Römern längst besiegten Hellenismus durch die Sieget selbst über diese triumphiert haben. Dadurch, daß Augustus gegen diese Pläne an die römisch-italischen Traditionen appellierte, ist er der Vertrauensmann seines Volkes, der Begründer einer spezifisch römischen, sich in republikanische Formen ver­ hüllenden Monarchie geworden; je schroffer er indes den von dem hellenistischen Königtum unzertrennlichen Hellenis­ mus abwies, um so bereitwilliger zog er das seiner republi­ kanischen Vergangenheit zugetane Hellenentum zu der Auf­ gabe heran, dem neuen Weltreich eine neue griechischrömische Kultur zu schaffen, von ihm auf jede weise ge­ fördert, erhob sich jetzt ein literarischer Klassizismus, der den gesamten Hellenismus als eine Verirrung, einen Ab­ fall beiseite warf und es sich zur Aufgabe setzte, den rö­ mischen Weltbeherrschern die längst entschwundene Ver­ gangenheit der hellenischen Freistaaten, vor allem Athens, nachahmend und reproduzierend vorzuführen; man ging so weit, die Schriftsprache künstlich auf das auch in Attika selbst erstorbene Attisch des 5. und 4. Jahrhunderts zurück­ zuschrauben. Freilich gab der unerschöpfliche Reichtum der Vorbilder, die bei aller Künstlichkeit doch mit der Geistes­ arbeit von Jahrhunderten durchtränkte Sprache den griechischen Literaten bald die Überlegenheit über die schnell verfallende lateinische Produktion zurück; es fehlte auch nicht an charakterfesten oder menschlich liebenswürdigen Persönlichkeiten, denen der klassizistische Mummenschanz echtgriechische würde oder Anmut nicht rauben konnte: aber im ganzen gesehen, und vor allem bei den kleineren Geistern, blieb der nichts verschonende Vergangenheits­ kultus doch ein gespenstig unlebendiges Wesen. Vas Schlimmste war, datz mit dem Hellenismus auch dessen edelste Frucht, die echte, forschende Wissenschaft abge­ tan wurde. Ihr hatte die Munifizenz der hellenistischen

20

Könige nicht umsonst reiche Mittel zugewandt: sie stellte sich Aufgaben wie die Messung eines Meridiangrads und eine durch astronomische Bestimmungen gesicherte Erdkarte; sie entdeckte die Präzession der Äquinoktien und wagte sich schon an die Hypothese von der Umdrehung der Erde um die Sonne. Vie Mathematik schritt bis zur Infini­ tesimalrechnung vor; die Mechanik wurde durch die unvollkommene Technik nicht gehindert, mit scharfem und kühnem Denken die Gesetze des Hebels, der Schraube, der Hydrostatik zu finden und ingeniös anzuwenden. Forschungsreisen wurden gewagt, um das wissenschaftlich postulierte Phänomen der Mitternachtssonne als real zu konstatieren oder die Ursache von Ebbe und Flut zu ent­ decken; Ethnologen lieferten geistvolle Schilderungen un­ zivilisierter Uaturvolker; die Traditionen der uralten ägyptischen und babylonischen Kulturen wurden ausge­ zeichnet, die reiche epigraphische und kunstgeschichtliche Überlieferung der zahllosen hellenischen Städte und Tempel mit Bienenfleiß durchstöbert. Freilich wurden diese zukunftsreichen Ansätze zu einem klassischen Zeitalter wissenschaftlicher Erkenntnis schon durch die politische und wirtschaftliche Dekadenz der hel­ lenistischen Staaten empfindlich gestört und gehemmt; mit der steigenden Ausbreitung der römischen Macht wandten sich die Talente, von der Uot gedrängt, der Aufgabe zu, die neuen Herren der Welt in die Mysterien der griechischen Redekunst und der gelehrten Poesie einzuweihen, mit dem Erfolg, datz ihre Schüler sie rasch übertrafen: der oben ge­ schilderte Klassizismus des Kaiserreichs schloß einen Grstarrungsprozeß ab, der schon in den letzten Jahrzehnten der Republik in vollem Gange war. Für die reine Forschung, für das Erkennen um des Erkennens willen hatten die praktischen Romer kein Verständnis; nur in ganz kleine Kreise und für kurze Zeit schlugen einzelne Wellen echt wissenschaftlichen Strebens hinüber. Römische Straßen und römische Soldaten erschlossen die entlegensten Gebiete dem Verkehr, ungeheure Mühen wurden darauf verwandt, das Luxusbedürfnis der Hauptstadt und das

21

Pöbelvergnügen an riesigen Tierhetzen zu befriedigen; aber die Entdeckungsreisen innerhalb und außerhalb der Reichs­ grenzen hörten auf und der offiziell unternommene versuch einer Erdkarte sprach jeder Wissenschaft hohn. Vie Täsaren hätten der Forschung unumschränkte Summen zuwenden können: sie brauchten um so weniger daran zu denken, als sie nicht einmal gefordert wurden. Ruch den Hellenen fiel es nicht mehr ein, das ungeheure geschichtliche Material, das überall in Inschriften und Archiven bequem zugänglich, von keinem politischen Mißtrauen bewacht, dalag, irgend­ wie auszunutzen, wie es die hellenistische Forschung unter viel schwierigeren Verhältnissen getan hatte; die einst so wagemutige astronomische Wissenschaft sank zu einer dog­ matisch erstarrenden Sklavin des astrologischen Aber­ glaubens hinab. wenn irgend etwas, so ist dieser verfall eines einst kräftig emporsprießenden wissenschaftlichen Lebens der Be­ weis dafür, daß die Zivilisation des entnationalisierten Weltreiches trotz allem äußeren Glanze echte geistige Kräfte nicht einmal zu bewahren, geschweige denn zu erzeugen ver­ mochte. Vie hellenistischen Gelehrten hatten sich freilich oft genug dazu bequemen müssen, an den Höfen der Monarchen zu leben; sie blieben darum doch Bürger hellenischer Städte und ihre fürstlichen Gönner huldigten derselben griechischen Kultur wie sie; die Strahlen der hellenistischen Herrschaft über den Osten fielen auch auf ihre stille Forscherexistenz. Dagegen blieb das Eäsarenregiment immer eine Fremd­ herrschaft; so milde es war, so wenig es durch Zensur oder polizeiliche Überwachung irgend einen Druck ausübte, jener königliche Sinn, dessen auch die weltftemdeste Wissenschaft nicht entraten kann, wenn sie durch Räume und Zeiten ihren Flug in die Unendlichkeit wagen soll, wollte nicht mehr sich einstellen, seitdem es keine, auch noch so kleinen freien Gemeinwesen mehr gab und die Völker, in der uni­ formen Masse der kaiserlichen Untertanen verschwimmend, die ursprüngliche Kraft verloren, aus der allein große und schaffende Geister aufsteigen können. was der innere und äußere Weltfriede durch den alles

22 nivellierenden Schematismus des Kaiserregiments gewann, das verlor er an echtem Leben; nicht einmal die Spannung irgend welcher sozialen Gegensätze und Krisen störte das gleichmäßige vegetieren unter einem glänzenden und doch toten Firnis. Der rein animalische Lebensgenuß gedieh dabei wie üppiges Unkraut und tat das Seine, um den verfall zu beschleunigen; die schon den Zeitgenossen un­ heimliche Abnahme der Bevölkerung ist zum guten Teil die Folge einer durch ihre Senilität doppelt widerwärtigen Unsittlichkeit gewesen. Uber eine echte Lebensfreude, feinerer oder gröberer Art, wollte sich nicht einstellen; eine in mannigfaltigster Naturschönheit prangende, an den Schätzen einer unvergleichlichen Kunst überreiche, friedliche und ruhige Welt erschien jenen Menschen grau und schal. Sie hatten ihre Seele verloren und konnten sie auf Erden nicht wieder finden. Niemals ist die Menschheit von einer so intensiven und zugleich so mannigfaltigen religiösen Bewegung durchzittert gewesen wie im zweiten nachchrist­ lichen Jahrhundert, in wahren Sturzwellen flutete orienta­ lischer Glaube und Aberglaube, von mystisch hochgespannter Spekulation bis zum wildesten orgiastischen Wahn, über die griechisch-römische Welt dahin, deren eigene Götter ihre Seelen schon lange vor den Menschen eingebüßt hatten; so­ gar die christliche Kirche entging der Gefahr, in den Strudel hineingezogen zu werden, nur durch ihre geschichtliche Ver­ ankerung im Alten Testament und die elastische Festigkeit ihrer Organisation, von außen betrachtet, stellen jene religiösen Bewegungen mit ihren Altes und Neues, Natür­ liches und Offenbartes seltsam mischenden Kulten und Mysterien, ihren enthusiastischen Hoffnungen und Ekstasen, ihrem angstvollen Sauberwesen und Teufelsspuk ein Bild von schier unentwirrbarer Buntheit dar; wer tiefer sieht, ent­ deckt leicht und sicher die einheitlichen Züge. Immer wird eine zukünftige oder aus der Zukunft vorweg genommene Erlösung versprochen und gehofft, nicht von dem materiellen, sondern von dem seelischen Jammer und Elend der Gegen­ wart; die irdische Welt soll nicht tätig verbessert, sondern

23 durch die Kraft gläubiger Phantasie aufgehoben werden. Sodann wird die Erlösung, welcher ßrt sie auch sein möge, nicht dem auf sich selbst stehenden Individuum, sondern stets der durch Glauben und Kult, nicht durch Abstammung und Volkstum zusammengehaltenen Gemeinschaft in Aussicht gestellt; in der religiösen Gemeinde schafft sich die entnationalisierte Masse instinktiv einen Ersatz für das verloren gegangene Volkstum. Diese beiden charakteristischen 3üge der großen Bewegung, die das allein Lebendige in der starren Ruhe des kaiserlichen Weltreichs war, reichen hin, um das begeisterte Lob, das ein englischer Voltairianer des 18. Jahrhunderts dem Weltfrieden des Imperium Ho­ rn anum spendete, in eine furchtbare Anklage zu ver­ wandeln. So etwa sah der einzige Weltfriede aus, der einmal Wirklichkeit geworden ist; die Pazifisten haben schwerlich Ursache, mit diesem Paradigma besonders zufrieden zu sein. Das ist allerdings unleugbar, daß die Erinnerung an die einzigartige Majestät des die Völker im Kaiserfrieden eini­ genden Weltreichs noch lange über seinen Zusammenbruch hinaus gewirkt hat; ohne das strahlende Vorbild der augusteischen Monarchie wäre ihre in dunkelsten Farben gehaltene Kopie, der konstantinisch-theodosianische Ab­ solutismus nie zustande gekommen. Das Gefäß, das dieser Absolutismus der im alten Imperium Romanum zur Wirklichkeit gewordenen Völkereinheit bot, war freilich so brüchig, daß von einer dauernden Sicherung des Welt­ friedens nicht mehr die Rede war, aber in einem war er dem alten Cäsarenreich überlegen, darin daß er die kraft­ vollste und lebendigste Organisation der alt gewordenen griechisch-römischen Welt sich eingegliedert hatte, die christ­ liche Kirche. Man kann zweifeln, ob es für diese ein Vor­ teil war, daß Konstantin und Theodosius sie zwangen, an Stelle ihrer rein geistigen Einheit sich durch Dogma und Kirchenrecht eine äußere zu schaffen, durch die sie zum Subjekt und Objekt einer Politik wurde, deren Wege noch gewundener sein mußten, als es die der Politik immer und

24



überall sind; sicher jedoch ist, daß durch die politisch-religiöse Neubildung der Reichskirche ein nicht unverächtlicher Ersatz für die dem Keich längst verloren gegangenen nationalen Kräfte geschaffen wurde. Vie Kirche hat dem entnationalisierten Griechentum noch einmal einen halt gegeben und es fähig gemacht, den Islam in seinem Siegeslauf aufzu­ halten, die Slawen zu erziehen. Sie war es auch, die im Westen, wo sich die Mannigfaltigkeit der germanischen Königreiche in den Ruinen des Imperium ansiedelte, die Einheit eines die antike Kultur zusammen mit der über­ nationalen Kirche umfassenden Reiches als Idee, als Postulat aufrecht erhielt; diese Idee war stark genug, um in den karolingischen und staufischen Imperien folgenreiche Restaurationen des alten Reiches hervorzurufen und die mittelalterliche Einheitskultur zu erzeugen, die der wirt­ schaftlichen und innerpolitischen Atomisierung des da­ maligen Lebens ein heilsames Gegengewicht hielt. Ruch diese Einheitskultur ist stärkeren geschichtlichen Kräften zum Opfer gefallen, und doch haben die modernen National­ staaten das von jener übrig gebliebene Postulat in keiner weise aus der Welt geschafft, daß sich über ihnen eine geistige Weltkultur erheben muß, deren ideelle werte der ganzen gesitteten Menschheit zugute kommen und sie zu einer ideellen Einheit verbinden. Wird freilich diese übernationale, um nicht zu sagen über­ weltliche Idee zu einem Machtanspruch und Machthebel er­ niedrigt, werden Weltreich und Weltfriede aus den ewigen und unerreichbaren Sphären des Ideals in den Staub dieser Erde hinabgezogen, so erhebt sich die Gefahr des modernen Imperialismus, der die Welt noch ärger verwüsten und veröden würde als einst der römische. Wenn wir mit un­ bezwingbarem, weil sittlich festem Mut den englischen Moloch und den russischen Leviathan Niederkämpfen, so streiten wir für unsere Freiheit, in dem stolzen Bewußtsein, daß die Freiheit Deutschlands zugleich die Freiheit all der Völker bedeutet, die höhere Güter kennen und erstreben als irdische Macht und irdischen Reichtum.

Verlag von Karl I. Trübner In -Straßburg.

Leidenssahrten verschleppter Elsaß-Lothringer von ihnen selbst erzählt herausgegeben von

Dr. P. Kannengießer Profeffor am Protestantischen Gymnasium zu Straßburg i. E.

8°. VI, 82 S. Ladenpreis

1.—

Dieses Büchlein vereinigt eine Auswahl von Berichten, die elsaß-lothringische, während des Krieges gewaltsam nach Frankreich weggeführte Männer und Frauen nach ihrer Heimkehr über ihre Erlebnisse in der Gefangenschaft nieder­ geschrieben haben. Eine Mannigfaltigkeit von Zeugenaussagen ist nun hier vereinigt. Männer und Frauen verschiedenster Berufskreise berichten, was sie selbst erlebt haben, keiner vom andern beeinflußt und jeder in seiner Sprache.

Der Krieg als nationales Erlebnis.

Von E. Schwartz, Professor Gr. 8°. 16 S. 1914. Ladenpreis 50 Pfg.

an der Universität Straßburg.

Das deutsche Selbstbewußtsein. Von E. -Schwartz, Professor an der Universität Straßburg. Gr. 8°. 18 S. 1915.

1813.

1870.

Straßburg.

Ladenpreis 50 Pfg.

1914.

Von H. Breßlau, Professor an der Universität Gr. 8°. 25 S. 1914. Ladenpreis 60 Pfg.

Deutschlands innere Wandlung. an der Universität Straßburg.

Von Georg -Simmel, Professor Gr. 8°. 14 S. 1914. Ladenpreis 50 Pfg.

Der gegenwärtige Weltkrieg und die früheren Entscheidungs­ kämpfe der Großmächte wider einander. Bon M. -Spahn, Professor an der Universität Straßburg.

Gr. 8°. 12 S. 1914. Ladenpreis 40 Pfg.

Völkerkrieg und Völkerrecht. Von Dr. H. Rehm, Professor der Rechte zu Straßburg i. E.

Gr. 8°.

47 S.

1914.

Ladenpreis 80 Pf.

Deutsche und französische Kultur im Elsaß in geschichtlicher Be­ leuchtung. Von D. Gustav Aurich, Professor der Kirchengeschichte. Mit Erläuterungen.

Gr. 8°.

53 S. 1916.

Ladenpreis

1.—