Christliche Wirklichkeitsschau [Enth. insges. 4 Werke, Reprint 2021 ed.] 9783112439760, 9783112439753

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German Pages 148 [156] Year 1941

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Christliche Wirklichkeitsschau [Enth. insges. 4 Werke, Reprint 2021 ed.]
 9783112439760, 9783112439753

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Aus ber Hielt ber Religion

&eltfftonatotffenfdf)aftltif)e 3&eif)e h e r a u s g e g e b e n von G u s t a v M e n s c h i n g (Auswahl)

3. R. Otto u. G. M e n s c h i n g , Chorgebete für Kirche, Schule und Hausandacht, 2. Aufl. (5. und 4. Tausend). 1928. RM 1.50 4. R. Otto, Zur Erneuerung und Ausgestaltung des Gottesdienstes. 1925. RM 1.50 11. H. F r i c k , Mission oder Propaganda? 1927. RM 0.70 15. Th. S i e g f r i e d , Luther und Kant. Ein geistesgeschichtlicher Vergleich im Anschluß an den Gewissensbegriff. 1950. RM 3.60 20. R. Otto, Gottheit und Gottheiten der Arier. 1952. RM 4.50; geb. RM 5.80 21. G. M e n s c h i n g , Zur Metaphysik des Ich. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung über das personale Bewußtsein. 1934. RM 5.80 22. H. K a r s , Kanzler und Kirche. Bismarcks grundsätzliche Einstellung zu den Kirchen während des Kulturkampfes. 1954. RM 2.40 23. Fr. W e i n r i c h ,

Die Liebe im Buddhismus

und im Christentum.

1935. RM 5.— 24. R. Otto, Die Katha-Upanishad. 1936. RM 3.80 25. C. Clemen, Das Problem der Sünde. 1956. RM 2.90

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Wtlt btr 2kltßton Religionswissenschaftliche Reihe, begründet von Gustav Mensching unter Mitwirkung von Rudolf Otto f u. a.

NEUE FOLGE herausgegeben von Heinrich Frick Direktor der Religionskundlichen Sammlung der Universität Marburg/Lahn

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A L F R E D TÖPELMANN B E R L I N 1940

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^irkUdjkeitöfdmu ERNST BENZ Christus und die Silene des Alcibiades ERICH F A S C H E R Gottes schöpferische Lebensmacht HEINRICH F R I C K Das christliche Ja zur Natur THEODOR SIEGFRIED Christliche Wirklichkeitsschau

ALFRED TÖPELMANN BERLIN 1940

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und sind a u c h a l s S a m m e l b a n d erhältlich

Printed in Germany Druck von Walter de Gruyter & Co., Berlin W 35

Cfjrift«£f tinir b i e g > i l t n e b e a g l t t f r i a b e s : WANDLUNGEN EINES PLATONISCHEN BILDES IM ZEITALTER DER REFORMATION

Von

Prof. Lic. Dr. €rnft Jüenj, Univ. Marburg/Lahn n seinem Werk »Das Heilige« zeigt Rudolf Otto unter dem Motto des Tersteegen-Wortes: »Ein begriffener Gott ist kein Gott«, daß ein wesentlicher Zug des Numinosen das Mysteriöse ist und daß dieses Moment des Mysteriums auf fast allen Linien der religionsgeschichtlichen Entwicklung einen Prozeß durchmacht, der eine Steigerung und »eine immer herbere Potenzierung seines Mirum-Charakters« darstellt. (S. 38). Rudolf Otto unterscheidet dabei drei Stufen. Die erste Stufe ist die des NurBefremdlichen. Auf dieser Stufe erscheint das mirum zunächst als das Unerfaßliche und Unfaßliche, das unserem Begreifen sich entzieht und unsere Anschauungsformen und Begriffe des Verstehens überschreitet. Die zweite Stufe liegt vor, wenn das mirum unsere Anschauung nicht nur transzendiert und sie außer Kraft setzt, sondern sich zu ihr in Gegensatz setzt, sie aufhebt und verwirrt. Das mirum ist dann nicht nur unfaßlich, sondern es wird nunmehr »geradezu paradox«. Es ist nicht nur über alle Vernunft, sondern es scheint wider die Vernunft zu gehen.« Die dritte und schärfste Form des mirum ist dann das. Antinomische. Hier scheinen sich nicht nur Aussagen zu ergeben, die wider die Vernunft und ihre Maßstäbe sind, sondern solche, die sich in sich selbst entzweien und von ihrem Gegenstand selber Dinge aussagen, die unvereinbare und unauflösliche Gegensätze zu sein scheinen. »Das mirum erscheint hier dem menschlichen Verstehenwollen in seiner allerherbsten Form, nicht nur unseren Kategorien unerfaßlich, nicht nur wegen seiner dissimilitas unfaßlich, auch nicht nur die Vernunft verwirrend, blendend, ängstigend, in Not setzend, sondern in sich selber entgegengesetzt bestimmt, in Gegensatz und Widerspruch«. 1

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Im Gegensatz zu anderen grundlegenden Sätzen seines Werkes »Das Heilige« hat hier Rudolf Otto zur Veranschaulichung dieser Entwicklung kein besonderes Anschauungsbeispiel aus der Religionsgeschichte ausführlich herangezogen, sondern hat nur auf das Phänomen dieser Steigerung des mirum selbst hingewiesen, ihren allgemeinen Charakter und ihr Vorkommen auf fast allen Linien der religionsgeschichtlichen Entwicklung festgestellt und hat lediglich durch einige Hinweise auf Meister Eckharts Theologie des Unerhörten und auf die Wissenschaft des Paradoxen und der Antinomien, wie sie in der MahäyänaMystik vorliegt, diesen allgemeinen Prozeß verdeutlicht. Es mag daher als ein bescheidener Beitrag zu der Weiterbildung des Geisteserbes von Rudolf Otto gelten, wenn im Folgenden diese Entfaltung, Steigerung und »immer herbere Potenzierung« des mirums vom Nur-Befremdlichen bis zur Antinomie und bis zur höchsten Integration des Gegensatzes in der religiösen Anschauung an einer bestimmten religionsgeschichtlichen Entwicklung dargestellt und veranschaulicht wird, die sich von dem Gottes- und Menschenbild der Hochantike bis in die religiösen Auseinandersetzungen der Reformationszeit hinein fortbildet und in der ein bestimmtes Bild, in dem sich eine antike Erfahrung des mirum charakteristisch veranschaulicht hat, zum Ausgangspunkt einer Entfaltung aller Stufen des Paradoxen und Antinomischen wird, die in der christlichen Idee der Menschwerdung Gottes verborgen liegen und die in der christlichen Auslegung dieses antiken Bildes vielleicht anschaulicher zur Darstellung kommen, als dies in einer rein lehrhaften und begrifflichen Form ihrer Schematisierung der Fall sein kann. i. Im 'Symposion' Piatos vermischen sich die Schlußworte der Rede des Sokrates über den Eros mit den Tönen der Flötenspielerin und dem trunkenen Jubel des nachtschwärmerischen Zuges, der den herbeieilenden Alcibiades begleitet. Dieser wird aufgefordert, sich ebenfalls der Verabredung der zum Gastmahl versammelten Freunde zu unterwerfen und seinerseits eine Rede 2

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auf den Eros zu halten. E r lehnt es aber ab, als Trunkener vor Nüchternen mit einer solchen Rede aufzuwarten, sondern wählt sich als Thema seiner Rede den Gegenstand seiner heftigsten Liebe, die Person des Sokrates. Diese Lobrede, die das vollendetste Porträt des platonischen Sokratesbildes darstellt, ist dadurch gekennzeichnet, daß sie sich als eine Auslegung von Bildern und Gleichnissen gibt, die in einer heiteren und spiellerischen Form die ganze Tiefe und Eigenart der Persönlichkeit des Sokrates enthüllen. Es sind zwei Bilder, die Alcibiades an den Anfang seiner Rede stellt und die bis zum Schluß das Thema dieser Rede bestimmen. »Ich behaupte nämlich, er habe sehr viel Ähnlichkeit mit den Silenen, die in den Bildhauerwerkstätten sitzen und die die Künstler mit Hirtenpfeifen und Flöten darstellen, in deren Innerem man, werden sie nach beiden Seiten auseinandergeschlagen, Götterbilder erblickt. Ferner behaupte ich, daß er dem Satyr Marsyas gleiche«. Es muß sich bei diesen Silenen um etwas nicht Ungewöhnliches gehandelt haben —• Bildnisse von sitzenden Silenen aus Holz, die innen hohl waren, deren Bauch durch ein Doppeltürchen zu öffnen war und in deren Innerem kleine Götterbilder aus wertvollem Metall untergebracht waren, Bildnisse jedenfalls, wie sie in den Bildhauerwerkstätten Athens zu sehen und zu kaufen waren. Dieses Bild von dem feisten, häßlichen Silen, unter dessen zottigem Äußerem Götterbilder verborgen sind, ist zu einem der großen Urbilder der abendländischen Geistesgeschichte geworden, an dem sich die Jahrhunderte in immer neuer Abwandlung das Verhältnis von Innen und Außen, von Geistigkeit und Leiblichkeit, von Gott und Mensch verdeutlicht haben. Die Entwicklung dieses Urbildes an der Person von Sokrates ist nicht von ungefähr. Seine tatsächliche Gestalt — seine Physiognomie sowohl wie seine ganze Leibeskonstitution—scheint den Vergleich mit dem traditionellen Silen- und Satyrtypus bei seinen Zeitgenossen herausgefordert zu haben. Athenaeus berichtet, ein Jüngling namens Critobulos habe den alten Sokrates verspottet und ihm nachgerufen, er sei »häßlich wie ein Silen«,

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uhd Andeutungen des Xenophan in seinem 'Symposion' bestätigen diese Nachricht. Das Wort von der silenhaften Häßlichkeit mag zu den traditionellen Schimpfworten gehört haben, mit denen die Athener ihren sonderbaren Mitbürger bedachten. Plato gibt diesem Schimpfwort hier durch den Mund des Alcibiades eine neue Auslegung: er gleicht wirklich einem Silen, meint Alcibiades, er ist wirklich so häßlich wie ein Silen, aber er gehört zu d e r Sorte von Silenen, wie sie die Bildhauer machen, zu d e n Silenen, die unter ihrem häßlichen Äußeren goldene Götterbilder in sich bergen. Diese besondere Form des Silens ist der Gegenstand der gleichnishaften Auslegung, die Alcibiades in seiner Rede in einer Mischung von Witz, Ironie und Tiefsinn entwickelt. Seine Logik ist ein wenig wirr und nicht die eines Professors, sondern eines Trunkenen. E r spricht in der Rede nicht zuerst von dem Silen, sondern von dem Marsyasgleichnis, obwohl er die Silene zuerst nennt. Wie Marsyas mit seiner Flöte die Menschen bezaubert, so reißt Sokrates die Menschen durch sein Wort hin und fesselt sie auf magische Weise an sich. Erst nachdem Alcibiades diesen Gedanken zu Ende geführt hat, greift er auf die zuerst genannte Silenhaftigkeit des Sokrates zurück und sagt: »Seid überzeugt, keiner von euch kennt diesen Mann. Ich aber will ihn enthüllen, da ich nun einmal den Anfang damit gemacht habe. Ihr seht nämlich, wie sehr Sokrates von der Liebe zu schönen Jünglingen ergriffen ist und wie er stets um sie herum und von ihnen bezaubert ist, und wiederum, wie er sich dumm und völlig unwissend stellt. Ist das nicht silenhaft ? In hohem Grade. Denn er hat das äußere Ansehen wie ein geschnitzter Silen; öffnet man ihn aber, was glaubt ihr, liebe Zechbrüder, welche Fülle der Besonnenheit sich da zeigt ? Wisset: wenn einer schön ist, so kümmert ihn (den Sokrates) dies gar nicht, sondern er schätzt dies so gering, wie wohl niemand glauben dürfte, ebenso wenn einer reich ist oder irgend einen anderen der von der Menge hochgepriesenen Vorzüge besitzt. Alle diese Güter hält er für unwert und achtet uns für nichts, sondern verstellt sich sein ganzes Leben hindurch gegen Andere und hat 4

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mit ihnen sein Spiel. Wenn er aber ernst macht und sein Inneres aufschließt, so weiß ich nicht, OD schon einer die darin verborgenen Götterbilder erblickt hat. Ich aber habe sie schon einmal geschaut, und mir erschienen sie so göttlich und golden und so vollendet schön und wunderbar, daß ich auf der Stelle tun würde, was Sokrates von mir verlangte«. Im Anschluß an diese Erzählung berichtet dann Alcibiades von seinem eigenen Liebesabenteuer mit Sokrates und dessen eigentümlichem Ausgang. In diesen Worten ist eine bestimmte Auslegung des Silenbildes gegeben. Sokrates ist so, wie er unter den Athener Bürgern auftritt, der 'Unbekannte', er verstellt sich, legt sich eine Maske zu, tritt auf als eine Art Narr, treibt mit ihnen sein Spiel, verwirrt sie in der selbstgefälligen Sicherheit ihres bürgerlichen Daseins und ihrer bürgerlichen Anschauungen. Er erscheint unter ihnen als der häßliche alte Narr, der immer auffällt und immer anders handelt, als die Leute erwarten und gewohnt sind, der alles verachtet, was sie hochschätzen und so durch sein Reden und Verhalten ihre ganze Welt in Frage stellt. Was ihnen hier Alcibiades aber von diesem Narren eröffnet, ist, daß dieser häßliche Widerborst in sich unter der Maske seiner Narrheit goldene Götterbilder trägt. Der Tor verbirgt in seinem Inneren die Fülle der Besonnenheit und wahren Erkenntnis des Seins. Das häßliche Äußere verhüllt eine bezaubernde innere Schönheit. Es wäre falsch, in diese Auslegung des hohlen Silenbildes mit seinen versteckten Götterbildern bereits die christliche Anschauung vom Verhältnis des äußeren und inneren Menschen hineinzudeuten. Es ist nicht das Gottesbild, die imago dei, von dem hier gesprochen wird, sondern es sind verschiedene Götterbilder, von denen die Rede ist, und die in dem häßlichen, plumpen Silen beschlossen sind. Der äußeren Götterwelt im Olymp entspricht hier die innere Götterwelt, die in der Tiefe der menschlichen Brust verschlossen ist. Der christliche Gedanke, daß der Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen ist und das Gottesbild in sich trägt, trifft hier gewissermaßen auf seine polytheistische Frühform. Im Menschen sind die Bilder der 5

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himmlischen Götter, der äußere Olymp spiegelt sich in dem inneren Olymp, die Vielgestaltigkeit des Himmels in der Vielgestaltigkeit der göttlichen Bilder in der Seele. Und doch ist bereits bei Plato diese Vielgestaltigkeit vereinheitlicht, und die innere Fülle der Bilder wird verstanden als eine Ausstrahlung der einen höchsten Tugend der Besonnenheit, die alle unteren Tugenden in sich schließt. Nach der Darstellung Piatos scheint übrigens Alcibiades von Sokrates selbst auf dieses Bild von der inneren Schönheit in der häßlichen Hülle gebracht worden zu sein. In der Wiedergabe des Gesprächs, das Alcibiades in seiner Bemühung um die Liebe des Sokrates mit diesem in seinem Schlaf gemach geführt habe, berichtet er, er habe Sokrates seinen Wunsch vorgetragen, so gut als möglich zu werden und habe ihm erklärt, er halte ihn allein für geeignet, ihm dabei behilflich zu sein. Darauf habe ihm Sokrates geantwortet: »Wenn das, was du von mir sagst, der Wahrheit entspricht und in mir eine Kraft liegt, dich besser zu machen, dann würdest du fürwahr eine unerreichbare Schönheit in mir erblicken, die bei weitem den Vorzug vor deiner Wohlgestalt hätte.« Diese Erwähnung der »unerreichbaren Schönheit in mir« ist es, die — nach der Darstellung Piatos — Alcibiades auf das Gleichnis von dem Silenbild gebracht hat und die den Schlüssel für die Auslegung seiner Person bildet. Dieses Bild vom Silen wird nun aber nicht nur auf die Deutung der äußeren Gestalt und Physiognomie des Sokrates, sondern auch auf seine Rede und besondere Lehrart angewandt. Alcibiades kommt nämlich, nachdem er einige auffällige Bekundungen der Tugenden des Sokrates in seinem bürgerlichen Leben angeführt hat, wieder auf sein Anfangsgleichnis zurück und führt aus, daß auch seine R e d e n mit den geöffneten Silenen die größte Ähnlichkeit haben. ¡»Denn wenn jemand den Reden des Sokrates sein Ohr leihen will, so möchten sie ihm anfangs wohl höchst lächerlich erscheinen, mit derartigen Ausdrücken und Redensarten sind sie von außen her, wie mit dem Felle eines neckischen Satyrs, umhüllt. Denn er spricht von Lasteseln, Schmieden, Schustern und Gerbern und scheint fortwährend in 6

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denselben Ausdrücken dasselbe zu wiederholen, so daß jeder unerfahrene und gedankenlose Mensch diese Reden lächerlich finden würde. Sieht sie aber einer geöffnet und dringt in ihr Inneres ein, dann wird er zuerst finden, daß sie von allen Reden einen tiefen Sinn in sich bergen, weiter, daß sie höchst göttlich sind und eine Fülle von Bildern der Tugend in sich schließen und auf vieles, ja sogar auf alles hinzielen, was dem zu beachten geziemt, der ein sittlich guter Mensch werden will«. Auch am Wort des Sokrates wie an seiner Gestalt wird also ein Äußeres und ein Inneres unterschieden, und auch am Wort ist das Verhältnis von Äußerem und Innerem dasselbe wie an seiner Gestalt. Das Äußere ist lächerlich und gemein und ist »mit dem Fell eines neckischen Satyrs umhüllt«. Es umschließt und verbirgt aber in seinem Inneren einen tiefen Silin, der sich dem erschließt, der die rauhe Schale zu öffnen versteht. Die häßliche und gemeine Gestalt umfaßt Allergöttlichstes und enthält viele Tugendbilder, die die Urform des höchsten und edelsten Strebens des Menschen darstellen. Plato selbst ist sich bewußt, daß sich in der Gestalt des Sokrates ein ganz neues, einzigartiges Menschenbild abzeichnet und daß zu seiner Beschreibung die alte Methode einer Vergleichung mit den großen Helden der griechischen Sage oder Geschichte nicht ausreicht. Sokrates läßt sich, wie Alcibiades ausführt, nicht mit den alten Heroen wie Achilleus, nicht mit den alten Weisen wie Nestor, nicht mit den großen Vorbildern hellenischen Lebens wie Brasidas, dem lacedämonischen Feldherrn, und Perikles, dem athenischen Staatsmann, vergleichen. »Etwas, was der ausgesprochenen 1 Eigentümlichkeit, welche dieser Mensch da, er selbst und seine Reden zeigt, auch nur nahekommt, dürfte wohl niemand bei allem Nachforschen unter den Früheren oder unter den Jetztlebenden auffinden, es müßte ihn denn einer, ihn selbst und seine Reden, damit vergleichen, womit ich ihn verglichen habe, nicht mit einem Menschen, sondern mit den Silenen und Satyrn.» Das Einzigartige spricht sich aus in dem neuen Wissen um das verborgene, verschlossene Göttliche im Menschen, das sich dem Liebenden und Sehenden 7

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manchmal selten und blitzartig erschließt und eine überwältigende innere Schönheit zeigt, die unter der häßlichen, närrischen und lächerlichen Hülle des Äußeren als geheimer Sinn und geheime innere Gestalt verborgen liegt. 2.

So wenig das Sokratesbild, das Alcibiades abzeichnet, bei Plato selbst nach der Analogie der christlichen Anschauung vom Verhältnis von Geist und Leiblichkeit verstanden werden darf, so sehr mußte dieser Sokrates nach dem Sieg des christlichen Menschenbildes eine christliche Auslegung nahelegen, ja provozieren und als Ahnung und Verheißung eines erst später sich offenbarenden christlichen Menschenbildes verstanden werden. Dies ist in der entscheidendsten Epoche der deutschen Frömmiigkeitsgeschichte eingetreten, in der eine neue Auseinandersetzung zwischen dem Menschenbild der Antike und dem christlichen Menschenbild stattgefunden hat, in der Zeit des Humanismus und der Reformation, und zwar haben sich die beiden führenden Geister eine christliche Deutung des Silen-Bildes zu eigen gemacht, die aufs stärkste das christliche Menschenbild der Neuzeit geformt und beeinflußt haben: Desiderius Erasmus von Rotterdam und Sebastian Franck von Donauwörth. Für beide ist das Bild vom Silen, der Götterbilder in sich verbirgt, zum Urbild einer christlichen Auslegung des Menschen und seiner Geschichte geworden und jeder hat in dieses Bild seine besondere religiöse Erfahrung und Weltstimmung hineingelegt. Der erste, der das Bild vom Silen aufgegriffen und seinen unerschöpflichen Symbolgehalt entdeckt hat, ist E r a s m u s , und zwar in seinem »Lob der Torheit« aus dem Jahre i 508. Es ist die Schrift, die seine Zeitkritik und seine Ideen zur Erneuerung der menschlichen Gesellschaft in der reizvollsten Form vorträgt und die witzigsten Angriffe auf die Mängel des zeitgenössischen geistlichen, kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens in einer spielerischen Form unter dem Schutz einer Narrenkappe unternimmt. Die Sprecherin dieses »Lobes der Narrheit« ist Madame

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Narrheit selbst, die »Freudenspenderin der Götter und Menschen«. Alles, was sie spricht, ist, weil es aus ihrem Mund kommt, närrisch, und man würde sich selbst zum grießgrämigen Narren erklären, wollte man sie so ernst nehmen, daß man sich über sie erzürnte und ihren Spott übel nähme. So weiß sich Erasmus selbst, der Schlaue und Ängstliche, dort, wo er sich die Freiheit nimmt, seine Zeit heftiger als üblich anzuklagen, hinter die Schürze der Königin der Freiheit, der hübschen und gefälligen Tochter des Plutos, zu verstecken und, sollte sich einer der Großen allzusehr durch seine Kritik betroffen fühlen, der Madame Narrheit allein die Verantwortung zuzuschieben. E r nimmt also seinen Worten den bittersten Stachel, indem er alle seine gefährlichen Reden der Narrheit in den Mund legt und seine Kritik an den kirchlichen und gesellschaftlichen Zuständen in die Form einer Büttenrede kleidet. E r macht als Autor selbst den ausgiebigsten Gebrauch von der Narrenfreiheit, die seine Göttin für sich beansprucht und treibt ein anmutiges Spiel mit der Wahrheit, indem er sie in die größten Narrheiten einwickelt, und mit der Narrheit, indem er sie als Beschluß aller Wahrheit preist. Zu den wichtigsten Wahrheiten, welche die Narrheit vorträgt, gehört die Erkenntnis, daß die Welt ihrem Wesen nach höchst närrisch ist. Zum Erweis dieser Torheit der Welt bedient sich Madame Narrheit des alten platonischen Bildes vom Silen. Es ist in dem »Lob der Narrheit« zunächst in seiner allgemeinsten und weitesten Form ausgelegt, in dem Sinne nämlich, daß alle Dinge zwei Seiten haben, die sich gänzlich widersprechen und je nachdem ihrem Betrachter sich als völlige Gegensätze erschließen. »Es ist bekannt«, sagt die Narrheit, »daß alle menschlichen Dinge, so wie die Silene des Alcibiades, zwei Gesichter haben, die sich untereinander höchst ungleich sind, so ungleich, daß zum Beispiel das, was zunächst dem äußeren Ansehen nach Tod ist, wenn du es innen betrachtest, Leben ist; umgekehrt!, was Leben — Tod, was schön — häßlich, was reich — arm, was schändlich — ruhmvoll, was gelehrt — unwissend, was stark — schwach, was edel — schimpflich, was fröhlich —traurig, was 9

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Glück — Unglück, was freundlich —• feindlich, was vorteilhaft — schädlich ist: kurz, du wirst plötzlich von allem das Gegenteil finden, wenn du den Silen aufmachst«. Hier wird also das alte Bild zum Symbol des allgemeinen Gegensatzes von äußerem Schein und innerem Wesen. Alles sieht innen ganz anders aus, als es nach außen hin scheint, und verbirgt in sich seinen Gegensatz. Ein weiteres Bild muß diesen Befund von dem «eigentümlich trügerischen ' Charakter des menschlichen Seins verdeutlichen: das Bild vom Theater. Alle menschlichen Dinge tragen eine Maske und verbergen dahinter ihr wahres Gesicht. Um aber zu verhindern, daß diese gefährliche Erkenntnis nicht von stürmischen und täppischen Revolutionären aufgegriffen wird, die sich etwa daran machen wollten, die vermummte Wirklichkeit zu demaskieren, schlägt Frau Narrheit die Geister, die sie durch diese aufrührerische Erkenntnis entfesselt hat, sofort wieder in Bann durch die Ermahnung, ja nicht die Kehrseite des menschlichen Daseins aufzudecken, und die Komödie der Welt nicht zu stören. »Gesetzt, es wollte sich jemand unterstehen, den Schauspielern auf der Bühne die Maske vom Gesicht zu reißen und ihre wahren und natürlichen Gesichter aufzudecken — würde der nicht das ganze Schauspiel verderben ? Wäre der nicht wert, wie ein Verrückter, mit Steinen zum Schauspielhaus hinausgejagt zu werden? — Es würde plötzlich alles miteinander eine ganz neue Gestalt bekommen. Die Person, die man vorher für eine Weibsperson gehalten hatte, würde nun als ein Mann, der Jüngling als ein Greis, der König als ein geringer Mensch und der, der vorher die Rolle eines Gottes spielte, als ein elender Tropf erscheinen. Allein diese Täuschung aufheben, hieße das ganze Spiel verderben. Diese Verstellung und Verlarvung ist gerade das, was die Augen der Zuschauer am meisten an sich zieht. Nur ein Narr könnte es unternehmen, die Welt zu entlarven und ihr wahres Gesicht aufzudecken«. Erasmus läßt sich also durch das Silengleichnis auf die Doppelseitigkeit des menschlichen Daseins, und auf den T r u g des äußeren Scheins hinweisen, aber er schreckt davor zurück, nachdem die äußere Gestalt als bloße Maske erkannt 10

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ist, diese Maske abzureißen, aus Furcht und Entsetzen vor dem wahren Gesicht der Wirklichkeit. E r bleibt aber nicht bei dieser allgemeinen Ausdeutung des Silengleichnisses stehen. Derselbe Gedanke von dem Gegensatz zwischen der Außen- und Innenseite der menschlichen Dinge findet in den Schlußkapiteln eine neue Wendung. Hat die Narrheit zunächst den Gedanken ausgesprochen, daß der ein Narr sein müßte, der das wahre, innere Gesicht der menschlichen Dinge aufdecken wollte, so wandelt sich in den Schlußkapiteln dieser Gedanke in eine furchtbare Predigt, in der eine tiefe religiöse Erkenntnis bis hart an die Grenze des Blasphemischen heran ausgesprochen wird: Christus ist der Narr, der diese innere Seite der Welt und ihr wahres Gesicht aufgedeckt hat, der den Silen aufgeklappt hat, der das innere Bild der* Wirklichkeit enthüllt hat. Eben deshalb, weil er die Torheit und Narrheit und den Trug der Welt erwiesen hat, mußte er der Welt als der verächtlichste Narr erscheinen. Eben deshalb, weil er die Wahrheit aufgedeckt hat, mußte seine Verkündigung als Torheit vor der Welt verschrieen werden. So dient also das Silenbild und der Gedanke von dem Gegensatz von Innen und Außen dazu, durch den Schein des weltförmigen Kirchentums zu dem wahren Bild des evangelischen Christentums vorzudringen. Frau Narrheit wird hier zur Predigerin von der Torheit des Christentums. »Christus selbst sagt in den geheimnisvollen Psalmen zu seinem Vater: »Du weißt meine Torheit«. Es hat seine guten Gründe, daß Gott so großen Gefallen an den Narren hat, und vielleicht sind es die gleichen, die große Herren gewöhnlich haben. Diese können ja auch die allzuklugen Leute nicht ausstehen und haben immer einen gewissen Argwohn gegen sie, wie Caesar gegen den Brutus und Cassius; den Antonius hingegen, diesen Trunkenbold, scheute er ebensowenig als Nero den Seneca oder Dionysius den Plato. Aber an Dummen und Einfältigen haben sie ein Wohlgefallen. So verabscheut und verdammt auch Christus immer jene Weisen, die sich bloß auf ihre Klugheit verlassen. Paulus bekräftigt dies auf eine nichts weniger als versteckte Art, wenn Ii

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er sagt: »Was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt«, und dann sagt er wieder, es habe Gott gefallen, die Welt durch Narrheit zu erhalten, da er sie durch Weisheit nicht habe zurecht bringen können. Bringt er dies nicht ganz offen zum Ausdruck, wenn er durch den Mund des Propheten spricht: »Ich will zunichte machen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen«, ferner, wenn er Gott dankt, daß er das Geheimnis des Heils den Weisen verborgen, den Unmündigen aber, nämlich den Narren offenbart habe ? . . . Hierher gehört auch, daß Christus hie und da im Evangelium gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten loszieht und hingegen des einfältigen und unwissenden Volkes sich eifrigst annimmt. Denn was ist das »Weh euch, ihr Pharisäer und Schriftgelehrten I« anders als »Weh euch, ihr Weisen« ? Aber an Kindern und Unmündigen, an Weibern und an Fischern scheint er einen vorzüglichen Gefallen gehabt zu haben. Selbst unter den unvernünftigen Tieren zieht Christus die vor, die von der Fuchsklugheit so weit als möglich entfernt sind. Aus diesem Grunde wollte er lieber auf einem Esel reiten, wenngleich er sich, wenn es ihm beliebt hätte, ohne Furcht auf den Rücken eines Löwen hätte wagen dürfen. So fiel auch der heilige Geist in Gestalt einer Taube auf ihn herab, und nicht in Gestalt eines Adlers oder Geiers . . . Dann nehmt noch dazu, daß der die Seinigen, die er zum ewigen Leben bestimmt hat, Schafe nennt, welches doch die dümmsten Tiere unter allen sind, wie selbst aus dem Sprichwort des Aristoteles: »so dumm wie ein Schaf« hinlänglich zu erweisen ist, denn man sieht daraus ganz deutlich, daß es von der Dummheit dieses Tieres hergenommen ist und gegen dumme und einfältige Leute als Schimpfwort gebraucht wird. Dem ungeachtet wirft sich Christus zum Hirten dieser Herde auf und hat es gerne gesehen, daß man ihn selbst ein Lamm nennt... Christus selbst, ob er schon die Weisheit seines Vaters war, wurde gewissermaßen zum Narren, um der Narrheit der Menschen zu helfen, denn er nahm die menschliche Natur an und 12

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wurde auch als ein Mensch erfunden; so wurde er auch zur Sünde, um die Sünde der Menschen wieder gutzumachen. E r sollte sie aber auf keine andere Weise wieder gutmachen, als durch die Torheit des Kreuzes und durch unwissende und einfältige Apostel, die er fleißig zur Narrheit ermahnt und von der Weisheit abzuschrecken sucht, wenn er sie auf das Beispiel der Kinder, der Lilien, des Senfkorns und der Sperlinge verweist, die ja lauter dumme und sinnlose Geschöpfe s i n d . . . wenn er ihnen ferner gebietet, darum ganz unbesorgt zu sein, was sie vor der Obrigkeit reden und antworten müßten, wenn er ihnen untersagt, nicht nach Zeit und Stunde zu forschen., was will er wohl damit anders sagen, als daß sie sich nicht auf ihre eigene Klugheit verlassen, sondern mit ganzem Herzen auf ihn vertrauen sollen.« Diese Torheit des Christentums wird noch weiter an vielen Beispielen erwiesen. Dann aber schließt diese Rede: »Die ganze christliche Religion scheint einigermaßen mit der Narrheit verwandt zu sein und von der Weisheit gänzlich abzugehen. Wollt ihr Beweise davon haben, so gebt acht, ob nicht Kinder, Greise, Weiber und Narren am Gottesdienst und den dabei üblichen Ceremonien weit mehr Anteil nehmen als andere. Deswegen sind sie auch immer die nächsten an den Altären . . . Femer werdet ihr wissen, daß die ersten Stifter der christlichen Religion außerordentlich einfältig und die abgesagtesten Feinde der Wissenschaften waren. Übrigens scheint es keine größeren Narren in der Welt zu geben, als die, die einmal der Eifer der christlichen Religion durch und durch entzündet hat. Sie teilen ihr Hab und Gut mit anderen, machen sich nichts daraus, ob man ihnen gleich Schmach und Schande antut, sie lassen sich betrügen, machen unter Freund und Feind nie einen Unterschied, haben einen Abscheu vor der Wollust, nähren sich von Hunger, Wachen, Tränen, Arbeiten und Verleugnungen, sind des Lebens überdrüssig, sehnen sich nach nichts mehr als nach dem Tode; kurz sie scheinen alle gesunde Vernunft gänzlich verloren zu haben und es ist mit ihnen, als wenn ihre Seele gar nicht mehr in ihrem Körper stecke, sondern ganz wo anders lebe. 13

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Ist das aber nicht offenbare Narrheit? Darf man sich da noch wundern, wenn die Apostel voll süßen Weins zu sein schienen und Paulus dem Landpfleger Festus als ein Rasender vorgekommen ist?« An dieser Grenze zwischen Blasphemie und echtester Verkündigung hält die Rede der Narrheit inne. Die spielerische Dialektik des Selbstlobes der Narrheit ist hier bereits überschritten: die Narrheit predigt die Narrheit des Christentums. Der Gedanke von der Torheit des Christentums ist diesem christlichen Zeitalter so fremd geworden, daß nur noch die Torheit selbst ihn aussprechen kann, und er in ihrem Munde zur furchtbarsten Anklage gegen das weltliche, entartete, veräußerlichte, in Gelehrsamkeit, Recht und Zeremonie erstickte Christentum ihrer eigenen Zeit wird. Eine direkte, unverhüllte Kritik ist in dem »Lob der Torheit« nicht ausgesprochen: alles bleibt unter dem allgemeinen Vorzeichen einer Rede der Torheit. Sie findet sich aber in unmittelbarem Anschluß an das Bild von den Silenen des Alcibiades im einer späteren Schrift des Erasmus, in seinen 'Adagia' aus dem Jahre 1517. Die 'Adagia' des Erasmus sind eine Sammlung und Erklärung der antiken Sprichwörter und Redensarten. Sie sind bei ihm nach Chiliaden geordnet; ihre Auslegung geschieht so, daß zunächst das zu erklärende Sprichwort genannt wird, dann sein Vorkommen und seine Abwandlung in der antiken Literatur belegt und auf Grund einer philologischen Vergleichung der verschiedenen Fassung der Sinn und die Sinnwandlung dieser Redensart ermittelt wird. In der Folio-Gesamtausgabe umfassen die Auslegungen der einzelnen Sprichwörter kaum mehr als eine Columne. Die meisten werden mit wenigen Zeilen abgemacht. Eine überraschende Ausnahme bildet die Auslegung der Redewendung: Sileni Alcibiadis, die sich über sechs Folioseiten hinzieht und die einzige umfangreiche Abhandlung neben den knappen Auslegungen der übrigen Sprichwörter bildet. Diese Auslegung der Silene des Alcibiades gehört zu dem Kühnsten, was Erasmus je geschrieben hat. Erasmus geht nach seiner gewöhnlichen Manier davon aus,

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auf den historischen Anlaß der Redensart hinzuweisen. E j zeigt, wie sie auf die Alcibiadesrede auf Sokrates zurückgeht, die Plato seinem 'Symposion' eingefügt hat, und wie die Bezeichnung des Sokrates als eines Silen durch seine Physiognomie selbst herausgefordert wurde. »Er hatte ein bäurisches Gesicht, einen Blick wie ein Stier, eine platte rotzige Nase. Du hättest ihn für einen stumpfsinnigen und dummen Grimassenschneider gehalten. Sein Äußeres war vernachlässigt, seine Rede simpel und plebejisch und niedrig«. »Aber«, fährt Erasmus fort, »wenn du diesen lächerlichen Silen aufgeklappt hättest, so hättest du in ihm eher eine Gottheit als einen Menschen gefunden, einen gewaltigen, erhabenen und wahrhaft philosophischen Geist, der alles verachtet, worum die übrigen Sterblichen in ihrem Rennen, Reisen, Schwitzen, Streiten und Kriegen sich bemühen, der erhaben ist über alles Unrecht, einer, an dem Fortuna ihr Recht verloren hat und der in seiner Freiheit von aller Furcht so weit ging, daß er sogar den Tod verachtete, den doch alle fürchten.« Im Unterschied von Plato ist in dieser Deutung nicht mehr von den vielen Götterbildern, sondern nur noch von dem e i n e n Numen die Rede, das in der Brust des närrischen, silenhaften Weisen wohnt. Sokrates erscheint als Urbild des Weisen überhaupt, in dem in ärmlicher und verächtlicher Hülle eine göttliche Natur voller Erkenntnis und Tugend umschlossen ist. So wird er zum Modell des wahren Philosophen schlechthin, und Erasmus beweist in seiner weiteren Ausführung, wie auch die späteren echten Weisen nach ihm dieses Modell dies göttlichen Kerns in verächtlicher Gestalt verwirklicht und nachgebildet haben, so Antisthenes, Diogenes und vor allem Epictet, der »ein Sclave, arm und lahm« war und trotzdem alle Schätze der Tugenden in sich barg. »Das ist wahrlich die Natur der wahrhaft sittlichen Dinge: ihr Höchstes verbergen und verstecken sie im Innersten. Das Allerverächtlichste tragen sie nach außen hin zur Schau und verdecken ihren Schatz unter einer häßlichen Schale und verbergen ihn vor profanen Augen«. Von hier aus erfolgt die überraschende und wohl auch von den humanistischen Zeitgenossen sicherlich als kühn empfun15

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dene Wendung, auch die Gestalt Christi nach dem Urbild der Silene des Alcibiades zu verstehen. »War nicht auch Christus ein sonderbarer Silen ? . . . Wenn du das äußere Aussehen dieses Silens betrachtest, was gibt es da nach der Meinung des Volkes verwerflicheres und verächtlicheres ? Geringe und obskure Eltern, ein verächtliches Vaterhaus, er selbst ein armer Schlucker, der nur wenige andere arme Schlucker zu Schülern hatte, die er nicht aus den Palästen der Großen, nicht von den Lehrstühlen der Pharisäer, nicht aus den Schulen der Philosophen, sondern aus der Zollstube und vom Netz weg geholt hatte. Weiter ein Leben, fern von allen Genüssen, das durch Hunger, Ermattung, durch Schimpf und Schande hindurch führte und schließlich am Kreuze endete. Von dieser Seite schaute ihn der mystische Seher, als er sein Bild mit den Worten zeichnete: 'Er hatte weder Gestalt noch Schöne ..'.« Erasmus stellt also das Bild des häßlichen Silens zusammen mit dem Bild vom leidenden Gottesknecht, wie es Jesaja im 53. Kapitel beschrieben hat. Dann aber erfolgt die gewaltige Peripetie: »Wenn es aber glückt, diesen Silen in geöffnetem Zustand näher zu betrachten, das heißt, wenn er selbst einen würdigt, sich ihm im gereinigten Licht des Geistes zu zeigen, beim unsterblichen Gott! welch unaussprechlichen Schatz findest du da! in welcher Häßlichkeit welche Perle! in welcher Niedrigkeit welche Erhabenheit! in welcher Armut welchen Reichtum! in welcher Schwäche welch unvorstellbare Kraft! in welcher Schande welche Herrlichkeit! in welcher Mühseligkeit welch völlige Ruhe! und schließlich in einem bitteren Tod den ewigen Quell der Unsterblichkeit«. Das Gleichnis vom Silen dient also dazu, die wunderbare Verbindung der göttlichen und menschlichen Natur in der Person Christi zu verdeutlichen. Dadurch wird das Bild vom Silen zum Typus der Darstellung Gottes in der Geschichte und zum Modell des Schicksals der wahren Kirche Christi und ihrer Träger überhaupt. Die Gestalt der wahren und echten Christen und Jünger Christi ist und bleibt durch die ganze Kirchengeschichte hindurch die 16

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Silengestalt, die Verborgenheit der göttlichen Herrlichkeit in der Niedrigkeit. »Derartige Silene waren einst die Propheten, die ausgestoßen, in Einöden umherirrend, mit den wilden Tieren ihr Leben fristeten, von schlechtem Kraut sich ernährten und sich mit den Fellen von Schafen und Ziegen bekleideten. Aber in das Innere dieser Silene hat der hineingeschaut, der sprach: »Die Welt war ihrer nicht wert«. Ein solcher Silen war Johannes der Täufer, der mit Kamelhaaren bekleidet, mit einem Gürtel aus Fell umgürtet weit herrlicher war als alle Könige mit ihrem Purpur und ihrem Geschmeide; der sich von Heuschrecken ernährte und dessen Speise doch köstlicher war als alle Leckerbissen der Fürsten. Wahrlich, einer hat gesehen, was für ein Schatz unter diesem ländlichen Gewand verborgen war, nämlich der, der mit jenem wunderbaren Ausspruch ihm das höchste Lob erteilte, als er sprach: »Unter den Weibgeborenen ist kein Größerer aufgetreten als Johannes der Täufer«. Derartige Silene waren die Apostel; sie waren arm, ohne Umgangsformen, ungebildet, verächtlich, schwach, verworfen, Schmähungen aller Art von allen Seiten ausgesetzt, verspottet, verhaßt, verflucht und Gegenstand zugleich des Hasses und Spottes fast der ganzen Welt. Aber öffne mir den Silen — welcher Tyrann könnte da mit der Macht dieser Menschen sich vergleichen, die durch ihren Spruch Dämonen befehlen, durch ihren Wink wütende Meere besänftigten, durch ihr Wort Verstorbene ins Leben zurückrufen I Welcher Krösus muß nicht arm erscheinen neben ihnen, die sogar durch ihren Schatten dem Kranken Gesundheit spenden und die allein durch die Berührung mit ihrer Hand den himmlischen Geist austeilen ? Welcher Aristoteles muß nicht als Tor und Unweiser und Schwätzer erscheinen neben denen, die aus der Quelle selbst die himmlische Weisheit schöpften, im Vergleich mit der alle menschliche Weisheit lauter Torheit ist«. Derselbe Gedanke wird dann durch die Kirchengeschichte hindurch weiter verfolgt. Diese Darstellung schließt damit, daß Erasmus als allgemeines Geschichtsprinzip den Gedanken ausspricht, den er als Grundgesetz der Verwirklichung Gottes in der Welt erkennt: 2

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immer ist das Göttliche in der Knechts- und Silengestalt verborgen. Dieser Gedanke wird auch auf die eigene Gegenwart angewandt. Die wahren Heiligen sind auch heute verborgen. Sie sind nicht zu suchen unter den Kirchenfürsten, unter den Mächtigen und den Herren in der Kirche, sondern unter den einfältigen, demütigen und niedrigen Gläubigen. »Auch heute gibt es im Verborgenen einige gute Silene, aber achl sehr wenige«. Dieser Gedanke auf die eigene Zeit bezogen, wird also zum Anlaß einer heftigen Zeitkritik. Sie steht unter dem Zeichen des 'verkehrten Silen'. Der echte Silen ist außen verächtlich und trägt innen den goldenen Schatz der Gottheit verborgen. Der verkehrte Silen ist außen mit Gold behangen, klappt man ihn aber auf, so ist er innen leer. »Niemand ist weiter von der wahren Weisheit entfernt, als die, die mit prächtigen Titeln, mit weißen Hüten, mit schimmernden Gürteln, mit edelsteinbesetzen Ringen die reine Wahrheit verkündigen.« Eher ist die wirkliche Weisheit bei einem armen, einfältigen Laien zu finden, »dessen Geist nicht der sogenannte subtile Scotus, sondern der himmlische Geist Christi belehrt hat, als bei den vielen tragischen Masken der Theologen«. Damit wird das Gleichnis vom Silen zum Urbild der verkehrten Welt schlechthin. Der äußere Schein trügt, die Welt ist anders, als sie aussieht, alles ist verhüllt in seinen Gegensats. Die goldene Maske verdeckt die innere Leerheit, die Knechtsgestalt den erhabenen Reichtum der inneren Fülle. Dies gilt nicht nur für die menschliche Geschichte, sondern ist ein universales kosmisches Prinzip. Immer und überall ist das Edelste und Erhabenste im Unscheinbarsten verborgen. »Bei den Bäumen schmeicheln Blüten und Blätter den Augen. Ihre Menge entfaltet sich vor aller Augen. Aber der Samen, in dem die Kraft von all dem steckt, was für eine winzige und unscheinbare Sache ist er! wie verborgen! wie wenig lockt er das Auge auf sichl wie wenig stellt er sich darl Gold und Edelsteine verbirgt die Natur in die tiefsten Schlupfwinkel der Erde. In den Elementen ist das jeweils Hervorragendere am weitesten von den Sinnen abgerückt. Im Tierreich ist das Beste und Wirksamste 18

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im Innern verborgen. Im Menschen kann das, was am göttlichsten und was unsterblich ist, allein von allem nicht gesehen werden. In jeder Art von Dingen ist die Materie, der schlechtere Teil, den Sinnen am leichtesten zugänglich, die Kraft und Wohltat der Form aber wird zwar an ihrer Auswirkung erkannt, dennoch aber ist die Form selbst ferne von allen Sinnen. Schließlich auch im Universum kann man das, was das Größte ist, nicht sehen, nämlich die abstrakten Wesen, und was unter ihnen am höchsten ist, ist den Sinnen am wenigsten zugänglich, nämlich Gott, soweit, daß er weder erkannt noch gedacht werden kann, während er doch der Quell aller Dinge ist«. So wird das Silengleichnis zum universalen Prinzip der Antinomie der göttlichen Selbstverwirklichung ausgeweitet und letzthin auf das Verhältnis von Gott und Welt überhaupt angewandt. Darüber hinaus findet das Silengleichnis auch seine besondere Anwendung auf die eigentümlichen Formen der Verleiblichung Gottes, auf die Mysterien der Kirche selbst, auf die Sakramente. Auch für sie gilt das Prinzip: das Göttliche erscheint in der Verhüllung in eine unscheinbare, verächtliche, äußere Gestalt. Unscheinbar sind die Elemente, in die sich die göttliche Gegenwart verbirgt. »Sogar in den Sakramenten der Kirche kann man ein Gleichnis der Silene finden . . . Wasser siehst du, Salz und Öl siehst du, ein Wort hörst du, das ist die äußere Gestalt des Silens. Die göttliche Kraft vermagst du nicht zu hören noch zu sehen, und doch wäre ohne sie alles andere nur eine Spielerei«. Man spürt an dem Gedankenablauf, daß Erasmus gewissermaßen selber immer mehr von dem Silengleichnis verschlungen wird. Es weitet sich ihm immer mehr aus, wird Gleichnis für immer weitere Sphaeren des Daseins und wird schließlich zum kosmischen Urbild für das paradoxe und antinomische Verhältnis von Geist und Wirklichkeit, Innen und Außen, Gott und Welt. Wie nun aber in der Rede des Alcibiades nach der ersten Auslegung des Silengleichnisses auf das Verhältnis der äußeren und inneren Gestalt des Sokrates eine zweite Beziehung des 2*

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Gleichnisses auf die äußere und innere Seite des Wortes und der Rede des Sokrates folgt, so schließt sich auch hier an die erste Beziehung des Silengleichnisses und seine kosmische Ausweitung eine zweite Anwendung des Silenbildes auf die Offenbarung Gottes im Wort und im Buchstaben der Heiligen Schrift an. W a s bei Plato als Unterscheidung von äußerer Worthülle und verborgenem innerem Sinn sich andeutet, wird hier in einer Entwicklung des Gedankens vom inneren Sinn der Bibel und in einer Unterscheidung der historischen und der mystischen Bedeutung der Heiligen Schrift dargestellt. »Auch die heiligen Schriften haben ihre Silene. Wenn du an der Oberfläche haften bleibst, so geschehen dort manchmal lächerliche Dinge; wenn du aber bis zum mystischen Sinn vordringst, so versinkst du in Anbetung vor der göttlichen Weisheit. Um zum Beispiel vom Alten Testament zu sprechen — wenn du darin nur die Historie betrachtest und hörst, daß Adam aus dem Leimen geschaffen wurde, daß ein Weibchen aus der Seite des Schlafenden heimlich losgetrennt wurde, daß die Schlange die Begierde nach dem Apfel im Weibchen erweckte, daß Gott in der Abendkühle spazieren g i n g . . . mußt du das nicht für eine Fabel halten, die aus der Werkstatt Homers hervorging? Wenn du von dem unzüchtigen Loth, von der ganzen Geschichte Samsons, vom Ehebrecher D a v i d . . . , von der Ehe Hoseas mit der Hure hörst, muß sich da ein Mensch mit züchtigen Ohren nicht wie von. einer obscönen Fabel abwenden ? Aber unter dieser Hülle, unsterblicher Gott!, was für eine strahlende Weisheit liegt da verborgen! Und die evangelischen Gleichnisreden! Wenn du sie nach ihrer äußeren Schale beurteilst, wer glaubte da nicht, sie stammten von einem Stümper! Wenn du aber die Nuß knackst, so wirst du die verborgene und wahrhaft göttliche Weisheit finden und etwas, was Christus selbst durch und durch ähnlich ist«. Auch hier erfolgt am Schluß die Zusammenfassung dieser Anwendung des Silenbildes auf den Buchstaben der Offenbarung: »In der Natur und ebenso in den mystischen Dingen erscheint das, was am wichtigsten ist, als völlig sinnlos und ist profanen Augen so weit als möglich fernegerückt.« 20

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Aber Erasmus ist so sehr in den Fesseln seiner Auslegung des Silengleichnisses gefangen, daß er auch jetzt nicht davon loskommt. Es zwingt ihn in die Gedankengänge zurück, die er bereits in seinem 'Lob der Torheit' angedeutet hat und die dort in einer reizenden und spielerischen Einkleidung vorgetragen werden. Diese Einkleidung ist hier fallengelassen, und die Anwendung des Silengleichnisses auf die eigene Zeitgeschichte führt hier zu einer herben und rücksichtslosen Aufdeckung der Verlogenheit seiner eigenen Gegenwart. Er wendet das Bild vom »verkehrten Silen« auf die beiden Lebensgebiete an, auf denen er sich ständig bemühte, seine Reformideen zur Erziehung und Besserung des Menschengeschlechtes durchzusetzen, auf das Gebiet des gesellschaftlichen und des kirchlichen Lebens. Hier erweitert sich seine Auslegung der Silene des Alcibiades zu einer Anklageschrift von größter Eindringlichkeit, in der bei jedem einzelnen Stand, dem Papst, den Bischöfen, den Priestern, den Mönchen, den Fürsten, den Standesherrn, den Hohen Räten der Silen aufgeklappt und das Außen an dem Innen gemessen wird. Bei dem sonst so vorsichtigen, ängstlichen und immer hinter der Ironie sich verschanzenden Erasmus ist die Schärfe der Zeitkritik, die dabei hervortritt, ungewöhnlich und auffällig. Verständlich wird dies nur im Zusammenhang mit seinem Thema selbst. Er spielt hier gewissermaßen in eigener Person den Silen. Was er vorgibt zu bringen, ist eine gelehrte Sprichwörtersammlung in lateinischer Sprache, mit unzähligen griechischen Zitaten durchsetzt, für Gelehrte zur Erweiterung ihrer Bildung und zur Belehrung geschrieben. In dem langweiligen und schwerfälligen äußeren 1 Silensfell der Gelehrsamkeit ist aber mehr verborgen, als der erste Anblick erkennen läßt. Plötzlich wird in der Mitte des Buches der Silen aufgeklappt, und als innerster Kern dieses Werkes leuchtet der Strahl eines inneren Lichtes auf, der die Welt beleuchtet und ihre Verkehrtheit offenbart. Mit einem Scherzwort werden die Bauchtürlein des Silens wieder zugeklappt und in emsigem Fleiß werden anschließend neue hunderte von antiken Sprichwörtern be21

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sprachen und ihr Vorkommen bei den alten Schriftstellern festgestellt. Der Silen ist wieder zu und zeigt sein borstiges Fell und schaut den Leser mit dem stumpfsinnigen Blick des Nichtwissens an. Wie der Verfasser sich in dem Lob der Torheit hinter der Göttin der Narrheit selbst versteckt, so verbirgt er sich hier hinter seinen neuen Beschützern, den Silenen des Alcibiades. Die Art dieser Auslegung des Silengleichnisses ist für die religiöse und theologische Grundeinstellung des Erasmus höchst bezeichnend. Ihm ist tatsächlich eine neue Sicht des Christlichen aufgegangen. Er hat wirklich die Gnade erfahren, in das Innere des Silens zu blicken. Der Widerspruch zwischen dem Außen und Innen der christlichen Religion hat sich ihm aufgetan. Er hat wirklich eine neue Möglichkeit einer Verwirklichung des verborgenen Grundes und der verhüllten Wahrheit der christlichen Offenbarung geahnt. Aber er kann die Last dieser Erkenntnis und das Grauen, das sie in ihm weckt, nicht tragen. Er vermag nicht ein zweites Mal in das Innere des Silens zu blicken, sondern schließt ihn schaudernd wieder zu. E r sieht die Notwendigkeit einer Reformation und einer Erneuerung des gesamten Lebens, aber er schreckt vor der Verwirklichung dieser Aufgabe zurück. So ist er nicht zum Reformator geworden. E r ist nie weiter gegangen, als hier und dort versteckt anzudeuten, daß er die andere Seite und das Innen der Dinge gesehen hat und daß er etwas weiß von der echten Torheit des Evangeliums, aber er hat doch letzthin für sich selbst den Rat seiner Madame Narrheit befolgt: Hüte dich, die Dinge zu demaskieren, denn das Leben würde sonst unerträglich. Er hat sich geweigert, die Komödie zu stören, sondern er hat selbst brav seinen Beifall geklatscht und hat seine eigene Rolle auf der Bühne seiner Zeit mit Geschick zu Ende gespielt. E r hat dem Papst seine Krone, dem Mönch seine Kutte, dem Fürsten seine Insignien und Wappen gelassen und hat die Rolle des Gelehrten, wie sie die Zeit verlangte, um eine Reihe von reizenden Szenen und Requisiten bereichert. Nachdem er in den Silen hineingeblickt und den Widerspruch auf dem Grund des 22

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menschlischen Daseins erkannt hat, hat er sich entschlossen, es mit denen zu halten, die ihr Stückchen weiterspielen und hat wieder den Schleier über das innere Bild gezogen, um nicht vor seinem Anblick zu erstarren. Deswegen mußte er Luther hassen, den Stürmer, den Revolutionär, der nach seinem Empfinden viel zu plump und täppisch auf die Bühne des zeitgenössischen Theaters, sprang und Papst und Fürsten, Kardinäle und Nonnen mit einer gewalttätigen Rücksichtslosigkeit demaskierte und die Welt tatsächlich umkehrte. Es klingt wie ein Angriff auf Luther und die Reformation, wenn er die Narrheit die Worte sagen läßt: »Gesetzt, es wollte ] sich ; jemand unterstehen, den Schauspielern auf der Bühne die Maske vom Gesichte zu reißen und ihre wahren und natürlichen Gesichter zu zeigen, — würde der nicht das ganze Schauspiel verderben ? wäre der nicht wert, wie ein Unsinniger mit Steinen zum Schauspielhaus hinausgejagd zu werden ? »Wie auf Luther ist es gemünzt, wenn er von einem solchen Unterifangen sagt: »Es wurde plötzlich Alles mit einander eine ganz neue Gestalt bekommen... Allein diese Täuschung aufheben, hieße das ganze Spiel verderben. Diese Verstellung und Verlarvung ist gerade das, was die Augen der Zuschauer am meisten an sich z i e h t . . . Zwar ist alles nur Schattenwerk, aber dieses große Schauspiel ist nun einmal so«. Wie gegen Luther sind die Worte gerichtet: »Käme auch ein Weiser vom Himmel herab und schrie laut: Der, den ihr da alle als einen Herren und Gott verehrt, ist nicht einmal unter die Menschen zu rechnen, weil er sich wie das Vieh von seinen Leidenschaften beiherrschen läßt, er ist ein niedriger Sklave, weil er sich freiwillig in die Knechtschaft so vieler und so schändlicher Herrn bög i e b t . . . würde man ihn nicht für einen Wahnsinnigen und Rasenden halten?« Selbstverständlich konnte Erasmus, als er 1508 sein Lob der Torheit schrieb, noch nicht ahnen, daß tatsächlich einer kommen würde, der als der große Spielverderber auf die Bühne der Weltkirche sprang und den Papst als den Antichristen, die geistlichen Herren als die Feinde Christi, die Mönche als die Kreuzi23

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ger des Herrn entlarvte, aber seine ganze spätere Auseinandersetzung mit Luther ist von dieser stimmungsmäßigen Gereiztheit gegen ihn getragen: er wandte sich nicht von ihm ab wegen seiner Theologie, sondern wegen seiner Haltung, die er als etwas empfand, was man eigentlich nicht tun sollte. Ein Narr, wer die Komödie stört! Dem entspricht auf der anderen Seite, daß Luther gerade dem Erasmus gegenüber mit einem unendlichen Vergnügen und wildem Humor den Barbaren spielt und sich auch in seiner Kampfschrift gegen Erasmus, seiner Schrift 'Über den unfreien Willen' ausdrücklich einführt als den »Barbaren, der immer in Barbarei gelebt hat« und der sich vornimmt, dem hochgelehrten, hochwürdigen Erasmus gegenüber den Narren zu spielen, der nur die Torheit des Evangeliums für sich hat und mit ihr alle Weisheit der Welt aus dem Sattel hebt. 3Noch für einen zweiten Geist der Reformationszeit ist das Bild vom Silen zum Urbild einer Gesamtdeutung des Lebens geworden, für S e b a s t i a n F r a n c k . Dies hat sich bei ihm unter dem unmittelbaren literarischen Einfluß von Erasmus vollzogen, denn Franck beruft sich in seinem 'Paradoxa' aus dem Jahr 1534 nicht nur häufig auf das 'Lob der Torheit', sondern hat auch eine eigene Nachschrift zu einer von ihm veranstalteten Ausgabe dieses Buches geschrieben und kennt auch die Auslegung der 'Silene des Alcibiades' in den 'Adagia'. Und trotzdem ist seine Deutung, wie er sie in den Paradoxa vorträgt, von der des Erasmus grundverschieden. Auch Sebastian Franck hat die 'verkehrte Welt' erlebt und hat einen Blick in das verborgene Innere des menschlichen Seins getan, aber er reagiert ganz anders auf das, was er dort erblickt hat. Ist Erasmus vor dem Blick in das Innere des. Silens erschrocken zurückgefahren und hat sich mit der ironischen Sicherheit des Wissenden in die Welt des Scheins zurückbeigeben, so ist Sebastian Franck an diesem Blick krank geworden und ist den erschrecklichen Eindruck von dem Gegensatz auf dem Grund alles menschlichen Seins nicht mehr losgeworden. 24

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Das Faszinierende und Schauerliche dieses Blicks hat ihn gebannt und für immer verwundet. E r sieht nur noch den Gegensatz und den Widerspruch im Dasein, vermag nur noch von ihm zu reden, auf ihn hinzuweisen und kann nicht mehr zum Spiel der Masken zurückkehren. J e mehr er das Getriebe der Zeitgeschichte und der Weltgeschichte betrachtet — und was erlebte er nicht alles: das Auftreten Luthers von seinen ersten Anfängern an, die Auflösung aller Ordnungen, die Ritterrevolution, den Bauernkrieg, die Anfänge der neuen Kirchenbildung, den Streit der Konfessionen, die Bilderstürme, die Revolten der Schwärmer und Täufer — desto unüberbrückbarer, gewaltiger und furchtbarer erscheint ihm dieser Widerspruch, der bis in die Tiefen des kosmischen Lebens hinabreicht und der die Geschichte der Menschheit vom Fall bis zum Jüngsten Gericht bestimmt. Seine Grundstimmung ist daher eine abgründige Resignation, die ihn bei der Betrachtung aller irdischen Dinge überfällt und die sein ganzes Schrifttum in so auffälliger Weise durchzieht. Der Blick in den Gegensatz und Widerspruch auf dem Grund alles menschlichen Lebens hat sich bei ihm verltieft zu der Erkenntnis der Unüberwindbarkeit dieses Widerspruches und der Aussichtslosigkeit, ihn hier und jetzt je zu überbrücken. Gott ist und bleibt der Welt Widerpart: das ist die Grunderkenntnis seiner Anschauung vom Verhältnis von Gott und Welt. Alles, was Gott will, ist der Welt zuwider und verhaßt und wird von ihr abgelehnt. Umgekehrt ist alles, was die Welt will, gegen Gott gerichtet und ihm verhaßt, auch wenn es sich mit den Farben der höchsten Tugenden, mit den Spruchbändern der edelsten Absichten ziert. Dieser Gedanke ist von Sebastian Franck schonungslos auch auf das Kirchentum seiner Zeit angewandt worden, und zwar auf alle Konfessionen und alle Sekten. Alles öffentliche, welt;förmige Kirchentum, sei es römisch oder lutherisch oder zwinglisch, gehört zur Welt und steht im Widerspruch zu Gott, und alles, was dort geschieht, gelehrt und getan wird, ist gegen Gott gerichtet, wag es noch so göttlich und heilig aussehen. Die 25

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Weltkirche konstruiert sich einen Scheingott, einen Scheinchristus, den sie für den wahren Gott und den wahren Christus ausgibt, sie hat ein Scheinevangelium, mit dem sie das wahre Evangelium ausrottet. Was also Erasmus als Wissender verschweigt, das schreit Sebastian Franck hinaus auf alle Gassen: »Es ist alle Dinge ein verkehrter Silenus und viel anders, als es scheint. Ursache: den Schein, Sieg, Reichtum, Gottesdienst, Christus usw. muß die Welt behalten, weil Schein billig in ein Scheinreich gehört. Die scheinlose Wahrheit aber soll allein Gott für sich haben. Denn die Wahrheit ist unsichtbar im Geist und deshalb ohne allen Schein der Welt. Daher hat Christus sein Wort, seinen Reichtum, Sieg, seine Kraft, sein Reich usw., aber kein Ansehen vor der Welt (Jes. 53, 2 ff), wie alle Gotteswerke. Was aber menschlich, sichtbar und weltlich ist, das gilt auch allein so, wie es scheint, vor aller Welt. Wer nun nicht irre gehen will, der bleibe nicht draußen an dem Schein, sondern grabe tief in den Acker und flüchte weit aus der Weilt in sich selbst, da wird er den vergrabenen Schatz finden. Hat doch auch die Natur was köstlich ist vergraben, das Schlechte aber an den W e g gelegt. Also hat Gott das Unsichtbare, Wesentliche in das Sichtbare, Figürliche verborgen. Den rechten Menschen hat er Gottes Wort, Sieg, Friede, Leben usw. nicht für die Hunde und Säue an den W e g gelegt, sondern mit äußerem Schein, Fleisch und Buchstaben bedeckt, damit kein Unbeschnittener darüber kommen kann. Ja, Mühe und Arbeit kostet es, Selbstverleugnung, Hingebung und Haß seiner Seele und seines Lebens, will man diesen Schatz und Christum finden und den Silenus aufgewinnen, damit erscheine, was darinnen ist. Wer will wissen, was in einem Tempel sei, darf nicht draußen bleiben und allein davon lesen und sagen hören. Das ist alleis ein totes Ding, sondern er muß drein gehen und selbst erfahren und besichtigen. Dann erst lebt alles.« Man spürt noch, daß Franck hier unter dem Eindruck der Worte des Erasmus über die Silene des Alcibiades steht. Wie Erasmus verbindet er das Bild vom Silen mit dem Hinweis auf den leidenden Gottesknecht aus der Jesaia-Verheißung, wie 26

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dieser weist er darauf hin, daß auch in der Natur das Köstliche am tiefsten versteckt ist. Hinzu fügt er das Bild vom Schatz im Acker. Das Gleichnis von den Götterbildern, die im Silen verschlossen sind, weisit ihn weiter zu dem Bild vom Tempel, in dem die Heiligtümer verborgen sind und in den man eintreten muß, um sie zu schauen. Trotz der genannten Anklänge an Erasmus ist aber der Sinn der Auslegung ein neuer. Der Gegensatz, der als der Grund des menschlichen Daseins erkannt ist, ist auch zum Grundprinzip der praktischen Einstellung des Menschen zu diesem Leben erhoben. Diese Einstellung ist bei Erasmus die Flucht zurück in die Welt des Scheins, bei Franck der Sprung in den Abgrund, das ständige Sichvergegenwärtigen dieses Widerspruches als des eigentlichen Kreuzes, das dem Christen auferlegt ist, und die Preisgabe des äußeren Scheinlebens unter williger Annahme all der schmerzlichen und qualvollen Folgen, die diese Wendung mit sich bringt für den, der sie vollzieht. So wird Sebastian Franck zum Prediger der Buße im Ursinn des Wortes, der Umkehr aller Betrachtung, Beurteilung und Bewertung des Seins und alles Verhaltens zum Sein. »Denn durchaus alle Dinge verhalten sich anders als in der Wahrheit, als es von außen anzusehen ist nach dem Schein. Gott hält immerzu in allen Dingen Widerpart und urteilt das Widerspiel. Darum: wie die Welt ein Ding hält, nennet, glaubt, redet, will usw., so ergreife du das Widerspiel und das Gegenurteil, so hast du Gottes Wort, Weisheit und Willen ergriffen . . . Also urteile in und mit allen Dingen, so findest du, daß das Weise das Törichte, das Licht die Finsternis, das edel, fromm, gut Leben usw. vor Gott Finsternis, unfromm, ketzerisch und der Tod ist, wie Hiob 17, 12 spricht: »Die Nacht haben sie in T a g verkehrt, und wiederum den T a g in die Nacht«. Jesaja ruft dieser verkehrten Art Wehe, wehe! zu. Umgekehrt: was vor ihr Teufel, Antichrist, Ketzerei, Nacht, Torheit, Bös und der Tod ist, das ist vor Gott Gott, Christus, Gotteswort, das Licht, Weisheit, Gut und Leben. Also ist es alles, umgekehrt vor Gott und der Welt, daß die Freien, Reichen, Herren, Siegenden usw. 27

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vor Gott nicht frei, Herren, reich usw., sondern gefangen, arm, Knechte sind und umgekehrt. Inversus Silenus omnia«. Dieses Prinzip bestimmt nach Franck nicht nur das menschliche Leben in der Gegenwart, sondern ist das geheime Gesetz der Weltgeschichte von ihrem Anfang bis zu der letzten endzeitlichen Auseinandersetzung zwischen Gott und Satan. »Dies ist ein verborgenes Stücklein, das Gott täglich mit der Welt spielt. Das geschieht nun mit und in allen Dingen, daß die daheim sind, wahrlich im Elend umherfahren, und die elend sind, wahrlich daheim sind; daß die Wohllebenden die Übellebenden und die Übellebenden allein die Wohllebenden, die Herren Knechte und die Knechte Herren sind. Denn Gott hat sich vorgenommen, ewig mit der Welt Widerpa,rt zu halten und ihr dem Schein zu lassen, selbst die Wahrheit und das Ding für sich und die Seinen zu behalten. Darum kann vor Gott in der Wahrheit nicht sein, wie es vor der Welt scheint, sondern jedes Ding ist umgekehrt wie ein umgewandter Silenus.« Die alte platonische Tradition der doppelten Auslegung des Silenbildes ist aber auch noch bei Sebastian Franck aufrecht erhalten. Wie Erasmus das Silenbild nicht nur auf den Gegensatz zwischen Innen und Außen in den menschlichen Dingen, sondern auch auf den Gegensatz zwischen dem Innen und Außen der göttlichen Offenbarung bezieht, so findet sich auch bei Sebastian Franck eine ähnliche Beziehung, die aber wiederum den Abstand von Erasmus erkennen läßt. Sieht Erasmus das Silenhafte an der göttlichen Offenbarung in dem eigentümlichen Widerspruch zwischen der schlichten, einfachen, vulgären Form der heiligen Bücher bzw. ihrem zum Teil anstößigen Inhalt einerseits und dem in dieser groben Hülle verborgenen tiefen Sinn andererseits, so liegt für Sebastian Franck der Unterschied an einer anderen Stelle. Für ihn ist alle buchstäbliche, äußere, gesetzliche, historische Auslegung der heiligen Schrift nichts als Schein und Betrug. Das ist seine furchtbarste Kritik an dem Biblizismus der Reformationszeit, der dazu geführt hat, daß jeder die Heilige Schrift für seine Zwecke nach Belegstellen für seine Privatanschauungen ausplündert und alle 28

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anderen zum Ketzer macht. Wie die Welt der Feind Gottes ist, so ist auch der Buchstabe der Schrift der Feind Christi, und wie die Welt Christus leibhaftig ans Kreuz geschlagen hat, so sucht sie noch immer, Christus mit dem Buchstaben der Heiligen Schrift zu töten und zu ermorden. Was hier Sebastian Franck ausspricht, ist seiner niederschmetternden Erfahrung entsprungen, daß nur allzuhäufig die Feinde des echten Christentums und der wahren Religion gerade unter den Theologen zu suchen sind, die Glauben und Religion von der Anerkennung ihrer besonderen Lehrformel und ihrer Auslegung der Heiligen Schrift abhängig machen und alles bekämpfen und ausrotten müssen, was diese Formel nicht beschwört. »Der Sieg und Sitz des Buchstabens, sage ich, wird auf der Seite des Antichrists bis zum Ende bleiben, so daß sie mit dem Buchstaben der Schrift die Heiligen totgeschlagen haben und also Christum mit dem buchstäblichen Christus töten und die Scheide wider das Schwert, die Laterne wider das Licht brauchen. Also muß Christus als ein Verführer, als ein falscher Prophet und Ausleger der Schrift um Gottes Willen umkommen. Denn der äußere Sieg des äußerlichen Buchstabens muß auf Seiten des Antichrists sein und bleiben, und Christus mit der Wahrheit und dem Sinn des Geistes muß vor der Welt dahintenbleiben und an den Galgen. Christus hat den Sinn der Schrift für sich, der Antichrist den Buchstaben, wie er klingt und lautet; damit schlägt er, selbst als Christus, im Eifer und Namen Christi, ihm und den Seinen das Haupt ab. Darum bleibt die Schrift und ihr Buchstabe des Teufels Sitz, Sieg und Schwert. Diese Wunderrede aber wird die Welt nicht glauben, bis sie es einmal zu spät erfahren wird. Hieraus folgt, daß der Buchstabe und grammatische Sinn der Schrift auch nicht der Probierstein und die Goldwage der Geister sein kann, sondern derselben Geist, Sinn, Auslegung und Verstand ist allein gleich Gottes Wort, also allein die Probe der Geister. Der Buchstabe dagegen ist ein gewisses Zeichen und die Hoffarbe des Antichrists und ein rechter Silenus des Alcibiades, wie ihn Erasmus nennt.« Trotz der zeitlichen Nähe zu Erasmus spricht hier eine neue 29

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Generation, die bestimmt ist durch ein neues Erlebnis: das Erlebnis des Zusammenbruchs eben der Reform, vor der Erasmus zurückgeschreckt war. Zwischen Erasmus und Sebastian Franck steht Luther. Luther hatte vollbracht, was Erasmus nicht gewagt hatte, weil er den holden Schleier des Trugs nicht wegreißen und seine verkehrte Welt nicht demaskieren wollte. Franck ist zunächst gläubig und freudig den Weg Luthers gegangen, aber er wurde für ihn ein W e g immer größerer Enttäuschungen. Sie festigten in ihm die Stimmung einer abgrundtiefen Resignation und die Erkenntnis, daß mit äußeren Mitteln eine allgemeine Erneuerung des Glaubens und Lebens nicht durchgesetzt werden kann und daß sich das neue Gesicht der Zeit gleichfalls sofort zur Maske verwandelt, hinter der sich das wahre Leben versteckt. So ist er der Vater der größten Kirche der nachreformatorischen Jahrhunderte geworden, der Kirche der Unkirchlichen, der Konfession der Konfessionslosen, die Christen sein wollen, aber sich in den geschichtlichen Formen des Christentums nicht zurecht finden und die versuchen, aus dem Getümmel der Kirchen- und Lehrstreitigkeiten ein inneres, geistiges Christentum zu retten. So dient also ein und dasselbe Bild von den Silenen des Alcibiades dazu, die verschiedenen Erscheinungsformen des 'mirum' zu zeigen, das bei der Verwirklichung des Transzendenten in der Welt hervortritt. Was Plato staunend und als für ein griechisches Auge besonders befremdlich an dem Widerspruch zwischen der häßlichen Silens-Gestalt des Socrates und den verborgenen Götterbildern in seinem Innern empfindet, das erscheint bei Erasmus als der Gegensatz, der die Verwirklichung des Göttlichen im Fleisch schlechthin bestimmt, eine Erkenntnis, die geformt ist an dem christlichen Urbild der paradoxen Selbstdarstellung Gottes im Fleische, an der Gestalt Christi. Bei Sebastian Franck bricht dann die Anschauung der 'allerherbsten' Form dieser Paradoxie durch. Vor seinen Augen erscheinen alle Aussagen über Dinge im Bereich des Verhältnisses von Gott und Welt als solche »die sich selbst entzweien«, die »in sich selber entgegengesetzt bestimmt« sind und deren Grund

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Benz, Christus und die Silene des Alcibiades

»der Gegensatz und Widerspruch« beherrscht. Hier endet die Skala dieser Steigerung des 'mirum' in der furchtbaren Schau der inneren Entzweiung der Welt. Der Gläubige wird in diesem Zustand der Erfahrung des Numinosen von der Schau des Antinomischen in Gott überwältigt. Es ist dies eine Form des. Betroffenseins durch das Numinose, die gerade den mutigsten Ergründern der »Tiefen Gottes« nicht erspart geblieben ist, eine Empfindung, die einem Luther nicht fremd war und die Rudolf Otto zum ersten Male wieder in ihrer ganzen Wucht erfahren und in seinem Werk über »Das Heilige« ausgesprochen hat. Daß die Erfahrung dieser paradoxen und antinomischen Seite der Gottesoffenbarung Rudolf Otto schon in seiner Jugend, längst vor dem Plan und Entwurf seines Werkes über »Das Heilige« betroffen hat und seine Auslegung des Christlichen in seinen ersten Anfängen vielleicht sogar noch stärker bestimmte, als dies in seinen späteren systematischen Schriften der Fall ist, zeigt die Eintragung auf der letzten Seite des Handexemplares des Neuen Testamentes, das der cand. theol. Rudolf Otto im Predigerseminar auf der Erichsburg bei Markoldendorf im Wintersemester 1894/95 benutzte, eine Eintragung aus Luthers Tischreden, die nicht eine Zufallsnotiz darstellt, sondern seinen Gesamteindruck von dem im Evangelium verkündeten paradoxen Einbruch des Gottesreiches in diese Welt: »Summa: Die Welt ist ein wunderlicher Kauz! Gott wolle ihr bald ein Ende machen«. — M. L. Tschr.

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Mottest f t p p f e r t f t f j e H c b e n ö m a d j t EIN B E I T R A G ZUM B I B L I S C H E N SCHÖPFUNGSGLAUBEN

Von

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Prof. D. eriti) Jfafdjet, Univ. Halle/Saale

s gehört zur Kühnheit und Weite paulinischen Denkens, daß

Christus der Auferstandene als Anfänger einer neuen Menschenreihe dem ersten Menschen der Bibel, Adam, entgegengestellt und an diesem Gegensatz der Inhalt der urchristlichen Verkündigung als neuer Lebensglaube oder .genauer gesagt, als Glaube an eine Neuschöpfung in Christus verdeutlicht wird. Ob Paulus dabei nach i . Mose 2, 7 vom ersten Adam als vfuxi) 3GOCTCC ausgeht und ihm den letzten Adam a l s i r v E Ö p a jcooiroioöv gegenüberstellt ( i . Kor. 15, 45) oder ob er auf den ersten Menschen als XOIKÖS den zweiten Menschen als errotupdcvios folgen läßt, es ist ganz klar — dasergibt ja auch der Zusammenhang des Textes — was Paulus will. Er schildert uns damit zwei verschiedene Seinsweisen, deren eine die Sphäre des Todes umschreibt, während die andere als die todesfreie oder nicht mehr vom Tod bedrohte zu verstehen ist, liegt sie doch jenseits des Todes. Es ist hier nicht der Ort, die Fülle von Fragen auszubreiten, welche gerade in den letzten Jahren im Anschluß an 1. Kor. 15 lebhaft verhandelt worden sind. Wir wollen nur die Punkte herausgreifen, welche zu unserem Thema in engster Beziehung stehen und in der Diskussion besonders umstritten sind: Das Problem der Kontinuität des Ich in der Auferstehung und die Frage des Zusammenhangs von Altem und Neuem Testament, welche ja an der Gegenüberstellung Adam-Christus sofort aufbrechen muß. I. In einer sehr scharfsinnigen, begriffsgeschichtlichen wie theologischen Untersuchung hat E. Käsemann 1 ) die Ansicht vertreten, daß Paulus in 1. Kor. 15, 35ff. und 2. Kor. 5, 2ff. eine ') E . Käsemann: Leib und Leib Christi, Tübingen 1933, S. n 8 f f . , bes. 1 3 4 — 1 3 6 .

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Fascher, Gottes schöpferische Lebensmacht

Lehre von der Kontinuität des Ich entwickelt habe, welche zur Kritik herausfordert. Das Bild vom Samenkorn sei nicht zutreffend, weil hier nicht die Realität des Todes, sondern organische Entwicklung aufgewiesen werde. Das sonst geschichtliche Verständnis von Tod und Leben sei hier in ein naturhaftes verkehrt, und dieser Gefahr erliege jeder, der die Interpretation an dieser Stelle beginne. Aber nicht nur das: auch die Auferstehung als Wunder Gottes, schreibt K . in der Nachfolge Bultmanns, sei damit außer Geltung gesetzt, der Mensch bleibe doch der alte oder der gleiche, er erhalte nur eine neue Substanz. Die Schwierigkeit der Problemlage geht daraus hervor, daß K . diesen Abschnitt des Paulus kurzweg als einen mißglückten Vorstoß apologetischer Art bezeichnet, aber doch zugeben muß, „daß diese Stelle auch wieder das Verhältnis von Naturalismus und Geschichtlichkeit zum höchst akuten Problem werden läßt". E r spricht in diesem Zusammenhang von einer zweiten Eschatologie, weil die Gabe der Gotteskindschaft bald als gegeben, bald als noch ausstehend erscheint, und drückt damit einen Sachverhalt aus, den Rudolf Otto in seinem Buch „Reich Gottes und Menschensohn" 1934 m. E . zutreffender als vorwirkende Dynamis bezeichnet hat. Wir kommen hier weiter, wenn wir auf R. Bultmanns Ausführungen selbst zurückgreifen. In einer Besprechung von Barths Auslegung des 1. Korintherbriefes 1 ) hat er das Ergebnis der Exegese Barths von 1. Kor. 1 5 , 1 — 3 4 in fünf Thesen zusammengefaßt und in These 3 — 5 gesagt: das „Leben" kann für Paulus nur ein zukünftiges Wunder sein, das Zukunft bleibt, solange der Mensch als zeitliches Wesen existiert. Gleichwohl ist dieses „Leben" auch Gegenwart, sofern jene Zukunft durch die Offenbarung zur Wirklichkeit der Gegenwart geworden ist. E s besteht also eine eigentümliche Identität zwischen dem gegenwärtigen und zukünftigen Menschen, Träger dieser Identität ist das söma. Daraus folgt: das Sein des Menschen als solchen ist durch das